The Project Gutenberg eBook of Nein und Ja: Roman

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Title: Nein und Ja: Roman

Author: Otto Flake

Release date: December 28, 2014 [eBook #47797]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NEIN UND JA: ROMAN ***

NEIN UND JA

ROMAN
VON
OTTO FLAKE

1920
S. Fischer / Verlag
Berlin

Geschrieben 1919

Erste bis vierte Auflage
Alle Rechte vorbehalten, besonders das der Übersetzung
Copyright 1920 S. Fischer, Verlag

NEIN UND JA

I

Lauda kam am Nachmittag in Zürich an, Stadt die er nie betreten hatte, und erster neutraler, die er im Krieg betrat, seltsames Gefühl.

Er ertappte sich dabei, wie er gleich einem Zeitungsberichterstatter in fremdem Land, der seinen Artikel vorbereitet, kleinste Dinge notierte: Straße gefüllt mit jungen Männern, Straße gefüllt mit Auslagen entbehrter Dinge, Straße, in der Frühlingsbäume legitim blühten, denn Mensch darunter war im Einklang mit ihrer Freude, dachte nicht an Mord.

Folgend der grünen Avenue sah er die weiße Lohe, und als er die Brücke betrat, darunter der See zum stadtdurchziehenden Fluß ward, war es, als stehe er der Sonne so nah, wie man am äußersten Rand eines Kraters dem Erdfeuer nah steht; Silberebne lag zwischen Uferhügeln — gleich, ob man sie Wasser oder Licht nannte. Segel darauf waren regungslose Schmetterlinge, die mit senkrechten Flügeln eine Wiese aussaugen.

Da erhob sich ein Wind, erster Atemzug des Abends, und alsbald war die große Bewegung. Möwen warfen sich vom Gelände zum Spiegel, schreiend wie junge Hexen in der Walpurgisnacht der Bühne; die Schmetterlingsflügel blähten sich, begannen den dunklen Leib der Kajüte zu schleppen; Boote schaufelten vom Land, Wasserkäfer, die mit geknickten Beinen auf Flüssigem gingen — es ward der See zum Marktplatz inmitten der hügelbedeckenden Quartiere, Mittelpunkt, zu dem es aus allen Ecken schoß, als sei die Bucht ein Archipel, ferne Dörfer seine Inseln, von denen Ruderndes zur Versammlung der Insulaner eilte.

Lauda nahm ein Boot, war unter ihnen auf der Straße, worin Zeitungsjungen das Abendblatt ausriefen, der Photograph der Liebespaare vor dem Kasten stand, Kokotten kreuzten, wartend daß einer sie ins Schlepptau nahm. Belcanto Verdis mischte sich mit Dudelsack, und aus dem Kielraum einer Jacht quoll Foxtrott eines Grammophons, Unterwasserinstrument phantastisch. In dieser Jacht saß eine junge Miß, Lorelei in Mausgrau tailormade — zu unachtsam am Segelseil, sie rammte Lauda, ihm blieb nichts übrig, als aus dem umschlagenden Boot in ihren Kahn zu springen. Da er darin war, band er ruhig sein Fahrzeug an den Sporn und sagte lachend:

„All right, nun bringen Sie mich an Land.“

„Wo kommen Sie her?“ fragte sie, nasales Englisch verriet die Amerikanerin.

„Aus Brüssel,“ antwortete er und besann sich zu spät, daß das die schlechteste Empfehlung war, denn seit drei Monaten war Krieg zwischen ihrem Land und seinem. Es fiel schwer, ihr versteinertes Gesicht zu glätten; er erreichte es, indem er gewissenlos versicherte, er sei aus dem besetzten Brüssel entwichen, um an dem deutschen Irrsinn nicht länger teilzuhaben, obwohl nur soviel wahr gewesen wäre, daß er gekommen war, um Klarheit in der Frage der Schuld am Krieg zu erlangen. Beruhigung stellte ganz sich ein, als er erzählte, wie man ihn, den Nationalitätenlosen, zum Dienst gezwungen hatte; mit einem der Henker Miß Cavells hätte sie nichts zu tun haben wollen. Bestimmteste Vorstellungen in dem kleinen Köpfchen, das das eigenwillige amerikanische Kinn aufwies. Sie sprach geläufig deutsch, Studentin des Polytechnikums.

Unterdessen quoll aus dem Kielraum Twostep und Tango weiter, dort kauerte auch ein Seidenpinscher; Lauda lachte über solchen Zeitvertreib, mit Grammophon und Hund zu segeln. Sie sah erstaunt auf ihn herab, denn Schlanke stand am Segelbaum, hübsch, ein wenig flach und den Unterleib aus der Hüfte wölbend wie die gotische Figur des Christentums am Straßburger Münster.

Auf sie schauend achtete er nun seinerseits des Steuers nicht und ward aus einem Boot warnend angerufen, russisch und deutsch. Noch damit beschäftigt, rasch zu kreuzen, vernahm er seinen Namen, warf sich herum und sah Hannah Graumann, im Kreis schwarzhaariger Leute. Frage und Antwort flog hin und her, dann bestellte sie ihn zum Abend ins Café. Danach steuerte er ans Land, stieg aus und sah, daß Miß Lilians Jacht Caramba hieß — so schneidig, war es ihre Jacht?

Auf irgendeine Art mußte man in die Dinge springen; die eine, fröhliche, hatte sich von selbst gefunden; die andre, ernste, stand nun fest und entlockte — Widerstreben. Daß er Hannah sofort aufsuchen werde, war sein Plan gewesen; aber da er die Gesichter ihrer Begleiter gesehn hatte, wußte er, was er von ihr erfahren werde, die Auffassung russischer Sozialisten. Er wollte sich unterrichten, Weiß- und Gelbbücher lesen, und sein Gefühl für Helfferich und Ludendorff war böse, hart; doch überschüttet werden von der Worte Flut, drin Hochmut war und Eifer — nein. Ihm schien, es sei noch immer Zeit, das zu hören, und wichtiger, Tage der Einsamkeit, eben erst begonnener, zu verlängern. Es war so schön, in dem Land zu sein, das im Meer des Bluts wie eine Insel lag, und in sein Innres vorzustoßen. Vielleicht war es nur eigner Hochmut, selbst zu finden; wer kannte sich?

Er ging in das Café, das Hannah zugerufen hatte, schrieb, daß er erst zwei Wochen reisen wolle, gab den Brief dem Kellner. Am nächsten Morgen fuhr er nach Luzern, Billett nach Interlaken in der Tasche, und saß nach Mittag wieder im Zug, der durchs Wiesental von Lungern zum Brünig stieg. Der Paß erklommen lag Quertal von Meiringen bis Brienz wie erstes südländisches Frühlingsland vor ihm in Tiefe, und war ihm schöner, als hätte er die große Klimascheide des Gotthard in einem Loch durchkrochen.

Daß es Südland im Norden gab, mußte einer wissen; er wußte es und liebte diese Bahn, die mit Zahnrad und Adhäsion sich mühte, ehrlich im blauen Licht die Steigung zu überwinden. Es gab auch auf dem Brünig Palmen fünf oder sechs, und in dem Park des Grandhotels stand eine Tonfamilie, Schneewittchen mit den Zwergen — Kitsch, doch Erinnrung des Kinds. Er stieg aus, einen Zug zu überspringen; da berührte ihn eine Hand — Frau Hannahs.

„Es war nicht schwer,“ sagte sie, „Sie zu berechnen, Vorteil der ausfallenden Nachtzüge. Ich stand hinter Ihnen am Schalter, und Sie kamen mir unerwartet entgegen, denn mein Plan war, Sie an den Brienzer See zu leiten, Ort, wo ich ein Haus besitze.“

Er blickte forschend in Augen ihm vertraut, denn man konnte mit allem vertraut sein, was entgegentrat, und ihm fremd, denn drei Wochen heißer Begegnung waren nur Rausch gewesen, nicht Wunsch, sie zu verlängern. Warum? Vielleicht, weil diese Frau mit dem strahlenden Funken in brauner Pupille ihm zu verwandt war, die Sinnlichkeiten zu geschwisterlich ineinanderflossen, parallel, nicht gegenüberstehend. Das bot Möglichkeit einer Freundschaft, oft mahnend, etwas für ihre Verwirklichung zu tun, Vorsatz nie verwirklicht. Es waren jetzt zwei Jahre her, daß er im Begriff gewesen war, mit ihr von München nach der Schweiz zu fahren, da hatte man ihn angehalten und unter die Soldaten gesteckt; es wäre, wenn ihr Mann es so nennen wollte, eine Entführung geworden, aber er wußte nicht einmal, ob sie noch mit Graumann verheiratet war und ob das Kind, von dem sie in ihrer einzigen Mitteilung nach Brüssel geschrieben hatte, daß es sein eignes sei, Graumanns Namen trug.

Er führte sie an den Rand des Plateaus, wo unter Kastanien Strandkörbe standen, fünfhundert Meter über dem See, auf den sie wiesen.

„Ich bin Ihnen gefolgt,“ sagte sie, „nicht weil es mein ganzes Verlangen war, Sie in den Kreis einzuführen, den Sie nun fliehn, sondern weil Sie flohn und über mich wie schlimme Katastrophe plötzlich gleicher Wunsch hereinbrach. Erinnern Sie sich unsrer Gespräche in München, als ich erzählte, wie ich als Hannah von Cedernström in dem Augenblick, wo Ehe Haus Versorgung nicht mehr in Frage stand, Ehe Haus Versorgung aufgab, weiter zog?

Wäre es Lust am Neuen gewesen, hätte man wenigstens eine Erklärung gehabt; aber es kam aus Schichten der Erkenntnis, die eine Frau zu benennen scheut, weil sie zu fühlen glaubt, Erkenntnis sei Angelegenheit des Manns. Sie als Mann hatten eine Erklärung zur Hand, sprachen von Aufhebung, bekannten mutig, daß jede Wahrheit, die Sie erlebt haben, zwar nicht in Ihnen stirbt, aber ihre Dämonie über Sie verliert und vom Absoluten her zu einer relativen Wahrheit, kleiner Angelegenheit menschlichen Hirns wird, deren Wichtigkeit Sie einschränken.

Allen fühlte ich mich überlegen, weil ich das selbst empfand; Ihnen gegenüber mich schwächer, weil Sie sich in so männlicher Domäne legitim ergingen, ich nur tastend. Wir arbeiteten, diese Russen deklamierten nicht, wie Sie vielleicht glauben, sie dachten scharf, die einen verwarfen nur die Genossen der deutschen Partei, und ihnen war der Krieg ein deutsches Verbrechen; die andren verwarfen die Sozialisten aller Länder; die französischen taten in ihren Augen dasselbe wie die deutschen, und sie waren unter dem höheren Gesichtspunkt der großen Zersetzung damit einverstanden. Ich nahm an den Zusammenkünften in Kienthal und Zimmerwald teil und war Zeugin, wie eine neue Taktik entstand, die auf den Zusammenbruch wartet, um Sozialismus zu verwirklichen.

Die Russen, die Sie im Boot sahn, reisen in acht Tagen durch Deutschland nach Hause, um Kerenski zu stürzen; wenn man sie fragt, wie sie es mit ihrer Überzeugung vereinen, daß sie Ludendorffs Hilfe annehmen, lächeln sie, und ich weiß, was dieses Lächeln sagt. Wenn ich will, kann ich mit ihnen fahren; sie erwarten es, ich habe ihre Sprache gelernt, sie verheißen mir Wirkung, die noch keine Frau gehabt hat, und wissen nicht, daß ich zurückscheue, nicht weil ich nicht glaubte, nicht die große Verlockung fühlte, nicht die Energie hätte, in das Dunkel der Tat zu springen — sondern weil dieses Tödliche, Bohrende da in mir ist, daß, was Menschen tun, nur so lange Wert hat, wie man es will, nicht Gott ist, der unabhängig von seinen Gläubigen existiert. Ich trenne mich nicht von ihnen, fahre mit, nur eines muß sich erst erfüllen: daß ich noch einmal bis auf den Grund des Zweifels tauche, alles in mir zersetze, durch solchen Zweifel gerecht werde, durch solche Gerechtigkeit härtre Energie erlange.

Mich auszudrücken ist schwer — es ist ein Haß in mir gegen die Wichtigkeit, die ich mir beilege, wenn ich mich mit jenen sozialen Ideen beschäftige. Begegne ich nach irgendeinem heftigen Diskussionsabend wieder den Russen oder allgemein den Menschen, so finde ich sie gleich überzeugt, gleich bereitwillig; aber in mir zog sich eine Spannung zusammen, wie sich in den glücklichsten Tagen der Ehe mit Graumann eine Spannung zusammenzog, irgendeine Summierung von Begierden, die durch Güte des Partners nicht zu befriedigen waren; tat mir einer der Russen oder vorher Graumann den Gefallen, mich zu reizen, dann entlud ich mich und, zauberhaft, alles war verflogen, ich fühlte mich gut, und jeder Zweifel an den großen Ideen war unverständlich geworden. Antworten Sie nicht, das Weib in mir habe den Druck, den Willen, die Energie, den Herren gesucht. Im Fall der Russen war es nicht das Weib, sondern der geistige Mensch.

Was ich wissen möchte, ist: kennen auch andre den Wunsch, zu zerstören, was sie aufbaun, vollziehn auch sie die Gerechtigkeit, denn es ist eine Gerechtigkeit, indem sie so ungerecht sind, höhnen sie, was sie verehren, verehren sie nur um so inbrünstiger und bereuender, nachdem sie gehöhnt haben?“

„Erstaunliche Frau, die benennt, was ich wie mein letztes Geheimnis empfand, das zu entblättern mir erst die Nerven wachsen sollen. Vielleicht können Sie es, weil Sie stärker darunter leiden, ich widerstandsfähiger bin. Denn soviel ist mir klar, jenem Wunsch nach Zersetzung nachgeben, bedeutet große Widerstandslosigkeit. Früher beruhigte ich mich mit dieser Erklärung und fühlte mich überlegen, weil ich widerstehn konnte, das Dunkle in mir überdeckte; dann kam eine Zeit, wo ich feststellte, daß Abschließung gegen das Dunkle ärmer macht als die sind, die es suchen, Hingabe an das Dunkel reicher macht, weil es seelenhafter macht; das mag die Erklärung dafür sein, daß jedes helle Heidentum von einem Christentum bedroht wird, jede Männlichkeit den femininen Tag erlebt, jeder Diesseitige den Gott. Das ist heute mein Problem, wichtiger als das, was mir das Wichtigste war, die Kunst.“

„Und Lösung, ist sie möglich?“

„Nicht in dem Sinn, daß man im männlichen, heidnischen, diesseitigen Zustand endgültig beharren könnte. Weil wir immer endgültig sein wollen, tritt die innre Mahnung ein, Ihr Widerstreben, Ihre Spannung. Möglich ist nur, in dem Kampf zuletzt doch oben zu bleiben, vorausgesetzt, daß man überhaupt zu denen gehört, die ohne dauernden Aufenthalt im Dunkel, das zugleich das Warme, Schützende und Erregende ist, zu leben vermögen. Ja, ich glaube auf Ihre Frage antworten zu können.

Wenn Sie eine Wahrheit, eine Idee gefunden haben und an ihr festhalten wollen, ist das, als wiesen Sie die Erde an, sich nicht mehr zu drehn, da ihre Ruhelage nun feststehe; unmöglicher Befehl. Sie, ich, wir alle, sind Himmelskörper wie die Erde, rasend in Rotation — es läßt sich vermuten, welche Spannungen in ihnen entstehen, sich entladen, immerwährend. Die Spannung, von der Sie sprachen, ist Botschaft solchen Vorgangs, schwache Botschaft, gesandt aus den unbekannten Himmelsräumen in Ihrem Innern, darin Formung und Entformung unermüdlich sind. Denke ich daran, so stellt sich das heroische Gefühl ein, ich meine das der Tragödie, die auch Leben selbstzerstörerisch in den Rachen des Tods wirft. Ihr Grundbewußtsein von Ihnen selbst ist tragisch, es ist Tapferkeit, Hohn, Demut, Auflehnung darin. Sie neigen leichter als andre zu Spannungszuständen, deshalb suchen Sie den Druck, das Gebot, wie allgemein, aber auf dem engren Gebiet des Sinnlichen, Ihr Geschlecht.“

„Wenn es so ist,“ sagte sie, „wie halten dann andre, die Masse der Menschen, die Tragik, den Einbruch dessen, was die Ruhe stört, von sich fern, wie ist es möglich, daß sie überhaupt in Ruhe leben?“

„Wissen Sie das nicht? Indem sie sich einen Mittelpunkt geben, um den ihr Kosmos dreht, genau das, was Sie als Wahrheit oder Idee suchen. Und um den Mittelpunkt ganz unerreichbar zu machen, um vor einer Auflehnung wie der Ihrigen geschützt zu sein, die immer möglich ist, wenn man weiß, daß man einen solchen Gott selbst erfunden hat, geben sie ihm die Eigenschaft des absoluten Gotts, dem zu dienen nicht ehrenrührig ist, der Demut, das ist Willigkeit der Rotation, verlangen darf.

Lehnen sie sich auf, so gibt ihnen dieser Gott im religiösen Sinn den Druck, den ihre Atmosphäre braucht — das ist das letzte Geheimnis des menschlichen Gottesbegriffs, und er ist tief, denn er erklärt sich unmittelbar aus Energiezuständen, Gravitationsvorgängen unsrer innren Welt. Glaube ist der Druck, durch den die Milliarden Weltkörper, die mein Ich bilden, zu einer Einheit gezwungen werden. Auch wer glaubt, zersetzt sich wohl, aber er hat eine Gewißheit: daß die Zentralachse, um die er sich dreht, bleibt und stärker ist als er. Das Bedürfnis der Menschen nach Gehorsam und Unterordnung haben schon manche festgestellt, keiner als tiefste Beschaffenheit erklärt, denn wir treiben wohl Psychologie, aber nicht das, was uns noch zu entdecken bleibt, innre Physik, mathematische Seelengeographie — Seele ist ein Phänomen der kosmischen Physik.“

„Ihre Entdeckung, Lauda?“

„Mag sein, ich weiß es nicht, meine Entdeckung für mich jedenfalls.“

„Da Sie die Unterordnung für die tiefste Beschaffenheit des menschlichen Organismus ansehn, bleibt noch immer unerklärt, wie Sie und Ihresgleichen, die Sie so stolz Heiden nennen, ohne absoluten Glauben, Gott, Religion, nur mit relativem Glauben leben können.“

„Ziehn Sie selbst den Schluß: daß ich wie alle den tödlichsten Zersetzungen ausgesetzt bin, zwölfmal im Jahr den Tag habe, der mit Selbstmordgedanken entsetzlich gefüllt ist. Rettung ist immer wieder, daß der Wille, selbst Achse und Mittelpunkt zu sein, nicht zu unterliegen, suverän, männlich, ganz Energie zu bleiben, die Rolle des Gotts, also des Kristallisationspunkts, spielt.“

„Also kommen auch Sie nicht ohne Gott aus, sei es auch nur ein symbolischer?“

„So wahres Wort. Das Grundproblem, Hingabe oder Überlegenheit, Seelendunkel oder Klarheit, Feminität oder Männlichkeit nimmt Dimensionen an, in die alle Fragen stürzen.“

„Haben Sie in den zwei Jahren gearbeitet, Lauda?“

„Theaterstücke geschrieben? Nein. Auch Kunst stürzte in diesen Abgrund, denn sie beruht mehr als jede andre Tätigkeit auf Hingabe, Unterordnung, eifrigem Einheimsen der armen Ernte. Pathos, Leiden, Sentimentalität, Beredsamkeit, augenblickliche Lombardierung jeder kleinen Entdeckung auf seelischem Gebiet, das ist Kunst. Sie kommen nicht weiter, sie nehmen sich so ernst, sie glauben tief zu sein, und haften an der Oberfläche der Erde, denn sie variieren das Gegebne, die Einzelexistenz, die lügnerische Individualität, alles was nicht primär, nur Manifestation ist. Das alles soll stürzen; kommt keiner zuvor, durch mein Denken. O, wie verlogen Künstler sind. Sie fühlen wohl die Zersetzung der Einheit des Ichs, aber sie haben nicht den Mut, von ihr zu reden, vielleicht haben sie nur die Kraft nicht. Wenn eine Wahrheit in ihnen einstürzt, fürchten sie, nicht mehr produzieren zu können, deshalb kleistern sie und lassen am Ende die alten Götter wieder aufleben. Sie würden sich schämen, zu gestehn, daß ihnen die Weltanschauung unter den Händen zerfließt; statt ihre Zerrissenheit zu gestalten, retten sie sich in die bequeme Heiligkeit des Lebens.“

„Seltsam. Ich will Sie mit jungen Künstlern bekannt machen, die dasselbe zu fühlen scheinen, von ihrer Kunst bitter sprechen, Verächter jener Malerexistenz, die unermüdlich die Dinge variiert; ihr Haß gilt dem Gegenständlichen; sie malen nicht mehr Existierendes, befremdende abstrakte Gebilde. Und ich kann Sie, wenn Sie nur wollen, mit vielen zusammenbringen, die auf irgendeinem menschlichen Gebiet Opposition treiben. Es ist, als habe der Krieg sie von überall her in der Schweiz versammelt.“

 

Schlaf im Silberfall des Brunnens und Rauschen der Bäume war beglückend; als sich das Jubeln der Vögel hineinmischte, erwachte Lauda.

Sonne war noch nicht sichtbar; hinter dem Brienzer Horn am jenseitigen Ufer leckte Gold herauf. An der Wand hing Schwinds Bürgermädchen, das in kurzem Rock die Läden zur Sonne aufstößt; er tat wie es, fühlte sich nicht weniger kindlich. Doch dann kam Bewußtsein der Wirklichkeit; sie war nicht so reinlich, denn es war der Knabe da, sein Kind. Frau Hannah erhob zwar keinen Anspruch auf ihn, er war ihr Gast, der in keines Mannes Frieden einbrach, von Graumann war sie geschieden. Und doch war es geschmacklos, sich in diese Situation zu begeben, weil sie zu nah legte, das Familienleben fortzusetzen, sei es auch nur ein unverbindliches.

Hannah war sachlich genug gewesen, ihn dem Jungen nicht als Vater vorzustellen, ihm das Kind nicht als Sohn. Da sie also des Kinds froh war, und da sie unabhängig war, und da er an irgendeinem Tag seines Lebens zu ihnen verschlagen wurde, warum überempfindlich sein? Aber es war auch der Gedanke an Claire da, die ihm selbst gesagt hatte, daß er sie mit andren Frauen vergessen werde, und die ihm doch diese Situation nicht vergeben hätte, das gefälschte Idyll. Sie hätte ihm nicht einmal Begegnung mit Hannah allein, ohne das Kind und das Haus gestattet, denn sie hätte anerkennen müssen, daß Hannah das stärkre Temperament war und die Fähigkeit hatte, ihn in geistige Sphären zu begleiten, die nicht Claires waren.

Er fühlte Eifersucht der fernen Frau und wie sie höhnisch darauf wartete, daß auch diese Geistigkeit nur zu einer erotischen Begegnung führte — dann durfte sie sagen: Lüge, ihr gefallt euch in Umwegen, das ist schmutzig.

Er ging in den Garten, der eingelegt in Matten zum Fuß der Berge stieg. In sieben Fällen zerstäubte ein Bach von der Region des Schnees bis zu der des Segelboots. Im Garten fand er den Gärtner, sah ihm zu, wie er Bohnen pflanzte; mit einem tellerartigen Rund machte er Mulden, richtete in der Mitte eine Stange auf, legte darum die Bohnen; sein Messer schnitt den Regenwurm, Teil einer legitimen Handlung, Nahrung der Menschen betreffend.

Lauda sprach mit dem Eingebornen, ward respektvoll angehört, als sei er der Herr des Hauses — von diesem Haus brauchte nun noch Hannah zu kommen, in Wärme des Schlafs und loses Gewand gehüllt, an der Hand den Knaben, dann stand der Gärtner vielleicht auf, zog sich zurück, Diskretion eines Tölpels vor der Herrschaft.

Lauda ging ins Haus, brach in der Küche ein, sich Brot zu holen, nahm in der Bibliothek aufs Geratewohl zwei Bände und stieg bergan, zum ersten Wasserfall, dem dritten, vierten, bis er in Sicherheit sich fühlte, weil endlich keine Bank mehr stand.

Er aß das Brot, trank von dem Quell, öffnete ein Buch und lächelte, es war Fouqués „Undine“, das Märchen von den Wassergeistern, die überall sind, wo Bach hüpft, Wasser stäubt — traf ihn ein Stäubchen, war es, als neckte ihn die Nixe mit dem feuchten Saum. Gut, Märchen zu lesen; Märchen blieb, wenn Strindberg schon ermüdete. Zwar wurde im Verlauf das Märchen selbst zur Geschichte, die auf gelegtem Geleis lief; doch ging es leidlich aus, zerrann in Schaum des Donaustrudels, nicht Scheidung, nicht Versöhnung — Spiel wie eine Schleife geknüpft, gelöst; Schleife, die Beschäftigung für eine Stunde war, unbelastet von den Problemen und den dem Bürger so wichtigen Seelenkämpfen.

Als er aufhörte, stand die Sonne schon hoch; er dachte an den Mönch von Heisterbach, von dem Claire erzählt hatte: ein Jahrhundert war verflossen, als er zurückkehrte, alles fremd. Er hätte unbedenklich, ohne Zögern, seine Rolle übernehmen mögen, ausgenommen, daß er sofort in Staub zerfiel; Hannah wäre nicht mehr gewesen, das Kind nicht mehr, der Krieg nicht; nicht Claire — das allein würde ihn geschmerzt haben, denkend, wie sie ihn gesucht hätte. Er wäre unbefangen unter Menschen gegangen, nicht zweifelnd, daß er alles wiederfand, Frauen, Unterhalt und nicht unterliegendes Denken von den Zuständen Unabhängiger.

Am zweiten Wasserfall kam Absteigender in eine Schlucht. Da sah er vier Meter über dem Boden, vier Meter unter den oberen Bäumen, eine Gestalt, eingeschmiegt in eine Rinne, Plaid um die Hüften. Wurde das Märchen Wirklichkeit, lockte die Nixe? Darauf erkannte er ein blasses Gesicht, geschlossne Augen, die ohnmächtige Hannah. Sie hatte sich verstiegen, konnte nicht vorwärts, nicht zurück. Um ihren Mund lag ein bebender, entschlossen bittrer Zug, er mußte denken, daß sie schön war. Er rief sie an, sie erwachte. Er ließ sie das Plaid zuwerfen, legte es auf seine Brust, den Anprall zu mildern und befahl mit erhobnen Armen: „Springen Sie.“ Sie gehorchte, sie stürzten beide zu Boden, aber sie waren nicht verletzt.

„Wie lang standen Sie da’?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht, eine Sekunde der Ewigkeit, die aus allem heraushob. Es war nicht anders, als wenn der Abgrund unter mir vierhundert Meter tief gewesen wäre, ich rechnete ab. Nicht mehr ich dachte, in mir dachte das Unbekannte, das sich nun enthüllte. Ich verstand, was Todesstunde ist, denn ich merkte nicht, daß ich gesichert war, solange ich mich in die Spalte schmiegte, ich fühlte nur, daß ich stürzen und den Kopf auf der Kante zerschmettern würde. Denken war zeitlos, ich erkannte mich: keine Furcht vor dem Tod; Mißachtung war seltsamer Stolz, ich hörte, daß die Berge tosend rauschen, und dieses Rauschen war der Fall der Zeit in die Ewigkeit, gleichmüßiger Donner. Ich begann mit unaussprechlicher Intensität eine Gestalt zu schaffen — Alkestis, die für Admet zum Hades ging; Admet erlangt die Erlaubnis, ihren Schatten zu sprechen, bewegt sie, zurückzukehren. Sie will nicht mehr, alles ist fern, die Liebe, die Kinder, das Licht. Wäre ihr Dialog niedergeschrieben, es wäre vielleicht gewaltig.“

Sie hatte das Pathos der Erschütterten, darnach war sie erschöpft; unmöglich zum Haus zu gelangen. Er breitete das Plaid auf einer Wiese aus, sie hatte Körbchen des Frühstücks mitgebracht. Danach schlief sie, er las; nach einer Weile sah er sie nach einem Buch greifen, ließ sie gewähren. Stunde des Mittagspans war vorüber, die hohe heiße Stunde des frühen Nachmittags kam. Da schloß sie das Buch und sagte:

„Es ist eine Szene darin, die Sie lesen sollen. Sie durchwühlt mich, führt zurück zu dem heute morgen Gefühlten.“

Er sah nach dem Titel, es war ein Roman, der die Erobrung Mexikos durch Cortez behandelte.

„Erzählen Sie aus Ihrer Erregung,“ sagte er. Sie:

„Im Land der Azteken herrscht unerhörter Luxus und unerhörte Grausamkeit. Sie reißen den Gefangnen das Herz aus der Brust, bieten sich selbst als Opfer dar. Sie essen das Fleisch der Geopferten in Mais gebacken, nicht mehr Kannibalismus, religiöse Handlung. Ein Krieger hat sein Leben verwirkt. Man schmückt ihn, läßt ihm eine Woche lang jede Freiheit, er wird nun strahlender Gott geheißen, der unter Menschen weilt, jede Frau, zu der er geht, muß ihm zu Willen sein; doch bei diesem ist sein junges Weib, die zärtlich Schöne. Am letzten Tag setzt man ihm ein Gemüse vor, darin sind die Geschlechtsteile seines Weibes gekocht, er ißt, unbeschreiblich Schmerz, Stolz, Demut in ihm. Danach geht er zum Tempel, um sich das Herz aus der Brust reißen zu lassen; Volk bewundert, liebt und bleibt doch mitleidlos. Ist diese Mitleidlosigkeit nicht Sinn für ein Gesetz über uns, Symbol einer Philosophie, in der das Heroische noch die Größe des Barbarischen hat, die Götter grausam sind? Welch tiefer, gerechter Sinn, den Todgeweihten zum Gott zu erheben, solang er noch im Licht lebt, denn das Jenseits ist unsicher. Ist das Schlachten der jungen Frau und der teuflische Einfall, ihr Weiblichstes dem Gatten vorzusetzen, kannibalisch?

Ich fühle die Idee, die denkende Verkettung, die Dämonie darin, die Inbrunst, die Menschen heißt, Reiche zu gründen und Blumenfeste zu feiern, und den Stoizismus, der von Tod und Schmerz als den elementaren Wirklichkeiten weiß. Ich mag nicht mehr denken, denn die nächste Frage ist: waren die Deutschen nur Dummköpfe und Verbrecher, als sie den Krieg zur Achse ihrer Zivilisation machten? Waren die Spanier, Herde von Abenteurern, besser als die Azteken, die sie ausrotteten, um des Glaubens und Gottes willen?“

„Verbrecher und Dummköpfe waren jene nicht,“ antwortete Lauda, „selbst ihr Einfall in Belgien war nicht schlimmer als der Krieg, den Engländer gegen Buren führten. Expansion und Imperialismus eines Volks sind biologisch oder philosophisch gesehn nichts als das Bestreben eines Kosmos, der in sich einheitlich rotiert, die Nachbarzellen in sein System einzubeziehn und zur Stoffwechselgemeinschaft zu zwingen. Es ist der Grundvorgang alles Geschehns, und diese Vitalität empfanden die Deutschen wohl, sie hatten eine Philosophie, die auf die ältesten Urzustände zurückgriff. Und doch ist diese Philosophie ein verlorner Posten, denn der Mensch ist, wie jeder Kosmos, dem Gesetz der Mutation unterworfen. Schon die Bildung eines in sich rotierenden Kosmos ist Überwindung des Urzustands, in dem Zelle Zelle auffrißt. Zelle und Zelle gehn bereits eine Gemeinschaft ein. Der Begriff der Brüderlichkeit, der als Idee Güte heißt, beginnt den Kosmos von sich aus umzuschichten. Das ist der Sinn des christlichen Begriffs und seine Überlegenheit, die auf die Dauer den Sieg über die grandiose Barbarei eines aztekischen Systems davonträgt. Flache Köpfe sagen, der Krieg sei eine Verirrung, klare leugnen nicht, daß er der Vater aller Dinge war, aber sie fügen hinzu, daß er veraltete Methode geworden ist. Es gibt ja zwei Grundtatsachen der Existenz, ich und die andren, deshalb sind Egoismus und Brüderlichkeit gleichberechtigt und der Brudergedanke zuletzt der stärkre. Die Deutschen werden den Krieg verlieren und büßen, wie nie in zivilisierter Zeit gebüßt wurde; sie werden nicht nur für sich büßen, sondern für alle andren, die erst im Begriff sind, das kriegerische Prinzip aus sich auszuscheiden — sie werden also für die Gesamtheit der Völker ein Problem, das ein wahres Menschheitsproblem ist, durchkämpfen, und die andren werden von diesem Bruderdienst nichts wissen, sondern nur rufen: kreuzige sie. Das wird die Ungerechtigkeit sein, gegen die Deutschland wehrlos ist, und es wird seine Entsühnung sein. Fühlt man das, so ist es schwer, noch zu der Schuldfrage in der Tagesform Stellung zu nehmen. Aber es wird gut sein, von dieser höchsten Betrachtungsweise gar nicht zu sprechen, weil es neben ihr, der elementaren Sphäre, die Fordrung der praktischen Welt gibt, in der man nicht anschaun, sondern Stellung nehmen muß.“

Hannah sagte, zärtlich für einen Augenblick das Sie verlassend:

„Du sprichst weise wie ein Gott, erhaben und unberührt. Sagen Sie mir, ob Sie nicht auch wie ich vorhin das Bedauern empfinden, daß die großen elementaren Perioden so in uns sterben müssen und nur noch in Büchern mühsam rekonstruiert werden, unverweilende Erregung einer Stunde.“

„Als ich gestern das Tal herauffuhr, beobachtete ich, daß mitten in Mulden, durch die nun die Eisenbahn läuft, Moränenreste, ungeheure Ablagrungen von Gletschern liegen, die auch die Wände des Tals bis zur äußersten Höhe ausgeschliffen haben. Ihre Zeit ist vorüber. Als ich heute auf der Höhe stand, bleichten zwischen Moosteppich und starrenden Tannen Blöcke wie ein entblößter Kirchhof von Mammutschädeln. Die Zeit der Mammutschädel ist vorüber. Auch die Natur ist an das Nacheinander gebunden, und was uns erlaubt wird, ist, als späte Nachkommen eine Erinnrung an das Elementare zu haben. Wir sind mehr als alles an das Nacheinander gebunden, und unsre Kunst ist in ihrer letzten Absicht ein Versuch, die Möglichkeit, die nicht mehr besteht, zu rekonstruieren; Kunst ist Ergänzung.

Aber wer sagt, daß darum ein aufwühlender Eindruck wie der Ihrige nur Unterhaltung einer Stunde sei? Er durchsetzt Sie ja, wird weiter wirken und vielleicht schon heute abend einen Einfluß auf die Gestaltung Ihres Lebens haben, der ohne diese Lektüre unmöglich gewesen wäre. Wenn es uns gelänge — vielleicht gelingt es einmal — eine einzige unsrer Ideen in ihrer Chemie darzustellen, dann würde sich zeigen, daß in einem Traum, einer Handlung, einer Vorstellung dieselben Elemente gebunden sind, die in irgendeinem heroischen Zeitalter ungebunden, elementar vorhanden waren. Um ganz weise zu sein und Ihr spöttisches Kompliment zu verdienen: alles ist Variation, fortwährende Verbindung und Scheidung, nur das Format wird immer kleiner und reduzierter.

Die innre Kosmogonie ist noch nicht gefunden, wäre sie es, würde ich sagen: Hannah, Sie sind ein Stern aus Milliarden Sternchen, ich neben Ihnen wie Jupiter neben dem Abendstern; das ist die neue Religion, des Himmelskörpers Mensch. Es gibt einen Grad von Identifikation mit den Mitmenschen, der mir manchmal wie Irrsinn erscheint. Ich sehe eine Frau und philosophiere von ihren Hüften aus, fühle, höre das Rasen ihrer Zellen, steige in ihren Säften, breite mich in ihren Ästchen aus, aufgehoben jede Fremdheit, jeder Ekel. Lust, nach ihr zu greifen, sie durch Akt des Eros in mich zu überführen, dieses kannibalische Stadium, das wir Liebe nennen, wird ersetzt durch das geistige und darum nicht weniger absolute, mich in ihr zu wissen, Blutkörperchen in ihrem Blut.“

Sie sah ihn unsicher an, ihr Mund öffnete sich, zweimaliger Ansatz zum Reden, und Lauda bereute ein wenig, das Gespräch in jene Region geführt zu haben, wo alles Geistige zur primären Sinnlichkeit zurückkehrt, aber sie bezwang sich, fragte ablenkend:

„Und was haben Sie gelesen?“

„Das Eingangskapitel von Eugenie Grandet. Es ist bewunderungswürdig. Das ist Diktatur des Geists, die einzige, die erlaubt ist, Architektur einer Intelligenz, die alle Erscheinungen der realen Welt in Bausteine auflöst, aus denen das Fundament aufgeführt wird. Es ist die anschauliche irdische Welt, die Welt der Anwendung, nicht der Ideen, in denen ich mich bewege. Aber in meiner Welt nicht weniger klar, fugenlos, überlegen zu sein, das ist das höchste Ziel, das noch locken kann. Nur ein Franzose kann Balzac sein, kein Franzose kann der Balzac der elementaren Welt sein, dem doch die lateinische Klarheit unentbehrlich wäre.“

 

Lauda lag im halben Schlaf und suchte den ganzen zu finden, indem er auf das Rauschen des Falls lauschte, der am Morgen wie der Silberbart Kühleborns gewesen war, da hörte er zweimal ein Steinchen durchs Fenster fallen.

„Auch Undine treibt ihr Wesen,“ dachte er und trat in die Öffnung; weißes Gewand schimmerte.

„Ich kann nicht schlafen,“ rief Hannah hinauf, „die Nacht ist warm wie im Juni, kommen Sie noch in den Garten?“

Sie hüllten sich in Mäntel und stiegen zur gemähten Wiese. Der Bär stand zwischen den Berghörnern, Venus leuchtete wie ein Hospiz auf dem höchsten Grat, die Milchstraße zog gleich Rauch eines Holzfeuers unter der Wölbung, als zwinge die Wölbung ihn, sich auszubreiten.

„Man muß es von unten sehn,“ sagte Hannah und legte wie am Mittag den Mantel, „ich konnte nicht schlafen. Es machte wohl froh, mit Ihnen zu reden, alles Wirre ordnete sich durch Gespräch, Gespräch ist Entspannung. Aber als ich allein war, kehrte alles verstärkt wieder. Es ist ein Unterschied zwischen uns, der des Geschlechts. Mann, der philosophiert, wohnt in seinem legitimen Reich, Frau fühlt nur ihre Tragik. Was haben wir? Die Sehnsucht nach dem Druck, der über uns komme; was sind wir? Die nicht in sich selbst Schwingenden, die Kosmen ohne eigne Achse, um mit Ihnen zu reden, diejenigen, die Geistiges, wie wir es heute sprachen, erst ganz begreifen, wenn es in die Feststellung der letzten Sinnlichkeit einmündet. Warum fügten Sie diesen seltsamen Schluß hinzu, dieses Wort vom Von-den-Hüften-Philosophieren? Ich bin so weich geworden, es widerstrebt nicht, einem Mann zu gestehn, daß ich ihn nicht erreiche. Ich habe in diesen zwei Jahren alle kennengelernt, die in diesem Land für die Selbständigkeit der Frau streiten. Das Höchste, auf das sie hoffen, ist Wahlrecht und Bankkonto ohne Unterschrift des Manns. Es ist eine Fordrung der praktischen Welt und der sanft gewordnen Zivilisation, in der Bahnen fahren. Dahinter liegt die elementare, wie ist ihr das Wahlrecht gleichgültig. Was bin ich? Ein Mensch, täglich dem Einbruch der elementaren Sphäre in die gesittete ausgesetzt. Ahnen Sie, wie er zerrissen sein muß? Was ich Ihnen von dem Verlangen sagte, die Wahrheit durch Zweifel und Haß zu erkaufen, ist nichts als die nie gestillte Begierde, des Elementaren teilhaftig zu werden, damit Existenz in Ordnung erträglich und nicht als feige Lüge empfunden werde. O Freund Lauda in schweigender Nacht, die Dinge des mexikanischen Romans haben mich tiefer aufgewühlt als das extremste Programm. Helfen Sie einem Stolz, der vor Ihnen das Visier öffnet. Sei mir Bruder, da Brüderlichkeit Gerechtigkeit ist.“

„Brüderlichkeit,“ antwortete er so leise, wie sie gesprochen hatte, und ihr so nah wie sie ihm, „ist ein andres Wort für Inzest. Bruder nimmt die Schwester, es vereinigen sich die Getrennten. Wenn wir anfangen, geistig zu sein, überwinden wir die Sinnlichkeit, wenn wir es ganz sind, kehren wir zu ihr zurück. Ich wehrte mich, es ist gleich, was geschieht. O warme, brennende Schwester.“

In seinem Arm sagte sie:

„Ich gebe hin allen Fortschritt des Jahrhunderts, könnte ich jene Prinzessin sein, deren Geliebter Gott wird, bevor er stirbt. Er wählt sie unter allen, die ihm erlaubt sind, er könnte in den Nächten sie töten, um sie der letzten Grausamkeit zu entziehn, er tut es nicht, man muß sein Schicksal erfüllen. Sie stirbt vor ihm, aber während man sie verstümmelt, fühlt sie die Lust, daß er von ihr essen wird, er Held, für den es keine Auferstehung nach dem Tod gibt.“

Am nächsten Tag erfüllte sich die Szene, die ihn am Morgen vorher imaginär zur Flucht getrieben hatte. Er stand beim Gärtner, da kam Hannah aus dem Haus, an der Hand das Kind. Kein Grund mehr, zu widerstreben, Tat ist gerecht, so einfach. Es war ihm fremd, beim Anblick einer Frau, die sich in der Nacht in seine Arme geflüchtet hatte, am Morgen zu denken, nun sei „alles geändert“, Recht oder Verpflichtung entstanden. Es war auch ihr fremd; Wärme, im Druck der Hand verspürt, war gewachsen, darum nur sachlicher geworden; zwangloser Stolz in ihr, gute Haltung.

Das Kind, abwechselnd zwischen aufrechtem Gang und Kriechen, war unbefangen zu ihm, er zu dem Kind. Seejungen nannte er es, Hannah sah ihn verwundert an, er sagte:

„Auf einem bayrischen See gezeugt, am Zürcher geboren, aufwachsend am Brienzer.“

Sie lächelte, führte ihn in die Ecke des Gartens, bog Gebüsch zurück, zeigte die Statuette eines Jünglings; in der wolligen Haarschur, die wie die eines Stiers war, leise Andeutung tierischer Ohren.

„Pan, von dem du an jenem Tag in Bayern sagtest, er sei nicht bocksbärtiger Faun, sondern Jüngling aus den olympischen Spielen. D’Arigo machte ihn, ein deutsch-spanischer Künstler, der Ähnlichkeit mit dir hat, ich lud ihn auf morgen, mit noch einigen.“

„Laß ihn in die andre Ecke Eros stellen, der die Spannung löst, froh macht, straff, untragisch, wie du heute bist.“

„Ja, seltsam ist es; heute nacht konstruierte ich mir die nächsten Tage mit dir, die letzten vor der Abreise: voll Dunkel, gewalttätig gegen mich selbst sein, gewalttätige Liebe suchen, dann wie eine aufgewühlte Schauspielerin, Gefäß des Tragischen, dorthin reisen, wo das Geschick ins Maßlose wächst, Untergang eines im Bürgerkrieg zerfleischten Volks ist — nichts von allem mehr heute morgen, klar, froh, so hell die Tage vor mir, hinter dem Gewitter.“

„Nein, wir sind nicht gemacht,“ bestätigte er, „im Dunkel zu weilen, seßhaft zu werden in Selbstzersetzung, letzte Heiden, erste wieder.“

Sie war ihm nah, wie nie vorher, es verband ihn mit ihr das Gefühl, Vorstadium der Annäherung, suchendes, zehnmal in Frage gestelltes, sei überwunden, durch Gespräch und durch Handlung; Abstimmung sei erreicht, die große Parallelität, jeder für sich, einer neben dem andren. Ritterlichkeit, die sich um den Freund kümmert, war nicht mehr lügnerische Galanterie — Herzlichkeit der Selbständigen.

Bukolischer Tag ward Belohnung solcher Harmonie; Villa im Sinn des Horaz lag am alpischen See unter Bergen, die am Abend rosig erglühten; Verse des Horaz waren nicht mehr gewärtig, aber ihre Rebe und Ulme; kühler Wein zu Mittag, Schatten zum Vesper, Forellen am Abend. Es formte sich das Ideal künftiger Lebensmöglichkeit: ein Haus zu haben in Landschaft, über die die Schauspiele des Himmels ziehn, Sitz der Ruhe und des bestellten Bodens; Gegengewicht gegen Geistigkeit, Obst züchten und Gemüse. Wandrer hätte einen Ort, wo seine Habseligkeiten, Bücher, Gesammeltes waren — Ort, von dem er aufbrechen, zu dem er zurückkehren konnte; Märkte beliefern oder auch nur den eignen Tisch; Fischfang treiben und ländlichen Wein keltern.

Lauda verriet Hannah nichts von ersten Gedanken, damit sie nicht Pläne machen würden; aber als sie sah, daß er sich vom Gärtner Sinn jedes Beets erklären und um den Bezirk des Guts führen ließ, sagte sie:

„Es bleibt ungenutzt, wenn ich fort bin, der Bonne, dem Mädchen und dem Gärtner überlassen; ich wage nicht, ihnen zu sagen, wie lang und wie weit ich fortgehe. Bleibe hier oder benutze es zu Aufenthalten. Mir wäre es ein Dienst und verringerte Sorge um das Kind, dir eine Annehmlichkeit.“

 

Er saß an ihrem Schreibtisch und dachte: „Ist es poetische Reminiszenz an Romane, ist es Atavismus aus Zeiten, in denen die Menschen nachts zusammenkrochen, ist es einfach Wirkung bürgerlicher Zustände, die die vierundzwanzig Stunden in beschäftigten Tag und freie Nacht teilen — Hannah zeigt wie alle den Wunsch, Liebesstunde in die Nacht zu verlegen. Vielleicht ist es auch der Reiz, eine doppelte Existenz zu führen, tagsüber die eine nichts von der andren wissen zu lassen, den Mann und sich selbst durch den geheimen Gegensatz zu erregen. Wie dem auch sei, mir ist Eros in Tag und Licht am nächsten.“

Er sah ein Heftchen liegen, seine Leere lockte ihn, es zu beschreiben. Unerwarteter Gedanke bot sich an, es mit Feststellungen zu füllen, die sich von allen andren seiner Selbstbeobachtungen durch die Überzeugung unterschieden, daß sie nicht nur halbwahr, sondern von diktatorischer Bestimmtheit seien. Er schrieb der rücksichtslosen Diagramme Laudas erstes:

„Er liebt die Liebesstunde im hellen Tag, denn er will nicht im Dunkel der Frau zerfließen. Sinn der Liebeshandlung ist wohl, daß vom Ganzen abgetrennte Partikelchen zum Ganzen, noch nicht Geteilten, zurückkehren; darum warten die meisten die Nacht ab, Symbol der Rückkehr ins Primäre. Er aber wollte, weil er diesen Sinn fühlte, die Selbständigkeit nicht aufgeben, darum liebte er den Nachmittag, der erlaubte, danach nicht in Schlaf zu versinken, sondern im Licht zu bleiben. Den Verzicht des Partikelchens auf seine Individualität erreichte er auf andrem Weg, indem er die Frau zwang, mit ihm dem dritten Gemeinsamen, der Körperlichkeit, zu opfern, und ersparte ihr dadurch die verlogne Sentimentalität, daß sie glaubte, er gehe in ihr auf, oder sie in ihm.

War aber die Frau von Natur aus sentimental, dann verstand sie solche Parallelität nicht, und stellte fest, daß er den ‚Mensch in ihr beschmutzte‘, denn um das körperliche Opfer, die Bereitwilligkeit zur sachlichen Lust, als reinliche Handlung zu empfinden, in der einer dem andren nur einen Dienst erweist, dazu gehörte das Vermögen, die Würde der Persönlichkeit als Fiktion zu erkennen, unpersönlich, herrisch, elementar zu sein. Aber auch feinfühlige Frauen litten durch ihn, weil sie fanden, daß er sie in sinnlichen Fordrungen, sinnlichen Deutlichkeiten zu weit führe, und sie wahrhaft nackt, seelisch nackt vor ihm waren, der ihnen nicht den Mantel der Scham ließ. Eine Frau mußte von äußerster Leidenschaftlichkeit, also individueller Begierde sein, also Hingabe nicht ‚nur um seinetwillen‘ vollziehn, und sie mußte die äußerste Gewißheit seiner Freundschaft besitzen, um nicht plötzlich in höchster Lust ihrer Einsamkeit bewußt zu werden oder ihre Sicherheit zu verlieren; sie hätte vielleicht weniger Deutlichkeit, weniger Sachlichkeit verlangt, denn wenn er von ihr ging, war ihr das Mysterium für alle Zeit entschleiert und es blieb eine Kenntnis ihrer Sinne, die zugleich wie ein brennendes Gift weiterwirkte und die Begegnung mit einem andren Mann matt erscheinen ließ, in dessen größrer Rücksicht sie die Klarheit Laudas vermißte.

Das fühlend litt er an sich selbst, nicht in dem Sinn, daß er sich für einen Zerstörer hielt, aber die Zerstörung feststellte. Gab sich ein junges Mädchen in seine Hände, wurde es unter ihnen reif — das war Zerstörung und doch nach seiner Auffassung Erfüllung ihres Schicksals. Löste sich eine Frau von ihm, fluchte sie ihm vielleicht und verleugnete ihn — es war zu ertragen.

Er sah durchaus, wie das Positive seines Naturells von einem andren Gesichtspunkt her negativ wirkte: zu wenig Güte, zu wenig Bereitschaft, in seelischen Bezirken zu weilen, zu kurze Behandlung des sogenannten Menschlichen. Er konnte nur sagen: Mensch wird dem Mensch Schicksal. Jene Männerauffassung, die in der Frau das Beßre, Höhre, Reinre suchte, war nicht in ihm, weil er sie Auslegung nannte, tiefer sah, wenn er dem unberührtesten jungen Geschöpf begegnete: die Zärtliche in weißen Mädchenstrümpfen war doch Gefäß aller Erregungen und forderte heraus, auf den Weg des Erlebens gestoßen zu werden — ihr unbewußt, aber er empfand es, dachte nicht wie andre Männer: sie muß geschont werden, sondern: sie will nicht zu sehr geschont sein.

War eine Frau ihm nicht restlos gut, nannte sie ihn sinnlich. Es war wahr und sagte doch nichts aus: er konnte ganz neutral mit ihr verkehren, mußte sie nicht ‚haben‘, aber solche Beziehung war eine Möglichkeit und das Gegenteil eine andre, jene nicht moralisch besser, denn Unsinnlichkeit ist kein ethisches, sondern ein geistiges Prinzip, Vorgang in einem, der manchmal die Sinnlichkeit aufheben muß, um nicht von ihr abhängig zu sein. Er glaubte also in dieser Frage ganz sachlich zu sein, was auch hieß, daß er ganz seinem Naturell treu war. Von andren her hatte sein Naturell Grenzen, von ihm, Lauda, her gab es sich Grenzen, indem es das ausschied, was nicht zu ihm paßte, zum Beispiel Übermaß des Seelischen.“

 

Nach dem Abendessen wollte Hannah auf dem See rudern, vorausgesetzt, daß er eine halbe Stunde wartete, bis das Kind zu Bett gebracht war. Sie forderte ihn auf, zugegen zu sein, aber es lockte ihn nicht. Er leugnete nicht, daß kleines Kind, rosig unter dem Schwamm strampelndes, hübsch anzusehn war, aber er mied noch die Sphäre des Kinds. Eine junge Frau hatte ihn einmal gefragt: Sind Kinder nicht das Wertvollste, was wir haben? Er verstand es von der Frau aus, aber nicht vom Mann. Die junge Frau, vor der noch das eigne Leben lag, fand das Wertvollste schon außerhalb ihrer selbst; vor fünf Jahren war sie noch selbst Kind gewesen — erwuchs sie, ging alsbald der Wert von ihr auf die Jüngren über. Sich in dieses Nacheinander einzuordnen, solche Verlegung auf die Zukunft der Rasse war ihm undenkbar. Der erwachsne Mensch war ebenso wertvoll.

Er rief Hannah zu, daß er vorausgehe, stieg zum See hinunter. Ein Igel lief über den Weg, er hob ihn auf, sah ein auf Märchenformat reduziertes verrunzeltes Menschengesicht zwischen winzigen Ärmchen, rückwärts in Urzeiten verzaubertes, nahm das Tier ins Boot und fuhr nun selbst rückwärts in Urzeiten. Düster der See, wie im Pfahlbaualter, feucht, vom Schatten der Berge belastet. Stärker mit jedem Tag wurde ihm die Fähigkeit, sich aus der Gegenwart zu lösen, fünfhundert Jahre rückwärts, fünfhundert auch vorwärts zu denken. Märchen des Mönchs von Heisterbach wurde dank Übung eines Hirnmuskels Wirklichkeit, und entspannte sich durch die Konträrfigur Chidhers, des ewig Jungen, der, wenn er wieder des Wegs gefahren kommt, Hirt mit dem Stab findet, wo eine Stadt gestanden war.

Aus dem Ablauf der Geschehnisse, aus der Kette der eignen Tage heraustreten können, sich dem Ablauf entgegenstellen, die Zeit aufheben, das gab das spezifische, ihm eigentümlichste Gefühl, in den Ereignissen seines Lebens nur Gast zu sein, der ganz da ist, danach ganz fort sein wird. Das hieß auch, daß eigentlich die andren das Leben ihm vorlebten, er nur Zuschauer war: er sah die Gefahr. Erhob er seine Wanderschaft zum Prinzip, dann schloß er sich nicht nur aus, das wäre das Geringste gewesen — er wurde auch abhängig vom Prinzip, sein Träger.

Ausweg war, zu wechseln; aber Wechsel war selbst wieder nur ein Prinzip, das von andren Möglichkeiten ausschloß. Andrer Ausweg: die Ergänzung im Geist vollziehn: entweder Wandrer bleiben und die Seßhaftigkeit der andren nicht mißachten, oder selbst seßhaft werden und den Vorbehalt, daß das nur eine Handlung der praktischen Existenz ist und durch die Idee des Wanderns relativ wird, frisch erhalten.

Immer schloß sich der Kreis, Ja und Nein gingen ineinander über. Das war die allgemeine Richtung seines Denkens, aber das Problem von Tat und Betrachtung, Praktisch und Elementar, Ja und Nein darum noch nicht gelöst. Er begann zu ahnen, daß er selbst in die Sphäre der Tat geführt werden mußte, daß er irgendwelchen großen Entscheidungen nicht entgehn konnte, daß er sich ganz in Bindung im Dienst eines menschlichen Glaubens begeben, in irdischer Tätigkeit verwachsen, und danach schmerzhaft sich losreißen mußte. Die Ehe mit Claire war eine solche Arena, in der Ja und Nein miteinander stritten, aber es gab wichtigre Angelegenheiten als die Ehe, sie lagen in der Sphäre des Sozialen. Hannah fuhr nach Rußland, und er fühlte: diese Sozialisten, die heimkehrten, um Revolution aus dem ersten Stadium ins zweite, dritte zu führen, wuchsen in Möglichkeiten, die das Problem der Tat geschichtliches Format annehmen ließen.

Er hörte Hannah vom Ufer rufen, nahm sie an Bord. Sie brachte ihren Dachshund mit, sechsjährigen, ältren, in dessen Augen, sprach Mensch mit ihm, so erstaunlicher Funke von Intelligenz trat, und der seine Eigenheiten so ausgebildet hatte, daß Lauda ihn nur mit Mynheer anredete. Der Hund stürzte unter den Sitz, zog sich verwandelt zurück, Lauda ward an den Igel erinnert, hob ihn zu Hannah empor und sagte:

„Tat wam asi, die einzigen indischen Worte, die ich kenne, man braucht nicht mehr.“

Sie lachte, es war ihm Ernst:

„Sieh ihn an, wie menschlich sein Gesicht ist, ein dumpfer verarbeiteter Proletarier. Sahst du jemals in einem Koben Schweine? Erschreckend, wie noch menschlicher sie sind. Wo ist der Unterschied? Die Tiere sind, der Mensch wird; die Mutationsfähigkeit ist der Unterschied, nicht die Seele; denn die Seele ist ein Phänomen der Mutation, eine Beunruhigung zwischen zwei Zuständen. Weil Tiere sind, Kinder aber verlangen, daß ich sie in mein Leben einordne, also eine Mutation vornehme, liebe ich Tier mehr als Kind. Daran wird mir klar, daß eine Abneigung gegen Mutation in mir oder uns besteht, also meine Eigenwilligkeit, meine Abneigung, Ideen und Gebote stärker als mich werden lassen, einem Beharrungsbestreben entspringt — Beharrungsbestreben, Trägheit im Gravitationssinn, ist die Definition von Egoismus. Mag sein, daß wer stolz auf seine Geschlossenheit ist, nur egoistisch ist, und daß, wer sich Vater- und Familienpflichten nicht entzieht, tapfrer ist, gehorsam dem Gebot der ewigen Umwandlung. Was mich zu Tieren zieht, ist die Gemeinsamkeit des Triebs, nur sein zu wollen, nicht zu werden — bei ihnen Gesetz, mir Wunsch. Nicht untertan werden, suverän bleiben: wahrlich, ich beginne auch da eine Gefahr zu sehn.

Seltsame Epopöe, die mein Denken heißt, ich umkreise mich von allen Seiten. Verzeih, du hast die Eigentümlichkeit, daß ich mit dir fessellos diskutiere; jeder, mit dem man zusammenkommt, veranlaßt so zu einer besondren Haltung, die man sofort, automatisch, einnimmt, sooft man ihn wiedersieht. Du wirst noch, an mich denkend, definieren, daß Lauda jemand sei, der mit Damen philosophiert, bevor er mit ihnen schläft. Es gibt niemand, der nicht komisch würde, denn komisch ist, was konsequent ist.“

„Dafür hast du ja deine Theorie und Taktik der Aufhebung,“ sagte Hannah.

Lauda: „Und laufe Gefahr, Don Quichotte zu werden, Wotan-Wandrer, der die große Arie vom ewigen Wechsel singt.“

Hannah: „So kritisch gegen dich selbst?“

Lauda: „Durchaus. Man muß sich selbst Wahrheiten sagen. Manchmal, wenn ich dir erkläre, wie ich etwas sehe, ist es, als sei ich der liebe Gott, der sich über seelische Probleme interviewen läßt, Besserwisser und Tyrann — einziger Unterschied, daß er einen langen Bart trägt, ich als bartloser Jüngling mit Faunsöhrchen in deinem Garten stehe.“

Hannah: „Wer sich selbst verspottet, ist der Gefahr des Hochmuts fern.“

Lauda: „Keineswegs, er spiegelt sich in dieser Verspottung. Die Wände in unserm Innern, Wände der Individualität, sind Spiegelglas, in dem wir uns beobachten und — gefällig finden. Daß mir jedes Ja in Nein umschlägt, Aufhebung, Schließung des Kreises wird, das erklärt sich daraus, daß wir buchstäblich in körperliche Wände eingeschlossen sind, in denen nur der Kreis möglich ist; ohne sie strahlten wir in das All hinaus, uns auflösend, materielle Erklärung eines Seelengesetzes. Je mehr ich in Seelisches eindringe, desto häufiger wird die Erkenntnis, daß es nicht Tiefres gibt als das Materielle, daß es das letzte Wort ist, hinter Seele und Metaphysik gelegen. Metaphysik ist die Zurückführung der seelischen Phänomene auf das Wunderbarste, nie zu Erklärende, die körperliche Existenz.“

Hannah: „Hast du noch nie daran gedacht, Komik, Humor, Satire als Ausdrucksmittel zu gebrauchen? Du liebst nicht Seele, sondern Unbelastung, nicht Dunkel, sondern Helle. Von Helle zu Heiterkeit ist nur ein Schritt.“

Lauda: „Daran habe ich gedacht, ja. Es ist nur eins gegen die komischen Gattungen zu sagen: daß sie im Grund die Fragen, die den Mensch beschäftigen, ebenso ernst nehmen wie die ernsten Gattungen selbst. Sie sind Ausgleich zwischen Ja und Nein, mittlere Linie, also zwar Vorbehalt dem Ja gegenüber, aber auch Verleugnung des Nein. Die komischen Gattungen sind beschaulich — ich fürchte, daß ich nie beschaulich werde, den Florettstoß ins Herz der Dinge vorziehe.“

Hannah: „Also setzt du dich immer mit einem Gegner auseinander, lebst von ihm?“

Lauda: „Wie wir alle. Man könnte wie ein Freisinnsmann von einer Theorie der Notwendigkeit des Gleichgewichts der Kräfte sprechen — drei Genitive.“

Hannah: „Gleichwohl wirst du auf die Dauer nicht umhin können, Ausgleich, mittlere Linie zu wählen, denn soviel glaube ich zu verstehn, daß Durchführung der Aufhebung in der Praxis zu einem reinen Nein führen muß, da Leben in einer fortlaufenden Reihe positiver Angebote besteht. Wenn du alles, woran Menschen glauben oder auch nur ihre Energie setzen, aufgehoben hast, bleibt nur noch übrig, die Existenz selbst aufzuheben, Nein zu ihr zu sagen.“

Lauda: „Gut Dialektik getrieben, Frau Hannah; du vergißt, daß danach Aufhebung des Nein sich automatisch einstellen, zum modifizierten, durchdachten Ja werden wird, und daß ich nicht ein solcher Pedant sein werde, von diesem zweiten Ja zum zweiten Nein und so fort in Ewigkeit weiter zu gehn.“

Hannah: „Und wenn die Bereitwilligkeit, Ja zu sagen, eines Tags versagt?“

Lauda: „Stürzt alles zusammen wie in jedem, der nicht an absolute Werte glaubt. Du selbst fandst ja an jenem aztekischen Paar schön, daß es für die, die zum Tod verurteilt sind, kein Wiedersehn im Jenseits gibt, und zogst daraus die wahre, einzig starke, heroische Stimmung der Tapferkeit.“

Hannah: „Wohl wahr. Für dich aber wünsche ich die Tat, mein Vorschlag ist nun nicht mehr, das Haus in meiner Abwesenheit zu beziehn, sondern — komm mit mir nach Rußland, stürze dich in den Strom, er trägt den, der nicht schwer ist.“

Lauda: „Was versprichst du?“

Hannah: „Alles, was auf der Linie der Tat liegt, die Dämonie der ersten Zustimmung, die zu Konsequenzen führen könnte, vor der unsre Menschlichkeit zurückschreckt, solange wir noch nicht Kausalität, Folgerichtigkeit, Unerbittlichkeit untertan werden. Oft in den Worten der Russen weht es mich wie Entsetzen an, weißt du, was Jakobiner waren?“

Lauda: „Menschen, die von der Idee der Gerechtigkeit und Gleichheit ausgingen, dank Macht der Logik und der Verhältnisse damit endeten, die Brüder aufs Schafott zu schicken. Darauf willst du doch wohl hinaus?“

Hannah: „Schreckt es dich?“

Lauda: „Nicht im persönlichen Sinn, warum soll man nicht sterben — ich kann es jederzeit. Wohl aber im geistigen. Ich will nicht Sklave der Logik werden, die ich die Hure nenne, nicht mehr weder vorwärts noch zurückkönnen, es sei denn durch Blut. Lockt es dich?“

Hannah: „Es lockt. Es ist in der neuen Taktik, von der die Russen reden, eine Größe, die sie selbst erst ahnen. Für sie ist die Frage Evolution oder Revolution nicht nach der lahmen Manier ihrer deutschen Genossen zu lösen, sondern nur durch die Antwort: Revolution in einem bisher unbekannten Grad von Entschlossenheit — Diktatur. Um mit dir zu reden, dieser Begriff ist Mittelpunkt, Achse, um den sich alles ordnet, die Mittel, die Ideen, die Argumente. Man fühlt sich körperlich, in seiner inneren Zusammensetzung, fester, gedrängter, rascher rotierend werden. Es war niemals da, daß ein Wagen voll Leute in ein Riesenreich fährt, um es zu erobern — es ist so kühn wie der Zug des Cortez, und sie wissen: keiner kommt zurück, es geht um ihr Leben.“

Lauda: „Also kommst auch du nicht zurück, wenn ihr nicht Erfolg habt?“

Hannah: „Nein. Eben darum gehe ich mit ihnen. Nenne es das Unterordnungsbedürfnis des Menschen, seinen Zwang, sich einen Gott zu schaffen und ihm gehorsam zu sein — wir wollen alle Erfüllung, Gesetz, Glauben, wir suchen alle die Achse.“

Lauda: „Und wenn ihr Rußland erobert habt?“

Hannah: „Wird zum erstenmal menschliche Gesellschaft radikal aus der Idee gestaltet, Weg der Natur verlassen, der ein Umweg, langsame Evolution mit allen Zwischenstufen und Kompromissen ist. Du, der von Mutation und Selbständigwerden eines Organs wie dem Hirn sprichst, sollst du nicht an die Möglichkeit solchen Versuchs glauben?“

Lauda: „Ich beginne die Tragweite eurer Fahrt zu begreifen. Sagtest du nicht, jedes Mittel sei ihnen recht, selbst Pakt mit Ludendorff, da sie nur ihr Ziel wollen? Unsympathischer Jesuitismus, doch verständlich. Es wird der Versuch sein, die Idee über die Geschichte zu setzen, den Intellektuellen zum Schöpfer zu machen. Fast könnte es mich verlocken, mitzufahren — laß, ich tue es nicht; warum? Mein Instinkt warnt mich, die Summe meiner Lebenskräfte. Schlösse ich mich an, könnte es sein, daß die Logik mich zwänge, Kriegsminister in Petersburg zu werden oder dem Standgericht zu präsidieren. Die Dämonie der Logik wird teuflisch sein. Hannah, wärst du bereit, Jakobinermegäre zu werden?“

Hannah: „Niemand weiß, was aus ihm wird, wenn die Hemmungen fallen. Im Anfang war die Tat, denn Existenz ist Eintritt in die Handlung, Gott ist die Tat, Nichthandlung ist Nichtexistenz.“

 

Später im Zimmer allein, dachte Lauda diesen Dingen weiter nach. Für Hannah gab es keine andre Möglichkeit als solche „Tat“, mochte sie nach Rußland führen oder in andre Sphäre, denn sie war Frau und das hieß, wenn der Ausweg, Hausfrau oder Lehrerin der heranwachsenden Generation zu sein, verschmäht wurde, tragisch sein, nicht in sich selbst Ziel finden. Das Jahrhundert verlangte die Emanzipation der Frau, aber das war Beglückung nur für diejenigen, die mit festen Füßen in der Irdischkeit standen. Für die andern, die den Instinkt des Absoluten hatten, also den Gegensatz zwischen Ego und Gesellschaft empfanden, Erfüllung des Ego für wichtiger hielten als Dienst in der Gesellschaft, gab es nicht den männlichen Ausweg, geistiger Kosmos zu sein, durch den alle Ströme, alle Existanzen der andren fluten.

Im Mann deckten sich Sinnlichkeit und geistige Energie, in der Frau nicht. Mann konnte Pantheist sein, Zusammenfassung der Welt — die Frau? Nein. Seltsame Erkenntnis im Zeitalter der siegreichen Demokratie, in dem angelsächsischer Feminismus die Welt eroberte. Aber daraus eine Apotheose des männlichen Primats machen, Geltung als Prophet der Virilität erlangen wie noch Nietzsche? Das war für ihn verlegter Weg, obwohl er die Möglichkeit sah, durch ihn Wirkung zu erreichen, denn das Geheimnis der Wirkung war, den Zeitgenossen einen Kristallisationspunkt zu bieten, um den sich das Chaos des Denkens lagern konnte.

Er war vielmehr unbedingt für Emanzipation der Frau; menschlichen Wesen nichts versagen, was ihnen das Gefühl gab, ausgeschlossen zu sein. Unmöglich, eine Lehre aufzustellen, die dem Schöngeist erlaubte, von der Überlegenheit des Manns zu reden, mochte diese Überlegenheit auch existieren. Es war einfach Einsicht in die Konsequenzen, was ihn abhielt. Was ausgesprochen wahr war, wurde gelehrt falsch, stieg in die Arena des Praktischen herab und diente nur der Reaktion, den Konservativen, den Vereinsrednern, die sich dumm in Männlichkeit spreizten, weil sie ahnten, was Männlichkeit war, und es doch nicht gereinigt sichtbar machten.

Er konnte es auch so ausdrücken, daß er die Ansicht, die Frau habe die schwächre Position, ursprünglich gar nicht mitgebracht hatte, vielmehr von der Tatsache ausgegangen war, daß Wesen der gleichen Gattung a priori Recht auf Gleichheit besaßen — seine Art von Ritterlichkeit, die auf dem Begriff Würde beruhte, eine geistige Ritterlichkeit. Erst empirisch war er gezwungen worden, diese Bereitwilligkeit aufzugeben und zwischen den Geschlechtern einen Unterschied der Denkenergie festzustellen, für die es dann Gründe konstitutioneller Art zu finden galt.

Wenn männliches Denken darin bestand, daß das Hirn ein Hemmungsapparat war, in dem sich die Weltkraft brach, also Sichtbarkeit erlangte, prismatisch in ihre sämtlichen Strahlen zerlegt wurde, sich gedanklich rekonstruierte, dann war der weibliche Kosmos diffuser, nicht imstand, die gesamte Sinnlichkeit der Existenz in sich aufzunehmen, ohne von ihr vergewaltigt zu werden — er war unfähig, das Material restlos zu verarbeiten, in Geist zu überführen; er war materieller.

Fragte sich nur, ob der so fruchtbare Gedanke der Mutation, die Möglichkeit, aus Funktion selbständiges Organ zu werden, nicht auch der Frau die Freiheit von der Funktion in Aussicht stellte. Kaum ein Zweifel, daß durch bewußte Züchtung und Vermeidung jenes Zustands von neun Monaten, in dem die Frau ins Geschlecht zurückkehrt, das Funktionelle reduziert werden konnte; aber das Ergebnis war — eine Karikatur des Manns; der Kopf eines alten Philosophen war machtvoll, der einer greisen Frau vielleicht klug, mild, gütig — alles Werte, die aufs praktische Leben verwiesen. Es war nicht einfach so, daß der Mensch in einen männlichen und weiblichen Teil zerfiel und der durch die Frau ergänzte Mann mit der durch den Mann ergänzten Frau identisch gewesen wäre.

Das alles vom Absoluten her; in der sozialen Sphäre spielte der Unterschied der Geschlechter eine so geringe Rolle, daß hier die Fordrung der Gleichberechtigung Postulat sein durfte. Daß es nicht weiblichen Plato und Kant gab, damit konnten sich die Frauen abfinden in einem Zeitalter, das von absoluten Ideen zu praktischen, wie denen der großen Revolution übergegangen war — der Mensch war bei seinem rationalen Stadium angelangt, die heimkehrenden Senegalneger würden die Keime einer Mutation mitbringen, die sogar Afrika aus der irrationalen Epoche des Kriegs herausführen mußte. Die letzten Irrationalisten in Europa waren die Deutschen, sie waren im Begriff, ihre Lehre zu empfangen.

Was blieb Hannah, wenn das russische Abenteuer erledigt war und sie dabei nicht das Leben verloren hatte? Der Sprung in ein neues Abenteuer — das eben war die weibliche Tragik. Er dachte an die Erzählung, die in Brüssel Leutnant Berger vorgelesen hatte, darin die Figur Nellys, die wie Schwester Hannahs war. Ihre Biographie ein fortlaufender Versuch, den Durchbruch des Absoluten zu erzwingen — am Ende heiratete sie den, den sie schon am Anfang hätte heiraten können, Rückkehr zum Gegebnen, der Arena.

 

Am nächsten Tag begleitete er Hannah nach Interlaken; sie machte Einkäufe für die zum Abend erwarteten Gäste.

Der Ort gefiel ihm, weil sein Aufbau so klar war, daß er sich beschreiben ließ. Gegebne Punkte waren Ende des einen Sees, Anfang des andren. Zog man dazwischen eine Gerade, so erhielt man die Linie der Hotel- und Geschäftssiedlung. In der Mitte war sie nur auf einer Seite bebaut, auf der andren der Promenadenweg mit dem Musiktempelchen, dahinter Wiesen, die bis zu den Bergen gingen, Grasebne, Sitz der melancholischen Frösche.

Wo die zweiseitige Bebauung wieder begann, stand ein Pavillon; Korbstühle, Spiegelscheibe vor Patisserie, heitre Tischchen. Einkäufe besorgt, lud er Hannah dahin ein, war zauberhaft versetzt in Kurortsommertage, wie es sie vor dem Krieg gegeben hatte: Kurgast der unbeschwerte Mensch, der Landschaft und Zivilisation freundlicher Gasthöfe genoß, als gebe es nicht Bergwerk, Armut, harte Fron, und Reisen sei die legitimste Handlung in einer Welt, die glücklicher Garten ist.

Er war froh an diesem Tag, leicht, so jung, Fähigkeit ganz, im Augenblick zu leben; die Freundin entspannt wie er, Gefährtin des Augenblicks; Rückkehr nachher zum Schiff schon frohe Erwartung, Versprechen für den Körper, sich spielerisch zu bewegen.

Da kam mit schleppendem Gang ein junger Mann daher, gebeugt der Nacken, als trage er die Last der Welt. Unlust in Lauda und zugleich ungläubiges Erkennen: so ging Thomas Schreiner.

„Der erste der Gäste“, sagte Hannah, rief ihn an. Lauda sah zum zweitenmal das Gesicht, das wie das eines war, der Sträfling in den Bergwerken gewesen ist und seinen Groll verwandelt hat in den gegen die arme Bestialität der Menschen, die nur durch Mitleid überwunden werden kann; in den Augen drohende Auffordrung, es mit ihm zu bekennen, die Verurteilung der Mächtigen.

Schreiner begrüßte ihn gleichgültig, als wollte er sagen: Du bist deren einer, die sich dem Einfluß meiner Ideen entziehn werden, darum existierst du nicht für mich; danach überreichte er Hannah einen Band:

„Mein Buch ist erschienen.“

Hannah war interessiert und höflich, Schreiner lächelte schwer:

„Ein Buch, das mehr sein wird als Literatur, Abschluß zweier entsetzlicher Jahre. Lesen Sie, lesen Sie; wenn Sie danach nicht zur Tat übergehn, war alle Qual umsonst.“

Explosion einer Düsterkeit in der Ehrgeiz und Fanatismus schwelten. Lauda nahm den Band, las folgende Stelle: ein Arbeitersohn, dank einem Mäzen der hohen Schule zugeführt, durch Einstellung der Zahlung plötzlich wieder von ihr ausgeschlossen, schleicht durch den lichten Tag, dumpfe Empörung der Erwachsnen in dem mißhandelten Kind. Er sieht in einer Kutsche ein Mädchen der Reichen vorüberfahren, Locken, nackte Beine, meergrüner Musselin. Da bricht in ihm ein Gefühl durch, das der Dichter mit dem Satz umschrieb: ihm, dem Proletarierkind, wurde klar, daß hier ein ungeheures Menschheitsverbrechen vorlag.

Lauda schloß den Band. Revolutionäre Gesinnung mochte stark sein; Fähigkeit, Gesinnung in anschauliche Form zu übertragen, war nach dieser Probe mäßig. Hätte der Knabe noch empfunden: dieses nackte Mädchenfleisch ist nicht für dich; wenn es das einer jungen Frau geworden ist, wird es sich einem Herrensohn entschleiern — nein, er mußte statt dessen die Notwendigkeit des Klassenkampfs empfinden. Lauda saß einem Menschen gegenüber, der, weil er nur Moralist sein wollte, in Wirklichkeit Dualist war, das Unmoralische nur dadurch aus der Welt schaffen konnte, daß er es totschlug — Zwangsmonismus. Er saß seinem Antipoden gegenüber, Feststellung, die er schon einmal vor zwei Jahren beim ersten Anblick Schreiners gemacht hatte.

Aber nun war auffällig, daß diese Feststellung nicht mehr genügte, verflogen seine beschwingte Laune. Als Hannah das Zeichen zum Aufbruch gab, schlug er ihr vor, mit Schreiner allein zu fahren, er werde das Abendschiff nehmen; und er bat sich Schreiners Buch aus. Sie gingen, er begann zu lesen.

Es waren bessre Stücke darin als jenes, in dem er geblättert hatte. Schreiners Leistung bestand darin, daß er für all diejenigen, die längst stumpf über die Todesangaben der Heeresberichte hinweglasen, weil ihnen die Anschauung auch nur eines Tods fehlte, solches Einzelsterben herausgriff und sie so zwang, sich vorzustellen, was da draußen an Grauen und in der Heimat, etwa im Herz einer Mutter, an Leid geschah. Man mußte anerkennen, hier stemmte sich mit allen Mitteln des anschaulichen Worts ein einzelner Mensch der Gleichgültigkeit, dem Gewährenlassen aus Hilflosigkeit, dem zynischen Optimismus entgegen, gestaltete die Idee der Menschlichkeit, deckte Qual der Erleidenden nicht mit pastoralem Trost zu, sondern riß sie auf, wühlte in ihr, damit der Aufschrei erzeugt wurde und der Haß gegen den Gehorsam.

Lauda zweifelte nicht mehr, daß das Buch den großen Erfolg haben und Kristallisierungspunkt aller unterirdischen und noch nicht zu benennenden Auflehnung sein werde; unausgesprochne Lehre des Buchs war: ein Anfang muß gemacht werden, ich will das schleichende Gift sein, das eure Bereitschaft, Kredite und Menschen zu bewilligen, lähmt. Daß jede Szene der beiden symbolisch einander gegenübergestellten Kinder verriet, wo solche Gesinnungskunst vermutlich endete, bei der direkten Tendenz, die künstlerische Ohnmacht hieß, war zunächst nebensächlich.

Einen Augenblick dachte Lauda: Es ist mir einer zuvorgekommen, stellt ein paar Monate früher als ich die grundsätzliche Frage; dann: diese Feststellung wirst du heute abend und fortan noch öfter machen, und ahnte, daß in dem seinem Willen nicht zugänglichen Dunkel der innren Vorgänge sich ein Plaidoyer des natürlichen Egoismus vollzog, einflüsternd, er möge auf den schon gewiesnen Weg nicht folgen.

Wichtiger als dieses Rudiment einer Versuchung war, daß ihm die Rückkehr aus der absoluten Sphäre, in der es keine Wertung gab, in die praktische, in der er, nach eignem Entschluß, Stellung nehmen mußte, als das Ende der schönen, naiven, überlegnen Zeit erschien; solang sie angedauert hatte, war der Krieg für ihn Verirrung der andren gewesen, die ihn nichts anging und erlaubte, abzuwarten, bis ein Geschehnis sich erschöpfte und nur eine Reihe neuer Zustände schuf, in denen es danach zu leben galt.

Es war nicht anders, als nehme er von seiner Jugend Abschied. Aber wie denn, dann war ja jene Zeit der Anschauung und der behaupteten Suveränität nur eine Vorbereitungsphase und er, Lauda, wie der Held eines Entwicklungsromans zu dem verurteilt, was er verwarf, dem System des Nacheinander, da dessen Wesen war, daß einer immer das letzte Erlebnis und die daraus gezogne Weltanschauung für die allein richtige hielt und seine Vergangenheit gering schätzte?

Was war mit ihm? Vorstellung von Klarheit, Helle, Heiterkeit, heidnischer Ablehnung der Feminität stand nicht mehr im Mittelpunkt, sondern entfernte sich wie ein Stern, der die Kulmination überschritten hat, stand seitlich. Und doch, wenn er an Thomas Schreiner oder die Russen auf dem See dachte, wußte er, daß seine Grundstellung den Dingen gegenüber bleiben würde — was also lag vor?

Ein Zustand kam in dieser Nachmittagsstunde über ihn gleich der Selbstversenkung eines Buddhisten; Zeit und Raumgefühl hoben sich auf wie im Schlaf — da erkannte er das Gesetz, nach dem er lebte: Rückkehr in die gestaltete Welt war der Preis, durch den er sich den Aufenthalt in der anschauenden Sphäre stets neu erkaufen mußte; und sie war die Rechtfertigung dieses Aufenthalts. Dauernder Aufenthalt, ein für allemal feststehendes Philosophiesystem hätte den menschlichen Angelegenheiten entfremdet: er mußte sie von Zeit zu Zeit so restlos miterleben, als gebe es nur diese Arena.

Das Seltsame war, daß dieser Wechsel seinem Willen sich entzog; das Gebot stieg aus dem innren Kosmos, war nichts als eine Meldung der bereits vollzognen Verschiebung — nie hatte er das Geheimnis der Vitalität stärker empfunden, fast war ein Grauen, als niste da unten in ihm ein zweites tierhaftes Lebewesen.

Und er ahnte, daß das Bewußtsein, auf die Dauer doch den Ideen, denen er sich nun hingeben mußte, überlegen zu sein, ihm nichts von den Kämpfen, nichts von den Qualen ersparen würde, die von denen, die er die Femininen nannte, erlitten wurden. Suveränität war ein Regulativ, kein dauernder Zustand des rotierenden Himmelskörpers Mensch. Ein Gefühl stellte sich ein ähnlich dem, als er von der Militärmaschine im Augenblick, als er die rettende Grenze hatte überschreiten wollen, gepackt worden war, Gefühl des Zwangs und vergewaltigender Monate, die unentrinnbar waren.

Suveränität war nicht behaglicher Landsitz eines, der klüger als die war, die sich in den Städten mühten; nicht Vorteil eines, der die andren für Narren erklären konnte, weil sie sich mit den Ideen herumschlugen; triumphierender Egoismus war nicht erlaubt.

II

Während Lauda sich zum Abend umzog, vernahm er im Garten die Stimmen der Gäste; man redete englisch, französisch und deutsch in reiner, schweizerischer und fremdländischer Aussprache. Als er ans Fenster trat, bemerkte er Graumann, den Mann, von dem Hannah geschieden war, so beleibt und lebhaft wie ehemals in München. Er war froh, ihn zu sehn, er hatte ihn gern, und es war ein bekanntes Gesicht.

Graumann unterhielt sich mit einem untersetzten Herrn, der Schweizer Dialekt sprach und aussah, als sei er gewöhnt, vor Volksversammlungen auf der Rednertribüne zu stehn, nicht eben wählerisch in Gesten und Argumenten. Da öffnete sich das Gebüsch, in dem d’Arigos Büste stand, und es trat ein junges Paar heraus, gleich durch herrenhafte Schlankheit — Volk mußte empfinden: sie sind schön.

Das Mädchen war Miß Lilian, die Lauda geentert hatte, der Mann gab ihm ein seltsames Wort ein: Bruder, nicht im übertragnen Sinn, sondern im physischen. Er sah seinen eignen Kopf, vielleicht war das Profil geschnittner, kameenhaft griechisch, und der Körper durch Sport durchgearbeiteter, aber am ähnlichsten der Hauch einer Geistigkeit, die untertan zu werden ablehnte — fast hochmütig bei diesem und in dem kleingeformten Kopf viel Eigensinn. Er vermutete, daß es d’Arigo war, und sich erinnernd, daß Miß Lilians Jacht Caramba hieß, reimte er Beziehung von ihr zu dem Künstler, von dem Hannah gesagt hatte, daß er Deutschspanier sei.

Lauda ging hinunter, begrüßte den Mann, der an dem Tag, an dem er mit Hannah auf dem bayrischen See gewesen war, den Browning vor ihn gelegt und gesagt hatte: „Damit könnte ich mich erschießen, oder Sie, oder erst Sie, dann mich, keins von den drei, ich hatte nur daran gedacht.“ Zeichen seiner Sachlichkeit auch, daß er im Haus seiner Frau verkehrte. Hannah trat hinzu, nahm Laudas Arm, ihn mit den Gästen bekannt zu machen.

„Es ist, Lilian als Freundin d’Arigos für sich gerechnet, eine einzige Frau dabei,“ sagte sie, „dort das ältliche Mädchen, Madeleine Betz, Elsässerin von deutscher Mutter, eingebornem Vater; solches Mischverhältnis bestimmte sie, war ihr vor dem Krieg Glück und Vorzug, jetzt ist es ihre Qual. Sie war in Paris und Berlin zu Haus, fand ihre Aufgabe darin, Fäden zu knüpfen, wurde als Pazifistin in Deutschland nur von literarischen und einigen bürgerlichen Kreisen aufgenommen, in Frankreich höflicher und mondainer behandelt, Männer der Öffentlichkeit schätzten sie dort.“

Lauda ließ Hannah ausreden, aber Madeleine Betz war ihm bekannt. Er empfand sich selbst nicht als Elsässer, obwohl er in Straßburg aufgewachsen war, vor der Auswandrung des Vaters nach Holland. Noch einmal danach hatte es eine Zeit gegeben, wo er sich für elsässische Möglichkeiten interessierte, und was Madeleine Betz zu einem Programm erhoben hatte, war für ihn Versuchung gewesen: Vermittlung zweier Völker zu dienen. Er hatte damals, ein Semester opfernd, die Straßburger Gesellschaft studiert; aber was er vorfand, war eine Bourgeosie, die Inzucht trieb, ein verblaßtes Salonideal pflegte, geistig in den Ideen aus der Zeit vor der Amputation lebend, sie durch gelegentliche Reisen nach Frankreich bestärkend.

Er hatte geurteilt, dieses Kleinbürgerland ohne eigne Tradition, von je dazu verurteilt, von einem Erobrer verwaltet zu werden, sei nicht geeignet, Pfeiler der Brücke von Frankreich nach Deutschland zu sein — Urteil, das vielleicht voreilig war, aber ihn bestimmte: er hatte darauf verzichtet, Wirkung in der Provinz zu werden, und war nach Berlin gegangen.

„Auch ein Lothringer ist anwesend,“ sagte Hannah, wies auf einen untersetzten Mann, der mit dem gleichgebauten Schweizer redete, „hast du Blick dafür, daß sie nicht nur dasselbe Format haben, sondern auch Gleichheit der Bewegungen und der lauten Sprache? Sie sind beide Sozialisten, beide Volksredner von erprobter Wirkung, die weniger geistig als elementar ist. Der Schweizer ist Doktor Nüßli vom Züricher Blatt, augenblicklich ein wichtiger Mann, weil er sich bemüht, die Partei für die Taktik der heimreisenden Russen zu gewinnen.

Der Lothringer ist Virgile Spieß, Vertreter eines Industriebezirks im Reichstag, wandte sich am vierten August sofort gegen den Beschluß der deutschen Sozialisten, die Kredite zu bewilligen, kam über die Grenze, erklärte, der Frankfurter Vertrag sei hinfällig geworden, Elsaß-Lothringen werde zu Frankreich zurückkehren — der erste Deserteur aus Grundsätzlichkeit, den du siehst. Um die Sozialisten gleich zu erledigen, ist noch Thomas Schreiner da, der zu den Unabhängigen gehört und schwankt, ob er nicht Kommunist im Sinn Kropotkins sei, dessen Bücher seine Bibel sind, sodann Doktor Shiller, ein Deutschamerikaner, der nun in Zürich Fühlung mit Mitgliedern der deutschen Opposition sucht, und Mitrofan, einer der heimreisenden Russen, der ohne Einladung kam, mit dem Auftrag, darüber zu wachen, daß ich mich meinem Versprechen nicht entziehe.“

Es war weder schwer, den blonden Amerikaner herauszufinden, noch den Russen mit dem Popenhaar. Blieben zwei Herrn, der eine magrer Methodist, der andre kleine ein Poet romanisch melancholischer Prägung.

„Der wie ein Methodist aussieht,“ sagte Hannah, „ist Fünfkorn, ein deutscher Journalist, der seiner Gesandtschaft unbequem ist, er ließ sich, um der drohenden Einziehung zu entgehn, von der militärischen Nachrichtenstelle hierher schicken, warf alsbald die Maske ab, machte Enthüllungen über diese Spionageeinrichtung, wurde Spezialist in den verschiednen Weiß- und Gelbbüchern, wies, Antipode Davids in Berlin, die Schuld Deutschlands am Krieg nach, vertritt bedingungslos die Ansicht, daß die Entente die Sache der Gerechtigkeit führt, wünscht Fortführung des Kriegs, bis der deutsche Militarismus wie ein Reptil ausgerottet ist, beginnt Mittelpunkt aller Bestrebungen zu werden, die ein Organ für nicht kaiserliche deutsche Demokraten schaffen wollen, und wird es vermutlich mit Hilfe Shillers, das heißt amerikanischen Propagandagelds gründen. Der Poet, wie du sagst, ist neben d’Arigo der einzige, der der Politik ganz fern steht, Haupt einer neuen Gruppe, von der ich dir neulich sprach, den sogenannten Ungegenständlichen. Er ist Portugiese, nennt sich Lisbao, und wird nach seiner Gewohnheit aus dem Manuskript vorlesen.“

 

Die Gastfreunde Hannahs blieben acht Tage versammelt, selbst Nüßli kehrte nicht in die Züricher Redaktion zurück, er ließ sich seine Post schicken. Da auch die andren Politiker die Verbindung mit der Welt organisierten — Graumann hatte seine Sekretärin mitgebracht und stellte sie und ihre Maschine zur Verfügung — konnte Virgile Spieß sagen, man habe sich zu einer dritten, privaten Zimmerwalder Konferenz vereinigt; die Tage waren mit Debatten gefüllt.

Spieß war der einzige, der sich den Ideen von Zimmerwald und Kiental von allem Anfang an entgegenstellte und ihre Notwendigkeit leugnete. Für ihn bedurfte die Haltung der französischen Sozialisten, bei denen er, die deutschen verlassend, Anschluß gefunden hatte, keiner Rechtfertigung: sie hatten die Kredite zur Landesverteidigung bewilligt, und Landesverteidigung im klaren, eindeutigen Fall eines Angriffs war, seit es Sozialismus gab, von allen Parteiprogrammen und Parteitagen anerkannt worden; er berief sich auf Jaurès, mit dem er bei ungezählten Pariser Aufenthalten verkehrt und jene Formel ausgearbeitet hatte, daß Frankreich auf den Revanchegedanken verzichte, wenn Elsaß Lothringen deutscher Bundesstaat mit allen Rechten der Autonomie werde.

Die deutschen Sozialisten, waren für Spieß nicht in der gleichen moralischen Lage wie die französischen; wohl wurde ihr Land von Rußland bedroht; aber es hatte die letzte Möglichkeit einer Verständigung vereitelt, weil es von dem Gedanken eines Präventivkriegs hypnotisiert war, und die Partei hatte die Kredite bewilligt, trotzdem sie bereits von dem Einfall in Belgien, also einer Völkerrechtsverletzung ersten Rangs, wußte, und sie hatte bedingungslos bewilligt, während die Minderheit der französischen Genossen sich nur bis zu dem Augenblick band, wo der Feind aus dem Land vertrieben war.

Spieß sah keine Notwendigkeit, eine Konferenz einzuberufen, um die Frage zu besprechen, wie die zerrißne Internationale auf neuer Grundlage wiederhergestellt werden konnte. Es gab für ihn neben der großen Schuldfrage eine sozialistische Schuldfrage; ihre Anerkennung durch die deutsche Partei bedeutete die Beilegung des Bruderzwists — sein Programm für die Zeit nach dem Krieg.

Er war den Argumenten unterlegen, die von den in der Schweiz lebenden russischen Sozialisten aufgestellt worden waren. Lenin, Trotzki, Radek, denen dann auch Axelrod zustimmte, erklärten, die Schuldfrage interessiere klardenkende Sozialisten nicht, der Krieg sei zugleich Produkt des Kapitalismus und Mittel ihn zu zersetzen. Die Zeit sei gekommen, die Antwort auf die alte Grundfrage, Evolution oder Revolution zu geben, sie heiße Revolution, saubre Abgrenzung der sozialistischen Gedankenwelt gegen die bürgerliche, zu der es keine Brücken gebe — radikale Gegnerschaft, Unversöhnlichkeit.

Daß das absolutistisch-kapitalistische Deutschland über das demokratisch-kapitalistische Frankreich siege oder umgekehrt, sei gleichgültig, auch die Landesverteidigung gegen einen Angreifer liege außerhalb des sozialistischen Denkens. Ob die Kosaken an der Oder ständen oder die Ulanen bei Noyon, habe nur den Sinn, daß jedes Mittel recht sei, um die Verhältnisse auf die Spitze zu treiben, Verteidigungs- oder Angriffskrieg sei für Sozialisten schlechthin Krieg, das Abzulehnende. Proklamation der abstrakten Idee, hinter der nicht mehr Weltfremdheit stand, sondern im Gegenteil die schärfste, logischste Berechnung, der entschlossne Wille, alle Wirren der bürgerlichen Welt auszunützen, das Ziel auf dem direktesten Weg zu erreichen.

Die Beschlüsse der Konferenzen hatten mit einer Verurteilung der französischen und deutschen Genossen geendigt und mit der Ablehnung des Prinzips der Landesverteidigung, diene sie zur Abwehr eines erfolgten Angriffs (Frankreich) oder der Wahrung der Neutralität (Schweiz). Dieser Proklamierung der nur revolutionären Taktik trat, zwischen Zimmerwald und Kiental, der schweizerische Parteitag von Aarau bei, erstaunlicher Beschluß, wie Spieß nun in Diskussionen mit Mitrofan ausführte.

Spieß war schlagfertig, angreiferisches Temperament, und in seinem Kopf stand mit erstaunlicher Klarheit jedes Datum, jeder Zeitungsartikel, jede grundsätzliche Äußrung eines der führenden Sozialisten gebucht, war gegenwärtig. Er trieb Mitrofan in die Enge, indem er nachwies, daß auch Lenin bei irgendeiner Gelegenheit das Selbstbestimmungsrecht anerkannt, der Schweizer Grimm, Präsident der Konferenzen, nach Kriegsausbruch die Verteidigung der Neutralität empfohlen hatte, der Schweizer Parteitag in Aarau sich über die Folgen seiner Resolution nicht klar war, in allen Hirnen Widerspruch herrschte, jeder zwischen der Frage Evolution oder Revolution hin- und herschwankte, die französische Minderheit, von Zimmerwald heimgekehrt, die Kredite weiter bewilligte.

Mitrofan gab sich nicht besiegt. Was er nicht leugnen konnte, leugnete er nicht, zog sich auf den Standpunkt zurück, daß eben eine radikale Umformung des Denkens begonnen habe, schöpfte aus diesem Gedanken Kraft, stieß vor, fanatisierte sich, entwickelte den ungeheuren Gewinn an Energie, wenn jede Verbindung mit dem evolutionistischen Prinzip aufgegeben wurde, ließ die Schönheit und Geschlossenheit logischer Kettenreihn aufblitzen: das Ziel ist alles; die Mittel nicht zu wollen, bürgerliche Sentimentalität; die Macht in der Hand des Proletariats die wahre Grundlage eines lückenlosen Aufbaus der neuen Gesellschaft.

Für Lauda ergab sich folgendes Bild: straffe Rotation um eine als Achse dienende Idee bei Spieß, dasselbe bei Mitrofan; die andren zersetzt in der Mitte. Fragte sich, welcher von beiden Ideenkosmen die Zukunft hatte. Spieß vertrat die alte Taktik, glaubte nicht, daß der Krieg nötige, sie zu ändern. Es war aber nicht schwer zu ahnen, daß dieser Krieg, ungeheuerste Erschüttrung bestehender Welt, nicht ohne Wirkung vorübergehn werde. Der Entschluß der deutschen Partei, sich mit dem kaiserlichen System zu verbünden, bedeutete eine Verschiebung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, und Lauda zweifelte, sich an Liebknechts Prozeß erinnernd, nicht daran, daß die Mehrheitssozialisten das von Spieß geforderte Bekenntnis zur Schuldfrage ablehnen würden.

Es vollzog sich in ihm, auf seine Weise, gereinigt, aber darum doch verwandt, dasselbe, was sich in Menschen vollzieht, wenn Feststehendes und Vertrautes angegriffen wird — Mensch geht zum Neuen über. Und er empfand die Lockung, die in der Proklamierung der absoluten Idee enthalten war. Ein Krieg mußte kommen, um das zu erleben; Ideologie wurde Möglichkeit, zum ersten Mal unternahm der Geist den Versuch, die Umwege der Natur abzuschneiden, langsame Entwicklung, die sich nach dem Gesetz des Gegensatzes vollzog, souverain zu überspringen. Er sprach mit Mitrofan, erfuhr, daß es die Partei der Bolschewiki schon seit Beginn des Jahrhunderts gab, wünschte zu hören, wie sich die heimreisenden Russen die Verwirklichung dachten.

„Es ist kein Zweifel,“ sagte Mitrofan, „daß wir Kerenski stürzen. Wir benutzen dabei einfach die Tatsache, daß er das des Kriegs müde Volk zwingt, den Krieg weiterzuführen. Eine Revolution, die den Zar stürzt, übernimmt nicht den vom Zarismus begonnenen Krieg. Ist die Macht in unsrer Hand, dann schließen wir Frieden um jeden Preis, es kann uns gleichgültig sein, ob Polen und die Ostgrenze an die Deutschen fällt, denn wir warten ab, bis diese Gebiete und mit ihnen Europa von unsrem Beispiel fortgerissen wird. Dieser Friede wird sehr einfach sein: dank unsrer Propaganda werden die Soldaten die Gräben verlassen und nach Hause gehn.

Danach, dritte Etappe, ordnen wir die neue Gesellschaft nach dem strengsten Zentralismus, womit ich natürlich den der Idee meine, die den der Verwaltung nach sich zieht. Wir sind nicht wie der Bourgeois oder mit ihm verbündete Nationalsozialisten an gegebne Verhältnisse gebunden, wir schaffen sie neu. Es ist klar, daß solche Erschaffung einer Welt nicht etwa aus dem Nichts, sondern, was schwerer ist, aus der Anarchie der kapitalistischen Privatwirtschaft, freien Konkurenz, Ständeverschiedenheit, nicht möglich sein wird ohne eine Übergangszeit der Diktatur, deren Sinn darin besteht, der Idee der Einheitlichkeit und der Ordnung zum Sieg zu verhelfen. Das Ziel heißt Abschaffung der Klassen, das Mittel ist, der bisher rechtlosen und zahlreichsten Klasse, also der Majorität, die Gewalt zu übertragen — eine Paradoxie, die doch nur das Mittelstück zwischen Vergangenheit und Zukunft darstellt. Wir werden also die Bürger entwaffnen, die Arbeiter und Bauern bewaffnen, und das Provisorium so lange durchführen, bis der Bürger freiwillig oder gezwungen die neuen Verhältnisse anerkennt.“

„Werden Sie die Nationalversammlung berufen?“ fragte Lauda.

„Es steht auf unsrem Programm, aber ich will Ihnen offen gestehn, daß ich nicht zu denen gehöre, die glauben, daß die kapitalistischen Kreise ohne Gewalt zu gewinnen sind.“

„Was würden Sie in diesem Fall tun?“ sagte Lauda und war auf die Antwort gefaßt, aber nicht auf die schneidende Unerbittlichkeit, mit der sie gegeben wurde und die für seine Vorstellungskraft wie ein Licht war, das rückwärts auf die Diskussion derer fiel, die, noch in der Fremde, schon in dem Augenblick lebten, in dem sie die Nachfolger des Zaren wurden — märchenhafter Wechsel im Schicksal hungernder Verbannter.

„In diesem Fall,“ antwortete Mitrofan, „werden die andren sich wie ich entschließen müssen, noch einmal die Mittel des alten Machtstaats zu benutzen, um den Staat der durchgeführten Gerechtigkeit zu gründen: Belagrungszustand, Armee und Terror. Für Schonung ist kein Raum, verwirklichen wir die Idee nicht, ist sie für hundert Jahre erledigt. Jetzt oder nie. Fühlen Sie, welcher Abgrund uns von Leuten wie Spieß trennt? Unsre Hirne sind verschieden wie zwei Weltkörper, in ihnen lebt das neue nicht, in uns erzeugt es Ketten von Assoziationen, es ist die größte geistige Stimmung, die je in Menschen war.“

Lauda verstand. Assoziationen bilden, mathematische Reihen entwickeln, Logik triumphieren lassen, war für das Lebewesen, dessen Hirn an die Kausalität geschmiedet war, der tiefste Genuß, so tief wie die Lust, die Achse Gott zu finden, um die sein Mikrokosmos schwingen konnte. Es kam vermutlich, Folge des Kriegs, eine Zeit, in der der Kausalitätsrausch elementar durchbrach, die freigewordnen Körperchen des alten Kosmos — als Beispiel eines solchen bot sich immer der preußischmilitaristische an — mit der Inbrunst von in das All geschleuderten Atomen den neuen Kristallisationspunkt suchten: religiöser Vorgang mit dem Triumph aller derer, die nicht in sich kreisen, sondern nach dem Zwang, dem Druck, dem Gebot ungeheurer Atmosphären lechzen.

Und schon fanden sie den Gott: die Logik, die zum Dämon wurde, stärker als sie, ihnen Gewalt antuend. Grundgesetz im Reich der Ideen: das Hirn erzeugt sie, der Gezeugte wächst dem Zeuger unter den Händen zum Herrn, ist er Herr, wird er Dämon; wer Ideen nicht mehr besitzt, wird von ihnen besessen. Die Zeit kam so der Beseßnen, in denen die dynamische Wut des in die Existenz schießenden Weltwillens war. Man konnte Weltuntergangsstimmung haben. Und in der Tat, die Mutation war Weltuntergang.

Es war nicht richtig, den Begriff Mutation auf die kleinen Störungen, fünfhundertmal am Tag, anzuwenden, die jedesmal eintraten, wenn der geringste Eingriff der Außenwelt in unsre Welt erfolgte — diese Schwankungen wurden rasch überwunden. Mutation war eine Störung der Lagrungsverhältnisse.

Wenn diese Russen die Macht erlangten, dann brach ein religiöser Wahnsinn aus, den die Psychologen nur darum nicht erkennen würden, weil das Wort Gott nicht fiel, dem aber alle zuströmten, die nicht so selbständig waren, daß sie auf den Krampf der Demut und Unterordnung verzichten konnten, alle, in denen die unterirdischen Spannungen zerrten — und wer war ohne solche Spannung, von der Hannah gesprochen hatte? Jakobiner, Terroristen, Inquisitionshenker, sie waren die Religiösen im primären Zustand, Zurückgekehrte zur Zeitlosigkeit vor aller Zivilisation.

Mitrofan und Lauda saßen sich an Hannahs türkischem Rauchtischchen gegenüber; es zog jeder, Auskunft erteilt, Gespräch beendet, seine innren Kreise. Madeleine Betz kam vom Klavier, wo sie Mitrofans Rede angehört hatte, zu ihnen; melancholisch ihr Versuch, den Pazifismus zu retten, für sie genügendes Heilmittel der kranken Menschheit.

„Pazifismus,“ sagte Mitrofan, „ist eine rein bürgerliche Angelegenheit; seine Ohnmacht besteht darin, daß dieselbe Gesellschaft, die aus der kapitalistisch-imperialistischen Idee der unbeschränkten Machtvergrößrung geboren ist, in Verabredungen einwilligen soll, die eine Hemmung dieses Triebs bedeuten. Jeder starrt in Waffen, aber man will vereinbaren, daß sie nicht benutzt werden; man will die auf Raub und Gewalt gegründete Existenz von Staaten verschiednen Rangs in einem gegebnen Augenblick zum status quo erklären: wer viel hat, behält es, wer wenig hat und klein ist, begnügt sich damit. Eine Horde hungriger Hunde kommt überein, friedlich nebeneinander zu leben — glauben Sie, daß Mißtrauen und Raubtiergelüste plötzlich unterdrückt werden können? Was machen Sie mit den Offizieren, den Diplomaten, dem ganzen Geist, mit dem die Gesellschaft durchsetzt ist? Fühlen Sie denn nicht, daß diese Ändrung so radikaler, grundsätzlicher Natur wäre, daß sie gar nicht durch materielle Verabredungen, sondern nur durch Auflösung der seelischen, moralischen Verfassung erzeugt werden kann?

Es ist seltsam, daß die Menschen immer flicken, immer überleiten wollen. Wenn sie noch eingeständen, daß sie so aus Angst vor der Unbequemlichkeit und der Schädigung persönlicher Interessen argumentieren — nein, sie stellen die Kulissen großer Ideen auf, sagen, Gleichheit und Gerechtigkeit verlangten, daß niemand Zwang erleide, die Ändrung freiwillig vollzogen werde. Da aber niemand freiwillig auf Macht und Geld verzichtet, so bedeutet das demokratische Prinzip der Friedlichkeit in Wahrheit nichts, als daß nichts Ganzes geschieht, alles beim alten bleibt. Reformen innerhalb der kapitalistischen Welt sind möglich, sogar Deutschland kann republikanisch werden, aber sie werden kapitalistisch bleiben. Ersetzung des kapitalistischen Fundaments durch das sozialistische ist nur durch das Eisen des Pflugs möglich.“

„Sagen Sie ruhig, durch Blut und Eisen,“ antwortete Madeleine Betz, „warum scheuen Sie, die Formel Bismarcks zu gebrauchen? Das Mittel, das Sie wählen, ist nichts andres als der variierte preußische Militarismus, das Ziel, das Sie wollen, nichts andres als eine Abart des zentralistischen Zwangsstaats, schlimmer als der Bismarcks.“

„Ich kann Ihnen zynisch zugeben, daß Sie recht haben, aber ich kann mit einem Herzenston der Not sagen, daß es keine andre Möglichkeit gibt, die Wirklichkeit nach einer Idee zu formen.“

Lauda dachte: „Wie, wenn bei diesen Dingen der Sozialismus, die Republik, die Demokratie, der Kapitalismus, also praktische Fragen, gar nicht Kern, sondern Projektion, Symbol, Veranschaulichung sind? Wenn es sich um ganz etwas andres handelt, um den Kampf dynamischer und unmaterieller Energien? Mit dem materiellen Begriff Atom kommt Wissenschaft nicht mehr aus, sieht sich widerwillig genug gezwungen, in ihnen, die doch das sichtbare System der Elemente ergeben, raum- und zeitlose Phänomene rein dynamischer Natur zu sehn.

Es ist erlaubt, in Ideen eine Analogie zu den sichtbaren Körpern zu ahnen, sie Manifestation von Kräfteverhältnissen, ihren Kampf Manifestation von Kräftekämpfen zu nennen — wir (als Körper) ein Vorwand unbekannter Vorgänge, unsre Ideen Vorwand von Machtkämpfen zwischen Entfeßlung und Bindung. Mitrofan sagt: der radikale Sozialismus und glaubt, er wolle damit das Glück der Gesellschaft, aber in Wahrheit muß er einem Gebot seines innren Kosmos gehorchen, der offenbar der geschloßnen Rotation widerstrebt, auf der Suche nach einer neuen ist. Madeleine Betz sagt: ungewalttätige Entwicklung und drückt damit aus, daß sie den elementaren Explosionen ausweicht. Ich von mir stelle fest, daß ich nach einigen Minuten gar nicht auf den materiellen Inhalt ihrer Worte acht gebe, sondern die Schwingungsvorgänge in ihnen empfinde, Gravitationsgesetze in ihnen fühle — meine alte Definition, daß Phantasie Fähigkeit ist, die Lagrungsgesetze eines fremden Organismus zu empfinden.

Welch eine phantastische und mehr, grauenhafte Sache ist also menschliche Geschichte und Geistigkeit: einer sucht den andren zu überzeugen, daß man zur definitiven Lagrung durch Entfeßlung des rasenden Drehns gelange, der andre ihn, daß man nur vorsichtige Modifikation vornehmen dürfe — Illusion beides, denn die Welt ist, als Schauplatz der rasenden Partikelchen, nie definitiv, Rasen ist Selbstzweck. Es steht frei, die beiden und mit ihnen alle andren, mich eingeschlossen, nach Belieben als arme Narren oder tragische Helden zu betrachten.“

Er hörte Madeleine Betz zu Mitrofan sagen:

„Wenn Sie so zu mir sprechen, funkelnd vor Energie, verbissen vor Entschlossenheit, empfinde ich etwas, was Sie nicht verstehn werden, die Abneigung der Frau vor der Vitalität des Manns, dieser triumphierenden, zu sinnlichen Herausforderung. Ich sah Offiziere auf Urlaub im Familienkreis, sie waren gütig gegen die Ihrigen, höflich gegen Fremde, aber wenn die Rede auf gewisse Augenblicke ihrer Tätigkeit im Feld kam, auf Exekutionen fremden Lebens, grauenhafte Verletzungen, dann trat in ihre Augen das Unheimliche: die Freimaurerei der Männer, die das Morden betreiben, von der sie zu den Frauen sagen: es ist nichts für euch. Dieser Ausdruck ist auch in Ihren Augen, Mitrofan, wenn Sie von der revolutionären Tat sprechen, und das beweist, daß Sie, Sozialist, für den es keinen Unterschied der Geschlechter gibt, männlicher Freimaurer sind, die Sphäre der männlichen Grausamkeit vor mir abschließen und das heißt vor allen, die menschlich sind.

Was Sie Diktatur zugunsten einer Idee nennen, ist der diktatorische Wille schlechthin, Sie richten nicht auf das neue Reich, sondern variieren nur das alte, in dem es Herrn und Sklaven gibt. Was Sie Paradoxie nannten und worin Sie eine eminente Überlegenheit sehn, ist nur die Volte, die Sie schlagen, um Ihr Spiel nicht aufzudecken, vor andren und vor sich. Menschen glauben so überlegen zu sein, daß sie den Punkt bestimmen können, wo eine Idee verabschiedet wird, in Ihrem Fall die Idee der zum letztenmal angewandten Gewalt — die Idee wird Ihnen über den Kopf wachsen, Sie immer weiter treiben, und am Ende werden Sie so blutbefleckt dastehn wie ein preußischer General, der in einem Dorf zweihundert Menschen niederschießen ließ. In Ihnen werden die Iwane Ihrer Geschichte wiedergeboren werden.“

 

Zum Berg steigend sah Lauda Fräulein Betz auf einer Bank, beobachtete, wie sie ein Buch öffnete, wieder sinken ließ.

„Ich kann nicht mehr lesen,“ sagte sie, „alles ist Lüge oder alles gemacht. Wer garantiert, daß in diesem zarten Dichter, den ich in der Hand halte, nicht wie in Mitrofan die Bestie erwacht, deren Triebe um so grausamer werden, desto geistiger die Form ist, in der sie auferstehn?“

Lauda gestand sich, daß sie zu den Frauen gehörte, die er unter gewöhnlichen Umständen nicht aufgesucht hätte. Physischer Charme der Frau fehlte ihr, es blieb nur übrig, den geistigen zu suchen. Daß nur Zufall dazu bewog, empfand er als Ungerechtigkeit, die sie gewohnt sein und dank ihrer Intelligenz festgestellt haben mußte. Er erriet Bitterkeit in ihrem Urteil über Leute, von denen sie sprachen; Bitterkeit wurde nicht selten zu kleiner Gehässigkeit, die ihr Genugtuung verschaffte — es war nebensächlich, er war sich unklar, welcher Grad von Energie dazu gehörte, so einsam zu sein, auf Herzensbeziehung zu verzichten, sie bei andren Frauen zu beobachten, Altjüngferlichkeit entgegenzusehn. Hinter solcher Energie stand wohl viel Güte, Glaube an Vermenschlichung, der nun durch den Krieg auf härteste Probe gestellt wurde. Er erinnerte sich, Artikel von ihr gelesen zu haben, Melancholie und Zähigkeit seltsam vermischt, geheime Ermahnungen an sich selbst, nicht verbittert zu werden.

Es war nicht leicht, ihr Vertrauen zu gewinnen, sie mochte mit differenzierten und mißtrauischen Nerven empfinden, daß Mann, der nicht ganz vom Reiz des Geschlechts absehn konnte, falsch vor ihr war, sein Interesse das einer Stunde.

„Die Welt ist vom Mann gemacht,“ sagte sie, „kein Vorwurf feministischer Art, Vorwurf erst, wenn er die Wahrheit leugnet. Männlicher Geist ist dem Götzen Tat untertan, er will durch Handlung und Umwandlung der Zustände reformieren. Nutzloses Beginnen, Umweg bloß, die Ändrung ist nur durch Umwandlung des Herzens möglich. Hängt das Glück der Menschheit vom Triumph des Sozialismus ab? Ich komme Ihrem Einwand zuvor und frage mich selbst, hängt es vom Pazifismus ab? Nicht vom äußren der Verabredung, nur von der innren Vorbereitung und Bereitwilligkeit, deren Symbol danach die Tat ist, nicht mehr. Sind Männer, männliche Männer, zu solcher Geistigkeit fähig? Ist Geist Wirkung des weiblichen Teils im Menschen? Wer sieht klar? Wir wissen nichts von den Mischungsverhältnissen in uns. Ist es überhaupt erlaubt, von einem weiblichen und männlichen Prinzip zu sprechen?“

„Gewiß nicht, es wäre ein Dualismus, der zwei absolute Regulative annimmt, eins ist schon zweifelhaft.“

Weitergeführtes Gespräch enthüllte das, was man die Stimmung nennen konnte, die diese Frau von sich selbst hatte. Sie stand in der internationalen Frauenbewegung, referierte, saß vor, schrieb, gehörte zur führenden Schar. Für ihre angelsächsischen Kolleginnen lag das Problem einfach, war praktischer Art: die Frau wurde von der Gleichberechtigung künstlich ferngehalten, es galt sie zu erzwingen, Zweifel über eine geistige Verschiedenheit der Geschlechter fochten nicht an. Die Kontinentale, Mitteleuropäerin, fühlte anders. Die Verschiedenheit war da, es war nicht nur Zufall oder Böswilligkeit, daß der Mann die Geschichte gemacht hatte. Sie gab es zu, aber was besagte es? Nichts. Sie war überzeugt, daß der Mann, der der eigentliche Schöpfer war, dieses Schöpferische von den Müttern erhielt, den Trägern des namenlosen und wesentlichen Funkens; nicht die Energie war geistig, sondern die Erregbarkeit, die Fähigkeit, beunruhigt zu werden, weiterzudenken, Sehnsucht zu haben, Phantasie und Vorstellungskraft im weitesten Sinn.

Die Frau war der stille Triumphator der Welt, nicht anerkannt, anonymer Mächtiger, Salz des Bluts. Es aussprechen, unendlich schwer, weil Aussprechen die Einheit zerstörte, mit dem Gegensatz arbeitete, denn Aussprechen hieß auch: angreifen, einen Gegner erfinden. Nah lag, solches Wissen um das Wesen der Frau wie ein schönes, tiefes Geheimnis zu hüten, aber das Leben zwang, aus der Anschauung in die Arena der Fordrung zu treten. Widerstreben in Madeleine, manchmal Müdigkeit angesichts der Worte und Proklamationen, und Einsamkeit in der, die kompliziert fühlte, vereinfacht handeln sollte.

„Die Liebesbereitschaft,“ dachte Lauda, „spricht so in ihr, sie möchte selbst Mutter sein, den Funken weiter geben. Es bleibt ihr versagt, weil — ihrem Arm und Busen ein paar Rundungen fehlen.“

Aber wenn man sich ganz in einen Mensch versenkte, stieß man immer auf den einen Grundkonflikt: Verhältnis von Tat und Beharren, Handeln und Sein; dieses Verhältnis war kein andres, als das primäre von Erzeugen und Erzeugtwordensein; das Erzeugte verlangte, etwas für sich zu werden, dem Prinzip, durch das es Leben erlangt hatte, Widerstand zu leisten, aus dem Kreislauf auszuscheiden.

Was wir Güte nannten, war die Anerkennung des Rechts auf eigne Existenz, von einem Lebewesen ausgesprochen, das doch keinen Einfluß auf die Tatsache seiner Existenz hatte. Wer Güte sagte, ging von der vollzognen Existenz aus; wer Energie sagte, von der noch nicht vollzognen.

Wer wie Mitrofan Energie, Rücksichtslosigkeit, Diktatur, Machtwille sagte, ging von der Tatsache des Urwillens aus, der Existenz erst schafft; darum war in ihm die Grausamkeit und Mißachtung der Einzelexistenz, dieses bereits selbständig Gewordnen.

Was war eine Lehre, die über die Einzelexistenz hinwegging, andres als ein Einbruch des Elementaren in das Geordnete: Ruhe einer Generation, Wunsch einer Generation, ihr kurzes Leben nicht selbst zu zerstören, wurde für nichts erachtet und die Natur, allerdings nur eine der Natur untergeschobne Absicht, künftiges Glück genannt, über den Augenblick gesetzt. Der letzte, äußerste Glaube dieser russischen Diktatoren mußte sein, sie seien Träger der Natur, Bevollmächtigte mit der Verfügung über Leben und Tod — Cäsarenstimmung, alle Mittel erlaubt um des höhren Zwecks willen.

Verborgenster Gedanke, von Lauda längst gesucht, begann sich zu enthüllen: das Leben, dort betrachtet, wo es in die Erscheinung schoß, verurteilte sich zu einem unlösbaren Konflikt: um sich zu manifestieren, brachte es Existenzen hervor, die ihm also nur Vorwand, Kristallisationspunkt, waren; die Existenzen wurden selbständig, waren da, traten in Gegensatz zu ihrem Erzeuger, dem nur an unaufhörlichen Weitermanifestationen gelegen war.

Banal ausgedrückt trat die Unvereinbarkeit von Tod und Leben ein, philosophisch ausgedrückt der Gegensatz von Monismus und Dualismus — dieser von jenem erzeugt. Wo ein unversöhnlicher Gegensatz war, war Leid, das Leben war Leid, Leid philosophisch erwiesen; die Paradoxie der Existenz ward sichtbar, was man auch so ausdrücken konnte, daß der „Wille“ sich selbst aus der Hand gab; die Tat war etwas andres als der Drang zu ihr.

Abends, allein, kam er auf die Auffassung zurück, die Fräulein Betz von der Frau und der Mutter hatte. Geistigkeit als femininer Zustand, das erinnerte ihn an Gedanken, die gelegentlich in ihm aufgetaucht waren. Aber Geist war auch nichts als verwandelte Energie, also das männlichste aller Phänomene. Dies wies darauf hin, daß die Unterschiede der Geschlechter nicht primärer Natur sein konnten. Zwei Gegensätze lösten sich auf, wenn man sie als Differenzierung eines dritten ansah, das besser das Erste, vor der Spaltung Gelegne genannt wurde.

Ging man davon aus, daß die Welt nur ein Ding im Fluß war, dann verschwand der letzte Rest jener Theologie, die zwei Extreme als feste Pole ansah — es gab nur Bewegung nach den Polen hin, nicht die Pole selbst, wie es nicht Seele, sondern nur Seelenhaftes gab.

Die Pole waren höchstens sekundärer, geschichtlicher Natur. Männlich und weiblich konnten nur Aggregatzustände sein, wie Wasser, Dampf, Eis Variationen waren, unterschiedlich nur an Dichtigkeit. Erhob sich die heikle Frage, ob Weiblichkeit der flüssigere oder komprimiertere Zustand war. Ohne Zweifel der undichtere, das paßte zu Laudas eigner Definition, daß Geist das Symptom einer Beunruhigung, das heißt einer Mutation zwischen zwei vorläufig definitiven Lagrungen war.

Soweit schien diese Frage gelöst. Wenn er nun daran dachte, wie er Mitrofan ideell, als energetisches Phänomen sah, wie ihm die männliche Energie in diesem Phänomen gerade Zerstörung des komprimierten Aggregatzustands war, dann schien sich Ja in Nein zu verwandeln, und die Tatsache, daß Frauen, noch eben Trägerinnen des Geistigen und Undefinitiven, konservativer, beharrender waren, verwickelte das Problem noch mehr.

Der Widerspruch war nur scheinbar, bot nur Schwierigkeit, wenn man dualistisch Weiblich und Männlich als getrennte Elemente behandelte. Man mußte den Begriff der Tat untersuchen, die Madeleine Betz dem Mann zuschrieb. Tat entsprang dem rasenden Trichter der Energie, ihr Ziel war, einen Zustand zu schaffen, das heißt ein Definitivum, die Ruhe; die Tat, das Geschaffne, suchte zu beharren, aber die nicht abstellbare Energie, dieser Taumel und Trieb zur ewigen Variation ihrer selbst, zersetzte das Produkt der ersten Tat, drängte zu neuen Lagrungen mit neuer Achse der Rotation. Die Überwindung der Trägheit verlangte eine äußerste Anstrengung der Energie, diese Anstrengung war genau so groß wie die Urenergie; nannte man die Fähigkeit zum Maximum dieser Energie männlich, so war verständlich, daß ein Mann mit derselben Kraft die erste Tat zersetzte, mit der er sie geschaffen hatte. Der undichtere Aggregatzustand des weiblichen Organismus erklärte dann sowohl dessen undefinitivre Lagrung, aus der das Unruhephänomen Geist geboren wurde, als seine größre Trägheit, wenn es galt, sich in Bewegung zu setzen.

Zunächst war der Mann beharrender, weil er komprimierter war (Energieleistung), dann wurde er Zerstörer (ebenfalls Energieleistung); zunächst war die Frau fluktuierender (geringre Energie), dann wurde sie konservativer (schwerere Trägheitsüberwindung).

Der erste Schritt zur innren Mathematik, zur dynamischen Geographie war getan, die Stadt des Hirns, schon längst Kosmos des Hirns geworden, begann ihre Pforten zu öffnen, hinter denen die Metaphysik lag, so nah.

 

D’Arigo hielt sich ein wenig fern; er lag den ganzen Tag mit Lilian auf dem See. Lilian war es, die zuerst entdeckte, was Lauda so stark empfunden hatte, daß d’Arigo ihm wie Bruder sei. Sie nahm an, Verwandtschaft des Äußren lasse auch Verwandtschaft der Ansichten vermuten, bemühte sich, sie zusammenzubringen, liebte es, beide nebeneinander sich gegenübersitzen zu sehn, zog Lauda in den Umkreis des auf den Freund gerichteten Lächelns ein, eines erstaunten, knabenhaften Lächelns, in dem immer Erwartung irgendeiner unerwarteten Handlung war — sie wußte wohl allein nicht viel mit ihrer Zeit anzufangen, brauchte Gesellschaft andrer dazu, den Ablauf von Spaziergang Rudern Teestunde Flirt; rätselhaft für Lauda die Nötigung zum Hochschulbesuch — Geheimnis der amerikanischen Seele. Reizend ihr Tailormade über den gotischen Hüften, leises Pariser Parfum darin, und siehe, die schmalen Puritanerlippen kannten den Rotstift.

D’Arigo war in Madrid aufgewachsen. Die Stadt: katholische Vergangenheit, die Schule: englisches Internat, das Haus: kosmopolitische Modernität — Gang durch sie drei wie Gang durch drei verschiedne von Dingen geworfne Schatten. Der Vater Spanier aus Ehe mit einer Norwegerin, die Mutter Deutsche. Die Elemente einer Seele schienen offen zu liegen, Verführung zu Konstruktion: Gestalt und Blondheit von der nordischen Großmutter oder der deutschen; Künstlertum im Sinn der Velasquez Greco Loyola vom Vater, die formale Energie darin durch englische Willenserziehung gestärkt bis zum Starrsinn: der Bildhauer erklärte sich und Gentleman mit Training.

Jugend zwischen zwanzig und dreißig ward in Paris und England verbracht, wo, in Salon und Landgut, gleiche Resultanten aus großer Vergangenheit und nervenbestimmender Schulung lebten, die Europäer, die Späten. Er trieb Sport, jeden denkbaren, empfand dabei Geistiges, Konzentration und Willen zur Bändigung. Ging von der Jacht zu Picasso ins Atelier, der gerade von seinen wunderbar gekonnten und aus Überlegenheit leidenschaftslosen Figuren den Vorstoß in die neue Welt des abstrakten Dahinter unternahm — keine Figur mehr, keine Landschaft, nichts vom Mensch, nur wunderbar gekonnte Statik aus Gerade, Tangente, Kreisabschnitt; Realität durch drei Spiegel gesehn, durch zehn gebrochen, mathematische Vegetation, aus Überlegenheit leidenschaftslos bis zur Zärtlichkeit.

Hier erhob sich erstmalig in d’Arigo die Stimme des Anteils deutschen Bluts; solche Vortreibung der Kunst in Sphären, die jenseits des Seelischen lagen — wenn man Seele die Sphäre nannte, woraus das Geschöpf Nahrung für seine Individualität, Trost, Erschüttrung, Rührung, Sehnsucht bezog — solche Neuerung war für germanisches Gefühl Überzüchtung, Artistentum, äußerster Gegensatz zu Rembrandts Menschlichkeit.

Der Lateiner in ihm widersprach, vermochte willig mitzugehn, empfand stolz die größre Geistigkeit, die späte Reife dieser Kunst, die nicht religiöse Kommunion mit dem All, sondern Florettstoß in das Herz des Erschaffnen war. Er schloß sich in seinem eignen Atelier ein, formte die Statue eines Gladiators, in dem nichts mehr vom anatomischen Muskelspiel des Modells war, nur vier in die Luft gestoßne Stümpfe, Muskellianen, in der Mitte ineinandergedreht um die Mutterfalte des Nabels; Mannequinkopf, Holzspeck des Nackens.

Ausstellung ergab die Paradoxie, daß dieselbe Gesellschaft, deren Verfeinerung Voraussetzung solcher nicht mehr realen Kunst war, hilflos nur den Maßstab der Salonkunst hatte, und ein Deutscher, in dessen Blut keine Tradition zu Greco führte, die Statue kaufte, den Künstler einlud, Aufträge gab. Als d’Arigo in Deutschland war, kam der Krieg. Ihm blieb der Sturm des Enthusiasmus fremd, aber es wuchs wie in einem versetzten Strauch ein Trieb nach; er empfand es als zweite Jugend, Bereichrung. Er begann Musik zu lieben; er, Anbeter des Sichtbaren, Künstler durchs Auge, stieß in den deutschen Kontinent vor, ward verwirrt, ging in die Schweiz, Klärung zu suchen — die deutsche Lockung blieb stärker. Er kehrte zur Gestaltung des weiblichen Körpers zurück und suchte wie alle, die Gegensätzliches in sich tragen, Ausgleich, indem er die Form, mit romanischster Männerhand herausgearbeitete, durch deutsche Musikalität beseelte.

D’Arigo betrachtend, während er von sich erzählte, empfand Lauda die Stockung, mit der es geschah, wohl als herrischste Straffheit, Willen zur Form, und empfing doch noch unbestimmten Eindruck einer der Produktion gefährlichen Verbissenheit, Ausgleich erzwingen zu wollen, etwa als überließe d’Arigo sich nicht fessellos genug dem deutschen Gefühl, führe zu früh die Bändigung ein.

Und die Zurückhaltung, mit der jener von der zärtlichen Keuschheit sprach, die er nun seinen Frauen zu geben versuchte, schien Lauda selbst Keuschheit zu sein, neue, unvereinbar mit diesem antiken Kameenkopf und den Liebeserfahrungen der Pariser Gesellschaft. Wie, wenn die deutsche Bereichrung nur eine Rückbildung war, zersetzend frühere Klarheit? Er wußte es nicht, hatte nur den Eindruck der Möglichkeit. Was hatte d’Arigo zu Lilian geführt, die neue Lockung oder die alte? Und sie selbst, auch zwischen die Rassen Gestellte, was war sie, Sweegirl, durch Paris Gegangne?

 

Manchmal begegnete man Lisbao, und das war, als sei man nicht in einem Privathaus, sondern im Hotel; er nickte unmerklich, ging weiter. Er schien flüchtige Bekanntschaften unter den Gästen zu haben, aber nie redete er sie an, sie nur ihn. Kleine, zierliche Gestalt, blasser Teerosenteint unter schwarzen Haaren, die Stimme so leise, daß sie unvernehmlich war, zwanzigjähriges Kind, gestern noch Kind in einem Stift mit mönchischen Brüdern.

„Er sieht aus,“ sagte Lauda, „als besinge er den Mond und die verheiratete Geliebte unzugänglich.“

„Sprich mit ihm,“ antwortete Hannah mit einem feinen Lächeln, „er liebt zwei Dinge nicht, Politik und Philosophie.“

Lauda tat, wie ihm geheißen war, bat Lisbao, ihm eins seiner Bücher zu leihn. Lisbao hatte kein Buch herausgegeben, kein Verleger war zu finden gewesen. Er veröffentlichte seine Gedichte in italienischen Zeitschriften, war Gast bei Futuristen, obwohl er die Achseln über sie zuckte, sie waren Naturalisten, denn sie stellten Fordrungen auf, mit dem Schmutzigen verbunden, dem Krieg, den sie als befreiende Barbarei priesen, kämpften gegen den Bürger und genossen seinen Zorn, wenn sie ihm vorschlugen, den Schatz der Sentimentalität, die Museen mit Inhalt von Raffael bis Tizian an noch Sentimentalre, die Amerikaner, zu verkaufen. Gegen den Bürger führte man nicht Krieg, der Bürger bestand nicht — Vakuum, über das man hinwegsah; die Welt der Realität war Vakuum.

Es beschäftigte sich diese Welt mit: Geschichte, Pädagogik, Philosophie, dreimaligen Sisyphuserfindungen, das Nichts der Hirne auszufüllen. Geschichte: man durchwühlte die Vergangenheit, das Gesetz der Kausalität zu finden. Kausalität bewies ihnen, daß ihre Existenz Zweck hatte — Geburt des Freisinns, der den Enkeln vermitteln will, was Väter erschaffen hatten, Zeugungskette von Wilhelm Tell bis Gottfried Keller. Wilhelm Tell war ihm Guillaume tel et tel, was ging er ihn an. Von allem, was gewesen war, gedacht, geschrieben, übernahm er einen Satz des Descartes: Ich will nicht einmal wissen, ob es Menschen vor mir gegeben hat, der Rest war ihm Papyrus, unverständliche Hieroglyphe, wohltätig tot — Tod war die einzige Gerechtigkeit, die es gab, das Gesetz, mit dem man sich identifizieren konnte, der große Würger: recht so, drücke mit zwei Knochenfingern die Kehle des Menschen zu, wie der Mensch die eines Vogels, écrasez l’infâme.

Pädagogik: denn Mensch in seiner Feigheit und Armseligkeit verwandelte sein Hirn in ein System von Schubladen, Apotheker des Daseins, der das sinnlos Seiende in sinnvoll Seinsollendes umzuschaffen glaubte, wenn er kann, soll und muß aufklebte. Verwesender Pedant, der durch Erfindung der Ideale Unsterblichkeit zu erlangen meinte, Schulmeister, der sich durch Gase des Gefühls aufblies und doch nur ein Ballon war, mit nichts gefüllt. Kunst die unreine Seßhaftigkeit in den eignen Exkrementen, statt daß er sie über Bord warf, leicht und vegetativ zu sein; Seele, die Selbstzufriedenheit der verseuchten Hure vor dem Spiegel, wenn sie sich schminkt und dreht. Vernahm er die Worte Ideal und Wissenschaft, vernahm er das Bumbum des großen Kalbfells der Jahrmärkte.

Es gab keine andre Kunst als die, die Beschäftigung mit sich selbst war, saubre, reinliche Angelegenheit, die andre nicht bekehren wollte. Es saß im Irrenhaus der Welt jeder in seiner Zelle — Korridor davor, auf dem man sich begegnen konnte, wenn er zugleich erlaubte, sich zurückzuziehn, und in der Zelle saß jeder, spann aus seinem Nabel. Kunst tat niemand weh, und wer sich damit abzugeben wußte, erfuhr Angenehmes und gute Gelegenheit, das Land der Unterhaltung zu bevölkern. Kunst war Privatangelegenheit, genau wie wenn einer Knöpfe sammelte oder Kaktus mit der Birne pfropfte — falls es ihm Spaß machte? Aber Kunst der Ausstellungen und Museen, Lehrstühle und Kritiker — o Freunde. Er löschte aus, was von Praxiteles bis vor Picasso gestaltet war, mit Picasso begann das Neue, darin nicht mehr Belehrung, Moralität, Gottsuchen, Gegenständlichkeit war. Philosophie war Bildungstrieb, Vermehrung der Qualligkeit des Hirns, das tönende Pathos, Sentimentalität, Rührung des armen Teufels über sich selbst.

„Und Sie wollen heute Abend,“ fragte Lauda, „Manifest und Verse vorlesen, die diesen Auffassungen entsprechen? Warum tun Sie das? Wenn der Bürger eine schleimige Kröte ist, bösartig, seßhaft in seinen Büros, vom eignen Gift vergiftet, wendet man sich nicht an ihn. Warum tun Sie es also? Denn selbst die hier Anwesenden, die sich für die fortgeschrittensten Europäer halten werden, da sie ja ebenfalls der Bourgeosie Todfeindschaft geschworen haben, sind für Sie nichts andres als Narren ihrer Ernsthaftigkeit, Moralisten und Pädagogen.“

„Um sie herauszufordern,“ antwortete Lisbao.

„Das Epatez le bourgeois ist nun ein Jahrhundert alt, die deutschen Romantiker übten es zuerst, die französische Boheme formulierte es.“

„Ein Stachel in ihrem Fleisch zu sein, ihre Sicherheit zu beunruhigen, aus sonst einem Grund, ich weiß es nicht, ich bin nicht Psychoanalytiker.“

Einem bürgerlichen Betrachter standen zur Erklärung eines Phänomens wie dieses Ungegenständlichen verschiedne Schlagworte bereit: Weltschmerz der zwanzig Jahre; Artistentum; geistige Ratlosigkeit gegenüber dem Ansturm des ersten Denkens; Irrsinn.

Weltschmerz war pathetischer Genuß des Leids, das nicht ganz der Überzeugung entsprach — in Lisbao war offenbar Haß gegen Pathos und eine Stimmung vom letzten her, als sei Seele ein Geschwür, krebshafte Wuchrung in entarteten Organismen. Ob damit ein Gott getroffen werden sollte oder er selbst, blieb unklar.

Die andren Erklärungen waren nicht wesentlicher; Vorwurf des Artistentums traf nicht, denn hier galt nur noch die kleine Sphäre, in der sich ein Individuum einspann, aus seinem Nabel zu spinnen. Warum aber verwarf er nicht auch diese letzte Beschäftigung? Um dem in der Zelle Eingesperrten nicht das letzte Vergnügen zu rauben, oder weil er eben persönlich — Künstler war? Es wäre ihm nichts übrig geblieben, als sich zu erschießen. Irrsinn, wenn auch nur in der mildren Form der Dämonie? Es gab Kunst, die Stammeln der unter dem Griff Aufstöhnenden war, oder Anklage der Gepeitschten, Flamme, die aus denen schlug, die verbrannten; aber das portugiesische Kind war von einer Ruhe, die eine sinnliche Empfindung gab: Körper wie der eines Pelztiers in Wärme gebettet, ruhig atmend in dieser Wärme. Radikalismus, der sich mit Ruhe verband, war hohe Geistigkeit, ja man konnte Geistigkeit schlechthin so definieren.

Lauda folgte Lisbao auf sein Zimmer, die italienischen Zeitschriften zu sehn. Er fand auch französische, spanische und erfuhr, daß ungegenständliche Kunst sich als eine übernationale Bewegung zu dokumentieren begann, der erweiterten westlichen, lateinischen Hemisphäre. Ein Vorstoß war bis Neuyork gedrungen, wo das erste Heft einer Zeitschrift erschienen war, das zweite darauf in Barcelona. Das war wie das Aufflackern anarchistischer Attentate — Gleichnis nur, durch irgendeine dem Wort Barcelona entspringende Assoziation bei Lauda sich meldend, aber im selben Augenblick durchfuhr ihn der Gedanke, diese Bewegung, die den Strich unter das Bürgerliche setzte, berge einen kalten Fanatismus, der dem der bolschewikischen Russen verwandt sei an Ursprung und Energie, gleich ihm vielleicht die Welt überziehn könne. Aus der Mutation des europäischen Kosmos, Weltkrieg genannt, brachen zwei Entladungen, elektrische Ströme, die über den Ball griffen, die soziale und die geistige Revolution.

War nicht in dem Haß gegen den Selbsternst des Bürgerlichen und seine gepachteten Domänen Kunst, Wissenschaft, Politik Möglichkeit eines Lachens, das im Zeitalter der Weltorganisation unbekannte Formen annehmen konnte? Lisbao lachte nicht, aber der nächste aus seinem Kreis schärfte vielleicht schon des Florett, das auf andre Art den Stoß ins Herz der Dinge führte.

 

Am Abend las Lisbao. Es war, als trete in einem Hotel der Herr, den man schon gelegentlich sah, auf und enthülle den Zweck seiner Anwesenheit, Engagement. Er las Italienisch, Französisch und Deutsch; seine eignen Arbeiten waren französisch geschrieben. Sein Manifest wandelte die Gedanken ab, die er Lauda vorgetragen hatte.

Ich suche, las er, eine Bezeichnung für unsre Auffassung, ein zugleich täglicheres und fanfarenhafteres Wort für das, was wir zu feierlich ungegenständlich nennen, ich habe es noch nicht. Nennen wir es vorläufig X, so lauten meine Sätze, die dem Ekel gewidmet sind, folgendermaßen:

Alles, was geeignet ist, das Ideal der Familie zu zerstören, ist X.

Protest mit allen Fäusten der Energie gegen tätliches Handeln ist X.

Abschaffung der Logik, Tanz der Ohnmächtigen ist X.

Ausschneiden des Gedächtnisses mit dem Messer der innren Chirurgie: X.

Verabschiedung der Propheten, der Zukunft und der geistigen Schubladen: X,

Freiheit, Taumel, der Widerspruch ist X; nur unkonsequent sein. An nichts glauben, auch nicht an X, ist X. Jeder schreie hinaus: es ist eine große Arbeit zu tun, ganz Negation: Wegfegen, Säubern, Ausmisten.

Moralisten sind Bauernfänger, Söhne Eisenbarts. Seht ihr den Jahrmarkt der menschlichen Gesellschaft, Pferch für Herdenvieh, von einem Kranz von Tribünen eingezäunt: darauf stehn sie im Kreis. Kopfbedeckung Magisterhut, rote phrygische Mütze, Schlapphut der Philosophen, demokratischer Zylinder, Berliner Sozenkappe, Pfaffenkrönchen, Frauenrechtlerins Strohhut mit der Nadel, und reden aus den zehn Ecken des ersten Mai auf das Vieh, ihm die Pillen des Glücks aufzuschwatzen, pinkpink bummbumm. Wer von Glück redet, ist ein Schwein, seien wir doch Schweine ohne Glück, nur Schweine, über die ich weine, es gibt im Koben kein Unten und Oben, kein Jenseits und Droben.

Er hatte unbewegt vorgetragen, den Blick aufs Manuskript gesenkt, als gehe ihn der Gegner, den er angriff, nichts an. Schreiner sprang auf, drängte mit geballten Fäusten auf Lisbao; Lilian lächelte ungläubig, das Unerwartete war eingetreten; d’Arigo gebot dem Portugiesen in seiner Heimatssprache zu schweigen; Madeleine Betz saß mißbilligend angewidert, der Schweizer schlug aufs Knie und begann zu jodeln, als Lisbao weiterreden wollte.

Ein Äderchen groß wie ein Regenwurm trat aus der Schläfe Lisbaos, er stieß den Stuhl zurück, schrie fast:

„Ich weiß, werte Herren, daß ich ein Majestätsverbrechen an dem Ernst Ihrer Würde begangen habe, bin bewußt, vor mir die Creme der europäischen Gesinnung zu haben. Nicht wahr, der Krieg, über den Sie zu Gericht sitzen, Sie segnen ihn im geheimen, denn er erst hat Sie zu Halbgöttern gemacht, Schiedsrichtern über Tölpel und Barbaren. Eure Selbstherrlichkeit reizte mich; wenn ihr so hoch steht, laßt mich unten im Staub euch in die Zehen beißen, kratzt euch und redet weiter vom Glück.“

Er setzte sich erschöpft, Augen waren Kohlenstückchen in Teerosenblätter gewickelt. Lauda trat zu ihm, roch den Atem eines jungen Kinds, sagte:

„Lesen Sie andres, nicht Manifest, Verse,“ gab ihm den Band in die Hand, der vor ihm lag. Lisbao schlug auf, las die Hymne Rimbauds auf die Vokale, nahm ein andres Heft und sagte:

„Hören Sie etwas Deutsches, Gedichte meines Freunds Hans Arp; wenn Sie nicht böswillig sind, werden Sie empfinden, wie rein, von Seelenproblemen unbeschwert, phantastisches Spiel hier die Welt geworden ist, ausgeschaltet Kausalität, übersprungen Zwischenglieder, gleichzeitig alles, Silberkugeln auf Fontänen.“

 

Obwohl der mond mir wie ein spiegel gegenüberhängt schmerzt mich der engel im auge / auf den tischen laufen die sämereien auf und pochst du an die pflanzen so springen ihre blumen hervor / die löwen verenden vor ihren schilderhäusern mit gießkannen voll diamanten zwischen den krallen / die führer tragen schürzen aus holz die vögel tragen schuhe aus holz die vögel sind voll widerhall / unaufhörlich rollen ihnen die eier aus ihren kleinen herzen / ihr scheitel trägt den himmelsmast ihre sohlen stehen auf schreitenden flammen / reißt die schneekette so rufen sie den herrgott an / senkt sich das himmelsrad so treten ihre hufe auf schwarze körner

die nachtvögel tragen brennende laternen im gebälk ihrer augen / sie lenken zarte gespenster und fahren auf zartadrigen wagen / der schwarze wagen ist vor den berg gespannt die schwarze glocke ist vor den Berg gespannt die toten tragen sägen und stämme zur mole herbei / aus den kröpfen der vögel stürzen die ernten auf die tennen aus eisen / die engel landen in körben aus luft / die fische ergreifen den wanderstab und rollen in sternen dem ausgang zu

verschlungene knaben blasen das wunderhorn / engel in goldenen schuhen leeren säcke voll roter steine in jedes glied / schon bilden sich maste und sternbilder / die schwestern zeigen spuren von luftschlössern geldkatzen findlingen dampfkuhbissen gesattelten hasen frisch gepolsterten löwen / auf flammenden speichen rollen vögel über den himmel sterne niesen aus ihren wachsnasen blumengarben / betrunken sind mann und maus und schwimmen an weichen Fingern / brennende löwen sausen über zitternde birken / wer einen schwanz hat bindet sich eine laterne daran / die ganze nacht wird auf dem kopf gestanden rittlings auf drachen getanzt / stangenklettern und leiblicher Ringkampf erfüllen die nacht mit wauwau

Die seraphim und cherubim steigen die weißen bauleitern auf und ab und wissen nicht warum / auf wattekugeln schreiten die starken tiere sie sieben glühende kohlen auf die betten werfen speere nach den befiederten höckern und häufen steine über die wegweiser / die kinder ziehen ihre totenstiefel an und warten auf die zeit die in kleine schwarze schlitten und kisten zerfällt und warten auf den kosmetischen Löwen mit dem schwanz aus dünnem draht voll feiner knötchen / in den schattensesseln sitzen die gekalkten toten sie klatschen in die hände und bellen / riesenvögel röhren in den holzschluchten keiner findet mehr die spur von seinen kinderschuhen / die pistille fallen aus den sternen die sterne verzucken in ihren volieren die sterne spalten sich und speien atrappen / die muskeln in den Sternen reißen entzwei die knochenlosen prinzen fließen wie Teig um die räder der mitternacht / in dem metallenen zelt aber sitzt die riesin eisenkopf mit den falschen waden die litfaßsäule und der uhu / die riesin stülpt sich ihren feuerzylinder ihren rauchzylinder aufs haupt verbeugt sich und spricht fröhlich fröhlich fröhlich / also wird der erdball durchsichtig und wie in einem fischglase schweben die magistri horti deliciarum darin / die welttore schlagen auf und zu die wachspuppezeit zerfließt unaufhörlich das übernichts das wohllautei beschießt.

 

Er las vor, wie man nach Laudas Gefühl vorlesen sollte, monoton, ohne Akzente von Erfassung oder Verarbeitung, nur das Material liefernd, nicht das Werteverhältnis, das dem Zuhörer überlassen blieb — nichts war so fern von der Konfektionstätigkeit des Schauspielers, der fix und fertig den Complet liefert, wie man in der Schneiderbranche sagte. Diese Einförmigkeit entsprach auch der Grundstimmung den Erscheinungen der Welt gegenüber: sie waren Erscheinungen, nicht mehr, rollend aus dem Ärmel das Magiers mit dem Zauberhut, stürzend in den Wasserfall der Zeit, drängend einander auf den Fersen, Foetuszug, keiner dem andern die Zeitspanne gönnend.

Nüssli war der einzige, der den Unterschied nicht merkte, wie beim Manifest zu jodeln versucht war; in den andren haftete wohl das eine oder das andre Bild aus phantastischer Verschlingung von Milchstraße und Baum, aber sie waren befremdet und fragten, welchen Wert solche Kunst habe für Denken und innre Not.

„Es sind Märchen,“ sagte d’Arigo, „aber schwaches Fundament für Revolutionierung der Kunst, und selbst die Phantasterei verliert sich fortschreitend in bloßen Worteinfällen ohne Beziehung.“

„Ganz recht,“ antwortete Lisbao, „Beziehungslosigkeit ist eine unsrer Fordrungen. Die Bilder, die mein Freund malt, denn er ist Maler, beziehn sich nicht mehr auf das, was abzumalen überflüssig ist, weil es ja schon existiert. Hängen Sie seine Bilder an die Wand, suchen Sie umsonst Kuh und Nymphe darauf. Halten Sie sich für bedeutender, ernster, weil Sie von dreißig bis siebzig unermüdlich Spargel und Mädchen malen? Ist das eine männlichere Beschäftigung? Spargel und Mädchen haben einen ganz andren Zweck, als in Ihrem Öl aufzuerstehn — gegessen und beschlafen zu werden. Welch eine Existanz führen Sie denn inmitten arbeitender Bürgerlichkeit? Wäre der Bürger nicht ein so feiger Dummkopf, dann würde er ehrlich sagen, was er von Ihrer Lebensweise hält: daß Künstler Tagediebe sind, vorredend, die Ölspargel seien so wichtig wie die echten und deshalb sei es nötig, Akademien zu unterhalten. Die Gesichte meines Freunds wollen wenigstens nichts sein als Spiel, ihm so ernst wie Ihnen der Pan im Garten, aber eben auf ihre Philosophie betrachtet Spiel, anmaßungslos, ohne das bedeutsame Mundzusammenkneifen.“

„Wo lebt er, wie?“ fragte Lauda.

„In Zürich, so reinlich, daß es im Zeitalter von Büro Bank Börse unwahrscheinlich ist, er hat keinem Kritiker einen Besuch gemacht, diniert nicht mit Sammlern, Einladung mit Schmeichelei abzahlend, liest Laotse und Jakob Böhme, hat Hände und Füße wie eine Frau, sein Organismus ist so unbrutal, daß er Ausschlag bekommt, wenn er Fleisch ißt.“ Zu d’Arigo gewandt: „Was ahnen Sie, was wissen Sie? Nichts, nicht einmal wie eingesponnen Sie in die kapitalistische Lüge der Kunst sind. Wenn ein Konsumverein Ihnen den Auftrag gibt, auf sein Verwaltungsgebäude die Symbole von Arbeit Handel Friede zu stellen, meißeln Sie Mann mit dem Hammer, Magd mit dem Rocken und als drittes wieder Mann oder Weib mit irgendeinem Spießeremblem — er täte es nicht, das ist der Unterschied. Und wenn der Kommerzienrat sich anmeldet, lassen wir nicht das Atelier aufwaschen, darum liefern wir ihm auch nicht Nymphen unter die Zimmerlinde zu stellen.“

D’Arigo maß ihn kalt, sagte: „Daran erlaube ich mir zu zweifeln. Mag sein, daß Ihr ein paar Jahre weder vom Konsumverein noch vom Kommerzienrat Bestellung erhaltet. Kommt sie aber, dann werdet Ihr verlogen, wie Ihr im Innersten seid, denn Ihr beeilt Euch zu liefern, was man verlangt. Darin sind wir ehrlicher, denen der Bürger die Akademie bezahlt.“

Er ließ ihn stehn und ging zu den Männern, die von dem sprachen, was sie interessierte. Lisbao blieb allein, sein Vortrag hatte keinen veranlaßt, ihn einzuladen. Da sah Lauda, der bei Hannah stand, daß Fräulein Betz zu Lisbao ging, ihm Gesellschaft zu leisten. Hübsch von ihr, er trat selbst hinzu, neugierig zu hören, was sie sagte:

„Wenn ich Sie recht verstanden habe, leugnen Sie, daß ein Künstler sich mit irgendwelchen Dingen abgeben soll, die den Mensch beschäftigen, Problemen, Konflikten?“

„Durchaus, ich lehne ab Theater Museen Konzerte.“

„Und lesen nicht, was vor Ihnen Geister gedacht und gestaltet haben?“

„Nein, es ist sich jeder selbst genug, die Geister vor mir interessieren mich nicht.“

„Selbst angenommen, Sie wären so reich, daß Sie sich selbst genügen können, glauben Sie nicht, daß Sie durch solches Prinzip zu einem Hochmut kämen, der Dürre würde? Sie hören nicht Musik, lesen nicht Bücher — wie bequem Sie sich die Verwerfung der andren machen. Oder: wenn Sie die Beschäftigung mit Fragen, die uns alle angehn, ablehnen, warum lassen Sie nicht den andren das Recht, sich mit ihnen zu beschäftigen? Sie sind ja genau dem verfallen, was Sie bekämpfen, dem Schulmeistern, dem Moralisieren, denn Sie wollen die Menschen dazu zwingen, die Welt mit Ihren Augen zu sehn. Proklamation des Egoismus erschiene mir nur in einem Fall zulänglich: wenn man schwiege und kein Manifest verfaßte. Manifeste sind Symptome des Pädagogischen. Sie wenden sich damit an Gleichgesinnte? Also wollen Sie eine neue Schule gründen, also sind Sie wie alle. Und drittens: wenn Sie den Menschen Theater Bücher Museen nehmen, was geben Sie ihnen dann? In welche Verdummung stürzte die Welt, wenn man jedem einredete, er brauche nichts mehr zu lernen. Sie schütten ihnen ja alle Quellen zu, Kunst ist nicht nur eine absolute Angelegenheit, sondern auch eine soziale in dem Sinn, daß sie die Menschen vor der Langeweile schützt. Ich sehe lauter Widersprüche in Ihnen.“

„Der größte ist,“ sagte Lauda, „daß die Theorie des Ungegenständlichen nur relativ standhält. Denn nicht nur Kuh Spargel Nymphe sind gegenständlich, auch die mathematischen und statischen Gesetze, deren direkte Darstellung Sie versuchen, sind es; sie sind Realität im philosophischen Sinn. Kunst, überhaupt alles, was aus dem innren Kosmos kommt, ist Nachahmung bestehender Zustände. Man kann wohl variieren, aber nicht neu erfinden. Man kann Menschen mit Fischschwänzen, Pferdeleibern und Flügeln erfinden, aber nichts Neues schaffen, das Groteske ist eine Variation des Seienden, nicht mehr.

In den Gedichten Ihres Freunds ist eine außerordentliche Phantasie: ‚unaufhörlich rollen den Vögeln die Eier aus den kleinen Herzen, ihr Scheitel trägt den Himmelsmast, ihre Sohlen stehn auf schreitenden Flammen, senkt sich das Himmelsrad, so treten ihre Hufe auf schwarze Körner.‘ Das sind freie Assoziationen über der Realität, aber die Elemente sind aus der Realität genommen; es sind Kombinationen, bei denen die Kausalität zärtlich ironisiert wird — bei andren wird sie vielleicht herausfordernd ironisiert. Ich vermute, daß Sie trotz Ihres Hasses auf überlieferte Kunst den ganzen unausgesprochnen Hochmut des Künstlers haben, schöpferischer als der Bürger zu sein, Absolutes zu fühlen — ich habe ihn nicht mehr, die Kunst legt sich in den Weg, wenn wir das Absolute suchen, ich bin entschloßnerer Empörer als Sie. Sie lassen Rimbaud gelten, rechnen ihn wohl mit Picasso zu ihren Vätern — Rimbaud ging, nachdem er Paris mit dem Ruhm seiner zwanzig Jahre gefüllt hatte, zu den Barbaren, fortan ein Anonymer; das war Tat, so fern den Manifesten. Ich würde Sie ganz verstehn, wenn Sie auch die Kunst auf die Liste setzten, über der steht Mes Haines.“

 

Europa ist dekadent,“ sagte Shiller, „wenn es Erscheinungen wie diesen kleinen Portugiesen hervorbringen kann.“

Lauda hatte ihn beim Croquet beobachtet. Es gab in Hannahs Haus nichts dergleichen, keinen Spielplatz, keine Stöcke, keine Kugeln; Shiller hatte den Platz eingerichtet, Material in Interlaken telephonisch bestellt, danach zog er Fräulein Betz, Doktor Nüßli und Fünfkorn zu Partnern, nicht unlebhaft, aber zäh. Dem kindlichen Spiel oblag er mit einer Ausdauer, die wie Hypnose war, Hypnose des Willens, der ein Ziel sieht, es erreichen wird. So einfach wie die Spielregeln war Bild der Welt in ihm. Die Wahrheit hieß Demokratie, der Friedensstörer und Bedroher der Völker Preußen; die amerikanische Demokratie, ausgebildetste von allen, nahm den Kampf auf, würde ihn bis zum Sieg durchführen. Daß er Sozialist war, wurde für die Zeit dieser Aufgabe nebensächlich, zuerst galt es, die Demokratie in allen Ländern einzuführen.

Er war Sohn eines Achtundvierzigers, sprach Deutsch, war nach Europa gekommen, um die Opposition der deutschen Demokraten gegen das kaiserliche System zu organisieren. Sein Lieblingsdichter war der, dessen Namen er führte, ohne mit ihm verwandt zu sein, Schiller; bei Schiller war die Begeistrung für redliche Ideale, das Temperament des Redners, der große Massen führt, die Dreieinigkeit des Guten Schönen Wahren. Lauda erinnerte sich der Amerikaner, die er in Brüssel gesehn hatte; dieser gab ihm dieselbe Empfindung der großen Menschenmaschine jenseits des Ozeans, die gleichförmige Hirne in Millionen Exemplaren hervorbrachte — Banalität und prachtvolle Jugendlichkeit, zähe Frische, die die Welt nach ihrer Absicht formen wird.

Aber er konnte nicht mit Shiller sprechen. Klang das, was er sagte, nach dem Sinn des Amerikaners, war er sein Mann, Übereinstimmung der Ansichten auf der ganzen Linie; paßte es nicht in die Idee Shillers, hatte er einen Gang zu bestehn, in dem jener heiß und unbefangen mit den größten Gemeinplätzen argumentierte, wahre Boxerschläge austeilte. Sie sprachen vom preußischen System. Lauda, fern jeder Billigung, suchte klarzumachen, daß es eben ein System war, als solches geschlossen, klar, bewundrungswürdig durchdacht. Solche geistige Betrachtung eines Augenblicks war Shiller unverständlich, er wollte widerlegen, was nicht widerlegt zu werden brauchte, sprach Leitartikel.

Hinter ihm stand Geldkraft, er kam mit Vollmachten. Sein Plan war, eine deutsche Zeitung zu gründen, die Gefangnen in den Lagern mit diesem Blatt von ihrer Blindheit zu befrein. Herausgeber sollte Fünfkorn sein. Es kamen die ersten Korrekturen, Lauda las den Eröffnungsartikel Fünfkorns. Er war logisch und es war erlaubt, daß jemand, der aus Überzeugung glaubte, daß Deutschland die Schuld am Krieg allein trug und die Entente, selbst zugegeben, daß auch sie vom Imperialismus herkam, die Sache des Rechts vertrat — es war logisch, daß dieser Deutsche soweit ging, mit der Entente in einer und derselben geistigen Front zu kämpfen; aber es widerstrebte zu hören, daß er sich das Geld zu diesem Kampf von ihr geben ließ, von ihr Unterhalt bezog.

Diese Auffassung vertrat auch, mit aller Deutlichkeit, Graumann. Spieß ließ sich den Bundesgenossen gefallen, Mitrofan und Nüßli zuckten die Achsel über das bürgerliche Unternehmen. Fünfkorn hatte sich nicht auf das Studium der verschiednen Weißbücher beschränkt, er hatte auch gelesen, was in den Pariser Blättern über den deutschen Geist gesagt wurde, daraus nach dem Gesetz des Gegensatzes die französische Auffassung von Zivilisation kennengelernt.

Das Ergebnis war ein Versuch, das Gedankengebäude der deutschen Geistigkeit zu konstruieren, wie es seit der Reformation über Hegel bis zu Marx und Lassalle errichtet worden war. Die Reformation war der Abfall vom Prinzip der selbstgewählten Bindung des Menschen durch eine überreale Idee, sie war, im Keim, die Proklamierung der Souveränität des Denkens. An Stelle Gottes war der Begriff des Staats getreten, der profanen Bindung, die Freiheit war also illusorisch, die irdische Autorität schlug den Freigelaßnen in neue, härtre Bande — Geburt der deutschen Subalternität. Hegel erklärte sie als Geist der Weltgeschichte, Marx und Lassalle waren nicht minder protestantisch, bereiteten das Bündnis von 1914, zwischen dem Sozialismus, autoritärem Mikrokosmus im preußischen Makrokosmus, und dem Militarismus vor.

Ernsthafte These, aber sie schwenkte ab zu dem, woran Fünfkorn gelegen war, der Empfehlung des französischen Systems als der einzig möglichen Methode, Gesellschaft aufzubaun. Für den denkenden Geist war das deutsche System ein Versuch der Lösung, das französische ein andrer, wie Hellas, die mittelalterliche Kirche Lösungsversuche gewesen waren. Die Grundidee eines Systems bedingte seine Größe und seine Beschränktheit. Man durfte innerhalb des praktischen Daseins von einem System sagen, es führe zu Konsequenzen, die unerträglich waren; man durfte nicht im absoluten Sinn, wie Fünfkorn tat, von ihm sagen, es beruhe seit nun vier Jahrhunderten auf Betrug, Lüge, List. Die Geschichte eines Volks war nie Betrug, sie war Schicksal.

Die Unfähigkeit, diese zwei Betrachtungsweisen der praktischen Wertung und der ideellen Anschauung auseinanderzuhalten, die Kleinlichkeit der Beweisführung, die nicht verschmähte, aus Boulevardblättern das Argument zu übernehmen, Goethe habe im Faust das Recht des sinnlichen Genusses gepriesen (Beweis für die Minderwertigkeit der deutschen Seele), die Empfehlung französischer Geister dritten Rangs, die als Ersatz für Kant und Hegel genannt wurden, verstärkte Laudas Abneigung, in Fünfkorn den geeigneten Führer anzuerkennen.

Graumann zog Lauda in die Whiskyecke und bot ihm eine Importe an, Zeichen, daß er sich etwas vom Herzen reden wollte.

„Sehn Sie,“ sagte er, „es ist bedauerlich, daß wir nicht die Kraft haben, unsrer Regierung den Krieg ohne fremde Subsidien zu erklären. Die Schwierigkeit liegt weniger auf finanziellem Gebiet — ich ließe mit mir reden — als auf geistigem, oder soll ich sagen moralischem. Ich lebe nun sein Jahren unter den Intellektuellen, komme aber selbst aus ganz andren Schichten, war Kaufmann, machte Geld — Geld gemacht, suchte ich es vernünftig anzuwenden, für mich und andre. Man war bereit, mir dabei zu helfen, gab mir die Rolle des Mäzen. Ich ließ es mir gefallen und suchte inzwischen den, der, mit schriftlichem oder gesprochnem Wort begabt, das ausführen konnte, was ich meine. In allen diesen Jahren wurde ich mit einigen Dutzend Künstlern und Literaten bekannt, es waren nicht alle Schwätzer, aber keiner so überlegen, daß man empfand: diesem ist Gabe des Geists ein anvertrautes Gut, für andre zu handeln — es war ihnen allen ein persönliches Gut, Ehrgeiz zu befriedigen.

Da ist dieser Fünfkorn. Er legte seine Militärbehörde ordentlich hinein, guter Anfang, werbende Handlung — warum zum Teufel läßt er sich nun von den Fremden, die ihre eignen Zwecke verfolgen, die Mittel geben? Warum wandte er sich nicht an mich, den Deutschen? Sie werden sagen, ich hätte vielleicht nicht genug durchblicken lassen, daß ich bereit sei. Aber eben das, dieser Mangel an Instinkt oder an Mut verrät seine Beschränkung. Nun geht er hin und verpfuscht eine schöne Sache. Die Geistigen kommen mir wie Gäule vor, die darauf brennen, Galopp zu laufen, aber sie haben Scheuklappen an den Augen. Ich lerne allmählich skeptisch denken vom Zustand der Geistigkeit. Da ist der kleine Lisbao: schöner Haß gegen bürgerliche Bequemlichkeit, aber können Sie daraus irgendeinen Hebel machen, die Verhältnisse aus den Angeln zu heben? Es ist alles bei ihm Nein, müßte er dieses Nein in Energie verwandeln, die man dem Ja zuführen kann, würde er jämmerlich versagen.

Ein tüchtiger Mensch ist Madeleine Betz, aber Frau, ungeeignet zur Führung von Männern. Spieß hat sich der Wirkung auf Deutsche begeben, bleibt hübsch innerhalb der französischen Partei, denkt an die Nachfolge von Jaurès. Mitrofan wälzt in seinem Kopf die europäischsten Gedanken, aber er schenkt sich die Mühe, die Zukunft aus den gegebnen Verhältnissen zu entwickeln. Bleibt Schreiner. Ich bin indiskret, wenn ich verrate, daß er sich seit Jahren von mir nährt, er kommt von Zeit zu Zeit, sagt: der Kapitalismus ist hündisch, enteignet ihn — und enteignet mich um zehntausend Mark oder Franken, je nach dem Land, in dem wir weilen. Der eine, der sagte: ich muß monatlich dreihundert Franken haben, Minimum des Lebens, alle andre Kraft und alles andre Geld sollen der Idee zugute kommen, auf den warte ich vergeblich.

Resultat: ich langweile mich und gerate in Gefahr, meine Bereitwilligkeit zu verlieren. Der dicke Graumann mit dem Spruch leben und leben lassen ist auf dem Weg, eine tragische Figur zu werden. Hätten Sie nicht Lust, dieselbe Sache in die Hand zu nehmen, die Fünfkorn nun verdirbt? Sie gefallen mir. Man muß, wenn man gegen die andren denkt, erst aus ihnen heraus denken können; man muß sie nicht niederknüppeln, sondern zum Leben zwingen. Überlegen Sie es; wenn Sie mir etwas vorschlagen, sage ich nicht nein.“

„Wie könnte ich Fünfkorns Rolle übernehmen?“ antwortete Lauda, „es wäre nicht weniger unanständig. Ich war gestern noch in einem deutschen Büro, bin nur beurlaubt. Griffe ich sie an, würden sie sagen, ich sei gekauft. Erst muß ich mich lösen, dann in das Neue hineinwachsen.“

„All right, so ist es richtig,“ sagte Graumann, „besuchen Sie mich in Zürich, Frau Hannah ist kein Hindernis, außerdem reist sie ab.“

Dies Gespräch fand am letzten Abend statt. Am nächsten Tag fuhren alle nach Zürich, Hannah und Mitrofan setzten die Reise zur Grenze fort, um durch Deutschland nach Rußland zu fahren. Wie sie sich einen Paß verschafft hatte, war ihr Geheimnis.

III

Lauda wohnte in Miß Lilians Pension. Auf seinem Tisch lag die Karte Zürichs, Erleichtrung der Besuche, die er machte. Sooft er eine neue Straße nachsah, zog er die Linie von der Pension zu ihr; die Karte bedeckte sich mit einem Netz. Dieses Netz, sagte er, ist wie einer der Schlüssel, die man auf Geheimschriften legt; es bildet eine Figur, unter der sich die fremde Siedlung einmal in der Erinnrung darstellen wird; es ist so persönlich und einmalig wie die Linien meiner Hand. Immer und überall legen wir solches Netz auf die Erscheinungen; auch das Bild, das ich von einem Mensch gewinne, ist nicht anders, ich stecke Momente ab, durch die er sich enthüllt, und dieses konstruktive Gebilde nenne ich dann seinen Charakter. Verkehre ich nicht viel mit ihm oder treten nicht Situationen ein, in denen er bestimmte Stellung nehmen muß, so bleibt es noch unvollkommner, als selbst das der Stadt, ohne daß doch ich, wir alle, den Hochmut aufgeben, zu glauben, man kenne einen Mensch. Wir wissen wenig vom andren, wir können ehrlicherweise nur feststellen, wie er uns in einem bestimmten Fall erschienen ist, Klarheit über ihn ist Schwindel.

Wie Bestätigung war der erste Besuch, den er machte, bei Fräulein Betz. Sie empfing im Schlafzimmer; der Schreibtisch und die Bücher standen darin, obwohl sie eine kleine Wohnung hatte; man konnte entweder sagen, sie habe in das Schlafzimmer allen Besitz von Wert und Liebe gebracht, die Teppiche, die Felle, die auf Reisen erworbnen Gegenstände, oder sie habe in einen Raum, der diese Dinge enthielt, auch noch das Bett gestellt, es kam auf dasselbe hinaus, Mittelpunkt und Sinn war das Bett. Es war ein kühler Abend, und im Kamin brannte ein Feuer.

Er hatte sie für ein etwas altjüngferliches Mädchen gehalten, nun wurde sie durch die Dankbarkeit, mit der sie vom Bett sprach, das Ruhe, Wärme und denkende Lage spendet, und die Unbefangenheit, mit der sie es tat, mütterlich. Es gab ihr Realität, hier war sie nicht mehr die ein wenig melancholische Einsame, durch die Welt irrende Geistige; in diesem Bett hatte ihre Mutter sie geboren und war gestorben — etwas von solcher Frauenatmosphäre war nun um sie selbst, und darin wiederum ein Hauch vergangner französischer Jahrhunderte, denn es war ein abstehendes Himmelbett, wie es Montaigne gepriesen hatte, mit einer richtigen Bettgasse, der Ruelle, wie sie sagte; fast konnte man sich die Geschichten Brantomes hier erzählt denken. Die Altruistin, die die Welt nicht mehr begriff, weil sie sich zerfleischte, hatte ihre kleine Welt, in der sie Genügen fand; die Pazifistin, die ruhelos als Wanderapostel umherreiste, verstand sich auf sich selbst zurückzuziehn, und wenn es Resignation war, in dieser Zeit an einem Schreibtisch für die Idee weiterzuarbeiten, enthielt die Resignation doch die Möglichkeit des letzten zähen Willens: bis zu einem Tischchen in die Enge getrieben, nahm er daran Platz. Sie trug ein loses Hauskleid, man sah ihre Gestalt, zarte, so viel mädchenhaftre als das Gesicht mit den nie durch Erleben entspannten Zügen.

Sie stand am Kamin, vor ihr, im Sessel, saß Lilian und schaute mit blauen Augen, das hartnäckige amerikanische Kinn gehoben, verzückt zu ihr hinauf, denn Fräulein Betz sprach von Amerika. Lilian stieß kleine Schreie der Freude aus, zum erstenmal sah Lauda sie bewegt. Madeleine erzählte, wie sie an dem Eiswasser des Hotels magenkrank geworden war: Begeistrung Lilians für ihr Land.

Lauda hörte aufmerksam auf die Worte des Mädchens, den augenblicklichen Sinn und den tiefren, aussagenden, der vielleicht in ihnen verborgen war — doch was sie sagte, war plaudernde Nichtigkeit, Freude am Belanglosen; Unterhaltung über rückwärts gelegne Dinge verhalf ihr zu der Illusion, gesehn und erlebt zu haben — dumme kleine Puppe, hübsche schlanke Puppe mit den gotisch vorgewölbten Hüften.

Sie schlug die Beine übereinander, und wenn sie wechselte, war es wie die Bewegung zweier Arme, die sich öffnen, um an sich zu ziehn — unmöglich, daß sie sich der erregenden Gebärde nicht bewußt war. In ihm ein Hin und Her. Ihre Harmlosigkeit und Dankbarkeit, reden zu dürfen, rührte ihn, die junge hilflose Sinnlichkeit, die an den Exhibitionismus kleiner Mädchen vor Fremden zurückdenken ließ, verstärkte dieses Gefühl, aber danach war alles Auslegung, sowohl: sie ist ein Mensch, der geschont sein will, ein Recht auf Leben hat, als auch: sie ist ein Mensch, der nicht geschont sein will, mir wider meinen Willen, dank einer Deutlichkeit, die ihre Angelegenheit ist, diese vergewaltigende Vorstellung der zweiten Arme und des geheimren Munds mit schwellenden Lippen gibt. Suche ich mir ein Bild von ihr zu machen, bleibt alles ungeformt, wenn ich an ihre „Seele“ denke; Bestimmteres, Züge stellen sich erst ein, wenn ich von der sinnlichen Seite sie betrachte, da erst bieten sich Vorstellungen ihres möglichen Temperaments, Warten auf Angriff, Provokation, die dann vielleicht in Empörung umschlägt — das heißt, daß man ihr zu einem moralischen Faktum verhelfen soll, das ihr erlaubt, endlich eine klare Haltung einzunehmen.

Ihr dazu zu verhelfen, sind andre nötig: Auffordrung an andre, den Dienst zu erweisen. Erweisen sie ihn, werden sie vermutlich abgelehnt — was ist das? Not, verständlich und zugestanden; aber auch Unmoralität im Sinn von Undankbarkeit und Unaufrichtigkeit. Vielleicht tat er ihr unrecht, er wußte es nicht, aber er war nun geneigt, sie in die Sphäre Masochs zu stellen.

Widersprechende Empfindungen auch Madeleine gegenüber. Es rührte ihn sowohl, sie in ihrer frauenhaften Häuslichkeit gesehn zu haben, als sie mit Lilian menschlich, fast mütterlich plaudern zu hören, doppelte Einsicht in Güte; aber als sie das Gespräch mit dem Mädchen abbrach, erhielt er einen Blick von ihr, der Achselzucken über die Trivialität der Amerikanerin war, mokanten einer schmallippigen Schulleiterin, die sich durch Abhören einen Einblick in die Reife eines Zöglings verschafft hat. Es deprimierte ihn; von Natur aus war stärkre Neigung in ihm, das „Gute“ im Menschen zu sehn als das Egoistische, gut im Sinn von Duldung, Gerechtsein, Existierenlassen ohne Urteilen und Verwerfen. Stand sie mit dem Rücken gegen ihn, sah er die zarte Gestalt; sah er das Gesicht, las er darauf die in die Jahre wachsende Verbittrung. Er kannte die Versuchung, aus einem Mensch einen Charakterzug herauszunehmen und als wesentlich hinzustellen, so gut aus seinem Handwerk und dem der Schriftstellergefährten; es war so bequem. In Wirklichkeit mußte man neben den einen Zug viele andre setzen und darauf verzichten, die Einheitlichkeit zu geben — Mensch war vielleicht nur ein Nebeneinander von Zügen, Wesen in der Zeitlichkeit.

 

D’Arigo wurde erwartet, kam nicht, Lauda ging mit Lilian allein nach Haus. Der Weg führte über den Zürichberg, entlang dem Wald, der einst bis zum See hinabgestiegen war, jetzt nur noch auf der Höhe die geregelten Irrlichter der Stadt umkränzte.

Ein Ton drang herauf, Lauda blieb betroffen stehn. Es war ein wiederkehrender Klagelaut, wie wenn Wind durch eine Aeolsharfe zieht, er hatte ihn einst vor Paris aus der bewohnten Ebne gehört und Stimme der Ebne, des geheim lebenden Geschöpfs genannt — nun schwebte er über der Stadt am See.

„Auch die Dinge aus Stein sind belebt,“ sagte er, „Städte sind Himmelskörper, wesenhaft. Paris ist eine Frau, bereit, jedem, der zu ihr kommt, Südamerikaner Schweden Tonkinesen, Erlebnis zu werden — ein wenig kokottenhaft mag es sein und doch so fröhlich, jung. Paris ist die einzige Stadt, die Gegenwart hat, die andren haben Zukunft oder Vergangenheit.“

„Neuyork oder Berlin hätten keine Gegenwart?“

„Materielle wohl der Arbeitsstätte; sie sind Stadium einer Jagd nach Geld und Macht; geistige Gegenwart, Wissen um den Sinn des Augenblicks haben sie nicht. Daß man in der Zeitlichkeit lebt, einmal nur, fühlt man auch anderswo, aber dann ist es immer ein losgelöstes Gefühl, für sich gedanklich existierend — in Paris ist es wie ein Duft in das unbedingte Ja gemischt, ein Hauch von Geist und Geistigkeit im Treiben der Materialität. Verstehn Sie, Miß Lilian, was ich sage?“

„Ein wenig, nicht sehr, freimütig gesagt nein, in Amerika philosophiert man nicht,“ antwortete sie. Er sagte spöttisch:

„Nein, das tut man dort nicht. Die einzige Form von Vergeistigung des Sinnlichen, die ich bei Amerikanern kenne, ist der Flirt, und er allerdings hält von dem nahliegenden Urteil ab, sie seien eine junge Rasse. Sie sind darin älter als die Deutschen, die von der Raffiniertheit des Flirts nichts wissen. Lieben Sie ihn?“

„Sehr.“

„Warum wohl?“ forschte er.

„Weil er hübsch und kurzweilig ist.“

„Weil er eine Einrichtung ist, die allen Vorteil der Frau gibt. Sie fordert heraus, sie bestimmt die Grenze, die erstaunlich weit gesteckt ist, und sie macht den erregten Mann reif zu dem, wonach sie verlangt, der Heirat, einer Heirat, die ihr erlaubt, auch jetzt noch die Prinzessin zu sein, verwöhnte in Luxus.“

„Ich weiß, die deutschen Männer lieben es nicht, die Frau zu verwöhnen.“

„Wenn es das allein wäre, warum nicht? Aber es ist eine Lüge in dieser Verherrlichung der Frau. Theoretisch ist Flirt wundervoll, weil er kühn die Sinnlichkeit in den Verkehr schon der jungen Leute einstellt und ihr nicht gestattet, mehr als ein Spiel zu sein. In amerikanischer Praxis aber wird er ein Mittel, den Mann zum Knaben zu machen, seine Kenntnisse der Frau zu verfälschen, die vollkommenste Gynokratie einzuführen. Was weiß er von euch? Nichts, er ist euer Schemel. Er wird gelockt, aber danach soll er anbeten. Es ist nicht eine einfache Moralität, die ihn zum Heiraten zwingt, sondern eine komplizierte, die die weiblichen Versprechungen nicht scheut; es ist die Verheißung der Amazone, die im Oberleib männlich ist, aber in den Hüften Weib. Wenn ihr nach Europa kommt, erfüllt ihr die Männer mit bösen und harten Gelüsten, mit einem schlimmen Wunsch, euch zur Eindeutigkeit zu zwingen.“

„Sie sprechen wie d’Arigo.“

„Wie stehn Sie mit ihm?“ fragte er und war neugierig, wie sie solche Frage aufnahm.

„Ich lernte ihn in Paris kennen, er war sofort rücksichtslos wie Sie, verlangte, ich solle ihm stehn. Er besuchte mich bei meiner Familie in Trouville, reiste über Nacht ab. Er bot mit halbem Wort die Ehe an, zögerte vor dem ganzen. Dann traf ich ihn in Zürich wieder.“

„Und hoffst, daß er das ganze doch finden wird,“ dachte er, „gute Lilian, wo der Flirt versagt, bleibt dem Mädchen aus der neuen Welt nichts übrig, als wie das der alten auf die Initiative des Manns zu warten.“

Aber warum ging sie nicht nach Amerika zurück, einen der jungen Leute zu heiraten, die in Hemdsärmeln und Schweiß des Angesichts arbeiteten, damit die Frau keinen Finger zu rühren nötig hatte?

Die Antwort enthüllte private Bedingungen ihrer Existenz. Solang sie studierte, empfing sie Unterhalt; kehrte sie ohne Examen zurück, wäre ihr nichts übrig geblieben, als Sekretärin zu werden.

„Aber das ist ja das Sprungbrett zur typischen Prinzessinnenkarriere Amerikas,“ sagte Lauda.

Gleichwohl, es war unsicher, und sie zog vor, als Dame zurückzukehren. O, sie hatte ihre Wünsche, Passivität verband sich mit Anspruch, belohnt zu werden, daß man hübsch war und Männer gern mit einem durch die Straßen gingen. Aber wie andeutungsweise, ungeformt das alles in ihr ruhte; wie gering jene Beunruhigung durch das Bewußtsein, Widersprechendes in sich zu tragen, aus der das Temperament entspringt — Temperament war die moralische Manifestation dieses Bewußtseins, der tapfere Entschluß, sich durch Erlebnis zu ordnen. Hätte er ihr von der Sweetgirllüsternheit gesprochen, die er in ihr vermutete, von der sinnlichen Vorstellung, zu der sie ihn vorhin im Zimmer herausgefordert hatte, wäre sie nicht weiter mit ihm gegangen; hätte er ihr gesagt, daß man die Verpflichtung habe, solche Elemente im Blut selbst einzugestehn, durch Tat so oder so blühn zu lassen oder auszuscheiden, würde sie ihn nicht verstanden haben. Hirn im Stadium des Ungefähr, Egoismen verankert im Anspruch auf Recht zu existieren, und vermehrt durch Bewußtsein der Jugend und dessen, was man in Deutschland Holdheit eines jungen Mädchens nannte. Sweet girl, warum soll ich sentimentalistisch dieser Holdheit untertan werden und übersehn, daß du von der Kokotte das Lippenrot adoptierst, um ihre Sphäre unverbindlich zu streifen? Du gibst mir Barbarengedanken ein, Männergedanken, dich zum Bekenntnis zu zwingen, durch Gewalttat das erste wirkliche Faktum in dein Leben zu setzen, unpersönlicher Rächer zu sein, denn es ist nicht erlaubt, unverbindlich zu bleiben.

Er wagte es die Hand um sie zu legen, die negative Brust, die positiven Hüften, und Mephistowunsch, sie zur Tatsache dieser Hüften hinzuleiten, ward stark. Sie standen an einem Gartenpförtchen, dahinter eine dunkle Tür, die in ein Zimmer führte. Da ward Licht angedreht, und sie sahn in den Raum hinein, es stand ein Bett ohne Leinenzeug darin, im übrigen war es unmöbliert, nur Stickereien an der Wand. Drei junge Leute, brüderlich durch Knabengröße, hüpften auf und ab, als hingen sie an Fäden von der Decke und würden angezogen, die grotesk troddelhaften Bewegungen eines Grizzlitanzes auszuführen — es schwankten die Köpfe hin und her wie schwere Birnen an zu schwachem Stiel.

„Ich bin dreihundert Jahre zu spät geboren,“ sagte der mittlere, „wäre Hofnarr in ernster Zeit gewesen. Meine Mutter trug mich nicht aus, die zwei letzten Monate sollte ich in der Organisation des Zeitalters unterrichtet werden, da kam sie nieder, bin der Organisation nicht gewachsen.“

„Lieber Mitembryo,“ sagte der zweite und hob eine Stickerei von der Wand, „erinnerst du dich, wie wir in der Nacht des Schoßes vom gegensätzlichen Licht träumten, blauen Tagen mit rauschendem Birnbaum und roten Tomaten? Das Licht langweilt mich nun, ich träume mich in den Schoß zurück und sticke seine Landschaft, die grünblaugelben Stränge, Korallen des Bluts, Flechten der Schleimhäute, Hälften der Niere.“

„Kunst ist Traum der innren Geographie, Nach-traum der Vorgeburt,“ sagte der dritte, in dem Lauda Lisbao erkannte, „Uterus stellt sich selber dar, Land der vegetativen Existenz, da noch nicht Individualität ist, und noch nicht Lüge. Ich sehe zehntausend Embryos in ihrer Zelle, Händchen ohne Finger spielen mit dem Nabelstrang, dem wahren Band der Totalität.“

Sie lachten, drehten Auftritt abgestellt das Licht aus, verließen das Haus, man hörte die Stimmen sich bergabwärts entfernen.

Lauda lenkte Lilian zu dem Pförtchen, als sei das der Weg, führte sie ins Zimmer. Ihr Fuß sieß sich an die Wand.

„Mein Gott, wo sind wir?“ schrie sie auf.

„In der Mitternacht, der erste Schlag hebt aus. Bis der zwölfte verklingt, ist mir Freiheit vor mir selbst, Erlaubnis dem Dämon gegeben, der, wenn er Salambo sieht, die Begierde fühlt, das goldne Kettchen zu sprengen. Sie sind feig, Lilian, denn sie gehn zum Spiel, ohne den Einsatz bereitzuhalten.“

Der zwölfte Schlag verklang, aber eine andre Uhr hob aus, und Lilian lächelte im ungewissen Licht der Tür wie ein Kind, das schlau Dialektik treibt — war sie ihm willig?

„Habe ich denn auch mit Ihnen gespielt,“ sagte sie, und es konnte heißen, daß sie nicht widerstand. Aber die Frage dämpfte seine Rücksichtslosigkeit; nein, ihn hatte sie nicht herausgefordert; er sagte sanft: „Wir sind auf falschem Weg,“ und führte sie zurück. Zu spät, die Tür ward aufgerissen, und vom Revolver Lisbaos gedeckt, schaltete der knabenhafte Erste das Licht ein. Sein ängstliches Gesicht hellte sich auf, als er Lilian sah, schnell gefaßt beugte er ein Knie und sagte:

„Schöne Blancheflor, ich bin entzückt, daß Ihr zum Stelldichein mit diesem Ritter mein Haus gewählt habt. Wisset, daß Ihr bei Puck seid, dem aus dem Sommernachtstraum; es tut mir leid, daß ein Eigentumsdünkel, den Ihr dem Jahrhundert zuschreiben wollt, mich einen Augenblick an Diebe und Mörder denken ließ. Verzeiht, wir ziehn uns zurück und bedauern nur, das Lager nicht mit Euch zukommenden Rosen geschmückt zu haben.“

Er machte Miene, die Freunde hinauszudrängen. Lauda sagte: „Miß Lilian wurde von einem Unwohlsein befallen, ich hatte vorhin Herrn Lisbao gesehn und nahm an, es sei sein Haus.“

„Allrigt, so wollen wir die Schwäche mit Kognak lindern,“ antwortete Puck und führte in die vordre Stube, niedre eines Bauernhauses, Tafelwerk; es stand ein Tisch, kondensierte Milch, Papiere drauf, drei Stühle, eine Kiste; Adresse daran wie auf den Briefen: Puck, Dr. phil.

„Doktor Puck, der Zeit entsprechend,“ sagte er, „das erstaunt Sie? Im übrigen fühle ich mich voll und ganz, wie die Deutschen in ihren Reden sagen, als aus dem Märchenstamme Pucks entsprossen. Sehn Sie mich an, neunundneunzig Pfund schwer, das ist fast engelhaft und gibt Gedanken ein an Fliegenkönnen; bartlos wie ein Chinese und die Hasenscharte in der Lippe Stigma der kleinen Dämonie. Es wundert Sie, daß ich kaum zwanzigjährig schon den Doktor habe? Little Puck war ein Wunderkind, schlüpfte im siebten Monat aus und erweckte alle Hoffnungen, spielend das Reich der Realität zu meistern, drei Tanten suchen nun Erbinnen für ihn aus — die Brüder fallen im Krieg, die Erbinnen steigen. Hehe, Puck wird nicht heiraten, will das Lachen organisieren, Hofnarr der ernsten Zeit. Erlauben Sie, daß er seine Gehilfen vorstellt: Lisbao, der düstre Poet, Hans mit den opalisierenden Augen, in dem ein pflanzenhafter Elementargeist wohnt; Fleisch ist ihm ein Greuel, hat noch nie einen Pfennig verdient, nie einen Feind gehabt, sein Gutsein ist negativ, weil ihm die positive Energie fehlt, und positiv, weil Gutsein immer sieghaft ist — Sie haben vor sich das Triumvirat der Drei im feurigen Ofen dieser Zeit: sie verbrennen nicht, denn es ist keine Materie in ihnen, die dem Staub der Zeit verwandt wäre, sie schießen nicht, töten nicht, spekulieren nicht in Aktien, sie sind Vorboten der metaphysischen Welt, darum lacht der eine über die Realität, der andre fällt sie grimmig an, der dritte bestaunt sie hilflos und verwundert.“

„Lieber Puck,“ sagte Lauda, „das sind große Worte, sagen Sie nun, was Sie tun.“

„O, hängen Sie der Tat an? Hören Sie?“

Er setzte eine Hornbrille auf, nahm am Tisch Platz und las aus einem Buch, langsam, laut, als öffne sich die Wand und die Arena senke sich bis zum See. Das Schalksgesicht war demütig ernst, geglättet quecksilberne Beweglichkeit. Er las:

Die Welt erobern wollen durch Handeln

ich habe erlebt daß das mißlingt.

Die Welt ist ein geistiges Ding

das man nicht behandeln darf.

Wer handelt verdirbt sie

wer festhält verliert sie.

Denn die Geschöpfe gehen voran oder folgen

sie seufzen oder schnauben

sie sind stark oder schwach

sie siegen oder unterliegen.

Also auch der Berufene:

Er meidet das Heftige

Er meidet das Üppige

Er meidet das Großartige.

„Die Welt ist ein geistiges Ding, das man nicht behandeln darf — als ich das las, beging ich zum einzigen Mal in meinem Leben eine Nachahmung, ich wollte wie Laotse tun, der nach Westen ritt, zum Reich hinaus. Dem Wächter an der Grenze gab er sein Buch; aber mich hätten sie festgenommen und unter die Soldaten gesteckt, das ist der Unterschied. So blieb nichts übrig, als das zweite zu tun, was er empfiehlt, aus der Stadt aufs Land zu gehn, da fand ich dieses Haus. Es ist noch der Schweißgeruch des Bauern darin, heiliger Geruch, weiser Geruch. Es einzurichten ist unnötig; wer ein Haus schmückt, wird sein Sklave, in ihm leben ist genug; zweimal am Tag wird es mir lieb: wenn ich es verlasse, um den Berg hinab zu den Menschen zu gehn, und wenn ich den Berg ersteige, müde der Stadt. Hans tut nichts im handelnden Sinn, er sitzt in einem andren Haus und zeichnet mit schwarzer Tusche die innren Gebilde auf gelbliches Reispapier; an der Wand kauern Mädchen und sticken mit seidnen Fäden die innren Gebilde; sanfter Pascha schläft er nicht mit den Mädchen. Lisbao tut nichts, er spinnt um seinen Nabel Wortfäden, den Strang der Totalität. Nichtstuer sind wir im Sinn derer, die im Reich des Geschehens leben; die einzige Lüge ist, daß wir von Vätern, Onkeln das Geld nehmen, so müßig zu gehn. Ihr Entgelt, daß sie uns verachten dürfen; aber früher, als Blancheflor geheiratet hat, wird die Zeit kommen, da das Geschehn draußen zusammenbricht und die Menschen der Tat überdrüssig werden — unsre Zeit, wir die Verkünder des Geists, der Anschauung ist.“

„Es drängt sich auf,“ sagte Lauda zu Lilian auf dem Heimweg, „daß alle Elemente des Geistigen jederzeit vorhanden sind. Seit mich die Unvereinbarkeit von Tun und Anschauung beschäftigt, begegne ich auf Schritt und Tritt Menschen, deren ganzes Sinnen auf dieses Problem gerichtet scheint. Wäre ich nicht selbst nun darauf eingestellt, würde ich die drei vielleicht nur Narren heißen, heute bin ich versucht, sie zwar nicht die Nornen der Zeit, aber ihre Kobolde zu nennen. Sahn Sie je eine so seltsame Übereinstimmung der Figuren, des körperlichen Formats? Das Geschlecht derer, die nicht das Format der Tat haben, kommt aus den Höhlen, wird Wirkung werden; das Geschlecht auch derer, die leiden und die Vergewaltigung durch einen Gott suchen, bereitet sich aufzustehn, der Krieg hält sie noch nieder, der Krieg wird sie entfesseln.“ Er dachte an Schreiner.

„Wer ist Blancheflor?“ fragte Lilian.

„Hat es Ihnen Eindruck gemacht? Die Schöne aus den Epen, die Junge, Zarte, die in ihren Gliedern den Gral trägt.“

Er fand den Namen selber gut, und als hätte es nur seiner bedurft, ward er empfänglicher für das Süße, das die gotischen Hüften des Mädchens bargen. In den Hüften aller Frauen ruhte es; so gleichgültig, daß es der einen oder andren, vielen, an Intelligenz gebrach; die Zärtlichkeit ihrer Bewegungen, lautloser, weicher, war wesentlicher; Zärtlichkeit war die vermenschlichte Form des Ansichlockenden, Saugenden, des Urdämons, dem auch in gemilderter Gestalt jeder gehorsam war. Nun sah er, in zweiter Morgenstunde, Lilian ganz als Bergerin des Zarten, bis zur Unkenntlichkeit den Begriff von ihr verändert, und war froh, ihr nicht Gewalt angetan zu haben.

Es gewollt zu haben, war wie Auslösung einer Hemmung, Überwindung eines Hindernisses zwischen ihm und ihr — Geburt freundschaftlicher Bereitschaft. Und als fühle sie dasselbe, zog sie den Schleier von sie quälenden Gedanken. Sie verstand, was die Männer, in Paris zuerst, von ihr verlangten, Einsatz der ihr anvertrauten Weiblichkeit; Furcht in ihr, Vergleich mit der Bequemheit heimatlicher Ehe, Scheu auch vor d’Arigos Halsstarrigkeit, dessen Bedingung sie nun bekannte: sie sollte zu ihm kommen, bedingungslos und mit gesprochnem Wort Feigheit eingestehn.

„Es mag rechthaberische Fordrung eines Hartnäckigen sein,“ antwortete Lauda, „gleichwohl hat er in tiefrem Sinn recht, er verlangt die Tat. Verwerfung der Tat, wie sie der Kleine aussprach, hat Wert nur nach der Tat, in der denkenden Sphäre, als Aufhebung, Setzen des Gegenteils. Was ist Puck? Ein Literat, jemand, der an der einen Seite zieht, ermangelnd der Polarität.“

„Und wo führt Tat hin die Frau?“ klang Lilians Frage an sein Ohr, im Zwiegespräch, das jeder nach seiner Bedingung führte, „was ist Tat? Der erste Schritt auf einem Weg, der zum Glück zu leiten verspricht, von ihm entfernt.“

„Tat ist die Sphäre des Leids,“ nahm er das empfangne Wort auf, „das Reich der Kausalität, des Dämons Logik, des hetzenden Gotts, der Erlösung verheißt, sie schon verriet, als er sich zur Existenz entschloß. Tat ist Dämonie des Bösen, darum ist alle Religion Feind der Tat und weiß nicht, daß sie den Gott lästert, den sie sucht, denn er war aktiv. Der Kreis schließt sich, ich bin bei Pucks Deklamation wieder angelangt; Ja ist so wahr wie Nein, gleich unverbindlich, gleich falsch. Gute Nacht, Lilian, wir sind zu Haus. Morgen gehe ich zu d’Arigo, vielleicht, daß er mir erlaubt, von Ihnen zu sprechen, denn in mir ist erstmalig Wunsch, einem andren Mann Bruder zu sein — ungewiß ob er das Angebot annehmen wird.“

 

D’Arigos Atelier stand in einem Hof; auf Hinterfrontbalkonen wurden die Betten der Bürger und darauf gezeugte Kinderbrut gelüftet.

Häßlich wie der Anblick des Nutzbaus war der innre Raum; auf Holzpostamenten standen die Figuren, von ihnen abgekratzter Staub puderte den Zementboden, Ofenrohr ging durch die Decke, kein Diwan zur Verführung von Damen. So arbeiten verdiente Arbeit genannt zu werden, Lauda empfand: stoischer Bruder, verzichtend auf Stimmung. Betrachtend die Figuren, fand er weiterhin: es stellt ein Künstler sich selber dar, die Proportionen seiner Glieder sind die der von ihm Geschaffnen, der Schlanke formte keinen Untersetzten.

Es standen drei Akte derselben Frau, die in verzückter Innigkeit die Arme senkrecht streckte, die Finger wagrecht spreizte, Gebärde der Demut, nackt zu sein, und des keuschen Muts. Auffassung betreffend standen zwei sich nah, es war die eine die Bearbeitung der andren mit Glaspapier und Spachtel: Werkzeuge schmallippiger Energie hatten die Rundung der festen Schenkel und des weichen Bauchs auf ein Äußerstes reduziert, so daß aus Rundung und Nervigkeit ein granitnes Fleisch entstand, überstreckt, gedreht in Geistigkeit, exzessive Gotik, Inbrunst sublime, oben nochmals aufgenommen durch das geschwellte Lächeln und die runde Engelsstirn.

Die dritte Figur war Rückbildung zur primitiven Gotik, die das Willenserlebnis Loyolas noch nicht kannte, nordisch, deutsch, seelenhafter, darum materieller. Da sagte d’Arigo:

„Sie irren sich, es ist die mittlere Figur die frühere, die nordische die jüngste.“ Und Lauda erinnerte sich, was er von d’Arigos Entwicklung, dem Rücktritt aus der geistigen Sphäre, gehört hatte.

„Was haben Sie erreicht?“ fragte er, „den Verlust Ihrer Überlegenheit, die Bindung durch einen Einzelfall, denn diese Frau ist Individuum, Ihr Werk Porträt, das unbedingt Problematische, in die Niedrung der Existenz, die Nachahmung, Ziehende; es ist gemilderter Realismus, die gewalttätige, schöne, suveräne Energie ersetzt durch Tasten, Unterordnen, Demut, Sehnsucht, Anbetung, Dinge, die dualistisch sind, weil sie zwingen, einerseits dem sinnlichen Reiz gerecht zu werden, andrerseits ihn seelenhaft erscheinen zu lassen — vorher wurden beide in höhrer Einheit gebunden.“

„Ich bedaure,“ antwortete d’Arigo, „Sie Einblick haben gewinnen zu lassen; es stört mich. Sie verstehn mich nicht, es sind in Ihnen nicht die Voraussetzungen des Religiösen, wie ich es erlebte. Sie sind irreligiös. Sie sind im besten Fall katholischer Lateiner, Augenmensch.“

Lauda: „Und Sie, in dem der Fanatismus des Ignatius brennt, wenden sich dem Protestantischen zu, empfinden es als tiefer, was sich vielleicht behaupten läßt; aber das ist eine andre Frage, wichtiger bleibt, daß Sie Ihrem Naturell Gewalt antun, Ihr Blut zersetzen — warum, um eine Individualität zu formen? Fühlen Sie nicht, wie arm, belanglos Individualitäten sind, wie sehr alle Eigenschaften, also das, was man die persönlichen Züge nennt, dem Religiösen widersprechen? Denn Religiosität ist Sehnsucht, von der Individualität erlöst zu werden, die Sphäre des Gestalteten zu verlassen.“

D’Arigo: „Ich habe mich gefragt, warum mir alle Einzelexistenzen so teuer werden, daß ich mein frühres Leben, das sich unbekümmert über den Mensch hinwegsetzte, nun Sünde nennen muß; und als Antwort fand ich, daß jede Einzelexistenz eine Seele hat, unsterblich als Seele ist. Ich glaube heute inbrünstig an die Unsterblichkeit der Individualität, des Ich, des Einmaligen, des anvertrauten Guts.“

Lauda: „Wenn das Ich einmalig ist, was wird dann nach dem Tod aus ihm, wo war es vor der Existenz? Unsterblichkeit und Einmaligkeit widersprechen sich.“

D’Arigo: „Das ist Dialektik, triumphieren Sie nicht zu rasch. Es ist nicht anders möglich, als daß mein Ich fortwährend durch die Zeiten andren Existenzen überwiesen wird, und ich glaube an die moralische Ordnung dieses Überweisens. Die Vielheit der Menschen hätte keinen Sinn, die Tatsache, daß es unter ihnen grobe, gemeine, stumpfe Individuen ohne Zahl, daneben reinere, reinste, schwankende, entschlossen gütige, halbsinnliche, ganz entsinnlichte gibt, hätte keinen Sinn, wenn diese Existenzen nicht Rangklassen, Betätigungssphären wären, die in aufsteigender Linie geordnet sind. Der Sinn heißt: Läuterung.“

Lauda: „Also eine moralisch begründete Seelenwandrung.“

D’Arigo: „Ja, und es ist mir unbegreiflich, daß sie unter den Dogmen des Christentums fehlt.“

Lauda: „Sie fehlt nicht ganz, Fegfeuer, Hölle, Paradies bringen denselben Gedanken zum Ausdruck; nur die indische Fassung fehlt, weil das Hauptgewicht ganz auf das Jenseits gelegt wurde. Sie dürfen ruhig sagen, daß Sie gläubiger Christ im Schulsinn sind, Anschaulichkeitsmensch durch und durch, jeder philosophischen Differenzierung bar, Anthropomorphist durch und durch — wenn ich Wortspiele machen wollte, würde ich sagen Anthropomorphinist, es gäbe einen Sinn.“

D’Arigo: „Worin bestände philosophisches Denken, wenn nicht in demütiger Beschäftigung mit den höchsten Fragen?“

Lauda: „Ich könnte antworten: in dem Ausscheiden der Demut, denn Fragen stellen heißt undemütig sein; ich sage besser: in dem Versuch, das, was Sie Gott, Seele, moralischen Sinn des Ganzen nennen, als Anschauungsformen Ihres Ich, genauer Ihrer Grundanschauungsform, der Kausalität, zu erklären. Gott, Seele, moralischer Sinn sind Varianten der Kausalität, es sind Projektionen der Logik, der Teleologie. Sie sprechen von der Unsterblichkeit des Ich, der persönlichen Seele; für mich sind diese Worte unerträglich an Banalität, sentimentalische Eifrigkeiten.

Sie legen zu großen Wert auf den Begriff Eigenschaft, Seele ist philosophisch betrachtet eigenschaftslos, in allen lebenden Wesen gleich, unindividuell. Eigenschaften sind Phänomene der gestalteten Welt, der Sphäre des Geschehens oder der Manifestation, Akzidenzien sekundärer Art, Resultate des Aufbaus von Organismen. Es ist vielleicht nicht richtig, zu sagen, daß mit dem Zerfall des Organismus die Eigenschaften erlöschen, sie können latent in den kleinsten Zellen weiterbestehn, so daß Vererbung nicht an den elterlichen Organismus gebunden wäre; aber nicht darauf kommt es an, sondern darauf, ob, was Sie persönliche Eigenschaften eines Ich nennen, eine grobe oder feine, gute oder egoistische Art des Handelns, eine bestimmte Tendenz des Denkens, die Ihnen eigentümlich ist, wie Farbe und Geruch der Pflanze — es kommt darauf an, ob man von diesen Eigenschaften annehmen kann, daß sie ursprünglich sind oder im Verlauf der Differenzierung entstanden, anders ausgedrückt, ob sie in der absoluten Sphäre existieren. In ihr löst sich mir alles in Vitalität, Dynamisch-Primäres auf, und Unsterblichkeit wird selbstverständlich, Individualität aber ohne Sinn, denn Sinn hätte ja nur ihre Bewahrung mit Haut und Haar, den Lastern und der erreichten Erkenntniskraft. Der Naturwissenschaftler, der von Erhaltung der Energie sprach, war der Wahrheit näher als Sie Christ, der seine Zeitlichkeit retten will.

Ihrem Glauben an Seelenwandrung kann ich nur ein Zugeständnis machen: es wäre denkbar, daß auch nach Auflösung eines Organismus, zum Beispiel Mensch, die Zellenkerne, als eigentliche Träger der reizbaren Energie, von seiner Individualität imprägniert blieben — gleichsam kleine ausgesetzte Minen mit eingestelltem Zünder, mit einem Vorzeichen geschlüsselt, Zellen, die ihr Erlebnis hatten; sie würden milliardenfach von den Späteren auf dem Nahrungsweg verschlungen und wären an dieselbe Bedingung wie etwa krankheitserregende Bazillen gebunden, den günstigen Boden, Prädisposition zu finden: Zellenkerne des Plato sind unwirksam im Organismus des Cortez, wirksam in dem des Paracelsus. Voraussetzung wäre, daß diese Zellenkerne nicht durch Verdauung zerstört würden, das wird in der Tat behauptet. Sie also würden eine Art seelischer Wandrung ermöglichen, Erinnrung des Plato keimte in Paracelsus auf, wird weitergegeben an Kant, und Existenz wäre eine ewige Wiederholung von typischen Kernen, die in einer fernen Vorzeit ihre „Eigenschaft“ adoptiert hätten, wie Tiere und Pflanzen, heute im wesentlichen unverändert, früher einmal erste Eigenschaften annahmen. Aber diese Theorie ist wie eine Einlage in der Symphonie der monistischen Phänomenologie, und keine Stärkung Ihrer ethischen Seelenwandrung, die hilflos an ihrem Dualismus zugrunde ginge, wenn Sie klar dächten.“

D’Arigo nahm einen gelben Band, den Lauda nun schon kannte, und las:

Der Sinn den man ersinnen kann

ist nicht der ewige Sinn.

Der Name den man nennen kann

ist nicht der ewige Name.

Lauda: „Wie dunkel muß die Weisheit Laotses sein, wenn so verschiedne Naturelle wie Puck und Sie sich auf ihn berufen. Aber was Puck ansteht, steht Ihnen nicht an. Lassen Sie mich alles rücksichtslos sagen: betrachte ich Sie, Ihre Herrengestalt, lasse ich die Schwingungen auf mich wirken, die von Ihrer hagren, verschloßnen Energie ausgehn, dann bedaure ich, daß Sie, geboren sich in allen Störungen der innren Rotation zu behaupten, das neue Erlebnis der Demut nicht organisch verarbeiten, nicht gleichsam dosieren, sondern alles Feste, Nervige durchsetzen und zersetzen lassen. Jeder neue Gedanke, der in uns aufkeimt, ist Störung und wird Wuchrung, wenn wir ihm nicht aus unsrer Gesundheit heraus Schutzstoffe entgegensetzen; verdünnen wir ihn nicht, vergiftet er uns. Es gibt eine geistige Schwängrung, der auch der Mann erliegt, es ist die Vergewaltigung durch die Seele; sie erfolgt immer dann, wenn in die Sphäre des Ich, des Einzelnen, die Vorstellung der andren oder der Totalität einbricht.

Sie sagen, ich sei nicht religiös. Ich verzichte nur darauf, das zu vereinigen, was sich nicht vereinigen läßt, die Sphäre des Ich und die der andren, oder die Sphäre des Geschehens und die des Absoluten, ich bewege mich in beiden, nacheinander, der Brückenlosigkeit bewußt, und bin so, Sucher des Zugleich und der Einheit, doch im praktischen Gebrauch reiner Dualist. Sie aber grenzen den Fremdkörper, der in Sie getreten ist, nicht ab — vielleicht ist er eine Frau, diejenige, die Sie porträtieren.“

D’Arigo begann die Figuren mit nassen Tüchern zu bedecken; symbolische Handlung, Bedeutung Laudas, daß Freundschaft nicht sein werde.

Sie gingen zusammen zur Stadt, vor einem Garten gab d’Arigo die Hand, sagte: „Leben Sie wohl, hier ist Sellos Atelier, ich werde erwartet.“

Absicht war deutlich, Lauda sagte ruhig: „Wenn es möglich ist, nehmen Sie mich mit, es ist erwünschte Gelegenheit, ihn kennen zu lernen.“

Sellos Statuen der triumphierenden Nacktheit schmückten Brunnen und Hallen, auch war er Liebling der Kunstzeitschriften.

Sello war bei der Arbeit; straff, mit geschloßnen Schenkeln, die Arme rückwärts gestreckt, damit die Kuppel des Bauchs, die Fanfare der Brust sieghafter sei, stand in Lebensgröße das Weib. Sie stand und schritt doch entgegen den Blicken, furchtlos vor Männern, Spitzen der Brüste gegen sie gerichtet; im archaisierten Blick letzte Erinnrung an junge Astarten.

Sello sagte: „Es ist mir etwas begegnet, wovon ich nicht weiß, ob es mich entzückt oder stutzig macht: dieses Geschöpf (er wies auf die Statue), Produkt der innren Energie, Überhöhung der Wirklichkeit, lebt, sie war heute morgen hier und stand neben der Figur, ihre Kopie. Sie wird mich zwingen, meinen Stil zu ändern, ich wäre nur noch Modellnachahmer. Es ist eine junge Tessinerin, im ersten Jahr der Hetäre, die wiedererstandne Renaissancekurtisane, von einer ältren Schwester begleitet, die sie einführte. Die Grenzen sind geschlossen, sonst wäre sie die Sensation Roms; statt mit jungen Fürsten lebt sie mit den Zürcher Kriegsjuden. Sie ist sich ihrer Karriere bewußt, erlaubt königlich, daß man sie La Putana nennt, als sei es der Name einer großen Schauspielerin.“

 

Sello, umgänglicher Mensch, lud Lauda ein zur Zunft; einmal in der Woche trafen sich die einheimischen Künstler in der Trinkstube einer historischen Hotellerie, darin seit den Tagen der Humanisten jeder Europareisende von Rang abgestiegen war. Sie waren trinkfreudiger als Literaten, Malerei war sinnlichres Handwerk, Malerei hielt die Berührung, mehr, die Verbindung mit Scholle Gebirge Landschaft aufrecht; Malerei verwies auch auf die bodenständige erste Derbheit der Erscheinungen — so war um jeden etwas von der Philosophie des ebenfalls mit der Realität verwachsnen Gottfried Keller, mannhafter Freisinn bäurischer Färbung, sozialen Instinkts.

Dazu kam nach Wahl ein Akzidenz fremdländischer Reizung, Italiensehnsucht wie bei Sello, vergnügte Erinnrung an Münchner Treiben, Pariser Aufenthalt. Man war bei aller Freiheit eingeordnet in seßhafte Wirklichkeit, fand Aufträge und konnte sich darauf verlassen, daß das Organ der öffentlichen Meinung, die große Zeitung der geistigen Hauptstadt, gewissenhaft von Zeit zu Zeit den Namen druckte, kurz man durfte ruhig wie der Steuerzahler am Nebentisch seinen Veltliner trinken, man war nicht mehr als er, man war gut demokratisch soviel wie er.

Für Stimmung solcher Existenz und des Gewordnen, das sich auf Erden einrichtet, war Lauda nicht unempfänglich, und Herzlichkeit der Aufnahme verpflichtete menschlich; aber daß künstlerisch hier das Geruhige galt, sie alle in überkommner Atmosphäre lebten, nicht eine neue bildeten, war klar. Hier war noch Farbenfreude, Lust an der Unerschöpflichkeit der sichtbaren Dinge; sie malten Spargel Engadinsee Kuh, und Duft stand höher im Wert als Auflösung in Geometrie, Renoir höher als die Mathematik Picassos. Irgendwie bestand Zusammenhang, grundsätzlicher, beleuchtender, zwischen der Behaglichkeit des Stammtischs und der Überlegung Sellos, ob sein Stil nun gefährdet sei, weil in der Realität ein Modell aufgetaucht war, das ihn zum Kopisten machte. Daß solcher Zufall möglich wurde, bewies, wie gering Umformung war, die er mit der Natur vornahm.

Und was war von der Antwort zu halten, die d’Arigo gab, als Sello sich anbot, ihm La Putana zu schicken, damit er ihren Akt studiere — die Antwort war, er dürfe sein Werk nicht gefährden. Lauda bekam Sehnsucht, die Jungen, andren zu sehn, in denen Revolte war gegen die dumme Existenz einer Malerei, die nun seit vierhundert Jahren sich in der Sphäre der Realität eingerichtet hatte, den Zugang zur absoluten nicht anders fand als durch die Dialektik, Abbildung der Erscheinung ziele auf das Absolute hin, gemaltes und gemeißeltes Geschöpf lobe Gott.

Nein, das war in mittelalterlicher Kunst gewesen, als Geschöpf noch nicht dualistisch Selbstzweck war, sondern nur Schmuck und Lobpreisung in den dem Schöpfer gebauten Räumen. Nie sah er unmittelbarer die Sinnlosigkeit einer Beschäftigung, die inmitten einer bürgerlich fronenden Welt Weiber in ein Atelier führte, um sie auszuziehn und zu malen — kein Unterschied auch, wenn andre die Staffelei in die Landschaft stellten, Schönheit von Weidenbaum und Wiese einzufangen. Das alles war tragisch irreligiös in dem Maß, wie es religiös zu sein behauptete, letzte Verbeugung der Zivilisation vor dem verlornen Elementaren.

Er verließ die Zunft und ging dorthin, wo man die Jungen traf, ins Kaffeehaus. Die in der Trinkstube mißachteten das Café, nannten es die Börse der Heimatlosen. Die Literaten blieben nichts schuldig, hießen sie ihrerseits Bürger — es lag dieser Feindschaft objektiv eine Tatsächlichkeit zugrund; gemeinsame Norm, an der sie sich beide maßen, war das Verhältnis zur Realität, als welche philosophisch Sphäre der Existenz, des Sichtbaren, Getrennten, praktisch Bürgerlichkeit, Bejahung, Wille zum Positiven hieß. Kein Zweifel, wo die größre Geistigkeit war: bei den Literaten; sie warfen doch wenigstens wie der religiös, grundsätzlich denkende Mensch die Frage nach dem Wert der Bejahung auf, erklärten die Sphäre der Tat mitsamt ihrer optimistischen Philosophie des Du sollst Dich regen und bürgerlich voranbringen, als problematisch — Antwort auf diese Frage war also nur bei ihnen zu erlangen, und wenn sie hundertmal Nichtstuer, in der Luft Schwebende waren, sie waren diejenigen, die den Mut hatten, das Prinzip des Geists dem der Tat radikal entgegenzustellen, und es war klar, daß, wenn nach dem Krieg die Revision aller Grundlagen begann, das Prinzip der reinen Intellektualität gleichberechtigt neben das des Positivismus treten würde.

Die braven Maler waren Leute des Kompromiß, die Literaten Radikale der Idee. Bei ihnen allein war eine Parallele zum System der Geometrie zu finden, die, von gewissen letzten Abstraktionen ausgehend, eine Welt der Statik und Konsequenz errichtete. Das Werk Picassos war eine solche Parallele: die ersten Konzeptionen waren ganz, wie der Bürger und die Kritiker sagten, künstlich, ohne Beziehung zu seelischen Nöten und Bedürfnissen, aber das künstliche Gebilde begann zu sprossen und zu blühn, alle Vitalität und Säfte ließen sich ihm zuführen, so daß es ein Kosmos wurde wie ein andrer; das verstanden in deutschen Ländern die Leute nicht, klagten befremdet, daß in dieser Kunst nichts von Trost für ihren Seelenhunger sei, nicht Anhalt für ihre Ehe- und Gottprobleme.

So falsch. Sie wollten in der Kunst noch einmal die gegenständliche Welt sehn, in der Meinung bestärkt werden, daß diese Sphäre für sie das Wichtigste sei, ohne zu erkennen, daß sie nur Projektion einer absolutren Sphäre war, nur Vorwand, um deren Gesetze, Proportionen, Stoß, Gegenstoß, Mischungsverhältnisse sichtbar zu machen: sie wußten nicht, daß das reale Geschöpf nur ein Kristallisationszentrum für dynamische Kräfte war — Ausgangspunkt jenes Grauens, das Lauda bisweilen angesichts der Rührigkeit und des Optimismus des menschlichen Treibens überfiel; denn das nur als Vorwand dienende Geschöpf, diese Hemmung, an der die absolute Kraft sich brach, differenzierte, Eigenschaften gewann, sichtbar wurde, neu sammelte, hielt sich für selbständige Individualität, baute sein innres Leben aus, sprach in groteskem Mißverständnis von einem Gott, der ihm gutgesinnt sei.

Der Abend war warm, Gang die Kais entlang zum Café schön, aber er spürte das Grauen in allen Haarspitzen, hörte das böse Lachen aus der Lüge der Schöpfung und verstand, daß in dieser neuen Kunst, die nicht mehr die äußre Erscheinung der Gegenstände, sondern ihre innren Rotationsfiguren darzustellen begann, so seltsam neben den ernst Arbeitenden die Höhnenden, Überdrüssigen, Verwerfenden auftraten — aus gemeinsamer Wurzel entsprang der Geist der Demut und der Dissonanz, der bejahten Kunst und der Ironie.

Er fand Lisbao und Puck, Miß Lilian und Hans in einen Kreis unbekannter Menschen, aber es ward ihm nicht erlaubt Platz zu nehmen, Puck ging ihm entgegen, sagte:

„Wir brechen auf, zwei Autos warten, kommen Sie mit, zum ersten Versammlungsabend aller Ungegenständlichen und zur Besichtigung ihres Ausstellungshauses, das kein andres als mein eignes ist.“

Das Haus war in dem einen Tag umgestaltet worden, nicht wiederzuerkennen. In jedem Zimmer lag ein Teppich, an jeder Wand hingen Bilder — nur dadurch möglich, wie Puck sagte, daß jeder Künstler seinen Teppich mitgebracht und seine Werke selbst aufgehängt hatte. Da die Ausstellungshallen verweigert worden waren, hatten die Maler Selbsthilfe beschlossen. Hans führte Lauda vor seine Arbeiten in Tusche, Holz und Wolle.

„Auf morgen,“ sagte er, „sind die Kritiker geladen. Sie werden vor meinen Stickerein feststellen, daß ich ein begabter Kunstgewerbler sei, denn sie werden zwar begreifen, daß man in Wollfäden nicht Zwerge und Häuschen sticke, sondern abstrakte Flächen und Wertverhältnisse, aber sie werden nicht fühlen, warum ich das für höher als Malerei achte, für reiner. Denken Sie sich diese Komposition hier, die gleichnishalber wie ein Querschnitt durch die innren Organe, ihre Aufeinander- und Nebeneinanderlagrung ist, in Öl: es wäre zu direkt, die Farbe zu brutal, es wäre der wirkliche Querschnitt durch die geöffnete Bauchhöhle. Dadurch, daß ich die Farbe an ein Material binde, vergeistige ich sie, rücke sie hinaus; in uns, in mir wenigstens, ist eine Abneigung gegen die Heftigkeit der Farbe, ihre triumphierende, vergewaltigende Sinnlichkeit.“

„Mir ist es verständlich,“ antwortete Lauda, „vorhin, als ich zu Ihnen ging, dachte ich, daß die Energie, um sichtbar zu werden, Materie braucht, Materie ihr Kristallisationspunkt ist; Sie fügen eine neue Phase hinzu: daß, zum zweitenmal vollzogen, die Materialisation die Energie vergeistigt; die von der Materie auf den Künstler ausstrahlende Energie bedarf abermals der Kristallisation, Kunst ist durch zwei Instanzen von der primären Energie entfernt, Phantasie ist also Brechung und Hemmung, ein Widerstand — wessen? Offenbar des Individuums, des von der Totalität Getrennten, gegen die Totalität. Das erlaubt mir, die oft erhobne Forderung der Suveränität zu begründen und zugleich festzustellen, an welchem Punkt sie kunstfeindlich wird: wenn der Widerstand andauert, nicht nur dazu dient, die Materie prismatisch zu zersetzen; Suveränität ist also der durchgeführte Widerstand des Individuums gegen die Totalität, Kunst nur der kurzfristige.“

„Wir sollen nicht dauernd widerstehn,“ sagte Hans mit einer Herzenshöflichkeit, die aus dem Gefühl geistiger Begegnung kam, und Lauda empfand: mit ihm wird Freundschaft möglich sein, Ablehnung d’Arigos ward hier Milde.

Sie traten vor eine Tuschzeichnung Hans’. Lauda sagte:

„Durch Ihre von Lisbao vorgelesnen Gedichte bin ich dem Verständnis näher. Es ist eine phantastische Ballade, Märchenelemente darin, die Totenbarke Dantes oder die Versammlung der Bremer Stadtmusikanten; es steht frei, Marhaftes und Tierhaftes anklingen zu fühlen.“

„Ja, es ist der Niederschlag der Stimmung eines bestimmten Tags. Man kommt nach Hause; Erinnrung an Wald, Spuk, Barke im Licht, Gespanntes in sich und andren, Quälen, Gutzueinandersein zieht noch einmal aus dem innren Schacht, gleichzeitig, nebelhafter Schwaden abgeschiedner Gespenster: hier sind sie, in Schwarz gebannt, unmateriell, unaufdringlich; nicht Unterschrift und Legende darunter, sondern dem Beschauer überlassen, sie nach seinen eignen Erlebnissen auszulegen; denn auch diese, seine Erlebnisse, reduzieren sich auf Spannung, Härte, Weichheit, Atomverbindungen des Temperaments.“

„Wissen Sie auch,“ antwortete Lauda, „daß das, was Sie eben sagten, dazu nötigt, mit dem Begriff abstrakte Kunst vorsichtig zu sein? Sie geben den Niederschlag Ihrer Stimmung, Ihres Temperaments, in ihrem Fall eines unheftigen, pflanzenhaften, weichen Temperaments, Sie sind also nicht radikal abstrakt im philosophischen Sinn, denn dann wären Sie ganz unsinnlich, sondern nur mild sinnlich, annähernd abstrakt im anschaulichen Sinn eben der Kunst. Sie geben nicht reine Geometrie, sondern nur gereinigtes Gefühl wie im Lied des Musikers. Es ist aber theoretisch denkbar, daß ein Künstler auf die Stimmung verzichtet und nur Geometrie darstellt, er würde die Farbe, die Sie ja auch haben, ganz meiden, nur Linien gelten lassen, und sie wären nur noch die Verbindung von Punkten, durch Gerade oder Kurve.“

„Es ist nicht nur theoretisch denkbar, es hängt praktisch hier,“ sagte Hans lächelnd und führte ihn vor die Zeichnungen eines Hispanofranzosen. Es waren Querschnitte durch imaginäre Maschinen, die Kurve eines Beckens endete in einem Läutwerk, Bleigefäß mit Spirale, und um sich verständlich zu machen, hatte er gleichgültig oder herausfordernd längs der Kurve geschrieben: vagin brillant, schlüpfrige Scheide.

„Warum zeichnet er noch überhaupt, warum verzichtet er nicht? Er hat die Grenze der Kunst überschritten, muß Zyniker oder ganz Müder sein.“

„Sie erraten ihn gut, er spricht mit grenzenloser Gleichgültigkeit von Kunst, schleppt heute sein einst hart angreifendes Temperament müde durch die Welt, ein reisender Mylord, der zu träge ist, zu gehn, er nimmt eine Kutsche am Bahnhof, wenn das Hotel gegenüber liegt.“

Lauda: „Warum zeichnet er also noch?“

Hans: „Letzte Zuneigung, auch wenn er höhnt, letzte Illusion einer Beschäftigung, ich weiß es nicht, nur erträglich, weil wir frühere Sachen von ihm kennen, die ihn als Berufnen der Farbe auswiesen.“

Lauda: „Alle Künstler des Abstrakten werden diesen Weg sich öffnen sehn, der aus der Kunst führt. Sie werden more geometrico auf das Religiöse stoßen und den Pessimismus des Religiösen. Wer bis zum Religiösen vorstößt, wird unbrauchbar für die Sphäre der Realität, wo alles einzeln, von seinem Bruder getrennt ist; ich weiß heute, daß das es war, was mich der Existenz als Künstler entfremdete. Für mich steht abstrakte Kunst mit der gegenständlichen in der Sphäre des Anschaulichen; beide zielen auf das Primäre in den Erscheinungen, sie erreichen es nicht. Kunst, in welcher Gestalt sie auch auftritt, ist nicht vollendete Geistigkeit, nur angewandte; sie ist immer Veranschaulichung. Ist wirklich der Unterschied zwischen einem Maler, der unter Beibehaltung der menschlichen Gestalt einen in Farben rotierenden Organismus zusammensetzt, und dem, der ohne diese Beibehaltung Farbenwerte ausbreitet, so groß, daß er grundsätzlich wäre? Nein. Der Unterschied besteht nur darin, daß jener verführt wird, die Gestalt als Selbstzweck zu wollen und zu vergessen, daß sie bloß Kristallisationspunkt, Hemmung, Widerstand ist, und daß dieser dem Absoluten näher kommt, der Vorstoß in die Sphäre des Primären deutlicher, also die religiöse Ahnung unmittelbarer wird. Der vollkommen religiöse Zustand aber wäre passiv, buddhistisch — Kunst unterscheidet sich von Religion durch ihren Gehalt an Aktivität, Kunst ist Wille, Religion ist Sein, Kunst ist optimistisch, wie alle Tat optimistisch ist, Religion ist pessimistisch, Rückkehr zur unpersönlichen Totalität.

Hans: „Daß Religion pessimistisch sei, ist meinem Gefühl unerwartete Behauptung. Meine Stimmung der Welt gegenüber ist religiös, aber sie ist gerade darum duldsam, nachsichtig, von einem aus Komik und Liebe gemischten Mitfühlen, voll des Wunschs, daß jeder der kleinen oder großen Narren seinen Willen habe.“

Lauda: „Wie sehr bestätigen Sie mit diesen Worten meine eignen. Mitleid, Komik, Duldsamkeit sind Ausstrahlungen des Pessimistischen, gemildert durch das Jasagen, das sich mit der Tatsache, daß wir nun einmal existieren, abfindet. Ihre Stimmung ist also eine Mischung — ich fälle die Mischungsteile und erhalte als den primären Teil: das Nein.“

Hans: „Ich will Ihnen einen andren unsrer Maler zeigen, den religiösesten, in dem die Sehnsucht nach Gott so wenig pessimistisch ist, daß sie sich ganz mit Ethik, Gutsein identifiziert; er ist nah daran, an den persönlichen Teufel als das Prinzip des Bösen zu glauben, und quält sich in von uns allen nur geahnten Kämpfen, ihn durch Zucht des Willens zu überwinden — er ist in die Netze der Christian Society geraten und spricht wie ein Buddhist davon, daß es keine Krankheit gebe, wenn man den Willen zum Guten nur so steigre, daß er sie besiegt. Als sein Bruder neulich, abgestürzt und zerschmettert, auf den Tod lag, beschwor er den Ohnmächtigen, seine Lebensgeister zusammenzuraffen, und raufte in biblischer Verzweiflung die strähnigen Indianerhaare, weil seine eigne Kraft nicht groß genug war, den Sterbenden der Lockung des Tods zu entreißen.“

Lauda: „Erscheint Ihnen das als Widerspruch? Das Verständnis stellt sich ein, wenn Sie von seinem Glauben an den Dämon Teufel ausgehn. Der Wille zum Ja symbolisiert in ihm das pessimistische Grundgefühl, kämpft gegen es an, und der Glaube an das Gute ist nichts als ein diktatorischer Versuch, das Ja stärker als das Nein sein zu lassen. Außerdem sind Güte, Mitleid, Duldsamkeit ein Ausweg, um sich trotz des Wissens um die Sinnlosigkeit des Geschehns in der Sphäre des Geschehns einzurichten, sie sind die suveränste Leistung des ausgesetzten Geschöpfs — fast gelingt es ihm, sich von seiner tragischen Hilflosigkeit frei zu machen; sie sind rührende Illusion, die über die Grausamkeit des Existierenmüssens hinwegtäuscht.“

Sie traten vor die Bilder dieses Malers, da winkte Hans Obrecht selbst herbei — gleich wesentlich der Eindruck des Menschen und des Werks. Er war bäurisch, in einem andren Sinn als die Genossen jener Zunft, mit der Materie verbunden durch Heiligung; Fron in ihrem Dienst war auferlegte Last Gottes, Sphäre des Schweren und Sündigen durch Denken und Demut zu überwinden; er sah auf den ersten Augenblick alt aus, das Gesicht in Rinnen zum Mund komponiert, der nicht die Schwingung der Frohen noch der Sinnlichen hatte; Böswilliger konnte sagen, es sei ein Karpfenmund, und es hätte nichts besagt.

In den Bildern viele franziskanische Farben, Gold, Weiß und Braun. Als Längsachse eine weibliche Figur auf der Grenze zwischen Gegenständlichkeit und Zersetzung; ein Verzauberter konnte so träumen, daß ein lebendes Geschöpf vor ihm in seine Elemente zurückzuwachsen begann, und die Elemente waren bausteinhafte Quadrate. Haube der Madonna wurde zum Rundbogen, aufgeteilt in Schrägsteine einer Rustica; dieses Prinzip übertrug sich auf die ganze Ebne des Bilds und zerlegte sie in eine Summe von Vierecken, deren jedes wieder eine grathafte Mittelachse herauszutreiben begann: die Kristallisationsachse, die Widerstandslinie, an der sich Licht brach und Farbe wurde, Eigenschaft annahm — gleichzeitige Wiedergeburt der Energie in vielen Feldern und Vergeistigung von Licht und Farbe, wenn Vergeistigung Einschaltung eines Widerstands bedeutete. Großer Eindruck von Heiligung der Farbe, des zu Sinnlichen, brünstige Glut der Farbe in demütige Glut verwandelt. Lauda sagte:

„Ich fühle, Herr Obrecht, nachdem ich abtrünnig war, langsam, unmerklich Lust zu eigner Arbeit, Lockung des eignen Könnens wieder nahn, Ihre Bilder sind wie neue Ermutigung, daß es möglich ist, mit dem Mittel der Anschaulichkeit eine Stufe der fast vollendeten Anschauung zu erreichen — jenes Fast und Beinahe, das den Ehrlichen genug sein wird.“

Es bot ihm Obrecht eine Madonna zum Geschenk; zwischen zwei der Aufteilungsfelder gebrochen stand Neumondsichel in einem gründurchhauchten Blau, in das ein Matt stieg wie Nebel aus einer Sommernacht; Körper der Frau wie durch zwei Spiegel gesehn, so fern.

Sie gingen weiter; ein andrer hatte ein Gebilde gemalt, wie wenn man aus dem photographierten Meßwerk des Sternenhimmels ein Stück Milchstraße vergrößert hätte und dieses Stück Himmel wäre der durchs Mikroskop gesehne Querschnitt durch die Rotation eines Pflanzenleibs gewesen — Mondkraterlandschaft als Blütenreigen gedeutet, Scheibenbild von vergrößerten Blutkörperchen, den schwingenden Zellchen, den kreisenden Tierchen: wo war der Unterschied zwischen Blume, Tier, Mond, Sternenmeer? So nahliegend, den Querschnitt durch einen Baumstamm, einen Stein ergänzend heranzuziehn, so selbstverständlich.

Und es hatte ein andrer, die Wand zweiteilend, neben Photographien von Schmetterlings-, Käfer-, Seesternornamenten die eignen Variationen dieser Rhythmen gehängt: er lehrte Lauda die Ornamente der Natur lesen. Folgendermaßen erklärte er den Schmuck eines Schmetterlingsflügels:

„Links unten sind in zehn wagrechten Parallelen gewellte Linien: der Stoß, der Satz im musikalischen Sinn. Er endet in einem senkrechten Strich, der Zäsur. Von rechts oben kommend, eine verworfne Scholle, dasselbe System: der Gegensatz. Zwischen beide eingeschlossen eine Variation der in jenen Wellen enthaltnen Themen, nämlich der Kurve, des Kreises, der Geraden, als Schema von kleinen Kugeln, die durch Stangen verbunden sind: das ist die Fuge. Links oben eine tiefschwarz nächtliche Partie, konturlos wie Öffnung einer Höhle: die Antithese des Gestalteten, der Kontrapunkt des Ja. Und nun das Tiefste: da wo die Fuge an den zweiten Satz stößt, ein vereinzelter roter Fleck, der deutlich gesetzte Akzent, die Dissonanz und doch Zentrum der Mathematik des Ganzen. Was ist das alles? Eine Kunstform der Natur? Richtiges und nichtssagendes Wort. Es ist die Manifestation der innren Energiegesetze, Abbild der rasenden Seismographie, des in die Existenzschießens, der Hemmungen, Abreagierungen (Kurve, die Grundfigur der Natur). Wer die Geburt der Kräfte, die Rhythmik des Bluts, das Geheimnis des Wachsens studieren will — hier ist sein Objekt. Mir gab die Beobachtung dieser Rhythmen den Mut, meine eignen nach meinem Naturell zu zeichnen, die Isobaren meiner Erregung, die Wetterkarte meines Tags.“

Doch waren diese Seelenkarten maßvolle Variation der studierten Natur, und dieses Temperament fand Genüge in der kunstgewerblichen Anwendung; es hingen Beutel, standen Gläser, Töpfe. Anders ter Brink, der Holländer; er hatte ohne Studium der Natur die gleichen Grundgesetze von Satz und Fuge gefunden, und die Pädagogik kam aus ihm selbst: als fanatische Pedanterie sich äußernd. Lauda sah einen ausgehöhlten Mensch, der in zwei Jahren Bergeinsamkeit sein Gehirn zuschanden gegrübelt hatte, um als Beckmesser der neuen Kunst die Tafeln und Weisen zu hüten, aufrechterhalten von der fixen Idee, in seiner Mappe die Kompositionslehre der Zukunft zu tragen und berufen zu sein, den Zeichenunterricht der Schulen umzugestalten. Dieser war der erste, der auf der Ausschau nach einem Mittel, das ihm die pädagogische Macht in die Hand spielen konnte, auf die Diktatur des Proletariats rechnete: dann würde er als roter Kultusminister die Säle mit den Gipsmodellen zertrümmern und die abstrakte Kunst als Staatskunst einführen. Stellt euch mit mir gut, scherzte er — es war wenig Scherz darin, er sandte lauernde Blicke und notierte jakobinisch Gegnerschaft. Er war früher recht und schlecht Maler gewesen, Landschaft abwandernd, und damals hatte er eine Frau genommen und in einem nicht zu schlimmen Reisezigeunertum gelebt. Als der neue Geist über ihn gekommen war, quälte er die kleine Frau, vorwerfend, sie erkenne seine Messiassendung nicht genug. Sie kam weinend zu Freunden, ohnmächtig, weil er es für nichts erachtete, daß sie sich mit dem Verlust der Einnahmen abfand und mit ihm hungerte. Hunger war ihm die Wollust des Märtyrers, Stigma seiner Größe.

Um die Frau willenlos zu machen, ihr die zitternden Nerven der Empfänglichkeit zu geben, die anzubeten bereit ist, setzte er vor ihren Augen den Revolver an die Schläfe, sprang dann die Treppe hinauf, um im abgeschloßnen Stockwerk über ihrem Kopf stundenlang auf- und abzugehn, bisweilen stehnbleibend und den Hahn der Waffe knackend — sie wand sich unten in Angst; danach kam er blöde lächelnd wieder zum Vorschein und ließ sich streicheln. Der Hunger trieb ihn wie ein Tier im Winter vom Dorf hinunter, die Frau ging zum Konsulat, er nach Zürich, in Nachtkaffees Klavier zu spielen; Biographie Leid von Künstlers Erdenwallen, falscher Strindberg ganz. In Lauda entstand beim Anblick des Überwachten Abwehr, wie in einem Europäer, der in chinesischen Spelunken einen aufgegebnen Weißen sieht; harte Empfindung, doch ganz elementar: man hat kein Recht zum Leid, wenn man unzulänglich ist, sich darin spreizt. Leid ist Vorrecht derer, die die unpersönliche Demut haben, Reinigung erleben werden.

 

Im letzten Zimmer hingen die Gipsreliefs eines Rumänen. Sie waren bestimmt, als Fläche in die Fläche einer Wand eingemauert zu werden, Überwindung des törichten plastischen Schmucks, der sich aus der Mutterebene gelöst hat und stolz selbständig geworden ist, Überwindung des Angeklebten, Daraufgestellten, Aufgehängten: es kehrte einer zur Einheitlichkeit der alten Kunstvölker zurück, die noch nicht dualistisch Bau und Schmuck zerrissen. Unnötig zu sagen, daß auch diese Reliefs nicht schon existierende Körper noch einmal verwandten (Definition von Schmuck, dem schlimmen Wort), sondern aus der Idee der Fläche der Fläche entsprechende Motive gestalteten, ausstrahlende Linien, das Spiel von Kante und Schatten darunter. Es gab der, der die Schmetterlingsflügel photographiert hatte, die grundsätzliche Erklärung, er sagte:

„Der Mensch versteht den Sinn des Ornaments nicht mehr. Niemals in der Natur werden Sie finden, daß irgendein Geschöpf, Tier, Pflanze oder Stein, die Gestalt eines andren bestehenden Geschöpfs als Schmuckmotiv verwendet, der Schmetterling ein Blümchen oder gar den Zwerg — das tut nur der Mensch auf seinen Lampenschirmen. Das für sich abgeschloßne Geschöpf kommt als Motiv nicht in Betracht, denn es ist andrer Art; jedes Geschöpf findet seinen Schmuck aus sich selbst, das heißt aus seiner körperlichen Form; ist sie ein Kegel etwa, wie man sie am Seestrand findet, laufen von der Spitze zum Kreis der Basis Rillen, seien sie punktiert, seien sie zwei parallele Linien. Europäische Kunst von heute ist unorganisch, das ist ihre Lüge. Der Maler, der die Kuh malt, der Plastiker, der die Nymphe meißelt, ist so Pfuscher, wie es ein Schmetterling wäre, der auf seine Flügel Putten setzte.“

Puck sagte: „Ich kann Ihnen die Bestätigung vor Augen führen, sie liegt in meinem Hof.“

Man ging hinaus, er richtete das Licht einer Taschenlampe auf Holzstämme, die auf die Säge warteten, und wies eine Stelle, wo die Rinde gelöst war. Man sah die Gänge, die der Borkenkäfer zwischen Stamm und Rinde gebohrt hatte, sie waren eingegraben in Stamm und Rinde. Rillchen lag neben Rillchen, zitternd gewellte Parallelen, durch Querstückchen miteinander verbunden — das war das einzelne Feld. Feld stand mit Feld durch Hauptgänge in Beziehung, Hauptgänge strahlten in den Mittelpunkt. Entscheidend aber wurde, daß als Ganzes genommen dieses Rillensystem nichts andres war als der Längsschnitt durch die Ebne des Käfers selbst, so geschlossen und rund wie das Wappen eines Heraldikers — das Tier hatte sich selbst reproduziert, der Idee nach, als Gerüst sowohl wie als innre Anatomie.

„Gut,“ sagte Puck, „wir ziehn unsre Berechtigung aus der Natur selbst, und wenn wir so praktisch demonstrieren, können wir das Publikum überzeugen. Dürfen wir das Geheimnis verraten? Wir würden zu neuen Naturalisten werden. Meine Herren, ich stelle in uns auch noch einen andren Trieb fest, einen diesem Jasagen, diesem realistischen Ernst entgegengesetzten. Wir wollen eine Diskussion eröffnen, ich will nicht verschweigen, daß in einigen unter uns eine Opposition gegen die Religiösen besteht, wenn wir religiös Obrecht, Hans und die den Kunstformen der Natur Anhängenden nennen.“

Wieder im Haus, stehend vor den Sitzenden, entwickelte er:

„Laßt uns die Kräfte überschaun, die uns zu Gebot stehn. Vorfahren sind deutsche Romantiker und Pariser Bohemiens, die einen erfanden die romantische Ironie, Aufhebung des Ernsts, die andren das Den-Bourgeois-Ärgern. Beides bleibt zu benutzen, ist nicht genug. Gegner ist die Realität, der Bürger; wir können ihn nur schlagen, wenn wir ihn mit seiner eignen wundervoll zum Existenzkampf ausgebildeten Waffe bekämpfen, der Organisation, auf die er so stolz ist. Auch denkt er bereits in Kontinenten, erdballkosmisch, international. Organisieren wir den Welthumor, schärfren, höhnenderen als den alten. An zehn Stellen muß die Bewegung auftauchen — Ansätze sind ja da — und in einem Gewand auftreten, daß er sie für ernst nimmt. Wir suchen ihn in seinem Lager auf, benutzen seine Publikationswege, Zeitung Reklame Prospekt und Straße, sie alle ad absurdum führend, ohne daß er es merkt. Fortwährend durch selbstverfaßte Notizen in den Blättern stehn, den Nobelpreis für uns verlangen, wenn er fällig wird, die eigne Todesanzeige in die Zeitung setzen und sie behaglich im Morgenblatt lesen, um acht Uhr früh Extrablätter der „Neuen Zürcher Zeitung“ herausgeben, daß Japan und Mexiko auf die deutsche Seite getreten seien, und um neun die Kursbeßrung ausnutzen, das heilige Vertrauen der Bürger in die Presse stören, gefährlich sein, das Tamtam der Heilsarmee an etwas wenden, was der Nachhilfe gar nicht bedarf, weil es schon in allen Köpfen sitzt; ein nicht existierendes Genie durch tägliche Bulletins berühmt machen; die Sensationslust der Menge wie ein Geschäftsmann gewordner Psychoanalytiker berechnen und, ist der Fisch an der Angel, ihm die Schuppen der Überzeugungen vom lebendigen Leib ziehn.“

Obrecht erhob sich, sagte schwer:

„Ich bin kein Redner, man soll das Wort sparen für heilige Dinge, das Wort kommt vom Geist. Sprudelt es hervor wie bei Doktor Puck, lachend zu tanzen, kommt es vom Bösen. Wir sind Künstler, das sind Suchende, Hüter und Heger des Anvertrauten. Wir malen anders als Rembrandt und Delacroix, sind sie darum weniger als wir? Ich nenne sie Brüder.“

Lisbao erregt zu ihm: „Sie malen besser als Sie philosophieren, warum philosophieren Sie? Sie machen Kunst zu einer sozialen Angelegenheit, es fehlt nicht viel, so definieren Sie sie als Hilfe, die wir den andren bringen. Kunst ist die asozialste Angelegenheit, die egoistischste, die es gibt, Traum des Ego in der Höhle der Individualität von sich selbst. Kunst treiben und den andren verekeln, sie treiben und vor sich selbst verekeln, anders ist sie nicht erträglich.“

Der letzte, den Lauda nicht kannte, stand auf und sagte kühl:

„Warum also, Freund Lisbao, sie überhaupt noch treiben? Aus Paradoxie, Abneigung gegen Konsequenz? Ich schlage in diesem Fall doch vor, logisch zu sein und nicht mehr zu dichten und zu malen. Sie sehn in mir den, der mit dem Ehrgeiz begann, schrieb, wirkte, las und stritt, an einem schönen Tag das große Manuskript verbrannte, seither anonymer Gentleman, der ruhig durch die Leute geht und seine Freude an ihrer Dummheit hat, klar, bestimmt, gepflegter Egoist. Laotse ist mir nicht nötig, ich forme mein Brevier mir selbst.“

Er hieß Siriwan. Bei seinen ersten Sätzen glaubte Lauda sich selbst zu hören, und dieser ward ihm wie ein hingehaltner Spiegel, sich zu sehn. Der Gentleman als Variation der sich selbst genügenden Weisheit, der geringste Einschlag von Religiosität oder Aktivität mit höflicher Bestimmtheit abgelehnt, seltsam, wo die Durchbrüche des Geists mündeten; auf jeden wartete eine schon längst gestaltete, banale Form. Causeur mit Frack und Orchidee, war das sein, Laudas, Ergebnis? Ihm war, als habe er den äußersten Punkt erreicht, Fuß halte zögernd an, für Umschlag sei die Zeit gekommen.

Der Rest des Abends war lärmende Diskussion, es sprach ein jeder von sich selbst. Ideen der andren lösten die eignen, und von allgemein gültigen Gesetzen redend, setzte man als Norm ausschließlich sich. Hans, der ihn nach Haus begleitete, sagte:

„Immer wenn ich wie eben Zeuge theoretischer Gespräche bin, denke ich an Wiesen, auf denen Tiere weiden, jedes ruhig, schweigsam, eine Tatsächlichkeit, und ketzerische Gedanken steigen auf, welch ein besondres Tier der Mensch sei: als wäre er verdammt, zwischen den Typen zu weilen, nicht fest, nicht flüssig, ohne endgültigen Aggregatzustand; als ob ein Dämon Rache an ihm genommen, Strafe auf ihn gelegt hätte. Warum sind wir nicht wie die Tiere — weil wir denken? Also ist Denken Zersetzung, Krankheit, Verlust der Sicherheit? Es gibt viele, die sicher scheinen, aber dieses Nichtschwanken ist Erstarrung, und es ist nicht absoluter Natur, sondern bürgerlicher: Macht der Verhältnisse. Ich verstehe Obrecht, den ich liebe, aber ich verstehe auch Lisbao, den Empörer, und selbst Siriwan, der das Bequemste gewählt hat, Zuschauer mit dem scharfen Auge zu sein. Ekstase ist Dämonie, müssen wir dämonisch sein? Ich wäre so gern kindlich; kindliche Dämonie finde ich wunderbar; vor den dunklen Sturm, der aus uns weht, eine Sourdine der Milde setzen oder eine kleine Maschine aus dünnem Stoff, farbigem Papier, die nun zu fächeln und zu glühn beginnt. Stolz der andren, heftig zu sein, ist so fern.“

Lauda dachte an Siriwan, fragte Hans, was er von ihm wisse; Hans sagte:

„Man weiß nichts von ihm. Fragen nach seiner Nationalität beantwortet er mit einem gut pointierten Scherz. So kommt es, daß diejenigen, die sich für solche Realitäten interessieren, allerlei Vermutungen haben, weshalb er nicht dient. Er geht durch alle Kreise; so kommt es, daß der eine, dem er im Hotel in Gesellschaft begegnete, ihn einen schlanken Diplomaten nennt, Freund bürgerlicher Damen oder aristokratischer; der andre, der ihn nachts um zwei Uhr in einer verrufnen Schenke sitzen sah, von ihm als jemand spricht, der den Straßenmädchen Geld abnimmt — Cafégeschwätz, Legendenrankung um die Maske, die Siriwan trägt. Er hat ihrer ein halbes Dutzend, es sind seine Gesichter.“

„Das alles,“ sagte Lauda, „klingt merkwürdig literarisch; man sucht in der Erinnrung, in welchem Stück man dem Gentleman begegnet ist, der durch alle Kreise geht und Masken trägt — es war die kitschige Symbolisierung der tiefen Wahrheit, daß wir Gesichter tragen, um ein Gesicht zu haben, und der noch tiefren, daß wir in verschiednen Gestalten leben müssen, um einigermaßen dem Wirrwarr unsrer Wünsche und Auffassungen gerecht zu werden. Was aber spielt sich dahinter ab, im Zentrum dieses Menschen? Ist sein Denken schmerzlich oder nur obenhin? Ist seine Abneigung gegen Kunst, Reden, Tat geistige Haltung, Mittel naiv zu bleiben und sich Illusion zu wahren? Beruht sie auf einer Energieleistung, denn den Widerstand durchführen, ist eine Leistung, und ihr Sinn kann heißen: es darf sich nicht hingeben, wer sich behaupten will. Wer aber mitdenken, mitleben, mitfühlen will, muß sich öffnen, unlöslicher Widerspruch. Wie löst man ihn annähernd? Durch Nacheinander, durch Rückkehr aus dem femininen Stadium in das männliche, durch Kampf um die Selbstbehauptung, nicht durch ihre Proklamation. Deshalb ist der Gentleman im geistigen Bereich so verdächtig, er wird Systematiker und kalter Verneiner. Es ergibt sich: Aufhebung ist eine Methode, nicht ein Dogma, und das entspricht ihrem Wesen — sie muß sich selbst aufheben. Man darf nicht die produktive Tätigkeit des Künstlers verwerfen, wenn man nicht selbst produktiv ist. Ich werde mit diesem verkehren, er ist mein Spiegel.“

 

In dieser Nacht blieb Lauda auf und nahm aus dem Koffer die seit zwei Jahren nicht mehr berührten Manuskripte. Legitimes Gefühl, zwei Jahre geschwiegen zu haben, reinlich wie Enthaltung vom Weib und stärkend wie sie.

Er las das Stück durch, dessen letzten Akt er damals abgebrochen hatte, und es strömte zu: Reichtum der Vorstellungen. Er nahm Platz, schrieb, und der Akt ward gehoben in die Sphäre des Jenseits. Nachdem ihm Geistigkeit zwei Jahre lang Zersetzung der in den Erscheinungen wirkenden Energien gewesen war, wurde sie Zusammenballung der Kraft. Ersparte Energie löste aus die verschwendende, vermehrt um den Willen zur Formung: gestaltete Energie. Gespräch mit Hans vor den Bildern hatte finden lassen, daß Kunst Energie ist, der Sphäre des manifestierten Willens angehört (Irrtum Schopenhauers). Phänomen der Anschaulichkeit, war sie von Anschauung getrennt durch die Aktivität.

Das war ihm keine neue Erkenntnis, wohl aber neue Fordrung. Also lag ihm nichts mehr daran, Anschauung erreicht zu haben? Es lag ihm nicht daran, in ihr zu verweilen — auch sie verlangte, aufgehoben zu werden, der Strom floß als Kurve in sich zurück. Entweder man sagte radikal zu allem, was sich in der Sphäre der Tat bewegte und vollzog, Nein und löschte sich aus Ekel oder Erkenntnis aus, oder man kehrte in diese Sphäre zurück, die die Arena des Einsatzes war. Nannte man Anschauung den religiösen Zustand, dann war Rückkehr zum Ja Abschwächung des Religiösen — Schicksal, das noch jede Religion erlitten hatte, als sie sich in der als Reich der Sünde und des Leids verworfnen Welt doch einzurichten begann.

Im Garten schwoll, von einem Augenblick zum andren, die Ekstase der den Morgen verkündenden Vögel auf. Er trat ans Fenster. Schwer starrten die Kronen, er empfand wieder die Düsterkeit des prangend Sinnlichen, Astarte in der Anadyomene des jungen Lichts, die nur Nordländern mit dem weißen Blut das Mädchen der knospenden Brüste war. Und als er den Gang zum See antrat, war Morgenrot über den Bergen nicht nur rosiges Erglühn — auch brennende Flamme. Gleichwohl — Glühn oder Glut, ob sie Mensch kosten oder fraßen, sie waren Fanfare des Ja, und Wind, ob er der Holden oder der Grausamen vorausging, war Kind des Morgens; wen er anwehte, ward stark, so froh, erfüllt mit dem Hunger nach Tat.

An der Seemauer stand ein Mädchen, wandte sich um, als die Schritte des Einsamen hallend herabkamen, erwartete ihn, sagte:

„Helfen Sie mir ein Boot lösen, fahren Sie mich hinaus.“

Er erkannte sie, nachdem er sie in Stein gesehn, und tat, was La Putana hieß. Auf dem See löste sie das Gewand, sprang in die Flut, schwamm, er tat ein Gleiches. Danach stand sie am Mast, furchtlos vor Männern, im ersten Strahl die Haut trocknend; das Wasser zerrann wie Öl auf wölbenden Flächen. Er sah in den Raum, das Leere, gestellt: die Form, das Bestimmte, den Akzent der Energie, das von Grenzen Umschloßne — Gefäß des Dämons Tat. Er sah im funkelnden Blick, der entzündeten Kohle, und in geschürzten Lippen: den Dämon Tat.

IV

Bericht des Morgenblatts, ein deutscher Flieger sei über die Grenze geflüchtet, besagte nichts; aber als Lauda am Abend die Villa Graumanns betrat, sah er unter den Politikern den Arzt, der ihm während seiner Militärzeit das Attest geschrieben hatte, durchblicken lassend, es werde nicht mehr lange Wert haben. Dieser Arzt war der Deserteur, er hieß Wendling.

Der Konflikt war ausgebrochen, als er darauf bestand, einen Epileptiker zu entlassen, der Hauptmann neue Bestimmungen entgegenhielt. Dann sind die Bestimmungen verbrecherisch, sagte der Arzt; die militärischen Erfordernisse gehn vor, der Offizier. Es fiel das Wort Pflicht, Wendling stellte das Primat der menschlichen auf, machte eine Bemerkung über Gewissenlosigkeit des Arztes, der denselben Patient, den er in seiner Sprechstunde für schwerkrank erklärte, im Revier als Simulant behandeln mußte, ward angezeigt. Hunderte dachten wie er, dieser eine sprach aus, ausgesprochnes Wort entfesselte die Lawine der Folgrungen. Er wurde entlassen, um danach als Gemeiner eingezogen zu werden — Hölle des Diensts, jeder Vorgesetzte erkundigte sich nach dem Mann mit den Säbelnarben, vernahm, verhärtete sich.

In Bewegung versetztes Denken verwarf Schritt für Schritt Auswüchse des Militärsystems, Militärsystem als solches, deutsches Bürgertum, das in den Mittelpunkt seiner Geistigkeit die Kriegsbereitschaft stellte, deutschen Staat. Als ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde, weil er Aufsätze veröffentlicht hatte, ohne sie vorzulegen, vollzog er den Schritt vom Persönlichen zum Grundsätzlichen, floh.

Führer des Flugzeugs war Rudolfi, ganz junger Mensch. Dieser hatte sich begeistert aus der Schule zum Heer gemeldet, die Erfahrung gemacht, daß er nicht befördert wurde, weil er zu zaghaft war, um sich ins Licht zu stellen: er galt bei den Offizieren für unfähig, Mitmenschen als Herr entgegenzutreten, bestand die Probe der Brutalität nicht. Verwirrung in dem Religiöserzognen, nicht Ruhe gebender Gegensatz zwischen Erinnrung an Abende der Mutter, die Schubert sang, und Brüdern, die als Schlachtfeldandenken Todesarten photographierten: erschütternd Gesichter, über die wie bei bitterlich weinenden Kindern ein Rinnsal lief, aber es war schwarz verbrannt, die ausgelaufnen Augen. Ein Gespräch mit Wendling, und das Grundsätzliche trieb auch diesen Knaben zum Tun.

Nun stand er, der mädchenhafte Zwanzigjährige, im Kreis der Abtrünnigen, und suchte verstört nach einem, der ihm noch einmal zuredete, daß er recht getan hatte; die Kameraden daheim kämpften, waren treu geblieben, er wurde steckbrieflich verfolgt.

Man beriet, wie Beschäftigung für ihn zu finden sei; Fünfkorn schlug ihm vor, als Volontär in seine neu gegründete Zeitung einzutreten, das nunmehr durch das Geld Shillers ermöglichte Organ der deutschen Opposition. Der Knabe konnte nicht, als er das Programm entwickeln hörte. Da bot Graumann an, für seinen Unterhalt zu sorgen, er brauchte einen Chauffeur. Madeleine Betz widersprach, der Junge sollte, was er getan hatte, ganz tun, die Idee, die ihn geleitet hatte, nicht verleugnen; mochte das Blatt mit amerikanischem Geld gegründet sein — was für Fünfkorn hätte unerlaubt sein müssen, war es nicht für den Unverantwortlichen.

Ausfall auf Fünfkorn erregte Shiller, Graumann trat auf die Seite der Elsässerin, plötzliche Scheidung der Geister. Fünfkorn hoffte einen Trumpf auszuspielen, fragte Wendling, ob er für sein Blatt arbeiten werde. Der Arzt lehnte ab, Fünfkorn und Shiller verließen das Zimmer.

„Da wir symbolisch zurückgeblieben sind,“ sagte Fräulein Betz, „laßt uns überlegen, wie wir die Einheit der Anständigen sichtbar machen. Gegen unsre Regierung aufzutreten, ist Pflicht, der Wille ist da, es fehlt: das Geld.“

„Das Geld fehlt nicht,“ sagte Lauda und sah Graumann an, „es fehlen die Leiter, es sei denn, daß Herr Wendling, der am ehrlichsten von uns Männern den Untertanengehorsam gekündigt hat, bereit ist, die Redaktion zu übernehmen. Seine Flucht, sensationeller Akt der Anschaulichkeit, ist gegebner Augenblick.“

Man begann zu verhandeln. Wendling stellte die Bedingung, daß Graumann sich als Geldgeber nannte und ein zweiter als Mitherausgeber. Lauda schlug Fräulein Betz vor, sie ihn, Wendling sie und Lauda. Graumann hatte damit zu rechnen, daß sein deutscher Besitz beschlagnahmt werde, erbat sich Bedenkzeit; dieselbe Lauda.

Seine Stellung war zweideutig; der zweimal verlängerte Urlaub lief ab, aber zwischen diesem Termin und seiner Ankunft lagen nun drei Monate, Erklärung möglicher Wandlung. Er suchte am nächsten Tag Graumann auf, entschlossen anzunehmen, wenn dieser die Bedingung Wendlings erfüllte. Die Entscheidung wurde ihm in der Form mitgeteilt, daß Graumann einen anwesenden Deutschen als ersten Mitarbeiter vorstellte, Doktor Schmitts. Er war Dozent für Geologie an der Konstantinopler Universität gewesen und von der Regierung nach Armenien geschickt worden, um Minerale für die Kriegswirtschaft zu erschließen. Dort war er Zeuge der Systematik geworden, mit der eine ganze Nation, Mensch für Mensch, ausgerottet werden sollte.

Lauda erfuhr zum erstenmal von den amerikanischen Greueln, der entsetzlichsten aller Wellen von dampfendem Blut, die jemals über diese Entsetzliches gewohnte Gegend gerollt waren. Früher hatte man Ortschaften dem Erdboden gleichgemacht, im Zeitalter der Organisation wurde der Plan gefaßt, ein Millionenvolk bis in sein letztes Glied verschwinden zu lassen. Und die erste Million ward getötet. Man mordete an Ort und Stelle, man schickte Züge von Frauen und Kindern in die südliche Wüste, man rief die Kurden. Im Tal von Musch sah Schmitts einen Platz, wo die Kurden zweitausend Frauen geschändet, danach verstümmelt, danach mit Petrol übergossen und verbrannt hatten — in den Überresten wühlten sie dann, weil das Gerücht ging, die Christinnen hätten Geld und Perlen verschluckt, um sie zu retten. Schmitts’ levantinisches Weib hatte seiner Nation, die das geschehn ließ, geflucht, und der erregte Mann zitterte wieder, als er von diesem Augenblick sprach; er wollte nicht mehr Deutscher sein.

Fluchszene, biblischer Erinnrung, weckte Mißbehagen, männlicher Entscheid sollte nicht von Tränen einer Frau abhängig sein, und Moralität, die aus zusammenbrechenden Nerven kam, enthielt von Sentimentalität ein Gran, das auch in der breitren Anhängerschaft des Pazifismus zu finden war — gleichwohl, man durfte über das christianisierte Naturell allzuberedter Männer hinwegsehn, es galt: die Sache. Die Sache hieß: Kampf ansagen dem deutschen Block aus Stahl und Willen, mit Worten des Hasses in seine Fuge dringen — ob sie sich sprengen ließ.

„Wir haben Thomas Schreiner vergessen,“ sagte Lauda, „er gehört in unser Komitee.“ Es erwies sich, daß Schreiner keinen Wert darauf legte, mehr als Mitarbeiter zu sein.

„Was Sie tun,“ sagte er, „ist bürgerlich, ich bin russisch geschult, Sozialrevolutionär, Anhänger der direkten Propaganda an der Front und in den Fabriken.“

„Wie vermögen Sie zu wirken,“ fragte Lauda erstaunt, „wenn Sie fern in der Schweiz leben.“

Schreiner lächelte geheimnisvoll, deutete an, daß es von der Schweiz aus möglich war, die Soldaten zu erreichen.

„Durch Flugblätter, die Sie von der feindlichen Seite her in die Gräben bringen?“

„Vielleicht, und durch Schulung der Gefangenen in den Lagern, dort läßt sich die Avantgarde der Revolution ausbilden.“

„Dies ist Fünfkorns Plan,“ sagte Lauda, „Sie arbeiten mit den Amerikanern.“

„Ja, insofern ich sie benutze; nein, insofern mir ihr Sieg so verhaßt wäre wie der preußische. Ich stehe außerhalb Ihres Reinlichkeitskonflikts, mein Ziel ist: die allgemeine Revolution.“

„Mit einem Wort das russische Programm. Wo ist der Unterschied zwischen Sozialrevolutionären und Bolschewisten?“

„Er wird sichtbar werden oder verschwinden, ich weiß es nicht.“

 

Graumann räumte der Redaktion das Dachstockwerk seiner Villa ein; nach kurzem zog Lauda in sein Haus, Wendling siedelte nach Bern über; es war nötig, dort einen Vertreter zu haben.

Ich bin, dachte Lauda, den Dingen der Realität fremd geworden, es wird notwendig, alle Energie des Denkens auf sie zu richten; hier ist Rhodus der Tat, hier springe. Er stellte angesichts jedes einzelnen der vielen Menschen, mit denen er zu unterhandeln begann, dieselbe leise Befremdung fest, der ihn Schmitts und Fünfkorn ausgesetzt hatten: der Eifer, mit dem sie Politik trieben, erschien ihm eng, ihr Fanatismus banal. Demokratie, Wort, das sie wie eine goldne Münze liebkosten, trug ihm Altersspuren der Abgegriffenheit; Teilung, die sie zwischen dem deutschen Block und dem der Entente vollzogen, jener Hürde der schwarzen Schafe, dieser der weißen, begegnete in ihm einem warnenden Instinkt.

Was Lisbao derb mit dem Wort bezeichnete, Schweine sind sie auf beiden Seiten, und Mitrofan mit dem andren: sie sind beide Verbrecher, formte sich in ihm als Einsicht, daß die Staatsform, die sich ein Volk gab, nicht Schuld war, sondern Schuld wurde. Es konnte sich höchstens um Entwicklungsstufen handeln und nur die Feststellung erlaubt sein, daß das eine System besser geeignet sei, bestimmte Grundfordrungen des staatlichen Lebens, etwa gleiches Recht und gleiche Verantwortlichkeit des Einzelnen zu verwirklichen, als das andre.

Er ward sich klar, daß diese Betrachtung die der reinen Anschauung war, die nur feststellt, nicht wertet. Er ward sich danach auch klar, daß, wer nicht wertet, sich von der Sphäre der Tat ausschließt — unmoralischer Vorgang im Sinn eines unhygienischen, denn es verlangt die Energie, die die Erscheinungen schafft, Betätigung, Einsatz, Rotation, Umwandlung — alles Ersatzworte für den einen Grundbegriff: Gehorsam gegen das Gesetz, das Stillstand untersagt.

Der Begriff der Mutation war es, der ihm die moralische Wertung des Phänomens des deutschen Militarismus und die Anerkennung von Regulativen des Gesellschaftlichen erlaubte. Unterhaltungen mit Wendling brachten eine große Überraschung: es deckten sich die Ideen. Der Arzt hatte unternommen, den Begriff Krieg wissenschaftlich zu zergliedern, nicht a priori setzend, daß Krieg eine Degeneration der natürlichen Anlage, sondern durch Zivilisationen hindurch ihr adäquater Ausdruck sei; aber was ursprünglich natürlich war, wurde mit fortschreitender Vermenschlichung und wachsender Suveränität Atavismus.

Genau das war im Begriff Mutation enthalten: neue Ideen bedingten eine neue Achse des gesellschaftlichen Zusammenlebens; neben den Begriff Einer und Ego, trat der des Bruders — unethisch, rein rationell ausgedrückt, der der Organisation. Der Natur gehorsames Tier bedurfte keiner Regulative; der Natur sich entwöhnender Mensch bedurfte ihrer; Ethik war nur der Imperativ, der von einem Präsens in ein Futurum führte.

Die Form, die sich der deutsche Organismus gegeben hatte, war wohl Schicksal, unentrinnbar kausal verkettet; aber die deutsche Schuld begann da, wo Widerstand geleistet wurde gegen eine deutliche Mutation der ganzen Menschheit, die daran arbeitete, Macht durch Reglung zu ersetzen. In einem Augenblick, wo sich aus dem Denken des Erdballs der Gedanke des höheren Regulativs bereits hervorrang, hatte Preußen noch einmal alle Energie darauf verwandt, ein Instrument der Macht zu schaffen, jede Äußrung geistigen Lebens, Philosophie und Wissenschaft zum Trabantendienst zu zwingen — Schuld hieß hier: eine alte Methode als größte Tatsache Europas aufzurichten.

Selbst der Vergleich mit England war nicht richtig. England war wohl durch dieselbe Methode groß geworden, aber in der Blütezeit dieser Methode, und von England war zu sagen, daß es Bereitwilligkeit zeigte, den neuen Fordrungen sich anzupassen, es war der Mutation gehorsam. Schuld Deutschlands war, daß es sein Schicksal ohnmächtigen und durch ihr Machtgefühl verdorbnen Menschen überließ, die Parolen ausgaben, wo sie Rechenschaft hätten ablegen müssen, ihren Dienern Befehle erteilten, wo sie Männer hätten zu Rat ziehn müssen — Deutschlands Schuld war der unbeschränkte Freibrief, den es seinen Regierenden gab.

Wenn Demokratie einen Sinn hatte, dann den, daß der christliche Gedanke, wir seien alle Menschen hilflosen Hirns und darum gleichberechtigt und gegenseitig zur Hilfe verpflichtet, in ihr eine grundsätzlich politische Form gefunden hatte. Möglichkeit der Mitbestimmung und der Kontrolle; wurde Schicksal gemacht, so trugen es alle. Man konnte zugeben, daß in den westlichen Demokratien dieses Kontrollrecht noch nicht rein ausgebildet war, durch Demogogie befleckt wurde: worauf es ankam, war, daß dort gleichwohl dieses Recht aufgerichtet stand, sein Sieg nicht bezweifelt werden konnte, die Idee gefunden war.

Überall in den Demokratien wurden die Ideenträger als Hüter, Bahnbrecher, geistige Elite angesehn, Pazifist war nicht verächtlich, heißblütiger Wächter über garantierten Rechten galt als Mann von Adel und Herz — in Deutschland wetteiferten die Intellektuellen, eine irrationale Philosophie zu treiben, die dem Herrn sein Herrenrecht bewies, oder standen lustlos zur Seite — Mangel an Noblesse, die wacht, eintritt, kämpft.

Daraus ergab sich ihm die Aufgabe, der vielfache Gegner: die Feigheit der deutschen Geistigen, die triumphierende Selbstunterordnung der deutschen Menschen unter die Herren, die Anbetung eines nicht mehr lebensfähigen Prinzips. Und es ergab sich die Möglichkeit, diesen Dreifrontenkrieg, obwohl er nur mit dem Wort, dem Abgegriffnen, Verhurten, operierte, reinlich, straff zu führen, ohne die Geschwätzigkeit derer, denen die Welträtsel gelöst waren, weil sie den Freisinn hatten.

Die Aufgabe gestellt, brach er die Brücke zur Sphäre des Absoluten entschlossen ab, stand in der der Tat, der wertenden, streitbaren; Energie des Totalen durfte nur Florett sein, den Stoß zu führen. Kein Zweifel, nur Glaube, keine Zersetzung, nur Konzentration. Er fühlte die Grausamkeit der Tat in sich strömen, Sphäre des Geschehens war die des Hasses, der täglich wachsenden Feinde, des Hohns, der unterdrückten Liebe, der sich suchenden Männer. Traf er Elena, die sich La Putana nennen ließ, sah er im Schwung ihres Munds denselben Trieb, sich vom Blut der andren zu nähren, denselben Triumph, zu sein und Schicksal für Menschen zu werden; und sich mit ihr verstehn, war wie Kommunion des Irdischen; Sinnlichkeit des einem Zweck dienstbar gewordnen Geists und die des Fleisches, das Macht suchte, waren eins.

Sie verschwand auf Tage, Wochen, das Goldnetz aus ihren Opfern zu spinnen, aber wenn sie zurückkehrte, suchte sie ihn auf, bei dem sie unausgesprochne Bestätigung der Idee ihrer Erdentage fand. Was er schrieb, verstand sie nicht, aber die Gemeinsamkeit aller Dinge, die aus dem Willen kommen, gab ihr: das Brudergefühl.

 

Fräulein Betz hatte ihn mit Elena gesehn; sie riet, vorsichtig zu sein.

„Warum?“ fragte er, „weil der Agent des Konsulats, den ich nun wie einen plumpen Schatten hinter mir beobachtete, mir zu einem Aktenvermerk verhilft, in dem neben ‚Landesverräter‘ steht ‚Verkehrt mit einer Dirne‘? Wie hilflos man gegen solche abstrakten Charakteristiken ist (und fügte in Gedanken hinzu: sie fallen ins Gebiet der Bewertungen, Beweis wie brutal dumm diese sein können, wie infiziert vom Unrecht des Urteilens).“

„Nicht darum allein handelt es sich,“ antwortete Fräulein Betz, „Sie sind der Bewegung, die Sie vertreten, Rücksicht schuldig, und Sie dürfen den schweizerischen Detektiven, die mit den deutschen Agenten in Verbindung stehn, nicht Gelegenheit geben, ihrerseits einen Aktenvermerk zu machen. Sie sind doppelt rechtlos, man wird Sie hetzen; sobald Ihre Regierung Vorstellungen über Ihre Tätigkeit erhebt, werden Sie der politischen Polizei lästig. Sie müssen auf Leumund bedacht sein, dürfen nur als politischer Idealist, demokratischer Vorkämpfer gelten. Es ist wahrscheinlich, daß unter der Klientele des Mädchens auch Parteigänger oder Spione der Entente sind: eine Denunziation des deutschen Überwachungsdiensts, und Sie geraten in den Verdacht, Mittelsmann zu sein.“

„Das sind Winke,“ sagte er, „an die ich nicht gedacht hatte; aber sie gehören zu denen, die man nur zu erhalten braucht, um ihre Realität einzusehn — alles Gemeine, Egoistische, Lieblose, das man von der Realität erfährt, leuchtet ein; es ist, als wachse man sofort als vollgültiges Mitglied in sie hinein und trage das Wissen um sie als eingebornen Besitz in sich.“

Danach besprachen sie die Aufgabe, die Madeleine Betz bei dem Blatt zufiel. Sie war Frau, ihr Wirkungskreis war die Frau. Es kam weniger darauf an, für ihre staatsbürgerlichen Rechte und Politisierung einzutreten, als ihre natürlichen Instinkte, die gegen Krieg und Gewalt standen, zu wecken, es galt, ihr die Augen zu öffnen, wie erbärmlich es war, daß sie dem Mann nachsprach, was er zur Rechtfertigung des harten Geschehens vorbrachte, und in Lazaretten seine Wunden heilte, damit er wieder an die Front ging.

„Ich lese,“ sagte Fräulein Betz, „die Schriften jenes einzigen Indiers, der uns bekannt ist, Tagore. Es ergreift mich, wie ein Asiate, der der Verwalter des Geists Buddhas ist, Europa vom Osten her sieht. Was wir wohl sagen, aber nicht Erschüttrung werden lassen, daß der Europäer der Materialität verfallen ist und wie ein mißbrauchter Sohn des Bösen die Eingeweide der Mutter in Eisen und Chemie verwandelt — er fühlt es unmittelbar, schmerzhaft; er sieht es legendenhaft wie einen Aufmarsch von Urprinzipien; Europa muß ihm der Fluch heißen. Was kann, für ihn, grauenhafter sein, als daß unsre Frauen Granaten drehn, Hochöfen speisen, Bahnen baun? Der Orient, der die Frau in ihrer Passivität niederhält, muß ihm doch als Hüter der Weisheit und der mütterlichen Kräfte erscheinen, die weibliche Passivität als der große ewige retardierende Faktor, Gegenstück des von seiner Aktivität verzehrten männlichen.“

Am Abend dieses Tags durchblätterte Lauda, während Elena auf seinem Divan lag, Zeitschriften. Blickte er auf, sah er die hohe Kurve ihrer Hüfte, und an Madeleines Worte sich erinnernd, dachte er: Verkleide sie dort auf dem Diwan in die orientalische Tänzerin, nicht mit Stoffen behängt, mit Rubinen, Smaragden, Steinen, spitz wie ihre Brüste, und sie ist ein Tempelmädchen, mühlos zur noch symbolischeren Astarte erhöhbar — auch das ist indisch, fern dem mütterlichen oder auch nur lotussanften Mädchenhaften.

Nicht Indisch und Europäisch sind Gegensätze, sondern Zart und Hart, Mild und Grausam; nur die Dichtigkeitsunterschiede sind Prinzipien. Gretchen und Astarte, Lotusmädchen und Messalina sind erst dann auf den gemeinsamen Nenner Frau, Attila und Christus auf den des Manns zu bringen, wenn man statt in den Frauen Passivität, in den Männern Aktivität zu sehn, in ihnen allen den Kampf zwischen Passivität und Aktivität erkannt hat; erst das Vorwiegen, der Sieg, der vielleicht auf einem winzigen Mehr beruht, bestimmt den Gesamtcharakter. Die Aktivität Messalinas ist zunächst primärer als die Christi, unendlich stärker als sie; das ganze Temperament des in die Existenz schießenden Willens ist darin, die Urenergie vor aller Geschlechtsdifferenzierung ist darin.

Was macht den Unaktivren gleichwohl zum Überlegneren, was befähigt ihn zur Handlung, wenn man die Ersinnung einer Religion Handeln nennt? Etwas Sekundäres: das Vermögen, Vitalität in Geistigkeit zu verwandeln, die Einschaltung eines Widerstands, an dem die Sinnlichkeit sich bricht und als Gedanke ausstrahlt. Primäre Sinnlichkeit braucht sich auf, bleibt Phänomen, findet keine Projektion; verwandelte wird Wirkung über das Individuum hinaus.

Aber nun erhob sich die Komplikation, die Madeleine schon einmal ausgesprochen hatte: die Widerstandsfähigkeit, diese Voraussetzung des Denkens, wurde von den Müttern vermittelt, war Gabe der Frau an die von ihr Gebornen, das Männlichste wuchs aus dem Weiblichsten. Trägheit — Passivität — Widerstandskraft, in dieser Atomkette lag das Geheimnis. Praktisch gesprochen: wie in der Sphäre der Existenz alle Erklärung dualistisch operierte, waren Gretchen und Lotusmädchen das eigentliche Weib, und Madeleine durfte sagen, daß die Frau, die hütete und hegte, wenn sie sich nicht astartehaft selbst verbrannte, der ewige große und retardierende Faktor war, der die Instinkte der Liebe und Güte ausbildete. Liebe, diese Liebe, was war sie, wenn man sie nicht als ein moralisches Faktum ohne präzise Definition hinnahm, sondern auf das letzte Prinzip der Energie zurückführen wollte, andres als ein Hemmungsphänomen, das der rein vitalen Wut des Sinnlichen und noch nicht Gestalteten die Idee des Gestalteten, das Recht des Einzelnen und Vereinzelten auf Selbständigkeit entgegensetzte?

Hier ward faßbar: die Geburt eines Gedankens aus dem Sinnlichen, einer Idee aus dem Gefühl der Totalität, eines Verständlichen aus dem Vitalen, eines Herzlichen aus dem Energetischen, eines Moralischen aus dem Egoistischen: es mußte erlaubt sein, Phantasie und Verstand gleichzustellen, weil die Gleichstellung auf ein Drittes, Übergeordnetes zielte.

Er schaute, während er dachte, Elena in die Augen, unbewegt; sie beobachteten sich wie Tiere, deren Blick durch die Dinge geht, weil die Dinge nicht Widerstand für sie werden. Was war Denken, von der Physis und in ihr gesehn? Ein Dunst aufsteigend aus der innren Landschaft, wie Regen aus der der Täler und Berge aufsteigt, ein Niederschlag des Bluts, des Fleischs, des ganzen Organismus, der sie rotierend ausschied, wie kreisende Erde die Atmosphäre; ein Duft gleich dem der Pflanze war Denken, so sehr, daß von der unsterblichen Seele nicht mehr zu sagen war als von der der Pflanze.

„Sie träumen,“ sagte Elena und lenkte ihn ab. In der Zeitschrift blätternd sah er ein Bild der Duse; sie stand in einer Szene der „Toten Stadt“ am Turm, ihre Schlankheit in schwarzen Kleidern parallel zu der des höheren, aber der Kopf war zurückgelegt und sie schaute hinaus. In diesem Blick alle Zartheit, die gebrochen worden war und doch sich behauptet hatte, alle Tragik, die erlebt hat und doch demütig stolz ist, ewige Bereitschaft, weiter zu dulden und stolz zu sein, die vollkommenste Frau, Barbaren zur Huldigung zwingend, Siegerin über den, dessen eitler Kopf neben ihr abgebildet war und der sie in die Bücher gebracht hatte. An ihr ward klar der tiefe schöne Inhalt, mit dem sich das Wort Passivität der Frau erfüllen konnte; diese Frau am Turm war Hüterin des Retardierenden, der Liebe, Gestaltung des Gedankens des Indiers, große Europäerin.

 

Am vierten Jahrestag des Kriegsbeginns ging Lauda durch die Bahnhofsstraße, um fünf Uhr sollten die Straßenverkäufer die erste Nummer der Wochenzeitung ausbieten. Er sah ein Gedränge, hörte Schreie; ein Polizist warf einen knabenhaften Mensch in eine Kutsche, drückte neben ihm sitzend seine Hände nieder, den Vergewaltigten schüttelte ein Lachkrampf, es war Puck. Lauda dem Wagen nachgehend ward von Lisbao angehalten. Lisbao sagte:

„Wir saßen, Miß Lilian, er und ich, beim Tee im Hotel; er war wie sonst, beobachtete die Menschen, kleidete die Reizung in die ihm eigentümlichen preziösgewundnen Worte, so daß man empfand, die Menschen ziehn an ihm wie Marionetten vorüber, jeder am Draht seiner Eitelkeit, Lüsternheit und gespreizten Wichtigkeit. Langsam begann er anzüglicher zu reden; wenn Frauen vorübergingen, zeichnete er die Kurve ihrer Sinnlichkeit auf dem Tischchen nach, ekelte sich, hob die Hand gegen Lilian und sagte: ‚Blancheflor, ich habe einen Augenblick des Muts, den ich zu Haus nicht finde, entlassen Sie mich aus Ihrem Dienst. Wenn wir uns ansehn, finden wir uns beide bleich, uns ist Frau Minne Flagellantin. Ich sehe eine Wand, den Totentanz darauf und ich und Sie darin Figuren. Mir graut —‘ und bei diesem Wort machte er einen Satz gegen die Fensterscheibe, als wolle er durch sie springen. Sie war hochgezogen, er stürzte draußen auf die Kniee, Auflauf, Abtransport ins Irrenhaus.“

Sie gingen ins Polizeigebäude, es war unmöglich, zu Puck zu gelangen. Er hatte, als er Uniform und Gitterfenster sah, sich widersetzt, den Agent in die Hand gebissen, sich selbst zu einer Beobachtungszeit beim Psychiater verurteilend. Lauda ging mit Lisbao in die Stadt zurück. Als er an einem Stand seine Zeitung kaufte, hielt ihn Lisbao fest und zeigte auf ein Heft:

„Wir hängen nebeneinander, Herr Lauda,“ sagte er spöttisch, „wir sind am gleichen Tag herausgekommen, Ihr ernstes Blatt und unser unernstes. Vielleicht ist Puck über der Redaktion verrückt geworden, es wäre die schönste Reklame, vielleicht ist er nur überarbeitet, wir haben alles selbst in einer Winkeldruckerei gesetzt.“

Sie gingen in ein Café, die Blätter zu lesen. Das Pucks enthielt Manifeste Siriwans und Pucks, Verse Lisbaos und Hans’. Wenn nun Puck es bei sich trägt, dachte Lauda, wird es sein, als finde man bei einem des Mords Verdächtigen Besitztum des Getöteten.

„Was erwarten Sie von diesem Blatt?“ fragte er.

„Nichts. Sie wollten einmal wissen, warum ich noch Verse mache, wenn ich das Wort Kunst hörend nur eine Grimasse ziehn kann. Sie haben recht, Kunst ist nicht einmal das, was ich antwortete, Zeitvertreib. Als wir das Blatt vorbereiteten und zwischen Schreibmaschine und Setzkasten tätig waren, erfaßte mich der Rausch der Geschäftigkeit, nun ekelt mich davor. Was erwarten Sie von Ihrem Blatt?“

„Die Durchführung einer Idee, zu der ich mich entschlossen habe. Sie sichtbar machen, alle Energie an sie wenden, alle Konsequenzen tragen, ist auch Zeitvertreib, Ausfüllung des großen Nichts, in das wir stürzen, wenn wir vom Absoluten her das Leben betrachten. Der Unterschied zwischen uns ist, daß ich mir zum Aufbau meiner Geometrie, dieser Illusion mit saubren, klaren Gesetzen, eine Idee wähle, die mich von mir, einem Anlaß zur Selbstvergiftung, fernhält und Mitmenschen erlaubt, ihre Energie ihrerseits mit meiner zu vereinigen. Verziehn Sie nicht das Gesicht, Mitmensch ist Tatsache neben mir und Energiebetätigung ist so sehr Gesetz, daß sie unterbinden heißt, an Stauung sterben. Der tiefste Gedanke, auf den praktisches Denken stoßen kann, ist hygienischer Art: gehorsam sein der Kraft, die uns erzeugte. Sie ist blind, sie ist aber auch Mutter — sehn Sie, wie das rein Phänomenologische ins Gefühlsmäßige übergeht? Was ist diese Liebe? Gehorsam, Aufgeben des Widerstands gegen die Tatsache der Existenz. Sie hassen Moralität? Warum? Vorausgesetzt, daß man sich nicht auslöscht, hat man die vernünftige Pflicht, sich mit der Existenz abzufinden, und sich abfinden hat zur Folge, daß man nicht grämlich Ja sagt, sondern energisch, klar; nicht leidet, sondern seine Aufgabe erledigt. Es bleibt Ihnen erlaubt, Kunst eine fixe Idee zu nennen, aber eine fixe Idee, an die man seine Energie setzt, wird Inhalt.“

„Geben Sie acht,“ sagte Lisbao, „daß Sie nicht Wanderprediger des Optimismus und des Maximums an Glück werden.“

„Angst vor Banalität? Haben Sie noch nicht erlebt, daß Gedanken, die Ihnen seit Wochen unerhört erschienen, mit einem Durchbruch in längst gesagte Banalität endeten, wie man, sich verirrend, nach Visionen mittelalterlicher Verzauberter, auf der wohlbekannten Ebne vor der Stadt herauskommt? Wissen Sie, wo wir alle enden, wenn wir Himmel und Hölle durchschritten haben? Bei dem Gedanken, daß es gut ist, die Heranwachsenden zu erziehn und den Erwachsnen durch Kunst, Wissenschaft, andres ein wenig Glück zu geben, auch dabei, das Haus des Menschen, die Gesellschaft, vernünftig zu baun.

Das ist die praktische Form von Souveränität, alle andren, die sprengenden und grundsätzlich revoltierenden, werden auf die Dauer Leidensformen. Was ist Puck? Ein Psychopath, einer, dessen Nerven schwächer sind als die Säule der Existenz, die auf ihnen lastet. Jeder ist Psychopath, der schwächer als die Ideen ist, die in ihm nisten.“

„Heute morgen,“ antwortete Lisbao, „dachte ich allerdings wie Sie. Siriwan und ich wohnen im selben Hotel. Um sechs verlangte ihn ein Paar zu sprechen, eine erschöpfte Frau, ein mitgenommner Mann, zwei österreichische Revolutionäre, die ersten, die dem russischen Vorbild nacheiferten und zum Streik gegen den Krieg aufforderten. Der Mann der Frau wurde verhaftet, sie flüchtete mit dem Genossen über Hochgebirge und Schnee, zu Fuß von Innsbruck bis Zürich. Siriwan sollte sie unauffällig mit Nüßli in Verbindung setzen, sie bringen Botschaft von den Russen. Sah man sie, Fanatismus war größer als Erschöpfung, dachte man: sie sind arme Tiere, von einer Idee gehetzt, die ihnen alles gibt, was Menschen zu innrer Nahrung zu brauchen scheinen, Gefühl der Wichtigkeit, des Mehr als-andre-Seins, des Geheimnisses, des Schmerzes, der ein süßer Druck ist, des Hasses, der den Druck verstärkt, der Beredsamkeit, in der die Spannung entströmt, und der Tat, die sie, wie eine vergiftete Katze die Droge, in sich tragen.“

„Ganz recht,“ antwortete Lauda, „so gesehn ist das Bild real und objektiv.“

„Also mein Ekel berechtigt.“

„Doch nicht. Denken Sie scharf. Der Ekel ist etwas, was Sie hineintragen. Sie finden ihn nicht im Bild, dem betrachteten Material. Er ist subjektiv, durchaus Auslegung. Sie müssen sich, wie ein neuer Kant, fragen: welches sind seine Grundlagen, realen Bedingungen? Und hier ergibt sich, daß wir mit der gleichen Legitimität zwei Auffassungen haben können, eine so begründbar wie die andre, Nein und Ja, deren jede aber die Pflicht enthält, die Konsequenz zu ziehn. Sehn Sie in allem Treiben nur das Sinnlose, das Leid, das Abrollen einer Vitalität, die um ihrer selbst, nicht um unsrerwillen da ist, dann vollziehn Sie, als Imperativ gesagt, den Akt der Souveränität und der Ablehnung, den Selbstmord. Erklären Sie sich einverstanden mit dem unverlangten Geschenk der Existenz, dann erklären Sie die Autonomie des von der Urenergie ausgesetzten Geschöpfs und verhelfen Sie ihm zu einer saubren Ordnung, dem wohnlichen Haus, proklamieren Sie das Glück an Stelle des Leids; und Glück heißt Beherrschung der Kräfte, Überlegenheit den Geschehnissen der Existenz gegenüber. Glück ist Waffenstillstand, den innren Vorbehalt des Wissens berührt es nicht. Das ist die Souveränität des Ja, wie der Selbstmord die des Nein ist. Was Sie, Puck, Siriwan tun, ist Halbheit, ihr schleppt die Existenz weiter und hebt euch nicht aus dem Leid.“

„Sie raten mir also kurz und klar, mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen?“

„Nur konsequent zu sein. Löschen Sie sich aus, so halte ich Ihnen eine unbefangne Nachrede; Feststellung darin, daß Sie nicht gesund genug waren, wird Ihnen gleichgültig sein. Denn von Gesundheit darf man reden, weil jedes Geschöpf die vorwärtsdrängende Sinnlichkeit mitbekommt, und wenn Sie wollen, ist diese Mitgift das einzige Prä, das das Ja vor dem Nein hat.“

„Wie banal.“

„Durchaus, wenn auch Gesundsein nicht besagt, daß man nichts von dem Ekel verspüre, den die Feststellung der überall existierenden Sinnlichkeit auslöst. Mich verläßt das Wissen um sie keinen Augenblick, ich sehe sie im Glanz der Augen, der Kurve der Wangen, höre sie im Mezzosopran der Sängerin, notiere sie halb zynisch, halb gelassen, und wenn ich wie ein Tier über der Frau bin, denke ich, wir ordnen das alles in unser Dasein ein, wissen darum, verhöhnen damit den Gott, dem wir für das Leben danken sollen — es sei. Was Ihnen und Ihresgleichen fehlt, ist das Mitleid, das annähernd Aufhebung des Leids ist. Auch ich bin nicht gütig, aus mir wird nie das Bekenntnis der großen Liebe brechen, mit dem man am bequemsten zu einer repräsentativen Stellung gelangt; aber ich mische in mein Denken genau die Dosis Mitleid, die real und objektiv ist: Mitleid gründet sich auf die Tatsache, daß Einzelgeschöpfe neben mir sind und, noch metaphysischer, daß das Individuum, an sich nur Vorwand der Energie, sein eignes Dasein auszubauen unternimmt, sich der Totalität entzieht; mein Mitleid ist Gerechtigkeit.“

Die Saaltöchter begannen die Tische zu decken, nach französischer Manier wandelte sich die Galerie des Cafés zum Speisesaal. Hans und Siriwan tauchten auf, erklärten, fünfzig Franken zusammengelegt zu haben, um sich den Abend der Illusion zu schenken, Kommunion mit der Grundtatsache essender Körperlichkeit und ihrer nach dem Geistigeren ausgreifenden Derivate, als da waren Flirt, Musik, Gespräch, Blick auf Kristall und in Taft entblößte Schlankheit von Armen.

Hans, sparsam lebend, feierte solchen Abend selten, Siriwan, als kenne er keine andre Art, zu Tisch zu gehn; Hans empfing von jedem, der um ihn saß und kam, die Schwingung, Siriwan sah nichts, sagte alles zu wissen.

„Was denken sie,“ fragte Hans, „die geldmachenden Männer mit den blaurasierten Wangen und die Weiber, die sie vom Goldschmied hierher führen? Vielleicht, daß es so in der Ordnung sei; aber vollzieht sich nicht in jedem von ihnen, hinter seinem Bewußtsein, fortwährend eine Art religiöser und philosophischer Auseinandersetzung? Kreisen sie nicht ununterbrochen um den Grundgedanken von Ja- und Neinsagen? Es schlechtes Gewissen zu nennen, wäre zu viel, aber sie alle operieren mit dem Gegensatz, dem Reiz, daß draußen andre hungern, schlecht verdienen, nutzlosen und verachteten Ideen des Altruismus nachhängen.

Als ich das letztemal hier war, wurden plötzlich die eisernen Läden herabgelassen, weil Streikende demonstrierten, Steine gegen die Scheiben warfen. Eine Sekunde erblaßten sie, dann wandten sie sich um so breiter dem Genuß zu, und in dieser Nacht umarmten sie ihre Weiber gesteigert in Befriedigung, die zugleich Bewußtsein war, das richtige Weltbild zu haben, mit der Sinnlichkeit identisch zu sein — ja ein Gehorsamkeitsgefühl ist in ihnen, das ‚Lebt! — So wollen wir leben.‘ Und dafür gestehe ich ihnen zu: das Brudergefühl. Seht, wie sie stopfen und schütten, wie die Brillanten sprühn.

Suche ich zu überlegen, was die in diesem Raum Versammelten an diesem einen Tag an List, Niedrigkeit, Raub, Lüge begangen haben, die Frauen an Verkauf ihrer selbst, Betrug, Habgier, die Musiker und Angestellten an Eifersucht, Neid, dann ist es, als sei die Existenz, durch die ich gehn muß, die brennende Stadt der Apokalypse, die über mir zusammenschlägt. Ich erkläre so den Traum von der brennenden Stadt, der oft in meinen Nächten wiederkehrt. Ich glaube, daß wir uns in jeder einzelnen Sekunde mit dem Leben auseinandersetzen, eingehüllt in einen Dunst, der aus uns steigt, oder in erregteren Momenten ein Gleichnis für es suchend.“

„Sie haben recht,“ antwortete Lauda, von Freundschaftlichem zu ihm bewegt, „es kann nicht anders sein, als daß der Kosmos, der keine Sekunde ohne Rotation und ohne Wärme ist, jederzeit auch eine Bewußtseinssphäre um sich legt, aus der alles steigt, was wir Traum, Denken, Fühlen nennen. Der Schmarotzer dort mit den kauenden Backen fühlt sich selbst, seine Stellung im All, die Nähe der andren, den Gegensatz zu ihnen, der nur ein andres Wort für Einheit mit ihnen ist. Wir atmen Denken, und man könnte sich vorstellen, daß wir alle jederzeit gegen einen Mittelpunkt der vollkommnen Bewußtwerdung vorrücken, wie die Himmelskörper nach einem Zentrum der Rotation.“

„Ist es erreicht —“

„Werden die einen sehn die vollkommne Harmonie, Summe der Verkettungen, Sphärenklang, die andren die grauenhafte Entsieglung des sinnlosen Geheimnisses, Rasen, Wüten, Ablauf, Sturz in die Zeit, Asche der sich selbst verbrennenden Energie. Ob Anfang, Mitte, Ende der Zeit, es ist jeden Augenblick gleich erlaubt, Ja und Nein zu sagen, Widerstand zu leisten und ihn aufzugeben, Welt zu regulieren und von der Illusion der Regulative zurückzutreten. Höre ich in mich hinein, vernehme ich das Geschrei des jüngsten Tags so gut wie den geordneten Gesang der Chöre, die Zeiten und Räume zusammenfassen.“

„Ich habe über Ihre Theorie des Widerstands nachgedacht,“ sagte Siriwan. „Widerstand ist das Prinzip, aus dem Sie die Geburt der Existenzen erklären, weiterhin im Mensch die Entstehung von Idee und Gefühl; und es ist gewiß überraschend, wenn Sie Liebe ein Phänomen des Widerstands nennen. Die Gesamtheit der Widerstände ergibt den Zustand der Souveränität, der Leid nicht leugnet, aber bändigt. Also ist derjenige, der leidet, widerstandslos. Wie aber kann er leiden, wenn nicht deshalb, weil er Widerstand leistet? Und der Souveräne, der sich mit der Tatsache der Existenzen abfindet, gibt er Widerstand nicht auf?“

„Beweis, daß jeder Entschluß, genauer die Verwirklichung einer Idee, uns auf die andre Seite setzt — wir finden uns staunend auf dem jenseitigen Ufer. Tat ist ein Prisma, das die Strahlen der Ideen im rechten Winkel zum Einfall bricht. Tat ist Aufhebung der Idee, obwohl von ihr erzeugt. Im übrigen unterscheiden Sie nicht scharf genug zwischen Leiden und Erleiden. Wenn man eine Idee Dämon in sich werden läßt, der von Konsequenz zu Konsequenz treibt, erleidet man, und dieses Wort ist nur eine vom Beobachter ausgesprochne Wertung; macht man den Versuch, Widerstand zu leisten, so leidet man, und das ist bereits ein subjektives Gefühl oder ein objektiver Zustand. Man leidet, weil man nicht radikal Widerstand leistet; radikaler Widerstand heißt Souveränität; sie besteht darin, den Widerstand mühelos sowohl ein- als ausschalten zu können. Deutsche Bücher sind schwächlich, weil sie, wie ein französischer Dramatiker auf die große Szene, auf den Augenblick zueilen, wo der Held endlich seine endgültige Weltanschauung erreicht haben wird, meist die der Harmonie, unter Leugnung und Vergessen der vorher erlebten Verneinungen. Es sind Bücher ohne Aufhebung.“

„Das Kaffeehaus wird zum Anschauungsunterricht,“ sagte Siriwan und wies auf die Nische, „der perfekte Harmonist sitzt neben uns, Nachtwächter der Ethik an einem Tagblatt, Umwechsler des geistigen Pfunds in Leserkurant, Abteilungschef für Literatur im Warenhaus zur öffentlichen Meinung, kurz ein Feuilletonredakteur, von allen Soldstellen des Kapitalismus die anrüchigste, weil ihm freie Meinung gelassen wird, vorausgesetzt daß Abonnent sich nicht beklagt. Schrieb er nicht heute im Abendblatt vom Glück bei Gelegenheit irgendeines Franzosen, der die Freuden der Familie empfiehlt, weil sie die vollkommenste Kombination von Sorge für sich und Sorge für andre ist? Da haben Sie einen Deuter Ihres Glücksbegriffs.“

„Einen bürgerlichen,“ antwortete Lauda. „Ich verstehe unter Glück die Energie, nicht im Zustand des Erleidens zu beharren, stärker zu sein als Vorgänge in uns. Das ist eine dynamische Angelegenheit, was hat sie mit dem Glauben an die moralische Weltordnung zu tun? Nichts, es sei denn, daß sie versteht, wie Menschen dazu kommen, einen Gott zu erfinden.“

„Verstehn ist Abschwächung des Urteilens. Sie billigen mein Urteil über den Redakteur nicht?“

„Ich müßte erst die Not kennen, die Sie dazu führt, einen Mensch radikal zu verwerfen, radikal böswilligen Dummkopf zu nennen. Ich kenne von Ihnen nur Urteile, die absolut verwerfen — ich müßte fühlen, durch welche innre Katastrophe oder Neulagrung Sie in den Gegensatz zur Welt geraten sind; ich müßte Atmosphäre um Sie spüren. Sie werden antworten, daß Ihnen alles Tun, Wollen, Sichregen der Menschen eine Verirrung ist, daß sie sich spreizen und blähn. Aber dann wäre die Konsequenz unerläßlich: daß Sie unter diesem Zustand des Menschen leiden, sich nicht ausschließen. Das Recht auf Urteil wird durch Miterleiden erkauft, durch Aktivität. Urteil und nur Urteil ist rein passiv. Urteil, das nicht aus der Wärme des eignen rotierenden Organismus kommt, ist kalt, Urteil, das diese Wärme in sich trägt, ist entweder Haß oder Liebe oder, wenn es das Hoffnungslose feststellt, Trauer. Ich kann nur sinnliche Urteile gelten lassen, alle andren gehn der wichtigsten Frage: Und du selbst? aus dem Weg.“

 

Am nächsten Morgen gelang es Lauda, Puck zu sprechen; er wurde gebeten, sich danach bei der Assistentin des Psychiaters, selbst Ärztin, zu melden. Puck, lustiger Gnom, saß auf einem Stein und suchte einem frei umhergehenden Melancholiker zu erklären, daß inzwischen draußen der Weltkrieg ausgebrochen war.

„Was ich auch an Zahlen ersinne,“ sagte er, „um auf die Depression dieses Alten die letzte Last zu legen, es bleibt Wirklichkeit; der zwanzig Millionen Streiter müde, suchte ich ihn zu überzeugen, daß die sämtlichen Kriegsschulden abgetragen werden können, wenn die Steuer auf Liebesfreuden eingeführt wird: fünf Pfennig, Rappen, Heller pro Umarmung, der Kavalier zahlt willig, Damen bleiben steuerfrei. Ich war gerade dabei, auszurechnen, wieviel eine Stadt wie Zürich in einem Tag einbrächte, was meinen Sie? Auch die Vermutung über die einträglichsten Stunden ist ergötzlich.

Der Sprung durch die Fensterscheibe? Mein Lieber, ich sah ja, daß sie hochgezogen war. Allerdings, die Stimmung war ernst, ich kann nicht mehr Lilian zu Willen sein. Ich will Ihnen ein Märchen erzählen. Es war einmal ein armer Junge, der gern mit seinem Wissen prahlte, aber von freiwilliger, geheimer Zärtlichkeit der Frauen wenig wußte. Niemand starrte ungläubiger als er, als Blancheflor an einem Sommerabend die Gewänder löste und ihn an sich zog. Es werden wohl auf den weißen Altar, der aus dem dämmernden Zimmer leuchtete, Tränen getropft sein. Er glaubte, nun sei die Hemmung, die vor die Entrückung gelegt ist und die er so gefürchtet hatte, ausgelöst, warum hätte sie sonst sich ihm angeboten? Da erwies es sich, daß er die größte und unerwartete noch zu besiegen hatte. Keine Liebkosung, kein Gespräch über das, was ihn Liebe suchen ließ, kein Lachen und keine Güte konnte ihr die Erregung des Eros geben; statt geborgen zu sein, stieß er auf eine Aufgabe, die ihn abscheulich dünkte — durch Brutalität, Bisse, Schmerzzufügen ihr zur Lustvorstellung des männlichen Tiers zu verhelfen. Sie lag, die Härte erwartend, den Rücken zugekehrt, was er zuerst für eine Geste der Laszivität hielt, und gebot ihm ungeduldig, weh zu tun.

Er ward ganz schlaff, das Gefühl, um das Schönste betrogen zu sein, formte sich in harten Worten; die trank sie gierig, lächelte verzückt und — war willig. Seither wurde er gehorsamer Schüler, lernte gewünschte Energie, staunte über die Phantasie der doch Unberührten, die sich schuf, was sie brauchte, verließ sie jedesmal um einen Grad elender. Ich kann nicht mehr, dem Frau das Heimlichste, Zärtlichste ist, Wärme ihres Körpers Güte des Bergens. Arme Kleine, warum verfiel sie auf mich, da ihr Lustmörder und Fleischergeselle das süße Grauen geben? Was tun? Es blieb nichts, als durch das Fenster zu springen. Immerhin ist zu sagen: in diesem Augenblick war ich so durchaus Schauspieler, daß Grenze zwischen Lüge und Wahrheit verschmolz; in fünf Minuten steigre ich mich in jeden Wahnsinn, begehe jede Tat, finde für jede Verwandlung die sie erschaffenden Worte. Was ist Phantastik? Die Fähigkeit, die Assoziationsbrücken von irgendeiner Vorstellung zu der entferntesten und nicht verwandten herzustellen, also nachzuweisen, daß doch Verwandtschaft ist. Ich bin der blaue Funke des Hirns, der die Bahnen überspringt.“

„Haben Sie dem Arzt das alles erzählt?“

„Die Ärztin hielt mich ab, sie ist scharfsichtiger als er, ich mache ihr nicht das Vergnügen, mich zu durchschaun.“

„Und doch entgehn Sie nur so der Drohung, Sie acht Tage lang zu beobachten.“

„Was machen sie mir aus, sie sind mir willkommen. Wolke voll erregenden Leids hat sich auf mich gesenkt, ich will durchaus in ihr weilen, bis sie sich wieder hebt. Darüber schwebt, auf der Sichel, Maria, zaghaft leise begehrt, weil sie Königin und Mutter ist, gelästert, weil sie Frau ist. Lassen Sie mich, es formen sich Verse, Gedicht einfach im Schmerz des Geschundnen.“

Lauda suchte den Arzt auf, wurde ins Zimmer der Assistentin geführt. Es standen alte kräftige Möbel mit Grün bezogen, lag Teppich, Raum war Mischung aus Sachlichkeit und Frauenhand. Die Frau trat ein, Blick auf sie ward Huldigung vor Persönlichkeit — schöne Frau, ganze Frau. Flut von Adjektiven drang auf ihn ein: groß, fest, üppig, gesund, dunkel an Kraft, hell an Wirkung; zugreifend, braunäugig, warm; bisweilen derb, im ganzen königlich. Wie sie komponiert war, wie sie vor ihm stand; aus straffen Säulen der Beine kam die mächtige Kurve des Beckens, bog in die Wölbung des Rückens ein, floß über die Schultern in die der Büste. Farbe des Gesichts war wie bei dunklen Keltinnen, die er in Vogesentälern gesehn hatte, von Welle des Bluts erzeugt, das zurückweichend weiße Höfe ließ — Stoß des Bluts durch die ganze Frau.

Puck, den er um Barbaras willen nun öfter besuchte, sagte:

„Es ist eine groteske Situation. Wenn sie eine Brille und schlechtsitzende Röcke trüge, würde es mir ein Vergnügen machen, ihr einen Indianertanz von Irrsinnigkeiten vorzuführen. Ich kann es nicht, ihre Augen, in denen ein schlaues und lustiges Bewußtsein von Energie ist, würden es nicht dulden. Die Ärztin anzuerkennen weigert sich Männliches in mir. Es bliebe nichts übrig, als mich in sie zu verlieben, nach dem Rezept, daß Liebe eine Schutzhandlung und Abgang mit Ehren ist, aber es wäre aussichtslos und — sie macht mir Angst. Es ist eine Vitalität in ihr, eine Fülle des Bluts, der ich nicht gewachsen wäre.

Sie versetzt mich in denselben Furchtzustand wie Lilian, einen andren und doch den gleichen, daß Frauen Raubspinnen seien, die meine Kräfte aussaugen wollen. Freund Lauda, unsre Sehnsucht, bei einem Weib geborgen zu sein, ist ein übler Trick der Natur. Ich merke es, wenn ich meine Stunden Maria auf der Sichel schenke. Wie raffiniert ist diese Fiktion: Wolke und Sichel schweben dicht über unsrem Kopf, damit wir die Himmlische gerade noch mit unsren sinnlichen Wünschen erreichen können. Manchmal überfällt mich eine tolle Lust, ihr, das Auge am Saum ihres Rocks, die deutlichsten Zynismen zu sagen; dann, um die Abendstunde, kommt die namenlose Melancholie, so schwer, daß sie sich wie ein Block von Leid in das Gelatinemeer des Geschehens senken möchte, in ihm die eine feste, große Tatsache.

Was die Ärztin betrifft, so habe ich mit offnen Karten gespielt und ihr zu verstehn gegeben, daß ich von selbst in Ordnung komme, wenn man mich hier ein paar Tage in Ruhe sitzen läßt — es ist so gut zu schreiben, wenn ringsum die schweren Fälle heulen und einem auf dem Gang der Mann begegnet, der von einem andren erzählt, daß er in seiner Manie alle Türen öffnen müsse — er macht es einem vor, und er ist dieser Mann selbst.“

Nach acht Tagen wurde Puck nach Hause geschickt, er brachte ein Manuskript mit und sagte spöttisch:

„Positive Arbeit, die einzige, die ich geleistet habe. Nun kann ich sie drucken lassen, so beweist man seine Prinzipien. Es ist keine Spur von Humor in den Versen, dieweil ich mich der Welt als Humorist angekündigt habe. Aber ich gebe mich nicht besiegt. Was tut man mit Versen, wenn sie gedichtet und gedruckt sind? Falsch bescheiden warten, bis einer sie aufgreift? Das ist unanständig, dann schon lieber selbst nachhelfen, tun, als ob man etwas geleistet hätte, und ein Vergnügen daran haben, daß man vom Produkt von acht Tagen ein Jahr lebt — ich werde das Heilsarmeetempo, das wir an irgendeinen fiktiven Einfall wenden wollten, an mich selbst wenden, auch das ist Ironie.“

Größre Ironie war, daß der Redakteur, den seine Freunde verachteten, ihn entdeckte. Aufsatz des Kritikers war Posaunenstoß, es folgte Einladung der literarischen Gesellschaft zu lesen, Vorstand des Gottfried-Keller-Bunds drückte ihm die Hand, Auffordrung erfolgte aus Berlin, ein Stern war aufgegangen.

Lauda, der Vorlesung beiwohnend, fand ihn liebenswert, Kind mit der ernsthaften Brille bemühte sich zu zeigen, daß Erfolg es nicht verschlingen werde.

„Warum,“ fragte er ihn, „verbergen Sie Ihren Kern, der Stärke des Leids ist, Demut des Schmerzes?“

„Ich komme nur auf Brücken der Lustigkeit zu ihm, lassen Sie sie mir. Soll ich mich als Dichter des großen Pathos etablieren, Firma eingetragen in das Register der Literaturgeschichte? Wer andrer als Sie sprach von Aufhebung?“

„Das konstruieren Sie nachträglich. Ich wollte sagen, daß Sie selbst nicht wußten, was in Ihnen Kern ist, Sie sollen ihn nicht leugnen.“

„Noch verläßt mich das Schauspielergefühl nicht, von dem ich Ihnen erzählte, aber seltsam ist, daß es mir selbst nur Verkleidung zu sein scheint, der Kunstgriff eines Gotts, der mich in eine Bahn drängt, gegen die ich mich sträube. Niemand kann begreifen, wie befremdend es ist, sich auf dem andren Ufer wiederzufinden. Es sprang einer durch eine hochgezogne Fensterscheibe, Akt reinen Bluffs, und ward durch ihn zum Bürger.“

 

Lauda hatte versucht, den jungen Rudolfi zu seinem Gehilfen zu machen. Gehilfe hieß Kamerad, es lag ihm nichts daran, einen Angestellten zu haben. Zwanzigjährige Jugend und deutsche Weichheit, die an Schubert dachte, wenn Brüder von Krepierten sprachen — doppelte Möglichkeit. Wenn er erreichte, dem Knaben Straffheit, dem Musikalischen einen Tropfen lateinischer Bestimmtheit zu geben, ihn zu lehren, daß, wer wirken will, klar von einer gegebnen Stellung aus entwickeln muß, den Gegner ohne Relativität und Gefühlsbrücken als Gegner sehend, dann gelang Synthese, auf die es ankam, aus Geistigkeit und politischem Willen.

Der geistige Mensch, wie er ihn empfand, Herrscher in der absoluten Sphäre, in der es keine Wertung mehr gibt, konnte nur dadurch brauchbar für die reale Sphäre gemacht werden, daß er seine fluktuierende Energie, die dazu diente, die Berechtigung aller Standpunkte kausal zu erklären, entschlossen auf ein ordnendes Prinzip verdichtete, die Hochspannung in den Transformator eines ethischen Postulats leitete.

Jeder Deutsche trug eine irrationale Philosophie in sich, war nicht praktisch wie Engländer, noch ironisch-doktrinär wie Franzose. Soweit überhaupt vitale Kraft in ihm war, leitete er, wie alle dem Religiösen Zugänglichen, der Idee des Staats Metaphysik zu. Gesellschaft ohne Achse der Rotation, ohne übergeordnetes Regulativ, war Sphäre des Chaos — der Organismus eines Volks mußte unter Druck gehalten werden, damit er sich ballte und einheitlich kreiste: solchen Druck ermöglichte die Idee des preußischen Systems, das seine Herkunft aus dem Protestantismus nicht leugnete. Und Protestantismus, so fest er in der Irdischkeit stand, den Mensch recht eigentlich auf seine Souveränität verwies, kam doch, da er Religion war, im letzten aus dem Pessimismus: es gab eine Verwandtschaft der preußischen Herrenkaste mit dem katholischen Priester, für den die Existenz das Reich der Sünde war, das Befehl und Gebot brauchte. Die Junker waren Menschenkenner: entfesselt das Individuum und es weigert Arbeit; unterstellt es der Idee des Gehorsams und es wird nutzbare Energie, sich und dem Ganzen Inhalt schaffend.

Vom Absoluten her war dieses System nicht materialistisch, es wurde es erst, weil es alle Kräfte dem Irdischen zuführte und die Verwalter zu Ausnutzern machte, während katholischer Priester Diener blieb und von ihm gepredigte Ordnung nicht in Marschleistung von Bataillonen umgesetzt wurde. Es geschah nicht ohne Grund, daß selbst die edler denkenden Geister in Deutschland am preußischen System festhielten, sie waren nicht alle, Fünfkorn und den Mittelmäßigen unter den Demokraten zufolge, verlogen und böswillig; ihr unverzeihlicher Fehler war, daß sie zur Idee zurückgriffen, wo sie die Tragik ihrer Überspannung sehn mußten. Schicksal von Ideen war romanhaft wie das von lebenden Menschen, man konnte vom Verfall eines Ideensystems wie von dem einer Familie reden und seinen Roman schreiben.

Klarblickender sah den Punkt, wo ein geistiges Prinzip religiöser Färbung durch zeitliche Entfernung von der religiösen Quelle ins Gegenteil umschlug, Hebel in der Hand der an die Spitze gesetzten Familien wurde — Dämonie auch das einer Idee, die Herrschaft gewonnen hat, statt reguliert zu werden. Axiom: Regulative bedürfen der Regulierung; Lehrsatz: sich zum Tun entschließen, heißt die radikale Energie regulieren, nicht zerstören, sondern beaufsichtigen, nicht hinnehmen, sondern selbst verwalten. In Rotation gesetzt, kreiste der deutsche Kosmos nun um die Idee der zentralisierten Monarchie, bis er zerschellte. Aufgabe war, unter den Denkenden solche zusammenzurufen, die durch Einfluß und Menge der Anhänger stark genug waren, eine Gegenbewegung oder Hemmung zu erzeugen; gelang das nicht, dann einige zu retten für den Augenblick der Katastrophe und die Zukunft.

Das war die Rechtfertigung seiner Opposition, daraus entsprang auch sein Wunsch, mit dem Jungen ein Experiment zu versuchen. Letzter Beweggrund war, wie bei allem, was Mensch tat, der eigne Gewinn, für sich wollte er die Fordrung, Mutation in das deutsche System zu bringen, sichtbar machen. Und da es klar war, daß Sprung in die Sphäre der Tat nichts bedeutete, als sich vom Egoismus der Anschauung den andren zuzuwenden, begann ihn das ihm selbst Unerwartetste und Fernste zu beschäftigen, die Möglichkeit, dereinst Erzieher zu werden. Bejahte man die Tat und stellte Regulative der Ordnung auf, erhielt der Ablauf des menschlichen Geschehns einen selbst gesetzten Sinn, dann war die vornehmste dieser Illusionen die Pädagogik, Vermittlung der Energie an die Nachwachsenden.

Wie mit einer Frau, die zum steilen Flug der Entrückung entfesselt wird, suchte er mit Rudolfi dem neuen Land der Ideen zuzueilen. Tempo der Flucht im Flugzeug war noch in dem Knaben; als er den Rhythmus seines eignen Bluts wiedergefunden hatte, kam die Hemmung. Eine geistige Bastion mit stürmender Hand nehmen, war nicht deutsch, an Stelle des strahlenden Siegs trat das schrittweise Ringen. Ungeduld Laudas, er bezwang sie, sich erinnernd, wie er selbst in diesem Alter gewesen war, von Erdbeben geschüttelt, wenn er sah, wie verschiedenartig Menschen dieselbe Sache betrachteten; aber es war der Loyolawille dagewesen, in Quadern zu bauen.

Rudolfi war schwerfällig, Namen der Mitarbeiter machten ihm Mühe; Vorstellung mit ihnen zu verbinden, größre; Ideen so klar wie Bildhaftes zu sehn, die größte. Lauda schlug den Umweg über die Anschaulichkeit ein, führte Rudolfi in Gesellschaft, so abendliche wie die der Straße. Dem Knaben fiel die besondre Art der Schweizer auf, sie schien ihm von bäurischer Gleichartigkeit zu sein, niemand trat aus der Masse hervor. Lauda half die Linien nachziehn: bestimmtes Bekenntnis zu einer Anschauungsform wie der des deutschen Beamten und Offiziers wurde hierzulande vermieden; man fühlte nicht unmittelbar, daß alle Kräfte eines Lands von einem Willen zusammengehalten wurden, sich um ihn lagerten, in jedem Augenblick des Privatlebens von ihm Bestimmung erhielten; das Bewußtsein großer Aufgaben, der Ausblick auf den Welthorizont des deutschen Lebens fehlte. Deutscher war straffer in Umrissen, großzügiger in Ideen, an ein anschauliches, repräsentatives Zurschautragen der das Volk durchsetzenden Energie gewohnt, in der Schweiz blieb alles anonym. Lauda sagte:

„Es ist zunächst der Unterschied der Größe zweier Länder. Das kleine war von je darauf bedacht, Existenz zu wahren; Ehrgeiz, wie ein Sonnensystem zu wachsen, benachbarte Zellen in seine Rotation zu ziehn, fehlt vollständig. Es wurden nicht ausgebildet Kräfte der Konzentration noch das gefährliche und, wenn es sich mit Klugheit verbindet, schöne Schauspiel der Vitalität. Daher das Gefühl, das man unter Schweizern immer hat, daß sie mißtrauisch und schwerstirnig, bäurisch wie Sie sagen, importierte Ideen der Fremden abweisen, froh sind, wenn sie unter sich bleiben können. Das Positive dieses Zustands ist schwerer zu erfassen, darum nicht weniger wertvoll: kein Hochmut der Kaste, keiner von Offizier Polizist Beamten, es ist menschlich, unter ihnen zu leben, Anonymität wird wohltätig.“

„Auf mich wirkt unser System stärker, seine Idee ist verständlicher, weil jeder Gebildete sie zur Schau trägt. Auch Sie verwerfen ja nicht, wie ich eigentlich gedacht hätte, den Willen eines Volks zur Expansion. Warum also billigen Sie den Deutschen nicht zu, was Franzosen und Engländern erlaubt ist?“

„Ich wäre gern national,“ antwortete Lauda, „weil ich alles liebe, was Kristallisationspunkt für Energie wird, abgegrenzte Wirkungsfelder schafft, Differenzierung in die Welt bringt. Ich kann nicht national sein, weil es mir verwehrt wird, man duldet nur hochfahrend ergebne Diener. Auch ist Expansion und Wachsen in Größe nicht dasselbe; jenes nur die brutale, materialistische, herrische Spielart. Bildung eines großen Kosmos darf nicht auf Kosten andrer Rotationssysteme erfolgen, die schon ihre endgültige Lagrung gefunden haben. Einbeziehung Belgiens in das deutsche System ist nicht Verschmelzung, sondern Einbruch, Diebstahl, Gewalt. Die Kosmen der zivilisierten Nationen, kleine und große, müssen nebeneinander rotieren, es ist ihnen nur eine höhere Form des Ausgleichs erlaubt, die der Verträge, des Handels, des geistigen Tauschs. Keine Dialektik kann das Verbrechen ungeschehn machen, daß man die beschworne Neutralität Belgiens brach. Jedes Gefühl, das mir befähle, trotzdem zu meinem Volk zu stehn, da es nun einmal um seine Existenz kämpft, ist Dialektik. Anerkennend die Vitalität des deutschen Systems und das Recht auf sie, verwerfe ich bedingungslos ihre Methode.“

Aber in dem Knaben war dieses Gleichwohl und Trotzdem stärker. Heimweh ward stärker, wuchs zur Sehnsucht, die deutsche Atmosphäre, bekannte, zu atmen, Befehle zu empfangen, die vorstellbar waren, weil Blut der Väter sie schon empfangen hatte. Es kam der Tag, wo Rudolfi Reue gestand; siegreicher als die Moralität auf sich selbst vertrauender Gegnerschaft wurde die Gewissensqual, Kameraden im Stich gelassen zu haben.

Lauda ging aufs Konsulat, erreichte, daß in Berlin Straflosigkeit zugesagt wurde, eröffnete Rudolfi, daß er heimkehren könne. Weinender umarmte ihn, fuhr an die Grenze, um sühnend im vordersten Graben zu sterben.

Lauda hatte nicht mit dem Widerspruch der politischen Freunde gerechnet, seine Stellung wurde so erschüttert, daß nur der Fahndungsbrief, den das Generalkommando gegen ihn erließ, ihrem Argwohn ein Ziel setzte.

Heftigste Vorwürfe hatte Justus erhoben, Mitglied des Redaktionskomitees, Veteran des demokratischen Gedankens. Die meisten waren erst im Krieg zu Bekennern geworden, er seit 1885, Jahr, in dem er das Deutschland Bismarcks verlassen hatte. Er war in Paris mit den Politikern des Republikanismus verwachsen und Zeuge gewesen, wie schwer, langsam, zuerst nur äußerlich, der Gedanke von 1870 sich durchgesetzt hatte: Erschüttrungen und Rückschläge kamen, bis er zu den letzten Wurzeln der nationalen Existenz vordrang, Macht auf die Erziehung der Jugend, Heer, Kirche gewann.

Die Überwindung der Tradition, in Fleisch und Blut nistender, die Ausscheidung noch immer kreisender Säfte, die innerste Umschichtung, die Entstehung einer neuen Vitalität, die letzte große Krise des Dreyfusprozesses, das Schritt für Schritt, die Energie, ein Ideal der Zukunft sichtbar und sieghaft zu machen, das war Justus die Größe der Männer von 1890, und er hatte bewundernd die Geschichte der bürgerlichen Führer geschrieben, die ein größres Werk als die Sozialisten vollbrachten die theoretische Fordrung gänzlich andrer Grundlagen schien ihm banal, der zähe Kampf mit realen Interessen, die Mutation der Realität war Leistung. Und Lauda verdankte ihm Einsicht, was es heißen wollte, in den lebenden Kosmos eines Volks einzugreifen und Mutation zu erzeugen. Es war die Zeit, da in Deutschland die Parole der Neuorientierung ausgegeben wurde, demokratische Vertreter Anteil verlangten, fühlend die Katastrophe.

„Machen Sie sich keine Illusion über die Ohnmacht dieser Ansprüche,“ sagte Justus, „das ist, als hätten vor 1870 die französischen Demokraten die Republik im Bund mit Napoleon dem Dritten einrichten wollen. Frankreich hatte ein Jahrhundert republikanischer Tradition, es hatte Temperamente und Charaktere ohne Zahl hervorgebracht, und doch bedurfte es einer von uns nicht gekannten und nicht begriffnen Größe der Anstrengung, um die Idee zu sichern. Der Deutsche versagt vor der Schwierigkeit dieser Fordrung, er ahnt die Problemstellung nicht einmal, ist ohne Sinn für die Noblesse derer, die, was sie tun, ganz tun, die Lösung einer Aufgabe nicht den Beamteten überlassen, sie wie eine Leidenschaft bis zum Ende erleben und nicht auf halbem Weg zur bequemen Hausfrau zurückkehren. Dieser Mangel an radikalem Anstand ist von allen Lastern das deutschste und für mich das verächtlichste — was hilft die innre Freiheit, die gefunden zu haben, Deutsche sich rühmen, sie ist nur Feigheit und Flucht vor Realität.“

Bei Ausbruch des Kriegs erlangte er Erlaubnis, zu bleiben, wurde im zweiten Jahr vom schützenden Minister gebeten, ihn der Aufgabe zu entbinden, ging nach der Schweiz, mittellos, Opfer des Sequester. Er ernährte sich von Unterricht, Zeitung, Arbeit der zu schneidern beginnenden Töchter und Sparsamkeit der Frau, kleinbürgerlicher Französin — Demokratie ward Märtyrertum, fanatisch getragnes; Züge des Alternden wurden scharf; bitter und tröstend die Stimmung eines verspäteten Achtundvierzig.

Lauda war bei ihm zu Gast, sah, in wie engem Bezirk ein Mensch leben kann, Grenzen des Käfigs waren die der Welt. Es durchwanderte der Alte diesen Bezirk unermüdlich, hatte Wege angelegt, alles eingeteilt: wer nicht böswillig war, brauchte sie nur zu begehn und schaute die in Demokratie geordnete Welt. Sie war die Wahrheit, es gab keine andre; noch größer als Erregung über Nichtbereitschaft der Geister war Staunen — darüber grübelnd, fand er neuen Beweis, fügte ihn ein, nun war die logische Kette geschlossen. So war einer Freidenker — er selbst war Freidenker, Priester hieß Pfaffe, König Tyrann. Justus gestand, einst Romane und Verse geschrieben zu haben, Thema des Romans: Kampf gegen Vorurteile, Verse: Epigramme, darin einer die Welt am gesunden Verstand maß. Die Welt hatte sie nicht gelesen, ihr Schade.

Lauda, dem er der rationalistische Mensch schlechthin war, reines Extrem, klar zu überschaun, folgte der Einladung, wiederzukommen, begegnete plötzlicher Herzlichkeit und dem Geständnis eines entbehrten Ideals: Verkehr aufrechter Männer, zweimal in der Woche, Schachspiel zur Übung der Hirnkräfte und Kegeln zu der des Körpers; Gemütlichkeit bei Bier und einfachen Sitten. Er entwand sich höflich, Justus kam ihn mit seiner Familie besuchen, Prinzip der Gegenseitigkeit. Mensch, den er als Mensch gelten lassen wollte, ward lästig, zwang dazu, Beschränktheit lieblos zu benennen, Abstand mit allen Mitteln zu setzen, und aus einem Freund ward Feind, der ihn geheimen Anhänger des preußischen Systems nannte, weil er von dessen Philosophie sprach.

Es kam der Augenblick, wo Justus vor den Versammelten aufsprang, sagte: „Er ist nicht das, was uns nottut, Politiker, er ist der Geistigen einer, die alles verstehn, mit jedem Gedanken huren; sie werfen ihre Leidenschaft auf ein Objekt für drei Monate wie ein Schauspieler seine unehrliche Glut für drei Stunden in eine Rolle. Denkt er ans Volk? Er denkt an sich, er will nicht Zustände ändern, sondern Ideen klären“, und mit gerecktem Zeigefinger dastand, als fordre er das Volk auf, zu steinigen.

Lauda war versucht, für einen Augenblick hinauszugehn, nicht wiederzukehren — es hätte jener recht gehabt. Blick in das verzerrte Gesicht des Manns gab ihm das skrupellose Argument unbefriedigter Ehrgeiz, und er war gehorsam dem Gesetz der Realität, Angegriffner wehre dich. Danach ekelte ihn vor erlangter Kenntnis, was ein Tribun sei, Beredsamer in Geste der Treuherzigkeit.

Ruhiger geworden, sprach er mit Hans von dem leisen Grauen, dem Widerwillen im Hintergrund, die er empfand, wenn wieder die Bekanntschaft eines Menschen durchlaufen war. Zuerst, war er noch neu, sah man das Tüchtige in ihm, seine Energie, das, um was er kämpfte, die durchdachten Ideen; dann, schattenhaft, verschob sich das Bild, es traten hervor die Banalität, die fixe Idee, die Grenzen, die Enge; zuletzt wies er die Zähne des Egoismus, verteidigte den Käfig, in dem er saß und den er nannte Leuchtturm der Wahrheit.

„Was schwerer wiegt,“ sagte er, „und was zu lähmen droht, ist der Widerstreit in mir, wie ich solchen Menschen, jeden, werten soll. Wertung ist nicht nur Anmaßung, sie ist auch durchaus willkürlich, denn wir tragen keine andre Norm in uns als selbstfestgesetzte, eine von vielen. Wonach aber setzen wir fest? Nach Interesse, nach einem politischen oder gesellschaftlichen Standpunkt, von dem ich wenigstens weiß, wie relativ er ist. Was habe ich ausgesagt, wenn ich Justus einen Dummkopf nenne — gestern hatte ich Respekt vor ihm, morgen werde ich mit ihm zusammenarbeiten. Klarheit ist nur, wenn ich jemand liebe oder hasse, Urteil ausscheide oder einschalte. Alle scharfen Urteile sind diesseitig; in der Welt, in der jede Existenz von der andren getrennt ist, kann es nur Urteile des Hasses, des Gegensatzes, der Trennung geben. Aber in sie spielen fortwährend die Urteile des Absoluten hinein, die skeptisch gegen Benennung sind, weil sie religiös sind, die Getrennten vereinen und, nun nicht mehr pessimistisch, Nachsicht, Milde, Duldung gebieten. Nicht darum zuletzt ist die Sphäre der Realität die der Qual, des Hin- und Hergezerrtseins — man könnte, man sollte ein neues Lehrfach der Erziehung finden: Unterweisung in Grundtatsachen der Existenz; Zwiespalt, Unversöhnlichkeit der Prinzipien würden gelehrt, Ableitung daraus einer großen Klarheit, einer Kenntnis der Maschinerie in uns, einmündend in die Nachsicht mit ihrer Ohnmacht und das Suchen nach Überwindung der Ohnmacht — erkannte Gesetze werden Schalter mit spielenden Gelenken. Der Mensch hat noch nicht denken gelernt, weilt noch im Stadium des geistigen Manchestertums, wo die Welt der Empfindungen ein Haufe durcheinander kriechender Schlangen ist.“

Sie saßen am Kai, Wellen des Sees schlugen nach den Bänken. Barbara ging mit einem Mädchen vorüber, grüßte. Lauda stand auf, Barbara sagte:

„Wir wollen segeln, meine Schwester und ich, wir haben Platz, schließen Sie sich an?“

„Darf ich meinen Freund mitnehmen?“ fragte er, wandte sich nach Hans um und sah ihn verzückt das Mädchen anstarren.

Barbara richtete die Segel selbst, die Kleine ließ sich schelten, weil sie Handreichung verschmähte, lächelte nur aus so dunklen Augen, daß die Pupille nicht sichtbar war. Andres Temperament, innigeres, derb schaltende Herzlichkeit Barbaras gedämpft durch Süße.

„Wenn ich hätte tun können, was Gefühl mich hieß,“ sagte Hans nachher, „würde ich wie mit einer kleinen Insulanerin ein zärtlich-lehrhaftes Gespräch über mein Entzücken auf den ersten Blick und seine Gesetze, die Gesetze in ihr selbst, begonnen haben. Denn es gibt Gesetze unsres Naturells und wir müssen ihnen nur gehorsam sein, um ohne Vorbehalt und Lüge zu lieben. Fast immer entschließen wir uns unter Vorbehalt und Lüge zur Werbung: Zufall führt mit einer Frau zusammen, die uns fast ganz, aber doch nicht ganz gefällt, Gelegenheit ist günstig, man ist des Suchens müde, und das übrige tut die Frau, sie fühlt, daß wir zur Anpassung bereit sind und holt sich, was sie haben will.

Ich, der kleine feste Körper ohne differenzierte Nerven anbetet und auf die Entdeckung der heimlichen Fülle um der sichtbaren willen verzichtet, bin immer von Schlanken, Nervösen erobert worden, selbst zu underb und hilflos, um zu widerstehn. Das war die Untreue gegen das erste Gesetz, das mich kräftigere Körper, als meiner ist, lieben heißt. Das zweite hebt die Gegensätzlichkeit wieder auf und verlangt, daß ganz zarte, heimliche Wärme in ihnen ist, ohne Dämonie oder kaporalhaftes Temperament. Wie ein kleines warmes Tier schaute sie aus Mantel und Muff heraus; die Eigenwärme des Geschöpfs ist das Herrlichste.“

V

Wie Puck es gesagt hatte, in den Augen Barbaras war ein schlaues und lustiges Bewußtsein von Energie. Sie konnte nicht untätig sein, und sie ertrug es nicht, wenn ihre Patienten untätig der Mattheit in sich selbst zuschauten. Indem sie bei denen, die Kranke des Willens waren, das Gefühl, dem Leben nicht gewachsen zu sein, nicht duldete, hatte sie große Erfolge, heilte durch persönliche Kraft, selbst Heilfaktor; es geschah aber bisweilen, daß einer unbesiegbar sich vor ihr verschloß, ihrer zu deutlichen Gesundheit die Verachtung des Differenzierten entgegensetzte.

Lauda beobachtete, daß es ihr dann nicht darauf ankam, die bei jenen erprobte Macht bei diesem bewußt zu versuchen, indem sie sie in weibliche Reizung verwandelte, Wünsche erregte, Wunsch erlaubte. Auf die stumme Frage des Zeugen gab sie gleichsam die Antwort: was macht es, daß einer mich nachts in seine Träume zieht?

War das königlich, oder mütterliche Klugheit, die um den erotischen Untergrund aller Wirkung wußte, oder ein hetärischer Anflug? Was war prachtvoll an ihr? Daß sie alles Komplizierte und Getrennte mit optimistischer Energie hinwegschob — aber um diese Geste war ein Schleier zu wenig. Ihre beste Zeit, dachte er, wird sein, wenn sie in reifem Alter steht, noch immer eine schöne große Frau, die erlauben wird, gewisse Dinge sehr deutlich zu benennen, nicht prüde, erfahren, unverwüstlich an Spannkraft, von jener Klugheit des Nahen, die Beschränktheit des Fernen ist, und Derbheit durch Würde gebunden. Gegenwärtig ist sie eine Frau, die noch nicht selbst erlebt hat, erregte Wünsche noch nicht erfüllt.

Konnte sie sie erfüllen? Ihm nicht, dem sie zu der erstaunten Feststellung verhalf, daß sie, Gefäß des drängenden Bluts, ihn nicht in Versuchung führte. Sah er sie an, wünschte er seiner nächsten Geliebten ihre Gestalt, die Erfüllung der Sehnsucht war, im Körper der Frau das Symbol des Kosmos zu umfangen, der mühlos rotiert, denn alles ist fest, reich an Energie, voll Spannung, nicht nur eben lebensfähig, Nerven gebettet in Fülle — und blieb doch kalt bei so viel Wärme, weil sie den dunklen süßen Schmerz nicht gab, Hauch der Bitterkeit nicht kam; zu positive Frau.

Und da er Zeuge des fast knabenhaften Idylls wurde, in das sich Hans mit der heimlich getroffnen Schwester spann, verzückt vom Glück des kleinen straffen Puppenleibs, dem innigen Dunkel lächelnd hingegebner Augen sprechend, ward das Bedauern, nicht selbst die volle Summe notwendiger Bedingungen erfüllt zu sehn, zur Trauer, daß es ihm versagt sein werde, sie je erfüllt zu sehn. Ein neuer Typus ersehnter Frau ergriff von ihm Besitz, der königlicher, üppiger als der frühere war — gesunder Körper, der machtvoll in sich ruhte, sieghaft, stark.

Vorstellung war es, die parallel auf der ganzen Linie vorrückte. Tag brachte Geschäftigkeit in Fülle, Wirken durch Wort, Einsatz von Mut, der die Folgen des Bekennens nicht mehr scheute, Umgang mit Menschen. Nachtstunden waren der eignen Arbeit zugewandt — Energie wuchs aus Energie, er sah sich ganz versetzt in die Arena der Tat, und die Zeit, da er bei allem die Frage nach dem Wert des positiven Treibens aufgeworfen hatte, lag fern zurück, entglitt; er fühlte wohl, daß er ein Seil verlor, an dem sich entlang zu tasten gut gewesen war, aber er konnte es nicht halten, neue Jugend war stärker als vergangnes Alter. Es zog ihn zu den Menschen, über deren Ohnmacht, Egoismus, Sentimentalität, sich eingeschlossen, er keine Illusionen hatte. Gleichwohl, ein Rest blieb, der durch Scheidewasser nicht aufzulösen war, ein radiumhafter, unerschöpfliche Potenzen schleudernder Kern, mystisch und zäh, und war wohl die vitale Energie an sich, das sieghafte Ja, das triumphierte, sobald man nicht die letzte Konsequenz des Nein zog, die Selbstaustilgung.

Und dieser Kern war mit einer bestimmten Eigenschaft positiv geladen, die zu benennen es ihn nun drängte: mit einer seltsam süßen Zärtlichkeit. Bei Barbara stellte er negativ fest, daß diese Eigenschaft irgendwie existieren müsse. Eines Abends ging er durch die Bahnhofstraße, sah vor einem Kürschnergeschäft eine Frau stehn, auch sie königlich, ganz in Biber gehüllt. Er fühlte den elektrischen Schlag, trat neben sie, es war Elena. Abermals Bedauern in ihm und in unmittelbarer Reaktion Erkenntnis jener Eigenschaft, nach der er sich sehnte: die Vitalität durfte nicht zu direkt ausströmen, mußte einen Widerstand passieren, der die Scham der Frau gebar, die in sich lauschende Innigkeit.

Nicht zu positiv sein, nicht als Frau herausfordernd zur Schau tragen, daß in ihrem Schoß die Quellen springen, es in Geheimnis hüllen, das nur ein andres Wort für Demut ist — Demut enthielt noch immer den Bestandteil Mut; aber Elena hatte nur den Mut, nicht die Wärme des Bergens. Schauend in die Auslage, wo kostbarer Pelz ausgebreitet lag, hatte er die Vision einer Frau, von der dieses Rauchwerk fallen könnte: sie stand gleichwohl in Wärme, Wärme war Ausstrahlung des in sich geschlossnen Kosmos, dessen Wesen ist: Hüten, Hegen.

Jene Eigenschaft des vitalen Kerns war also, um in seiner Sprache zu reden, nicht primäre Eigenschaft, erst sekundäre, erworbne, Produkt eines Widerstands gegen das Elementare, und es fiel ihm ein, daß er schon einmal Güte und Liebe als Widerstandsphänomen empfunden hatte. Widerstand wessen? Des vom Primären erzeugten Geschöpfs, das nun selbständig geworden ist, dem Elementaren nicht mehr willenlos untertan sein wird. Hier war die Geburt der Menschlichkeit.

Elena war ihm nie Geliebte gewesen: Brudergefühl, das er, Geistiger, ihr, der Hetäre, gab, war wie eine Kameradschaft, heterogen und parallel — nun geschah es, daß er auf dem Umweg über das luxushafte Restaurant mit ihr nach Hause fuhr; aber zum erstenmal Gast in ihrem üppigen Gemach, der stolz selbstbewußten Verwertung ihr verliehner Reize, wußte er, daß er es nicht mehr betreten werde, sehnsüchtig nach leisrer Weiblichkeit. Und Claire, fragte es in ihm, ist sie nicht von dieser Art? Auf der innren Szene stand die Ferne, Halbvergessne, alles Licht auf ihr vereint, und siedend stieg das Gewissen auf. Aber welchen Wert hätte es gehabt, zu leugnen, daß Gewissen nur Macht über ihn hatte, wenn die Zeit gekommen war, daß er selbst, aus sich, auf den Mensch neben ihm stieß?

Im Anfang hatte er nicht geschrieben, weil Sinn der Trennung war, jeden sich selbst zu überlassen, abzuwarten, unter welchen Umständen er sich dem andren wieder zuwenden werde; danach nicht, weil schriftlicher Verkehr ihm gesperrt war. Er wußte nur, daß Claire Brüssel verlassen hatte, als er nicht zurückkehrte, und in Berlin lebte. Er schrieb ihr, Graumann erbot sich, den Brief auf geheimem Weg, der der direkteste des Botschaftskuriers war, zu besorgen.

 

Suchend den Mensch, begann er, im ersten Schimmer die Frage zu sehen, die wie ein verhülltes Bild dort stand, wo der Weg der letzten Erkenntnis sich verlor, scheu gemieden, immer umkreist — die Frage nach der Freiheit des Willens.

Wer tätig war, wer an Einwirkung glaubte, wer irgendwie Erzieher sein wollte, mußte die Mutationsfähigkeit des menschlichen Kosmos bejahn. Es stand ihr gegenüber die reine Anschauung, die keine Wertung, nur Abrollen der Dinge kennt.

Glaube an die Mutationsfähigkeit war Widerstand des Optimistischen gegen den religiösen Pessimismus, der Tat verwarf, wie er den Eintritt des Willens in Existenz verwarf, weil Teilung der Totalität Untreue der Totalität gegen sich selbst war. Das von der Totalität hinausgeschleuderte Geschöpf trug ihre Energie in sich, verwandte sie dazu, in der Existenz seßhaft zu werden — aber die Energie drängte zur Totalität zurück, erreichte sie durch den Tod. Konnte nun das Geschöpf einen Teil der Energie dazu benutzen, um sich ihrem eignen Ablauf entgegenzustellen, wie man vom hochgespannten Strom einen Teil für den Hausgebrauch ableitet? Ohne Zweifel, die Tatsache des Widerstands stand fest, Zeitlichkeit, das heißt Tat, verhielt sich zum Elementaren wie Hausstrom zur Hochspannung. Das war die eine Wurzel des freien Willens.

Der Mensch richtete sich in der Existenz ein, als sei er nicht sterblich, schuf die eigne Domäne und erfand Regulative, die nichts waren als Hemmung des Triebs, sich und nur sich zu manifestieren, den man Egoismus nannte. Die geteilten Existenzen, von Natur aus Todfeinde, einander zur Nahrung brauchend, erkannten das Recht des Bruders an — freier Wille war Spaltung des Willens, Aufruhr des Gezeugten gegen den Vater, ein Widerstandsphänomen.

Barbaras Umgang mit den Patienten beobachtend, fragte er: „Woher nehmen Sie diesen positiven Glauben an die Mutationsfähigkeit des Organismus, aus der Wissenschaft oder Ihrem Naturell?“

Sie verstand die Problemstellung nicht, er erläuterte: „Soweit die Medizin Wissenschaft ist, arbeitet sie mit materialistischen, das heißt passivistischen Auffassungen. Der Organismus ist das Gegebne, ein Gegenstand mechanischer, chemischer, physikalischer Einwirkung, nicht aber seelischer, über die nichts ausgesagt wird, weil der Begriff Seele nicht objektiv erfaßbar ist. Der Wille entzieht sich dem Mikroskop, also geht man ihm aus dem Weg. Haben Sie schon einen Wissenschaftler gesehn, der den Mut hätte, etwas über die Freiheit des Willens zu sagen, es sei denn, daß er zu den Psychoanalytikern gehörte? Deren große Leistung ist dieser Mut, Angriff auf die Materie von der vitalen, lebenden Seite her und Glaube an Mutationsfähigkeit — sie dringen von dem, was nur Manifestation des Willens ist, dem Körper, zu dem vor, was primär ist, dem Willen. Die große Frage lautet: ist Wille, sobald er einmal eine körperliche Form gefunden hat, an ihre Struktur gebunden, oder kann er Einfluß auf sie gewinnen, das heißt sie und das heißt doch wieder sich selbst ändern? Sehn Sie die Tiefe des Problems?

Was ist ein schwächlicher Mensch, einer Ihrer Psychopathen? Zunächst Manifestation eines bestimmten Zustands der vitalen Kraft, der zwar auf erblichem, historischem Wege bedingt worden ist, uns aber durch und durch bestimmt. Können diese Bedingungen geändert werden? Wie kann ein solcher schwächlicher Wille dazu gebracht werden, von sich selbst frei zu werden? Das ist nur denkbar, wenn man ein rein philosophisches Glied einfügt: daß in allen Existenzen, mindestens derselben Gattung, der gleiche Grad von Energie gebunden sei und daß diese Bindung sich irgendwie wieder lockern lasse. Wodurch? Gewiß nicht durch den freien moralischen Willen, den die Dualisten annehmen, sondern eben durch Lockrung, mit andren Worten durch zähe, langsame Einwirkung, Erziehung, Absolvierung unendlicher Stadien und Zwischenglieder.

Grundsätzlich sind ein plumper Realist und ein differenzierter Ideenmensch durch nichts getrennt als durch verdickte Ebnen, die aufgelockert werden können; Genie und Durchschnittsmensch durch noch nicht überschrittne Zwischenglieder. Es eröffnet sich eine wunderbare und ungeheure Demokratie der Existenzen, und sie ist, nebenbei, die metaphysische Begründung der politischen Demokratie.

Aber kehren wir zu dem Schwächlichen, am Willen Krankenden zurück. Wissen Sie in Ihrer Gesundheit, wie dumpf, matt, stündlich aussetzend das Hirn eines blutarmen Menschen funktioniert? Was werden Sie als Ärztin tun? Die Blutarmut durch Ernährung und andre Einflüsse beheben wollen. Gut, aber da Sie Frau sind, vital und praktisch, tun Sie noch mehr, als die Wissenschaft Sie lehrt, Sie suchen auf die Energie selbst zu wirken, das heißt, Sie üben aus, was ich theoretisch errechnete, die Gleichheit des Energiequantums in allen Menschen; Sie glauben instinktiv an die Mutationsfähigkeit, Sie arbeiten mit einem unwissenschaftlichen Prinzip, dem Willen, der in das Gebiet der Metaphysik gehört, und — berichtigen die Wissenschaft.“

Danach machte er die alte Erfahrung, daß Einstellung auf einen Gedanken genügte, um ihn auch bei allen andren, in jeder Stunde des Tags, zu finden. Es war Schreiner, mit dem er die nächste Diskussion hatte. Schreiner schrieb alles Elend, Verbrechen, geistige Dumpfheit den Verhältnissen zu — ändert die Verhältnisse und es wird kein Verbrechen mehr geben, der Mensch ist von Natur aus gut; belehrt ihn, er wird gütig sein; versetzt eine Schar Proletarierkinder in lichte, warme Sphären, und ich mache mich anheischig, so tüchtige, talentierte, geniale Menschen aus ihnen zu machen, wie das wohlhabende, studierende, herrschende Bürgertum sie stellt; Erziehung ist alles.“

„Erziehung ist viel,“ sagte Lauda, „sie ist sogar alles, vorausgesetzt, daß man sie weit genug nimmt. Wir betreten ein Gebiet, wo äußerste Differenzierung der Behauptungen nötig wird. Zunächst ist zu sagen, daß der Mensch nicht gut ist, sondern gut werden kann, in dem Sinn, daß das Regulativ des Guten sich in ihn wie eine Achse senken läßt, um die sein Kosmos rotieren soll. Gut sein ist eine Korrektur des natürlichen Egoismus, wird nie mehr sein, es ist eine Idee über der Wirklichkeit, nicht Wirklichkeit selbst. Ferner ist zu sagen, daß keine Erziehung das Verbrechen ganz aus der Welt schaffen wird, denn das Verbrechen ist nur vom Standpunkt der Gesellschaft und des Brudergedankens aus verwerflich; neben dem Bruder wird es immer das Ego geben, und hier ist Verbrechen eine Manifestation der primären Energie des Ego, es ist eine ganz tiefe und so reale Erscheinung, daß man es metaphysisch nennen kann, es ist unmittelbare Aktivität, Widerstand des Ego gegen Gesellschaft und Bruderidee, es ist das Leben selbst; würde die Gesellschaft je ganz licht organisiert und Armut ausgeschaltet, das Verbrechen würde als Reaktion gegen die Sanftmut und Banalität dieser Ordnung auftreten, denn Verbrechen ist Aufhebung der Idee der Ordnung, wie diese ihrerseits Aufhebung der Idee der egoistischen Einzelerscheinung.“

„Worte,“ sagte Schreiner.

„Nein, Metaphysik.“

„Erbärmliche Worte, weil ich nach der Konsequenz fragen muß, die Sie aus dieser Anerkennung des Verbrechens ziehn. Sie reden wie ein Ästhet, der die sogenannte Schönheit und Wildheit des sich zerfleischenden Lebens nicht missen will; es soll alles bleiben wie es ist, denn das soziale Elend erzeugt eine Differenzierung und eine Zerlegung des Daseins in Milieus, die ihm wohlgefällig sind, weil er Romanstoffe daraus gewinnen kann.“

„Mögen Sie das dem Ästheten sagen, nicht mir,“ antwortete Lauda. „Richtig ist, daß es auf die Konsequenz ankommt, die man zieht. Die meine heißt, daß die Einsicht in den ewigen, elementaren Charakter des Verbrechens der Idee der Güte ihre Größe und ihre idealistische, das heißt relative Eigenschaft gibt. Güte ist Setzung, nicht Wahrheit, souveräne Leistung, nicht Gehorsam. Ohne das Hintergrundsgefühl ihrer Künstlichkeit ist sie sentimental — der moralische Optimismus der deutschen Pädagogen ist sentimental, weil er bekehren und zum Guten zurückführen will, während es gar keinen Punkt gibt, wo das Gute tatsächlich existiert. Rousseau suchte diesen Punkt und fand ihn in der paradiesischen Vergangenheit; auch Sie sind rousseauisch und darum bolschewistisch, denn bolschewistisch sein heißt, durch Zwang zum Normalguten zurückführen wollen.“

„Leugnen Sie,“ fragte Schreiner, „daß durch Verpflanzung in günstiges Erdreich verkümmerte Arbeiterkinder zu Menschen werden können?“

„Niemand leugnet es, obwohl ich jede Präzision dessen vermisse, was Sie in diesem Satz unter Menschen verstehn. Leute, die freier von Neid, Haß, Bitterkeit, reicher an Würde, Selbstbewußtsein, Unbefangenheit sind? Ohne weiteres zugegeben. Aber Ihre Meinung scheint zu sein, daß solche entlasteten Kinder auch besser, gütiger hilfsbereiter sein müssen. Es wäre ein Irrtum. In dem ungeduckten Mensch wird Energie frei, die er nicht mehr zur kümmerlichen Behauptung seiner Existenz braucht — er wird sie sofort seinem primären Egoismus zuführen, mehr Macht, Geld, Genuß erreichen wollen; das in günstige Verhältnisse gestellte Proletarierkind wird Unternehmer, Beamter, Offizier, so banal wie irgendein Bürger werden, wenn Sie nicht den Druck der Not, unter dem es stand, durch einen andren ersetzen, denn das tiefste Geheimnis des Menschen ist, daß sein Kosmos nur dann Dichtigkeit besitzt und rotiert, wenn er unter einem atmosphärischen Druck gehalten wird. Statt daß das Proletarierkind durch die bloße Befreiung gut werde, wird es entfesselt werden, es sei denn, daß Sie ihm das Regulativ einer Idee setzen: das ist der Sinn der Erziehung, und dieses Regulativ ist jener Druck — das heißt, genügt nicht, den Menschen zu befreien, es ist erforderlich, ihn danach zu leiten. Energie braucht Form; befreite Energie zerstört die Form. Druck durch Not, eine ausnutzende Kaste, irgendwelche andre materielle Faktoren: das ist niederträchtig; Druck durch eine Idee, ein Erziehungsideal: das ist notwendig.

Deshalb halte ich nicht viel von dem Angebot des Sozialismus, Ersatz für Religion zu sein. Er meint, es genüge, die materiellen Bedingungen des Arbeiters zu ändern, um bereits den bessren Mensch zu erhalten; er ist ganz optimistisch, es fehlt ihm jener Einschlag von Pessimismus, der weiß, daß der Mensch Bindung, Gebot, übergeordnete Ziele braucht — die Herrenkasten, die Konservativen wissen es, auch die Kirche, die darum so gern das Bündnis mit den Regierenden eingeht. Sozialismus ohne eine pessimistisch abgeleitete, optimistisch orientierte Erziehungsarbeit, mit andren Worten Sozialismus ohne das Verhältnis zu Ja und Nein, wird sich als kraftlos erweisen, wenn je der Augenblick kommt, wo er die Macht erhält.“

Aber hier begann erst das Problem, das ihn interessierte: war Naturelländrung durch Einwirkung möglich? Das Proletarierkind, um bei diesem Beispiel zu bleiben, brachte, Befreiung vollzogen, doch sein Naturell mit, das in einem bestimmten Verhältnis zwischen freier und gebundner Energie bestand — es hatte Eigenschaften, die Zellen waren von den Eltern, der Vorgeburt her, imprägniert. Konnte ein Unzuverlässiger zuverlässig, Jähzorniger beherrscht, Eitler sachlich, Zögernder und Unschlagfertiger rasch und bestimmt werden? Hier, in der mitbekommnen Form des Ich, lag die zweite Wurzel des freien Willens und war nur die angewandte Form der ersten, daher man auch fragen konnte: ist Lockrung der Form des Ego, Ändrung des Verhältnisses von freier und gebundner Energie, Verstärkung des Quantums an freier, also Verwendung der Reserven, möglich?

Antwort lautete: unaufhörliche Schläge lösen das festeste Gefüge, sei es, daß der Wille zur Lösung von dem an seinem Naturell leidenden Individuum selbst oder von Erziehern ausging. Lauda erinnerte sich seines Vaters. Dieser war ein weicher, impulsiver, schwankender, ruheloser, unbefriedigter Mensch gewesen, der eines Tags freiwillig schied, als der Ausweg verstellt war, eine zu spät überlegte Handlung Konsequenzen zeigte, wie ein Gläubiger den Schuldschein präsentiert. Er war im Kampf des Willens gegen das Naturell unterlegen, aber er hatte dessen Gefüge so gelockert, daß der Keim des Sohns von diesem Willen neue Richtung, den mystisch elektroiden Stoß erhalten hatte. Was er selbst nicht erreichte, erreichte er generativ: der Nachkomme, gezeugt in einem Augenblick von Energieanstrengung, die für den Vater ein Maximum und doch nicht genügend war, vollzog die Mutation durch einen verhältnismäßig leichten und in frühe Jahre fallenden Kampf — Erinnrung Laudas an Selbstbehauptungskrisen um das zwanzigste Jahr.

Man konnte die Mutation auch in sich selbst dadurch erreichen, daß man zwischen zwei extreme Zustände unendlich viele Zwischenglieder einlegte, fort und fort die unmerklichen Schritte vollzog; doch das war nur denen gegeben, die in sich selbst den Gegner sahn, sich nicht hinnahmen, sondern Widerstand leisteten. Für die Masse galt, daß der freie Wille die Generation zu Hilfe nehmen mußte, und das wurde Lauda die Begründung des sich ihm anbietenden Erziehungsgedankens. Das Individuum genügte nicht; wer das Ja aussprach, wurde dazu gezwungen, in Generationen zu denken; Gestaltung einer Idee, Formung eines Charakters griff in die Zukunft über den Einzelnen hinaus. Errichtung des vollkommnen Staats durch Festsetzung eines Termins und durch die lebende Generation selbst wurde sinnlos: Ablehnung des Terrors von der energetischen Auffassung des freien Willens her, der darin bestand, daß neue Kristallisationsachsen des Kosmos Mensch gefunden wurden.

Aber für seine Person stand er nun tief im Land der gestalteten Welt. Gemeinschaft griff nach ihm, drängte den einst am fernsten liegenden Gedanken der Erziehung im Sinn der Umschichtung auf, wie andre in dieser Zeit sich in den Gedanken der Macht gedrängt sahn — wurde Erziehung die für ihn eigentümliche Form der Tat?

 

Schreiners Tisch und der Laudas im Café standen nebeneinander, bei Lauda saßen Hans und Siriwan. Seitdem in Rußland Lenin und Trotzki Kerenski gestürzt hatten, war Schreiner in ungeheurer Erregung; ihre Ablehnung des Kriegs bedingte, daß sie den Widerstand gegen die Deutschen einstellen mußten — die Frage war, ob sie Frieden mit ihnen schlossen oder einfach die Operationen abbrachen. Ihm war nur der zweite Fall denkbar: sie würden zurückweichen, die Deutschen einmarschieren und sich in dem ungeheuren Land verlieren lassen.

Das Abendblatt wurde ausgerufen, Schreiner stürzte hinaus, als er wieder eintrat, stierte er in die Zeitung:

„Ungeheures geschieht, sie verhandeln.“

So groß war sein Glaube, daß er sich bezwang und sagte:

„Sie wissen, was sie tun, wir übersehen ihre Pläne nicht. Der Friedensschluß des Partners wird in den Völkern der Entente das gleiche Verlangen, der Widerstand der Regierungen die Revolution erzeugen, zwischen zwei Revolutionen wird Deutschland nicht kaiserlich bleiben; es ist im Marsch: die Weltrevolution. An Neujahr ist Europa sozialistisch.“

„Was ist dann?“ fragte Lauda hinüber, „es beginnt die Epoche der äußersten Irdischkeit, der großen Materialität, der souveränen Macht des Staats. Ich leugne nicht, daß es der grandioseste Versuch sein wird, Wirklichkeit nach der Idee zu formen, ganz schöpferisch zu sein — ich stelle nur die Frage, was wird geschehn, wenn Ihre Erwartung nicht eintrifft, daß alle großen Staaten gleichzeitig diesen Willen haben? Im System der kapitalistischen Staaten kann System der sozialistischen nicht bestehn — es kündigt sich an, was der an die reine Idee Denkende vergißt, die Frage der Überführung von Idee in Form. Werden die russischen Arbeiterheere die Revolution nach Europa tragen? Schon daß sie sich bilden, ist Negation der Idee, Rückfall in das von ihnen verworfne Prinzip der Gewalt. Sozialismus darf keine Heere bilden, auch nicht zu Kreuzzügen.“

Danach begab es sich, daß Puck eintrat und erzählte, daß vor der großen bürgerlichen Zeitung Streikende demonstrierten: Steinwürfe fielen auf die herabgelassnen Läden, Patrouillen wurden bedrängt. Schreiner sprang auf, sagte:

„Jetzt fünf Minuten zu ihnen reden können, die russischen Nachrichten vor ihnen verlesen, sie anfeuern zum Glauben, daß heute die Umwandlung der Welt beginnt.“

Er zog seinen Mantel an, ging zur Tür, kam zurück und bat Hans, ihm seinen Überzieher zu leihn, unscheinbaren, sein eigner war mit Pelz gefüttert, ungeeignet unter Demonstrierenden getragen zu werden. Und er vertauschte die Mäntel.

Das war Wirklichkeit gewordner Vorfall aus einem Pamphlet „Der Revolutionär im Pelz,“ dessen grober Ironie man Anerkennung versagt hätte, weil sie zu direkt gewesen wäre. Puck lachte schallend, Siriwan sagte befriedigt: „Der Revolutionär hat sich entschleiert“ und schien nicht erstaunt zu sein; Hans erklärte:

„Die Menschen sind erstaunlich, und es ist mir immer wieder im Innersten fremd, was sie treiben. Warum soll einer, der die Lage des Volks verbessern will, nicht einen Pelz tragen; heißt denn Sozialist sein, den Sansculotten spielen? Statt zu denken: jeder, der im rauhen Wetter zu tun hat, soll einen Pelz besitzen, trägt er den seinigen mit schlechtem Gewissen.“

„Aber er trägt ihn, und darauf kommt es an,“ antwortete Siriwan, „und schlechtes Gewissen besagt nichts andres, als daß er zwischen den Gesinnungen steht, mutlos, unaufrichtig, verlogen, der Intellektuelle, der Schaumschläger des großen Worts, begierig auf die Führerrolle, die nie dem Könner, immer dem Hetzer oder Schmeichler übertragen wird. Tat, Tat schreit er sich und den Geistigen zu und weiß nichts andres darunter zu verstehn als Demagogie. Was ist er? Einer, der die Bequemlichkeiten des Bürgers kennen gelernt hat und zu schätzen weiß, sein Instinkt sagt ihm ganz richtig, daß Aufstieg immer eine Vermehrung von Komfort ist.“

„Nehmen wir zu seinen Gunsten an,“ sagte Lauda, „daß er nicht nur subjektiv unklar zwischen den Lagern steht, sondern objektiv in einem Konflikt ist, gern das Recht auf den Pelz aussprechen möchte, vorläufiges Mißverständnis fürchtet.“

Aber die Verteidigung war matt: auch wenn man statt von Schreiner vom radikalisierten Intellektuellen sprach — die Lüge des Intellektuellen blieb, der nicht so identisch mit seiner Idee wurde, daß er als Proletarier unter Proletariern lebte.

Als Lauda an dem kleinen Hotel der Gasse vorüberging, in der seit Jahrhunderten fahrendes Volk, Varietéleute, Jodler, Soubretten über den Bierhallen des Erdgeschosses hausten, fiel ihm ein, daß Lisbao darin wohnte und bettlägrig war. Er stieg hinauf. Das Zimmer hatte keinen Ofen, es standen Bett, Tisch und Becken; hinter dem Vorhang des Wandschranks hing ein einziger Anzug, den zweiten trug Lisbao im Bett, die Wärme fehlender Decken zu ersetzen. Franziskanische Armut des Poeten — wäre er Poet im alten Sinn gewesen, Dachkammer mit Versen des klagenden Kinds verbrämend, er hätte auf die Dauer Besitz von der Vorstellungskraft des Bürgers ergriffen.

Daß er kein Wesen von dieser Dachkammer machte, gewann ihm Respekt Laudas, dem er die Hand lächelnd entgegenstreckte. Melancholie der leisen Stimme war natürliche Haltung eines, der Rimbauds Flucht aus Paris liebte, ganz anders war, nur Kaffeehaus und die Druckerei kannte, in der er seine Hefte selbst setzte, zwischen Winkelhaken und Holzschnittpresse jeden Handgriff übte. Nie hatte Lauda ein Wort der Intrige von ihm gehört, in einem Milieu von Künstlern und Literaten, dessen Spannungen sich täglich durch Intrige lösten.

Vielleicht vermied er deshalb, Einblick in seine arme Privatexistenz zu geben, weil sich um ihn, den Entfernten und Angreiferischen, für Entfernte und Nacheifernde ein Nimbus wob — es hielten ihn manche für einen Alten und Weisen. Auch konnte man sicher sein, daß, wenn er an den Tisch im Café trat, seine Brieftasche mit Zeitungsausschnitten gefüllt war, in denen das Wort Lisbao blau angestrichen — jeder Charakterzug eines Menschen, dem innren Anstand entsprungen, diente zugleich seinen egoistischen Interessen; es stand ganz in der Willkür des Urteilenden, welche Seite er sehn wollte.

Der Typus dessen, der den Blick für die egoistische Seite hatte, saß neben dem Bett Lisbaos, Brause, Literat aus der deutschen Hauptstadt, Typus in allem, berlinerischer Sprache, Schußfertigkeit des Urteils, Zurstreckebringen. In zehn Minuten war der Kranz der Zeitgenossen durch die unterrichtete Zunge entblättert, es stand die Misere deutscher Geistigkeit in erschreckender Nacktheit. Daß er selbst in einem Propagandaamt saß, war Handlung des Zwangs mit dem jesuitischen Vorbehalt des Klügren. Seinen Einfluß zu beweisen, erbot er sich, Lisbao und Freunde in Berlin berühmt zu machen, genaustes Programm. Halb ward Lisbao verlockt, halb fürchtete er nationalistische Ausnutzung, schädigend in französischen Kreisen. Lauda tröstete ihn, Brause würde hinter der Tür vergessen, was er im Zimmer versprochen hatte.

Heimkehrend fragte er sich, in welche Schicht er selbst gehörte, den Literat nicht liebend, der sich wichtig nahm, nicht den der Bildung und Erziehung hingegebnen deutschen Idealisten, der unfähig war, die Idee des pädagogischen Positivismus zwar zu setzen, aber zugleich durch äußersten Vorstoß des Denkens aufzuheben, und nicht das bürgerliche Lager, das seßhaft in Existenz war und Geistiges zum Schmuck degradierte.

Keine Frage war das, die ihm Qual bereitete; unbedingt abgelehnt nur der Literat, Entfeßler des Worts und Pathetiker der heroischen Geste; möglich das Verhältnis zu Idealist und Bürger — der eine Mitarbeiter, der andre Feld des vor Lauda tretenden Missionsgedankens. Der zu sentimentale Idealismus konnte ersetzt werden durch den, der Synthese aus Ja und Nein war, und das Bürgertum, die Irdischen, war der Boden, aus dem die Jugend wuchs, die Zahl derer herkam, denen man die Idee bringen mußte — eine Verwandtschaft bestand zwischen diesem Boden und dem Mütterlichen, das um einen Grad heiliger als alles andre Leben war.

Es erzeugte das Wort Erziehung, mit dem er nun zu operieren begann, Mißbehagen in ihm. Erziehung war ein zu positiv geladnes, pathetisch moralisches Wort, eifervoll, sentimentalisch. Erziehung bezeichnete nicht das, was er wollte, eine Auffassung, die Komponente aus zwei Gegensätzen, bedingtes Ja war, das seine Bedingtheit nicht fortwährend zur Schau trug, alle Energie des bedingunslosen Ja enthielt, aber durch das Hintergrundsgefühl des Nein straffer, gereinigter wurde. Erziehn wollen war Anmaßung; Erziehen schlechthin, Da-sein, Wirken, Daseiendwirken, mit andren und für sie denken, wäre die Umschreibung des fehlenden Worts gewesen.

So verhielt es sich auch mit dem Begriff Religiös. Er konnte ihn nicht umgehn, denn das Verhältnis von Ja und Nein, Aufhebung von Irdischkeit und Zeitlichkeit durch Totalität war religiös — es war die Quintessenz, wenn man die gemünzten Konkreta Gott und Seele einschmolz und den Stimmungsgehalt ausdampfen ließ, so daß nur die reale Abstraktion, präzise, übrigblieb. Und abermals verhielt es sich so mit dem Begriff Güte; sie war wie Religiös moralisch gerichtet, als Eigenschaft, Besitz, Gebot bestimmt, und sollte von diesen stimmungsmäßigen Beimischungen frei sein.

Diese Fordrung, empfand Lauda, ist nicht Willkür. Die Selbstbespieglung des Menschen in der gewählten Idee der Güte war das, was er Sentimentalität nannte — sie war die Lust, einen Gott gefunden zu haben, in dessen Hände man sich geben konnte: edelste Form der Sentimentalität, aber doch Rührung über sich selbst; das Bewußtsein fehlte, daß dieser Gott Geschöpf des Menschen, Symbol, nicht Wirklichkeit war. Es bestand ein Unterschied, ob man sich unter den Druck begab aus dualistischem Unterordnungsbedürfnis, oder aus einem Entschluß, den man letzthin hygienisch nennen konnte, weil man für seinen Kosmos einen Zustand suchte, in dem er am leichtesten rotieren konnte — Demut des Moralischen wandelte sich in Anpassung an energetische Gesetze um, Mensch trat aus der ethischen Sphäre in die mathematische und war nur so im Stand, Güte, so weite Macht er ihr einräumte, doch jederzeit zurückzuziehn.

Er brauchte nur zu bedenken, wie verschieden an den verschiednen Tagen in ihm, Lauda, der Grad an Güte, das freie Quantum an Güte war. Es gab Tage, an denen sie schlechthin alle seine Anschauungen und Handlungen bestimmte, andre, in denen sie wie ein dekulminierender Stern ein wenig, ziemlich weit, ganz weit abseits stand; und das Entscheidende nun war, daß er für diese Unterschiede keinen objektiven Grund fand, stets sich mit sich selbst im Einklang fühlte. Bereitwilligkeit — Zurückhaltung — Ablehnung; Verzicht auf Egoismus — Einschlag oder Triumph von Egoismus waren Aggregatzustände, so berechtigt und notwendig wie atmosphärischer Niederschlag, der bald Schnee, bald Wasser, bald leichter Morgendunst, verschwunden am Mittag, war. Die Freiheit, naiv atmosphärisch zu sein, darauf kam es ihm an — grundsätzliche Güte wäre Vergewaltigung, Zwangszustand gewesen.

Letztes Ziel, stärkster Trieb in ihm war in der Tat: naiv zu sein; nicht in dem Sinn, daß er Denken, Widerstand leisten, sich selbst Zersetzen je als Hemmung empfunden hätte, sondern in dem des rücksichtslosen Durchbruchs zum Wechsel der atmosphärischen Aggregatzustände.

So kam es, daß nach einem Tag, an dem er sich ganz etwa einer Frau gewidmet hatte, am nächsten dieselbe Frau lästig fiel, weil sie aus dem beglückenden Gestern den Anspruch auf das fortsetzende Heute ableitete. Nichts aber war so schwer, als ihr klarzumachen, daß seine veränderte Haltung heute nicht Verleugnung des Gestern bedeutete, nur Selbstregulierung und die gleiche Naivität wie gestern war: der Konflikt mit ihr wurde unvermeidlich, und es gab nur einen Ausweg — nicht Trost für sie — das Nacheinander der Zustände als Gesetz zu formulieren, das unvereinbar mit dem Wunsch nach Dauer war.

 

Eine der Bühnen der Stadt setzte sein letztes Stück an; eingeladen den Proben beizuwohnen, sprach er mit dem Regisseur, selbstbewußtem Mann, und enthielt sich darauf jeder Teilnahme, vorschützend die ungünstig gelegnen Stunden.

Einiges vom Gang der Einstudierung erfuhr er in der Folge von Graumanns neuer Sekretärin, Else Jakobi, deren Schwester Rutt Schauspielerin war und in einer Rolle des Stücks auftrat. Lob Graumanns ihrer Intelligenz, die er der jüdischen Rasse zuschrieb, veranlaßte Lauda, sie zur Aushilfe heranzuziehn, er hatte für den jungen Rudolfi, der nach Deutschland zurückgekehrt war, noch keinen Ersatz. Sie arbeitete so gut, daß er Graumann vorschlug, sie ganz in die Redaktion zu versetzen. Graumann weigerte sich, da erbot sich Fräulein Jakobi, beide Aufgaben zu übernehmen — Andeutung, daß sie Grund habe, Arbeit zu häufen.

Der Grund war mühlos zu erkennen: Melancholie; ihre Augen starrten manchmal in Grübeln, und die Freizeit der Abende war ihr tot. Kleine Orientalin, warm und üppig, von Wesen ganz unaufdringlich. Sie kam aus einer großen Landstadt des Ostens, wohin die Söhne, Studium beendet, zurückkehrten, um mit der Praxis die Familie zu gründen, suchend unter den Töchtern nach Geldinteresse und dem Rasseideal, der vollbrüstigen Frau, die Vorstellungen befriedigt und gute Mutter ist. Unlust der Schwestern, so zu warten und gewählt zu werden, Provinz nie zu überschreiten, war in Rutt mit Temperament verbunden, in Else mit Ethik.

Als jene Schauspielerin wurde, entließen die Eltern auch diese, der Schwester zur Seite zu stehn. In Berlin liebte Rutt sich durch die Reihe der Schauspielschüler, in dem Augenblick alles wissend, wo sie sich entschloß, ganz wissend zu sein, und zahlte den Preis, um den Erlebnis erkauft wurde; aber Erlebnis war das Mittel, das der Stimme Fülle, den Gesten Bestimmtheit, dem Blut Macht über die Leute gab. Spannkraft wölbte Brücken über die Stationen; die letzte war das Tor, hinter dem die wenigen sich sammelten, die den äußersten Ehrgeiz kannten — vor ihnen die Ebnen der Städte, in denen Gold, Hermelin und der große Name warteten. Sie brannte auf die Fahrt in sie mit den Nerven eines Renners, gewiß anzukommen, und sparte sich nicht für den Grafen auf, gewiß ihn gleichwohl zu finden.

Else, Hüterin nach dem Willen der Eltern, verständigte sich mit der Schwester. Hüten, das war ein Begriff aus der Sphäre des Patriarchalischen, die Welt war anders geworden. Else sah dem Schauspiel zu, das die Schwester gab, nicht abgestoßen, der Verschiedenheit bewußt. Mochte sich auch für Rutt aus Geschehn und Geschehn eine Einheit formen, ihr eignes Wesen war: Einheit bleiben. Sie wurde von den blonden Schauspielern begehrt, die Naturell voraussetzten. Verkehrend im Kreis der Verwandten, fand sie, großstädtisch modifiziert die gleiche Welt, in der die Männer heirateten, klug Sinnlichkeit und Interesse vereinend; sie fühlten, daß dieses schwellende Mädchen mütterlich war, Anträge folgten sich wie die feststehenden Namen der Tage. Else floh; es zog sie nicht an, was diese bewegte, Praxis des Anwalts, des Kaufmanns Gewinn. Sie suchte ein andres Lager auf, in dem die Standarte der sich befreienden Frau wehte.

Wenn sie die überzeugten Worte vernahm, fühlte sie wohl dahinter die mächtige Idee, aber wenn sie die Idee aussprechen wollte, wurden ihr dieselben Worte platt im Mund. Was lag vor? Ein Mangel dieser Worte, die so nützlich klangen; doch sie verstand ihn nicht zu benennen. Andre mochten dasselbe empfinden, sie steigerten die Nützlichkeit in Fanatismus, Fanatismus donnerte gegen den Mann — war sie selbst dem Mann feind? Er gab das Kind, er gab Erlebnis, er war zum mindesten eine der Möglichkeiten der Frau, den eignen Mittelpunkt, das innre Kreisen zu finden — war das nichts?

Berge legten sich vor, ehe sie den Umkreis des Menschlichen überblicken würde, Gang eines Jahrzehnts. Ihn anzutreten, begann sie mutlos zu machen, denn manchmal war es, als sende das noch ferne vierte Jahrzehnt nach dem kaum beschrittnen dritten das aus, was es an Ergebnis barg — Enttäuschung.

Zurückkehrend in den Kreis Rutts begegnete sie einem, der ihr den Punkt, an dem sie stand, geheimes Zögern, Atemschöpfen vor dem Antritt der Reise, mit bestimmtesten Worten benannte; seine Geistigkeit Wirbel aus: Wissen um die menschliche Natur, Spott über die Angst vor Erlebnis, klarstem Befehl, Erlebnis zu suchen. Er galt als Wortführer unter jungen Literaten, die Beschleunigung des Tempos in Stil und Aussprechen verlangten, war über Nacht aus dem Nichts in das Getümmel gesprungen, schon war ihm eine Fahne zugefallen.

Er zog von Stadt zu Stadt, in jeder fand er eine Freundin unter den Töchtern der Bürger; als die erste Dekade erreicht war, begann er die Rundreise von neuem und zwang jene, sich damit abzufinden, daß ein jeder die Folgen einer Begegnung, Sehnsucht nach Dauer, Qual des Alleinseins, Konflikt mit Bürgerlichkeit für sich zu tragen habe; Sehnsucht, Qual, Konflikt waren in Energie zu verwandeln, die Denken und Gefühl in Bewegung setzte; Begegnung war Festtag, und Festtage sind Episoden. Die Konsequenz verlangte, daß es auch der Frau erlaubt war, sein System der Vielheit und des Nacheinander zu proklamieren; da es konsequent war, erkannte er es an.

Er kam nach Berlin und stand vor Else Jakobi — an ihr, den Sinn zu begreifen. Er strahlte wie ein junger Gott in Energie; störend die olympische Gebärde. Sie durchschaute ihn, empfand die Lockung, gab nach; er mochte recht haben, daß, wer den Sprung nicht wagt, den Schritt nicht findet. Woche der Entrückung, Meister lehrte die Novize, vollkommner Kurs, dann reiste er ab, nahm sie in die Zahl derer auf, die er Korrespondentin zu sein würdigte; seine Briefe waren wie neue Berührung mit dem elektrischen Kontakt.

Sie sprach, als Lauda ihr Vertrauen gewonnen hatte, ohne Verhüllung. Ihre Schildrung des Freunds war ironisch, aber auch von einem Fatalismus, der hellsichtig war. Was half es, den Selbstsichren moralisch zu werten? Erlebnissen durfte man nicht fluchen, selbst wenn ihr Gewinn nur Melancholie war — vielleicht hieß Melancholie der letzte Sinn? In guten Stunden erkannte sie an, daß er ihr viel erspart hatte, den Umweg des Herzens und die Qual, verlorne Unabhängigkeit mühsam wiederzugewinnen.

Hätte sie nur gewußt, was mit diesem Gewinn anfangen. Wohltat war, daß die Ländergrenze, schwer überschreitbar, zwischen ihm und ihr lag; da las sie in der Zeitung, daß er zu einem Vortrag kommen werde. Sie erbat Urlaub, um so lang in die Berge zu gehn, zog ihn dann selbst zurück; bleiben und ihm wieder auf acht Tage untergeordnet sein, war weniger feig als flüchten. Lauda gab ihr recht; sie gehörte zu denen, die sich selber heilen, indem sie austragen, was in sie gesenkt wurde, langsam Wandelnde, doch sicher.

Als der Freund kam, erhob er nicht viel Anspruch auf ihre freie Zeit, eine Zuhörerin lud ihn aufs Seegut ein. Dort traf er Rutt, entführte sie nach St. Moritz. Else kam nicht aufs Büro, am zweiten Tag suchte Lauda sie auf, fand sie in einem der Mietszimmer, in denen Frauen zu sehn bewegte; freudlose Wände, nicht der Mühe wert, weibliche Hand daran zu wenden.

„Es ist gut so,“ sagte sie, „er verhalf zur Krise. Das Entsetzliche war, daß ich immer fühlte, etwas müsse noch kommen, um die Erniedrigung voll zu machen; es selbst herbeizuführen, fehlte weniger der Mut, denn ich sehnte mich danach, als die Vorstellungskraft; ich grübelte und fand es nicht.“

Er fragte, ob er es verantworten dürfe, sie allein zu lassen; sie antwortete:

„Am Tag gewiß, die Nächte sind schlimm, aber dann sind Sie ohnmächtig. Gut, daß es Nacht gibt, in der man die Dinge, sich selbst absolut sieht, das Absolute ist die Sphäre des Tods.“

Er hielt sie an diesem Abend durch Beschäftigung hin, dann führte er sie hinunter ins Fremdenzimmer Graumanns, da zu schlafen. Sie nahm an, aber als sie erfuhr, daß er die Nacht durcharbeiten wolle, bat sie, bei ihm lesen zu dürfen. Er begann zu schreiben, legte die Blätter auf den Stuhl, sie griff danach, nach einer Weile bemerkte er, daß sie selbst schrieb. Als er aufstand, sah er, daß sie seine Arbeit abgeschrieben hatte.

„Warum tun Sie das?“ fragte er, „Abschrift hätte nur Sinn, wenn sie mit der Maschine in vielen Exemplaren angefertigt würde.“

„Ich weiß, ich wollte nicht Ihnen helfen, sondern mir. Geistiges vom Keim bis zur Ausbreitung zu verfolgen tut wohl, es gibt nichts andres, was standhält. Ich fing zuerst das Buch einer Politikerin an, dann kam der Wunsch, die stärkre männliche Energie zu spüren, stärker weil sie weiter und duldsamer ist. Liegt in der Tiefe nicht das Gefühl, daß alles auch anders sein könnte, als es ausgesprochen wird? In den Büchern der Vorkämpferinnen begegne ich ihm nie.“

Sie bereitete den Kaffee der zweiten Morgenstunde, danach sprachen sie von dem, was der Frau bleibt, die jenseits der Ehe getreten ist.

„Als die Frau noch aufs Haus angewiesen war,“ sagte Lauda, „gestern noch, war sie derjenige, der kraft des Gehorsams gegen die Tatsächlichkeiten von Geschlecht und Wirkungskreis, identisch mit ihnen zu bleiben vermochte, allein dauernde und reine Menschlichkeit erreichte, weil er duldend war. Herr bleiben, also identisch sein, diese Idee des Manns, ist nur eine Fiktion, ein künstliches Ideal. Jeder Mann ist nur eine Zeitlang, periodisch, identisch mit Sinnlichkeit oder Geistigkeit; zuletzt ekelt ihn immer vor sinnlicher Unverbindlichkeit, die Güte ausschließt, und vor Güte, die totale Befriedigung des Sinnlichen verbietet. Der Mann, nicht die Frau, war damals der ewig Zerrissne; er ist das Geschöpf, das die Bekehrungen, die Sinnesänderungen, das Nacheinander erfunden hat; er ist der Zerstörer der Bindungen.“

„Und heute ist die Frau wie er, zerrissner als er, weil selbst das Nacheinander nicht ihren Instinkt übertäubt, daß sie sich Gewalt antut. Wenn wir nicht krampfhaft sind, glauben wir nicht an die Illusion, die in den politischen und andren Freiheitsidealen liegen könnte. Keine von uns gibt zu, wie schwer es uns fällt, einsam zu sein, nur auf uns und Abstraktionen angewiesen; jede hat die Sehnsucht nach Bindung durch den Mitmensch, der Geliebter oder das Kind heißt. Als ich mich damit quälte, etwas zu tun, was mich zugleich ganz meinem Freund auslieferte und dann von ihm befreite, kam ich auf den Gedanken, ein Kind von ihm zu haben — sein Triumph, denn bereits proklamiert er die zwanzig Kinder, die von ihm zeugen sollen, und danach meiner, wenn ich ihn, Dienst erwiesen, gynokratisch verabschiedet hätte.“

„Warum haben Sie es nicht getan?“

„Weil er mir die Gelegenheit nicht mehr gab, sondern an Rutt Gefallen fand,“ antwortete sie mit einem Lächeln, das plötzlich in ein Lachen überging, helles, befreites.

„Ein wenig Kaffee,“ sagte sie, „ein helles Zimmer, und das Blut pulst mit einer Leichtigkeit, als könne es nie anders sein. Morgen früh werde ich es ebenso unbegreiflich finden, daß ich leicht war; nicht eine Spur des gegenwärtigen Zustands wird geblieben sein, selbst wenn ich ihn mit der größten Willensanstrengung suche. Was für ein barometerhaftes Gebilde ist ein Naturell — ich denke das oft, wenn ich eine Geschichte lese oder im Theater sitze: immer sind die Menschen der Literatur unveränderlich, als liefen sie, einmal in Bewegung gesetzt, auf Schienen. Ist das Wesen der Kunst oder Ohnmacht der Dichter?“

Lauda: „Fast immer Ohnmacht, ganz selten Stilisierung zum Zweck der Vereinfachung. Die Einheit von Zeit und Ort hat man längst aus dem Drama verabschiedet, die Einheit des Charakters ist noch unangetastet und macht die Dichtungen so unzulänglich. Von hier aus könnte man die ganze Welt der Kunst aus den Angeln heben — um am Ende die Einheit des Charakters doch wieder einzuführen, allerdings eine neue, härtre, gereinigte.“

Else: „Warum wird es mir morgen früh nicht gelingen, die Stimmung von jetzt zu verwerten? Glauben Sie, daß man es überhaupt könnte?“

Lauda: „Durchaus. Das ganze Geheimnis, das eines der wesentlichen ist, besteht darin, daß man einen neuen Gedanken, eine neue Willensrichtung hundertmal wiederholen muß, bis sie geläufig, vertraut, aktivistisch werden. Sich seiner augenblicklichen Stimmung, die nur ein andres Wort für Dichtigkeitszustand des innren Kosmos ist, entgegenstellen — das ist Widerstand der freien Energie gegen die gebundne. Nicht das Ich stellt sich entgegen, sondern im Ich ein kleines Quantum freier Kraft dem großen der unfreien. Verstehn Sie die Tragweite? Es ist eine Erklärung des Phänomens Ich. Ein Freund, d’Arigo, spielte diesen Vorgang, daß das Ich sich auflehnt, als Beweis der Seele aus und sah in ihr ein selbständiges X, das souverän die Körperlichkeit reguliert. Das ist natürlich dilattantischster Dualismus. Freier Wille heißt: das Quantum ungebundner Energie vergrößern und danach als Widerstand trainieren. Wenn irgendwo der Punkt ist, wo indische Willensreglung und das banale europäische Wie werde ich energisch sich decken können, dann hier.“

Else: „Sie sind gütig zu mir, warum?“

Lauda: „Weil Sie keinen Anspruch auf mich erheben, ich nicht an Sie. Darum besagt es auch noch nichts über meine wirkliche Fähigkeit zur Güte, und ich weiß nicht, ob ich sie frei machen könnte, wenn ich die Stelle Ihres Freunds einnähme. Güte trotz Verpflichtung ist etwas durchaus andres als Güte aus Stimmung.“

Und da es die Stunde der Vertraulichkeiten im nächtlich stillen Zimmer war, fügte er hinzu:

„Ihr Bericht seines Wesens wirkte auf mich wie mein Verkehr mit Siriwan — irgendwo schneidet auch Ihr Freund sich mit mir, und als Ihre Schildrung, nur durch Aneinanderreihung der Tatsachen, ungewollt ironisch wurde, empfand ich, heiß und unbehaglich es wäre leicht, auch deine Gastspiele unter den Töchtern der Bürger in dieses Licht zu rücken. Unterschied mag da sein, als Verzicht auf die olympische Gebärde, von der Sie sprachen. Wenn ich etwas bin, so Antipode des Schauspielers, worunter ich den verstehe, der aus dem magischen Wechsel seiner Wallungen rasch irgendeine Form zusammenrafft in der zwitterhaften Absicht, zugleich Einheitlichkeit zu haben und auf die Tiefe seiner Verwandlungen schließen zu lassen; Eitelkeit ist Stolz auf Tiefe.“

„Geben Sie mir einen Rat, nennen Sie eine Idee, eine Tätigkeit, in die ich mich retten kann, wie man in ein fremdes Land geht, sich eine neue Existenz zu schaffen und — Abstand zwischen sich und die alte zu legen.“

Er betrachtete sie, sah ihre jüdischen Züge, sagte:

„Zuerst wollte ich Ihnen Frauenbewegung oder Pazifismus nennen, alle diese Bestrebungen haben den großen Illusions- und Beschäftigungswert — es kommt mir ein andrer Gedanke: arbeiten Sie im Zionismus. Er wird Wirklichkeit werden, wenn die Türkei zerschlagen ist und England sein Versprechen einlöst.“

„Was wissen Sie von ihm?“

„Nichts als daß er jede andre Idee, die auf Staatengründung ausgeht, durch seinen Gehalt an überrealen Gefühlswerten übertrifft, also religiöse Bindung ermöglicht.“

„So könnte ein Konservativer sprechen.“

„Wer sagt Ihnen, daß Konservativismus als Idee nicht weiser als jeder Radikalismus ist? Niemand kennt sich, auch ich nicht mich. Manchmal habe ich das Gefühl, von mir und nebenbei von allen, die die Bindungen lockern, daß wir wider unsren Willen in das scharfe, künstliche Licht des Rationalen schreiten, von einem Dämon gestoßen, der nur Verführer zu Erkenntnis ist. Wir können uns nicht anders verhalten und wir sollen es auch nicht, denn es liegt wohl ein Gesetz der nach irgendeinem Mittelpunkt vorrückenden Kosmen vor, und man kann nur ahnen, daß die Erkenntnis eine neue Naivität ermöglicht — immer wenn ich handeln muß, glaube ich sie schon zu haben. Temperament kann immer ungebrochen sein, gleichgültig, wieviel Hemmungen es durchschritten hat. Immerhin zeigt sich, daß das, worauf der Mensch seine ganze Energie konzentriert, der freie Wille, auch seine problematische Seite besitzt: Züchtung von freier Energie sprengt die Bindungen — ohne Bindung kann man nicht leben, und wenn ich mich als Kosmos, Bruder des Himmelskörpers Mensch empfinde, von Druck, Achse und Rotation spreche, denke ich nur ein andres Wort: Bindung, diese Legierung von Ja und Nein; denn gebunden wird das Nein, die Sehnsucht nach der Totalität und der tödlichen Rückkehr. Mit andren Worten, Bindung ist Demut, Gehorsam gegen den Zwang zur Existenz, Bindung ist Scheu vor dem zu Radikalen, von dem man sagen kann, daß es sich nur der Maske der äußersten Energie bedient und in Wirklichkeit Gehilfe des zerstörenden Tods ist. In diesem Sinn ist Bindung konservativ, in demselben Sinn konservatives Denken religiös.“

„Sie lösen sich vom Radikalismus, bevor er sichtbar geworden ist.“

„Darf man der Zeit nicht vordenken?“

„Man soll mitdenken,“ sagte sie.

„Ja, aber das einfügen, was überall eingefügt werden muß und die eigentliche menschliche, geistige Leistung ist, den Widerstand. Ist eine Betrachtung, die den Widerstand in den Mittelpunkt stellt, nicht konservativ?“

„Sie kann nicht umhin, auch dem verwirklichten Konservativen Widerstand entgegenzusetzen.“

„Nichts kann wahrer sein, Sie legen das System der Denkströme bloß, die Ebbe und Flut, lebende Vorgänge der Mensch genannten kleinen Welt sind. Das Nein, das die Positivismen des Lebens in Frage stellt, ist nur ein Phänomen des Ja, das sich durch Widerstand verstärken will, und das Ja des Radikalismus ein Phänomen des Nein, das die Lockung des größten Glücks vorschiebt, um das Jasagen tödlich zu treffen.“

 

Sie hatten sich am nächsten Morgen kaum an die Schreibtische gesetzt, als Rutt gemeldet wurde.

„Ich komme,“ sagte sie, „weil ich mit dem Regisseur in der Auffassung meiner Rolle uneins bin, Sie sollen entscheiden.“

Sie berichtete; es erwies sich, daß das Tempo einer Figur nicht geändert werden konnte, ohne alle andren zu beeinflussen. Der Regisseur arbeitete mit Hebeln und mit Schrauben, holte die Sätze schwer hervor, ließ sie langsam zerfließen, starre Lava, und goß das Dämmer wechselnder Lichtmagie darüber. Lauda nahm das Buch, las den Partner, bat Rutt, ihre Rolle zu sprechen. Vollkommne Harmonie, rasch rollten die Szenen, leise gedämpft — Beschleunigung und Abstand waren die Absteckungen, zwischen denen zwei Stunden Geschehn sichtbar wurden, aufschwellend wie Kammermusik, danach nicht mehr. Schauspieler durfte nicht lebensgroß, wuchtige Materie sein; fern Pathos, Agieren; Gestalten sind, überflüssig, daß sie sich erklären; Probleme knüpfen sich, lösen sich wie eine Schleife, Lauda legte keinen Wert darauf, den Zuschauer durch sie aufwühlen zu lassen — Zuschauer sollte zuschaun. Zuschauer sollte bleiben, was er war, dem Schicksal Andersgearteter, Verstrickter beiwohnen.

Es gab andre Stücke, elementarere, wie es neben Kammermusik die heroische gab — dieses Stück war, wie es war, also galt es, seinen Stil einzuhalten. Rutt, die nervenzerrende Rollen liebte, hatte verstanden, daß sie hier Härte unter zarter Hülle und süßem Dunkel verbergen mußte — am Regisseur, gleichermaßen zurückzustellen, was er gelernt hatte, den großen Apparat, und sich unterzuordnen.

Lauda begleitete Rutt auf die Probe, griff ein, ließ von vorn beginnen, warf das Tempo von Grund aus um, reduzierte Kulissen auf ein Minimum. Konflikt mit dem Regisseur trat, dem Direktor anheimgegeben, in das Stadium, wo Ausgleich unmöglich wurde. Lauda verlangte die Regie für den Rest der Proben und den Abend selbst, drohte öffentlich zu widerrufen, drang durch, indem er dem Regisseur den nominellen Oberbefehl überließ, und sah sich auf zwei Wochen als unumschränkten Herrn über sechs Menschen und die Trabanten. Es war Vergewaltigung — wie immer beim Sprung in die Tat empfand er, daß, wenn er handelte, er ganz handeln konnte, Geistigkeit wie ein Fächer war, den man schloß und zum Dirigentenstab machte: kurzes Klopfen, Heben, — und die klirrende Symphonie begann.

Rutt sagte:

„Elses Freund und Sie sind absolute Gegensätze; er faßt die Energie in anfeuernde Formel, Sie üben sie aus, undenkbar, daß Sie an irgendeinen Gedanken Worte wenden.“

Er lachte, antwortete:

„Fragen Sie andre, sie werden Ihnen sagen, daß ich der sei, der den Entschluß durch Reflexion hemme. Weil sie weder Denken noch Tun des andren naiv nehmen, sondern die Dilettantenkunst des Schlüsseziehens üben, zwingen die Leute, fast selber Schauspieler zu sein, Denken und Tun wie eine Maske zu tragen. Ihnen gegenüber, Fräulein Rutt, werde ich allerdings nie philosophieren, nur handeln; Sie fordern heraus, zum Tun, zum Spiel der Klingen oder zum straffsten Gegenübertreten. Warum, fragen Sie? Weil Sie ganz im Vordergrund Ihres Wesens leben, zu bestimmt, zu unmittelbar Energie in Handlung umsetzen.“

„Was tun Sie denn andres,“ fragte sie erstaunt; „wenn man Sie auf den Proben sieht, zugreifend, jäh in eine Trägheit oder auch Verdrossenheit fahrend, leben Sie doch auch im Vordergrund Ihres Wesens.“

„Und mache doch nur Vorstöße aus seinen Hintergründen — nichts ist so sehr Instinkt in mir, als die Brücke nicht abzubrechen. Als ich noch die Form meines Naturells suchte, zog ich mich oft zu früh auf die Brücke zurück, war feig, ließ im Stich — man darf die Brücke nur in der äußersten Not benutzen, wenn man aus dem Absoluten dem Tun neue Kräfte zuführen muß.“

„Wie dem auch sei,“ antwortete sie, „Sie sind für mich so, wie ich Sie kennen gelernt habe, und manchmal denke ich, daß Sie der seien, dem ich einen Vorschlag machen möchte, einen nie ausgesprochnen, weil der Partner fehlte.“

Aber sie lenkte ab, als er ihn hören wollte.

„Wie seltsam ist Ihr Name,“ sagte er, „was ist Rutt, eine Abkürzung?“

„Eine Umwandlung aus Ruth. Mit dem Namen Ruth sind zu bestimmte Vorstellungen verbunden, als daß ich ihn hätte tragen können.“

Lauda machte Barbara mit Else bekannt, nur andeutend, daß es galt, einer schon wankenden Melancholie den letzten Stoß zu geben. Er fürchtete, der Optimismus Barbaras möge Else zu derb erscheinen — unnütze Furcht, er wurde Zeuge des Gemeinschaftsgefühls von Frauen, das ein Wissen um Nöte des Erlebens war. Barbara stellte Derbheit zurück, bis sie wagen konnte, die Männlichkeit jenes Freunds als die eines Tenors zu erklären. Und sie drang mühlos zum Kern des Mädchens vor, führte sie in die Sphäre des Kinds und der zu betreuenden Mütter.

Auch mit Hans machte er Else bekannt, ohne Absicht, sah unerwartet den Freund von der kleinen Schwester Barbaras zu der noch weiblicheren Orientalin übergehn, aber hilflos werden vor ihren geistigen Interessen, dieser Bereitschaft für praktische Dinge. Ahnend, daß sie Kummer erlitten habe, erkundigte er sich bei Lauda, faßte die Begegnung mit dem Berliner Freund so natürlich auf, daß ihm der Gedanke andrer, man müsse sich darüber hinwegsetzen, gar nicht kam; aber beim Versuch, mit ihr davon zu sprechen, hatte er nichts zu bieten, als die Empfehlung des Wechsels, Selbstquälerei des Zwischenstadiums für unnaives Übermaß an Seele erklärend — sie fand ihn täppisch. Der Ansatz zur Werbung scheiterte kläglich, er war vom Stamme derer, die sich die Frau selbst nimmt. Siriwan wirkte auf Else zynisch, auf Rutt als männlicher Kavalier; sah er sie an, trat in seine Augen der Blick, mit dem Männer Kokotten auf die Verheißung äußerster Dinge schätzen.

Es waren die Schwestern in allem Gegensatz, gleichwohl so jüdisch die eine wie die andre — wie war Einheit bei so viel Verschiedenheit möglich? Es gab zwei jüdische Typen, wie es sie unter allen Menschen gab, den in der zeitlichen Sphäre heimischen und den religiösen. Waren Menschen dieser Rasse materiell, so waren sie es ganz; für ihre Leistung im Reich des Absoluten erübrigte sich der Beweis. Temperament im weltlichen Sinn hatte nur der Bewohner der sichtbaren Sphäre, der andre hatte Stoßkraft, Vorstellungskraft, Ideenkraft. Wenn es rationalistisch gerichtet war, bewegte sich jüdisches Temperament leichter, sichrer, anmaßender als jedes andre auf der Oberfläche der Dinge, stets noch vermehrt um den Hunger nach dem Anteil, die egoistische Energie — sie schwammen in der Materialität wie Raubfische im Wasser; Lehrzeit und Verpuppungsstadium waren abgekürzt, sie sprangen wissend in die Arena, mit dem glänzenden Blick, die Frauen so eifrig wie die Männer, aber die Frauen dieser Art unbeschwert von der Melancholie der Männer, ganz Energie — geborne Trägerinnen des Radikalen, unfähig, jene Bindung zu finden, durch die die vitale Energie so tief versenkt wird, daß sie Geheimnis wird.

Versenkung der Energie und Befreiung der Energie, das bedingte den Unterschied von Vordergrundsmenschen und Religiösen — religiös nach Laudas Definition der, der Ja und Nein vereint. Und dieses Verhältnis von Versenkung und Befreiung erlaubte auch, die tiefre Gleichheit beider Typen zu behaupten, wie die aller menschlichen Wesen. Praktisch gesprochen, wies die Melancholie Elses darauf, daß ihr die geistige Sphäre zugänglich war, wie allgemein die Melancholie der jüdischen Menschen Ausstrahlung der stärkren Geistigkeit war — den rationalistischen Frauen fehlte sie, trat höchstens als Surrogat Fanatismus auf; wo auch das Surrogat fehlte, drohte Selbstverbrennung der Energie, die sich in den kleinen Explosionen der täglichen Verausgabung vollzog, siehe Rutts Mitreden, Dabeisein, sofortige Umsetzung jeden Impulses.

Ein paar Tage darauf erzählte ihm Else von Vorstellungen, die Rutt an die Person Laudas knüpfte, wünschend, daß Else den Weg zu ihm ebne, und den Wunsch verleugnend. Sie träumte von einem Bündnis zweier Energien und Intelligenzen, deren eine die ihrige war, die andre die des zu findenden Manns. Da sie Schauspielerin war, glaubte sie den Partner in dem Dramatiker gefunden zu haben; Ziel: die Erobrung der Zukunft, Mittel: kopulierter Ehrgeiz, Zusammenhalten, gemeinsames Arbeiten, Schaffung von Verbindungen und Benutzung einer jeden unter Schultergefühl; so steigen, wie es zwei klaren Willen möglich war, sehr hoch, ganz weit.

Lauda sagte:

„Ihr Freund, Fräulein Else, wäre der gewesen, den sie hätte wählen müssen; Tenor und Diva sind nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich von der gleichen Welt. Nichts könnte mir ferner liegen, als meinem Ehrgeiz durch Organisation nachzuhelfen. Wie ich naiv leben, nach innrem Gesetz bald denken, bald handeln, bald mich binden, bald mich befreien will, soll auch Wirkung auf andre naiv sich vollziehn; hat man Wirkung, ist es ein natürlicher Vorgang, bleibt sie aus, desgleichen. Niemand weiß, ob das, was er sagt, Wert hat, mag er es als noch so neu empfinden; man kann es nur feststellen. Reisender im eignen Ruhm sein ist so anrüchig wie den Leuten einen Fabrikartikel aufreden.“

 

Wenn ich auch nicht Kaiser dieser Stadt bin, kann ich doch ihr Harun sein,“ sagte er, auf der Brücke Siriwan begegnend, an einem der Abende, an denen er durch Straße, Fabrikviertel, Restaurants der Reichen und Vorstadtkinos ging. Siriwan lächelte mit dem Blick des Augurn, wenn er Lauda so begegnete:

„Man muß methodisch, gründlich und immer allein streifen,“ sagte er, „es ist das wahre Kennzeichen des selbständigen Menschen, die andren werden schon feig, wenn sie fünfhundert Meter vom Zentrum sind.“

Noch einem dritten begegnete Lauda oft, Schreiner — diesem in den armen Vierteln und immer einem über die menschlichen Höhlen, die Schnapsschenken, die lieblosen Vergnügungsorte Stöhnenden. Ein vierter wäre denkbar gewesen, der, der aufsucht, sieht, leidet und nicht spricht, sich vorbereitend auf den Tag, wo Sprechen nicht mehr Wort, sondern Lehre ist — er hätte vielleicht gesagt, daß Partei, Organisation, Selbsthilfe nicht das Wesentliche seien, wie Christus nichts von diesen Dingen gesagt hatte. Was hätte er also sagen können? Daß wesentlicher sei, das Reich in sich zu suchen, die Bürde der Existenz in sich zu erleben? Was hätte es dem Armen, Ausgestoßnen, Schwachen, Mutlosen geholfen? Die Bürde des Existierenmüssens nicht vergessen: das war Mahnung an die, die irgendwie fest und geordnet lebten; der, der unter der Bürde stöhnte, verlangte andres, Lindrung, und Lindrung bot ihm die Partei, die Hoffnung auf Vergeltung und Umsturz.

Wie anders war die Situation als zur Zeit Christi; es ließ sich der Mensch nicht mehr auf die innre Zukunft verweisen; Resultat von zwei Jahrtausenden hieß: Mißtrauen gegen die Lehre der Demut, denn Demut hatte zu dem System geführt, das von dem Besitzenden nur die Steuer des Almosens erhob, Kirche hatte ihren Frieden mit den Mächtigen gemacht.

Sinn dieser Streifzüge war Lauda, das zu erkennen, Tragik des Christentums zu fühlen, das gezwungen worden war, die Idee der Nichttat, des Religiösen, durch Tat zu verwirklichen. Mission für das Reich des Mehr-als-Irdischen treiben, hieß zu den Mitteln des Irdischsten, der Organisation greifen. Darum hatte, als das Christentum gescheitert war, der Sozialismus die Verwirklichung der Idee auf ganz materiellen Wegen unternommen: Organisation der Kräfte und Wille zur politischen Macht.

Kein Christus war mehr möglich, die Menschen hätten ihn gefragt: und was rätst du zu tun? Man hätte ein Programm von ihm verlangt, und Programme sind irdischer als alles andre, so fern dem Pessimismus der Religionsstifter, der Mißachtung des Leibs und des Staats. So war das Zeitalter, in dem wir alle leben; unmystisch, unlegendisch, unreligiös auf immer. Staat war der Gott, Gesellschaft die Form, mit der sich jeder Gedanke, jede Energie verbinden mußte, wollten sie überhaupt Form annehmen und mehr sein als Rezept für Individualismus. Noch gestern, dachte er, lebte der letzte große Christ, Tolstoi, begann das Beispiel bei sich und dem kleinen Kreis, der um ihn war — die Ausdehnungskraft dieses Kreises, wie schwach blieb sie, auf das Gut beschränkt; Dorf, Provinz, Land, Staat konnte sie nicht erreichen — es war vergrößerter Individualismus, Nachfolge Christi als Angelegenheit des Privatmanns.

Keiner heute, keiner in Zukunft wird mehr lehren, mehr erreichen können als dieses „Beginne bei dir selbst“, Beispiel sein, Da-sein, nach seinen Kräften wirken, und das war der tiefste Sinn des Pädagogischen; aber welche Tragik darin — unsre Tragik, des Menschen Tragik, dem Ideen, sobald sie aus der Sphäre des Elementaren in die der Materialität traten, zu Materie erstarrten, nützliches Handwerkzeug wurden.

Er hatte an diesem Tag das Buch einer Gruppe junger Dichter gelesen, Aufständiger gegen solche Irdischkeit. Haß darin gegen die sichtbaren Formen, in denen Weib nur Frau der gesitteten Welt, Mann nur Nutztätiger war. Dichtung ward als das Ewige und folgerichtig als Sprengung der bürgerlichen Regulative proklamiert; nicht weniger als drei hatten Frauen gestaltet, die sich, die einen aus Demut, die andren aus Sehnsucht nach dem Totalen, die dritten aus Fanatismus der Weibidee vielen, allen maßlos hingaben, keusch zuchtlos, schreiend brennend — was war es? Literatur, Ding für sich, denn alles blieb Literatur, was das Elementare absolut in die Welt des Existierenden werfen wollte; Existenz hieß Kontrolle des Elementaren; Existenz war Form, Form Rationierung des Elementaren.

Die Kritiker und die vom Bürgertum verehrten Dichter selbst hatten schon längst die Philosophie auf den Zwang gemacht, Elementar hieß ihnen Mildrung des Materiellen und Ewig Menschlichkeit — sie hatten das Pathos des Elementaren, nicht es selbst, sonst wären sie Zerstörer gewesen, denn das Elementare war, insofern es auf das schon Bestehende traf, Prinzip des Umsturzes, und es war, absolut betrachtet, doch zugleich die Ursache dieses Bestehenden; Entschluß des Urwillens zur Existenz war Selbstverurteilung zur Form.

Und er, Lauda, stürzte von neuem in den Abgrund, der sich zwischen ihm und Künstlertum aufgetan hatte, als es ihm feststand, daß Dichter und Künstler nur Leute waren, die das Elementare in maßvoller Dosis dem Materiellen zusetzten. Aber die Wirkung war heute anders; Ja war zu stark, denn starkes Nein hätte in drei Tagen zur selbstvollzognen Auslöschung geführt; Ja war zu stark, und es ergab sich Abfindung mit dem Gedanken, daß

Kunst Dosierung ist,

Handeln Kompromiß,

Leben Hut vor dem Elementaren,

Alle menschlichen Angelegenheiten banale Tapferkeit, maßvolle Abfindung sind,

Menschen sich nicht zerstören wollen, Lobpreisung der Kunst als einer Verschönrung und Beschäftigung Wert hat,

Der Radikale, der vor dem Meer von Leid stehn bleibt, ohne sich zu töten, es mit der großen Geste an deklamierend, ein Lügner ist,

Ein wenig Glück besser ist als die Ohnmächtigen nicht zur Ruhe kommen lassen,

Alles Starke, Elementare, Kompromißlose sich auf die einsamen Stunden des Einzelnen beschränkt und der der Anständigste ist, der doch nicht zum Egoist wird, sondern dem Bruder das Recht gibt, ein wenig hilft, ihm den Glauben an die Allmacht von Ideen, Tat, Kunst und Gedichtetem nicht zerstört.

Er war nicht Schreiner, nicht Siriwan, nicht der vierte imaginäre, nie mehr wiederkehrende Christ aus Nazareth, er ging in diesen Nächten einfach auf die Begegnung mit Menschen aus,

Zu fühlen bei ihrem Sein und Tun die Verschlingung der beiden Ströme Ja und Nein,

Dem Ja, in dessen Lichthälfte er nun getreten war, nicht so untertan zu werden, daß er streitbarer Optimist wurde,

Von Leid, Elend, Schmutz sich ein Wissen zu wahren, denn der Mensch war ein Wesen, das, was es war, ganz war, nicht aus Stärke sondern aus Ohnmacht: das Hirn vergaß, suchte zu beharren.

Siriwan hätte Lauda nicht verstanden; Lauda sprach mit den Mädchen, die jener bei ihm gesehn hatte, nicht, weil er auf die Jagd nach der Nachtbeute ging, sondern weil sie die waren, die über den Weg liefen. Er erfuhr Biographien, so gleich an geschminkter Lüge und so verschieden an Zustand, Motiv und Herzenston, daß er, wäre er noch Autor gewesen, auf Material versessen, die weite Anlage des Werks Balzacs hätte planen können.

Das war so fern, die Zeit war derart beschaffen, daß es des Romanhaften zu viel wurde; die Zeit lockerte in solchem Maß das Feste, das gewesen war, daß sie Krepierende wie die See Fische auswarf; ein Angebot an Material, Schicksal, Variation fand statt, daß Überdruß in ihm entstand, Verzicht auf Material, das nicht mehr vom Dichter gesucht werden brauchte, sondern dem Zeitungsschreiber auf den Tisch flatterte.

Oft war zu helfen, er half oft, durch Graumanns Geld; gleichwohl, es wuchs ein Gedanke, der nur deshalb nicht Zynismus war, weil er bitter war: daß wichtiger als die schon Leidenden die noch nicht Leidenden seien, deren Jugend, sei es die physische, sei es die innre, sich noch durch Einwirkung, Lehre, Beispiel in Energie verwandeln ließ. Den schon Leidenden helfen, daß sie, in irgendeinen Winkel kriechend, schlecht und recht den Rest ihrer Jahre ablebten; aber diejenigen aufsuchen, die noch dem Existenzableben Existenzgestalten entgegensetzen konnten, der Passivität die Aktivität, die Wille zur Mutation war.

Welches Regulativ blieb, es den Menschen zu lehren, nachdem das größte gelehrt war, das sentimentalisch Güte, sachlich Anerkennung der Gleichberechtigung des Mitgeschöpfs hieß? Man konnte die Güte ihres dualistisch-theologischen Charakters entkleiden (denn sie war nicht jenseits des freien Willens als Imperativ in uns gelegt) und ihr statt der moralischen Färbung die tragisch-reale geben (die von Natur aus Feindlichen und vom Totalen her Getrennten verbinden sich gegen das dämonisch gleichgültige Abrollen, Brüder durch Widerstand); aber das war nur eine Reinigung des Begriffs Güte, der dadurch allerdings aus einem Sittengesetz zu einem Regulativ, einer der großen starken Künstlichkeiten wurde, mit aller Einsicht in ihr illusionistisches, idealistisches, nie zu verwirklichendes, nur den Egoismus modifizierendes Wesen.

Lauschte er in sich, schien es ihm, es gäbe noch andre, neue, nie ausgesprochne Formen des Widerstands, Keime einer künftigen Erziehungslehre. Sie lagen nicht auf der Linie der Radikalisierung, sondern der innren Energie, die in neue Kontinente des Hirns vorstößt, sie findend, indem sie sie erschafft, und nicht auf der Linie der Tat, die versklavt, sondern der geistigen Freiheit.

 

Als er nach Hause kam, fand er eine Mitteilung der Behörde vor, die ihm die weitre Herausgabe seines Blatts verbot; die deutsche Regierung hatte Vorstellungen wegen Verletzung der Neutralität erhoben. Auch Fünfkorn war das gleiche Schicksal widerfahren, aber die Entente hatte ihn geschützt. Da niemand hinter ihm stand, wußte Lauda, daß der Berner Entscheid unwiderruflich war.

VI

Achtzehnhundert Meter über dem Meer lag der Ort, sechshundert über dem Ort das Hotel; steilste Leiter verband sie, die Zahnradbahn.

Mehr als zweitausend Meter über den Ebnen stehend, in denen sie töteten, weil sie nicht einig wurden, ob ein Streifen Land dem Reich im Westen oder dem im Osten gehören sollte, empfand er die Verlockung des Hochmuts, der die Menschen unter sich sieht. Jenseits des Tals öffnete sich die ewige Weihnacht des Gletschers, und in der Schußlinie einer Kette von Seen erblickte er das Dorf, in dem Nietzsche dem schwachen Körper die starken Gedanken abgerungen hatte.

Einsamkeit, ihm selbst einst lustvolle Vorstellung, gefüllt mit hundert Reizen, wie ein andrer sich Liebe der Kinder, heiligen Abend, Walten der Lebensgefährtin ausmalt; Einsamkeit, einzige Möglichkeit, um Gebot des Egoismus und gutes Gefühl für Menschen zu vereinigen, weil gerecht gegen Menschen nur ist, wer nicht die Personen sieht, einzige Möglichkeit auch, naiv zu leben, fern der Ungeduld über die Konsequenzen, durch die eine Begegnung getötet wird, Einsamkeit war nicht mehr Realität, nicht die ohne Zögern gegebene Antwort auf die bisweilen gestellte Frage, wie er die Zukunft des nächsten Jahrzehnts wünsche, sondern hatte sich in ein Ideal verwandelt, das verwirklicht matt geworden wäre.

Wer Verweilen in der Arena der Menschen verwarf, so entschlossen dem Absoluten sich zuwandte, daß er jenseits der Manifestationen des Absoluten stand, solches Heimweh nach der Totalität hatte, daß seine Antwort auf die Frage Ja-Nein dadurch bestimmt wurde — er mußte das Leben von sich werfen, es sei denn, daß er gläubig war und die Bürde als Geheiß seines Gotts trug.

Fehlte dieser Glaube und wählte er doch die Einsamkeit, dann log er, denn er suchte nur einen Annäherungszustand des Nein und ließ sich noch vom Ja bestimmen. Aus der Einsamkeit die großen Worte in die Ebne hinabsenden: hinüberschauend nach jenem Sils-Maria, ahnte er, wieviel nutzlos verbrauchte Energie dazu gehörte, das Pathos der Distanz durchzuführen — so viel, daß sie genügt hätte, in der Gemeinschaft der Menschen sich zu behaupten, teilnehmend an ihren Angelegenheiten, der Kausalität dieser Angelegenheiten nicht zu verfallen und souverän zu bleiben. Einsamkeit war der Mantel der Größe, in den sich der hüllte, dessen Widerstandskräfte versagten.

Sich nicht ausschließen, auch wenn das Verlangen nach Einsamkeit immer wieder durchbrach; es durch Aufhebung rechtfertigen und erkaufen, wenn es sich als stärker erwies; lieber Leid erfahren und Leid zufügen, als dem täglichen Verschwenden, sinnlichem wie geistigem Umgang Kraft entziehn, um sie dem Werk zuzuführen; verschwenden und doch sowohl genug Kräfte für das Werk als genug Energie für den Wechsel aufbringen; zuzeiten Asket sein, trotzdem man zu andern ganz in Hellas war, dem geliebten, heitren.

Der Pächter des Hotels war ein gebildeter Mann; in den Monaten zwischen den Fremdenwochen gab er sich der Familie hin, erzog die Kinder in aufrechter Frömmigkeit, versammelte sie abends zum Musizieren: Übungsstück war die Verdiarie, er am Klavier begleitend, der Knabe die rührend schwache Stimme der Geige führend, das Mädchen singend die Klage. Familie gründen, Kinder haben, für andre den Unterhalt verdienen, auch das war Bürde und mutig. Alles war wahr, was der, der Einsamkeit wählte, gegen die Fron der Familie sagte, und der Bürger darum doch tapfer.

Nun wäre die Zeit gewesen, Claire zu sehn; nichts war gekommen als ein kurzer Brief: „Du bist so weit, Unwiderrufliches ist geschehn, ich mag nicht schreiben, wenn man mich einläßt, besuche ich dich.“

Es war November, die Wintergäste noch fern, Lauda wähnte sich allein, da sah er am zweiten Tag, daß noch ein Gast da war, der allein aß, nach Tisch fortging, über die Kuppen wanderte, nachts wachte — hinter den Gardinen des Nebels schimmerte sein Fenster.

Lauda begegnete ihm auf Spaziergängen und im Haus, erfuhr, daß er Stein hieß, sah, daß er Jude war und das Stigma des geistigen Menschen trug; aber im Freien bog jener ab, sobald er ihn bemerkte, und im Haus senkte er den Kopf tiefer, um nicht grüßen zu müssen. Scheu in jeder Gebärde eines mißhandelten Tiers, das in den Winkel strebt, wo es still sein Leiden übersteht oder sterben wird, niemand weiß, was es dabei Düstres empfindet.

Eines Tags, als Lauda im Ort Else abgeholt hatte, sah er dort, wo das letzte Haus schon allein stand, eine Gruppe Menschen; seltsam schwarz und deutlich die Konturen im föhnenden Regentag. Sie alle hantierten wild erregt, bückten sich, warfen Dinge, die wie Kohlköpfe aussahn, zur Seite, aber es wurde geschossen, und nun blitzten Messer. Einer nur stand regungslos, im flatternden Mantel, Stein. Hinzutretend erblickte Lauda das Grauenhafte.

Im Innern dampfte ein Brühkessel, in den noch zuckende Schweine geworfen wurden; vor dem Kessel eine Blutlache, in der der Metzger, Stiefel bis zum Knie, stand und den Tieren den Hals durchschnitt. Hinter dem Haus wartete eine Herde Großvieh wie eine Kompagnie, die sich in Deckung hält, daraus führte man Stück für Stück an den Waldrand und erschoß es militärisch. Daneben ließ einer die Keule auf das Genick von Ziegen sausen, ein andrer hackte die Köpfe ab. Eine riesige monströse Grube war Abgrund von Blut, Wiederkäuermägen, Köpfen, Eingeweide, das mit fast ausgetragener Leibesfrucht verwachsen war — stinkend, verwesend vom gestrigen Schlachten; Chlorkalk schwamm darauf, übertäubte den Geruch nicht und nicht die schwarze Farbe.

Die Ställe waren verseucht, alles Lebende wurde ein Tal entlang geschlachtet, Weiber weinten, die Mienen der Männer waren finster, der Beamte des Veterinäramts zuckte die Achseln und überwachte. Das war die Erklärung, die Else erhielt, aber Stein sagte schneidend:

„Rauchen Sie eine Zigarre, wenn Sie den Gestank nicht ertragen, aber bleiben Sie, halten Sie dem Anschauungsunterricht stand. Der Mensch tut das, was ihm Gesetz und Lust ist, er mordet. Wo ist der Unterschied, ob er Stück für Stück zur Bank führt, oder Keule und Gewehr zu Hilfe nimmt? Entsetzt es Sie? Ich sah das gleiche dort, wo der Krieg ist, warf in die gleiche Grube Eingeweide, Köpfe, Arme von Menschen, manchmal stand ein Pfaffe dabei, manchmal keiner. Sehn Sie die Hände der Metzger an, sie eitern von der Blutarbeit; dieser Eiter ist das Geschwür, das alle im Innern tragen; bisweilen bricht es durch, wird sichtbar, es ist ihre Seele; Seele ist Stank und Eiter.“

Danach verließ er sie, stieg zum Hotel auf. Sie holten ihn ein. Ihre Schritte vernehmend, wandte er sich um, und Lauda sah seine Augen: da erkannte er, wie aus dem Tiefsten der Hohn jener Worte gekommen war, so tief, daß er Gift in den Wurzeln des Lebens sein mußte. Hier ging einer mit dem Gedanken um, die Konsequenz zu ziehn, und der Umgang war wohl stündliche, einzige Beschäftigung. Es war nicht schwer zu erraten, daß diesen der Krieg zerstört hatte.

„Wenn Sie Zerstörung,“ antwortete Stein, „die Durchschmelzung der lebenschützenden Hemmungen nennen, die vor die Erkenntnis gelegt sind. Was heißt Zerstörung — ich habe die Realität wiederhergestellt, die so tief liegt, so sehr mit Sentimentalität, Optimismus, Zähigkeit überdeckt ist, daß man sie mit dem bequemen, unverbindlichen Wort Metaphysik bezeichnet und tut, als ob die davorliegenden Hemmungen schon die Realität seien.

Es gibt Philosophien, die ihr System auf dem Leid aufbauen; sie sind die relativ besten, die wir erdacht haben, und doch Schwindel, weil sie immer ein Hintertürchen aufmachen, durch das sie das Ja hereinlassen, die Liebe etwa, wenn sie gerührt die Vielheit der Menschen betrachten, oder den Anarchismus, wenn sie beim Ego haltmachen. Herr, es ist mir unmöglich, Ihnen zu sagen, bis zu welchem Grad des Entsetzens Einsicht möglich ist; es gibt eine verzweifelte Klarheit hinter dem mitteilenden Wort, die nur noch einen Befehl enthält: vernichte dich, um überhaupt, ein einziges Mal, Moralisches getan zu haben.

In Wien tötete sich vor Jahren jung Weininger, als er die Siegel über dem innren Schacht soweit gelöst hatte, daß er das Verbrechen daraus aufsteigen fühlte, körperlich als ein grauenhaftes, in ihm lebendes und mit ihm fressendes Tier — er glaubte vielleicht noch, daß nur in ihm die Bestie rüttle, wie es in einigen Lebewesen Parasiten gibt, in andern jedoch nicht. Ich aber erkannte, daß sie in allen sitzt, ich sah sie in allen, und während sie ihm nur ein Abstraktum, das Verbrechen, war, sah ich sie konkret, und sie heißt Mörder, blutsaufender Dämon. Sein Ausweg war einfach, er hatte nur sich zu töten, aber nach mir greift der Wahnsinn, weil ich vergebens das Mittel suche, das die Existenz selbst, die sadistische Lebensgier selbst ein für allemal austilgen könnte.“

Stein war Wiener. Als man sich erbot, ihn als Literat im sichren Pressequartier unterzubringen, hatte er sich geweigert — man schickte ihn ins Feld. Nach seinem eignen Bericht war die Entwicklung seiner Gedanken folgende gewesen. Im Anfang spaltete er sich in Haß und Liebe; Haß denen, die Jünglinge und Wehrmänner dem hochmütigen Phantom opferten; Liebe den Geopferten, die verbraucht wurden, wie man Wasser verschüttet, nach der Laune, der Dummheit, der Ohnmacht, dem Ehrgeiz von Führern, deren niederträchtige Verwesung er kennenlernte, als der Zufall ihn zum Burschen eines Stabsoffiziers machte.

Ihrer zwanzig saßen in einem Schloß, zwanzigmal Pose Moltkes, Napoleons, weil sie unverzeihlich über Leben verfügten, deren keines ihnen mehr galt als das Streichholz, mit dem sie ihre Zigarette anzündeten. Haß stieg auf unsäglich über Verhältnisse, die zwanzig von Ehrgeiz Verseuchten Macht über den Mitmenschen gaben.

Danach sah er sich in die anonyme Herde der Frontsoldaten zurückversetzt, glaubend, er verlasse das Reich des gesättigten Tiers, um in dem der Armen zu weilen. Sie waren selbst Tier, feiges, das gegen den Stachel löckte, dem Stachel gehorchte, die tiefsten Kräfte der eignen Vitalität entfesselte, um sich zu behaupten, mitzutun; mordend, henkend, stehlend, triumphierend, wenn es Erfolg hatte, lüstern nach Gewalt, egoistisch bis in die letzte Faser, nachgeredete Phrasen auswerfend, wie das Meer Kadaver, und sich doch nicht reinigend; es nisteten die sentimentalen Gefühle wie Schleim in den innren Wänden.

Welche Menschenkenner waren die gewesen, die den einen die Macht, den andern den Gehorsam angewiesen hatten: es konnte Mensch nicht ohne Druck, Gebot, Anweisung leben, das gebändigte Raubtier. Aber Philosophie der Autorität so fern, Haß gegen die einen blieb, Mitleid mit den andern schlug in Verachtung um und ward Qual, Ende, Weigrung, noch fürder Mensch zu sein. Geistliche segneten die Mörder, Troß von Schwestern pflegte die Verwundeten, damit sie wieder töten konnten; in jedem Weib, das im Dunstkreis dieser Hölle weilte, schwelte ein Gemisch von Gefühlen, Idealen, Sinnlichkeit, so schauerlich verschlungen in unentwirrbarer Vielfältigkeit wie in den Männern.

Und er selbst nicht besser; was in ihm vom Geist Christi, des großen Juden, war, rang verzweifelt an, ward im Strudel fortgeschwemmt, tauchte auf, nicht mehr erreichbar, fern; helfen, bessern — wer konnte helfen und bessern, wenn sein Wesen sich in einen rasenden Trichter verwandelte, in dem der Brocken Güte im Schaum von Schmutz, Gier, Lüsternheit wirbelte?

In den Nächten brannten Feuerwerke aus Raketen, Gaswolken, Bomben auf, als begännen die Mondkrater phantastisch zu speien; in Stacheldrähten brüllten die Zerfetzten; da schickte man, am vierten Tag, den Strom durch sie. Ein Zug der Kompagnie kam zu spät zum Angriff, man ließ sie antreten, wählte den zehnten Mann, erschoß ihn, es waren aus dem Kampf Zurückkehrende darunter. Hunde, knirschte er und raste, bis er sich erbrach. Töte dich, schrie es in ihm, solange du es noch nicht aus Wahnsinn tust, solang es noch Einsicht, einzige moralische Handlung der Bestie ist — und tötete einen andern: beim Angriff der Italiener war er Zeuge, wie sein Leutnant, achtzehnjähriger, drei Mann, die nicht standhielten, mit dem Revolver niederschoß. Da knirschte er abermals: Hund, du Henker im Auftrag der Kaste, und stieß dem Knaben das Seitengewehr in den drohenden Mund, so fest, daß er ihn an den Boden spießte.

Er floh über die Schneejoche, ohne Bewußtsein des Wegs, war nun im Hotel, seine letzten Gedanken zu ordnen und, was aus den Nerven kam, abermals aus dem Hirn zu rechtfertigen. Starre war gelöst, es blieb der Entschluß aus stöhnender Seele.

So schlimm wie die Dämonie des Kriegs würde das Vergessen sein, die Rückkehr der Überlebenden zum Alten, die prangende Decke des Frühlings über dem Moder, die großen Worte der Geistlichen, Dichter und Zeitungsschreiber, rubriziert als: Triumph des Lebens.

„Daß sie am Ende aller Wenn und Aber immer wieder diesen Triumph des Lebens ausspielen, diese schlaue Weisheit des Geschöpfs, das wohl fühlt, daß es eine Kolonie fressender Zellen ist, dieses Sichabfinden mit der Tatsache, eine wimmelnde Welt von Raubmonaden zu sein, überzogen mit glatter Haut und lockender Rundung, diese Dynamik aus hundert Milliarden von Appetiten — das ist es, was mich das Grauen nicht vergessen läßt.

Nicht vergessen wollen, Widerstand leisten dem schamlosen Egoismus des Jasagens, das ist nun die mir eigentümliche Denkkonstellation geworden. Hören Sie einen Satz, den ich bei Hermann Bang las: ‚Ich sage dir, sähe ein einziger Mensch einem andern ganz bis auf den Grund der Seele, er würde sterben. Und wäre es denkbar, daß man sich selber auf den Grund seiner Seele sähe, man würde es als eine geringe, aber notwendige Strafe betrachten, ohne einen Laut sein Haupt auf den Block zu legen.‘“

„Und dieser eine wollen Sie sein?“ fragte Lauda leise, „ist das noch ganz Entschlossenheit des souveränen Menschen, der einmal, er wenigstens und für alle symbolisch, ehrlich sein möchte? Ist es nicht schon eine Lockung, Sehnsucht nach dem Martyrium, Hingabe an einen Dämon, ein gotthaftes Gebilde, dem Sie Aufenthalt in sich geben? Ist es nicht schon herostratischer Ehrgeiz, Spiel mit dem Gedanken, eine noch nie gefundne Methode entdeckt zu haben, um von den Menschen genannt zu werden? Ihr Leid hat sich schon verschoben, die Lockung des demonstrativen Tods ist vielleicht nichts als der erste Schritt der Heilung, weil sie nichts als eine unmerkliche Einschmugglung des nicht sterbenwollenden Egoismus ist.“

„Grund mehr, noch rechtzeitig den Riegel vorzuschieben, die Lockung zu morden, indem man sie befolgt.“

„Das ist Dialektik der Todesgedanken, nicht mehr Ehrlichkeit. Unsre äußerste Tragik ist, daß das Nein immer als Dialektik endet. Sie mußten sich töten, als Sie jenen Offizier getötet hatten, im Impuls. Was nicht Impuls bleibt, wird Dialektik. Sich töten, um nicht wahnsinnig zu werden, — das ist noch nicht die äußerste Leidensstation; diese heißt: erkennen, daß man sich nicht töten kann, weil man sofort wieder zum Aufbau verwendet wird, wahnsinnig werden, weil Wahnsinn nicht erlöst, das ‚Du mußt leben!‘ wie Donner hallt.

Es gibt nur eine Rettung: sich damit abfinden. Metaphysisch gesprochen: Was Sie leiden, ist die zu späte Frage des Urwillens, ob er recht getan hat, sich zu manifestieren; da er es tat, hat er seine Freiheit verloren, ist selbst in den Kreis der Tragik gestellt; wir sind verdammt ohne Rettung.

Aber real gesprochen: Haben Sie den Appetit der Tierkolonie in Ihnen, seien Sie die Dynamik ihres Zusammenschlusses, erbrechen Sie sich nicht in Gedanken an den Bodensatz in der Seele des Weibs neben Ihnen, nehmen Sie es und machen Sie ihm das Kind, lassen Sie sich von dem unsaubren Egoismus beflügeln statt zersetzen. Seien Sie schneidend hart, nie vergessend, und gleichwohl fröhlich, ein wenig nur, nur soviel als nötig ist, um das Leid zu ertragen.

Jede Philosophie endet mit dem Gehorsam, sei es der gegen einen außer uns existierenden Gott, sei es der gegen die Identität mit der Kraft, die uns zur Existenz verurteilt hat. Sich mit der Tragik abfinden, heißt sie niederhalten, sie trägt ihr Heilmittel in sich selbst; man muß lachen können. Lüge des Daseins wird Illusion, das Tragende; Bewußtsein, wie schmutzig wir sind und wie ohnmächtig, kann groß sein, größer als das Phantom von Pathos und Herrentum, das jener dort in Sils-Maria ersann, weil er selbst weich, gütig und physisch zu schwach war — wie idealistisch, das heißt, wie vorsichtig stand er mit Frauen. Seine Lehre der Härte war nur Symbol, er predigte das Maximum und meinte nur ein Minimum — gerade soviel Härte, als nötig ist, um sowohl vor dem Hochmut des Eifers als vor der Sentimentalität des Allheilmittels Güte zu bewahren.

Verstehn Sie mich? Ich spreche von der Tatsache, daß, wenn wir auf der Suche nach Rettung vor dem Tierischen die Güte finden, das Tierische und Egoistische vergessen oder als Feind betrachtet wird, während es darauf ankommt, aus Zynismus, Lebenshunger und Gerechtigkeit gegen die andern eine Synthese zu bilden, die uns ein neues kompliziertes, aber darum nicht weniger tragfähiges und unmittelbares Temperament gibt. Mensch, sei die Summe deiner Widersprüche, diszipliniere dich so, daß du mit vierzig Jahren der Massenerkrankung aller Reifenden, dem hemmungslosen Einbruch der Güte widerstehst. Wie viele in diesem Alter, glauben Sie, vermögen Widerstand zu leisten? Konnte es doch die ganze antike Kultur nicht, als sie alterte, sie zersetzte sich christlich. Widerstand leisten heißt nicht, die Dämonie eines neuen Gedankens leugnen; es heißt sie fühlen, aber nur in kontrollierter Dosis ins Blut aufnehmen.“

Und auf einem Gang über die Kuppen, als sie von der Möglichkeit der Erziehung sprachen, fuhr er fort:

„Wenn ich mich frage, ob es noch überhaupt neue Gesichtspunkte der Erziehung gebe, die über die Trivialität der moralischen Forderungen hinweghelfen, finde ich diesen Gedanken: Erziehung noch mehr als auf Moralität, das Selbstverständliche, auf Überlegenheit anzulegen. Überlegenheit nenne ich den Entschluß, Einsichten über die Grundlagen unsrer Natur nicht wieder untersinken zu lassen, sondern festzuhalten. Ringsum vollzieht sich alle Entwicklung so, daß die Menschen den vorletzten Gedanken durch den letzten totschlagen, der Weltliche plötzlich asketisch wird, der Individualist Güte predigt. Dieses Nacheinander scheint das Gesetz der innern Vorgänge zu sein, aber es kann ersetzt werden durch das Zugleich. Nie vergessen, daß wir der Gott sind, der die Ideen und Gebote schafft, nicht dualistisch aus Ohnmacht werden.“

„Ja,“ sagte Stein, „das Entmutigendste und Sinnloseste ist, daß gewonnene Erkenntnis mit dem einzelnen zugrund geht, immer wieder der sentimentale, eifervolle, pathetische Prozeß von vorn beginnt — sie, die von Entwicklung der Menschheit reden, müßten darüber verzweifeln.“

„Nein, sie müßten die Erkenntnis sichern,“ antwortete Lauda, „und es wäre nicht unmöglich. Hier interessiert mich erst Erziehung, hier zeigt sich die höchste Aufgabe des Widerstands. Eine Propädeutik der Energie ist denkbar, fußend auf einem noch nicht geschriebnen Katechismus, darin von den Gesetzen des Denkens die Rede wäre, von seiner Halbheit und Mühseligkeit, von seinen Rückfällen, vom primären Nacheinander und späteren Zugleich, von dem Versagen des Widerstands und seiner Größe, von der innern Physik, der seelischen Mathematik und der Überwindung des Tods durch die Generation. Aller Aktivismus wäre darin, die ganze Lehre vom Willen zur Selbstbehauptung, der den zur Macht ersetzen soll und seine gereinigte, geistige Form ist.“

„Voraussetzung wäre der Glaube an den freien Willen, ich habe ihn nicht mehr — hätten Sie erlebt, was ich erlebt habe.“

„Ich könnte sagen, ich habe es, beschränke mich darauf, zu sagen: ich behaupte die Mutationsfähigkeit der Seele — sie ist eine Frage der Trainierung von Hirnmuskeln durch den Willen, der identisch ist mit Selbstbehauptung, leichtfüßiger Energie. Das Hirn ist ein Kosmos, in dem neue Erdteile angelegt werden können: ein so mystischer Vorgang wie das Phänomen des Denkens überhaupt. Wie ist es möglich, daß wir immer wieder an derselben Stelle Empfindungen haben, ohne daß die früheren den späteren den Platz fortnehmen? Nur dadurch, daß Seele oder Hirn eine Masse ist, durch die in beliebiger Wiederholung Ströme gehn: es empfängt sie, reagiert raum- und zeitlos, leitet sie ab, ist aufs neue bereit, magische Landschaft der blauen Phosphorblitze, wunderbare Gelatine, berstend von Erinnrungen und doch keine lokalisierend, willig jeder Zucht und Steigrung, freudig wie ein edles Tier, das sich als Künstler und adlig fühlt, wenn es Aufgaben bewältigen lernt.“

 

Warum war Else zu ihm gekommen? Sie sagte:

„Weil meine Gedanken dorthin folgen, wo ich jemand unbrutal und verstehend weiß.“

Daß sie solchem Menschenwunsch wie etwas Selbstverständlichem nachgegeben hatte, gefiel ihm; das war die ethische Regsamkeit von Jüdinnen, die entschloßner als andre sich von geistigen Werten bewegen ließen. Stolz der Christin, sich suchen zu lassen und nicht zu offenbaren, bis der Mann um sie warb, erschwerte das Bekenntnis, daß menschliche Angelegenheiten, Nöte, seelische Interessen überpersönlich, allen gemeinsam sind; das Geschlecht wurde weniger wichtig genommen; erhob es danach seine Ansprüche, war eine geistige Fundamentierung gelegt.

Auch zwischen ihm und ihr kam dieser Augenblick. Beisammensein des Tags ward an den Abenden fortgesetzt; schon hatte sich seit jener Nacht, in der sie sein Manuskript abgeschrieben hatte, eine Gewohnheit gebildet; sie las, während er schrieb, und störte nicht. Stand sie dann auf, in ihr Zimmer zu gehn, fühlten beide, daß die unsichtbare Spinne Fäden um sie gewoben hatte, die zu zerreißen größren Entschluß kostete als, dableibend, sie bestehn zu lassen.

Aus Bemerkungen des Unwillkürlichen schloß er, daß sie diesen Augenblick bedacht hatte; sie stand allein, war ihm gut, hatte das Bedürfnis der Frau nach einem Gefährten bekannt. Aber er seinerseits glaubte die Tiefe dieser Sehnsucht, der die Melancholie des ersten Erlebnisses vorangegangen war, zu ermessen und ahnte, daß sie eine Bindung von ihm verlangen werde, die ihn, für das Mädchen, die Qualen spätrer Lösung scheuen ließ.

Er fühlte, Tag für Tag im Freien zubringend, wandernd, dem Champagnerrausch der Höhenluft ausgesetzt, so große schöne Beschwingung aller Energien, so straffen, frohen Hunger nach Begegnung, Mensch und Tat, daß er sich Auslösung nicht anders als unbeschwert durch Seelenhaftigkeit und die den Frauen teure Aussprache, Bestätigung, Feststellung denken konnte — er erkannte sich: wenn er ganz wahr war, zog er Frauen vor, die durch äußre und innre Bedingungen so selbständig waren, daß sie begegneten, ohne Häuser zu bauen. Und Else wußte es, aus dem Eindruck seines Naturells abstrahierend, er merkte es an der Wiederkehr ihres: Es ist gleich, was geschieht, dieses schmerzlichen und wagenden Fatalismus.

Während sie so, sich nachdenklich in die Augen sehend, einander zutrieben, geschah es, daß er zwei Tage das Zimmer hütete: sie wanderte allein, begegnete Stein und trat Lauda verändert entgegen.

„Als ich ihn das erstemal, mit Ihnen,“ sagte sie, „von dem Gebot reden hörte, sich zu vernichten, um einmal wenigstens Moralisches getan zu haben, ergriff es mich wohl, aber meine Gedanken antworteten ihm schon aus denen Laudas heraus. Mit ihm allein, war es, als trete ein andrer Geist in mich, ihm und mir und unsrer Rasse Gemeinsames, ferner dem Ihrigen, mitleidvoller, wissender um das jüdische Leid. Sie, Lauda, setzen ihm entgegen, was Sie sind; mir scheint es möglich, ihm den Revolver zu entwinden, indem ich mich mit ihm identifiziere.“

„Das Resultat,“ sagte Lauda, „wird gemeinsame Ethik sein, der Ethik wiedergegeben, wird er in Flammen stehender Revolutionär werden, und er wird Ihre Mütterlichkeit nicht erfüllen, denn sie ist Wunsch nach Ruhe.“

Sie verstand, wie er es meinte, nicht abratend, man muß sein Schicksal erfüllen, sehend dem Konflikt entgegengehn, vor jeder neuen Bindung wissen, daß sie, auf andre Art, das gleiche bringen werde wie die frühren. Immerhin berichtete sie am nächsten Tag:

„Vielleicht erspart er sich und mir die Abbiegung in die revolutionäre Heerstraße, wählt eine kleinre, frohere Aufgabe: wir sprachen vom Zionismus. Er fühlt, daß die Zeit naht, wo der jüdische Geist wieder Anspruch erhebt, eine der Kräfte der Welt zu sein, neue Gestaltung oder Untergang sucht.“

„Man darf annehmen,“ antwortete Lauda, „daß er sowenig untergehn wird wie in der Vergangenheit. Die Rationalen werden die Anpeitscher der Revolution werden, um durch Zerstörung der Nationen Gleichberechtigung für die ihrige zu erlangen, die Religiösen den jüdischen Kosmos zu bilden suchen. Wird ein Palästina, mit Londoner und Pariser Bankiergeld saniert, Musterfarmen und Häuser mit Zentralheizung gründend, auf enges Gebiet beschränkt, sentimental längst verstorbne Rabbiner studierend, mehr als rationalistische Angelegenheit sein?“

Sie wußte es nicht und er nicht, es ging ihn nichts an.

Er ward überflüssiger Zeuge der zwei, erinnerte sich, einen Brief vom Personal Hannahs erhalten zu haben, der nahlegte, am Brienzer See nach dem Rechten zu sehn, blieb zuvor in Zürich drei Tage, seinen Überschuß Elena zutragend, in deren Zimmer er nun doch wieder saß, fatalistisch überzeugt, daß ihm Begegnung mit der zartren und innigeren Frau nie gewährt werde, weil er sie nicht suchte — Feststellung, die tragische Koketterie zu vermeiden hatte — und hielt mit seinen Koffern acht Tage vor Weihnachten Einzug im Landhaus jenseits des Brünig.

 

Er fand den Knaben gewachsen, und Funken der Intelligenz in seinem Auge entzündeten alsbald eine Assoziationskette, die über fünfzehn kommende Jahre hinweg zu einem jungen Menschen führte, den er erzogen hatte. Wunsch, Erkanntes und Errungenes weiterzugeben, nahm erste Gestalt an.

„Ein Schloß sprang ein,“ sagte er, „ich habe mich in die Generationsreihe gestellt: Die Schale weitergeben, nicht auf die Barrikade rufen; Erziehung ist die wirkliche Tat, Aufpeitschen nur Über-die-Tat-reden.“

Am Weihnachtstag, in Interlaken, wo er Geschenke gekauft hatte, legte sich, als er das Abendschiff betrat, eine Hand auf seinen Arm. Hannah, durchfuhr es ihn, so hatte sie ihn auf dem Brünig berührt. Aber als er sich umwandte, sah er Assenstand, jenen Patriziersohn aus Danzig, der in Brüssel am schmucklosen Tisch dem vor Chrisanthemen auf Pergament schreibenden Dichter gegenübergesessen hatte, selbst Dichter, einer andern, herrenhaften Prägung, und Hasser der demokratisierten Welt.

Lauda begrüßte ihn froh, da sah er die Zurückhaltung im Gesicht des einst Befreundeten — Assenstand sagte:

„Ich freute mich, Sie aufzusuchen, da erfuhr ich, daß Sie die Sache Ihres Volks aufgegeben haben, um nicht zu sagen beschimpfen. Es ist mir darum unmöglich, Ihre Gastfreundschaft anzunehmen, ich beschränke mich darauf, mich meines Auftrags zu entledigen. Lassen Sie uns in ein Café gehn.“

Aber das Schiff war das letzte des Tags, und Lauda nicht auf Übernachten vorbereitet.

„Sie nehmen nicht meine Gastfreundschaft an,“ sagte er, „sondern einer abwesenden Dame, die Eigentümerin des Guts ist, Frau Graumann.“

„Und trotzdem die Ihrige,“ antwortete Assenstand, folgte aber aufs Schiff, „denn ich komme, um Ihnen zu sagen, daß Sie ihr Erbe sind, ich verließ Petersburg am Tag vor ihrer Erschießung.“

Er erzählte. Er war als Dolmetscher nach Brest-Litowsk gerufen worden, im Verlauf der Verhandlungen fuhr er nach Petersburg. Man führte ihn in den Salon der Freundin eines der neuen Machthaber, Frau Hannahs. Sie stellten gemeinsame Bekanntschaft mit Lauda fest, er verkehrte bei ihr. Daß er einmal Lauda von ihr berichten werde, bewirkte, daß sie von sich sprach.

Wer in dieser Sphäre von Macht, Neid, Mißtrauen, Beaufsichtigung lebte, dem war nicht mehr erlaubt, sich zurückzuziehn. Sie dort waren auf Erfolg und Verderben miteinander verbunden, wie eine Goldjägerschar, die in den unbekannten Kontinent vordringt — kein Brudergefühl, Mißtrauen schlich um, Fieber derer die die Dünste des Bluts atmen. Aus dem Blut stiegen die Geister des Tödlichen auf und waren dämonisch Verwandlungen des verleugneten Gotts; unerbittlich, grausam, lauernd, wie sie ihn verlangten, wies er ihnen die Verschreibung des eignen Lebens vor, sie einzulösen.

„Wie die Augen der Menschen hier sind.“ sagte sie, „keiner erträgt ihren Blick, nicht der, dem er gilt, und nicht der, der ihn hat — er weiß von ihm; das unerträglich überspannte Leben haßt sich selbst darin und findet keine Erlösung, weil es kein Zurück mehr gibt.“

Das Geschlecht schützte nicht, aber es gab Frauen neben ihr, die mit herausfordernder Sicherheit ihren Weg gingen, männerantreibende, die fanatisch über der Revolution wachten, und männererregende, die geil gediehn.

Eines Tags fand er Hannahs Wohnung geplündert, von Soldaten besetzt; Gang zu ihrem Beschützer, dem selbst gefährdeten, war vergeblich — sie hatte einer vom Tribunal gesuchten Oberstentochter zur Flucht verholfen. Es gelang Assenstand, die Zelle zu betreten; sie wußte, daß es ihre letzte Nacht war. Warum hatte sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt?

„Einer,“ antwortete sie, „ist, der es versteht, ohne Erklärung, wir hatten ein Gespräch auf dem Brünig.“

Assenstand fühlte, daß Tage der Befreundung für nichts galten, sie öffnete sich nicht; in ihren Augen war ein Feuer, das er das Wunderbare nannte; sanfter Glanz der Ruhe, harter der Verachtung darin, abgeschloßnes Leben, zitterndes. Konnte eine Frau so sterben, edles Tier, das lautlos den Winkel sucht, edel wie der Mensch der Antike, der das Haupt verhüllend, sich in den Ablauf seines Lebens versenkte?

Welche Kraft, die durch keine Anerkennung, weder eigne noch andrer belohnt wurde, denn ob einer Großes oder Feiges in dieser Nacht dachte, es war im nächsten Frühlicht wesenlos. Und dann, daß sie beim Abschied aufstand, die Hände um seinen Kopf legte und ihn küßte — erschütternd, weil es eine Situation war, in der die Geste des äußersten Gefühls rein von Theater blieb: er hatte keine andre je erlebt. Sie löste das Angebot an Hannah aus, in seiner Kleidung zu fliehn, und das war pathetische Geste, denn sie war irgendwie Erinnrung an Gelesnes. Hannah schrieb in sein Notizbuch Worte für Lauda und Bestimmungen, dann ging er.

Lauda nahm das Heft in Empfang, schloß es ein, sagte:

„Um Frau Hannahs willen werden Sie vergessen, daß Sie nicht mein Gast sein wollten, als denkender Mensch sich sagen, daß Überzeugung so handeln lassen kann, wie ich gegen mein Land handelte.

Sie blieben auf, sprachen von Europa. Es erwies sich, daß Assenstand den Glauben nicht teilte, daß der Friede mit Rußland Erleichtrung sein werde.

„Es ist zu spät,“ sagte Lauda, „Kraft, die an der Lüge dessen krankt, der behauptet, daß er sich nur verteidige und doch darauf brennt, seinen Willen aufzuzwingen, wird müde. Jener englische Minister, der von den Deutschen sagte, sie seien ein wildes Tier, das in seinem Käfig nur zu weiten Tatzenschlägen ausholt, wird Recht behalten.“

„Wenn es sich so verhält, wie ist es möglich, daß Sie so kalt zuschauen, wie das Tier sich verblutet? Von welcher Art sind Sie?“

„Von Ihrer eignen, die sauber sich entscheidet, Feind alles Verschwommnen, unsachlich Sentimentalen. Daß Sie das Aristokratische wählten, ich das scheinbare Gegenteil, ist vom Wesentlichen her kein Unterschied. Sind Sie noch wie in Brüssel der Überzeugung, daß der deutsche Junker die Manifestation einer Idee sei?“

„Daß Radikalisierung, Zerstörung jeder Bindung durch überpersönliche Hemmungen das größte Unglück ist, das die innre Ordnung treffen kann, steht seit den Petersburger Tagen so fest in mir, daß ich nicht nur religiöse Regulative, sondern sogar kirchliche wünsche.“

„Ganz recht, man könnte mit den stärksten Gründen belegen, daß Sozialismus seinen Sinn noch nicht gefunden hat, solang er weltliche Macht werden will, daß er vielmehr ein Akzidenz, geistiges Prinzip ist, das sich mit jeder zivilisierten Staatsform verbinden läßt — er wäre also nur Kontrolle, treibende Kraft, moralischer Faktor; aber ich muß meine Frage wiederholen: glauben Sie, daß die preußischen Konservativen ein Gran der Besonnenheit und Geistigkeit besitzen, die ihnen erlaubten, die sozialen Ideen zu binden und den Deutschen das zu geben, was sie nicht haben, Charakter?

Charakter nenne ich Ausgleich zwischen der Widerstandskraft gegen den Ansturm von Ideen und der Bereitwilligkeit, diese Ideen als ernstestes Gebot zu empfinden. Das ist unsagbar fern der Gier, sich die Macht ohne Gegendienst zu sichern — bei den Junkern finden Sie nichts als diese Gier. Haben Sie je gehört, daß Junker von der Notwendigkeit der Erziehung gesprochen haben, einer Erziehung, die radikale Fordrungen, statt sie als Verbrechen zu erklären, bereitwillig, sachlich, ohne Hintergedanken verarbeitet, weil sie das Recht auf Nachdenken und Bessrungsvorschläge grundsätzlich, aus Moralität, als menschlichste Angelegenheit anerkennt?

Ziel der Erziehung ist, Charakter geben, den Mensch mit geschickten und klugen Händen zur Selbstbehauptung führen, ihn das Schritt für Schritt lehren, das keinen Augenblick Stehnbleiben sein darf. Wie sind denn die Deutschen? Überhitzte Brutale als Konservative, feig als Demokraten, Leugner ihrer eignen Grundsätze als Sozialisten, weichlich in einer gepanzerten Hülle, schwankend, verschwommen, unfähig alles Präzisen, Unbeirrbaren, Durchdachten — sie sind das Volk ohne Charakter.“

„Nun gut,“ antwortete Assenstand, „es ist zwecklos zu leugnen, daß mich der Verkehr mit den deutschen Bevollmächtigten in Brest erschreckt hat: Man hatte das entsetzliche Gefühl, daß das Schicksal den mit Hochmut füllt, den es schlagen will. Ich verglich die Idee des leitenden Menschen, der der Masse Bindungen gibt, mit ihren Vertretern: es stieg siedend heiß in mir auf. Aber ich glaube so fest an diese Idee der Führer im Staat, daß ich keinen andren Weg sehe, als den, den ich bisher wählte. Sie sprechen von Erziehung. Ich bin ein Mensch, dem Einwirkung auf andre ganz fern liegt, man muß sich selbst finden. Die deutsche Sache von heute ist meine Sache, wir sind zu weit gegangen, als daß es ein Zurück gäbe.“

„So wird ihr Zusammenbruch Sie unvorbereitet treffen; was werden Sie dann tun? Revanche lehren? Es ist gut, sich vorzubereiten, denn dann wird es nur eine Aufgabe geben: in die Charakterbildung einzugreifen.“

„Und welche Methode werden Sie befolgen?“

„Ich weiß es nicht. Es gehört mir dieses Haus. Heute nacht dachte ich darüber nach, wie gut es wäre, eine Schar deutscher Knaben aus ihrer heimatlichen Atmosphäre zu versetzen und durch eine Zahl von Menschen erziehn zu lassen, die die Katastrophe der deutschen Menschlichkeit so stark in sich erlebt haben, daß sie auf alle deutsche Tradition verzichten und sich die Grundsätze einer neuen Pädagogik selbst zimmern. Deren Taktik wäre, die innre Mathematik, man könnte auch sagen Mechanik von Ideen und Gefühlen durchforschen, ihnen allen sich öffnen und nur ein Ziel im Auge behalten: die Demut nicht Schwäche werden zu lassen, sondern mit letzter Überlegenheit zu verbinden — es wäre diese Überlegenheit der Ausgleich aus Hingabe und Souveränität, ihre schwebende gegenseitige Aufhebung. Es sind auch andre Formen der Einwirkung auf Menschen denkbar — welche ich wähle, weiß ich nicht; gewiß ist nur, daß die höchste Illusion, die man Menschen bieten kann, diejenige Einwirkung ist, die vom Individuum zur Generationenfolge vorschreitet. Die Generation ist die dem Menschen mögliche Unsterblichkeit, sie allein erlaubt, Ideen zu erfinden.“

„Ihr Ziel ist also,“ sagte Assenstand, „Charakterbildung auf Grundlage des Widerstands, aber mit Ausschaltung des Religiösen im gläubigen Sinn. Wenn Sie eine neue Bindung durch Religion fänden, wäre Ihre Idee vollkommen.“

„Sie irren, sie würde Halbheit werden; es wird nie mehr neue sichtbare Formen des Religiösen geben, nur noch die gereinigte Idee des Verhältnisses zu Ja und Nein, die Gott nicht mehr kennt. Wie ist der Mensch? Er ist so beschaffen, daß er auch Gott stets und überall zu einem Mittel zur Befestigung seiner Machtgier erniedrigt; darum müssen wir soweit kommen, daß wir Gott weder bejahn, noch bekämpfen, sondern ganz frei von ihm sind.

In ferner Zukunft ist eine Zivilisation denkbar, die über Absolutes und Zeitliches, Bejahung und Verneinung, Idee und Tat, Geistigkeit und Materialität klare, weise, unpathetische und unsentimentale, durchdachte, bindende Vorstellungen hat. Diese Vorstellungen sind nicht mehr gefährdet durch Rückfälle in das Chaotische, weil das Chaotische nicht geleugnet, sondern als große primäre Macht benannt wird. Es ist die Verwirklichung dessen, was ich suche: eine gewisse Summe von Erkenntnissen nicht mehr untergehn zu lassen, sondern kraft der Energie und des Widerstands gegen Zeitlichkeit zu vererben.

Dem Charakter Form geben, ihm zugleich Widerstand und Einlaß des Radikalen lehren, so daß er das Maximum beider Ströme einschalten kann, wird die höchste Idee sein. Die Mutationsfähigkeit züchten, Leid durch Zersetzung vermeiden, Glück vermittels Steigrung der Kontrollfähigkeit vergrößern. Wissen ist uns noch Gegensatz zum Schöpferischen, und wir stehn ihm noch kritisch gegenüber, weil es das Ideal des Aufklärers, des Nuroptimisten ist: in der Zukunft liegt eine neue Möglichkeit, klare Energie in unmittelbares Temperament umzusetzen, eine neue Menschlichkeit, die nicht mehr wie die unsrige Feminität ist.

Es gibt kein Ja ohne Glaube an die Generation, die Kette der Geschlechter, und nirgends wird so deutlich, daß Glaube für uns nur noch gesetzter Wille ist. Insofern dieser Wille bewußt ist, genau soweit sind wir bewußt, aber nicht mehr; wir sind im Grund ebenso naiv wie die Früheren. Lehren, die nicht der Naivität neue Kraft zuführen, sind ohnmächtig.“

 

Am Neujahrsmorgen saß Lauda im Zimmer, in dem Helle des Schnees und Wärme der Kacheln war, und las die Zeitungen. Die deutschen brachten die Versichrung der ungebrochnen Kraft und des kommenden Siegs, die schweizerischen Betrachtung des mitarbeitenden Pfarrers, daß der Krieg Prüfung des zürnenden, gleichwohl gerechten Gottes sei; schleimige Hirne. Für ihn selbst stand der Plan des Jahrs fest, und als der Gärtner kam, seinem neuen Herrn aufzuwarten, ließ er ihn wissen, daß er bei ihm, sobald die Arbeit im Freien begänne, Lehrstunde nehmen werde. Er wollte sein kleines Reich verwalten können.

Zeit der Zürcher Wirkung war fern, als sei sie nicht gewesen, nichts blieb als Erinnrung an Energie; es würde eine Zeit neuer Wirkung kommen — dazwischen Hingabe an das Beruhigte. Wechsel der Existenz, ewige Wanderschaft, durchgeführte Naivität: sie wurden Sinn und erlaubt, wenn man sie nicht erhitzt beschleunigte und in jeder Station sich willig zeigte.

Er hörte das Dampfboot pfeifen, sah es im Geist am Gebirgsstock entlanggleiten, der wie ein Wall gegen Norden und den Krieg war, Geborgenheit zaubernde Kulisse. Er hörte das Kind lärmen, bedauerte, daß es zu jung war, um schon von Menschlichem mit ihm zu sprechen, erinnerte sich an ein zwölfjähriges Mädchen, das er bei den Streifzügen in Zürich mit einer verderbten Mutter, demnächst oder bereits kuppelnder, gesehn hatte, und sann über die Möglichkeit nach, solcher Kinder einige auszuwählen; sie mußten den wesentlichen Keim haben und ihn verräterisch in Gesicht oder Gliedern tragen; Durchschnitt und die Reizlosen interessierten ihn nicht. Gegen das Mittelmaß gerecht zu sein genügte; ihm Wärme und das Freiwillige entgegenbringen, das war Angelegenheit derer, die in Güte tiefer einzuschreiten vermochten als er. Liebe zu dem, was ist, war möglich, aber ihm nur, wenn die Urenergie in den Geschöpfen nicht verkümmert noch gehemmt war.

Das Telephon schlug an; hebend die Muschel vernahm er eine süße, von Erregung rauhe und ganz in die Ferne gerückte Stimme — Claires.

„Ich bin mit dem Schiff gekommen, rufe dich vom Gasthaus an, denn ich weiß nicht, bei wem du wohnst und ob ich dir willkommen bin.“

Er ging zum Ufer, sah sie entgegenkommen. Was von denen gesagt wird, die in den Sekunden der Todesgefahr ihr ganzes Leben schauen, empfand er bei ihrem Anblick: sich selbst, die Summe von Komponenten, die wie ein Gerüst verschrägt waren und sich in der Schwebe hielten, Aufbau aus Gegensätzlichkeiten, sowohl allgemein als im besondren Fall des Verhältnisses zu Claire. Ich liebte sie — ich entfremdete sie mir; sie ist nicht mehr in mir — ich bin ihr noch gut; die junge schuldlose Bereitschaft ist nicht mehr herzustellen — ein neuer Mensch kommt; sie ist durch von mir nur geahntes Geschehn belastet — hinter jedem Erlebnis steht neue Naivität.

Da hob sich die Welle, die ihn ihr entgegenführte, barst und gebar den Sturm, der ihn erschütterte, Taifun des Ekels vor sich selbst und dem Wesen des Menschen, der leiden macht, sich nicht einem Geschöpf neben ihm verbrüdert, der Dämonie gehorsam um die eigne Achse rotiert. So plötzlich, wie der Aufruhr ihn durchfegt hatte, legte er sich, und als Lauda den letzten Schritt machte, die Hand Claires ergriff, war er ruhig, bis in die letzte Zelle durchdrungen von dem Entschluß, zu sein, wie er war, Leid abzukürzen, erworbne Erkenntnis über sich selbst nicht zu verlieren, für sie beide zu denken — Ehe war nicht mehr möglich.

Und während er sprach und sie sprechen hörte, lauschte er in seine Tiefe, wo die Klarheit mit äußerster Anstrengung dagegen ankämpfte, von den Erregungen des Augenblicks und kommender Tage überdeckt zu werden; Botschaften wie ein Schiff in Seenot sendend, sagte sie: Mache den Schritt, den Claire von dir getan hat, nicht ungeschehn, sie hat ihn allein gefunden, das ist ihre Kraft. Ziehst du sie zu dir und erlebst erst dann den Rückschlag, muß sie den Schritt zum zweitenmal machen und ist kraftlos. Wenn du nicht so gütig sein kannst, daß du dein Leben ihr unterordnest, sei so besonnen, daß du ihr Selbständigwerden nicht erschwerst — memento.

Sich zurückwendend zu dem, was Claire sagte, empfing er die zitternden Untertöne und wußte: sie spricht Nebensächliches, weil sie danach bebt, zu hören, warum du sie sich überließt. Da handelte er bewußt und benannte das, was wohltätig geeignet war, zwischen ihnen zu sein, fragte:

„Weiß Leutnant Berger, daß du hier bist?“

„Ja.“

„Ließ er dich gehn?“

„Er gab mir Freiheit.“

„Erwartet dich zurück?“

„Wenn ich zurückkehre.“

„Hat er das Recht, dir Freiheit zu geben?“

„O Lauda, muß das zuerst zur Sprache kommen, ist dir das Wichtigste, mich zur Rechenschaft zu ziehn?“

„Nicht im persönlichen Sinn. Bot er dir die Ehe an?“

Sie senkte schweigend den Kopf. Er atmete auf, das Rohste war vorüber, wie niederträchtig war Taktik. Zu ihr gehörte, Claire beim Glauben zu lassen, ihre Beziehung zu Berger stehe zwischen ihnen.

Er gedachte der Gewissensnot, die Berger von Moltke zu Lagarde geführt hatte, und wußte, bevor Claire erzählte, daß nicht er Verführer gewesen war, sie war zu ihm gekommen. Sie begriff nicht, daß Lauda von dieser Zeit und ihrer Qual nichts zu erfahren verlangte, Gespräch darüber sanft ablenkte. Als sie ruhig geworden war, führte er sie darauf zurück, und Freunde besprachen seelische Dinge; Aussprache war Schmerz, doch nicht Leidenschaft; sie hatten die Form gefunden, unheftig ihre Gefühle auszubreiten.

Eine Woche verging, da begann er zu ahnen, daß Claire sich diese Form aneignete wie ein von Krankheit Aufstehender, der Schritt für Schritt wieder gehn lernt: er hat sein Ziel, nähert sich ihm zäh. Sie paßte sich an, verzichtete nicht darauf, von ihm das Bekenntnis seiner selbst zu erlangen. Sie kreiste ihn unmerklich ein, sie war in diesem Jahr bewußter geworden. Auch herber. Herb war, wer sich zu fragen begann, ob sein Einsatz an Bereitschaft belohnt wurde. Er sah, daß sie zu dem Kind freundlich war und es doch lästig empfand — versteckte Feindschaft. Zu Anfang hatte er ihr vorgeschlagen, Aufsicht über den Haushalt zu übernehmen, und betroffen, im Verkehr mit Köchin und Mädchen, eine neue reale Seite an ihr kennengelernt, deren Folge Gespanntheit im Haus war.

Mißgriff ward rasch dadurch beseitigt, daß sie wieder nur Gast war, aber es blieb die Erkenntnis, die, festgestellt, so selbstverständlich war: daß die Frau nur in ihrer Liebe unkleinlich, ganz bereit, ganz liebenswert war. Und die Idee Claire durch die Claire der Wirklichkeit, die frohe Möglichkeit durch den Alltag modifizieren zu müssen, weckte nochmals das schmerzhafte Bewußtsein, daß es an ihm gelegen hatte, der Frau den zärtlichen Duft des Mädchens zu bewahren. Es tat weh festzustellen, daß sie älter, bestimmter und auf ihre Interessen bedachter geworden war, eingeordnet in die Reihe der Vielen — Schicksal, Gesetz und Notwendigkeit. Es betraf nicht Claire allein, sein Wissen um Frauen vermehrte sich um eine Einsicht, ihm fremd gebliebne: der Weg jeder Frau senkte sich den Niedrungen des Alltags zu.

Es heftiger aussprechen, mehr als leises Bedauern empfinden, war nicht erlaubt, nur Tölpel nannten, was im Geschlecht der Frau lag, Minderwertigkeit. Auch Eifersucht gehörte dazu, von der jede Frau überzeugt war, daß sie Geschlechtsmerkmal sei, doch überwunden von ihr. Claire verlangte von Hannah zu hören; was war natürlicher, als daß sie die nicht verwand, die ihr Kind Lauda hinterlassen hatte.

An der Stelle, wo er Hannah aus dem Felsspalt befreit hatte, sagte Claire:

„In Brüssel sagtest du eines Tags zu mir: ‚Heute nacht, als ich ans Bett trat und dich schlafen sah, dachte ich, es wäre schön, so immer durch alle Jahre den einen Mensch zu sehn, vielleicht von ihm getrennt, durch Schicksal, Abwesenheit, freiwillige Trennung, stets doch mit ihm sich treffend, um ihn wissend, solang bis Alter Unruhe löscht und letztes Gleichmaß kommt.‘ O Lauda, das grub sich in mich ein und es ist kaum ein Jahr her. Was bleibt heute von Worten, die ich damals nicht als Worte empfand? Die Schlafende wird dich nie mehr zu gutem Entschluß rühren und Alter wird uns nicht gemeinsam sein. Letztes Gleichmaß wird nicht mir zugut kommen, die dann die spärlichen Briefe, die du schriebst, mit mattem Herzen liest, denn auch sie erwiesen sich nur als Worte.“

„Claire,“ bat er.

Sie lehnte sich an den Fels, der den hilflos ausgestreckten Armen nur breite Wand war, sagte:

„Damals, als mich deine Selbständigkeit verzweifeln machte, dachte ich oft: O, wenn er krank würde, damit er mich braucht; wie würde ich gut sein, ihn gewinnen.“

„Und danach, wenn ich wieder gesund wäre?“

„Wären wir uns nah gewesen, und es würde über lange Zeit hinweggeholfen haben; nichts andres hätte ich verlangt als einst, rückblickend, so mein Leben mit dir Kette von Höhepunkten zu nennen — ich hätte nur sie gesehn, die langen, öden, einsamen Wegstücke dazwischen vergessen. Hattest du nicht selbst solchen Wechsel aus Begegnung und Trennung die Lösung genannt? Wie bereit wäre ich gewesen.“

„Und konntest doch die erste Trennung nicht überstehn, lehntest dich auf, und Auflehnung gab dich einem andren hin.“

„Weil du mich nicht vor dem Zweifel bewahrtest; Zweifel, ob dir überhaupt daran lag, daß ich auf dich wartete, verwundete den Stolz, Stolz wurde Trotz, Trotz Entschluß, nicht das demütige Mädchen zu sein. Vor dem Zweifel bewahren, das wäre allerdings Voraussetzung jener Verabredung; du warst es, der sie nicht erfüllte. Und es kam hinzu der Gedanke, tückischer, schlechter, einflüsternder Freund, daß du mich absichtlich auf Berger verwiesen habest, und Bergers Güte kam hinzu, den man lieben lernte, wenn man mit ihm umging.“

„Es war mir nicht ernst, als ich sagte, du habest schon die erste Trennung nicht überstanden. Dich auf die Probe zu stellen lag fern; wer das tut, muß auch dem andren den Weg zur Rückkehr freihalten. Ich tat es nicht, vergaß dich. Ich zog aus auf die innre Jagd, das Jägerglück allein zu sein, war stärker.“

„Ich lasse dich noch nicht,“ sagte sie, „weil ich dich kenne. Alle Gefühle erschöpfen sich dir, wenn die natürliche Zeit vorüber ist. Wenn der Jäger zu den Menschen zurückkehrt, geht er dorthin, wo die Heimat seines Herzens ist. Sag mir das letzte, ob du so nie mehr an mich gedacht hast.“

„Nun ist äußerste Offenheit nötig. Ich dachte so an dich, aber nicht ausschließlich an dich, in dem Sinn, daß nicht auch andre Frauen an deine Stelle treten könnten. Es ist Menschen wie mir, die die letzte Gleichbeschaffenheit und darum Gleichberechtigung der Geschöpfe finden, unmöglich, durch eine Frau alle andren Variationen zu binden, nur in dieser Frau die Erfüllung dessen zu sehn, was zur Frau führt.

Das Warme, Schöne, Zärtliche; das Erregende, Dunkle, die sinnliche oder seelische Kommunion, die eine Frau gibt — es liegt theoretisch in allen, praktisch in unendlich vielen. Die einzelne Frau wird Symbol, Statthalterin. Dieselben Kräfte, die in ihr sind, bei den andren zu übersehn oder sich zu verbieten, wird unmöglich in dem Maß, wie die Einsicht in jene Brüderlichkeit der Existenzen wächst; bricht sie zum umfassenden Weltgefühl durch, schwindet auch das Individuelle der einzelnen Geliebten; höchste Gerechtigkeit wird Ungerechtigkeit gegen die eine. In diesem Sinn lockt mich nicht mehr das Persönliche, nur noch das Geschlecht.

Und da jede Zunahme an Geistigkeit, wenn sie echt war, auch eine Zunahme an Sinnlichkeit ist, so wird unvermeidlich, daß ein solcher Mensch in einem den andren unverständlichen Grad die Lust kennt, neben der einen Frau den Schwestern zu begegnen. Es will verstanden sein; die Lust ist das sinnliche Symptom einer geistigen Feststellung, und diese ist so tief fundamentiert, daß ihr Träger sich als Lügner vorkommen müßte, wenn er der einen Frau sagte, sie sei ihm alles.

Stärker mit jedem Tag wird mir der Widerwillen, im absoluten Denken das Totalitätsgefühl, dieses Umfassen alles Lebenden, zu entfesseln, und es im Praktischen zu unterdrücken. Im Totalen schwingen ist Naivität, die Ehe hemmt sie — sie sind unvereinbar. Hier ist der Punkt, wo ich mich zuerst hart zu sein zwang, dann hart sein konnte: nicht das tun, was alle tun, den Kompromiß schließen, schon geschlossnen rückgängig machen. Viele unternehmen Vorstöße in die Erkenntnis, fast keiner geht zu Ende; der seltenste Mut ist, nicht zurückzukehren.“

„Sublimierter Egoismus,“ sagte sie matt.

„Dein Recht, so zu sagen, und doch nur Feststellung des Geopferten. Es ist nicht gut, Bekenntnis in diesen letzten Dingen zu erzwingen, weil der Bekennende seinen Egoismus mit dem Hermelinmantel des höheren Rechts auf Egoismus drapieren müßte. Laß mich es anders sagen. Als ich dich am Steg in Empfang nahm, dachte ich nicht an mich, sondern an dich. Leid kann ich dir nicht ersparen, aber es kürzen. Es ist Konstruktion, an die schöne Kammlinie der Höhepunkte zu glauben, sie genügen nicht, jedes Geschöpf will Dauer, es will Sicherheit und im Tal wohnen. Solcher Konstruktionen werden im Tag fünfhundert gemacht, Verabredungen tausend getroffen, weil schon gewonnene Erkenntnis überdeckt wird. Sie nicht überdecken, ist neue Moralität, des Mathematischen.“

„In das ich dir nicht folgen kann.“

Er fuhr fort:

„Weshalb nicht? Es ist nicht so schwer. Du verstehst, wie die Kirche dazu kommen konnte, dem Priester die Vermischung mit der Frau zu verbieten, oder wie religiöse Menschen sich die absolute Enthaltsamkeit auferlegten: weil die Frau in die reinliche, ewig mit sich selbst identische Rotation dieser Menschkosmen eingegriffen hätte. Nimm jemand an, der zwar nicht mehr religiös im Sinn des Kirchlichen, gleichwohl von ihrem Blut ist. Da er das Geistige soweit vortreibt, daß es sich mit dem Sinnlichen wiedervereinigt, kann er nicht mehr asketisch sein, aber er wird die Bindung durch die Frau vermeiden, die in diesem Zusammenhang Bindung mit der Sphäre des Geschehns, des Irdischen, Nurmanifestierten, Sozialen ist.

Wiederum, man soll dieses nicht breittreten, noch zum Programm erniedrigen. Es für einen Augenblick tuend darf ich sagen: wessen Anschauungsform die des Totalen ist, so daß er neben dem einzelnen Geschöpf die Summe aller andren sieht, kommt, soweit er sinnlich ist, dem Inzest nah; das, was vom Geist her umfassende Liebe ist, wahrhaft katholisch und demokratisch, wird von den Sinnen her Schamlosigkeit — sublimierte, dürftest du wiederum sagen.

Du weißt nicht, wie oft ich am Eingang der Askese stand. Sie ist nicht der Aufhebung fähig, zwingt finster zu werden, nicht heiter zu bleiben, wird Dämonie. Behaupte dich gegen Dämonie, das ist Lauda, dein Freund.“

„Also ist auch Ehe Dämonie?“

„Ganz recht, die kleine.“

Sie schwieg, er wandte sich langsam zurück, stieg abwärts. Sie folgte ihm, nahm seinen Arm und — war heiter. Er empfand wie sie und sah die Gefahr. Heiterkeit war nicht Abschluß, nur Befreiung durch Aussprache, Überblick vom Punkt aus, an dem sie jetzt standen. Und bevor sie das Haus erreicht hatten, merkte er in ihr das Sinnen dessen, der die ihm gebliebenen Kräfte sammelt.

Das war der Augenblick, von dem geschrieben stand, daß am Ende aller Begegnungen, der vertrauten, gequälten, haßerfüllten sogar, die Umarmung stand, Aufhebung des Wühlens im Wort und des Bewußten. Vielleicht dachte sie daran, daß er es einmal ausgesprochen hatte. Er begann am Abend mit Absicht von Berger zu sprechen.

„Ich konnte,“ sagte sie, „ihn nur mit deinen Augen sehn. Die benennenden Worte fehlten mir, ich fühlte nur: sein Zustand des geistigen Menschen war anders als deiner. Denken hieß ihm, Bücher von der Bibliothek nach Hause tragen, mit grübelnder Falte sich in sie versenken. Dann kam, was er Verarbeitung nannte, und es war oft Vergleichen mit dem, was wieder andre geschrieben hatten. Ernst um ihn gab mir seltsame Wünsche ein, die wohl der Frau eigentümlich sind: ihn zu stören, seine Ideenreihungen zu verwirren. Ich wußte nicht, ob es boshaft war oder Wiederherstellung der von ihm vergeßnen Welt.

Dann besiegte er mich jedesmal, weil er mir von dem erzählte, was ihn beschäftigte. Er glaubte inmitten alles Verhärteten und Hochmütigen, das grauenhaft im Krieg geschah, so unerschütterlich an das Gute, daß man fühlte: auch das ist Wille, Männlichkeit, Widerstand. Und diese Güte war in ihm selbst. Er sprach nie gegen dich, aber er ließ mich fühlen, daß er dein Schweigen verwarf. Ich konnte mich öffnen, und selbst die Anfechtungen der Enthaltsamkeit wurden menschliche Angelegenheit — nun war es wie bei dir.

Es kam ein Abend wie dieser, warm durch Ofen und Licht, von Regalen umstellter; ich ging nicht, wollte die Tat tun, damit sie vorwegnehmend den Zustand schuf, dem sie folgt, wenn sie natürlich ist; an diesem Tag war die Nachricht gekommen, daß du durch deine gewollte Tat nie mehr zurückkehren werdest. Wie war ich in so erzwungner Sinnlichkeit matt. Er sah nur die Entfeßlung, es war dann durch Tage Scheu in ihm vor dem Körper des Weibs, als habe sich ihm ein unreines Geheimnis enthüllt; er nahm mich an der Hand, begann mich einer ruhigen Innigkeit zuzuführen, in der Umarmung nur Vertrautheit ist.

Wie wenig stark wir sind; gewähren wir Zeit, formt uns jeder Mann. Als ich die Wandlung fühlte, floh ich, zwischen die Männer Gestellte, jeden in mir tragend, hilf mir.“

„Helfen kann nur, wer sich selbst anbietet oder ganz ausschaltet. Mich ausschaltend wäge ich Berger und Lauda ab und weiß: bei jenem ist die Sicherheit, die Treue und das Angebot, Gefährtin der geistigen Arbeit zu sein. Bei mir ist nichts als Begegnung auf Zeit. Du bist mir nah, die milde Stunde bringt Sehnsucht nach deiner Liebe. Ihr nachgeben ist schön, aber morgen früh wäre jeder Schritt, der dich befreite, rückgängig gemacht, Gewinn eines Jahrs zerstört. Ist sich begegnet sein nicht genug, vermag der Mensch nicht so stark zu sein, daß es genug sein könnte?“

Sie kniete neben ihm, sah ihn mit tiefen Augen an:

„Als ich kam, tobte Schlechtes in mir: daß du mich nähmest, ob du mich behalten wollest oder nicht —, nur genommen werden, um ein Gut, das du verschmähst, zu beschmutzen, und ihm, der es heilig zu halten versprach, beschmutzt zurückzubringen, als ob ich Rache an ihm nehmen müßte, bevor ich bei ihm bleiben kann. Mir war, als seien es deine Gedanken, in mir. Leugnest du, daß du so denken könntest? Ich gebe mich in deine Hand.“

Er zog sie an sich, lag mit ihr in schweigender Umarmung, letzter, reinigender; den Sinnen verwehrte Kraft strömte dem Sinnen zu über Menschen bewegende Dinge. Als die Weinende in Schlaf sank, stand er auf und schrieb.

Gleiten der Feder über das weiße Papier ward Laut der Ewigkeit, es rollte die Zeit in den Abgrund, aus dem die letzte Lockung kam: nimm was sich dir bietet, Tor ist, wer verschmäht.

„Stark ist, wer sich beherrscht,“ antwortete er.

„Abhängig wird, wer Beherrschung über sich setzt.“

„Nichts wird Dämon werden,“ verwies er, „morgen wird Claire in wunderbarer Scheu leise zärtlich sein, nicht mehr erreichbare Geliebte.“

Aber einige Tage darauf sah er, daß sie viel zu liegen begann. Aufblühende junge Frau, war sie nicht krank. Da sagte sie ruhig:

„Ich wußte es noch nicht ganz, als ich kam, und ahnte es doch. Aber nun ist fast Gewißheit seines Kinds.“

Er telegraphierte Berger zu kommen. Das Telegramm wurde an der Grenze zurückgewiesen, er sandte es danach in ihrem Namen. Zwei Wochen später erwartete er Berger am Schiff. Der Begrüßende suchte in seinem Gesicht zu lesen, Lauda dachte im Flug eines Augenblicks: es ist undenkbar, daß ich je mein Schicksal so von einem andern entgegennähme; dann: was besagt es? Nichts, es fehlte diesem nur das letzte Glied der Kette, an die er sich binden will — in der Sekunde, da er die Gewißheit erhält, wird die Kette Kreis, Eisenband um den vollen runden Kosmos, der nun die doppelte Schwingung gefunden hat, eigne um sich selbst und um die Frau — er ist ein ganzer Mensch und jener einer, die nur einmal lieben.

Liebe war: sich Ordnung geben, darum wurde sie die Eheweisheit des Bürgers, der wie der höchste Geist Ordnung suchte; aber sie war nicht das einzige Mittel, Ordnung zu finden — das war alles, was sich vernünftigerweise in dieser Frage sagen ließ. Jeder suchte das Mittel, das ihm erlaubte, geschlossen in sich zu rotieren.

Wenn die Menschen über Wert oder Unwert der Ehe diskutierten, bejahten oder verneinten sie immer bedingungslos; aber Nein und Ja waren nur relative Wahrheiten; nur Aussagen über das einzelne Naturell waren erlaubt, in allen irgendwie gearteten Problemen der praktischen Sphäre.

Durch Bergers Anwesenheit verschob sich die Konstellation der handelnden Personen, Claire stand nun von Lauda entfernt, Lauda einsamer und fester; er war der, der Gäste bewirtete.

Claire sah ihn bisweilen verwirrt an, schmerzhaftes Starren und brennende Erinnrung; ihm begannen sie schon Ehepaar zu sein, das gemeinsam auftritt, Phalanx verbündeter Interessen — unmerklicher Überdruß des Fremden vor solchem Bündnis. Da sagte Claire zu ihm:

„Ich fühle, was in dir vorgeht. Bist du nun der, der nicht durchführen kann, was er selbst begründete? Würdest du billigen, daß ich übergangslos von einem zum andern wechsle? Ich finde es vor mir selbst nicht abstoßend, daß ich wechsle, nur unsagbar seltsam; es ist, als sähe ich eine Unzahl von Stationen vor mir, endlos wie gespiegelte Türen, durch die man einen Pfeil schießen könnte — sind sie alle durchwandert, wird die Wandlung vollzogen sein. Ich weiß nicht, ob es niederziehend oder tröstend, ob es Güte der Natur oder vernichtende Aussage über die hohe Idee der Liebe ist.“

„Es ist tröstend und Güte,“ antwortete er, „schiebe die Zwischenglieder ein, verweile bei allen, und jede für undenkbar gehaltne Mutation ist möglich.“

„Verstehst du, daß mir der Wunsch, reinlich Entfernung zwischen uns zu legen und in den Tagen bis zur Abreise dich zu meiden, als armer Stolz erscheint, über den wir hinausgeschritten sind?“

„Lebte Hannah, wäre es mir ebenso natürlich erschienen, zwei Frauen, die beide mir Freundin sind, miteinander bekannt zu machen. Natürlichkeiten neuer Art kann nur schaffen, wer die alten der Eifersucht und des mißtrauischen Stolzes nicht mehr anerkennt. Haß, verwundete Würde, die Skala der Leidenschaft, das ist gut genug für französische Stücke, die der Tragödin, rollenfressendem Tigerweibchen, auf den Leib geschrieben sind. Das Tragische wird eines Tags so bombastisch und dumm sein wie jenes Drama Hebbels, in dem Vater, Tochter und Liebhaber Ehre wie Leben verlieren, weil das Mädchen ein Kind bekam. Überlegenheit, die das Schicksal gestaltet, wird auch ein neues Glück gestalten: Mensch stärker als die Leidenschaft.“

Berger bedauerte, seine Arbeit nicht mitgebracht zu haben, Darstellung der Wandlung des Offiziers zum religiösen Reformer. Lauda bot ihm Schreibtisch, Papier, eignes Zimmer; es erwies sich, daß Berger das Manuskript fehlte, Ablauf der Gedanken war abgebrochen, Abbruchstelle nicht gegenwärtig.

Wie verschieden Denken sein konnte, es arbeitete dieser auf der Geraden, er, Lauda, aus dem Kreis vorstoßend; was man auch an Erkenntnissen fand, es war ihm nur Variation der Grundanschauung, so daß er in welcher Situation immer nichts nötig hatte als Heft und Stift — ausgesetzt in der Südsee hätte er nicht anders gedacht als im Land der Philologen; er vermochte auf Stimmung und die Bedingungen der Vorbereitung zu verzichten, schrieb nur sich selbst.

„Sie sind zu deutsch,“ sagte er Berger, „das war auch die Beschränkung Lagardes. Ein Deutscher kommt immer von den Büchern der Vorgänger her oder von der Billigung des deutschen Kosmos; auch Sie lassen Heer, Kaiser, Ständegliederung darin, wollen sie nur ethisch vertiefen. Was ist der ethisch vertiefte Offizier? Etwas Undenkbares. Ethiker kann nicht Offizier sein, löst die Seelen von der Verpflichtung des Staats.

Sie sind auch zu protestantisch. Der protestantische Reformer ist ein Unding, nicht nur, weil Protestantismus die Ausliefrung des Religiösen an den Staat ist, so daß protestantische Geistliche nichts andres genannt zu werden verdienen, als vom Staat eingesetzte Beamte, dessen gute Beziehungen zum lieben Gott zu pflegen, sondern auch, weil Protestantismus wie sein Halbbruder Sozialismus, im Gegensatz zum Katholizismus, ganz unpessimistisch ist, dem bedingungslosen Ja des Irdischen, des Tuns, der Pflicht zu leben, nichts von dem Vorbehalt entgegenstellt, der das Wesen des Religiösen ist.

Der Pflichtbegriff Kants ist unhaltbar geworden, der deutsche Moralismus strahlt keine irrationale Vitalität aus, alle Erziehungsreformen, die auf Pflicht und Moralität sich aufbauen, sind matt. Wer der Erziehung neue Wege weisen will, muß vom Widerstand gegen diese deutschen Begriffe ausgehn, sie ihrer Absolutheit entkleiden; der Zentralbegriff alles künftigen Denkens wird Relativierung heißen und im Ethischen Ausgleich zwischen Ja und Nein sein.

Es ist nicht schwer, die Katastrophe des deutschen Denkens vorauszusagen. Sollten sie siegen, was nicht sein darf und nicht sein wird, würden sie blasphemisch die Lehre des Tuns zur Unerträglichkeit steigern; verlieren sie den Krieg, werden sie in ihrer Feigheit, die nicht die Verpflichtung kennt, sich der Entwicklung zu öffnen, Wiederaufrichtung des Alten fordern. Wer diese Nation erziehn will, darf nicht mit ihr gehn, er muß gegen sie stehn.“

 

Als die Formalitäten erfüllt waren, rüsteten sich Claire und Berger zur Reise.

Lauda begleitete sie nach Zürich. Es kam der Augenblick, wo er Abschied von ihr nahm, belastet durch Rückerinnern, scheuend vor der Frage, ob es erlaubt war, das Natürliche durch Eigenmächtigkeit umzuformen, dann zog der Zug an, und Unwiderrufliches war geschehn.

Ihre Augen brannten noch in ihm, er ging schwer denselben Weg, den er am Tag seiner Ankunft gegangen war, zum See. Kein Silber flammte, nüchterner Tag. Es galt, Dinge zwischen sich und sie zu bringen, er suchte die Bekannten auf. Er fand Hans in Erregung, es war aufs Bestimmteste die Nachricht gekommen, daß Picasso in Paris zum Gegenständlichen zurückgekehrt war und herausfordernd akademisch, betont konventionell malte, scharfen Kontur setzend; bereits hatte ein Schweizer Aufnahmen gemacht, kein Zweifel war mehr erlaubt.

Wird er Widerstand leisten oder die Weichen in sich herumwerfen? dachte Lauda; stählt es ihn, allein auf dem ungewissen Weg weiterzugehn, oder ist das Bedürfnis nach Kampfgenossen stärker? Er fühlte, wie in den Kosmos des Freunds der Stab der Verwirrung gestoßen war, Rotation gestört und der Gedanke an gänzliche Umschichtung, parallel zu der Picassos, erregt umkreist wurde. Er erinnerte sich der starken Zeichnungen nach Körperakten, die er aus früheren Perioden des Freunds gesehn hatte, und sagte:

„Nach dem Gesetz des Gegensatzes werden Sie zum Körperlichen zurückkehren, wie Lisbao eines Tags feststellen wird, daß es unhaltbar ist, mit dreißig Jahren noch den Weltekel des Dreiundzwanzigjährigen zu verkünden. Extreme schlagen um, weil Nein in Ja umschlägt, das Ja automatisch das Nein auslöst. Gleichmäßig, stark, unerschütterlich ist nur, wer über seinen Extremen steht, indem er sie zu Vorgängen in sich macht, wie Sommer und Winter wechseln. Ich versandte heute das neue Stück, das ich geschrieben habe, Rückkehr zur Illusion von Wirken und Arbeiten.

Es ist im Großen dasselbe, was sich im Kleinen jede Nacht begibt: ein Tag endete mit solchem Überdruß, das Treiben mitzumachen, daß man sich wie zum Nichtmehrerwachen ins Bett legt — am nächsten Morgen erwacht man frisch und hat ihn, den Appetit der Kolonie von Raubmonaden, deren Summe man ist. Jeder Müdigkeitszustand ist so natürlich wie dieser Hunger, und die Einheit der Persönlichkeit besteht nicht, wie deutsche Moralisten glauben, darin, daß man den Widerwillen unterdrückt und den Hunger in Ethos fälscht, sondern in der Fortdauer des Kosmos, der die Phänomene seiner Aggregatzustände erduldet, wie Landschaft die des Himmels.“

Puck kam, um Hans vorzuschlagen, er möge seine jüngste Arbeit illustrieren, die Groteske vom Fleischseelenmenschen.

„Ich will es an Ort und Stelle erklären,“ sagte er und führte die Freunde in eine Seitenstraße des Geschäftsviertels, wo in der Hinterfront von Warenhäusern und Bankpalästen ein altes Fachwerkhaus sich erhalten hatte. Er zog sie an die Gitterfenster, sie sahn eine Halle mit Schlagschatten, düstren Ecken; Männer mit nackten Armen standen über Tische gebeugt, Bewegung wie von hobelnden Tischlern, aber das Gehobelte spritzte Blut.

„Sie schneiden und häuten,“ sagte Puck, „schinden und säbeln, seht Ihr an den Wänden die senkrechten Parallelen? Es sind Leichname, die Rippen glänzen, das Nierenfett leuchtet gelb wie Honigballen von Eingeweidebienen. Es ist eine Roßschlächterei; aber späht schärfer hin: darunter wird eine Stunde der Inquisition sichtbar, Henkersknechte beugen sich über Liegende, wühlen darin. Warum arbeiten sie in so düsterm Licht? Ich weiß den Grund: in dieser Halle wurde in der Tat einst gefoltert, es ist der Geist des Baus, der ihnen die Atmosphäre schafft.

Hier bringe ich Stunden zu, während ihr im Café sitzt; gegen Zahlung einer Runde lassen sie mich zuschaun. Sie glauben, ich sei ein Sadist, der sich aufs Kinderschlachten vorbereitet; ich lächle und sie sehn nicht die Verzerrung des Munds. Hier läßt sich alles empfinden, was vom Mensch zu sagen ist, er atmet nicht Luft, sondern Dunst des Bluts; er ist Methodiker, er zerreißt nicht, er schneidet. Ist es denkbar, daß es Leute gibt, die ihren Achtstundentag damit füllen, Mitgeschöpfe zum Kochen fertigzumachen? Ein ganzer ehrenwerter Stand tut ein Lebenlang nichts andres, und die Meister sind Gemeinderäte.

Von hier gehe ich in die Metzig am Quai, wo das Fleisch für die gehobnen Bürger bereitet wird, es liegen gebrühte Köpfe, Kutteln, Lungen. Dort sind auch Fleischerinnen, blühende Mädchen, schwellend vor Sinnlichkeit, die sie aus braunen Augen gratis verschleißen — man möchte sie über den blutigen Ladentisch legen, das bekannte Spiel mit ihnen zu treiben. Die Dame kommt, ein Stück zu kaufen, und aus dem Schlachthaus geht sie zu ihren Kindern und ist gut zu ihnen.

Nachts träume ich von einem Planet, auf dem der Mensch die Rolle des Tiers übernommen hat, man hängt junge Mädchen geöffnet ins Schaufenster und weiche Brüste sind gesucht; Hirn wird gewogen und enthaarte Köpfe stehn in Reihe. Das Epos schwillt, ich habe den großen Stoff gefunden, der das Erhabne enthält, den Triumph des Lebens und die tragende Lüge. Zwischen der Kannibalenszene des Anfangs, wo man mit Knütteln zermalmt, und dem Salon, wo man Lende des Bruders Tier verzehrt, über die Dinge des Geists diskutiert, ist alles enthalten.

Das Thema ist so ungeheuer, daß mir manchmal der Schweiß vor Angst ausbricht, daß ich nicht in jedes Kapitel die schneidende Lustigkeit, die unsagbare Mischung von Grauen und tanzender Befeurung bringen könnte.“

„Ich schenke dir einen Beitrag,“ sagte Hans, „den ich in einem Buch gelesen habe. In Südamerika schneiden Wilde ihren Feinden den Kopf ab und zermalmen ihn durch vorsichtige Schläge so geschickt, daß die Haut unverletzt bleibt. Sie schrumpft danach in der Sonne zu der Größe eines Apfels ein; indem sie eine Schnur durch den Rand ziehn, machen sie einen Beutel daraus, darin sie Geld und Kleinigkeiten bewahren. Man geht dort mit diesen Gesichtsbeuteln zu Markt, siehst du sie an den Schürzen hängen?“

„Famos,“ antwortete Puck, „es leuchtet mir nur eins nicht ein, daß Kannibalen Geld verwahren, sie müßten schon Zivilisierte sein.“

„Wie alle Kannibalen,“ dachte Lauda, „Kannibalismus ist religiös, Ausfluß des Totalitätsgefühls. Statt den Bruder zu lieben, frißt man ihn, es ist durchaus dieselbe Kommunion, dieselbe Aufhebung der Vereinsamung durch Einzelexistenz.“

Sie wandten sich zur Stadt, da kam ihnen Lilian mit einer Dame entgegen und übersah sie, Gruß ablehnend. Puck sagte:

„Die Begleiterin liefert die Erklärung. Es ist eine verheiratete Amerikanerin, die mit ihrem europäischen Mann in Geschwisterehe lebt, das Fleisch ward verworfen. Sie verbietet Lilian Umgang mit uns. Aber glauben Sie, daß sie dieselbe ist, die Obrecht in Christian Society unterweist, die von Problematik durchseuchte Puritanerin den inbrünstig Religiösen?

Welch ein Hexensabbat ist das Treiben der Existierenden. Jeder einzelne, der unter der Sonne atmet, ist eine Brutstätte, in der Ideen, Stimmungen, Triebe, Gefühle und Gebote unaufhörlich, ohne eine Sekunde auszusetzen, die perverseste Unzucht miteinander begehn; es mischt sich das Heterogenste, der Fülle von Mißbildungen ist kein Ende, und das alles schwimmt in einem Schleim, der dem innersten Schoß des Egoismus entfließt und sich klebrig Ethik nennt.

Gott sei dem gnädig, der wirklich ethisch ist, er müßte sich mit Dynamit in die Luft sprengen, um der Qual zu entgehn — Beweis, wie dumm und dumpf das Hirn eines Ethikers organisiert sein muß. Mir wächst — ich stehe dem Phänomen hilflos gegenüber — mit jedem Tag die Kraft des Lachens, was mit andren Worten heißt, daß ich in das Schamlose hineinwachse. Das befreiende Lachen, von dem sie reden, ist das Sprungbrett, das der Egoismus uns unter die Füße schiebt. Unser aller Lebensbaum wurzelt in einem Schlangennest — manchmal fühle ich sie körperlich sich regen und finde mich damit ab, wie einer sich damit abfindet, daß er Trichinen in sich hat. Halloh, da kommt Siriwan, jagend in der Stunde, wenn die Läden sich leeren und die Kokotten vom Berg steigen. Er wählt eine andre Methode, sich abzufinden, und treibt die Weiber dem ewigen Dämon zu.“

Lauda aß mit Siriwan zu Nacht, erzählte von Pucks Definition.

„Ich bin heute vierzig,“ sagte Siriwan, „und fühle schwer die Luft über mich streichen, die mit den Erkenntnissen des fünften Jahrzehnts beladen ist. Wissen Sie etwas von den Begierden, die in ihm in Männern und Weibern brennen? Sie zu erforschen wird Inhalt sein, ich kenne keinen andren mehr. Es findet nicht Ihren Beifall? Es ist gleich.

Zu Hause liegen die Bücher, aus denen sich rekonstruieren läßt, welch ungeheuerliches Bordell die Vergangenheit gewesen ist. Sieht man näher zu, gibt man sich die Mühe, die Menschen aufzusuchen, so zeigt sich, daß auch die Geschichtsschreibung der Gegenwart sich lohnt. Ich wittre aus den Jahren, wenn der Krieg zu Ende sein wird, noch Stärkres, Vergangenheit wird übertrumpft werden. Mein selbstgewolltes Ziel steht fest, ich will der Historiograph dieser Zeit sein. Reisen nach Brüssel, Genf, Berlin, Paris und in das ungeheuerliche Rußland, dessen Rasereien durch ein Jahrtausend ich jetzt lese. Bis dahin ist Zürich Vorbereitung, anerkennenswert, nicht übel.

Erinnern Sie sich der Alten, die keinen Schritt ohne ihr zwölfjähriges Mädchen machte, dasselbe, das Sie rührte? Sie vermuteten zuerst, sie hüte das Kind, dann kamen Sie der Wahrheit näher, daß der Weg zur Tochter über sie geht, aber die ganze Wahrheit ist, daß der Mann, der mit dem Mädchen allein zu sein glaubt, sich zwei Frauen gegenüber sieht und eine Perversion der Gleichzeitigkeit erlebt, die in der Alten nach dem Taumel eine wahrhaft stürmische, ekstatisch röchelnde Zärtlichkeit zu der Kleinen entzündet. Die Wege, die der Mensch zur überindividuellen Kommunion findet, sind phantastisch, und je sinnlicher sie sind, desto tiefer sind sie.“

„Es kommt auf das Gehirn an,“ antwortete Lauda, „das sie feststellt. Es wäre mir unmöglich, an ihre Erforschung Jahre zu wenden, wie Sie planen, weil nichts mich überraschen kann, während die Art, wie Sie sich ihr widmen, nicht Feststellung ist, sondern Ihrerseits Abhängigkeit von der Dämonie dieser Dinge verrät. Es ist nicht die ganze Wahrheit, was Sie sehn, es ist nur die halbe. Der Baum ist nicht beschrieben, wenn Sie seine Wurzeln ausgegraben haben.

Man soll nicht sagen, Laub, Krone, Blüten seien Manifestationen der Güte, denn sie wachsen in der Tat aus der Wurzel, im Schlamm. Gleichwohl gibt es neben der primären Sinnlichkeit die transformierte, Wille, Idee, und das weite, schöne Reich der Geistigkeit; es gibt Denken und Wissen durch Unmittelbarkeit, es gibt die Einheit des Ichs, die um so energischer, freier, reflexionsloser wird, desto ungehemmter die Verbindung zwischen Wurzel und Krone ist.

Die Begierden eines Jahrzehnts? Man muß neben ihre Dämonie die Kraft zur Undämonie setzen. Wer die Dämonie nicht kennt, ist nur ein Rationalist, seßhaft im Tun; wer nicht stärker bleibt, nur ein Fanatiker, unter dem Griff Stammelnder. Militarist und Literat, wo Sie in dieser Zivilisation hinschauen, ist jeder das eine oder andre, vergewaltigend männlich oder vergewaltigt ethisch, Mensch durch Ausgleich keiner.“

 

Er kehrte ins Hotel zurück und lag in folgendem Traum.

Er lebte mit Claire, matt alles; der Tag setzte sich aus hundert Handlungen zusammen, und er wußte: sie sind ihr alle Symbol der Liebe, Werben der Zärtlichkeit, Bereitschaft. Er wußte es und konnte es nicht erleben, er wollte und der Wille genügte nicht, der Schluß aus der Handlung auf das Motiv genügte nicht; er ging neben einem andren und schwang nicht in ihm. Er fand sie mit den Augen schön, aber der Wunsch blieb aus, sie zu berühren, er mied sie.

Er erhielt eine Sendung, öffnete sie, es lag eine Oblate darin. Claire sah ihn mit tiefen Augen an, brach die Oblate, reichte die Hälfte. Er aß, ein Sturm ging durch ihn; er wußte wieder alles von ihr. Zehnmal etwas für ihn tun von den kleinen Dingen des Tags, war zehnmal frohe Liebe, weil es Gewißheit war, daß sie in alle Jahre bei ihm sein werde. Zeit vor sich haben, gab das Vertraun; an ihrem Ende stand eine schöne alte Frau und ein weißhaariger Mann. Das war ihr tiefster Wunsch, alt mit ihm werden.

Er legte den Arm um sie, und lächelnd nahm sie das stumme Versprechen. Es gab nur eine mordende Sünde, das Kind in der Frau nicht verstehn, das nicht die Kraft hat, allein zu sein. Sie nannte ihn gut, weil er es wußte.

Ende

Von Otto Flake erschien bei S. Fischer:

Das Mädchen aus dem Osten
Zwei Erzählungen

Schritt für Schritt
Roman. 9. Auflage

Freitagskind
Roman. 7. Auflage

Horns Ring
Roman. 30. Auflage

Das Logbuch
Roman. 24. Auflage

Abenteurerin — Im Dritten Jahr
Zwei Stücke

Die Stadt des Hirns
Roman. 6. Auflage

Das Ende der Revolution
Aufsätze. 3. Auflage

Das kleine Logbuch
Kleine Prosa. (In Vorbereitung)

Im Rolandverlag, München:

Die Fünf Hefte

Die Stadt des Hirns
Roman

Der Wert des außergewöhnlichen Buches besteht in der Aufstellung eines neuen Typus Mensch. Vom Bohemien und Neurastheniker, wohin gestern noch die Flucht vor dem Bürger führte, hat diese Menschenrasse sich endgültig losgesagt. Das Werk eines Lebens erfordert, aus dem Erlebnis heraus Erkenntnis zu erarbeiten. Hierzu sind Stärke und Nüchternheit des Geistes gleich nötig wie die Fähigkeit sich selbst überwindender Hingabe. Bezeichnend ist das Verhältnis der Geschlechter: Parallelität selbständiger Menschen bei gegenseitiger Freiheit der Trennung sowohl wie der leidenschaftlichen Vereinigung.

Berliner Tageblatt

Sinnlos, den Inhalt im einzelnen zu erzählen. Er ist sprunghaft wie die Stadt des Hirns selbst; er ist vom Wunsche nach Beseelung und Belebung diktiert; er ist eine klirrende Weckeruhr, die noch beim Wecken heißer Ungeduld voll geschüttelt wird, von einem Fiebernden, der aber ein Fester ist und ein Beherrschter. Den Stoff an sich reißen, unterjochen; das Wort beherrschen; der Form gebieten; aber den Menschen nie leugnen, nicht bespötteln, er sei, wie er sei, sondern ihn erkennen, ihn begreifen; Demut lernen — das ist der Wille, der solcher Stadt entspringt. Dieses ist kein Buch der Gefühle, sondern des Gefühls, dem die Energie gebot. Es packt ein Jahrzehnt am Nacken und blickt ihm scharf in die Augen, bis die Milde sieht, daß auch sie Tat ist.

Berliner Börsen Kurier

Schritt für Schritt
Roman

Otto Flakes „Schritt für Schritt“ ist der bislang einzige von sensibler Erfahrung getragene, stilistisch völlig durchgeistigte und in der Charakterzeichnung dichterisch sichere erotische Roman unserer Zeit, in seiner Art ein Meisterstück.

Literarischer Ratgeber des Dürerbunds

Beständen an unseren Hochschulen Seminare für Sexualpsychologie, so böte für sie dieser Roman einen Übungsstoff besonderer Art. Indem er es versteht, sexuelle Vorgänge allerstärksten und intimsten Grades ästhetisch vollendet, fast schöpferisch im Ausdruck, wiederzugeben, wirkt er mit an der großen Aufgabe, das Sexualgebiet aus einem Tummelplatz der Hoheit in eine Stätte geistiger Schulung zu verwandeln.

Neues Leben

Freitagskind
Roman

Ein elsässischer Roman, ein Spiegel, dessen Figuren man in Deutschland erst verstehen wird, wenn es zu spät ist; man hört auf die Tagespolitiker, man sollte auf die Dichter hören.

Nieuwe Rotterdamsche Courant

Horns Ring
Roman

Wenn bei Lesage der Teufel seinem Erretter die Dächer Madrids abhob, so dringen wir hier bis zu den Wohnungen des Geistes vor, zu dessen vielfältig verschlungener Struktur uns sein magischer Ring den Weg bahnt. So entsteht keine leere Hymne auf den Aufstieg Berlins, dessen Ruhm gesungen wird, sondern eine Dichtung, die sich das Wesen der Großstadt in der tragischen Schwere ihrer Problematik zum Gegenstand nimmt. Daß daraus ein farbensattes Bild von unserer Hauptstadt hervorgewachsen ist, soll nicht gering veranschlagt werden, wie denn ein künftiger Fortsetzer Gustav Freytags aus diesem Roman die besten Kulturzeugnisse für deutsche Leistung und deutsches Leben vor Ausbruch des Weltkriegs wird entnehmen müssen.

Deutsche Rundschau, Berlin

Das Logbuch
Roman

Der Hauptgedanke aber, der durch Flakes Bücher immer wieder hindurchleuchtet, macht sie uns gerade in der Verbindung mit diesem geistigen und kulturellen Aristokratismus erst wertvoll: daß alles geschehen und geleistet werden soll in einer tiefen selbstverständlichen Achtung vor dem Volke in seiner großen anonymen Gesamtheit, daß alle Verfeinerungen zivilisierten Lebens wertlos sind, die das Recht des schlichten namenlosen Einzelnen auf Menschentum und Aufstieg hemmen und das Menschheitsgewissen, das ja immer irgendwie lebt, mörderisch ersticken.

Börsen-Zeitung, Berlin

Spamersche Buchdruckerei in Leipzig

Anmerkungen zur Transkription

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