The Project Gutenberg eBook of Sämmtliche Werke 2: Die Abenteuer Tschitschikows oder Die toten Seelen II

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Title: Sämmtliche Werke 2: Die Abenteuer Tschitschikows oder Die toten Seelen II

Author: Nikolai Vasilevich Gogol

Editor: Otto Buek

Translator: Otto Buek

S. Bugow

Mario Spiro

Release date: March 1, 2017 [eBook #54263]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 2: DIE ABENTEUER TSCHITSCHIKOWS ODER DIE TOTEN SEELEN II ***

Nikolaus Gogol
Tote Seelen, II
Novellen

Nikolaus Gogol
Sämmtliche Werke
In 8 Bänden

Herausgegeben
von
Otto Buek

Band 2

München und Leipzig
bei Georg Müller
1909

E. R. W.

Nikolaus Gogol

Die Abenteuer Tschitschikows oder Die toten Seelen

Übertragen
von
Otto Buek

Band 2

München und Leipzig
bei Georg Müller
1909

E. R. W.

Inhalt

Die Abenteuer Tschitschikows, Zweiter Teil Seite 1
Novellen:    
Der Mantel 223
Die Nase 283
Das Porträt 329

Die Abenteuer des Grafen Tschitschikows
oder
Die Toten Seelen.
Zweiter Teil

Erstes Kapitel.

Warum bloß wollen wir die Armut, nichts als die Armut und die beklagenswerte Unvollkommenheit unseres Lebens öffentlich zur Schau stellen, indem wir die Menschen aus der Wildnis, aus den entlegensten Winkeln unseres Vaterlandes ausgraben und hervorziehen? — Was ist zu machen, wenn das nun einmal die Eigenart des Verfassers ist, und wenn er selbst so sehr an seiner eigenen Unzulänglichkeit krankt, daß er eben nur dies eine kann: die Armut und nichts als die Armut und Unvollkommenheit unseres Lebens darstellen, indem er seine Menschen aus der Wildnis und aus den entlegensten Winkeln unseres Vaterlandes ausgräbt? Und so sind wir denn abermals mitten in die Wildnis hineingeraten und wieder auf ein ödes trauriges Nest gestoßen. Und noch dazu welch ein Nest und welch eine Wildnis!

Wie der Riesenwall einer unendlichen Festung mit Türmen und Bastionen, zog sich in endlosen Windungen von mehr als tausend Werst eine ununterbrochene Gebirgskette hin. Stolz und majestätisch erhob sie sich über die grenzenlose Ebene, bald als nackter Ton- und Kalkfelsen, bald als senkrecht abstürzende Bergwand, durchsetzt von Spalten und Rissen, bald wieder in Form von grünen Kuppen, bedeckt mit jungem Buschwerk, das zwischen kahlen Baumstümpfen emporragte und von weitem wie zartes Lammfell aussah, bald endlich als dichter dunkler Wald, den die Axt seltsamer Weise noch verschont hatte. Der Fluß, der überall zwischen hohen Ufern dahinströmte, folgte den Bergen in mancherlei Schlangenwindungen, nur hie und da entfernte er sich von ihnen, floß zwischen Feldern und Wiesen dahin, schlängelte sich in leuchtenden Serpentinen, verschwand plötzlich, noch einmal hell aufblitzend im strahlenden Sonnenlicht in einem Gehölz von Birken, Espen oder Erlen und tauchte endlich wieder triumphierend aus dem Dunkel hervor, überall begleitet von Brücken, Windmühlen und Dämmen, die ihm bei jeder Wendung nachzueilen schienen.

An einer Stelle war die steile Gebirgsmasse besonders dicht mit dem Lockenschmuck jungen Baumgrünes überzogen. Durch künstliche Anpflanzung hatte sich hier dank den Unebenheiten des Gebirgshanges die Vegetation aus Nord und Süd zusammengefunden. Eiche, Ahorn, Birnbäume und Weidenbüsche, Beifuß und Birke, Fichten und dicht von Hopfen umrankte Ebereschen kletterten überall, hier einträchtig und sich gegenseitig im Wachstum unterstützend, dort sich hemmend und eng zusammengedrängt, den steilen Berg hinan. Oben am Scheitel mischten sich mit den grünen Wipfeln die roten Dächer der Gutsgebäude, die Giebel und Dachfirste der dahinter versteckten Bauernhütten, das oberste Stockwerk des Herrenhauses mit seinem geschnitzten Balkon und dem halbrunden Fenster — und hoch über dieser Masse nah beieinander liegender Häuser und Bäume streckte eine altertümliche Kirche ihre fünf vergoldeten Türme in die Luft, deren jeder ein Glockenspiel enthielt. Die Türme waren mit goldenen durchbrochenen Kreuzen geschmückt, die mit ebensolchen Ketten von gleichem Metall an den Kuppeln befestigt waren, so daß man aus der Ferne den Eindruck hatte, als glühte und flimmerte die Luft von glänzendem gemünztem Golde, das frei im blauen Äther schwebte, ohne an etwas befestigt zu sein. Und diese ganze Masse von Bäumen, Dächern und Kreuzen spiegelte sich wie auf den Kopf gestellt lieblich im Flusse wieder, wo die hohen mißgestalteten Weidenstämme, die teils vereinzelt am Ufersaume, teils tief im Wasser standen, ihre von grünem schleimigen Flußschwamm und treibenden Wasserlilien umsponnenen Zweige und Blätter in die Fluten hinabtauchten und in die Betrachtung dieses reizenden Bildes versunken schienen.

Dieser Anblick war in der Tat sehr hübsch, aber der Blick aus der Höhe ins Tal, von der Terrasse des Hauses in die weite Ferne war noch viel schöner. Kein Gast, kein Besucher vermochte es gleichgültig auf dem Balkon zu verweilen: der Atem stockte ihm in der Brust vor Staunen und Entzücken, und er konnte bloß ausrufen: „Gott wie geräumig und frei ist es hier!“ Ein unendlicher grenzenloser Raum breitete sich vor ihm aus: Hinter den Wiesen, die mit Buschwerk und mit Windmühlen übersät waren, erhoben sich dunkle Wälder wie eine Reihe grün schimmernder Zonen; hinter den Wäldern leuchteten gelbliche Sanddünen durch die sich mählich verfinsternde Luft; auf diese folgten wiederum Wälder, die bläulich schimmerten, wie ein sich weithin dehnendes Meer oder eine weite Nebelfläche; dahinter lagen wieder Sanddünen, welche zwar nicht mehr so hell, wie die ersten, aber doch noch deutlich sichtbar gelb glimmten und leuchteten. Am fernen Horizont bemerkte man die Konturen eines Bergrückens: das waren Kalkfelsen, die selbst bei schlechtestem Wetter beständig in blendender Weiße erstrahlten, wie wenn eine ewige Sonne sie beleuchtete. An ihrem Fuße, der zum Teil aus Gipsgestein bestand, hoben sich hie und da nebelgrau flimmernde Flecken von dem blendenden Weiß des Hintergrundes ab: das waren ferne Dörfer, die jedoch kein menschliches Auge erkennen konnte — nur die goldene Spitze einer Kirche, die hin und wieder aufblitzte wie ein glühender Funke, ließ ahnen, das dies ein großes, von Menschen bewohntes Dorf sei. Das Ganze aber war in eine tiefe Stille getaucht, die nicht einmal von dem kaum bis ans Ohr dringenden Lied der Sänger der Lüfte gestört wurde, welche sich in den reinen Äther emporschwangen und bald im weiten Raume verloren. Mit einem Wort, kein Gast noch Besucher konnte ruhig auf dem Balkon weilen, und wenn er einige Stunden in die Betrachtung verloren dagestanden hatte, brach er immer wieder in den schon bekannten Ruf aus: „Gott, wie geräumig und frei es hier ist.“

Wer aber war der Bewohner und Besitzer dieses Landgutes, das gleich einer uneinnehmbaren Festung dalag und zu dem von dieser Seite nicht einmal ein Fahrweg hinführte. Man mußte schon von der andern Seite heranzukommen suchen — wo weit auseinanderstehende Eichen den herannahenden Reisenden freundlich begrüßten, indem sie ihre breiten Äste weit ausstreckten wie die Arme eines Freundes und ihn bis zu dem Hause hingeleiteten, dessen Spitze wir schon von hinten gesehen haben, und das jetzt ganz frei und offen dalag, zwischen einer langen Reihe von Bauernhütten mit ihren geschnitzten Giebeln und Dachfirsten, und der Kirche, die im Golde ihrer Kreuze und des durchbrochenen Schnitzwerkes der in der Luft hängenden Ketten erstrahlte.

Es war der Gutsbesitzer des Tremalachanskschen Kreises Andrei Iwanowitsch Tentennikow. Der Glückliche war ein junger Mann von dreiunddreißig Jahren, der noch dazu unverheiratet war.

Was war nun dieser Gutsbesitzer Andrei Iwanowitsch Tentennikow für ein Mensch? Wie war sein Wesen; was hatte er für Eigenschaften und für einen Charakter? — Darnach müssen wir uns natürlich bei den lieben Nachbarn erkundigen, geneigte Leserinnen. Einer von ihnen, der zu jener Gattung verabschiedeter Stabsoffiziere und Lebemänner gehörte, die jetzt schon im Aussterben begriffen ist, pflegte sich folgendermaßen über ihn zu äußern: „Ein ganz gewöhnlicher Schweinehund!“ Ein General, der etwa zehn Werst von ihm entfernt wohnte, sagte gewöhnlich: „Der junge Mann ist nicht dumm, aber er hat sich gar zu viel in den Kopf gesetzt. Ich könnte ihm nützlich sein, denn ich habe gewisse Verbindungen in Petersburg und sogar beim ...“ Der General beendigte seinen Satz niemals. Der Kreisrichter kleidete seine Antwort in folgende Form: „Ich will mir mal morgen die rückständigen Steuern von ihm abholen!“ und ein Bauer hätte auf die Frage, was sein Herr für ein Mensch sei, überhaupt nichts geantwortet. Mit einem Wort, die Meinung, die die Nachbarn von ihm hatten, war recht ungünstig. Vorurteilslos gesprochen aber war Andrei Iwanowitsch eigentlich kein schlechter Mensch, sondern einfach einer von denen, die unnütz auf der Erde herumlaufen. Es gibt ja doch ohnedies genug Leute, welche unnütz auf der Erde herumlaufen, warum also sollte gerade Tentennikow es nicht tun? Übrigens wollen wir hier gleich einen kurzen Abriß seines Tagewerks geben, und da bei ihm ein Tag stets dem andern glich, so mag der Leser darnach selbst urteilen, was er für einen Charakter hatte, und inwieweit sein Leben den ihn umgebenden Naturschönheiten entsprach.

Morgens pflegte er recht spät zu erwachen, dann richtete er sich im Bette auf und rieb sich lange die Augen. Zu seinem Pech waren die Augen sehr klein, und daher nahm diese Operation sehr viel Zeit in Anspruch. Während der ganzen Dauer dieser Handlung stand ein Mann, namens Michailo, mit einem Waschbecken und einem Handtuch an der Tür. Dieser arme Michailo mußte immer stundenlang so dastehen; dann ging er in die Küche und kam noch einmal wieder; aber sein Herr saß noch immer im Bett und rieb sich die Augen. Endlich sprang er aber doch auf, wusch sich, zog seinen Schlafrock an und trat in den Salon um ein Glas Tee, Kaffee, Kakao oder sogar frische Milch zu trinken. Er trank immer in kurzen Zügen, indem er die Brotkrumen rücksichtslos umherstreute und die Tabakasche überall achtlos hinfallen ließ. So saß er wohl zwei Stunden lang beim Frühstück, doch das genügte noch nicht. Dann nahm er noch eine Tasse kalten Tee und ging langsam ans Fenster, das in den Hof führte. Hier spielte sich jeden Tag folgende Szene ab.

Vor allem zankte sich der Hausdiener Grigorij in seiner Eigenschaft als Aufwärter mit der Schließerin Perphiljewna, die er mit folgenden Ausdrücken zu bedenken pflegte: „Ach du Jammerseele, du nichtsnutziges Frauenzimmer du! Du solltest doch lieber den Mund halten, du gemeines Geschöpf!“

„Du willst wohl so etwas haben?“ heulte die Jammerseele oder Perphiljewna, indem sie ihm die geballte Faust hinhielt. Dieses Frauenzimmer war nicht ungefährlich und hatte recht derbe und kräftige Manieren, trotz ihrer starken Vorliebe für Rosinen, Marmelade und andere Süßigkeiten, die sie in ihrem Schranke verschlossen hielt.

„Du liegst dir ja sogar mit dem Verwalter in den Haaren, du Staubkorn, elendiges,“ kreischte Grigorij.

„Der Verwalter ist doch gerad so’n Dieb wie du, du glaubst wohl der Herr kennt euch nicht; er ist doch hier und hört alles.“

„Wo ist der Herr?“

„Da sitzt er am Fenster und sieht alles.“

Und in der Tat, der Herr saß am Fenster und sah alles.

Um dieses Sodom und Ghomorrha noch zu vervollständigen schrie ein Knabe auf dem Hofe aus voller Kehle, der von der Mutter eine Ohrfeige bekommen hatte, und ein Windspiel stimmte winselnd mit ein, indem es sich mit dem Hinterteil auf die Erde setzte; der Koch hatte nämlich kochendes Wasser aus dem Fenster gegossen und es verbrüht; mit einem Worte alles heulte und plärrte unerträglich. Der Herr sah und hörte sich alles an, aber erst als der Lärm so entsetzlich wurde, daß er Tentennikow in seinem Nichtstun zu stören begann, schickte er in den Hof hinunter und ließ sagen, die da unten möchten doch etwas leiser lärmen.

Zwei Stunden vor dem Mittagessen begab sich Andrei Iwanowitsch in sein Zimmer, um an einem großen Werke zu arbeiten, das ganz Rußland von sämtlichen nur möglichen Standpunkten: vom bürgerlichen, vom politischen, vom philosophischen und religiösen umfassen und beleuchten sollte; auch sollte es die schwierigen Aufgaben und Probleme lösen, die die Zeit gestellt hatte und klar bestimmen, in welcher Richtung Rußlands große Zukunft läge; mit einem Wort, es war ein Werk wie nur ein moderner Mensch es planen konnte. Übrigens hatte es zunächst beim Nachdenken über dieses grandiose Unternehmen sein Bewenden: man kaute an der Feder, warf ein paar Zeichnungen aufs Papier, und schob dann alles wieder beiseite; statt dessen wurde ein Buch zur Hand genommen, das man bis zum Mittagessen nicht wieder fortlegte. In diesem Buche las man, während die Suppe, die Sauce, der Braten und sogar die süße Speise verzehrt wurde, ruhig weiter, und es kam mitunter vor, daß manche Speisen ganz kalt und andre überhaupt nicht angerührt wurden. Dann trank man noch eine Tasse Kaffee und rauchte ein Pfeifchen dazu und spielte noch eine Partie Schach mit sich selbst. Was darauf noch weiter bis zum Abendessen getan wurde — ist tatsächlich schwer zu sagen. Ich glaube es wurde überhaupt nichts mehr getan.

So verbrachte der junge dreiunddreißigjährige Mann, der immer im Schlafrock und ohne Halsbinde dasaß ganz mutterseelenallein und von aller Welt verlassen, seine Zeit. Das Spaziergehen und Herumlaufen machte ihm keinen Spaß, er hatte nicht einmal Lust hinaufzugehen, oder ein Fenster zu öffnen, um frische Luft in das Zimmer hineinzulassen, und der herrliche Anblick des Dorfes, an dem sich Gäste und Besucher nicht genug erfreuen konnten, schien für den Besitzer selbst überhaupt nicht zu existieren. Aus alledem kann der Leser ersehen, daß Andrei Iwanowitsch Tentennikow zu der großen Familie der Leute gehörte, die in Rußland nicht alle werden und die man früher bei uns Schlafmützen, Faulenzer, Bärenhäuter usw. zu nennen pflegte, und für die ich heute wirklich keinen Namen zu finden wüßte. Ob solche Charaktere geboren werden oder sich allmählich bilden, als ein Produkt trauriger Lebensverhältnisse, in deren harte und strenge Umgebung der Mensch hineingestellt ist, das ist eine Frage. Statt sie zu beantworten tut man vielleicht besser, die Geschichte der Kindheit und der Lehrjahre Andrei Iwanowitschs zu erzählen.

„Anfangs schien alles darauf abzuzielen, daß etwas Vernünftiges aus ihm werden sollte. Mit zwölf Jahren kam der etwas kränkliche und träumerische, aber begabte und scharfsinnige Knabe in eine Schule, deren Direktor ein für jene Zeit wirklich ungewöhnlicher Mensch war. Der Abgott der Jünglinge und das bewunderte Vorbild aller Lehrer und Erzieher. Alexander Pawlowitsch war mit einem außerordentlichen Feingefühl begabt. Wie gut kannte er den russischen Charakter! Wie kannte er das kindliche Gemüt! Wie verstand er es, die Kinder zu leiten und zu lenken! Es gab keinen Schelm oder Wildfang, der, wenn er etwas angestellt hatte, nicht selbst zum Direktor kam, um ihm seine Streiche und Untaten zu beichten. Aber das war noch nicht alles: er erhielt eine harte Strafe, aber der kleine Schelm ließ darum keineswegs die Nase hängen, sondern verließ das Zimmer aufrechter als vorher. Es lag etwas wie frischer Mut in seinen Zügen, und eine innere Stimme schien zu ihm zu sprechen: „Vorwärts! Erhebe dich schnell wieder und stelle dich ruhig wieder auf beide Beine, trotzdem du gefallen bist.“ Nie hielt der Direktor seinen Zöglingen lange Reden über gutes Betragen. Er pflegte nur zu sagen: „Ich verlange von meinen Schülern nur dies eine: daß sie vernünftig und verständig sind, sonst nichts! Wer den Ehrgeiz hat, klug zu werden, der hat nicht Zeit unartig zu sein; die Unarten müssen von selbst verschwinden.“ Und so war es in Wirklichkeit, die Unarten verschwanden ganz von selbst. Ein Schüler, der kein ernstes Streben hatte, lenkte nur die Verachtung seiner Kameraden auf sich. Die erwachsenen Esel und Schafsköpfe mußten es sich gefallen lassen von den Kleinsten mit den kränkendsten Spitznamen getauft zu werden, und durften ihnen kein Härchen krümmen. „Das geht zu weit!“ sagten viele, „diese Knaben werden allzu gescheit, das muß sie hochmütig machen.“ „Nein, das geht durchaus nicht zu weit,“ antwortete er, „die schwach Begabten behalte ich nicht lange in der Schule; es genügt schon, wenn sie den einen Lehrgang durchmachen; für die Begabteren habe ich noch einen zweiten Kursus.“(1) Und in der Tat, die Begabten mußten noch einen zweiten Kursus durchmachen. Manche Unarten und Streiche gestattete er und machte gar nicht den Versuch sie zu unterdrücken; in diesem Über-den-Strang-Schlagen der Kinder sah er den Beginn der Entwickelung ihrer seelischen Regungen und er erklärte, er könne es nicht entbehren, sondern brauche es vielmehr wie ein Arzt den Ausschlag, — um mit Sicherheit zu ermitteln, was in des Menschen Innerem eigentlich vorgehe.

Wie liebten ihn aber auch die Knaben! Nie trifft man eine solche Anhänglichkeit und Liebe der Kinder zu ihren Eltern, nie gab es selbst in dem unvernünftigen Lebensalter, wo man sich rücksichtslos sinnlosen Leidenschaften in die Arme wirft, eine so gewaltige unauslöschliche Neigung, wie die Liebe zu ihm. Bis zum Grabe, bis zu den letzten Lebenstagen noch, erhoben die dankbaren Zöglinge am Geburtstage ihres herrlichen Lehrers, der schon längst gestorben war, auf sein Andenken ihren Pokal, schlossen die Augen und vergossen seinetwegen Tränen der Rührung. Beim kleinsten Lob aus seinem Munde überlief den Schüler ein freudiges Beben und ein ehrgeiziges Streben spornte ihn an, all seine Kameraden zu übertreffen. Die Unbegabten hielt er nicht lange in der Schule fest; sie brauchten nur einen kurzen Lehrgang durchzumachen; die Begabten aber hatten einen doppelten Lehrgang zurückzulegen, und die letzte Klasse, die nur aus ganz Auserwählten bestand, hatte gar keine Ähnlichkeit mit der anderer Schulen. Erst hier verlangte er all das von dem Zögling, was andre unvernünftigerweise schon von den Kindern verlangen — nämlich jenen entwickelteren Verstand, der selbst nicht spottet, es aber versteht, jeden Spott ruhig zu ertragen, dem Dummen zu verzeihen, sich nicht reizen zu lassen, die Geduld nicht zu verlieren, niemals Rache zu üben und sich immer eine stolze Ruhe und unerschütterliche Selbstbeherrschung zu bewahren; alles was geeignet ist, aus einem Menschen einen starken Mann zu formen, kam hier beständig zur Anwendung und er selbst stellte unaufhörlich Versuche und Experimente mit seinen Schülern an. O, wie vorzüglich kannte er die Wissenschaft des Lebens!

Die Zahl seiner Lehrer war nicht sehr groß. In den meisten Fächern unterrichtete er selbst. Er verstand es, ohne Pedanterie und weitläufige Terminologie, ohne großartige Theorien und geschwollene Phrasen das eigentliche Wesen, die Seele einer jeden Wissenschaft darzustellen, sodaß auch der ungereifte Geist es sofort begriff, wozu er dies Wissen nötig hatte. Von allen Wissenschaften wählte er nur die, welche geeignet sind, aus dem Menschen einen Bürger seines Vaterlandes heranzubilden. Der größte Teil seiner Vorlesungen handelte davon, was den Jüngling in der Zukunft erwarte und er verstand es so gut, den ganzen Horizont seiner Laufbahn vor ihm aufzurollen, daß der Jüngling schon auf der Schulbank mit allen Gedanken und Träumen seiner Seele in seinem künftigen Berufe: im Staatsdienste lebte. Er verheimlichte nichts vor ihnen: weder die Enttäuschungen noch die Hindernisse, die sich vor dem Menschen auf seinem Lebenswege erheben, weder die Versuchungen noch die Verführungen, die ihn erwarten, dies alles führte er ihnen in ungeschminkter Nacktheit vor Augen, ohne ihnen das Geringste vorzuenthalten. Nichts war ihm fremd, wie wenn er selbst alle Ämter und Berufe kennen gelernt hatte. Und seltsam, sei es nun, daß der Ehrgeiz in ihnen so stark angeregt war, sei es daß im Auge dieses außerordentlichen Pädagogen etwas lag, was dem Jüngling ein beständiges „Vorwärts!“ zuzurufen schien — dieses Wort, das der Russe so gut kennt und das bei seiner feinfühligen Natur so große Wunder wirkt — genug, die jungen Leute fingen sogleich an selbst die Schwierigkeiten aufzusuchen und dürsteten förmlich darnach, sich überall dort geschäftig und tätig zu zeigen, wo es galt, eine Schwierigkeit oder ein Hindernis zu überwinden und einen hohen Mut und Seelenstärke zu beweisen. Nur ganz wenigen gelang es diesen Lehrgang zurückzulegen, aber dafür waren es auch lauter starke kräftige Männer geworden, die gewissermaßen im Pulverdampfe gestanden hatten. Im Dienste wußten sie sich an den exponiertesten Stellen zu halten, während viele, die weit klüger waren als sie, es nicht lange im Dienste aushielten, ihn wegen kleiner persönlicher Unannehmlichkeiten quittierten oder bequem und träge(2) wie sie waren in die Hände von Gaunern und Erpressern gerieten. Dagegen standen die andern nicht nur fest und ohne zu wanken auf ihrem Posten, sondern verstanden es sogar, gereift durch Menschen- und Seelenkenntnis auch auf die schlechten und unehrlichen Leute noch einen starken sittlichen Einfluß auszuüben.(3)

Das glühende Herz des ehrgeizigen Knaben pochte lange bei dem bloßen Gedanken, daß er endlich auch in diese Klasse versetzt werden würde. Man sollte meinen, für unseren Tentennikow hätte es gar nichts Besseres geben können als einen solchen Erzieher. Das Unglück wollte es jedoch, daß gerade in dem Augenblick, als er in diese Klasse der Auserwählten versetzt worden war — wonach er sich so lebhaft gesehnt hatte — der vortreffliche Lehrer einem unerwarteten Tode zum Opfer fiel. Das war ein wahrhaft furchtbarer Schlag, ein schrecklicher unersetzlicher Verlust für den jungen Mann. Nun wurde es in der Schule mit einem Male ganz anders. An die Stelle des Alexander Petrowitsch trat jetzt ein gewisser Fjodor Iwanowitsch. Er ging vor allem daran, allerlei äußere Vorschriften und ein strenges Reglement einzuführen und verlangte von den Kindern lauter Dinge, die man nur von Erwachsenen verlangen konnte. In dem freien Sichgehenlassen sah er nichts wie Ungezogenheit und Zügellosigkeit. Wie im bewußten Gegensatz zu seinem Vorgänger erklärte er gleich am ersten Tage, er lege gar keinen Wert auf den Verstand und die Fortschritte der Schüler in den Wissenschaften, sondern allein auf das gute Betragen.(4) Aber seltsam! gerade dies, wonach er so eifrig strebte, das gute Betragen konnte Fjodor Iwanowitsch seinen Schülern nicht beibringen. Sie machten allerhand schlechte Streiche, suchten sie aber geheim zu halten. Am Tage ging alles wie am Schnürchen, dafür gab man sich in der Nacht wilden Orgien und Zechereien hin.

Auch mit den Wissenschaften ging es ganz seltsam. Fjodor Iwanowitsch stellte neue Lehrer mit neuen Anschauungen und neuen Grundsätzen an. Sie ließen ein wahres Hagelwetter von neuen Worten und Termini auf die Schüler niedergehen; sie vernachlässigten in ihrer Darstellung keineswegs die logischen Zusammenhänge, sie berücksichtigten die neueren Fortschritte der Wissenschaft und Technik, es fehlte ihnen nicht an Feuer und wahrhafter Begeisterung — aber ach bei alledem fehlte es doch ihrer Wissenschaft an dem rechten Leben! Ihre tote Wissenschaft erhielt in ihrem Munde etwas Starres und noch Totenähnlicheres. Mit einem Wort, es ging alles drunter und drüber. Die Achtung vor der Schulobrigkeit und Autorität ging ganz verloren, man lachte und spottete über die Lehrer, nannte den Direktor Fritze, Pauker und wie die schönen Namen sonst noch heißen. Es schlichen sich Laster ein, die durchaus nicht mehr unschuldig waren, ja die Schüler machten raffinierte Streiche, daß man sich genötigt sah viele von ihnen ganz auszuschließen. In zwei Jahren war die Schule kaum noch wiederzuerkennen.

Andrei Iwanowitsch hatte einen stillen und sanften Charakter. Er fand kein Gefallen an den nächtlichen Orgien seiner Kameraden, die vor dem Fenster der Wohnung ihres Direktors ganz ungeniert ein Dämchen einquartiert hatten, auch machte er ihre schlechten Streiche und frechen Reden über die Religion nicht mit, zu denen sie sich nur deshalb verstiegen, weil sie zufällig einen recht dummen Popen zum Lehrer hatten. Nein, seine Seele ahnte selbst durch den Traum hindurch ihren göttlichen Ursprung. Es gelang ihnen nicht, ihn zu verführen, aber er ließ sehr bald die Nase hängen. Sein Ehrgeiz war schon erwacht, aber es gab leider kein Feld, auf dem er ihn hatte betätigen können. Es wäre besser gewesen, wenn dieser Ehrgeiz überhaupt nicht geweckt worden wäre. Andrei Iwanowitsch hörte wie sich die Professoren auf dem Katheder ereiferten und mußte dabei stets an seinen früheren Lehrer denken, der, auch ohne sich aufzuregen, immer klar und verständig blieb. Was hörte er nicht alles für Gegenstände und Fächer! Philosophie, Medizin, sogar Jurisprudenz, allgemeine Weltgeschichte und zwar in einem solchen Umfange, daß der Professor in ganzen drei Jahren kaum über die Einleitung und über die Entstehung gewisser deutscher Städte hinauskam — und Gott weiß was er nicht noch alles hörte, aber dies alles blieb in seinem Kopfe wie ein Haufe von formlosen Stücken liegen — dank seinem angeborenen Verstande fühlte er nur, daß dies nicht die richtige Unterrichtsmethode sein könne, worin aber nun die rechte bestand — dies wußte er selbst nicht. Und oft noch mußte er an Alexander Petrowitsch denken, und dann wurde ihm so schwer ums Herz, daß er nicht wußte, wo er sich vor Schmerz lassen sollte.

Aber das eben ist das Glück der Jugend, daß sie noch eine Zukunft hat. Je näher die Zeit heranrückte, wo seine Lehrzeit ein Ende nehmen sollte, um so lebhafter schlug das Herz in seiner Brust. Er sprach zu sich selbst: „Das alles ist ja noch nicht das Leben, das wahre Leben fängt erst mit dem Staatsdienst an, da beginnt die Zeit der großen Taten.“ Und ohne einen Blick auf den herrlichen Winkel zu werfen, der alle Gäste und Besucher in Staunen und Entzücken versetzte, ohne dem Grabe seiner Eltern einen Besuch abgestattet zu haben, eilte er wie alle ehrgeizigen Menschen nach Petersburg, das Ziel aller feurigen jungen Leute, die aus allen Gegenden Rußlands hierher zusammenströmen, um in den Staatsdienst zu treten, um zu glänzen, Karriere zu machen oder auch nur ganz oberflächlich von unserer eiskalten, farblosen, trügerischen gesellschaftlichen Bildung zu nippen. Allein Andrei Iwanowitsch sah sich in seinem ehrgeizigen Streben sehr bald gehemmt und abgekühlt durch seinen Onkel den wirklichen Staatsrat Onufrij Iwanowitsch. Dieser erklärte kategorisch, die Hauptsache, auf die alles ankomme, sei eine gute Handschrift; alles Übrige sei unrichtig; ohne diese jedoch könne er es unmöglich bis zum Minister oder einer höheren Staatsstellung bringen. Nur mit großer Müh und durch die hohe Protektion seines Onkels gelang es ihm endlich, sich eine kleine Stellung in einem untergeordneten Departement zu verschaffen. Als er den prachtvollen hell erleuchteten Saal mit dem glänzenden Parkett und all den lackierten Tischen betrat, da hatte er den Eindruck, als säßen hier die ersten Würdenträger des Reiches, die über das Schicksal des ganzen Landes zu entscheiden hätten, und als er dann die Legionen schöner Herren erblickte, die den Kopf auf die Schulter gebeugt, dasaßen und laut mit den Federn kritzelten, und wie er nun aufgefordert wurde, hinter einem Tische Platz zu nehmen und ein Aktenstück abzuschreiben (es hatte wie mit Absicht einen ganz unbedeutenden Inhalt; handelte es sich doch um drei Rubel, wegen der schon ein halbes Jahr lang hin- und hergeschrieben wurde) da überlief den unerfahrenen Jüngling ein ganz merkwürdiges Gefühl. Die um ihn herumsitzenden Herren erinnerten ihn lebhaft an kleine Schuljungen! Zur Vervollständigung der Ähnlichkeit waren noch einige von ihnen in die Lektüre eines dummen Romans, eine Übersetzung aus einer fremden Sprache vertieft; sie hielten ihn zwischen den Blättern des Aktenstückes versteckt, suchten sich den Anschein zu geben, als seien sie mit der Durchsicht der Akten beschäftigt und fuhren jedesmal zusammen, wenn der Vorgesetzte in der Türe erschien. Dies alles kam ihm so seltsam vor und er konnte das Gefühl nicht los werden, daß seine frühere Tätigkeit unendlich viel bedeutender und die Vorbereitung zum Staatsdienst weit schöner gewesen war, als der Staatsdienst selbst. Er sehnte sich wieder in seine Schulzeit zurück. Plötzlich stand Alexander Petrowitsch wie lebendig vor seinem geistigen Blick — und er konnte nur mit Mühe seine Tränen unterdrücken.

Das ganze Zimmer begann sich zu drehen. Die Tische und die Beamten wirbelten durcheinander und fast wäre er in dieser plötzlichen Umnachtung zu Boden gesunken. „Nein,“ sagte er, als er wieder zu sich kam, leise zu sich selber, „ich will dennoch ans Werk gehen, so kleinlich es mir auch erscheint.“ Nachdem er sich so selbst ermutigt hatte, beschloß er, seinen Dienst ruhig weiter zu versehen, wie alle andern.

Wo ist die Welt ganz freudenleer? Auch Petersburg bietet trotz seines rauhen, finstern Äußeren mancherlei Genüsse. Draußen herrscht eine fürchterliche Kälte von dreiunddreißig Grad; wie ein entfesselter böser Geist jagt heulend die Schneesturmhexe, dies Kind des Nordens, durch die Luft, wütend fegt sie den Schnee über das Straßenpflaster, klebt den Leuten die Augen zusammen, und bestreut die Pelz- und Mantelkragen, die Schnurrbärte der Menschen und die Schnauzen der Tiere mit weißem Puder; aber anheimelnd blinkt zwischen den durcheinanderwirbelnden Schneeflocken hindurch irgendwo hoch oben im vierten Stock ein freundlich erleuchtetes Fenster; in einem gemütlichen Zimmer beim Lichte bescheidener Stearinkerzen und beim traulichen Gesumm der Teemaschine werden hier Herz und Seele erwärmende Gedanken ausgetauscht, erklingt manch herrliches, begeistertes Poetenwort, mit dem Gott sein liebes Rußland so reichlich beschenkte, und in erhabener Glut erbebt manch Jünglingsherz wie nirgends sonst, nicht einmal unter dem schwellenden Himmel des Südens.

Tentennikow gewöhnte sich bald an den Dienst, aber die berufliche Tätigkeit wurde ihm nicht zum eigentlichen Ziel und Selbstzweck, wie er zuerst geglaubt hatte, sondern sie rückte gewissermaßen an die zweite Stelle. Sie diente ihm dazu, seine Zeit besser einzuteilen, und lehrte ihn die wenigen freien Augenblicke, die ihm übrig blieben, erst recht schätzen. Sein Onkel der wirkliche Staatsrat fing schon an zu glauben, daß aus dem Neffen noch etwas Rechtes werden könne, als dieser plötzlich einen ganz dummen Streich machte. Hier müssen wir einflechten, daß sich unter den vielen Freunden Andrei Iwanowitschs zwei junge Leute befanden, die zur Klasse der sogenannten „verbitterten“ Menschen gehörten. Das waren zwei von jenen seltsamen und unruhigen Charakteren, die nicht nur keine Ungerechtigkeit geduldig zu ertragen vermögen, sondern nicht einmal das, was ihnen wie eine Ungerechtigkeit erscheint. Von Natur gutmütig, aber unklug und systemlos in ihren Handlungen, verlangen sie von andern Leuten alle nur möglichen Rücksichten, während sie selbst äußerst intolerant gegen andre Menschen sind. Ihre feurige Rede und die äußerlich zur Schau getragene edle Entrüstung gegen die Gesellschaft machten einen starken Eindruck auf Tentennikow. Im Umgang mit ihnen schärften sich seine Nerven und erwachte in ihm eine gewisse Empfindlichkeit und Reizbarkeit. Er lernte von ihnen, all jene Kleinigkeiten zu bemerken, die er früher kaum beachtet hatte. Fjodor Nikolajewitsch Lenitzyn, der Chef einer der Abteilungen, die sich in jenem prachtvollen Saal befanden, erregte plötzlich sein Mißfallen. Es schien ihm, daß sich Lenitzyn ganz und gar in ein Stück Zucker verwandelte und sein Gesicht zu einem widerlich süßen Lächeln verzog, wenn er mit Leuten sprach, die über ihm standen, dagegen sofort eine essigsaure Miene machte, wenn er sich an seine Untergebenen wandte; daß er sich nach Art aller kleinlichen Menschen alle die merkte, die an den großen Festtagen nicht zu ihm kamen, um zu gratulieren und es denen nicht vergessen konnte, deren Namen er nicht auf der beim Portier ausliegenden Liste fand. Infolgedessen faßte er eine unüberwindliche, beinahe physische Antipathie gegen ihn. Es war fast so, als stachele und reize ihn beständig ein böser Geist, Fjodor Fjodorowitsch eine Unannehmlichkeit zu bereiten. Mit einer geheimen Freude suchte er nach einer passenden Gelegenheit und sie fand sich sehr bald. Einmal wurde er so grob gegen ihn, daß ihm von der vorgesetzten Behörde bedeutet wurde, — er müsse den Chef um Verzeihung bitten oder um seinen Abschied einkommen. Er nahm seinen Abschied. Sein Onkel, der wirkliche Staatsrat, kam ganz erschrocken zu ihm gelaufen und flehte ihn an: „Um Gotteswillen, Andrei Iwanowitsch! Ich bitte dich! Was machst du? Deine ganze, so glücklich begonnene Karriere aufs Spiel zu setzen, bloß weil du einen Vorgesetzten bekommen hast, der dir nicht gefällt! Was soll das nur bedeuten? Wenn jeder es so machen wollte, dann bliebe doch überhaupt keiner mehr im Amte. Komm zu dir, sei vernünftig ... Überwinde deinen falschen Stolz und deine Eitelkeit, fahre zu ihm hin und sprich dich mit ihm aus!“

„Es handelt sich hier doch gar nicht darum, lieber Onkel,“ sagte der Neffe. „Es wird mir ja garnicht schwer, ihn um Verzeihung zu bitten. Ich bin wirklich schuld: er ist mein Vorgesetzter, und ich hätte nicht so mit ihm reden dürfen. Aber die Sache ist die: für mich gibt es noch einen andern Dienst und eine andre Aufgabe: ich habe dreihundert Bauern, mein Gut liegt darnieder, und mein Verwalter ist ein Narr. Der Staat wird nicht sehr viel verlieren, wenn ein anderer meinen Platz im Bureau einnehmen und meine Akten abschreiben wird, aber er verliert sehr viel, wenn dreihundert Bauern ihre Steuern nicht bezahlen können. Bedenken Sie, ich bin doch Gutsbesitzer: das ist kein Beruf, bei dem man müßig dasitzen könnte. Wenn ich für die Erhaltung, für die Hebung der Lage der mir anvertrauten Menschen sorge und dem Staate dreihundert tüchtige, nüchterne und fleißige Untertanen auf die Beine stelle, — habe ich damit etwa weniger getan, als irgend ein Departementschef Lenitzyn?“

Der wirkliche Staatsrat sperrte vor Verwunderung den Mund weit auf; einen solchen Redeerguß hatte er nicht erwartet. Er dachte etwas nach und begann dann etwa folgendermaßen: „Aber trotzdem ... nein, was denkst du nur? Du kannst dich doch nicht auf dem Lande vergraben? Die Bauern sind doch kein Umgang für dich! Hier ist’s doch anders, da begegnet man doch hin und wieder einmal einem General oder einem Fürsten. Und wenn du Lust hast, kannst du auch an irgend einem schönen öffentlichen Gebäude vorübergehen. Hier gibt es doch Gasbeleuchtung und europäische Industrie, dagegen dort! da siehst du doch nichts wie Bauern und Bauernweiber. Warum willst du dich unter so ungebildete Menschen begeben?“

Aber diese so überzeugenden Einwände und Vorstellungen des Onkels machten keinen rechten Eindruck auf den Neffen. Das Land erschien ihm als ein Hort der Freiheit, als Nährmutter schöner Träume und Gedanken, als das einzige Feld einer nützlichen Tätigkeit. Er hatte sich schon die allerneuesten Werke über Landwirtschaft besorgt. Mit einem Wort, zwei Wochen nach dieser Unterhaltung befand er sich schon in der Nähe jener Plätze, wo er seine Jugend verlebt hatte, und jenes lieblichen Winkels, der jeden Gast und Besucher so in Begeisterung versetzte. Ein ganz neues Gefühl bemächtigte sich seiner. Alte längst verblaßte Eindrücke erwachten in seiner Seele. Manche Plätze hatte er schon ganz vergessen, und neugierig wie ein Neuling betrachtete er die herrlichen Gegenden, an denen er vorüberkam. Und plötzlich begann sein Herz aus einem unbekannten Grunde heftig zu schlagen. Doch als dann der Weg durch eine enge Schlucht in das Dickicht eines gewaltigen Urwaldes führte und er oben und unten, über und unter sich dreihundertjährige Eichenstämme, die drei Menschen kaum zu umfassen vermochten, untermischt mit Tannen, Ulmen und Schwarzpappeln erblickte, die noch höher waren als die gewöhnlichen Pappeln und als er dann auf die Frage: „Wem gehört dieser Wald?“ die Antwort erhielt: „Tentennikow,“ und wie dann der Weg den Wald verließ, sich an Espenhainen, jungen und alten Weidenbäumen und Sträuchen, und an den fernen Gebirgsketten vorüberzog und den Fluß zweimal auf Brücken überschritt, ihn bald zur Rechten bald zur Linken lassend und als der Reisende auf die Frage: „Wem gehören diese Wiesen und diese überschwemmten Felder?“ wiederum die Antwort erhielt: „Tentennikow,“ und als dann der Weg den Berg hinaufklomm und auf dem hohen Plateau weiter fortlief, vorbei an Korngarben, Weizen, Roggen und Gerste und sich noch einmal an all den Plätzen entlang zog, an denen man schon einmal vorbeigekommen war und die nun plötzlich weit näher gerückt schienen, und als der Weg immer dunkler wurde und in den Schatten breiter weitverzweigter Bäume untertauchte, die dicht beieinander auf dem grünen Rasenteppich standen, welcher sich bis zur Grenze des Dorfes hinzog; als die mit Schnitzwerk verzierten Bauernhütten, die roten Dächer der steinernen Gutsgebäude ihm freundlich entgegenschimmerten, als die goldene Spitze des Kirchturms vor ihm aufblitzte und das feurig pochende Herz ihm auch ohne zu fragen sagte, wo er sich jetzt befand, — da machten sich die immer höher schwellenden Gefühle in folgenden lauten Worten Luft: „War ich nicht ein Narr bis auf den heutigen Tag. Das Schicksal hatte mich zum Besitzer eines irdischen Paradieses ausersehen, und ich verdammte mich selbst zu niederen Schreiberdiensten, machte mich zum Knechte toter Buchstaben. Da habe ich nun viel gelernt, eine sorgfältige Erziehung genossen, mich über die Dinge orientiert, mir einen großen Schatz von Kenntnissen angeeignet, deren man zur Förderung des Guten unter seinen Untergebenen, zur Hebung eines ganzen Gebietes, zur gewissenhaften Erfüllung der zahlreichen Pflichten eines Gutsbesitzers bedarf, der Verwalter, Richter und Ordnungswächter in einer Person ist! Und da gehe ich hin und vertraue diesen Posten irgend einem ungebildeten und unfähigen Inspektor an! Und wähle mir statt dessen den Beruf eines Gerichtsschreibers und kümmere mich um die Prozesse anderer Leute, die ich überhaupt noch nicht gesehen habe und deren Wesen und Charakter ich nicht einmal kenne. Wie konnte ich nur dies Papierregiment, diese phantastische Verwaltung von Provinzen, die vielleicht tausend Werst von mir entfernt sind, die ich noch nie mit dem Fuße betreten habe und wo ich einen ganzen Haufen von Dummheiten anrichten kann — der realen Verwaltung meiner eigenen Güter vorziehen?“

Unterdessen aber erwartete ihn ein andres Schauspiel. Die Bauern hatten von der Ankunft ihres Herrn gehört und sich an der Freitreppe des Herrenhauses versammelt. Bunte Tücher, Gürtel, Hauben, Bauernkittel und die mächtigen malerischen Bärte dieses schönen Menschenschlages drängten sich um ihn. Und als dann aus hundert Kehlen der Ruf ertönte: „Väterchen! Hast du dich endlich unser erinnert!“ und den alten Leuten, die noch seinen Großvater und Urgroßvater gekannt hatten unwillkürlich die Tränen in die Augen traten, da konnte auch er seine Rührung nicht unterdrücken. Und er mußte sich insgeheim fragen: „So viel Liebe! Womit habe ich sie nur verdient?“ — „Wohl damit, daß ich sie nie gesehen, mich nie um sie gekümmert habe!“ Und er schwur sich, von nun an alle Mühe und Arbeit mit ihnen zu teilen.

Und Tentennikow machte sich ganz ernstlich an die Verwaltung und Bewirtschaftung seines Gutes. Er setzte den Erbzins herab, verringerte die Fronarbeit und ließ den Bauern mehr Zeit für ihre eigenen Arbeiten. Den dummen Verwalter jagte er davon und kümmerte sich selbst um alles. Er erschien selbst auf den Feldern, auf der Tenne, auf der Getreidedarre, in den Mühlen und am Landungsplatz; und er war beim Laden und bei der Abfertigung der Barken zugegen, sodaß die Trägen und Faulen sich bereits hinter den Ohren am Kopf kratzten. Aber das dauerte nicht lange.(5) Der Bauer ist nicht dumm, er begriff bald, daß der Herr zwar flink und gewandt sei und wirklich Lust habe, was Tüchtiges zu leisten, aber noch nicht recht wisse, wie er es anfangen solle; auch war seine Ausdrucksweise gar zu kompliziert und zu gebildet. Schließlich kam es soweit, daß sich Herr und Bauer — es wäre zu viel gesagt — garnicht verstanden, aber doch nicht recht miteinander harmonierten und es nie lernten, den gleichen Ton zu treffen.

Tentennikow bemerkte bald, daß auf dem herrschaftlichen Grund und Boden alles bei weitem nicht so gut gedieh, wie auf dem des Bauern: das Korn wurde früher ausgesät und ging später auf; und doch konnte man nicht sagen, daß die Leute schlecht arbeiteten. Der Herr stand immer selbst dabei und ließ den Bauern sogar einen Becher Branntwein reichen, wenn sie sich besonders viel Mühe gaben. Trotzdem aber stand bei den Bauern der Roggen schon längst in vollen Halmen, der Hafer reifte, die Hirse schoß mächtig empor, bei ihm dagegen grünte das Korn noch kaum und die Ähren waren kaum gefüllt. Mit einem Wort, der Herr merkte, daß ihn der Bauer einfach hinterging trotz aller Erleichterungen und Wohltaten, die er ihm angedeihen ließ. Er machte den Versuch, die Bauern zur Rede zu stellen, da erhielt er aber folgende Antwort: „Wie können Sie nur glauben, gnädiger Herr, daß wir nicht an den Nutzen und Vorteil der Herrschaft denken. Sie haben doch selbst gesehen, wieviel Mühe wir uns beim Pflügen und Säen gegeben haben! — Sie haben uns doch sogar einen Becher Branntwein geben lassen.“ Was konnte er darauf antworten?

„Warum steht denn aber das Getreide so schlecht?“ fragte der Herr weiter.

„Gott weiß es! Der Wurm hat’s wohl von unten angenagt! Und dann kommt noch der schlechte Sommer dazu: es hat ja nicht ein einziges Mal geregnet.“

Aber der Herr sah, daß der Wurm das Getreide der Bauern verschont hatte, und es regnete auch so merkwürdig, sozusagen streifenweise, sodaß nur der Bauer Vorteil davon hatte, während auch nicht ein Tropfen das herrschaftliche Kornfeld traf.

Und noch schwerer wurde es ihm mit den Frauen auszukommen. In einem fort bettelten sie um Befreiung von der Arbeit und klagten über die Lasten des Frondienstes. Seltsam! Er verlangte überhaupt keine Lieferungen von Leinwand, Beeren, Pilzen und Nüssen mehr von ihnen, erließ ihnen die Hälfte aller andern Arbeiten, weil er glaubte, die Frauen würden die freigewordene Zeit für ihre häuslichen Arbeiten verwenden, für die Wäsche und Kleidung ihrer Männer sorgen und ihre Gemüsegärten vergrößern. Welch ein Irrtum! Statt dessen griff der Müßiggang, das Raufen, die Klatschsucht und allerhand Zänkereien derartig unter dem schönen Geschlecht um sich, daß die Männer jeden Augenblick zum Herrn gelaufen kamen und ihn baten: „Gnädiger Herr, bringen Sie diesen Satan von einem Weibe zur Vernunft! Das ist ja der reinste Teufel. Mit der kann kein Mensch auskommen!“

Mehrmals schon hatte er sich überwunden und seine Zuflucht zur Strenge nehmen wollen. Aber wie konnte er es übers Herz bringen! Wie konnte er streng sein, wenn so eine Frau daher kam und nach rechter Weiberart zu heulen begann? Dazu sahen sie alle so krank und elend aus und waren in so häßliche widerwärtige Tücher und Lappen gehüllt! (Woher sie sie bloß nahmen — das weiß Gott allein!) „Fort, geh mir aus den Augen, daß ich dich nicht zu sehen brauche!“ rief der arme Tentennikow und hatte gleich darauf das Vergnügen zu sehen, wie das Weib aus dem Tore hinaustrat, sich mit einer Nachbarin um irgend eine Rübe zu zanken begann und ihr trotz ihrer Kränklichkeit so kräftig den Buckel volldrosch, wie es ein gesunder Bauer nicht schöner fertiggebracht hätte.

Eine Zeitlang wollte er eine Schule für sie gründen, aber das gab eine solch tolle Verwirrung, daß er ganz mutlos wurde, den Kopf hängen ließ, und bedauerte überhaupt damit angefangen zu haben!

Bei seiner Tätigkeit als Schiedsrichter und Mittler merkte er gleichfalls, daß sich mit all den juristischen Kniffen und Finessen nicht viel anfangen ließ, auf die ihn seine philosophischen Professoren gebracht hatten. Die eine Partei log, die andre schwindelte nicht weniger und schließlich konnte nur der Teufel aus der Sache klug werden. Und er erkannte, daß die schlichte Menschenkenntnis weit wertvoller war, als alle juristischen Kniffe und philosophischen Bücher; — er fühlte, daß ihm noch etwas fehlte, was dies aber war, das wußte nur Gott allein. Und es passierte etwas, was so oft zu passieren pflegt: weder verstand der Herr den Bauern noch der Bauer den Herrn; und beide, sowohl der Herr wie der Bauer schoben sich gegenseitig die Schuld zu. Dies kühlte den Eifer des Gutsbesitzers erheblich ab. Wenn er jetzt hinging, um die Arbeiten zu beaufsichtigen, dann ließ er es fast ganz an der früheren Aufmerksamkeit fehlen. Während der Heuernte achtete er nicht mehr auf den leisen Ton der Sensen, er sah nicht, wie die Heuschober errichtet, wie das Heu verladen wurde und bemerkte nicht, daß um ihn herum die Erntearbeiten in vollem Gange waren. — Seine Augen blickten in die Ferne; befand er sich abseits von den Arbeiten, so suchte das Auge irgend einen Gegenstand in der Nähe oder er blickte nach der Seite, wo der Fluß eine Wendung machte, und wo ein Kerl mit roten Beinen und rotem Schnabel auf und ab spazierte — ich meine natürlich einen Vogel und keinen Menschen; neugierig beobachtete er, wie der Vogel am Ufer einen Fisch fing und ihn eine Zeitlang im Schnabel hielt, tiefsinnig überlegte, ob er ihn verschlucken solle oder nicht, und aufmerksam den Fluß hinabblickte, wo in der Ferne ein anderer ähnlicher Vogel zu sehen war, der noch keinen Fisch gefangen hatte, aber aufmerksam nach dem Vogel mit dem Fisch im Schnabel ausschaute. Oder er schloß die Augen, richtete den Kopf in die Höhe zu dem blauen Himmelsraume empor, und ließ seine Nase den Geruch der Felder einsaugen und die Ohren den Gesang des gefiederten luftigen Sängervolkes auffangen, wenn sie sich allenthalben im Himmel und auf der Erde zu einem wundersamen Chore vereinen, in dem kein Mißklang die schöne Harmonie stört: im Roggen schlägt die Wachtel, der Wiesenknarrer pfeift im Grase, die Hänflinge fliegen zwitschernd herüber und hinüber, eine Schnepfe blökt während sie sich in die Luft schwingt, die Lerchen trillern, sich hoch im blauen Himmelsraum verlierend, und wie ein Trompetenton erklingt der Schrei der Kraniche, die hoch oben in den Lüften ihre dreieckigen Flugreihen formieren. Die ganze Umgegend tönt und klingt und gibt jeden Laut wundersam zurück ... O Gott! Wie herrlich ist doch Deine Welt noch in der Wildnis, in dem kleinsten Dörfchen, fern von den abscheulichen großen Landstraßen und Städten! Aber auch dieses wurde ihm mit der Zeit langweilig. Bald hörte er ganz auf, aufs Feld zu gehen, von nun ab hockte er beständig im Zimmer und wollte nicht einmal mehr den Verwalter empfangen, wenn dieser kam, um ihm seinen Bericht zu erstatten.

Früher sprach noch von Zeit zu Zeit ein Nachbar bei ihm vor; irgend ein Husarenleutnant a. D., ein leidenschaftlicher Raucher, der ganz mit Tabakqualm gesättigt war, oder ein radikaler Student, der seine Studien nicht vollendet hatte und seine Weisheit aus allerhand modernen Broschüren und Zeitungen schöpfte. Aber auch dies begann ihn zu langweilen. Die Unterhaltungen dieser Leute kamen ihm bald recht oberflächlich vor; ihr europäisch-sicheres und gewandtes Auftreten, die Ungeniertheit, mit der sie ihm aufs Knie klopften, ihre Schmeicheleien und Familiaritäten erschienen ihm gar zu unverhüllt und offen. Er beschloß daher, den Verkehr mit ihnen abzubrechen und entledigte sich ihrer in sehr schroffer Weise. Als nämlich ein Repräsentant jener Sorte von Obersten und Lebemännern, die heute bereits im Aussterben begriffen sind, ein überaus angenehmer Gesellschafter und Freund oberflächlicher Unterhaltungen und zugleich der Vordermann und Vertreter jener neuen bei uns eben erst aufkommenden Denkart, Warwar Nikolajewitsch Wischnepokromow ihn einmal besuchte, um sich so recht von Herzen über Politik, Philosophie, Literatur, Moral und sogar über die Finanzlage Englands mit ihm auszusprechen, da schickte er seinen Diener hinaus und ließ ihm sagen, er sei nicht zu Hause, wobei er zugleich die Unvorsichtigkeit hatte, sich am Fenster zu zeigen. Die Blicke des Hausherrn und des Gastes begegneten sich. Der eine murmelte natürlich „so ein Schweinehund!“ durch die Zähne, worauf ihm der andere gleichfalls so etwas wie einen Schweinehund nachsandte. Damit endete ihre Bekanntschaft. Seitdem besuchte ihn niemand mehr.

Er war eigentlich recht froh darüber und gab sich ganz dem Nachdenken über sein großes Werk über Rußland hin. In welcher Weise dieses geschah — hat der Leser bereits gesehen. In seinem Hause bürgerte sich von selbst eine merkwürdige — liederliche Ordnung ein. Trotzdem kann man nicht sagen, daß es keine Augenblicke gab, wo er nicht sozusagen aus seinem Schlafe erwachte. Wenn die Post neue Zeitungen und Journale ins Haus brachte und er beim Lesen auf den Namen eines alten Kameraden stieß, der sich im Staatsdienste zu einer bedeutenden Stellung emporgeschwungen hatte, oder sein Teil zum Fortschritt der Wissenschaften und der Sache der ganzen Menschheit beigetragen hatte, dann schlich sich ein stiller leiser Schmerz in sein Herz und eine sanfte, stumme aber bittere Klage über sein tatenloses Leben entrang sich seiner Seele. Dann erschien ihm sein ganzes Dasein ekelhaft und häßlich. Mit ungewöhnlicher Klarheit erstand vor ihm die längst hinter ihm liegende Zeit seiner Schuljahre, und das Bild von Alexander Petrowitsch wurde plötzlich vor ihm lebendig, und Tränenbäche stürzten ihm aus den Augen .....

Was bedeuteten diese Tränen? Offenbarte sich etwa in ihnen die tief erschütterte Seele, das schmerzliche Geheimnis ihrer Leiden, des Schmerzes über den großen und edlen Menschen, der in seinem Innern schlummerte und der mitten im Wachstum stecken geblieben war, noch ehe er vermocht hatte sich zu entwickeln und zu erstarken? Noch nicht erprobt im Kampf mit der Mißgunst des Schicksals, hatte er noch jene hohe Reife nicht erreicht, die ihn lehrte, sein eigenes Wesen zu erhöhen und zu kräftigen in dem Ansturm gegen Hemmungen und Hindernisse; dahingeschmolzen wie glühendes Metall war ein reicher Schatz großer herrlicher Gefühle, ohne die letzte Stählung und Härtung erhalten zu haben; allzu früh für ihn war der herrliche Lehrer gestorben, und nun gab es auf der ganzen Welt keinen Menschen mehr, der fähig gewesen wäre, die durch fortwährende Erschütterungen geschwächten Kräfte und den jeglicher Widerstandskraft beraubten machtlosen Willen zu heben und zu wecken, — der ihn mit lebendigem Worte ermuntert — der Seele ein belebendes „Vorwärts“ zugerufen hätte, ein Ruf, nach dem ein jeder Russe, überall in jeder Lebenslage, ob hoch oder niedrig, in jedem Rang, Beruf und Stande so lebhaft dürstet.

Wo ist der, der unserer russischen Seele in ihrer eigenen teuren Muttersprache dieses allgewaltige Wort „Vorwärts“ zuzurufen vermöchte? Wer kennt so gut alle Kräfte und Fähigkeiten, die ganze Tiefe unseres Wesens, daß er uns mit einem Zauberwink zum höchsten Leben fortreißen könnte? Mit welchen Tränen, mit welcher Liebe würde es ihm der Russe danken! Aber Jahrhunderte auf Jahrhunderte verrinnen; in schmachvoller Trägheit und sinnloser Geschäftigkeit unreifer Jünglinge versinkt unser Geschlecht, und nicht will uns Gott den Mann senden, der es verstünde, dieses allgewaltige Wort zu sprechen!

Und doch hätte ein Ereignis Tentennikow beinahe aus seinem Schlaf geweckt und eine völlig Umwälzung in seinem Charakter hervorgebracht. Es war eine Art Liebesgeschichte, aber auch sie hatte keine weiteren Folgen. In Tentennikows Nachbarschaft, etwa zehn Werst von seinem Gute entfernt lebte ein General, der wie wir schon wissen nicht allzu freundlich von Tentennikow sprach. Dieser General lebte wie ein echter General d. h. wie ein großer Herr, machte ein offenes Haus und liebte es, daß seine Nachbarn ihn besuchten und ihm ihre Aufwartung machten; er selbst erwiderte natürlich die Besuche nicht, hatte eine rauhe heisere Stimme, las viele Bücher und besaß eine Tochter, ein ganz seltsames, ungewöhnliches Wesen. Sie hatte etwas so Lebensvolles, wie das Leben selbst.

Ihr Name war Ulenka, sie hatte eine merkwürdige Erziehung genossen. Eine englische Gouvernante hatte sie erzogen, die kein Wort russisch verstand. Ihre Mutter war schon sehr früh gestorben und der Vater hatte keine Zeit sich viel um sie zu kümmern. Übrigens konnte es bei seiner unsinnigen Liebe zu seiner Tochter gar nicht anders geschehen, als daß er sie schrecklich verwöhnte. Bei ihr atmete alles Selbständigkeit und Eigenart, wie bei einem Kinde, das in der Freiheit erzogen ward. Wenn jemand gesehen hätte wie ein plötzlicher Zorn strenge Falten in die herrliche Stirn grub, wie sie sich leidenschaftlich mit ihrem Vater stritt dann hätte er wohl glauben können, sie sei das launischste Geschöpf von der Welt. Aber sie wurde nur dann zornig, wenn sie von einer Ungerechtigkeit oder Grausamkeit hörte, die einem andern widerfahren war. Niemals zürnte oder stritt sie sich um ihrer selbst willen und nie suchte sie sich zu rechtfertigen. Wie schnell aber verschwand ihr Zorn, wenn sie den, dem sie zürnte, in Unglück und Elend sah! Sie hätte jedem, der sie um ein Almosen bat, sofort ihren Geldbeutel mit seinem ganzen Inhalt zugeworfen, ohne zu überlegen, ob das auch vernünftig sei(6) oder nicht. Es war etwas Heftiges, Ungestümes in ihr. Wenn sie sprach, dann schien alles dem Gedanken zu folgen, ja ihm voranzueilen: der Ausdruck ihres Gesichtes, ihre Sprache, die Bewegungen, ihre Hände; selbst die Falten ihres Kleides schienen vorauszuflattern, und man konnte fast glauben, sie müsse selbst mit ihren Worten davonfliegen. Sie hatte nichts Verschlossenes an sich, vor keinem Menschen hätte sie sich gefürchtet, ihre geheimsten Gedanken zu offenbaren, und keine Macht der Welt hätte sie zum Schweigen veranlassen können, wenn sie reden wollte. Ihr entzückender Gang, ein Gang, wie nur sie allein ihn hatte, war so frei und fest, daß jeder, der ihr begegnete, unwillkürlich zur Seite trat und ihr den Weg freigab. In ihrer Gegenwart überkam jeden bösen Menschen etwas wie Verlegenheit, und er verstummte. Die Kecksten und Frechsten fanden keine Worte und verloren ihre ganze Fassung und Sicherheit, während die Blöden sofort ganz unbefangen mit ihr zu plaudern begannen wie mit keinem andern Menschen auf der Welt und schon nach den ersten Worten schien es einem solchen, als hätte er sie schon irgendwo und irgendwann kennen gelernt und als hätte er diese selben Züge schon irgendwo gesehen: in seiner frühesten Kindheit, an die er sich kaum noch erinnerte, im eigenen Vaterhause, an einem glücklichen Abend, während fröhliche Kinderscharen spielten und lärmten, und traurig erschien ihm noch lange nachher der Ernst und die Reife des Mannesalters.

Tentennikow ging es mit ihr ganz ebenso wie allen andern Menschen. Ein unerklärlich neues Gefühl bemächtigte sich seiner. Ein heller Lichtstrahl erhellte einen Augenblick sein monotones und trauriges Leben.

Der General nahm Tentennikow zuerst recht freundlich und herzlich auf, eine rechte Harmonie aber wollte sich zwischen ihnen trotzdem nicht herstellen. Jede Unterhaltung endigte mit einem Streit, der stets ein unangenehmes Gefühl in beiden zurückließ; denn der General konnte keinen Widerspruch und keine Gegenrede vertragen. Andererseits war auch Tentennikow ein ziemlich empfindlicher junger Mann. Natürlich vergab er dem Vater manches um seiner Tochter willen, und der Friede zwischen beiden blieb so lange ungestört, bis eines schönen Tages zwei Verwandte des Generals: eine Gräfin Boldyrew und eine Fürstin Jusjakow bei ihm zu Besuch eintrafen: beide Hofdamen der alten Kaiserin, die aber doch noch einige gute Verbindungen mit einflußreichen Personen in Petersburg besaßen; der General bemühte sich lebhaft, ihre Zuneigung zu gewinnen. Tentennikow kam es so vor, daß der General seit dem Tage ihrer Ankunft etwas kälter gegen ihn wurde, ihn kaum noch beachtete und ihn wie eine stumme Person behandelte. Er redete ihn oft von oben herab an; nannte ihn „mein Bester“ oder „Verehrtester“ und sagte einmal sogar „du“ zu ihm. Andrei Iwanowitsch fuhr auf. Er biß die Zähne zusammen, wußte sich aber unter ungeheurer Selbstüberwindung soviel Geistesgegenwart zu bewahren, um ihm mit sehr sanfter und höflicher Stimme zu erwidern, während alles in ihm kochte und rote Flecken auf seinem Gesichte hervortraten: „Ich bin Ihnen für Ihre Güte großen Dank schuldig Herr General. Mit diesem vertraulichen „du“ bieten Sie mir ein enges Freundschaftsbündnis an, und verpflichten mich, Sie gleichfalls „du“ zu nennen. Aber der Unterschied der Jahre macht einen so familiären Verkehr zwischen uns vollkommen unmöglich!“ Der General wurde verlegen. Er suchte seine Gedanken zu sammeln und das rechte Wort zu finden; schließlich erklärte er, das „du“ sei von ihm durchaus nicht in dem Sinne gemeint gewesen, in dem etwa alte Leute es sich erlauben, einen jungen Menschen „du“ anzureden. Von seinem Generalsrang sagte er kein Wort.

Natürlich brachen beide nach diesem Vorfall jeglichen Verkehr miteinander ab, und seine Liebe wurde im Keime erstickt. Das Licht erlosch, das einen Moment vor ihm aufgeleuchtet war, und die nun herabsinkende Dämmerung war noch finsterer und dunkler, als vordem. Sein Leben kehrte wieder in die alten Bahnen zurück und nahm seine frühere Gestalt an, die der Leser schon kennen gelernt hat. Und wiederum lag er tagelang untätig da. Das Haus starrte vor Schmutz und Unordnung. Der Besen steckte tagelang mitten im Zimmer in einem Haufen Schutt. Die Unterhosen trieben sich sogar im Salon umher, auf dem eleganten Tisch vor dem Sofa lagen ein Paar schmutzige Hosenträger, gleichsam als Festgabe für den eintretenden Gast. Tentennikows ganzes Leben wurde so armselig und schläfrig, daß nicht nur seine Diener aufhörten, ihn zu achten, sondern selbst die Hühner ohne jeden Respekt nach ihm pickten. Er konnte stundenlang mit der Feder in der Hand dasitzen und allerhand Figuren auf ein vor ihm liegendes Blatt zeichnen: Brezel, Häuser, Hütten, einen Bauernwagen, ein Dreigespann usw. Mitunter aber vergaß er alles um sich her, und dann bewegte sich die Feder ganz von selbst über das Papier ohne daß der Hausherr etwas davon wußte und formte ein kleines Köpfchen mit feinen, scharfen Zügen, einem schnellen forschenden Blick und einem leicht emporgekämmten Haarbüschel — und staunend sah der Zeichner, daß es das Abbild jenes Wesens war, dessen Porträt kein Künstler hätte malen können. Und dann wurde ihm noch wehmütiger und schmerzlicher ums Herz; er wollte nicht mehr glauben, daß es ein Glück auf dieser Erde gibt, und darnach wurde er nur noch trauriger und einsilbiger als vordem. So war die Stimmung Andrei Iwanowitsch Tentennikows. Da bemerkte er plötzlich, als er sich eines Tages nach seiner Gewohnheit ans Fenster setzte, um in den Hof hinabzusehen, und zu seinem Erstaunen weder Grigorij noch Perfiljewna erblickte, daselbst eine gewisse Unruhe und Bewegung.

Der junge Koch und die Aufwartefrau liefen hin um das Tor zu öffnen; es tat sich auf, und ließ drei Pferde sehen, ganz wie man sie auf Triumphbögen abgebildet findet: eine Schnauze rechts, eine links und eine in der Mitte. Hoch über ihnen thronte ein Kutscher und ein Bedienter in einem weiten Rock und mit einem Taschentuch um den Kopf. Hinter diesen saß ein Herr in Mantel und Mütze, tief eingehüllt in ein regenbogenfarbiges Plaid. Als die Equipage vor der Treppe hielt, zeigte es sich, daß es nur eine leichte Kutsche auf Federn war. Der Herr, der ein ungewöhnlich anständiges Äußeres hatte, sprang beinahe mit der Schnelligkeit und Gewandtheit eines Militärs aus dem Wagen und eilte die Treppe hinauf.

Andrei Iwanowitsch bekam Angst. Er hielt den Ankömmling für einen Regierungsbeamten. Hier muß ich nachholen, daß er in seiner Jugend in eine dumme Geschichte verwickelt gewesen war. Ein paar philosophierende Husarenoffiziere, die eine Menge moderner Broschüren gelesen hatten, ein Ästhet, der die Universität nicht beendigt hatte, und ein heruntergekommener Spieler wollten eine Wohltätigkeitsgesellschaft gründen unter der Oberleitung eines Freimaurers, eines alten Gauners, der gleichfalls dem Kartenspiel ergeben, aber ein sehr redegewandter Herr war. Die Gesellschaft hatte sich ein außerordentlich hohes Ziel gesteckt: nämlich die ganze Menschheit von den Ufern der Themse bis Kamtschatka, dauernd zu beglücken. Dazu bedurfte man jedoch einer ungewöhnlich großen Kasse, und die Geldspenden, die den großmütigen Mitgliedern abgenommen wurden, waren unerhört groß. Wo das Geld hinkam, das wußte freilich niemand außer dem ersten Vorsitzenden, der die Oberleitung in den Händen hatte. Tentennikow wurde durch zwei Freunde in diese Gesellschaft eingeführt; das waren zwei von jenen verbitterten Menschen, die von Natur gutmütig, sich durch die vielen Toaste auf die Wissenschaft, die Aufklärung und ihre künftigen Heldentaten im Dienste der Menschheit dem Trunk ergeben hatten und zu berufsmäßigen Säufern geworden waren. Tentennikow besann sich noch zur rechten Zeit, und trat aus dieser Gesellschaft aus. Aber die Gesellschaft hatte sich schon in gewisse andre Operationen eingelassen, mit denen sich ein Edelmann eigentlich nicht abgeben sollte, die aber bald darauf zu unangenehmen Folgen und sogar zu Konflikten mit der Polizei führten ... Es ist daher kein Wunder, daß Tentennikow auch nach seinem Austritt und nachdem er alle Beziehungen zu diesen Leuten abgebrochen hatte, seine Ruhe nicht ganz wiederfinden konnte: sein Gewissen war nicht vollkommen rein. Und daher sah er jetzt nicht ohne Schrecken auf die Türe, die sich gleich öffnen mußte.

Aber seine Angst verflog sofort, als der Gast mit einer schier unglaublichen Gewandtheit seine Verbeugung machte, wobei er zum Zeichen der Achtung seinen Kopf etwas zur Seite geneigt hielt. In kurzen aber bestimmten Worten erklärte dieser, daß er schon seit längerer Zeit teils in Geschäften, teils aus Wißbegierde Rußland bereise: unser Land sei sehr reich an merkwürdigen Dingen, ganz abgesehen von dem Überfluß an Erwerbsmöglichkeiten und den großen Unterschieden in der Bodenbeschaffenheit; er sei entzückt von der reizenden Lage des Gutes, hätte es aber trotz dieser entzückenden Lage doch niemals gewagt, den Gutsherrn durch seinen ungelegenen Besuch zu belästigen, wenn nicht seiner Kutsche infolge der Überschwemmungen dieses Frühjahrs und der schlechten Wege plötzlich ein Unfall zugestoßen wäre; die Reparatur werde nämlich die Meisterhand geübter Schmiedekünstler erfordern. Bei alledem aber hätte er es sich, auch wenn mit seiner Kutsche gar nichts passiert wäre, dennoch nicht versagen können, ihm persönlich seine Aufwartung zu machen.

Als der Gast seine Rede beendigt hatte, machte er mit geradezu bezaubernder Liebenswürdigkeit einen Kratzfuß und ließ dabei seine eleganten Lackstiefel mit den reizenden Perlmutterknöpfen sehen, um gleich darauf, trotz seiner Körperfülle, mit der Elastizität eines Gummiballes ein paar Schritte zurückzuspringen.

Andrei Iwanowitsch hatte sich schon längst beruhigt; er nahm an, das müsse irgend ein wißbegieriger Gelehrter oder Professor sein, der Rußland bereist, um Pflanzen oder vielleicht sogar seltene Fossilien zu sammeln. Er erklärte sogleich seine Bereitwilligkeit, ihm in allen Dingen behilflich zu sein; bot ihm seine Wagenbauer und Schmiede für die Reparatur der Kutsche an, bat ihn, sich’s bei ihm so bequem zu machen, wie in seinem eigenen Hause, ließ den Gast in einem großen Lehnsessel à la Voltaire Platz nehmen, und schickte sich an, seine Erzählung anzuhören, die sicherlich von allerhand gelehrten naturwissenschaftlichen Gegenständen handeln würde.

Allein der Gast brachte die Rede mehr auf einige Gegenstände des inneren Lebens. Er verglich sein Leben mit einem Schiff, das auf hoher See von heillosen Stürmen und Winden dahingetrieben werde; erwähnte wie oft er schon Amt und Beruf habe wechseln müssen, wieviel er für die Wahrheit gelitten habe und wie er infolge der Nachstellungen seiner Feinde schon oft in Lebensgefahr geschwebt habe, und noch vielerlei andres, woraus Tentennikow ersehen konnte, daß sein Gast eher ein Mann der Praxis sei. Zum Schluß führte er sein weißes Batisttaschentuch an die Nase und schneuzte sich so laut, wie Andrei Iwanowitsch es noch niemals gehört hatte. Mitunter begegnet man wohl in einem Orchester einer solchen vertrackten Trompete; wenn die einmal einen Ton von sich gibt, dann scheint es einem, als habe es nicht im Orchester, sondern im eigenen Ohre gekracht. Ein ähnlicher Laut erdröhnte jetzt durch die plötzlich erwachten Gemächer des in ewigen Schlaf versunkenen Hauses, und gleich darauf erfüllte die Luft ein intensiver Geruch nach Kölnischem Wasser, der sich durch ein leichtes Schütteln des Batisttaschentuches unsichtbar im Zimmer verbreitete.

Der Leser hat vielleicht schon erraten, daß der Gast kein andrer war, als unser verehrter, von uns so lange vernachlässigter Pawel Iwanowitsch Tschitschikow. Er war etwas älter geworden: diese Zeit war an ihm offenbar nicht ohne Stürme und Sorgen vorübergegangen. Selbst der Frack, in dem er stets zu erscheinen pflegte, schien etwas abgetragen zu sein; auch Kutscher und Equipage, der Diener, die Pferde und das Geschirr sahen ein wenig verbraucht und verschlissen aus. Auch seine Finanzlage schien nicht allzu glänzend zu sein. Aber der Ausdruck seines Gesichts, und der feine Anstand seines Auftretens waren noch ganz dieselben wie früher. Ja sein Benehmen und seine Formen waren eher noch etwas liebenswürdiger geworden, und er legte die Füße noch gewandter übereinander, wenn er im Lehnstuhle Platz nahm. Seine Aussprache war fast noch weicher, in seinen Worten und Redewendungen lag beinahe noch mehr Vorsicht und Mäßigung, in seiner Haltung noch mehr Klugheit und Sicherheit, und fast noch mehr Takt in seinem ganzen Betragen. Sein Kragen und sein Vorhemd waren weißer und glänzender als Schnee, und obwohl er auf Reisen war, klebte auch nicht ein Federchen an seinem Frack: er hätte sofort eine Einladung zu einem Geburtstagsdiner annehmen können. Kinn und Backen waren so glatt rasiert, daß nur ein Blinder über die angenehme Fülle und Rundung nicht in Entzücken geraten konnte.

Im Hause ging sofort eine gewaltige Umwälzung vor sich, die eine Hälfte, die bislang stets in Dunkel und Finsternis gelegen hatte, weil die Laden geschlossen und zugenagelt waren, erstrahlte plötzlich in blendender Helligkeit. In den schön erleuchteten Zimmern wurden die Möbel umgestellt, und bald nahm alles folgendes Aussehen an: das Zimmer, welches zum Schlafgemach ausersehen war, wurde mit allen zur Nachttoilette nötigen Gegenständen ausgerüstet, die Stube die als Arbeitszimmer dienen sollte ... doch halt, zuerst müssen wir wissen, daß in diesem Zimmer drei Tische standen: ein Schreibtisch vor dem Sofa, ein Spieltisch vor dem Spiegel zwischen den Fenstern und ein dritter Ecktisch in einer Zimmerecke, zwischen der Schlafzimmertüre und der in den unbewohnten anstoßenden Salon führenden Türe, in dem zerbrochene Möbel standen. Dieser Saal diente bis jetzt als Vorzimmer und war etwa ein Jahr lang von niemandem betreten worden. Auf diesem Ecktische fand die Garderobe ihren Platz, die der Reisende in seinem Koffer mitgebracht hatte und zwar: ein Paar zu dem bekannten Frack gehörige Beinkleider, ein Paar neue Beinkleider, ein Paar graue Beinkleider, zwei Sammetwesten, zwei Atlaswesten und ein Gehrock. Dies alles wurde übereinander, in Form einer Pyramide aufgeschichtet, und ein seidenes Taschentuch über das Ganze gebreitet. In der andern Ecke zwischen Tür und Fenster wurden in langer Reihe die Stiefel aufgestellt: ein Paar nicht mehr ganz neue, ein Paar ganz neue, ein Paar Lackschuhe und ein Paar Morgenschuhe. Auch sie wurden ebenso schamhaft mit einem seidenen Taschentuch zugedeckt — ganz als ob sie überhaupt nicht vorhanden wären. Auf dem Schreibtisch wurden sofort folgende Gegenstände in schönster Ordnung gruppiert: die Schatulle, eine Flasche mit Kölnischem Wasser, ein Kalender und zwei Romane, von beiden jedoch nur der zweite Band. Die reine Wäsche wurde in der Kommode untergebracht, die sich schon vorher im Schlafzimmer befand; die Wäsche hingegen, die zur Wäscherin geschafft werden sollte, wurde zu einem Bündel zusammengebunden und unter das Bett geschoben. Auch der Koffer wurde, nachdem er ausgeräumt war, unters Bett gestellt. Der Säbel, der unterwegs immer mitgenommen wurde, um den Räubern und Dieben Schrecken einzujagen, wurde auch im Schlafzimmer untergebracht und an einem Nagel in der Nähe des Bettes aufgehängt. Alles nahm das Aussehen höchster Sauberkeit und einer ganz ungewöhnlichen Ordnungsliebe an. Nirgends war ein Papierschnitzel, ein Federchen oder ein Stäubchen zu entdecken. Selbst die Luft schien gleichsam feiner und besser geworden zu sein: in ihr verbreitete sich der angenehme Geruch einer frischen gesunden Mannsperson, die ihre Wäsche nicht zu lange trägt, regelmäßig baden geht und sich Sonntags mit einem nassen Schwamm abwäscht. In dem Saal, der als Vorzimmer diente, schien sich eine Zeitlang der Geruch des Dieners Petruschka festsetzen zu wollen, aber Petruschka wurde bald ausquartiert und, wie es sich gehörte, in der Küche untergebracht.

In den ersten Tagen fürchtete Andrei Iwanowitsch ein wenig für seine Unabhängigkeit; er hatte einige Sorge, der Gast könne ihn belästigen, unliebsame Änderungen in seiner Lebensweise einführen, und die von ihm mit soviel Glück aufgestellte Tageseinteilung stören, allein seine Besorgnisse waren unbegründet. Unser Freund Pawel Iwanowitsch legte eine ganz außerordentliche Elastizität und Fähigkeit an den Tag, sich an alles anzupassen. Er sprach sich beifällig über die philosophische Langsamkeit seines Wirtes aus und erklärte, sie verheiße ein langes Leben. Über sein Einsiedlertum äußerte er sich sehr treffend, es nähre in dem Menschen die großen Gedanken. Er warf auch einen Blick auf die Bibliothek, sprach sehr lobend über die Bücher im allgemeinen und bemerkte, sie bewahrten den Menschen vor dem Müßiggang. Er ließ nur sehr wenige Worte fallen, aber alles, was er sagte war ernst und bedeutend. In allem, was er tat, aber erwies er sich fast noch liebenswürdiger und taktvoller. Er kam und ging immer zur rechten Zeit, plagte den Wirt nicht mit Fragen und Wünschen, wenn dieser einsilbig und nicht zur Unterhaltung geneigt war; spielte mit Vergnügen eine Partie Schach mit ihm, und schwieg gleichfalls mit Vergnügen. Während der eine den Tabakrauch in krausen Wolken in die Luft blies, suchte sich der andre, da er keine Pfeife rauchte, eine ähnliche Beschäftigung: so holte er zum Beispiel seine Tabaksdose aus schwarzem Silber aus der Tasche, nahm sie zwischen zwei Finger seiner linken Hand, und drehte sie mit einem Finger der rechten rasch um den der linken, ganz so, wie die Erdkugel sich um ihre eigene Achse dreht, oder er trommelte mit dem Finger auf dem Deckel herum und pfiff eine Melodie dazu. Mit einem Wort, er störte seinen Wirt nicht im mindesten. „Zum erstenmal im Leben sehe ich einen Menschen, mit dem sich’s leben läßt!“ sagte Tentennikow zu sich selbst, „diese Kunst ist bei uns im allgemeinen recht wenig verbreitet. Unter uns gibt es mancherlei Leute: kluge, gebildete und auch wirklich gute Menschen, aber Menschen von immer gleichmäßigem Charakter, Menschen, mit denen man ein Jahrhundert lang zusammen leben könnte, ohne sich zu zanken — solche Menschen kenne ich nicht. Wieviel solche Leute gibt’s denn bei uns überhaupt? Dies ist der erste Mensch dieser Art, den ich kennen lerne.“ So urteilte Tentennikow über seinen Gast.

Tschitschikow war seinerseits gleichfalls sehr froh, daß er eine Zeitlang bei einem so ruhigen und friedlichen Herrn wohnen durfte. Das Zigeunerleben hatte er gründlich satt bekommen. Sich einmal einen Monat lang ordentlich ausruhen, den Anblick des herrlichen Gutes, den Duft der Felder und des beginnenden Frühlings so recht von Herzen genießen zu können, das war sogar mit Rücksicht auf die Hämorrhoiden von großem Nutzen und Vorteil.

Man hätte nicht leicht einen schöneren Winkel zu seiner Erholung finden können. Der Frühling, dessen Sieg durch starke Fröste aufgehalten worden war, entfaltete sich plötzlich in seiner ganzen Pracht, und überall sproßte junges Leben. Wälder und Wiesen schimmerten bläulich, aus dem frischen Smaragd des ersten Grünes leuchtete hell das Gelb der Kuhblume hervor, und die rötlich-violette Anemone neigte sanft ihr zartes Köpfchen. Schwärme von Mücken und Scharen von Insekten zeigten sich über den Sümpfen, verfolgt von der langbeinigen Wasserspinne, und von allen Seiten flüchteten die Vögel in das trockene, schützende Schilfrohr. Hier strömte alles zusammen, um einander zu sehen und sich näher kennen zu lernen. Plötzlich bevölkerte sich die Erde, die Wälder erwachten, in den Wiesen wurde es lebendig und laut. In den Dörfern schlang sich der Reigen. Wieviel Raum gab es hier, um sich im Freien zu ergehen. Wie hell leuchtete das Grün! Wie frisch war die Luft! Wieviel Vogelsang in den Gärten! Paradiesisches Jauchzen und Jubeln des Alls! Das Dorf tönte und sang, wie bei einem Hochzeitsfest!

Tschitschikow ging viel spazieren. Zu Wanderungen und Spaziergängen bot sich die reichste Gelegenheit. Bald erging er sich auf dem flachen Hochplateau, wo sich die Aussicht auf die unten liegenden Täler, mit den großen Seen auftat, welche die über die Ufer getretenen Flüsse zurückgelassen hatten, und aus denen ganze Inseln von dunklen noch unbelaubten Wäldern hervorragten; oder er schritt mitten durch das Dickicht dunkler Wälder, und finsterer Gründe, wo die Bäume mit Vogelnestern geschmückt, dicht beisammen standen und die Raben krächzend durcheinander flogen, und gleich einer Wolke den Himmel verfinsterten. Über trockeneres Erdreich konnte man bis zum Landungsplatz wandern, wo die ersten Barken, mit Erbsen, Gerste und Weizen beladen in die See stachen, und wo sich das Wasser mit ohrenbetäubendem Getöse auf das Mühlrad stürzte, das sich langsam in Bewegung zu setzen begann. Oder er ging hin, um sich die ersten Frühjahrsarbeiten anzusehen, und zu beobachten, wie sich ein Stück frisch gepflügtes Ackerland mitten durch das Grün der Felder zog und der Sämann mit der Hand auf das Sieb trommelnd, welches ihm auf der Brust hing, gleichmäßig den Samen ausstreute, ohne auch nur ein Körnchen auf der einen oder andern Seite zu verschütten.

Tschitschikow besuchte jedes Fleckchen. Er unterhielt sich und besprach alles mit dem Verwalter, mit den Bauern und dem Müller. Er erkundigte sich nach allem, nach dem Wo und Wie und fragte wie es mit dem Haushalt stehe, wieviel Getreide verkauft werde, was im Frühjahr und Herbst für Korn gemahlen wird, wie jeder Bauer heißt, wer mit diesem und jenem verwandt ist, wo er seine Kuh gekauft hat, womit er sein Schwein füttert, mit einem Wort er vergaß nichts. Er ließ sich auch sagen, wieviel Bauern gestorben wären, und erfuhr, daß es nur wenige seien. Als kluger Mann erkannte er sofort, daß es nicht allzu glänzend um Andrei Iwanowitsch’ Haushalt stand. Überall entdeckte er Unterlassungssünden, Nachlässigkeit, Diebstahl, auch die Trunksucht war recht verbreitet, und er dachte sich: „Was der Tentennikow doch für ein Rindvieh ist! So ein Gut! und es so zu vernachlässigen! Man könnte sicherlich ein Einkommen von fünfzigtausend Rubeln daraus herauswirtschaften!“

Mehr als einmal kam ihm bei diesen Spaziergängen der Gedanke, selbst einmal — d. h. natürlich nicht jetzt, sondern später, wenn die Hauptsache erledigt sein, und er Geld in Händen haben würde — selbst einmal so ein friedlicher Besitzer eines ähnlichen Gutes zu werden. Und sofort tauchte natürlich das Bild eines jungen, frischen Weibchens mit weißem Gesicht, aus dem Kaufmannsstande oder sonst einem reichen Kreise vor ihm auf. Ja, er träumte sogar davon, daß sie musikalisch sei. Er stellte sich auch die junge Generation seiner Nachkommen vor, deren Bestimmung es war, die Familie Tschitschikow zu verewigen: einen munteren Jungen und eine schöne Tochter, oder sogar zwei Jungen und zwei, ja selbst drei Mädel, damit alle wissen sollten, daß er wirklich gelebt, existiert, und nicht etwa bloß wie ein Gespenst oder Schatten über die Erde gewandelt wäre — und damit er sich vor dem Vaterlande nicht zu schämen brauchte. Dann kam ihm wohl der Gedanke, daß es nicht übel wäre, wenn er auch im Rang ein wenig aufrückte: Staatsrat zum Beispiel. Das war immerhin ein recht anständiger und achtbarer Titel! Was kommt einem nicht alles in den Sinn, wenn man spazieren geht: so mancherlei, was den Menschen aus dieser langweiligen, traurigen Gegenwart entführt, ihn neckt, reizt, seine Einbildungskraft bewegt und ihr selbst dann noch schmeichelt, wenn er überzeugt ist, daß es nie eintreffen wird.

Auch Tschitschikows Bedienten gefiel es recht gut auf dem Lande. Sie gewöhnten sich schnell an das neue Leben. Petruschka schloß bald Freundschaft mit dem Hausdiener Grigorij, obwohl beide zuerst sehr wichtig taten und sich furchtbar aufbliesen. Petruschka suchte Grigorij Sand in die Augen zu streuen und mit seiner Erfahrenheit und Weltkenntnis zu imponieren; Grigorij aber übertrumpfte ihn sofort mit Petersburg, wo Petruschka noch nicht gewesen war. Er machte zwar noch einen Versuch zu opponieren und wollte die ganze Entfernung der Gegenden geltend machen, die er besucht hatte, aber Grigorij nannte ihm einen solchen Ort, den man nicht einmal auf der Karte hätte finden können, und er sprach von mehr als dreißigtausend Werst, sodaß der Diener Pawel Iwanowitschs ganz verdutzt sitzen blieb, den Mund weit aufriß und von allen Knechten und Mägden ausgelacht wurde. Trotzdem nahm die Sache den allerschönsten Ausgang; beide Diener schlossen eine enge Freundschaft. Am Ende des Dorfes Lyssyer Pimen war eine Schenke, die einem gewissen Akulka gehörte, den man den Bauernvater nannte. Hier in diesem Lokal konnte man sie zu allen Tageszeiten sehen. Dort wurde die Freundschaft besiegelt, damit wurden sie zu „Stammgästen“ der Kneipe wie man sich im Volke auszudrücken liebt.

Für Seliphan gab es andre Anziehungspunkte. Jeden Abend wurden im Dorfe Lieder gesungen; die Dorfjugend versammelte sich, um den beginnenden Frühling durch Gesänge und Tänze zu feiern; es schlang sich der Reigen und löste sich wieder. Die schlanken rosigen Mädchen, von einem Liebreiz, wie man ihn heute in den größeren Dörfern kaum noch findet, machten einen gewaltigen Eindruck auf ihn, sodaß er stundenlang dastehen und sie angaffen konnte. Es war schwer zu sagen, welche von ihnen die Schönste war; sie hatten alle schneeweiße Busen und Hälse, große runde und verschleierte Augen, den Gang eines Pfaus und einen Zopf der bis an den Gürtel reichte. Wenn er sie bei ihren weißen Händen faßte, und sich mit ihnen langsam im Reigen vorwärtsbewegte oder zusammen mit den andern Burschen gleich einer Mauer gegen sie vorrückte, wenn die Mädchen laut lachend auf sie zukamen und sangen: „Wo ist der Bräutigam, Bojaren?“ und wenn dann die Gegend ringsum allmählich in Nacht versank und weit hinter dem Flusse das treue Echo der Melodie melancholisch zurücktönte, dann wußte er kaum, wie ihm geschah. Und noch lange nachher: am Morgen und in der Dämmerung, ob er schlief oder wachte — immer wieder kam es ihm so vor, als halte er ein Paar weiße Hände in seinen Händen und bewege sich langsam mit ihnen im Reigen.

Auch Tschitschikows Pferde fühlten sich in ihrer neuen Wohnung sehr wohl. Das Deichselpferd, der Assessor, und selbst der Schecke fanden den Aufenthalt bei Tentennikow gar nicht langweilig, den Hafer vortrefflich und die Lage der Ställe außerordentlich bequem. Ein jedes hatte seinen Stand, der zwar von dem des andern durch einen Verschlag abgeteilt war, über den man jedoch leicht hinweggucken konnte. Daher konnte man auch die andern Pferde sehen, und wenn es einem unter ihnen, selbst dem das in der äußersten Ecke stand, einfiel loszuwiehern, war es den andern leicht möglich, dem Kameraden in der gleichen Weise zu antworten.

Mit einem Wort, alles fühlte sich bei Tentennikow bald wie zu Hause. Was jedoch die Angelegenheit anbetraf, wegen der Pawel Iwanowitsch das weite Rußland bereiste, nämlich die toten Seelen, so war er in dieser Beziehung äußerst vorsichtig und taktvoll geworden, selbst dann wenn er es mit kompletten Narren zu tun hatte. Tentennikow aber las doch immerhin Bücher, philosophierte, suchte sich über die Ursachen und Gründe aller Erscheinungen klar zu werden — über ihr Warum und Weshalb .... „Nein, vielleicht ist es besser, ich fange vom andern Ende an!“ So dachte Tschitschikow. Er plauderte oft mit den Knechten und Mägden, und so erfuhr er unter anderem einmal, daß der Herr früher häufig zu einem seiner Nachbarn — einem General zu Gaste fuhr, daß der General eine Tochter habe, daß der Herr für das Fräulein — und auch das Fräulein für den Herrn eine gewisse ... daß sie sich aber plötzlich entzweit und von da ab für immer gemieden hätten. Er selbst hatte auch schon bemerkt, daß Andrei Iwanowitsch beständig mit Bleistift und Feder allerhand Köpfe zeichnete, die einander alle sehr ähnlich sahen.

Eines Tages nach dem Mittagessen, als er wieder einmal nach seiner Gewohnheit die silberne Tabaksdose mit dem Zeigefinger um ihre Achse drehte, sagte er zu Tentennikow: „Sie haben alles was das Herz begehrt, Andrei Iwanowitsch; nur eins fehlt Ihnen noch.“

„Das wäre?“ fragte jener, indem er eine krause Rauchwolke in die Luft blies.

„Eine Lebensgefährtin,“ versetzte Tschitschikow. Andrei Iwanowitsch entgegnete nichts, und damit war das Gespräch für dies Mal zu Ende.

Tschitschikow ließ sich jedoch nicht einschüchtern, suchte sich einen andern Zeitpunkt aus — diesmal war es vor dem Abendbrot — und sagte plötzlich mitten in der Unterhaltung: „Wirklich, Andrei Iwanowitsch, Sie sollten heiraten!“

Aber Tentennikow entgegnete auch nicht ein Wort, gerad als ob ihm dieses Thema unangenehm sei.

Allein Tschitschikow ließ sich nicht abschrecken. Das dritte Mal wählte er wieder eine andre Zeit und zwar nach dem Abendbrod, und sprach folgendermaßen: „Nein wirklich, von welcher Seite ich mir Ihre Lebensverhältnisse auch ansehe, ich komme immer wieder zur Überzeugung, daß Sie heiraten müssen. Sie verfallen noch in Hypochondrie.“

Sei es daß Tschitschikows Worte diesmal besonders überzeugend waren, oder daß Andrei Iwanowitsch heute besonders zur Aufrichtigkeit und Offenherzigkeit geneigt war, er stieß einen Seufzer aus und sagte, indem er wieder eine Rauchwolke aufsteigen ließ: „Bei allen Dingen muß man Glück haben, man muß als Sonntagskind geboren werden, Pawel Iwanowitsch.“ Und er erzählte ihm alles, genau so wie es sich ereignet hatte: die ganze Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem General und ihre Entzweiung.

Als Tschitschikow die bekannte Affäre Wort für Wort kennen gelernt hatte, und hörte, daß wegen des einen kleinen Wörtchens „du“ eine so große Geschichte entstanden war, blieb er ganz verdutzt sitzen. Mehrere Minuten lang sah er Tentennikow prüfend in die Augen, ohne entscheiden zu können, ob er ein kompletter Narr oder bloß ein bißchen dumm sei.

„Andrei Iwanowitsch! ich bitte Sie!“ sprach er endlich, indem er jenen bei beiden Händen nahm: „Was ist denn das für eine Beleidigung? Was finden Sie denn in dem Wörtchen „du“ Beleidigendes?“

„Das Wort selbst enthält natürlich keine Beleidigung,“ entgegnete Tentennikow: „die Beleidigung lag in dem Sinn, in dem Ausdruck, mit dem dieses Wort gesprochen wurde. ‚Du!‘ — das soll heißen: ‚wisse, daß du ein minderwertiges Subjekt bist; ich verkehre nur darum mit dir, weil ich keinen besseren habe als dich; jetzt dagegen, wo die Fürstin Jusjakin gekommen ist, bitte ich dich, dich daran zu erinnern, wo dein eigentlicher Platz ist und dich an die Türe zu stellen.‘ Das hat es zu bedeuten!“ Bei diesen Worten funkelten die Augen unseres sanften und milden Andrei Iwanowitsch; in seiner Stimme zitterte die Erregung eines aufs tiefste beleidigten Gefühls nach.

„Nun und wenn es sogar etwas Ähnliches zu bedeuten hätte? — Was ist denn dabei?“ sagte Tschitschikow.

„Wie? Sie verlangen von mir, daß ich ihn nach diesem Benehmen noch weiter besuche?“

„Ja, was ist denn das für ein Benehmen? Das kann man doch nicht einmal ein Benehmen nennen,“ sagte Tschitschikow kaltblütig.

„Wieso kein ‚Benehmen‘,“ fragte Tentennikow erstaunt.

„Das ist überhaupt kein Benehmen, Andrei Iwanowitsch. Das ist bloß so eine Gewohnheit dieser Herren Generäle: sie duzen alle Leute. Und schließlich, warum sollte man das einem so verdienten und geachteten Mann nicht einmal gestatten?“

„Das ist ganz was andres,“ versetzte Tentennikow, „wäre er nur ein alter Herr oder ein armer Kerl, und nicht so eitel, stolz und empfindlich, wäre er kein General, dann würde ich es ihm sehr gern erlauben, mich du zu nennen, und es sogar mit Respekt aufnehmen.“

„Tatsächlich, er ist ein Narr!“ dachte Tschitschikow. „Einem zerlumpten Kerl würde er es gestatten, einem General dagegen nicht!“ Und nach dieser Erwägung fuhr er laut fort: „Gut, meinetwegen, zugegeben, daß er Sie beleidigt hat, aber Sie haben sich doch revanchiert: er hat Sie beleidigt, und Sie haben ihm die Beleidigung zurückgegeben. Aber wie kann man sich wegen einer solchen Bagatelle entzweien und eine Sache so im Stiche lassen, die einem persönlich am Herzen liegt? Nein, da muß ich schon um Entschuldigung bitten, das ist doch ... Wenn Sie sich einmal ein Ziel gesteckt haben, dann müssen Sie auch drauf los gehen, komme was da will. Wer achtet denn darauf, daß die Menschen einen anspeien. Alle Menschen bespeien einander. Heute finden Sie keinen Menschen auf der ganzen Welt, der nicht um sich schlägt und einen nicht anspuckt.“

Tentennikow war über diese Worte aufs höchste betroffen, er saß ganz verblüfft da und dachte nur: „Ein zu seltsamer Mensch, dieser Tschitschikow!“

„Ist das ein wunderlicher Kauz! dieser Tentennikow!“ dachte Tschitschikow, und er fuhr laut fort: „Andrei Iwanowitsch, lassen Sie mich zu Ihnen sprechen, wie zu einem Bruder. Sie sind noch so unerfahren. Erlauben Sie mir, daß ich die Sache ins Reine bringe. Ich will zu Seiner Exzellenz hinfahren und ihm erklären, daß die Sache Ihrerseits auf einem Mißverständnis beruht, und auf Ihre Jugend und Ihre geringe Welt- und Menschenkenntnis zurückzuführen ist.“

„Ich habe nicht die Absicht, vor ihm zu kriechen!“ sagte Tentennikow gekränkt „und kann auch Sie nicht dazu zu ermächtigen!“

„Zum Kriechen bin ich nicht fähig,“ versetzte Tschitschikow gleichfalls gekränkt. „Ich bin nur ein Mensch. Ich kann mich irren und fehlen, aber kriechen — niemals! Entschuldigen Sie Andrei Iwanowitsch; ich meine es zu gut mit Ihnen, als daß sie ein Recht hätten, meinen Worten einen so beleidigenden Sinn unterzulegen.“

„Verzeihen Sie, Pawel Iwanowitsch, ich bin schuld!“ sagte Tentennikow gerührt und ergriff Tschitschikow dankbar bei beiden Händen. „Ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen. Ihre gütige Teilnahme ist mir sehr wertvoll. Das schwöre ich Ihnen. Aber geben wir dies Gespräch auf, wir wollen nie wieder über diese Sache reden!“

„Dann fahre ich eben, ohne einen besonderen Anlaß, zum General“, sprach Tschitschikow.

„Wozu?“ fragte Tentennikow, indem er Tschitschikow verwundert ansah.

„Ich will ihm meine Aufwartung machen!“ versetzte Tschitschikow.

„Was für ein seltsamer Mensch ist doch dieser Tschitschikow!“ dachte Tentennikow.

„Was für ein seltsamer Mensch ist doch dieser Tentennikow!“ dachte Tschitschikow.

„Ich fahre morgen gegen zehn Uhr früh zu ihm, Andrei Iwanowitsch. Ich glaube je eher man einem solchen Herrn seinen Achtungsbesuch macht, um so besser. Leider ist bloß meine Kutsche noch nicht in der rechten Verfassung, ich möchte Sie daher nur um die Erlaubnis bitten, Ihren Wagen zu benutzen. Ich möchte schon morgen so gegen zehn Uhr zu ihm hinfahren!“

„Aber natürlich. Welch eine Bitte! Sie haben nur zu befehlen. Nehmen Sie jeden Wagen, welchen Sie wollen: es steht alles zu Ihrer Verfügung!“

Nach dieser Unterhaltung verabschiedeten sie sich und begaben sich ein jeder auf sein Zimmer, um schlafen zu gehen und nicht ohne beiderseits über die Eigenheiten des andern nachzudenken.

Und doch: war es nicht merkwürdig: als am andern Tage der Wagen vorfuhr und Tschitschikow mit der Gewandtheit eines Militärs, in einem neuen Frack, weißer Weste und weißer Halsbinde hineinsprang und davonfuhr, um dem General seine Aufwartung zu machen: — da geriet Tentennikow in eine solche Aufregung, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. All seine eingerosteten und schlummernden Gedanken kamen in Unruhe und Bewegung. Eine nervöse Raserei bemächtigte sich plötzlich mit aller Gewalt dieses schläfrigen und in Bequemlichkeit und Müßiggang versunkenen Träumers.

Bald setzte er sich auf das Sofa, bald trat er ans Fenster, bald nahm er ein Buch zur Hand, bald wieder versuchte er es, über etwas nachzudenken. Verlorene Liebesmüh! Er konnte keinen Gedanken fassen. Oder er versuchte es, an gar nichts zu denken. Vergebliches Bemühen! Armselige Bruchstücke eines Gedankens, allerhand Gedankenendchen und -fragmente drängten sich in sein Hirn und bestürmten seinen Schädel. „Ein merkwürdiger Zustand!“ sagte er und setzte sich ans Fenster, um auf den Weg hinauszublicken, der den dunklen Eichenwald durchschnitt, und an dessen Ende eine Staubwolke sichtbar war, welche der davonrollende Wagen aufgewirbelt hatte. Doch verlassen wir Tentennikow und folgen wir Tschitschikow.

Zweites Kapitel.

In einer knappen halben Stunde trugen die braven Rosse Tschitschikow über die etwa zehn Werst lange Strecke hinweg — erst ging es durch den Eichwald, dann durch das Kornfeld, das zwischen langen Streifen frisch gepflügten Ackerlandes lag und im ersten Grün des Frühlings prangte, dann wieder den Rand des Gebirgs entlang, wo sich in einem fort herrliche Fernblicke auftaten — und endlich durch eine breite Lindenallee, deren Laub sich eben zu entfalten begann, bis zu dem Gute des Generals. Die Lindenallee ging bald in eine Allee schlanker Pappeln über, die unten in geflochtene Körbe eingefaßt waren, und führte zuletzt auf ein gußeisernes Torgitter, hinter dem man den prächtigen, mit reichem krausem Schnitzwerk verzierten Giebel des Herrenhauses erblickte, der von acht Säulen mit Korinthischen Kapitälen getragen wurde. Überall roch es nach Ölfarbe, die allem einen neuen Anstrich gab, und keinem Ding Zeit ließ, alt zu werden. Der Hof war so glatt und sauber, daß man über Parkett zu wandeln glaubte. Als der Wagen vor dem Hause Halt machte, sprang Tschitschikow respektvoll heraus und betrat die Treppe. Er ließ sich gleich beim General anmelden, und wurde direkt in dessen Arbeitszimmer geführt. Die majestätische Gestalt des Generals machte einen tiefen Eindruck auf unseren Helden. Er hatte einen zugeknöpften Sammetschlafrock von himbeerroter Farbe an, sein Blick war offen, sein Gesicht männlich, er trug einen großen Schnurrbart und einen stattlichen graumelierten Backenbart und Haare, die im Nacken ganz kurz geschnitten waren; sein Hals war breit und dick oder „dreistöckig“, wie man bei uns zu sagen pflegt, d. h., er wies drei Längsfalten und eine Querfalte auf: mit einem Wort, es war einer von jenen prächtigen Generalstypen, an denen das Jahr 1812 so reich war. General Betrischtschew war, wie wir alle, mit einem ganzen Haufen von Vorzügen und Mängeln gesegnet. Diese wie jene waren jedoch, wie das bei uns Russen oft zu geschehen pflegt, recht bunt durcheinandergewürfelt: Großmut und Aufopferungsfähigkeit, in entscheidenden Momenten auch Tapferkeit, Verstand und bei alledem eine genügende Dosis Eitelkeit, Ehrgeiz, Eigensinn und kleinliche Empfindlichkeit, ohne die der Russe nun einmal nicht auskommen kann, wenn er nichts zu tun hat und nichts ihn zum Handeln bestimmt. Er hatte eine starke Abneigung gegen alle die, welche ihm den Rang abgelaufen hatten und äußerte sich in sarkastischer Weise über sie. Am meisten aber hatte einer seiner früheren Kollegen von ihm zu leiden, denn der General war fest davon überzeugt, daß er in bezug auf Verstand und Fähigkeiten hoch über jenem stand, und doch hatte ihn der andere überholt und war bereits Generalgouverneur zweier Provinzen. Unglücklicherweise befand sich auch noch eins von den Gütern des Generals in einer dieser Provinzen, sodaß dieser gewissermaßen von seinem Kollegen abhängig war. Der General rächte sich reichlich; er sprach bei jeder Gelegenheit von seinem Nebenbuhler, kritisierte eine jede seiner Verordnungen und erklärte jede seiner Maßnahmen und Handlungen für den Gipfelpunkt des Unverstandes und der Torheit. Alles an ihm hatte einen gewissen merkwürdigen Anstrich, vor allem auch seine Bildung. Er war nämlich ein großer Freund und Vorkämpfer der Aufklärung; auch wollte er immer mehr und alles besser wissen, als andre Leute und daher hatte er die Menschen nicht gern, die etwas wußten, was ihm unbekannt war. Mit einem Wort, er liebte es durch seinen Verstand zu glänzen. Einen großen Teil seiner Erziehung hatte er im Auslande genossen, trotzdem aber wollte er den russischen Aristokraten spielen. Bei einem Charakter, der soviel Härten und soviel starke hervorstechende Gegensätze aufwies, war es nur natürlich, daß er im Dienst beständig mit Unannehmlichkeiten zu kämpfen hatte, was ihn schließlich auch veranlaßte, seinen Abschied zu nehmen. Die Schuld, daß es so gekommen war, schob er auf eine gewisse feindliche Partei, denn er hatte nicht den Mut, sich selbst für etwas verantwortlich zu machen. Auch nach seinem Abschied behielt er seine vornehme und majestätische Haltung. Ob er nun einen Frack, einen Gehrock oder einen Schlafrock anhatte — er blieb sich immer gleich. Von seiner Stimme bis zur letzten Geste und Bewegung war alles an ihm gebieterisch und majestätisch, und flößte jedem unter ihm Stehenden wenn auch nicht Achtung, so doch wenigstens Furcht oder Scheu ein.

Tschitschikow fühlte beides: Ehrfurcht und Scheu. Er neigte den Kopf ehrerbietig zur Seite, streckte die Hände aus, wie wenn sie ein Tablett mit Teetassen ergreifen wollten, verbeugte sich mit bewundernswürdiger Gewandtheit fast bis zur Erde und sagte: „Ich habe es für meine Pflicht gehalten, Exzellenz meine Aufwartung zu machen. Die hohe Achtung vor den Tugenden der Männer, die das Vaterland auf den Schlachtfeldern verteidigten, veranlaßte mich, mich Eurer Exzellenz persönlich vorzustellen.“

Dem General schien diese Introduktion nicht zu mißfallen. Er machte eine sehr gnädige Kopfbewegung und sagte: „Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Bitte nehmen Sie Platz! Wo haben Sie gedient?“

„Das Feld meiner Tätigkeit,“ sprach Tschitschikow, indem er sich im Lehnstuhl niederließ — aber nicht in der Mitte, sondern ein wenig seitwärts auf der Kante — und mit der Hand die Stuhllehne festhielt, „das Feld meiner Tätigkeit begann im Kameralhof, Exzellenz, um seinen weiteren Verlauf an verschiedenen Stellen zu nehmen; ich habe im Hofgericht, in einer Baukommission und im Zollamt gedient. Mein Leben läßt sich mit einem Schiff inmitten stürmischer Wogen vergleichen, Exzellenz. Ich kann wohl sagen, ich bin mit Geduld aufgesäugt und großgepäppelt, ich selbst bin sozusagen die personifizierte Geduld. Wieviel ich allein von meinen Feinden zu erdulden hatte, das vermag weder ein Wort noch der Pinsel eines Künstlers zu schildern. Erst jetzt an meinem Lebensabend suche ich mir einen Winkel, wo ich den Rest meiner Tage verbringen kann. Einstweilen habe ich mich bei einem der nächsten Nachbarn Eurer Exzellenz niedergelassen ...“

„Bei wem, wenn ich fragen darf?“

„Bei Tentennikow, Exzellenz.“

Der General runzelte die Stirn.

„Er bereut es schwer, Exzellenz, daß er Eurer Exzellenz nicht die schuldige Achtung erwiesen hat.“

„Achtung! Wovor?“

„Vor den Verdiensten Eurer Exzellenz,“ sagte Tschitschikow. „Er kann bloß das rechte Wort nicht finden ... Er sagt: ‚Wenn ich Seiner Exzellenz nur irgendwie ... denn ich weiß doch die Männer zu schätzen, die das Vaterland gerettet haben,‘ sagt er.“

„Ja, was will er denn? ... Ich bin ihm doch garnicht böse!“ versetzte der General, der schon weit milder gestimmt war. „Ich habe ihn herzlich lieb gewonnen und bin überzeugt, daß er mit der Zeit noch ein sehr nützlicher Mensch werden kann.“

„Sehr richtig bemerkt, Exzellenz,“ fiel Tschitschikow ein. „Ein sehr nützlicher Mensch; er ist so sprachgewandt und schreibt auch sehr schön.“

„Aber ich glaube er schreibt allerhand Dummheiten. Ich glaube er macht Verse oder so etwas.“

„Oh nein, Exzellenz, durchaus keine Dummheiten. Er schreibt an einem sehr ernsten und bedeutenden Werke. Er schreibt .... eine Geschichte, Exzellenz ....“

„Eine Geschichte? ... Was für eine Geschichte?“

„Eine Geschichte“ ... hier hielt Tschitschikow ein wenig inne, war es nun, weil ein General vor ihm saß, oder wollte er der Sache bloß eine größere Bedeutung beilegen, genug er fügte hinzu: „eine Geschichte der Generäle, Exzellenz!“

„Wie? der Generäle? Welcher Generäle?“

„Der Generäle im allgemeinen, Exzellenz, überhaupt aller Generäle ... das heißt, ich wollte eigentlich sagen, der vaterländischen Generäle.“

Tschitschikow fühlte, daß er sich gar zu weit verrannt hatte, und war daher sehr verlegen. Er hätte vor Ärger ausspucken mögen und sagte zu sich selbst: Herrgott, was rede ich da für einen Blödsinn.

„Entschuldigen Sie, ich verstehe noch nicht ganz ... wie ist denn das? Soll es die Geschichte einer bestimmten Epoche, oder sollen es einzelne Biographieen werden. Und dann: handelt es sich um sämtliche Generäle die existiert, oder nur um die, die am Feldzug des Jahres 1812 teilgenommen haben?“

„Seht richtig, Exzellenz, nur um die letzteren!“ Und er dachte sich: „Schlagt mich tot, ich verstehe kein Wort!“

„Ja, warum kommt er denn dann nicht zu mir! Ich könnte ihm äußerst interessantes Material geben!“

„Er hat nicht den Mut, Exzellenz!“

„Was für ein Unsinn! Wegen irgend eines dummen Wortes, das unter uns gefallen ist ... Ich bin doch gar nicht so ein Mensch. Ich will meinetwegen selbst zu ihm hinfahren.“

„Das würde er nie zugeben, er wird selbst kommen,“ sagte Tschitschikow, er hatte sich schon ganz wieder erholt und dachte sich dabei: „Hm! die Generäle kommen mir aber gerade zupaß; und dabei hat meine Zunge doch ganz frech darauflos geschwätzt!“

In dem Arbeitszimmer des Generals hörte man ein Geräusch. Die Nußholztür eines geschnitzten Schrankes öffnete sich von selbst. Auf der Rückseite der Tür erschien das lebende Bild eines Mädchens, welches die Türklinke in der Hand hielt. Wenn auf dem dunkelen Hintergrunde des Zimmers plötzlich ein hell von Lampen erleuchtetes Lichtbild erschienen wäre, es hätte durch sein plötzliches Erscheinen keinen so gewaltigen Eindruck hervorbringen können, wie diese liebliche Gestalt. Sie war offenbar hereingekommen, um etwas zu sagen, aber als sie einen unbekannten Menschen im Zimmer sah —. Mit ihr zugleich schien ein Sonnenstrahl in die Stube gedrungen zu sein, und das ganze finstere Gemach des Generals schien zu leuchten und zu lächeln. Tschitschikow konnte sich im ersten Moment keine Rechenschaft ablegen, was für ein Wesen eigentlich vor ihm stand. Es war schwer zu sagen, in welchem Lande sie geboren war, denn man hätte nicht so leicht ein so reines und vornehmes Profil finden können, es sei denn auf antiken Kameen. Schlank und leicht wie ein Pfeil schien ihre edle Gestalt alles zu überragen. Aber das war nur eine schöne Täuschung. Sie war keineswegs sehr groß. Dieser Schein rührte bloß von der wunderbaren Harmonie her, in der all ihre Glieder standen. Das Kleid, das sie anhatte, schmiegte sich ihrer Gestalt so wohltuend an, daß man hätte glauben können, die berühmtesten Schneiderinnen wären zusammengekommen, um zu beratschlagen, was ihr am besten stehen möchte. Aber auch das war nur eine Täuschung. Sie dachte nicht lange über ihre Toilette nach, alles ergab sich wie von selbst: an zwei, drei Stellen hatte die Nadel ein kaum zugeschnittenes Stück des einfarbigen Stoffes berührt und dieses hatte sich selbst in edlen Falten um ihren Leib gelegt; hätte man dieses Gewand samt ihrer Trägerin im Bilde festgehalten, so hätten alle modischen Damen und Fräuleins ausgesehen, wie bunte Kühe oder irgend eine Schöne vom Trödelmarkt. Und hätte man sie mit diesen Falten und in diesem sie umhüllenden Gewande in Marmor gehauen, so hätte man dieses Bildnis das Werk eines genialen Künstlers genannt. Nur einen Mangel hatte sie: sie war fast zu zart und schmächtig.

„Darf ich Ihnen mein Nesthäkchen vorstellen!“ sagte der General, indem er sich an Tschitschikow wandte. „Übrigens verzeihen Sie, ich kenne Ihren Vor- und Vaternamen noch nicht ...“

„Muß man denn den Vor- und Vaternamen eines Mannes kennen, der sich noch durch keinerlei Vorzüge und Tugenden ausgezeichnet hat,“ entgegnete Tschitschikow, während er seinen Kopf bescheiden auf die Seite neigte.

„Immerhin ... So etwas muß man doch wissen!“

„Pawel, Iwanowitsch, Exzellenz!“ sagte Tschitschikow, indem er sich beinahe mit der Gewandtheit eines Militärs verbeugte und mit der Elastizität eines Gummiballs zurücksprang.

„Ulinka!“ fuhr der General fort. „Pawel Iwanowitsch hat mir soeben eine äußerst interessante Neuigkeit mitgeteilt. Unser Nachbar Tentennikow ist gar kein so dummer Mensch, wie wir angenommen haben. Er arbeitet an einem großen Werk: an einer Geschichte der Generäle des Jahres 1812.“

„Ja, wer hat denn gesagt, daß er dumm ist,“ sagte sie schnell. „Das konnte doch höchstens dieser Wischnepokromow glauben, dem du so vertraust, Papa, und der bloß ein hohler und gemeiner Mensch ist.“

„Warum denn gemein? Er ist etwas oberflächlich, das ist wahr!“ sagte der General.

„Er ist auch etwas gemein und etwas schlecht und nicht nur oberflächlich. Wer seine Brüder so behandelt, und seine eigene Schwester aus dem Hause jagen konnte, das ist ein abscheulicher, häßlicher Mensch.“

„Aber das erzählt man doch bloß von ihm.“

„Solche Dinge erzählt man nicht umsonst. Ich kann dich nicht verstehen, Papa. Du hast ein selten gutes Herz und doch kannst du mit einem Menschen verkehren, der tief unter dir steht und von dem du weißt, daß er schlecht ist.“

„Sehen Sie,“ sagte der General lächelnd zu Tschitschikow. „So liegen wir uns stets in den Haaren!“ Dann wandte er sich wieder zu Ulinka und fuhr fort: „Liebes Herzchen! Ich kann ihn doch nicht davonjagen!“ sagte der General.

„Warum denn davonjagen? Aber man braucht ihn doch nicht mit soviel Achtung zu behandeln und ihn gleich in sein Herz zu schließen!“(7)

Hier hielt es Tschitschikow für seine Pflicht, gleichfalls ein Wörtchen zu sagen.

„Jedes Wesen verlangt nach Liebe,“ sprach Tschitschikow. „Was soll man machen? Auch das Tier liebt, daß man es streichelt, es steckt seine Schnauze aus dem Stall heraus, als ob es sagen wollte: komm, streichele mich.“

Der General fing an zu lachen. „Ganz recht: so ist es. Es steckt seine Schnauze hervor und bittet: da streichele mich! Ha, ha, ha! Nicht bloß die Schnauze, der ganze Mensch steckt tief im Dreck, und doch verlangt er, daß man ihm sozusagen Teilnahme erweise .... Ha, ha, ha!“ Der General schüttelte sich vor Lachen. Seine Schultern, welche einstmals dicke Achselklappen getragen hatten, bebten, als ob sie auch heute noch mit dicken Achselklappen geschmückt wären.

Auch Tschitschikow lachte kurz auf, stimmte jedoch sein Gelächter aus Achtung vor dem General mehr auf den Buchstaben e ab: he, he, he, he, he, he! Auch er schüttelte sich vor Lachen, nur bewegten sich seine Schultern nicht, denn sie trugen keine dicke Achselklappen.

„So ein Kerl beschwindelt und bestiehlt erst den Staat und verlangt dann noch, daß man ihn dafür belohnen soll! Wer wird sich denn mühen und abquälen, ohne Ansporn und Aussicht auf eine Belohnung!“ sagte er. „Ha, ha, ha, ha!“

Ein schmerzliches Gefühl verdüsterte das edle, liebliche Gesicht des Mädchens: „Papa! Ich verstehe nicht, wie du bloß lachen kannst! Mich stimmen solche Schlechtigkeiten und solche gemeine Handlungen bloß traurig. Wenn ich sehe, wie irgend ein Mensch ganz öffentlich und vor allen Leuten einen Betrug verübt, und ihn nicht die Strafe der allgemeinen Verachtung trifft, so weiß ich kaum noch, was in mir vorgeht, dann werde ich selbst böse und schlecht; ich denke und denke und ....“ Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.

„Bitte, sei uns nur nicht böse,“ sagte der General. „Wir sind doch ganz unschuldig an der Sache. Nicht wahr?“ fuhr er fort, indem er sich an Tschitschikow wandte. „So, nun gib mir einen Kuß und geh auf dein Zimmer, ich muß mich gleich umkleiden, denn es ist bald Zeit zum Mittagessen.“

„Du ißt doch bei mir?“ sagte der General und warf Tschitschikow einen Blick zu.

„Wenn Eure Exzellenz bloß ...“

„Bitte ohne Umstände. Es wird wohl noch für dich reichen. Gott sei Dank! Wir haben heute Kohlsuppe.“

Tschitschikow streckte seine beiden Hände aus und ließ den Kopf ehrfurchtsvoll herabsinken, sodaß er alle Gegenstände im Zimmer einen Augenblick aus den Augen verlor und nur noch die Spitzen seiner Schuhe sehen konnte. Nachdem er eine Weile in dieser respektvollen Stellung verharrt war, und hierauf den Kopf wieder erhob, sah er Ulinka schon nicht mehr. Sie war verschwunden. An ihrer Stelle stand ein Riese von einem Kammerdiener mit einem buschigen Schnauzbart und wohlgepflegtem Backenbart, der, eine silberne Schüssel und ein Waschbecken in den Händen hielt.

„Du erlaubst wohl, daß ich mich in deiner Gegenwart umkleide!“

„Sie dürfen sich nicht bloß in meiner Gegenwart umkleiden, vielmehr steht es Ihnen frei, in meiner Gegenwart alles zu tun, was Ihnen beliebt, Exzellenz.“

Der General zog die eine Hand aus dem Schlafrock und streifte sich die Hemdärmel an den athletischen Armen in die Höhe. Hierauf begann er sich zu waschen, wobei er um sich spritzte und prustete wie eine Ente. Das Seifenwasser stob nur so durch das Zimmer.

„Ja, ja, sie wollen alle einen Ansporn und eine Belohnung haben,“ sagte er indem er sich seinen dicken Hals rings herum sorgfältig abtrocknete ... „Streichele ihn, streichele ihn nur. Ohne Belohnung hört er nun einmal nicht auf zu stehlen!“

Tschitschikow befand sich in selten guter Laune. Eine Art Begeisterung war plötzlich über ihn gekommen. „Der General ist ein lustiger und gutmütiger alter Herr! Man könnte es am Ende versuchen!“ dachte er und als er sah, daß der Kammerdiener mit dem Waschbecken hinausgegangen war, rief er aus: „Exzellenz! Sie sind so gütig und aufmerksam gegen jedermann! Ich habe eine große Bitte an Sie zu richten.“

„Was für eine Bitte?“ — Tschitschikow sah sich vorsichtig um.

„Ich habe einen Onkel, einen alten sehr gebrechlichen Herrn. Er hat dreihundert Seelen und zweitausend ... und ich bin sein einziger Erbe. Er kann sein Gut nicht mehr allein verwalten, weil er schon zu alt und zu schwach dazu ist, mir aber will er es auch nicht überlassen. Er gibt einen höchst seltsamen Grund dafür an: ‚Ich kenne meinen Neffen nicht,‘ sagt er, ‚vielleicht ist er ein Verschwender und Tunichtgut. Er soll mir erst beweisen, daß er ein zuverlässiger Mensch ist, und sich selbst erst einmal dreihundert Seelen erwerben, dann will ich ihm meine dreihundert dazugeben.‘“

„Erlauben Sie mal! Ist der Mann denn ganz närrisch?“ fragte der General.

„Das wäre noch nicht das Schlimmste, wenn er bloß ein Narr wäre. Das wäre sein eigener Schade. Aber versetzen Sie sich auch in meine Lage, Exzellenz ... Denken Sie, er hat eine Schließerin die bei ihm wohnt, und diese Schließerin hat Kinder. Da muß man sich doch in acht nehmen, daß er ihr nicht noch sein ganzes Vermögen vermacht.“

„Der alte Narr hat seinen Verstand verloren, das ist das Ganze,“ sagte der General. „Ich sehe nur keine Möglichkeit, wie ich Ihnen hier helfen könnte!“ fuhr er fort, indem er Tschitschikow erstaunt ansah.

„Ich habe eine Idee, Exzellenz. Wenn Sie mir alle toten Seelen, die Sie besitzen, überlassen wollten, Exzellenz, ich meine auf Grund eines Kaufvertrages, ganz so als ob sie noch am Leben wären, dann könnte ich dem Alten diesen Vertrag zeigen, und er müßte mir die Erbschaft aushändigen.“

Jetzt aber lachte der General so laut auf, wie wohl noch nie ein Mensch gelacht hat: So lang er war, sank er in den Lehnstuhl, warf den Kopf über die Rücklehne und wäre beinahe erstickt. Das ganze Haus kam in Bewegung. Der Kammerdiener erschien in der Türe, und die Tochter kam ganz erschrocken herbeigelaufen.

„Papa, was ist geschehen?“ rief sie entsetzt und sah ihn bestürzt an. Aber der General vermochte lange Zeit hindurch keinen Laut von sich zu geben. „Sei ruhig, es ist nichts, liebes Kind. Ha, ha, ha. Geh nur auf dein Zimmer. Wir kommen gleich zum Mittagessen. Beunruhige dich nicht. Ha, ha, ha.“

Und nachdem der General ein paarmal nach Luft geschnappt hatte, fing er mit erneuter Kraft an zu lachen; laut hallte es durch das ganze Haus, vom Vorzimmer bis zur letzten Stube.

Tschitschikow wurde ein wenig unruhig.

„Der arme Onkel! Wie der zum Narren gehalten werden soll! Ha, ha, ha. Wie der dasitzen wird, wenn er statt der lebenden Bauern lauter tote kriegt. Ha, ha!“

„Es geht schon wieder los!“ dachte Tschitschikow. „Ist der kitzlich! Er wird noch platzen!“

„Ha, ha, ha!“ fuhr der General fort. „So ein Esel! Wie einem nur so etwas einfallen kann: Geh, erwirb dir mal erst selbst dreihundert Seelen, dann sollst du noch weitere dreihundert dazu haben! Er ist wahrhaftig ein Esel!“

„Ganz recht, Exzellenz, er ist wirklich ein Esel!“

„Na, aber dein Scherz ist auch nicht ohne! Den Alten mit toten Bauern abzuspeisen! Ha, ha, ha! Bei Gott, ich würde viel drum geben, könnte ich nur dabei sein, wenn du ihm den Kaufvertrag überreichst! Was ist er eigentlich für ein Mensch? Wie sieht er aus? Ist er sehr alt?“

„Gegen achtzig Jahre!“

„Und ist er noch rüstig? Kann er noch gut gehen? Er muß doch noch recht kräftig sein, wenn er mit der Schließerin zusammenlebt?“

„Keine Spur! Exzellenz. Er ist so hilflos wie ein Kind!“

„So ein Narr! Nicht wahr? Er ist doch ein Narr!“

„Sehr richtig, Exzellenz! Ein vollkommener Narr!“

„Und fährt er noch spazieren? Macht er Besuche? Ist er noch gut auf den Beinen?“

„Ja, aber es wird ihm doch schon recht schwer.“

„So ein Narr! Aber er ist doch noch ganz rüstig? Wie? Hat er noch Zähne?“

„Nur noch zwei, Eure Exzellenz!“

„So ein Esel! Sei mir nicht böse, Verehrtester. — Er ist zwar dein Onkel, aber ist doch ein Esel.“

„Freilich ist er ein Esel, Exzellenz. Trotzdem er mein Verwandter ist und es mir schwer wird, es einzugestehen, daß Sie recht haben, aber was soll ich machen?“

Der gute Tschitschikow schwindelte. Es wurde ihm durchaus nicht schwer, dies einzugestehen, um so weniger, als er schwerlich je solch einen Onkel besessen hatte.

„Eure Exzellenz wollen also die Freundlichkeit haben ...“

„Dir die toten Seelen abzukaufen? Für diesen großartigen Gedanken sollst du sie mitsamt dem Grund und Boden und ihrer jetzigen Wohnung haben. Du darfst dir meinetwegen den ganzen Friedhof mitnehmen. Ha, ha, ha, ha. Nein dieser Alte! Wird dem ein Streich gespielt! Ha, ha, ha, ha.“

Und das Gelächter des Generals hallte aufs neue durch alle Zimmer.[1]

Drittes Kapitel.

Wenn der Oberst Koschkarjow wirklich verrückt ist, so wäre das garnicht übel, sagte Tschitschikow, als er sich wieder unter offenem Himmel auf freiem Felde befand. Alle menschlichen Behausungen lagen weit hinter ihm; und er sah jetzt nichts mehr als das freie Himmelsgewölbe und zwei kleine Wolken in der Ferne.

„Hast du dich auch ordentlich nach dem Wege zum Obersten Koschkarjow erkundigt, Seliphan?“

„Sie wissen doch, Pawel Iwanowitsch, ich hatte soviel mit dem Wagen zu tun, und da fand ich keine Zeit dazu. Aber Petruschka hat den Kutscher nach dem Wege gefragt.“

„So ein Esel! Ich habe dir doch gesagt, daß du dich nicht auf Petruschka verlassen sollst; Petruschka ist sicher wieder besoffen.“

„Das ist doch keine große Weisheit,“ sagte Petruschka, indem er sich ein wenig auf seinem Sitze umdrehte und nach Tschitschikow hinschielte. „Wir müssen bloß den Berg hinabfahren, und dann geht’s längs der Wiese weiter, das ist das Ganze!“

„Und du hast wohl nichts außer Fusel in den Mund genommen! Das ist das Ganze! Du bist mir der Rechte! Von dir kann man wohl auch sagen: der Kerl setzt Europa durch seine Schönheit in Erstaunen.“ Nach diesen Worten strich sich Tschitschikow über sein Kinn und dachte: „Es ist doch ein großer Unterschied zwischen einem gebildeten Mann der besseren Stände und so einer groben Lakaienphysiognomie.“

Unterdessen rollte der Wagen schon den Berg hinab. Und wiederum sah man nichts als Wiesen und weite mit Espen-Waldungen bepflanzte Flächen.

Leicht federnd glitt das bequeme Gefährt vorsichtig die kaum merkliche Neigung des Berghanges hinab; dann ging es weiter an Wiesen, Feldern und Windmühlen vorbei; donnernd rollte der Wagen über die Brücken und tanzte mit Schwanken über das weiche, holprige Erdreich. Doch auch nicht ein Hügel, noch eine einzige Unebenheit der Straße beunruhigten die weichen Partieen unseres Reisenden auch nur im geringsten. Das war die reinste Wonne und keine Equipage.

Weidenbüsche, dünne Erlen und Silberpappeln flogen rasch an ihnen vorbei und streiften die beiden auf dem Bocke sitzenden Leibeigenen Seliphan und Petruschka beständig mit ihren Zweigen. Dem letzteren rissen sie sogar mehrmals die Mütze vom Kopf. Der gestrenge Lakai sprang in einem fort vom Bock herab, schalt auf die dummen Bäume und auf den, der sie gepflanzt hatte, aber er konnte sich trotzdem nicht entschließen, seine Mütze anzubinden, oder sie mit der Hand festzuhalten, denn er hoffte, dies sei das letzte Mal gewesen und es werde ihm nun nicht wieder passieren. Bald gesellten sich noch Birken und hie und da eine Tanne zu den Bäumen. Die Wurzeln waren dicht mit Gras bedeckt, auf dem blaue Schwertlilien und gelbe Waldtulpen wuchsen. Der Wald wurde immer dunkeler und drohte die Reisenden in undurchdringliche Nacht einzuhüllen. Da blitzte plötzlich von allen Seiten zwischen Ästen und Baumstämmen ein heller Lichtschimmer, gleich einem leuchtenden Spiegelreflexe auf. Die Bäume traten auseinander, die glänzende Fläche wurde immer größer ... vor ihnen lag ein See — ein mächtiger Wasserspiegel von etwa vier Werst in die Breite. Auf dem gegenüberliegenden Ufer tauchten mehrere kleine Blockhütten auf. Dies war das Dorf. Aus den Fluten drangen laute Schreie und Rufe hervor. Etwa zwanzig Mann bis an den Gürtel, bis zu den Schultern oder bis zum Halse im Wasser stehend, waren damit beschäftigt, ein Netz ans Ufer zu ziehen. Dabei war ihnen ein Unfall passiert. Zugleich mit den Fischen war ihnen ein wohlbeleibter Mann ins Netz geraten, der ungefähr ebenso breit als lang war, und aussah wie eine Wassermelone oder wie ein Faß. Seine Lage war eine verzweifelte und er schrie aus voller Kehle: „Dionys, du Klotz! gib es doch dem Kosma! Kosma nimm doch dem Dionys das Tauende aus der Hand. Stoß doch nicht so, du großer Thomas, komm stell dich hierher, wo der kleine Thomas steht. Teufel! Ich sag’s euch, ihr werdet noch das Netz zerreißen.“ Offenbar fürchtete sich die Wassermelone nicht für ihre Person: ertrinken konnte sie nicht, dazu war sie zu dick, sie mochte die tollsten Purzelbäume schlagen, um unterzutauchen, das Wasser trug sie immer wieder empor; ja es hätten sich ihr ruhig noch zwei Personen auf den Rücken setzen können, sie hätte sie dennoch über Wasser gehalten wie eine eigensinnige Schweinsblase und höchstens ein wenig gestöhnt und mit der Nase Blasen ausgepustet. Aber der Mann hatte große Angst, das Netz könne reißen und die Fische könnten entschlüpfen, und daher mußten ihn mehrere Menschen zugleich mit dem Netz an Stricken ans Ufer ziehen.

„Das ist wohl der Gutsherr, der Oberst Koschkarjow,“ sagte Seliphan.

„Warum?“

„Sehen Sie doch bloß, was er für einen Körper hat. Der ist viel weißer als bei den andern, und auch sein Umfang ist beträchtlich, wie sich’s für einen vornehmen Herrn schickt.“

Unterdessen hatte man den im Netz gefangenen Gutsherrn schon bedeutend näher ans Ufer herangezogen. Als er wieder Boden unter seinen Füßen fühlte, richtete er sich auf, und bemerkte in demselben Augenblick die den Fahrdamm herabrollende Equipage nebst ihrem Insassen Tschitschikow.

„Haben Sie schon zu Mittag gegessen?“ rief der Herr ihm entgegen, indem er mit den gefangenen Fischen in der Hand ans Ufer trat. Er steckte noch ganz im Netze drin, etwa wie zur Sommerzeit ein Damenhändchen in einem durchbrochenen Handschuh, hielt die eine Hand wie einen Schirm über die Augen, um sich gegen die Sonne zu schützen und die andre etwas tiefer unten, ungefähr in der Stellung der Mediceischen Venus, die eben dem Bade entsteigt.

„Nein,“ versetzte Tschitschikow, nahm die Mütze ab und grüßte verbindlichst aus der Kutsche.

„Nun dann danken Sie ihrem Schöpfer!“

„Wieso?“ fragte Tschitschikow neugierig, die Mütze über dem Kopfe haltend.

„Sie werden gleich sehen! He, kleiner Thomas! Laß das Netz los, und nimm den Stör aus dem Behälter heraus. Kosma, du Klotz, geh, hilf ihm!“

Die zwei Fischer zogen den Kopf eines Ungeheuers aus dem Behälter hervor — „Seht mal, was für ein Fürst! Der hat sich aus dem Flusse hierher verirrt!“ rief der kugelrunde Herr. „Fahren Sie nur in den Hof hinein! Kutscher nimm den unterm Weg durch den Gemüsegarten! Lauf doch großer Thomas, du Holzklotz, mach das Gartentor auf! Er wird Sie begleiten, ich komme gleich nach ...“

Der langbeinige und barfüßige große Thomas lief, ganz so wie er war, im bloßen Hemde vor dem Wagen her durch das ganze Dorf. Vor jeder Hütte hingen allerhand Fischereigerätschaften, Netze, Reusen usw.; alle Bauern waren Fischer; dann öffnete Thomas das Gitter des Gartens, und der Wagen fuhr zwischen Gemüsebeeten hindurch nach einem offenen Platz in der Nähe der Dorfkirche. Etwas weiter hinter der Kirche sah man die Dächer der Gutsgebäude.

„Dieser Koschkarjow ist etwas spleenig!“ dachte Tschitschikow.

„So, da bin ich!“ erscholl eine Stimme von der Seite! Tschitschikow sah sich um. Der Gutsherr fuhr in einem grasgrünen Nankingrock, gelben Beinkleidern und ohne Halsbinde wie ein Kupido neben ihm her. Er saß seitwärts in der Droschke und nahm den ganzen Sitz ein. Tschitschikow wollte ihm etwas sagen, aber der Dicke war bereits wieder verschwunden. Gleich darauf erschien sein Wagen wieder an der Stelle, wo das Netz mit den Fischen herausgezogen worden war, und wieder hörte man die Stimmen rufen: ‚Großer Thomas, kleiner Thomas! Kosma und Denys!‘ Als aber Tschitschikow bei dem Portale des Herrenhauses vorfuhr, sah er den dicken Gutsbesitzer zu seinem größten Erstaunen schon auf der Treppe stehen, wo er den Ankömmling in Empfang nahm und freundschaftlichst in seine Arme schloß. Wie er so schnell hierhergeflogen war — dies blieb ein Rätsel. Man küßte sich dreimal kreuzweise nach alter russischer Sitte: der Gutsherr war ein Mann alten Schlages.

„Ich habe Ihnen Grüße von Seiner Exzellenz zu überbringen,“ sagte Tschitschikow.

„Von welcher Exzellenz?“

„Von Ihrem Verwandten, dem General Alexander Dimitriewitsch.“

„Wer ist dieser Alexander Dimitriewitsch?“

„General Betrischtschew,“ versetzte Tschitschikow ein wenig betroffen.

„Ich kenne ihn nicht,“ entgegnete jener erstaunt.

Tschitschikows Verwunderung wurde mit jedem Augenblick größer.

„Ja, wie denn nur ...? Ich habe doch hoffentlich das Vergnügen, mit dem Herrn Oberst Koschkarjow zu sprechen?“

„Nein hoffen Sie lieber nicht! Sie befinden sich nicht bei ihm, sondern bei mir. Peter Petrowitsch Petuch! Petuch![2] Peter Petrowitsch!“ versetzte der Hausherr.

Tschitschikow war starr vor Staunen. „Nicht möglich?“ sagte er, indem er sich an Seliphan und Petruschka wandte, die gleichfalls mit offenem Munde dastanden, und die Augen weit aufsperrten. Der eine saß auf dem Bock, der andere stand an der Wagentüre. „Was habt ihr bloß gemacht, ihr Esel? Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt zum Obersten Koschkarjow fahren ... Das ist doch Peter Petrowitsch Petuch ...“

„Das habt ihr fein gemacht, Jungens! Geht in die Küche, laßt euch ein Glas Schnaps geben ...“ rief Peter Petrowitsch Petuch. „Spannt die Pferde aus und geht gleich ins Speisezimmer!“

„Ich schäme mich wirklich! So ein Irrtum! So plötzlich! ...“ stammelte Tschitschikow.

„Durchaus kein Irrtum. Warten Sie mal erst ab, wie Ihnen das Mittagessen schmecken wird und dann sagen Sie, ob es ein Irrtum war. Ich bitte schön,“ sagte Petuch, indem er Tschitschikow am Arme nahm und ihn ins Innere des Hauses führte. Hier kamen ihnen zwei Jünglinge in Sommeranzügen entgegen; beide so dünn wie ein Paar Weidenruten und wohl eine Arschin[3] länger als ihr Vater.

„Meine Söhne! Sie besuchen das Gymnasium und sind nur während der Ferien hier ... Nikolascha bleib hier und unterhalte den Gast; und du, Alexascha, komm mit mir.“ Mit diesen Worten verschwand der Hausherr.

Tschitschikow blieb mit Nikolascha zurück und versuchte eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen. Nikolascha schien sich zu einem lieblichen Früchtchen entwickeln zu wollen. Er erzählte Tschitschikow sofort, es habe gar keinen Zweck, ein Provinzgymnasium zu besuchen, er und sein Bruder haben die Absicht, nach Petersburg zu fahren, weil es sich ja doch nicht lohne, in der Provinz zu leben ...

„Ich verstehe schon,“ dachte Tschitschikow, „euch locken die Boulevards und Cafés ...“ Dann aber fragte er ihn laut: „Sagen Sie, wie steht es mit dem Gute Ihres Vaters?“

„Ich habe Hypotheken darauf!“ fiel hier der Vater selbst ein, der plötzlich wieder im Salon auftauchte: „Mehrere Hypotheken.“

„Schlimm, sehr schlimm!“ dachte Tschitschikow: „Bald wird es kein Gut mehr geben, auf dem keine Hypotheken lasten. Man muß sich beeilen ...“ „Sie hätten sich doch etwas Zeit lassen sollen mit den Hypotheken,“ sagte er mit teilnehmender Miene.

„O nein. Das macht nichts!“ versetzte Petuch. „Man sagt, es sei sogar vorteilhaft. Heutzutage nimmt alles Hypotheken auf, man will doch nicht hinter den andern zurückbleiben? Und dann, ich habe mein ganzes Leben lang hier gelebt; nun will ich es einmal mit Moskau versuchen. Meine Söhne reden mir auch immer zu, sie wollen durchaus eine großstädtische Bildung haben.“

„So ein Narr!“ dachte Tschitschikow: „er wird alles durchbringen und auch seine Söhne zu Verschwendern erziehen. Und dabei hat er ein so schönes Gut. Wo man hinschaut, spricht alles von Wohlstand. Die Bauern haben es gut, und auch der Herr leidet keinen Mangel. Wenn sie aber erst ihre Bildung aus den Restaurants und Theatern beziehen, dann wird alles zum Teufel gehen. Er sollte lieber ruhig auf dem Lande bleiben, der Windbeutel.“

„Ich weiß, was Sie jetzt denken!“ sagte Petuch.

„Wie?“ sagte Tschitschikow etwas verlegen.

„Sie denken: ‚Dieser Petuch ist doch ein Narr: erst lädt er einen zum Mittagessen ein, und läßt einen warten. Das Essen ist immer noch nicht aufgetragen.‘ Es kommt, es kommt schon, Verehrtester. Passen Sie auf, ein geschorenes Mädel kann sich nicht schneller den Zopf flechten, als das Essen auf dem Tisch stehen wird.“

„Himmel! Da kommt Platon Michailowitsch angeritten!“ sagte Alexascha, der am Fenster stand und hinausblickte.

„Er reitet auf seinem Fuchs!“ fiel Nikolascha ein, indem er sich aus dem Fenster beugte.

„Wo? Wo?“ schrie Petuch und lief gleichfalls ans Fenster.

„Wer ist das, Platon Michailowitsch?“ fragte Tschitschikow Alexascha.

„Unser Nachbar, Platon Michailowitsch Platonow, ein vortrefflicher Mensch, ein ganz ausgezeichneter Mensch,“ antwortete der Hausherr selbst.

In diesem Augenblick trat Platonow ins Zimmer. Er war ein schöner schlanker Mann mit hellblondem lockigem Haar. Ein Ungetüm von einem Hunde namens Jarb folgte ihm, laut mit dem Halsband klirrend, auf dem Fuße.

„Haben Sie schon gegessen?“

„Ja danke!“

„Sie kommen wohl, um sich über mich lustig zu machen. Was soll ich mit Ihnen anfangen, wenn Sie schon gespeist haben?“

Der Gast lächelte und sagte: „Ich kann Sie beruhigen, ich habe so gut wie garnichts gegessen: ich hatte keinen Appetit.“

„Wenn Sie nur gesehen hätten, was wir heute für einen Fang gemacht haben! Was für ein Stör uns ins Netz gegangen ist! Und was für Karauschen und Karpfen dazu!“

„Man ärgert sich beinahe, wenn man Sie sprechen hört. Warum sind Sie immer so guter Laune?“

„Warum sollte ich denn Trübsal blasen? Ich bitte Sie!“ sagte der Hausherr.

„Wie? Warum? — Weil es traurig und langweilig auf der Welt ist.“

„Sie essen nicht genug, das ist alles. Suchen Sie sich einmal ordentlich satt zu essen. Das ist auch so eine moderne Erfindung dieser Trübsinn und diese Melancholie. Früher war man nie melancholisch.“

„Niemals! Ich weiß auch gar nicht, wo ich die Zeit dazu hernehmen soll. Am Morgen — da schläft man, kaum hat man die Augen aufgemacht, so steht schon der Koch vor einem, und man muß das Menu für das Mittagessen zusammenstellen, dann trinkt man Tee, fertigt den Verwalter ab, geht fischen und eh man sich’s versieht, ist es schon Zeit zum Mittagessen. Nach dem Mittagessen kommt man kaum dazu ein Schläfchen zu tun, denn schon wieder ist der Koch da, und man muß das Abendbrot bestellen, nach dem Abendbrot kommt wieder der Koch, und man muß wieder ans Mittagessen für morgen denken. Wo hat man da Zeit zum Trübsinn?“

Während beide sich unterhielten, betrachtete Tschitschikow den neuen Ankömmling, der ihn durch seine außergewöhnliche Schönheit, seine schlanke, wohlgebaute Gestalt, die Frische einer noch unverbrauchten Jugendkraft und die jungfräuliche Reinheit seines von keinem Pickel verunzierten Teints in Erstaunen setzte. Weder Leidenschaft noch Schmerz, noch selbst etwas, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Gemütsbewegung oder Unruhe hatte, hatten je sein jugendlich reines Antlitz berührt oder eine Falte in die ruhige Fläche eingegraben, aber freilich hätten sie sie auch nicht beleben können. Sein Gesicht behielt stets etwas Schläfriges, trotz des ironischen Lächelns, das es bisweilen erheiterte.

„Auch ich kann, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, nicht recht verstehen, wie man mit einem solchen Gesicht, wie das Ihrige traurig sein kann!“ sagte Tschitschikow. „Wenn man natürlich an Geldmangel leidet, oder Feinde hat, ... es gibt ja immer Menschen, die einem nachstellen und sogar nach dem Leben trachten ...“

„Glauben Sie mir,“ unterbrach ihn der schöne Gast, „glauben Sie mir, daß ich mich der Abwechselung halber mitunter sogar nach irgend einer kleinen Aufregung sehne? Wenn mich doch jemand ein bißchen ärgern wollte, oder etwas derartiges — aber nicht einmal das passiert einem. Das Leben ist bloß langweilig — das ist alles.“

„Dann haben Sie wohl nicht genug Land oder vielleicht zu wenig Bauern.“

„Durchaus nicht. Mein Bruder und ich haben zusammen etwa zehntausend Acker und über tausend Seelen.“

„Merkwürdig. Dann kann ich es nicht verstehen. Aber vielleicht hatten Sie unter Mißernten und Epidemieen zu leiden? Haben Sie vielleicht viele Bauern verloren?“

„Im Gegenteil, alles befindet sich in der schönsten Verfassung, mein Bruder ist ein vorzüglicher Landwirt.“

„Und bei alledem sind Sie traurig und verstimmt! Das verstehe ich nicht,“ sprach Tschitschikow achselzuckend.

„Passen Sie auf, den Trübsinn wollen wir gleich verjagen,“ sagte der Hauswirt, „Alexascha, lauf mal rasch nach der Küche und sag dem Koch, er soll uns die Fischpastetchen hereinbringen. Wo ist nur der Faulpelz Emeljan! Der hält wohl wieder Maulaffen feil. Und dieser Dieb, der Antoschka? Warum tragen sie die kalte Platte nicht auf?“

Jetzt aber öffnete sich die Türe. Der Faulpelz Emeljan und der Dieb Antoschka erschienen mit einer Serviette unter dem Arm, deckten den Tisch, und stellten einen Untersatz mit sechs Karaffen voll Likören von verschiedener Farbe darauf. Um diese gruppierte sich bald eine ganze Kette von Tellern, mit allerhand appetitreizenden Speisen. Die Diener bewegten sich flink hin und her und trugen immer neue zugedeckte Schüsseln herein, in denen man die Butter lustig schmoren hörte. Der Faulpelz Emeljan und der Dieb Antoschka machten ihre Sache ganz vortrefflich. Sie hatten ihre Spitznamen gewissermaßen bloß zum Ansporn und zur Ermunterung erhalten. Der Hausherr war durchaus kein Freund vom Schimpfen, dazu war er viel zu gutmütig; aber ein Russe kann halt ohne ein gepfeffertes Wort nicht auskommen. Er braucht es ebenso wie sein Gläschen Schnaps zur Beförderung der Verdauung. Was ist zu machen! Das ist nun einmal seine Natur, daß er die reizlose Kost nicht leiden mag!

Auf die kalte Platte folgte das eigentliche Mittagessen. Hier verwandelte sich unser gutmütiger Hausherr in einen wahren Tyrannen. Kaum bemerkte er, daß einer der Gäste nur noch ein Stück auf dem Teller hatte, so legte er ihm sofort ein zweites auf, indem er hinzufügte: „In der Welt paart sich alles, Mensch, Tier und Vogel!“ Hatte einer zwei Stück auf seinem Teller, so legte er ihm noch ein drittes auf, indem er bemerkte: „Das ist doch keine Zahl: zwei! Aller guten Dinge sind drei.“ Hatte der Gast drei Stücke gegessen, so rief er schon: „Haben Sie etwa schon einen dreirädrigen Wagen oder eine dreieckige Hütte gesehen?“ Auch auf die Zahl vier, auf die fünf usw. hatte er ein Sprichwort bereit. Tschitschikow hatte sicherlich schon seine zwölf Stücke verschlungen und dachte: „Na, jetzt wird dem Hausherrn doch wohl nichts mehr einfallen!“ Aber er irrte sich: ohne ein Wort zu sagen, legte ihm dieser den ganzen Rückenteil eines am Spieß gebratenen Kalbes samt den Nieren auf den Teller. Und was für eines Kalbes!

„Es hat zwei Jahre lang nichts wie Milch bekommen,“ sagte der Hausherr. „Ich hab’s gepflegt wie mein eigenes Kind.“

„Ich kann nicht mehr!“ stöhnte Tschitschikow.

„Kosten Sie mal erst, und dann sagen Sie: ich kann nicht mehr!“

„Es geht nicht mehr rein! Ich hab’ keinen Platz mehr im Magen.“

„In der Kirche war auch kein Platz mehr, da kam der Polizeimeister und sieh da, es fand sich doch noch ein Plätzchen. Dabei war ein solches Gedränge, daß kein Apfel zu Boden fallen konnte. Kosten Sie nur: dieses Stückchen — das ist auch ein Polizeimeister.“

Tschitschikow kostete, und in der Tat — das Stück hatte große Ähnlichkeit mit dem Polizeimeister, es fand sich richtig noch ein Platz, und doch schien sein Magen schon bis oben voll zu sein.

„So ein Mensch darf nicht nach Petersburg oder Moskau fahren. Bei seiner Freigiebigkeit hat er in drei Jahren keinen Heller mehr!“ Er wußte noch nicht, daß man heute darin schon viel weiter ist: auch ohne allzu gastfrei zu sein, kann man dort sein Vermögen in drei Jahren — was sage ich in drei Jahren! — in drei Monaten durchbringen.

Unterdessen füllte der Hausherr die Gläser unentwegt nach; was die Gäste stehen ließen, das durften Alexascha und Nikolascha austrinken, die ein Glas nach dem andern hinter die Binde gossen; man konnte schon hier sehen, welches Gebiet menschlichen Wissens sie bei ihrer Ankunft in der Hauptstadt besonders pflegen würden. Die Gäste wußten kaum, wie ihnen geschah; sie schleppten sich nur mit Mühe auf den Balkon hinaus, um hier sogleich in einem Lehnstuhl zu sinken. Der Hausherr aber hatte kaum in dem seinen Platz genommen, als er sofort zurücksank und einschlief. Sein wohlbeleibtes Ich verwandelte sich in einen großen Blasebalg und ließ dem offenen Mund und den Nasenlöchern solche Töne entströmen, wie sie selbst unseren modernen Komponisten selten einzufallen pflegen: hier mischten sich Trommelwirbel mit Flötenklängen und kurzen abgebrochenen Lauten, die am meisten Ähnlichkeit mit Hundegebell hatten.

„Hören Sie, wie der pfeift?“ sagte Platonow.

Tschitschikow mußte lachen.

„Freilich; wenn man so ein Mittagessen hinter sich hat, woher soll da die Langeweile kommen? Da übermannt einen der Schlaf — nicht wahr? Ja. Sie entschuldigen doch, aber ich kann wirklich nicht verstehen, wie man schlechter Laune sein kann: dagegen gibt es doch so viele Mittel.“

„Und die wären?“

„Was kann ein junger Mann nicht alles anfangen? Tanzen, musizieren ... irgend ein Instrument spielen ... oder ... warum sollte er zum Beispiel nicht heiraten?“

„Wen nur?“

„Als ob es in der Umgegend keine hübschen reichen Mädchen gäbe!“

„Es gibt keine!“

„Nun, dann sieht man sich eben wo anders um. Man macht eine Reise“ ... Plötzlich fiel Tschitschikow eine großartige Idee ein. „Da haben Sie das beste Mittel gegen Trübsinn und Langeweile!“ sagte er, indem er Platonow in die Augen blickte.

„Was für eins?“

„Reisen.“

„Wohin soll man denn reisen?“

„Wenn Sie Zeit haben, dann kommen Sie doch mit mir,“ sagte Tschitschikow und dachte sich, während er Platonow betrachtete: „Das wäre fein. Er könnte die Hälfte der Ausgaben tragen, und die Wagenreparatur könnte er eigentlich allein übernehmen.“

„Und wohin fahren Sie?“

„Augenblicklich reise ich nicht so sehr in eigenen Angelegenheiten als im Interesse eines andern. General Betrischtschew ein naher Freund von mir, und ich darf wohl sagen mein Wohltäter hat mich gebeten, einige von seinen Verwandten zu besuchen ... Das mit den Verwandten ist natürlich sehr wichtig, aber eigentlich reise ich doch auch sozusagen zu meinem eigenen Vergnügen: denn die Welt kennen lernen, sich in den großen Strudel und Wirbel des Menschenvolks zu stürzen — man mag sagen was man will, das ist gewissermaßen ein lebendes Buch und auch eine Art Wissenschaft.“ Und während er dies sagte, dachte er sich: „Wirklich, es wäre fein. Er könnte sogar die ganzen Kosten tragen, am Ende könnten wir auch seine Pferde benutzen, unterdessen würden sich die meinigen auf seinem Gute ausruhen und ordentlich pflegen.“

„Warum sollte ich nicht eine kleine Reise wagen?“ dachte unterdessen Platonow. — „Zu Hause habe ich ohnedies nichts zu tun, für die Wirtschaft sorgt mein Bruder auch ohne mich; sie würde also nicht im mindesten unter meiner Abwesenheit leiden. Warum sollte ich also nicht mitreisen?“ — „Wären Sie unter Umständen bereit, etwa zwei Tage bei meinem Bruder zu Gaste zu bleiben?“ sagte er laut. „Sonst läßt mich mein Bruder nicht fort.“

„Aber mit dem größten Vergnügen. Meinetwegen sogar drei Tage.“

„Nun denn, also abgemacht. Wir fahren!“ sagte Platonow lebhaft.

Tschitschikow schlug ein. „Bravo. Wir fahren!“

„Wohin? Wohin?“ rief der Hausherr, der eben aus dem Schlafe erwacht war, und sie erstaunt anstarrte. — „Nein, liebe Herren, ich habe die Räder von Ihrem Wagen abnehmen lassen und Ihren Hengst haben wir fortgejagt, Platon Michailowitsch, der ist fünfzehn Werst weit von hier. Nein, heute müssen Sie schon die Nacht bei mir bleiben, morgen essen wir etwas früher zu Mittag, und dann mögt Ihr meinetwegen reisen.“

Was sollte man da machen? Man mußte sich schon zum Bleiben entschließen. Dafür wurden sie durch einen wundervollen Frühlingsabend schadlos gehalten. Der Hausherr gab ein Fest auf dem Flusse. Zwölf Ruderer mit vierundzwanzig Rudern führten sie unter frohen Gesängen über den spiegelglatten Rücken des Sees. Aus dem See gelangten sie in den Fluß, der sich in unabsehbare Ferne vor ihnen ausdehnte und überall von flachen Ufern begrenzt war. Sie mußten immerfort über Taue hinwegfahren, die quer durch den Fluß gezogen, und an denen Netze befestigt waren. Auch nicht eine Welle kräuselte die glatte Wasserfläche; ganz still und lautlos glitten die herrlichen Landschaftsbilder an ihnen vorüber, und dunkele Gehölze und Haine entzückten ihren Blick durch die mannigfache Anordnung und Gruppierung ihrer Bäume. In gleichmäßigem Takt legten sich die Bootsknechte in die Ruder; sie erhoben sie alle vierundzwanzig plötzlich wie ein Mann in die Höhe — und wie von selbst, einem leichten Vogel gleich, glitt der Kahn über den unbeweglichen Wasserspiegel dahin. Ein junger Bursche, ein starker breitschultriger Kerl, der dritte Mann vom Steuer, machte den Vorsänger und stimmte mit seiner reinen hellen Stimme, die aus einer Nachtigallenkehle zu kommen schien, ein Lied an, dann fielen fünf andre ein, sechs weitere lösten sie ab, und laut schwoll an und ergoß sich der Gesang: unendlich und grenzenlos, wie Rußland selbst. Sogar Petuch ließ sich manchmal fortreißen und unterstützte den Chor, wenn es ihm an Kraft fehlte, mit einem Ton, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Hühnergegacker hatte; ja sogar Tschitschikow hatte an diesem Abend das lebhafte Gefühl, daß er ein Russe sei. Nur Platonow dachte: „Was ist eigentlich schönes an diesem melancholischen Lied? Es stimmt einen nur noch trauriger, als man schon ist.“

Es fing schon an zu dämmern, als man zurückkehrte. Es wurde finster; die Ruder schlugen jetzt das Wasser, in dem sich der Himmel schon nicht mehr spiegelte. Als man am Ufer landete, war es bereits völlig dunkel. Überall waren Holzstöße angezündet, die Fischer kochten auf Dreifüßen eine Suppe aus lebendigen noch zappelnden Bärschen. Alles war schon zu Hause. Das Vieh und das Geflügel war schon lange in den Ställen, der Staub, den sie aufwirbelten, hatte sich gelegt, die Hirten standen an den Toren und warteten auf die Milchtöpfe und auf eine Einladung zur Fischsuppe. Das leise Gesumme der menschlichen Stimmen klang durch die Nacht, und fernes Hundegebell hallte aus einem Nachbardorf herüber. Der Mond ging eben auf und begann die dunkele Umgegend in sein Licht zu hüllen; bald lag alles hell erleuchtet da. Welch herrliches Bild! Aber es gab niemand, der sich daran erfreuen konnte. Statt sich auf ein paar feurige Hengste zu schwingen und im tollen Galopp um die Wette durch die Nacht zu jagen, saßen Nikolascha und Alexascha stumm da und dachten an Moskau, an die Café’s und Theater, von denen ihnen ein Kadett, der aus der Hauptstadt zu Besuch gekommen war, soviel vorerzählt hatte; ihr Vater dachte daran, wie er seine Gäste recht schön abfüttern könnte, und Platonow gähnte. Am lebhaftesten war noch Tschitschikow: „nein wirklich, ich muß mir auch einmal ein Gut kaufen!“ Und er sah sich schon im Geiste an der Seite eines strammen Weibchens, umringt von einer ganzen Schaar kleiner Tschitschikows.

Beim Abendessen aß man wieder sehr reichlich. Als Tschitschikow das ihm zum Schlafen angewiesene Zimmer betrat und sich zu Bett legte, da befühlte er seinen Bauch und sagte: „Die reinste Trommel! Da geht kein Polizeimeister mehr hinein!“ Die Umstände fügten es so merkwürdig, daß sich dicht neben dem Schlafzimmer die Stube des Hausherrn befand. Die Zwischenwand war sehr dünn, und daher konnte man alles hören, was nebenan gesprochen wurde. Der Hausherr bestellte gerade beim Koch unter dem Namen eines frühen Dejeuners ein regelrechtes Mittagsessen für den morgigen Tag. Und wie gründlich er das besorgte! Bei einem Toten wäre noch der Appetit erwacht!

„Dann backst du mir eine viereckige Fischpastete,“ sagte er, indem er mit der Zunge schnalzte und die Luft heftig einsog. „Ein Viertel füllst du mit den Bocken des Störs und mit Mark, das andere mit Buchweizenbrei, Schwämmen, Zwiebeln, süßer Fischmilch, Hirn und noch so was Ähnlichem, na du weißt schon ... Auf der einen Seite mußt du sie recht braun backen, auf der anderen braucht sie nicht so durchgebacken zu sein. Vor allem achte auf die Füllung — die muß gründlich geschmort werden, daß sie sich auch ordentlich verbindet, weißt du, und ja nicht auseinanderfällt, sondern einem im Munde zergeht, wie Schnee; man darf es selbst kaum merken.“ Während er dies sagte, schnalzte Petuch wieder mit der Zunge und gab einen schmatzenden Laut von sich.

„Hol’s der Teufel! Der läßt einen nicht schlafen,“ dachte Tschitschikow und zog sich die Decke über den Kopf, um nur nichts mehr zu hören. Aber das half ihm nichts, auch unter der Decke hörte er Petuch noch.

„Und garniere mir den Stör auch recht fein mit Sternchen aus roten Rüben, mit Stinten und Pfifferlingen; nimm auch noch Rüben, Möhren, Bohnen und noch dies und jenes dazu, du weißt schon; also recht viel Garnitur, hörst du! Den Schweinemagen mußt du mit Eis füllen, damit er auch ordentlich aufgeht!“

Noch mancherlei andere Leckerbissen bestellte Petuch. Immer wieder hörte man ihn sagen: „Brat ihn mir, und back ihn mir auch recht durch, und dämpfe sie mir gründlich!“ Als er endlich bei einem Truthahn angelangt war, schlief Tschitschikow ein.

Am nächsten Tage aßen sich die Gäste derartig voll, daß Platonow nicht mehr auf seinem Pferde sitzen konnte. Petuch’s Reitknecht mußte den Hengst nach Hause bringen. Dann bestieg man die Equipage. Der großschnauzige Hund lief träge hinter dem Wagen her: er hatte sich gleichfalls vollgefressen.

„Nein, das geht zu weit!“ sagte Tschitschikow, als sie den Hof verlassen hatten.

„Der Mensch ist immer guter Laune! Das ist das ärgerlichste.“

„Wenn ich deine siebzigtausend Rubel Rente hätte, dann dürfte mir der Trübsinn nicht einmal zur Türe herein!“ dachte Tschitschikow. „Da ist der Branntweinpächter Murasow — der hat zehn Millionen. Leicht gesagt, zehn Millionen — das nenne ich ein Sümmchen!“

„Haben Sie nichts dagegen, wenn wir unterwegs einen kleinen Abstecher machen? Ich möchte mich gern noch von meiner Schwester und von meinem Schwager verabschieden.“

„Aber mit dem größten Vergnügen!“ sagte Tschitschikow.

„Er ist ein ganz hervorragender Landwirt. Der erste hier in der Gegend. Er bezieht Einkünfte im Werte von zweimal hunderttausend Rubel von einem Gut, das vor acht Jahren noch keine zwanzigtausend abwarf.“

„Aber das muß ja ein äußerst interessanter und hochachtbarer Mensch sein! Ich bin sehr begierig, einen solchen Mann kennen zu lernen. Ich bitte Sie ... Denken Sie doch nur ... Und wie heißt er?“

„Kostanshoglo.“

„Und sein Vor- und Vatername, wenn ich bitten darf?“

„Konstantin Fjodorowitsch.“

„Konstantin Fjodorowitsch Kostanshoglo. Ich bin wirklich begierig auf seine Bekanntschaft! Von einem solchen Mann kann man viel lernen.“

Platonow übernahm die schwere Aufgabe, Seliphan zu instruieren, was sehr notwendig war, da dieser sich kaum auf dem Bocke zu halten vermochte. Petruschka war bereits zweimal kopfüber aus dem Wagen gefallen, und es war daher nötig, ihn mit einem Strick an dem Kutschbock festzubinden.

„So ein Schwein!“ Das war alles, was Tschitschikow sagen konnte.

„Sehen Sie! da fangen seine Güter an!“ sagte Platonow. „Das sieht doch gleich ganz anders aus!“

Und in der Tat: vor ihnen lag eine mit jungem Walde bewachsene Schonung, — jedes Bäumchen war schlank und gerade wie ein Pfeil, dahinter sah man ein zweites gleichfalls noch junges Wäldchen, und hinter diesem erhob sich ein alter Forst voll prächtiger Tannen, eine immer höher als die andre. Dazwischen kam wieder eine Schonung, ein Streifen junger und dahinter ein Streifen alter Wald. Dreimal nacheinander fuhren sie durch den Wald, wie durch ein Tor in einer Mauer: „Dieser ganze Wald ist kaum acht bis zehn Jahre alt, ein andrer kann zwanzig Jahre warten, und selbst dann ist er noch nicht so hoch.“

„Wie hat er es aber nur gemacht!“

„Fragen Sie ihn selbst. Das ist ein so vortrefflicher Kenner des Grund und Bodens — bei dem geht nichts verloren. Er kennt nicht nur den Boden ganz genau, er weiß auch, in welcher Nachbarschaft jedes Bäumchen und jede Pflanze am besten gedeiht, was für Bäume er neben dem Getreide pflanzen muß usw. Jedes Ding erfüllt bei ihm immer gleichzeitig drei bis vier Funktionen. Der Wald ist nicht nur des Holzes wegen da, sondern auch deswegen, weil die Felder an der und der Stelle so und so viel Feuchtigkeit brauchen und so und so viel Schatten spenden, und die trockenen Blätter benutzt er zum Düngen des Bodens ... Wenn überall rings umher Dürre herrscht, so ist bei ihm alles in schönster Ordnung; alle Nachbarn klagen über Mißernte, er allein braucht sich nicht zu beklagen. Schade, daß ich selbst so wenig von diesen Dingen verstehe und nicht zu erzählen weiß ... Wer kennt bloß all seine Kniffe und Kunststücke! ... Man nennt ihn hier allgemein einen Zauberer. Was der nicht alles hat! ... Und doch! Trotzalledem ist es langweilig!“

„Das muß in der Tat ein erstaunlicher Mensch sein!“ dachte Tschitschikow. „Es ist sehr bedauerlich, daß der junge Mann so oberflächlich ist und einem nichts erzählen kann.“

Endlich tauchte auch das Gut auf. Die zahlreichen auf drei Anhöhen gelegenen Hütten nahmen sich von Ferne wie eine Stadt aus. Jeder der drei Hügel war von einer Kirche gekrönt, überall sah man mächtige Getreide- und Heuschober stehen. „Hm!“ dachte Tschitschikow, „man merkt gleich, daß hier ein königlicher Gutsbesitzer wohnt!“ Die Hütten waren alle fest und dauerhaft gebaut; hie und da sah man einen Bauernwagen stehn — und auch der Wagen war stark und neu; die Bauern, denen man begegnete, hatten alle kluge und gescheidte Gesichter; auch das Hornvieh war von der besten Sorte, und selbst die Schweine der Bauern sahen aus wie Aristokraten. Man hatte den Eindruck, dies sei der Ort, wo die Bauern wohnen, welche das Silber, wie es im Liede heißt: mit Schaufeln nach Hause tragen. Hier gab es keine englischen Parks, noch Rasenplätze, noch andre kunstvolle Anlagen, statt dessen zog sich nach alter Sitte eine lange Reihe von Kornspeichern und Arbeiterhäusern bis dicht ans Herrenhaus, damit der Gutsherr auch alles kontrollieren könne, was rund um ihn her vor sich geht; auf dem hohen Dache des Herrenhauses erhob sich eine Art Leuchtturm; das war kein architektonischer Schmuck; er war nicht dazu da, damit der Hausherr und seine Gäste sich an der schönen Aussicht ergötzen könnten, sondern um die Arbeiter auch auf den entferntesten Feldern ständig zu beaufsichtigen. Die Reisenden wurden an der Haustreppe von flinken Dienern empfangen, die gar keine Ähnlichkeit mit dem ewig betrunkenen Petruschka hatten; auch hatten sie keine Fräcke, sondern Jacken aus gewöhnlichen selbstgewebtem blauen Tuch an, wie sie die Kosacken zu tragen pflegen.

Die Frau des Hauses kam auf die Treppe hinausgelaufen. Sie hatte eine frische Gesichtsfarbe wie Milch und Blut, und war schön wie Gottes heller Tag, sie glich Platonow wie ein Ei dem andern, nur mit dem Unterschiede, daß sie nicht so matt und schlaff, wie er, sondern immer heiter und gesprächig war.

„Guten Tag, Bruder! Bin ich aber froh, daß du gekommen bist. Konstantin ist leider nicht zuhause, aber er muß bald kommen.“

„Wo ist er denn?“

„Er hat mit ein paar Händlern im Dorfe zu tun,“ sagte sie, während sie die Gäste ins Zimmer geleitete.

Tschitschikow sah sich neugierig in der Wohnung dieses merkwürdigen Menschen um, der ein Einkommen von zweimal hunderttausend Rubeln hatte, denn er glaubte, er werde aus dieser den Charakter und das Wesen des Besitzers erkennen können, wie man etwa von einer Muschel auf die Auster oder von dem leeren Schneckengehäuse auf die Schnecke schließt, die es einstmals bewohnte und ihren Abdruck darin hinterlassen hat. Aber das Wohnhaus erlaubte es nicht, irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Die Zimmer waren alle schlicht und einfach ausgestattet und beinahe leer; da gab es weder Fresken, noch Bronzen, noch Blumen, noch Etageren mit kostbarem Porzellan, ja nicht einmal Bücher. Mit einem Wort, alles deutete darauf hin, daß das Wesen, das hier hauste, sich den größten Teil seines Lebens garnicht innerhalb der vier Zimmerwände, sondern draußen im Felde aufhielt und daß es seine Pläne nicht vorsorglich und sybaritisch im weichen Lehnstuhl am Kaminfeuer überlegte und dort seinen Gedanken nachhing, sondern daß sie ihm an Ort und Stelle, mitten in der Tätigkeit einfielen und auch dort ins Werk gesetzt wurden. In den Zimmern konnte Tschitschikow nur die Spuren eines echt weiblichen häuslichen Sinnes entdecken: auf den Tischen und Stühlen lagen Bretter von Lindenholz, auf denen offenbar zum Trocknen bestimmte Blumenblätter ausgeschüttet waren.

„Was ist das für ein Plunder, der hier herumliegt, Schwester?“ sagte Platonow.

„Das ist doch kein Plunder!“ versetzte die Hausfrau. „Das ist das beste Mittel gegen Fieber. Voriges Jahr haben wir alle unsere Bauern damit kuriert. Hieraus machen wir Likör, und jenes dort soll eingemacht werden. Ihr lacht uns immer mit unseren Marmeladen und unserem eingelegten Gemüse aus; nachher aber lobt Ihr es selbst, wenn Ihr es eßt.“

Platonow ging ans Klavier und betrachtete die aufgeschlagenen Noten.

„Herrgott, das alte Zeug!“ sagte er, „Schämst du dich gar nicht, Schwester?“

„Nimm mir’s nicht übel, Bruder, ich habe nicht Zeit, mich auch noch mit Musik abzugeben. Ich habe nicht Zeit, mich auch noch mit Musik abzugeben. Ich habe eine achtjährige Tochter, die ich unterrichten muß. Soll ich sie etwa einer ausländischen Gouvernante überlassen, bloß damit ich genug freie Zeit habe, um mich mit Musik zu beschäftigen? — Nein entschuldige, das tue ich denn doch nicht!“

„Bist du langweilig geworden, Schwester!“ sagte der Bruder und trat ans Fenster: „Ah, da ist er ja schon, er kommt, eben kommt er!“ rief Platonow.

Tschitschikow lief gleichfalls ans Fenster. Ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit braunem lebhaftem Gesicht, in einer Jacke von Kamelhaaren kam auf das Haus zugeschritten. Auf sein Kostüm pflegte er nicht zu achten. Er trug eine Sammtmütze. Ihm zur Seite gingen zwei Männer niederen Standes, mit respektvoll entblößtem Haupte, in einer lebhaften Unterhaltung begriffen; der eine war ein einfacher Bauer, der andre ein durchreisender Händler, ein durchtriebener Kerl in einem Rock mit langen Schößen. Da sie alle drei an der Treppe stehen blieben, konnte man ihr Gespräch deutlich im Zimmer hören.

„Das beste was ihr tun könnt, ist folgendes: kauft euch bei eurem Herrn los. Ich will euch die Summe meinetwegen vorschießen; ihr könnt sie ja allmählich bei mir abarbeiten!“

„Nein, Konstantin Fjodorowitsch, wozu sollen wir uns loskaufen? Nehmen Sie uns lieber ganz zu sich. Bei Ihnen können wir nur Gutes lernen. Einen so klugen Mann wie Sie, gibt es nicht wieder auf der ganzen Welt. Heutzutage hat man seine Not, man kann sich nicht genug in acht nehmen. Die Kneipwirte haben euch solche Schnäpse erfunden, das brennt einem im Magen, daß man danach gleich einen ganzen Eimer Wasser austrinken möchte: eh man sich’s versieht, ist die letzte Kopeke ausgegeben. Die Versuchung ist auch allzugroß. Ich glaube der Böse regiert die Welt, bei Gott! Was erfinden sie nicht alles, um den Bauern ganz toll zu machen! Tabak und all diese Finessen. Was soll man anfangen, Konstantin Fjodorowitsch? Man ist auch nur ein Mensch — man läßt sich halt leicht verführen.“

„Hör mal: hier handelt es sich doch um folgendes. Wenn ihr zu mir kommt, dann seid ihr doch auch nicht frei. Es ist wahr, ihr bekommt alles, was ihr braucht: eine Kuh und ein Pferd; aber ich verlange auch was von meinen Bauern, wie kein anderer Gutsbesitzer. Bei mir müssen sie vor allem arbeiten — das ist das erste; ob nun für mich oder für sich selbst, das ist ganz gleich, gefaulenzt wird bei mir nicht. Ich arbeite ja auch wie ein Stier, ebensoviel wie meine Bauern, weil ich es an mir selbst erfahren habe: all diese Schrullen kommen einem bloß in den Kopf, weil man nicht arbeitet. Also denkt mal über die Sache nach und überlegt sie euch ordentlich, wenn ihr zusammenkommt.“

„Wir haben ja schon so viel überlegt, Konstantin Fjodorowitsch. Selbst die alten Leute bei uns sagen schon: ‚bei Ihnen sind die Bauern alle reich, das ist doch kein Zufall; auch Ihre Priester sind so mitleidig und so gütig. Die unsrigen hat man uns doch weggenommen, und jetzt haben wir niemanden, der einen rechtschaffen beerdigen könnte.‘“

„Es ist doch besser, du sprichst noch einmal darüber mit der Gemeinde.“

„Wie Sie befehlen!“

„Nicht wahr, Konstantin Fjodorowitsch, Sie sind schon so gut und gehen etwas mit dem Preise herunter,“ sagte der durchreisende Kaufmann im langen blauen Rock, der an der andern Seite von Kostanshoglo schritt.

„Ich habe dir’s schon gesagt, ich lasse nicht mit mir handeln. Ich bin nicht so wie andre Gutsbesitzer, bei denen du immer gerade dann erscheinst, wenn sie ihre fälligen Schulden bezahlen müssen. Ich kenne euch viel zu gut; ihr führt eine Liste über alle, welche Zahlungen zu machen haben. Das ist doch sehr einfach. So ein Mann ist in einer verzweifelten Lage, da gibt er euch natürlich alles um den halben Preis her. Bei mir ist das anders. Was soll ich mit deinem Gelde anfangen? Bei mir können die Sachen ruhig drei Jahre lang liegen bleiben; ich habe keine Hypothekengelder zu bezahlen!“

„Sie haben ganz recht, Konstantin Fjodorowitsch. Ich sage das ja auch nur, um auch ferner mit Ihnen in Verbindung zu bleiben, und nicht aus Habsucht und Eigennutz. Bitte, hier sind dreitausend Rubel Handgeld!“ Bei diesen Worten zog der Kaufmann ein Päckchen schmutziger Banknoten aus der Brusttasche. Kostanshoglo nahm sie sehr kaltblütig, ohne sie nachzuzählen in Empfang, und steckte sie in die Rocktasche.

„Hm,“ dachte Tschitschikow, „wie wenn das sein Taschentuch wäre!“ Doch jetzt erschien Kostanshoglo in der Türe des Salons. Er machte einen tiefen Eindruck auf Tschitschikow durch sein verbranntes Gesicht, die struppigen schwarzen Haare, welche stellenweise schon einen leichten Anflug von Grau erkennen ließen, den lebhaften Ausdruck der Augen und seine etwas gallige Art, die auf seine südliche Herkunft hindeutete. Er war kein echter Russe. Wußte er doch selbst nicht genau, woher seine Vorfahren stammten. Er kümmerte sich jedoch nicht um seinen Stammbaum; das paßte nicht in sein System, und er fand, daß sich in der Wirtschaft damit nicht viel anfangen ließe. Er selbst hielt sich für einen Russen, und kannte auch keine andere Sprache außer der russischen.

Platonow stellte Tschitschikow vor. Beide küßten sich.

„Weißt du Konstantin, ich habe mich entschlossen, eine kleine Reise zu machen, und mir einige unserer Gouvernements anzusehen. Ich will meine Langeweile los werden,“ sagte Platonow, „Pawel Iwanowitsch hat mir vorgeschlagen, mit ihm zu reisen.“

„Das ist ja vortrefflich!“ sagte Konstanshoglo. „Und welche Gegend gedenken Sie zu besuchen?“ fuhr er fort, indem er sich liebenswürdig an Tschitschikow wandte.

„Ich muß gestehen,“ sagte Tschitschikow, indem er den Kopf höflich auf die Seite neigte und mit der Hand über die Stullehne strich, „ich muß gestehen, daß ich eigentlich nicht in meinem eigenen, sondern im Interesse eines andern reise: ein naher Freund von mir, ich darf wohl sagen mein Wohltäter, General Betrischtschew hat mich gebeten, einige von seinen Verwandten aufzusuchen. Das mit den Verwandten ist natürlich sehr wichtig, aber andererseits reise ich doch auch sozusagen zu meinem eigenen Vergnügen, denn ganz abgesehen von dem Nutzen den das Reisen für die Hämorrhoiden hat; die Welt kennen zu lernen, sich in den Wirbel und Strudel des Menschenvolkes zu stürzen — das ist sozusagen ein lebendes Buch und auch eine Art Wissenschaft.“

„Sehr richtig! Es ist ganz gut, wenn man sich in der Welt umsieht.“

„Sehr fein bemerkt! Das ist tatsächlich wahr, es ist wirklich gut. Man sieht allerhand Dinge, die man sonst nie gesehen hätte, und trifft mit Menschen zusammen, denen man vielleicht niemals begegnet wäre. Manche Unterhaltung ist Goldes wert, wie zum Beispiel gleich hier, wo sich mir eine so glückliche Gelegenheit bietet ... Ich wende mich an Sie, verehrtester Konstantin Fjodorowitsch. Helfen Sie mir, belehren Sie mich, stillen Sie meinen Durst und weisen Sie mir den Weg zur Wahrheit. Ich lechze nach Ihren Worten, wie nach himmlischem Manna.“

„Ja, was denn nur? ... Was soll ich Sie denn lehren?“ sprach Kostanshoglo verlegen. „Ich habe doch selbst nur ein paar Groschen Lehrgeld bezahlt.“

„Die Weisheit, verehrter Mann, lehren Sie mir die Weisheit und die Kunst, das schwere Steuer der Landwirtschaft zu regieren, einen sicheren Gewinn zu erzielen, Reichtum und Wohlstand zu erwerben und zwar keinen eingebildeten, sondern einen wirklichen Wohlstand, denn das ist doch die Pflicht eines jeden Bürgers und damit verdient man sich die Achtung seiner Mitmenschen.“

„Wissen Sie was?“ sagte Kostanshoglo und sah ihn nachdenklich an, „bleiben Sie einen Tag bei mir. Ich will Ihnen die ganze Einrichtung zeigen und Ihnen alles erzählen. Eine große Weisheit werden Sie hier nicht finden.“

„Aber natürlich! Bleiben Sie doch!“ fiel die Hausfrau ein; dann wandte sie sich an ihren Bruder und fuhr fort: „Bleib doch, Bruder, du hast doch keine Eile.“

„Mir ist es einerlei. Wenn Pawel Iwanowitsch nichts dagegen hat?“

„Nicht das Geringste, mit dem größten Vergnügen ... Da ist nur noch ein Umstand: ein Verwandter des General Betrischtschew, der Oberst Koschkarow ...“

„Der ist aber doch verrückt!“

„Natürlich ist er verrückt! Ich hätte ihn ja auch gar nicht besucht, aber General Betrischtschew, wissen Sie, ein guter Freund von mir, und sozusagen mein Wohltäter ...“

„Wissen Sie was? Dann machen Sie es doch so,“ sagte Kostanshoglo: „fahren Sie doch gleich zu ihm, er wohnt keine zehn Werst von hier. Mein Wagen ist angespannt — setzen Sie sich hinein und fahren Sie hin. Zum Tee können Sie schon wieder zurück sein.“

„Eine großartige Idee!“ rief Tschitschikow aus und griff nach dem Hut.

Der Wagen fuhr vor, und brachte ihn in einer halben Stunde zum Obersten. Im Dorfe ging es drunter und drüber: hier wurde gebaut, dort eine Reparatur vorgenommen, überall lagen Haufen von Kalk, Ziegelsteinen und Balken herum. Daneben sah man ein paar Häuser, die wie Gerichtsgebäude aussahen. Auf dem einen befand sich eine Inschrift in goldenen Lettern: „Depot für landwirtschaftliche Werkzeuge“, auf einem andern las man: „Hauptrechnungskammer“, „Komitee für Gemeindeangelegenheiten“, „Normalschule für Landleute“. Mit einem Wort, weiß der Teufel, was es da nicht alles gab!

Er traf den Obersten vor einem Stehpult mit der Feder in den Zähnen. Der Oberst empfing Tschitschikow außerordentlich freundlich. Er machte den Eindruck eines äußerst gutmütigen und höflichen Menschen; sofort fing er an davon zu erzählen, wieviel Mühe es ihn gekostet habe, sein Gut auf die Höhe zu bringen, auf der es sich jetzt befindet; er beklagte sich schmerzlich darüber, wie schwer es sei, den Bauern begreiflich zu machen, was die „höheren Antriebe“ sind, die der Mensch nur aus einem vernunftgemäßen Luxus, aus der Beschäftigung mit Wissenschaften und Künsten gewinnt; daß es ihm noch immer nicht gelungen sei, die Bäuerinnen zu veranlassen, doch ein Korsett anzulegen, während er in Deutschland, wo er 1814 mit seinem Regiment gestanden, die Tochter eines einfachen Bauern kennen gelernt habe, die Klavier spielen konnte; dennoch aber werde er den Trotz der Unwissenheit und Unbildung brechen, und es bestimmt erreichen, daß seine Bauern Bücher lesen, während sie hinter dem Pfluge hergehen und sich auf diese Weise über den Franklinschen Blitzableiter, die Georgien Virgils und die chemische Analyse des Bodens unterrichten.

„Daß du dich nur nicht täuschst!“ dachte Tschitschikow. „Denken Sie bloß, ich habe die „Gräfin Laveillère“ bis heute noch nicht gelesen. Ich kann immer keine Zeit dazu finden.“

Der Oberst sprach noch lange darüber, wie man die Menschen wohlhabend und glücklich machen könne. Eine besondere große Bedeutung legte er der Kleidung bei: er setzte seinen Kopf dafür ein, daß, wenn nur die Hälfte aller russischen Bauern Hosen nach deutschem Schnitt anziehen wollte, die Wissenschaften emporblühen, der Handel sich heben und das goldene Zeitalter für Rußland anbrechen würde.

Tschitschikow sah ihm aufmerksam ins Gesicht, hörte ihn ruhig an und sagte schließlich zu sich selbst: „Ich glaube, mit dem brauche ich mich nicht zu genieren;“ und er erklärte sofort, er habe tote Seelen nötig, zuvor aber müsse ein Kaufvertrag abgeschlossen werden und dazu bedürfe es der und der Formalitäten.

„Soweit ich aus Ihren Worten ersehen kann,“ sagte der Oberst, ohne auch nur im geringsten in Verlegenheit zu geraten, „ist das ein Gesuch, das Sie an mich richten! Nicht wahr?“

„Sehr richtig.“

„Dann haben Sie wohl die Güte, es schriftlich zu formulieren. Das Gesuch muß nämlich erst ins „Bureau für Berichte und Anzeigen“, dort wird es signiert, und erst dann kommt es in meine Hände; ich gebe es hierauf an das Komitee für Gemeindeangelegenheiten weiter, von dort geht es an den Verwalter, der Erhebungen anstellen wird, und der Verwalter läßt es endlich zusammen mit dem Sekretär ...“

„Ich bitte Sie!“ sprach Tschitschikow, „auf diese Weise wird sich ja die Sache furchtbar in die Länge ziehen. Ein solcher Gegenstand läßt sich doch nicht schriftlich behandeln. Das ist ja so eine delikate ... Angelegenheit, die ... Die Seelen sind doch gewissermaßen ... schon tot ...“

„Sehr gut. Dann schreiben Sie doch einfach, daß die Seelen gewissermaßen schon tot sind.“

„Nein bitte, wie kann ich das? So etwas kann man doch nicht niederschreiben. Wenn sie auch wirklich tot sind, so soll es doch den Anschein haben, als ob sie noch leben ...“

„Gut, dann schreiben Sie eben: es ist nötig, oder es ist erwünscht, oder man legt Wert darauf, daß es den Anschein habe, als ob sie noch leben. Ohne schriftliche Fixierung geht das doch gar nicht. Denken Sie bloß an England oder sogar an Napoleon. Ich will Ihnen einen Mann mitgeben, der Sie überallhin begleiten wird.“

Er schellte. Ein Mann erschien in der Türe.

„Herr Sekretär! Rufen Sie den Kommissar.“ Gleich darauf trat auch der Kommissar herein, ein Mann, dem man es nicht recht ansehen konnte, was er war, ein Bauer oder ein Beamter. „Er wird Sie überall hinführen.“

Was war da zu machen? Tschitschikow entschloß sich aus Neugierde, dem Kommissar zu folgen und diese so überaus wichtigen Instanzen kennen zu lernen. Das „Bureau für Berichte und Anzeigen“ stand nur auf dem Aushängeschild, die Tür war dagegen verschlossen. Der Chef des Bureaus Chryljow war in das soeben gegründete Komitee für Gemeindebauten versetzt. Seine Stelle versah der Kammerdiener Berjosowski; aber auch der war von der Baukommission irgendwohin geschickt worden. Sie gingen daher in das Departement für Gemeindeangelegenheiten — da wurden jedoch gerade Reparaturen vorgenommen, hier weckten sie einen Mann, der betrunken dasaß und schlief, aber aus dem ließ sich auch nichts herausbringen. „Bei uns herrscht eine große Unordnung!“ sagte schließlich der Kommissar zu Tschitschikow. „Die Leute tanzen unserem Herrn alle auf der Nase. Bei uns hängt alles von der Baukommission ab; sie holt die Leute von ihrer Arbeit weg und schickt sie überallhin, wohin es ihr beliebt. Nur bei der Baukommission kommt man auf seinen Vorteil.“ Er war offenbar sehr unzufrieden mit der Baukommission. Tschitschikow wollte nicht mehr sehn. Als sie zum Obersten zurückkehrten, erklärte er diesem, bei ihm herrsche ein großer Wirrwar, man könne sich da unmöglich zurechtfinden, und ein Bureau für Berichte und Anzeigen gäbe es überhaupt nicht.

Der Oberst schäumte auf in edlem Zorn und drückte Tschitschikow dankbar die Hand. Er griff sofort zur Feder und verfaßte acht in strengstem Tone gehaltene Anfragen: mit welchem Rechte die Baukommission eigenmächtig über Beamte verfügt habe, die garnicht zu ihrem Ressort gehörten? wie der Oberverwalter es habe zulassen können, daß der Vorsitzende sich entfernte, um an einer Untersuchung teilzunehmen, ohne seinen Posten zuvor einem andern übergeben zu haben? und wie das Komitee für Gemeindeangelegenheiten ruhig darüber hinweggehen konnte, daß es überhaupt kein Bureau für Anzeigen und Berichte gebe?

„Das gibt wieder eine tolle Verwirrung!“ dachte Tschitschikow und wollte schon wegfahren, da aber sagte Koschkarjow:

„Nein, ich lasse Sie nicht fort. Hier handelt es sich um meine Ehre. Ich will Ihnen beweisen, was das ist: eine geregelte, organisierte Wirtschaft. Ich will Ihre Sache einem Mann übergeben, der allein soviel wert ist, wie alle anderen zusammen: er hat die Universität beendigt. Sehen Sie, solche Leibeigene habe ich! Um Ihre kostbare Zeit nicht allzulange in Anspruch zu nehmen, bitte ich Sie höflichst, sich einstweilen in meine Bibliothek verfügen zu wollen,“ fuhr der Oberst fort, indem er eine Seitentür öffnete: „Hier finden Sie Bücher, Papier, Federn, Bleistifte — mit einem Wort, alles, was Sie wünschen. Bitte! alles steht zu Ihrer Verfügung. Tuen Sie, als ob Sie zu Hause wären. Die Aufklärung und Wissenschaft sollte allen offen stehen.“

So sprach Koschkarjow, während er Tschitschikow in die Bibliothek geleitete. Diese war ein mächtiger Saal der von unten bis oben mit Büchern vollgepfropft war. Auch ein paar ausgestopfte Tiere befanden sich darin. Alle Wissenszweige waren vertreten: da gab es Bücher über Forstwissenschaft, Viehzucht, Schweinezucht, Gartenbau, Spezialzeitschriften über alle Wissensgebiete, wie sie einen zugeschickt werden, bloß damit man auf sie abonniert, die aber kein Mensch liest. Als Tschitschikow sich überzeugt hatte, daß dies alles Bücher waren, die sich kaum dazu eigneten, einem in angenehmer Weise die Zeit zu vertreiben, ging er an den nächsten Schrank, aber o weh! er geriet aus dem Regen in die Traufe: dieser enthielt wiederum nichts als philosophische Bücher. Das erste, was ihm ins Auge fiel, waren sechs gewaltige Bände mit der Ueberschrift: „Einführung in die Lehre vom Denken, Theorie der Abstraktion, der Allheit, und Wesenheit in ihrer Anwendung auf die Erkenntnis der organischen Prinzipien der Polarität in der gesellschaftlichen Produktivität.“ Was für ein Buch Tschitschikow auch aufschlagen mochte, auf jeder Seite las er immer nur von: Erscheinung, Entwickelung, Abstraktion, Geschlossenheit, An und Für sich sein, mit einem Wort, weiß der Teufel, was nicht alles in so einem Buche stand! „Das ist nichts für mich,“ sagte Tschitschikow, und ging an einen dritten Schrank, der wieder lauter kunstgeschichtliche Bücher enthielt. Er zog einen mächtigen Folianten mit Bildern aus der antiken Mythologie hervor, die sich nicht gerade durch übermäßige Sittsamkeit auszeichneten und begann darin zu blättern. Solche Bilder gefallen besonders Junggesellen in mittleren Jahren, mitunter aber auch alten Herren, die ihre Einbildungskraft durch Ballette und ähnliche gepfefferte Dinge anzuregen lieben. Nachdem Tschitschikow mit dem einen Buche fertig war, wollte er schon zu einem zweiten ähnlichen übergehen, als Oberst Koschkarjow mit strahlender Miene und einem Bogen Papier in der Tür erschien.

„Es ist alles erledigt; zur schönsten Zufriedenheit erledigt! Der Mensch, von dem ich Ihnen erzählt habe, ist tatsächlich ein Genie. Dafür will ich ihn aber auch über alle anderen erheben und ein eigenes Departement für ihn einrichten. Sehen Sie doch bloß, was das für ein heller Kopf ist, und wie er in ein paar Minuten mit allem fertig geworden ist.“

„Na, Gott sei Dank!“ dachte Tschitschikow und schickte sich an, zu hören. Der Oberst begann mit der Vorlesung:

„Indem ich an die Untersuchung des mir von Ew. Hochwohlgeboren erteilten Auftrages gehe, habe ich die Ehre, folgendes zu Ew. Hochwohlgeboren Kenntnis zu bringen:

Erstens ist schon in dem Gesuch des Herrn Ritters und Kollegienrates Pawel Iwanowitsch Tschitschikow ein grundlegendes Mißverständnis enthalten, denn die in den Revisionslisten verzeichneten Seelen werden unvorsichtiger Weise tot genannt. Dahingegen wird er wahrscheinlich Seelen gemeint haben, die dem Tode nahe sind, keineswegs aber absolut tote Seelen. Zudem verrät auch schon diese Bezeichnung eine Bildungsstufe, die lediglich aus dem Studium der bloß empirischen Wissenschaften geschöpft zu sein scheint, und etwa dem Niveau einer Gemeindeschule entspricht, denn die Seele ist unsterblich.“

„So ein Schelm!“ sagte Koschkarjow und hielt ein wenig inne. „Hier will er Ihnen eines auswischen. Aber nicht wahr? welch eine gewandte, schneidige Feder er führt!“

„Zweitens sind überhaupt keine Seelen vorhanden, weder solche, die dem Tode nahe sind, noch irgendwelche andre, die nicht schon hypothekarisch belastet wären, denn sie sind nicht nur alle ohne Ausnahmen mit einfachen, sondern sogar mit doppelten Hypotheken belastet, sodaß noch außerdem hundertfünfzig Rubel pro Kopf auf jede Seele kommen, ausgenommen das kleine Dorf Gurmailowka, welches infolge eines Prozesses mit dem Gutsbesitzer Perdrschtschew mit Beschlag belegt ist, wie dies in Nummer 42 der „Moskauer Nachrichten“ zu lesen steht.“

„Warum haben Sie mir dies denn nicht gleich gesagt? Wozu haben Sie mich unnütz aufgehalten?“ sagte Tschitschikow ärgerlich.

„Ich bitte Sie, das mußte sich doch alles erst auf dem richtigen Instanzweg ergeben. Das ist doch kein Spaß. Unbewußt und sozusagen instinktiv kann jeder Narr sowas rauskriegen, es muß aber mit Bewußtsein geschehen.“

Tschitschikow griff wütend nach seiner Mütze, und lief eilig zum Hause hinaus, ohne auch nur die gewöhnlichsten Pflichten des Anstandes zu wahren: er war sehr böse. Der Kutscher wartete schon mit dem Wagen vor der Tür, er wußte, daß es keinen Zweck hatte, die Pferde auszuspannen, denn um Futter für die Tiere zu erhalten, hätte er erst ein schriftliches Gesuch einreichen müssen, und der Beschluß, den Pferden ihren Hafer auszufolgen, wäre erst am folgenden Tage erschienen. Der Oberst lief Tschitschikow jedoch nach; er drückte ihm krampfhaft die Hand, preßte sie ans Herz und dankte ihm, daß er ihm Gelegenheit gegeben habe, den ganzen Betrieb in der Praxis funktionieren zu sehen. Man müsse den Leuten schon hin und wieder einen kleinen Puff versetzen. Sonst könne alles leicht einschlafen und der Verwaltungsmechanismus träge werden und einrosten. Dieser Vorfall habe ihm einen glücklichen Gedanken eingegeben, nämlich den, eine neue Kommission zu gründen, die den Namen tragen soll: „Kommission zur Aufsicht über die Baukommission“. Dann würde es niemand mehr wagen zu stehlen.

Unzufrieden und ärgerlich kam Tschitschikow zu später Stunde bei Kostanshoglo an. Man hatte schon längst Licht angezündet.

„Warum kommen Sie so spät?“ sagte Kostanshoglo, als Tschitschikow in der Türe erschien.

„Worüber haben Sie so lange mit ihm gesprochen?“ fragte Platonow.

„Einen solchen Narren habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen!“ rief Tschitschikow aus.

„Das ist noch gar nichts!“ meinte Kostanshoglo. „Koschkarjow ist trotzdem eine tröstliche Erscheinung. Man braucht solche Leute, weil sich in ihnen die Torheiten unserer „weisen Männer“ gewissermaßen karrikiert und recht drastisch offenbaren. — All jene Neunmalklugen, die, noch ehe sie sich zu Hause ordentlich umgesehen haben, sich in der Fremde allerhand Flausen in den Kopf setzen. Sehen Sie doch mal, was wir jetzt für Gutsbesitzer bekommen haben: Was die nicht alles für Neuerungen einführen: Komptoirs, Manufakturen, Schulen und Kommissionen, und weiß der Teufel, was noch alles! So sind aber die gescheidten Leute! Kaum daß man sich von der französischen Invasion und dem Jahr 1812 erholt hat, da fangen sie schon wieder an, Unordnung zu stiften und alles einzureißen. Wahrhaftig, die haben schlimmer gehaust als der Franzose. Wir werden bald so weit kommen, daß irgend ein Peter Petrowitsch Petuch noch einer der tüchtigsten Gutsbesitzer sein wird.“

„Aber er hat doch schon Hypotheken aufgenommen?“ sagte Tschitschikow.

„Na, natürlich! Alles wandert ins Bankhaus, alles, alles!“ Kostanshoglo redete sich allmählig immer mehr in Zorn. „Da haben Sie zum Beispiel eine Hut- und eine Kerzenfabrik — natürlich müssen die Werkmeister aus London verschrieben werden. Man wird ja zum reinsten Krämer! Der Gutsbesitzer — ein so hochachtbarer Beruf — wird Fabrikant und Manufakturist! Webstühle um Tüllkleider für die „Dämchen“ aus der Stadt zu fabrizieren, und diese Frauenzimmer ...“

„Aber du selbst hast doch auch Fabriken,“ bemerkte Platonow.

„Wer hat denn die gebaut?“

„Das kam ganz von selbst. Es war halt so viel Wolle da, daß ich sie nicht absetzen konnte. — Da fing ich eben an, Stoffe zu weben, lauter dickes, einfaches Zeug — das verkaufe ich gleich hier bei mir auf dem Markt. Das sind doch bloß Dinge, die die Bauern brauchen, meine eigenen Bauern. Oder ein anderes Beispiel: die Fischer haben sechs Jahre lang ihre Fischschuppen hier am Ufer hingeworfen. Wo sollte ich bloß hin mit ihnen. Ich habe halt angefangen, Leim aus ihnen zu sieden. Das hat mir vierzig Tausend eingebracht. So kommt bei mir alles von selbst.“

„Teufel!“ dachte Tschitschikow, indem er ihn bewundernd anblickte. „Verstehst du dich aber aufs Geldverdienen!“

„Das habe ich auch nur gemacht, weil so viele Arbeitslose zu mir gelaufen kamen, die ohnedies vor Hunger gestorben wären. Wir hatten ja Hungersnot. Alles dank den Herren Fabrikanten, welche das Säen vergessen hatten. Solche Fabriken gibt’s bei mir in Hülle und Fülle, mein Bester, jedes Jahr ’ne andre. Je nachdem, was ich gerade für Abfälle zu verwerten habe. Sieh’ nur ordentlich bei dir zu Hause nach! Mit jedem Plunder kannst du noch was verdienen, sodaß du ihn schließlich fortwirfst und sagst: ich will nicht mehr. Ich baue mir ja auch keine Häuser mit Säulengängen und Giebeln.“

„Wirklich erstaunlich ... Das merkwürdigste aber ist, daß man mit jedem Plunder was verdienen kann!“ sagte Tschitschikow.

„Aber ich bitte Sie, wenn die Menschen die Dinge doch ganz einfach so nehmen wollten, wie sie sind. Aber da will gleich jeder Kunstschlosser und Mechaniker sein und holt gleich ein Instrument herbei, um das Kästchen zu öffnen, während es doch ganz einfach aufgeht. Und dazu muß er erst extra nach England fahren! Das ist es! Solche Narren!“ Bei diesen Worten spuckte Konstanshoglo aus. „Und dabei kommt er tausendmal dümmer zurück, als wie er ins Ausland fuhr.“

„Aber Konstantin, du regst dich schon wieder auf!“ sagte die Frau besorgt, „du weißt doch, daß dir das schadet.“

„Ja, wie soll man sich denn da nicht aufregen! Wenn es sich hierbei noch um etwas handelte, was einen nichts angeht. Aber das sind doch alles Dinge, die einem am Herzen liegen. Es schmerzt einen doch, wenn man sieht, wie der russische Charakter verdorben wird. Es ist jetzt eine Don Quixoterie bei uns aufgekommen, die wir früher garnicht gekannt haben! Wenn einem die Aufklärung zu Kopfe gestiegen ist, dann wird er gleich ein Don Quixote. Gründet allerhand Schulen, von denen sich nicht mal ein Narr was träumen läßt. Diese Schulen bilden nur Menschen heran, die zu nichts nütze sind, weder auf dem Lande, noch in der Stadt. Höchstens lauter Trinker, die einen sehr hohen Begriff von ihrer Würde haben. Oder so einer will in Humanität machen — dann wird er ein Don Quixote der Humanität: baut allerhand alberne Krankenhäuser und Asyle mit Säulenhallen für ’ne Million, richtet sich selbst zugrunde und bringt andere Leute an den Bettelstab. Da habt ihr dann die Humanität!“

Aber Tschitschikow war es keineswegs um die Aufklärung zu tun. Er wollte durchaus näheres darüber erfahren, wie man mit jedem Plunder was verdienen könne; jedoch Kostanshoglo ließ ihn nicht zu Worte kommen; immer neue, heftige Reden entströmten seinem Munde, er war jetzt schon nicht mehr imstande, sie zu unterdrücken.

„Und dann grübeln sie darüber nach, wie sie den Bauern aufklären sollen ... sorgt mal erst dafür, daß er reich und ein tüchtiger Landwirt wird, dann wird er schon selbst für seine Bildung sorgen. Sie können sich garnicht vorstellen, wie dumm heutzutage alle Leute geworden sind. Was diese Federfuchser nicht alles schreiben! Wenn einer ein Buch in die Welt setzt, dann stürzen sich gleich alle darauf ... Hören Sie doch, was sie jetzt für eine neue Weisheit verkündigen: ‚Der Bauer führt ein zu primitives Leben; er muß auch den Luxus kennen lernen, man muß ihm höhere Bedürfnisse beibringen ...‘ Weil sie selbst dank diesem Luxus zu Waschlappen geworden sind und weil es keinen achtzehnjährigen Burschen mehr gibt, der nicht schon von allem gekostet, bald keine Zähne mehr im Munde, und eine Glatze hat, wie eine Schweinsblase — darum wollen Sie andere Leute gleichfalls anstecken. Wir sollten Gott danken, daß wir doch wenigstens noch einen gesunden Stand haben, der noch nichts von diesen Launen und Einfällen weiß! Dafür müßten wir Gott unendlich dankbar sein. Jawohl — der Landmann verdient unsere allergrößte Achtung — wozu rührt ihr ihn also an? Gott gebe, daß alle Leute so wären wie er.“

„Sie glauben also, es sei noch das Einträglichste sich mit der Landwirtschaft zu beschäftigen?“ fragte Tschitschikow.

„Das Sittlichste, wenn auch nicht gerade das Einträglichste. ‚Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen‘, heißt es in der Bibel. Daran ist nicht zu rütteln und zu deuteln. Es ist durch eine hundertjährige Erfahrung erwiesen, daß die Beschäftigung mit dem Ackerbau den Menschen reiner, edler, besser und sittlicher macht. Ich sage nicht — daß man nichts andres tun dürfe — aber der Grund zu allem muß in der Landwirtschaft liegen ... das ist’s. Die Fabriken werden schon ganz von selbst kommen; richtige, vernünftige Fabriken — in denen Dinge hergestellt werden, die der Mensch hier, an Ort und Stelle braucht, und nicht all diese Luxusgegenstände, die nur zur Befriedigung eingebildeter Bedürfnisse dienen und die heute unsere Menschen nur verweichlichen. Nicht solche Fabriken, die um ihrer Existenz willen und um nur einen recht großen Absatz zu haben, zu den schändlichsten Mitteln ihre Zuflucht nehmen, und das unglückliche Volk verderben und verführen. Ich für meinen Teil, werde nie ein solches Unternehmen gründen, und wenn die Leute mir noch so viel von seinem Nutzen vorreden, ich werde mich nie dazu hergeben, jene sogenannten höheren Bedürfnisse zu erzeugen und Tabak, Zucker usw. zu produzieren, und wenn ich eine Million deswegen verlieren müßte. Wenn schon das Laster durchaus in die Welt kommen soll, dann will ich wenigstens meine Hände nicht mit im Spiele haben! Ich will rein dastehen vor Gott ... Zwanzig Jahre lang lebe ich in und mit dem Volke; ich weiß, was das für Folgen hat.“

„Was mich am meisten wundert, ist dies, daß man die Reste und Abfälle so gut verwerten und mit jedem Plunder Geld verdienen kann, vorausgesetzt natürlich, daß man sparsam und weise zu wirtschaften versteht.“

„Hm! Und unsere Volkswirtschaftler!“ fuhr Kostanshoglo fort, ohne auf ihn zu hören, und sein Gesicht nahm einen boshaften und sarkastischen Ausdruck an. „Tüchtige Leute diese Herren Ökonomen! Ein Narr sitzt auf dem andern. Die Kerls sehen nicht weiter als ihre dumme Nase reicht! Und so ein Esel steigt noch aufs Katheder, setzt die Brille auf und ... Narren!“ Und wieder spuckte er ärgerlich aus.

„Das ist alles sehr schön und richtig, ärgere dich aber doch bitte nicht so,“ sagte die Frau, „als ob es nicht möglich ist, über diese Dinge zu reden, ohne gleich außer sich zu geraten.“(8)

„Wenn man Ihnen zuhört, verehrter Konstantin Fjodorowitsch, dann beginnt man gewissermaßen den Sinn des Lebens zu verstehen, man erfaßt sozusagen den Kern der Sache. Aber gestatten Sie mir, einen Augenblick diese allgemeinmenschlichen Dinge beiseite zu lassen, und Ihre Aufmerksamkeit auf eine Privatangelegenheit zu richten. Nehmen wir einmal an, ich wäre Gutsbesitzer geworden, und hätte die Absicht, in kürzester Zeit zu Reichtum und Wohlstand zu gelangen, um damit sozusagen eine ernste Bürgerpflicht zu erfüllen, — wie sollte ich das wohl anfangen?“

„Wie man es anfangen soll, um reich zu werden?“ fiel Kostanshoglo ein: „Ganz einfach: ...“

„Das Abendessen ist fertig,“ sagte die Hausfrau, indem sie sich vom Sofa erhob; sie ging in die Mitte des Zimmers und hüllte ihren jungen Körper zitternd in ihr Tuch.

Tschitschikow sprang beinahe mit der Gewandtheit eines Militärs vom Stuhle auf, hielt ihr höflich den Arm hin und führte sie feierlich durch zwei Zimmer hindurch bis in den Speisesaal, wo schon die offene Suppenterrine auf dem Tische stand und einen angenehmen würzigen Duft von frischen Wurzeln und Frühlingskräutern verbreitete. Alle Anwesenden nahmen Platz. Die Bedienten setzten die Speisen in zugedeckten Schüsseln nebst allem Zubehör rasch und sicher auf den Tisch nieder und entfernten sich. Kostanshoglo liebte es nicht, daß die Dienstboten mit anhörten, was bei Tische gesprochen wurde, oder daß sie ihm in den Mund sahen, während er aß.

Nachdem Tschitschikow mit der Suppe fertig war und ein Gläschen von einem ganz vorzüglichen Getränk, das wie Ungarwein schmeckte, geleert hatte, wandte er sich abermals an den Hausherrn: „darf ich noch einmal auf den Gegenstand unseres soeben unterbrochenen Gesprächs zurückkommen, Verehrtester. Ich wollte Sie fragen, wie man es anfangen, was man tun muß, wie man sich verhalten soll ...“[4]


.... „Selbst wenn er vierzigtausend für sein Gut verlangen sollte, würde ich sie ihm an Ihrer Stelle sofort auf den Tisch legen.“

„Hm!“ Tschitschikow wurde nachdenklich. „Und warum kaufen Sie es denn nicht selber?“ sagte er dann mit einer gewissen Schüchternheit.

„Alles hat seine Grenze. Ich habe schon mit meinen Gütern genug zu tun. Und dann schreien unsere Adeligen ohnedies schon, daß ich mir ihre verzweifelte Lage zunutze mache und ihre Ländereien für einen Spottpreis aufkaufe. Das habe ich bald satt.“

„Daß doch die Menschen immer schlecht von einem reden müssen!“ sagte Tschitschikow.

„Und erst in unserer Provinz! Das können Sie sich garnicht vorstellen: man nennt mich hier garnicht anders als einen Filz und Geizhals. Sich selbst verzeihen sie alles. Da heißt es immer: ‚Ich habe freilich alles durchgebracht; aber das kommt daher, weil ich eben höhere Bedürfnisse hatte, weil ich die Handelsleute und Industriellen (er sollte lieber sagen, die Lumpen und Gauner!) unterstützte; freilich wenn man wie ein Schwein lebt, so wie dieser Kostanshoglo‘ ...“

„Ich wollte, ich wäre selbst ein solches Schwein!“ sagte Tschitschikow.

„Alles Unsinn! Was sind das für höhere Bedürfnisse! Wem wollen sie denn was weismachen? Wenn sie sich auch ein paar Bücher anschaffen, — sie lesen sie ja doch nicht. Na, und was übrig bleibt, das sind schließlich die Kosten und der ... Und das alles kommt bloß daher, weil ich keine Diners gebe und ihnen kein Geld leihen will. Diners gebe ich nun einmal nicht, weil mir das unbequem ist: das bin ich halt nicht gewöhnt. Will einer zu mir kommen und an meiner Tafel mitessen — mit dem größten Vergnügen. Und daß ich kein Geld leihe — das ist ganz einfach nicht wahr. Wenn jemand zu mir kommt, der wirklich Not leidet und mir genau Rechenschaft gibt, was er mit meinem Gelde anzufangen gedenkt: wenn ich aus seinen Worten entnehme, daß er einen vernünftigen Gebrauch davon machen und daß ihm das Geld einen wirklichen Gewinn eintragen wird, dann werde ich es ihm nicht abschlagen und nicht einmal Zinsen dafür verlangen.“

„Das muß ich mir merken,“ dachte Tschitschikow.

„So einem werde ich es nie abschlagen,“ fuhr Kostanshoglo fort. „Aber mein Geld aus dem Fenster zu schmeißen, fällt mir auch nicht ein. Nein, da muß man mich schon entschuldigen. Hol’s der Teufel! Da kriegt einer den Einfall, seiner Maitresse ein Diner zu geben, oder er will sein Haus luxuriös ausstatten; will wie ein Verrückter, mit irgend einem Frauenzimmer auf den Maskenball gehen, oder ein Jubiläum feiern, weil er so und soviel Jahre lang müßig auf der Welt herumläuft — und dazu soll ich ihm noch Geld leihen!“

Hier spuckte Kostanshoglo ärgerlich aus und hätte in Gegenwart seiner Frau beinah ein paar unanständige Schimpfworte fallen lassen. Der dunkele Schatten einer finsteren Hypochondrie verdüsterte sein Gesicht. Zahlreiche Quer- und Längsfalten bedeckten seine Stirn, ein deutliches Zeichen dafür, wie heftig sich in ihm die Galle regte.

„Gestatten Sie mir, hochverehrter Herr, Ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf den Gegenstand unseres soeben unterbrochenen Gesprächs zurückzulenken,“ sagte Tschitschikow und stürzte noch ein Gläschen Himbeerlikör herunter, der wirklich ganz vorzüglich war. „Nehmen wir einmal an, ich kaufte jenes Gut, das Sie zu erwähnen geruhten, was denken Sie wohl? wie schnell und in wie langer Zeit könnte man wohl so reich werden, daß ...“

„Wenn Sie durchaus schnell reich werden wollen,“ unterbrach ihn Kostanshoglo kurz und streng, „dann werden Sie niemals reich werden; wenn Sie dagegen die feste Absicht haben, reich zu werden, und nicht nach der Zeit fragen, dann werden Sie sehr schnell zu Ihrem Ziele kommen.“

„Wirklich?“ sagte Tschitschikow.

„Ja,“ versetzte Kostanshoglo kurz, es schien fast, daß er sich über Tschitschikow ärgerte, „man muß die Arbeit lieb haben, ohne das kann man nichts erreichen. Man muß an der Landwirtschaft Freude haben! — Jawohl! Und glauben Sie mir — sie ist gar nicht langweilig. Das ist auch so ein neuer Einfall, daß es auf dem Lande langweilig ist ... ich für meinen Teil käme vor Langerweile um, wenn ich auch nur einen Tag in der Stadt verbringen müßte, so wie diese Herrschaften ihre Zeit totschlagen: in ihren Klubs, und Restaurants und Theatern. Narren! Nichts als Narren. Eine ganze Generation von lauter Eseln! Ein Landwirt hat keine Zeit zur Langenweile. In seinem Leben gibt es keine leeren Zwischenräume — jeder Augenblick ist ausgefüllt. Schon diese Mannigfaltigkeit seiner Beschäftigung, seiner Tätigkeit! — und welch einer Tätigkeit! — diese Tätigkeit hat etwas wahrhaft Erhebendes für Herz und Geist! Sagt was ihr wollt, der Mensch geht hier doch gewissermaßen Hand in Hand mit der Natur, wird zum Mitwisser und Mitarbeiter an der ganzen Schöpfung, an allem, was rund herum um ihn vorgeht. Sehen Sie doch nur hin, was das ganze Jahr über alles geschafft werden muß: wie noch vor Anbruch des Frühlings alles auf dem Posten ist und auf seine Ankunft wartet: da muß die Aussaat vorbereitet, das Korn in den Scheunen noch einmal durchgesehen, gemessen und getrocknet, da muß nachgerechnet werden, wieviel Arbeit zu allem erforderlich sein wird. Alles wird im voraus überlegt und dann ein Überschlag gemacht. Und wenn dann das Eis bricht und die Flüsse frei werden, wenn dann alles trocken ist und die Erde sich lockert — dann arbeitet in den Gärten und Gemüsebeeten der Spaten, und Pflug und Egge im Felde: man pflanzt, man setzt, man sät. Verstehen Sie, was das heißt? Das ist wohl eine Kleinigkeit? Es ist die künftige Ernte, die hier vorbereitet wird! Der Segen des ganzen Landes wird hier ausgesät. Die Nahrung für Millionen! ... Dann kommt der Sommer ... Nun beginnt die Heuernte, man mäht und mäht ... Doch jetzt kommt die Erntezeit; erst der Roggen, dann der Weizen, dann Gerste und Hafer. Alles ist in fieberhafter Tätigkeit; da heißt’s keinen Augenblick verlieren, man möchte zwanzig Augen haben, und doch hätte keines Zeit zum Ruhen. Und wenn dann alles fertig ist und auf die Tenne gebracht und zu Garben zusammengebunden ist — dann muß man schon wieder weiter denken; der Acker muß für die Wintersaat gepflügt, die Scheunen, die Darren, die Viehställe müssen geputzt werden, dazu kommt noch die ganze Frauenarbeit — wenn man dann die Summe zieht, so sieht man erst, was man geleistet hat; aber da ist ja ... Und erst der Winter! Da wird auf allen Tennen gedroschen und dann das gedroschene Korn von den Darren in die Scheunen gebracht. Man geht in die Mühlen und in die Fabriken, besucht die Arbeitswerkstätten und die Bauern und sieht, was sie tun und treiben. Ach, ich kann Ihnen sagen, wenn ein Zimmermann mit der Axt umzugehen weiß, dann kann ich zwei Stunden lang dastehen und ihm zuschauen, so ein Vergnügen macht mir’s, ihn arbeiten zu sehen. Und wenn man fühlt, daß diese ganze Tätigkeit einen Sinn und ein Ziel hat, wie um uns her alles wächst und sich mehrt und Frucht und Gewinn bringt — ich kann Ihnen garnicht sagen, was dann in einem vorgeht. Nicht deshalb, weil sich das Geld vermehrt — Geld ist natürlich auch eine schöne Sache — aber weil das alles das Werk deiner Hände ist; weil du siehst, daß du selbst die Ursache, der Schöpfer von alledem bist, und daß du wie irgend ein Magier oder Zauberer nichts wie Wohlstand, Glück und Überfluß über alles ausschüttest. Nun, sagen Sie, können Sie sich einen höheren Genuß vorstellen?“ fuhr Kostanshoglo fort und blickte empor; die Falten waren verschwunden. Wie ein König am Tage seiner feierlichen Krönung, so strahlte er in heller Freude, und sein Gesicht schien zu leuchten. „Nein, Sie werden auf der ganzen Welt keinen ähnlichen Genuß finden! Denn hierin ahmt der Mensch den Schöpfer nach: Gott hat sich das Schaffen als den höchsten aller Genüsse vorbehalten, und er verlangt vom Menschen, daß auch er gleich Ihm um ihn herum Glück und Wohlergehen schaffe. Und das nennt man eine langweilige Beschäftigung!“

Wie der Gesang eines Paradiesvogels erschienen Tschitschikow die süßtönenden Reden des Hausherrn, an denen er sich garnicht satt hören konnte. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Seine Augen strahlten einen fettigen Glanz aus und nahmen einen zuckersüßen Ausdruck an; er hätte immer weiter zuhören mögen.

„Konstantin, ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns erheben,“ sagte die Hausfrau und stand auf. Alle folgten ihr. Tschitschikow bot der Wirtin den Arm und führte sie in den Salon zurück, aber diesmal fehlte es seinen Bewegungen an der gewohnten Leichtigkeit und Gewandheit, denn seine Gedanken wurden von anderen weit wichtigeren Fragen bewegt.

„Du magst sagen, was du willst, es ist trotz alledem trostlos und langweilig,“ erklärte Platonow, der hinter ihnen herging.

„Der Gast ist kein dummer Kerl,“ dachte der Hausherr; „er ist aufmerksam, sehr gesetzt und würdig in seinen Reden und vor allem kein Schwätzer.“ Bei diesem Gedanken wurde er noch fröhlicher; die Unterhaltung schien ihn warm gemacht zu haben, und er freute sich, daß er einen Menschen gefunden hatte, der es verstand, seine weisen Ratschläge mit Verstand entgegenzunehmen.

Und als man dann in dem gemütlichen Zimmer, in dem einige Kerzen ein angenehmes Licht verbreiteten, dem Balkon gegenüber Platz nahm, als die Sterne hoch über den Baumwipfeln des schlafenden Gartens freundlich zu ihnen durch die Glastür hereinblinkten, da wurde es Tschitschikow so wohlig zu mute, wie schon lange nicht mehr: wie wenn er sich endlich nach langen Irrfahrten unter dem trauten Dach des Vaterhauses befände, wie wenn er schon alles sein eigen nannte, wonach sein Herz begehrte, und mit dem Worte „Genug“ seinen Pilgerstab in die Ecke gestellt hätte. Diese beglückende Stimmung verdankte er den klugen Reden des gastfreien Hausherrn. Für jeden Menschen gibt es gewisse Worte, die ihm lieber und vertrauter sind, als alle andern Worte. Und oft geschieht es, daß man irgendwo in einem entlegenen Nest, unter lauter Larven einen Menschen findet, dessen erwärmende Unterhaltung einen den unwegsamen Weg, die Unbequemlichkeiten des Nachtlagers, den Mißton des heutigen Treibens und den Trug vergessen läßt, der den Menschen umgarnt. Mit unbegreiflicher Lebhaftigkeit prägt sich ein so verbrachter Abend für alle Zeiten unserer Erinnerung ein, mit rührender Treue bewahrt sie uns jede noch so kleine Einzelheit auf: wer zugegen war, wo ein jeder saß, was er in der Hand hielt: die Wände, die Zimmerecken und jede unbedeutende Kleinigkeit.

Ganz so erging es Tschitschikow an jenem Abend, alles prägte sich seinem Gedächtnis tief ein: das freundliche schlicht möblierte Zimmer, der gutmütige Ausdruck im Gesicht des klugen Hausherrn, ja selbst das Tapetenmuster, die Pfeife mit dem Bernsteinmundstück, die Platonow gereicht wurde, der Rauch, den er Jarb in seine dicke Schnauze blies, Jarbs ärgerliches Schnauben, das Lachen der lieblichen Hausfrau, ihre vorwurfsvollen Worte: „Laß ihn doch, quäl doch das Tier nicht so.“ Die lustig flackerndern Kerzen, das zirpende Heimchen in der Zimmerecke, die Glastür, die Frühlingsnacht, die über die hohen Baumwipfel schwebend zu ihnen hineinblickte, der schwarze mit funkelnden Sternen übersäte Himmel, und der helle Gesang der Nachtigallen, die ihr Lied aus der Tiefe grünblättriger Haine laut hinausschmetterten in die herrliche Nacht ...

„Wie Ihre Reden mein Herz laben! hochverehrter Konstantin Fjodorowitsch!“ sagte Tschitschikow. „Ich kann wohl sagen, ich habe in ganz Rußland keinen Menschen getroffen, der Ihnen an Verstand gleichkäme.“

Der andere lächelte, fühlte er doch selbst, daß Tschitschikow unrecht hatte. „Nein, nein, wenn Sie einen wirklich klugen Menschen kennen lernen wollen, — hier ist einer, von dem man tatsächlich sagen kann: — das ist ein kluger Mensch; ich bin nicht wert, ihm die Schuhriemen aufzubinden.“

„Wer ist denn das?“ fragte Tschitschikow erstaunt.

„Das ist unser Branntweinpächter Murasow.“

„Ich höre schon zum zweiten Mal von ihm!“ rief Tschitschikow aus.

„Das ist ein Mensch! Der könnte nicht bloß ein Gut, der könnte einen ganzen Staat verwalten. Hätte ich ein Königreich, ich würde ihn sofort zu meinem Finanzminister ernennen.“

„Man sagt, er sei ein Mann, der jeden Maßstab der Wahrscheinlichkeit übersteigt: er soll sich zehn Millionen erworben haben.“

„Ach was zehn! Die vierzig sind schon überschritten. Bald wird halb Rußland ihm gehören!“

„Was sagen Sie!“ rief Tschitschikow, indem er den Mund öffnete und sein Gegenüber erstaunt anstarrte.

„Unbedingt! Das ist ganz klar. Wer nur ein paar Hunderttausende besitzt, der wird langsam reich, wer dagegen Millionen hat, der hat sozusagen einen gewaltigen Wirkungsradius: was er ergreift, das verdoppelt und verdreifacht sich in seiner Hand: er hat ein zu weites Feld, einen zu großen Spielraum. Da gibt’s keine Nebenbuhler. Mit ihm kann sich keiner messen. Er kann die Preise ansetzen, sie können nicht sinken, denn es ist ja niemand da, der ihn unterbieten könnte.“

„Herrgott, Herrgott!“ sagte Tschitschikow und schlug ein Kreuz. Tschitschikow sah Kostanshoglo ins Auge, und der Atem wollte ihm ausgehen: „Das ist ja geradezu unfaßbar! Man wird ganz starr vor Schrecken! Man bewundert die Weisheit der Schöpfung, wenn man einen Käfer betrachtet; ich für meinen Teil finde es weit wunderbarer, daß solch gewaltige Summen durch die Hand eines Sterblichen gehen können. Darf ich Sie noch nach einer Sache fragen: sagen Sie, bei der Gründung dieses Vermögens ist es doch wohl nicht ganz sauber zugegangen?“

„Im Gegenteil, der Mann steht völlig rein da, er hat sich stets nur der saubersten Mittel bedient.“

„Das ist unmöglich, das kann ich nicht glauben! Wenn es sich bloß um Tausende handelte, aber hier geht es um Millionen ...“

„Umgekehrt. Tausende erschwindelt man sich, die Millionen dagegen werden leicht erworben. Ein Millionär braucht die krummen Wege nicht: er braucht nur immer geradeauszugehen und zu nehmen, was vor ihm liegt. Ein andrer kann’s eben nicht aufheben, es fehlt ihm die Kraft dazu — der Millionär aber hat keine Nebenbuhler, sein Wirkungsradius ist zu groß .. ich sage Ihnen ja, was er ergreift, verdoppelt und verdreifacht sich ... Was bringen dagegen ein paar Tausende ... zehn bis zwanzig Prozent.“ ...

„Was ich am unbegreiflichsten finde, ist, daß er mit ein paar Kopeken angefangen haben soll!“

„Das ist nun mal nicht anders. Das ist eben der Lauf der Dinge,“ sagte Kostanshoglo. „Wer reich geboren und erzogen ist, und von Jugend auf immer mit Tausenden zu tun hat, der erwirbt sich nicht noch was hinzu, der hat schon allerhand Launen, Bedürfnisse und weiß Gott was noch alles! Man muß von Anfang an anfangen und nicht mit der Mitte — mit der Kopeke und nicht mit dem Rubel — von unten und nicht von oben: dann erst lernt man die Welt und die Menschen ordentlich kennen, unter denen man später leben muß. Wenn man erst das eine und das andre am eignen Leibe gespürt und die Erfahrung gemacht hat, daß jede Kopeke, wie es heißt, mit einem Rubel festgenagelt ist, und wenn man erst alles durchgemacht und alle Prüfungen überstanden hat, dann wird man klug und besitzt Erfahrung genug, um keine Schnitzer zu machen und bei seinen Unternehmungen nicht Schiffbruch zu leiden. Glauben Sie mir, ich spreche die Wahrheit. Man muß von Anfang anfangen und nicht mit der Mitte. Wer mir sagt: ‚Gib mir hunderttausend Rubel, dann sollst du sehen, wie schnell ich reich werde,‘ dem glaube ich nicht; der spekuliert auf das Glück und geht nicht sicher. Man muß mit der Kopeke anfangen.“

„In diesem Falle müßte ich einmal sehr reich werden,“ versetzte Tschitschikow und mußte unwillkürlich an die toten Seelen denken: „denn ich fange in der Tat mit nichts an.“

„Konstantin, es ist wirklich Zeit, daß wir Pawel Iwanowitsch etwas Ruhe gönnen; er will sicher schlafen gehen,“ sagte die Hausfrau, „du aber plauderst immer weiter.“

„Natürlich werden Sie reich werden,“ erwiderte Kostanshoglo, ohne auf seine Frau zu hören. „Passen Sie auf, das Gold wird Ihnen noch einmal in Strömen zufließen. Sie werden gar nicht wissen, wo Sie damit hin sollen.“

Pawel Iwanowitsch war ganz wie verzaubert, er schwebte wie in einem herrlichen Reiche schmeichelnder Träume und Hoffnungen. Es war ihm ganz wirr im Kopfe. Seine feurige Einbildungskraft webte goldene Blumen in den silbernen Teppich seines mächtig anschwellenden Reichtums, und immer wieder klangen ihm Kostanshoglos Worte in den Ohren: „Das Gold wird Ihnen noch einmal in Strömen zufließen.“

„Wirklich Konstantin, für Pawel Iwanowitsch ist es Zeit schlafen zu gehen.“

„Was hast du nur? Geh doch schlafen, wenn du Lust hast,“ sagte der Hausherr und hielt inne; Platonow schnarchte so laut, daß das ganze Zimmer dröhnte, und neben ihm lag Jarb, der fast noch lauter schnarchte, als sein Herr. Jetzt erst merkte Kostanshoglo, daß es in der Tat Zeit zum Schlafengehen war, er rüttelte daher Platonow auf und sagte: „Schnarch doch nicht so!“, dann wünschte er Tschitschikow eine gute Nacht, alle gingen auseinander, und bald lag jeder in seinem Bett in tiefen Schlaf versunken.

Nur Tschitschikow konnte nicht einschlafen. Seine Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen. Er sann unaufhörlich darüber nach, wie er es anfangen sollte, der Besitzer eines wirklichen, echten und keines bloß eingebildeten oder phantastischen Gutes zu werden. Nach dem Gespräch mit dem Hausherrn war ihm mit einem Male alles klar! Die Möglichkeit, reich zu werden, lag in greifbarer Deutlichkeit vor ihm! Der so schwierige Beruf des Landwirts erschien ihm plötzlich so leicht, so einfach und natürlich, und ganz wie geschaffen für seine Natur! Wenn er nur erst seine Hypothek auf diese Toten hätte und Besitzer eines reellen Gutes wäre. Schon sah er sich im Geist alles verwalten und lenken — ganz wie Kostanshoglo es ihn gelehrt hatte — gewandt, umsichtig und sicher, ohne vorzeitige Neuerungen einzuführen, ehe er das Alte gründlich kennen gelernt hatte; alles sah er sich mit eigenen Augen an, er kannte alle Bauern persönlich, versagte sich jeden Luxus und Überfluß und widmete sich allein der Arbeit und dem Haushalt. Er genoß schon im voraus die große Freude, die ihn erwartete, wenn überall strenge Ordnung herrschen, alle Räder der Wirtschaftsmaschine sich munter bewegen und eins das andere vorwärts stoßen und zur Tätigkeit anspornen würde. Überall Leben und geschäftige Tätigkeit; wie in einer lustig klappernden Mühle sich das Korn im Handumdrehen verwandelt, so sollten in seiner Mühle alle Abfälle und jeglicher Plunder zu Staub zermahlen werden, um als bares Geld wieder herauszukommen. Sein wunderbarer Gastfreund stand beständig vor ihm und verließ ihn keinen Augenblick. Das war der erste Mann in ganz Rußland, vor dem er eine ganz persönliche Hochachtung empfand. Bis auf den heutigen Tag hatte er einen Menschen nur wegen seiner Titel und Würden oder weder seines hohen Einkommens geachtet: des Verstandes wegen hatte er eigentlich noch nie jemand besonders hoch geschätzt. Kostanshoglo war der erste Mann, mit dem es ihm anders ging. Tschitschikow fühlte, daß er sich mit diesem Menschen auf keine Kniffe und Kunststücke einlassen dürfe, und daher beschäftigte ihn jetzt ein ganz anderes Projekt — der Ankauf des Chlobujewschen Gutes. Er besaß selbst zehntausend Rubel, fünfzehntausend hoffte er von Kostanshoglo leihen zu können; hatte dieser doch selbst erklärt, er sei bereit, jedem zu helfen, der zu Reichtum und Wohlstand kommen wolle; den Rest — dachte er durch eine Hypothek zu decken, schlimmstenfalls aber konnte er den Verkäufer warten lassen. Das ging schließlich auch: mochte jener sich doch mit den Gerichten herumplagen, wenn es ihm Spaß machte! Und lange noch lag er so da und dachte darüber nach, bis schließlich Morpheus, der, wie man zu sagen pflegt, das ganze Haus schon vier Stunden lang in seinen Armen hielt, sich auch seiner erbarmte. Bald war Tschitschikow in einen tiefen Schlaf versunken.

Viertes Kapitel.

Am folgenden Tage ging alles, wie es sich nicht besser wünschen ließ. Kostanshoglo schoß Tschitschikow bereitwilligst zehntausend Rubel vor, ohne Zinsen oder eine Bürgschaft zu verlangen; dieser mußte ihm bloß eine gewöhnliche Quittung ausstellen: so gern half er jedem, der sich Besitz und Wohlstand erwerben wollte. Aber mehr noch; er erbot sich, Tschitschikow persönlich zu Chlobujew zu begleiten, um das Gut mit ihm zusammen in Augenschein zu nehmen. Tschitschikow war in der besten Laune. Nach einem reichlichen Frühstück machten sich alle auf den Weg, nachdem alle drei in Pawel Iwanowitschs Wagen Platz genommen hatten: die leeren Kutschen des Hausherrn folgten ihnen in einiger Entfernung nach. Jarb lief voraus und scheuchte die Vögel am Wege. Fünfzehn Werst lang sah man auf beiden Seiten nichts als Wälder und Ackerland, das zu Kostanshoglos Gute gehörte. Sowie aber dieses zu Ende war, änderte sich das Bild ganz plötzlich; das Korn stand niedrig, und statt der Wälder erblickte man überall nichts als Baumstümpfe. Trotz der hübschen Lage merkte man es dem Nachbargut an, daß es schon lange Zeit vernachlässigt worden war. Zuerst kam man an einem neuen steinernen Hause vorüber, das aber unbewohnt war, denn es war noch nicht vollendet; auf dieses folgte ein zweites bewohntes, das dem Gutsherrn gehörte. Die Gäste fanden den Gutsherrn noch ungekämmt und verschlafen; er war nämlich erst vor kurzem aufgestanden. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein; sein Halstuch saß schief, sein Rock war geflickt, und der eine Stiefel hatte ein Loch.

Er war hocherfreut über die Ankunft der Gäste, als ob Gott weiß was geschehen wäre: man hätte glauben können, er sähe seine Brüder nach langer Trennung zum ersten Male wieder.

„Konstantin Fjodorowitsch! Platon Michailowitsch! Nein solch eine Freude. Ich muß mir wirklich die Augen reiben! Ich dachte schon, zu mir kommt keiner mehr. Jeder geht mir aus dem Wege, wie der Pest: alle Leute denken, ich will sie um Geld anbetteln. Ja, ja, Konstantin Fjodorowitsch. Das Leben ist schwer. Ich sehe — ich bin selbst schuld an allem. Aber, was soll ich tun? Ich lebe wie ein Schwein. Verzeihen Sie bitte, meine Herren, daß ich Sie in einem solchen Kostüm empfange: Sie sehen, meine Stiefel sind durchlöchert. Was darf ich Ihnen vorsetzen?“

„Bitte, ganz ohne Umstände! Wir wollen ein Geschäft mit Ihnen machen. Hier haben Sie einen Käufer für Ihr Gut; Pawel Iwanowitsch Tschitschikow,“ sagte Kostanshoglo.

„Ich freue mich von Herzen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Bitte, lassen Sie mich Ihre Hand drücken!“

Tschitschikow reichte ihm beide Hände.

„Ich würde Ihnen gern mein Gut zeigen, verehrtester Pawel Iwanowitsch, es ist sehr interessant ... Aber darf ich zuvor fragen, meine Herren, ob Sie auch gegessen haben?“

„Freilich haben wir gegessen,“ versetzte Kostanshoglo, der ihn möglichst schnell los sein wollte. „Wir wollen keine Zeit verlieren und das Gut gleich jetzt besichtigen.“

„Gut, dann wollen wir gehen.“ Chlobujew nahm seine Mütze in die Hand. „Kommen Sie, Sie sollen selbst sehen, wie unordentlich und liederlich ich bin.“

Die Gäste setzten ihre Hüte auf und schritten die Dorfstraße hinab.

Zu beiden Seiten der Straße standen finstere elende Hütten mit winzigen Fenstern, die mit alten Lappen zugestopft waren.

„Ja, kommen Sie, Sie sollen selbst sehen, wie unordentlich und liederlich ich bin,“ sagte Chlobujew. „Es war natürlich sehr vernünftig von Ihnen, daß Sie schon gegessen haben. Sie werden mir’s nicht glauben, Konstantin Fjodorowitsch, ich habe nicht einmal ein Huhn mehr im Hause, soweit ist’s mit mir gekommen!“

Er seufzte, und da er wohl ahnte, daß er bei Konstantin Fjodorowitsch nur wenig Teilnahme finden werde, nahm er Platonow unter den Arm und ging mit ihm voraus, indem er seine Hand kräftig an sich drückte, Kostanshoglo und Tschitschikow blieben ein wenig zurück und folgten ihnen Arm in Arm in einiger Entfernung.

„Man hat’s nicht leicht, Platon Michailowitsch, wahrhaftig!“ sagte Chlobujew zu Platonow. „Sie können sich’s garnicht vorstellen, wie schwer man es hat! Kein Geld, kein Korn, keine Stiefel — für Sie sind das freilich alles bloß Worte einer fremden Sprache. Das wäre natürlich nicht so schlimm, wenn man noch jung und unverheiratet wäre. Aber wenn all diese Sorgen und dies Ungemach einen im Alter überfallen und man hat noch dazu ein Weib und fünf Kinder — dann verliert man den Mut, ob man will oder nicht ...“

„Und wenn Sie das Gut verkaufen — glauben Sie, daß Ihnen damit geholfen wäre?“ fragte Platonow.

„Ach was! Geholfen!“ versetzte Chlobujew mit einer hoffnungslosen Gebärde. „Es wird doch alles bei der Bezahlung der Schulden draufgehen, ich selbst werde keine tausend Rubel übrig behalten!“

„Und was wollen Sie dann anfangen?“

„Das weiß Gott allein.“

„Warum tun Sie denn gar nichts, um aus diesen Verhältnissen herauszukommen?“

„Was soll ich denn machen?“

„Nehmen Sie doch irgend eine Stellung an.“

„Ich habe ja keinen Rang und keine Titel. Was kann ich für eine Stellung annehmen? Ich kann höchstens einen ganz unbedeutenden Posten erhalten. Und was soll ich mit einem Gehalt von fünfhundert Rubeln anfangen? Ich habe doch eine Frau und fünf Kinder.“

„Nehmen Sie doch eine Stellung als Verwalter auf einem Gute an.“

„Wer wird mir denn sein Gut anvertrauen, wo ich selbst alles durchgebracht habe!“

„Ja aber man muß doch etwas unternehmen, wenn man vor dem Hungertode steht. Ich will meinen Bruder fragen, ob er Ihnen nicht durch irgend einen Bekannten eine Stelle in der Stadt verschaffen kann.“

„Nein, Platon Michailowitsch,“ sagte Chlobujew seufzend und drückte Platonow kräftig die Hand. „Ich tauge doch zu nichts mehr! Ich bin vorzeitig alt geworden, und leide an Kreuzschmerzen und an Rheumatismus. Das sind die alten Sünden! Was kann ich denn leisten? Wozu soll ich den Staat plündern? Es gibt jetzt ohnedies genug Leute, die nur deshalb in den Staatsdienst treten, weil sie ein warmes Plätzchen haben wollen. Gott behüte! Ich will nicht, daß den armen Leuten noch neue Steuern aufgehalst werden, damit ich nur mein Gehalt ausbezahlt bekomme!“

„Das sind die Folgen seiner ausschweifenden Lebensweise!“ dachte Platonow. „Das ist noch schlimmer als meine Lethargie.“

Während sie so sprachen, ging Kostanshoglo mit Tschitschikow hinter ihnen her; er war ganz außer sich vor Wut.

„Da, sehen Sie,“ sagte er, indem er mit dem Finger auf das Dorf wies: „was er aus den Bauern gemacht hat! Dieses Elend! Nicht mal Pferd und Wagen haben sie mehr. Wenn eine Viehseuche im Lande ausbricht, — dann darf man nicht mehr an sein eigenes Hab und Gut denken: da verkauft man eben alles und schafft neues Vieh für den Bauer an, damit er auch nicht einen Tag ohne die notwendigen Arbeitswerkzeuge bleibt. Aber das da läßt sich nicht so schnell wieder gut machen. Dazu braucht man viele Jahre. Der Bauer ist ja auch schon ganz verändert, er bummelt und säuft. Wenn man ihn nur ein einziges Jahr lang ohne Arbeit sitzen läßt, dann hat man ihn für alle Zeiten verdorben: er gewöhnt sich daran, in Lumpen herumzulaufen und findet Geschmack am Vagabundenleben ... Und sehen Sie einmal das Land an. Nun was sagen Sie,“ fuhr er fort, indem er auf die Wiesen deutete, die gleich hinter den Hütten sichtbar wurden. „Alles Land, das jedes Frühjahr überschwemmt ist. Ich würde da Flachs säen, der mir allein fünftausend Rubel einbringen würde, und dann würde ich Rüben pflanzen, die mir noch einmal viertausend eintragen müßten ... Sehen Sie sich bloß einmal den Roggen dort am Abhange an; da hat einer ein paar Körner verschüttet. Denn er hat ja doch kein Korn gesät — das weiß ich. Und dort — diese Schlucht! Da würde ich einen Wald anlegen. Die Stämme sollten mir bald bis an den Himmel reichen. Und so einen Schatz, so ein herrliches Stück Land läßt er brach liegen! Wenn man schon keinen Pflug hat, um es zu pflügen, dann nimmt man den Spaten, gräbt es um und pflanzt Gemüse darauf. Das gäbe einen prächtigen Gemüsegarten! Aber man muß den Spaten selbst in die Hand nehmen, muß Frau und Kinder und alle Dienstboten zu Hilfe nehmen, und arbeiten bis man hinfällt! Und wenn man schließlich selbst dabei zugrunde geht, dann hat man doch wenigstens seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit getan, und ist doch nicht krepiert wie ein Schwein, weil man sich bei Tisch zu voll gefressen hat!“ Hier spuckte Kostanshoglo zornig aus und eine finstere Wolke umschattete seine Stirn.

Als sie sich dem Abhang näherten und in die mit wildem Beifuß bewachsene Schlucht hinabsahen, da leuchtete plötzlich eine Windung des Flusses hell auf, hinter ihm erhob sich ein dunkler Gebirgszug, und ein Teil vom Hause des Generals Betrischtschew, das in der Perspektive viel näher erschien, tauchte aus dem Gebüsch auf. Dahinter bemerkte man einen lockigen, mit Wald bewachsenen Berg, der in der Entfernung bläulich flimmerte. Dieser Berg brachte Tschitschikow auf den Gedanken, das könnte wohl das Gut Tentennikows sein, und er sagte, „wenn man hier einen Wald anpflanzen würde, — dann gäbe es einen Anblick, der sich, was Schönheit anbelangt, ruhig mit ....“

„Ach! Sie sind ein Freund von schönen Ausblicken,“ sagte Kostanshoglo plötzlich, und sah ihn sehr streng an. „Nehmen Sie sich in acht, wenn Sie zuviel auf die schöne Aussicht geben, können Sie eines Tages ohne Brot und auch ohne alle Aussichten dasitzen. Fragen Sie lieber nach dem Nutzen und nicht nach der äußeren Schönheit. Die Schönheit wird schon von selbst kommen. Das beste Beispiel sind die Städte: die allerschönsten Städte sind die, welche gleichsam von selbst aus dem Boden gewachsen sind, wo jeder sich ein Haus nach seinem eigenen Geschmack und Bedürfnis gebaut hat. Die Städte dagegen, die alle nach einer Schablone gebaut sind, — sehen aus wie Kasernen. Vergessen Sie die Schönheit und denken Sie vor allem an den Nutzen und an Ihre Bedürfnisse.“

„Wie schade, daß man so lange warten muß! Man möchte alles recht schnell so sehen, wie man es zu haben wünscht ...“

„Sie sind doch kein fünfundzwanzigjähriger Jüngling ...! Man merkt gleich den Petersburger Beamten ...! Geduld! Arbeiten Sie mal erst sechs Jahre nacheinander. Pflanzen, säen, graben Sie, ohne einen Augenblick auszuruhen. Es ist schwer, gewiß, es ist sogar sehr schwer. Aber wenn Sie den Boden erst einmal gründlich aufgerüttelt haben, sodaß er Ihnen selbst hilft, so ist das gleich eine ganz andre Sache, als Ihre .... Ja, ja, Verehrtester, dann werden Sie merken, daß außer Ihren siebzig noch siebenhundert andre, unsichtbare Hände an der Arbeit waren! Alles verzehnfacht sich! Ich brauchte jetzt keinen Finger zu rühren — und doch ginge alles wie von selbst. Ja die Natur liebt die Geduld: das ist ein Gesetz, das uns der Herr selbst gegeben hat, Er der die Geduldigen selig pries.“

„Wenn man Sie reden hört, dann fühlt man neue Kraft durch seine Adern rinnen. Man bekommt Mut und Lust zum Schaffen!“

„Sehen Sie doch, wie das Stück Land dort gepflügt ist!“ rief Kostanshoglo mitleidig und bitter aus, indem er auf den Abhang zeigte. „Ich kann es hier nicht länger aushalten; diese Unordnung und Verwahrlosung bringt mich um. Sie können den Kauf mit ihm auch ohne mich abschließen. Nehmen Sie diesem Narren diesen Schatz so schnell als möglich ab. Er schändet bloß Gottes herrliche Natur!“ Kostanshoglo war sehr aufgeregt und sah finster und ärgerlich drein. Er nahm Abschied von Tschitschikow, holte Chlobujew ein und verabschiedete sich gleichfalls von ihm.

„Aber ich bitte Sie, Konstantin Fjodorowitsch!“ sagte der Hausherr erstaunt, „Sie sind doch erst eben gekommen und wollen schon wieder fort!“

„Ich kann nicht länger bleiben. Ich muß unbedingt wieder nach Hause fahren,“ versetzte Kostanshoglo. Er verabschiedete sich, stieg in den Wagen und fuhr davon.

Chlobujew schien den Grund seines plötzlichen Verschwindens begriffen zu haben.

„Konstantin Fjodorowitsch hat’s nicht ausgehalten,“ sagte er, „für einen so tüchtigen Landwirt wie er ist es freilich kein Vergnügen, diese schreckliche Wirtschaft mit anzusehn. Glauben Sie mir, Pawel Iwanowitsch, ich habe in diesem Jahr nicht einmal Korn gesät. Mein Ehrenwort! Ich hatte keinen Samen, ganz abgesehen davon, daß ich keinen Pflug und kein Pferd habe, um zu pflügen. Man sagt, Ihr Bruder sei ein so vorzüglicher Wirt, Platon Michailowitsch; von Konstantin Fjodorowitsch will ich gar nicht reden! — Das ist ein Napoleon in seinem Fach. Ich habe mich schon oft gefragt: Warum mußten sich soviel Geist und Verstand in einem Kopfe vereinigen. Warum konnte nicht auch für meinen Schädel wenigstens ein Tröpfchen übrig bleiben. Nehmen Sie sich in acht, meine Herren; beim Übergang über diesen Steg ist die größte Vorsicht geboten, wenn Sie nicht in die Pfütze plumpsen wollen. Ich habe im Frühjahr die Bretter ausbessern lassen ... Am meisten tun mir meine armen Bauern leid ... sie brauchen ein gutes Beispiel, aber was kann ich ihnen für ein Beispiel geben? Was soll ich machen? Nehmen Sie sie mir ab, Pawel Iwanowitsch. Wie soll ich sie an Ordnung gewöhnen, wenn ich selbst ein so unordentlicher Mensch bin? Ich hätte sie am liebsten ganz freigelassen, aber das hätte ja auch keinen Sinn. Ich weiß sehr gut, daß man erst andre Menschen aus ihnen machen muß, Menschen, die zu leben verstehen. Dazu bedürfte es eines gerechten und strengen Mannes, der immer mit ihnen zusammenlebt und sie durch sein eigenes Beispiel und seine unermüdliche Tätigkeit ... Ein Russe — das sehe ich an mir selbst — kann nicht ohne einen Menschen auskommen, der ihn aufmuntert und anspornt, sonst schläft er ein und versauert.“

„Seltsam,“ sagte Platonow, „woran liegt das bloß; daß der Russe immer gleich einschläft, und daß der gemeine Mann ein Taugenichts und ein Trunkenbold wird, wenn man ihn aus dem Auge läßt!“

„Das macht der Mangel an Bildung,“ bemerkte Tschitschikow.

„Weiß Gott, woran das liegt. Wir haben doch auch eine gewisse Bildung, haben die Universität besucht, und wozu taugen wir? Was habe ich zum Beispiel gelernt? Verstehe ich es denn zu leben, eher habe ich es gelernt, mein Geld für allerhand Luxus und überflüssige Finessen auszugeben; und ich kenne bloß solche Dinge, die einen Geld kosten? — Aber glauben Sie nur nicht, daß das daher kommt, weil ich einen schlechten Unterricht genossen habe. — Durchaus nicht, der Unterricht war nicht schlechter als der meiner Kameraden. Zweien oder dreien von ihnen hat er ja auch genützt, aber vielleicht nur deshalb, weil sie auch ohnedies gescheit und begabt genug waren, die übrigen haben für nichts Interesse, als wie man seine Gesundheit ruiniert und andern Leuten ihr Geld abnimmt. Bei Gott. Wissen Sie, was ich glaube: mitunter kommt es mir fast so vor, als ob der Russe — ein verlorener Mensch ist. Wir wollen alles und können nichts. Alles verschieben wir auf morgen, dann nehmen wir uns vor, ein neues Leben zu beginnen, und strenge Diät zu halten; ja prosit, noch am selben Abend schlägt man sich den Bauch so voll, daß einem die Augenlider zusinken und man die Zunge kaum bewegen kann — dann sitzt man da wie eine Eule und glotzt die andern Leute an — wahrhaftig. Und so sind wir alle!“

„Ja,“ sagte Tschitschikow lächelnd, „so was kann vorkommen!“

„Wir sind garnicht zum Vernünftigsein geboren. Ich glaube nicht, daß es vernünftige Menschen unter uns gibt. Selbst wenn ich mit meinen eigenen Augen sehe, daß ein Mensch ein geordnetes Leben führt, Geld verdient und erspart, dann traue ich ihm trotzdem nicht. Lassen Sie ihn erst einmal alt werden, früher oder später fällt er doch dem Teufel in die Krallen und bringt seinen letzten Heller durch. Und so sind alle: die Gebildeten wie die Ungebildeten. Nein, es fehlt uns eben noch etwas, ich weiß freilich selbst nicht recht, was es ist.“

Auf dem Rückwege genoß man denselben Anblick. Eine grauenhafte Unordnung machte sich überall in unangenehmer Weise bemerkbar. Das einzige Neue war eine große Pfütze inmitten der Straße. Alles bot das Bild einer furchtbaren Verwilderung und Vernachlässigung dar: beim Gutsherrn wie beim Bauern. Ein böses Weib in einem fettigen groben Leinenrock hatte ein kleines Mädchen halbtot geprügelt und schimpfte nun, was das Zeug hält, auf eine dritte Person, indem sie alle Teufel zu Hilfe rief. Etwas weiter standen zwei Bauern und sahen mit stoischem Gleichmut zu, wie das betrunkene Weib sich ereiferte und schimpfte. Der eine kratzte sich die hintere Partie und der andere gähnte. Dieses Gähnen schien sich auch den Häusern und Gebäuden mitzuteilen, selbst die Dächer schienen zu gähnen. Dieser Anblick wirkte ansteckend auf Platonow, er konnte sich nicht enthalten gleichfalls zu gähnen. — Ein Flicken saß auf dem andern. Bei einer Hütte ersetzte ein Haustor das Dach, die morschen, eingefallenen Fensterrahmen wurden von Stangen gestützt, welche aus der herrschaftlichen Scheune entwendet waren. Wie man sieht, hielt man sich im Haushalt an das System der Fabel von „Trischkas Kaphtan“, man trennte die Aufschläge und Rockschöße ab, um die Löcher im Ärmel zu stopfen.

„Das ist gerade kein beneidenswerter Zustand,“ sagte Tschitschikow, als sie nach gründlicher Besichtigung vor dem Hause anlangten ... Man begab sich ins Zimmer, und die Gäste waren erstaunt über die seltsame Mischung von Armut und dem Flitterglanz eines modernen Luxus. Auf dem Tintenfaß saß eine Figur, die wohl Shakespeare darstellen sollte, auf dem Tische lag ein eleganter Elfenbeinstift, mit dem sich der Hausherr den eigenen Rücken kratzte. Die Hausfrau war modern und geschmackvoll gekleidet, sie sprach von der Stadt, und vom Theater, das dort gerade eröffnet worden war. Die Kinder waren lustig und munter. Die Knaben und die Mädchen trugen hübsche und geschmackvolle Kleider. Es wäre freilich besser gewesen, sie hätten bunte Leinenröcke und schlichte Hemdchen angezogen, und wären im Hofe herumgelaufen ganz wie die einfachen Bauernkinder. Bald erschien auch eine Dame, die der Hausfrau einen Besuch machte, eine schreckliche Schwätzerin, die furchtbar viel unnützes und törichtes Zeug plapperte. Die Damen zogen sich zurück, und die Kinder liefen gleich darauf auch fort. Die Herren blieben allein im Zimmer.

„Also, was ist Ihr Preis?“ sagte Tschitschikow. „Ich muß gestehen, es wäre mir lieb den äußersten Preis zu erfahren, denn das Gut ist in einer viel schlechteren Verfassung, als ich annahm.“

„Oh, in der allerschlechtesten Verfassung, Pawel Iwanowitsch,“ versetzte Chlobujew. „Aber das ist noch nicht alles. Ich will Ihnen nichts verheimlichen: von den hundert Seelen, die in der Revisionsliste stehen, sind nur noch fünfzig am Leben; die Cholera hat bei uns furchtbar aufgeräumt; der Rest ist ohne Paß davongelaufen. Sie können Sie auch zu den Toten zählen; wenn man sie von Gerichts wegen zurückholen wollte, dann würde das solche Unkosten verursachen, daß das ganze Gut den Gerichten verfiele. Ich fordere daher auch nur fünfunddreißigtausend.“

Tschitschikow fing natürlich an zu handeln.

„Ich bitte Sie? Fünfunddreißigtausend! Fünfunddreißigtausend für so ein Gut! Nein sagen wir doch lieber fünfundzwanzigtausend.“

Platonow wurde verlegen. „Kaufen Sie es nur, Pawel Iwanowitsch,“ sagte er. „Für so ein Gut kann man schon eine solche Summe bezahlen. Wenn Sie keine fünfunddreißigtausend dafür geben wollen, dann kaufen wir es, mein Bruder und ich.“

„Also gut, ich bin einverstanden,“ sagte Tschitschikow ganz erschrocken. „Nur eins; ich kann die Hälfte der Summe erst nach einem Jahr bezahlen.“

„Nein, Pawel Iwanowitsch! Darauf kann ich mich leider in keinem Fall einlassen; Sie müssen mir gleich jetzt die Hälfte geben, und die andre in spätestens zwei Wochen. Die Bank würde mir ja dies Geld auszahlen, wenn ich nur soviel hätte, um ...“

„Ja, wie denn nur? Ich weiß wirklich nicht,“ sagte Tschitschikow, „ich habe ja überhaupt nur zehntausend Rubel flüssig.“ Er log. Wenn man das von Kostanshoglo entliehene Geld hinzurechnete, verfügte er im ganzen über zwanzigtausend Rubel. Aber man entschließt sich bekanntlich nicht leicht, eine so große Summe auf den Tisch zu legen.

„Nein; ich bitte Sie, Pawel Iwanowitsch. Ich versichere Ihnen, ich brauche unbedingt fünfzehntausend.“

„Ich will Ihnen fünftausend Rubel leihen,“ unterbrach ihn Platonow.

„Unter diesen Umständen könnte ich’s vielleicht wagen!“ sagte Tschitschikow und dachte sich: „Hm, das trifft sich aber gut, daß er mir was leihen will.“ Er ließ sich seine Schatulle aus dem Wagen bringen und nahm sofort die für Chlobujew bestimmten zehntausend Rubel heraus; die übrigen fünftausend versprach er ihm morgen mitzubringen; wohl gemerkt, er versprach es nur, in Wahrheit wollte er ihm nur dreitausend geben, den Rest dachte er ihm später nach zwei oder drei Tagen auszuhändigen; wenn es ging, wollte er ihn jedoch noch länger warten lassen. Pawel Iwanowitsch wurde es ganz besonders schwer, sich von seinem Gelde zu trennen. Wenn es aber unbedingt notwendig war, so schien es ihm immer noch besser, das Geld wenigstens einen Tag später, als verabredet, auszuzahlen. Das heißt, eigentlich machte er es genau so, wie wir alle. Es macht uns doch allen Spaß, unseren Schuldner etwas warten zu lassen: mag er sich doch seine Absätze ablaufen und eine Weile im Vorzimmer sitzen! Als ob er wirklich durchaus nicht mehr warten könnte! Was geht es uns an, daß ihm vielleicht jede Stunde teuer ist, und daß seine Geschäfte darunter leiden! „Kommen Sie nur morgen wieder, Verehrtester, heute habe ich leider keine Zeit!“

„Und wohin wollen Sie ziehen, wenn das Gut verkauft ist?“ fragte Platonow Chlobujew. „Haben Sie denn noch ein andres Gütchen?“

„Nein, ich muß schon in die Stadt übersiedeln, dort habe ich ein eigenes Häuschen. Ich hätte das ja auch ohnedies machen müssen: wenn nicht für mich, so um meiner Kinder willen: sie müssen doch was lernen, ich muß ihnen einen Religionslehrer, einen Tanzlehrer und Musiklehrer halten. Wo wollen Sie die auf dem Lande hernehmen?“

„Er hat keinen Bissen Brot im Hause, und will seinen Kindern Tanzunterricht geben lassen!“ dachte Tschitschikow.

„Merkwürdig!“ dachte Platonow.

„Aber wir müssen doch unser Geschäft auch begießen!“ sagte Chlobujew: „He Kirjuschka! Hol doch mal schnell eine Flasche Champagner!“

„Er hat kein Stück Brot im Hause, dafür aber Champagner!“ dachte Tschitschikow.

Platonow wußte dagegen überhaupt nicht, was er denken sollte.

Zu seinem Champagner war Chlobujew fast gegen seinen Willen gekommen. Er hatte in die Stadt nach Kwas schicken lassen, aber im Kaufladen wollte man ihm keinen Kwas[5] leihen. Was sollte er tun? Man mußte am Ende doch seinen Durst stillen. Da erschien ein französischer Weinreisender aus Petersburg, der überließ seinen Wein allen Leuten auf Kredit. So blieb denn Chlobujew nichts übrig, und er mußte ihm auch ein paar Flaschen Champagner abnehmen.

Der Champagner stand bald auf dem Tische. Jeder trank drei Gläser, und die Stimmung wurde bald animiert, Chlobujew taute auf, wurde liebenswürdig und geistreich und ließ eine Menge Anekdoten und Witze vom Stapel. Aus seinen Reden sprach eine große Welt- und Menschenkenntnis! Wie scharf und richtig faßte er die Dinge auf, wie sicher und treffend konnte er die Gutsherren aus der Nachbarschaft mit ein paar Worten charakterisieren, wie klar erkannte er all ihre Fehler und Mängel, wie gut war ihm die Geschichte aller Gutsbesitzer, die sich ruiniert hatten, bekannt; wie komisch und originell wußte er ihre kleinen Eigenheiten und Gewohnheiten zu beschreiben: die Gäste waren ganz bezaubert von seiner Unterhaltung, und hätten ihn bereitwilligst für den Gescheitesten aller Menschen erklärt.

„Ich verstehe nicht, wie Sie bei soviel Geist und Verstand nicht Mittel und Wege finden, um sich zu helfen,“ sagte Tschitschikow.

„An den Mitteln fehlt es mir nicht,“ sagte Chlobujew und rückte sogleich mit einem ganzen Haufen von Projekten heraus. Aber sie waren alle so unsinnig, so seltsam, und ließen so sehr jegliche Welt- und Menschenkenntnis vermissen, daß man nur mit den Achseln zucken und sagen konnte: „Herrgott! welch eine unendliche Kluft liegt doch zwischen der Welt- und Menschenkenntnis und der Fähigkeit, sie auszunutzen!“ All seine Pläne hatten zur Voraussetzung, daß er sich plötzlich hundert- oder sogar zweihunderttausend Rubel verschaffen könnte. Wenn ihm das gelänge, dann glaubte er, würde alles in den rechten Gang kommen, die Wirtschaft würde aufblühen, alle Löcher würden sich verstopfen lassen, die Einkünfte würden sich vervierfachen, und bald würde er auch in der Lage sein, all seine Schulden zu bezahlen. Und er schloß seine Rede mit folgenden Worten: „Aber was soll man machen? Es gibt halt keinen solchen edlen Mann, der sich entschließen würde, mir zweihundert- oder meinetwegen auch nur hunderttausend Rubel zu leihen. Es ist wohl nicht Gottes Wille.“

„Das fehlte noch, daß Gott solch einem Narren zweimalhunderttausend Rubel in den Schoß werfen sollte!“ dachte Tschitschikow.

„Ich habe ja freilich noch eine Tante, eine dreifache Millionärin,“ sagte Chlobujew, „eine sehr fromme alte Dame: für Kirchen und Klöster hat sie immer was übrig, aber wenn’s gilt, seinem Nächsten zu helfen, dann ist sie sehr spröde. Wissen Sie, so eine Tante alten Schlages, es lohnt sich schon, sie einmal näher anzusehen. Sie hat allein gegen vierhundert Kanarienvögel, dazu Möpse, Gesellschafterinnen und Bediente, wie man sie heute garnicht mehr findet. Der jüngste ihrer Diener ist mindestens sechzig Jahre alt, trotzdem sie ihn immer: „He Bursche!“ ruft. Wenn sich ein Gast nicht so benimmt, wie sie es wünscht, dann läßt sie bei Tisch die Schüssel an ihm vorbeigehen, und die Bedienten tun natürlich, was sie befiehlt. Na, was sagen Sie?“

Platonow lächelte.

„Und wie ist ihr Familienname?“ fragte Tschitschikow.

„Sie wohnt in unserm Städtchen und heißt Alexandra Iwanowna Chanassarowa.“

„Warum wenden Sie sich denn nicht an sie?“ fragte Platonow teilnehmend. „Ich meine, wenn sie sich in die Lage Ihrer Familie versetzte, könnte sie es Ihnen garnicht abschlagen.“

„O nein. Das bringt sie doch fertig. Meine Tante hat eine recht robuste Natur. Die Alte ist hart wie ein Kieselstein, Platon Michailowitsch! Außerdem sind aber noch genug andre Leute da, die sich bei ihr einzuschmeicheln suchen und beständig um sie herum sind. Da ist sogar einer, der es auf einen Gouverneursposten abgesehen hat und sich für einen Verwandten ausgibt .... Tu mir den Gefallen,“ sagte er plötzlich zu Platonow, „nächste Woche gebe ich ein Diner, zu dem ich alle Honoratioren der Stadt einladen will.“

Platonow riß die Augen auf. Er wußte noch nicht, daß es in Rußland — in den Residenzen und Provinzstädten — solche Lebenskünstler gibt, deren Existenz ein unauflösliches Rätsel bildet. So ein Mann hat sein ganzes Vermögen durchgebracht, steckt bis über die Ohren in Schulden, weiß nicht, wo er einen Groschen hernehmen soll und gibt dennoch plötzlich ein großes Diner. Alle Teilnehmer an diesem Fest behaupten, es sei das letzte, morgen werde der Hausherr in den Schuldturm kommen. Aber siehe da: es vergehen zehn Jahre — unser Hexenmeister behauptet nach wie vor seinen Platz in der Gesellschaft, steckt tiefer in Schulden denn je, und gibt noch immer Diners, von denen alle Gäste glauben, es seien die letzten, und noch immer ist alles überzeugt, daß der Hausherr morgen in den Schuldturm kommen werde.

Chlobujews Haus in der Stadt war ein höchst seltsames und eigenartiges Ding. Heute hielt dort ein Priester im Meßgewande eine Andacht ab, morgen übten französische Schauspieler ein Stück ein. Es gab Tage, wo es keine Brotkrume im Hause gab, was aber nicht ausschloß, daß bald darauf ein großes Fest stattfand, an dem viele Schauspieler und Künstler teilnahmen, die in höchst nobler Weise bewirtet und beschenkt wurden. Dann kamen wieder so trübe Zeiten, daß ein anderer sich an Chlobujews Stelle längst erhängt oder erschossen hätte; aber was ihn immer wieder rettete, war seine Religiosität, die sich merkwürdigerweise aufs beste mit seinem liederlichen Lebenswandel vertrug. In solchen Augenblicken las er die Lebensbeschreibungen von Märtyrern und Asketen, die ihren Geist dazu erzogen hatten, alles Unglück mit Gleichmut zu ertragen und sich darüber zu erheben. Dann wurde er ganz weich und gerührt, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er fing an zu beten — und seltsam! — immer kam ihm von irgend einer Seite eine unerwartete Hilfe; sei es nun, daß sich ein alter Freund an ihn erinnerte und ihm Geld schickte, oder daß irgend eine zufällig vorüberreisende unbekannte Dame, die von ihm gehört hatte, ihm in einer plötzlichen großmütigen Regung ihres weiblichen Herzens ein größeres Geschenk machte; oder er gewann einen Prozeß, von dem er selbst noch nie etwas gehört hatte. Dann pries er demütig die unerschöpfliche Barmherzigkeit der Vorsehung, ließ Dankgebete abhalten, und begann von neuem sein liederliches Leben.

„Er tut mir leid, er tut mir wirklich sehr leid,“ sagte Platonow zu Tschitschikow, nachdem sie sich von ihm verabschiedet und ihren Wagen wieder bestiegen hatten.(9)

„Ein verlorener Mensch!“ versetzte Tschitschikow. „Solche Leute sollte man nicht bedauern.“

Bald hatten sie ihn vergessen. Platonow dachte nicht mehr an ihn, weil ihn die Menschen bei seiner Trägheit und Apathie ebensowenig interessierten wie die ganze übrige Welt. Sein Herz krampfte sich mitleidig zusammen, wenn er andre Leute leiden sah, aber diese Empfindungen hinterließen keine dauernden Eindrücke in seiner Seele. Schon nach wenigen Augenblicken war Chlobujew vergessen. Platonow dachte nicht mehr an ihn, weil er kaum an sich selbst dachte. Auch Tschitschikow hatte Chlobujew vergessen, weil seine Gedanken allen Ernstes auf sein soeben erworbenes Gut gerichtet waren. Jedenfalls wurde er jetzt, wo er plötzlich kein bloß eingebildeter, sondern leibhaftiger Besitzer eines keineswegs phantastischen Landgutes geworden war, nachdenklich, seine Gedanken und Pläne wurden ruhiger und gesetzter und verliehen seinem Gesicht unwillkürlich einen bedeutenden Ausdruck: „Geduld und Arbeit! Das ist keine Hexerei, die habe ich sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Das ist für mich nichts neues. Aber werde ich in meinem Alter auch noch soviel Geduld aufbringen wie in meinen jungen Jahren?“ Genug, wie dem auch sein mochte, wie er die Sache auch ansah, von welcher Seite er sie betrachtete, er überzeugte sich, daß er mit dem Kauf ein gutes Geschäft gemacht hatte. Er konnte ja auch eine Hypothek auf das Gut aufnehmen, nachdem er zuvor das beste Land in kleine Parzellen geteilt und verkauft hatte. Aber er konnte die Sache schließlich auch selbst in die Hand nehmen, und ein tüchtiger Landwirt nach der Art Kostanshoglos werden; er durfte sicherlich auf dessen Rat und Beistand rechnen, jetzt wo er sein Nachbar geworden, und wo er ihm zu so großem Danke verpflichtet war. Ja, man konnte es auch folgendermaßen machen: man konnte das Land weiter verkaufen (selbstverständlich nur dann, wenn man sich selbst nicht mit der Bewirtschaftung des Gutes befassen wollte) und nur die toten und flüchtigen Bauern behalten. Das hätte noch einen andern Vorteil: man konnte überhaupt ganz vom Schauplatz verschwinden und Kostanshoglo das von ihm entliehene Geld gar nicht zurückgeben. Ein sonderbarer Gedanke! Man kann nicht sagen, daß Tschitschikow auf diesen Gedanken gekommen war, er stand vielmehr plötzlich wie von selbst vor ihm, neckte, verspottete ihn und blinzelte ihn listig an. Ein leichtsinniger, liederlicher Gedanke! Wer wohl der Schöpfer solcher Gedanken ist, die so plötzlich über uns kommen? ... Tschitschikow empfand eine große Freude, daß er Gutsbesitzer geworden war — kein bloß eingebildeter oder phantastischer, nein ein wirklicher wahrhafter Gutsbesitzer, der ein Grundstück, ein Stück Land und Leibeigene — keine bloß vorgestellten, nur in der Phantasie existierenden, sondern wirkliche lebendige Arbeiter besaß. Und allmählich fing er an, auf seinem Platz herumzuhopsen, sich die Hände zu reiben und sich selbst zuzublinzeln, er ballte die Hand, legte sie an den Mund wie eine Trompete und begann einen lustigen Marsch zu blasen, ja er rief sich sogar ganz laut ein paar aufmunternde Worte zu, und gab sich Kosenamen wie: mein Schnäuzchen, oder mein kleiner Kapaun! Aber er besann sich gleich darauf, daß er ja nicht allein sei, wurde plötzlich wieder still und suchte den Eindruck zu verwischen, den der Ausbruch einer ungezügelten Freude auf seinen Nachbar gemacht haben mochte; und als Platonow, der die ihm zu Ohren gekommenen Töne für Worte hielt, welche an ihn gerichtet waren, Tschitschikow ansah und fragte: „Wie meinen Sie?“ da antwortete jener verlegen: „Nichts, garnichts.“

Jetzt erst sah er sich um und bemerkte, daß sie schon längst durch eine herrliche Allee fuhren, eine reizende Mauer aus Birkenstämmen zog sich zu beiden Seiten den Weg entlang. Die hellen Stämme der Espen und Birken glänzten wie ein schneeweißer Staketenzaun; schlank und leicht hoben sie sich von dem zarten Grün der kaum entfalteten Blätter ab. Die Nachtigallen im Gebüsch schlugen laut um die Wette. Gelbe Waldtulpen schimmerten hell auf dem Grase. Tschitschikow konnte sich nicht recht darüber klar werden, wie er plötzlich an diesen herrlichen Fleck gelangt war, denn noch kurze Zeit vorher hatten sie sich auf offenem Felde befunden. Zwischen den Bäumen hindurch sah man eine weiße steinerne Kirche, und auf der andern Seite hinter der Allee — ein Gitter. Am Ende des Weges tauchte jetzt ein Herr auf, der ihnen entgegenzugehen schien: er trug eine Mütze und einen Knotenstock in der Hand. Ein englischer Schäferhund auf langen dünnen Beinchen lief vor ihm her.

„Da ist ja mein Bruder!“ sagte Platonow, „Kutscher, halten Sie doch!“ Mit diesen Worten sprang er aus dem Wagen. Tschitschikow folgte seinem Beispiel. Die Hunde schlossen sofort Freundschaft und beschnupperten sich gegenseitig. Der mit den dünnen Beinen hieß Asor, schnell näherte er sich seinem Kameraden Jarb und fuhr ihm mit seiner flinken Zunge über die Schnauze, dann leckte er Platonow die Hände und sprang schließlich an Tschitschikow empor und küßte ihn aufs Ohr.

Die Brüder umarmten sich.

„Aber lieber Platon, was machst du mir für Geschichten?“ sagte der Bruder, und blieb stehen. Sein Name war Wassilij.

„Was meinst du?“ versetzte Platonow phlegmatisch.

„Aber ich bitte dich! Drei Tage lang läßt du überhaupt nichts von dir hören. Petuchs Stallknecht hat deinen Hengst mitgebracht. ‚Er ist mit einem Herrn weggefahren‘, sagt er. Hättest du mir doch nur ein Wort gesagt, wohin, wozu und auf wie lange du verreist bist, lieber Bruder, wer tut denn nur so was? Gott allein weiß, was ich mir all diese Tage für Gedanken gemacht habe!“

„Was soll ich machen? Ich habe es vergessen,“ versetzte Platonow. „Wir haben Konstantin Fjodorowitsch einen Besuch gemacht; er läßt dich grüßen; deine Schwester ebenfalls. Pawel Iwanowitsch, darf ich Ihnen meinen Bruder Wassilij vorstellen. Lieber Wassilij, dies ist Pawel Iwanowitsch Tschitschikow.“

Beide Herrn, die hiermit aufgefordert wurden, sich näher kennen zu lernen, drückten sich die Hand, nahmen ihre Mützen ab und küßten sich.

„Wer mag wohl dieser Tschitschikow sein?“ dachte Wassilij. „Mein Bruder Platon ist nicht gerade wählerisch in seinen Bekanntschaften.“ Er betrachtete Tschitschikow aufmerksam, soweit dies der Anstand zuließ, und überzeugte sich, daß dieser, nach seinem Äußern zu urteilen, ein sehr respektabler Herr war.

Tschitschikow betrachtete Wassilij seinerseits gleichfalls so aufmerksam, als dies der Anstand gerade zuließ und sah, daß der Bruder etwas kleiner war als Platon; sein Haar war etwas dunkeler und sein Gesicht lange nicht so hübsch, wie das des Bruders, aber in seinen Zügen lag viel mehr Leben, Bewegung und Herzensgüte. Man sah es ihm gleich an, daß er nicht so schläfrig war wie Platon. Aber hierauf achtete Pawel Iwanowitsch nur wenig.

„Weißt du, Wassja, ich habe mich entschlossen, mit Pawel Iwanowitsch eine kleine Reise durch das heilige Rußland zu machen. Vielleicht werde ich so meine Melancholie los.“

„Ja, wie kommst du nur plötzlich auf so etwas?“ sagte der Bruder Wassilij ganz erstaunt; er hätte beinahe noch hinzugefügt: „Und zu alledem willst du noch mit einem Menschen reisen, den du zum ersten Mal siehst, der vielleicht ein übler Kerl oder weiß Gott was nicht alles ist.“ Voller Mißtrauen schaute er nach Tschitschikow hin, aber er war erstaunt über sein respektables Äußeres.

Sie traten rechts durchs Tor in einen altertümlichen Hof: auch das Haus sah recht altertümlich aus; heute werden keine solchen Häuser mehr gebaut: es hatte ein hohes Dach, und überall waren Schutzdächer angebracht. Zwei gewaltige Linden standen in der Mitte des Hofes und warfen einen mächtigen Schatten, der fast die Hälfte der ganzen Fläche einnahm. Rings um sie herum standen mehrere Bänke. Blühende Fliederbüsche und Faulbäume faßten den Hof wie ein Perlenhalsband ein; eine Mauer friedigte ihn ein, welche ganz unter Blättern und Blüten verschwand. Das Herrenhaus war von allen Seiten geschlossen, nur eine kleine Tür und ein paar Fenster guckten freundlich unter den Ästen hervor. Hinter den schnurgeraden Baumstämmen sah man die Küche, die Vorratskammern und die Keller. Sie alle befanden sich im Garten. Die Nachtigallen schlugen laut und erfüllten ihn mit ihrem Gesang. Unwillkürlich zog ein beseeligendes Gefühl des Friedens in das Herz ein. Alles gemahnte an jene sorglosen Zeiten, wo die Menschen noch friedlich und gütlich nebeneinander lebten, und wo noch alles schlicht und einfach herging. Bruder Wassilij lud Tschitschikow ein, Platz zu nehmen, und man ließ sich auf den Bänken unter den Linden nieder.

Ein siebzehnjähriger Bursche in einem hübschen rosafarbenen Hemde brachte ein Tablett herein und stellte es vor ihnen auf den Tisch. Es war mit Karaffen voll Fruchtlimonaden der verschiedensten Arten und Farben besetzt. Hier waren alle Sorten vertreten: die einen waren dick und zähe wie Öl, andere moussierten wie Brauselimonaden. Nachdem der Bursche die Karaffen auf den Tisch gestellt hatte, ergriff er die Schaufel, die an einem Baume lehnte, und ging in den Garten. Die Gebrüder Platonow hatten wie ihr Schwager Kostanshoglo keine Dienstboten, sondern eigentlich nur Gärtner. Alle Knechte mußten der Reihe nach dieses Amt übernehmen. Bruder Wassilij behauptete immer, die Dienstboten bildeten keinen besonderen Stand: einem etwas reichen oder bringen, das könne ein jeder und dazu brauche man sich keine besonderen Bedienten zu halten; der Russe sei nur solange brav und fleißig, tüchtig und kein Faulpelz, als er Hemd und Bauernkittel trage, sowie er sich einen deutschen Rock anschaffe, werde er plötzlich plump und ungeschickt, er fange an zu faulenzen, wechsele sein Hemd nicht mehr, und gehe überhaupt nicht mehr ins Bad; er liege nur noch in seinem deutschen Rocke herum und schlafe, bis sich in seinem neuen Kleide zahllose Scharen von Wanzen und Flöhen einnisten. Vielleicht hatte er in diesem Punkte nicht ganz unrecht. Auf dem Gute der Brüder waren die Bauern ganz besonders vornehm und reich: der Kopfputz der Frauen schimmerte von Gold, und die Ärmel ihrer Hemden waren schön gestickt wie ein türkischer Schal. „Unser Haus ist berühmt wegen seiner Limonaden,“ sagte Wassilij.

Tschitschikow nahm das erste Fläschchen und schenkte sich ein Glas ein: es schmeckte ganz wie Lindenmeth, den er einst in Polen getrunken hatte: es moussierte wie Champagner, und die Kohlensäure stieg ihm in angenehmem Bogen aus dem Mund in die Nase. „Der reinste Nektar!“ sagte er. Er schenkte sich noch ein Gläschen aus einer zweiten Karaffe ein — und siehe da, es schmeckte noch besser.

„Das Getränk aller Getränke!“ sagte Tschitschikow. „Ich kann wohl sagen, bei Ihrem verehrten Schwager Konstantin Fjodorowitsch, habe ich den besten Likör, bei Ihnen dagegen die herrlichste Limonade getrunken, die ich jemals gekostet habe.“

„Der Likör kommt ja auch von uns: den hat meine Schwester gemacht. Und nach welcher Richtung gedenken Sie jetzt zu reisen? Welche Orte wollen Sie besuchen?“ fragte Bruder Wassilij.

„Ich reise,“ versetzte Tschitschikow, indem er sich ein wenig auf der Bank hin und her schaukelte, sich vornüber beugte und mit der Hand über das Knie strich: „ich reise eigentlich nicht so sehr in eigenem Interesse, wie in dem eines andern. General Betrischtschew, ein guter Freund von mir, und ich kann wohl sagen mein Wohltäter, hat mich gebeten, einige von seinen Verwandten zu besuchen. Die Sache mit den Verwandten ist natürlich sehr wichtig, andererseits aber reise ich doch auch wieder gewissermaßen in eigenen Angelegenheiten: denn ganz abgesehen von der guten Wirkung, die das Reisen auf die Hämorrhoiden hat, man erweitert seine Weltkenntnis, stürzt sich in den Strudel und Wirbel des Menschenvolkes — und das ist an und für sich schon sozusagen ein lebendiges Buch und auch eine Art Wissenschaft.“

Bruder Wassilij wurde nachdenklich. „Der gute Mann spricht etwas geschraubt, es liegt aber doch was Wahres in seinen Worten,“ dachte er. Er schwieg eine Weile still und sagte, indem er sich an seinen Bruder Platon wandte: „Weißt du, Platon, ich fange an zu glauben, eine Reise könnte dich wirklich etwas aufrütteln. Du leidest an einer Art geistigen Schlafkrankheit, du bist einfach eingeschlummert, — und nicht etwa weil du übersättigt oder übermüdet bist, sondern weil es dir an lebendigen Empfindungen und Eindrücken fehlt. Mir geht es gerade umgekehrt. Ich wünschte, ich könnte nicht so stark und lebhaft empfinden und mir die Dinge nicht so sehr zu Herzen nehmen.“

„Wozu nimmst du dir auch alles zu Herzen,“ sagte Platon. „Du suchst selbst nach Gründen oder erfindest dir welche, um dir Sorgen zu machen und dich unnütz aufzuregen.“

„Man braucht sie doch garnicht zu erfinden, wenn man auf Schritt und Tritt Unannehmlichkeiten hat,“ versetzte Wassilij. „Hast du gehört, was uns Lenitzyn in deiner Abwesenheit für einen Streich gespielt hat? — Er hat das Stück Haideland, auf dem wir Johannisnacht feiern, einfach annektiert. Erstlich gebe ich dies Stück für kein Geld her ... Hier feiern meine Bauern jedes Jahr Johannisnacht, mit diesem Flecke sind soviel Erinnerungen für das ganze Gut verbunden; mir ist eine alte Sitte — etwas Heiliges, und ich bin bereit jedes Opfer für sie zu bringen.“

„Er wird das wohl nicht gewußt haben, als er es sich nahm,“ sagte Platonow, „er ist noch ganz neu hier im Lande, er kommt doch erst eben aus Petersburg; man muß ihm die Sache klar machen.“

„Oh er weiß alles ganz genau. Ich habe zu ihm geschickt, und es ihm sagen lassen. Er hat mir nur Grobheiten an den Kopf geworfen.“

„Du hättest eben selbst hinfahren und ihm alles erklären sollen. Besprich doch die Sache mit ihm selbst.“

„Nein, danke schön. Er spielt mir zu sehr den großen Herrn. Zu dem fahre ich nicht hin. Fahr du doch hin, wenn du durchaus willst.“

„Ich würde schon fahren, aber du weißt ja, ich mische mich nicht in diese ... Er könnte mich ja auch übers Ohr hauen und betrügen.“

„Wenn Sie wünschen, so will ich zu ihm hinfahren,“ sagte Tschitschikow, „erklären Sie mir nur, worum es sich handelt.“

Wassilij sah ihn an und dachte: „Dem scheint das Reisen großen Spaß zu machen.“

„Können Sie mir nicht ungefähr andeuten, was er für ein Mensch und was das für eine Angelegenheit ist?“ fuhr Tschitschikow fort.

„Es ist mir sehr peinlich, Sie mit einem so unangenehmen Auftrag zu betrauen. Meiner Ansicht nach ist er ein schlechter Kerl: er gehört dem ärmeren Adel unserer Provinz an, und hat sich in Petersburg hinaufgedient, nachdem er die illegitime Tochter irgend eines großen Herrn geheiratet hat, und spielt jetzt den vornehmen Mann. Er will hier den Ton angeben. Aber die Leute hierzulande sind auch nicht dumm, sie kümmern sich den Teufel um die Mode, und Petersburg ist für sie garnicht maßgebend.“

„Natürlich,“ sprach Tschitschikow, „und worum handelt es sich?“

„Sehen Sie, er hat ja das Land wirklich nötig, wenn er nicht so rücksichtslos gewesen wäre, hätte ich ihm gern an einer andern Stelle umsonst ein Stück abgetreten ... So aber könnte der hochnäsige Mensch noch glauben ...“

„Ich bin der Ansicht, es ist besser man sucht sich friedlich zu verständigen: vielleicht ist die ganze Affäre ... Mit hat schon mancher seine Sache anvertraut, und noch keiner hat es bereut ... General Betrischtschew hat mir ja auch ...“

„Aber es ist mir so peinlich, daß Sie meinetwegen mit einem solchen Menschen reden sollen ...“[6]


„...(10) Besonders wenn man berücksichtigt, daß dies ein Geheimnis war,“ sagte Tschitschikow, „denn das eigentlich Schädliche hierbei ist nicht so sehr das Verbrechen wie das Ärgernis, das damit gegeben wird.“

„Ja wohl, Sie haben ganz recht,“ fiel Lenitzyn ein, indem er den Kopf ganz auf die Seite neigte.

„Wie angenehm es doch ist, sich mit einem andern einig zu wissen,“ sprach Tschitschikow. „Ich habe da auch eine Sache, die man in gewissem Sinne gesetzlich und ungesetzlich zugleich nennen kann; oberflächlich betrachtet scheint sie ungesetzlich zu sein, tatsächlich steht sie jedoch keineswegs im Widerspruch mit den Gesetzen. Ich brauche eine Hypothek, aber ich kann es doch niemandem zumuten, das Risiko auf sich zu nehmen und zwei Rubel für die lebendige Seele zu bezahlen. Wenn ich Pech habe — und Bankrott mache — was Gott verhüte, — dann hat der Besitzer das Nachsehen: da habe ich mich denn entschlossen, mir den Umstand zunutze zu machen, daß es tote und flüchtige Bauern gibt, die noch nicht aus der Revisionsliste gestrichen sind; womit ich zugleich ein christliches Werk tue und ihrem armen Besitzer die Steuern abnehme, die er für sie bezahlen muß. Wir wollen der Formalität wegen nur einen Kaufvertrag abschließen, wie wenn es sich um lebende handelte.“

„Hm! Das ist aber eine höchst merkwürdige Geschichte!“ dachte Lenitzyn und rückte mit dem Stuhle ein wenig zurück. „Diese Sache ist allerdings derartig ....“ begann er.

„Ein Ärgernis kann es ja hierbei nicht geben, weil die Sache doch geheim bleibt,“ versetzte Tschitschikow; „zudem sind wir doch beide wohlgesinnte und zuverlässige Menschen.“

„Hm, aber trotzdem, die Sache ist so eigentümlich ..“

„Ein Ärgernis kann es nicht geben,“ entgegnete Tschitschikow offen und ehrlich. „Es ist doch genau so eine Sache wie die, von der wir soeben gesprochen haben: wir beide sind gutgesinnte, verständige, reife Leute, die eine Stellung in der Gesellschaft einnehmen — und dann bleibt doch alles geheim.“ Und während er dies sagte, sah er ihm offen und ehrlich ins Auge.

Obgleich Lenitzyn sehr gewandt, sicher und ein gewiegter Geschäftsmann war, geriet er diesmal ganz aus der Fassung, um so mehr als er sich durch einen merkwürdigen Zufall gleichsam in seinem eigenen Netze gefangen hatte. Er war gar keiner schlechten Handlung fähig und wollte nichts Unrechtes tun, auch nicht im geheimen. „Ist das aber eine sonderbare Geschichte!“ dachte er: „Darnach schließe noch einer Freundschaft mit einem anständigen Menschen. Eine schöne Geschichte!“

Aber das Schicksal und die Verhältnisse schienen Tschitschikow ganz besonders günstig zu sein. Wie um beiden aus dieser kritischen Situation zu helfen, trat plötzlich die junge Hausfrau, Lenitzyns Gattin, ins Zimmer; sie war bleich, klein und mager, nach Petersburger Mode gekleidet und hatte eine große Schwäche für Menschen, die in jeder Hinsicht korrekt und comme il faut waren. Gleich darauf brachte die Amme Lenitzyns sein Söhnchen auf dem Arme herein, das erste Kind, die Frucht einer zärtlichen Liebe der jungen Gatten. Tschitschikow sprang schnell auf, ging gewandt und sicher auf die Hausfrau zu, neigte den Kopf leicht auf die Seite und bezauberte die Petersburger Dame und nach ihr auch das Kindchen durch seine Liebenswürdigkeit. Der Knabe fing zwar zuerst an zu heulen, aber Tschitschikow gelang es schnell, ihn zu beruhigen: er rief ihm: La, la, la, la mein Herzchen, zu, schnippte mit den Fingern, zeigte ihm ein reizendes Karneolsiegel, das er an der Uhrkette trug, und brachte das Kind bald so weit, daß es sich ruhig auf den Arm nehmen ließ. Dann packte er es, hob es fast bis zur Decke hinauf und entlockte dem Knaben zur höchsten Freude beider Eltern ein liebliches Lächeln. Aber war es nun das ungewohnte Vergnügen oder hatte es einen andern Grund, plötzlich passierte dem Kleinen etwas höchst Peinliches.

„Ach Gott, ach Gott!“ schrie Lenitzyns Gattin auf; „er hat Ihnen den ganzen Frack verdorben!“

Tschitschikow warf einen Blick auf sein Kostüm; in der Tat: der eine Ärmel des neuen Fracks war hin: „Daß dich doch der Teufel holte, kleiner Satan!“ dachte er ärgerlich.

Der Herr des Hauses, die Hausfrau und die Amme: alles lief hinaus, um Kölnisches Wasser zu holen: dann kamen sie von allen Seiten angelaufen und versuchten ihn abzuwischen.

„Es macht nichts, es macht nichts, das ist ja eine Kleinigkeit!“ sagte Tschitschikow und suchte seinem Gesicht einen möglichst freundlichen Ausdruck zu verleihen: „Ein Kind in diesem goldenen Alter kann einem doch nichts verderben,“ wiederholte er, trotzdem aber dachte er sich: „So ein Schelm, daß dich doch die Wölfe fräßen, hat der mich aber schön zugerichtet, der verdammte kleine Schelm!“

Indessen dieser scheinbar so unbedeutende Vorfall hatte den Hausherrn ganz zu Tschitschikows Gunsten umgestimmt. Wie konnte er einem Gast etwas abschlagen, der seinen Kleinen in so harmloser Weise unterhalten und geliebkost, und seine Güte so großmütig mit dem eigenen Frack bezahlt hatte? Um den Menschen kein schlechtes Beispiel zu geben, beschloß man die Sache im geheimen zu erledigen, denn nicht sowohl die Sache selbst, als das Ärgernis, zu dem sie Anlaß gab, konnte ja Schaden stiften.

„Doch nun erlauben Sie mir, Ihnen zum Dank für Ihre Güte auch einen kleinen Dienst zu leisten. Ich möchte die Vermittlerrolle in Ihrem Streit mit den Gebrüdern Platonow übernehmen. Sie brauchen doch Land? Nicht wahr?“

Fünftes Kapitel.[7]

Jedermann sucht sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. „Was mich zwickt, das zwick’ ich wieder,“ sagt ein russisches Sprichwort. Tschitschikow begab sich nun auf eine kleine Entdeckungsreise durch seine Koffer und Kisten; sie war von Erfolg gekrönt, und so wanderte denn während dieser Expedition mancherlei aus den Koffern in die Privatschatulle hinüber. Mit einem Wort, es wurde alles aufs beste erledigt. Tschitschikow hatte ja nicht gestohlen, sondern nur die Gelegenheit benutzt. Wir suchen doch auch aus allem Möglichen Nutzen zu ziehen: der eine aus Staatswäldern, der andere aus Staatsgeldern, ein dritter bestiehlt seine eigenen Kinder wegen irgend einer durchreisenden Schauspielerin, ein vierter — seine Bauern, um sich Möbel vom Hombs oder eine Equipage anzuschaffen. Was ist zu machen, wo es heute soviel Verführungen in der Welt gibt: teuere Restaurants mit geradezu wahnsinnigen Preisen, Redouten, Gartenfeste, Zigeuner, Bälle usw. Es ist doch so schwer, darauf zu verzichten, wenn alle Leute ringsherum dasselbe tun, — und dann ist es doch auch Mode, da soll sich einer von alledem fernhalten! Tschitschikow hätte eigentlich schon unterwegs sein sollen, aber die Wege waren nicht in Ordnung. Unterdessen sollte in der Stadt noch eine andere Messe eröffnet werden: nämlich die für die vornehmen Leute.(11) Auf der andern Messe wurde mehr mit Pferden, Vieh, Rohprodukten und allerhand Waren gehandelt, welche die Bauern auf den Markt brachten und die von Viehhändlern und Kaufleuten aufgekauft wurden. Nun aber wurde alles, was auf der Messe zu Nischnij Nowgorod von den Händlern an Handelsartikeln für den Bedarf der vornehmeren Leute aufgekauft worden war, hierhergebracht. Da fand sich alles zusammen: alle Räuber und Plünderer der russischen Geldbeutel, Franzosen mit Pomade, und Französinnen mit Hüten, die Räuber des mit Schweiß, Mühe und Blut erworbenen Geldes — diese ägyptische Heuschreckenplage, wie Kostanshoglo sich auszudrücken liebte, dieses Ungeziefer, das nicht nur alles auffrißt, sondern auch noch seine Eier zurückläßt und sie in die Erde verscharrt.

Nur die Mißernte hielt viele Gutsbesitzer zu Hause zurück. Dafür machten die Beamten, die ja unter keinen Mißernten leiden, ihren Beutel um so weiter auf, und ihre Frauen taten leider desgleichen. Sie hatten ihre Köpfe noch voll von allerhand Büchern, die in der letzten Zeit in der Welt verbreitet worden waren, um den Menschen neue Bedürfnisse einzupflanzen, und nun dürsteten sie förmlich nach neuen Genüssen. Ein Franzose eröffnete ein neues Lokal, einen öffentlichen Garten, wie man ihn in der Provinz noch nie gesehen hatte, wo man angeblich zu besonders billigen Preisen soupieren konnte; zudem erhielt man die Hälfte auf Kredit. Dies genügte, daß nicht nur alle Abteilungschefs, sondern selbst alle kleineren Beamten, die schon im voraus mit den Geldgeschenken ihrer Klienten rechneten, dorthin strömten. Auch wünschte man seine Pferde und seinen Kutscher öffentlich sehen zu lassen. Hier floß alles zusammen, hier trafen sich Leute jeden Standes, um sich zu vergnügen und zu zerstreuen ... Trotz des scheußlichen Wetters und dem Kot auf den Straßen flogen überall elegante Equipagen hin und her. Woher sie kamen, das weiß Gott allein, aber sicherlich hätten sie sich auch in Petersburg ruhig sehen lassen können. Die Kaufleute und Kommis lüfteten leicht ihre Mützen und sprachen die vorübergehenden Damen höflich an. Nur hie und da sah man Männer mit langen Bärten und ballonartigen Pelzmützen. Alles hatte einen europäischen Anstrich; überall begegnete man Herren mit schönrasierten Gesichtern und ... hohlen Zähnen.

„Bitte hierher, hierher! Aber bitte treten Sie doch nur einen Augenblick in meinen Laden. Mein Herr, mein Herr!“ hörte man hie und da kleine Jungen schreien.

Aber die vornehmen Herren und Damen, die so vertraut mit dem europäischen Wesen waren, hatten nur einen Blick der Verachtung für sie; nur ganz selten setzte einer eine würdige Miene auf und machte ... Pst; dort wieder hörte man jemand rufen: Hier gibt’s Stoffe, helle, dunkle, bunte usw.

„Haben Sie einen glänzenden preißelbeerfarbenen Stoff für einen Herrenanzug?“ fragte Tschitschikow.

„Die schönsten Stoffe,“ versetzte der Kaufmann, während er mit der einen Hand die Mütze abnahm und mit der andern auf den Laden deutete. Tschitschikow trat ein. Der Kaufmann hob geschickt das Brett des Ladentisches in die Höhe und stand gleich darauf auf der andern Seite, mit dem Rücken zu den Stoffen, die in Rollen übereinander aufgeschichtet waren und die ganze Wand vom Fußboden bis zur Decke einnahmen. Das Gesicht dem Käufer zugewandt, stützte er sich mit beiden Händen auf den Tisch und sagte, indem er seinen Oberkörper leicht hin- und herwiegte: „Was für einen Stoff wünschen Sie?“

„Einen glänzenden Stoff, olivengrün oder flaschengrün, etwas was dem Preißelbeerrot nahekommt,“ versetzte Tschitschikow.

„Ich darf Ihnen versichern, daß ich Ihnen nur das Allerbeste vorlegen werde. Sie können höchstens in den zivilisiertesten Hauptstädten Europas etwas Besseres finden. He! Bursche! Hol doch mal den Stoff Nummer 34 herunter! Nein, nicht doch! nicht den! Wozu strebst du immer über deine Sphäre hinaus, wie so ein Proletarier! So! Wirf ihn mir zu! Bitte! Das ist ein Stoff, kann ich Ihnen sagen!“ Und der Kaufmann rollte den Stoff auf und hielt ihn Tschitschikow direkt unter die Nase, sodaß dieser den seidenen Glanz nicht bloß fühlen, sondern auch riechen konnte.

„Ganz schön, aber das ist nicht das, was ich haben will,“ sagte Tschitschikow. „Ich habe im Zollamt gedient, da brauche ich etwas Erstklassiges, das Beste, was es überhaupt gibt, und dann muß der Stoff mehr rötlich, weniger flaschengrün und mehr preißelbeerfarben sein.“

„Ich verstehe: Sie wollen genau die Farbe, die gerade modern zu werden beginnt. Da habe ich einen ganz vorzüglichen Stoff. Ich mache Sie freilich darauf aufmerksam, daß er sehr teuer ist, dafür ist er aber auch von allererster Qualität.“

Der Europäer kletterte hinauf. Wieder fiel ein Ballen auf den Tisch. Er rollte ihn mit einer Gewandtheit auf, wie man sie nur in der guten alten Zeit hatte, und vergaß dabei ganz, daß er schon einem späteren Geschlechte angehörte. Dann kam er hinter dem Tisch hervor, hielt den Stoff ans Licht, indem er mit den Augen blinzelte und sagte: „Eine wunderbare Farbe! Navarinoscher[8] Rauch mit Feuerglanz!“

Der Stoff fand Tschitschikows Beifall; man einigte sich über den Preis, obwohl dieser prifix (prix-fix) war, wie der Kaufmann behauptete. Dann spannte er ihn geschickt zwischen beiden Händen, und wickelte ihn hierauf nach echt russischer Art, d. h. mit unglaublicher Schnelligkeit in ein Stück Papier. Hierauf drehte und wendete er das Paket noch ein paar Mal hin und her, indem er einen dünnen Bindfaden herumlegte, und es mit einem energischen Knoten verschnürte. Eine Schere schnitt den Bindfaden durch, und in demselben Augenblick lag alles in dem bereitstehenden Wagen. Der Kaufmann lüftete den Hut und grüßte. Es hatte seine guten Gründe, warum der Kaufmann den Hut abnahm: das war eine Anspielung, daß der Käufer sofort zahlen solle.(12)

„Haben Sie dunkles Tuch?“ hörte man jetzt eine Stimme sagen.

„Teufel! das ist Chlobujew,“ sagte Tschitschikow leise zu sich selber und drehte jenem den Rücken zu; er wollte nicht, daß Chlobujew ihn sehe, denn er hielt es für unklug, sich mit ihm in Verhandlungen über die Erbschaft einzulassen. Aber jener hatte ihn schon gesehen und erkannt.

„Wie? Pawel Iwanowitsch, Sie gehen mir doch nicht etwa absichtlich aus dem Wege? Ich kann Sie nirgends finden, und doch liegen die Verhältnisse so, daß ich ernstlich mit Ihnen reden muß.“

„Verehrtester, Verehrtester!“ sagte Tschitschikow, indem er ihm beide Hände drückte; „glauben Sie mir, ich habe es mir schon selbst so oft vorgenommen, mit Ihnen zu sprechen, aber ich hatte leider nie Zeit!“ Tatsächlich aber dachte er: „Wenn dich doch der Teufel holte!“ Plötzlich jedoch erblickte er den eben eintretenden Murasow. „Herrgott! Afanassij Wassiljewitsch! Wie befinden Sie sich?“

„Und Sie?“ sagte Murasow, indem er den Hut abnahm. Auch der Kaufmann und Chlobujew nahmen ihre Mützen ab.

„Ich habe immer Kreuzschmerzen, auch der Schlaf läßt zu wünschen übrig. Vielleicht weil ich mir zu wenig Bewegung mache!“

Aber statt näher auf Tschitschikows Klagen und den Grund seiner Schmerzen einzugehen, wandte sich Murasow an Chlobujew: „Ich sah Sie in den Laden treten, Ssemjon Ssemjonowitsch, und da bin ich Ihnen nachgegangen. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen, können Sie mir nicht einen Besuch machen?“ „Aber natürlich, natürlich!“ versetzte Chlobujew eilig, und beide gingen hinaus.

„Was mögen sie wohl miteinander zu reden haben?“ dachte Tschitschikow.

„Afanassij Wassiljewitsch — ist ein sehr würdiger und kluger Mann,“ sagte der Kaufmann; „er ist außerordentlich tüchtig in seinem Fach, aber er hat keine Bildung. Ein Kaufmann ist doch sozusagen Negotiant und nicht bloß Kaufmann. Damit sind aber doch gewissermaßen auch allerhand Budgets und Reaktionen verbunden, sonst sind wir dem Pauperismus verfallen.“ Tschitschikow zuckte die Achseln.

„Pawel Iwanowitsch, ich suche Sie überall!“ rief plötzlich eine Stimme. Es war Lenitzyn. Der Kaufmann nahm ehrfürchtig den Hut ab.

„Sie? Fjodor Fjodorowitsch?“

„Um Gottes willen, kommen Sie, lassen Sie uns schnell zu mir nach Hause fahren, ich muß mit Ihnen sprechen,“ sagte jener. Tschitschikow sah ihn an — er sah ganz bleich aus und seine Gesichtszüge waren entstellt. Tschitschikow bezahlte und verließ den Laden.

„Ich warte auf Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch,“ sagte Murasow, als er Chlobujew eintreten sah. „Bitte kommen Sie doch zu mir ins Zimmer!“ Und er geleitete Chlobujew in die Stube, die der Leser schon kennen gelernt hat. Selbst bei einem Beamten, der jährlich nur siebenhundert Rubel Gehalt bezieht, hätte man kein unansehnlicheres, schlichter ausgestattetes Zimmer finden können.

„Sagen Sie, ich nehme an, daß sich Ihre Verhältnisse gebessert haben? Ihre Tante hat Ihnen doch sicher etwas hinterlassen.“

„Was soll ich sagen, Afanassij Wassiljewitsch? Ich weiß wirklich nicht, ob sich meine Verhältnisse gebessert haben. Ich habe bloß fünfzigtausend Bauern und dreißigtausend Rubel bar erhalten; damit mußte ich einen Teil meiner Schulden bezahlen — und jetzt sitze ich wieder da und habe nichts. Was aber die Hauptsache ist, die Geschichte mit dieser Erbschaft ist nicht einmal ganz sauber. Es sind da allerhand Gaunereien und Betrügereien vorgekommen, Afanassij Wassiljewitsch! Ich will es Ihnen gleich erzählen, Sie werden staunen, was alles in der Welt vorkommt. Dieser Tschitschikow ...“

„Erlauben Sie mal, Ssemjon Ssemjonowitsch; ehe wir von diesem Tschitschikow reden, wollen wir erst einmal von Ihnen selbst sprechen. Sagen Sie mal! wieviel Geld würde Ihrer Meinung nach erforderlich sein, um Ihre Gläubiger zu befriedigen; wieviel brauchen Sie, um wieder in geordnete Verhältnisse zu kommen?“

„Meine Verhältnisse sind sehr schlecht,“ versetzte Chlobujew. „Um da herauszukommen, alle Schulden zu bezahlen und ein bescheidenes Auskommen zu haben, dazu brauche ich mindestens hunderttausend Rubel, wenn nicht noch mehr! Mit einem Wort: das ist einfach unmöglich.“

„Nun, und wenn Sie dies alles hätten, wie würden Sie dann Ihr Leben einrichten?“

„Oh, dann würde ich mir eine kleine Wohnung mieten und mich ganz der Erziehung meiner Kinder widmen. An mich selbst darf ich gar nicht mehr denken. Mit meiner Karriere ist es zu Ende; in den Staatsdienst kann ich doch nicht mehr eintreten: ich tauge ja doch zu nichts mehr!“

„Das bliebe doch ein müßiges Leben, und Sie wissen, Müßiggang ist aller Laster Anfang, da nahen sich einem allerhand Versuchungen, an die ein fleißiger und tätiger Mensch garnicht einmal denkt.“

„Ich kann halt nicht mehr, ich tauge zu nichts mehr! ich bin schon zu stumpf und apathisch, um etwas anzufangen. Zu alledem leide ich noch an Kreuzschmerzen.“

„Aber wie kann man nur ohne Arbeit leben? Wie können Sie es bloß auf der Welt aushalten ohne ein Amt und eine Tätigkeit? Ich bitte Sie! Blicken Sie doch um sich! Jedes Wesen auf Gottes Erde erfüllt eine gewisse Bestimmung und hat seine Funktion. Selbst der Stein ist nur dazu da, damit ihn jemand gebraucht oder bei einem nützlichen Werke verwendet, und der Mensch, das klügste, vernünftigste aller Geschöpfe sollte sein Leben tatenlos hinbringen — das ist doch unmöglich.“

„So ganz ohne Tätigkeit bin ich doch auch nicht. Ich kann mich doch mit der Erziehung meiner Kinder beschäftigen.“

„Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch! Nein. Das ist das allerschwerste. Wie soll der Kinder erziehen, der es nicht einmal verstanden hat, sich selbst zu erziehen, Kinder kann man doch nur durch sein eigenes Beispiel erziehen, indem man ihnen das Leben vorlebt. Und sagen Sie ehrlich, kann Ihr Leben ihnen zum Vorbild dienen? Von Ihnen könnten sie schließlich doch nur lernen, wie man die Zeit müßig hinbringt, oder sie mit Kartenspiel totschlägt. Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch, lassen Sie lieber mich Ihre Kinder erziehen. Sie werden sie nur verderben. Überlegen Sie sich doch die Sache einmal recht ordentlich. Was Sie zu Grunde gerichtet hat, das ist der Müßiggang — daher müssen Sie ihn vor allem meiden. Ein Mensch kann doch nicht ohne allen Halt im Leben sein. Er muß doch irgendwelche Pflichten haben. Selbst der Tagelöhner hat seinen Beruf. Er hat zwar nur ein kärgliches Einkommen, aber er muß es sich selbst verdienen, und daher hat er auch ein Interesse an seiner Tätigkeit.“

„Bei Gott, Afanassij Wassiljewitsch! Ich habe es versucht, ich habe mir redliche Mühe gegeben! Was soll ich machen? Ich bin schon zu alt, jetzt bin ich nicht mehr fähig, etwas Neues zu unternehmen. Sagen Sie doch nur: was soll ich denn anfangen? Ich kann doch nicht in den Staatsdienst treten? Oder soll ich mich etwa noch mit fünfundvierzig Jahren neben einen jungen Anfänger ins Bureau, hinter den Tisch setzen? Und dann bin ich unfähig, Geschenke anzunehmen — — ich werde mir selber nur schaden und andern im Wege sein. Außerdem haben sich unter den Beamten auch schon Kasten gebildet. Nein, Afanassij Wassiljewitsch, ich hab’s mir schon überlegt, ich hab’s versucht und darüber nachgedacht, was ich wohl für eine Stellung annehmen könnte — nein ich tauge nicht dazu. Ich passe höchstens noch ins Armenhaus.“

„Das Armenhaus ist für die da, die im Leben etwas geleistet und gearbeitet haben; die dagegen, die sich amüsiert haben, solange sie jung waren, bekommen zur Antwort, was die Ameise zum Grashüpfer sagte: ‚Geh, tanze weiter!‘ Aber auch im Armenhaus wird gearbeitet, auch da muß man sich nützlich machen; dort spielt man nicht etwa Whist, Ssemjon Ssemjonowitsch,“ fuhr Murasow fort, indem er Chlobujew fest ins Gesicht sah, „Sie betrügen sich nur selbst und mich dazu.“

Murasow sah ihm ernst und lange ins Gesicht, aber der arme Chlobujew vermochte nichts zu antworten, und er fing an, Murasow leid zu tun.(13)

„Hören Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch ... Sie beten doch, Sie gehen in die Kirche und lassen keine Frühmesse und keinen Abendgottesdienst aus. Trotzdem es Ihnen schwer wird, stehen Sie ganz früh auf und gehen — gehen um vier Uhr morgens in die Kirche, wo noch alles in tiefem Schlafe liegt.“

„Das ist etwas andres — Afanassij Wassiljewitsch. Hier weiß ich, daß ich das nicht um der Menschen willen, sondern um Dessen willen tue, der uns alle in dieses Leben gesandt hat. Was soll ich machen! Ich glaube, daß Er mir gnädig sein wird, daß Er mir verzeihen und mich in Gnaden aufnehmen wird, so häßlich und schlecht ich auch bin, während mich die Menschen mit dem Fuße fortstoßen und meine besten Freunde mich verraten und nachher noch sagen werden, sie hätten es in der besten Absicht getan.“

Ein bitteres Gefühl spiegelte sich in Chlobujews Gesicht. Dem alten Herrn traten die Tränen in die Augen ...

„Dann dienen Sie doch wenigstens Dem, Der allen Wesen so gnädig ist. Er freut sich ebenso sehr über die Arbeit, wie über ein Gebet. Suchen Sie sich irgend eine Beschäftigung, ganz gleich was für eine, wenn es nur eine Beschäftigung ist. Arbeiten Sie, als ob Sie es für Ihn und nicht für die Menschen täten. Schöpfen Sie meinetwegen Wasser in einem Sieb, aber denken Sie, daß Sie es um Seinetwillen tun. Schon das wäre ein Vorteil, Sie würden wenigstens keine Zeit und Gelegenheit finden, was Schlechtes zu tun: Ihr Geld zu verspielen, zu schmausen und zu schlemmen, unmäßig zu leben und den oberflächlichen weltlichen Genüssen nachzugehen. Ach Ssemjon Ssemjonowitsch. Kennen Sie Iwan Potapowitsch?“

„Jawohl. Ich kenne und schätze ihn sehr hoch!“

„Das war doch wirklich ein tüchtiger Kaufmann: er hatte über eine halbe Million; wie er aber sah, daß ihm alles zum Vorteil ausschlägt — da wurde er unmäßig und ließ sich gehen. Er ließ seinem Sohn französischen Unterricht geben und verheiratete seine Tochter an einen General. Von da ab sah man ihn nicht mehr im Laden oder in der Börsenstraße; wenn er einen Freund auf der Straße traf, dann schleppte er ihn gleich mit ins Gasthaus, um mit ihm Tee zu trinken. Da konnte er tagelang bei seinem Tee sitzen. Der Erfolg war natürlich, daß er Bankrott machte. Zu alledem hatte er noch Unglück mit seinem Sohn ... Sehen Sie, jetzt dient er bei mir als Kommis. Er hat ganz von Anfang angefangen. Seine Verhältnisse haben sich gebessert. Er könnte sich ganz leicht wieder eine halbe Million verdienen. Aber nun will er nicht mehr. ‚Jetzt bin ich halt Kommis, und als Kommis will ich auch sterben. Nun bin ich frisch und gesund geworden,‘ sagte er, ‚damals aber hatte ich einen dicken Bauch und die beginnende Wassersucht ... Nein ich danke,‘ sagte er. Tee nimmt er überhaupt nicht mehr in den Mund. Kohlsuppe und Brei, das ist seine ganze Nahrung. Jawohl! Und so fromm ist er geworden, wie keiner von uns, und er tut soviel Gutes für die Armen, wie selten einer; mancher andere würde auch gerne helfen, wenn er nicht sein ganzes Vermögen durchgebracht hätte.“

Der arme Chlobujew war nachdenklich geworden. Der Alte ergriff seine beiden Hände: „Ssemjon Ssemjonowitsch! Wenn Sie wüßten, wie leid Sie mir tun! Ich habe die ganze Zeit über an Sie gedacht. Hören Sie, Sie wissen doch, daß in unserem Kloster ein Eremit lebt, der nie einen Menschen sieht. Das ist ein Mann von großem Verstande, oh, von einem solchen Verstande, ich kann’s gar nicht sagen. Er sagt auch nie ein Wort. Aber wenn er einmal einen Rat erteilt ... Ich erzählte ihm einmal, ich habe einen kranken Freund, den Namen nannte ich ihm nicht ... Er hörte mich ruhig an und unterbrach mich dann plötzlich mit folgenden Worten: ‚Gottes Sache vor allem. Da baut man Kirchen und es ist kein Geld da: man muß Geld für den Kirchenbau sammeln!‘ Und damit schlug er die Türe zu. Ich dachte lange nach, was das wohl bedeuten könne ‚Offenbar will er mir keinen Rat erteilen‘, sagte ich mir. Und so ging ich denn zu unserm Archimandriten. Kaum hatte ich sein Zimmer betreten, so fragt er mich schon, ob ich nicht einen Menschen kenne, den man beauftragen könne, Geld für den Bau einer Kirche zu sammeln, es müßte aber ein Mann aus dem Adels- oder aus dem Kaufmannsstande sein, der eine bessere Erziehung genossen habe und sich der Sache annehmen wolle, als ob sein ganzes Heil davon abhänge? Ich blieb ganz bestürzt stehen. Gott im Himmel. Das ist ja das Amt, das der Mönch Ssemjon Ssemjonowitsch übertragen will. Das Wandern wäre ja sehr gut gegen seine Krankheit. Wenn er mit seinem Buche vom Gutsbesitzer zum Bauern und vom Bauern zum Bürger gehen wird, wird er sehen, wie die Menschen leben und was ein jeder für Bedürfnisse hat. Wenn er dann wiederkommt, nachdem er mehrere Provinzen durchwandert hat, wird er Land und Leute besser kennen, als alle Stadtbewohner. Und solche Menschen brauchen wir ja gerade! Der Fürst hat mir erklärt, er gäbe viel dafür, wenn er solch einen Beamten finden könnte, der die Verhältnisse nicht aus den Büchern und Akten, sondern tatsächlich kennt, so wie sie in Wirklichkeit sind, denn aus den Akten kann man, wie man sagt, überhaupt nichts mehr erfahren: so verwickelt seien die Dinge.“

„Sie haben mich ganz verwirrt und ratlos gemacht, Afanassij Wassiljewitsch,“ sagte Chlobujew, indem er Murasow erstaunt anblickte. „Ich kann nicht einmal glauben, daß Sie das zu mir sagen: dazu bedarf man eines unermüdlichen, tatkräftigen Menschen. Und dann kann ich doch nicht Frau und Kinder verlassen, die ja nicht einmal was zu essen haben?“

„Um Frau und Kinder brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Für die will ich schon Sorge tragen, und an Lehrern soll es den Kindern nicht fehlen. Es ist doch besser und anständiger, Geld und milde Gaben für ein gottgefälliges Werk zu sammeln, als mit dem Felleisen herumzugehen und zu betteln. Ich gebe Ihnen einen einfachen Wagen, Sie brauchen aber keine Angst zu haben, daß er Sie zu sehr durchrütteln wird: das wird Ihnen nur gut tun, das ist ganz gesund. Und dann gebe ich Ihnen noch etwas Geld auf den Weg, damit Sie auf Ihrer Reise denen etwas geben können, die am meisten Not leiden. Sie werden auf diese Weise manch gutes Werk tun können: Sie werden schon keine Fehler machen und wirklich nur denen geben, die es wert sind. Wenn Sie so das Land bereisen, werden Sie die Menschen tatsächlich kennen lernen ... und es wird Ihnen nicht so gehen, wie irgend einem Beamten, vor dem alle Angst haben ... Mit Ihnen wird jeder gern sprechen wollen, weil er weiß, daß Sie Geld für die Kirche sammeln.“

„Ich sehe in der Tat, daß dies ein vortrefflicher Gedanke ist, und ich wünschte mir wirklich, ich könnte auch nur einen kleinen Teil davon ausführen; aber ich fürchte, es übersteigt meine Kräfte!“

„Ja, was übersteigt denn unsere Kräfte nicht?“ versetzte Murasow. „Es gibt doch gar nichts, wozu unsere Kräfte ausreichen; alles geht über unsere Kraft. Ohne Hilfe von oben kann uns überhaupt nichts gelingen. Aber das Gebet gibt uns Kraft. Der Mensch schlägt ein Kreuz, sagt: ‚Gott hilf!‘ rudert und erreicht schließlich doch das Ufer. Darüber brauchte man nicht erst lange zu grübeln. So etwas muß man einfach als eine göttliche Mission auffassen. Der Wagen steht schon bereit für Sie; laufen Sie jetzt schnell zum Archimandriten, holen Sie sich das Buch, bitten Sie ihn um seinen Segen und dann machen Sie sich auf den Weg.“

„Nun gut, ich gehorche Ihnen und nehme es als einen Wink von oben. — Gott sei mir gnädig!“ sagte er zu sich selbst und fühlte plötzlich, wie Mut und Kraft sein Herz durchfluteten. Es war fast, als ob sein Geist aus einem tiefen Schlafe erwachte, beseelt von der Hoffnung auf einen Ausweg aus seiner traurigen und verzweifelten Lage. Ein Lichtschimmer blitzte in der Ferne auf ...

Doch verlassen wir Chlobujew und wenden wir uns wieder zu Tschitschikow.(14)


Unterdessen wurden bei den Gerichten immer neue Klagen eingereicht. Es tauchten plötzlich Verwandte auf, von denen niemand je etwas gehört hatte. Wie die Geier auf das Aas, so stürzte sich alles auf das ungeheuere Vermögen, das die Alte hinterlassen hatte: es regnete nur so von Denunziationen, man beschuldigte Tschitschikow und behauptete, das letzte Testament sei gefälscht, genau ebenso wie das erste; man brachte Beweise vor, daß er größere Geldsummen gestohlen und unterschlagen habe. Ja, man beschuldigte ihn sogar, tote Seelen gekauft und während seiner Dienstzeit im Zollamt zollpflichtiges Gut über die Grenze geschmuggelt zu haben. Alle alten Geschichten wurden ausgegraben, seine ganze Vergangenheit wurde wieder ans Licht gezogen. Gott allein weiß, wie man das alles herausgeschnüffelt und in Erfahrung gebracht hatte, jedenfalls waren plötzlich schwer belastende Dinge ans Licht gekommen, von denen Tschitschikow glaubte, niemand außer ihm und den vier Wänden, innerhalb deren er lebte, könne davon Kenntnis haben. Einstweilen war dies alles noch ein gerichtliches Geheimnis, noch war es ihm selbst nicht zu Ohren gekommen, obwohl ein vertrauliches Schreiben seines Rechtsanwaltes, daß ihm bald zugestellt wurde, ihn davon in Kenntnis setzte, daß die Sache bald losgehen müsse. Der Brief war nur ganz kurz: „Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, daß uns in Ihrer Sache mancherlei Scherereien bevorstehen, aber lassen Sie sich einen guten Rat geben: regen Sie sich nicht unnütz auf. Die Hauptsache ist jetzt — Ruhe. Wir wollen die Sache schon wieder einrenken.“ Dieser Brief beruhigte ihn vollkommen. „Ein Genie!“ sagte Tschitschikow. Um seine glückliche Stimmung zu vervollständigen, brachte ihm in diesem Augenblick der Schneider auch noch den neuen Anzug. Eine unbändige Lust packte ihn, sich selbst in dem neuen Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz zu sehen. Er zog die Beinkleider an, die ihm überall so vorzüglich saßen, daß man ihn ruhig hätte abkonterfeien dürfen. Die Hosen lagen ganz eng an und ließen seine prachtvollen Lenden und die vollen Waden sehen; der Stoff schmiegte sich so glatt an, und ließ alle feinsten Einzelheiten erkennen, was ihnen eine noch größere Biegsamkeit und Elastizität verlieh. Als er hinten die Hosenschnalle anzog, da glich sein Bauch einer Trommel. Er schlug mit der Bürste darauf und sagte: „So ein Trottel! Und doch, im ganzen genommen, wirkt er höchst malerisch.“ Der Frack schien noch besser genäht zu sein, als die Hosen: da gab es auch nicht ein Fältchen, im Rücken saß er vorzüglich, die Taille war schön geschwungen und ließ die ganze Statur genau hervortreten. Auf Tschitschikows Bemerkung, der rechte Ärmel drücke ihn etwas unter der Achselhöhle, antwortete der Schneider bloß mit einem Lächeln: darum saß er auch um so besser in der Taille. „Sie können ganz ruhig sein, Sie können ganz ruhig sein, was die Arbeit angeht,“ wiederholte er mit unverhohlener Freude: „So einen Frack bekommen Sie überhaupt nicht wieder außer etwa in Petersburg.“ Der Schneider stammte selbst aus Petersburg, und auf seinem Schilde stand zu lesen: „Ein Ausländer aus London und Paris“. Er liebte es nicht zu spaßen und wollte mit den beiden Städten ein für allemal allen andern Schneidern den Mund stopfen, damit in Zukunft keiner seinen Kunden mehr mit einer dieser Städte kommen sollte. Mochte er doch irgend ein „Karlseruh“ oder „Kopenhaga“ auf sein Schild setzen.

Tschitschikow bezahlte den Schneider in nobelster Weise und begann sich, nachdem er allein geblieben war, aufmerksam im Spiegel zu betrachten: und zwar ganz wie ein Künstler, d. h. nach ästhetischen Gesichtspunkten und gewissermaßen con amore. Es stellte sich heraus, daß alles noch weit schöner war, als früher: seine Wangen waren noch interessanter, sein Kinn noch anziehender geworden; der weiße Kragen paßte vorzüglich zur Farbe der Wangen, die blaue Atlaskrawatte ließ den Kragen noch weißer erscheinen und das modern gefaltete Vorhemdchen verlieh der Krawatte einen besonderen Farbenton, die nobele Sammetweste bildete einen ausgezeichneten Fond für das Vorhemdchen und der Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz leuchtete wie Seide und vervollständigte noch die Harmonie des Ganzen. Er drehte sich rechts — und siehe, alles war vortrefflich; er drehte sich links — und es war noch besser! Er hatte die Figur eines Kammerherrn oder eines vornehmen Mannes, der fließend französisch parliert und, selbst wenn er wütend wird, es nicht wagt, ein russisches Schimpfwort zu gebrauchen, sondern sich aus Zartgefühl auch hierbei noch der französischen Sprache bedient. Hierauf neigte er seinen Kopf ein wenig auf die Seite und versuchte es, eine Pose anzunehmen, als spräche er mit einer Dame in mittleren Jahren, von modernster und exquisitester Bildung; das war einfach ein Tableau, etwas für einen Künstler: rein zum Malen! Zu seinem Pläsier machte er noch einen leichten Luftsprung: etwas wie ein Entrechat, sodaß die Kommode erzitterte und ein Fläschchen mit Kölnischem Wasser herunterfiel; aber das störte ihn nicht im mindesten. Er nannte das Fläschchen, wie es sich gehörte, ein albernes Ding, und dachte: „Zu wem soll ich jetzt zu allererst hingehen? Am besten, ich gehe ...“ Da ertönt plötzlich im Flur etwas wie Sporengeklirr, und in der Türe erscheint ein Gendarm: bis an die Zähne bewaffnet, als wollte er ein ganzes Heer repräsentieren, und sagt: „Sie haben sich sofort beim Generalgouverneur zu melden!“ Tschitschikow war ganz starr vor Schrecken. Vor ihm stand ein Schreckbild mit einem mächtigen Schnauzbart, einem wallenden Pferdeschweif, der ihm vom Kopfe herabfiel, eine Schärpe über der rechten und eine Schärpe über der linken Schulter und einen gewaltigen Pallasch an der Seite. Ja, es schien ihm, als ob er an der andern Seite noch ein Gewehr und weiß der Teufel was sonst noch alles hängen hatte: eine ganze Armee in einer Person! Er wollte etwas einwenden, aber die Schreckensgestalt antwortete grob: „Sie haben sofort mitzukommen!“ Hinter der Vorzimmertür sah er noch eine andre ähnliche Schreckensgestalt auftauchten; er warf einen Blick durchs Fenster: auf der Straße vor seinem Hause hielt eine Equipage. Was war da zu machen? Er mußte sich dazu bequemen, und ganz so wie er da war, in seinem Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz im Wagen Platz nehmen. Zitternd und zähneklappernd machte er sich auf den Weg und fuhr, begleitet von dem Gendarm direkt zum Generalgouverneur.

Im Vorzimmer ließ man ihm gar nicht erst Zeit sich zu sammeln. „Treten Sie ein, der Fürst erwartet Sie schon!“ sagte der diensthabende Beamte. Wie durch einen leichten Nebel sah er das Vorzimmer, voller Kuriere, die allerhand Pakete in Empfang nahmen, und hierauf einen Saal, den er durchschreiten mußte, und er dachte: „Wie? Wenn sie mich nun plötzlich ergreifen, und ohne gerichtliche Untersuchung und ohne alle Formalitäten einfach nach Sibirien befördern!“ Sein Herz fing heftig an zu klopfen, weit heftiger als bei dem eifersüchtigsten Liebhaber. Endlich tat sich die verhängnisvolle Tür auf: vor ihm lag ein Zimmer mit zahlreichen Schränken und Tischen, die mit Büchern und Portefeuilles bedeckt waren: der Fürst stand vor ihm, schrecklich in seinem Zorn wie der personifizierte Rachegott.

„Alleszermalmer!“ dachte Tschitschikow, „er wird mich zerreißen, wie der Wolf das Lamm!“

„Ich habe Sie geschont, ich habe Ihnen erlaubt, in der Stadt zu bleiben, während Sie eigentlich ins Zuchthaus gehörten; Sie aber haben sich von neuem durch den gemeinsten Schurkenstreich befleckt, mit dem sich jemals ein Mensch beschmutzt hat!“ Die Lippen des Fürsten bebten vor Zorn.

„Was ist das für ein gemeiner Schurkenstreich, Durchlaucht?“ sagte Tschitschikow, der am ganzen Leibe zitterte.

„Die Frau,“ sagte der Fürst, indem er näher auf ihn zuging und Tschitschikow gerade in die Augen blickte: „die Frau, die das Testament auf Ihr Geheiß unterschrieben hat, ist verhaftet worden, und wird Ihnen gegenübergestellt werden.“

Tschitschikow wurde es dunkel vor den Augen.

„Durchlaucht! Ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Ich bin schuldig, ja ich bin schuldig; aber nicht so schuldig, wie Sie glauben, meine Feinde haben mich verleumdet.“

„Sie kann niemand verleumden, denn in Ihnen steckt unendlich viel mehr Gemeinheit und Niedertracht, als der schlimmste Lügner ersinnen kann. Ich glaube, Sie haben in Ihrem ganzen Leben keine ehrliche Tat vollbracht. Jede Kopeke, die Sie besitzen, ist erschwindelt und ergaunert. Es gibt eine Art von Raub und Verbrechen, auf die die Knute und Sibirien stehen! Nein, Ihr Maß ist voll! Du wirst sofort ins Gefängnis abgeführt werden; dort magst du zusammen mit den gemeinsten Schurken und Räubern auf die Entscheidung deines Schicksals warten. Und das kannst du als Gnade ansehen, denn du bist noch weit schlimmer als sie: sie sind einfache Leute, in Pelz und Kittel, du dagegen ...“ Er warf einen Blick auf den Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz, ergriff die Glockenschnur und klingelte.

„Durchlaucht!“ schrie Tschitschikow, „haben Sie Erbarmen! Sie sind doch auch Familienvater. Ich flehe Sie um Gnade an: nicht für mich, für meine alte Mutter!“

„Du lügst!“ rief der Fürst zornig. „Genau so hast du damals für deine Kinder und deine Familie, die du nie besessen hast, um Gnade gefleht! Jetzt ist es die Mutter!“

„Durchlaucht! Ja ich bin ein Schurke, ein gemeiner niederträchtiger Schuft!“ sagte Tschitschikow ... „Ich habe wirklich gelogen, denn ich hatte weder Kinder noch Familie; aber Gott sei mein Zeuge, ich hatte stets die Absicht, mich zu verheiraten, meine Pflicht als Mensch und Bürger zu erfüllen, um mir später einmal die Achtung meiner Vorgesetzten und Mitbürger zu verdienen! ... Aber welch ein unglückliches Zusammentreffen der Umstände! Durchlaucht! Mit meinem Schweiß und Blut mußte ich mir mein tägliches Brot verdienen. Und dabei diese Versuchungen und Verführungen auf Schritt und Tritt ... nichts als Feinde und Gegner ... Räuber und Mörder ... Mein ganzes Leben war wie ein stürmischer Wirbel oder ein schwankender Kahn auf offenem Meer, ein Spielball der Winde und Wellen. Ich bin — auch nur ein Mensch — Durchlaucht!“

Tränenströme stürzten aus seinen Augen. Er warf sich vor dem Fürsten auf die Kniee, wie er ging und stand: im Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz, mit der Sammetweste und seidenen Krawatte, in den herrlich sitzenden Hosen und seiner schönen Frisur, die eine Wolke von Wohlgeruch und feinstem Eau-de-Cologne-Duft aussendete; er beugte sich tief vor dem Fürsten und schlug mit dem Kopf gegen den Fußboden.

„Fort, fort von mir! Ein Soldat soll kommen und ihn mitnehmen!“ sagte der Fürst zu den eintretenden Gendarmen.

„Durchlaucht!“ schrie Tschitschikow und umklammerte mit beiden Armen den einen Stiefel des Fürsten.

Der Fürst zuckte zusammen, ein Schauder rann ihm durch alle Adern. „Fort, fort mit ihm! sag ich!“ rief er, indem er seinen Fuß aus der Umklammerung Tschitschikows zu befreien versuchte.

„Durchlaucht! Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis Sie mir verziehen haben,“ sagte Tschitschikow, ohne den Fuß des Fürsten loszulassen, sodaß dieser, als er einen Schritt machte, ihn mitsamt seinem Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz auf dem Fußboden nach sich schleifte.

„Fort! Gehen Sie, sag ich Ihnen!“ rief der Fürst mit jenem unerklärlichen Gefühl des Ekels und Widerwillens, das ein Mensch beim Anblick eines häßlichen Insekts empfindet, ohne doch den Mut zu haben, es zu zertreten. Er riß seinen Fuß mit solcher Gewalt los, daß Tschitschikow einen Tritt vor Nase, Lippen und das wohlgerundete Kinn erhielt, aber er gab den Stiefel doch nicht frei und klammerte sich nur noch stärker an ihn. Zwei kräftige Gendarmen schleppten ihn nur mit Mühe fort, sie nahmen ihn unter den Arm und führten ihn durch die lange Zimmerflucht hinaus. Er war bleich und niedergeschlagen und befand sich in jenem furchtbaren und gefühllosen Zustande, wo der Mensch den finsteren und unabwendlichen Tod vor Augen sieht, dieses entsetzliche Schreckbild, das unserem ganzen Wesen so sehr widerspricht.

In der Tür, die auf die Treppe führte, begegnete ihnen Murasow. Ein Hoffnungsstrahl erhellte plötzlich Tschitschikows verdüstertes Gemüt. Mit geradezu unnatürlicher Kraft hatte er sich plötzlich aus den Händen beider Gendarmen losgerissen und warf sich nun vor dem erstaunten Murasow auf die Kniee.

„Pawel Iwanowitsch, Bester! was ist Ihnen?“

„Retten Sie mich! Man führt mich ins Gefängnis, aufs Schafott.“

Hier aber packten ihn die Gendarmen und führten ihn hinaus, ohne ihn ausreden zu lassen.

Eine feuchte dumpfe Zelle, in der es nach den Stiefeln und Fußlappen der Garnisonsoldaten duftete, ein ungestrichener Tisch, zwei schlechte Stühle, ein vergittertes Fenster und ein verfallener Ofen, der beständig rauchte, ohne zu wärmen — das war der Raum, in dem unser Held untergebracht wurde, er, der bereits begonnen hatte, die Wonnen des Lebens zu kosten und in seinem eleganten neuen Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz die Aufmerksamkeit seiner Mitbürger auf sich zu lenken. Man erlaubte ihm nicht, seine Sachen zu ordnen, er durfte nicht einmal seine Schatulle mit dem Gelde mitnehmen, das er sich mühsam erworben hatte ... All seine Papiere, die Verträge über den Kauf der toten Bauern — alles war jetzt in den Händen der Beamten. Er fiel auf die Erde und hoffnungsloser Gram fing an, einem gierigen Wurme gleich an seinem Herzen zu nagen. Immer heftiger zerfleischte er sein armes wehrloses Herz. Noch ein Tag, noch ein einziger Tag voll solchen Schmerzes, und wer weiß, ob Tschitschikow überhaupt noch auf der Welt gewesen wäre. Aber auch über Tschitschikow wachte eine schirmende und rettende Hand. Eine Stunde darauf öffnete sich die Türe des Gefängnisses und hereintrat: „der alte Murasow“.

Hätte jemand einem müden und erschöpften, von brennendem Durste gequälten und mit dem Staube und Schmutze des Weges bedeckten Wanderer ein paar Tropfen frischen Quellwassers in die trockene Kehle geträufelt, — es hatte ihn nicht so beleben können, wie dies Ereignis unsern armen Tschitschikow.

„Mein Retter!“ rief Tschitschikow plötzlich, indem er vom Fußboden aus, auf den er sich in seinem herzzerreißenden Schmerz niedergeworfen hatte, nach Murasows Hand griff, sie schnell küßte und an seine Brust drückte. „Gott lohne es Ihnen, daß Sie zu mir Unglücklichem kommen!“

Und er brach in Tränen aus.

Der Greis sah ihn mit traurigem schmerzlichem Blicke an und sagte nur: „Pawel, Pawel Iwanowitsch! Pawel Iwanowitsch! Was haben Sie getan?“

„Was soll ich machen! Er hat mich zugrunde gerichtet, der Verfluchte! Ich konnte nicht Maß halten; und verstand es nicht, zur rechten Zeit aufzuhören. Er hat mich verführt, der verfluchte Satan, daß ich alle Grenzen menschlicher Vernunft und Besonnenheit überschritt! Ja, ich habe gefehlt, ich habe schwer gefehlt! Und doch wie konnte man mich so behandeln. Einen Edelmann, ohne Untersuchung und ohne gerichtliches Urteil ins Gefängnis zu werfen! ... Einen Edelmann, Afanassij Wassiljewitsch! Man mußte mir doch wenigstens Zeit lassen, nach Hause zu gehen und meine Sachen zu ordnen? Es liegt ja noch alles so herum wie früher, und es ist niemand da, der sich darum kümmert. Meine Schatulle! Afanassij Wassiljewitsch! O meine Schatulle! Da steckt doch mein ganzes Vermögen drin, das ich mir im Schweiße meines Angesichts mit meinem Blut, durch jahrelange Mühen und Entbehrungen erworben habe. Meine Schatulle, Afanassij Wassiljewitsch! Sie werden mir ja alles stehlen und fortschleppen! O mein Gott, mein Gott!“

Er konnte sich nicht mehr beherrschen, und außerstande den Schmerz niederzukämpfen, der sein Herz krampfhaft erschütterte, fing er laut an zu schluchzen, mit einer Stimme, die durch die dicken Mauern des Gefängnisses hindurch drang und weithin widerhallte; er ergriff die Atlaskrawatte und den Kragen seines Anzugs und riß den herrlichen Frack von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz in Stücke.

„Ach Pawel Iwanowitsch, wie hat Sie doch die Gier nach Wohlstand und Reichtum verblendet, daß Sie sich nicht klar wurden über Ihre furchtbare Lage!“

„O mein Wohltäter! retten Sie mich, retten Sie mich!“ schrie der arme Pawel Iwanowitsch ganz verzweifelt, indem er vor ihm auf die Kniee sank. „Der Fürst liebt Sie. Für Sie wird er alles tun!“

„Nein, Pawel Iwanowitsch, ich kann nichts für Sie tun, selbst wenn ich es wollte, und so sehr ich es auch wünschte. Sie sind in die Macht des unerbittlichen Gesetzes und nicht in menschliche Hände gefallen!“

„Er hat mich verführt; der Satan! der Verdammte, dieser Auswurf des Menschengeschlechtes!“

Und er rannte mit dem Kopfe gegen die Wand und schlug so stark mit der Faust auf den Tisch, daß er sich seine Hand blutig schlug; aber er fühlte weder den Schmerz im Kopfe, noch die furchtbare Wucht des Schlages.

„Pawel Iwanowitsch, beruhigen Sie sich; denken Sie lieber daran, sich mit Ihrem Gotte auszusöhnen und nicht mit den Menschen; denken Sie an Ihre arme Seele!“

„O welch ein schreckliches Schicksal, Afanassij Wassiljewitsch. Ward je einem Menschen ein solch furchtbares Los zuteil? Mit welch geradezu mörderischer Geduld und Ausdauer habe ich mir jede Kopeke erspart; wahrlich mit harter Mühe und Arbeit, im Schweiße meines Angesichts habe ich sie erworben. Ich habe doch niemand beraubt oder die Staatskasse bestohlen, wie es andre Leute machen. Und wozu habe ich Kopeke auf Kopeke gespart? Um den Rest meiner Tage anständig zu verleben; um meiner Frau und meinen Kindern etwas zu hinterlassen, denn ich wollte mir eine Familie gründen, zum Wohle des Staates und um meinem Vaterlande zu dienen. Das war mein einziges Ziel. Ich habe unrecht getan; ich leugne es nicht, ich habe mich schwer vergangen ... aber was soll ich tun? Und doch wich ich erst da vom geraden Wege ab, als ich sah, daß der gerade Weg nicht zum Ziele führt, und daß der krumme eben der kürzere ist. Aber ich habe doch gearbeitet und mich ehrlich angestrengt. Wenn ich jemand was fortgenommen habe, so nahm ich’s nur den Reichen. Es gibt doch Schurken beim Gericht, die der Krone Tausende stehlen, die armen Leute plündern und denen, die nichts haben, die letzte Kopeke wegnehmen! Nein, sagen Sie, hab ich nicht Unglück? — noch jedes Mal, wenn ich die Früchte meiner Mühe zu ernten, sie schon sozusagen mit Händen zu greifen glaubte, brach ein Sturm über mich herein, strandete ich an einem Riff, und mein ganzes Schiff zerschellte. Einmal hatte ich schon dreihunderttausend Rubel Kapital in Händen und ein dreistöckiges Haus dazu, zweimal schon habe ich mir ein Gut gekauft ... Ach Afanassij Wassiljewitsch. Womit verdiente ich diese Schicksalsschläge? Glich denn nicht schon ohnedies mein Leben einem schwankenden Kahn auf stürmischem Ozean? Wo bleibt da die ewige Gerechtigkeit? Wo der Lohn für meine Geduld und meine unerhörte Ausdauer? Dreimal mußte ich von Anfang anfangen: nachdem ich alles verloren, begann ich von neuem, mit wenigen Kopeken in der Tasche, während sich ein anderer längst dem Trunke ergeben hätte und in der Schenke verkommen wäre. Wie vieles mußte ich in mir unterdrücken, wieviel mußte ich aushalten! Wahrlich, jede Kopeke ist sozusagen mit dem ganzen Aufgebot meiner Geisteskraft errungen! Wie leicht hatten es andre Leute, für mich aber war jede Kopeke wie das Sprichwort sagt mit einem silbernen Nagel festgenagelt, und diese festgenagelte Kopeke mußte ich mir, Gott sei mein Zeuge, mit geradezu eiserner Geduld und Unermüdlichkeit erringen.“

Er fing an zu schluchzen, ein unerträglicher Schmerz zerriß sein Herz; kraftlos sank er auf einen Stuhl nieder und riß dabei den einen herabhängenden halbzerfetzten Frackschoß vollends ab; er schleuderte ihn weit von sich, fuhr sich mit beiden Händen durch sein Haar, um dessen Pflege er sonst so eifrig bemüht war, und zerraufte es unbarmherzig; er schien sich an seinem eigenen Schmerze zu weiden, und sein durch nichts zu beschwichtigendes Herzeleid mit dem physischen Schmerz betäuben zu wollen.

Murasow saß ihm lange stumm gegenüber, in die Betrachtung dieses seltsamen noch nie gesehenen Schauspieles versunken. Unterdessen wand sich der unglückliche erbitterte Mensch, der sich noch vor kurzem mit der Gewandtheit und Ungezwungenheit eines Weltmannes oder Militärs bewegt hatte, in einem unwürdigen Aufzuge, mit zerzausten Haaren, zerrissenem Frack, aufgeknöpften Beinkleidern und mit blutender Hand zu seinen Füßen, fortwährend bittere Flüche gegen die feindlichen Mächte ausstoßend, die den Menschen befehden.

„Ach Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Was hätte aus Ihnen für ein Mensch werden können, wenn Sie sich mit derselben Kraft und Ausdauer einer ehrlichen Arbeit gewidmet und sich ein edleres Ziel gesteckt hätten. Herrgott! wieviel Gutes hätten Sie stiften können! Wenn doch nur einer der Menschen, die das Gute lieben, soviel Anstrengungen machte, wie Sie es taten, um Kopeke auf Kopeke zu häufen, wenn sie es doch verständen, ihre Eigenliebe und ihren Ehrgeiz so für das Gute zu opfern, ohne sich selbst zu schonen, wie Sie sich nicht schonten, um Ihren Besitz zu mehren! — Gott, wie herrlich würde es dann auf unserer Erde aussehen! ... Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Nicht das ist das Traurige, daß Sie schuldig wurden und sich an andern vergingen, sondern daß Sie sich so schwer an sich selbst vergangen haben: an Ihren reichen Kräften und Fähigkeiten, die Ihnen zuteil wurden. Es war Ihre Bestimmung: ein großer Mann zu werden, Sie aber haben Ihre Kräfte verzettelt und sich selbst zugrunde gerichtet.“

Es gibt unergründliche Tiefen der menschlichen Seele: wie weit sich auch der irrende Mensch vom geraden Wege entfernt haben, wie verstockt auch der unverbesserliche Verbrecher in seinen Gefühlen sein mag, wie trotzig er auf seinem lasterhaften Leben beharren mag: wenn man ihm sein besseres Selbst und seine von ihm selbst in den Kot gezogenen Tugenden vorhält, dann bäumt sich alles in ihm, und tieferschüttert steht er da.

„Afanassij Wassiljewitsch,“ sagte der arme Tschitschikow und ergriff Murasows beide Hände. „Oh! wenn es mir gelänge, frei zu kommen und mein Vermögen zurückzugewinnen! Ich schwöre Ihnen, ich würde von nun ab ein ganz neues Leben beginnen! Retten Sie mich, o mein Wohltäter, retten Sie mich!“

„Was kann ich nur tun? Ich müßte wider das Gesetz streiten. Aber selbst wenn ich mich dazu entschließen könnte, vergessen Sie eines nicht: der Fürst ist sehr gerecht, — er wird unter keinen Umständen nachgeben.“

„O, mein Wohltäter! Sie können alles erreichen! Mich schreckt das Gesetz nicht — gegen das Gesetz werde ich schon Mittel und Wege finden — was mich empört, ist dies: daß ich unschuldig ins Gefängnis geworfen wurde, wie ein Hund, daß mein ganzes Vermögen, meine Papiere, meine Schatulle .... O, retten Sie mich! Helfen Sie mir!“

Er umklammerte die Füße des alten Mannes und benetzte sie mit seinen Tränen.

„Ach, Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch!“ sagte der alte Murasow, indem er den Kopf schüttelte: „wie hat Sie doch dieser Reichtum verblendet! Sie denken nur an ihn und hören nicht auf Ihre arme Seele?“

„Ich will auch an meine Seele denken, nur retten Sie mich!“

„Pawel Iwanowitsch!“ sprach der alte Murasow und hielt einen Augenblick inne. „Es liegt nicht in meiner Macht, Sie zu retten — das sehen Sie doch selbst. Aber ich verspreche Ihnen, alles zu tun, was ich nur kann, um Ihr Los zu erleichtern, und Sie zu befreien. Ich weiß nicht, ob mir dies gelingen wird, aber ich werde mir die größte Mühe geben. Sollte ich jedoch wider Erwarten Glück haben: Pawel Iwanowitsch — dann bitte ich mir einen Lohn für meine Bemühungen aus. Pawel Iwanowitsch, ich flehe Sie an: lassen Sie ab von dieser Gier und Jagd nach dem Erwerb. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: wenn ich mein ganzes Vermögen verlöre — und es ist weit größer als das Ihrige — ich würde ihm keine Träne nachweinen. Wahrlich, was liegt am Besitz, den man mir jeden Tag konfiszieren kann, worauf es ankommt, das sind die Güter, die mir niemand zu nehmen oder zu stehlen vermag! Sie haben doch schon lange genug auf dieser Welt gelebt. Sie nennen ja Ihr Leben selbst einen schwankenden Kahn auf wogendem Meer. Sie besitzen genug, um den Rest Ihrer Tage sorglos verleben zu können. Lassen Sie sich in einem stillen Erdenwinkel nieder; in der Nähe einer Kirche, nahe bei schlichten braven Menschen, oder wenn Sie schon den glühenden Wunsch haben, Nachkommen zu hinterlassen, so heiraten Sie ein armes braves Mädchen, das an einfache Verhältnisse und an ein mäßiges Leben gewöhnt ist. Vergessen Sie diese lärmende Welt und all ihre Launen und Verführungen: es schadet gar nichts, wenn auch die Welt Sie vergißt: sie kann uns keinen Frieden gewähren, Sie sehen ja selbst: sie ist voller Feinde, Verführungen und Verrätereien.“

„Unbedingt, ganz unbedingt! Ich hatte schon die Absicht und wollte eben ein ordentliches Leben beginnen, wollte mich ganz der Landwirtschaft widmen und meine Bedürfnisse einschränken. Der Dämon der Verführung hat mich verwirrt und vom rechten Wege abgeführt, dieser Satan, dieser verfluchte Teufel, o diese Schlangenbrut!“

Ganz neue, ungeahnte Gefühle, die er sich nicht zu erklären vermochte, durchdrangen plötzlich seine Brust, es war, als ob sich in ihm etwas regte; und aus tiefem Schlummer erwachte etwas ganz Fernes, längst Vergessenes ... etwas, das eine strenge tote Lehre in frühester Kindheit im Keime erstickt hatte, das eine trübselige, trostlose Jugend, die Enge des Vaterhauses, die Einsamkeit seines traurigen Lebens fern von der Familie, die Armut und Armseligkeit der ersten Eindrücke in ihm unterdrückt hatten; und alles das, was das harte und kalte Auge des Schicksals, das ihn traurig und wie durch ein trübes, vom Schneesturme verwehtes Fenster angeblickt, in sein Inneres zurückgeschreckt hatte, schien sich nun plötzlich losreißen und nach außen drängen zu wollen. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust, er bedeckte sein Antlitz mit beiden Händen und sprach mit schmerzdurchzitterter Stimme: „Wahrhaftig, Sie haben recht!“

„Ihre Menschenkenntnis und Ihre Erfahrung haben Ihnen nicht geholfen, weil Sie sie in den Dienst des Unrechts stellten. Hätten Sie doch einer gerechten Sache gedient! ... Ach Pawel Iwanowitsch, warum haben Sie sich selbst zugrunde gerichtet. Erwachen Sie: noch ist es nicht zu spät, noch ist es Zeit ...“

„Nein, es ist zu spät, zu spät!“ stöhnte Tschitschikow mit einer Stimme, bei deren Klang Murasow fast das Herz springen wollte. „Ich fange an zu fühlen, zu begreifen, daß ich irrte und weit, weit vom rechten Wege abwich, aber ich kann nicht mehr anders! Nein, ich bin einmal so erzogen. Mein Vater hat mir beständig Moral gepredigt, hat mich geschlagen und mich schöne Sittensprüche abschreiben lassen, während er selbst vor meinen Augen den Nachbarn ihr Holz wegstahl und mich zwang, ihm dabei behilflich zu sein. Ich selbst war Zeuge, wie er einen falschen Prozeß begann und ein armes Waisenmädchen verführte, deren Vormund er war. Das lebendige Beispiel wirkt mehr als alle Moralpredigten. Ich sehe und fühle es sehr gut, daß ich ein schlechtes Leben führe, Afanassij Iwanowitsch, und doch verabscheue ich das Laster nicht: ich bin stumpf geworden, ich liebe das Gute nicht, und mir fehlt jene herrliche Neigung zu gottgefälligen Werken, die uns bald zur zweiten Natur, zur Gewohnheit wird ... Ich kann nicht mit demselben Eifer dem Guten dienen, der mich beseelt, wenn mir Reichtum und Wohlstand als Preis winken. Ich spreche die Wahrheit — was soll ich machen?“

Der Greis seufzte tief auf ....

„Pawel Iwanowitsch! Sie haben soviel Willenskraft, soviel Geduld und Ausdauer. Die Arznei schmeckt bitter, und doch schluckt sie der Kranke, denn er weiß: nur so kann er genesen. Sie lieben das Gute nicht — so zwingen Sie sich, das Gute zu tun, ohne es zu lieben. Das wird Ihnen noch höher angerechnet werden, als dem, der das Gute tut, weil er es lieb hat. Versuchen Sie es, sich nur ein paar Mal zu zwingen ... dann wird die Liebe schon von selbst kommen. Glauben Sie mir, es läßt sich alles erreichen. Es ist uns gesagt worden: Das Reich Gottes muß errungen werden. Es muß mit Gewalt erstürmt, mit Gewalt erworben und errungen werden. Ach, Pawel Iwanowitsch! Wahrlich: Sie besitzen diese Kraft, die so vielen andern fehlt, diese eiserne Geduld, und Sie sollten unterliegen? Wahrhaftig! ich glaube fürwahr: Sie waren ein Held, ein Heros heute in unserer Zeit, wo alle Menschen so schwach, so energie- und willenlos sind.“

Man sah förmlich, wie diese Worte Tschitschikow in die Seele drangen und den Ehrgeiz, der tief auf ihrem Grunde schlummerte, aufstachelten. War es auch kein bestimmter Entschluß, so war es doch etwas Starkes, Festes, was einem Entschlusse sehr ähnlich sah, das jetzt in seinen Augen aufblitzte ....

„Afanassij Wassiljewitsch!“ sprach er mit fester Stimme: „wenn es Ihnen gelingen sollte, mir die Freiheit und die Mittel zu verschaffen, damit ich diese Stadt wenn auch nur mit einem kleinen Vermögen verlassen kann, dann gebe ich Ihnen mein Wort, ich will ein neues Leben beginnen: dann kaufe ich mir ein kleines Gut, werde Landwirt und fange an zu sparen, nicht für mich selbst, sondern um andern zu helfen und Gutes zu tun, soweit es in meinen Kräften steht; ich will versuchen, mich selbst und all diese städtischen Diners und Schlemmereien zu vergessen, und ein einfaches nur der Arbeit gewidmetes Leben zu führen.“

„Gott stärke Sie in diesem Entschluß!“ sagte hocherfreut der alte Mann. „Ich will all meine Kräfte einsetzen, um den Fürsten zu bewegen, daß er Ihnen die Freiheit schenkt. Ob es mir gelingen wird, oder nicht, das weiß Gott allein. Auf jeden Fall wird Ihr Los erleichtert werden. O, mein Gott! Umarmen Sie mich, und lassen Sie sich umarmen! Wie haben Sie mich erfreut! Und nun behüte Sie Gott, ich gehe sofort zum Fürsten.“

Tschitschikow blieb allein.

Sein ganzes Wesen war aufs tiefste erschüttert. Er war ganz weich geworden. Auch das Platin, das härteste aller Metalle, das dem Feuer am längsten widersteht, schmilzt am Ende, wenn man die Flamme in der Esse anfacht, die Blasebälge stärker tritt und des Feuers Hitze zu unerträglicher Glut anschwillt — allmählich wird es weißer und immer weißer — das eigensinnige Metall, bis es sich endlich verflüssigt: so gibt auch der stärkste Charakter nach in der Esse der Leiden und Schicksalsschläge, wenn sie immer heftiger auf ihn niederhageln und mit ihrer unerträglichen Glut die harte Rinde seines Wesens erweichen ...

„Zwar verstehe und fühle ich es selbst nicht, doch aber will ich all meine Kräfte einsetzen, um es andre fühlen zu machen; zwar bin ich selbst schlecht, doch aber will ich all meine Kraft zusammennehmen, um andre zu bessern; zwar bin ich selbst ein schlechter Christ, doch aber will ich alles daransetzen, um kein Ärgernis zu geben. Ich werde selbst Hand anlegen und auf dem Lande im Schweiße meines Angesichts tätig sein; ich werde mir eine ehrliche Arbeit suchen, um auch auf andre einen guten Einfluß auszuüben. Bin ich denn zu gar nichts mehr nütze? Ich habe doch eine gewisse Befähigung zur Landwirtschaft, ich bin sparsam, flink, gewandt und besonnen, ich habe sogar Energie und Ausdauer. Man muß nur wollen ...“

So dachte Tschitschikow und schien mit halberwachten Seelenkräften etwas ahnend zu ergreifen. Es war fast, als fühlte er mit dunklem Instinkt, daß es eine Aufgabe gibt, die der Mensch hier auf Erden zu erfüllen hat, und die sich überall, in jedem Erdenwinkel erfüllen läßt, trotz aller widrigen Verhältnisse, trotz aller Zweifel und Unruhe, die den Menschen auf jedem Posten bestürmen, auf den er gestellt ist. Und das werktägige Leben, fern vom Lärm der Städte und den Versuchungen und Verführungen, die der müßige, von der Arbeit entwöhnte Mensch erdacht hat, stand plötzlich so deutlich vor ihm, daß er seine peinliche Lage beinahe vergaß und vielleicht sogar geneigt gewesen wäre, der Vorsehung für diesen harten Schicksalsschlag zu danken, wenn er seine Freiheit und wenigstens einen Teil seines Vermögens wiedererlangt hätte ... Aber da öffnete sich die kleine Türe zu seiner schmutzigen Zelle, und herein trat ein Beamter namens Ssamoswistow, ein flotter Bursche und Epikuräer, ein breitschultriger, schlanker, hochgewachsener Mann, ein ausgezeichneter Kamerad, ein Zechbruder und ein geriebener Kerl, wie ihn seine eigenen Freunde nannten. In Kriegszeiten hätte der Mensch wahre Wundertaten vollbracht: irgend einen Patrouillenritt durch gefährliche und unwegsame Gegenden ausführen, oder dem Feind eine Kanone vor der Nase wegstehlen — das wäre so etwas für ihn gewesen. Aber da es keine militärische Stelle für ihn gab, auf der man vielleicht einen anständigen Menschen aus ihm hätte machen können, so gab er sich die größte Mühe, allen Menschen schlechte Streiche zu spielen. Merkwürdig! Er hatte höchst sonderbare Ansichten und Grundsätze: seinen Freunden war er ein guter Kamerad, er verriet sie niemals und hielt ihnen gegenüber stets sein Wort; seine Vorgesetzten dagegen hielt er für eine Art feindliche Batterie, durch die man sich durchschlagen mußte, wobei es erlaubt war, jeden schwachen Punkt, jede Bresche und Fahrlässigkeit seitens des Gegners auszunutzen.

„Ich weiß schon, ich habe schon von Ihrer Sache gehört!“ sagte er, als er merkte, daß sich die Tür hinter ihm fest geschlossen hatte. „Macht nichts, macht nichts! Lassen Sie den Mut nicht sinken; wir bringen alles wieder in Ordnung. Wir werden uns alle für Sie bemühen. Wir stehen Ihnen ganz zur Verfügung. Dreißigtausend Rubel — für uns alle zusammen und die Sache ist gemacht.“

„Wirklich?“ rief Tschitschikow aus, „und ich werde ganz freigesprochen?“

„Ganz und gar! Sie bekommen sogar noch Schadenersatz für Ihre Verluste.“

„Und für Ihre Bemühungen?“

„Dreißigtausend. Alles inbegriffen — für die Unsrigen, für die Leute des Generalgouverneurs und für den Sekretär.“

„Aber erlauben Sie, wie kann ich nur? ... Meine Sachen ... meine Schatulle ... das ist doch alles versiegelt, in den Händen der Polizei ...“

„In einer Stunde haben Sie alles wieder! Schlagen Sie ein?“

Tschitschikow reichte ihm seine Hand. Sein Herz klopfte, er glaubte nicht recht, das es möglich sei ...

„Doch nun leben Sie wohl. Unser gemeinsamer Freund bittet mich Ihnen zu sagen: die Hauptsache ist: ruhig Blut und Geistesgegenwart!“

„Hm!“ dachte Tschitschikow, „ich verstehe: der Rechtsanwalt!“ Ssamoswistow entfernte sich. Als Tschitschikow sich wieder allein in seiner Zelle befand, wollte er noch immer nicht recht an dessen Worte glauben, aber es verging keine halbe Stunde, da wurde ihm schon seine Schatulle gebracht: die Papiere, das Geld — alles war in schönster Ordnung. Ssamoswistow spielte die Rolle eines Inspektors: er gab den Posten einen Rüffel, weil er nicht wachsam genug sei, gab dem Gefängnisaufseher den Befehl, noch ein paar Soldaten zur Verstärkung der Wache kommen zu lassen, beschlagnahmte die Schatulle und entnahm ihr sämtliche Papiere, die Tschitschikow im geringsten kompromittieren konnten, dann band er alles zusammen, versiegelte es und beauftragte einen Soldaten, das Paket sofort Tschitschikow zu überbringen, unter dem Vorwand, es befänden sich Bettwäsche und die notwendigsten Stücke der Nachttoilette darin, sodaß Tschitschikow zugleich mit seinen Papieren noch warme Sachen erhielt, mit denen er seinen sterblichen Leib zudecken konnte. Diese prompte Zustellung bereitete ihm eine unsagbare Freude. Er faßte wieder Hoffnung und schon fing er aufs neue an, von allerhand schönen Dingen zu träumen: vom Theater und einer reizenden Tänzerin, der er die Kur machte. Das Gut und die ländliche Stille verblaßten merklich, dagegen malte sich ihm die Stadt und ihr lärmendes Getriebe in weit helleren und klareren Farben ... „O Leben!“

Unterdessen hatte vor den Gerichten und Tribunalen ein Prozeß von geradezu grenzenlosen Dimensionen begonnen. Die Federn der Schreiber waren emsig an der Arbeit; gescheite Leute schnupften Tabak, zerbrachen sich die Köpfe, und hatten einen beinahe künstlerischen Genuß beim Studium dieser herrlichen schwungvoll geschriebenen Akten. Der Rechtsanwalt lenkte und leitete wie ein verborgener Zauberkünstler den ganzen Mechanismus; noch ehe jemand Zeit hatte sich umzusehen, hatte er alle in seinem Netze gefangen. Der Wirrwarr wurde immer größer. Ssamoswistow übertraf sich selbst durch seine geradezu unerhörte Kühnheit und Frechheit. Er brachte in Erfahrung, wo die jüngst verhaftete Frau untergebracht war, ging sofort hin und trat mit der sicheren und kecken Miene eines Chefs oder Vorgesetzten ein, so daß der Posten „Honneur“ machte und stramm stand. „Stehst du schon lange hier?“ — „Seit heute morgen, Euer Gnaden!“ — „Wirst du bald abgelöst?“ — „Um drei Uhr, Euer Gnaden!“ — „Ich werde dich brauchen. Ich werde dem Offizier sagen, daß er statt deiner einen andern herschicken soll.“ — „Zu Befehl, Euer Gnaden!“ Hierauf fuhr er nach Hause, und um nur ja niemand in die Sache zu verwickeln und alle Spuren zu verwischen, zog er sich sofort um. Er verkleidete sich als Gendarm und klebte sich einen künstlichen Schnurrbart und Backenbart an, sodaß ihn der Teufel selbst nicht erkannt hätte. Er ging in das Haus, wo Tschitschikow wohnte, ergriff das erste beste Weib, das ihm unter die Hände kam, übergab sie zwei jungen forschen Beamten, die auch eingeweiht waren, und erschien plötzlich ganz wie es sich gehört mit einem großen Schnauzbart und einem Gewehr vor dem Posten: „Marsch ... der Kommandeur hat mich hierher geschickt; ich soll dich ablösen.“ Er löste den andern ab und pflanzte sich selbst mit dem Gewehr in der Hand vor dem Eingang auf. Das war alles, was er brauchte. Unterdessen hatte man das eine Weib mit einem andren vertauscht, das überhaupt nichts wußte, und keine Ahnung von der ganzen Sache hatte. Das erste Weib wußte man so gut zu verstecken, daß später kein Mensch mehr herauskriegen konnte, wo es eigentlich geblieben war. Während Ssamoswistow so seine Rolle als Soldat spielte, vollbrachte der Rechtsanwalt seinerseits wahre Wundertaten auf dem bürgerlichen Schauplatz! Er ließ dem Gouverneur durch eine dritte Person mitteilen, daß der Staatsanwalt die Absicht habe, ihn zu denunzieren; dem Gendarmerieoberst ließ er mitteilen, daß ein Beamter, der sich im geheimen in der Stadt aufhielte, ihn denunzieren wolle; dem geheimnisvollen Beamten brachte er die Überzeugung bei, daß es einen noch geheimnisvolleren Beamten gäbe, der ihn denunzieren wolle — und er brachte alle dadurch in eine solche Lage, daß sich jeder an ihn wenden mußte, um sich Rat und Beistand zu holen. Es entstand ein furchtbarer Wirrwarr: eine Denunziation jagte die andre, es kamen unerhörte Dinge an den Tag, wie sie hier unter der Sonne noch nie vorgekommen, und sogar solche, die überhaupt nicht vorhanden waren. Jeder Plunder fand seine Verwendung, alles wurde hervorgeholt und ans Licht gezogen: daß einer ein unehelicher Sohn war, was für einen Beruf und Stand er hatte, daß er sich eine Maitresse hält, und wessen Frau einem andern nachläuft. Skandalgeschichten und allerhand schmutzige Affären wurden mit dem Fall Tschitschikow und den Toten Seelen derartig vermengt und in Verbindung gebracht, daß man absolut nicht herauskriegen konnte, welche von diesen Affären den tollsten Unsinn darstellte: beide waren einander wert. Als dann schließlich die Akten beim Generalgouverneur einliefen, konnte der arme Fürst überhaupt nichts mehr verstehn. Der Beamte, der den Befehl erhalten hatte, einen Extrakt oder Auszug aus den Akten zu machen, ein gewandter und gescheiter Mann, verlor darüber beinahe den Verstand, er konnte den roten Faden in der ganzen Sache durchaus nicht finden. Der Fürst hatte gerade um diese Zeit große Sorgen wegen einer ganzen Reihe anderer Angelegenheiten, von denen eine unangenehmer war, als die andre. In einem Teil der Provinz war eine Hungersnot ausgebrochen. Die Beamten, die hingeschickt worden waren, um Brot unter die Hungernden zu verteilen, hatten die Lebensmittel nicht in der richtigen Weise verwendet. In einem andern Teil der Provinz regten sich die Sektierer. Jemand hatte das Gerücht unter ihnen verbreitet, daß der Antichrist gekommen sei, der nicht einmal die Toten in Ruhe lasse und tote Seelen aufkaufe. Sie taten Buße, sündigten weiter und machten unter dem Vorwande, den Antichristen fangen zu wollen, ein paar Nicht-Antichristen den Garaus. An einer andern Stelle waren Unruhen unter den Bauern ausgebrochen; sie hatten sich gegen die Gutsbesitzer und gegen den Gendarmerieobersten empört. Ein paar Landstreicher hatten das Gerücht verbreitet, jetzt sei die Zeit gekommen, wo die Bauern Gutsbesitzer werden und Fräcke anziehen müßten, während die Gutsbesitzer den Bauernkittel anlegen und selbst Bauern werden müßten — und ein ganzer Bezirk hatte daraufhin, ohne zu überlegen, daß es unter diesen Umständen ja viel zu viele solche Gutsbesitzer und Gendarmerieoffiziere geben werde — die Steuern verweigert. Man mußte zu Zwangsmaßregeln greifen. Der arme Fürst war ganz verstimmt und befand sich in der höchsten Aufregung. Da teilte man ihm mit, der Branntweinpächter Murasow sei gekommen. „Er soll eintreten!“ sagte der Fürst. Der Greis betrat das Zimmer.

„Da haben Sie Ihren Tschitschikow. Sie setzten sich für ihn ein und versuchten, ihn zu verteidigen. Jetzt hat man ihn bei einer Sache ertappt, zu der sich der schlimmste Dieb und Räuber nicht hergegeben hätte.“

„Erlauben Sie mir, Ihnen mitzuteilen, Durchlaucht, daß ich die ganze Sache nicht recht gut verstehe.“

„Die Fälschung eines Testaments, und was für eine Fälschung! ... Darauf steht öffentliche Züchtigung mit der Knute!“

„Durchlaucht — was ich jetzt sage, sage ich nicht, um Tschitschikow zu verteidigen — aber das ist doch alles noch garnicht bewiesen: die Untersuchung hat ja noch garnicht stattgefunden.“

„Wir haben Beweise: die Frau, die die Rolle der Toten spielte, ist verhaftet. Ich will sie sofort in Ihrer Gegenwart verhören.“ Der Fürst klingelte und befahl, die Frau holen zu lassen.

Murasow schwieg still.

„Eine niederträchtige Gaunerei! Und ist es nicht eine Schande, daß die höchsten Beamten der Stadt, ja sogar der Gouverneur selbst in sie verwickelt sind. Er wenigstens dürfte doch nicht da sein, wo die Diebe und Faulenzer ihr Wesen treiben!“ sagte der Fürst heftig.

„Aber der Gouverneur ist doch einer der Erben; er hatte doch gewisse Rechte und Ansprüche darauf; und daß auch die andern von allen Seiten herbeigelaufen kamen und mit daran profitieren wollten — das ist doch nur menschlich, Durchlaucht! Eine reiche Frau stirbt, sie hinterläßt ein Testament, das weder klug noch gerecht ist, und nun strömen von allen Seiten Menschen zusammen, die gern was verdienen möchten — das ist doch alles so menschlich, so natürlich ...“

„Ja, aber wozu all diese schmutzigen Geschichten? ... Die Schurken!“ sagte der Fürst empört. „Ich habe nicht einen einzigen anständigen Beamten: lauter Lumpen.“

„Durchlaucht! wer von uns ist denn gut, d. h. ganz so, wie er sein sollte? Alle Beamten unserer Stadt sind doch Menschen, die haben ihre Vorzüge und ihre Tugenden, es gibt sehr viele unter ihnen, die ihre Sache wirklich verstehen und tüchtige Fachleute sind, aber wer ist denn frei von Sünde?“

„Hören Sie, Afanassij Wassiljewitsch: sagen Sie mir bitte — Sie sind der einzige ehrliche Mensch, den ich kenne — was macht es Ihnen eigentlich für ein Vergnügen, allerhand Schurken und Gauner in Schutz zu nehmen?“

„Durchlaucht!“ versetzte Murasow: „wie die Menschen auch sein mögen, die Sie Schurken und Gauner nennen — sie bleiben immer doch Menschen. Wie soll man denn den Menschen nicht in Schutz nehmen, wenn man weiß, daß er die Hälfte all seiner Übeltaten aus Roheit und Unwissenheit begeht. Wir tuen doch selbst auf Schritt und Tritt unrecht und stürzen jeden Augenblick andere Menschen ins Unglück, oft ohne jede böse Absicht. Durchlaucht haben doch auch neulich sehr ungerecht gehandelt!“

„Wie?“ rief der Fürst erstaunt aus. Er war aufs höchste überrascht durch die unerwartete Wendung, die die Unterhaltung nahm.

Murasow wartete ein wenig und schwieg: er schien zu überlegen und sagte schließlich: „Nun, denken Sie zum Beispiel an den Fall Derpennikow.“

„Aber Afanassij Wassiljewitsch! Das war doch ein Verbrechen gegen den Staat, das nahezu an Landesverrat grenzt!“

„Ich verteidige ihn nicht. Aber ist es denn gerecht, einen Jüngling, der sich infolge seiner Unerfahrenheit von anderen verführen und fortreißen läßt, ebenso hart zu bestrafen, wie einen der Rädelsführer? Dieser Derpennikow mußte doch dieselbe Strafe erleiden wie irgend ein Woronoi-Drjannoi, und doch war ihr Vergehen ganz verschieden.“

„Um Gottes willen ...“ sagte der Fürst, dem man seine Aufregung deutlich anmerkte: „Wissen Sie etwas davon? Sprechen Sie, ich bitte Sie! Ich habe erst neulich nach Petersburg geschrieben und gebeten, man möge sein Los mildern.“

„Nein, Durchlaucht, ich sage nicht, daß ich etwas weiß, was Sie nicht auch wissen. Es gibt allerdings einen Umstand, der ihm von Nutzen sein könnte, aber er würde selbst nichts davon hören wollen, weil das einem andern schaden würde. Ich meine bloß dies: ob Sie sich damals nicht vielleicht allzusehr übereilt haben? Verzeihen Sie mir, Durchlaucht, ich urteile nach meinem eigenen schwachen Verstande. Sie haben mir mehrmals geboten, aufrichtig zu sein. Als ich noch Direktor war, da hatte ich auch viele Arbeiter unter mir: gute und schlechte. Ich hätte damals auch das frühere Leben meiner Leute berücksichtigen müssen, denn wenn man nicht alles ganz kaltblütig überlegt, sondern die Menschen gleich anschreit — dann schüchtert man sie nur ein, und kriegt überhaupt nichts aus ihnen heraus; zeigt man ihnen dagegen Teilnahme und fragt sie nach allem, wie ein Bruder den Bruder fragt — dann sagen sie einem alles ganz von selbst und bitten gar nicht darum, daß man Gnade walten lassen solle; sie sind auch garnicht erbittert und zürnen niemandem, weil sie sehen, daß nicht wir sie bestrafen wollen, sondern das Gesetz.“

Der Fürst versank in Nachdenken, doch in diesem Augenblick trat ein junger Beamter ins Zimmer und blieb mit dem Portefeuille unter dem Arm ehrfurchtsvoll an der Türe stehen. Sorge und angestrengte Tätigkeit spiegelten sich auf seinem jungen und noch frischen Gesicht. Man sah es ihm an, daß er Beamter für besondere Aufträge war. Dies war einer der wenigen Menschen, die wirklich mit Liebe bei der Sache waren und denen das Aktenstudium Freude machte. Er hatte weder einen brennenden Ehrgeiz, noch einen heißen Durst nach Geld und Reichtum, noch suchte er es den andern gleichzutun, er arbeitete nur aus dem Grunde, weil er überzeugt war, daß er hier an dieser Stelle an seinem Platze war, wie an keiner andern der Welt, und daß das seine Lebensaufgabe sei. Wenn es galt, eine verwickelte Sache Schritt für Schritt zu verfolgen, zu analysieren, sie in ihre Teile zu zerlegen, in diesem Labyrinth den leitenden Faden zu entdecken, und alles aufzuklären, — dann war er in seinem Element. Er fand sich reichlich belohnt für seine Mühe und Arbeit und die vielen schlaflosen Nächte, wenn die Sache sich endlich aufzuhellen begann, wenn ihre geheimsten Triebfedern ans Licht kamen und er fühlte, daß er imstande war, sie mit wenigen Worten klar und deutlich darzulegen, sodaß sie jedem einleuchtete und vollkommen durchsichtig wurde. Man kann wohl sagen, kein Schüler freut sich so sehr, wenn ihm endlich der Sinn eines schwierigen Satzes oder die wahre Bedeutung des Gedankens eines großen Schriftstellers aufgeht, als er sich freute, wenn es ihm gelungen war, eine verwickelte Sache zu entwirren. Dafür aber ....

„... mit Brot in den Gegenden wo Hungersnot herrscht; ich kenne diesen Teil besser als die Beamten: ich will selbst untersuchen, was und wieviel ein jeder braucht. Und wenn Euere Durchlaucht gestatten, will ich auch persönlich mit den Sektierern reden. Unsereiner, d. h. ein einfacher Mann, kann sie ja doch leichter zum Reden bringen, und vielleicht gelingt’s mir mit Gottes Hilfe, die Sache auf friedlichem Wege zu schlichten. Die Beamten aber werden doch nicht mit ihnen fertig: da kommt es höchstens zu weitläufigen Schreibereien; sie werden ja schon so nicht mehr klug aus den Akten und sehen bald über all dem Papier die Sache selbst nicht mehr. Ich will auch von Ihnen kein Geld dafür haben, denn bei Gott, in solch einer Zeit wäre es wirklich eine Schande, noch an seinen Vorteil zu denken, wo die Menschen vor Hunger sterben. Ich habe noch etwas Korn in Reserve: außerdem habe ich schon nach Sibirien schicken lassen; bis zum nächsten Sommer erhalte ich wieder neues geliefert.“

„Gott allein kann es Ihnen vergelten, Afanassij Iwanowitsch, Sie leisten mir einen sehr großen Dienst damit. Ich sage Ihnen kein Wort mehr, weil hier — das werden Sie selbst fühlen — weil hier jedes Wort ohnmächtig wäre. Aber lassen Sie mich wenigstens noch eins über jene Bitte sagen. Sagen Sie selbst: habe ich denn das Recht, ganz über eine solche Sache hinwegzugehen, wäre es anständig und ehrlich von mir, diesen Schurken zu verzeihen?“

„Bei Gott! Durchlaucht, so darf man sie nicht nennen, um so mehr, da es viele ehrenwerte Männer unter ihnen gibt. Die Lage der Menschen ist oft schwer, Durchlaucht, oft sogar sehr schwer. Mitunter scheint es, daß ein Mensch nach allen Seiten hin schuldig ist, und wenn man dann näher zusieht — ist er es garnicht gewesen.“

„Aber was werden sie selbst sagen, wenn ich sie laufen lasse? Es gibt doch Leute unter ihnen, die nachher noch hochnäsiger werden und am Ende noch behaupten werden, sie hätten uns eingeschüchtert. Sie werden die ersten sein, die keine Achtung für ....“

„Durchlaucht, erlauben Sie mir, Ihnen meine Ansicht zu sagen: lassen Sie sie alle rufen, erklären Sie ihnen, daß Ihnen alles bekannt ist, schildern Sie ihnen Ihre eigene Lage, so wie Sie sie mir eben geschildert haben, und fragen Sie sie um Rat: was ein jeder von ihnen an Ihrer Stelle gemacht hätte.“

„Ja, glauben Sie denn, daß sie besseren Regungen zugänglich sind außer allerhand Intrigen und dem Wunsch, sich zu bereichern? Glauben Sie mir, sie werden mich auslachen.“

„Das glaube ich nicht, Durchlaucht. Jeder Mensch, selbst der, der schlechter ist als die andern, hat ein gesundes Gefühl für das Rechte. Es sei denn etwa irgend ein fremder Wucherer oder einer, der kein Russe ist .. Nein, Durchlaucht, Sie haben es nicht nötig, sich zu verstecken. Sagen Sie es ihnen ganz offen, wie Sie es mir gesagt haben. Sie schmähen sie ja doch und sagen, Sie seien ein stolzer und ehrgeiziger Mensch, der gar nichts hören will und sehr selbstbewußt ist — nun so mögen sie die Dinge sehen, wie sie sind. Was liegt Ihnen schließlich daran? Ihre Sache ist doch gerecht und gut. Sprechen Sie zu ihnen, als legten Sie nicht vor ihnen, sondern vor Gott selbst Rechenschaft ab.“

„Afanassij Iwanowitsch,“ sagte der Fürst nachdenklich: „ich will es mir überlegen, einstweilen aber danke ich Ihnen herzlich für Ihren Rat.“

„Und wie ist es mit Tschitschikow, Durchlaucht? Wollen Sie ihm die Freiheit schenken?“

„Sagen Sie diesem Tschitschikow, er soll machen daß er fortkommt, und zwar so schnell als möglich; je weiter er von hier ist, desto besser. Ihm könnte ich niemals verzeihen.“

Murasow verneigte sich und begab sich vom Fürsten direkt zu Tschitschikow. Er fand ihn bereits in der besten Laune, in höchster Seelenruhe mit einem respektablen Mittagessen beschäftigt, das ihm in mehreren Porzellanschüsseln aus einem gleichfalls recht respektablen Restaurant in die Zelle gebracht worden war. Aus seinen ersten Worten konnte der alte Herr sofort erkennen, daß Tschitschikow schon mit einzelnen von den gerissenen Beamten gesprochen hatte. Er begriff sogar, daß hier auch der gelehrte Rechtsanwalt seine unsichtbare Hand mit im Spiel hatte.

„Hören Sie, Pawel Iwanowitsch,“ sagte er, „ich bringe Ihnen die Freiheit, aber unter einer Bedingung, daß Sie sofort die Stadt verlassen. Packen Sie alle Ihre Sachen, und machen Sie, daß Sie fortkommen; Sie dürfen es keinen Augenblick aufschieben, sonst verschlimmern Sie nur Ihre Lage. Ich weiß, daß Ihnen irgend ein Mensch hier Verhaltungsmaßregeln gibt; daher will ich Ihnen verraten, daß man noch einer andern Affäre auf der Spur ist, und keine Macht der Erde wird ihn mehr retten können. Es macht ihm natürlich Spaß, auch andere Leute zugrunde zu richten, da es ihm allein zu langweilig wäre, aber die Sache wird bald aufgedeckt sein. Ich habe Sie in der besten Geistesverfassung zurückgelassen, in einer besseren als jetzt. Ich rate Ihnen daher ernstlich, folgen Sie meinem Rat. Ja, ja, es kommt wirklich nicht auf den Besitz allein an, um dessentwillen die Menschen sich miteinander streiten und einander umbringen, als ob es möglich wäre, hier auf Erden ein geordnetes Leben zu beginnen, ohne an das künftige zu denken. Glauben Sie mir Pawel Iwanowitsch, solange die Menschen nicht all das fahren lassen, um dessentwillen sie sich in dieser Welt auffressen und zerfleischen, und nicht daran denken, ihren geistigen Besitz in Ordnung zu bringen — wird es auch um den irdischen Besitz nicht wohlbestellt sein. Es werden Zeiten der Hungersnot und der Armut kommen, wie für ein ganzes Volk, so auch für den Einzelnen ... Das ist doch so klar. Sagen Sie, was Sie wollen, der Körper hängt doch von der Seele ab. Wie aber kann man dann verlangen, daß alles gut gehe? Denken Sie nicht an die toten Seelen, sondern an Ihre eigene lebendige Seele, und machen Sie sich mit Gottes Hilfe auf den Weg zu einem neuen Leben! Ich verreise auch morgen. Beeilen Sie sich! Es kann Ihnen schlecht gehen, — wenn ich nicht mehr da bin.“

Der Alte verstummte und ging hinaus. Tschitschikow versank in Nachdenken. Der Sinn des Lebens erschien ihm abermals in seiner hohen Bedeutung. „Murasow hat recht,“ sagte er, „es wird Zeit, einen andern Weg einzuschlagen.“ Mit diesen Worten verließ er das Gefängnis. Der Wachposten trug ihm die Schatulle nach ..... Seliphan und Petruschka waren ganz selig, als sie sahen, daß ihr Herr wieder frei war, und freuten sich, als ob Gott weiß was passiert wäre. „Nun, meine Lieben,“ sagte Tschitschikow, indem er sich gnädig an sie wandte: „jetzt müssen wir packen und abreisen.“

„Seien Sie unbesorgt, Pawel Iwanowitsch. Sie sollen sehen, wie wir fliegen werden,“ sprach Seliphan: „Wir werden jetzt einen guten Weg haben: es ist reichlich Schnee gefallen. Es ist wirklich Zeit, daß wir die Stadt verlassen. Wahrhaftig, ich habe sie bald so satt, daß ich sie garnicht mehr ansehen mag.“

„Geh zum Wagenbauer und sage ihm, er soll unsere Kutsche auf ein Schlittengestell setzen,“ versetzte Tschitschikow und ging selbst in die Stadt. Aber er konnte sich doch nicht entschließen, Abschiedsbesuche zu machen. Nach diesem unglücklichen Vorfall war es ihm peinlich, um so mehr, da in der Stadt allerlei äußerst ungünstige Gerüchte über ihn zirkulierten. Er suchte jeder Begegnung mit Bekannten sorgfältig aus dem Wege zu gehn und trat nur ganz unbemerkt in den Laden jenes Kaufmannes, bei dem er den Stoff von Navarinoscher Rauchfarbe mit Feuerglanz gekauft hatte; er erstand noch einmal vier Arschin zu einem Frack und Hosen und begab sich hierauf selbst zu demselben Schneider, der ihm den Anzug genäht hatte. Dieser erklärte sich bereit, seinen Fleiß und Eifer für den doppelten Preis gleichfalls zu verdoppeln und ließ das Völkchen seiner Gehilfen die ganze Nacht hindurch bei Kerzenlicht mit Schere, Bügeleisen und Zähnen arbeiten, sodaß der Frack noch am nächsten Tage fertig war. Die Pferde waren schon angespannt, aber Tschitschikow wollte den Frack dennoch erst anprobieren. Er war sehr schön, ganz ebenso schön wie der erste. Aber ach! Tschitschikow bemerkte etwas Glänzendes, weiß Schimmerndes zwischen seinen Haaren und murmelte schmerzlich: „Wie konnte ich mich auch so der Verzweiflung hingeben? Vor allem aber hätte ich mir die Haare nicht ausraufen dürfen!“ Nachdem er seine Schneiderrechnung bezahlt hatte, setzte er sich in seinen Wagen und verließ die Stadt in einer seltsamen Gemütsverfassung. Das war nicht mehr der alte Tschitschikow: das war nur noch eine Ruine des früheren Tschitschikow. Man konnte seinen inneren Seelenzustand mit einem zerstörten Gebäude vergleichen, das nur deswegen niedergerissen wurde, um ein neues daraus zu erbauen, mit dessen Wiederaufbau man jedoch noch nicht begonnen hat, weil der Architekt den definitiven Plan noch nicht gesandt und die Arbeiter im Zweifel sind, was sie tun sollen. Eine Stunde vor ihm war der alte Murasow zusammen mit Potapytsch in einem mit Matten gedeckten Zeltwagen abgefahren, und eine Stunde nach Tschitschikows Abreise erging der Befehl an die Beamten, vor dem Fürsten zu erscheinen: er verreise nach Petersburg und wolle sie vorher alle, bis auf den letzten noch einmal sehen.

In dem großen Saal des Hauses, welches der General-Gouverneur bewohnte, war die gesamte Beamtenschaft der Stadt versammelt vom Gouverneur bis zum letzten Titularrat: die Bürovorsteher und Abteilungschefs, allerhand Räte, Assessoren, Kislojedow, Krasnonossow, Samoswistow, solche die Geschenke annahmen und solche, die keine annahmen, ganze und halbe Heuchler und Pharisäer, und solche, die gar nicht heuchelten. Sie alle warteten nicht ohne Unruhe und Aufregung auf das Erscheinen des Generalgouverneurs. Endlich betrat der Fürst den Saal, er war weder finster noch heiter: sein Blick war ebenso fest wie sein Schritt. Die ganze Beamtenschaft verbeugte sich — viele verneigten sich tief bis zur Erde. Der Fürst antwortete mit einer leichten Verbeugung und begann folgendermaßen:

„Ehe ich nach Petersburg reise, hielt ich es für richtig, Sie noch einmal zu sehen und Ihnen wenigstens zum Teil den Anlaß zu meiner Reise mitzuteilen. Es hat sich hier eine sehr unangenehme und peinliche Sache abgespielt. Ich nehme an, daß viele von den Anwesenden wissen, welche Sache ich meine. Diese Sache hat zur Aufdeckung einer ganzen Reihe von Vorgängen geführt, die nicht weniger schmachvoll sind, und in die sogar solche Männer verwickelt scheinen, die ich bisher für rechtschaffen und ehrlich hielt. Mir ist auch die geheime Absicht bekannt, alles so zu verwirren und durcheinanderzubringen, daß es völlig unmöglich werde, diesen Fall auf dem formalen Rechtsweg zu entwirren und zu erledigen. Ich weiß auch, wer der Hauptschuldige ist, obwohl er es sehr klug und fein verstanden hat, alle Beweise für seine Teilnahme zu beseitigen. Nun aber habe ich mich entschlossen, der Sache nicht auf dem formalen Rechtswege noch auf dem Aktenwege nachzugehen, sondern sie wie in Kriegszeiten vor das Kriegsgericht zu bringen und rasch zu erledigen. Ich hoffe, daß der Kaiser mir die Vollmacht dazu geben wird, wenn ich ihm den ganzen Vorfall ausführlich darlege. In einem solchen Fall, wo es nicht möglich ist, den bürgerlichen Rechtsweg zu beschreiten, wo ganze Schränke mit Akten verbrennen, und wo man sich bemüht, durch einen Haufen von falschen Zeugnissen und unbegründeten Denunziationen eine schon an sich recht dunkle Affäre noch mehr zu verdunkeln — da halte ich das Kriegsgericht für das einzige zuverlässige Mittel, und ich wünsche Ihre Meinung darüber zu hören.“

Der Fürst hielt einen Augenblick inne, als erwarte er eine Antwort. Alle standen stumm da, den Blick zu Boden gesenkt. Viele waren sehr bleich geworden.

„Außerdem ist mir noch eine Sache bekannt geworden, obgleich ihre Urheber der festen Überzeugung leben, daß niemand etwas davon erfahren konnte. Auch dieser Fall soll nicht auf dem Aktenwege erledigt werden, da ich selbst hier der Ankläger und Supplikant bin, und Sie können sicher sein, daß ich zwingende und evidente Beweise vorlegen werde.“

Einer der Beamten zuckte zusammen, und einzelne von den Ängstlicheren wurden gleichfalls bestürzt und verlegen.

„Es versteht sich von selbst, daß der Hauptschuldige und Anstifter seiner Titel und Ränge entkleidet und daß sein Eigentum konfisziert werden wird. Die übrigen werden ihrer Ämter enthoben. Es versteht sich von selbst, daß zugleich mit ihnen auch viele Unschuldige werden mit leiden müssen. Aber was soll ich machen? Die Sache ist zu schmählich und schreit nach einer gerechten Strafe und Ahndung. Obwohl ich weiß, daß dies nicht einmal andern zur Lehre dienen wird, da wieder andere an ihre Stelle treten und die, welche bis zu heutigem Tage ehrlich waren, unehrlich und solche, denen man Vertrauen schenken wird, zu Betrügern und Verrätern werden werden — obwohl ich dies alles weiß, bin ich gezwungen, so hart und grausam zu verfahren, denn das Gesetz ist verletzt und fordert strengste Ahndung. Ich weiß, daß man mir Härte und Grausamkeit vorwerfen wird, aber ich weiß auch ... daß ich Sie in ein gefühlloses Werkzeug der Gerechtigkeit verwandeln muß, das auf die Häupter der Schuldigen herabfallen soll.“

Ein Zittern lief unwillkürlich über alle Gesichter.

Der Fürst war sehr ruhig. Weder Zorn noch Empörung spiegelte sich in seinen Zügen.

„Jetzt bittet euch derselbe, in dessen Händen das Schicksal vieler liegt und den selbst keine Bitten zu erreichen vermochten, jetzt fleht er euch alle an: Alles soll vergessen, jede Schuld soll getilgt und vergeben sein: ich will euer aller Fürsprecher sein, wenn ihr meine Bitte erfüllen wollt. Meine Bitte aber ist diese: Ich weiß, daß kein Mittel, keine Einschüchterung und keine Strafe imstande ist, das Unrecht auszurotten, es hat schon zu tief Wurzeln gefaßt. Die schimpfliche Sitte, Geschenke anzunehmen, ist zur Notwendigkeit und zum Bedürfnis geworden, selbst bei solchen Leuten, die nicht mit der Anlage zum Bösen geboren wurden. Ich weiß wohl, daß es für viele beinahe unmöglich ist, gegen die allgemeine Strömung zu schwimmen. Und doch muß ich heute, in einem entscheidenden und großen Augenblick, wo das Vaterland in Gefahr ist, und wo ein jeder Bürger alles auf sich nimmt und alles zum Opfer bringt, — einen Ruf an Sie ergehen lassen, oder doch wenigstens an die unter Ihnen, die noch ein russisches Herz in der Brust tragen, und für die Großherzigkeit und Edelmut noch keine leeren Worte geworden sind. Wozu wollen wir hier davon reden, wer von uns am meisten schuldig ist? Vielleicht trage ich die größte Schuld; vielleicht habe ich Sie zuerst allzu strenge und unfreundlich empfangen; vielleicht habe ich durch meinen übertriebenen Argwohn so manchen unter euch abgestoßen, der den ehrlichen Willen hatte, mir nützlich zu sein, obgleich auch ich meinerseits etwas tun konnte .... Wenn Sie wirklich wollten, daß die Gerechtigkeit auf der Seite Ihres Landes sei, wenn Sie Ihr Vaterland wirklich lieb gehabt hätten, dann durften Sie sich nicht durch den Stolz und die Härte meines Auftretens gekränkt fühlen; Sie mußten Ihren Ehrgeiz und Ihre verletzte Eitelkeit unterdrücken und Ihr eigenes Ich zum Opfer bringen. Ich hätte Ihre Selbstlosigkeit und Ihre hohe Liebe zum Guten unmöglich nicht bemerken und mein Ohr unmöglich Ihren verständigen und nützlichen Ratschlägen verschließen können. Am Ende muß sich doch der Untergebene an den Charakter seines Vorgesetzten und nicht der Vorgesetzte an seine Untergebenen anpassen. Jedenfalls wäre das richtiger und bequemer, denn die Untergebenen haben nur einen Vorgesetzten, während der Vorgesetzte viele Hunderte von Untergebenen hat. Aber lassen wir es jetzt beiseite, wer hier die meiste Schuld trägt. Jetzt handelt es sich darum, daß uns die Pflicht auferlegt ward, das Vaterland zu retten; unser Vaterland geht nicht daran zugrunde, daß zwanzig fremde Völkerstämme uns mit Krieg überziehen, es geht zugrunde an uns selbst; denn neben der rechtmäßigen Regierung und Verwaltung hat sich noch eine andre Regierung gebildet, die weit stärker ist als jede gesetzliche Macht. Man hat bestimmte Forderungen aufgestellt, alles ist genau taxiert und abgeschätzt, und die Preise sind bereits allgemein bekannt gegeben. Und kein Regierender vermag es, selbst wenn er weiser wäre als alle Gesetzgeber und Regierenden der Welt, das Übel wieder auszurotten, und wenn er die schlechten Beamten tausendmal in ihren Machtbefugnissen beschränkte, indem er noch andre Beamten anstellte, um jene zu beaufsichtigen. Alles ist umsonst, bis ein jeder von uns fühlen lernt, daß er ganz so, wie er sich in der Zeit der Volksaufstände wappnete ... heute wappnen muß gegen Unrecht und Unwahrheit. Als Russe, als ein Mensch, der durch die heiligen Bande der Blutsverwandtschaft mit euch verbunden ist, in dessen Adern dasselbe Blut fließt wie in den euren, wende ich mich in diesem Augenblick an euch. Ich wende mich an die unter euch, die einen Begriff davon haben, was eine vornehme Denkungsart ist. Ich fordere euch auf, euch an die Pflicht zu erinnern, die dem Menschen vorgezeichnet ist, an jedem Punkte, wo er steht. Ich bitte euch, euch dieser eurer Pflicht und der Bedeutung eures irdischen Berufes klarer bewußt zu werden, weil uns dieses nur dunkel vorschwebt, und weil wir kaum ...“

Novellen

übersetzt von
Mario Spiro und S. Bugow

Der Mantel

In einer Ministerial-Abteilung ...

Aber es ist sicher besser, ich sage nicht in welcher. In Rußland nämlich gibt es keine empfindlichere Menschenklasse, als die der Ministerial-, Armee- und Kanzleibeamten, kurz, aller derer, die man im allgemeinen unter dem Namen „Bürokraten“ zusammenzufassen pflegt. Hält sich heutzutage der eine von ihnen für auch nur ein wenig in seiner Ehre gekränkt, so bildet er sich sogleich ein, daß in seiner Person auch die ganze Gesellschaft eine Unbill erlitten hat. So soll neulich einmal ein Kreisrichter — ich weiß nicht mehr, in welcher Stadt — einen Bericht abgefaßt haben, in dem er dartun wollte, daß man den Erlassen der Regierung nicht mehr die gebührende Achtung entgegenbringe, erfreche man sich doch sogar, dem geheiligten Titel eines Kreisrichters eine verächtliche Nebenbedeutung beizulegen. Und zum Beweise dafür hatte er seinem Berichte einen riesigen Folianten beigelegt, eine Art Roman, in dem man auf jeder zehnten Seite einem völlig berauschten Kreisrichter begegnen konnte. Um also von vornherein allen künftigen Reklamationen den Riegel vorzuschieben, habe ich es vorgezogen, den Schauplatz der folgenden Vorgänge undeutlich zu lassen und mich mit der Angabe: In einer Ministerialabteilung zu begnügen. In einer Ministerialabteilung war ein Individuum beschäftigt, natürlich ein Beamter, der — ich kann es leider nicht verschweigen — ein wenig schlicht und unbedeutend aussah. Er war recht klein, und pockennarbig, hatte rote Haare, die ihm jedoch an der Stirn bereits ausgefallen waren, und war sogar etwas kurzsichtig, beide Wangen waren voller Runzeln, und sein Gesicht hatte eine bleiche Farbe, wie bei allen Leuten, die an Hämorrhoiden leiden. Was soll man machen. So sah nun mal unser Held aus, so hatte ihn das Petersburger Klima verunstaltet. Was seinen Rang im Amte betrifft — denn bei uns ziemt es sich vor allem, den Rang eines Beamten festzustellen — so war er das, was man im allgemeinen unter einem ewigen „Titular-Rat“[9] versteht; d. h. er war einer jener Unseligen, die bekanntlich schon so oft die ironischen Pfeile gewisser Schriftsteller herausgefordert haben, einer Menschenklasse, die die beklagenswerte Angewohnheit hat, Arme, die sich nicht zu verteidigen vermögen, anzugreifen. Der Familienname dieses Beamten war Baschmatschkin (zu deutsch Schuhmann). Dieser Name läßt deutlich erkennen, daß er von dem Worte Schuh herstammt; wann und zu welcher Zeit er jedoch von einem Schuh hergeleitet worden ist, das ist völlig unbekannt. Der Vater, der Großvater und sogar der Schwager unseres Beamten, sowie überhaupt sämtliche Baschmatschkins hatten immer nur Stiefel getragen, die sie sich dreimal im Jahre neu sohlen ließen. Der Vor- und Vatername unseres Helden war Akakij Akakiewitsch. Vielleicht wird der Leser diese Namen etwas seltsam und gesucht finden, aber ich kann ihm die Versicherung geben, daß dem nicht so ist, sondern daß die Umstände es zur Unmöglichkeit gemacht hatten, ihm andere Namen zu geben. Man höre, wie das kam! Akakij Akakiewitsch wurde, wenn mich nicht alles trügt, in der Nacht zum 23. März geboren. Seine verstorbene Mutter, die einen Beamten geheiratet hatte, eine gute, einfache Frau, ging natürlich, wie sich’s auch gebührt, sofort daran, ihren Neugeborenen taufen zu lassen. Die Mutter lag noch im Bette, das sich der Türe gegenüber befand, zu ihrer Rechten stand der Pate, Iwan Iwanowitsch Jeroschkin, eine sehr gewichtige Persönlichkeit seines Amtes, Bürochef im Senate, — und ihm zur Linken die Patin Arina Semenowna Biellobruschkow, die Frau eines Polizei-Inspektors, die mit mancherlei Vorzügen ausgestattet war. Man schlug der Wöchnerin drei Namen zur Auswahl vor: Mokius, Sosias oder den des Märtyrers Chosdasat.

„Nein,“ dachte sie, „die gefallen mir alle nicht!“

Um ihren Wünschen Rechnung zu tragen, schlug man im Kalender ein anderes Blatt auf und legte den Finger auf drei andere Namen: Trifili, Dula und Warachatius. „Aber das ist ja wie eine Strafe Gottes!“ rief die alte Mutter aus. „Hat man jemals solche Namen gesehen? Wahrhaftig, heute höre ich sie zum ersten Male in meinem ganzen Leben. Wenn es wenigstens noch Waradat oder Baruch wäre, aber Trifili und Warachatius!“

Man blätterte von neuem im Kalender und fand nun Pawsikachi und Wachtissi.

„Nein, nun wird es mir klar,“ rief die Alte, „es soll nicht sein! So mag er denn meinetwegen den Namen seines Vaters bekommen, wenn man nun einmal keinen besseren wählen kann. Der Vater heißt Akaki. So mag der Sohn denn auch Akaki heißen!“ Und so taufte man ihn denn auf den Namen Akaki Akakiewitsch. Das Kind wurde über den Taufstein gehalten: natürlich schrie es hierbei und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, wie wenn es hätte ahnen können, daß es eines Tages Titular-Rat werden würde. So aber spielte sich dies alles ab. Wir haben diese Tatsachen deshalb so breit erzählt, damit der Leser sich davon überzeugen kann, daß es gar nicht anders hätte kommen können und daß ein anderer Name für den kleinen Akaki unmöglich gewesen wäre.

Zu welcher Zeit Akaki Akakiewitsch in die Kanzlei eintrat und wer ihm dort einen Platz verschaffte, vermag heute niemand mehr zu sagen. Wie viele Vorgesetzte aller möglichen Schattierungen auch schon aufeinander gefolgt waren, er nahm unentwegt seinen alten Platz ein, man sah ihn stets auf demselben Stuhle sitzen, in derselben Haltung, über dieselbe Arbeit gebeugt, mit demselben Range, so daß man hätte glauben können, daß er schon in diesem Zustande fertig auf die Welt gekommen sei, mit seinen kahlen Schläfen und in seiner Dienstuniform. — In der Kanzlei, in der er angestellt war, nahm niemand auch nur die geringste Rücksicht auf ihn. Selbst die Bureaudiener erhoben sich nicht bei seinem Eintritte, sie beachteten ihn nicht im mindesten und rechneten mit ihm nicht mehr als mit einer Fliege, die gerade davongeflogen war. Seine Vorgesetzten behandelten ihn mit kalter Herrschsucht. Die Gehilfen des Bureauchefs dachten nicht einmal daran, ihm zu sagen, wenn sie vor ihm einen Stoß von Papieren aufhäuften:

„Haben Sie doch die Güte, dieses hier abzuschreiben!“ —

oder etwa:

„Das ist etwas sehr Interessantes, eine äußerst angenehme Arbeit!“

oder irgend ein angenehmes Wort, wie es unter wohlerzogenen Beamten am Platze ist.

Akaki nahm jedoch stets die Akten an, ohne danach zu fragen, wer sie vor ihm hingelegt hatte, und ob der Betreffende überhaupt dazu berechtigt gewesen war. Er nahm sie und begann sie sofort getreulich abzuschreiben. Seinen Kollegen, die bei weitem jünger als er waren, diente er als Gegenstand für ihre Spöttereien und zur Zielscheibe für ihre Geistesblitze — soweit man bei Beamten und besonders bei Kanzleibeamten überhaupt von Geist reden kann. Bald erzählten sie sich eine Menge erfundener Geschichten über ihn und über die Frau, bei der er wohnte, eine siebzigjährige Greisin. Man sprach davon, daß sie ihn hin und wieder verprügle, man fragte ihn, wann er denn mit ihr vor den Altar treten wolle. Oder man ließ auch auf sein Haupt Papierkügelchen herabregnen und wollte ihm dann weismachen, daß es Schneeflocken wären. Aber Akaki schenkte diesen Attacken nicht die geringste Beachtung; er erweckte den Eindruck, als wüßte er garnichts von der Gegenwart der andern. Alle diese kleinen Quälereien taten seiner Beharrlichkeit im Arbeiten keinen Abbruch, und trotz all dieser Versuchungen lief ihm auch nicht ein einziger Schreibfehler unter. Wurde ihm jedoch einmal der Scherz zu unerträglich, zerrte man ihn etwa am Arme und hinderte ihn am Schreiben, so sagte er auch dann nur:

„Lassen Sie mich doch in Ruhe! Warum wollen Sie mich denn durchaus beleidigen?“ Und es lag etwas merkwürdig Rührendes in diesen Worten und in der Art, wie er sie sprach.

Eines Tages geschah es, daß ein junger Mann, der soeben eine Anstellung im Bureau erhalten hatte und nach dem Beispiel der andern sich auf seine Kosten lustig machen wollte, beim Klange dieser Stimme dastand, als hätte er einen Stich ins Herz bekommen, — und von nun an sah er den alten Beamten mit ganz andern Augen an.

Man hätte meinen können, daß eine übernatürliche Macht ihn von seinen Kollegen, die er soeben erst kennen gelernt und die er zuerst für gebildete und anständige Leute gehalten hatte, trennte. Ja bald empfand er vor ihnen nur noch einen starken Widerwillen. Und noch viel später mitten in der lustigsten Gesellschaft stand ihm das Bild dieses alten kleinen Titularrates mit der kahlen Stirn vor Augen und in seinen Ohren tönten die Worte wider:

„Lassen Sie mich doch! Weshalb wollen Sie mich denn durchaus beleidigen?“

Und er hörte mit diesen Worten auch noch andere, die in ihnen schlummerten:

„Bin ich nicht euer Bruder?“

Der junge Mann verbarg sein Gesicht in den Händen, und oft noch zuckte er später bei der Erkenntnis zusammen, daß das menschliche Herz doch nur wenig menschliche Empfindung in sich berge, und daß soviel Härte und Roheit selbst denen eigen wäre, die eine feine und vornehme Erziehung genossen hätten, und o Gott! auch in denen, die im allgemeinen für gütige und ehrenwerte Menschen galten.

Nirgends konnte man einen Beamten finden, der seinen Pflichten mit gleichem Eifer oblag wie unser Akaki Akakiewitsch. Was sage ich, mit gleichem Eifer — arbeitete er doch mit Liebe, mit Leidenschaft. Wenn er Akten abschrieb, so öffnete sich vor ihm eine überaus schöne, eine freundliche Welt. Man konnte von seinen Zügen das Vergnügen, das ihm das Kopieren bereitete, ablesen. Es gab für ihn Lieblingsbuchstaben, die er mit einer ganz besonderen Genugtuung malte — in der wahren Bedeutung des Wortes; kam er an eine wichtige Stelle, so wurde er ein ganz anderer: er lächelte, seine Augen funkelten, seine Lippen bewegten sich, — und wer ihn kannte, konnte leicht aus seiner Physiognomie ersehen, welchen Buchstaben er jetzt gerade druckte.

Wäre er nach Verdienst belohnt worden, so hätte er sich zu seinem eigenen Erstaunen vielleicht zum Range eines Staatsrates erhoben gesehen. Aber, wie seine witzigen Kollegen sagten, durfte er in seinem Knopfloche nichts wie eine Schnalle tragen, und seine ganze Beharrlichkeit trug ihm nur Hämorrhoiden ein.

Übrigens muß ich hier hinzufügen, daß er eines Tages doch eine gewisse Aufmerksamkeit erregte. Ein Direktor, ein anständiger, wohlgesinnter Mann, der ihn für seinen langen Dienst belohnen wollte, befahl, ihm eine wichtigere Arbeit anzuvertrauen als die, die in der Kopierung der gewöhnlichen Akten bestand, und zwar sollte er einen Bericht an irgend eine andere Behörde abfassen, die Titel verschiedener Akten ändern und im ganzen Texte das Pronomen der ersten Person durch das der dritten ersetzen.

Akaki machte sich an die Arbeit, aber sie erregte ihn derartig, sie kostete ihn solche Anstrengungen, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann und er endlich ausrief:

„Nein, gebt mir lieber etwas zum Abschreiben!“

Und von nun an ließ man ihn bis an sein Lebensende kopieren.

Es schien fast, als ob außer seinen Kopieen nichts auf der Welt für ihn existiere. An seinen Anzug dachte er nie. Seine ursprünglich grüne Uniform hatte allmählich eine mehlig-rote Farbe angenommen; sein Kragen war so eng und so niedrig, daß sein Hals, der eigentlich kurz war, beträchtlich über ihn hinausragte und abnorm lang erschien, ähnlich wie bei jenen Gipskatzen mit beweglichen Köpfen, die die fremden Hausierer in den russischen Dörfern feilbieten, um sie an die Bauern zu verkaufen.

Stets gab es irgend ein Ding, das an seiner Kleidung haften geblieben war, — bald ein Faden, bald ein Strohhalm. Außerdem hatte er eine ganz besondere Vorliebe dafür, gerade in dem Momente unter einem Fenster vorbeizugehen, wo man aus ihm einen nichts weniger als reinlichen Gegenstand auf die Straße warf, und nur selten war sein Hut nicht mit einer Melonenschale oder ähnlichem Plunder garniert. Niemals fiel es ihm ein, sich mit dem, was auf den Straßen vor sich ging und alltäglich vor sich geht, zu beschäftigen, mit Dingen, die die kecken forschenden Blicke seiner jungen Kollegen unbedingt auf sich zogen; ja, die waren gewohnt, wenn sie spazieren gingen, auf dem entgegengesetzten Trottoir sofort alles Merkwürdige herauszufinden, wenn etwa ein Sterblicher mit zerrissenen Beinkleidern sich zeigte, was ihnen stets ein boshaftes Lächeln entlockte.

Akaki Akakiewitsch seinerseits sah nur die geraden und regelmäßigen Linien seiner Kopieen vor sich, und er mußte schon plötzlich an die Schnauze eines Pferdes, das ihm seinen vollen Atem ins Gesicht blies, geraten, um sich zu erinnern, daß er sich nicht vor seinem Pult befand, vor seinen schönen kalligraphischen Musterbeispielen, sondern mitten auf der Straße. Und kam er nach Hause, so setzte er sich sofort zu Tisch, schlang hastig seine Kohlsuppe hinunter und verzehrte dann unbekümmert um das, was man ihm vorsetzte, irgend ein Stück Rindfleisch mit Knoblauch — samt den Fliegen und andern Lieblichkeiten, die Gott und der Zufall dazugetan hatten. Hatte er seinen Magen gefüllt, dann stand er auf, holte ein kleines Tintenfaß aus der Tasche und begann pflichtgemäß die Akten abzuschreiben, die er sich nach Hause mitgenommen hatte. Hatte er zufällig gerade keine dienstlichen Schriftstücke abzuschreiben, so kopierte er zu seinem eigenen Vergnügen Dokumente, denen er eine besondere Wichtigkeit beimaß — nicht wegen ihrer mehr oder weniger interessanten Fassung, sondern weil sie an irgend eine hochgestellte Persönlichkeit gerichtet waren.

Selbst dann, wenn der graue Himmel St. Petersburgs von dem Schleier der Nacht verhüllt ist und der ganze Beamtenstab sein Mahl je nach seinen gastronomischen Neigungen und dem Gewichte seiner Börse eingenommen hat, — wenn alle Welt sich von dem Kratzen der Federn im Bureau, von den Sorgen und den Geschäften und all den Unbequemlichkeiten, die sich die unruhigen Menschen oft selbst unnützerweise auferlegen, zu erholen sucht, so ist es ganz natürlich, daß die Beamten den Rest des Tages irgend einer persönlichen Zerstreuung widmen. Die einen fahren ins Theater, die andern gehen spazieren und vergnügen sich damit, die Toiletten und Hüte zu betrachten, andere wieder besuchen eine Soirée, wo sie an irgend ein hübsches Mädchen — irgend einen Stern, der am bescheidenen Horizonte ihres bürokratischen Himmels aufsteigt, einige zärtliche und tiefempfundene Worte richten. Manche dagegen — und diese sind die zahlreichsten — besuchen einen Kollegen, der im dritten oder vierten Stockwerke eine kleine Wohnung, bestehend aus einer Küche und einem Zimmer inne hat, ja einem Zimmer, das einen mühselig erbeuteten Luxusgegenstand, eine Lampe oder irgend einen auf Grund langer Einschränkungen gekauften Artikel birgt.

Kurz, es ist die Stunde, da jeder Beamte auf die eine oder die andere Weise seinem Müßiggange nachgeht: hier spielt man eine Partie Whist, dort nimmt man Tee mit billigen Bisquits zu sich oder man raucht aus einer langen Pfeife Tabak. Man erzählt sich die Skandalgeschichten, die in der großen Welt passieren, denn in welcher Situation sich der Russe immer befinden mag, nie kann er seine Gedanken von seiner offiziellen Gesellschaft wegwenden, über die so kuriose Anekdoten im Umlaufe sind, wie zum Beispiel die von dem Kommandanten, dem heimlich hinterbracht wird, irgend ein Schurke habe dem Pferde auf dem Standbild Peters des Großen den Schweif abgeschnitten.

Mit einem Wort, selbst in diesen Stunden der Erholung und des Amüsements blieb Akaki Akakiewitsch seinen Gewohnheiten treu. Niemand hätte sagen können, daß er ihn auch nur ein einziges Mal des Abends in Gesellschaft gesehen habe. Wenn er vom vielen Abschreiben müde geworden war und nicht mehr weiter konnte, legte er sich zu Bett und dachte an die Freuden des folgenden Tages, an all die schönen Kopieen, die ihm der liebe Gott noch reserviert hatte.

So floß das friedliche Leben eines Mannes hin, der bei einem Einkommen von vierhundert Rubeln mit seinem Schicksale vollkommen zufrieden war, und er würde vielleicht ein hohes Alter erreicht haben, wäre er nicht einem unglücklichen Zwischenfall zum Opfer gefallen, wie er nicht nur Titularräte, sondern auch die geheimen, die wirklichen Staatsräte, die Hofräte und selbst die, die niemals einen Rat geben oder empfangen, treffen kann.

In St. Petersburg haben alle diejenigen, die nur über ein Einkommen von ungefähr vierhundert Rubeln verfügen, einen furchtbaren Feind, und dieser gräßliche Feind ist kein anderer als der nordische Winter, obwohl man im allgemeinen behauptet, er wäre der Gesundheit sehr zuträglich.

Gegen neun Uhr morgens, wenn die Beamten der verschiedenen Ämter sich in ihr Bureau begeben, sticht ihnen die Kälte ohne Unterschied so sehr die Nase, daß die meisten von ihnen nicht wissen, wohin sie sie verstecken sollen.

Wenn in solchen Augenblicken die hohen Würdenträger in Person so sehr unter der Kälte leiden, daß ihnen die Stirne weh tut und die Tränen in die Augen steigen, wie schlimm muß es da erst den Titularräten ergehen, die doch über gar keine Mittel verfügen, um sich gegen die Unbilden der Kälte zu schützen. Da sie sich nur in einen leichten Mantel haben hüllen können, so bleibt ihnen als letzte Rettung nur übrig, fünf oder sechs Straßen im Eilschritt zu durchlaufen und sodann bei dem Portier halt zu machen, um hier so lange auf den Füßen herumzuspringen, bis sie ihre eingefrorenen bureaukratischen Fähigkeiten wiedererlangt hatten.

Seit einiger Zeit empfand Akaki Akakiewitsch im Rücken und in den Schultern einen stechenden Schmerz, obwohl er in großer Eile und außer Atem die Entfernung von seiner Wohnung zu seinem Bureau zu durchlaufen pflegte. Nachdem er lange hierüber nachgedacht hatte, gelangte er schließlich zu der Annahme, daß sein Mantel nicht mehr ganz intakt sein müsse. Kaum war er in sein Zimmer eingetreten, als er dieses Kleidungsstück sorgfältig untersuchte und hierbei feststellte, daß der einst so kostbare Stoff an zwei oder drei Stellen sich in den reinsten Tüll verwandelt hatte und so dünn geworden war, daß er fast durchsichtig schien; außerdem war das Futter völlig zerrissen. Man muß nämlich wissen, daß dieser Mantel schon lange zur Zielscheibe für die Spöttereien von Akakis mitleidslosen Kollegen gedient hatte. Ja, man hatte ihm sogar die edle Bezeichnung eines Mantels entzogen, um ihn Kapuze zu taufen. Tatsache ist allerdings, daß dieses Kleidungsstück ein äußerst merkwürdiges Aussehen hatte. Im Laufe der Jahre war der Kragen immer mehr zusammengeschrumpft, denn von Jahr zu Jahr hatte der arme Titular-Rat ein Stück davon abgeschnitten, um mit ihm eine schadhafte Stelle des Mantels auszubessern, und diese Flicke verrieten nichts weniger als eine kundige Schneiderhand. Sie waren möglichst ungeschickt aufgesetzt und sahen keineswegs schön aus. Als Akaki Akakiewitsch seine traurigen Betrachtungen beendet hatte, sagte er sich, daß er ohne Zaudern den Mantel zu dem Schneider Petrowitsch, der im vierten Stock eine ganz dunkle Kammer bewohnte, bringen müsse.

Petrowitsch war ein Individuum, das schielte, pockennarbig war und im nüchternen Zustande der Ehre teilhaftig wurde, für die Herren Beamten Röcke und Beinkleider anzufertigen, wenn er nicht gerade etwas anders im Kopfe hatte. Ich könnte wohl darauf verzichten, hier länger bei diesem Schneider zu verweilen; aber da es der Brauch nun einmal so will, keine Persönlichkeit in einer Erzählung vorzustellen, deren Physiognomie man nicht genau zu schildern vermöchte, so bin ich gezwungen, meinen Petrowitsch mehr oder minder naturgetreu abzukonterfeien. Früher, als er noch bei seinem Herrn Leibeigner war, hieß er ganz schlicht Gregori. Freigelassen, glaubte er es sich schuldig zu sein, den Namen Petrowitsch anzunehmen. Zugleich begann er zu trinken, zunächst nur an den hohen Feiertagen, dann jedoch an allen Kirchenfesten, die im Kalender mit einem Kreuz verzeichnet sind. In dieser Beziehung blieb er den Gewohnheiten seiner Großväter treu, und wenn seine Frau mit ihm zanken wollte, hieß er sie eine gottlose Person und eine Deutsche. Und da wir diese Frau schon erwähnt haben, so wollen wir auch von ihr noch ein paar Worte sagen: leider ist nur nicht viel über sie zu berichten, außer daß sie eben die Frau des Petrowitsch war, und daß sie eine Haube auf dem Kopfe trug. Im übrigen war sie nicht gerade eine Schönheit zu nennen, höchstens erlaubte es sich ein Gardesoldat, wenn er ihr auf der Straße begegnete, ihr unter die Haube zu gucken, seinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen und einen unbestimmten Laut von sich zu geben. Akaki Akakiewitsch kletterte also bis zur Mansarde des Schneiders hinauf. Die Treppe, die zu ihr führte, war dunkel, schmutzig, feucht und strömte, wie alle Proletarierwohnungen in St. Petersburg, einen Nase und Augen beizenden Branntweingeruch aus.

Während der Titular-Rat die schlüpfrigen Stufen hinaufkroch, überlegte er, welchen Preis Petrowitsch wohl für die Reparatur fordern könnte, und er beschloß, ihm unter keinen Umständen mehr als zwei Rubel anzubieten.

Die Tür des Schneiders stand weit offen, um den Rauchwolken aus der Küche einen Ausgang zu verschaffen; Petrowitschs Frau war gerade dabei, hier Fische zu braten. Akaki Akakiewitsch ging quer durch die Küche, die so voller Rauch war, daß man nicht einmal die vielen sie bevölkernden Schwaben sehen konnte, er ging durch die Küche, ohne daß die Frau seiner ansichtig wurde und trat in die Stube hinein, wo der Schneider auf einem großen, roh gezimmerten und ungestrichenen Tische saß, die Beine wie ein türkischer Pascha übereinandergeschlagen und nach der Art der meisten russischen Schneider mit nackten Füßen.

Wenn man an ihn näher herantrat, so zog vor allem ein Umstand die Aufmerksamkeit auf ihn: nämlich der Nagel eines Daumens, der zwar ein wenig verstümmelt, sonst aber hart und starr war wie die Schale einer Schildkröte. Um den Hals hatte er einen Knäul Seidenfaden und mehrere Zwirnsträhne geschlungen und auf seinen Knieen lag ein zerfetzter Rock. Seit einigen Minuten bemühte er sich, eine Nadel einzufädeln, jedoch ohne Erfolg. Er wetterte zuerst auf die Dunkelheit, dann auf den Faden.

„Willst du nun endlich hinein, Taugenichts!“ schrie er. „Bald habe ich keine Kraft mehr, verdammtes Ding!“

Akaki Akakiewitsch merkte sogleich, daß er einen ungünstigen Augenblick erwischt hatte, wo Petrowitsch schlechter Laune war. Es wäre ihm lieber gewesen, Petrowitsch in einer jener günstigen Stunden anzutreffen, in denen der Schneider schon ein wenig angeheitert war, oder — wie seine Frau sich auszudrücken pflegte — wo dieser einäugige Teufel sich eine solide Ration Fusel einverleibt hatte. Dann war es für den Kunden ein leichtes, ihm einen beliebigen Preis aufzuschwatzen, ja der Schneider ging in seinen Komplimenten bisweilen so weit, daß er sich ehrfürchtig vor ihm vorbeugte und ihn mit Danksagungen überschüttete.

Oft jedoch mischte sich die Frau in die geschäftlichen Abmachungen, beklagte sich über ihren Mann, schrie und tobte und erklärte, er sei betrunken gewesen und habe die Arbeit zu einem viel zu niedrigen Preise angenommen. Dann bot man einige Kopeken mehr, und der Handel war abgeschlossen.

Heute aber hatte zu des Titular-Rats Unglück Petrowitsch bis zu diesem Momente noch nicht der Flasche zugesprochen, und in dieser Gemütsverfassung war der Schneider starrköpfig, unvernünftig und fähig, einen schrecklich hohen Preis zu fordern.

Akaki Akakiewitsch sah diese Gefahr voraus und hätte gern wieder Reißaus genommen; jedoch es war dazu zu spät: das Auge des Schneiders, sein einziges Auge, denn er war einäugig, hatte ihn bereits entdeckt, und so stammelte denn Akaki Akakiewitsch mechanisch:

„Guten Tag, Petrowitsch!“

„Guten Tag, Herr!“ antwortete der Schneider, dessen Blick sich sofort auf die Hand des Titular-Rates heftete, um zu erkennen, was für ein Objekt sie trug.

„Ich war gekommen ... Petrowitsch, nun ... Ich wollte ...“

Hier ist die Bemerkung am Platze, daß der furchtsame Titular-Rat es sich zur Regel gemacht hatte, seine Gedanken nur durch halbe Phrasen, Worte, Präpositionen, Adverbien oder Redeteile, die überhaupt keinen Sinn ergaben, auszudrücken.

War jedoch die Angelegenheit, um die es sich handelte, von besonderer Wichtigkeit, so gelang es ihm niemals, den angefangenen Satz zu Ende zu sprechen. Wenn die Sache jedoch ganz besonders schwierig war, dann stotterte er nur ein paar Worte heraus: „Das ist doch wirklich ganz ...“ und dann folgte überhaupt nichts mehr. Bald hatte er selbst vergessen, was er eigentlich sagen wollte und glaubte, er habe schon alles gesagt.

„Was wünschen Sie, Herr?“ fragte Petrowitsch ihn, indem er ihn mit seinem einzigen Auge vom Kopf bis zu den Füßen musterte und seinen fragenden Blick über Kragen, Manschetten, Taille, Knöpfe, kurz über die gesamte Uniform Akakis gleiten ließ, die er sehr gut kannte, da er selbst all diese Herrlichkeiten angefertigt hatte. Das ist nun mal die Eigentümlichkeit aller Schneider, dies ist ihr erster Gedanke, sowie sie einem Bekannten begegnen.

Akaki antwortete stotternd wie gewöhnlich:

„Ich möchte ... Petrowitsch, ... dieser Mantel ... sehen Sie das Tuch ... übrigens ... ich für meinen Teil ... ich glaube, er ist noch ganz gut ... nur ein wenig bestaubt ... Ja, ja, er sieht schon ein wenig abgetragen aus ... aber er ist doch noch ganz neu ... nur an einer Stelle ein wenig abgescheuert ... da, am Rücken ... und hier an der Schulter ... zwei oder drei kleine Risse ... Sehen Sie es nicht? ... es ist ja gar nicht der Rede wert ... Es ist gar nicht viel daran zu tun ...“

Petrowitsch ergriff den unglückseligen Mantel, breitete ihn auf dem Tische aus, betrachtete ihn schweigend und schüttelte dann das Haupt. Dann streckte er den Arm nach dem Fenster aus, um sich seine runde mit dem Bilde eines Generals gezierte Tabaksdose herunterzunehmen. Ich weiß nicht, was das für ein General war, denn die Stelle, wo sich das Gesicht befand, war mit dem Finger durchlöchert, und da hatte der Schneider flugs einen viereckigen Streifen Papier darüber geklebt.

Als Petrowitsch sich nun endlich eine Prise genommen hatte, nahm er die Kutte von neuem in die Hände, hielt sie ans Licht und schüttelte zum zweitenmal den Kopf. Sodann schaute er sich genau das Futter an, schüttelte sie nochmals, hob wiederum den Deckel seiner vor Zeiten mit dem Porträt eines Generals geschmückten und mit einem Papierstreifen geflickten Tabakdose hoch, entnahm ihr eine zweite Prise, machte die Dose zu, steckte sie ein und schrie endlich:

„Daran ist überhaupt nichts mehr auszubessern! Das ist ja nur ein ganz elender Fetzen!“

Bei diesen Worten krampfte sich Akaki Akakiewitschs Herz zusammen.

„Weshalb nicht, Petrowitsch?“ fragte er in dem weinerlichen Ton eines Kindes, „dieser Rock sollte nicht mehr auszubessern sein? Aber so sehen Sie doch, Petrowitsch! nicht wahr, es sind ja nur ein paar Risse an der Schulter drin, und Sie haben genug Flicken, um sie aufzunähen.“

„Allerdings habe ich genug Flicken,“ versetzte Petrowitsch, „aber wie soll ich sie denn darauf nähen? Das Tuch ist abgescheuert und hält nirgends mehr stand.“

„Ach was! so werden Sie einfach einen größeren Flicken nehmen!“

„Wo soll man denn da einen Flicken aufsetzen, der wird ja doch nicht halten, der Flicken wäre auch zu groß; das kann man doch kaum noch Tuch nennen, ein Windstoß genügt ja, um es völlig zu zerfetzen!“

„Näh ihn ... schon auf ... Ich bitte dich ... Das geht doch nicht.“

„Nein!“ erwiderte Petrowitsch bestimmten Tones, „da ist gar nichts mehr zu machen! Dieser Stoff hat ausgedient. Es wäre besser, daraus für den Winter Fußlappen zu machen; das wärmt die Füße weit mehr als Strümpfe. Ja, ja, das ist auch so eine deutsche Erfindung, um den Leuten Geld abzunehmen.“

Petrowitsch ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne den Deutschen eins auszuwischen.

„Sie müssen sich einen neuen Mantel machen lassen,“ fügte er hinzu.

„Einen neuen Mantel?“

Akaki Akakiewitsch ward es schwarz vor den Augen. Das Atelier des Schneiders fing an ihn zu umkreisen und der einzige Gegenstand, den er deutlich zu erkennen vermochte, war das mit Papier überklebte Porträt des Generals auf Petrowitschs Tabaksdose.

„Einen neuen Mantel?“ murmelte er wie traumverloren. „Aber ich habe doch kein Geld dazu.“

„Jawohl, einen neuen Mantel!“ wiederholte Petrowitsch mit grausamer Beharrlichkeit.

„Aber, ... selbst ... wenn ... angenommen, ich faßte einen solchen Entschluß ... wieviel? ...“

„Sie wollen sagen, wieviel er kosten würde?“

„Ja.“

„So was wie hundertundfünfzig Papierrubel werden Sie schon anwenden müssen,“ erwiderte der Schneider, indem er die Lippen zusammenkniff.

Dieser Schneider liebte die starken Effekte und fand ein ganz besonderes Vergnügen darin, seine Kunden zu verblüffen und dann mit seinem einzigen schielenden Auge den Ausdruck ihres Gesichts zu beobachten.

„Hundertundfünfzig Rubel für einen Mantel?“ sagte Akaki Akakiewitsch.

Und der Titular-Rat sprach diese Worte mit einem Ton aus, der fast einem Schrei glich, vielleicht dem ersten, den er seit seiner Geburt ausgestoßen hatte, denn gewöhnlich sprach er ja mit großer Furchtsamkeit.

„Ja,“ versetzte Petrowitsch, „ohne Marderkragen und Seidenfutter für den Umhang; sonst würde er sich auf zweihundert Rubel belaufen.“

„Petrowitsch, ich beschwöre Sie,“ unterbrach ihn Akaki Akakiewitsch flehend, der auf den Schneider und all seine Effekte gar nicht mehr hörte, ihn auch nicht hören wollte; „ich beschwöre Sie, diesen Mantel irgendwie auszubessern, damit er noch eine Zeit halten kann!“

„Nein! das wäre verlorene Mühe und eine unnütze Ausgabe, eine reine Verschwendung,“ versetzte Petrowitsch.

Akaki Akakiewitsch zog sich nach diesen Worten ganz niedergeschmettert zurück, während Petrowitsch mit zusammengekniffenen Lippen, mit sich selbst äußerst zufrieden wegen der so mannhaften Verteidigung des gesamten Schneiderstandes, stehen blieb.

Ziellos und betäubt irrte Akaki wie ein Somnambule in den Straßen umher.

„Welche Widerwärtigkeit!“ sprach er beim Gehen vor sich hin. „Wahrhaftig, ich hätte niemals gedacht, daß das so ausgehen würde ... Nein,“ fuhr er nach einem kurzen Schweigen fort, „ich konnte nicht annehmen, daß es dazu kommen würde ...“ Dann schwieg er wieder eine Weile still und sagte schließlich: „Ich befinde mich augenblicklich in einer durchaus unerwarteten Situation ... in einer solchen Verlegenheit, daß ...“

Und während er solcher Art sein Selbstgespräch fortsetzte, schlug er, anstatt nach Hause zu gehen, eine seiner Wohnung völlig entgegengesetzte Richtung ein, jedoch ohne dessen gewahr zu werden. Ein Schornsteinfeger schwärzte ihm beim Vorübergehen den Rücken. Von einem im Bau befindlichen Hause herab fiel ihm eine ganze Mütze mit Gips auf den Kopf; er jedoch sah und merkte nichts. Erst als er mit gesenktem Haupte gegen einen Wachtposten stieß, der ihm mit vorgehaltener Hellebarde den Weg versperrte und ihm aus seiner Dose Tabak auf die schwielige Hand schüttete, erwachte er rauh aus seinen Träumen.

„Was tust du hier?“ schrie ihn der brutale Hüter der öffentlichen Ordnung an; „kannst du nicht, wie es sich gehört, auf dem Trottoir gehen?“

Dieser plötzliche Anruf riß Akaki Akakiewitsch endlich völlig aus dem Zustande der Betäubung. Er sammelte wieder seine Gedanken, überblickte kaltblütig die Situation und ging ernst und freimütig mit sich zu Rate wie mit einem Freunde, dem man alle seine Herzensgeheimnisse anvertraut.

„Nein,“ sagte er endlich, „heute werde ich nichts bei Petrowitsch erreichen; heute ist er schlechter Laune ... vielleicht hat ihn seine Frau geprügelt, — ich werde ihn nächsten Sonntag wieder aufsuchen. Sonntag Morgen nach einer durchschwärmten Nacht wird er stark schielen, Durst haben, trinken wollen und seine Frau gibt ihm kein Geld dazu. Ich werde ihm ein Zehnkopekenstück in die Hand drücken, dann wird er viel eher zugänglich sein und mit sich über den Mantel sprechen lassen.“

Sich an dieser Hoffnung stützend, wartete Akaki Akakiewitsch bis zum nächsten Sonntag. An diesem Tage begab er sich, als er von ferne Petrowitschs Frau ihr Haus hatte verlassen sehen, zu dem Schneider und fand ihn, wie er erwartet hatte, in dem Zustande völligster Niedergeschlagenheit. Er schielte stärker als je und war ganz verschlafen. Kaum hatte jedoch der Schneider vernommen, worum es sich handelte, als er Akaki Akakiewitsch sofort anschnauzte, als sei der Teufel in ihn gefahren.

„Nein, da gibts gar nichts mehr zu tun! Sie können sich jetzt nur einen neuen Mantel kaufen.“

Akaki Akakiewitsch drückte ihm hier ein Zehnkopekenstück in die Hand.

„Danke, Euer Gnaden,“ antwortete Petrowitsch, „ich werde auf Ihre Gesundheit trinken. Was jedoch Ihren Mantel anbetrifft, so dürfen Sie gar nicht mehr an ihn denken. Er ist nicht mehr einen roten Heller wert. Lassen Sie mich nur ruhig gewähren, ich werde Ihnen einen prachtvollen neuen anfertigen — ich bürge Ihnen dafür!“

Der arme Akaki Akakiewitsch bat ein Mal über das andere Mal den Schneider, den alten zu reparieren, aber Petrowitsch wollte ihn gar nicht mehr anhören und sagte: „Ich will Ihnen schon einen neuen anfertigen ... Glauben Sie mir. Ich werde mir die größte Mühe geben. Ja, ich werde sogar, wie es jetzt Mode ist, silberne Haken und Ösen an dem Kragen anbringen.“

Jetzt erst begriff Akaki Akakiewitsch, daß er sich tatsächlich einen neuen Mantel werde anschaffen müssen, und zum zweitenmal fühlte er sich einer Ohnmacht nahe. Sich einen neuen Mantel machen lassen! Aber womit ihn bezahlen? Er hatte allerdings, um die Wahrheit zu sagen, zu den Feiertagen Ansprüche auf eine offizielle Gratifikation. Aber dafür hatte er schon längst eine Bestimmung gefunden. Er mußte sich ein Paar Beinkleider kaufen und einem Schuhmacher eine alte Schuld bezahlen, der ihm zwei Paar Stiefel ausgebessert und zwei neue Schäfte aufgesetzt hatte. Er mußte sich bei der Näherin drei neue Hemden und zwei von jenen Kleidungsstücken anfertigen lassen, die beim Namen zu nennen, gegen den literarischen Anstand verstößt, kurz alles war schon im voraus bestimmt. Und sollte — ein unerwartetes Glück! — der Direktor etwa die Gratifikation von vierzig auf fünfzig Rubel erhöhen, was wäre schließlich dieser magere Überschuß im Vergleich mit der unerhört hohen Summe, die Petrowitsch für den Mantel gefordert hatte? Ein Tropfen Wasser im Ozean.

Er wußte freilich, daß Petrowitsch die Angewohnheit hatte, mitunter ganz unglaubliche Preise zu verlangen, sodaß sich seine Frau oft nicht enthalten konnte, ihn mit folgenden Worten anzufahren:

„Bist du verrückt, du Esel? Bald arbeitest du für ein reines Nichts, und ein andermal reitet dich der Teufel, einen so unendlich hohen Preis zu fordern, den der Kerl selbst nicht wert ist.“

Er glaube demnach, daß Petrowitsch auch mit einem Preise von achtzig Rubel für einen neuen Mantel einverstanden sein würde. Aber wo sollte man selbst diese achtzig Rubel hernehmen? Vielleicht würde es ihm gelingen, wenn er alle Hebel in Bewegung setzte, die Hälfte oder sogar noch etwas mehr aufzutreiben. Woher aber sollte er die andere Hälfte nehmen!

Wir müssen dem Leser von den Mitteln, die Akaki Akakiewitsch zur Beschaffung dieser Summe anzuwenden gedachte, Rechenschaft geben!

Er hatte die Gewohnheit angenommen, so oft er einen Rubel erhielt, eine Kopeke in eine kleine Sparbüchse zu werfen, die stets fest verschlossen war. Am Ende eines jeden Halbjahres nahm er diese kleinen Kupferstücke heraus und ersetzte sie durch Silbergeld von gleichem Werte. Dieses Sparsystem hatte er schon ziemlich lange durchgeführt, und so beliefen sich nach Verlauf einiger Jahre seine Ersparnisse auf etwas mehr als vierzig Rubel. So besaß er wenigstens die Hälfte der in Betracht kommenden Summe. Aber die andere Hälfte! Wo sollte er die andern vierzig hernehmen? Akaki stellte unabsehbare Berechnungen an; schließlich sagte er sich, daß er mindestens ein Jahr hindurch verschiedene seiner Ausgaben reduzieren könne, des Abends auf den Tee verzichten, keine Kerze anzünden und — wenn er etwas zu arbeiten hätte — sich mit seinen Akten ins Zimmer seiner Wirtin setzen müßte, um seine Arbeit bei ihrer Kerze zu vollenden. Er faßte auch den Entschluß, auf der Straße möglichst sanft und vorsichtig aufzutreten, ja wenn es ging auf den Zehenspitzen über das Trottoir und das Pflaster zu gehen, um seine Sohlen nicht zu schnell durchzuscheuern, seine Wäsche nicht so oft waschen zu lassen, sie beim Nachhausekommen auszuziehen und statt dessen bloß seinen baumwollenen Schlafrock anzulegen, ein zwar sehr altes Stück, das die Zeit jedoch glücklicherweise noch ziemlich verschont hatte.

Anfangs waren ihm diese Entbehrungen etwas peinlich, aber nach und nach gewöhnte er sich an seine neue Lebensweise und brachte es sogar soweit, sich, ohne Abendbrot gegessen zu haben, zur Ruhe zu begeben. Während sein Körper unter dieser Unterernährung litt, fand sein Geist in der unaufhörlichen Beschäftigung mit seinem Mantel neue Anregung. Von diesem Augenblicke an hätte man sagen können, daß seine Natur das passende Komplement gefunden, daß er sich verheiratet hätte, daß noch ein anderer Mensch immer um ihn war, daß er nicht mehr einsam war und daß ihm eine Gefährtin zur Seite stände, die ihn auf allen seinen Lebenswegen begleitete; diese Gefährtin — war das Bild seines Mantels, wohl wattiert und gefüttert, eines Mantels, der überhaupt nicht umzubringen war.

Und man sah ihn viel entschlossener und mutiger als früher einherschreiten, er war ein Mensch geworden, der nur ein Ziel vor Augen hatte, das er auf jeden Fall erringen will. Die Charakterlosigkeit und Ängstlichkeit in seinem Gesichtsausdruck und in seinen Handlungen, seine lässige Haltung: mit einem Wort, all jene schwankenden und unsicheren Züge waren auf einmal verschwunden. Mitunter glänzten seine Augen wie in neuem Leben, und in seinen kühnen Träumen legte er sich bereits die Frage vor, ob er sich nicht an seinem Mantel auch ganz gut einen Mantelkragen anbringen lassen könne.

Diese Gedanken machten ihn bisweilen merkwürdig zerstreut. Eines Tages, als er wieder seine Akten abschrieb, bemerkte er plötzlich, daß ihm beinahe ein Fehler untergelaufen wäre.

„O, o!“ rief er aus.

Und schnell machte er das Zeichen des Kreuzes.

Mindestens einmal im Monat begab er sich zu Petrowitsch, um sich mit ihm über den kostbaren Mantel zu unterhalten und andre wichtige Dinge mit ihm festzustellen, zum Beispiel wo er das Tuch kaufen solle, wie teuer es wohl zu stehen kommen werde und welche Farbe in Betracht käme.

Jeder dieser Besuche führte zu neuen Erwägungen; aber jedesmal kehrte er zwar etwas besorgt aber doch glücklich und zufrieden nach Hause zurück, denn nun mußte doch endlich der Tag erscheinen, an dem alles besorgt, und der Mantel fix und fertig sein würde.

Dieses große Ereignis trat viel früher, als er gehofft hatte, ein. Der Direktor bewilligte ihm eine Gratifikation nicht von vierzig oder fünfzig, sondern von fünfundsechzig Rubeln. Hatte etwa dieser brave Beamte bemerkt, daß unser Freund Akaki Akakiewitsch so dringend eines neuen Mantels bedurfte? oder verdankte unser Held diese seltene Freigebigkeit nur seinem guten Sterne?

Wie dem auch immer war, Akaki Akakiewitsch wurde um zwanzig Rubel reicher. Eine solche Vermehrung seiner Ersparnisse mußte notwendig die Verwirklichung seines Vorhabens beschleunigen.

Noch zwei oder drei Monate, während deren er hungerte, und Akaki Akakiewitsch hatte seine achtzig Rubel beisammen. Sein gewöhnlich friedliches Herz begann heftig zu schlagen. Sowie er die ungeheure Summe von achtzig Rubeln beisammen hatte, suchte er Petrowitsch auf, und alle beide begaben sich noch am selbigen Tage zusammen zu einem Tuchhändler.

Ohne Zaudern kauften sie dort eine gute Ware. Kein Wunder! Seit mehr denn einem Jahre hatten sie sich über diese Anschaffung unterhalten, über alle Einzelheiten hatten sie debattiert und Monat für Monat hatten sie die Auslagen des Kaufmanns aufs sorgfältigste studiert um sich über die Preise zu vergewissern. Dafür erklärte aber Petrowitsch auch, einen bessern Stoff würde man schwerlich finden. Als Futter nahmen sie äußerst feste Leinewand, die nach der Meinung des Schneiders besser als Seide war und überdies einen unvergleichlichen, viel schöneren Glanz hatte. Marder kauften sie nicht, da sie ihn zu teuer fanden, aber sie entschieden sich für das schönste Katzenfell, das es in dem ganzen Laden gab und das man schließlich wohl auch für Marder halten konnte.

Um dieses Kleidungsstück anzufertigen, bedurfte Petrowitsch voller vierzehn Tage; denn er machte eine zahllose Menge von Stichen, ohne die wäre er allerdings früher fertig geworden. Er berechnete seine Arbeit mit zwölf Rubeln; weniger konnte er nicht fordern: alles war mit Seide gearbeitet, und der Schneider hatte die Nähte mit den Zähnen, deren Spuren man noch sah, gebügelt. Endlich kam er an, der so innig herbeigesehnte Mantel. Es ist mir nicht möglich, genau den Tag zu beschreiben, aber sicherlich war es der feierlichste Tag in dem Leben Akakij Akakiewitschs.

Der Schneider brachte den Mantel selbst schon am frühen Morgen, bevor der Titular-Rat sich in sein Büro begab. Er hätte garnicht zu gelegenerer Zeit kommen können, denn die Kälte machte sich bereits bitter fühlbar, und drohte mit der Zeit noch weit heftiger zu werden.

Petrowitsch näherte sich seinem Kunden mit der würdevollen Miene eines weltberühmten Schneiders. Seine Physiognomie war von einem seltenen Ernst; niemals hatte der Titular-Rat ihn so gesehen. Er war von seinem Verdienst durchdrungen und bemaß in Gedanken voller Stolz den Abstand, der den Flickschneider von dem Künstler, dem Verfertiger neuer Kleidungsstücke, scheidet.

Der Mantel war in eine neue, erst kürzlich gewaschene Leinewanddecke gehüllt, die der Schneider sorgfältig aufknüpfte und dann wieder zusammenlegte, um sie seiner Tasche anzuvertrauen. Dann faßte er stolz den Mantel mit beiden Händen an und legte ihn Akakij Akakiewitsch auf die Schultern. Hierauf half er ihm vollends hinein, strich ihm mit der Hand noch einmal über den Rücken, und ein Lächeln der Genugtuung überlief seine Züge, als er ihn in seiner ganzen Länge majestätisch herabfallen sah; schließlich mußte Akakij Akakiewitsch ihn noch einmal weit aufmachen und sich dem Schneider von vorne präsentieren.

Als ein Mann reiferen Alters wollte Akakij Akakiewitsch auch die Ärmel anprobieren; Petrowitsch half ihm in die Ärmel hinein, und siehe da, sie saßen wundervoll. Kurz, der Mantel war tadellos in allen seinen Einzelheiten, und der Schnitt ließ nichts zu wünschen übrig.

Während der Schneider sein Werk betrachtete, verfehlte er nicht, darauf hinzuweisen, daß er ihn nur wegen der geringen Miete, weil er in einer kleinen Nebenstraße wohne und nichts für ein Aushängeschild zu zahlen brauche, sowie wegen seiner langjährigen Bekanntschaft mit Akakij Akakiewitsch so billig hergestellt hätte. Dann bemerkte er noch, daß ein Schneider vom Newski Prospekt allein für die Fasson eines gleichen Mantels mindestens fünfundsiebzig Rubel gefordert haben würde. Akakij Akakiewitsch wollte sich jedoch über diesen Punkt nicht erst in eine Diskussion einlassen, denn er fürchtete sich vor den horrenden Summen, mit denen Petrowitsch zu prahlen liebte. Er zahlte, dankte und verließ seine Stube, um sich in seinem neuen Mantel nach dem Büro zu begeben.

Petrowitsch ging mit ihm und machte mitten auf der Straße halt, um ihm so weit wie möglich mit den Augen zu folgen. Dann verließ er die Straße, durchquerte eiligst eine kleine Gasse und rannte nach der Straße zurück, um den Mantel noch einmal von einer andern Seite, d. h. von vorne zu betrachten.

Voll süßer Gedanken, in einer wahren Feiertagsstimmung, näherte sich Akakij seinem Büro. Jeden Augenblick fühlte er, daß von seinen Schultern ein neues Kleidungsstück herabhing und beglückte sich selbst mit einem holden Lächeln der Genugtuung.

Zwei Dinge vor allem gingen ihm durch den Kopf: zunächst, daß der Mantel warm war, sodann, daß er gut aussah. Ohne irgendwie auf den Weg, den er gegangen war, geachtet zu haben, betrat er plötzlich die Kanzlei, legte seinen Schatz im Vorzimmer ab, schaute ihn sich noch einmal sorgfältig von allen Seiten an und bat den Portier, recht sorgsam auf den Mantel zu achten.

Ich weiß nicht, wie sich das Gerücht in den Bureaus verbreitet hatte, daß Akaki Akakiewitsch sich einen neuen Mantel angeschafft, und die alte Kapuze zu existieren aufgehört habe. Jedenfalls eilten alle Kollegen Akaki Akakiewitschs herbei, um seinen herrlichen Mantel zu bewundern und den Titular-Rat mit so warmen Glückwünschen zu überhäufen, daß er nicht umhin konnte, ihnen mit einem Lächeln der Genugtuung zu antworten, das bald jedoch wieder einer gewissen Verlegenheit Platz machte.

Aber wie groß war seine Überraschung, als seine schrecklichen Kollegen ihn merken ließen, daß sein Mantel einer feierlichen Einweihung bedürfe und daß sie auf ein feines Mahl rechneten. Der arme Akaki Akakiewitsch war darüber so bestürzt, so betäubt, daß er nicht wußte, was er zu seiner Entschuldigung anführen sollte. Errötend stotterte er, das Kleidungsstück sei gar nicht so neu, wie man glauben mochte, der Mantel wäre vielmehr schon ganz alt.

Einer seiner Vorgesetzten, irgend ein Gehilfe des Bürovorstehers, der ohne Zweifel dartun wollte, daß er so gar nicht stolz auf seinen Rang und Titel war und daß er die Gesellschaft seiner Untergebenen nicht verschmähte, nahm das Wort und sagte:

„Meine Herren, anstelle von Akaki Akakiewitsch werde ich Sie bewirten. Ich lade Sie ein, diesen Abend den Tee bei mir einzunehmen, ich habe heute gerade Geburtstag!“

Alle Beamten dankten ihrem Chef für seine Güte und beeilten sich, seine Einladung mit großer Freude anzunehmen. Akaki Akakiewitsch wollte zuerst ablehnen, man hielt ihm jedoch vor, daß das sehr unhöflich von ihm wäre, gewissermaßen eine unverzeihliche Handlungsweise, und so fügte er sich denn in das Notwendige.

In Gedanken empfand er übrigens eine gewisse Freude darüber, daß er auf diese Art Gelegenheit hatte, sich in seinem Mantel auf der Straße zu zeigen. Dieser ganze Tag war für ihn ein Fest. In dieser glücklichen Stimmung trat er in seine Wohnung ein, zog seinen Mantel aus und hängte ihn, nachdem er einmal übers andre Stoff und Futter geprüft hatte, an die Wand. Dann holte er seine alte Kapuze herbei, um sie mit Petrowitschs Meisterstück zu vergleichen. Seine Blicke wanderten von einem Kleidungsstück zum andern und sanft lächelnd dachte er: „Welch ein Unterschied!“ Und noch lange nachher, beim Mittagessen konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn er daran dachte, in was für einer Verfassung sein alter Mantel sich befand.

Ganz fröhlich nahm er diesmal seine Mahlzeit ein, und darnach setzte er sich nicht wie sonst an seine Kopieen. Nein er streckte sich wie ein rechter Sybarit auf seinem Sofa aus und erwartete das Herannahen des Abends. Dann zog er sich schnell an, nahm seinen Mantel und ging.

Es dürfte mir leider nicht möglich sein, Ihnen die Wohnung dieses Vorgesetzten anzugeben, der seine Untergebenen so freigebig eingeladen hatte. Mein Gedächtnis beginnt bereits etwas nachzulassen, und die Straßen und Häuser St. Petersburgs richten in meinem Hirn eine derartige Verwirrung an, daß ich große Mühe habe, mich nur einigermaßen zurecht zu finden. Einzig und allein daran erinnere ich mich, daß der würdige Beamte in einem der schönsten Stadtviertel wohnte, und daß infolgedessen seine Wohnung sehr weit von der Akakis entfernt war.

Zuerst durchwanderte der Titular-Rat mehrere schlechtbeleuchtete Straßen, die ganz ausgestorben schienen, aber je mehr er sich der Wohnung seines Vorgesetzten näherte, um so heller und belebter wurden die Straßen. Er begegnete einer zahllosen Menge nach der neuesten Mode gekleideter Spaziergänger, schönen eleganten Frauen und Herren, die Biberkragen trugen. Die Bauernschlitten mit ihren Holzbänken und ihren mit goldenen Nägeln geschmückten Gittern wurden immer seltener, und alle Augenblicke bemerkte er forsche Kutscher mit roten Samtmützen, die mit Bärenfellen versehene Schlitten aus lackiertem Holz und prachtvolle Karossen lenkten, oder er sah vornehme Equipagen mit eleganten Kutschböcken, die knirschend über den Schnee dahinglitten.

Das war für unsern Akaki Akakiewitsch ein gänzlich neues Schauspiel. Seit vielen Jahren war er nicht des Abends ausgegangen. So recht neugierig blieb er vor der Auslage einer Kunsthandlung stehen. Ein Gemälde zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Das war das Porträt einer Frau, die ihren Schuh ausgezogen hatte und ihren kleinen entzückenden Fuß von einem jungen Manne mit dickem Schnurrbart und langer Fliege, der durch eine halbgeöffnete Tür blickte, bewundern ließ.

Nachdem Akaki Akakiewitsch dieses Bild genug angeschaut hatte, schüttelte er den Kopf und setzte lächelnd seinen Weg fort. Warum lächelte er wohl? Etwa wegen der Fremdheit des Gegenstandes? für den er sich trotzdem gleich allen anderen Leuten ein gewisses Verständnis bewahrt hatte? Oder vielleicht deshalb, weil er wie die meisten seiner Kollegen dachte: die Franzosen haben mitunter etwas zu seltsame Einfälle; wenn sie einmal so eine Sache machen wollen, dann ist es wirklich so eine Sache. Ach, er dachte wohl an gar nichts, und im übrigen ist es sehr schwer, sich in die Seele eines andern zu versetzen und die Gedanken der Menschen zu lesen.

Endlich gelangte er vor das Haus, in dem der Gehilfe des Bureauchefs wohnte. Sein Vorgesetzter lebte wie ein Grandseigneur; auf der Treppe brannte eine Laterne, bewohnte er doch eine ganze Etage im zweiten Stock. Als unser Akaki Akakiewitsch eingetreten war, erblickte er eine lange Reihe Galoschen, dazwischen dampfte und brodelte mitten im Zimmer ein Samowar, an den Wänden hingen die Mäntel, von denen mehrere mit Samt- und mit Pelzkragen versehen waren. Aus dem Zimmer nebenan drang ein wirres Geräusch, das bestimmtere Formen annahm, als ein Diener die Tür öffnete und mit einem Tablett voll leerer Tassen, einem Topf mit Sahne und einem Korb mit Kuchen herausschritt. Die Gäste mußten bereits lange versammelt sein, und sie hatten augenscheinlich bereits ihre erste Tasse Tee geleert.

Akaki hängte seinen Mantel selbst an einen Haken und ging dann auf das hell erleuchtete Zimmer zu, in dem sich seine mit langen Pfeifen ausgerüsteten Kollegen um einen Spieltisch gruppiert hatten, sich sehr laut unterhielten und ihm Stühle hin und her schoben.

Er trat ein, blieb jedoch verlegen auf der Türschwelle stehen, da er nicht wußte, was er tun sollte. Aber seine Kollegen hatten ihn schon bemerkt, begrüßten ihn mit großem Hallo und eilten sofort in das Vorzimmer, um seinen Mantel zu bewundern. Dieser Ansturm raubte unserem braven Titular-Rat seine ganze Haltung. Da er aber ein schlichter und treuherziger Mann war, freute er sich dennoch ganz aufrichtig über die Glückwünsche, die man ihm zu seinem kostbaren Kleidungsstücke darbrachte. Bald darauf gaben seine Kollegen ihm nun die Freiheit wieder und gingen an ihre Whisttische zurück. Diese Bewegung, diese Erregung, die lebhafte Konversation, die vielen Menschen ... das alles verwirrte unseren schüchternen Akaki Akakiewitsch im höchsten Grade. Er wußte nicht, wo er seine Hände und Füße hintun, wie er sie verbergen sollte; schließlich setzte er sich zu den Spielern, sah bald auf ihre Karten, bald auf ihre Gesichter, nach kurzer Zeit fing er jedoch zu gähnen und sich zu langweilen an, denn er empfand, daß die Stunde bereits längst verstrichen war, um die er sich zur Ruhe zu begeben pflegte. Er wollte sich zurückziehen, doch hielt man ihn zurück, indem man ihm klarmachte, er dürfe sich unmöglich entfernen, ohne ein Glas Champagner zur Feier dieses denkwürdigen Tages getrunken zu haben.

Nach einer Stunde trug man das Abendessen auf, das aus Heringsalat, kaltem Kalbsbraten, Kuchen, Pasteten und gemischtem Backwerk bestand; zu jedem Gang gab es den sogenannten Champagner. Akaki Akakiewitsch sah sich genötigt, zwei große Gläser von diesem prickelnden Getränk zu leeren, und nach kurzer Zeit bereits begann alles um ihn herum ein heiteres Ansehen anzunehmen. Indes vergaß er nicht, daß Mitternacht vorüber und daß es längst Zeit zum Nachhausegehen war.

In der Furcht, noch länger zurückgehalten zu werden, schlich er sich insgeheim ins Vorzimmer, wo er den Schmerz erlebte, seinen Mantel auf dem Boden erblicken zu müssen. Er schüttelte ihn mit größter Sorgfalt, entfernte jedes kleine Federchen, zog ihn an und ging die Treppe hinunter.

Die Straßen waren noch beleuchtet. Die kleinen von den Dienstboten und dem niederen Volke besuchten Läden waren noch geöffnet; einige waren zwar schon verschlossen, doch konnte man an dem Lichtschein, der aus den Türspalten fiel, unschwer erkennen, daß die Gäste noch nicht gegangen waren. Wahrscheinlich saßen die Knechte und Mägde noch immer in lebhaftem Gespräche beisammen, in dem sie ihre Herren in vollkommener Unklarheit über ihren Aufenthaltsort ließen.

Überaus froh und etwas bezecht schlug Akaki Akakiewitsch den Weg nach seiner Wohnung ein. Er lief sogar, ohne zu wissen warum, einer Dame nach, die wie ein Blitz an ihm vorbeihuschte, und deren sämtliche Körperteile sich in lebhafter Bewegung befanden. Aber er besann sich bald wieder, blieb einen Augenblick stehen und setzte dann seinen Weg langsam weiter fort, höchst verwundert über das lebhafte Tempo, das er angeschlagen hatte. Bald gelangte er wieder in dunkele und unbelebte Gassen und plötzlich merkte er, daß er sich in einer jener Straßen befand, die sich des Tags und noch mehr in der Nacht durch ihre Ruhe auszeichneten. Heute aber erschien sie noch einsamer und schauerlicher. Alles um ihn hatte ein finsteres Aussehen. Die Laternen wurden immer seltener, da die Stadtverwaltung offenbar nur wenig Öl für die Beleuchtung dieses Viertels bewilligte ... Holzhäuser, Palisadenzäune — aber nirgends eine lebende Seele. Bei dem fahlen Schein dieser Laternen glänzte der Schnee, und all die kleinen Häuser mit ihren verschlossenen Läden lagen in der Dunkelheit gar trübselig da. Er gelangte an eine Stelle, wo die Straße in einen riesigen, mit Häusern bebauten Platz mündete, die von der anderen Seite aus kaum zu sehen waren. Es schien fast, als befände man sich in einer weiten und trostlosen Wüste.

In der Ferne, Gott weiß wo, schimmerte ein Licht von einem Schilderhause her, das ihm am Ende der Welt zu stehen schien. Mit einem Male verlor Akaki Akakiewitsch seine fröhliche Stimmung. Er ging mit starkem Herzklopfen auf das Licht zu, er ahnte eine drohende Gefahr. Der vor ihm liegende Raum erschien ihm größer als der Ozean.

„Nein,“ sagte er, „ich will lieber garnicht hinsehen!“

Und er ging weiter, indem er die Augen beständig zumachte. Als er sie öffnete, sah er sich plötzlich von mehreren bärtigen Männern umgeben, deren Gesichter er nicht erkennen konnte. Es wurde ihm dunkel vor den Augen, sein Herz krampfte sich zusammen.

„Dieser Mantel gehört mir,“ schrie einer der Männer, indem er Akaki Akakiewitsch an dem Kragen faßte.

Akaki Akakiewitsch wollte um Hilfe rufen. Einer der Angreifer schloß ihm indessen mit seiner Faust, die die Größe eines Beamtenkopfes hatte, den Mund und sagte zu ihm:

„Laß dir’s nur nicht einfallen, zu schreien!“ Im selben Augenblick fühlte der Titular-Rat, wie man ihm seinen Mantel auszog, und fast gleichzeitig ließ ihn ein Fußtritt in den Schnee rollen, in dem er bewußtlos liegen blieb.

Einige Sekunden später kam er wieder zu sich; aber er vermochte niemand mehr zu erblicken. Seiner Kleidung beraubt und ganz erfroren begann er aus Leibeskräften zu schreien, aber seine Rufe konnten kaum bis zum anderen Ende des Platzes dringen. Ganz außer sich lief er über den Platz und stürzte mit der letzten Kraft der Verzweiflung auf das Schilderhäuschen zu, wo die Wache, Gewehr bei Fuß, ihn neugierig betrachtete und fragte, weshalb zum Teufel er denn einen solchen Lärm vollführe und wie ein Verrückter liefe.

Als Akaki Akakiewitsch den Soldaten erreicht hatte, beschuldigte er ihn mit bebender Stimme der Trunkenheit, weil er nicht bemerkt hatte, daß man in nächster Nähe von ihm die Passanten bestehle und ausplündere.

„Ich habe nichts gesehen,“ erwiderte der Mann, „ich sah Sie nur mitten auf dem Platze zusammen mit zwei Individuen. Ich glaubte, es wären Ihre Freunde. Es ist unnütz, sich deshalb aufzuregen. Suchen Sie morgen den Polizei-Inspektor auf, er wird die Angelegenheit in die Hand nehmen, nach den Dieben des Mantels forschen lassen und eine Untersuchung einleiten.“

Der unglückliche Akaki Akakiewitsch kam in einem fürchterlichen Zustande zu Hause an: die wenigen Haare, die er noch am Hinterkopf und an der Schläfe hatte, hingen ihm wirr über die Stirn; Brust, Rücken und Beinkleider waren voller Schnee. Als seine alte Wirtin ihn wie einen Besessenen an die Tür klopfen hörte, stand sie schnell auf und kam auf nackten, nur in Pantoffeln steckenden Füßen herbeigeeilt. Sie öffnete die Türe, indem sie ihre nur mit einem Hemde bekleidete Brust mit der einen Hand schamhaft zudeckte. Aber bei Akaki Akakiewitschs Anblick prallte sie entsetzt zurück.

Als er ihr erzählte, was ihm zugestoßen war, rang sie die Hände und rief:

„Sie müssen sich nicht an den Polizei-Inspektor wenden, sondern an den Bezirks-Kommissar. Der Inspektor wird Sie mit schönen Worten abspeisen und doch nichts für Sie tun. Aber den Bezirks-Kommissar kenne ich schon lange. Meine alte Köchin Anna, eine Finnländerin, dient jetzt bei ihm als Amme, und ich sehe sie oft unter unseren Fenstern vorbeikommen. Er geht jeden Sonntag in die Kirche, um zu beten, und wirft allen Leuten freundliche Blicke zu, man sieht es ihm gleich an, daß er ein braver Mann ist.“

Nach dieser beruhigenden Empfehlung zog sich Akaki traurig in sein Zimmer zurück. Wer sich nur einigermaßen in die Situation eines andern hinein versetzen kann, wird begreifen, wie er die Nacht verbrachte.

Am andern Morgen begab er sich sofort zum Bezirks-Kommissar. Man bedeutete ihm, daß dieser hohe Beamte noch schlief. Um zehn Uhr kam er wieder. Der hohe Beamte schlief noch. Um elf Uhr war der Kommissar ausgegangen. Der Titular-Rat stellte sich noch einmal um die Essenszeit ein, aber die Schreiber wollten ihn durchaus nicht vorlassen und fragten ihn, was er wolle und warum er es denn so eilig habe, ihren Chef zu sprechen. Zum erstenmal in seinem Leben machte Akaki Akakiewitsch einen Energieversuch. Er erklärte kategorisch, daß er unbedingt und zwar auf der Stelle mit dem Kommissar reden müsse, er komme aus dem Departement, daher dürfe man ihn keinesfalls abweisen, denn es handle sich um eine äußerst wichtige Staatsangelegenheit, und sollte es etwa jemand einfallen, ihn zu behindern, so würde er sich beschweren, und dies könnte ihnen teuer zu stehen kommen.

Auf solchen Ton konnte man nichts weiter erwidern. Einer der Schreiber ging hinaus, um den Chef herbeizuzitieren. Dieser gewährte nun Akaki Akakiewitsch eine Audienz, hörte sich jedoch seine Erzählung über den Raub seines Mantels in einer recht merkwürdigen Weise an. Anstatt sich für den Hauptpunkt, nämlich den Diebstahl, zu interessieren, fragte er den Titular-Rat, wie er denn dazu gekommen wäre, zu so ungewöhnlicher Stunde nach Hause zu gehen, und ob er nicht etwa in einem verdächtigen Hause gewesen sei.

Völlig verblüfft durch diese Frage fand der Titular-Rat keine Antwort und zog sich zurück, ohne genau zu wissen, ob man sich überhaupt mit seiner Angelegenheit beschäftigen würde oder nicht.

Er war den ganzen Tag über nicht in seinem Bureau gewesen: (ein unerhörtes Ereignis in seinem Leben). Am folgenden Tage erschien er wieder, aber in welchem Zustand! bleich, aufgeregt, mit seinem alten Mantel, der nun noch jämmerlicher aussah als ehedem. Als seine Kollegen erfuhren, welches Unglück ihn betroffen hatte, fanden sich noch immer einige Rohlinge, die aus vollem Halse darüber lachen zu müssen glaubten; die Mehrzahl indessen empfand aufrichtiges Mitleid mit ihm und veranstaltete zu seinen Gunsten eine Subskription. Unglücklicherweise hatte dieses löbliche Unternehmen nur ein völlig ungenügendes Resultat, weil diese selben Beamten und Vorgesetzten bereits kurz vorher zu zwei Subskriptionen beigesteuert hatten: zunächst mußten sie sich ein Porträt ihres Direktors anfertigen lassen, sodann handelte es sich um das Abonnement auf ein Werk, das ein Freund ihres Chefs soeben hatte erscheinen lassen. Das war der Grund, weswegen nur eine ganz unbedeutende Summe zusammenkam.

Einer von ihnen, der Akaki Akakiewitsch ehrliche Teilnahme entgegenbrachte, wollte ihm wenigstens aus Mangel an Besserem einen guten Rat geben. Er sagte ihm, daß es verlorene Mühe wäre, sich noch einmal an den Bezirkskommissar zu wenden, denn vorausgesetzt, daß dieser Beamte sich wirklich Mühe geben sollte, um sich das Lob seiner Vorgesetzten zu verdienen, und daß es ihm in der Tat glücken sollte, seinen Mantel aufzufinden, so würde die Polizei dieses Kleidungsstück so lange in Verwahrung behalten, bis sich der Titular-Rat nicht unumstößlich sicher als der alleinige und wahre Besitzer des Mantels legitimiert habe. Er ermahnte ihn also, sich an eine gewisse, hochgestellte Persönlichkeit zu wenden, welche hochstehende Persönlichkeit dank ihrer guten Beziehungen zu den Behörden die Sache ohne große Schwierigkeit erledigen könne.

In seiner Verwirrung entschloß sich Akaki, dieser Ansicht Folge zu leisten. Welche Stellung in der Beamtenskala diese hohe Persönlichkeit eigentlich bekleidete, wie hoch denn ihr Rang in Wirklichkeit war, hätte man nicht sagen können. Man wußte einzig und allein, daß diese hohe Persönlichkeit erst seit kurzer Zeit in ihrem Amte säße, bis dahin war sie nämlich eine ganz unbedeutende Persönlichkeit gewesen. Allerdings gab es andre noch höher gestellte Persönlichkeiten, aber bekanntlich finden sich ja immer Leute, in deren Augen eine Persönlichkeit, die andre Menschen für unbedeutend halten, eine sehr hohe und bedeutende Persönlichkeit ist. Genug, der in Frage stehende Beamte setzte alle möglichen Hebel in Bewegung, um noch höher zu steigen. So zwang er alle andern Beamten, die unter ihm standen, am Fuße der Treppe auf ihn zu warten, bis er erschien, und niemand konnte direkt zu ihm gelangen, sondern dies alles mußte auf dem strengsten Ordnungswege geschehen. Der Kollegien-Sekretär teilte einem Regierungs-Sekretär das Audienzgesuch mit, der es seinerseits an einen Titular-Rat oder einen noch höheren Beamten weitergab, und dieser stattete endlich der hohen Persönlichkeit darüber Bericht ab.

Das ist der gewöhnliche Gang der Geschäfte in unserem heiligen Rußland. Der Wunsch, es den hohen Beamten gleich zu tun, bewirkt, daß jeder die Manieren seines Vorgesetzten nachäfft. Vor noch nicht allzu langer Zeit ließ ein erst eben zum Chef eines kleinen Bureaus beförderter Titular-Rat über einem seiner Zimmer die Aufschrift „Beratungssaal“ anbringen. An der Tür standen Diener mit roten Kragen und gestickten Röcken, um die Bittsteller anzumelden und einzulassen, die sie in einen äußerst kleinen, kaum einem gewöhnlichen Schreibtisch Platz bietenden „Saal“ hineinführten.

Aber kehren wir zu unserer hohen Persönlichkeit, zu unserem Beamten, zurück. Er hatte eine imponierende majestätische Haltung, wenngleich sein Benehmen und seine Gewohnheiten recht primitiv waren; sein System faßte sich in einem einzigen Wort zusammen, und dieses hieß: Strenge, Strenge, Strenge. Er pflegte dieses Wort dreimal zu wiederholen, und beim letztenmal sah er den, mit dem er gerade zu tun hatte, bedeutungsvoll an. Er hätte gut darauf verzichten können, soviel Energie zu entfalten, denn seine zehn Untergebenen, die den ganzen Regierungsmechanismus seiner Kanzelei bildeten, fürchteten ihn schon ohnehin genug. Wenn sie ihn nur von weitem sahen, legten sie eiligst ihren Federhalter hin und stürzten herbei, um bei seinem Vorübergang Spalier zu bilden. In seinen Gesprächen mit seinen Untergebenen beobachtete er immer eine strenge Haltung und sprach stets nur folgende Worte:

„Was erlauben Sie sich? Wissen Sie auch, mit wem Sie sprechen? Vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben!“

Im übrigen war er ein braver Mann und liebenswürdig und gefällig gegen seine Freunde. Nur sein Generalsrang hatte ihm den Kopf verdreht. Seit dem Tage, an dem er ihn erhalten hatte, verbrachte er den größten Teil seiner Zeit in einer Art Schwindel und wußte kaum noch, wie er sich benehmen sollte, doch wurde er wieder im Verkehr mit seinesgleichen menschlich und vernünftig. Dann benahm er sich wie ein anständiger und in mancher Beziehung sogar wie ein recht gescheiter Mensch. Befand er sich jedoch mit einem Untergebenen zusammen, dann war der Teufel los — dann beschränkte er sich auf ein strenges Schweigen, und in dieser Situation war er wirklich zu bedauern, um so mehr, als er selbst empfand, wie viel angenehmer er seine Zeit hätte verbringen können.

Allen, die ihn in solcher Stimmung beobachteten, konnte es nicht entgehen, daß er vor Verlangen brannte, sich in eine interessante Konversation zu mischen, aber die Furcht, unklugerweise zu zuvorkommend zu erscheinen, sich etwas zu vergeben, sich zu familiär zu zeigen, hielt ihn davon zurück. Um sich Gefahren dieser Art zu entziehen, beobachtete er eine außerordentliche Reserve und sprach nur von Zeit zu Zeit irgend ein einsilbiges Wort. Kurz, er hatte sein System so auf die Spitze getrieben, daß man ihn einen langweiligen Peter nannte, und dieser Titel war wohl verdient.

Das war die hohe Persönlichkeit, die Akaki Akakiewitsch um Hilfe und Schutz angehen mußte. Der Augenblick, den er wählte, um seine Absicht auszuführen, schien äußerst ungünstig, besonders für Akaki Akakiewitsch, dagegen um so günstiger, um der Eitelkeit des Generals zu schmeicheln.

Die hohe Persönlichkeit befand sich gerade in ihrem Arbeitszimmer und plauderte angeregt mit einem alten Jugendfreunde, der vor kurzem angekommen war und den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, als man ihr meldete, daß ein Herr Baschmakschin um die Ehre einer Audienz bei Seiner Exzellenz nachsuchte.

„Wer ist das?“ fragte er kurz und sehr erstaunt.

„Ein Beamter!“

„Warten lassen. Beschäftigt. Ich habe keine Zeit, ihn zu empfangen.“

Die hohe Persönlichkeit schwindelte. Nichts hinderte sie daran, die gewünschte Audienz zu gewähren. Beide Freunde hatten schon alles durchgesprochen. Schon mehr als einmal war ihre Unterhaltung von langen Pausen unterbrochen worden, nach deren Beendigung sie sich beide freundschaftlich auf die Knie klopften:

„So geh, lieber Iwan Abramowitsch!“

„Ja, ja, Stephan Warlamowitsch!“

Aber der Direktor wollte den Bittsteller nicht gleich empfangen, um seinen Freund seine ganze Bedeutung empfinden zu lassen, dieser hatte nämlich den Dienst quittiert und wohnte jetzt auf dem Lande; daher wollte ihm der Direktor deutlich demonstrieren, daß die Beamten sich so lange im Vorzimmer zu gedulden hätten, bis es ihm gefiele, sie zu empfangen.

Endlich — nach mehreren Zwiegesprächen und einigen neuen Pausen, währenddessen die beiden Freunde in ihren bequemen Lehnsesseln liegend, den Rauch ihrer Zigarren zur Decke sandten, schien sich der General-Direktor plötzlich daran zu erinnern, daß man ihn um eine Audienz gebeten hätte. Er rief seinen Sekretär, der mit verschiedenen Akten an der Tür stand, und sagte: „Ich glaube es wartet da irgend ein Beamter auf mich. Lassen Sie ihn herein!“

Als er Akaki Akakiewitschs ansichtig wurde, der sich ihm mit untertäniger Miene in seiner alten Uniform näherte, wandte er sich schroff zu ihm und fuhr ihn in jenem strengen und rauhen Tone an, den er sich, wenn er in seinem Zimmer allein war, vor dem Spiegel einstudiert hatte, noch eine ganze Woche bevor er seinen neuen Posten einnehmen und sich General nennen durfte.

„Was wollen Sie?“

Der schon ganz eingeschüchterte Akaki Akakiewitsch war wie niedergeschmettert von dieser schroffen Anrede. Indes versuchte er es sich so gut er konnte verständlich zu machen und zu erzählen, wie man ihn in unmenschlicher Weise seines neuen Mantels beraubt hatte, nicht ohne seinen Bericht mit einer Menge überflüssiger Flickworte zu verbrämen. Er fügte hinzu, er habe sich an Seine Exzellenz gewandt in der Hoffnung, daß er dank dieser hohen und gütigen Protektion bei dem Polizei-Präsidenten oder bei andern hohen Behörden wieder in den Besitz seines Kleidungsstückes gelangen könne.

Der General-Direktor fand aus irgend einem Grunde, daß dies Benehmen viel zu familiär sei und herrschte ihn daher kurz an: „Wie Herr! Sie wissen nicht, was Sie in so einem Falle zu tun haben? Was fällt Ihnen ein? Sie kennen wohl den Instanzenweg nicht? Sie hätten eine Bittschrift einreichen sollen, die in die Hände des Bureauchefs und aus ihnen in die des Abteilungsvorstandes gelangt wäre; dieser hätte sie meinem Sekretär überreicht, durch den sie mir hätte zugestellt werden müssen.“

„Gestatten Sie mir,“ unterbrach ihn Akaki Akakiewitsch mit großer Anstrengung, um den kargen Rest von Geistesgegenwart, der ihm geblieben war, zusammenzunehmen. Fühlte er doch, daß er schon vor Schrecken und Erregung schwitzte. „Gestatten Sie mir, Eure Exzellenz, Ihnen zu bemerken, daß, wenn ich mir die Freiheit genommen habe, Sie mit dieser Angelegenheit zu belästigen, die Sekretäre ... die Sekretäre sind Leute, von denen man nichts zu erwarten hat.“

„Wie? Was? Wahrhaftig!“ schrie ihn der General-Direktor an. „Sie wagen es, hier eine solche Sprache zu führen? Wie sind Sie denn zu solchen Ansichten gelangt? Es ist eine Schmach, zu sehen, wie sich junge Leute derartig gegen ihre Vorgesetzten empören!“

In seinem Ungestüm sah wohl der General-Direktor garnicht, daß der Titular-Rat bereits die Fünfzig überschritten hatte und daß die Bezeichnung: junger Mann nur noch relativ auf ihn angewendet werden konnte: im Vergleich mit einem Siebzigjährigen nämlich!

„Wissen Sie auch,“ fuhr die hohe Persönlichkeit fort, „mit wem Sie sprechen? Erinnern Sie sich, vor wem Sie stehen? Erinnern Sie sich daran! Ich sage: erinnern Sie sich daran!“

Diese Worte begleitete er mit heftigem Fußstampfen, und seine Stimme nahm eine solche Schärfe, einen so furchterregenden Umfang an, daß auch ein anderer erschrocken zusammengefahren wäre.

Akaki war völlig gelähmt; er zitterte, seufzte, konnte sich kaum aufrecht halten und wäre ohne das Zuhilfekommen des Bureaudieners unfehlbar zu Boden gesunken. Man führte, oder vielmehr man schleppte ihn fast ohnmächtig hinaus.

Der General-Direktor war über die Wirkung seiner Worte ganz erstaunt; sie überstieg seine Erwartung, und voller Genugtuung darüber, daß sein herrischer Ton auf einen Greis einen solchen Eindruck gemacht hatte, daß dieser arme Mann sein Bewußtsein verlor, warf er einen flüchtigen Blick auf seinen Freund, um zu sehen, wie er diesen Ausgang aufgenommen hatte. Wie grenzenlos wurde da seine Zufriedenheit mit sich selbst, als er sogar bei seinem Freunde, der unschlüssig dasaß und ihn mit einem gewissen Schrecken ansah, einen tiefen Eindruck feststellte!

Wie Akaki Akakiewitsch die Treppe hinunter gelangte und wie er die Straßen durchwanderte, darüber hätte er selbst niemals Rechenschaft geben können; denn er war mehr tot als lebendig. In seinem ganzen Leben war er noch nicht von einem General-Direktor, und noch dazu von einem so strengen General-Direktor, so heftig gescholten worden.

In dem heulenden Schneesturm, der draußen tobte, wanderte er mit offenem Munde dahin, ohne dieses abscheuliche Wetter überhaupt zu bemerken, und ohne auf dem Trottoir vor dem Schneegestöber Schutz zu suchen. Der Wind, der nach Petersburger Sitte aus allen vier Himmelsrichtungen blies, verursachte ihm eine Halsentzündung. Nach Hause zurückgekehrt, war er außerstande, ein Wort zu sprechen. Sein ganzer Körper war geschwollen, und daher legte sich Akaki Akakiewitsch zu Bett. So groß ist mitunter die Wirkung einer gründlichen Moralpauke!

Am folgenden Tage fieberte Akaki heftig. Dank der großmütigen Hilfe des St. Petersburger Klimas machte seine Krankheit in kurzer Zeit beunruhigende Fortschritte. Als der Arzt sich einstellte, war all seine Kunst bereits nutzlos. Der Doktor fühlte ihm den Puls, aber er konnte nichts mehr ausrichten, so verschrieb er ihm denn ein Rezept, um ihn doch nicht ohne die Segnungen der medizinischen Wissenschaft sterben zu lassen, und erklärte, daß der Kranke nur noch zwei Tage zu leben hätte.

Dann wandte er sich an Akakis Wirtin und sagte: „Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren; lassen Sie ihm doch gleich einen Sarg aus Fichtenholz machen, denn ein eichner wäre für diesen armen Mann wohl zu teuer.“

Hörte Akaki Akakiewitsch diese verhängnisvollen Worte? Waren sie es, die eine so erschütternde Wirkung auf ihn ausübten? Beklagte er sich ganz leise über sein trauriges Schicksal? Niemand hätte es sagen können, redete er doch bereits im Delirium. Seltsame Visionen jagten unaufhörlich durch sein geschwächtes Hirn. Bald sah er sich Petrowitsch gegenüber, den er beauftragte, ihm einen Mantel anzufertigen, bald sah er Fußangeln für die Diebe, die er beständig unter seinem Bett zu entdecken glaubte. Bald hatten sie sich unter seiner Decke verkrochen, und er flehte seine Wirtin an, sie fortzujagen. Bald fragte er, warum die alte Kapuze noch an der Wand hänge, wo er doch einen neuen Mantel habe, bald sah er sich vor dem General-Direktor, der ihn wieder mit Vorwürfen überhäufte, so daß er seine Exzellenz um Gnade bat. Bald verwirrte er sich in so seltsame und schreckliche Flüche und Reden, daß die erschreckte alte Frau sich bekreuzigte. Niemals in ihrem Leben hatte sie derartige Dinge von ihm gehört, und die zornigen Worte des Kranken ließen sie um so mehr außer sich geraten, als der Titel einer Exzellenz jeden Augenblick wiederkehrte. Bald murmelte er von neuem sinnlose Sätze ohne Zusammenhang, die sich aber immer um denselben Punkt drehten: um den Mantel.

Endlich hauchte der arme Akaki Akakiewitsch seinen letzten Seufzer aus. Man legte weder auf sein Zimmer noch auf seinen Schrank Siegel — und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er keinen Erben hatte und nur ein Päckchen Gänsefedern, ein Heft mit weißem Aktenpapier, drei Paar Strümpfe, einige Hosenknöpfe und seinen alten Mantel hinterließ. Wem fielen diese Reliquien zu? Das weiß Gott allein! Der Verfasser dieser Erzählung muß gestehen, daß er es unterlassen hat, sich genauer darüber zu informieren.

Akaki Akakiewitsch wurde in ein Leichentuch gehüllt und nach dem Kirchhof gebracht, auf dem man ihn beisetzte. Die große Stadt Petersburg fuhr in ihrem gewöhnlichen Leben fort, wie wenn der Titularrat niemals existiert hätte.

So schwand ein menschliches Wesen dahin, das weder einen Beschützer, noch einen Freund gehabt, das nie jemand ein wahrhaft herzliches Interesse eingeflößt, das nicht einmal die Neugier der sonst doch so forschungswütigen Männer erregt hatte, jener Schnüffler, die es doch sonst nicht verschmähen, eine gewöhnliche Fliege zum Zwecke einer mikroskopischen Untersuchung auf die Nadel zu spießen. Ohne ein einziges Wort der Klage hatte dieses Wesen die Mißachtung und den Spott seiner Kollegen ertragen. Ohne daß es je ein außerordentliches Erlebnis gehabt hätte, war es seinen Weg zum Grabe dahingewandert, und als ihm am Ende seiner Tage ein Lichtblick in Form eines Mantels sein elendes Dasein belebt hatte, mußte das Schicksal es niederwerfen, ganz so, wie es auch die Großen dieser Welt niederzuwerfen pflegt! ....

Einige Tage nach seinem Tode ließ ihm sein Chef durch einen Boten mitteilen, daß er sich sofort auf seinen Posten zu begeben habe. Der Bureaudiener kam jedoch mit der Nachricht zurück, daß der Titular-Rat nicht mehr kommen könne.

„Und weshalb nicht?“ fragten die Beamten.

„Weil er bereits tot und vor vier Tagen begraben worden ist!“

So erfuhren Akaki Akakiewitschs Kollegen seinen Tod.

Am Tage darauf nahm seinen Platz ein anderer Beamter ein, der viel robuster und gröber war und der sich nicht die Mühe nahm, beim Kopieren der Akten die Buchstaben so aufrecht hinzumalen, sondern der eine viel schrägere Schrift hatte.


Es könnte scheinen, als müsse Akaki Akakiewitschs Geschichte hier endigen, und als hätten wir nichts mehr über ihn mitzuteilen. Allein der bescheidene Titular-Rat war dazu bestimmt, nach seinem Tode noch manchen Tag von sich reden zu machen: wie zur Belohnung für sein bescheidenes von niemandem beachtetes Dasein, und unsere Erzählung nimmt hier ganz unerwarteter Weise eine recht phantastische Wendung.

Eines Tages verbreitete sich in St. Petersburg das Gerücht, daß in der Nähe der Katharinenbrücke Nacht für Nacht ein Gespenst in der Uniform eines Kanzleibeamten erscheine, einen gestohlenen Mantel suche und allen Passanten, ohne sich im mindesten um deren Titel oder Rang zu kümmern, ihre wattierten, mit Katzen-, Otter-, Bären-, Biberfell gefütterten Mäntel, kurz alle solche, die die Menschen erfunden haben, um ihr eigenes Fell gegen die Kälte zu schützen, abnehme. Ein dermaliger Kollege des Titular-Rates hatte dieses Gespenst gesehen und in ihm sofort Akaki Akakiewitsch erkannt. Er war, tödlich erschrocken, so schnell er konnte, davongelaufen, und so war es ihm gelungen, zu entkommen, aber — obwohl er schon fern war — hatte er es doch mit der Faust drohen sehen. Überall erfuhr man, daß die Rücken und die Schultern von Räten, — nicht nur von Titular-Räten, — sondern auch von Staatsräten infolge dieses unqualifizierbaren Raubes ihrer schönen warmen Kleidung den heftigsten Erkältungen ausgesetzt waren.

Die Polizei traf natürlich alle möglichen Maßregeln, um dieses Gespenst — tot oder lebend — zu ergreifen und an ihm eine exemplarische Strafe zu vollziehen; und das wäre ihr auch beinahe gelungen.

Eines Abends hatte ein Posten in der Kirjuschkingasse das Glück, das Gespenst gerade in dem Momente am Kragen zu packen, wo es einem alten Musiker, der vormals die Flöte gespielt hatte, seinen Friesmantel fortnehmen wollte. Die Wache rief zwei Kameraden zu Hilfe und vertraute ihnen den Gefangenen an, während sie mit der Hand in ihren Stiefel langte, um ihre Tabaksdose zu suchen, und ihre schon zum sechsten Male erfrorene Nase wieder etwas zu beleben. Aber der Tabak war wohl von solcher Art, daß selbst ein Toter ihn nicht gut vertragen konnte. Kaum hatte der Posten seinem linken Nasenloche einige Körnchen anvertraut, während er das rechte zuhielt, als der Gefangene so gewaltig zu niesen begann, daß die drei Soldaten fühlten, wie ein Nebel ihre Augen verhüllte. Während sie sich die Lider rieben, verschwand das Gespenst spurlos, so daß sie nicht recht wußten, ob sie es auch wirklich in ihren Händen gehalten hatten. Von diesem Tage an hatten alle Wachen eine so große Furcht vor Gespenstern, daß sie nicht einmal einen lebendigen Menschen mehr zu verhaften wagten und sich darauf beschränkten, ihm von ferne zuzurufen:

„Geht weiter! Geht weiter!“

Das Phantom fuhr fort, in der Nähe der Kalinkinbrücke umzugehen, und verbreitete in dem ganzen Viertel einen gewaltigen Schrecken unter allen ängstlichen Leuten.

Kehren wir jedoch zu der hohen Persönlichkeit, der ursprünglichen Veranlassung unserer phantastischen, aber durchaus wahren Geschichte, zurück. Der Wahrheit gemäß müssen wir zugeben, daß die hohe Persönlichkeit, bald nachdem sich der arme von ihr so schlecht behandelte Akaki Akakiewitsch entfernt hatte, etwas wie Mitleid mit ihm empfand. Ein gewisses Gefühl der Teilnahme war dem Herzen des hohen Herrn durchaus nicht fremd; er selbst hatte manch edle Regung, — sein einziger Fehler bestand darin, sie infolge des maßlosen Stolzes auf seinen Titel zu unterdrücken. Als sein Freund gegangen war, hatte er sich aufs teilnahmsvollste mit diesem unglücklichen bleichen Titular-Rat beschäftigt, den er immer in seiner Verstörtheit vor sich sah, sich krümmend unter den grausamen Vorwürfen, die er ihm gemacht hatte. Diese Vision beunruhigte ihn derartig, daß er eines Tages einem seiner Beamten den Auftrag gab, sich über Akaki Akakiewitschs Schicksal zu unterrichten und festzustellen, ob man noch etwas für ihn tun könne.

Als der Bote mit der Nachricht zurückkam, daß der arme kleine Beamte kurz nach der Audienz einem plötzlichen Fieberanfall zum Opfer gefallen war, empfand der General-Direktor starke Gewissensbisse und verbrachte den ganzen Tag in der düstersten Stimmung.

Um sich ein wenig zu zerstreuen und seine peinlichen Eindrücke zu verjagen, begab er sich des Abends zu einem Freunde, bei dem er eine angenehme Gesellschaft antraf, und — was die Hauptsache war — lauter Personen von seinem Rang, so daß er sich nicht zu genieren brauchte.

Und wirklich sah er sich auch bald all seiner melancholischen Gedanken enthoben, er wurde wieder lebhaft, fing Feuer, beteiligte sich in liebenswürdigster Weise an den Gesprächen, wie wenn nichts vorgefallen wäre, und verbrachte so einen sehr schönen Abend.

Zum Souper trank er zwei Glas Champagner, bekanntlich das beste Mittel, um seine Heiterkeit wieder zu gewinnen. Unter dem Einflusse dieses schäumenden Trankes bekam er Lust zu etwas ganz Besonderem: er beschloß daher, nicht unmittelbar nach Hause zu gehen, sondern eine seiner Freundinnen, ich glaube es war eine deutsche Dame, namens Karoline Iwanowna, aufzusuchen, zu der er zärtliche Beziehungen unterhielt.

Ich möchte hierbei betonen, daß die hohe Persönlichkeit keineswegs mehr jung war, ja, daß man sie überall als tadellosen Gatten und guten Familienvater rühmte. Ihre beiden Söhne, deren einer bereits in einem Ministerium angestellt war, und ein sechszehnjähriges Töchterchen mit einer zwar hakenförmigen aber doch ganz reizenden Nase, kamen allmorgentlich in sein Zimmer, um ihm die Hand zu küssen und ihm mit den Worten: Bonjour, papa guten Morgen zu sagen.

Seine Gattin, eine frische und noch immer anziehende Erscheinung, bot ihm zuerst die Hand zum Kusse, ergriff sodann die seine und drehte sie nach innen, um sie ihrerseits an ihre Lippen zu führen. Obgleich sich die hohe Persönlichkeit also in ihrer Häuslichkeit äußerst wohl fühlte und durch die Zärtlichkeiten der Familienmitglieder vollauf befriedigt schien, glaubte sie dennoch auch in einem anderen Viertel den Galanten spielen zu müssen. Die Freundin, mit der seine Gattin seine Zärtlichkeiten teilen mußte, war keineswegs jünger als diese; aber so sind die Rätsel des Lebens, und wir sind ja nicht befugt, sie hier lösen zu wollen.

Die hohe Persönlichkeit ging also die Treppe hinunter, bestieg ihren Schlitten und sagte zu dem Kutscher:

„Zu Karoline Iwanowna!“

Sorgfältig in seinen warmen Mantel eingehüllt, befand er sich in der angenehmsten Stimmung, die sich ein Russe nur wünschen mag, einer Stimmung, wo man selbst an nichts denkt und sich der Geist doch in einem Kreislauf von Gedanken bewegt, von denen die einen immer wohltuender sind als die anderen, und wo man sich garnicht die Mühe zu nehmen braucht, nach ihnen zu suchen oder sie festzuhalten. Er dachte an die glücklichen Stunden, die er soeben in so angenehmer Gesellschaft verbracht hatte, an die geistreichen Bemerkungen, die den kleinen Kreis zu lautem Lachen gereizt und die er halblaut kichernd wiederholte. Hierbei fand er, daß sie noch genau so komisch waren wie damals, als er sie zum ersten Male gehört hatte, und er wunderte sich daher nicht im mindesten darüber, daß er so herzhaft hatte lachen müssen.

Von Zeit zu Zeit störte ihn ein heftiger Windstoß, der ihn plötzlich ganz unmotiviert anwehte und ihm ganze Schneehaufen ins Gesicht schleuderte, in seinen Betrachtungen. Der Nord pfiff durch seinen Mantel, blähte ihn wie ein Segel auf, schlug ihm den Kragen um die Ohren und nötigte ihn, seine ganze Kraft zusammenzunehmen, um sich wieder aus ihm herauszuwinden.

Plötzlich fühlte die hohe Persönlichkeit, wie eine machtvolle Hand sie am Kragen packte. Sie wandte sich um und bemerkte einen kleinen, mit einer alten Uniform bekleideten Mann. Entsetzt erkannte sie Akaki Akakiewitschs Züge, und diese Züge waren bleich wie der Schnee und abgezehrt wie die eines Toten.

Aber wer beschreibt den Schrecken der hohen Persönlichkeit, als sie bemerkte, daß sich der Mund des Toten in krampfhaften Zuckungen verzog, den Direktor mit eisigem Grabeshauche anblies und in folgende Worte ausbrach:

„Endlich habe ich dich ... endlich kann ich dich am Kragen packen. Ich will meinen Mantel. Du hast dich nicht um mich gekümmert, als ich in Nöten war, und mich nur mit Schmähungen überhäuft. — Nun sollst du mir deinen Mantel geben!“

Der arme hohe Beamte war ein Kind des Todes. In seinem Bureau vor seinen Untergebenen fehlte es ihm sicher nicht an Mut und Charakterstärke; er brauchte nur einen Subalternen streng anzusehen, und schon rief jeder, der einen Blick auf seine kräftige Gestalt und sein imponierendes Äußeres warf: „Welch ein Charakter!“

Aber wie bei so vielen anderen hochmütigen Beamten offenbarte sich sein Heldentum nur in seiner äußeren Erscheinung, und in diesem Augenblick war er so erschrocken, daß er sogar um seine Gesundheit fürchten mußte.

Mit zitternder Hand zog er sich selbst seinen Mantel aus und rief seinem Kutscher zu:

„Schnell nach Hause! Schnell!“

Als der Kutscher diese Stimme hörte, die, wie das in solchen Augenblicken wohl vorkommt, einen sehr bestimmten und energischen Klang hatte und meist von noch viel bestimmteren und energischeren Taten begleitet zu sein pflegte, neigte er vorsichtig den Kopf, schwang seine Peitsche und ließ seinen Schlitten pfeilschnell dahinsausen. In weniger als sechs Minuten hielt der Schlitten vor dem Hause der hohen Persönlichkeit. Bleich, erschrocken und ohne Mantel stieg er aus und begab sich sofort nach seinem Zimmer. Statt zu Karoline Iwanowna zu fahren, war er schleunigst zu sich nach Hause geeilt. Er verbrachte eine so schreckliche Nacht, daß seine Tochter am andern Morgen während des Tees entsetzt ausrief:

„Du bist ja heute so bleich, Papa!“

Er sagte nichts, weder von dem, was er gesehen, noch von dem, wo er gewesen war, und was er am Abend vorher hatte tun wollen. Indes machte dieses Ereignis einen tiefen Eindruck auf ihn. Von diesem Tage an fragte er seine Untergebenen nicht mehr in seiner bisherigen schroffen Art:

„Was erlauben Sie sich? Wissen Sie, wer vor Ihnen steht?“

Oder, wenn es ihm doch noch bisweilen widerfuhr, in herrischem Tone mit ihnen zu sprechen, so hörte er doch wenigstens vorher erst ihr Gesuch an.

Und wie seltsam! Von diesem Tage an zeigte sich das Gespenst nicht mehr. Augenscheinlich hatte es überhaupt keine andere Absicht gehabt, als sich den Mantel des General-Direktors anzueignen. Jedenfalls hörte man von nun an nichts mehr davon, daß den Leuten ihre Mäntel geraubt wurden. Allerdings gab es noch einige ängstliche und übereifrige Personen, die sich durchaus nicht beruhigen wollten und behaupteten, daß sich das Phantom noch immer und zwar in andern entlegeneren Stadtvierteln zeige ... Und in der Tat, ein Wachtposten wollte sogar mit eigenen Augen gesehen haben, wie es an einem Hause vorübergeeilt war. Der Posten war jedoch von Natur ein wenig schwächlich — hatte doch sogar ein gewöhnliches ausgewachsenes Ferkel, das aus einem Privathause ausgebrochen war, ihn zur größten Freude und Erheiterung der herumstehenden Droschkenkutscher einmal ganz einfach umgeworfen. Dafür ließ er sich freilich nachher von jedem einen Groschen für Tabak geben, um sie zu strafen, weil sie sich über ihn lustig gemacht hatten. Da er also ein solcher Schwächling war, wagte er es nicht, das Gespenst zu verhaften, sondern begnügte sich damit, ihm in der Dunkelheit nachzuschleichen. Da aber drehte sich das Gespenst plötzlich um und schrie ihn an: „Was willst du?“ wobei es ihm eine so schreckliche Faust zeigte, wie man sie sogar bei einem Lebenden nicht so leicht zu sehen bekommt.

„Nichts,“ antwortete der Wachtposten und nahm eiligst Reißaus.

Dieser Schatten war jedoch schon bedeutend größer als der des Titular-Rats und trug einen enormen Schnauzbart. Er schien mit mächtigen Schritten der Obuhoffbrücke zuzueilen und verschwand gleich darauf in der dunklen Nacht.

Die Nase

I.

Am 25. März trug sich in St. Petersburg ein außerordentliches Ereignis zu.

Auf dem Wosnessenski-Prospekt wohnte der Barbier Iwan Jakowlewitsch, dessen Familienname von dem Schilde, auf dem man nur noch die Abbildung eines an Wangen und Kinn eingeseiften Herrn nebst der Inschrift: „Hier wird auch zur Ader gelassen!“ erkennen konnte, geschwunden war. Dieser Barbier Iwan Jakowlewitsch wachte also ziemlich frühzeitig auf und atmete den Duft von warmem Brote ein. Er richtete sich im Bette etwas empor und sah, wie seine Frau, eine äußerst respektable Dame und leidenschaftliche Liebhaberin des Kaffees, einige frischgebackene Brote aus dem Ofen hervorholte.

„Heute, meine liebe Praskowia Ossipowna, werde ich keinen Kaffee trinken,“ sagte Iwan Jakowlewitsch; „ich habe mehr Appetit auf Brot mit Zwiebeln.“

Um die Wahrheit zu sagen: Iwan Jakowlewitsch hätte gar zu gern von beidem gekostet; doch war er von vornherein von der Unmöglichkeit einer derartigen Schwelgerei völlig durchdrungen, denn Praskowia Ossipowna ließ solche Launen nicht zu.

„Iß meinetwegen Brot, Schafskopf,“ dachte die Frau bei sich; „für mich wird dann um so mehr Kaffee übrig bleiben ...“ und sie warf ein Brot auf den Tisch.

Iwan Jakowlewitsch zog aus Schicklichkeitsgründen einen Leibrock über sein Hemd, nahm — nachdem er am Tische Platz genommen hatte — etwas Salz, stutzte zwei Zwiebeln, ergriff ein Messer und schickte sich an, das Brot höchst bedächtig zu zerteilen. Er schnitt es in zwei Hälften, schaute sich die eine Fläche an und bemerkte zu seiner größten Verwunderung etwas Weißliches. Iwan Jakowlewitsch kratzte vorsichtig mit dem Messer daran herum und befühlte es mit dem Daumen. „Das Ding ist ja ganz hart!“ sagte er zu sich; „was mag denn das nur sein?“

Er schälte es mit den Fingern heraus und fand — eine Nase! Iwan Jakowlewitsch ließ seine Arme sinken; dann begann er sich seine Augen zu reiben und befühlte es noch einmal mit dem Finger. In der Tat, es war eine Nase, eine wirkliche Nase, und dazu noch eine Nase, deren Bildung er wiederzuerkennen glaubte.

Entsetzen malte sich auf Iwan Jakowlewitschs Zügen: aber dieses Entsetzen war harmlos im Vergleich mit der Empörung, die sich seiner Gattin bemächtigte.

„Wo hast du nur diese Nase abgeschnitten, du Vieh?“ fing sie wutentbrannt zu schreien an. „Du Dieb, du Trunkenbold! Ich werde dich selbst der Polizei denunzieren! Was für ein Lumpenkerl! Schon drei Herren haben mir gesagt, du zerrst beim Rasieren derartig an den Nasen, daß du sie beinahe abreißt!“

Allein Iwan Jakowlewitsch war weder tot noch lebend, hatte er doch soeben festgestellt, daß diese Nase keine andere war als die des Kollegien-Assessors Kowalew, den er Mittwochs und Sonntags zu rasieren pflegte.

„Schweig doch, Praskowia Ossipowna,“ sagte er, „ich werde sie in ein Stück Leinewand einschlagen und sie in irgend eine Ecke verstecken, wo sie einige Tage liegen bleiben mag. Dann werde ich sie forttragen.“

„Damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden. Ich soll zugeben, daß du eine abgeschnittene Nase im Zimmer versteckst? Du gerösteter Zwieback du! Er kann nur sein Rasiermesser abziehen und ist nicht fähig, sein Geschäft schnell und solid auszuführen! Herumstreicher, Strauchdieb! Glaubst du etwa, ich werde mir deinetwegen Scherereien mit der Polizei zuziehen? Ach, du bist ein Taugenichts, ein dummer Klotz bist du! Weg damit! Fort! Da, trag sie weg, wohin du willst. Ich will nichts davon wissen!“

Iwan Jakowlewitsch war völlig zerschmettert. Er überlegte und überlegte ... und wußte im Grunde garnicht was.

„Der Teufel soll wissen, wie das nur möglich ist!“ sagte er endlich, indem er sich mit der Hand über die Ohren fuhr. „Bin ich gestern betrunken nach Hause gekommen oder nicht? Allerdings kann ich das nicht mit Gewißheit sagen. Aber allem Anschein nach handelt es sich hier um einen ganz außergewöhnlichen Vorgang; denn das Brot — das Brot wird doch gebacken, während eine Nase ... Weiß Gott, ich verstehe das nie und nimmer!“

Iwan Jakowlewitsch verstummte. Der Gedanke, ein Polizist könnte diese Nase bei ihm entdecken und ihn zur Rechenschaft ziehen, versetzte ihn in eine vollkommene Niedergeschlagenheit. Es war ihm bereits, als sähe er einen roten, reich mit Silber besetzten Kragen, und einen Degen vor sich ... und er zitterte am ganzen Körper. Endlich zog er seine Beinkleider und Stiefel an, wickelte die Nase schnell unter den peinlichsten Ermahnungen seiner Frau in ein Stück Leinewand und verließ seine Wohnung.

Er hatte die Absicht, die Nase irgendwo an einem Brunnen, unter einer Schwelle niederzulegen oder sie wie absichtslos fallen zu lassen, und dann in eine andere Straße einzubiegen.

Aber unglücklicherweise lief er einem Bekannten in die Arme, der ihn sofort zu fragen anfing:

„Wo gehst du denn hin?“ oder: „Wen willst du denn schon so frühzeitig rasieren?“ sodaß Iwan Jakowlewitsch durchaus keinen günstigen Moment für sein Vorhaben erwischen konnte. In der Folge glückte es ihm zwar einmal, die Nase fallen zu lassen; aber ein Schutzmann machte ihm schon von weitem mit der Hellebarde ein Zeichen und rief ihm zu: „Heb’s doch auf! Du hast da etwas fallen lassen!“ Und Iwan Jakowlewitsch ward so genötigt, die Nase aufzuheben und in seine Tasche zu stecken. Verzweiflung überfiel ihn, und zwar um so heftiger, je mehr sich die Straße bevölkerte und je mehr Läden und Wirtshäuser geöffnet wurden.

Er entschloß sich, auf die Isaaksbrücke zu gehen. Vielleicht würde er dort ein Mittel finden, die Nase unbemerkt in die Newa zu werfen! ...

Aber ich habe einen Fehler begangen, daß ich dem Leser bis jetzt noch nichts über Iwan Jakowlewitsch, eine in mancher Hinsicht bemerkenswerte Persönlichkeit, berichtet habe.

Iwan Jakowlewitsch war wie jeder russischer Handwerker, der etwas auf sich hält, ein furchtbarer Trunkenbold, und obgleich er täglich die Bärte anderer Leute rasierte, rasierte er doch niemals seinen eigenen. Sein Frack — denn Iwan Jakowlewitsch trug nie einen Überrock — war bunt oder vielmehr schwarz und mit gelblich-zimtfarbenen und grauen Flecken übersät; der Kragen glänzte schon ein wenig, und anstelle von drei Knöpfen sah man nichts mehr als ein Paar abgerissene Zwirnsfäden.

Iwan Jakowlewitsch war in jeder Beziehung ein Zyniker; wenn der Kollegien-Assessor Kowalew nach seiner Gewohnheit, während er rasiert wurde, zu ihm sagte:

„Deine Hände stinken immer, Iwan Jakowlewitsch!“ so antwortete er gelassen:

„Warum sollen sie denn stinken?“

„Ich weiß nicht, Brüderchen, aber sie stinken!“ versetzte hierauf der Kollegien-Assessor Kowalew; und Iwan Jakowlewitsch nahm dann erst eine Prise und seifte hierauf Kowalews Wangen, seine Oberlippe, die Partie hinter den Ohren und unter dem Kinne ein — mit einem Worte, er seifte ihn ein, wo es ihm Vergnügen machte.

Dieser ehrenwerte Bürger war nun endlich auf der Isaaksbrücke angekommen. Zunächst warf er einen spähenden Blick auf die Umgebung, beugte sich über das Geländer, wie wenn er die vielen Fische im Wasser beobachten wollte, und warf dann das Päckchen mit der Nase ganz behutsam hinab.

Es war ihm zumute, als fielen ihm mit einem Male zehn Pud[10] vom Herzen. Ja, er lächelte sogar.

Anstatt sich nun auf den Weg zu machen, um schnell seine Beamten zu rasieren, trat er in ein Lokal ein, das ein Schild mit der Inschrift „Tee und Lebensmittel“ trug, und bestellte dort ein Glas Punsch. Plötzlich bemerkte er jedoch ganz in der Nähe am Ende der Brücke, den Bezirkskommissar, einen Mann von vornehmem Äußeren, mit breitem Backenbart, Dreispitz und Degen. Iwan Jakowlewitsch wurde vor Entsetzen starr wie ein Eisklumpen. Der Kommissar winkte ihm mit der Hand und sagte zu ihm:

„Komm doch mal näher, mein Lieber!“

Iwan Jakowlewitsch zog, da er die gebräuchlichen Höflichkeitsformen sehr wohl kannte, schon von weitem die Mütze, sprang herbei und sagte:

„Ich wünsche Ew. Wohlgeboren einen schönen guten Morgen!“

„Nein, nein, Brüderchen, laß nur das ‚Ew. Wohlgeboren‘ aus dem Spiel! — Sag mir lieber, was hattest du da auf der Brücke zu tun?“

„Wahrhaftig, Herr, ich war gerade auf dem Wege zu meinen Kunden, die ich rasieren soll, und schaute hinab, ob die Strömung sehr stark ist!“

„Du lügst! Du schwindelst! So kommst du mit nicht davon! Willst du mir jetzt wohl Rede stehen?“

„Ich bin bereit, Ew. Gnaden zwei-, ja sogar dreimal wöchentlich ohne jede Bezahlung zu rasieren!“ versetzte Iwan Jakowlewitsch.

„Nein, lieber Freund! Das sind Dummheiten! Mich rasieren bereits drei Barbiere und rechnen sich diese Funktion zur Ehre an. Aber ich bitte dich, mir zu sagen, was du dort gemacht hast!“

Iwan Jakowlewitsch erblaßte ...

Aber hier hüllt plötzlich ein undurchdringliches Dunkel unsere Geschichte ein, und über die folgenden Geschehnisse weiß man absolut nichts zu berichten.

II.

Der Kollegien-Assessor[11] Kowalew erwachte eines Morgens besonders früh und bewegte seine Lippen, um ein lautes Brr ... brr ... auszustoßen, wie es so seine Art war, wenn er munter wurde, ohne daß er hierfür einen Grund hätte angeben können. Er reckte sich erst tüchtig und suchte dann nach einem kleinen Spiegel, der auf dem Tische stand. Er wollte sich ein Pickelchen anschauen, das am Abend vorher auf seiner Nase aufgesprungen war. Aber zu seinem größten Erstaunen befand sich anstelle seiner Nase in seinem Gesicht eine durchaus ebene und glatte Fläche! Voller Schrecken ließ Kowalew sich Wasser bringen und wusch sich die Augen mit dem Handtuch aus: wahrhaftig, er hatte keine Nase mehr! Er befühlte die Stelle mit der Hand und kniff sich ins Fleisch, um festzustellen, ob er vielleicht noch schliefe; aber nein, er schien tatsächlich nicht zu schlafen. Der Kollegien-Assessor Kowalew sprang aus seinem Bett, schüttelte und rüttelte sich, — doch die Nase war und blieb verschwunden! Er ließ sich sofort seine Kleider bringen und stürzte schleunigst zu dem Polizeivorstand.

Aber inzwischen ist es Zeit geworden, einige Worte über Kowalew zu sagen, damit der Leser ermessen kann, um welche Art von Kollegien-Assessor es sich bei unserem Freunde Kowalew handelt.

Man darf nicht etwa die Kollegien-Assessoren, die diesen Rang ihren Diplomen verdanken, mit denen verwechseln, die ihn während ihrer Dienstzeit im Kaukasus erhalten haben. Die Kollegien-Assessoren mit wissenschaftlicher Bildung ... aber ich will doch lieber aufhören, denn Rußland ist ein so seltsames Land, daß all seine Kollegien-Assessoren von Riga bis Kamtschatka sich getroffen fühlen, wenn auch nur von einem dieser Gattung die Rede ist. Und das gilt auch für alle Ämter und alle Grade.

Kowalew war ein kaukasischer Kollegien-Assessor. Seit zwei Jahren erst bekleidete er diesen Rang, und es gab kaum einen Moment, in dem er sich nicht an seine Stellung erinnerte; um sich noch mehr Ansehen und Gewicht zu verleihen, stellte er sich niemals als simplen Kollegien-Assessor vor, sondern stets als Major. „Hör doch, mein Täubchen,“ sagte er gewöhnlich, so oft er auf der Straße eine alte Frau traf, die Leinewand feilbot, „geh doch zu mir in meine Wohnung; ich wohne in der Sadovaja[12] und frage nur: ‚Wohnt hier der Major Kowalew?‘ Jedermann wird dir gern Auskunft erteilen.“ Oder begegnete er einer artigen Schönen, so flüsterte er ihr ganz leise zu: „Du brauchst nur nach der Wohnung des Majors Kowalew zu fragen, liebes Kind!“ Aus diesem Grunde wollen auch wir ihn von nun an stets den „Major“ nennen.

Der Major Kowalew pflegte jeden Tag einen Spaziergang auf dem Newski-Prospekt zu machen. Sein Hemdkragen war stets peinlich sauber und frisch gestärkt. Sein Backenbart war von jener Art, wie man ihn noch bei Gouvernements- und Kreislandmessern, Architekten und Militär-Ärzten, d. h. fast bei allen Leuten trifft, die runde Backen und rote Wangen haben und gut „Boston“ spielen. Dieser Backenbart zieht sich von der Mitte der Wangen bis dicht unter die Nase hin. Major Kowalew trug an der Uhrkette eine ganze Sammlung von kleinen Korallenberlocken, die mit einem Wappen oder auch mit der Inschrift „Mittwoch“, „Donnerstag“, „Montag“ usw. versehen waren. Der Zwang der Verhältnisse hatte ihn dazu veranlaßt, nach Petersburg zu ziehen, hauptsächlich aus dem Grunde, weil er eine seinem Range angemessene Stellung bekleiden wollte, und zwar wenn er Glück hatte, die eines Vize-Gouverneurs, oder doch wenigstens die eines schlichten Exekutors in irgend einem angesehenen Departement. Der Major Kowalew war einer Ehe durchaus nicht abgeneigt, doch mußte seine Auserkorene über eine Mitgift von mindestens zweihunderttausend Rubeln verfügen. Und nun mag sich der Leser in die Empfindungen dieses Majors versetzen, als er anstelle seiner recht hübschen und wohlgebildeten Nase nur eine alberne, glatte und flache Ebene erblickte.

Unglücklicherweise zeigte sich auch nicht ein einziger Kutscher auf der Straße; so war er also genötigt, zu Fuß zu gehen — in seinen Mantel eingehüllt und das Gesicht hinter einem Taschentuch verbergend, wie wenn er gerade Nasenbluten hätte.

„Aber vielleicht ist es doch nur eine Einbildung von mir; es ist doch unmöglich, daß mir meine Nase so ohne weiteres aus dem Gesicht geschwunden ist,“ dachte er.

Und er kehrte in einer Konditorei ein, um dort einen Blick in den Spiegel zu werfen. Zum Glück für ihn befand sich weiter niemand im Lokal, außer einigen Burschen, die gerade auskehrten und die Stühle zurecht rückten. Einige von ihnen trugen noch ganz schlaftrunken heiße Kuchen in Körben hinaus; auf den Tischen und Stühlen lagen kaffeebefleckte Zeitungen vom gestrigen Tage.

„Also Mut! Gott sei Dank ist sonst niemand hier,“ sagte er; „nun kann ich meine Untersuchung beginnen!“

Er näherte sich dem Spiegel und blickte hinein.

„Der Teufel mag wissen, wie das nur gekommen ist,“ schrie er, indem er empört ausspie; „wenn sich wenigstens anstelle meiner Nase noch etwas anderes befände! Aber nichts, absolut gar nichts!“

Nachdem er die Zähne vor Wut aufeinander gebissen hatte, verließ er das Lokal und beschloß, wider seine Gewohnheit unterwegs niemand anzusehen und keinem auch nur das geringste Lächeln zu spenden.

Plötzlich blieb er wie versteinert vor der Tür eines Hauses stehen. Seine Augen wurden von einer unerklärlichen Erscheinung angezogen: ein Wagen hielt dicht neben dem Trottoir, der Schlag wurde geöffnet und ihm entstieg ein uniformierter Herr, der eiligst die Treppe hinaufeilte. Wie groß war Kowalews Entsetzen, wie groß war sein Erstaunen, als er in ihm seine eigene Nase wiedererkannte. Angesichts dieses außergewöhnlichen Schauspieles war ihm zu Mute, als ob sich alles um ihn herumdrehe, und nur mit Mühe vermochte er sich aufrecht zu halten. Aber trotzdem beschloß er, obwohl er am ganzen Körper zitterte wie ein Fieberkranker, zu warten, bis dieser Herr wieder zurückkehren würde, um in seinen Wagen zu steigen.

Nach Ablauf zweier Minuten erschien die „Nase“ tatsächlich. Sie trug eine goldgestickte Uniform mit hohem steifen Kragen, Beinkleider aus Semischleder, und an der Seite einen Degen. An den Federn ihres Hutes konnte man erkennen, daß es sich um einen Staatsrat handelte. Der Anzug des Herrn wies darauf hin, daß er gerade Besuche abstattete. Er schaute sich nach links und nach rechts um, rief dem Kutscher ein „Vorwärts!“ zu und rollte davon.

Der unglückliche Kowalew fühlte sich dem Wahnsinn nahe. Er wußte nicht, was er von einem so überraschenden Ereignis halten sollte. Wie war es denn auch nur möglich, daß eine Nase, die sich noch gestern abend in seinem Gesicht befand und die weder gehen noch fahren konnte, jetzt eine Uniform trug! Er stürzte hinter dem Wagen her, der glücklicherweise nicht sehr weit fuhr und vor dem Gostini Dwor[13] halt machte.

Er rannte wie ein Besessener und schlüpfte zwischen einer Reihe alter Bettlerinnen mit verbundenen Gesichtern und zwei großen Öffnungen statt der Augen hindurch, über die er sich früher so oft lustig gemacht hatte. Sonst trieben sich hier nur wenig Menschen umher. Kowalew befand sich in einer solchen geistigen Verwirrung, daß er keinen Entschluß fassen konnte und lediglich in allen Winkeln und Ecken nach dem Herrn Ausschau hielt; endlich sah er ihn vor einem Laden stehen. Die Nase verbarg ihr Gesicht völlig in ihrem hohen Kragen und betrachtete mit gespannter Aufmerksamkeit die ausliegenden Waren.

„Soll ich ihn anreden?“ dachte Kowalew. „Aus seiner ganzen Persönlichkeit, aus seiner Uniform und seinem Dreispitz geht klar und deutlich hervor, daß es ein Staatsrat ist. Wenn ich nur wüßte, wie ich es anstellen soll! ...“

Schließlich begann er ganz in der Nähe des Staatsrates zu husten; aber die Nase verließ auch nicht für eine Minute ihren Standpunkt.

„Mein Herr!“ sagte Kowalew, der sich innerlich Mut zuzusprechen versuchte, „mein Herr! ...“

„Was wünschen Sie?“ fragte die Nase, indem sie sich umwandte.

„Ich finde es erstaunlich, mein Herr ... mir scheint, daß ... Sie sollten doch wissen, wohin Sie gehören. Und plötzlich finde ich Sie, und noch dazu ... hier? ... Sie müssen doch zugeben ...“

„Verzeihung; ich kann absolut nicht begreifen, wovon Sie sprechen. Erklären Sie sich deutlicher!“

„Wie soll ich mich ihm noch verständlich machen?“ dachte Kowalew. Und sich ein Herz fassend begann er:

„Sicherlich ... übrigens bin ich Major. Ich habe zurzeit keine Nase. Sie müssen zugeben, das schickt sich doch nicht. Einer Hökerin, die auf der Woskressenski-Brücke geschälte Orangen feilbietet, mag es ja im Grunde nichts ausmachen, ohne Nase herum zu laufen. Jedoch was mich anbetrifft, der ich die Ehre habe, Beamter zu sein und der ich außerdem Beziehungen zu vielen Häusern unterhalte, zu Damen der Gesellschaft, wie zum Beispiel zu Frau Tschechtarewa, die die Frau eines Staatsrates ist, und noch zu vielen andern, ... urteilen Sie selbst ... Ich weiß nicht, mein Herr“ — und hierbei zuckte der Major Kowalew mit den Achseln — „entschuldigen Sie tausendmal ... aber wenn man die Sache vom Standpunkt der Ehre und der Pflicht betrachtet ... Sie können selbst begreifen ...“

„Ich begreife absolut nichts,“ erwiderte die Nase. „Erklären Sie sich deutlicher.“

„Mein Herr,“ versetzte Kowalew mit Würde, „ich weiß nicht, wie ich Ihre Worte auffassen soll. Hier handelt es sich doch, wie mich dünkt, um einen durchaus klaren Vorgang. Oder wollen Sie ... denn kurz und gut, Sie sind doch meine eigene Nase!“

Die Nase blickte den Major an, und runzelte die Stirne.

„Sie täuschen sich, mein Herr; ich bin durchaus selbständig. Außerdem können zwischen uns nicht die geringsten Beziehungen existieren. Nach den Knöpfen Ihrer Uniform zu urteilen, müssen Sie in einem andern Ressort dienen.“

Und nach diesen Worten drehte ihm die Nase den Rücken.

Kowalew war nun völlig verwirrt und wußte nicht, was er tun, ja nicht einmal was er sich denken sollte. In diesem Augenblick ertönte das angenehme Rascheln eines seidenen Gewandes. Eine alte, über und über mit Spitzen behängte Dame ging an ihm vorbei, begleitet von einem jungen Mädchen, deren weißes Kleid ihre harmonische Figur aufs vorteilhafteste zur Geltung brachte; sie trug einen gelben federleichten Hut. Beide Damen wurden von einem baumlangen Heiducken mit mächtigem Bart und einem ganzen Dutzend von Mantelaufschlägen begleitet. Er blieb hinter den Damen stehen und öffnete seine Tabaksdose.

Kowalew trat nahe an sie heran, rückte den Kragen seines Batisthemdes zurecht, brachte sein an einer goldenen Kette hängendes Petschaft in Ordnung und wandte seine ganze Aufmerksamkeit der jungen Dame zu, die sich leicht wie eine Frühlingsblume bewegte und eine kleine weiße Hand mit fast durchsichtigen Fingern an ihre Lippen führte. Das Lächeln auf Kowalews Gesicht wurde noch intensiver, als er unter dem Hut ein rundes Kinn von blendender Weiße und einen Teil der Wange bemerkte, die in ihrem Teint einer zarten Frühlingsblume glich.

Aber nur zu bald prallte er wie von einer Tarantel gestochen zurück.

Er hatte sich soeben daran erinnert, daß er keine Nase mehr hatte; und heiße Tränen entströmten seinen Augen.

Er wandte sich um, um dem uniformierten Herrn laut und deutlich zu sagen, daß er nur die Larve eines Staatsrates trüge, daß er ein Lump, ein Spitzbube wäre und daß er nichts weiter sei als seine eigne Nase ... Aber die Nase war verschwunden; sie hatte den günstigen Augenblick benutzt und sich entfernt, höchstwahrscheinlich, um noch einen Besuch abzustatten.

Dieser Umstand stürzte Kowalew vollends in Verzweiflung. Er blieb noch eine Minute unter dem Säulengang stehen und schaute sich gespannt nach allen Seiten um, ob er nicht etwas von der Nase bemerken könne. Er erinnerte sich deutlich, daß ihr Hut mit Federn geschmückt und die Uniform mit Gold gestickt war; aber er hatte nicht auf den Mantel geachtet, auch nicht auf die Farbe des Wagens noch auf die der Pferde; er wußte nicht einmal, ob hinten ein Lakai gestanden hatte und was für eine Livree er trug. Überdies waren eine solche Anzahl von Fahrzeugen aller Art im Trab durch die Straßen gefahren, daß es schwer war, sie voneinander zu unterscheiden. Und hätte er auch das gesuchte herausgefunden, wie hätte er ihm Halt gebieten sollen?

Der Tag war sehr schön und sonnig. Auf dem Newski-Prospekt wimmelte es von Menschen. Ein üppiger Damenflor überschwemmte das ganze Trottoir von der Polizei-Brücke bis zur Anitschkin-Brücke. Hier ging ein Hofrat, ein Bekannter von Kowalew, den er meist, besonders aber vor fremden Leuten, „Oberstleutnant“ zu titulieren pflegte. Dort sah er seinen Busenfreund Jaryschkin, der sich beim Bostonspiel oft genug hineinlegen ließ, und dort einen andern Major, der gleich ihm seinen Grad im Kaukasus erlangt hatte, und der ihm nun mit der Hand ein Zeichen gab, er möge doch zu ihm herüberkommen.

„Der Teufel soll ihn holen!“ sagte Kowalew. „Kutscher! bring mich doch auf dem nächsten Wege zum Polizei-Präfekten.“

Kowalew bestieg eine Droschke und schrie dem Kutscher jeden Augenblick zu: „Fahr zu, so schnell du kannst!“

„Ist der Polizei-Präfekt zu sprechen?“ fragte er sofort beim Eintritt in das Vestibül.

„Nein,“ antwortete der Portier; „er ist soeben weggegangen.“

„Das ist ja wundervoll!“

„Gewiß,“ fügte der Portier hinzu, „erst vor ganz kurzer Zeit ist er fortgegangen. Wären Sie nur eine Minute früher gekommen, Sie hätten ihn sicher noch getroffen.“

Ohne das Taschentuch vom Gesicht zu nehmen, stürzte Kowalew wieder in den Wagen zurück und rief dem Kutscher mit verzweifelter Stimme zu:

„Fahr weiter!“

„Wohin?“ fragte der Kutscher.

„Geradeaus!“

„Wie? Geradeaus? Wir befinden uns doch an einer Straßenecke: also rechts oder links?“

Diese Frage verwirrte Kowalew und zwang ihn von neuem zum Nachdenken. In seiner Lage wäre es vor allem angebracht gewesen, aufs Polizeipräsidium zu gehen, nicht weil seine Angelegenheit direkt in das Polizeiressort gehörte, sondern weil er hier auf eine schnellere Erledigung als sonst wo rechnen konnte. Sich an das Ressort zu wenden, in dem die Nase angestellt war, wäre sicher unklug gewesen, ging doch bereits aus den eigenen Äußerungen der Nase zur Evidenz hervor, daß es für diesen Mann nichts Heiliges gab. Weshalb sollte er sich denn nicht mittels einer Lüge aus einer solchen Lage befreien, er hatte doch ganz frech gelogen, als er behauptete, daß er nie etwas mit ihm zu tun hatte. Kowalew wollte dem Kutscher gerade den Befehl geben, er solle ihn zum Polizei-Präsidium fahren, als ihm der Gedanke kam, daß dieser miserable Kerl, der sich bei ihrer ersten Begegnung so perfid benommen hatte, den günstigen Augenblick benutzen und die Stadt verlassen könnte; — und dann wären alle Nachforschungen überflüssig gewesen, oder sie konnten sich, was Gott verhüten mochte, wohl gar einen ganzen Monat hinziehen. Endlich gab ihm, wie er glaubte, der Himmel selbst einen Wink. Er beschloß, direkt nach der Expedition der Amtszeitung zu fahren und dort sofort eine Annonce mit der genauen Angabe seines Signalements einrücken zu lassen, damit die, die der Nase begegneten, sie ihm zuführen oder ihm doch wenigstens die Wohnung dieses Räubers mitteilen konnten.

Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, befahl er dem Kutscher, nach der betreffenden Expedition zu fahren, bearbeitete während der ganzen Fahrt unaufhörlich den Rücken des Automedon mit seinen Fäusten und schrie:

„Schneller, du Spitzbube! Schneller, Kanaille!“

„Aber, Herr!“ antwortete nur immer kopfschüttelnd der Kutscher und schlug mit dem Zügel über den Rücken des Pferdes, das so behaart war wie ein Bologneserhund.

Endlich hielt die Droschke, und Kowalew trat ganz atemlos in ein kleines Empfangszimmer, wo ein alter Beamter in einem schäbigen Frack und mit einer Brille hinter einem Tische saß, einen Federkiel zwischen den Zähnen hielt und Kupfergeld zählte.

„Wer nimmt hier Annoncen an?“ schrie Kowalew; „doch ich bitte um Verzeihung, guten Morgen vor allen Dingen!“

„Guten Morgen!“ sagte der alte Beamte und blickte einen Moment empor, um seine Aufmerksamkeit sofort wieder seinen Geldhaufen zuzuwenden.

„Ich möchte ein Inserat aufgeben ...“

„Einen Augenblick nur bitte ich Sie, sich gedulden zu wollen,“ fuhr der Beamte fort, indem er mit der Hand eine Zahl auf das Papier schrieb und mit einem Finger der Linken an der Rechenmaschine zwei Kugeln verschob.

Ein galonnierter Diener von äußerst korrektem Aussehen, dem man seine lange Dienstzeit in aristokratischen Häusern anmerkte, stand mit einem Zettel vor dem Tisch und hielt es für angebracht, auf seine gesellschaftliche Bildung hinzuweisen.

„Seien Sie überzeugt, mein Herr, daß dieser kleine Hund keine acht Groschen wert ist; ich für meine Person würde nicht acht Pfennig für ihn geben. Aber die Frau Gräfin betet ihn an, bei Gott! sie betet ihn in der Tat an, — deshalb verspricht sie seinem Ueberbringer hundert Rubel. In aller Höflichkeit sei’s gesagt, aber unter uns: die Geschmacksrichtungen der Leute sind doch ganz unberechenbar. Wenn man schon einmal Hundeliebhaber ist, so halte man sich meinetwegen einen Windhund oder einen Pudel; dafür kann man ruhig fünfhundert, ja auch tausend Rubel anwenden, aber dann hat man auch einen wirklich wertvollen Hund.“

Der ehrenwerte Beamte hörte sich diese Ausführungen mit einer sehr bezeichnenden Miene an und zählte unterdessen ruhig die Buchstaben des Zettels, den der Diener mitgebracht hatte. Links von ihm hatte sich eine Menge alter Weiber, Handlungsgehilfen und Portiers gleichfalls mit Zetteln in der Hand angesammelt.

Aus einem dieser Zettel ging hervor, daß ein Kutscher, der sich sehr gut geführt hatte, von seinem Besitzer aus dem Dienst entlassen worden war, aus einem andern, daß man eine noch wenig benutzte, um 1814 aus Paris bezogene Kutsche zum Verkauf feilbot. Hier suchte ein neunzehnjähriges Dienstmädchen, das waschen und gleichzeitig noch andere Arbeiten verrichten konnte, eine Stellung. Dort wollte jemand eine Droschke ohne Federn verkaufen, oder einen jungen, feurigen, siebzehn Jahre alten Apfelschimmel, oder erst kürzlich aus London eingetroffenen Rüben- und Rettichsamen, oder ein Landhaus mit allem Zubehör (zwei Pferdeställen, nebst einem Platz, wo man einen prachtvollen Birken- oder Tannenwald anpflanzen konnte usw.). Wieder andere annoncieren, daß sie alte Sohlen zu verkaufen hätten, und luden täglich von 8 bis 3 Uhr zu deren Besichtigung ein.

Das Zimmer, in dem sich der ganze Schwarm aufhielt, war klein, und infolgedessen war die Luft in ihm äußerst dumpf; allein der Kollegien-Assessor Kowalew merkte nichts davon, denn sein Gesicht war mit einem Taschentuch verhüllt und seine Nase befand sich Gott weiß wo —

„Mein Herr, darf ich Sie bitten ... Ich habe es sehr eilig ...“ sagte er endlich ungeduldig.

„Gleich, gleich! ... Zwei Rubel dreiundvierzig Kopeken! ... Nur noch eine Minute! ... Ein Rubel vierundsechzig Kopeken!“ sagte der alte Herr, indem er den alten Frauen und den Portiers die Zettel ins Gesicht warf.

„Was wünschen Sie?“ sagte er endlich, indem er sich an Kowalew wandte.

„Ich bitte Sie,“ sagte Kowalew ... „es handelt sich um eine schier unglaubliche Spitzbüberei; bis zu diesem Augenblick weiß ich noch nicht, wie sie bloß passieren konnte. Ich bitte Sie jetzt nur, annoncieren zu wollen, daß derjenige, der mir diesen Halunken herbeischafft, eine gute Belohnung erhalten soll.“

„Wollen Sie mir bitte Ihren Namen angeben?“

„Nein! weshalb meinen Namen? es ist mir ganz unmöglich, ihn zu nennen. Ich habe aber gute Beziehungen, zum Beispiel zu Frau Tschechtarewa, der Gattin eines Staatsrates, oder zu Frau Pelagia Grigoriewna Podtotschina, die einen höheren Offizier zum Mann hat. Wenn sie es erführen ... Gott behüte! Sie können ganz einfach schreiben: ‚Ein Kollegien-Assessor‘ oder noch besser: ‚Ein Major‘.“

„Und der Ausgerückte war Ihr Leibeigner?“

„Was für ein Leibeigner? Das wäre noch keine so große Gemeinheit! Nein, mir ist ... die Nase ausgerückt! ...“

„Hm! was für ein merkwürdiger Familienname! Und um welche Summe hat Sie Herr Nase bestohlen?“

„Nase! Aber Sie sind nicht bei Sinnen! Meine Nase, meine eigene Nase ist es, die verschwunden ist, ich weiß nicht, wohin. Der Teufel hat mir einen Streich spielen wollen!“

„Aber auf welche Weise ist sie verschwunden? Ich verstehe absolut nichts von alledem!“

„Ich kann Ihnen nicht sagen, auf welche Weise. Aber das wichtigste bei dieser Angelegenheit ist die Tatsache, daß sie jetzt in der Stadt herumspaziert und sich Staatsrat tituliert. Und aus diesem Grunde bitte ich Sie, zu annoncieren, daß derjenige, der sie fassen sollte, sie ohne Verzug zu mir bringen möge. Sagen Sie übrigens selbst: wie soll ich ohne diesen Körperteil, der doch unbedingt zu meiner Person gehört, existieren? Es handelt sich hier doch nicht etwa um eine Zehe ... wenn man einen Schuh trägt, so würde man ihr Fehlen ja garnicht bemerken. Aber ich gehe doch jeden Donnerstag zu Frau Staatsrat Tschechtarewa; Frau Pelagia Grigoriewna Podtotschina, die Gattin eines höheren Offiziers und Mutter eines reizenden Töchterchens, ist eine gute Bekannte von mir. Außerdem habe ich noch zu andern vornehmen Familien Beziehungen, und nun mögen Sie selbst urteilen, ob ich so herumlaufen kann ... Es ist mir doch augenblicklich ganz unmöglich, mich irgendwo zu zeigen.“

Der Beamte überlegte, indem er fortwährend die Lippen zusammenkniff.

„Nein, ein solches Inserat kann ich nicht aufnehmen!“ sagte er endlich nach längerem Stillschweigen.

„Wie? — Weshalb nicht?“

„Weil die Zeitung dadurch ihren guten Ruf verlieren könnte. Wenn jemand schreibt, daß ihm seine Nase abhanden gekommen ist, dann ... Auch ohne dies wird schon genug davon gesprochen, daß alle möglichen Torheiten und Lügen gedruckt werden!“

„Und weshalb ist das töricht? Mein Fall ist doch, wie mir scheint, ganz klar und ....“

„Das ist Ihre Meinung! Aber hören Sie, was uns vorige Woche passiert ist. Es erscheint ein Beamter, ganz wie Sie heute, und bringt uns ein Inserat, das ihn zwei Rubel dreiundsiebzig Kopeken kostet. In diesem Inserat wird das Entlaufen eines schwarzen Pudels angekündigt. Sie werden einwenden: ‚Ich kann keine Ähnlichkeit mit meinem Fall entdecken!‘ Aber es stellte sich bald heraus, daß das lediglich eine Mystifikation gewesen war; mit dem Pudel war der Kassierer eines Geschäftes gemeint.“

„Aber ich suche doch garnicht nach einem Pudel, sondern nach meiner eigenen Nase; hören Sie: das ist doch fast so, als ob ich nach mir selbst suchte!“

„Nein, ich kann ein solches Inserat nicht aufnehmen!“

„Aber wenn doch meine Nase in der Tat verschwunden ist?“

„Wenn sie verschwunden ist, so geht das nur den Arzt etwas an; ich habe gehört, daß einige von ihnen eine große Geschicklichkeit in der Herstellung künstlicher Nasen entwickeln! Übrigens bin ich der Meinung, daß Sie ein Spaßvogel sind und sich in guter Gesellschaft gern einen Scherz erlauben!“

„Ich beschwöre Sie bei allem, was mir heilig ist! Gestatten Sie, wenn es nicht anders geht, daß ich es Ihnen demonstriere!“

„Warum diese Aufregung?“ fuhr der Beamte fort, indem er eine Prise nahm. „Aber schließlich ..., wenn es Sie weiter nicht inkommodiert,“ fügte er neugierig hinzu, „ich würde mir die Sache mit Vergnügen ansehen!“

Der Kollegien-Assessor zog das Taschentuch von seinem Gesichte fort.

„In der Tat, das ist äußerst sonderbar!“ sagte der Beamte. „Die Stelle ist ja ganz eben wie ein frischgebackener Eierkuchen. Ja, sie ist glatt, — es ist schier unglaublich!“

„Nun, wollen Sie jetzt noch streiten? Jetzt sehen Sie wohl selbst, daß Sie mein Inserat unmöglich nicht aufnehmen können. Ich wäre Ihnen dafür zu ganz besonderem Dank verpflichtet, und ich bin sehr froh darüber, daß diese Gelegenheit mir das Vergnügen verschafft hat, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Der Major ließ sich, wie man sieht, sogar zu einer Schmeichelei herab.

„Die Sache mit der Annonce hätte an und für sich keine Schwierigkeit,“ sagte der Beamte; „nur sehe ich darin keinen Vorteil für Sie. Sie sollten sich an irgend einen geschickten Journalisten wenden, der Ihren Fall als Naturphänomen behandeln und darüber einen Artikel in der „Biene des Nordens“ — hierbei nahm er eine Prise — „zur Belehrung der Jugend“ — hierbei schneuzte er sich — „oder noch besser zur allgemeinen Unterhaltung veröffentlichen könnte.“

Der Kollegien-Assessor war der Verzweiflung nahe. Er warf einen Blick auf das Feuilleton des Zeitungsblattes und auf die Theaternotizen; ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Namen einer hübschen Schauspielerin las, und er steckte schon die Hand in die Tasche, um einen blauen Zettel hervorzuholen — denn nach seiner Meinung mußten die höheren Offiziere mindestens im Parkett sitzen —; aber der Gedanke an seine Nase verdarb ihm jedes Vergnügen.

Der Beamte hatte das lebhafteste Mitgefühl mit Kowalew, der sich in einer höchst peinlichen Situation befand. Von dem Wunsche beseelt, seinen Kummer ein wenig zu mildern, hielt er es für gut, ihm mit einigen Worten seine Teilnahme auszusprechen:

„Wahrhaftig, ich bin sehr betrübt, daß Ihnen ein solches Mißgeschick widerfahren ist. Nehmen Sie vielleicht eine Prise Tabak? Das vertreibt die Kopfschmerzen und den Hang zur Melancholie! Außerdem ist es ein unfehlbares Heilmittel gegen Hämorrhoiden!“

Mit diesen Worten reichte der Beamte ihm seine Tabaksdose, indem er den Deckel, der mit dem Porträt einer Dame im Hut geschmückt war, in sehr geschickter Weise wegschob.

Dieser unüberlegte Höflichkeitsakt brachte Kowalew um den Rest seiner Geduld.

„Ich verstehe nicht, wie Sie solche Scherze machen können!“ sagte er zornig. „Sehen Sie denn nicht, daß mir augenblicklich gerade der Körperteil fehlt, der zum Nehmen einer Prise unbedingt erforderlich ist? Der Teufel soll Ihren Tabak holen! Ich kann ihn jetzt garnicht mehr sehen, selbst dann nicht, wenn es kein stinkender Beresinski, sondern echter Rapé wäre.“

Nach diesen Worten verließ er tiefgekränkt das Zeitungsbureau und begab sich aufs Polizei-Kommissariat.

Als Kowalew ins Bureau trat, traf er dort einen Beamten an, der gerade gähnte, sich streckte und laut zu sich selbst sprach: „Ich würde jetzt mit großem Vergnügen noch ein paar Stündchen schlafen.“

Man sieht hieraus, daß ihm die Ankunft des Kollegien-Assessors nichts weniger als gelegen kam.

Der Polizei-Kommissar war ein großer Liebhaber von allen möglichen Kunstgegenständen; doch zog er einen mit dem kaiserlichen Wappen geschmückten Schein allen andern Dingen vor.

„Das ist ein Stück,“ sagte er oft, „wie es nirgends ein besseres gibt: es braucht keine Nahrung, nimmt wenig Platz ein, läßt sich bequem in die Tasche stecken und zerbricht nicht, wenn es einmal zu Boden fällt.“

Er empfing Kowalew sehr kühl und ließ die Bemerkung fallen, daß die Stunde nach dem Mittagessen nicht der geeignete Moment zur Erledigung amtlicher Nachforschungen wäre, und daß die Natur uns selbst darauf hinwiese, daß es gut sei, einen Augenblick der Ruhe zu pflegen, wenn man gegessen habe — woraus der Kollegien-Assessor ersehen konnte, daß die Gepflogenheiten der Philosophen des Altertums dem Kommissar nicht ganz unbekannt waren —, und daß ein ordentlicher Mann seine Nase nicht verliere.

Diese Worte verwundeten unseren Helden aufs tiefste.

Hierbei muß bemerkt werden, daß Kowalew eine äußerst empfindliche Natur war. Er konnte alles verzeihen, was man über ihn sagte, doch niemals vergab er einen Verstoß gegen die seiner amtlichen Würde gebührende Achtung. Er dachte daran, daß man in den Theaterstücken alle üblen Bemerkungen über die Subaltern-Offiziere durchgehen ließ, aber niemals ein Wort, das sich gegen die höheren Offiziere richtete. Der Empfang des Kommissars brachte ihn derartig aus der Fassung, daß er kopfschüttelnd und im Bewußtsein seiner Würde die Hände erhob und erklärte:

„Ich muß gestehen, daß ich auf solche beleidigende Äußerungen nichts zu erwidern habe.“

Und damit ging er.

Er suchte seine Wohnung auf; es war ihm, als wären seine Beine abgestorben. Es wurde bereits dunkel, und seine Behausung erschien ihm nach allen diesen fruchtlosen Nachforschungen sehr traurig und sehr schmutzig. Beim Eintritt in das Vorzimmer bemerkte er auf dem alten schmutzigen Ledersopha seinen Diener Iwan, der auf dem Rücken lag, sich damit unterhielt, an die Zimmerdecke zu spucken, und hierbei mit großer Geschicklichkeit stets ein und dieselbe Stelle traf. Eine solche Gleichgültigkeit versetzte ihn vollends in Wut; er schlug ihm mit seinem Hut auf die Stirn und schrie ihn an:

„Du Esel hast doch immer nur Torheiten im Sinn!“

Iwan sprang von seiner Bank herunter und stürzte schleunigst herbei, um ihm seinen Mantel abzunehmen.

Der Major trat müde und traurig in sein Zimmer, warf sich in einen Sessel, seufzte einigemal laut auf und sagte:

„Mein Gott! Mein Gott! Womit habe ich ein solches Unglück verdient? Hätte ich eine Hand oder einen Fuß verloren — das wäre noch nicht so schlimm; aber ein Mensch ohne Nase, das ist doch ... weiß der Teufel was! Ein Vogel, der kein Vogel ist, ein Bürger, der das Bürgerrecht verloren hat, das ist ganz einfach ein Ding, das man nehmen und zum Fenster hinauswerfen möchte. Wäre sie mir wenigstens noch im Kriege oder im Duell abhanden gekommen, oder hätte ich es wenigstens selbst verschuldet! Aber so um nichts und wieder nichts, ohne jede Veranlassung zu verduften! Nein, nein ... das ist ja ganz unmöglich!“ — fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu —, „es ist ganz unglaublich, daß eine Nase so ohne weiteres verschwindet. Das ist doch zu unwahrscheinlich. Sicherlich träume ich bloß oder ich bilde es mir nur ein. Vielleicht habe ich aus Versehen statt eines Glases Wasser den Branntwein ausgetrunken, mit dem ich mir nach dem Rasieren mein Gesicht einreibe. Dieser Schafskopf Iwan wird ihn sicher nicht weggenommen haben, und so habe ich ihn gewiß ganz ahnungslos heruntergegossen.“

Und um sich zu beweisen, daß er nüchtern sei, kniff sich der Major so heftig ins Fleisch, daß er einen lauten Schrei ausstieß. Dieser Schmerz überzeugte ihn endgültig davon, daß er am Leben war und vernünftig handelte. Er trat ganz leise vor den Spiegel und blinzelte zuerst mit den Augen, da er sich mit der Hoffnung schmeichelte, die Nase könne doch vielleicht noch an ihrem Platze sein; aber er trat sogleich wieder einen Schritt zurück und murmelte:

„Die reinste Karikatur!“

Die Sache war ihm ganz unverständlich; wäre ihm noch ein Knopf verschwunden, ein silberner Löffel, eine Uhr oder etwas dergleichen! — aber eine Nase ... und noch dazu auf welche Weise? wohl gar aus seinem eigenen Zimmer? Der Major Kowalew ließ alle die verschiedenen Umstände an sich vorüberziehen und kam schließlich zu dem Resultat, daß noch am ehesten Frau Podtotschina, die Gattin eines höheren Offiziers, an seinem Unglücke Schuld sein konnte, da sie ihn heftig zum Schwiegersohne begehrte. Es machte ihm Spaß, ihrer Tochter den Hof zu machen, doch ging er einer deutlichen Erklärung stets aus dem Wege. Als die Dame ihm nun offen mitteilte, daß sie ihm gern ihre Tochter zur Frau geben würde, lehnte er diese Ehre unter vielen Komplimenten mit der Begründung ab, er wäre noch zu jung und müsse noch gegen fünf Jahre dienen, um die runde Zahl von zweiundvierzig Jahren zu erreichen.

Sicherlich hatte die Frau des höheren Offiziers aus diesem Grunde beschlossen, sich zu rächen, ihn zu verderben, und zu diesem Behufe einige alte Hexen gegen ihn ins Feld geführt; denn es war ja unmöglich, daß ihm die Nase auf die eine oder die andere Weise abgeschnitten sein sollte. Niemand war im Zimmer gewesen. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch hatte ihn noch am Mittwoch rasiert, und während des ganzen Tages, sowie auch am Donnerstag war seine Nase noch ganz heil und gesund gewesen. Daran erinnerte er sich ganz deutlich. Außerdem hätte er doch irgend einen Schmerz empfinden müssen, die Wunde wäre auch nicht so schnell geheilt und nicht so platt wie ein Fladen geworden.

Er schmiedete in seinem Hirn alle möglichen Pläne, er wollte die Frau Podtotschina beim Gericht verklagen oder sich wenigstens persönlich zu ihr begeben und sie zur Rechenschaft ziehen.

Plötzlich wurde er in seinem Sinnen durch einen Lichtschimmer gestört, der durch die Türritzen drang und ihm ankündigte, daß Iwan im Vorzimmer eine Kerze angezündet hatte.

Gleich darauf erschien Iwan selbst, eine Kerze in der Hand haltend, und bald war das Zimmer hell erleuchtet. Kowalews erste Bewegung war es, sein Taschentuch zu ergreifen und die Stelle zu verdecken, an der sich noch tags zuvor seine Nase befunden hatte, damit der dumme Lakai nicht das Maul aufzureißen brauchte, wenn er seinen Herrn so sonderbar entstellt sah.

Iwan hatte nicht Zeit gehabt, seine Kammer aufzusuchen, denn eine unbekannte Stimme ließ sich im Vorzimmer vernehmen und fragte:

„Wohnt hier der Kollegien-Assessor Kowalew?“

„Treten Sie ein; hier wohnt allerdings der Major Kowalew,“ sagte dieser, indem er eiligst die Tür öffnete.

Der Polizeikommissar, ein Mann von würdigem Aussehen, mit einem nicht all zu hellen, noch all zu dunklen Backenbart und runden Wangen, derselbe, den wir beim Beginn dieser Erzählung am Ende der Isaaks-Brücke getroffen haben, trat ein.

„Sie hatten die Ehre, Ihre Nase zu verlieren?“

„In der Tat!“

„Sie ist soeben gefunden worden.“

„Was sagen Sie da?“ schrie der Major Kowalew. Die Freude machte ihn sprachlos.

Er sah den Polizisten, der vor ihm stand, starr an, wobei seine Lippen und Wangen von dem flackernden Kerzenlicht erhellt wurden.

„Auf welche Weise?“ fragte er endlich.

„Durch einen erstaunlichen Zufall: man hat sie gerade im Moment ihrer Abreise verhaftet. Sie hatte schon einen Platz im Wagen eingenommen, um nach Riga zu fahren. Ihr Paß lautete auf den Namen eines Beamten. Und das Sonderbarste ist, daß ich selbst sie zuerst für einen Herrn gehalten habe; aber ich setzte glücklicherweise meine Brille auf und erkannte sogleich, daß es eine Nase war. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß ich kurzsichtig bin, und wie Sie jetzt vor mir stehen, erkenne ich wohl, daß Sie ein Gesicht haben, aber ich unterscheide weder Nase, noch Bart, noch sonst etwas. Meine Schwiegermutter, die Mutter meiner Frau, sieht auch nicht mehr als ich.“

Kowalew konnte sich nicht mehr beherrschen.

„Wo ist sie? Wo? Ich laufe sofort hin.“

„Regen Sie sich nicht auf. Da ich wußte, daß Sie sie sehr nötig haben, habe ich sie gleich mitgebracht. Das Merkwürdigste ist, daß der Hauptschuldige an dieser ganzen Angelegenheit ein Lump von Barbier aus der Wosnessenski-Straße ist, der zur Zeit bereits im Polizeigewahrsam sitzt. Ich habe ihn schon lange im Verdacht, daß er ein Trunkenbold und Dieb ist; erst vor drei Tagen hat er in einem Laden eine Schachtel mit Knöpfen entwendet. Ihre Nase ist gänzlich unversehrt.“

Mit diesen Worten griff der Agent in seine Tasche und holte die Nase hervor, die in ein Stück Papier eingewickelt war.

„Ja, das ist sie!“ schrie Kowalew. „Das ist sie und keine andere! Trinken Sie vielleicht eine Tasse Tee mit mir?“

„Ich danke Ihnen für Ihre außerordentliche Liebenswürdigkeit, aber das ist mir leider unmöglich. Ich muß mich von hier aus sofort in ein Konfektionshaus begeben ... In den letzten Tagen sind die Lebensmittel entsetzlich teuer geworden ... Meine Schwiegermutter, die Mutter meiner Frau, und meine Kinder warten zu Hause auf mich ... Mein Ältester berechtigt zu den schönsten Hoffnungen; das ist wirklich ein recht intelligenter Bursche; aber mir fehlen die Mittel, ihm eine geeignete Erziehung zu geben ...“


Nachdem der Kommissar den Kollegien-Assessor verlassen hatte, befand sich dieser einige Minuten in einer unbeschreiblichen Geistesverfassung; einen Moment lang konnte er seine Lage kaum überblicken. Die plötzliche Freude hatte ihn ganz matt gemacht. Endlich nahm er die wieder gefundene Nase vorsichtig zwischen seine beiden Hände und schaute sie noch einmal mit großer Aufmerksamkeit an.

„Ja, das ist sie! Das ist sie in der Tat!“ sagte er. „Hier auf der linken Seite ist auch das Pickelchen von gestern ...“

Der Major hätte vor Freude laut aufjubeln mögen.

Aber auf dieser Welt ist nichts von langer Dauer; bald läßt die Freude nach und, während Sekunde auf Sekunde vergeht, weicht auch sie schnell einer peinigenden Abspannung, um unmerklich wieder zum gewohnten Gleichmaß zurückzukehren, so wie der Kreis, den das Fallen eines Steines im Wasser erzeugt, allmählich in der glatten Oberfläche zerrinnt.

Kowalew begann, das Vorgefallene zu überdenken, und begriff, daß sein Abenteuer noch nicht zu Ende war. Die Nase war wohl gefunden, aber jetzt mußte man sie vor allen Dingen wieder an ihren alten Platz bringen und befestigen.

„Wenn sie nun nicht halten wird?“

Bei diesem Gedanken erbleichte der Major.

Von einer unerklärlichen Furcht gepackt stürzte er an den Tisch und ergriff den Spiegel, um sich die Nase nur nicht schief anzusetzen. Seine Hände zitterten. Mit großer Vorsicht und Behutsamkeit drückte er sie wieder an ihren alten Platz. Doch welch ein Schrecken! die Nase hielt nicht! ... Er führte sie an seinen Mund, erwärmte sie mit seinem Atem und brachte sie von neuem an die glatte Fläche, die sich zwischen seinen beiden Wangen befand. Die Nase wollte absolut nicht halten!

„So sitz doch, du Rindvieh!“ sagte Kowalew zu ihr.

Aber die Nase schien wie aus Holz zu sein und fiel mit einem recht sonderbaren Ton gleich einem Stück Kork auf den Tisch. Kowalews ganzes Gesicht zuckte konvulsivisch zusammen.

„Ist es denn möglich, daß sie in der Tat nicht haften bleiben sollte?“ sagte er voller Schrecken.

Er drückte sie noch einmal auf die Stelle, an die sie gehörte, — aber auch dieses Mal ohne Erfolg.

Kowalew rief Iwan und trug ihm auf, zum Arzte zu gehen, der eine der schönsten Wohnungen im ersten Stock des Hauses inne hatte. Dieser Arzt war ein Mann von feiner Lebensart, außerdem verfügte er über ein Paar herrliche pechschwarze Favoris und eine prachtvolle urgesunde Frau. Schon am frühen Morgen pflegte er frische Äpfel zu essen. Als besondere Eigentümlichkeit wäre dann noch die außerordentliche Pflege zu erwähnen, die er seinem Munde angedeihen ließ, denn er spülte ihn nach dem Aufstehen fast dreiviertel Stunden lang und putzte sich stets die Zähne mit fünf verschiedenen Bürstchen.

Der Arzt ließ nicht lange auf sich warten.

Nachdem er sich danach erkundigt hatte, wieviel Zeit verstrichen war, seit Kowalew den Verlust bemerkt hatte, faßte er den Major am Kinn und gab ihm mit dem Zeigefinger an der Stelle, wo sich früher die Nase befunden hatte, einen so tüchtigen Nasenstüber, daß der Major mit dem Kopfe zurückzuckte und mit ihm ziemlich heftig an die Mauer schlug. Der Arzt meinte, das mache weiter nichts, und befahl ihm, mit dem Kopf von der Wand abzurücken und ihn ein wenig nach links zu neigen, befühlte ihn und ließ dann ein gedehntes „Hm“ vernehmen. Zum Schluß gab er ihm noch einen Nasenstüber, sodaß Kowalew mit dem Kopf zurückfuhr wie ein Pferd, dessen Zähne man untersucht.

Nach dieser Einleitung schüttelte der Arzt den Kopf und sagte:

„Nein, es ist unmöglich! Es ist besser, Sie lassen die Geschichte auf sich beruhen, sonst könnte es noch schlimmer werden. Gewiß kann man die Nase wieder befestigen; ich könnte es sogar auf der Stelle tun, das unterliegt keinem Zweifel. Aber ich gebe Ihnen die Versicherung, daß es dann noch schlimmer werden kann.“

„Das ist ja großartig! Aber wie kann ich denn ohne Nase existieren?“ sagte Kowalew. „Schlimmer als jetzt kann es ja garnicht werden. Da soll doch das heilige Donnerwetter dreinschlagen! Wo kann ich mich denn mit einem solchen grotesken Kopf blicken lassen? Ich muß doch meine guten Beziehungen pflegen, heute abend muß ich sogar noch zwei Besuche abstatten. Ich bin mit vielen einflußreichen Personen bekannt, so z. B. mit Frau Staatsrat Tschechtarewa, und mit Frau Podtotschina, die die Gattin eines höheren Offiziers ist, wenngleich ich mit dieser Dame nach dem Vorgefallenen nur noch durch die Polizei verkehren werde. Tun Sie mir den Gefallen,“ fügte Kowalew mit bittender Stimme hinzu, „setzen Sie sie mir wieder an, mir ist jedes Mittel recht. Wenn es auch nicht gut aussieht, die Hauptsache ist, daß sie hält; in gefährlichen Situationen könnte ich sie ja etwas mit der Hand stützen. Im übrigen tanze ich auch garnicht, sodaß ich nicht etwa zu befürchten brauche, daß sie sich durch eine unvorsichtige Bewegung ablösen könnte. Und was das Honorar für Ihren Besuch anbetrifft, so können Sie überzeugt sein, daß, soweit es mir meine Mittel gestatten ...“

„Glauben Sie mir,“ sagte der Arzt nicht allzu laut, aber auch nicht allzu leise, auf jeden Fall aber in überzeugendem und eindringlichem Tone, „daß ich meine Kunst niemals um des schnöden Mammons willen ausübe. Das wäre gegen meine Grundsätze und gegen meinen Beruf. Ich nehme gern eine Vergütung für meinen Besuch an, aber einzig und allein, um Sie nicht durch meine Weigerung zu verletzen. Gewiß kann ich Ihre Nase wieder anheften. Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, wenn Sie es mir so nicht glauben wollen, daß es sehr häßlich aussehen wird. Lassen Sie doch lieber die Natur walten! Waschen Sie die betreffende Stelle recht häufig mit kaltem Wasser, und ich versichere Sie, daß Sie sich ohne Nase ebenso gut befinden werden als mit ihr. Und dann gebe ich Ihnen noch den Rat, die Nase in einem Gefäß mit Spiritus aufzubewahren oder noch besser zwei Suppenlöffel Branntwein und heißen Essig in den Rezipienten zu tun, — auf diese Weise könnten Sie viel Geld für sie erhalten. Ich selbst würde sie Ihnen gern abnehmen, wenn Sie nicht zu teuer sind!“

„Nein, nein, um keinen Preis in der Welt würde ich sie verkaufen!“ rief der Major Kowalew verzweifelt aus; „lieber will ich sie vernichten!“

„Entschuldigen Sie,“ sagte der Arzt und erhob sich; „ich wollte Ihnen nur nützlich sein ... Was ist da zu tun? Auf jeden Fall haben Sie sich von meinem guten Willen überzeugt.“

Mit diesen Worten und mit einer vornehmen Handbewegung verließ der Arzt das Zimmer. Kowalew hatte nicht einmal sein Gesicht deutlich gesehen und in seiner tiefen Betäubung nur die Manschetten seines schneeweißen Hemdes bemerkt, das aus den Ärmeln des schwarzen Frackes hervorleuchtete.

Am folgenden Tage beschloß er, noch bevor er die Klage gegen Frau Podtotschina einreichte, an sie zu schreiben und sie zu fragen, ob sie seiner Forderung nicht vielleicht gutwillig Folge leisten wollte.

Dieser Brief lautete folgendermaßen:

„Sehr geehrte Frau Alexandra Grigoriewna!

Es ist mir unmöglich, Ihre äußerst seltsame Handlungsweise zu begreifen. Seien Sie überzeugt, daß Sie hierdurch nichts gewinnen und mich keineswegs dazu zwingen werden, Ihre Tochter zu heiraten. Was die Angelegenheit mit meiner Nase anbetrifft, so ist die Rolle, dessen versichere ich Sie, die Sie, die Hauptanstifterin, in ihr spielen, von allem andern zu schweigen, schon völlig aufgeklärt. Ihr plötzliches Verschwinden von ihrem Platze, ihre Flucht, ihre Verkleidung als Beamter wie ihr darauffolgendes Auftreten in natürlicher Gestalt: das alles ist nur die Folge einer Behexung, die Sie oder irgend welche von Ihnen bezahlte Kreaturen gegen mich inszeniert haben. Was nun mich anbetrifft, so glaube ich die Pflicht zu haben, Ihnen im voraus anzukündigen, daß ich, sollte die in Frage kommende Nase sich nicht noch heute an ihrem alten Platze befinden, mich gezwungen sehen würde, den Beistand und Schutz der Gerichte anzurufen.

Im übrigen bin ich mit der Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung

Ihr ergebener Diener
Platon Kowalew.“

„Geehrter Herr Platon Kusmitsch!

Ihr Brief hat mich in außerordentliches Erstaunen versetzt. Ich gestehe offen, ich hätte von Ihnen nie so ungerechte Vorwürfe erwartet. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich den Beamten, von dem Sie sprechen, weder maskiert, noch in eigener Gestalt, bei mir empfangen habe. Allerdings hat mich Philipp Iwanowitsch Potantschikow besucht. Und obgleich er in der Tat um die Hand meiner Tochter angehalten hat und auf einen tadellosen, nüchternen Lebenswandel und große Bildung hinweisen konnte, habe ich ihm doch keinerlei Hoffnung gegeben. Sie sprechen dann noch von Ihrer Nase. Wenn Sie damit sagen wollen, daß ich die Absicht habe, Ihnen eine Nase zu drehen statt Sie endgültig abzuweisen, so kann ich hierüber nur meiner Überraschung Ausdruck verleihen. Denn wie Sie sehr wohl wissen, ist gerade das Gegenteil davon der Fall; und wenn Sie gegenwärtig gesonnen sein sollten, meine Tochter zu Ihrem Ehegemahl zu machen, so bin ich bereit, Ihnen sofort jede Genugtuung zuteil werden zu lassen. Damit wäre in der Tat einer meiner innigsten Wünsche erfüllt. In dieser Hoffnung bin ich wie stets

Ihre gehorsame Dienerin
Alexandra Podtotschina.“

„Nein!“ sagte Kowalew nachdem er den Brief gelesen hatte, „sie ist sicher unschuldig. Das ist ja ganz unmöglich! Solch einen Brief kann nie und nimmer eine Person schreiben, die ein Verbrechen auf ihrem Gewissen hat.“

Der Kollegien-Assessor verstand sich auf diese Dinge, war er doch schon mehrfach mit Untersuchungen in den kaukasischen Provinzen betraut worden.

„Wie mag es nur geschehen sein?“ fragte er sich immer wieder. „Hol’s der Teufel!“

Und er ließ resigniert die Hände sinken.

Unterdessen hatte sich in der ganzen Residenz das Gerücht von diesem außergewöhnlichen Ereignis verbreitet — und zwar, wie es ja Brauch ist, nicht ohne Zutaten und Übertreibungen. Alle Gemüter standen zu dieser Zeit gerade unter dem Eindruck übernatürlicher Vorgänge. Kurz vorher hatten nämlich das Publikum allerhand Experimente mit dem tierischen Magnetismus beschäftigt; die tanzenden Stühle waren für die Scheunenstraße noch etwas völlig Neues. Man braucht es also nicht allzu sonderbar zu finden, daß bald darauf das Gerücht auftauchte, die Nase des Kollegien-Assessors Kowalew spazire bereits seit längerer Zeit jeden Tag um drei Uhr auf dem Newski-Prospekt herum. Eine Menge Neugieriger strömte daher alltäglich dorthin. Irgend jemand hatte erzählt, die Nase hielte sich in Junkers Magazin auf, und gleich stauten sich dort die Menschen derartig, daß die Polizei sich genötigt sah, einen Ordnungsdienst einzurichten. Ein sehr ehrenwerter Spekulant von höchst würdigem Äußeren mit einem prachtvollen Backenbart, der am Ausgang der Theater verschiedene Süßigkeiten und trockene Kuchen feilzubieten pflegte, ließ daher schöne solide hölzerne Bänke vor dem Laden aufstellen, lud die Neugierigen ein, Platz zu nehmen und erhob ein Eintrittsgeld von sechzig Kopeken pro Zuschauer. Ein Oberst a. D. erschien schon ganz früh an Ort und Stelle, um sich das Schauspiel anzuschaun, und schlängelte sich mit großer Mühe durch die Menge; aber zu seiner größten Empörung sah er im Fenster des Magazins anstatt der Nase nur ein ganz gewöhnliches baumwollenes Kamisol nebst einer Lithographie, die ein junges Mädchen darstellte, wie es sich seinen Strumpf hinaufzieht, und einen Stutzer mit ausgeschnittener Weste und Spitzbart, der sie hinter einem Baume beobachtet — ein Bild, das schon seit mehr als zehn Jahren an dieser Stelle hing. Der Oberst ging fort, indem er ärgerlich sagte:

„Wie kann man nur die Leute durch solche dumme und unwahrscheinliche Gerüchte auf die Beine bringen? ...“

Dann wurde allgemein davon gesprochen, daß die Nase des Majors Kowalew garnicht auf dem Newski-Prospekt, sondern im Taurischen Garten herumspaziere; man sagte, sie befände sich schon lange dort, schon Chozrew-Mirza habe in der Zeit, da er dort wohnte, sehr über dieses seltsame Naturwunder gestaunt. Von der medizinischen Fakultät wurden einige Studenten hingesandt; eine ehrenwerte Dame von hoher Geburt bat den Wächter des Gartens in einem Privatschreiben, dieses Phänomen doch ja ihren Kindern zu zeigen und womöglich eine gründliche, lehrreiche Erklärung hinzuzufügen.

All diese Geschehnisse bildeten das Entzücken jener Müßiggänger, die bei keiner Gesellschaft fehlen dürfen und deren Pflicht es ist, die Damen zu zerstreuen — und dies in um so höherem Maße, als ihr Vorrat an Neuigkeiten zurzeit völlig erschöpft war. Indes zeigte sich doch eine Minderheit ehrlicher und vernünftiger Leute sehr ungehalten über all diese Scherze. Ein Herr erklärte sogar voller Empörung, er begriffe nicht, wie in einem aufgeklärten Jahrhundert solche falsche und absurde Gerüchte entstehen könnten, ja, er wunderte sich darüber, daß die Regierung diesen Vorgängen nicht mehr Beachtung schenke. Dieser Herr gehörte augenscheinlich zu jener Menschenklasse, die es für wünschenswert hält, daß die Regierung sich in alle Angelegenheiten mische, selbst in die alltäglichen Zwistigkeiten der Ehegatten. Infolgedessen ... Aber hier hüllt sich unsere Historie von neuem in einen dichten Schleier, und über alle folgenden Ereignisse ist wieder nichts bekannt.

III.

Es gibt keinen Unsinn, der in dieser Welt nicht möglich wäre, und oft passieren Dinge, die geradezu unglaublich sind. So befand sich dieselbe Nase, die in Gestalt eines Staatsrates spazieren gegangen war und in der ganzen Stadt eine solche Aufregung verursacht hatte, plötzlich auf ganz unerklärliche Weise wieder an ihrem alten Platz zwischen den beiden Wangen des Majors Kowalew. Das geschah am 7. April.

Als der Major an diesem Morgen erwachte und in den Spiegel sah, erblickte er darin seine Nase. Er griff mit seiner Hand nach ihr, — wahrhaftig, es war seine Nase.

„Mein Gott!“ sagte Kowalew, und er wollte schon vor Freude im Zimmer barfuß ein Tänzchen machen, aber das Eintreten Iwans hinderte ihn daran. Er befahl ihm, sofort Waschwasser zu bringen und besah sich noch einmal im Spiegel — aber die Nase war in der Tat wieder da! Er trocknete sich mit dem Handtuch ab und blickte zum dritten Mal in den Spiegel, — aber die Nase war noch immer da!

„Sieh doch mal her, Iwan, ich glaube, ich habe da so eine Art Pickel auf der Nase,“ sagte er und dachte indessen bei sich:

„Was für ein Unglück, wenn Iwan mir plötzlich antwortete: ‚Nein, Herr, Sie haben nicht nur keinen Pickel auf der Nase, Sie haben ja überhaupt keine Nase!‘“

Aber Iwan bemerkte:

„Ich sehe gar keinen Pickel; Ihre Nase ist ganz rein.“

„Gut, vortrefflich, der Teufel soll mich holen!“ sagte der Major im stillen zu sich selbst und knipste mit den Fingernägeln.

In diesem Augenblick erschien der Barbier Iwan Jakowlewitsch im Türrahmen — furchtsam wie eine Katze, die ein Stück Talg gestohlen und dafür Prügel bekommmen hat.

„Sag mal vor allem: sind deine Hände auch sauber?“ schrie ihm Kowalew schon von weitem entgegen.

„Gewiß sind sie sauber!“

„Du lügst!“

„Bei Gott, sie sind sauber, Herr!“

„Na, dann mal los!“

Kowalew setzte sich, und Iwan Jakowlewitsch band ihm eine Serviette um. In einem Moment verwandelte sich der ganze Bart und ein Teil der Wangen mit Hilfe eines Pinsels in einen Crême, wie ihn die Kaufleute an ihren Namenstagen den Gästen servieren.

„Da schau her!“ sagte Iwan Jakowlewitsch zu sich selbst, nachdem er sich die Nase angesehen; dann wandte er den Kopf ein wenig, um sie auch von der Seite zu prüfen, „wahrhaftig sie sitzt tadellos!“ — und noch lange betrachtete er die Nase. Endlich erhob er mit einer Zartheit und Behutsamkeit, als ob es sich hier um seine eigene Person handle, zwei Finger, um die Nasenspitze zu ergreifen.

Das war Iwan Jakowlewitschs System.

„Achtung!“ schrie Kowalew.

Iwan Jakowlewitsch ließ die Hand sinken, verlor den Kopf und zitterte wie noch nie zuvor in seinem Leben. Endlich begann er mit großer Vorsicht, ihm unter dem Kinn mit dem Rasiermesser den Hals zu kitzeln; obwohl es ihm sehr schwer wurde, da er ja das Geruchsorgan nicht stützen durfte, überwand er doch alle Schwierigkeiten dadurch, daß er mit dem Zeigefinger bald die Wange, bald das Kinn anfaßte, und so führte er denn sein Geschäft glücklich zu Ende.

Hierauf kleidete sich Kowalew an, nahm eine Droschke und fuhr schnurstracks nach einer Konditorei. Schon auf der Schwelle befahl er dem Kellner, ihm eine Tasse Schokolade zu bringen, und blickte gleichzeitig schnell noch einmal in den Spiegel: wahrhaftig, die Nase war noch da! Fröhlich wandte er sich um und fixierte mit spöttischer Miene zwei Offiziere, deren einer eine Nase hatte, die nicht viel größer war als ein Westenknopf.

Dann begab er sich auf die Kanzlei des Departements, in dem er sich um die Stelle eines Vizegouverneurs oder doch wenigstens um die eines Exekutors bewarb; als er durch das Empfangszimmer schritt, schaute er in den Spiegel, — die Nase war noch immer da!

Hierauf fuhr er zu einem andern Kollegien-Assessor, der gleichfalls Major war, einem großen Spaßvogel, dem er auf all seine bissigen Bemerkungen stets nur die eine Antwort zu geben pflegte:

„O, ich kenne dich ja, du bist boshaft!“

Und er dachte sich unterwegs:

„Wenn der Major bei meinem Anblick nicht in Lachen ausbricht, so ist das das sicherste Zeichen, daß alles in Ordnung ist.“

Aber der Kollegien-Assessor ließ sich nichts merken.

„Gut! vortrefflich! der Teufel soll ihn holen!“ murmelte Kowalew.

Auf der Straße begegnete er Frau Podtotschina, der Gattin eines höheren Offiziers nebst ihrer Tochter; er machte eine tiefe Verbeugung und wurde mit den freudigsten Ausrufen begrüßt. Er unterhielt sich längere Zeit mit ihnen, nahm eine Prise aus seiner Tabaksdose und stopfte sie sich mit Absicht in ihrer Gegenwart in beide Nasenlöcher, indem er sich dachte:

„Da habt ihr’s! Ihr Weiber, ihr seid Gänse! Ich denke ja garnicht daran, mich mit deiner Tochter zu verheiraten! Par amour — na, meinetwegen! Das ginge noch allenfalls.“

Und der Major Kowalew zeigte sich, als ob nichts geschehen wäre, auf dem Newski-Prospekt, in den Theatern und überall. Seine Nase saß, wie wenn nichts vorgefallen wäre, fest in seinem Gesicht, und niemand sah es ihr an, daß sie einst so weit umhergeirrt war. Und seitdem sah man Major Kowalew stets in guter Laune, er lachte und blickte mit leidenschaftlichem Interesse allen schönen Frauen nach. Einmal sah man ihn sogar im Laden von Gostini Dwor ein Ordensband kaufen; zu welchem Zwecke dies geschah, das wußte freilich niemand, denn er war ja garnicht Ritter eines Ordens.

Das ist die Geschichte, die sich in der nördlichen Hauptstadt unseres großen Reiches abgespielt hat. Jetzt finden wir allerdings bei näherer Überlegung viel Unwahrscheinliches in ihr. Ohne davon zu sprechen, daß es doch höchst sonderbar ist, wenn eine Nase verschwindet und an verschiedenen Stellen in Gestalt eines Staatsrates auftaucht, — wie konnte Kowalew nicht begreifen, daß man doch nicht durch die Amtszeitung nach einer Nase suchen darf? Ich will hier garnicht einmal den hohen Preis erwähnen, den man für ein Inserat bezahlen muß. Das ist eine Kleinigkeit. Denn ich gehöre ganz und gar nicht zu den habgierigen Leuten. Aber so etwas ist doch unschicklich, lächerlich und töricht!

Und dann noch dies: wie geriet die Nase in ein Brot, und wie konnte Iwan Jakowlewitsch selbst ...? Nein, das werde ich nie und nimmer begreifen; wahrhaftig, das verstehe ich nicht! Was aber noch erstaunlicher und noch unverständlicher ist, das ist der Umstand, daß sich Autoren solche Gegenstände wählen können. Man muß zugeben, daß das in der Tat ganz unbegreiflich ist. Geradezu ... nein, nein! Ich verstehe auch nicht ein Wort davon! Erstens bringt es dem Vaterland nicht den geringsten Nutzen, und zweitens ... aber auch zweitens hat niemand einen Vorteil davon. Ich weiß einfach nicht, was das für einen Sinn hat.

Und dennoch und trotz alledem läßt sich letzten Endes vielleicht doch eins oder das andere oder das dritte davon begreifen! Denn schließlich, wo stößt man denn nicht auf Unbegreifliches? Und wenn man ordentlich über alles nachdenkt, so bleibt sicher doch wenigstens etwas davon bestehen. Man mag sagen, was man will: derartige Dinge kommen in der Welt vor — wenngleich höchst selten, aber sie kommen vor.

Das Porträt

Erster Teil.

Nirgends blieben soviel Menschen stehen wie vor dem Bilderladen in der Schtschukin-Passage. Dieser Laden bot in der Tat eine äußerst mannigfaltige Sammlung von Sehenswürdigkeiten dar: die Bilder waren meistenteils mit Ölfarbe gemalt, mit dunkelgrünem Lack gefirnißt und mit dunkelgelben, flittergoldenen Rahmen versehen. Eine Winterlandschaft mit weißen Bäumen, ein völlig roter, einer Feuersbrunst gleichender Abend, ein flämischer Bauer mit einer Pfeife und einem ausgerenkten Arm, der eher einem Truthahn in Manschetten als einem Menschen ähnlich sieht: das sind gewöhnlich die Lieblingsthemata dieser Gemälde. Dazu kamen noch einige gestochene Abbildungen: ein Porträt von Chosrev-Mirsa in einer Hammelfellmütze und etwa das Bild eines Generals mit Dreispitz und krummer Nase. Überdies pflegen die Türen eines solchen Ladens mit ganzen Bündeln von Werken, die auf große Bogen gedruckt sind und von der instinktiven Begabung des Russen zeugen, behangen zu sein. Auf einem war die Zarentochter Miliktrissa Kirbitjewna, auf einem andern die Stadt Jerusalem zu sehen, über deren Häuser und Kirchen ohne weitere Umstände ein intensives Rot gestrichen war, ein Rot, das auch einen Teil der Erde und zwei betende russische Bauern in Fausthandschuhen einhüllte. Für diese Erzeugnisse findet sich schwer ein Käufer, um so leichter jedoch ein Zuschauer. Irgend ein Taugenichts von Lakai sieht sie sich schon sicher an, während er die Wirtshaus-Menage für seinen Herrn in der Hand hält, der seinem Magen die Suppe wohl nicht allzu heiß einverleiben wird; neben ihm steht sicher irgend ein in einen Mantel eingehüllter Soldat, dieser Kavalier des Trödelmarktes, der zwei Federmesser feilbietet, und eine Höckerfrau aus Ochta mit einer Schachtel, die Schuhe enthält. Jeder genießt auf seine Art. Die Bauern pflegen ihre Zeigefinger darauf zu drücken, die Kavaliere betrachten die Bilder mit ernster Miene, die Handwerksburschen lachen und machen sich mit Hinweis auf die Karikaturen übereinander lustig, alte Lakaien in Friesmänteln schauen sich diese Dinge an, weil sie schließlich doch irgendwo gähnen müssen, und die Höckerinnen, diese jungen russischen Weiber, kommen instinktiv hierher gelaufen, um zu hören, was denn das Volk wieder zusammen klatscht, und um sich das anzuschaun, was sich das Volk anschaut.

Um diese Zeit blieb auch der junge Künstler Tschartkow, der gerade die Passage passierte, unwillkürlich vor dem Laden stehen; der alte Mantel und der nicht sehr sorgfältige Anzug ließen in ihm einen Menschen erkennen, der seiner Arbeit mit Selbstvergessenheit ergeben war und keine Zeit hatte, sich um die Kleidung zu kümmern, die doch gerade für die Jugend sonst einen geheimnisvollen Reiz in sich zu bergen pflegt. Er blieb vor dem Laden stehn und lachte zuerst innerlich über diese greulichen Bilder. Dann bemächtigte sich seiner eine unwillkürliche Versonnenheit, er fing an, darüber nachzudenken, wem diese Machwerke wohl von Nutzen wären. Daß das russische Volk von diesen Jeruslanen Lazarewitschen, diesen Freß- und Saufhelden, sowie von dem Foma und Jerjoma hingerissen wird, das erschien ihm nicht verwunderlich: die abgebildeten Gegenstände waren dem Volke durchaus verständlich. Aber wo sind die Käufer für diese bunten, schmutzigen Ölpinseleien, wem konnten diese flämischen Bauern, diese roten und blauen Landschaften, die bereits einen gewissen Anspruch auf eine etwas höhere Stufe der Kunst erheben, gefallen, einer Kunst, die gerade hier aufs tiefste erniedrigt wird? Dies waren allem Anschein nach keineswegs Werke eines Kindes oder eines Autodidakten, sonst wäre in ihnen bei aller gefühllosen Karikierung doch etwas wie ein starker Impuls zum Ausdruck gekommen. Aber hier war nichts zu entdecken als Stumpfheit, eine kraftlose, greisenhafte Talentlosigkeit, die sich eigenmächtig in die Reihen der Künste drängte, während sie doch lediglich unter den niedrigsten Handwerken ihren Platz hatte, — eine Talentlosigkeit, die übrigens ihrem Beruf treu blieb und das Handwerkliche mitten in die Kunst importierte. Dieselben Farben, die gleiche Manier, dieselbe geübte Hand, die eher einem roh gearbeiteten Automaten gehören mochte, als einem Menschen! ...

Lange stand er vor diesen schmutzigen Bildern, bis er schließlich gar nicht mehr an sie dachte, inzwischen aber sprach der Besitzer des Ladens, ein verschimmelter Kerl in einem Friesmantel und mit einem seit Sonntag nicht rasierten Barte, auf ihn ein, und feilschte mit ihm um den Preis, ohne sich davon unterrichtet zu haben, was ihm gefallen hatte und was er kaufen wollte. „Hier, für diese Bäuerlein und diese kleine Landschaft, will ich nur einen weißen Schein haben. Sehen Sie sich doch nur diese Malerei an! Die sticht einem geradezu in die Augen; die sind eben erst aus der Börse gekommen, sogar der Firnis ist noch nicht trocken. Oder nehmen Sie doch vielleicht den Winter hier! Nur fünfzehn Rubel! der Rahmen kostet doch allein soviel! Das ist dafür aber auch ein rechter Winter!“ Hierbei schnellte der Händler mit den Fingerspitzen leicht gegen die Leinewand, wahrscheinlich, um die Güte des Winters recht zu betonen. „Befehlen der Herr, daß ich sie zusammenbinde und zu Ihnen trage? Wo belieben Sie zu wohnen? He, Junge, gib mal einen Bindfaden her!“ — „Wart, Bruder, nicht so schnell!“ sagte der endlich zu sich kommende Maler, als er sah, daß der lebhafte Händler sich im Ernst daran machte, sie zusammenzubinden. Es war ihm etwas peinlich, nichts zu kaufen, nachdem er sich schon so lange im Laden aufgehalten hatte, und er sagte: „Aber warte, ich will mal sehen, ob ich nicht dort etwas für mich finde.“ Und er bückte sich und fing an, die auf dem Fußboden aufgestapelten, abgescheuerten, verstaubten, alten Schmierereien aufzuheben, die offenbar keine sonderliche Ehre genossen. Da waren altertümliche Porträts von Ahnen, deren Nachkommen man in der Welt sicher nirgends hätte finden können — unbekannte Bilder, deren Leinwand durchgerissen war, mit Rahmen ohne Vergoldung: mit einem Worte, allerlei alter Plunder. Aber der Maler fing an, sie genauer zu untersuchen, indem er in seinem Inneren zu sich sagte: „Vielleicht findet sich doch noch etwas darunter!“ Er hatte mehr als einmal gehört, wie man mitunter bei Trödlern zwischen altem Kram Gemälde großer Meister fand.

Als der Besitzer bemerkte, wohin sich Tschartkow verkrochen hatte, ließ seine Zuvorkommenheit nach, er placierte sich in seiner gewöhnlichen Stellung und gebührenden Würde wieder vor seiner Tür, rief die Passanten an und zeigte ihnen mit einer großen Geste seinen Laden. „Hierher, Väterchen! Hier sind Bilder! Kommen Sie herein, kommen Sie herein! Soeben von der Börse importiert!“ Er schrie sich tot, aber meistenteils ohne jeden Erfolg, schwatzte unterdessen zur Genüge mit dem Resteverkäufer, der ebenfalls ihm gegenüber an der Türe seiner Bude stand, und erinnerte sich schließlich, daß er noch einen Käufer im Laden hatte; sofort wandte er den Außenstehenden den Rücken zu und begab sich hinein. „Na, Väterchen, haben Sie schon etwas ausgewählt?“ Aber der Künstler stand schon eine geraume Zeit vor einem Porträt in einem großen Rahmen, der von vergangener Pracht zeugte und auf dem jetzt kaum noch die Spuren der Vergoldung glänzten.

Das war ein Greis mit einem bronzefarbenen, schmächtigen Gesicht und hervorstehenden Backenknochen. Seine Züge schienen einen Augenblick von einer krampfhaften Bewegung erfaßt zu sein und muteten nicht wie nordische Kraft an; der feurige Süden spiegelte sich in ihnen wieder. Er war in ein weites asiatisches Kostüm gehüllt. Wie schmutzig und beschädigt das Porträt auch war, Tschartkow entdeckte in ihm sofort die Spuren der Arbeit eines großen Künstlers, nachdem es ihm gelungen war, den Staub vom Gesicht zu entfernen. Das Porträt schien nicht ausgeführt zu sein, aber die Kraft der Pinselführung war eine überwältigende. Seltsamer als alles waren jedoch die Augen; der Künstler schien seine ganze Kraft und seine ganze Sorgfalt auf sie verwandt zu haben. Sie starrten einen an, blickten geradezu aus dem Porträt heraus und zerstörten beinahe die ganze Harmonie durch ihre sonderbare Lebhaftigkeit. Als er das Porträt näher an die Tür gebracht hatte, blickten ihn die Augen noch stärker an. Fast denselben Eindruck machten sie auch auf die Umstehenden. Die Frau, die hinter ihm stehen gelieben war, rief: „Er starrt, er starrt mich an!“ und wich zurück. Eine unangenehme, ihm selbst unbegreifliche Empfindung bemächtigte sich seiner, und er stellte das Bild auf den Boden.

„Na, meinetwegen nehmen Sie doch das Porträt!“ meinte der Ladenbesitzer.

„Und was kostet es?“ fragte der Künstler.

„Nun, dafür kann man doch nicht viel verlangen! Geben Sie fünfundsiebzig Kopeken!“

„Nein.“

„Na, was geben Sie?“

„Zwanzig,“ sagte der Maler, indem er sich zum Weggehen anschickte.

„Nein, mit was für einem Preis Sie herausrücken! Mit zwanzig Kopeken ist ja nicht einmal der Rahmen bezahlt! Sie wollen es wohl morgen kaufen? Herr Herr, kehren Sie doch zurück! legen Sie wenigstens zehn Kopeken zu. Nehmen Sie, nehmen Sie es, also gut, geben Sie zwanzig Kopeken. Wirklich, nur um den Anfang zu machen; nur, weil Sie der erste Käufer sind.“ — Und dabei führte er mit der Hand eine Geste aus, die zu sagen schien: „Sei dem, wie ihm sei, mag das Bild verloren gehen!“

So hatte denn Tschartkow ganz unerwartet ein altes Porträt gekauft, und er dachte sich: „Wozu habe ich es gekauft? wozu brauche ich es?“ Aber es blieb ihm nichts mehr übrig. Er nahm ein Zwanzigkopekenstück aus der Tasche, gab es dem Ladenbesitzer, nahm das Porträt unter den Arm und trug es nach Hause. Unterwegs erinnerte er sich daran, daß die zwanzig Kopeken, die er soeben weggegeben hatte, sein letztes Geld waren. Seine Gedanken trübten sich mit einem Mal; ein Gefühl des Ärgers und der gleichgültigen Leere erfaßte ihn im selben Augenblick. „Hol’s der Teufel! Wie scheußlich ist es auf der Welt!“ dachte er wie jeder Russe, dessen Geschäfte nicht blühen. Und fast mechanisch ging er schnellen Schrittes, voller Verdrossenheit, weiter. Der Schimmer der untergehenden Sonne tauchte die eine Himmelshälfte in ein tiefes Rot; noch waren die dieser Seite zugewandten Häuser von ihrem warmen Schein schwach bestrahlt; aber nach und nach erglänzte immer stärker und stärker der kühle bläuliche Schein des Mondes. Halbdurchsichtige Schatten von Häusern und Menschen fielen wie lange Schweife auf die Erde. Voller Bewunderung blickte der Maler zum Himmel empor, der in einem durchsichtigen, feinen, unbestimmten Lichte schimmerte, und dabei entschlüpften seinem Munde die Worte: „Was für ein zarter Ton!“ „Wie ärgerlich! Hol’s der Teufel!“ Und während er sich das Porträt bequemer zurechtschob, das fortwährend unter seinem Arme hinunterglitt, beschleunigte er seine Schritte.

Müde und ganz in Schweiß gebadet, schleppte er sich nach seiner Wohnung in der 15. Linie auf der Wassilij-Insel, mühsam und keuchend kletterte er die mit Spülwasser begossenen und von den Spuren von Katzen und Hunden verunreinigten Treppen hinauf. Er pochte an die Tür; niemand antwortete, sein Diener war nicht zu Hause. Er lehnte sich auf das Fensterbrett und entschloß sich, geduldig zu warten, bis er endlich hinter sich die Schritte eines Burschen in blauem Hemde vernahm: dies war sein Faktotum und Modell, sein Farbenreiber und Dielenfeger, der den Fußboden allerdings mit seinen Stiefeln stets wieder zu beschmutzen pflegte, während er ihn fegte. Der Bursche hieß Nikita und brachte während der Abwesenheit seines Herren die ganze Zeit vor dem Tore zu. Nikita gab sich lange Zeit große Mühe, das Schlüsselloch zu finden, das infolge der Dunkelheit kaum zu sehen war. Endlich wurde die Tür geöffnet. Tschartkow betrat sein Vorzimmer, das, wie bei den meisten Künstlern, unerträglich kalt war, ein Umstand, den sie allerdings im allgemeinen nicht bemerken. Ohne Nikita seinen Mantel zu übergeben, begab er sich in sein Atelier, einen großen, aber niedrigen quadratischen Raum mit zugefrorenen Fensterscheiben, der mit allerlei künstlerischem Plunder, Stücken von Gipshänden, Keilrahmen, angefangenen und wieder weggeworfenen Skizzen und bunten, auf Tischen und Stühlen liegenden Draperieen angefüllt war. Er war äußerst müde, legte den Mantel ab, stellte zerstreut das mitgebrachte Porträt zwischen zwei andere Bilder und warf sich auf einen schmalen Diwan, von dem man nicht behaupten konnte, daß er mit Leder bezogen war, denn die Messingknöpfe, die es einst befestigt hatten, residierten in stolzer Selbständigkeit. Das Gleiche ließ sich von dem Leder behaupten, sodaß Nikita seine schwarzen Socken, Hemden und allerlei schmutzige Wäsche darunter aufbewahren konnte. Nachdem er ein wenig auf ihm gesessen und gelegen, soweit hier von Liegen die Rede sein konnte, und sich genügend ausgeruht hatte, fragte er endlich nach einer Kerze.

„Wir haben keine Kerze mehr!“ sagte Nikita.

„Weshalb nicht?“

„Es war doch schon gestern keine da,“ sagte Nikita. Der Künstler erinnerte sich in der Tat, daß es auch gestern keine Kerze mehr gab, beruhigte sich und schwieg still. Er ließ sich auskleiden und zog hierauf seinen schon arg verschlissenen Schlafrock an.

„Der Wirt ist wieder dagewesen!“ fuhr Nikita fort.

„So! Er kam wegen des Geldes!“ meinte der Künstler mit wegwerfender Miene.

„Aber er war nicht allein da,“ sagte Nikita.

„Wer denn noch?“

„Ich weiß nicht, wer. Irgend so ein Polizeibeamter.“

„Wozu denn ein Polizeibeamter?“

„Ich weiß nicht, wozu! Er meinte, weil die Wohnung noch nicht bezahlt ist.“

„Nun, und was soll daraus werden?“

„Ich weiß nicht, was daraus werden soll. Er meinte, wenn er nicht zahlen will, so soll er doch ausziehen! Sie wollten beide morgen wiederkommen.“

„Mögen sie nur kommen!“ sagte Tschartkow mit trauriger Gleichgültigkeit, und eine melancholische Regenstimmung bemächtigte sich seiner.

Der junge Tschartkow war ein Künstler, dessen Talent zu manchen Hoffnungen berechtigte. In Augenblicken der Inspiration zeigte sein Pinsel scharfe Beobachtungsgabe, tiefes Verständnis und einen heißen Drang, der Natur nahe zu kommen. „Sieh, sieh, Bruder,“ sagte ihm mehr als einmal sein Professor, „du hast Talent. Es wäre eine Sünde, wenn du es zugrunde richten wolltest. Aber du hast keine Geduld. Irgend etwas lockt dich, dir gefällt etwas, und du bist gleich davon hingerissen, alles übrige ist dir dann Quark, hat für dich keinen Wert mehr, du willst es dir garnicht einmal anschaun ... sieh dich nur vor, daß aus dir nicht etwa ein moderner Maler wird. Deine Farben sind schon jetzt etwas zu scharf und zu schreiend; deine Zeichnung ist nicht mehr streng und manchmal geradezu schwach ... Die Linie verschwimmt, du trachtest schon nach modernen Beleuchtungseffekten und willst nur das wiedergeben, was dem ersten besten in die Augen springt. Nimm dich in acht, daß du nicht etwa in die Manier der Engländer verfällst! ... Gieb acht, die große Welt beginnt dich bereits zu reizen. Ich habe schon manchmal eine stutzerhafte Krawatte bei dir bemerkt oder einen gebügelten Hut ... ich weiß ja, wie verlockend es ist, für Geld Bilder nach dem Geschmack der Mode zu malen. Aber daran geht ein Talent zugrunde, anstatt daß es ihm Förderung einträgt. Hab Geduld, beschäftige dich sorgfältig mit jeder Arbeit, laß ab vom Dandytum ... Mögen doch andere dem Gelde nachjagen ... dein Vermögen wird dir trotzdem nicht entgehen.“

Der Professor hatte zum Teil recht. Manchmal mochte unser Maler in der Tat etwas über die Stränge schlagen, es den Gecken gleichtun, mit einem Wort: zeigen, daß auch er eigentlich noch recht jung war. Aber bei alledem verstand er es auch, sich zu zügeln. Bisweilen konnte er, wenn er an seine Arbeit gegangen war, alles vergessen, und er riß sich nicht anders von ihr los als wie von einem herrlichen Traume. Sein Geschmack wurde immer subtiler; noch erfaßte er nicht die ganze Tiefe Raffaels, doch wurde er von der raschen, breiten Pinselführung Guidos hingerissen, er blieb vor den Porträts Tizians stehen und begeisterte sich an der vlämischen Schule. Noch war der dunkle Schleier, der die alten Bilder verhüllt, nicht ganz vor ihm geschwunden, aber schon vermochte er ihn hin und wieder mit seinem Blicke zu durchdringen, obgleich er dem Professor innerlich nicht beistimmte, daß die alten Meister für uns so durchaus unerreichbar wären. Ihm schien es sogar, daß das neunzehnte Jahrhundert sie in mancher Beziehung bedeutend überholt hätte, daß die Nachbildung der Natur recht häufig intensiver, lebendiger, treuer geworden war, kurz, er dachte in diesem Falle genau so wie gewöhnlich die Jugend denkt, die schon einiges zu verstehen beginnt und es mit Stolz und Selbstbewußtsein empfindet. Manchmal wurde er ärgerlich, wenn er sah, wie ein zugereister Maler, ein Franzose oder etwa ein Deutscher, der oft genug garnicht einmal ein Maler von Beruf war, nur durch gewohnheitsmäßige Routine, flotte Pinselführung und schreiende Farben allgemeines Aufsehen erregte und sich in einem Augenblick ein ganzes Kapital erwarb. Solche Gedanken kamen ihm, nicht wenn er, ganz von seiner Arbeit absorbiert, Essen, Trinken und die ganze Welt vergaß, sondern nur dann, wenn die Not ihn zu arg bedrängte, wenn er keine Kopeke mehr hatte, um sich Pinsel und Farben zu kaufen und wenn der aufdringliche Wirt zehnmal am Tage kam, um die Miete für die Wohnung von ihm zu verlangen. Dann malte sich wohl in seiner hungrigen Phantasie in angenehmem Lichte das Leben eines reichen Malers, dann spielte er sogar mit dem Gedanken, der so oft das Hirn eines Russen überfällt, alles im Stich zu lassen und sich aus Gram und allem zum Trotz dem Trunk zu ergeben. Und nun war er wieder einmal in einer solchen Lage.

„Ja, hab Geduld, hab nur Geduld!“ wiederholte er verdrießlich; „aber schließlich hat auch die Geduld ihr Ende. Hab Geduld, und womit soll ich denn eigentlich morgen das Mittagsessen bezahlen? Stunden wird es mir niemand, und wenn ich auch alle meine Bilder und Zeichnungen verkaufen wollte, so würde man mir doch für sie alle zusammen noch keine zwanzig Kopeken geben. Sie sind mir wohl von Nutzen gewesen, gewiß, ich fühle es! An keinem von ihnen habe ich umsonst gearbeitet; aus jedem habe ich etwas gelernt. Aber was frommt mir das? Es sind Skizzen, Versuche ... und das werden sie immer bleiben, immer nur Skizzen, Versuche ... Und wer, der nicht zufällig meinen Namen kennt, wird sie denn kaufen mögen? Wer bedarf denn eigentlich dieser Zeichnungen nach der Antike, dieser Naturstudien oder gar meiner unbeendigten „Psyche“? Wen interessiert dieser Ausblick aus meinem Zimmer oder das Porträt meines Nikita, wenn es auch wirklich besser ist, als die Arbeiten irgend eines Modemalers? Und weshalb das alles? Weshalb quäle ich mich ab und plage ich mich, wie ein Schüler mit dem Abc, wo ich doch nicht weniger berühmt sein, als die andern und gleich ihnen Geld verdienen könnte.“

Bei diesen Worten zitterte und erblaßte der Maler plötzlich. Ein krampfhaft verzerrtes Gesicht starrte ihn von der Leinwand her — sich weit vorbeugend — an; zwei schreckliche Augen richteten sich auf ihn, als ob sie ihn verzehren wollten. Die Lippen schienen ihn bedeuten zu wollen, er solle schweigen. Erschrocken wollte er aufschreien und Nikita rufen, der bereits in seinem Vorzimmer schnarchte wie ein zweiter Polyphem. Aber plötzlich blieb er stehen und lachte. Das Gefühl der Angst verließ ihn einen Augenblick; es war das von ihm gekaufte Porträt, das er ganz vergessen hatte. Der Mondschein, in den das ganze Zimmer getaucht war, beleuchtete auch das Bild und teilte ihm eine sonderbare Lebendigkeit mit. Er fing an, es zu betrachten und zu reinigen. Er benetzte einen Schwamm mit Wasser, fuhr einige Mal mit ihm über die Fläche, wusch den dicken und fest an ihm klebenden Staub und Schmutz herunter, hängte es vor sich an die Wand hin und war über dieses ungewöhnliche Werk noch mehr erstaunt als vorher. Das ganze Gesicht schien Leben zu bekommen und die Augen blickten ihn so an, daß er erzitterte, zurückwich und ganz verdutzt sagte: „Er sieht mich an, er blickt mich mit Menschenaugen an!“ Tschartkow mußte plötzlich an eine Geschichte denken, die er einmal von seinem Professor über ein Bildnis des berühmten Lionardo da Vinci gehört hatte, jenes Bildnis, das der große Meister, trotzdem er mehrere Jahre daran gearbeitet hatte, doch noch immer für unvollendet ausgab, und das nach Vasaris Worten dennoch von allen für das vollkommenste und vollendetste Kunstwerk erklärt wurde. Am hervorragendsten waren daran die Augen, die in höchstem Maße die Bewunderung aller Zeitgenossen hervorriefen. Selbst die winzigsten, kaum sichtbaren Äderchen waren berücksichtigt und auf die Leinwand gebannt, aber hier, bei diesem jetzt vor ihm hängenden Porträt, war es noch sonderbarer. Das war keine Kunst mehr; es störte sogar die Harmonie des Bildes. Das waren lebendige, menschliche Augen. Es schien, als wären sie einem lebenden Antlitze entnommen und in dieses Bildnis eingesetzt. Das hatte nichts mehr mit jenem hohen Genuß zu tun, den die Seele angesichts eines Kunstwerkes empfindet, wie entsetzlich auch der dargestellte Gegenstand sein mag. Des Beschauers bemächtigte sich vielmehr nur ein krankhaftes quälendes Gefühl.

„Was ist das?“ fragte sich der Künstler unwillkürlich. „Das ist doch in der Tat Natur, lebendige Natur! Woher also dieses seltsame, unangenehme Gefühl? Oder wäre die sklavische, peinliche Naturnachahmung an sich schon ein Vergehen, wirkte sie wie ein greller unharmonischer Ton? Oder erscheint der Gegenstand, wenn man gefühllos, gleichgültig, ohne innere Anteilnahme an ihn herantritt, stets nur in seiner abschreckenden Wirklichkeit — ohne jenen Glanz eines gewissen, unbegreiflichen, überall verborgenen Gedankens? — in jener Wirklichkeit, die sich offenbart, wenn wir uns, mit einem anatomischen Messer bewaffnet, einem Menschen nahn, in der Erwartung, etwas Herrliches zu schaun, sein Inneres bloßlegen und eines Ungeheuers gewahr werden? Warum erscheint denn die einfache gemeine Natur bei einem Künstler in einer gewissen Verklärung — und man erhält keinen gemeinen Eindruck? Im Gegenteil! es scheint einem, als hätte man einen großen Genuß gehabt, und alles fließt und bewegt sich ruhiger und gleichmäßiger um einen herum. Und warum erscheint ebendieselbe Natur bei einem anderen Künstler niedrig und schmutzig, während doch auch er der Natur treu blieb? Es fehlt ihm eben das Etwas, das sie verklärt. Ganz wie eine Landschaft, so herrlich sie auch sein mag, doch unvollkommen erscheint, wenn kein Sonnenstrahl sie erleuchtet.“

Er näherte sich aufs neue dem Porträt, um diese wunderbaren Augen zu betrachten, und sah wieder mit Entsetzen, daß sie ihn wirklich anstarrten. Das war keine Kopie nach der Natur mehr, das war jene entsetzliche Lebhaftigkeit die dem Gesicht eines dem Grabe entstiegenen Toten Leben gegeben hätte. War es der Mondschein, der Wahngebilde und Träume mit sich brachte und jedem Ding eine andre Form verlieh als das nüchterne positive Tageslicht? Oder war etwas anderes die Ursache? Es wurde ihm — er wußte selbst nicht warum — ängstlich und bang zumute, er fürchtete sich, allein im Zimmer zu bleiben. Er trat leise vom Porträt zurück, wandte sich nach der andern Seite und bemühte sich, es nicht anzublicken; inzwischen aber schielte sein Auge dennoch ganz wie von selbst unwillkürlich nach ihm hin. Schließlich verursachte ihm sogar die Regelmäßigkeit, mit der er das Zimmer durchmaß, Unruhe. Es war ihm, als folgte ihm immer jemand, und jedesmal sah er sich scheu um. Jede Feigheit lag ihm fern, aber seine Einbildungskraft und seine Nerven waren sehr feinfühlig, und an diesem Abend konnte er sich seine instinktive Furcht selbst nicht erklären. Er setzte sich in eine Ecke, aber auch hier hatte er das Gefühl, als werde ihm gleich jemand über die Achsel in das Gesicht schaun. Selbst Nikitas Schnarchen, das aus dem Vorzimmer herüberdrang, vermochte nicht, seine Angst zu verscheuchen. Endlich erhob er sich zaghaft, ohne die Augen zu erheben, von seinem Platze, begab sich hinter die spanische Wand und legte sich in sein Bett. Durch eine Spalte sah er das vom Monde bestrahlte Zimmer und das ihm gerade gegenüber an der Wand hängende Porträt. Noch bedeutsamer heftete es jetzt die Blicke auf Tschartkow, als suchte es niemand anders als ihn. Voller Unruhe entschloß er sich, sein Lager zu verlassen, er ergriff ein Laken, trat an das Porträt heran und hüllte es in das Betttuch ein.

Nachdem er dies getan hatte, legte er sich ruhig wieder zu Bett und begann über die Armut, über das erbärmliche Schicksal des Künstlers, über den Dornenweg, der ihn in dieser Welt erwartet, nachzudenken, unterdessen aber blickten seine Augen unwillkürlich durch die Spalte der spanischen Wand nach dem vom Betttuch verhüllten Porträt. Der Mondenschein ließ das Weiß des Lakens noch heller erscheinen, und es kam Tschartkow so vor, als schimmerten die schrecklichen Augen schon durch das Leinentuch hindurch. Furchtsam starrte er hin, als wollte er sich davon überzeugen, daß es sich um eine Illusion handelte. Aber jetzt ... tatsächlich ... jetzt steht es vor ihm ... er sieht es, sieht es ganz klar. Das Laken ist nicht mehr vorhanden. Das Porträt steht ganz frei da und schaut ihn über alles hinweg unverwandt an, späht geradezu in sein Inneres hinein. Es wurde ihm kalt ums Herz, ... doch da sieht er mit einem Male, wie der Greis sich bewegt, sich plötzlich mit beiden Händen auf den Rahmen stützt, sich emporreckt und beide Beine herausstreckend, aus dem Rahmen springt. Durch den Spalt des Bettschirmes war nur noch ein leerer Rahmen wahrzunehmen. Die Schritte hallten im Zimmer wider und näherten sich immer mehr dem Schirme. Das Herz des armen Künstlers begann stärker zu pochen. Während er vor Angst kaum zu atmen wagte, schien er darauf gefaßt zu sein, daß der Greis gleich den Kopf nach ihm hinter den Schirm strecken würde. Und in der Tat, jetzt beugte sich sein bronzefarbenes Antlitz mit den großen rollenden Augen über ihn. Tschartkow versuchte voller Qual aufzuschrein, bemerkte jedoch, daß ihm der Ton in der Kehle stecken blieb; er versuchte sich zu rühren, irgend eine Bewegung auszuführen. Jedoch die Glieder versagten ihren Dienst. Mit offenem Munde und stockendem Atem betrachtete er dieses furchtbare, hochgewachsene, in ein weites asiatisches Gewand gehüllte Phantom und wartete ab, was es tun würde. Der Greis ließ sich am Fußende des Lagers nieder und zog etwas aus den Falten seines Kleides hervor. Es war ein Geldbeutel. Er schnürte ihn auf, packte ihn an den beiden Endzipfeln, schüttelte ihn ... und mit dumpfem Geräusch fielen schwere Rollen, die wie längliche Säulchen aussahen, auf den Boden; jede war in blaues Papier eingeschlagen und trug die Aufschrift: „Tausend Dukaten“. Seine langen knochigen Finger aus den weiten Ärmeln herausstreckend, begann der Alte, die Rollen zu öffnen, aus denen ihm das Gold entgegenglänzte. Mit wie tödlicher Qual auch der Alpdruck auf dem Künstler lastete, er war doch von dem Anblicke des Goldes ganz hingerissen und beobachtete unverwandt, wie die knochigen Hände es aufrollten, wie es glänzte, fern und dumpf klirrte und wie der Alte es dann wieder einhüllte. Plötzlich bemerkte er eine Rolle, die abseits von den anderen unter sein Bett gefallen war; fast krampfhaft ergriff er sie und spähte voller Furcht danach, ob sie der Alte nicht etwa vermißte. Der Greis schien jedoch sehr beschäftigt zu sein. Er suchte alle seine Rollen zusammen, legte sie wieder in den Beutel und trat, ohne ihn zu beachten, hinter der spanischen Wand hervor. Tschartkows Herz schlug heftig, als er hörte, wie sich die Schritte im Zimmer immer mehr und mehr von ihm entfernten. Er umschloß die Rolle in seiner Hand mit kräftigerem Drucke und erzitterte am ganzen Körper, als er plötzlich vernahm, wie sich die Schritte wieder dem Schirme näherten. Offenbar war der Alte gewahr geworden, daß ihm eine Rolle fehlte, und so spähte er denn auch zu ihm hinter die Wand. Voller Verzweiflung hielt der Künstler die Rolle krampfhaft in seiner Hand fest, machte eine ungeheure Anstrengung, sich zu bewegen, schrie auf und erwachte.

Kalter Schweiß bedeckte ihn am ganzen Körper. Sein Herz schlug so stark, wie es nur schlagen konnte. Die Brust war wie eingeschnürt, wie wenn sie den letzten Atemzug getan hätte. „War es denn wirklich ein Traum?“ sagte er, indem er sich mit beiden Händen an den Kopf faßte. Aber die furchtbare Lebhaftigkeit der Erscheinung widersprach dieser Annahme. Hatte er doch, nachdem er bereits erwacht war, gesehen, wie der Alte in den Rahmen hineinschlüpfte; sogar ein Zipfel seines weiten Gewandes flatterte noch vor ihm her, und seine Hand spürte deutlich, daß sie noch vor einer Minute irgend einen schweren Gegenstand gehalten hatte. Der Mondschein überflutete das Zimmer und ließ bald eine Staffelei, bald eine fertige Haube, bald eine auf dem Stuhl vergessene Draperie, bald ein Paar ungeputzte Stiefel in den finsteren Ecken hervortreten. Erst jetzt bemerkte Tschartkow, daß er nicht im Bette lag, sondern dicht vor dem Porträt auf seinen beiden Beinen stand. Wie er hierhin gelangt war, das konnte er sich auf keine Weise erklären. Noch mehr aber setzte ihn der Umstand in Erstaunen, daß das Porträt unverhüllt war — das Laken fehlte tatsächlich! — Regungslos und voller Angst starrte er es an und sah, wie sich zwei lebendige, menschliche Augen unverwandt auf ihn richteten. Kalter Schweiß bedeckte sein Antlitz. Er wollte fliehen, fühlte aber, daß seine Füße wie angewurzelt waren. Und nun sieht er — es ist kein Traum! — wie die Züge des Greises Bewegung gewinnen und seine Lippen sich ihm entgegenspitzen, als wollten sie sich an ihn festsaugen. Mit einem Schrei der Verzweiflung sprang er zurück und erwachte.

„War auch das nur ein Traum?“ fragte er sich und tastete mit den Händen um sich, während sein Herz zum Zerspringen klopfte. Ja, er lag noch genau in jener Lage, in der er eingeschlafen war, auf dem Bett. Vor ihm stand der Schirm, das Zimmer war vom Mondschein erfüllt, und durch den Spalt der spanischen Wand konnte er noch das sorgfältig mit dem Laken verhüllte Porträt sehen, genau so, wie er es selbst verhüllt hatte. Folglich hatte er wieder geträumt; aber die geballte Faust hatte noch immer die Empfindung, daß sie irgend etwas umschlossen hielt. Sein Herz klopfte stark und schrecklich. Das Gefühl, als lastete etwas auf seiner Brust, war unerträglich. Er spähte durch den Spalt und betrachtete unverwandt das Laken. Und nun sieht er klar und deutlich, wie dieses allmählich heruntergleitet, als ob sich zwei Hände unter ihm bewegten und sich bemühten, es abzustreifen. „Herr Gott, was ist denn das?“ rief er voller Verzweiflung, bekreuzigte sich und erwachte.

War auch dies ein Traum? Er sprang halb wahnsinnig, besinnungslos aus dem Bett, unfähig, zu begreifen, was denn eigentlich mit ihm geschehen war: ob ein Alpdrücken oder ein Spuk, ein Fieberwahn oder eine lebendige Erscheinung ihn gequält hatte. In der Absicht, die seelische Erregung und das stürmende Blut, das heftig durch all seine Adern rollte, zu stillen, trat er ans Fenster und öffnete es halb. Ein kalter Windstoß von außen her brachte ihn wieder zu sich. Der Mond bestrahlte noch immer die Dächer und die weißen Mauern, wenn auch jetzt hin und wieder kleine Wölkchen über den Himmel glitten. Alles war still. Nur selten drang das ferne Rasseln einer Mietsdroschke an das Ohr, deren Kutscher, in Erwartung eines verspäteten Fahrgastes, von seiner faulen Mähre eingewiegt, in irgend einer versteckten Gasse schlummerte. Lange schaute Tschartkow zum Fenster hinaus. Schon zeigten sich am Himmel die Anzeichen der nahenden Morgenröte; endlich fühlte er das Bedürfnis zu schlafen, er schlug das Fenster zu, entfernte sich, legte sich ins Bett und schlief bald fest ein wie ein Toter.

Er erwachte sehr spät und hatte jenes unangenehme Gefühl, das einen Menschen nach einer Kohlendunstvergiftung überfällt. Sein Kopf schmerzte ihn heftig. Im Zimmer war es trübe; eine unangenehme Feuchtigkeit erfüllte die Luft und drang durch die Spalten seiner Fenster, die mit Bildern oder grundierten Keilrahmen verstellt waren. Mürrisch und unzufrieden wie ein begossener Hahn setzte er sich auf seinen verschlissenen Diwan, ohne zu wissen, was er beginnen, was er tun sollte, und überdachte schließlich seinen ganzen Traum. Dabei wirkte dieser in der Erinnerung so stark auf ihn, daß er sich sogar dem Argwohn hingab, vielleicht hätte ihn doch nicht nur ein einfacher Traum oder eine Wahnidee heimgesucht, sondern irgend etwas anderes, — etwa eine Vision. Er schob das Laken zurück und betrachtete nun dieses schreckliche Porträt beim hellen Tageslicht. Die Augen wirkten in der Tat durch ihr ungewöhnliches Feuer ganz erstaunlich; und doch konnte er nichts Schreckliches an ihnen entdecken, nur blieb in seiner Seele eine unbestimmte, unerklärliche, peinigende Empfindung zurück. Trotzdem aber wollte er nicht recht daran glauben, daß es lediglich ein Traum gewesen war. Es schien ihm, als enthielte seine Vision ein entsetzliches Bruchstück der Wirklichkeit. Er hatte das Gefühl, als ob ein Etwas im Blick und im Gesichtsausdruck des Greises ihm zuflüsterte, daß er diese Nacht bei ihm gewesen sei. Seine Hand empfand noch den Druck, wie wenn eine andere sich erst kurz vorher von ihr losgerissen hätte, und er kam zur Überzeugung, daß die Rolle auch nach dem Erwachen noch in seiner Hand gewesen wäre, wenn er sie nur fester gehalten hätte.

„Herrgott! wenn mir doch nur ein Teil dieses Geldes gehörte!“ sagte er, indem er tief aufseufzte, und er glaubte zu sehen, wie alle Rollen mit der verlockenden Aufschrift „Tausend Dukaten“, die er im Traum erblickt hatte, aus dem Beutel herausfielen. Sie öffneten sich, das Gold glänzte und funkelte vor seinen Augen und wurde dann wieder eingewickelt, er aber verharrte unbeweglich und wie von Sinnen, in die leere Luft starrend, völlig unfähig, sich von diesem Gegenstande loszureißen, wie ein Kind, das vor einer süßen Speise sitzt und, während ihm das Wasser im Munde zusammenläuft, zusehen muß, wie sie von anderen verzehrt wird.

Da wurde plötzlich heftig an die Tür gepocht, was ihn wieder auf unangenehme Weise in die Wirklichkeit zurückversetzte. Der Wirt trat ein, und mit ihm der Polizeikommissar, dessen Erscheinen auf kleine Leute bekanntlich noch widerwärtiger wirkt als das Gesicht eines Bettlers auf einen Reichen. Der Wirt des kleinen Hauses, in dem Tschartkow lebte, war eins jener Wesen, die irgendwo in der 15. Linie der Wassilij-Insel, im Petersburger Viertel oder in einer entfernteren Ecke von Kolomna ein Häuschen besitzen — ein Geschöpf, deren es in Rußland noch viele gibt und deren Charakter ebenso schwer zu bestimmen ist, wie die Farbe eines abgetragenen Rockes. In seiner Jugend war er Hauptmann der Infanterie und ein rechter Bramarbas gewesen, war aber auch in Zivilangelegenheiten verwandt worden: ein Meister im Prügeln, behend, geckenhaft und dumm; nun aber, wo er alt geworden war, vereinigten sich alle diese hervorstechenden Eigenheiten zu einer gewissen undeutlichen Verschwommenheit. Jetzt war er Witwer und hatte schon seinen Abschied genommen; daher vernachlässigte er sein Äußeres, er prahlte nicht mehr so unverschämt, war nicht mehr so arrogant und liebte es nur, Tee zu trinken und dabei allerlei Unsinn zusammenzuschwatzen; er ging beständig im Zimmer auf und ab, putzte die Talgkerze, besuchte pünktlich nach Ablauf jedes Monats seine Mieter wegen des Mietzinses, trat öfters mit dem Schlüssel in der Hand auf die Straße hinaus, um einen Blick auf das Dach seines Hauses zu werfen, und vertrieb seinen Portier beständig aus seiner Kammer, in der dieser gewöhnlich sein Lager aufschlug: mit einem Wort, es war einfach ein Mann im Ruhestande, der nach einem langen liederlichen Leben, währenddessen er so oft strapaziöse Reisen in Postkutschen machen mußte, nichts zurückbehalten hatte als ein paar platte Gewohnheiten.

„Sehen Sie doch selbst, Waruch Kusmitsch!“ meinte der Wirt, indem er sich an den Polizeikommissar wandte und mit den Armen eine bezeichnende Geste vollführte; „er bezahlt die Wohnung nicht, er zahlt nun einmal nicht!“

„Was soll ich denn machen, wenn ich kein Geld habe? Warten Sie doch nur, ich werde schon bezahlen!“

„Ich kann nicht warten, Väterchen,“ erwiderte der Wirt heftig und klopfte mit dem Schlüssel, den er in der Hand hielt, auf den Tisch. „Der Oberstleutnant Potogonkin wohnt schon sieben Jahre lang in meinem Hause; Anna Petrowna Buchmisterowa hat mir eine Scheune und einen Stall für zwei Pferde abgemietet: eine Frau, die drei Dienstboten hat! Da sehen Sie, was für Mieter ich habe. Offengestanden, bei mir ist es nicht Sitte, daß man mir den Zins schuldig bleibt. Wollen Sie sofort das Geld bezahlen und dann die Wohnung räumen.“

„Ja, wenn Sie sich dazu verpflichtet haben, dann müssen Sie auch zahlen,“ meinte der Polizeikommissar, indem er leicht den Kopf schüttelte und den Zeigefinger zwischen zwei Knöpfe seines Uniformrockes steckte.

„Aber womit soll ich denn bezahlen? Das ist doch eben die Frage. Ich verfüge jetzt noch nicht über einen Pfennig.“

„In diesem Falle müssen Sie Iwan Iwanowitsch durch die Erzeugnisse Ihrer Kunst sicherstellen,“ meinte der Kommissar. „Er wird vielleicht damit einverstanden sein, sich die Miete in Bildern bezahlen zu lassen.“

„Nein, Väterchen, ich danke schön für die Bilder! Wären es noch Gemälde von vornehmem Inhalt, so daß man sie an die Wand hängen könnte, ... etwa ein General mit einem Stern, oder ein Porträt des Fürsten Kutusow! Aber da malt er sich hier einen Bauern im Hemde hin, seinen Diener, der ihm die Farben reibt! Noch ein Bild von dem Schwein zu malen! Ich werde ihm den Buckel vollhauen! Er hat mir alle Nägel aus den Riegeln herausgezogen. Dieser Schuft! Sehen Sie nur, was für Gegenstände er sich wählt. Da malt er sein Zimmer! Hätte er noch wenigstens eine saubere, aufgeräumte Stube genommen! Aber wie das hier gemalt ist! Mit dem ganzen Schmutz und Dreck, der überall herumliegt! Sehen Sie mal, wie er mir das Zimmer versaut hat! Wollen Sie doch selbst sehen. Bei mir wohnen die Mieter sieben Jahre lang, ein Oberst und Frau Buchmisterowa, Anna Petrowna ... Wahrhaftig, ich muß Ihnen gestehen, es gibt keinen schlimmeren Mieter als einen Maler ... Der lebt wie ein Schwein! ... Einfach wie ein ..., Gott soll mich davor bewahren!“

Und dies alles mußte der arme Maler geduldig anhören. Der Polizeikommissar beschäftigte sich inzwischen mit der Prüfung der Bilder und Skizzen und bekundete hierbei, daß er eine lebendigere Seele hatte als der Wirt, und sogar für künstlerische Eindrücke nicht ganz unempfänglich war.

„He,“ sagte er, während er mit dem Finger gegen eine Leinwand klopfte, auf der ein nacktes Frauenzimmer dargestellt war, „dieser Gegenstand ist ja recht pikant, ... und dieser Kerl hier, weshalb ist denn der so schwarz unter der Nase? Hat er sich etwa mit Tabak beschmutzt? Wie?“

„Das ist ein Schatten!“ antwortete Tschartkow herb und ohne ihn anzusehen.

„Nun, den könnte man auch wo anders hinsetzen! Unter der Nase fällt es doch gar zu sehr auf,“ sagte der Kommissar. „Und wessen Porträt ist dies hier?“ fuhr er fort, indem er sich dem Bilde des Greises näherte. „Der ist ja entsetzlich! War er denn wirklich so schrecklich? Mein Gott, der starrt einen ja geradezu an! Sieh einmal, was für Blitze der schleudert! Wer hat Ihnen denn dazu Modell gesessen?“

„Ach, das ist ein ...,“ sagte Tschartkow, doch er sprach den Satz nicht zu Ende.

Man vernahm ein Krachen ... Der Kommissar hatte offenbar infolge des ungeschlachten Baues seiner polizeilichen Hände den Rahmen des Bildes zu fest angepackt. Die Leisten an der Seite waren eingedrückt, die eine fiel auf den Boden, und mit ihr flog klirrend eine in blaues Papier gehüllte Rolle heraus. Die Aufschrift „Tausend Dukaten“ sprang Tschartkow in die Augen. Wie wahnsinnig stürzte er herbei, um sie aufzuheben, ergriff die Rolle und umschloß sie krampfhaft mit einer Hand, die sich mit der schweren Last herabsenkte.

„Es klang doch hier wie Geld!“ sagte der Kommissar, der etwas Klirrendes hatte auf den Boden fallen hören und den die Schnelligkeit, mit der Tschartkow herbeistürzte, daran hinderte, genau zu erkennen, was es war.

„Und was geht Sie das an? Was brauchen Sie zu wissen, was ich hier habe?“

„Das geht mich deshalb was an, weil Sie dem Wirt sofort die Miete zahlen müssen! Weil Sie Geld haben, aber nichts zahlen wollen!“

„Also gut, ich werde ihn heute bezahlen!“

„Warum wollten Sie dann aber nicht schon früher bezahlen? Wozu mußten Sie den Wirt beunruhigen und die Polizei belästigen?“

„Weil ich dieses Geld nicht angreifen möchte! Ich werde ihm heute abend alles bezahlen und sofort die Wohnung räumen, weil ich bei einem solchen Wirte nicht mehr bleiben will.“

„Nun also, Iwan Iwanowitsch, er wird Ihnen alles bezahlen,“ sagte der Kommissar, sich an den Wirt wendend. „Wenn es sich jedoch herausstellt, daß Sie heute abend nicht gebührend befriedigt werden, dann sollte es mir sehr leid tun, Herr Maler!“

Sprach’s, setzte seinen Dreispitz auf und ging zum Flur hinaus. Der Wirt folgte ihm mit gesenktem Kopf und anscheinend etwas nachdenklich auf dem Fuße.

„Gott sei Dank, der Teufel hat sie geholt!“ sagte Tschartkow, als er hörte, daß die Tür des Vorzimmers sich hinter ihnen geschlossen hatte. Er warf noch einen Blick in den Flur, schickte Nikita fort, um ganz allein zu bleiben, schloß die Tür hinter ihm ab und begann, nachdem er wieder in sein Zimmer zurückgekehrt war, unter heftigem Herzklopfen die Rolle zu öffnen. Wahrhaftig! sie enthielt lauter glänzende Dukaten, die alle ohne Ausnahme neu geprägt waren und wie Feuer funkelten! — Wie wahnsinnig hockte er über dem Goldhaufen und fragte sich immer und immer wieder: „Ist das alles nicht doch nur ein Traum?“ Die Rolle enthielt genau tausend Goldstücke. Äußerlich glichen sie völlig denen, die er im Traum gesehen hatte. Einige Minuten wühlte er prüfend in ihnen herum und konnte sich noch immer nicht beruhigen. In seiner Phantasie lebten plötzlich alle Geschichten von Schätzen und Schatullen mit Geheimfächern auf, die vorsorgliche Ahnen ihren Enkeln in der sicheren Voraussicht ihres zukünftigen Ruins hinterlassen hatten. Er dachte sich: „Vielleicht hatte auch in diesem Falle irgend ein Großvater den Einfall, seinem Enkel ein Geschenk zu hinterlassen, indem er es in dem Rahmen eines Familienporträts verbarg.“ Voll von romantischen Vorstellungen fing er sogar an, darüber nachzudenken, ob nicht etwa zwischen diesem Vorfall und seinem Schicksale irgend eine geheime Verbindung bestände, ob nicht gar dieses Porträt irgendwie mit seinem Leben verknüpft wäre, und ob es nicht von einer geheimnisvollen Macht vorausbestimmt gewesen sei, daß er es erwerben sollte. Neugierig betrachtete er den Rahmen des Porträts. An einer Seite war eine Rinne ausgehöhlt, die so geschickt und unmerklich von einem Brettchen verdeckt wurde, daß die Dukaten hier bis in alle Ewigkeit ungestört verblieben wären, hätte nicht die gründliche Hand des Polizeikommissars dort einen Einbruch verübt. Er betrachtete das Porträt und bewunderte immer wieder die vollkommene Arbeit und die ungewöhnliche Zeichnung der Augen. Jetzt kamen sie ihm gar nicht mehr schrecklich vor, ließen jedoch noch immer ein unangenehmes Gefühl in seinem Innern zurück. „Nein,“ sagte er zu sich selbst, „wessen Großvater du auch sein magst, ich werde dich doch mit Glas bedecken und dir einen goldenen Rahmen anfertigen lassen.“ Hierbei ließ er die Hand auf den vor ihm liegenden Goldhaufen fallen und sein Herz begann infolge dieser Berührung heftig zu pochen. „Was nun tun?“ dachte er, während er die Blicke auf das Geld richtete. „Jetzt bin ich mindestens für drei Jahre gesichert, ich kann mich in meiner Mansarde einschließen und arbeiten. Jetzt habe ich Geld genug für Farben, Essen, Trinken, Tee, und für die sonstigen Lebensbedürfnisse sowie für die Wohnung. Stören und belästigen wird mich jetzt niemand mehr. Ich werde mir eine vorzügliche Gliederpuppe kaufen, werde mir einen Gipstorso bestellen, werde mir Füße modellieren lassen, eine Venus aufstellen, Stiche nach den besten Bildern anschaffen, und, wenn ich dann diese drei Jahre für mich allein ohne Übereilung und ohne an den Verkauf zu denken, arbeite, überhole ich alle meine Kollegen und kann ein tüchtiger Künstler werden.“

So sprach er im Einklang mit der Vernunft, die ihm diesen guten Vorsatz eingab. Aber aus seinem Inneren ertönte eine andere Stimme vernehmlicher und klangvoller, und als er noch einmal auf das Gold blickte, da erwachten ganz andere Gefühle in ihm: die Bedürfnisse seiner zweiundzwanzig Jahre, die Sehnsucht einer stürmenden Jugend! Jetzt war alles in seiner Macht, was er bisher nur mit neiderfüllten Augen angeschaut, was er nur von der Ferne bewundert hatte, während ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Hei, wie ihm das Herz zu pochen begann, als er nur daran dachte, sich einen modernen Frack anzuziehn, nach dem langen Fasten endlich einmal über die Stränge zu schlagen, sich eine schöne Wohnung zu mieten und sich sogleich ins Theater und in eine Konditorei zu begeben. Er steckte das Geld in die Tasche und trat auf die Straße hinaus.

Vor allem ging er zum Schneider, ließ sich vom Kopf bis zu den Füßen neu einkleiden, wobei er sich unaufhörlich wie ein Kind anstaunte, kaufte Parfüms und Pomade, mietete sich — ohne lange zu handeln — eine vornehme Wohnung auf dem Newski-Prospekt mit Spiegeln und großen Fensterscheiben, erstand ebenfalls, ohne sich zu besinnen in einem Laden eine teure Lorgnette und eine Unmenge von Krawatten, — weit mehr als er überhaupt nötig hatte —, ließ sich von einem Friseur die Locken kräuseln, fuhr zweimal in einer eleganten Equipage ohne jeden Zweck durch die Stadt, aß sich in einer Konditorei an Konfitüren satt, und ging dann ins Restaurant „Zum Franzosen“, von dem er bis jetzt nicht mehr Ahnung hatte als von dem Reiche der Mitte. Dort speiste er stolz wie ein Spanier, warf hochmütige Blicke auf seine Mitgäste und strich sich vor dem Spiegel unaufhörlich die gebrannten Locken zurecht; er trank sogar eine Flasche Champagner, den er bis dahin ebenfalls nur vom Hörensagen kannte. Der Wein benebelte sein Hirn ein wenig, und so trat er denn animiert, angeheitert und keck oder wie man in Rußland zu sagen pflegt: „Selbst dem Teufel kein Bruder!“ auf die Straße. Wie ein Geck spazierte er den Bürgersteig entlang und warf nachlässige Blicke durch seine Lorgnette auf die Passanten; auf der Brücke gewahrte er seinen früheren Professor und huschte keck an ihm vorbei, als hätte er ihn gar nicht bemerkt, so daß der verdutzte Professor noch lange unbeweglich stehen blieb wie ein personifiziertes Fragezeichen ...

Alle seine Sachen und alles, was er noch besaß, die Staffelei, die Bilder, die Leinewand, hatte er noch am selben Abend in seine prachtvolle Wohnung bringen lassen; das Bessere stellte er an exponierten Stellen auf, das Minderwertige warf er in die Ecke; dann schritt er in den glänzenden Zimmern auf und ab wie ein Pfau, wobei er sich unaufhörlich im Spiegel betrachtete. In seiner Seele erwachte sofort das unüberwindliche Verlangen, den Ruhm bei den Haaren zu packen und sich der ganzen Welt zu zeigen. Schon war es ihm, als hörte er Rufe wie die folgenden: „Tschartkow! Tschartkow! Haben Sie das Bild von Tschartkow gesehen? Über was für eine rasche Pinselführung doch der Tschartkow verfügt! Was für ein mächtiges Talent dieser Tschartkow besitzt!“ Verträumt ging er wieder durch sein Zimmer und war bald in wer weiß welche Regionen entrückt. Gleich am andern Tage begab er sich mit einem Dutzend Dukaten zu dem Herausgeber eines vielgelesenen Blattes, um sich dessen großmütigen Beistand zu erbitten; er wurde von dem Journalisten, der ihn sofort „Geehrter Herr“ anredete, ihm beide Hände drückte, und sich eingehend nach seinem Vor- und Vatersnamen und nach seiner Adresse erkundigte, aufs gastfreundlichste empfangen, — und schon am nächsten Tage erschien in der Zeitung gleich hinter einer Ankündigung von neu in den Handel gebrachten Talgkerzen ein Artikel mit folgender Überschrift:

Ein ungewöhnliches Talent!
Der Maler Tschartkow.

Wir beehren uns, die gebildeten Einwohner der Hauptstadt mit einer — man kann ruhig sagen — in jeder Beziehung herrlichen und außerordentlichen Entdeckung zu erfreuen. Alle sind darin einig, daß wir viele bezaubernde Physiognomien und Gesichter von wunderbarer Schönheit besitzen, nur gab es bis jetzt kein Mittel, sie auf die wundertätige Leinewand zu übertragen und sie dadurch der Nachkommenschaft zu erhalten. Jetzt ist diesem Mangel abgeholfen. Ein Künstler ist uns erstanden, der alles in sich vereinigt, was uns not tut. Von nun ab darf jede Schönheit fest davon überzeugt sein, daß sie sich mit der ganzen Grazie ihres ätherischen, leichten, faszinierenden und wunderbaren Reizes im Porträt wiederfinden wird ... Der ehrwürdige Familienvater wird sich von seiner Familie umgeben erblicken, der Kaufmann, der Krieger, der Bürger, der Staatsmann können ihre glorreiche Laufbahn ruhig fortsetzen. Eilt, eilt alle von einem Fest, von einem Spaziergange, von einem Besuche bei einem Freunde, bei einer Kusine, oder aus einem eleganten Laden, eilt hin zu ihm, zu diesem großen Künstler. Das herrliche Atelier des Malers Newski-Prospekt Nr. .. steckt voller Porträts, die von seinem Pinsel herrühren und eines Van Dyck oder Tizian würdig sind. Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll: über den Realismus, die Ähnlichkeit mit den Originalen, oder über die ungewöhnliche Kraft und Frische der Pinselführung. Preis Dir, mein Künstler, Du hast das große Los gezogen. Vivat, Andrei Petrowitsch! (Der Journalist hatte anscheinend viel für das Familiäre übrig.) Bedecke Dich und uns mit ewigem Ruhme, wir wissen es wohl, Dich zu würdigen; allgemeines Aussehen, ein gewaltiger Zuspruch und zugleich damit Reichtum und Wohlstand — obwohl sich einige Journalisten aus unserer Mitte auch dagegen auflehnen werden — wird Dein Lohn sein.“

Mit heimlichem Vergnügen sah der Künstler diese Anzeige; sein Gesicht strahlte. In der Presse wurde über ihn geredet, das war etwas ganz Neues für ihn. Mehrere Male hintereinander überlas er die Zeilen. Der Vergleich mit Van Dyck und Tizian schmeichelte ihm sehr. Der Satz „Vivat Andrei Petrowitsch“ erweckte ebenfalls sein Wohlgefallen. Er wurde auf bedrucktem Papier mit Vor- und Vaternamen genannt, eine Ehrung, die er bis dahin noch nicht gekannt hatte. Er begann rasch, im Zimmer auf- und abzugehen, und sich mit den Fingern durch die Haare zu fahren; bald setzte er sich in ein Fauteuil, bald sprang er wieder auf und ließ sich auf dem Diwan nieder, indem er sich fortwährend vorstellte, wie er die Besucher empfangen würde, dann trat er an eine Leinewand heran und pinselte keck darauf los, immer bestrebt, der Hand recht graziöse Bewegungen abzulocken.

Schon am folgenden Tage schellte es an der Türe, und er beeilte sich, sie zu öffnen. Eine Dame, in Begleitung eines Lakaien in einer pelzgefütterten Livree, und ihrer Tochter, eines jungen achtzehnjährigen Mädchens, betrat das Atelier.

„Sind Sie Monsieur Tschartkow?“ fragte die Dame. Der Künstler verneigte sich.

„Es wird soviel über Sie geschrieben; Ihre Porträts sollen der Gipfel der Vollkommenheit sein.“ Nach diesen einleitenden Worten bewaffnete die Dame ihr Auge mit einem Lorgnon und ließ die Blicke schnell über die nackten Wände gleiten. „Und wo sind Ihre Porträts?“

„Man hat sie soeben abgeholt,“ sagte der Künstler etwas verlegen. „Ich bin erst vor kurzem in diese Wohnung gezogen, und so kommt es, daß sie noch unterwegs sind ... sie sind noch nicht angekommen.“

„Waren Sie in Italien?“ fragte die Dame, indem sie ihr Lorgnon in Ermangelung eines andern Objektes für ihre Beobachtungen auf ihn selbst richtete.

„Nein, ich war nicht dort, ich hatte aber immer die Absicht ... Übrigens habe ich es jetzt aufgeschoben ... Bitte hier ist ein Fauteuil ... Sind Sie nicht müde?“

„Danke, ich habe sehr lange in meiner Equipage gesessen. Ah, hier! Endlich sehe ich eine Arbeit von Ihnen,“ sagte die Dame, während sie an die gegenüberliegende Wand eilte und ihr Lorgnon auf die dort lehnenden Skizzen, Perspektiven und Porträts richtete. „C’est charmant, Lise, venez-ici! Ein Zimmer im Stile von Teniers. Sieh doch diese Unordnung! Ein Tisch ... auf dem eine Büste steht, eine Hand, eine Palette ... Dieser Staub hier, siehst du, wie der Staub gemalt ist? C’est charmant! — Und hier eine andere Leinwand: eine Frau, die sich das Gesicht wäscht ... Quelle jolie Figure! ... Ach, ein Bäuerlein! Liese, Liese ... ein Bäuerlein im russischen Hemd. Schau her, ein Bäuerlein! ... Also Sie malen nicht nur Porträts?“

„O, das ist nur eine Bagatelle, ein Scherz! Lauter Skizzen!“

„Sagen Sie bitte, was halten Sie von den heutigen Porträtisten? Nicht wahr, es gibt jetzt keinen solchen mehr, wie Tizian? Keine solche Kraft in der Farbengebung ... Keine solche ... wie schade, daß ich es Ihnen nicht russisch sagen kann. (Die Dame war eine Liebhaberin der Malerei und hatte bewaffnet mit ihrem Lorgnon alle Galerien Italiens durchwandert.) Allerdings Monsieur Nohl! Ach, wie der malt! Was für eine ungewöhnliche Pinselführung! Ich finde, daß in seinen Gesichtern sogar noch mehr Ausdruck enthalten ist, als in denen Tizians. Kennen Sie Monsieur Nohl?“

„Wer ist dieser Nohl?“ fragte der Maler.

„Monsieur Nohl? oh, das ist ein Talent! Er hat meine Tochter gezeichnet, als sie noch zwölf Jahre alt war. Sie müssen unbedingt zu uns kommen — Liese, du wirst ihm dein Album zeigen! Wissen Sie, wir sind in der Meinung hierhergekommen, daß Sie sofort ein Porträt von Liese in Angriff nehmen würden.“

„Aber mit Vergnügen, ich stehe Ihnen sogleich zu Diensten.“ Sofort schob er die Staffelei mit einem präparierten Keilrahmen heran, nahm die Palette in die Hand und heftete den Blick auf das blasse Gesichtchen der Tochter. Wäre er ein Kenner der menschlichen Natur gewesen, er hätte in diesem Gesichte sogleich die ersten Spuren einer kindlichen Leidenschaft für Bälle, einer peinigenden Unzufriedenheit über die Länge der Zeit vor und nach dem Mittagessen, den Wunsch, sich in einem gewissen Kleide auf einem Gartenfest sehen zu lassen, die drückenden Folgen eines erheuchelten Eifers für die verschiedensten Künste, zu dem sie die Mutter zur Erbauung der Seele und Erhebung des Gefühls zwang, bemerkt. Allein der Künstler entdeckte in diesem zarten Antlitz nichts wie eine lockende Aufgabe für seinen Pinsel: eine fast porzellanartige Durchsichtigkeit des Körpers, ein entzückendes leichtes Vibrieren, ein dünnes, zartes Hälschen und eine aristokratische Zierlichkeit der Figur. Und er bereitete sich schon im voraus auf einen Triumph; endlich war die Gelegenheit da, den Schwung und den Glanz seines Pinsels, der sich bis dahin nur an den rohen Zügen ordinärer Modelle, an langweiligen Antiken und Kopien nach einigen klassischen Meistern versucht hatte, zu offenbaren. Und er stellte sich schon vor, wie dieses duftige Gesicht ihm von der Leinwand entgegenblicken werde.

„Wissen Sie,“ sagte die Dame mit einem fast rührenden Ausdruck, „ich möchte ... sie hat jetzt dieses Kleid an ... mir wäre es offengestanden lieber, daß sie ein Kleid trüge, an das wir schon gewöhnt sind. Es wäre mir lieb, wenn sie ganz einfach gekleidet wäre und im Schatten eines Baumes säße ... mit einer Wiese im Hintergrunde und mit der Aussicht auf eine weidende Herde oder einen Hain, ich möchte nicht, daß es so aussähe, als fahre sie irgend wohin zu einem Ball oder zu einer modischen Soirée ... Offengestanden, unsere Bälle töten die Seele so sehr und morden jeden letzten Rest eines Gefühls; Einfachheit, mehr Einfachheit! Nicht wahr?“ Doch ach, leider konnte man es sowohl der Mutter wie der Tochter vom Gesicht ablesen, daß sie sich alle beide auf allerhand Bällen so müde getanzt hatten, daß sie beinahe wie Wachs anzuschauen waren.

Tschartkow machte sich ans Werk, ordnete die Haltung seines Modells an, überlegte sich alles reiflich, nahm mit dem Pinsel das Maß, kniff das eine Auge ein wenig zu, warf den Kopf zurück, fixierte die junge Dame von weitem und begann zunächst eine Skizze zu entwerfen, die er in einer Stunde beendigte. Da er mit seiner Arbeit zufrieden war, machte er sich sofort an die eigentliche Ausführung. Das Schaffen riß ihn vollkommen hin, er hatte sogar schon die Gegenwart der aristokratischen Damen vergessen, kehrte hin und wieder zu seinen Bohèmegepflogenheiten zurück, indem er sich durch einige Ausrufe anfeuerte, und machte zuweilen halblaute Bemerkungen, wie es so die Art eines Künstlers ist, wenn er sich mit ganzer Seele seinem Werke hingibt. Ohne viel Umstände zu machen, ließ er auf einen Wink des Pinsels hin das Modell, das sich schließlich zu bewegen begann und eine starke Müdigkeit erkennen ließ, den Kopf hochheben.

„Genug, fürs erste Mal wird es wohl genug sein!“ sagte die Dame. „Nein bitte, noch ein wenig,“ bat der eifrige Maler.

„Nein, es ist Zeit! Liese, es ist schon 3 Uhr!“ versetzte die Dame, zog ihre kleine, an einer goldnen Kette vom Gürtel herabhängende Uhr hervor und rief ganz überrascht aus: „Ach wie spät!“

„Nur noch ein Augenblickchen,“ sagte Tschartkow mit der einfältigen und bittenden Gebärde eines Kindes.

Jedoch die Dame war diesmal offenbar nicht geneigt, seinen künstlerischen Wünschen nachzugeben, versprach ihm aber dafür, ein anderes Mal länger zu bleiben.

„Das ist doch ärgerlich!“ dachte Tschartkow, „meine Hand war gerade in Schwung gekommen.“ Und er erinnerte sich daran, wie er von niemandem gestört und gehindert wurde, als er noch in seinem Atelier auf der Wassilij-Insel arbeitete. Nikita pflegte gewöhnlich ganz regungslos auf einem Flecke zu sitzen, man konnte ihn malen, so lange man wollte, ja, er schlief sogar in der gewünschten Stellung ein. Unzufrieden legte Tschartkow Pinsel und Palette auf den Stuhl und blieb verdrießlich vor der Leinwand stehn.

Ein Kompliment der vornehmen Dame weckte den Nachdenklichen aus seinem Traume, er stürzte schnell zur Tür, um die Damen hinauszugeleiten. Auf der Treppe erhielt er die Einladung, in der nächsten Woche bei ihnen zu dinieren, und kehrte mit fröhlicher Miene in sein Zimmer zurück. Die aristokratische Dame hatte ihn vollkommen bezaubert — bis dahin hatte er solche Geschöpfe als etwas für ihn Unerreichbares angesehen, als Wesen, die nur dazu geboren sind, in prächtigen Equipagen mit Dienern in kostbaren Livreen und gallonierten Kutschern an armen Sterblichen, wie er, vorbeizusausen und einen im verschlissenen Mantel zu Fuß einherschreitenden Burschen mit einem gleichgültigen Blick zu streifen. Mit einem Male aber war eines dieser Wesen zu ihm in seine Wohnung gekommen; er malte dessen Porträt und war zu einem Diner in ein aristokratisches Haus eingeladen. Eine ganz ungewöhnliche Zufriedenheit bemächtigte sich seiner, er war vollständig trunken vor Freude und belohnte sich für seine gute Laune mit einem famosen Souper, einem Theaterbesuch und einer nochmaligen ziellosen Spazierfahrt in einer Equipage durch die Stadt.

Während all dieser Tage kam ihm seine gewohnte Arbeit gar nicht in den Sinn; er war nur mit Vorbereitungen auf den Besuch beschäftigt, und wartete auf den Augenblick, wo die Glocke zu ertönen pflegte. Endlich erschien die Dame mit ihrer blassen Tochter wieder. Er ließ sie Platz nehmen, rückte die Leinewand schon mit einer gewissen Sicherheit und mit den Prätensionen eines Mannes von feinen Manieren zurecht, und begann seine Arbeit. Der sonnige Tag und die gute Beleuchtung leisteten ihm große Dienste. Er entdeckte an seinem duftigen Modell eine Menge von Einzelheiten, deren Beachtung und Fixierung auf der Leinewand dem Porträt einen hohen Wert verleihen konnten. Er sah, daß es wohl möglich war, etwas Besonderes zu leisten, wenn er alles so vollkommen darzustellen vermochte, wie es ihm jetzt in der Natur entgegentrat. Sein Herz fing leicht zu klopfen an, weil er die Kraft in sich fühlte, etwas, was andere noch nicht bemerkt hatten, zum Ausdruck zu bringen. Die Arbeit nahm ihn ganz in Anspruch, er gab sich ihr völlig hin und vergaß bald wieder die aristokratische Herkunft des Originals; mit benommenem Atem stellte er fest, wie die zarten Züge und der fast durchsichtige Körper des siebenzehnjährigen Mädchens allmählich auf der Leinwand erschienen. Keine noch so zarte Nuance entging ihm, er traf den leichten gelben Ton, einen kaum merklichen bläulichen Schimmer unter den Augen — und war sogar schon im Begriff, einen kleinen Pickel, der sich auf der Stirne befand, zu verzeichnen, als er plötzlich neben sich die Stimme der Mutter vernahm. „Ach nein, wozu nur? Das ist nicht nötig! Auch hier haben Sie ... hier an einigen Stellen scheint es mir etwas zu gelb zu sein, und auch dies sieht ganz aus, wie ein dunkler Flecken.“ Der Maler fing an zu erklären, daß sich gerade diese Pünktchen und die gelbe Farbe besonders gut machten, weil sie im Gesicht als angenehme und leichte Töne wirkten. Er erhielt jedoch zur Antwort, daß das überhaupt keine Töne seien, daß sie sich garnicht gut ausnähmen, und daß es ihm nur so vorkäme. „Aber so erlauben Sie mir doch wenigstens, hier, an dieser einen Stelle, etwas Gelb aufzutragen!“ bat der Künstler mit harmloser Miene. Indessen gerade das wurde ihm nicht erlaubt. Man erklärte ihm, daß Liese heute bloß nicht in Stimmung sei, daß sie sonst ganz und gar nicht gelb aussehe, und daß ihr Gesicht im Gegenteil durch die Frische seines Teints überrasche. Traurig machte er sich daran, die beanstandeten Spuren seines Pinsels von der Leinewand zu tilgen. Viele fast unmerkliche Züge mußten schwinden, und mit Ihnen schwand zum Teil auch die Ähnlichkeit dahin. Gleichgültig begann er dem Bilde jenes konventionelle Kolorit mitzuteilen, das sich von vornherein ganz mechanisch und wie von selbst einstellt und auch einem nach der Natur gemalten Gesicht eine gewisse kühle Idealität verleiht, wie wir sie auf Schülerprogrammen antreffen. Die Dame war jedoch sehr zufrieden, daß nunmehr das Verletzende der Farbengebung gänzlich vermieden wurde. Sie drückte nur ihr Erstaunen darüber aus, daß die Arbeit so langsam vor sich ging, und fügte hinzu, sie hätte gehört, er könnte schon in zwei Sitzungen ein vollständiges Porträt malen. Der Maler fand hierauf keine Antwort. Die Damen erhoben sich und wollten fortgehen. Er legte den Pinsel nieder, geleitete sie bis an die Tür und blieb lange Zeit in trüber Stimmung vor seinem Porträt stehen.

Er starrte es stumm und gedankenlos an; inzwischen aber schwebten jene zarten weiblichen Züge, jene Schatten und luftigen Töne, die er bemerkt, und die sein Pinsel dann so schonungslos vernichtet hatte, vor seinem Auge. Ganz von ihnen erfüllt, stellte er das Porträt beiseite und suchte aus irgend einer Ecke seine „Psyche“ hervor, die er vor längerer Zeit einmal flüchtig skizziert hatte. Es war ein graziös hingemaltes, aber rein ideales und kaltes Gesichtchen, das bloß allgemeine und wenig charakteristische Züge aufwies und noch auf keinem lebendigen Körper saß. Er begann diese Züge mit dem Pinsel nachzuziehen, während er sich dabei an alles erinnerte, was sein scharfes Auge an dem Antlitze seiner aristokratischen Besucherin bemerkt hatte. Die von ihm erfaßten Linien, Schatten und Töne nahmen hierbei jene verklärte Form an, wie sie dem Künstler erscheinen, wenn er die Natur genügend in sich aufgenommen hat, sich nunmehr von ihr entfernt und ein ihr ebenbürtiges Werk schafft. Die Psyche lebte allmählich wieder auf, und der Gedanke, der ihn kaum flüchtig bewegt hatte, nahm wieder Fleisch und Blut an. Der Gesichtstypus der vornehmen jungen Dame teilte sich von selbst der Psyche mit, und dadurch erhielt sie einen eigenartigen Ausdruck, der ihr das Recht auf den Namen eines wahrhaft originellen Werkes verleihen durfte. Er hatte gleichsam in den Einzelheiten und im Ganzen ausgenutzt, was ihm das Original bot, und war von seiner Arbeit vollkommen hingerissen. Einige Tage lang beschäftigte er sich nur mit ihr, da überraschte ihn zufällig das Eintreten der bekannten Damen bei dieser Arbeit. Er hatte keine Zeit, das Bild von der Staffelei zu entfernen; die beiden Damen stießen einen frohen Ruf des Erstaunens aus und schlugen die Hände zusammen.

Lise, Lise! ach, wie ähnlich! Superbe, superbe! Was für ein schöner Einfall, sie in einem griechischen Kostüm zu malen! Welche Überraschung!“

Der Künstler wußte nicht, wie er die Damen über ihren angenehmen Irrtum aufklären sollte. Verlegen und mit gesenktem Kopf bemerkte er leise: „Das ist Psyche!“

„Als Psyche? C’est charmant!“ sagte die Mutter lächelnd zu ihrer gleichfalls lächelnden Tochter. „Nicht wahr, Lise, so machst du dich am besten, so als Psyche, nicht? Quelle idée délicieuse! Aber was für eine Arbeit! Das ist ja ein Correggio! Offengestanden, ich habe zwar von Ihnen gelesen und gehört, ich wußte aber doch nicht, daß Sie ein solches Talent sind. Nein, Sie müssen unbedingt auch noch mein Porträt malen!“ Die Dame wollte sich offenbar gleichfalls als Psyche präsentieren ...

„Was soll ich mit ihnen anfangen?“ dachte der Künstler. „Wenn sie es selbst durchaus wollen, gebe ich einfach die „Psyche“ für das aus, was ihnen am meisten behagt!“ Und er sagte laut: „Belieben Sie noch für eine Weile Platz zu nehmen. Ich möchte hier noch einen Tupfen auftragen!“

„Ach, ich fürchte, daß Sie hier irgend etwas ... Sie ist jetzt so ähnlich.“

Aber der Künstler merkte wohl, daß sich ihre Befürchtungen nur auf gelben Ton bezogen, und beruhigte sie, indem er sagte, daß er den Augen nur noch etwas mehr Glanz und Ausdruck geben wolle. In Wirklichkeit aber war es ihm zu peinlich zumute, er wollte wenigstens die Ähnlichkeit mit dem Original noch etwas verstärken, damit ihm wenigstens niemand seine Schamlosigkeit zum Vorwurf machen könne. Und in der Tat, das Antlitz ließ bald immer deutlicher die Züge des blassen Mädchens erkennen.

„Genug,“ sagte die Mutter, die zu fürchten begann, daß die Ähnlichkeit allzu groß werden könnte. Dem Künstler wurde durch ein Lächeln, durch Geld, Komplimente, herzliche Händedrücke und eine Einladung zum Diner eine reichliche Belohnung zuteil: mit einem Worte, er wurde nur so überschüttet mit Schmeicheleien und höchsten Zeichen der Anerkennung.

Das Porträt erregte in der Stadt Aufsehen. Die Damen zeigten es ihren Freundinnen; alle bewunderten die Kunst, mit der der Maler es verstanden hatte, die Ähnlichkeit zu wahren und dem Original dennoch Schönheit und Liebreiz zu verleihen. Dieser Punkt wurde natürlich nicht ohne einen leichten Anflug von Neid festgestellt, und mit einem Male war der Künstler mit Arbeiten überhäuft. Fast schien es, als wollte die ganze Stadt sich bei ihm porträtieren lassen. Im Flur ertönte jeden Augenblick die Glocke. — Dieser äußere Erfolg konnte zwar sein Glück ausmachen, da er ihm eine große Praxis verschaffte, und die Mannigfaltigkeit und die Zahl der Gesichter, die er malen mußte, war in der Tat sehr groß. Leider waren es jedoch alles Menschen, mit denen man nur schwer auskommen konnte, eilige, beschäftigte Menschen oder Personen, die der großen Gesellschaft angehörten und infolgedessen noch mehr als alle anderen abgehetzt und aufs äußerste ungeduldig waren.

Die einzige Forderung, die von allen Seiten an ihn gestellt wurde, war diese, daß er was Gutes leisten und möglichst schnell arbeiten solle.

Bald sah der Maler die Unmöglichkeit ein, seine Porträts sorgfältig auszuführen, er gelangte vielmehr zur Überzeugung, daß man die genauere Charakteristik durch einen leichten und flotten Pinselstrich ersetzen, nur das große Ganze, den allgemeinen Ausdruck festhalten müsse und sich nicht mit besonderen subtilen Einzelheiten abgeben dürfe: mit einem Worte, er begriff, daß er es sich nicht erlauben konnte, die Natur in ihrer ganzen Vollkommenheit wiederzugeben. Außerdem muß hinzugefügt werden, daß fast alle seine Modelle auch noch andere Wünsche geltend machten. Die Damen verlangten, daß hauptsächlich die Seele und das Wesen auf den Porträts betont, andere Züge dagegen unter Umständen durchaus hintangesetzt würden, daß alle Ecken abgerundet, alle Mängel verwischt oder wenn möglich ganz und gar ausgemerzt werden sollten, mit einem Worte, daß das Gesicht zur Bewunderung, wenn nicht gar zur Anbetung reizen solle. Daher nahmen, wenn sie zur Sitzung kamen, ihre Mienen einen solchen Ausdruck an, daß der Künstler aufs höchste erstaunt war. Die eine bemühte sich, eine gewisse Melancholie auf ihrem Gesichte wiederzuspiegeln, die andere nahm eine verträumte Pose an, die dritte wollte um jeden Preis den Mund kleiner erscheinen lassen und spitzte ihn so zu, bis er sich endlich in einen Punkt verwandelte, der nicht größer als ein Stecknadelknopf war. Trotz alledem aber verlangte man Ähnlichkeit und ungezwungene Natürlichkeit von ihm. Und die Herren waren nicht besser als die Damen. Der eine wollte mit einer kraftvollen, energischen Kopfhaltung dargestellt werden, der andere mit durchgeistigten und gen oben gerichteten Augen. Ein Gardeleutnant wünschte, daß Mars aus seinen Blicken hervorleuchte, ein Zivilbeamter hatte das Bestreben, möglichst viel Gradheit und Edelmut in seinen Gesichtsausdruck zu legen, stützte die Hand auf ein Buch, das die deutliche Aufschrift trug: „Ich bin stets für die Wahrheit eingetreten!“, und wollte in dieser Pose porträtiert sein. Anfangs trat dem Künstler infolge dieser Forderungen der Schweiß auf die Stirn, all dies mußte genau durchdacht werden, und doch räumte man ihm nur eine geringe Frist dafür ein. Schließlich jedoch begriff er den Kern der Sache und wurde nicht im geringsten mehr verlegen. Schon zwei, drei Worte reichten hin, ihn darüber zu belehren, wie sich ein jeder dargestellt wissen wollte. Wer nach einem Mars Verlangen trug, dem steckte er einen Mars ins Gesicht, wer es auf einen Byron abgesehen hatte, dem gab er eine byronische Haltung! Ob die Damen als Corinna, als Undine oder gar als Aspasia erscheinen wollten, war für ihn ohne jeden Belang: er willigte mit großem Vergnügen in alles ein und legte schon aus eigner Machtvollkommenheit einem jeden eine beträchtliche Dosis Wohlgeratenheit bei, bekanntlich eine Willkür, die nirgends Schaden stiften kann und für die man sogar mitunter eine gewisse Unähnlichkeit mit in den Kauf nimmt. Allmählich fing er selbst an, sich über die erstaunliche Schnelligkeit und Flottheit seines Pinsels zu wundern. Die Porträtierten aber waren ganz entzückt und erklärten ihn für ein Genie.

Tschartkow wurde in jeder Beziehung ein Modemaler. Er begann, Diners zu besuchen und Damen in die Galerien und sogar auf Bälle und Feste zu begleiten, sich geckenhaft zu kleiden und laut zu behaupten, daß ein Künstler gesellschaftsfähig sein müsse, daß er sich standesgemäß zu betragen habe, daß sich die Maler im allgemeinen wie die Schuster kleiden, sich nicht anständig zu benehmen, den höheren Ton nicht zu wahren verstehen und jeder Bildung entbehren. Bei sich zu Hause im Atelier beobachtete er die peinlichste Reinlichkeit und Akkuratesse; er hielt sich zwei elegante Lakaien, nahm stutzerhafte Schüler an, kleidete sich mehrere Male am Tage um, ließ sich das Haar brennen, beschäftigte sich damit, verschiedene Gesten einzustudieren, mit denen er seine Besucher zu empfangen gedachte, und legte den größten Wert auf die Pflege seines Äußeren, um einen möglichst günstigen Eindruck auf die Damen zu machen, mit einem Wort, man konnte in ihm bald kaum noch jenen Künstler wiedererkennen, der einst unbemerkt und im stillen in seinem Kämmerlein auf der Wassilij-Insel gearbeitet hatte. Über Künstler und Kunst fällte er nur noch die anmaßendsten Urteile, er behauptete, man mäße den früheren Meistern zu viel Wert bei, denn sie alle mit Ausnahme von Raffael hätten keine lebendigen Menschen, sondern bloß Heringe geschaffen, und er erklärte, die Ansicht, daß ihnen etwas Heiliges innewohne, existiere nur in der Einbildung der Beschauer; ja selbst Raffael habe nicht nur vollendete Werke geschaffen und viele seiner Bilder genössen überhaupt nur aus einem gewissen Atavismus einen so hohen Ruhm; er schrie, daß Michelangelo ein Prahler sei, der nur durch Kenntnis der Anatomie imponieren wollte, daß er gar keine Grazie besäße, und daß man einen wirklichen Glanz, und die wahre Kraft der Pinselführung und des Kolorits nur in dem gegenwärtigen Zeitalter finden könne. Dann kam er naturgemäß auch auf sich selbst zu sprechen. „Ich verstehe nicht, wozu sich die Menschen so anstrengen,“ pflegte er zu sagen, „da hocken und brüten sie über ihrer Arbeit: ein Mensch, der mehrere Monate hintereinander an einem Bilde herumtiftelt, ist meines Erachtens nichts als ein gewöhnlicher Tagelöhner und kein Künstler; ich kann nicht glauben, daß er Talent besitzt. Ein Genie schafft kühn und schnell. Sehen Sie,“ pflegte er zu sagen, indem er sich an seine Besucher wandte, „dieses Porträt hier habe ich in zwei Tagen gemalt, dieses Köpfchen in einem Tage, dies hier nur in wenigen Stunden, und das dort in etwas mehr als einer Stunde. Nein, offengestanden, ich kann doch ein Werk nicht als Kunst gelten lassen, in dem Strich neben Strich gesetzt ist, nein, das ist Handwerkerarbeit und keine Kunst mehr.“ So sprach er zu seinen Gästen, und diese bewunderten die Kraft und Leichtigkeit seiner Pinselführung, stießen Rufe des Erstaunens aus, wenn sie hörten, in wie kurzer Zeit die Werke entstanden waren, und teilten es nachher auch anderen mit. „Das ist ein Talent, o ein großes, wahres Talent! Sehen Sie nur, wie seine Augen glänzen, wenn er spricht. Il y a quelque chose d’extraordinaire dans toute sa figure!

Dem Künstler schmeichelte es, solche Reden über sich zu hören. Wenn er in den Journalen öffentlich gelobt und gepriesen wurde, dann freute er sich wie ein Kind, obgleich diese Lobeserhebungen von ihm für bares Geld gekauft worden waren. Er trug ein solches Zeitungsblatt immer mit sich herum und zeigte es gleichsam unabsichtlich all seinen Bekannten und Freunden. Und dies ergötzte ihn aufs höchste, so einfältig und naiv es war. Sein Ruhm wuchs, die Aufträge und Bestellungen mehrten sich; schon fing er an, der immer gleichen Porträts und Gesichter, deren Ausdruck er bereits auswendig kannte, überdrüssig zu werden. Schon malte er ohne große Begeisterung, indem er sich nur noch bemühte, den Kopf auf die Leinewand zu werfen; das übrige überließ er seinen Schülern. Früher suchte er wenigstens noch, seinen Porträts ein neues Moment abzugewinnen, durch eine neue Stellung, durch die Kraft der Pinselführung oder durch gewisse Effekte zu überraschen. Jetzt langweilte ihn auch dies allmählich. Das dauernde Grübeln und Suchen nach Neuem ermüdete seinen Geist. Er konnte es bald auch gar nicht mehr, er hatte dazu auch keine Zeit. Die unregelmäßige Lebensweise und die Gesellschaft, in der er die Rolle eines Lebemanns zu spielen suchte, entfremdeten ihn der wirklichen Arbeit. Seine Pinselführung wurde kalt und stumpf, und erstarrte unmerklich in eintönigen, konventionellen, längst verbrauchten Formen. Die langweiligen, kalten, ewig gepflegten, ledernen oder sozusagen zugeknöpften Gesichter der Beamten, der militärischen wie der zivilen, boten dem Pinsel in der Tat keinen großen Spielraum. Die prächtigen Drapierungen, die starken Bewegungen und Leidenschaften hatte er völlig vergessen. Von künstlerischer Komposition, von dramatischem Leben, von einer erhabenen Steigerung war überhaupt nicht mehr die Rede. Vor seinen Augen schwirrten nichts wie Uniformen, Korsetts und Fräcke, alles Dinge, die einen Künstler kalt lassen und die jede Phantasie ertöten. Selbst die am leichtesten zu erreichenden Vorzüge gingen seinen Arbeiten jetzt ab, trotzdem aber fanden sie immer noch Anerkennung, wenn auch wirklich Kenner und Künstler angesichts seiner letzten Bilder nur mit den Achseln zuckten. Die wenigen, die Tschartkow von früher her kannten, vermochten nicht zu verstehen, wie ein Talent, dessen Stärke sich schon in dem jungen Schüler gezeigt hatte, so zugrunde gehen konnte, und sie bemühten sich vergebens, zu erraten, wie in einem Menschen plötzlich die Begabung erlöschen könne, in demselben Augenblick, wo seine Kräfte erst eben zu voller Entfaltung gekommen waren.

Aber der von seinen Erfolgen trunkene Künstler hörte alle diese Äußerungen nicht. Schon begann er zu altern, mit den Jahren bemächtigte sich seiner eine gewisse geistige Schwerfälligkeit, er wurde allmählich immer dicker und ging sichtlich in die Breite. Schon las er in den Zeitungen und Journalen Epitheta wie die folgenden: „Unser verehrter Andrej Petrowitsch!“ „Unser hochverdienter ...!“ Schon bot man ihm Ehrenämter an, lud ihn zu Prüfungen ein und wählte ihn in verschiedene Komitees, schon trat er, wie es im gesetzteren Alter immer zu geschehen pflegt, entschieden für Raffael und die alten Meister ein, nicht weil er durchaus von ihrem hohen Werte durchdrungen war, sondern nur deshalb, um sie als Angriffswaffe gegen seine jüngeren Kollegen zu benutzen. Schon vergnügte er sich damit, nach Art älterer Herren der ganzen Jugend ohne Ausnahme Sittenlosigkeit oder eine tadelnswerte Geistesrichtung zum Vorwurf zu machen. Schon neigte er sich der Auffassung zu, daß alles in der Welt ganz einfach und wie von selbst vor sich gehe, daß es keine Inspiration gebe und daß alles einem strengen Regiment, der Ordnung und einer monotonen Regelmäßigkeit unterworfen sein müsse, — mit einem Wort, er war bereits in jene Jahre gekommen, wo aller Sturm und Drang, der überhaupt jemals in einem Menschen pulsiert hat, zu verschwinden beginnt, wo die Töne des zauberhaften Bogens nur gedämpft an die Seele rühren und das Herz nicht mehr mit erschütternden Klängen umkreisen, wo der Kuß der Schönheit keine jungfräulichen Kräfte mehr in Flammen wandelt — wo sich dafür aber alle verglühten Gefühle dem Klirren des Goldes um so zugänglicher erweisen, immer aufmerksamer auf seine verlockende Musik lauschen, ihr allmählich und unmerklich immer mehr Macht über sich einräumen und sich sanft von ihr einlullen lassen.

Der Ruhm kann dem, der ihn gestohlen und nicht verdient hat, keinen Genuß gewähren. Nur den, der seiner würdig ist, erfüllt er ständig mit einem wonnigen Schauder. Und so wandten sich alle seine Empfindungen und Wünsche dem Golde zu. Das Gold wurde ihm Leidenschaft, Ideal, Schreckbild, Genuß und Lebenszweck. In seinen Tischen häuften sich Päckchen von Banknoten an, und wie jeder, dem dieses schreckliche Geschenk zuteil wird, verwandelte er sich nach und nach immer mehr in einen langweiligen, nur dem Golde zugänglichen, törichten Geizhals, einen sinnlosen Sammler, und er war schon auf dem besten Wege, zu einem jener Sonderlinge zu werden, deren es in unserer seelenlosen Welt gar viele gibt. Ein warmblütiger und gütiger Mensch betrachtet sie voll Entsetzen, ihm erscheinen sie als steinerne Särge, die sich vor ihm bewegen und einen leblosen Klumpen anstelle eines Herzens in sich bergen. Aber eine merkwürdige Begebenheit sollte bald sein ganzes Wesen durchrütteln und erschüttern.

Eines Tages erblickte er auf seinem Tische ein Schreiben, in dem die Akademie der Künste ihn als ihr hochverehrtes Mitglied um sein Erscheinen und um sein Urteil über ein neues Werk bat, das aus Italien angekommen war und einen dort zur Vervollkommnung weilenden russischen Künstler zum Urheber hatte. Dieser Künstler war ein ehemaliger Freund von ihm, der seit langem die Leidenschaft für die Kunst in sich barg, und sich mit der feurigen Seele eines Fanatikers in seine Arbeit vergraben hatte; er hatte sich von all seinen Freunden und Verwandten, von allen lieben Gewohnheiten losgerissen und war in ein Land geeilt, wo ein herrlicher Himmel eine majestätische Kunst reifen läßt: in das überwältigende Rom, bei dessen Erwähnung eines Künstlers feuriges Herz stets voll und stürmisch zu schlagen pflegt. Dort versenkte er sich wie ein Einsiedler in sein Werk und in ein durch nichts abgelenktes Studium. Ihn kümmerte es wenig, daß sich die Menschen über sein seltsames Wesen aufhielten, daß man seine Unfähigkeit, sich in der guten Gesellschaft zu bewegen, seine Verachtung der konventionellen Formen tadelte und von dem Schaden sprach, den er dem Künstlerstande durch seinen ärmlichen, altmodischen Anzug zufügte. Es war ihm völlig gleichgültig, ob ihm seine Kollegen zürnten oder nicht, er hatte auf alles zugunsten der Kunst verzichtet und hatte ihr alles geopfert. Unermüdlich besuchte er die Galerien und Museen, er konnte stundenlang vor den Werken der großen Meister stehen und deren wundervolle Pinselführung studieren. Er vollendete kein Werk, bevor er sich angesichts dieser großen Vorbilder geprüft und sich aus ihren Werken einen stummen und doch so beredten Rat geholt hatte. An lärmenden Unterhaltungen und Streitigkeiten beteiligte er sich nie, er nahm weder für, noch gegen die Puristen Partei, sondern ließ allen die schuldige Anerkennung zuteil werden, indem er in allem nur das Schöne zu entdecken wußte, bis er sich endlich einzig und allein dem göttlichen Raffael als seinem Lehrmeister überließ, — wie auch ein großer Dichter, der schon so viele verschiedene Werke voll Anmut und majestätischer Schönheit kennen gelernt hat, zuletzt nur noch Homers Ilias als die überragende Dichtung gelten läßt, nachdem er entdeckt hat, daß in diesem Epos alles enthalten ist, was man von einem Kunstwerk verlangen kann, und daß sich hier alles in höchster Vollkommenheit wiederspiegelt. Und so hatte er sich denn bei dieser beständigen Arbeit an sich selbst eine hervorragende Schaffenskraft, eine machtvolle Schönheit der Gedanken und die hohe Anmut einer schier überirdischen Pinselführung erworben.

Als Tschartkow in den Saal eintrat, fand er bereits eine Menge von Besuchern vor, die vor dem Bilde standen. Eine tiefe Stille, wie sie nur selten unter so zahlreichen Kritikern herrscht, empfing ihn diesmal. Er beeilte sich, seinem Gesicht einen bedeutenden Ausdruck und eine tiefsinnige Kennermiene zu geben und trat vor das Bild. Aber, o Gott! was war das, was er da erblickte!

Nein, makellos und herrlich wie eine Braut stand das Werk des Künstlers vor ihm. Bescheiden, göttlich, unschuldig und einfach wie das Genie selbst, schien es hoch über allem zu schweben. Es war, als senkten die himmlischen Gestalten, verwundert über so viele auf sie gerichteten Blicke, schamhaft ihre herrlichen Wimpern. Mit einem Gefühl unwillkürlichen Staunens starrten die Eingeweihten die neue, nie gesehene Pinselführung an. Hier schien alles vereinigt zu sein: Die Schulung an Raffael, die sich in der hohen Vornehmheit der Haltung, und die an Corregio, die sich in der vollkommenen Technik verriet. Aber den gewaltigsten Eindruck machte die in der Seele des Künstlers wirkende Schöpferkraft. Jedes kleinste Detail des Gemäldes war von ihr durchdrungen; alles atmete eine strenge Gesetzmäßigkeit und innere Kraft; jedes Ding ließ jene wundervoll schwebende und fließende Rundung der Linien erkennen, die nur der Natur eigen ist und die nur das Auge des schaffenden Künstlers sieht, bei dem Nachahmer und Kopisten aber stets eckig und hart erscheint. Man fühlte ganz deutlich, wie der Künstler alles, was er der äußeren Welt entnommen, in sich, in seiner Seele verschlossen hatte, um es erst später aus dieser geistigen Quelle gleich einem harmonischen, feierlichen Liede hervorsprudeln zu lassen. Und sogar den Uneingeweihten wurde klar, was für ein unermeßlicher Abgrund zwischen einem Kunstwerk und einer einfachen Kopie der Natur gähnt. Es ist unmöglich, jene ungewöhnliche Stille zu schildern, die alle Anwesenden beobachteten, während sie ihre Augen auf das Bild gerichtet hatten. Kein Knistern, kein Laut störte die andächtige Stimmung. Die Wirkung des Bildes hatte sich inzwischen nur noch verstärkt. Strahlend und wie ein unbegreifliches Wunder löste es sich von allem Irdischen los, um sich schließlich ganz in einen Augenblick — die Frucht eines dem Künstler vom Himmel eingegebenen Gedankens — zu verwandeln, in einen Moment, dem das ganze menschliche Leben nur als Vorbereitung dient. Unwillkürlich wandelte die das Bild umringenden Beschauer das Bedürfnis zu weinen an; es schien, als hätten sich alle Kunstanschauungen, alle dreisten, regellosen und willkürlichen Abweichungen des Geschmacks hier zu einem wortlosen Hymnus auf das göttliche Werk vereinigt.

Unbeweglich, mit offenem Munde stand Tschartkow vor dem Bilde, und erst als schließlich doch eine kleine Bewegung durch die Reihen der Besucher und Autoritäten ging, als man sich laut über den Wert des Werkes zu unterhalten begann, als man sich schließlich auch an Tschartkow mit der Bitte wandte, sein Urteil abzugeben, kam er wieder zu sich, versuchte seine gewöhnliche gleichmütige Miene aufzusetzen und war eben im Begriff, ein paar Plattheiten zu äußern, wie man sie wohl von verknöcherten Routiniers zu hören bekommt. Er wollte schon sagen: „Hm, gewiß, man kann dem Maler ja nicht alles Talent absprechen; Talent hat er, das ist unleugbar. Man sieht, daß er etwas ausdrücken will. Was aber die Hauptsache betrifft,“ — und hierauf sollten natürlich einige lobende Worte folgen, die keinem Künstler gut bekommen wären. Aber er führte seine Absicht nicht aus, die Rede erstarb auf seinen Lippen, statt dessen drangen Tränen und Seufzer leidenschaftlich aus seiner Brust hervor, und wie ein Wahnsinniger lief er aus dem Saal.

Eine Minute lang stand er regungslos und wie versteinert mitten in seinem prächtigen Atelier, seine ganze Vergangenheit lebte einen Augenblick wieder in ihm auf, als wäre die Jugend zu ihm zurückgekehrt, und als wären die erloschenen Funken seines Talentes in ihm wieder aufgelodert. Die Binde fiel plötzlich von seinen Augen. Gott! wie hatte er die besten Jahre seiner Jugend so unbarmherzig zugrunde richten, die spärliche Flamme, die vielleicht auch in seiner Brust gebrannt hatte, und die sich vielleicht jetzt groß und herrlich entfaltet und vielleicht ebenfalls Tränen des Staunens und der Dankbarkeit entlockt hätte, so plump ersticken können. Wie hatte er sie in sich ertöten, erbarmungslos vernichten können! Es schien, als wären in diesem Augenblicke plötzlich alles Streben und alle Leidenschaften in seiner Seele erwacht, alle Gefühle, die auch sie einmal gekannt hatte ... Er ergriff den Pinsel und trat vor die Leinwand. Ein kalter Schweiß bedeckte seine Stirn; er verwandelte sich völlig in einen einzigen Wunsch und war ganz von einem Gedanken beseelt. Er wollte den gefallenen Engel darstellen. Diese Vorstellung stimmte am besten mit seinem Seelenzustand überein, aber ach, alles was er begann: all seine Figuren, seine Posen, Gruppen und Ideen hatten etwas Gezwungenes und Wirres. Sein Pinsel und seine Phantasie wurden zu sehr von der Gewohnheit gehemmt, und der ohnmächtige Drang, die Schranken und Fesseln, die er sich selber auferlegt hatte, zu zerbrechen, verleitete ihn gleich zu Anfang zu Unrichtigkeiten und Fehlern. Er hatte die ermüdend lange Stufenleiter der nur allmählich zu erwerbenden Kenntnisse und der ersten Grundgesetze der großen zukünftigen Wissenschaft übersprungen. Ein heftiger Verdruß bemächtigte sich seiner, er ließ all’ seine letzten Schöpfungen: die seelenlosen Modebilder, die Porträts von Husarenoffizieren, vornehmen Damen und Staatsräten aus seinem Atelier entfernen, sperrte sich allein in sein Zimmer ein, befahl, niemand hereinzulassen und versenkte sich ganz in die Arbeit. Wie ein geduldiger Knabe, wie ein Schüler saß er an seinem Werk; aber ach, wie unbefriedigend und schwächlich war alles, was sein Pinsel schuf. Bei jedem neuen Schritt strauchelte er über die Unkenntnis der elementarsten Regeln; jedes kleinste, unbedeutendste Detail wirkte erkältend auf seinen Eifer und stellte sich seiner Phantasie als unüberbrückbares Hindernis entgegen. Der Pinsel wandte sich unwillkürlich wieder den alten versteinerten Formen zu, die Arme nahmen ihre gewohnte Haltung an, der Kopf wagte es nicht, sich eine ungewöhnliche Wendung zu gestatten; selbst der Faltenwurf des Kleides hatte etwas Schablonenhaftes, wollte sich ihm durchaus nicht fügen und sich nicht an die neue Körperstellung anpassen. Und Tschartkow fühlte es, fühlte es selbst und sah es mit eigenen Augen.

„Hatte ich denn wirklich einmal Talent? habe ich mich nicht selbst betrogen?“ Mit diesen Worten suchte er seine früheren Werke hervor, die er einst in so reiner Stimmung, so völlig frei von Habsucht und Geldgier in seiner ärmlichen Mansarde auf der abgelegenen Wassilij-Insel, fern von den Menschen geschaffen hatte; damals, als er noch nichts von Überfluß und all den raffinierten Genüssen der Großstadt wußte. Jetzt stand er wieder vor den alten Bildern, betrachtete sie aufmerksam, und sein ganzes früheres Leben voll Not und Entbehrung erstand wieder vor ihm. „Ja ...“ sagte er ganz verzweifelt, „ich hatte Talent! wohin ich auch blicke, überall entdecke ich deutliche Spuren davon!“

Er blieb stehen und erzitterte plötzlich am ganzen Leibe. Sein Blick begegnete einem Augenpaar, das starr auf ihn gerichtet war. Es war jenes ungewöhnliche Porträt, das er einst in der Schtschukin-Passage gekauft hatte. Die ganze Zeit hindurch hatte es hinten gestanden, von anderen Bildern verdeckt, und so war es ihm völlig aus dem Gedächtnis entschwunden. Jetzt aber, wo alle modernen Porträts und Gemälde, die sein Atelier anfüllten, entfernt waren, blickte es plötzlich zusammen mit den früheren Werken seiner Jugend hervor. Als er sich nun an die sonderbare Geschichte dieses Porträts erinnerte, als er daran dachte, daß dieses merkwürdige Bildnis gewissermaßen die Ursache seiner Wandlung geworden war, daß die große Geldsumme, die ihm auf so wunderbare Weise zuteil geworden, alle die falschen und eitlen Regungen, die sein Talent zugrunde richten sollten, in ihm erwecket hatte, da wurde seine Seele von einem fast sinnlosen Grimm erfaßt, und er ließ das verhaßte Bildnis sofort hinaustragen. Aber die seelische Erregung wollte ihn trotzdem nicht verlassen. All seine Gefühle, ja sein ganzes Wesen waren bis aufs Tiefste aufgerührt, jetzt lernte auch er jene entsetzliche Qual kennen, die nur ganz selten und wie ausnahmsweise in der Natur vorkommt, wenn ein schwaches Talent sich mehr abzuringen versucht, als es zu leisten vermag, und doch den rechten Ausdruck nicht finden kann; jene Qual, die zwar einen Jüngling zu großen Taten spornt, aber den, der schon zu alt ist, um zu träumen, vergebens und fruchtlos mit einem heißen Schaffensdurste peinigt — jene entsetzliche Qual, die einen Menschen zu grauenhaften Untaten anstiften kann! Ein entsetzlicher, rasender Neid bemächtigte sich seiner. Er wurde gelb vor Ärger, wenn er einem Werke gegenüberstand, das den Stempel des Talentes trug. Er knirschte mit den Zähnen und durchbohrte es mit seinem Blick gleich einem Basilisk. In seiner Seele regten sich höllische Vorsätze, wie sie so leicht kein Mensch ersinnt, und mit einer schier rasenden Energie war er bemüht, sie zur Ausführung zu bringen. Er fing an, alles Beste anzukaufen, was in seiner Kunst produziert wurde. Nachdem er um teures Geld ein Bild erstanden hatte, trug er es behutsam in sein Zimmer, stürzte sich mit der Wut eines Tigers darauf, riß es entzwei, schnitt es in Stücke und zerstampfte es mit frohlockendem Lachen. Das bedeutende Vermögen, das er angehäuft hatte, ermöglichte es ihm, dieses teuflische Bedürfnis zu befriedigen: er riß all seine mit Gold gefüllten Säcke auf und öffnete all seine Truhen. Nie hat es ein so verständnisloses Scheusal gegeben, das so viele herrliche Kunstwerke vernichtet hätte, wie dieser rasende Racheteufel. Auf allen Auktionen, wo er sich zeigte, verzweifelte jeder im voraus daran, sich ein Kunstwerk erwerben zu können, es schien, als hätte der erzürnte Himmel diese entsetzliche Geißel absichtlich in die Welt gesandt, um sie aller Harmonie zu berauben. Diese grauenhafte Leidenschaft ließ ihn in einem schrecklichen Lichte erscheinen. Von ewiger Bosheit sprach sein Angesicht. Ein wütender Welt- und Menschenhaß und eine furchtbare Lebensfeindschaft spiegelten sich in seinen Zügen wieder. Er schien jener leibhaftige furchtbare Dämon zu sein, den uns Puschkin so wunderbar geschildert hat. Nichts als giftgeschwollene Reden und heftige Worte des Tadels entquollen seinem Munde. Er glich einer Harpye, wenn er auf der Straße dahergestürmt kam; alle, selbst seine guten Bekannten, bemühten sich, ihm auszuweichen, wenn sie seiner von ferne ansichtig wurden, und suchten eine solche Begegnung zu vermeiden, ja sie erklärten, ein solches Zusammentreffen genüge schon, um ihnen den ganzen Tag zu vergiften.

Zum Glück für die Welt und die Kunst konnte ein solch aufgeregtes und gewalttätiges Leben nicht lange dauern. Die Dimensionen, zu denen seine Leidenschaft anwuchs, waren zu kolossal und übertrieben, als daß ein schwacher Mensch sie auf die Dauer aushalten konnte. Die Wut- und Wahnsinnsanfälle wiederholten sich immer häufiger und gingen schließlich in eine entsetzliche Krankheit über, — ein furchtbares, von einem heftigen, schnell um sich greifenden Schwindsuchtsanfall begleitetes Fieber ergriff ihn und binnen drei Tagen war nur noch ein Schatten von ihm zurückgeblieben. Dazu kamen noch alle Merkmale eines unheilbaren Irrsinns. Er wütete so um sich, daß ihn oft mehrere Menschen nicht bändigen konnten. Immer wieder tauchten die längst vergessenen lebendigen Augen eines seltsamen Porträts vor ihm auf; und dann verfiel er in ein fürchterliches Toben. Alle Menschen, die sein Bett umstanden, schienen ihm diesen grauenhaften Porträts zu gleichen, und diese Porträts verdoppelten, verdreifachten, vervierfachten sich vor seinen Augen; es kam ihm vor, als wenn alle Wände mit Bildern bedeckt wären, die ihre lebendigen Augen starr und unbeweglich auf ihn gerichtet hielten; schreckliche Porträts blickten von der Decke, vom Boden nach ihm hin, das Zimmer weitete sich aus und dehnte sich bis ins Unendliche, um immer noch mehr von diesen starren und unbeweglichen Augen fassen zu können. Der Arzt, der sich verpflichtet hatte, ihn zu behandeln, und der schon manches über seine seltsame Geschichte gehört hatte, bemühte sich aus aller Kraft, die geheimnisvolle Beziehung zwischen den Wahnvorstellungen, die der Irrsinn erzeugte, und den realen Vorgängen zu ermitteln, er hatte jedoch keinen Erfolg damit. Der Kranke begriff und fühlte nichts als seine Qual, stieß nur entsetzliche Schreie aus und führte ganz unzusammenhängende Reden. Endlich gab er in einem letzten stummen Ausbruch des Schmerzes sein Leben auf. Seine Leiche war schrecklich anzusehen. Von seinen ungeheuren Reichtümern war nichts mehr zu entdecken; als man jedoch die zerstreuten Fetzen und Stücke der großen Kunstwerke fand, deren Wert viele Millionen betrug, da erst verstand man, welch entsetzlichen Gebrauch er von ihnen gemacht hatte.

Zweiter Teil

Eine Menge von Equipagen, Droschken und Kaleschen stand vor dem Portal eines Hauses, in dem der Nachlaß eines jener reichen Kunstliebhaber versteigert wurde, die einstmals in den Anblick von Zephyren und Kupidos versenkt, ihr ganzes Leben sanft verträumten, ohne eigenes Zutun sich den Ruf von Mäzenen erwarben und treuherzig ihre Millionen verschwendeten, die sie von ihren soliden Vätern geerbt oder sogar früher einmal durch ihre eigene Arbeit erworben hatten. Solche Mäzene gibt es bekanntlich heute nicht mehr, unser neunzehntes Jahrhundert hat schon längst die langweilige Physiognomie eines Bankiers angenommen, der seine Millionen nur in der Gestalt von nüchternen auf dem Papier verzeichneten Zahlenreihen genießt. Eine bunte Menge von Besuchern und Käufern, die von allen Seiten wie die Raubvögel herbeigestürzt waren, erfüllte den großen Saal. Da sah man ganze Scharen von russischen Händlern aus der Passage und sogar von dem Trödelmarkt in blauen deutschen Röcken; ihr Aussehen und ihr Gesichtsausdruck war hier sicherer, freier und fiel nicht durch jene unangenehmere Unterwürfigkeit und Dienstbereitschaft auf, die dem russischen Händler so eigentümlich ist, wenn er die Kunden in seinem Laden bedient. Hier ließen sie sich ruhig gehen, trotzdem sich in demselben Saale viele Aristokraten befanden, vor denen sie an einem andern Orte durch tiefe Bücklinge und Kratzfüße den an den eigenen Stiefeln herbeigetragenen Staub weggefegt hätten. Hier benahmen sie sich ganz ungezwungen, betasteten ohne viel Umstände zu machen, die Bilder und Bücher, um die Güte der Waren festzustellen, und schraubten dreist die Preise, die die gräflichen Kunstkenner für ein Werk boten, in die Höhe. Hier traf man so manchen Repräsentanten jener Menschenklasse, die man auf allen Auktionen findet, und die täglich zu einer Versteigerung gehen, so wie man wohl in ein Wirtshaus geht; hier begegnete man all den vornehmen und aristokratischen Kunstfreunden, die es für ihre Pflicht hielten, keine Gelegenheit zu versäumen, bei der sie ihre Sammlungen vergrößern könnten, und die zwischen 12 und 1 Uhr nichts Besseres zu tun hatten, und endlich fehlte es auch nicht an jenen ehrenwerten Herren, deren Anzüge und Börsen einen recht dürftigen Eindruck machen und die hier täglich ohne jedes eigennützige Ziel erscheinen, einzig und allein zu dem Zwecke, um zu beobachten, wie ein Kauf zustande kommt, — wer mehr, und wer weniger geben, wer den andern überbieten, und wem endlich der Gegenstand zugesprochen werden wird. Viele Bilder standen ganz regellos durcheinander, dazwischen sah man Möbel und Bücher mit den Initialen des früheren Besitzers, der vielleicht niemals das löbliche Bedürfnis gespürt hatte, in sie hineinzublicken. Da gab es chinesische Vasen, marmorne Tischplatten, neue und alte Möbel mit verschnörkelten Linien, Greifen, Sphinxen und Löwentatzen, Lampen und Kronleuchter mit und ohne Vergoldung: alles war aufeinandergestapelt, und es herrschte hier nicht einmal so viel Ordnung, wie man sie selbst in einem Kunstladen vorzufinden pflegt. Das Ganze stellte sozusagen ein großes Chaos von Kunstwerken dar. Überhaupt ist ja das Gefühl, das wir angesichts einer Versteigerung empfinden, sehr seltsam. Alles mutet einen an wie ein Begräbnis. Der Saal, in dem sie stattfindet, ist stets düster, die mit Möbeln und Bildern verstellten Fenster lassen das Licht nur spärlich hineindringen, das auf den Gesichtern liegende Schweigen und die Grabesstimme des Ausrufers, der mit dem Hammer aufschlägt und zu Ehren der armen, hier auf so sonderbare Weise zusammengeratenen Künste eine Messe liest: alle diese Momente verstecken, wie es scheint, noch das eigentümlich Frostige des Eindrucks. Die Auktion war offenbar im vollen Gange. Ein großer Haufe anständig gekleideter, dicht zusammenstehender Menschen ließ deutliche Spuren seines Interesses und seiner Erregung erkennen. Die Worte „... Rubel! ... Rubel!“ die von allen Seiten ertönten, ließen dem Ausrufer keine Zeit, den immer noch wachsenden Preis, der bereits das Vierfache des zu Anfang genannten betrug, zu wiederholen; die herumstehende Menge bemühte sich um ein Porträt, das jeden, der auch nur ein wenig von der Malerei verstand, aufs lebhafteste fesseln mußte. Es trug den sichtbaren Stempel eines Genies. Anscheinend war es schon des öfteren restauriert und erneuert worden, es stellte die dunklen Züge eines mit einem weiten Gewande bekleideten Asiaten dar, dessen Gesicht einen ganz ungewöhnlich eigenartigen Ausdruck hatte. Was jedoch die Umstehenden am meisten in Staunen setzte, das war das intensive Leben, das aus seinen Augen strahlte; je länger man sie betrachtete, um so tiefer schienen sie einem bis ins innerste Innere zu blicken. Diese Eigentümlichkeit, die auffallende Kunstfertigkeit des Malers nahmen die Aufmerksamkeit fast aller in Anspruch. Viele der Bewerber waren bereits zurückgetreten, weil der Preis ganz enorm in die Höhe geschraubt wurde. Lediglich zwei als Kunstliebhaber bekannte Aristokraten waren noch übriggeblieben und wollten durchaus nicht auf die Erwerbung des Gemäldes verzichten. Sie erhitzten sich und hätten wahrscheinlich den Preis bis zum Absurden emporgetrieben, wenn nicht plötzlich einer der Anwesenden sich mit der folgenden Bemerkung an sie gewandt hätte: „Darf ich Sie bitten, Ihren Streit einen Augenblick ruhen zu lassen? Ich habe vielleicht mehr Anrecht auf dieses Porträt als jeder andere!“

Diese Worte lenkten sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf den Sprecher; es war ein schlanker Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, mit langen schwarzen Locken. Sein sympathisches Gesicht, das eine gewisse freundliche Sorglosigkeit wiederspiegelte, ließ eine Seele erkennen, die sich von allen aufreibenden Erregungen, die der gesellschaftliche Verkehr mit sich bringt, fernhielt. Seine Kleidung entbehrte aller modischen Übertriebenheiten, jeder seiner Züge deutete auf seinen Künstlerberuf hin. Und in der Tat, es war ein Maler namens B., den viele der Anwesenden persönlich kannten.

„Wie seltsam Ihnen auch meine Worte erscheinen mögen,“ fuhr er fort, als er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah, „Sie würden doch vielleicht selbst einsehen, daß ich berechtigt war, sie zu äußern, wenn Sie sich dazu entschließen könnten, eine kleine Geschichte mit anzuhören. Alles bestärkt mich in der Überzeugung, daß gerade dies das Porträt ist, das ich suche.“

Eine nur allzu natürliche Neugierde sprach aus allen Gesichtern, und selbst der Ausrufer hielt mit offenem Munde und mit erhobenem Hammer, neugierig und gespannt in seinem Geschäfte inne. Zu Beginn der Erzählung wandten sich die Blicke vieler unwillkürlich dem Porträt zu, um sich nach und nach immer mehr auf den Erzähler zu heften, dessen Bericht immer interessanter und spannender wurde.

„Jedem von Ihnen ist doch wohl jener Stadtteil bekannt, den man Kolomna nennt,“ begann er. „Hier ist alles anders als in den andern Teilen Petersburgs. Dies Quartal erinnert weder an die Hauptstadt, noch an die Provinz. Wenn man in dies Kolomnaviertel gerät, ist einem fast zumute, als ob einen nach und nach alle jugendlichen Gefühle und Leidenschaften verlassen. Hier hinein fällt kein Zukunftsblick, hier ist alles ruhig und starr und unbeweglich. Hierher flüchtet sich alles, was sich als Niederschlag des Hauptstadtbetriebes absetzt. Hier schlagen inaktive Beamte, Witwen und Personen in bescheidenen Verhältnissen ihr Ruheplätzchen auf, die auf eine Entscheidung des Senats harren und sich daher selbst zu einem fast lebenslänglichen Aufenthalt in diesem Quartier verurteilt haben; hier wohnen verabschiedete Köchinnen, die sich den ganzen Tag hindurch auf den Märkten herumtreiben, stundenlang in dem Kramladen stehen, mit dem Verkäufer schwatzen und sich jeden Tag für fünf Kopeken Kaffee und für vier Kopeken Zucker kaufen, und endlich findet sich hier noch jene Sorte von Leuten, die man am besten mit dem einen Worte „die Aschgrauen“ bezeichnen könnte, Menschen, deren Anzug und deren Gesicht, Haare und Augen eine trübe, aschgraue Farbe haben, wie ein Tag, an dem es nicht stürmt und wo die Sonne nicht scheint, sondern wo weder das eine noch das andre stattfindet: ein grauer Nebel hüllt alles ein und nimmt allen Gegenständen ihre scharfen Konturen. Zu ihnen kann man alle abgedankten Logenschließer, Titularräte und Marsjünger mit einem ausgestochenen Auge und dicken aufgedunsenen Lippen rechnen. Lauter Menschen ohne Temperament und ohne jede Leidenschaft, sie gehen stumpfsinnig einher ohne dem, was um sie her passiert, die geringste Aufmerksamkeit zu schenken und schweigen tagelang, ohne an etwas zu denken. In ihren Zimmern sieht es öde und leer aus; oft besteht ihr Mobiliar einzig und allein aus einer Karaffe mit echter russischer Wodka, an der sie den ganzen Tag unaufhörlich nippen, ohne daß sie ihnen ernstlich zu Kopfe steigt, was einem gewöhnlich nur nach einem kräftigen Schluck zustößt, wie ihn sich wohl Sonntags ein junger deutscher Handwerksbursche — dieser Student der Meschtschanskistraße[14] und alleinige Beherrscher des Bürgersteigs zu gestatten pflegt, — allerdings erst — wenn Mitternacht vorüber ist.

In Kolomna geht es äußerst still zu; nur selten zeigt sich ein Wagen, in dem Schauspieler sitzen, und der dann durch sein donnerndes Gerassel allein die allgemeine Ruhe stört. Hier gibt es nur Fußgänger, so mancher Droschkenkutscher kommt hier oft langsam und ohne Fahrgast dahergefahren oder schleppt etwas Heu für seine struppige Mähre herbei. Eine Wohnung kann man hier schon für fünf Rubel monatlich haben, den Morgenkaffee miteingeschlossen. Witwen, die eine kleine Pension beziehen, gehören hier schon zu den vornehmsten Leuten; das sind Damen von gutem Benehmen, die ihre Zimmer oft fegen und sich mit ihren Nachbarinnen über die teuren Preise des Fleisches und des Kohles unterhalten. Sie haben gewöhnlich eine junge Tochter, ein wortkarges, mitunter recht niedliches Geschöpf, dazu ein garstiges Hündchen und eine Wanduhr mit einem traurig tickenden Pendel. Weiter gibt es hier Schauspieler, denen es ihre Gage nicht gestattet, von Kolomna wegzugehen, ein freies Völkchen, das wie alle Künstler nur dem Genusse lebt. Sie sitzen in ihren Schlafröcken da, und reparieren wohl eine Pistole, kleben aus Pappe allerlei Gegenstände, die man im Hause braucht, spielen mit einem Freunde oder Gast eine Partie Dame oder Karten und verbringen so den ganzen Tag, wobei man jedoch nicht etwa denken darf, daß sie am Abend etwas anderes tun, höchstens daß sie zuweilen noch einen Grog zu sich nehmen. Auf diese Magnaten und Aristokraten von Kolomna folgt schließlich nur noch das gemeinste und verkommenste Pack; es genauer zu bezeichnen, wäre ebenso schwierig, wie die Aufzählung jener zahlreichen Insekten, die in altem Essig keimen. Da gibt es alte Weiber, die beten, alte Weiber, die trinken, und solche, die zugleich beten und trinken, ferner solche, die sich auf völlig unbekannte Weise durchschlagen, und wie emsige Ameisen ganze Haufen alter Lumpen und Wäschestücke von der Kalinkin-Brücke nach dem Trödelmarkte schleppen, um sie dort für fünfzehn Kopeken zu verkaufen; mit einem Worte der elendeste Bodensatz der Menschheit, dessen Lage selbst der menschenfreundlichste Sozialpolitiker kaum zu verbessern vermöchte.

All diese Leute habe ich nur zu dem Zwecke angeführt, um Ihnen zu zeigen, wie oft dieses Volk in die Notlage kommt, eine plötzliche, vorübergehende Hilfe in Anspruch und zu einer Anleihe seine Zuflucht zu nehmen. Und in der Tat findet man unter ihnen auch viele Wucherer, die ihnen gegen ein Pfand und hohe Zinsen kleinere Summen leihen. Diese kleinen Wucherer sind viel herzloser und gefühlloser, als die großen, denn sie entspringen aus der Armut und aus einem seine Lumpen offen zur Schau stellenden Elend, das der reiche und vornehme Wucherer gar nicht kennt, weil er nur mit solchen Kunden zu tun hat, die in einer eleganten Equipage vorfahren, — und daher erstirbt in ihnen schon früh jedes menschliche Gefühl. Unter diesen Wucherern gab es einen ... aber hier darf ich wohl erwähnen, daß das Geschehnis, welches ich Ihnen erzählen will, in das verflossene Jahrhundert, nämlich in die Regierungszeit der verstorbenen Zarin Katharina II. fällt. Sie können sich vorstellen, daß auch das Äußere Kolomnas und ihr inneres Leben sich seitdem bedeutend verändert haben. Also unter den Wucherern gab es einen, der in jeder Beziehung ein ungewöhnlicher Mensch war. Er hatte sich schon vor langer Zeit in diesem Viertel niedergelassen und trug stets ein weites, asiatisches Gewand. Seine dunkle Gesichtsfarbe deutete auf seine südliche Herkunft hin; welcher Nation er jedoch eigentlich angehörte, ob er ein Inder, Grieche oder Perser war, darüber konnte niemand etwas Bestimmtes aussagen. Der hohe, fast ungewöhnliche Wuchs, das dunkle, magere, verbrannte Antlitz, die seltsame, auffallende Gesichtsfarbe und die großen, feurigen Augen mit den finsteren, buschigen Augenbrauen ließen ihn als eine markante Erscheinung unter allen aschgrauen Bewohnern der Hauptstadt hervortreten. Selbst seine Behausung hatte keine Ähnlichkeit mit den einförmigen Holzbaracken Kolomnas. Er wohnte in einem steinernen Hause, wie sie vormals genuesische Kaufleute zu errichten pflegten. Die Fenster hatten eine unregelmäßige Form, waren alle verschieden groß und mit Riegeln und hölzernen Läden versehen. Dieser Wucherer unterschied sich schon dadurch von seinen Kollegen, daß er jeden seiner Klienten, ob es nun eine alte Bettlerin oder ein verschwenderischer höherer Beamter des Hofes war, mit einer beliebigen Summe zu versehen vermochte. Vor seinem Hause hielten oft elegante Equipagen, aus deren Schlag bisweilen der Kopf einer feinen Weltdame hervorlugte. Man erzählte sich, wie das so gewöhnlich geschieht, daß seine eisernen Truhen mit unermeßlich viel Geld, Diamanten und verschiedenen kostbaren Pfandgegenständen angefüllt seien, daß er aber trotzdem frei von der Habgier gewöhnlicher Wucherer wäre. Er verlieh sein Geld sehr gerne und setzte annehmbare äußerst bequeme Zahlungstermine für seine Kunden an, nur ließ er die Zinsen durch allerhand eigentümliche arithmetische Operationen zu ganz maßlosen Summen anwachsen. So wenigstens urteilte Fama über ihn; was aber am auffälligsten war und auf jeden Fall alle verblüffen mußte, das war das seltsame Schicksal aller derer, die bei ihm Geld borgten. Sie gingen alle auf klägliche Weise zugrunde. Ob es nun aber nur leeres Geschwätz, nur ein sinnloses, abergläubiges Gerede der Menschen oder ein mit Absicht verbreiteter Klatsch war, das blieb unbekannt. Indessen gab es doch einige Fälle, die sich binnen ganz kurzer Zeit vor allen Augen abspielten und die einen tiefen und überwältigenden Eindruck auf die Leute machten. Damals lenkte gerade ein Jüngling aus einer vornehmen aristokratischen Familie, der sich bereits in jenen Jahren im Staatsdienste ausgezeichnet hatte, die Aufmerksamkeit auf sich: ein glühender Verehrer alles Echten und Erhabenen, ein eifriger Förderer menschlicher Geistesarbeit und hoher Kunst, mit einem Worte ein Mensch, der ein wahrhafter Mäzen zu werden versprach. So kam es denn, daß er sehr bald nach seinen Verdiensten von der Zarin selbst ausgezeichnet wurde, die ihm ein mit seinen eigenen Wünschen und Ansprüchen übereinstimmendes bedeutendes Amt und einen Posten anvertraute, auf dem er viel für die Wissenschaften und für alles Gute wirken konnte. Der junge Beamte umgab sich mit Künstlern, Dichtern und Gelehrten. Er wollte allen Arbeit verschaffen und alle nach Kräften fördern. Er gab auf eigene Kosten eine Reihe von nützlichen Werken heraus, verteilte eine Menge von Aufträgen und setzte viele Preise aus; auf diese Weise verausgabte er ungeheuer viel Geld und geriet schließlich in pekuniäre Verlegenheiten. Aber da er ein vornehmer und hochherziger Charakter war, wollte er nicht von seinem Vorhaben abstehen, er suchte überall Anleihen aufzunehmen und wandte sich endlich an den uns schon bekannten Wucherer. Er erhielt auch eine bedeutende Summe von ihm, aber bald darauf ging eine gewaltige Veränderung mit ihm vor: er wurde mit einem Male ein Verfolger und Unterdrücker aller aufstrebenden Geister und Talente. An allem, was ihm vor Augen kam, entdeckte er sofort die schlechten Seiten und deutete jedes harmlose Wort falsch. Um diese Zeit brach gerade die französische Revolution aus, und dieses Ereignis gab ihm plötzlich den Anlaß zu allen möglichen Verdächtigungen und häßlichen Taten, überall fing er an, revolutionäre Umtriebe zu wittern; jedes Ereignis schien ihm eine schlimme Andeutung zu enthalten. Er wurde so argwöhnisch, daß er sich schließlich sogar selbst zu mißtrauen begann; er gab sich zu einer ganzen Reihe abscheulicher und höchst ungerechter Denunziationen her und machte dadurch unzählige Menschen unglücklich. Die Folgen einer solchen Handlungsweise war natürlich die, daß das Gerücht davon bis an den Thron gelangte. Die großmütige Kaiserin war ganz entsetzt und sprach sich in hochherziger Weise, die der schönste Schmuck gekrönter Häupter ist, darüber aus. Ihre Worte sind uns zwar nicht genau überliefert, aber ihr tiefer Sinn prägte sich im Herzen vieler ein. Die Kaiserin bemerkte, es seien gar nicht die monarchischen Regierungen, die die hohen und vornehmen Seelenregungen unterdrückten; in einer solchen Staatsform seien die Werke des Geistes, der Dichtung und der Künste keineswegs verachtet und Verfolgungen ausgesetzt, vielmehr seien die Monarchen ihre natürlichen Protektoren, erst unter ihrem hochherzigen Schutze erstände ein Shakespeare, ein Molière usw., während andererseits ein Dante in seinem republikanischen Vaterlande keine Ruhestätte finden konnte. Wahre Genies entfalteten sich nur in den glänzenden Zeitaltern mächtiger Könige und Königreiche und nicht unter dem Einflusse häßlicher politischer Vorgänge und terroristischer Republiken, die der Welt bis jetzt noch keinen einzigen Dichter geschenkt hätten. Sie erklärte, man müsse die Dichter und Künstler reichlich belohnen und auszeichnen, denn sie schenkten der Seele Ruhe und Frieden und bewahrten sie vor häßlichen Leidenschaften und Empörung; die Gelehrten, die Dichter und alle schaffenden Künstler seien die Perlen und Diamanten in den Kaiserkronen: sie seien der höchste Schmuck, der das Zeitalter eines großen Herrschers kröne und ihm einen herrlichen Glanz verleihe. Während die Kaiserin diese Worte sprach, war sie unendlich schön und göttlich. Ich erinnere mich, daß die alten Leute nicht anders als mit Tränen in Augen davon sprechen konnten. Alle zeigten die lebhafteste Teilnahme für den Fall. Zur Ehre unserer Nation muß hier bemerkt werden, daß sich in dem Herzen eines Russen stets der hochherzige Wunsch regt, die Partei der Bedrückten zu ergreifen. Der hohe Beamte, der das ihm geschenkte Vertrauen zu sehr mißbraucht hatte, wurde gebührend bestraft und seines Amtes enthoben, aber noch eine weit peinigendere Strafe war es für ihn, daß er eine unverhüllte und allgemeine Mißachtung aus den Gesichtern seiner Mitbürger lesen konnte. Es läßt sich kaum beschreiben, wie sehr seine eitle Seele darunter litt. Gekränkter Stolz, betrogener Ehrgeiz, vernichtete Hoffnungen: all diese Empfindungen vereinigten sich zu einer drückenden Qual, und in entsetzlichen Wahnsinnsanfällen riß sein Lebensfaden ab. Noch ein anderer frappanter Fall trug sich gleichfalls vor aller Augen zu. Von den vielen schönen Frauen, an denen unsere nordische Hauptstadt damals nicht arm war, lief besonders eine allen anderen den Rang ab. Sie vereinigte in sich in wunderbarer Weise alle Reize unserer nordischen Schönheit mit denen des Südens; das war ein kostbarer Edelstein, wie man ihn nur selten auf der Welt findet. Mein Vater gestand, niemals in seinem Leben etwas Ähnliches gesehen zu haben. Alle Vorzüge schienen sich in diesem Wesen vereinigt zu haben: Reichtum, Geld und seelische Anmut. An Bewerbern fehlte es natürlich nicht; der interessanteste und hervorragendste unter ihnen aber war ein Fürst R..., ein vornehmer junger Mann von wahrhaft edelem Charakter, wohlgestaltet und von ritterlichem, hochherzigem Wesen, das höchste Ideal aller Frauen, ein richtiger Romanheld und in allem ein echter Grandisson. Fürst R. war leidenschaftlich, ja geradezu wahnsinnig in sie verliebt, und seine Liebe wurde ebenso feurig erwidert. Leider erschien bloß den Verwandten diese Partie als Mesalliance. Die Erbgüter seiner Familie gehörten nämlich nicht mehr ihm, die ganze Familie war in Ungnade gefallen, und der schlechte Zustand seiner Verhältnisse war allgemein bekannt. Plötzlich verläßt der Fürst für eine Zeitlang die Hauptstadt, allem Anscheine nach, um seine Verhältnisse zu regeln, taucht aber bald darauf wieder auf, wobei er einen unglaublichen Prunk und Luxus entfaltete. Seine glänzenden Feste und Bälle machen ihn bald bei Hofe bekannt. Der Vater der Schönen ist ihm wohlgeneigt, und bald darauf findet in der Stadt eine Hochzeitsfeier statt, die überall Aufsehen erregt. Woher diese Veränderung und der ungeheure Reichtum des Bräutigams stammte, darüber konnte freilich niemand genauere Auskunft geben; man tuschelte bloß im geheimen davon, er wäre irgendwelche Abmachungen mit dem rätselhaften Wucherer eingegangen und hätte bei ihm eine größere Anleihe gemacht. Wie dem aber auch war, die Hochzeit beschäftigte die ganze Stadt, und Bräutigam wie Braut erregten den Neid aller Leute. Jedermann wußte, wie heiß und standhaft sie sich geliebt — und was für lange Qualen beide zu erdulden gehabt hatten; überall schätzte man sie wegen ihres edelen Charakters und ihrer hohen Vorzüge. Die leidenschaftlichsten unter den Frauen malten sich schon im voraus die paradiesischen Wonnen aus, die den jungen Ehegatten bevorständen. Und doch kam alles anders. Im Lauf eines einzigen Jahres ging mit dem Gatten eine furchtbare Veränderung vor. Das Gift einer argwöhnischen Eifersucht und Unduldsamkeit schien plötzlich seinen bis dahin vornehmen und makellosen Charakter angefressen zu haben; unerklärliche Launen entstellten sein ganzes Wesen; er wurde ein Tyrann, der seine Frau beständig quälte, und scheute schließlich — was niemand voraussehen konnte — nicht einmal vor den unmenschlichsten Taten zurück: er peinigte und schlug seine eigene Gattin. Schon nach einem Jahre war die Frau nicht wieder zu erkennen, sie, die noch unlängst eine so glänzende Erscheinung gewesen war und Scharen von treuen Anbetern und glühenden Verehrern angezogen hatte. Endlich ließ sie — unfähig, ihr schweres Los noch weiter zu ertragen — ein Wort über Scheidung fallen, aber der Gatte geriet schon bei dem leisesten Gedanken daran in Wut. In der ersten Erregung drang er mit einem Messer bewaffnet in ihr Zimmer ein, und er hätte sie zweifellos sofort niedergestochen, wenn er nicht überwältigt und festgehalten worden wäre. Ganz außer sich und voller Verzweiflung zückte er sein Messer gegen sich selbst und beschloß sein Leben in schrecklichen Qualen.

Außer diesen beiden Fällen, die sich vor den Augen der ganzen Welt abgespielt hatten, wurde noch eine Reihe anderer erzählt, die sich unter den niedren Klassen zutrugen, und die fast alle einen ebenso entsetzlichen Ausgang nahmen. Ehrliche, nüchterne Männer wurden plötzlich zu Trunkenbolden, Gehilfen bestahlen ihre Chefs, ein Droschkenkutscher, der viele Jahre hindurch ehrlich und fleißig gedient hatte, erstach auf einmal einen Fahrgast wegen einiger Pfennige. Natürlich mußten solche Erzählungen, die noch dazu meist sehr ausgeschmückt und übertrieben waren, den einfältigen Bewohnern Kolomnas eine Art unwillkürlichen Grauens einflößen. Niemand zweifelte mehr daran, daß dieser Mann mit der Hölle im Bunde stehe. Man erzählte sich, daß er seinen Kunden Bedingungen stelle, die einem die Haare zu Berge steigen ließen, und die der unglückliche Schuldner nie einem andern mitzuteilen wagte; daß sein Geld eine besondere Anziehungskraft ausübe, von selbst zu glühen anfange und seltsame Merkzeichen an sich trage ..., mit einem Worte, es waren viele unsinnige Gerüchte über ihn im Umlauf. Und so ist es denn auch nicht weiter merkwürdig, daß die ganze Einwohnerschaft Kolomnas, diese ganze Welt armer alter Frauen, kleiner Beamter und untergeordneter Schauspieler, kurz, all dieses elenden Volkes, das wir soeben beschrieben haben, lieber alle Leiden und die höchste Not auf sich nehmen, als den schrecklichen Wucherer um ein Darlehn angehn wollte, es gab sogar arme alte Frauen, die es vorzogen, vor Hunger zu sterben, als ihre Seele zugrunde zu richten. Wenn man dem Wucherer auf der Straße begegnete, wurde man unwillkürlich von einer seltsamen Angst ergriffen. Die Passanten wichen ihm furchtsam aus, drehten sich immer wieder nach ihm um und verfolgten die in der Ferne verschwindende riesenhafte Gestalt noch lange mit ihren Blicken. Schon in seinem Äußern lag so viel Ungewöhnliches, daß jedermann unwillkürlich den Eindruck hatte, es mit einem übernatürlichen Wesen zu tun zu haben. Diese harten, scharf gemeißelten Züge, wie man sie selten bei einem Menschen antrifft, diese glühende, bronzene Gesichtsfarbe, diese dichten buschigen Augenbrauen, die unerträglich schrecklichen Augen, selbst seine weite, bauschige asiatische Kleidung — alles schien darauf hinzudeuten, daß alle Leidenschaften anderer Menschen vor denen, die dieser Körper in sich barg, verbleichen mußten. Jedesmal, wenn mein Vater ihm begegnete, blieb er unbeweglich stehen und konnte sich bei solch einer Gelegenheit nicht enthalten, laut auszurufen: „Ein Teufel! Ein wahrhaftiger Teufel!“ Doch nun muß ich Sie schnell noch mit meinem Vater bekannt machen, der übrigens der eigentliche Held dieser Geschichte ist.

Mein Vater war in vielen Beziehungen ein merkwürdiger Mensch. Er war ein seltener Künstler, einer von denen, wie sie nur Rußland aus seinem jungfräulichen Schoße erzeugt, ein Autodidakt, der alle künstlerischen Gesetze und Regeln ohne Lehrer und ohne die Anleitung der Schule ganz aus sich selbst heraus entdeckt hatte, und in dem mächtigen Drange nach ständiger Vervollkommnung, aus Gründen, die ihm vielleicht selbst unbekannt blieben, immer den Weg ging, den ihm sein Instinkt wies: er war eines jener ursprünglichen Wunder, die von den Zeitgenossen nicht selten mit dem verletzenden Beiwort „ungebildeter Mensch“ bezeichnet und die durch Angriffe und eigenes Mißgeschick nicht ernüchtert und abgekühlt werden, sondern nur noch neuen Eifer und neuen Drang aus ihnen schöpfen und dann jene Werke innerlich weit hinter sich lassen, die ihnen den oben erwähnten Titel eingebracht haben. Er erkannte in jedem Gegenstand intuitiv die Gegenwart einer Idee; ganz von selbst ging ihm die wahre Bedeutung des Wortes „Historische Malerei“ auf, er begriff, warum ein einfacher Zopf, ein schlichtes Porträt von Raffael, Lionardo da Vinci, Tizian oder Correggio einen Anspruch auf diese Bezeichnung hatten, während ein riesiges Gemälde geschichtlichen Inhalts dennoch nur ein Genrebild bleiben konnte, trotz aller Prätensionen des Malers, damit ein großes historisches Gemälde geschaffen zu haben. Sowohl eigene Neigung als innere Überzeugung führten ihn den religiösen Stoffen des Christentums, der höchsten und letzten Stufe des Erhabenen, zu. Er besaß weder Ehrgeiz, noch Empfindlichkeit, Eigenschaften, die leider bei so vielen Künstlern einen wesentlichen Bestandteil ihres Charakters bilden. Dies war eine herbe Persönlichkeit, ein ehrlicher, gerader, beinahe grober Mensch, der sich nach außen durch eine harte Rinde gegen die Umwelt abschloß und innerlich nicht ohne Stolz war, der sich jedoch über seine Mitmenschen zwar stets in schroffer Weise, doch zugleich milde und versöhnlich äußerte. „Wozu soll ich mich nach ihnen richten?“ pflegte er gewöhnlich zu sagen; „ich arbeite ja nicht für sie! Ich will meine Bilder ja nicht in einem Salon bewundern lassen! Wer mich versteht, wird mir sicher dankbar sein. Einem Mann aus der vornehmen Gesellschaft kann man es nicht weiter verargen, wenn er nichts von Malerei versteht; dafür versteht er was von Karten, von guten Weinen oder Pferden ... Wozu braucht denn ein großer Herr auch mehr zu wissen? Wenn so ein Mensch erst von allem gekostet hat und sich auf das Geistreicheln verlegt, dann ist er erst recht nicht zu ertragen. Suum cuique! Schuster bleib bei deinen Leisten! Meiner Meinung nach ist ein Mensch, der es offen eingesteht, wo er nicht Bescheid weiß, einem Heuchler vorzuziehen, der so tut, als ob er etwas von Dingen versteht, von denen er gar keine Ahnung hat, und der nur herumpfuscht und andre Leute schädigt.“ Er arbeitete schon für den bescheidensten Preis, der ihm nur die Mittel zum Unterhalt seiner Familie und die Möglichkeit zu weiterem Schaffen bot. Auch weigerte er sich niemals, einem andern zu helfen und einem armen Kollegen hilfreich die Hand zu reichen. Er hatte sich den einfachen, frommen Glauben unserer Ahnen erhalten, und das war vielleicht der Grund, daß es ihm so gut gelang, den von ihm gemalten Gesichtern jenen hohen Ausdruck zu verleihen, nach dem so manches große Talent vergebens strebt. Endlich glückte es ihm, durch unausgesetzte Arbeit und rastlose Verfolgung des einmal vorgesteckten Zieles auch die Achtung derer zu erringen, die ihn früher einen ungebildeten Menschen und einen hausbackenen Autodidakten genannt hatten. Er bekam Aufträge, Wandgemälde für Kirchen zu malen, und es fehlte ihm nie an Arbeit. Einmal war er gerade durch solch ein Werk sehr in Anspruch genommen. Ich erinnere mich nicht mehr genau an das Sujet und weiß nur noch, daß auf dem Gemälde der gefallene Engel, der Geist der Finsternis, dargestellt werden sollte. Dieses Problem beschäftigte ihn lange Zeit: Wie würde er ihn malen? In der Person dieses Engels mußte der furchtbare Druck und die Pein, die auf dem Menschen lastet, zum Ausdruck kommen. Hierbei schwebte ihm wohl oft das Bild des rätselhaften Wucherers vor, und er dachte sich unwillkürlich: „Das wäre das rechte Vorbild für meinen Teufel!“ Und nun stellen Sie sich selbst vor, wie erstaunt und erschrocken er war, als eines Tages, während er arbeitete, an die Tür seines Ateliers gepocht wurde, und der schreckliche Wucherer bei ihm eintrat. Kein Wunder, daß sein Inneres erbebte, und ein heftiges Zittern seinen ganzen Körper überlief.

„Du bist Maler?“ fragte er, ohne viel Umstände zu machen, meinen Vater.

„Ja, ich bin Maler!“ versetzte mein Vater verwirrt und gespannt, was nun folgen würde.

„Gut! Dann porträtiere mich! Ich werde vielleicht bald sterben! Kinder habe ich nicht. Aber ich will nicht ganz untergehen, ich will weiterleben. Kannst du mir ein solches Porträt malen, das den vollen Eindruck des Lebens macht?“

Mein Vater dachte: „Was kann ich mir Besseres wünschen? Er bietet sich mir selbst als Modell für den Teufel an!“ So willigte er denn ein, sie einigten sich über Zeit und Preis, und gleich am nächsten Tage erschien mein Vater mit Pinsel und Palette bei ihm. Der Hof mit den hohen Mauern, die Hunde, die eisernen Tore und Riegel, die bogenförmigen Fenster, die mit merkwürdigen Teppichen bedeckten Truhen und endlich der seltsame Hausherr selbst, der ihm unbeweglich gegenüber saß: all das machte einen eigentümlichen Eindruck auf ihn. Die Fenster waren wie mit Absicht unten so verstellt und verhängt, daß das Licht nur von oben hereindringen konnte. „Hol’s der Teufel! wie fein sein Gesicht jetzt beleuchtet ist!“ sagte er vor sich hin und fing eifrig an zu arbeiten, wie wenn er befürchtete, daß die günstige Beleuchtung bald verschwinden könne. „Was für eine Kraft in ihm liegt,“ wiederholte er leise; „wenn es mir nur zur Hälfte gelingt, ihn so darzustellen, wie er jetzt dasitzt, dann wird er alle meine früheren Arbeiten in den Schatten stellen. Er wird mir wahrhaftig aus der Leinwand herausspringen, wenn ich der Natur auch nur im mindesten treu bleibe. Was für auffallende Züge!“ wiederholte er unaufhörlich, indem er noch eifriger arbeitete, und nun sah er selbst, wie schon einige Partien des Gesichts auf der Leinwand erschienen. Aber je mehr er sich ihnen näherte, ein desto stärkeres, ihm selbst unbegreifliches Gefühl der Unruhe und der Furcht überfiel ihn. Trotzdem aber nahm er sich vor, jede kaum merkliche Linie, jeden kleinsten Ausdruck mit peinlicher Genauigkeit zu registrieren. Vor allem beschäftigte er sich mit der Darstellung der Augen; in ihnen lag so viel Kraft, daß man offenbar gar nicht hoffen durfte, ihr tiefstes Wesen auf dem Bilde wiederzugeben. Dennoch hatte er sich fest vorgenommen, um jeden Preis alle, auch die unwesentlichsten Töne und Schattierungen aus ihnen herauszuholen und ihr Geheimnis zu ergründen ... Aber kaum hatte er begonnen, sich in sie zu versenken und zu vertiefen, als ein solch unbegreiflicher Druck, ein solch eigentümlicher Widerwille seine Seele erfaßte, daß er für einige Zeit den Pinsel niederlegen mußte, um erst nach dieser Ruhepause die Arbeit wieder aufzunehmen. Endlich konnte er es nicht länger ertragen; er fühlte, wie sich diese Augen in seine Seele bohrten und eine sonderbare Unruhe in ihr hervorriefen. Am dritten Tage wurde dieses Gefühl noch intensiver. Ihm wurde ganz ängstlich zumute. Er warf den Pinsel in die Ecke und erklärte dem Wucherer mit Nachdruck, er könne ihn unmöglich weiter malen. Da hätte man sehen müssen, welche Veränderung diese Worte in dem schrecklichen Manne hervorriefen. Er warf sich plötzlich vor dem Maler auf die Knie, umklammerte seine Füße und flehte ihn an, das Porträt zu vollenden, er erklärte, daß sein ganzes Schicksal und seine ganze irdische Existenz von diesem Porträt abhingen, schon jetzt habe ja des Künstlers Pinsel seine lebendigen Züge auf der Leinwand festgehalten — wenn diese Züge genau im Bilde fixiert würden — werde sein Leben durch eine übernatürliche Macht im Porträt weiter fortbestehen; dann brauche er nicht ganz zu sterben, und er werde der Welt erhalten bleiben. Diese Bitten entsetzten meinen Vater; sie erschienen ihm so ungewöhnlich und frevelhaft, daß er Pinsel und Palette wegwarf und jählings aus dem Zimmer stürzte.

Der Gedanke an dieses Ereignis beunruhigte ihn die ganze Nacht und den ganzen Tag hindurch; am andern Morgen ließ ihm der Wucherer durch eine Frau, das einzige Wesen, das bei ihm diente, das Porträt zustellen. Sie erklärte ihm ohne alle Umschweife, daß ihr Herr das Bild nicht haben wolle, nichts dafür bezahlen werde und es ihm daher zurücksende. Am Abend desselben Tags erhielt er die Kunde von dem Tode des Wucherers, und die Nachricht, daß er demnächst nach dem Brauche seiner Religion beigesetzt werden solle. Dies alles erschien ihm höchst unerklärlich und seltsam, zu alledem aber machten sich von diesem Moment an in seinem Charakter gewisse Veränderungen bemerkbar. Er litt unter einer merkwürdigen Erregtheit und Ruhelosigkeit, deren Ursache er selbst nicht begreifen konnte, ja er tat bald darauf etwas, was wohl niemand von ihm erwartet hätte. Seit einer gewissen Zeit lenkten die Arbeiten eines seiner Schüler die Aufmerksamkeit eines kleinen Kreises von Kennern und Liebhabern auf sich; mein Vater hatte sein Talent immer anerkannt und eine tiefe Neigung für ihn gefaßt. Jetzt aber wurde er plötzlich von einem häßlichen Neid gegen ihn ergriffen. Die allgemeine Sympathie, die sich in den Unterhaltungen über ihn äußerte, wurde meinem Vater ganz unerträglich. Endlich erfuhr er zu seinem großen Verdruß, daß sein Schüler den Auftrag erhalten hatte, ein Bild für eine erst vor kurzem vollendete prachtvolle Kirche zu malen. Das versetzte ihn in eine furchtbare Wut. „Ich werde diesem Grünschnabel doch nicht den Triumph gönnen!“ rief er aus. „Nein, mein Lieber, du hoffst zu früh, die Alten in den Staub zu ziehen! Gott sei Dank, noch fühle ich genug Kraft in mir! Wir wollen doch abwarten, wer den andern zuerst in den Staub zieht!“ Und der biedere, in seinem Kerne grundehrliche Mann wandte sich allen möglichen Ränken und Schleichwegen zu, die er bisher stets verabscheut hatte, und brachte es endlich auch so weit, daß um den Auftrag für das Kirchenbild ein allgemeiner Wettbewerb ausgeschrieben wurde, an dem sich natürlich auch andere Künstler beteiligten durften. Hierauf schloß er sich in seinem Atelier ein und machte sich eifrig an die Arbeit. Es schien, als ob sich seine ganzen Kräfte und seine ganze Persönlichkeit auf dieses Gemälde konzentriert hätten, und in der Tat kam so eins seiner besten Werke zustande. Niemand zweifelte daran, daß ihm die Palme zufallen würde. Die Bilder wurden der Jury eingereicht, aber alle anderen Werke verhielten sich zu diesem wie die Nacht zum Tage. Plötzlich jedoch machte einer der anwesenden Kunstrichter — wenn ich nicht irre, ein Geistlicher — eine Bemerkung, die alle überraschte. „In dem Bilde dieses Künstlers offenbart sich wirklich ein starkes Talent,“ meinte er, „aber den Gesichtern geht der fromme, heilige Ausdruck ab. Es liegt vielmehr etwas Dämonisches in diesen Augen, als hätte eine böse Macht die Hand des Künstlers geführt.“ Alle blickten hin, und in der Tat, die Wahrheit dieser Worte ließ sich nicht bestreiten. Mein Vater stürzte auf sein Bild los, wie um diese verletzende Bemerkung selbst auf ihre Berechtigung hin zu prüfen, aber er gewahrte mit Entsetzen, daß er allen seinen Gestalten die Augen des Wucherers verliehen hatte. Sie blickten ihn so teuflisch und vernichtend an, daß er selbst unwillkürlich schauderte. Das Bild wurde abgelehnt, und er mußte zu seinem unbeschreiblichen Ärger erfahren, daß die Palme seinem Schüler zufiel. Es läßt sich unmöglich beschreiben, in welcher Wut und Raserei er nach Hause zurückkehrte. Er hätte beinahe meine Mutter geschlagen, er warf die Kinder hinaus, zerbrach Pinsel und Staffeleien, riß das Porträt des Wucherers von der Wand, ließ sich ein Messer geben und wollte Feuer im Kamin entzünden, um das Bild — nachdem er es in Stücke geschnitten hätte — zu verbrennen. Aber bei diesem Vorhaben wurde er durch die Ankunft eines Freundes überrascht, der soeben in das Zimmer getreten war. Dieser Freund war gleich ihm ein Maler, ein lustiger Bursche, der stets mit sich zufrieden war, sich nicht mit weitliegenden Plänen abgab und alle Arbeiten, die ihm unter die Hand kamen, fröhlich in Angriff nahm, um sich nach deren Beendigung noch fröhlicher ans Schlemmen und Zechen zu machen.

„Was hast du da? Was willst du verbrennen?“ fragte er ihn, indem er an das Porträt herantrat. „Aber ich bitte dich, das ist ja eines deiner besten Werke! Das ist ja der Wucherer, der erst kürzlich gestorben ist! Ja, das ist ein vollkommenes Kunstwerk! Den hast du nicht bloß vorzüglich getroffen, du bist ihm sozusagen in die Augen hineingekrochen! So lebhaft haben sie ja nicht einmal geblickt, als er noch am Leben war, wie hier bei dir!“

„Ich möchte gern sehen, wie sie mich aus dem Feuer anblicken werden!“ sagte mein Vater, während er eine Bewegung machte, um das Porträt in den Kamin zu schleudern. „Halt, um Gottes willen,“ fiel der Freund ein und hielt ihn am Arme fest. „Gib es doch lieber mir, wenn es dir so lästig ist!“ Mein Vater sträubte sich anfangs, gab aber schließlich nach, und der lustige Kerl schleppte — höchst erfreut über diese Erwerbung — das Porträt mit sich fort.

Nachdem er fortgegangen war, fühlte sich mein Vater mit einem Male ruhiger, als wäre ihm mit der Entfernung des Porträts eine Last vom Herzen gefallen. Er wunderte sich selbst über seinen Zorn, seinen Neid und die offenkundige Wandlung in seinem Charakter. Er dachte lange über seine Tat nach, war in tiefster Seele betrübt und sagte mit innerem Gram zu sich selbst: „Nein! Diese Strafe hat mir Gott auferlegt! Es war wohlverdient, daß mein Bild zurückgewiesen wurde; es war ja nur zu dem Zwecke geschaffen, um meinen Genossen zu vernichten. Ein teuflisches Gefühl des Neides hat meinen Pinsel geführt, daher mußte sich auch ein teuflisches Gefühl in dem Bilde wiederspiegeln.“ Sofort suchte er seinen ehemaligen Schüler auf, umarmte ihn stürmisch, bat ihn um Verzeihung und bemühte sich — soweit es ihm möglich war — seine Schuld wieder gut zu machen. Von nun ab war er wieder friedlich bei der Arbeit wie ehedem, aber jetzt konnte man immer ein tiefes Sinnen in seinen Zügen bemerken. Er betete häufiger, er war viel schweigsamer als früher und drückte sich nicht mehr so schroff über die Menschen aus. Selbst das herbe Äußere seines Wesens schien sich verloren zu haben. Bald darauf aber ereignete sich etwas, was ihn noch tiefer erschütterte. Er hatte seinen Freund, der sich das Porträt von ihm ausgebeten hatte, schon seit längerer Zeit nicht gesehen und sich schon mehrmals vorgenommen, ihn zu besuchen, da erschien dieser selbst eines Tages plötzlich in seinem Atelier. Nachdem beide ein paar gleichgültige Worte gewechselt hatten, sagte der Freund: „Du hattest nicht so ganz unrecht, Bruder, als du das Porträt verbrennen wolltest! Mag es der Teufel holen; es hat etwas Schreckliches an sich! Ich glaube an keine Hexerei, aber man mag sagen, was man will! — ich glaube, der Böse sitzt darin.“

„Wieso?“ fragte mein Vater.

„Seitdem ich es bei mir aufgehängt habe, liegt es auf mir wie ein furchtbarer Druck ... als ob ich jemand ermorden wollte. Zeit meines Lebens wußte ich nicht, was Schlaflosigkeit heißt, jetzt aber habe ich nicht nur diesen Zustand kennen gelernt, ich habe auch solche Träume ... d. h. ich weiß selbst nicht recht, ob es nur Träume sind oder noch irgend etwas anders: wie wenn mich ein böser Geist erwürgen will ... und immer spukt der verfluchte Alte im Zimmer herum. Mit einem Worte, ich kann dir meinen Zustand gar nicht schildern. Niemals ist mir so etwas passiert. Ich bin all diese Tage wie ein Wahnsinniger herumgelaufen ... Eine entsetzliche Angst verfolgte mich, immer wartete ich auf etwas Furchtbares, ich fühlte, wie ich zu niemand ein fröhliches und aufrichtiges Wort sagen konnte, stets schien es mir, als würde ich beobachtet und bespitzelt. Erst nachdem ich das Porträt meinem Neffen geschenkt habe, der es sich selbst von mir erbeten hat, ist mir’s, als wenn mir ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Mit einem Schlage wurde mir wieder froh zumute, so wie du mich hier vor dir siehst! Wahrhaftig, Freund, da hast du aber einen schönen Teufel geschaffen!“

Mein Vater lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit auf diese Erzählung und fragte schließlich: „Und jetzt ist das Porträt bei deinem Neffen?“

„Ach was! Bei meinem Neffen ... Der hielt es ja auch nicht aus!“ versetzte der Spaßvogel. „Des Wucherers eigene Seele scheint in dieses Porträt hinübergewandert zu sein. Er springt aus dem Rahmen, spaziert in dem Zimmer herum — und was mein Neffe sonst noch darüber erzählt, geht über jede Beschreibung. Ich würde ihn tatsächlich für verrückt halten, hätte ich nicht fast ganz das Gleiche erlebt. Er hat das Porträt an irgend einen Kunstfreund verkauft, aber auch dieser konnte es nicht aushalten und hat es seinerseits wieder einem andern aufgehalst.“

Diese Worte machten einen tiefen Eindruck auf meinen Vater. Er versank in tiefes Grübeln, wurde melancholisch und gelangte endlich zur Überzeugung, daß sein Pinsel dem Teufel als Werkzeug gedient hatte, daß das Leben des Wucherers tatsächlich zum Teil auf das Porträt übergegangen war, und daß es jetzt die Menschen beunruhige, ihnen dämonische Empfindungen einflöße, Künstler vom rechten Wege abbringe, häßliche Anwandlungen von Neid erzeuge usw. Drei Unglücksfälle, die sich unmittelbar darauf ereigneten: der plötzliche Tod seiner Frau, seiner Tochter und seines kleinen Sohnes, erschütterten ihn aufs tiefste, er hielt sie für eine Strafe des Himmels und entschloß sich, aus dem weltlichen Leben zu scheiden.

Gleich nach Vollendung meines neunten Jahres ließ er mich in die Kunstschule eintreten und zog sich selbst nach Erledigung seiner geschäftlichen Angelegenheiten in ein einsames Kloster zurück, wo er bald die Mönchskutte anlegte. Dort setzte er alle Brüder durch seine asketische Lebensführung und durch die strenge Beobachtung aller Klostersatzungen in Erstaunen. Als der Prior erfahren hatte, daß er ein Maler sei, trug er ihm auf, für die Klosterkirche das Bild ihres Heiligen zu malen. Aber der fromme und demütige Bruder erklärte entschieden, daß er unwürdig sei, den Pinsel zu führen, weil er ihn entweiht habe, und daß er seine Seele zuerst durch harte Arbeit und schwere Opfer reinigen müsse, um wieder würdig zu sein, eine solche Arbeit zu übernehmen. Zwingen wollte man ihn nicht. Er versuchte es für seine Person — soweit dies möglich war — die strengen Satzungen des Klosterlebens noch zu verschärfen; schließlich genügte ihm jedoch auch dieses nicht mehr, es erschien ihm nicht hart genug. Er erbat sich den Segen des Priors, verließ das Kloster und zog sich in eine völlige Einsamkeit zurück. Er baute sich aus Baumzweigen eine Hütte, nährte sich nur von rohen Wurzeln, trug Steine von einer Stelle zur andern, stand von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit gen Himmel erhobenen Armen da, murmelte beständig Gebete — mit einem Worte, er erlegte sich alle nur möglichen Geduldsproben und Prüfungen auf, für die man nur in den Lebensbeschreibungen der Heiligen Beispiele finden kann. So peinigte er einige Jahre hindurch seinen Körper und stärkte ihn gleichzeitig mit Hilfe der belebenden Kraft des Gebetes. Endlich erschien er eines Tages wieder in dem Kloster und sprach entschlossen zum Prior: „Jetzt bin ich bereit! Wenn es Gott gefällt, werde ich meine Arbeit vollenden.“

Der Gegenstand, den er darstellen wollte, war die Geburt Jesu. Ein ganzes Jahr verbrachte er bei seiner Arbeit, ohne seine Zelle zu verlassen, wobei er sich nur notdürftig durch kärgliche Nahrung am Leben erhielt und ununterbrochen betete. Als diese Zeit vorüber war, war das Bild fertig. Es war ein Wunderwerk der Malerei geworden. Hier muß ich bemerken, daß weder die Brüder, noch der Prior viel von der Malerei verstanden, aber alle waren über die ungewöhnliche Reinheit und Heiligkeit der Gestalten aufs höchste erfreut. Eine göttliche Demut und Milde in den Zügen der heiligen Gottesmutter, die sich über ihr Kind beugt, ein tiefes Sinnen in den Augen des göttlichen Kindes, das schon etwas von der Zukunft zu erkennen scheint, ein feierliches Schweigen der von dem göttlichen Wunder überwältigten Könige, die vor dem Kinde knien, und endlich eine überirdische, unbeschreibliche Stille, die über dem ganzen Bilde lag: dies alles verband sich zu einer so harmonischen Kraft und Macht der Schönheit, daß der Eindruck ein geradezu zauberischer, magischer war. Alle Brüder stürzten vor dem neuen Bilde auf die Knie, und der gerührte Prior sprach: „Wahrlich! Es ist nicht möglich, daß ein Mensch nur mit Hilfe menschlicher Kunst ein solches Bild zu schaffen vermochte; eine höhere, heilige Kraft hat deinen Pinsel geführt; des Himmels Segen ruhte auf deinem Werke!“

Um diese Zeit schloß ich mein Studium in der Akademie ab, ich erhielt die goldene Medaille und mit ihr eröffnete sich mir die frohe Aussicht auf eine Kunstreise nach Italien, den schönsten Traum eines zwanzigjährigen Künstlers. Ich hatte nur noch die Pflicht, mich von meinem Vater, von dem ich seit zwölf Jahren getrennt lebte, zu verabschieden. Ich muß gestehen, daß sein Bild längst aus meiner Erinnerung geschwunden war. Ich hatte einiges über die Strenge und Heiligkeit seines Lebens gehört und bereitete mich schon im voraus darauf vor, das herbe Äußere eines durch das ewige Fasten und Wachen abgemagerten und vertrockneten Anachoreten zu erblicken, für den nichts auf der Welt existiert, als seine Zelle und seine Gebete. Aber wie war ich erstaunt, als ich mich plötzlich einem herrlichen, göttlichen Greise gegenüber befand! In seinem Gesichte spiegelte sich auch nicht die geringste Ermattung oder Müdigkeit, es strahlte vielmehr von der Klarheit und Helligkeit einer himmlischen Freude. Ein schneeweißer Bart und ganz dünne, fast ätherische Haare von der gleichen silbrigen Farbe bedeckten malerisch seine Brust und die Falten seiner schwarzen Kutte, und reichten bis zu dem Stricke herab, der sein ärmliches Mönchsgewand umgürtete. Am meisten jedoch wunderte ich mich darüber, aus seinem Munde Gedanken und Worte über die Kunst zu vernehmen, die ich sicherlich noch lange in meiner Seele bewahren werde. Und ich wünschte aufrichtig, daß ein jeder meiner Kollegen ein Gleiches tue.

„Ich habe auf dich gewartet, mein Sohn,“ sagte er, während er mich segnete; „dir steht ein Weg bevor, den du von nun an dein ganzes Leben hindurch beschreiten wirst. Dein Weg ist rein, irre nicht von ihm ab. Du hast Talent, Talent aber ist die kostbarste Gabe Gottes. Richte es also nicht zugrunde. Erforsche, studiere alles was du siehst! Mache alles deinem Pinsel dienstbar! Doch strebe stets danach, in jedem Ding die innere Idee zu entdecken, und vor allem das tiefe Geheimnis der Schöpfung zu ergründen. Selig ist der Auserwählte, der es enthüllt hat. Für ihn gibt’s in der Natur kein gemeines Motiv. Im Geringen und Kleinen bleibt der wahrhaft schöpferische Künstler ebenso erhaben wie im Großen. Das Verächtliche wirkt nicht mehr verächtlich, weil es von der herrlichen Seele des Schöpfers durchleuchtet wird und einen hohen Ausdruck erhält, indem es durch das reinigende Feuer seines Geistes hindurchgeht. Die Kunst läßt den Menschen das zukünftige himmlische Paradies ahnen; schon aus diesem Grunde steht sie höher als alles andere. Und wie die feierliche Ruhe jede weltliche Erregung, wie das Schaffen die Zerstörung, wie der Engel — bloß durch die reine Unschuld seiner lichten Seele — all die unzählbaren Kräfte und stolzen Leidenschaften des Satans übertrifft, so steht erhaben über allem, was es auf der Welt gibt, das hohe Werk der Kunst! Ihr sollst du alles zum Opfer bringen, sie mußt du lieben mit dem ganzen Feuer deiner Seele, nicht mit der Inbrunst, die die irdische Wollust entfacht, sondern mit einer stillen himmlischen Begeisterung; ohne sie ist der Mensch nicht imstande, sich über die Erde zu erheben und die hohe wunderbare Harmonie zu erzeugen, die den Frieden in unser Herz gießt. Denn um die ganze Welt zu dieser Besänftigung und Versöhnung zu bringen, steigt ja ein edles Kunstwerk zu uns vom Himmel herab. Daher erregt es nie Unfrieden und Empörung in der Seele, sondern strebt ewig, gleich einem wundersam klingenden Gebet, zu Gott empor. Freilich gibt es Augenblicke, finstere Augenblicke ...“ Er hielt inne und ich sah, wie sich plötzlich sein klares Antlitz verdüsterte, als hätte eine Wolke es beschattet. „Ich hatte ein Erlebnis ...“ fuhr er fort, „bis auf den heutigen Tag ist mir nicht klar, was jene rätselhafte Gestalt bedeutete, deren Porträt ich damals gemalt habe. Es war wie eine teuflische Erscheinung. Ich weiß, die Welt leugnet die Existenz des Teufels, und daher will auch ich nicht über ihn sprechen. Ich will nur sagen, daß ich jenen Mann nur mit einem heftigen Widerwillen gemalt habe. Ich arbeitete ohne jede Freude und Liebe an meinem Werk. Ich mußte mich mit Gewalt zur Arbeit zwingen. Ich suchte mein inneres Gefühl zu betäuben und der Natur treu zu bleiben. Das war kein Kunstwerk, das ich schuf, und daher sind auch die Empfindungen, die sich beim Anblick dieses Bildes aller Menschen bemächtigen, wild und rebellisch; es sind Gefühle der Unruhe, die es erzeugt, und keine Offenbarungen hoher Kunst, weil der Künstler auch in der Wiedergabe der Leidenschaft die edle Ruhe bewahrt. Ich habe gehört, daß dieses Porträt von Hand zu Hand geht und überall quälende, peinigende Eindrücke erregt, daß es im Künstler Gefühle des Neides, des dumpfen Hasses gegen seine Genossen und den bösen Trieb zur Verfolgung und Unterdrückung entfache. Möge der Allerhöchste dich vor solchen Leidenschaften bewahren! Es gibt nichts Entsetzlicheres als sie. Es ist besser, alle Leiden eines Gehetzten und Verfolgten auf sich zu nehmen, als einem andern auch nur das geringste Unrecht zuzufügen. Rette die Reinheit deiner Seele! Wem ein Talent geschenkt ward, dessen Seele muß reiner und edler sein, denn die der andern. Jenen wird vieles verziehen werden, ihm aber nichts. Den, der sein Haus in einem festlichen Gewande verläßt, braucht nur ein vorüberfahrender Wagen ein wenig mit Kot zu bespritzen, und schon umringen ihn hunderte von Leuten, zeigen mit den Fingern auf ihn und spotten über seine Nachlässigkeit, während ein anderer von unten bis oben beschmutzt sein kann, ohne daß es die Menge bemerkt; er trägt einen gewöhnlichen Alltagsrock, und da fällt es eben nicht weiter auf.“

Nach diesen Worten segnete er und umarmte er mich. Niemals in meinem Leben fühlte ich mich so erhoben wie an diesem Tage. Mit tiefer Ehrfurcht und einem Gefühle seltener Bewunderung, das mehr war, als einfache Kindesliebe, schmiegte ich mich an seinen Busen und küßte seine herabhängenden, silberweißen Haare.

Eine Träne glänzte in seinen Augen. „Erfülle mir noch eine Bitte, lieber Sohn,“ sagte er beim Abschied zu mir. „Vielleicht gelingt es dir einmal, das Porträt zu entdecken, von dem ich dir erzählt habe. Du wirst es sofort an den ungewöhnlichen Augen und an ihrem unnatürlichen Ausdruck erkennen. Solltest du es finden, so gelobe mir, es zu vernichten.“

Sie können selbst beurteilen, ob es mir nach alledem noch möglich war, ihm dieses heilige Versprechen zu verweigern. Ich schwur ihm hoch und heilig, seine Bitte zu erfüllen. Fünfzehn Jahre lang vermochte ich nicht, irgend etwas zu entdecken, was der Beschreibung meines Vaters auch nur im geringsten entsprach, als mir plötzlich bei dieser Auktion ....“

Der Künstler vollendete den Satz nicht; er richtete sein Auge auf die Wand, um das Porträt noch einmal zu prüfen, und alle, die ihm mit Spannung zugehört hatten, taten instinktiv dasselbe, wie er; aller Augen suchten das geheimnisvolle Porträt. Aber zum allgemeinen Erstaunen war es plötzlich von der Wand verschwunden. Ein leises Gemurmel und Geflüster durchlief die Menge, doch plötzlich eilte wie ein Lauffeuer das Wort: Gestohlen! durch den Saal. Offenbar war es jemand gelungen, während die Zuhörer gespannt auf den Erzähler lauschten, das Bild zu entwenden, und noch lange nachher blieben die Zuhörer im Zweifel, ob sie diese merkwürdigen Augen wirklich gesehen hatten, oder ob es nur ein Traum gewesen war: ein Traum, der ihre von der Betrachtung der alten Gemälde ermüdeten Augen getäuscht hatte, um gleich darauf für immer zu verschwinden.

Anhang zum zweiten Teil

Varianten zum zweiten Teil der „Toten Seelen“.

Der zweite Band der „Toten Seelen“ wurde im Jahre 1840 begonnen, allein das Werk blieb Fragment. Von der ursprünglichen Fassung dieses zweiten Teiles hat sich nur ein einziges Heft mit dem ersten Entwurfe eines Kapitels erhalten. 1842 arbeitete Gogol nach seinen ersten Aufzeichnungen einen neuen Entwurf aus und schrieb ihn sauber ab. Es ist jedoch nicht bekannt, aus wieviel Kapiteln er bestand. Von dieser Fassung haben sich vier Hefte erhalten. Noch im selben Jahre 1842 beginnt Gogol den ins Reine geschriebenen Text aufs neue umzuarbeiten und entwirft in diesen Heften: „ein Chaos, aus dem der Kosmos der ‚Toten Seelen‘ hervorgehen soll“. Dies ist der Text, den wir unserer Ausgabe des zweiten Bandes zugrunde gelegt haben. Der vollständige Text dieser Fassung ist nicht auf uns gekommen, er wurde Juni und Juli 1845 vom Autor verbrannt. Wir führen in diesem Anhang die wichtigsten Varianten der ursprünglichen Fassung an. Sie bilden eine wichtige Ergänzung zum vorliegenden Text und sind geeignet, dem Leser einen tieferen Einblick in die Idee und den Grundplan des ganzen Werkes, vorzüglich aber des unvollendeten zweiten Teiles zu vermitteln.

Der Herausgeber.


1. Wir haben unserem Text auch die letzten Verbesserungen und Ergänzungen mit eingefügt, die zum Teil über den Zeilen, zum Teil auf dem linken Rande der Seite nachgetragen waren. Das folgende Stück ist mehrfach verändert und umgestaltet worden. Der ursprüngliche Text hatte nach seiner ersten Umarbeitung folgende Fassung erhalten:

Ob solche Charaktere geboren werden — oder ob sie allmählich dazu werden, was sie sind — diese Frage läßt sich nicht beantworten. Wir wollen daher lieber zuerst die Geschichte seiner Kindheit und seiner Erziehung erzählen — und den Leser selbst urteilen lassen. Der Direktor der Schule, in welcher Tentennikow erzogen wurde, war ein ganz außerordentlicher Mann: Alexander Petrowitsch besaß die Gabe, das Wesen eines Menschen durch eine Art Instinkt zu erraten. Es gab kein Kind, das, wenn es einen Streich begangen hatte, nicht selbst zu ihm ging, um ihm alles zu beichten. Aber mehr noch. Wenn der kleine Wildfang ihn verließ, dann ließ er nicht etwa die Nase hängen, sondern er ging erhobenen Hauptes von ihm hinaus, mit dem festen Entschluß, wieder gut zu machen, was er verbrochen hatte. In den Vorwürfen, die Alexander Petrowitsch seinen Schülern machte, lag etwas Ermutigendes und Kräftigendes: nach ihm war der Ehrgeiz die eigentliche Triebfeder, die die menschlichen Fähigkeiten zur Entwickelung und zur Reife bringt, und daher war er vor allem darauf bedacht, diesen Trieb zu erwecken. Alexander Petrowitsch sprach nie vom Betragen der Kinder. Statt dessen pflegte er zu sagen: „Ich verlange Verstand und nichts anderes von meinen Schülern. Wer darnach strebt, seinen Verstand auszubilden, der denkt nicht an dumme Streiche; diese verschwinden dann ganz von selbst.“ Man warf ihm vor, er ließe den Begabten gar zu viel Freiheit und erlaube ihnen, sich über die weniger Begabten lustig zu machen und sie sogar zu kränken. Hierauf pflegte er zu entgegnen: „Was soll ich machen? Ich habe nun einmal eine Vorliebe für die Klugen und ich will, daß alle es sehen sollen.“ Er hielt es auch für notwendig, vor allem ....

2. In der Gesamtausgabe der Werke Gogols, die 1867 unter der Redaktion von Th. W. Tschishow erschienen ist, hat diese Stelle folgenden Wortlaut: „Dieser wunderbare Lehrer machte einen tiefen Eindruck auf den Knaben. Andrei Iwanowitschs feuriges und von Ehrgeiz erfülltes Herz pochte noch lange bei dem Gedanken, daß er zu den Auserwählten gehören werde, die den zweiten Lehrgang durchmachen durften. Und in der Tat mit sechzehn Jahren hatte Tentennikow seine Genossen so weit überholt, daß er als einer der Tüchtigsten in die oberste Klasse versetzt wurde. Er selbst wollte kaum an dies große Glück glauben.“

3. Variante der andern Fassung.

Als er klein war, war er ein gescheiter und begabter Knabe gewesen, bald lebhaft und ausgelassen, bald träumerisch und nachdenklich. War es ein glücklicher oder unglücklicher Zufall — genug er kam in eine Schule, deren Direktor trotz einiger Schwächen und Eigenheiten, ein in seiner Art ungewöhnlicher Mensch war. Alexander Petrowitsch besaß die Gabe, das Wesen und die Eigenart russischer Charaktere richtig herauszufühlen und zu erkennen; und er wußte, welche Sprache man mit ihnen sprechen muß. Nie ließ ein Kind die Nase hängen, wenn es von ihm fortging; im Gegenteil, selbst wenn es einen strengen Verweis erhalten hatte, fühlte es sich gestärkt und ermutigt und von dem glühenden Wunsche beseelt, seinen Fehler oder sein Vergehen wieder gut zu machen. Die Schar der Zöglinge dieses Mannes war äußerlich so lebhaft, unartig und mutwillig, sodaß man sie für ein ungezügeltes Korps von Freischärlern hätte halten können; aber das wäre eine Täuschung gewesen; die Macht eines Menschen hielt dieses ganze Korps zusammen. Es gab keinen Schelm oder Wildfang, der nicht selbst zum Direktor gekommen wäre, um ihm all seine Streiche und Untaten zu beichten. Die feinsten Regungen ihrer Seele waren ihm bekannt und vertraut. Sein Tun und Lassen war in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Er erklärte, man müsse im Menschen vor allem das Ehrgefühl wecken — er nannte den Ehrgeiz die Kraft, die den Menschen vorwärtstreibt —, ohne diesen Trieb zu entbinden, sei es unmöglich, einen Menschen zur Tätigkeit zu spornen. Manche Unarten und Streiche ließ er den Kindern hingehen, und machte gar nicht den Versuch, sie zu unterdrücken: in diesem Überdenstrangschlagen der Kinder sah er den Beginn der Entwickelung ihrer seelischen Regungen. Er bedurfte dessen, um zu erforschen, was im Kinde verborgen lag. So beobachtet ein kluger Arzt ruhig die vorübergehenden Anfälle des Kranken oder einen Ausschlag, der sich plötzlich auf der Haut zeigt, und er bekämpft sie nicht, sondern untersucht und betrachtet sie aufmerksam, um um so sicherer zu erkennen, was in des Menschen Innern vorgeht.

Die Zahl seiner Lehrer war nicht sehr groß: in den meisten Fächern unterrichtete er selbst, und man muß gestehen, er verstand es, ohne Pedanterie und weitläufige Terminologie, ohne jene großartigen Anschauungen und Perspektiven, mit denen junge Professoren viel Staat zu machen pflegen, das eigentliche Wesen, die Seele einer Wissenschaft in wenigen Worten wiederzugeben, so daß auch die ungereiften Geister es sofort begriffen, warum sie dieses Wissen nötig hatten. Er behauptete, das was der Mensch am meisten brauche, sei die Wissenschaft des Lebens; wenn er sich erst diese angeeignet habe, dann werde er schon selbst begreifen und einsehen, womit er sich in erster Linie beschäftigen müsse.

Diese Wissenschaft hatte er zum Gegenstand eines besonderen Lehrfaches erhoben, an dem nur die Bevorzugtesten teilnehmen durften. Die Unbegabten entließ er schon nach Beendigung der ersten Klasse, worauf sie gleich in den Staatsdienst eintraten. Er war nämlich der Ansicht, daß man sie nicht zuviel quälen und plagen dürfe; es sei schon genug, wenn man geduldige und fleißige Arbeiter aus ihnen mache, die einen gegebenen Auftrag genau und pünktlich zur Ausführung bringen, und sich ohne Hochmut, Überhebung und einen allzu weiten Horizont in ihrer Sphäre bewegen könnten. „Mit den Klugen und Begabten dagegen muß ich mir viel Mühe geben,“ pflegte er oft zu sagen. Und hier, beim Unterricht dieses Gegenstandes wurde Alexander Petrowitsch ein völlig anderer Mensch; er erklärte schon in den allerersten Stunden, bisher habe er von seinen Schülern nichts wie gesunden Menschenverstand gefordert, nun aber werde er von ihnen einen höheren Verstand verlangen — nicht jene Art von Verstand, die dazu gehört, um einen Dummkopf zu hänseln oder lächerlich zu machen, sondern jene, die es über sich zu gewinnen vermag, jegliche Beleidigung zu ertragen, dem Toren zu vergeben und sich stets zu beherrschen. Hier erst verlangte er das von seinen Schülern, was andre schon von Kindern fordern. Das war es, was er eine höhere Art von Verstand nannte: In jeder Lebenslage in Schmerz, Bitternis und Enttäuschung jene hohe Ruhe zu bewahren, — die das dauernde Besitztum jedes Menschen sein sollte — das war es, was er Verstand nannte. Aber Alexander Petrowitsch zeigte bei dieser Gelegenheit auch, daß er die Wissenschaft vom Leben wirklich kannte. Von allen Wissenschaften wählte er nur die aus, welche geeignet waren, aus dem Menschen einen tüchtigen Bürger seines Landes zu machen. Der größte Teil der Vorlesungen bestand darin, daß der Lehrer den Schülern erzählte, was den Menschen in allen Berufsarten und auf allen Stufen des Staatsdienstes und privater Betätigung erwarte. Alle Bitternisse und Enttäuschungen, alle Hindernisse, die sich vor dem Menschen auf seinem Lebenswege erheben, alle Verführungen und Versuchungen, die ihm bevorstehen, führte er ihnen nackt und ungeschminkt vor Augen, und er verheimlichte nichts von ihnen. Nichts war ihm fremd, wie wenn er selbst alle Berufe und Ämter kennen gelernt hätte. Mit einem Wort, die Zukunft, wie er sie den Schülern ausmalte, war keineswegs rosig. Und seltsam! sei es nun, daß der Ehrgeiz in ihnen so stark angeregt war, sei es, daß im Auge dieses merkwürdigen Pädagogen etwas aufblitzte und leuchtete, das dem Jüngling ein beständiges „Vorwärts“ zuzurufen schien — dieses herrliche Wort, welches im russischen Volke solche Wunder wirkt, — genug, die jungen Leute fingen sogleich selbst an, die Schwierigkeiten und Fährnisse aufzusuchen, und dürsteten darnach, sich überall da tätig und wirksam zu zeigen, wo es ein Hindernis zu überwinden, wo es galt, einen hohen Mut und Seelenstärke an den Tag zu legen. Es kam etwas Nüchternes und Vernünftiges in ihr Leben hinein. Alexander Petrowitsch stellte allerhand Versuche und Prüfungen mit ihnen an, und sorgte dafür, daß ihnen bald durch sie selbst, bald seitens ihrer eigenen Kameraden schwere Kränkungen widerfuhren; als sie es aber merkten, wurden sie noch vorsichtiger. Der Erfolg dieses Lehrganges war nicht sehr bedeutend. Die wenigen Jünglinge jedoch, die ihn vollständig absolvierten, waren abgehärtete Männer geworden, die gewissermaßen im Pulverdampf gestanden hatten. Im Dienste wußten sie sich auf dem exponiertesten Posten zu halten, während viele, die weit klüger waren, als sie, es nicht lange aushielten, wegen kleiner persönlicher Unannehmlichkeiten den Dienst quittierten oder, ahnungslos wie sie waren, in die Hände von Gaunern und Erpressern gerieten. Dagegen verharrten die Zöglinge des Alexander Petrowitsch nicht nur fest auf ihren Posten, sondern verstanden es auch, gereift durch Menschen- und Seelenkenntnis, einen hohen sittlichen Einfluß noch auf die schlechten und unehrlichen Menschen auszuüben.

4. In dem von Tschishow herausgegebenen Text der „Toten Seelen“ findet sich folgende Variante dieser Stelle:

„An die Stelle Alexander Petrowitschs trat ein gewisser Fjodor Iwanowitsch, ein gutmütiger und eifriger Mann, der jedoch eine ganz andre Ansicht vertrat als jener. In dem freien Sichgehenlassen der Kinder der oberen Klasse witterte er etwas wie Unerzogenheit und Zügellosigkeit. Daher ging er sogleich daran, allerlei äußere Vorschriften und Regeln aufzustellen, er verlangte, daß die jungen Leute während der Stunde die äußerste Stille bewahren und niemals anders als paarweise spazieren gehen sollten; ja er wollte sogar die Distanz zwischen zwei Paaren mit dem Metermaße abmessen. Die Schüler mußten, des schöneren Anblicks wegen, nach der Größe und nicht nach ihren Fähigkeiten auf den Schulbänken Platz nehmen, so daß die Dummen die fettesten Bissen erhielten und — die Klugen sich mit den Knochen begnügen mußten. Dies erregte Unzufriedenheit, und alles murrte laut, als der neue Direktor wie mit Absicht im Gegensatz zu seinem Vorgänger erklärte, daß er keinen Wert auf die Begabung und die Fortschritte der Schüler in den Wissenschaften lege, vor allem auf ein gutes Betragen sehe, und daß er einen Knaben, der schlecht lerne, aber ein gutes Betragen habe, noch immer einem gescheiten Schlingel vorziehe. Aber gerade das, wonach er so eifrig strebte, sollte Fjodor Iwanowitsch nicht erreichen.“

5. Variante der andern Fassung.

Unterdessen aber wartete seiner ein andres Schauspiel. Das ganze Gut hatte von der Ankunft erfahren und sich vor der Freitreppe des herrschaftlichen Hauses versammelt. Bauernkittel, Bärte von jeder nur möglichen Form: spatenförmige, schaufelförmige, keilförmige, rote, blonde, silberweiße ... bedeckten den Platz. Die Bauern schrieen aus voller Kehle: „Bist du endlich da Väterchen? Wir haben so lange auf dich gewartet!“ Unter den etwas ferner stehenden kam es zu einer Prügelei, weil jeder sich in die vorderen Reihen durchdrängen wollte. Ein altes, welkes Mütterchen, das wie eine getrocknete Birne aussah, wand sich zwischen den Beinen der andern durch, ging auf ihn zu, schlug die Hände zusammen und quiekte: „Du mein liebes Rotznäschen! Nein, wie mager du bist. Die verfluchten Deutschen haben dich, scheint’s, halbtot gequält!“ — „Fort mit dir, Alte!“ riefen ihr all die Schaufel-, Spaten- und Spitzbärtigen zu: „drängt sich da vor, das krumme Gestell!“ Einer von ihnen ließ hier noch ein Wörtchen folgen, bei dem nur ein russischer Bauer sich das Lachen verbeißen kann. Der Herr aber hielt es nicht aus und lachte laut auf, und doch war er gerührt bis in die tiefste Seele. „So viel Liebe! Und wofür nur?“ dachte er. „Dafür, daß ich sie nie gesehen, mich nie um sie gekümmert habe! Von heut ab aber geb ich euch das Versprechen, eure Mühen und Arbeiten mit euch zu teilen! Ich will all meine Kräfte anspannen und euch helfen, das zu werden, was ihr sein solltet, wozu euch eure eigenste gute und prächtige Natur bestimmt hat, — eure Liebe zu mir soll nicht vergeblich gewesen sein, ich will euer wahrhafter Vater werden!“

Und Tentennikow ging ganz ernstlich an die Verwaltung und Bewirtschaftung des Gutes. Er sah sofort, daß sein Verwalter wirklich ein altes Weib und ein Narr war mit allen schlechten Eigenschaften eines Verwalters; d. h. er führte zwar sorgfältig Rechnung über Hühner und Eier, über Hanf und Leinwand, welche von den Bauernfrauen geliefert wurden, aber er hatte keine Ahnung von der Getreideernte und Aussaat, und zu alledem war er sehr argwöhnisch und fürchtete sich vor jedem Bauern, weil er glaubte, er stelle ihm nach dem Leben. Tentennikow jagte den dummen Verwalter davon und nahm sich einen andern, einen energischen, forschen Mann; er ging über die nebensächlichen Dinge hinweg und richtete sein Augenmerk auf das Wesentliche, er setzte den Erbzins herab, verringerte die Fronarbeit, ließ den Bauern mehr Zeit, für sich selbst zu arbeiten, und glaubte, nun würde alles ganz vortrefflich weitergehen. Er interessierte sich für alles, erschien selbst auf den Feldern, auf der Tenne, auf der Korndarre, in den Mühlen, am Landungsplatz und war beim Laden und bei der Abfertigung der Barken und Kähne zugegen.

„Ja, ja, der ist schnellfüßig!“ sagten die Bauern und kratzten sich hinter den Ohren, denn sie waren bei dem langen Weiberregiment des früheren Verwalters allesamt in Trägheit und Müßiggang verfallen. Aber das dauerte nicht lange.

6. Variante der andern Fassung.

Bisweilen sieht wohl ein Mensch etwas Ähnliches im Traume und dann träumt er sein ganzes Leben lang davon, (die Wirklichkeit versinkt ihm für alle Zeiten) und er ist zu nichts mehr zu brauchen. Ihr Name war Ulinka. Sie hatte eine merkwürdige Erziehung genossen. Sie war von einer englischen Gouvernante erzogen worden, die kein Wort Russisch verstand. Ihre Mutter war schon früh gestorben, und ihr Vater hatte keine Zeit, sich viel um sie zu kümmern. Übrigens konnte es bei seiner unsinnigen Liebe zu seiner Tochter nicht anders kommen, als daß er sie verwöhnte. Es ist außerordentlich schwer ein Bild von ihr zu geben. Sie hatte etwas Lebendiges wie das Leben selbst. Sie war eigentlich mehr lieblich als schön und gütig als klug; sie war schlanker und ätherischer als ein klassisches Frauenbildnis. Man hätte unmöglich sagen können, welches Land ihr seinen Stempel aufgedrückt habe, denn man hätte nicht so leicht ein ähnliches Profil und ähnliche Gesichtszüge finden können, es sei denn auf antiken Kameen. Da sie in voller Freiheit aufgewachsen war, war alles an ihr eigenartig und urwüchsig. Wenn jemand gesehen hätte, wie ein plötzlicher Zorn strenge Falten in ihre herrliche Stirne grub, und wie sie sich leidenschaftlich mit ihrem Vater stritt, er hätte glauben können, dies sei das launischste Geschöpf von der Welt. Aber sie wurde nur dann zornig, wenn sie davon hörte, daß ein anderer ungerecht oder grausam behandelt worden war. Wie schnell jedoch wäre dieser Zorn verschwunden, wenn sie denselben Menschen, dem sie zürnte, im Unglück gesehen hätte. Wie hätte sie ihm da ihren Geldbeutel zugeworfen, ohne darüber nachzudenken, ob dies klug oder dumm sei, wie hätte sie ihr Kleid in Stücke gerissen, um ihn zu verbinden, wenn er verwundet gewesen wäre.

7. Variante der andern Fassung.

„O nein, Exzellenz,“ fiel hier Tschitschikow ein, indem er sich an Ulinka wandte. „Als Christen müssen wir gerade solche Menschen lieben.“ Und er fuhr gleich darauf mit einem verschmitzten Lächeln zum General gewendet fort: „Kennen Sie vielleicht die Geschichte, Exzellenz: Lieb’ uns so schwarz, wie wir sind, wenn wir weiß und sauber sind, wird uns jeder lieb haben.“

„Nein, ich kenne sie nicht.“

„Oh, das ist eine sehr verzwickte Geschichte,“ sprach Tschitschikow noch immer verschmitzt lächelnd. „Auf dem Gute des Fürsten Guksowski, den Eure Exzellenz sicherlich kennen ...“

„Nein, ich habe nicht das Vergnügen.“

„Lebte einmal ein Verwalter, ein junger Deutscher, Exzellenz. Eines Tages mußte er wegen der Rekrutenaushebung usw. nach der Stadt fahren. Natürlich mußten die Richter tüchtig geschmiert werden. Übrigens gewannen sie ihn gleichfalls lieb und nahmen ihn sehr freundlich auf. Einmal war er bei ihnen zum Mittag eingeladen, und da sagte er denn unter anderem: ‚Nun, meine Herren? Wollen Sie mir nicht auch einmal die Ehre geben und mich auf dem Gute des Fürsten besuchen?‘ ‚Gern‘, sagen sie. ‚Wir kommen‘. Kurze Zeit darauf hatte das Gericht auf einem der Güter des Grafen Trechmetjew eine Untersuchung vorzunehmen. Eure Exzellenz kennen doch wohl den Grafen ...?“

„Nein, ich habe nicht die Ehre.“

„Die Untersuchung selbst fand nun freilich nicht statt, dafür aber kehrten sie im Wirtschaftsgebäude, beim alten gräflichen Ökonomen ein, und da wurden dann drei Tage und drei Nächte lang ununterbrochen Karten gespielt. Die Teemaschine und der Punsch wurden natürlich überhaupt nicht abgetragen. Bald war es dem Alten indessen zu viel, und, um sie los zu werden, sagte er zu ihnen: ‚Warum sucht ihr denn nicht diesen Deutschen, den Verwalter des Fürsten, auf? Er wohnt ja gar nicht weit von hier.‘ — ‚Ei, das ist eine Idee,‘ schreien sie, setzen sich halbbetrunken, unrasiert und verschlafen wie sie sind in ihre Wagen, und fort geht es zu dem Deutschen. — Dieser aber hatte sich gerade verheiratet, Exzellenz: mit einem jungen subtilen Fräulein aus einem Pensionat (Tschitschikow versuchte die Subtilität mimisch auszudrücken). Sie saßen gerade zusammen beim Tee und dachten an nichts Schlimmes — da öffnet sich plötzlich die Tür — und die ganze Gesellschaft stürmt herein.“

„Ich kann mir die Situation denken — die sind mir aber auch gut!“ bemerkte der General.

„Der Verwalter war ganz erschrocken und sagt: ‚Was wünschen Sie?‘

‚He!‘ rufen sie. ‚Bist du so einer?‘ Und bei diesen Worten veränderten sich plötzlich ihre Gesichter und ihre Mienen. ‚Wir kommen in einer offiziellen Angelegenheit. Wieviel Schnaps brennt ihr hier auf dem Gute! Her mit den Kassenbüchern!‘ Der versucht Einwände zu machen. ‚Hollah. Wo sind die Zeugen!‘ Sie lassen ihn packen, schleppen ihn gebunden in die Stadt, und der brave Deutsche muß anderthalb Jahr in der Untersuchungshaft schmachten.“

„Schöne Geschichte!“ sagte der General.

Ulinka schlug vor Schreck die Hände zusammen.

„Seine Frau suchte sich überall für ihn zu verwenden,“ fuhr Tschitschikow fort. „Aber was kann eine junge, unerfahrene Frau ausrichten? Noch gut, daß sich ein paar brave Leute fanden, die ihr den Rat gaben, die Sache auf dem Wege des Vergleichs aus der Welt zu schaffen. So kam er denn schließlich mit zweitausend Rubeln und einem Mittagessen davon. Während dieses Mittagessens nun, als alle bereits ein wenig angeheitert waren, und er gleichfalls, sagen sie plötzlich zu ihm: ‚Schämtest du dich denn gar nicht, uns so zu behandeln? Du wolltest uns durchaus geschniegelt und gebügelt, rasiert und im Frack vor dir sehen: Nein Verehrtester, lieb uns so schwarz wie wir sind, wenn wir weiß und sauber sind, wird uns jeder lieb haben.‘“

Der General lachte laut auf. Ulinka seufzte schmerzlich.

„Ich verstehe nicht, wie Sie lachen können, Papa!“ sagte sie schnell, und edler Zorn verdunkelte ihre herrliche Stirn ... „So eine gemeine Handlung, für die man sie, ich weiß nicht wohin, schicken sollte ...“

„Liebes Kind, ich verteidige sie ja gar nicht,“ sagte der General, „aber was soll ich machen, wenn ich es so lächerlich finde. Wie sagten Sie gleich: Liebe uns so weiß wie ...“

„So schwarz ... Exzellenz,“ verbesserte ihn Tschitschikow.

„Lieb uns so schwarz wie wir sind, wenn wir weiß sind, wird uns jeder lieb haben. Ha, ha, ha, ha ...“ Und der ganze Körper des Generals schüttelte sich vor Lachen. Die Schultern, welche einstmals Achselklappen getragen hatten, bebten, als ob sie auch noch heute mit Achselklappen geschmückt wären.

Tschitschikow lachte gleichfalls kurz auf, stimmte sein Gelächter jedoch aus Achtung vor dem General mehr auf den Laut e ab: „he, he, he, he.“ Und sein Körper begann sich gleichfalls vor Lachen zu schütteln, nur seine Schultern bebten nicht, denn sie trugen keine dicken Achselklappen.

„Dieser unrasierte Gerichtshof mag schön ausgesehen haben!“ rief der General aus und fuhr fort zu lachen.

„Ja, Exzellenz, ein drei Tage langes Wachen ohne Schlaf — — das ist so gut wie gefastet: sie sahen sehr mitgenommen aus, sehr mitgenommen!“ sagte Tschitschikow und fuhr fort, zu lachen.

8. Variante der andern Fassung.

„Ich errichte auch keine besonderen Gebäude zu diesem Zwecke. Ich besitze keine großartigen Prachtbauten mit Säulen und Giebeln, ich verschreibe mir keine Meister und Handwerker aus dem Auslande, vor allem aber würde ich nie einen Bauern seiner natürlichen Tätigkeit: der Landwirtschaft entziehen; in meinen Fabriken wird nur während einer Hungersnot gearbeitet, und auch dann beschäftige ich nur zugewanderte Arbeiter, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Ich habe eine ganze Menge solcher Fabriken, Verehrtester. Jedermann sollte sich erst einmal genauer auf seinem Gute umsehen, dann würde er bemerken, daß sich jeder Lappen noch zu was verwenden läßt, und daß man aus jedem Plunder noch einen Gewinn herausschlagen kann, so daß man ihn schließlich sogar wegwirft und sagt: „Fort damit! Ich brauche dich nicht!“

„Das ist wirklich erstaunlich!“ sagte Tschitschikow ganz ergriffen. „Im höchsten Grade erstaunlich! Das wunderbarste aber ist, daß jeglicher Plunder noch Gewinn bringen kann!“

„Hm! Das ist es nicht allein!“ Skudronshoglo schloß seine Rede nicht: die Galle hatte sich in ihm angesammelt, und er mußte seinen Zorn an seinen Gutsnachbarn auslassen. „Da ist noch so ein gescheiter Kopf! — Was denken Sie wohl, was der für ein Gebäude errichtet hat. Ein Asyl für Arme; einen steinernen Palast — auf dem Lande! Ein christliches Werk! Wenn der Mensch sich durchaus nützlich machen und hilfsbereit erweisen will, dann mag er doch dem Bauern helfen, seine Schuldigkeit zu tun und ihn nicht daran hindern, seine Pflicht als Christenmensch zu erfüllen. Hilf dem Sohne, seinen kranken Vater pflegen, und laß es nicht zu, daß er sich ihn vom Leibe schafft. Verhilf ihm dazu, daß er seinen Bruder und seinen Nächsten bei sich im Hause aufnehmen kann, gib ihm die Mittel dazu, unterstütze ihn aus allen Kräften, und ziehe dich nicht von ihm zurück, sonst wird er seine christlichen Pflichten vollkommen vergessen. Wohin man blickt, lauter Don Quixotes! Zweihundert Rubel jährlich kommt ein Mensch dem Armenhause zu stehen! Mit diesem Gelde will ich auf meinem Gute ganze zehn Menschen ernähren!“ Skudronshoglo war sehr zornig und spie vor Wut aus.

Tschitschikow interessierte sich nicht für das Armenhaus: er wollte durchaus die Rede darauf bringen, daß jeder Plunder Gewinn bringen kann. Aber Skudronshoglo war sehr zornig, die Galle regte sich lebhaft in ihm, und seine Rede strömte unaufhaltsam fort.

„Und dann gibt es da noch einen andern Don Quixote: einen Don Quixote der Aufklärung! Der baut überall Schulen! In der Tat, gibt es etwas Nützlicheres für den Menschen als die Kenntnis der Sprache und Schrift? Was aber macht er? Jetzt kommen die Bauern aus den Dörfern und klagen mir: ‚Was sind denn das für Zustände, Väterchen! Unsere Söhne sind ganz aufsässig geworden, sie wollen uns gar nicht mehr bei der Arbeit helfen, wollen alle Schreiber werden — man braucht aber doch gar nicht so viele Schreiber — einer ist schon genug!‘ So weit ist es also schon gekommen!“

Tschitschikow interessierte sich auch nicht für die Schulen, jedoch Platonow griff diese Frage auf und bemerkte: „Dabei kann man aber doch nicht stehen bleiben, daß wir jetzt keine Schreiber brauchen. Wir müssen auch an unsere Nachkommen denken.“

„Ach laß doch, Bruder! Laß doch das Klügeln! Was wollt Ihr nur mit Euren Nachkommen! Alle Menschen glauben, sie seien Genies, wie Peter der Große. Achtet doch lieber darauf, was vor Eurer Nase vorgeht, und denkt nicht immer an Eure Nachkommen; sorgt lieber dafür, daß Eure Bauern wohlhabend und reich werden, und daß sie Zeit behalten, auch etwas zu lernen, wenn sie Lust dazu haben; stellt Euch nicht mit dem Stocke in der Hand vor sie hin und schreit sie nicht an: ‚Du mußt in die Schule gehen, ob du willst oder nicht!‘ Weiß der Teufel, womit die Leute heutzutage anfangen! Nein, bitte, hören Sie mal, ich fordere Sie auf, selbst zu urteilen.“ Hier rückte Skudronshoglo näher an Tschitschikow heran und nahm ihn sozusagen gründlich ins Gebet, um ihn recht tief in die Sache einzuweihen, d. h. er packte ihn beim Knopfloch seines Frackes: „Sagen Sie, was kann klarer sein? Die Bauern sind doch dazu da, damit Sie sie in ihrem Beruf und Stand unterstützen und fördern. Worin aber besteht dieser? Was ist denn die Beschäftigung der Bauern? Doch wohl der Ackerbau, die Landwirtschaft? Nun, so sorgen Sie auch dafür, daß er ein tüchtiger Landwirt wird. Das ist doch klar. Nicht? Nein, da finden sich gescheite Köpfe, die erklären: ‚Aus diesem Zustande muß er herausgeführt werden. Sein Leben ist zu primitiv und einfach: er soll auch etwas von dem Luxus kosten.‘ Daß ihr selbst infolge dieses Luxus lauter Waschlappen und keine Menschen mehr seid und, weiß der Teufel, an was für neuen Krankheiten leidet, und daß es bald keinen achtzehnjährigen Bengel mehr geben wird, der nicht schon von allem gekostet hat — der keine Zähne im Munde und keine Haare mehr auf dem Kopfe hat, — daran denkt ihr nicht und wollt auch noch andre Leute anstecken! Gott sei Dank, daß wir wenigstens noch einen gesunden Stand besitzen, der noch nichts von all diesen Finessen weiß! Dafür müßten wir Gott ewig dankbar sein. Jawohl, einen Landwirt achte ich weit höher als einen andern Menschen. Gott gäbe, daß alle Menschen Ackerbau trieben!“

„Sie sind also der Ansicht, es sei am vorteilhaftesten, Landwirt zu werden?“ fragte Tschitschikow.

„Ich meine, es ist vernünftiger und ehrenhafter und nicht vorteilhafter. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot erwerben — das ward uns allen gesagt, und nicht umsonst. Es ist durch eine jahrhundertlange Erfahrung bewiesen, daß die Landwirtschaft die Sitten verbessert und veredelt. Wo der Ackerbau die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens bildet, da herrscht Wohlstand und Überfluß! Da gibt es keine Armut und keinen Luxus, sondern Gesundheit und Zufriedenheit. Es ist dem Menschen gesagt: Erwirb dir dein Brot, arbeite .. da gibt es nichts zu klügeln! Ich sage zum Bauern: ‚Es ist ganz gleich, für wen du dich mühst: für mich, für dich, für deinen Nachbarn ... die Hauptsache ist, daß du arbeitest. Bei der Arbeit bin ich dein erster Gehilfe. Hast du kein Vieh, nun wohl — da ist ein Pferd, eine Kuh, ein Wagen. Ich bin bereit, dir alles zu geben, nur sei fleißig und arbeite! Für mich wäre es der Tod, wenn dein Haushalt in Unordnung geriete und wenn ich Armut und Mißwirtschaft um mich sehe. Ich dulde keinen Müßiggang: ich bin bei dir, damit du arbeitest.‘ Hm. Man glaubt, man könne seine Einkünfte durch Fabriken und industrielle Unternehmungen vermehren! Denken Sie doch lieber erst daran, daß jeder Ihrer Bauern wohlhabend werde, dann werden Sie ganz von selbst reich werden, auch ohne Fabriken und all diese dummen Erfindungen.“ ...

9. Variante der andern Fassung.

„So ein Esel!“ dachte Tschitschikow. „Solch eine Tante würde ich hegen und pflegen, wie eine Amme ihr Kind.“

„Wissen Sie, so eine Unterhaltung ist doch recht trocken!“ sagte Chlobujew. „He, Kirjuschka! Bring schnell noch eine Flasche Champagner.“

„Nein, nein, ich kann nicht mehr trinken,“ fiel hier Platonow ein.

„Ich auch nicht,“ sagte Tschitschikow, und beide weigerten sich kategorisch, weiter zu trinken.

„Nun, so versprechen Sie mir wenigstens, daß Sie mich in der Stadt besuchen werden. Am 8. Juni gebe ich ein kleines Diner für die Honoratioren der Stadt.“

„Wie!“ rief Platonow aus. „Jetzt, wo Sie so gut wie ruiniert sind, geben Sie Diners?“

„Was soll ich machen? Ich kann nicht anders, das ist halt meine Pflicht,“ versetzte Chlobujew. „Sie haben mich doch auch eingeladen.“

10. Vor diesem Worte sind in der vorliegenden Fassung zwei Seiten herausgeschnitten. Wir führen hier die entsprechende Stelle aus der andern Fassung an:

„Die Sache ist eigentlich ein großer Unsinn. Er hat nicht genug Land, und da hat er sich eben ein fremdes Stück Brachland angeeignet, d. h. er rechnete darauf, daß niemand es braucht, und daß die Besitzer nicht drauf achten werden ... bei uns aber versammeln sich schon seit vielen Jahren die Bauern gerade an dieser Stelle, um dort Johannisnacht zu feiern. Daher bin ich noch eher bereit, ihm ein anderes und sogar besseres Stück Land abzutreten, als dieses. Jede alte Sitte ist mir heilig.“

„Sie würden ihm also unter Umständen ein anderes Stück Land abgeben?“

„Ja, d. h. wenn er nicht so mit mir verfahren wäre, aber ich glaube, er will die Gerichte anrufen. Meinetwegen, wir wollen doch sehen, wer den Prozeß gewinnt. Nach dem Plan ist es freilich nicht vollkommen klar, aber ich habe genug Zeugen, lauter alte Leute, die noch am Leben sind, und sich sehr gut erinnern, wem das Land gehört hat.“

„Hm!“ dachte Tschitschikow. „Wie ich sehe, seid ihr alle beide raffinierte Kerls.“ Und er fügte laut hinzu: „Mir scheint, diese Sache läßt sich friedlich beilegen. Alles hängt davon ab, ob sich jemand findet, der zwischen Ihnen vermitteln kann .. Schriftl....“

Damit schließt die 96. Seite der Handschrift; die folgenden zwei Seiten sind verloren gegangen. In der ersten Ausgabe des zweiten Bandes der „Toten Seelen“ hat S. P. Schewyrew folgende Bemerkung zu dieser Stelle gemacht: Hier fehlt eine größere Partie, in der wahrscheinlich erzählt wird, wie Tschitschikow zum Gutsbesitzer Lenitzyn fährt. Der Her.

„... daß es auch für Sie selbst sehr vorteilhaft wäre z. B. alle toten Seelen auf meinen Namen zu übertragen, d. h. ich meine alle die toten Bauern auf Ihrem Gute, die noch in den Revisionslisten stehen. Dann könnte ich auch die Steuern für sie bezahlen. Um aber kein Ärgernis zu geben, könnten wir pro forma einen Kaufkontrakt aufsetzen, ganz so, als ob sie noch am Leben wären.“

„Da haben wir’s!“ dachte Lenitzyn: „das ist aber eine höchst merkwürdige Geschichte.“ Er schob sogar seinen Stuhl ein wenig zurück, denn er befand sich in der höchsten Verlegenheit.

„Ich zweifele nicht im mindesten daran, daß Sie hierüber mit mir einverstanden sein werden,“ fuhr Tschitschikow fort, „denn das ist eine ganz ähnliche Sache, wie die, welche wir soeben besprochen haben. Sie bleibt natürlich ganz unter uns — wir sind doch gesetzte und vernünftige Leute, und es kann daher gar kein Ärgernis geben.“

Was war zu machen? Lenitzyn befand sich in einer äußerst peinlichen Situation. Er hatte durchaus nicht voraussehen können, daß die von ihm noch vor wenigen Minuten geäußerte Ansicht so schnell in die Tat umgesetzt werden könnte. Dieser Vorschlag kam ihm vollkommen unerwartet. Selbstverständlich konnte für niemand etwas Schädliches daraus entstehen: jeder Gutsbesitzer hätte, wenn es darauf angekommen wäre, ebensogut Hypotheken auf diese Seelen aufgenommen, wie auf die lebendigen, dem Staat konnten also keinerlei Verluste daraus entstehen; der ganze Unterschied bestand bloß darin, daß sie jetzt in einer Hand vereinigt sein würden, während sie sich im andern Falle in vielen befunden hätten. Trotzdem aber hatte er seine Bedenken. Er war ein Mensch, der sich streng an die Gesetze hielt und ein Geschäftsmann im guten Sinne war. Er hätte sich nie bestechen lassen und für Geld eine schlechte Sache vertreten. Diesmal aber war er unschlüssig, denn er wußte nicht recht, wie er von diesem Fall denken, wie er ihn bezeichnen sollte: handelte es sich hier um ein sauberes oder um ein unsauberes Geschäft? Hätte sich ein andrer mit einem solchen Vorschlag an ihn gewandt, dann hätte er sagen können: „Ach Unsinn, das sind Torheiten! Ich will doch nicht mehr Puppen spielen und alberne Streiche machen!“ Aber der Gast gefiel ihm so sehr, es bestanden zwischen ihnen so viele Berührungspunkte in bezug auf ihre Anschauungen über die Fortschritte der Aufklärung und der Wissenschaften, wie konnte er ihm da etwas abschlagen? Lenitzyn befand sich in einer überaus verzwickten Lage.

In diesem Augenblick trat die Hausfrau, die junge Gattin Lenitzyns ins Zimmer, wie um ihn aus dieser verzweifelten Situation zu erlösen. Sie war bleich und mager wie alle Petersburger Damen und ebenso geschmackvoll gekleidet wie diese. Ihr folgte die Amme auf dem Fuße, die ein Kind auf den Armen trug, die jüngste Frucht der jungen Ehe. Tschitschikow ging natürlich sofort auf die Dame zu und begrüßte sie aufs liebenswürdigste. Aber ganz abgesehen hiervon, schon die Geste mit der er ihr entgegentrat und dabei den Kopf anmutig auf die Seite neigte, genügte vollkommen, um sie ganz für sich einzunehmen. Dann eilte er auf das Kind zu, welches zwar im ersten Augenblick laut zu schreien begann, sich aber sehr schnell wieder beruhigte, als Tschitschikow ein paar freundliche Worte sagte, ihm A—u, A—u zurief, mit den Fingern schnippte und ihm seine Uhrkette mit dem Carneolpetschaft zeigte. Schließlich wurde es so zutraulich, daß es sich von Tschitschikow ruhig auf die Hände nehmen und hoch in die Luft heben ließ, ja, es begann sogar fröhlich zu lachen, was auch das Elternpaar höchlich erfreute.

Aber war es nun das Vergnügen, welches das Kindchen verspürte, oder etwas andres, genug es passierte ihm plötzlich etwas sehr Unangenehmes. Frau Lenitzyn schrie laut auf: „Ach Gott, ach Gott, er wird Ihnen noch den ganzen Frack verderben!“

Tschitschikow warf einen Blick auf den Ärmel seines neuen Frackes und war aufs höchste erschrocken. Der ganze Ärmel war hin: „Wenn dich doch der Teufel holte, verdammter Schelm!“ murmelte er ärgerlich vor sich in.

Der Hausherr, die Hausfrau und die Amme eilten schleunigst davon, um kölnisches Wasser zu holen; hierauf liefen sie von allen Seiten auf ihn zu und begannen seinen Frack zu waschen und zu scheuern.

„Das macht nichts, das macht wirklich nichts,“ sagte Tschitschikow: „Was kann einem denn ein unschuldiges Kind antun?“ Zugleich aber dachte er sich: „Und wie geschickt er das gemacht hat, der kleine Teufel! Ein goldenes Alter!“ bemerkte er, als er endlich ganz trocken war, und ein freundliches Lächeln erhellte aufs neue seine Züge.

„Tatsächlich,“ versetzte der Hausherr, der sich gleichfalls mit einem freundlichen Lächeln an Tschitschikow wandte, „was gibt es Schöneres als das Kindesalter. Man hat keine Sorgen, man denkt nicht an die Zukunft ...“

„Ja, mit einem Kinde würde ich sofort tauschen,“ entgegnete Tschitschikow.

„Sofort!“ sagte Lenitzyn.

Ich glaube indes, daß beide schwindelten. Wenn man ihnen im Ernst einen solchen Tausch angeboten hätte, sie wären sofort zu Kreuze gekrochen. Es ist doch auch wirklich kein Vergnügen, bei der Amme auf dem Arme zu sitzen und fremde Fräcke zu ruinieren.

Die junge Frau, die Amme und das Kind hatten sich entfernt, denn auch der Kleine bedurfte einer gründlichen Reinigung: er hatte nicht nur Tschitschikow beglückt, sondern auch sich selbst nicht ganz vergessen.

Übrigens nahm dieser scheinbar so unwesentliche Vorfall den Hausherrn noch mehr für Tschitschikow ein. Und in der Tat, wie konnte er einem so angenehmen und höflichen Gast etwas abschlagen, einem Gaste, der so freundlich gegen seinen Kleinen gewesen war, und seine Güte noch dazu so großmütig mit seinem Frack bezahlen mußte. Lenitzyn dachte nämlich: „Warum sollte ich seine Bitte eigentlich nicht erfüllen, wenn er es doch so sehr wünscht ...“

11. Variante der andern Fassung.

Um dieselbe Zeit lag Tschitschikow in seinem persischen mit Gold bordierten Schlafrock auf dem Sofa und verhandelte mit einem vorüberreisenden Schmuggler jüdischer Abstammung, der das Russische mit einem deutschen Akzent sprach; vor ihnen lagen ein Stück feinste holländische Leinwand, die Tschitschikow gekauft hatte, um sich neue Hemden machen zu lassen, und zwei Pappschachteln mit Seife von allererster Qualität (es war dieselbe Seife, die er sich ehemals während seines Dienstes im Raziwillschen Zollamt zu halten pflegte, und die tatsächlich die Kraft besaß, den Wangen eine geradezu unerhörte Reinheit und Zartheit zu verleihen). Während nun Tschitschikow mit Kennerblick all diese für jeden gebildeten Menschen so überaus notwendigen Gegenstände einkaufte, hörte man draußen das Gerassel eines heranrollenden Wagens. Die Fensterscheiben erklirrten, und gleich darauf betrat Seine Exzellenz Alexei Iwanowitsch Lenitzyn das Zimmer.

„Exzellenz, was sagen Sie zu dieser Leinwand und zu dieser Seife, und wie gefällt Ihnen dies Ding hier, das ich mir gestern angeschafft habe?“ Mit diesen Worten setzte Tschitschikow eine mit Gold und Glasperlen verzierte Kappe auf und präsentierte sich seinem Gast mit einem Anstand und einer Würde, die der des persischen Schahs nicht viel nachgegeben hätte.

Aber Seine Exzellenz antwortete nichts und sagte nur:

„Ich muß Sie dringend in einer Angelegenheit sprechen.“ Man sah es ihm an, daß er sehr erregt war. Der ehrenwerte Kaufmann mit dem deutschen Akzent wurde sofort hinausbefördert, und beide Freunde blieben allein.

„Wissen Sie, was passiert ist? Eine schöne Geschichte! Es hat sich noch ein zweites Testament gefunden, das die alte Dame vor fünf Jahren gemacht hat. Darin verschreibt sie die Hälfte ihrer Güter dem Kloster und die andre Hälfte ihren beiden Adoptivtöchtern. Das ist alles.“

Tschitschikow war ganz erschrocken.

„Aber dies Testament gilt doch nicht, es hat doch nichts zu bedeuten; es hat durch das zweite seine Rechtskraft verloren!“

„Es steht aber im zweiten Testament nichts davon drin, daß das erste dadurch annulliert wird.“

„Das versteht sich ganz von selbst: das letzte stößt alle vorhergehenden um. Das bedeutet nichts! Das erste Testament hat keine Gültigkeit. Ich kenne den Willen der Verstorbenen sehr gut. Ich war doch zugegen, als es aufgesetzt wurde. Wer hat es unterschrieben, wer waren die Zeugen?“

„Es ist nach allen Regeln beim Gericht attestiert. Als Zeugen fungierten die Assessoren a. D. Burmilow und Chawanow.“

„Das ist schlimm, sehr schlimm!“ dachte Tschitschikow. „Dieser Chawanow soll ein ehrlicher Mensch sein. Burmilow ist ein alter Tartüffe, der liest Sonntags in der Kirche aus der Bibel vor. — Ach was, Unsinn, Unsinn,“ fuhr er laut fort, denn er fühlte sich wieder mutig und entschlossen. „Das weiß ich besser: ich war zugegen, als die Alte starb. Ich muß das doch besser wissen als andre Leute. Ich bin bereit, die Sache zu beschwören.“

Diese Worte und diese Entschlossenheit beruhigten Lenitzyn ein wenig.

Er war sehr aufgeregt und fragte sich schon, ob Tschitschikow nicht am Ende das Testament gefälscht haben könnte (er hätte es sich freilich nicht einmal vorstellen können, daß die Sache sich so verhalte, wie sie sich in Wahrheit verhielt). Jetzt machte er sich Vorwürfe wegen seines Argwohnes. Tschitschikows Bereitwilligkeit, alles zu beschwören, war ein offenkundiger Beweis, daß er .... Wir wissen freilich nicht, ob Pawel Iwanowitsch wirklich den Mut gehabt hätte, einen Eid darauf abzulegen, jedenfalls aber hatte er den Mut, es zu behaupten.

Tschitschikow ließ sofort den Wagen vorfahren und begab sich zu seinem Rechtsanwalt. Dieser Rechtsanwalt war ein außerordentlich geschickter und erfahrener Mann. Er befand sich schon seit fünfzehn Jahren im Anklagezustand, aber er verstand es, seine Maßregeln so gut zu treffen, daß es unmöglich war, ihn seines Amtes zu entsetzen. Jedermann wußte, daß er es für seine Heldentaten hundertfach verdient hatte, in die Strafkolonien verschickt zu werden. Er wurde der schlimmsten Dinge verdächtigt, aber es wollte nie gelingen, zwingende Beweise gegen ihn aufzubringen. Der Mann war tatsächlich mit einem geheimnisvollen Schimmer umgeben, man hätte ihn sicher für einen Zauberer erklärt, wenn unsere Erzählung in einem unaufgeklärten Zeitalter gespielt hätte.

Der Rechtsanwalt setzte Tschitschikow durch seinen fettigen Schlafrock in Erstaunen, der in einem krassen Gegensatz zu den schönen Mahagonimöbeln, der goldenen, mit einer Glasglocke bedeckten Stutzuhr, dem Armleuchter, der durch die Tüllhülle hindurchschimmerte und zu der ganzen Umgebung stand, denn diese trug den deutlichen Stempel einer weltmännischen europäischen Bildung.

Tschitschikow ließ sich jedoch durch den skeptischen Blick des Rechtsanwalts keineswegs aus der Fassung bringen, sondern klärte ihn über die schwierige Sachlage auf und ließ die verlockende Aussicht auf seinen Dank und seine Erkenntlichkeit für den ihm erteilten Rat und Beistand vor ihm erstehen.

Der Rechtsanwalt spielte dagegen auf die Unzuverlässigkeit aller irdischen Dinge und Güter an und deutete Tschitschikow gegenüber in zarter Weise an, daß eine Taube auf dem Dache wenig gilt, und ein Sperling in der Hand ihm lieber sei.

Was war da zu machen? Man mußte ihm schon den Sperling in die Hand drücken. Die skeptische Kühle unseres Philosophen verschwand sofort, und es stellte sich heraus, daß er der beste Mensch von der Welt und ein äußerst angenehmer Gesellschafter war, der selbst Tschitschikow, was die Schönheit und weltmännische Gewandtheit der Umgangsformen anbelangte, wenig nachgab.

„Machen wir doch lieber nicht so viel Umstände — Sie haben sich wohl das Testament gar nicht ordentlich angesehn; es wird sicher noch irgend eine Bemerkung oder eine Notiz darin stehen. Nehmen Sie es lieber für einige Zeit an sich. Eigentlich ist es ja verboten, solche Objekte mit sich nach Hause zu nehmen, aber wenn man die Beamten ordentlich darum angeht ... Ich für meinen Teil werde meinen ganzen Einfluß aufbieten.“

„Ich verstehe,“ dachte Tschitschikow und versetzte: „In der Tat, ich kann mich nicht mehr genau darauf besinnen, ob es nicht doch eine Notiz enthielt — es ist fast so, als ob ich das Testament gar nicht selbst aufgesetzt hätte.“

„Das Beste ist, Sie sehen selbst nach. Übrigens können Sie ganz ruhig sein,“ fuhr er gutmütig fort. „Machen Sie sich jedenfalls keine Sorgen, selbst wenn es noch schlimmer kommt. Verzweifeln Sie niemals, es gibt keine solche Sache, die sich nicht wieder gut machen ließe. Sehen Sie doch mich an. Ich bin immer ruhig. Was man auch gegen mich unternehmen mag, ich lasse mich nicht in meiner Gemütsruhe stören.“ Und in der Tat, das Gesicht unseres Philosophen ließ nicht die geringste Bewegung erkennen, so daß Tschitschikow lange ...

„Natürlich ist das das wichtigste,“ versetzte er. „Aber Sie werden mir doch zugestehen, daß es Verhältnisse geben kann, Gefahren und Nachstellungen seitens der Feinde, und so verzwickte Lagen, daß man darüber seine Geistesgegenwart verlieren muß.“

„Glauben Sie mir, das wäre kleinmütig,“ entgegnete der Philosoph sehr ruhig und freundlich. „Achten Sie vor allem darauf, daß die Sache auf dem Aktenwege erledigt wird, und daß es keine mündlichen Auseinandersetzungen gibt. Sobald Sie jedoch bemerken, daß es zum Klappen kommt, und daß die Entscheidung herannaht, — dann dürfen Sie sich nicht etwa rechtfertigen oder verteidigen, sondern Sie müssen einfach mit neuen Tatsachen herausrücken.“

„Man muß also ...“

„Die Sache möglichst verwickeln — das ist alles,“ versetzte der Philosoph, „sie mit neuen, nicht zur Sache gehörigen Details komplizieren, die auch noch andre Leute in die Affäre hineinziehen. Man muß die Fäden durcheinander wirren — das ist das ganze Geheimnis. Mögen doch die Petersburger Beamten sehen, wie sie damit fertig werden!“ wiederholte er, indem er Tschitschikow sehr vergnügt ansah, so wie ein Lehrer seinen Schüler, wenn er ihm ein besonders interessantes Kapitel aus der russischen Grammatik erklärt.

„Ja, es ist gut, wenn man solche Details findet, mit denen man die Augen anderer Leute umnebeln kann!“ sagte Tschitschikow, indem er den Philosophen gleichfalls mit Vergnügen betrachtete, wie ein Schüler, der die interessante Stelle aus der Grammatik, die ihm sein Lehrer erklärt, schon begriffen hat.

„Sie werden sich schon finden! Glauben Sie mir, daß Sie sich finden werden: wenn man sich nur häufig genug darin übt, dann wird auch der Kopf allmählig erfinderischer. Vor allem aber bedenken Sie, daß man Ihnen dabei helfen wird. Wenn die Sache recht kompliziert ist, dann finden viele Leute ihren Vorteil dabei: man braucht immer mehr Beamte, und diese wollen ihrerseits immer mehr Gehalt haben. Mit einem Wort, man muß nur recht viele Leute an der Sache interessieren. Es macht nichts, wenn ein paar Unschuldige mit hineingezogen werden: sie müssen sich rechtfertigen, auf die Anklagen antworten, sich loskaufen usw. Da gibt’s eben was zu verdienen. Glauben Sie mir: sowie die Umstände wirklich kritisch werden, muß man zuallererst daran denken, die ganze Affäre recht verwickelt zu machen. Und das läßt sich so gut bewerkstelligen, daß sich bald niemand mehr auskennt. Warum bin ich immer so ruhig? Weil ich genau weiß: wenn meine Sache schief geht, dann ziehe ich alle miteinander in sie hinein: den Gouverneur, den Vizegouverneur, den Polizeimeister, den Kassierer — ich lasse keinen frei ausgehen. Ich kenne ihre Verhältnisse ganz genau; ich weiß, ob einer dem andern zürnt, ob er sich über ihn ärgert und ihm etwas Böses gönnt. Meinetwegen mögen sie sich nachher aus der Affäre ziehen. Unterdessen aber können andere Leute etwas dabei verdienen. Man kann eben nur im trüben Wasser krebsen gehn. Sie warten ja alle zusammen darauf, daß nur ein möglichst großer Wirrwarr entsteht.“ Hier sah der Jurist und Philosoph Tschitschikow wiederum so vergnügt an, wie ein Lehrer seinen Schüler, dem er ein noch weit interessanteres Kapitel aus der russischen Grammatik erklärt.

„Nein, dieser Mann ist tatsächlich ein Weiser,“ dachte Tschitschikow und verabschiedete sich in der besten und vergnügtesten Laune vom Rechtsanwalt.

Er fühlte sich wieder vollständig beruhigt, daher warf er sich mit einer nachlässigen Sicherheit in die weichen Kissen seiner Equipage, befahl Seliphan das Verdeck herabzulassen und setzte sich bequem im Polster zurecht, ganz wie ein Husarenoberst a. D. oder Herr Wyschnepokromow in eigener Person. Als er zum Rechtsanwalt fuhr, hatte er das Verdeck schließen lassen und sogar seine Füße tief in die Lederdecke gehüllt, jetzt dagegen schlug er ein Bein über das andre, und wandte allen Vorübergehenden sein lächelndes Gesicht zu, das unter dem keck auf das Ohr gerückten neuen Seidenhut nur so vor Heiterkeit strahlte. Seliphan erhielt den Befehl, die Richtung nach dem Tuchmarkt zu nehmen. Die einheimischen und zugereisten Kaufleute standen an ihren Ladentüren und grüßten ihn ehrerbietig; Tschitschikow erwiderte seinerseits ihren Gruß nicht ohne ein gewisses Selbstbewußtsein. Viele von ihnen kannte er schon; andre waren zwar erst vor kurzem angekommen, doch waren auch sie ganz entzückt von dem gewandten und sicheren Wesen und den feinen Manieren des fremden Herrn, und bewillkommneten ihn daher wie einen alten Bekannten. In der Stadt Tfuslawlew gab es fast immer eine Messe; war der Pferde- und Getreidemarkt zu Ende, dann kamen die Luxuswaren für die vornehmeren und gebildeteren Herrschaften an die Reihe. Die Kaufleute, die per Axe angereist kamen, rechneten damit, per Schlitten nach Hause zurückzukehren.

„Bitte hierher, treten Sie gefälligst ein,“ rief ihm ein Kaufmann von der Ladentüre aus entgegen. Er trug einen deutschen Rock, der in Moskau verfertigt war, und verbeugte sich mit selbstgefälliger Höflichkeit. Sein Haupt war entblößt, und er schwenkte mit der einen Hand seinen Hut, während er mit der andern leicht über sein rundes Kinn strich. Hierbei suchte er seinem Gesicht einen ausnehmend feinen und gebildeten Ausdruck zu geben.

Tschitschikow trat in den Laden: „Lassen Sie sehen, was Sie für Stoffe haben, Verehrtester.“

Der vornehme Kaufmann hob sofort das Brett, das die zwei Ladentische verband, in die Höhe, schaffte sich so einen Durchgang und stand sogleich dienstbereit da, indem er seinen Waren den Rücken und dem Käufer sein Gesicht zuwendete. In dieser Stellung begrüßte er entblößten Hauptes und den Hut respektvoll lüftend, noch einmal seinen Gast. Dann setzte er den Hut auf, stützte sich mit beiden Händen auf den Ladentisch, beugte sich etwas vor und sagte: „Was für Stoffe wünschen Sie? Englische Manufakturwaren? oder ziehen Sie unsere vaterländischen Produkte vor?“

„Ich wünsche einen russischen Stoff,“ versetzte Tschitschikow, „aber von der allerbesten Sorte, einen sogenannten englischen.“

„Und welche Farben finden Ihren Beifall?“ fragte der Kaufmann, der sich noch immer in der angenehmsten Weise auf seinen beiden Händen balancierte.

„Haben Sie einen glänzenden dunkelen oder oliven- oder flaschengrünen Stoff, wenn möglich mit einer preißelbeerfarbenen Nuance?“

„Ich kann Ihnen das Versprechen geben, daß Sie die allerbeste Sorte erhalten werden, was Besseres werden Sie auch in beiden Hauptstädten nicht finden,“ versetzte der Kaufmann und schickte sich an, den Stoff zu holen. Er warf die Rolle gewandt auf den Tisch, rollte sie von hinten auf und hielt den Stoff ans Licht. „Ein wunderbares Farbenspiel! Das Allermodernste, etwas für den erlesensten Geschmack!“ Und in der Tat, der Stoff glänzte wie Seide. Der Kaufmann hatte mit feinem Instinkte erkannt, daß ein Kenner der Tuchsorten vor ihm stand und daher wollte er erst gar nicht mit einem Stoff zu zehn Rubel pro Meter anfangen.

„Hm, nicht übel,“ bemerkte Tschitschikow, nachdem er das Tuch flüchtig gemustert hatte. „Aber wissen Sie was, Verehrtester, zeigen Sie mir lieber gleich die Sorte, die Sie zuletzt vorlegen; und dann: haben Sie keinen mit einem Stich ins Rote?“

„Ich verstehe: Sie wollen genau so eine Farbe, wie sie heute modern zu werden beginnt. Da habe ich einen Stoff von allererster Qualität. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß er sehr teuer ist, aber wie gesagt: dafür ist es auch die allerbeste Sorte.“

Die Rolle fiel von oben herab. Der Kaufmann rollte sie mit noch größerer Geschwindigkeit auseinander und fing sie am andern Ende auf. Diesmal war es ein echter Seidenstoff; er zeigte ihn Tschitschikow, jedoch so, daß dieser nicht nur die Möglichkeit hatte, ihn gründlich zu besichtigen, sondern sogar zu betasten und zu beriechen. Und er fügte nur kurz hinzu: „Navarinosche Rauchfarbe mit Feuerglanz.“

12. Variante der andern Fassung.

Man einigte sich über den Preis. Ein eisernes Metermaß maß Tschitschikow gleich einem Zauberstabe in wenigen Augenblicken den Stoff für Frack und Hosen zu. Dann machte der Kaufmann einen kleinen Einschnitt mit der Schere, riß das Tuch mit beiden Händen der ganzen Breite nach auseinander und verbeugte sich, nachdem diese Operation vollendet war, in außerordentlich feiner und liebenswürdiger Weise vor Tschitschikow. Das Zeug wurde hierauf zusammengerollt und geschickt in Papier gewickelt. Hierauf wurde eine dünne Schnur herumgeschlungen und das Paket war fertig. Tschitschikow wollte schon in die Tasche greifen, aber da fühlte er, wie eine zarte Hand seine Taille angenehm umschlang, und seine Ohren vernahmen die Worte: „Was kaufen Sie hier ein, Verehrtester.“

„Ah, welch glückliches Zusammentreffen!“ rief Tschitschikow aus.

„Ja, es ist ein glücklicher Zufall, der uns hier zusammenführt,“ hörte er die Stimme desselben Mannes sagen, der seine Taille umschlungen hatte. Es war Wyschnepokromow. „Ich wollte schon achtlos an dem Laden vorübergehn, da sehe ich plötzlich ein bekanntes Gesicht — einem solchen Vergnügen kann man sich doch unmöglich entziehen. Ja, ja, dies Jahr sind die Stoffe weit schöner. Es ist eine wahre Schande. Früher konnte man beim besten Willen nichts Vernünftiges bekommen. Ich hätte gern vierzig Rubel bezahlt ... meinetwegen sogar fünfzig, wenn ich nur etwas Gutes bekommen hätte. Was mich anbelangt, so will ich entweder das Allerbeste oder lieber gar nichts haben. Nicht wahr?“

„Sehr richtig!“ versetzte Tschitschikow. „Wozu quält man sich so, wenn man nicht auch was Gutes haben soll?“

13. Variante der andern Fassung.

Der alte Mann begrüßte alle Anwesenden und wandte sich direkt an Chlobujew: „Entschuldigen Sie, aber ich sah von weitem, wie Sie in den Laden traten, und da entschloß ich mich, Ihnen nachzugehen und Ihre Zeit ein wenig in Anspruch zu nehmen. Wenn Sie nachher frei sind und an meinem Hause vorüberkommen, dann seien Sie doch so freundlich, einen Augenblick bei mir einzutreten. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.“

Chlobujew versetzte: „Sehr gern, Afanassij Wassiljewitsch.“

Der alte Herr verabschiedete sich und ging hinaus. „Mir wirbelt’s förmlich im Kopfe,“ sagte Tschitschikow „wenn ich daran denke, daß dieser Mensch ganze zehn Millionen hat. Das ist einfach unmöglich!“

„Ja, das gehört sich in der Tat nicht,“ bemerkte Wyschnepokromow; „die Kapitale sollten nicht in der Hand Einzelner konzentriert sein. Das ist ein Gegenstand, über den in Europa sehr viel geschrieben wird. Wenn du Geld hast, mußt du es auch mit den andern teilen: mache Geschenke, gib Bälle, entwickele einen wohltätigen Luxus, bei dem die Arbeiter und Handwerker etwas verdienen.“

„Das kann ich gar nicht verstehen!“ wiederholte Tschitschikow. „Zehn Millionen! Und dabei lebt er wie ein gewöhnlicher Bauer! Hol’s der Teufel, was kann man nicht alles mit zehn Millionen anfangen! Da kann man ein Leben beginnen. Nur Fürsten und Generäle sollten bei mir verkehren!“

„Jawohl,“ bemerkte der Kaufmann, „das ist in der Tat keine gebildete Art. Wenn ein Kaufmann Ehrenbürger ist, dann ist er eben nicht mehr Kaufmann sondern gewissermaßen schon Negoziant. Dann muß ich mir auch eine Loge im Theater halten, und kann meine Tochter doch keinem einfachen Oberst mehr zur Frau geben. Nein, dann müßte schon mindestens ein General kommen, einem andern geb ich sie einfach nicht. Was ist mir ein Oberst? Und mein Essen bestellte ich beim Konditor und nicht bei einer gewöhnlichen Köchin ...“

„Da ist doch jedes Wort überflüssig!“ sagte Wyschnepokromow. „Mit zehn Millionen kann man vieles anfangen. Geben Sie mir nur die zehn Millionen, Sie sollen schon sehen, was ich damit beginne!“

„Nein,“ dachte Tschitschikow: „bei dir wären die zehn Millionen schlecht aufgehoben. Wenn ich dagegen ein solches Sümmchen hätte, ich wüßte sie in der Tat gut anzulegen.“

„Ja, wenn ich zehn Millionen besäße,“ dachte Chlobujew, „dann wäre ich nicht so töricht wie früher, ich würde sie nicht so sinnlos vergeuden. Nachdem man so schreckliche Erfahrungen gemacht hat, kennt man den Wert jeder Kopeke. Ja, jetzt würde ich es ganz anders anfangen ...“ Aber gleich darauf wurde er nachdenklich und legte sich innerlich die Frage vor: „Würde ich das Geld jetzt wirklich vernünftiger anlegen?“ dann machte er eine hoffnungslose Gebärde und fügte hinzu: „Kein Gedanke! Ich glaube, ich würde es ebenso ausgeben wie früher.“ Damit verließ er den Laden und begab sich zu Murasow, höchst gespannt darauf, was dieser ihm mitzuteilen habe.

„Ich erwartete Sie!“ sagte Murasow, als er Chlobujew eintreten sah. „Bitte, kommen Sie doch in mein Zimmer.“ Und er führte Chlobujew in das Stübchen, welches der Leser bereits kennen gelernt hat. Selbst ein Beamter, der jährlich nur 700 Rubel Gehalt bezieht, könnte in keinem schlichteren und unscheinbareren Stübchen hausen.

„Sagen Sie bitte, Ihre Verhältnisse haben sich doch gebessert? Ich glaube, Ihre Tante hat Ihnen etwas hinterlassen?“

„Was soll ich Ihnen sagen, Afanassij Wassiljewitsch? Ich weiß nicht, ob sich meine Verhältnisse wirklich gebessert haben. Ich habe bloß fünfzig Bauern und dreißigtausend Rubel geerbt; damit muß ich einen Teil meiner Schulden bezahlen, und dann behalte ich so gut wie nichts übrig. Was aber die Hauptsache ist, die Geschichte mit diesem Testament ist nicht ganz sauber. Es sind da allerhand Betrügereien vorgekommen, Afanassij Wassiljewitsch! Ich will Ihnen alles erzählen, Sie werden sich wundern, was für Dinge in der Welt passieren. Dieser Tschitschikow ...“

„Erlauben Sie, Peter Petrowitsch, bevor wir von diesem Tschitschikow reden, möchte ich zuerst von Ihnen selber sprechen. Sagen Sie mir bitte, wieviel Geld hätten Sie wohl nötig, um wieder in geordnete Verhältnisse hineinzukommen? Was denken Sie wohl?“

„Um meine Verhältnisse zu ordnen, und ein ganz bescheidenes Leben beginnen zu können — dazu brauche ich mindestens hunderttausend Rubel, wenn nicht noch mehr.“

„Nun und wenn Sie dieses Geld hätten, was würden Sie dann wohl anfangen?“

„Ich würde mir eine kleine Wohnung mieten und mich der Erziehung meiner Kinder widmen, ich kann doch nicht mehr in den Staatsdienst eintreten. Ich bin ja zu nichts mehr zu gebrauchen.“

„Warum sind Sie zu nichts zu gebrauchen?“

„Ja was könnte ich denn beginnen? Sagen Sie selbst, ich kann doch nicht wieder als Bureauschreiber anfangen. Sie vergessen, daß ich Familie habe. Ich bin schon über die Vierzig, leide an Kreuzschmerzen und bin träge und müde geworden. Und eine bessere Stelle werde ich doch nicht erhalten; dazu bin ich zu schlecht angeschrieben. Ich muß Ihnen übrigens gestehen, ich würde auch keine Stellung annehmen, wo es was zu verdienen gibt. Ich bin zwar ein schlechter Kerl und ein Spieler, aber Geldgeschenke würde ich nicht nehmen. Alles andre, nur nicht dies. Mit diesem Krasnonossow und Samosistow würde ich mich nicht vertragen.“

„Verzeihen Sie, aber ich kann trotzdem nicht begreifen, wie man leben kann, wenn man kein Ziel, wenn man keinen Weg vor Augen hat; man kann doch nicht weiterfahren, wenn man keinen Boden unter den Füßen hat; man kann doch das Wasser nicht ohne Kahn durchschiffen. Das Leben ist eben eine Reise. Entschuldigen Sie, Peter Petrowitsch, aber die Leute, von denen Sie da reden, haben doch wenigstens einen Weg vor sich, sie sind tätig und arbeiten zum mindesten. Freilich sind sie vom rechten Wege abgekommen, wie das uns sündigen Menschen wohl passieren kann; aber wir wollen hoffen, daß sie sich wieder zurecht finden werden. Wer nur vorwärts marschiert, — muß schließlich das Ziel erreichen, man braucht die Hoffnung nicht aufzugeben, daß er wieder auf den rechten Weg hinauskommt. Wie aber soll einer den Weg finden, der müßig dahinlebt. Der Weg kommt doch nicht selbst zu uns.“

„Glauben Sie mir, Afanassij Wassiljewitsch, ich fühle, wie recht Sie haben .... aber ich sage Ihnen, in mir ist jeder Trieb zur Tätigkeit erstorben. Ich sehe nicht, daß ich noch jemandem in der Welt von Nutzen sein könnte. Ich fühle, ich bin nichts wie ein unnützer Holzklotz. Früher, als ich noch jünger war, da schien es mir, daß alles vom Gelde abhänge, daß, wenn ich bloß ein paar Hunderttausende in der Hand hätte, ich alle Menschen glücklich machen könnte. Ich wollte arme Künstler unterstützen, Bibliotheken einrichten, allerhand nützliche Institutionen gründen und Sammlungen anlegen. Ich bin nicht ohne Geschmack und weiß, daß ich das Geld besser zu verwenden wüßte, als die meisten reichen Leute, die nichts Vernünftiges zuwege bringen. Jetzt sehe ich jedoch, daß auch dies eitel ist und wenig Wert hat. Nein, Afanassij Wassiljewitsch, ich tauge nichts mehr, gar nichts mehr, das können Sie mir glauben. Ich bin zu nichts mehr fähig.“

14. Hier schließt der Text des späteren Entwurfs. Die neuere Fassung dieser Stelle hängt in der Handschrift nicht mit der ursprünglichen zusammen. Daher mußte der ursprüngliche Text bis zu der Stelle reproduziert werden, die keiner weiteren Überarbeitung unterzogen wurde.

Variante der andern Fassung.

„Hören Sie, Peter Petrowitsch, Sie gehen doch auch in die Kirche, um zu beten; ich weiß es, Sie versäumen keine Früh- noch Abendmesse. Sie stehen nicht gern früh auf, und doch tuen Sie es und gehen — schon um 4 Uhr zum Gottesdienst, wenn noch alle Leute schlafen.“

„Das ist etwas ganz andres, Afanassij Wassiljewitsch. Das tue ich um meines Seelenheiles willen, denn ich bin überzeugt, daß ich damit mein müßiges Leben mindestens ein klein wenig wieder gut mache. So widerwärtig ich mir selbst bin, ein so schlechter Kerl ich auch sein mag, ich hoffe doch, daß ein demütiges Gebet und eine gewisse Selbstüberwindung Gott wohlgefällig sind. Ich will Ihnen gestehen, ich bete ohne Glauben, aber ich bete dennoch. Ich fühle bloß, daß es einen Herrn gibt, von dem alles abhängt; so erkennt auch das Pferd und das Vieh seinen Herrn, der über sie gebietet.“

„Sie beten also zu dem, dem Sie wohlgefällig sein wollen, weil Sie um das Heil Ihrer Seele besorgt sind, und das gibt Ihnen Kraft und veranlaßt Sie so früh aufzustehen. Glauben Sie mir, wenn Sie mit derselben Energie Ihrem Berufe nachgehen wollten, wie Sie Ihm dienen, zu dem Sie beten, Sie würden bald eine Tätigkeit finden, und kein Mensch in der Welt könnte Ihre Begeisterung dämpfen.“

„Afanassij Wassiljewitsch. Ich muß wiederholen, das ist was ganz andres. Im ersten Falle sehe ich doch, daß ich handele. Ich sage Ihnen, ich bin bereit, in ein Kloster zu gehen, ich will die schwersten Lasten tragen, die man mir auferlegt, und die härtesten Arbeiten tun, denn dort werde ich wissen, für wen ich mich mühe. Da brauche ich nicht nachzudenken und zu grübeln. Dort bin ich überzeugt, daß die für mich Rechenschaft ablegen werden, die mir sagen, was ich zu tun habe. Dort habe ich mich zu unterwerfen, und ich weiß, daß ich mich Gott unterwerfe.“

„Ja, aber warum denken Sie denn in weltlichen Dingen nicht ebenso? Wir sollen doch auch in der Welt Gott dienen und keinem andern. Und wenn wir einem andern dienen, so tuen wir es auch nur deswegen, weil wir überzeugt sind, daß Gott selbst es so will; ohne das könnten wir niemandem dienen. Was sind denn all unsere Gaben und Fähigkeiten, die bei jedem anders geartet sind? Das sind doch nur Werkzeuge unseres Gottesdienstes: in Worten oder Taten. Sie können doch nicht ins Kloster gehen; Sie sind an die Welt gewöhnt und haben Familie!“

Murasow schwieg. Auch Chlobujew sagte kein Wort.

„Sie glauben also, Sie könnten Ihr Leben auf eine feste Grundlage stellen und von nun ab vernünftiger und sparsamer wirtschaften, wenn Sie zweihunderttausend Rubel hätten?“

„Das heißt, ich würde wenigstens eine Tätigkeit haben, der ich gewachsen bin — ich würde mich der Erziehung meiner Kinder widmen, und ich hätte die Möglichkeit, ihnen tüchtige Lehrer zu halten.“

„Soll ich Ihnen etwas sagen, Peter Petrowitsch! Nach zwei Jahren werden Sie wieder ganz tief in Schulden stecken, wie in einem Netz.“

Chlobujew schwieg eine Weile still und sagte dann gedehnt: „Aber nach den Erfahrungen, die ich ....“

„Ach, da ist doch kein Wort zu verlieren!“ fiel Murasow ein. „Sie haben ein gutes Herz, Ihre Freunde werden zu Ihnen kommen und Sie um Geld bitten — Sie werden es ihnen ja doch nicht abschlagen können; wenn Sie einen armen Mann sehen, werden Sie ihm helfen; wenn ein Freund zu Ihnen kommt, werden Sie ihn recht gut bewirten wollen und sich jeder menschenfreundlichen Regung hingeben. Ihren Vorteil und das Rechnen aber werden Sie dabei vergessen. Und schließlich lassen Sie mich Ihnen noch in aller Aufrichtigkeit das eine sagen: Sie sind ja garnicht imstande, Ihre Kinder gut zu erziehen. Seine Kinder kann nur ein Vater erziehen, der seine Pflicht schon erfüllt hat. Und Ihre Frau ... sie hat ja ein gutes Herz ... aber sie ist selbst nicht so erzogen, um Kinder erziehen zu können. Ich frage mich sogar — Sie entschuldigen mich doch, Peter Petrowitsch — ob es Ihren Kindern nicht am Ende schaden könnte, stets mit Ihnen zusammen zu sein!“

Chlobujew war nachdenklich geworden; er prüfte sich in Gedanken nach allen Richtungen und hatte schließlich das Gefühl, daß Murasow nicht ganz unrecht hatte.

„Wissen Sie was, Peter Petrowitsch! Überlassen Sie mir Ihre Kinder und die Ordnung Ihrer Verhältnisse, verlassen Sie Ihre Familie und Ihre Kinder, ich will schon für sie sorgen. Ihre Verhältnisse sind doch gewissermaßen so, daß Sie ganz in meiner Hand sind; Sie sind doch nahe am Verhungern. Hier gilt es einen Entschluß zu fassen. Kennen Sie Iwan Potapytsch?“

„Gewiß, und ich verehre ihn sehr, trotzdem er in einer Joppe herumläuft.“

„Iwan Potapytsch war Millionär, seine Töchter heirateten lauter Beamte, und er lebte wie ein Fürst. Aber er machte Bankrott — und da blieb ihm eben nichts andres übrig, als ein gewöhnlicher Kommis zu werden. Es wurde ihm wirklich nicht leicht, aus einer einfachen Schüssel zu essen, ihm, der an silberne Teller gewöhnt war, und die Hände wollten nicht recht arbeiten, denn sie hatten es nicht gelernt. Sehen Sie, jetzt könnte Iwan Potapytsch wieder aus silbernen Schüsseln essen, aber nun will er es selbst nicht. Er hat sich wieder genug zusammengespart, aber er sagt: ‚Nein, Afanassij Wassiljewitsch, jetzt diene ich nicht mehr mir selber, sondern Gott. Ich mag jetzt nichts mehr um meiner selbst willen tun. Ich gehorche Ihnen, weil ich Gott gehorchen will und nicht den Menschen, und da Gott nur durch den Mund der besten Menschen zu uns spricht. Sie sind klüger als ich, und daher bin nicht ich dafür verantwortlich, sondern Sie.‘ — Sehen Sie, so denkt Iwan Potapytsch, und doch ist er, wenn ich ehrlich sein soll, viel, viel klüger als ich.“

„Afanassij Wassiljewitsch, ich will ja gern Ihre Überlegenheit anerkennen ... ich will gern Ihr Diener sein, und alles tun, was Sie wollen, ich gebe mich ganz in Ihre Hände. Aber legen Sie mir keine Last auf, die ich nicht tragen kann: ich bin kein Potapytsch, und ich sage Ihnen, daß ich zu nichts Gutem mehr tauge.“

„Ich werde Ihnen nichts auferlegen, Peter Petrowitsch, aber da Sie doch nun einmal Gott dienen wollen — da haben Sie ein Gott wohlgefälliges Werk! Es wird hier eine Kirche gebaut, das Geld dazu muß durch freiwillige Spenden frommer Menschen aufgebracht werden. Leider fehlt es an Mitteln, sie müssen durch eine Sammlung herbeigeschafft werden. Ziehen Sie einen einfachen Pelz an — Sie sind doch jetzt ein schlichter Mensch — ein verarmter Edelmann — und so gut wie ein Bettler, was brauchen Sie sich zu schämen? — nehmen Sie das Kassenbuch in die Hand, besteigen Sie einen einfachen Bauernwagen und besuchen Sie alle Städte und Dörfer der Umgegend. Der Archierei[15] wird Ihnen seinen Segen geben und Ihnen das Kassenbuch aushändigen. Nehmen Sie es und ziehen Sie mit Gott!“

Peter Petrowitsch war sehr erstaunt über die völlig neue Tätigkeit, die ihm hier vorgeschlagen wurde. Er war doch immerhin ein Mann von altem Adel und sollte sich jetzt in einem Bauernwagen durchrütteln lassen und mit dem Buche durch Städte und Dörfer ziehen, um Geld für die Kirche zu sammeln! Aber er konnte nicht mehr zurück, er konnte sich der Sache nicht mehr entziehen. War es doch ein von Gott gewolltes Werk!

„Sie überlegen noch?“ fragte Murasow, „Sie werden damit einen doppelten Dienst leisten: Gott und mir.“

„Ihnen?“

„Das will ich Ihnen gleich sagen. Sie werden in Gegenden kommen, wo ich noch nicht war, und werden dort an Ort und Stelle alles erfahren: wie die Bauern leben, wo die Leute reicher sind, wo sie Not leiden, und wie überall die Verhältnisse liegen. Ich will Ihnen gestehen, ich liebe die Bauern von ganzem Herzen, vielleicht deshalb, weil ich selbst von Bauern abstamme. Die Sache ist nämlich die, es haben sich da schlimme Dinge unter ihnen verbreitet. Allerhand Herumtreiber und Sektierer suchen sie zu verführen und gegen die Obrigkeit aufzureizen, und wenn ein Mensch Not leidet, dann lehnt er sich so leicht auf. Als ob es eine so schwere Sache ist, einen Menschen unzufrieden zu machen, der sich in einer bedrängten Lage befindet. Aber das ist es ja gerade, die Hilfe und Strafe darf nicht von unten kommen. Es wäre schlimm, wenn man sich sein Recht mit den Fäusten erkämpfen wollte, daraus kann nichts Gutes entstehen; dabei haben nur die Diebe und Räuber den Vorteil. Sie sind ein kluger Mensch, Sie werden alles gründlich studieren und in Erfahrung bringen, wo ein Mensch wirklich Not leidet, wo andre ihn bedrücken, und wo sein eigner unruhiger Charakter die Schuld trägt. Und dann, wenn Sie wiederkommen, werden Sie mir alles ganz genau erzählen. Ich will Ihnen auf jeden Fall eine kleine Summe mitgeben, die Sie unter die verteilen mögen, die wirklich und unschuldigerweise Not leiden. Es wird auch gut sein, wenn Sie sie mit Worten trösten und es ihnen recht klar machen, es sei Gottes Wille, daß wir unsere Bürde ohne Murren tragen, zu ihm beten, wenn wir unglücklich sind und nicht toben, uns nicht auflehnen und uns nicht selbst zu unserem Rechte verhelfen. Mit einem Worte, reden Sie ihnen gut zu, ohne sie gegen jemand aufzuwiegeln, und lehren Sie sie, ihr Los geduldig ertragen. Wo Sie aber Haß und Zorn gegen jemand finden, da nehmen Sie all Ihre Kräfte zusammen.“

„Afanassij Wassiljewitsch! Das Amt, das Sie mir übertragen wollen, ist ein heiliges Amt,“ sagte Chlobujew. „Dies ist ein heiliges Werk! Bedenken Sie, wen Sie damit betrauen. Man kann es nur einem Menschen übertragen, der selbst gewissermaßen einen heiligen Lebenswandel führt, der es versteht, andern Leuten zu verzeihen.“

„Ich sage ja auch nicht, das Sie dies alles ausführen sollen, tuen Sie, was möglich ist, was in Ihren Kräften steht. Die Sache ist die: Sie werden trotzdem mit einem großen Wissensschatz und einer großen Ortskenntnis zurückkehren, Sie werden genau über die Lage der betreffenden Provinzen orientiert sein. Ein Beamter würde dem Bauern nie persönlich gegenübertreten, und auch der Bauer würde nicht aufrichtig gegen ihn sein. Sie aber, der Sie zu ihm kommen, um Beiträge für die Kirche zu sammeln, — Sie werden überall einen Einblick gewinnen in die Lage des kleinen Mannes, in den Hausstand des Kaufmanns usw., Sie werden Gelegenheit haben, jeden genau nach allem auszufragen. Ich sage Ihnen das, weil der Generalgouverneur solche Leute wie Sie gerade jetzt besonders nötig hat, und Sie können, ganz abgesehen von den bureaukratischen Titeln, eine Stellung erhalten, wo Sie vielen Nutzen stiften werden.“

„Gut denn! Ich will’s versuchen, ich will all meine Kräfte anspannen und mir die größte Mühe geben,“ sagte Chlobujew. Man hörte es seiner Stimme an, daß er wieder Mut und Kraft schöpfte, und er erhob wieder tapfer das Haupt, wie ein Mensch, den eine neue Hoffnung belebt. „Ich sehe, daß Gott Ihnen die rechte Einsicht geschenkt hat. Sie verstehen manche Dinge weit besser, als wir kurzsichtigen Leute.“

„Doch nun möchte ich Sie endlich fragen: Was ist es mit Tschitschikow, und von welcher Angelegenheit sprachen Sie vorhin?“ sagte Murasow.

„Ach Gott, von Tschitschikow kann ich Ihnen geradezu unerhörte Dinge erzählen. Was der alles anstellt ... Wissen Sie auch, Afanassij Wassiljewitsch, daß das Testament gefälscht ist! Das echte Testament hat sich gefunden. Darnach sind die Pflegetöchter die Erbinnen des ganzen Gutes.“

„Was sagen Sie? Und wer hat das falsche Testament hergestellt?“

„Das ist es ja eben. Es ist eine ganz schmutzige Geschichte. Man sagt: Tschitschikow sei der Verfasser; das Testament sei erst nach dem Tode der Testantin unterschrieben: man hätte ein Weib gefunden, die man verkleidet habe, und die es anstelle der Verstorbenen unterschrieben hat. Mit einem Wort eine ganz häßliche und skandalöse Affäre. Man hat Verdacht, daß auch noch andere Beamte daran beteiligt sind. Man spricht schon überall davon, und der Generalgouverneur soll bereits davon Kunde haben. Man sagt, es seien über tausend Klagen von den verschiedensten Seiten eingelaufen. Die Freier machen sich jetzt schon an Marja Jeremejewna; zwei Beamte liegen sich ihretwegen in den Haaren. Eine widerwärtige Geschichte, Afanassij Wassiljewitsch.“

„Ich habe noch garnichts davon gehört, aber die Sache wird sicherlich nicht ganz sauber sein. Ich muß gestehen, daß dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow mir eine höchst rätselhafte Persönlichkeit ist,“ sagte Murasow.

„Ich habe meinerseits auch eine Klage eingereicht, um daran zu erinnern, daß es noch einen rechtmäßigen Erben gibt ...“

„Mögen sie sich meinetwegen alle miteinander in den Haaren liegen,“ dachte Chlobujew, als er sich von Murasow verabschiedet hatte. — „Afanassij Wassiljewitsch ist nicht dumm. Er wird sich die Sache wohl überlegt haben, als er mir diesen Auftrag gab. Ich muß ihn eben erfüllen — das ist das Ganze.“ Und er fing schon an, an seine Reise zu denken, während Murasow noch immer in Gedanken wiederholte: „Ein höchst rätselhafter Mensch dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow! Wer mit dieser Willenskraft und dieser Ausdauer auf ein edles Ziel hinarbeitete! ...“


Nachdem Gogol 1845 das Manuskript des zweiten Teiles der toten Seelen verbrannt hatte, ging er sogleich an die Ausarbeitung eines neuen Planes. Anfang März 1846 war schon ein Teil des zweiten Bandes fertig. In den folgenden Jahren wurde die Arbeit unter mehreren größeren Unterbrechungen fortgesetzt. Juni 1849 las Gogol Frau A. O. Smirnow mehrere Kapitel der neuen Fassung vor. Arnoldi, der einige Male bei diesen Vorlesungen zugegen war, gibt den Inhalt des von ihm Gehörten folgendermaßen wieder (vergl. Kap. 1 und 2 unserer Ausgabe):

„Soweit ich mich erinnere, begann es (das erste Kapitel des zweiten Teils) ein wenig anders; es war überhaupt weit sorgfältiger durchgearbeitet, obwohl der Inhalt derselbe war. Dieses Kapitel schloß mit dem Gelächter des Generals Betrischtschew. Hierauf folgte ein zweites Kapitel, in dem ein Tag im Hause des Generals beschrieben wird. Tschitschikow blieb zum Mittagessen da. An dem Diner nahmen außer Ulinka noch zwei Personen teil: eine Engländerin, die die Rolle einer Gouvernante spielte, und ein Spanier oder Portugiese, der seit unvordenklichen Zeiten und ohne angebbaren Grund auf dem Gute Betrischtschews wohnte. Die Engländerin war eine ältere Jungfrau, ein farbloses, ziemlich häßliches Wesen mit einer großen schmalen Nase und sehr lebhaften Augen. Sie hielt sich kerzengerade, konnte tagelang schweigen und ließ nur ihre Augen mit dem dumm-fragenden Blick beständig nach allen Seiten schweifen. Der Portugiese hieß, soweit ich mich erinnere: Expanton, Chsitendon oder so ähnlich; aber ich weiß bestimmt, daß alle Dienstboten des Generals ihn bloß „Eskadron“ nannten. Er schwieg auch fortwährend, mußte jedoch nach dem Essen eine Partie Schach mit dem General spielen. Während des Diners passierte nichts Außerordentliches. Der General war lustig und scherzte mit Tschitschikow, der einen großen Appetit entwickelte. Ulinka war nachdenklich, ihr Gesicht belebte sich bloß, wenn die Rede auf Tentennikow kam. Nach dem Essen spielte der General eine Partie Schach mit dem Spanier und wiederholte andauernd, während er eine Figur vorschob: „Lieb uns so weiß wie“, worauf Tschitschikow ihn beständig verbesserte: „So schwarz, Exzellenz.“ „Ja, ja,“ sagte der General, „lieb uns so schwarz, wie wir sind, weiß würde uns der Herrgott selbst lieb haben.“ Nach fünf Minuten versprach er sich jedoch abermals und fing wieder an: „Lieb uns so weiß wie“. — Tschitschikow verbesserte ihn aufs neue, und der General wiederholte noch einmal: „Lieb uns so schwarz wie wir sind, wenn wir weiß und sauber wären, würde uns auch der Herrgott lieb haben.“ Nachdem der General mehrere Partieen mit dem Spanier gespielt hatte, schlug er Tschitschikow vor, ein paar Partieen mit ihm zu spielen, und auch hier wußte sich Tschitschikow äußerst geschickt aus der Affäre zu ziehen. Er spielte sehr gut, bedrängte und setzte den General mit seinen Zügen in Verlegenheit, verlor aber schließlich doch die Partie: der General war sehr zufrieden, daß er einen so starken Spieler wie Tschitschikow besiegt hatte, und gewann ihn noch mehr lieb. Beim Abschied bat er ihn, sobald als möglich wiederzukehren, und auch Tentennikow mitzubringen. Als Tschitschikow wieder zu Tentennikow kam, erzählte er ihm, wie traurig Ulinka sei, wie sehr der General es bedauere, daß er ihn gar nicht mehr bei sich sähe, wie der General sein Benehmen aufrichtig bereue und sogar bereit sei, ihm zuerst einen Besuch abzustatten und ihn um Verzeihung zu bitten, nur um das Mißverständnis aus der Welt zu schaffen. Das war natürlich alles erfunden. Aber Tentennikow, der sterblich in Ulinka verliebt war, freute sich selbstverständlich, einen Vorwand zu haben und erklärte, wenn die Sache sich so verhalte, werde er es nicht dazu kommen lassen und noch morgen zum General fahren, um ihm mit seinem Besuch zuvorzukommen. Tschitschikow billigt diesen Entschluß, und beide verabreden sich, am folgenden Tage zum General Betrischtschew zu fahren. Am Abend desselben Tages gesteht Tschitschikow Tentennikow, daß er den General angeschwindelt und ihm erzählt habe, daß Tentennikow eine Geschichte der Generäle schreibe. Dieser versteht nicht, wozu Tschitschikow so etwas gesagt habe, und weiß nicht, was er machen soll, wenn der General auf diese Geschichte zu sprechen kommen sollte. Tschitschikow erklärt ihm, er wisse eigentlich selbst nicht, wie ihm dieses Wort entschlüpft sei, aber es sei nun einmal nicht mehr zu ändern, und er bittet ihn, wenn er durchaus nicht lügen könne, doch wenigstens still zu schweigen und die Sache nicht geradezu abzuleugnen, um ihn — Tschitschikow nicht vor dem General zu kompromittieren. Hierauf fahren beide nach dem Gute des Generals. Tentennikow begrüßt den General und Ulinka, und man setzt sich zum Mittagessen. Die Beschreibung dieses Diners war meiner Ansicht nach die schönste Stelle im zweiten Bande. Der General saß in der Mitte, rechts von ihm Tentennikow, links Tschitschikow, neben Tschitschikow Ulinka, neben Tentennikow der Spanier und zwischen dem Spanier und Ulinka — die Engländerin. Der General war sehr zufrieden, daß er sich wieder mit Tentennikow ausgesöhnt hatte, und mit einem Menschen plaudern konnte, der eine Geschichte der vaterländischen Generäle schrieb. Tentennikow war glücklich, weil Ulinka ihm gegenübersaß, mit der er von Zeit zu Zeit einen Blick wechselte. Ulinka war gleichfalls glücklich, weil der Geliebte wieder zu ihnen zurückgekehrt war, und der Vater die alten guten Beziehungen zu ihm wiederhergestellt hatte, und auch Tschitschikow war sehr zufrieden mit seiner Rolle als Mittler in dieser reichen und vornehmen Familie. Die Engländerin ließ ihre Augen frei nach allen Seiten schweifen, der Spanier betrachtete seinen Teller und erhob seinen Blick nur dann, wenn ein neues Gericht aufgetragen wurde. Er suchte sich den besten Bissen aus, und ließ ihn nicht aus den Augen, während die Schüssel längs der Tafel die Runde machte, oder bis sich jemand des guten Bissens bemächtigt hatte. Nach dem zweiten Gange brachte der General das Gespräch auf Tentennikows Werk und erwähnte das Jahr 1812. Tschitschikow zitterte vor Angst und wartete gespannt auf die Antwort. Aber Tentennikow zog sich gewandt aus der Affäre. Er erwiderte, es sei nicht seine Aufgabe, eine Geschichte des Feldzuges, der einzelnen Schlachten und der Personen zu schreiben, die in diesem Kriege eine Rolle gespielt hätten, das Jahr 1812 sei nicht durch die Taten Einzelner bemerkenswert, es gäbe auch ohne ihn genug Geschichtsschreiber, die diese Epoche behandelt hätten, aber man müsse diese Zeit von einer andern Seite ansehen; was sie besonders auszeichne, sei dies, daß das ganze Volk sich wie ein Mann erhoben habe, um das Vaterland zu verteidigen; alle Intrigen, alle kleinlichen Interessen und Leidenschaften seien für eine Zeitlang verstummt; alle Stände hätten sich in dem einen Gefühl der Vaterlandsliebe vereint, jeder wäre bereit gewesen, sein Letztes dahinzugeben und alles für die gemeinsame Sache aufzuopfern. Das sei das Große an diesem Kriege, und das wäre es, was er wohl in einem leuchtenden Bilde festhalten möchte: all diese vielen unbeachteten Heldentaten und diese geheimen und großen Opfer eines Volkes! Tentennikow sprach lange und mit Begeisterung; er war in diesem Augenblick völlig durchdrungen von glühender Liebe zu seinem russischen Vaterlande. Betrischtschew hörte ihm ganz entzückt zu; zum erstenmal hörte er ein so lebendiges, warmes Wort. Eine Träne rollte ihm wie ein reiner Diamant den Schnurrbart hinunter. In diesem Moment war der General sehr schön. Und Ulinka? Sie hing förmlich mit den Augen an Tentennikow, sie schien jedes seiner Worte gierig einzuschlürfen; wie eine herrliche Musik berauschten sie diese Reden, sie liebte, sie war stolz auf ihn. Der Spanier betrachtete seinen Teller noch aufmerksamer als früher und die Engländerin sah alle Anwesenden mit einem dummen und verständnislosen Blick an. Als Tentennikow geendigt hatte, blieb alles eine Zeitlang stumm, alle waren aufs tiefste erschüttert ... Tschitschikow, der gern auch etwas sagen wollte, brach zuerst das Schweigen. „Ja,“ bemerkte er, „1812 herrschte eine furchtbare Kälte!“ — „Es handelt sich hier gar nicht um die Kälte,“ sagte der General und sah ihn sehr streng an. Tschitschikow wurde verlegen. Der General reichte Tentennikow die Hand und dankte ihm herzlich; aber Tentennikow war ganz selig, denn er las Beifall und Anerkennung in Ulinkas Augen, die Geschichte der Generäle war vergessen. Der Tag verlief still und angenehm für alle Beteiligten. — An die nun folgende Anordnung der Kapitel kann ich mich nicht mehr genau erinnern, ich weiß nur noch, daß Ulinka sich nach diesem Vorfall entschloß, mit ihrem Vater ernstlich über Tentennikow zu sprechen. Eines Abends, kurz vor dieser entscheidenden Unterhaltung, besuchte sie das Grab ihrer Mutter um Stärkung in einem Gebet zu finden. Nach dem Gebet betrat sie das Zimmer ihres Vaters, kniete vor ihm nieder und bat ihn um seine Einwilligung zu ihrer Verlobung mit Tentennikow; der General schwankte lange, gab jedoch schließlich seine Zustimmung. Tentennikow wurde herbeigerufen und erfuhr, daß der General einverstanden sei. Dieses geschah einige Tage nach dem Friedensfest. Als Tentennikow die Einwilligung erhalten hatte, ließ er Ulinka einen Augenblick allein und lief ganz außer sich vor Glück in den Garten. Er mußte mit sich allein sein. Das Glück überwältigte ihn! ... Hier folgten bei Gogol zwei herrliche lyrische Seiten. — Ein heißer Sommertag — um die Mittagszeit. Tentennikow sitzt in dem dichten schattenreichen Garten, und rings um ihn herum herrscht eine tiefe heilige Stille. Dieser Garten war wunderbar geschildert; jedes Zweiglein war beschrieben: die glühende Mittagshitze in der Luft, die Grillen im Grase, die vielen schwärmenden Insekten, und endlich Tentennikows Gefühle, des glücklich Liebenden und Wiedergeliebten! — Ich erinnere mich lebhaft, daß diese Beschreibung so wundersam, so voller Kraft, Farbe und Poesie war, daß mir das Herz vor Erregung stille stand. Gogol las vorzüglich! — Im Übermaß seines Gefühls weinte Tentennikow vor Glück und Seligkeit, und er schwor sich, sein ganzes Leben seiner Braut zu widmen. In diesem Moment erschien Tschitschikow am Ende der Allee. Tentennikow umarmt und dankt ihm: „Sie sind mein Wohltäter, Ihnen verdanke ich all mein Glück, wie kann ich Ihnen nur danken. Mein Leben wäre zu wenig für solch einen Dienst.“ Sofort kommt Tschitschikow eine Idee: „Ich habe nichts für Sie getan, das ist ein bloßer Zufall,“ antwortet er, „ich bin sehr erfreut, aber Sie können sich sehr leicht dankbar erweisen.“ „Wodurch, wodurch?“ ruft Tentennikow, „sprechen Sie es aus, schnell, und es ist geschehen.“ Hier erzählt ihm Tschitschikow von seinem angeblichen Onkel, und daß er 300 Bauern brauche, wenn auch bloß auf dem Papiere. „Aber warum müssen sie denn unbedingt tot sein?“ fragt Tentennikow, der nicht recht versteht, was Tschitschikow eigentlich will. „Ich werde Ihnen pro forma all meine 300 Seelen verschreiben, und Sie können unseren Vertrag Ihrem Onkel zeigen; nachher, wenn Sie Ihr Gut erhalten haben, können wir ja den Kontrakt wieder vernichten.“ Tschitschikow ist ganz sprachlos vor Erstaunen. „Wie? Und Sie fürchten sich nicht vor solch einem Schritt ... Sie fürchten sich gar nicht, daß ich Sie betrügen und Ihr Vertrauen mißbrauchen könnte?“ Aber Tentennikow läßt ihn nicht ausreden. „Was?“ ruft er aus, „ich sollte Ihnen mißtrauen, dem ich mehr verdanke als mein Leben.“ Hier umarmen sie sich, und die Sache war abgemacht. Tschitschikow schlief an diesem Abend süß ein. Am andern Tage fand im Hause des Generals eine große Beratung statt, wie man den Verwandten die Verlobung mitteilen solle; ob es sich schriftlich erledigen ließe, oder ob jemand die Nachricht persönlich hinbringen solle. Betrischtschew war offenbar sehr unruhig und machte sich Sorgen, wie die Fürstin Sjusjukina und seine andern vornehmen Verwandten dieses Ereignis aufnehmen würden, Tschitschikow wußte sich auch hier wieder nützlich zu erweisen: er machte dem General den Vorschlag, ihn, Tschitschikow, zu sämtlichen Verwandten zu schicken, um sie durch ihn von der Verlobung Ulinkas und Tentennikows benachrichtigen zu lassen. Natürlich hatte er dabei wieder das Geschäft mit den toten Seelen im Auge. Sein Vorschlag wurde mit Dank angenommen. „Ich kann mir nichts Besseres wünschen,“ dachte der General, „er ist ein gescheiter Kopf und hat gute Manieren; er wird es verstehen, den Leuten die Sache mit der Verlobung so plausibel zu machen, daß alle zufrieden sein werden.“ Der General bot Tschitschikow seinen zweisitzigen, im Auslande verfertigten Wagen an, und Tentennikow stellte ihm noch ein viertes Pferd zur Verfügung. Tschitschikow sollte sich schon nach wenigen Tagen auf den Weg machen. Von da ab sahen ihn alle im Hause des Generals als einen ihrer Angehörigen, als einen Freund des Hauses an. Nachdem er zu Tentennikow zurückgekehrt war, ließ er sofort Seliphan und Petruschka rufen und erklärte ihnen, sie sollten sich zur Abreise rüsten. Seliphan war bei Tentennikow ganz träge und faul geworden, er glich kaum noch einem Kutscher mehr, und die Pferde blieben ganz ohne Pflege und Aufsicht. Petruschka aber stellte fortwährend den Bauernmädchen nach. Als jedoch der leichte und beinahe neue Wagen des Generals eintraf, und Seliphan hörte, daß er nun auf dem breiten Kutschbock sitzen und vier Pferde lenken werde, da erwachten wieder all seine Kutscherinstinkte, er betrachtete die Equipage mit großer Aufmerksamkeit, mit Kennerblick und verlangte von den Knechten des Generals allerhand Reserveschrauben und Schlüssel, wie sie überhaupt nicht existieren. Auch Tschitschikow dachte mit Vergnügen an seine Reise und malte sich schon aus, wie er sich auf den weichen Polstern ausstrecken, und wie das vierte Pferd seinen federleichten Wagen schnell wie der Wind dahintragen werde.“

Auf wieviel Kapitel der hier wiedergegebene Inhalt verteilt war, hat Arnoldi nicht genau angegeben: er bemerkt hierzu: „Dies ist alles, was Gogol in meiner Gegenwart vom zweiten Bande vorgelesen hat. Meiner Schwester hat er, wie ich glaube, neun Kapitel vorgelesen“ [Rußkij Westnik (Russischer Bote) 1862, Januarheft, Seite 74-79]. Die Umarbeitung der Niederschrift fand gleichzeitig mit der Arbeit an der Fortsetzung der Dichtung statt. Im Januar 1850 waren „eigentlich nur zwei bis drei Kapitel“ vollständig fertig.

Gegen Ende 1851 oder im Anfang des Jahres 1852 las Gogol Schewyrew die beiden letzten Kapitel des zweiten Bandes der „Toten Seelen“ vor. Alles, was er von diesem Teil in dem Zeitraum von 1845 bis 1852 niedergeschrieben hatte, hat er selbst wenige Tage vor seinem Tode verbrannt.

Anhang zu den Novellen

Der Mantel. Der Plan zu dieser Novelle stammt aus dem Jahre 1834. Der erste Entwurf aus dem Jahre 1839; vollendet wurde sie 1841, und 1842 für die erste Ausgabe der gesammelten Werke neu bearbeitet, wo diese Erzählung zum ersten Male abgedruckt ist.


Die Nase. Diese Novelle wurde 1832 begonnen und in ihrer ersten Fassung die für den Moskowski Nabljudatel (Moskauer Beobachter) bestimmt war, Anfang März 1835 vollendet. 1836 wurde sie noch einmal für den Puschkinschen „Sowremennik“ („Der Zeitgenosse“) umgearbeitet, wo sie im dritten Bande erschienen ist. Die Freigabe durch die Zensur erfolgte 1836. Auf Verlangen des Zensors mußte folgende Stelle des Manuskripts vor der Drucklegung im „Zeitgenossen“ umgearbeitet werden:

„Er eilte in die Kirche und drängte sich durch eine Reihe alter Bettlerinnen hindurch, deren Köpfe so tief in allerhand Tüchern und Lappen steckten, daß man von ihren Gesichtern nichts sah, als die beiden Augen. Wie herzlich hatte er oft über sie gelacht, heute aber schritt er an ihnen vorbei und betrat die Halle. Die Kirche war nur schwach besucht, die Mehrzahl der Beter stand vorne am Eingange in der Türe. Kowaljew war so erregt und verstimmt, daß er es nicht über sich gewann, zu beten. Er suchte „die Nase“, suchte sie in allen Winkeln und sah den Herrn endlich etwas abseits in einer Ecke stehen. Die Nase hatte ihr Gesicht ganz in einem hohen Stehkragen versteckt und betete mit dem Ausdruck tiefster Andacht. „Unter welchem Vorwande soll ich mich ihm bloß nähern?“ dachte Kowalew. „Er ist gekleidet, wie ein vornehmer Herr, und noch dazu Staatsrat.“ Er stellte sich neben ihn und hustete ein paarmal laut, aber die Nase verharrte in ihrer andächtigen Stellung und beugte sich immerfort tief bis zur Erde. „Geehrter Herr!“ sagte Kowalew, indem er sich selbst Mut zuzusprechen suchte: „Geehrter Herr!“ „Was ist Ihnen gefällig?“ entgegnete jener, indem er sich umdrehte. — „Ich finde es sehr seltsam, mein Herr, ... Mir scheint, Sie sollten wissen, wo Ihr Platz ist ... und plötzlich finde ich Sie ... hier ... in der Kirche. Sie müssen selbst zugeben, daß ...“

„Ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen. Bitte erklären Sie sich deutlicher.“ „Wie soll ich es ihm nur klar machen?“ dachte Kowalew, faßte jedoch wieder Mut und begann: „Ich will natürlich ... Übrigens bin ich ... Ohne Nase herumzulaufen ... Sie müssen doch zugeben, in meiner Lage ist das höchst peinlich. Ich bin doch kein Hökerweib, das an der Woskressenskibrücke sitzt und geschälte Apfelsinen feilbietet ... Die braucht freilich keine Nase ... Aber ein Mann, der Ansprüche auf einen Gouverneursposten hat ... und sie ganz ohne Zweifel erfüllt sehen wird ... Ich weiß wirklich nicht, mein Herr.“ — Hierbei zuckte der Major mit den Achseln. „Verzeihen Sie. Wenn man diese Sache vom Standpunkt des Ehr- und Pflichtbewußtseins betrachtet, dann müssen Sie doch selbst einsehen ...“ „Ich verstehe kein Wort,“ versetzte die Nase, „bitte drücken Sie sich etwas deutlicher aus.“

„Mein Herr,“ sagte Kowalew ernst und würdig. „Ich weiß nicht, wie ich Ihre Worte auffassen soll ... Die Sache liegt doch wohl sehr klar ... oder Sie wollen bloß nicht ... Sie sind doch meine Nase, meine eigene Nase!“ Die Nase sah den Major an und runzelte die Stirn.

„Sie befinden sich in einem Irrtum, mein Herr! Ich stehe völlig selbständig da. Nebenbei bemerkt kann es zwischen uns keine näheren Beziehungen geben. Nach den Knöpfen Ihrer Interimsuniform zu urteilen, dienen Sie im Senat oder doch im Justizministerium, während ich in der wissenschaftlichen Branche tätig bin.“ Kowalew befand sich in der größten Verlegenheit und war ganz verwirrt. „Was soll ich machen?“ dachte er. Doch in diesem Augenblick vernahm er in der Nähe das angenehme Rauschen einer Damenrobe. Eine ältere, ziemlich umfangreiche Dame, die in einem üppigen Spitzenkleide steckte, welches einige Ähnlichkeit mit einem gothischen Bau hatte, betrat die Kirche. Sie wurde begleitet von einer jüngeren und schlankeren Dame in einem Kleide, das sich in schönen Falten um ihre schlanke Gestalt legte, und mit einem Strohhut, der so leicht und zart war, wie eine Meringentorte. Hinter beiden stand ein großer Herr mit einem mächtigen Backenbart und einem ganzen Dutzend Kragen; er war eben im Begriff seine Tabaksdose zu öffnen und wollte gerade eine Prise nehmen. Kowalew näherte sich der Gruppe, ordnete den Batistkragen seines Vorhemdes, sowie die Berlocken an seiner Uhrkette und wendete mit einem lächelnden Seitenblick seine Aufmerksamkeit der duftigen Dame zu, die sich gleich einer Frühlingsblume leicht vornüberbeugte und ihr Händchen mit den weißen durchsichtigen Fingern an die Stirne führte. Das Lächeln, welches auf Kowalews Lippen schwebte, wurde immer breiter und intensiver, als ihm unter dem Hut ein Teil ihres Kinns und ihrer Wange entgegenleuchtete. Aber plötzlich sprang er zurück, wie wenn er sich an einem glühenden Eisen verbrannt hätte; er erinnerte sich, daß er in seinem Gesicht anstelle der Nase nur eine glatte Fläche hatte, und Tränen entströmten seinem Auge. Er drehte sich um um dem Herrn offen zu erklären, er trage bloß die Maske eines Staatsrats, während er in Wahrheit ein Betrüger und ein Lump sei; tatsächlich sei er nichts andres als seine eigene Nase. Aber die Nase war bereits verschwunden, sie hatte wahrscheinlich schon einen bedeutenden Vorsprung gewonnen und stattete wieder irgend jemandem einen Besuch ab. Kowalew verließ die Kirche. Das Wetter war wundervoll, heiter und sonnig; auf dem Newski-Prospekt wimmelte es nur so von Menschen. Ein wahrer Sturzbach von Damen flutete durch die Straße. Dort kam ihm schon ein guter Bekannter entgegen, der Hofrat ...“

Eine bedeutende Umarbeitung erfuhr auch die folgende Stelle der ursprünglichen Fassung: „Der ehrenwerte Beamte hörte ihn mit vielsagender Miene an und fuhr fort, das vor ihm liegende Geld zu zählen, von dem er 2 Rubel 33 Kopeken, die er für das Inserat erhalten hatte, beiseite legte. Zu beiden Seiten standen allerhand alte Weiber, Kommis, Hausburschen und Kutscher, jeder mit Zetteln in der Hand. In dem einen Zettel wurde angekündigt, es sei ein tüchtiger nüchterner Kutscher von guter Führung abzugeben; in dem andern wurde eine noch wenig gebrauchte Equipage feilgeboten, die aus der Zeit Peters des Großen stammte und keine heile Schraube mehr hatte. Der eine hatte ein gesundes Mädchen von neunzehn Jahren abzugeben, die als Wäscherin gedient hatte, aber auch bei andern häuslichen Arbeiten zu verwenden war, der jedoch schon mehrere Zähne fehlten; ein anderer suchte eine solide Droschke zu verkaufen, der nur eine Feder mangelte, oder einen jungen wilden Apfelschimmel von 17 Jahren; dort wurden ein Posten frisch aus London eingetroffener Rüben und Radieschensamen, und dort wieder sogenannte indische Radieschen ausgeboten, eine schöne Villa mit allen Bequemlichkeiten, zwei Pferdeställen und einem Platz, wo man sehr gut einen Garten anlegen konnte. Ferner wurde der Verlust eines Geldbeutels bekannt gegeben und dem ehrlichen Finder eine anständige Belohnung in Aussicht gestellt, oder es wurden Käufer für alte Sohlen gesucht, wobei die Reflektanten aufgefordert wurden, sich zu einer bestimmten Stunde zur Versteigerung einzufinden. Das Zimmer, in dem sich alle diese Leute aufhielten, war klein, vollgeraucht und die Luft in ihm war so dumpf und dick, daß man sie mit dem Messer schneiden konnte, denn die russischen Bauern haben die merkwürdige Eigentümlichkeit, die Luft bedeutend zu verdichten, und wo einmal vier Hausknechte in roten Hemden und ein Kutscher zusammenkommen, da kann man ruhig eine Axt in der Luft aufhängen. Zum Glück konnte der Kollegien-Assessor nichts davon riechen, er hielt sich ja ein Taschentuch vors Gesicht und dann befand sich ja auch seine Nase Gott weiß wo.“ —

Das von den Worten „Gleich, gleich“ bis zum Schluß des zweiten Kapitels reichende Stück ist eine spätere Bearbeitung des ursprünglichen weit einfacheren Textes. In dem ersten Manuskript lautete diese Stelle folgendermaßen:

„Gleich, gleich! — Zwei Rubel dreiundvierzig Kopeken ... einen Rubel sechzig Kopeken!“ sagte der grauhaarige Herr, während er den alten Weibern und den Hausburschen ihre Zettel ins Gesicht warf. „Und was wünschen Sie?“ fragte er endlich, indem er sich an Kowalew wandte.

„Ich möchte ganz besonders darum bitten ...,“ sagte Kowalew: „es ist eine unerhörte Gaunerei oder Betrügerei passiert — ich kann der Sache noch immer nicht auf den Grund kommen. Ich bitte Sie nur, in die Zeitung einrücken zu lassen, daß derjenige, der diesen Schurken dingfest macht, eine ausreichende Belohnung erhalten soll.“

„Hm, darf ich Sie um Ihren Familiennamen bitten?“

„Kowalew, — Kollegien-Assessor Kowalew, Sie brauchen übrigens bloß zu schreiben: ein Mann vom Range eines Majors ...“

„Ja und wer ist denn eigentlich der Flüchtling? Ist er einer Ihrer Leibeigenen?“

„O nein, keineswegs ein Leibeigener! Das wäre noch keine so große Gemeinheit. Nein es ist eine ... Nase.“

„Hm, was für ein merkwürdiger Name! Und hat Sie denn dieser Herr Nase um eine große Summe bestohlen?“

„Eine Nase ... das heißt, Sie verstehen mich falsch. Meine — meine eigene Nase ist ganz spurlos verschwunden. Der Teufel selbst hat sich einen Scherz mit mir erlaubt. — Und nun fährt diese Nase als Herr verkleidet durch die Stadt und hält alle Leute zum Narren ... Ich möchte Sie nun bitten, eine Annonce in die Zeitung einrücken zu lassen, daß jeder, der den Kerl abfassen sollte, ihn mir persönlich vorführen möge — diesen Gauner, diesen Hundesohn ... Entschuldigen Sie bitte, ich muß husten, mein Hals ist ganz trocken. Ich bringe kaum noch ein Wort heraus.“

Der Beamte wurde nachdenklich, was man aus seinen fest zusammengekniffenen Lippen schließen konnte.

„Nein, eine solche Annonce kann ich nicht aufnehmen,“ sagte er schließlich nach längerem Stillschweigen.

„Wie? Warum nicht?“

„So. Die Zeitung würde ihren Ruf aufs Spiel setzen. Da könnte jeder kommen und anzeigen, daß ihm seine Nase oder seine Lippen ausgerückt seien ... Man spricht schon ohnedies, daß soviel falsche Gerüchte verbreitet und soviel Torheiten gedruckt werden.“

„Ja, wenn mir aber doch meine Nase wirklich abhanden gekommen ist!“

„Wenn sie Ihnen abhanden gekommen ist, so ist das Sache des Arztes. Man sagt, es gibt Menschen, die Ihnen Nasen von beliebiger Form ansetzen können. Übrigens scheinen Sie mir ein Schalk zu sein, Sie machen wohl gern einen Scherz.“

„Ich schwöre Ihnen bei allem was mir heilig ist. Bei Gott ich lüge nicht! Soll ich es Ihnen zeigen?“

„Aber ich bitte Sie, warum wollen Sie sich unnütz bemühen,“ fuhr der Beamte fort, indem er eine Prise nahm. „Übrigens, wenn es Ihnen nicht zu viel Umstände macht, so würde ich mir die Sache doch ganz gern ansehen,“ fügte er mit einem neugierigen Blick hinzu.

Der Kollegien-Assessor zog das Taschentuch weg.

„In der Tat, das ist sehr merkwürdig,“ sagte der Beamte, „das sieht genau so aus, wie ein frisch gebackener Eierkuchen. Die Fläche ist ja geradezu unglaublich glatt und eben.“

„Nun, was sagen Sie jetzt! Also bitte lassen Sie die Annonce sofort einrücken.“

„Ich könnte sie schließlich einrücken lassen. Das wäre ja eine Kleinigkeit, nur kann ich nicht sehen, daß Ihnen ein großer Vorteil daraus erwachsen würde. Wenn Sie es durchaus wünschen, daß die Sache bekannt wird, so teilen Sie die Geschichte doch einem Schriftsteller mit, einem Mann, der eine gewandte Feder führt, der könnte den Fall als ein interessantes Naturspiel beschreiben und den Artikel in der „Biene des Nordens“ veröffentlichen, (hier nahm er wieder eine Prise) zum Nutzen und zur Belehrung aller jungen Leute, die sich mit den Wissenschaften beschäftigen (hierbei wischte er sich die Nase ab), oder überhaupt zur Unterhaltung und zur allgemeinen Erbauung.“

Der Kollegien-Assessor war völlig verzweifelt und niedergeschlagen. Er warf einen Blick auf ein vor ihm liegendes Zeitungsblatt und den Vergnügungsanzeiger; schon wollte ein Lächeln sein Gesicht verklären, als er den Namen einer hübschen Schauspielerin las, und seine Hand griff mechanisch nach der Tasche — sie suchte nach einem blauen Schein, denn nach Kowalews Ansicht mußten Personen vom Range eines Stabsoffiziers mindestens im Parkett sitzen. Aber der Gedanke an seine Nase schnitt wie ein scharfes Messer in sein Herz. Der arme Kowalew machte sich also auf und begab sich von einem unerträglichen Schmerz gequält zum Polizeikommissar, der ein großer Freund von Süßigkeiten war; sein ganzer Flur und sein ganzes Eßzimmer war mit Zuckerhüten vollgestellt, die ihm die Kaufleute aus einer besonderen Freundschaft für ihn verehrt hatten. Die Köchin zog dem Polizeibeamten gerade seine großen Stulpenstiefel aus, sein Degen und seine ganze Kriegsrüstung hingen schon friedlich in der Ecke; sein dreijähriges Söhnchen machte sich bereits mit dem mächtigen Dreimaster zu schaffen, und der Kommissar war eben im Begriff, sich nach den Strapazen des kriegerischen Lebens den Genüssen des Friedens hinzugeben. Da trat Kowalew bei ihm ein, gerad als jener sich bequem auf dem Sofa ausstrecken wollte, seinen Mund zu einem kräftigen Gähnen verzog und sagte: „So, nun leg’ ich mich auf zwei Stunden hin; ich werde ein feines Schläfchen tun.“ Daher kann man sich vorstellen, wie ungelegen ihm der Besuch des Kollegien-Assessors kam, und ich weiß nicht, ob er, auch wenn er ihm einige Pfund Tee oder ein paar Meter Tuch mitgebracht hätte, viel freundlicher empfangen worden wäre. Der Kommissar war ein großer Freund der Künste und aller Manufakturgegenstände überhaupt, trotzdem er oft behauptete, es gäbe nichts Angenehmeres als eine Staatsbanknote: „Sie braucht nur wenig Platz, läßt sich bequem in die Tasche stecken, und wenn man sie fallen läßt, geht sie nicht entzwei.“

Der Polizeikommissar empfing Kowalew ziemlich kühl und trocken. Er erklärte, daß die Zeit nach dem Essen nicht der geeignete Moment für amtliche Nachforschungen sei; die Natur selbst weise darauf hin, daß der Mensch, wenn er sich satt gegessen habe, der Ruhe pflegen müsse, (woraus deutlich hervorgeht, daß der Polizeikommissar ein Philosoph war); einem anständigen Menschen könne es nie passieren, daß ihm die Nase abgerissen werde, und es laufen in der Welt genug Majore herum, die nicht einmal ihre Unterhosen sauber zu halten wissen, und sich in allerhand unanständigen Lokalen herumtreiben.

Diese Worte trafen unseren Helden mitten ins Herz! Man muß nämlich wissen, daß Kowalew eine äußerst empfindliche Natur war. Er konnte alles verzeihen, was man über ihn sagte, nur keinen Verstoß gegen die seiner amtlichen Würde gebührende Achtung. Er war der Ansicht, daß man auch in den Theaterstücken wohl eine Bemerkung über die höheren Offiziere durchlassen könne, aber niemals ein Wort, das sich gegen die Stabsoffiziere richtet. Der Empfang des Polizeikommissars brachte ihn derartig aus der Fassung, daß er empört den Kopf schüttelte, die Hände weit ausstreckte und würdevoll ausrief: „Ich muß gestehen, daß ich auf solche beleidigende Äußerungen nichts zu erwidern habe ...“ Und damit ging er hinaus.

Der Major kehrte mehr tot als lebendig nach Hause zurück; nach all diesen seelischen Erschütterungen wußte er kaum noch, ob er auf seinen Füßen stehe oder nicht. Er warf sich müde in einen Lehnstuhl und brach, nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, in bittere Klagen aus: „Mein Gott, mein Gott! Womit habe ich bloß ein solches Unglück verdient? Hätte ich noch eine Hand oder einen Fuß verloren, wären mir meine beiden Ohren abhanden gekommen — es wäre noch immer leichter zu ertragen, aber ein Mensch ohne Nase — das ist ein Ding, das man nehmen und zum Fenster hinauswerfen möchte. Hätte man sie mir noch abgeschnitten, oder wäre ich selbst schuld daran — aber so ganz ohne Grund zu verschwinden! Weiß Gott, das ist doch zu unwahrscheinlich! Vielleicht schlafe ich bloß, und ich habe dies alles nur geträumt.“ — Und der Kollegien-Assessor kniff sich mit dem Finger ins Fleisch, sodaß er vor Schmerz beinahe laut aufgeschrieen hätte. „Nein, hol’s der Teufel, ich schlafe nicht!“ Er stand ganz leise auf, näherte sich vorsichtig dem Spiegel, kniff die Augen erst ein wenig zu und blickte dann plötzlich hinein: „Wer weiß, vielleicht hatte er doch noch eine Nase!“ aber er sprang sogleich wieder vom Spiegel zurück und murmelte: „Weiß der Teufel! Die reinste Karikatur!“

Und in der Tat, der Fall war wirklich ganz unmöglich und völlig unwahrscheinlich; man hätte ihn wirklich für einen Traum halten müssen, wenn er nicht tatsächlich passiert wäre und sich nicht eine ganze Menge von völlig einwandfreien Beweisen dafür gefunden hätte. Der Major überlegte lange Zeit, wer wohl hier der Schuldige sein möchte; und kam schließlich zum Resultat, daß noch am ehesten eine Witwe, die Gattin eines verstorbenen Stabsoffiziers, die Schuld an seinem Unglück treffe. Diese wünschte nämlich, daß der Major ihre Tochter heiraten solle, und er hatte ihr auch in der Tat die Cour geschnitten, war aber zugleich einer deutlichen Erklärung stets aus dem Wege gegangen. Als ihm jedoch die Witwe offen mitteilte, daß sie ihm gern ihre Tochter zur Frau geben würde, da trat er den Rückzug an und sagte, er sei noch zu jung und müsse noch gegen fünf Jahre dienen, um die runde Zahl von zweiundvierzig Jahren zu erreichen. Sicherlich hatte sich die Witwe an ihm rächen wollen, sich daher entschlossen, ihn zu verstümmeln, und ein paar alte Hexen gegen ihn aufgehetzt, wahrscheinlich aber hatte auch sie selbst mit dabei geholfen.

Während er noch über diese Dinge nachgrübelte, hörte er plötzlich im Vorzimmer eine fremde Stimme: „Wohnt hier der Kollegienassessor Kowalew?“

„Bitte treten Sie ein. Der Kollegienassessor ist zu Hause!“ sagte er, indem er vom Stuhl aufsprang und die Türe öffnete. Es war der Polizeikommissar, der am Ende der Isaksbrücke gestanden hatte, ein Mann von sehr würdigem Äußeren.

„Ich glaube, Sie beliebten, Ihre Nase zu verlieren.“

„In der Tat!“

„Sie ist soeben angehalten worden.“

„Was sagen Sie“ rief der Major hocherfreut aus. „Auf welche Weise ist das geschehen?“

„Durch einen sehr merkwürdigen Zufall. Man hat sie fast im Moment ihrer Abreise angehalten. Sie hatte schon ihren Platz im Postwagen eingenommen, um nach Riga zu fahren. Der Paß war schon längst ausgestellt und lautete auf einen Schuldirektor in Tambow. Das Merkwürdigste jedoch ist, daß ich sie selber für einen Herrn gehalten habe, aber ich hatte zum Glück meine Brille mitgenommen; so setzte ich sie denn auf und erkannte sogleich, daß es nur eine Nase war. Ich bin nämlich kurzsichtig, und wie Sie jetzt vor mir stehen, unterscheide ich weder Nase noch Bart oder sonst etwas. Meine Schwiegermutter, die Mutter meiner Frau, sieht auch fast gar nichts.“

Kowalew war außer sich vor Freude: „Wo ist sie, wo? Ich laufe sofort hin!“

„Seien Sie ganz ruhig, ich weiß, daß Sie sie brauchen, ich habe sie deshalb gleich mitgebracht. Das Seltsamste ist, daß der Hauptschuldige an der ganzen Sache ein Lump von Barbier aus der Wosnessenski-Straße ist, der zurzeit schon in Polizeigewahrsam sitzt. Ich habe ihn schon lange in Verdacht, daß er ein Dieb und ein Trunkenbold ist; erst vor drei Tagen hat er im Gostinny Dwor ein halbes Dutzend Knöpfe gestohlen. Ihre Nase ist gänzlich unversehrt.“ Mit diesen Worten steckte der Polizeikommissar seine Hand in die Tasche und holte die Nase heraus, die in ein Stück Papier eingewickelt war.

„Ja, das ist sie!“ rief Kowalew ganz selig aus. „Das ist sie wirklich. Wollen Sie eine Tasse Tee mit mir trinken?“

„Mit dem größten Vergnügen, aber es ist mir leider unmöglich. Ich bin sehr beschäftigt. Die Lebensmittel sind jetzt so teuer geworden. Meine Schwiegermutter, d. h. die Mutter meiner Frau, wohnt auch bei mir im Hause. Und dann habe ich noch Kinder. Der Älteste berechtigt zu den schönsten Hoffnungen, das ist wirklich ein recht intelligenter Bursche, mir fehlen nur leider die Mittel, ihm eine gute Erziehung zu geben.“

Kowalew begriff die Anspielung, nahm einen roten Zettel vom Tisch und drückte ihn dem Polizeikommissar in die Hand, dieser machte einen Kratzfuß und ging zur Tür hinaus; fast im selben Augenblick hörte Kowalew seine Stimme auf der Straße, wo er einem dummen Bauern, der mit seiner Fuhre auf den Boulevard geraten war, eine kräftige Mahnung in Form einer Ohrfeige erteilte. Der Kollegienassessor kam endlich wieder zu sich, denn die Freude hatte ihm alle Besinnung geraubt ... „Gott sei Dank, jetzt habe ich doch wieder eine Nase! Nun will ich sie mir aber auch wieder ansetzen.“ Mit diesen Worten versuchte er es, sie an ihren alten Platz zu bringen, aber zu seinem Erstaunen mußte er bemerken, daß die Nase durchaus nicht haften bleiben wollte. „Nun sitz doch fest, du Rindvieh!“ sagte er zu ihr, aber die Nase war ganz dumm und fiel immer wieder auf den Tisch, sowie er sie losließ. Das Gesicht des Majors verzerrte sich krampfhaft. „Sollte sie wirklich nicht haften bleiben?“ sprach er erschrocken. Aber die Nase fiel tatsächlich auf den Tisch. „Ach Gott, ach Gott! Ja, wie kann sie denn auch festsitzen? Ich habe ja ganz vergessen, daß, wenn sie einmal abgeschnitten ist, man sie doch gar nicht wieder ansetzen kann.“

Unterdessen hatte sich das Gerücht von diesem außerordentlichen Ereignis in der ganzen Residenz verbreitet, und natürlich, wie das zu geschehen pflegt, nicht ohne viele Zutaten und Ausschmückungen. Um diese Zeit standen gerade alle Gemüter unter dem Eindruck übernatürlicher Vorgänge: erst kurz vorher hatten Experimente mit dem tierischen Magnetismus das ganze Publikum beschäftigt. Dazu war die Geschichte mit den tanzenden Stühlen in der Stallhofstraße noch in jedermanns Gedächtnis, und es war daher kein Wunder, daß man sich bald darauf zu erzählen begann, die Nase des Kollegienassessors Kowalew gehe jeden Tag pünktlich um drei Uhr auf dem Newski-Prospekt spazieren. Eine Menge von Neugierigen strömte dort jeden Tag zusammen. Dieses Ereignis bildete das besondere Entzücken all jener eleganten Müßigänger, die bei keiner Gesellschaft fehlen, und die es sich zur Pflicht machen, die Damen zu unterhalten und zum Lachen zu bringen. Die Sache kam ihnen sehr gelegen, da ihr Vorrat an Neuigkeiten zurzeit völlig erschöpft war. Aber es gab doch auch viele, die sehr ungehalten über diese Klatschereien waren, und ein Herr mit einem Stern erklärte ganz empört, er begreife nicht, wie in einem aufgeklärten Jahrhundert solche falsche und abgeschmackte Gerüchte entstehen könnten; ja er wunderte sich, daß die Regierung diesen Vorgängen nicht mehr Beachtung schenkte. Dieser Herr gehörte augenscheinlich zu jener Menschenklasse, die es für wünschenswert hält, daß die Regierung sich in alle Angelegenheiten mische, selbst in die alltäglichen Zwistigkeiten der Ehegatten.

Der arme Kollegienassessor hatte von all diesen Gerüchten Kunde bekommen, obwohl ich nicht sagen kann, auf welche Weise, denn er verließ fast niemals sein Zimmer. — Er befahl, niemand vorzulassen, ließ sich nirgends sehen, nicht einmal im Theater, und wenn selbst die tollste Posse gegeben wurde; er spielte nicht einmal mehr eine Partie Boston, mied sogar Herrn Jaryschkin, der sein Busenfreund war, und magerte im Laufe eines Monats derartig ab, daß er bald mehr einer Leiche als einem lebendigen Menschen glich ...

Übrigens war all das, was hier beschrieben ist, nur ein Traum des Majors. Als er wieder erwachte, geriet er so außer sich vor Freude, daß er wie toll aus seinem Bette sprang, zum Spiegel lief, und als er sich überzeugt hatte, daß alles am rechten Flecke saß, im bloßen Hemde durch das Zimmer zu hüpfen begann. Er führte sogar einen ganzen Tanz auf, der eine Art Mischung aus einer Française und einer polnischen Mazurka darstellte. Und als sein Diener Iwan den Kopf durch die Tür steckte, um zu sehen, was sein Herr treibe, da rief der Major ihm zu: „Mach, daß du hinaus kommst! Worüber wunderst du dich?“ Nach einer Minute aber warf er sich aufs Bett, richtete sich jedoch gleich wieder auf und schrie: „He, Iwan!“ — „Was wünschen der gnädige Herr?“ — „Hat nicht ein Mädel — so ein hübsches, nettes Mädel nach dem Major Kowalew gefragt?“ — „Nein, gnädiger Herr!“ — „Hm,“ sagte der Major Kowalew und blickte lächelnd in den Spiegel.“

Gogol hat „Die Nase“ noch einmal für die erste Gesamtausgabe seiner Werke umgearbeitet und ihr dort einen andern Schluß gegeben. Im Sowremennik („Zeitgenossen“) von Puschkin lautet dieser Schluß folgendermaßen:

„Da geschah etwas ganz Merkwürdiges und Unerklärliches. Plötzlich befand sich die Nase des Majors wieder an ihrem alten Platze. Dies geschah im Anfang Mai, ich kann jedoch nicht genau sagen, ob es am fünften oder sechsten Mai war. Als der Major frühmorgens erwachte, nahm er den Spiegel zur Hand und bemerkte, daß die Nase sich ganz, wie es sich gehörte, zwischen den beiden Wangen des Majors befand. Höchst erstaunt ließ er den Spiegel auf den Boden fallen und befühlte die Nase mehrmals mit der Hand, denn er war nicht sicher, ob es auch wirklich eine Nase sei. Aber da er sich überzeugte, daß es in der Tat nichts anders als seine höchsteigene Nase war, sprang er aus dem Bett und absolvierte im Zimmer einen Tanz, der eine Mischung aus einer Française und einem russischen Trepak darstellte. — Dann ließ er sich anziehen, wusch sich und rasierte sich das Kinn, das bereits eine große Ähnlichkeit mit einer Bürste angenommen hatte, mit der man sich bequem die Kleider bürsten konnte. — Und schon nach wenigen Minuten sah man den Kollegienassessor auf dem Newski-Prospekt herumspazieren, wo er lustig einherschritt und fröhliche Blicke auf alle Passanten warf; viele sahen ihn sogar im Gostinny Dwor ein schmales Ordensband kaufen, zu welchem Zwecke dies jedoch geschah — das hätte freilich niemand sagen können, denn er besaß gar keinen Orden.

Eine äußerst merkwürdige Geschichte! Ich kann sie absolut nicht verstehen. Und was soll das alles? Was hat es für einen Zweck? Ich bin überzeugt, daß weit mehr als die Hälfte davon ganz unwahrscheinlich ist. Es kann nicht sein; es ist völlig unmöglich, daß eine Nase ganz allein in einer Uniform in der Stadt herumfährt — und noch dazu als ein Mann von dem hohen Range eines Staatsrats! Und konnte denn Kowalew wirklich nicht begreifen, daß man nicht durch die Zeitung nach einer Nase suchen darf? Ich meine das nicht in dem Sinne, daß eine Annonce eine sehr teure Sache ist. Das sind alles Kleinigkeiten. Ich gehöre gar nicht zu den geizigen und habgierigen Leuten. Aber das ist unschicklich, das ist ganz ungehörig und geht nun einmal nicht. Eine Absurdität und weiter nichts! — Und dann dieser Barbier Iwan Jakowlitsch! Wozu mußte er so plötzlich auftauchen und dann wieder verschwinden, ohne daß man weiß, warum und zu welchem Zweck. — Ich gestehe, ich kann es absolut nicht begreifen, wie ich selbst so etwas schreiben konnte? Ich begreife überhaupt nicht, wie ein Autor sich solch ein Sujet wählen kann! Wozu soll das führen? Welchen Zweck kann das haben? Was beweist diese Erzählung? Nein — ich verstehe es nicht, ich verstehe es ganz und gar nicht. — Freilich ... die Phantasie ist keinen Gesetzen unterworfen, und dann passieren doch in der Welt auch wirklich viele ganz unerklärliche Dinge: wie aber verhält es sich mit diesem Fall? — Warum mußte die Nase von Kowalew ... und warum mußte Kowalew selbst ...? Nein, ich verstehe es nicht, ich verstehe es durchaus nicht. Die Sache erscheint mir so unerklärlich, daß ich ... Nein, das läßt sich einfach nicht verstehen!“

Das Porträt. Der erste Entwurf dieser Novelle erschien in Gogols „Arabesken“, 1841 wurde sie in Rom umgearbeitet. Die neue Fassung ist frühestens im März 1837 begonnen. 1842 wurde sie noch einmal durchgesehen und korrigiert und am 17. März dieses Jahres Pletnew eingesandt, der sie im „Sowremennik“ (Der Zeitgenosse) Band XXVI Nr. 3 abdruckte. Die Freigabe durch die Zensur erfolgte am 30. Juni 1842. 1851 nahm der Verfasser für die zweite Auflage seiner „Werke“ noch einige unbedeutende stilistische Veränderungen vor.


Druck von Mänicke & Jahn, Rudolstadt.

Fußnoten

[1] Hier fehlt ein größeres Stück, das den Übergang vom zweiten zum dritten Kapitel bilden sollte.

Anm. d. Herausg.

[2] Petuch = deutscher Hahn.

[3] Arschin = ⅔ Meter.

[4] Hier fehlen zwei Seiten im Manuskript. Dazu hat Schewyrew in der ersten Auflage folgende Bemerkung gemacht: Das Gespräch zwischen Tschitschikow und Kostanshoglo weist hier eine größere Lücke auf. Man muß annehmen, daß Kostanshoglo Tschitschikow den Vorschlag macht, das Gut seines Nachbars Chlobujew zu erwerben.

Anm. des Herausgebers.

[5] Eine Art Weißbier.

[6] Hiermit schließt die 96. Seite des Manuskripts, weiter fehlen zwei Seiten. In der ersten Auflage des zweiten Bandes hat S. Schewyrew folgende Anmerkung zu dieser Stelle gemacht: „Hier ist eine Lücke im Manuskript, welche wohl die Erzählung enthielt, wie Tschitschikow sich aufmachte, um den Gutsbesitzer Lenitzyn zu besuchen.“

Anm. des Herausgebers.

[7] In dem Manuskript trägt dieser Abschnitt keine Kapitelüberschrift; er stammt also aus einem ganz frühen Entwurf, in dem die Kapiteleinteilung noch nicht durchgeführt war.

Der Herausgeber.

[8] Gemeint ist die Farbe des Rauches der Navarinoschen Seeschlacht.

[9] Die russische bürokratische Hierarchie oder der Tschin zerfällt in vierzehn Klassen. Der Titular-Rat gehört der neunten an.

[10] Ein Pud = etwa 35 Pfund.

[11] Kollegien-Assessor: so heißen die Beamten des achten Beamtengrades. Im Heere nennt man sie Major; diese Bezeichnung führt Kowalew.

[12] Große Straße in St. Petersburg.

[13] Ein großer Bazar.

[14] Kleinbürgerstraße.

[15] Erzpriester.

Anmerkungen zur Transkription

Verweise auf Varianten im Text des zweiten Teils der Toten Seelen (im Anhang) sind mit Nummern in runden Klammern gekennzeichnet.

Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht verändert.

Zwei offensichtliche Übertragungsfehler wurden ebenfalls unverändert belassen. Auf Seite 71 sagt der General zu Tschitschikow: »Dir die toten Seelen abzukaufen?« Im Original heißt es hingegen richtig: »zu überlassen«, da ja der General der Besitzer der Bauern ist. Auf Seite 171 hat Chlobujew nicht »fünfzigtausend Bauern«, sondern wie im Original »fünfzig Bauern« geerbt.

Offensichtliche Fehler wurden, teilweise unter Zuhilfenahme des russischen Originaltextes, korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):