Title: Anna Karenina, 2. Band
Creator: graf Leo Tolstoy
Release date: February 18, 2014 [eBook #44957]
Language: German
Credits: Produced by Norbert H. Langkau, Jens Nordmann and the
Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Roman aus dem Russischen
des
Grafen Leo N. Tolstoi.
Nach der siebenten Auflage übersetzt
von
Hans Moser.
Zweiter Band.
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Die Fürstin Schtscherbazkaja fand, daß es unmöglich sei, die Hochzeit vor den Fasten, bis zu denen noch fünf Wochen waren, zu feiern, da die eine Hälfte der Ausstattung bis dahin nicht fertig zu stellen war; doch konnte sie nicht umhin, sich mit Lewin einverstanden zu erklären, daß es nach den Fasten wieder viel zu spät werden würde, da eine alte Tante des Fürsten Schtscherbazkiy sehr krank war und bald sterben konnte, und alsdann die Trauer die Hochzeit noch weiter verzögert haben würde. Die Fürstin erklärte sich infolge dessen, nachdem sie die Mitgift in zwei Partieen — eine große und eine kleine geteilt hatte, damit einverstanden, daß die Hochzeit zu den Fasten gefeiert würde. Sie beschloß den kleineren Teil der Mitgift schon jetzt bereit zu machen, während der größere später folgen würde, und war sehr erbost über Lewin, weil dieser ihr durchaus nicht ernsthaft zu antworten vermochte, ob er hiermit einverstanden sei oder nicht. Diese Ordnung der Dinge war um so bequemer, als die jungen Eheleute sogleich nach der Hochzeit auf das Land gingen, wo die große Mitgift gar nicht erforderlich war.
Lewin befand sich noch immer in jenem Zustande der Verzücktheit, in welchem es ihm schien, als ob er und sein Glück den hauptsächlichsten und einzigen Zweck alles Seienden bildete, daß er jetzt an nichts denken, für nichts sorgen dürfe, daß vielmehr alles für ihn von anderen gemacht wurde oder gemacht werden würde. Er hatte durchaus keine Pläne oder Ziele für sein zukünftiges Leben, sondern gab die Entscheidung hierüber anderen anheim in der Überzeugung, es werde schon alles gut gehen. Sein Bruder Sergey Iwanowitsch, Stefan Arkadjewitsch und die Fürstin leiteten ihn an, was er zu thun[4] habe, und er war vollständig einverstanden mit allem, was man ihm vorschlug. Sein Bruder nahm Geld für ihn auf, die Fürstin riet, nach der Hochzeit Moskau zu verlassen, Stefan Arkadjewitsch riet, eine Hochzeitsreise ins Ausland zu machen. Er war mit allem einverstanden. „Thut was Ihr wollt, wenn es Euch Vergnügen macht. Ich bin glücklich, und mein Glück kann nicht größer sein und nicht kleiner, was immer Ihr auch thun möget,“ dachte er.
Als er Kity den Rat Stefan Arkadjewitschs mitteilte, eine Hochzeitsreise ins Ausland zu machen, wunderte er sich sehr, daß sie damit nicht einverstanden war, sondern bezüglich des beiderseitigen künftigen Lebens gewisse eigene bestimmte Forderungen stellte. Sie wußte, daß Lewin seine Beschäftigung auf dem Lande hatte, die er liebte. Sie verstand, wie er sah, nicht nur nichts hiervon, sondern wollte auch gar nichts davon verstehen lernen, doch hinderte sie dies nicht, jene Beschäftigung für sehr wichtig zu halten. Sie wußte ferner, daß ihr Haus in einem Dorfe stand, und wünschte nun eben, nicht ins Ausland zu fahren, wo sie ja nicht leben würde, sondern dorthin, wo ihr Haus stand. Dieser bestimmt ausgeprägte Entschluß setzte Lewin in Verwunderung, doch da ihm alles gleichgültig war, bat er sogleich Stefan Arkadjewitsch, als ob dies dessen Verpflichtung wäre, auf das Dorf zu fahren und dort alles vorzubereiten, wie er es verstünde, mit jenem Geschmack, den er in so reichem Maße besäße.
„Höre einmal,“ sagte nun eines Tags Stefan Arkadjewitsch zu Lewin, — vom Dorfe zurückgekommen, woselbst er alles für die Ankunft des jungen Paares eingerichtet hatte — „hast du denn ein Zeugnis, daß du gebeichtet hast?“
„Nein. Warum?“
„Ohne dies wirst du nicht getraut!“
„O, o, o,“ rief Lewin aus; „ich habe ja schon seit neun Jahren keine Fasten mehr innegehalten. Daran habe ich gar nicht gedacht!“
„Du bist mir Einer,“ lachte Stefan Arkadjewitsch, „und mich willst du einen Nihilisten nennen! Aber das geht wirklich nicht — du mußt fasten.“
„Wann denn? Es sind noch vier Tage übrig.“
Stefan Arkadjewitsch ordnete auch dies, und Lewin begann[5] zu fasten. Für ihn, als einen Häretiker, der aber gleichwohl den Glauben anderer achtete, war die Gegenwart und Teilnahme bei jeder Art von kirchlichen Ceremonien sehr lästig. Jetzt, in seiner allen gegenüber gefühlvollen, weichen Seelenstimmung, in der er sich befand, war dieser Zwang zu heucheln, Lewin nicht nur lästig, er schien ihm vielmehr vollständig undurchführbar. Jetzt, in seiner vollen Mannhaftigkeit und Blüte sollte er entweder lügen oder spotten! Er fühlte sich nicht in der Lage, eines von beiden zu thun, aber soviel er Stefan Arkadjewitsch auch anliegen mochte, ob er nicht ein Zeugnis erhalten könne, ohne gefastet zu haben, Stefan Arkadjewitsch erklärte, dies sei unmöglich.
„Und was kann es dir darauf ankommen — zwei Tage? Er ist ein so lieber, verständiger Geistlicher und wird dir diesen Zahn ausziehen, daß du es gar nicht gewahr wirst.“
In der ersten Messe machte Lewin den Versuch, in sich die Erinnerungen an seine Jünglingszeit und jene mächtigen religiösen Gefühlsregungen wieder aufzufrischen, die er in seinem sechzehnten und siebzehnten Jahre durchlebt hatte. Doch alsbald überzeugte er sich, daß ihm dies vollständig unmöglich war. Er versuchte nun, auf alles das zu blicken, wie auf eine eitle Sitte, die keine innere Bedeutung besaß, und Ähnlichkeit mit der Sitte des Visitemachens hatte, empfand aber, daß er auch dies durchaus nicht über sich gewann. Lewin befand sich der Religion gegenüber, wie die Mehrzahl seiner Altersgenossen, auf einem vollständig unbestimmten Standpunkt. Glauben konnte er nicht, war aber bei alledem doch nicht fest überzeugt davon, daß alles Glauben unwahr sei, und so empfand er denn — weder imstande, an die Bedeutsamkeit dessen zu glauben, was er that, noch fähig, gleichgültig darauf zu schauen, wie auf eine leere Formalität — während der ganzen Zeit dieser Fasten ein Gefühl von Unbehagen und Scham, indem er that, was er selbst nicht verstand und was, wie ihm eine innere Stimme sagte, gewissermaßen irrig und nicht gut war.
Während der Kirchenfeier lauschte er bald den Gebeten und bemühte sich, ihnen eine Bedeutung beizulegen, die mit seinen Anschauungen nicht in Konflikt geriet, bald suchte er, in der Empfindung, daß er nichts verstehen könne und sie verwerfen[6] müsse, die Gebete nicht zu hören und beschäftigte sich mit seinen Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen, die mit außerordentlicher Lebhaftigkeit während dieses müßigen Stehens in der Kirche in seinem Kopfe durcheinandergingen.
Er hörte die ganze Messe, die Vigilien und am andern Tage, zeitiger als sonst aufgestanden, begab er sich, ohne den Thee genommen zu haben, um acht Uhr morgens wieder in die Kirche, um die Frühgebete und die Beichte zu hören.
In der Kirche befand sich nur ein armer Soldat, zwei alte Weiber und die Kirchendiener.
Ein junger Diakonus, dessen langer Rücken sich in zwei Hälften scharf unter dem dünnen Leibrock abhob, trat ihm entgegen und begann sogleich, zu einem kleinen Tischchen an der Wand tretend, zu lesen. An der Art seines Lesens, besonders an der häufigen und schnell aufeinanderfolgenden Wiederholung der nämlichen Worte „Herr erbarme dich unser“, die von der Hast völlig entstellt klangen, fühlte Lewin, wie ihr Sinn für diesen Mann verschlossen und versiegelt war, fühlte aber auch, daß es sich nicht zieme, jetzt daran zu rühren, da hieraus nur eine Verwickelung entstehen konnte — und so fuhr er fort, hinter dem Geistlichen stehend, ohne ihn zu hören oder sich in ihn zu versenken, an seine eigenen Angelegenheiten zu denken.
„Es liegt wunderbar viel Ausdruck in ihrer Hand,“ dachte er, sich vergegenwärtigend, wie sie gestern beide am Ecktisch gesessen hatten. Zu sprechen hatten sie wenig miteinander gehabt, wie das fast stets während dieser Zeit ist; sie hatte, nur die Hand auf den Tisch legend, diese geöffnet und geschlossen und dazu gelacht, indem sie auf ihre Bewegung blickte. Er dachte daran, wie er die Hand geküßt und dann die ineinanderlaufenden Linien auf der rosigen Handfläche betrachtet hatte.
„Wieder das entstellte ‚Herr erbarm dich‘,“ dachte Lewin, sich bekreuzend, verbeugend und auf die geschmeidige Bewegung des Rückens des sich beugenden Diakonus schauend. „Sie nahm darauf meine Hand und betrachtete die Linien; ‚du hast eine schöne Hand‘, hatte sie gesagt“ und er schaute auf seine Hand und auf die kurze Hand des Diakonus. „Ja, nun ist es bald zu Ende,“ dachte er, „nein, es scheint wieder von vorn anzufangen,“ dachte er, den Gebeten lauschend; „doch,[7] es ist zu Ende, da neigt er sich schon bis zur Erde, das ist stets erst zuletzt der Fall.“
Diskret mit der Hand unter dem Plüschaufschlag ein Dreirubelpapier in Empfang nehmend, sagte der Diakon, er werde nun registrieren und schritt mit seinen neuen Stiefeln schnell und hallend über die Steinplatten der leeren Kirche zum Altar. Nach Verlauf einer Minute schaute er von dort wieder zurück und winkte Lewin. Der Gedanke, welchen dieser bisher in sich verschlossen gehabt, regte sich jetzt wieder in seinem Hirn, doch bestrebte er sich sogleich, ihn von sich zu weisen.
„Es wird sich schon machen,“ dachte er und schritt zu dem Altar. Er stieg die Stufen empor und erblickte, sich rechts wendend, den Geistlichen. Der greise Priester mit spärlichem, halbergrautem Bart und mattem gutmütigem Blick stand und blätterte in der Agende. Nachdem er Lewin leicht gegrüßt hatte, begann er mit der gewohnten Stimme sogleich die Gebete zu lesen. Als er hiermit zu Ende war, neigte er sich bis zur Erde und wandte sich hierauf mit dem Gesicht nach Lewin.
„Christus steht unsichtbar hier und nimmt Eure Beichte entgegen,“ sprach er, auf das Kruzifix deutend. „Glaubet Ihr an alles, was uns die heilige apostolische Kirche lehrt?“ fuhr der Geistliche fort, die Augen von Lewins Gesicht wegwendend und die Arme auf sein Epitrachelion legend.
„Ich habe gezweifelt und zweifle noch an allem,“ sagte Lewin mit einer Stimme, die ihm selbst unangenehm war, und schwieg dann.
Der Geistliche wartete einige Sekunden, ob Lewin nicht noch etwas Weiteres sagen würde, und sprach dann, die Augen schließend, in schnellem wladimirschen o-Dialekt:
„Die Zweifel sind der menschlichen Schwachheit eigen, aber wir müssen beten, auf daß der barmherzige Gott uns stärke. Was für besondere Sünden habt Ihr auf Eurem Gewissen?“ fügte er hinzu, ohne die geringste Pause dabei zu machen, und gleichsam, als wollte er keine Zeit verlieren.
„Meine vornehmste Sünde ist mein Zweifeln. Ich zweifle an allem, ich befinde mich größtenteils nur in Zweifeln.“
„Der Zweifel ist der menschlichen Schwäche eigen,“ wiederholte der Geistliche mit den nämlichen Worten, „aber woran zweifelt Ihr vornehmlich?“
„An allem. Ich zweifle bisweilen selbst an Gottes Dasein,“ antwortete Lewin unwillkürlich, und erschrak über das Unziemliche dessen, was er gesprochen hatte.
Auf den Geistlichen machten indessen, wie es schien, die Worte Lewins keinen Eindruck.
„Welche Zweifel können wohl über Gottes Dasein walten?“ sagte er schnell und mit kaum merklichem Lächeln.
Lewin schwieg.
„Welchen Zweifel könnt Ihr an dem Weltenschöpfer haben, wenn Ihr seine Werke schaut?“ fuhr der Priester in schneller, gewohnheitsmäßiger Sprache fort. „Wer hat den Himmelsdom mit Sternen geschmückt? Wer hat die Welt in ihrer Schönheit gekleidet? Wie sollte das ohne den Schöpfer möglich gewesen sein?“ sprach er, fragend auf Lewin schauend.
Dieser fühlte, daß es unschicklich gewesen wäre, einen philosophischen Wortwechsel mit dem Geistlichen zu beginnen und gab deshalb zur Antwort nur, was sich auf die Frage selbst bezog.
„Ich weiß es nicht.“
„Ihr wißt es nicht? Aber wie könnt Ihr dann daran zweifeln, daß Gott alles geschaffen hat?“ versetzte heiter-bedenklich der Geistliche.
„Ich begreife nichts,“ antwortete Lewin errötend, und im Gefühl, daß seine Worte thöricht waren und in dieser Situation thöricht sein mußten.
„Betet zu Gott und bittet ihn. Auch die Kirchenväter haben gezweifelt und Gott gebeten um Stärkung ihres Glaubens. Der Teufel hat gar große Macht und wir dürfen uns ihm nicht überliefern. Betet zu Gott und bittet ihn. Betet zu Gott,“ — wiederholte der Geistliche und schwieg hierauf einige Zeit, als sei er in Nachdenken versunken. „Wie ich vernommen habe, bereitet Ihr Euch vor, in den Ehebund mit der Tochter meines Pfarrbefohlenen und Beichtkindes, des Fürsten Schtscherbazkiy zu treten?“ frug er lächelnd, „das ist eine herrliche Jungfrau!“
„Ja,“ antwortete Lewin, über den Geistlichen errötend; „wozu brauchte derselbe bei der Beichte hiernach zu fragen?“ dachte er bei sich.
Als ob der Geistliche diesen Gedanken beantworten wollte, sagte er zu Lewin: „Ihr bereitet Euch vor, in den Stand der heiligen Ehe zu treten, und Gott kann Euch mit Nachkommenschaft segnen, nicht so? Welche Erziehung könnt Ihr alsdann Euren Kindlein geben, wenn Ihr selbst in Euch nicht die Versuchung des Teufels besiegen wollt, der Euch zum Unglauben verleitet?“ frug der Geistliche mit sanftem Vorwurf. „Wenn Ihr Euer Kind liebt, so werdet Ihr, als ein guter Vater, nicht nur Reichtum, Überfluß und Würden Eurem Kinde wünschen; Ihr werdet auch sein Heil wünschen, seine geistige Erleuchtung durch das Licht der Wahrheit. Ist es nicht so? Was werdet Ihr antworten, wenn das unschuldige Kindlein Euch frägt, Vater, wer hat das alles geschaffen, das mich in dieser Welt so sehr ergötzt, Erde, Wasser, Sonne, Blumen und Gräser? Solltet Ihr ihm antworten wollen, ich weiß es nicht? Ihr müßt es wissen, da Gott der Herr in seiner hohen Gnade es Euch geoffenbart haben wird. Oder wenn Euer Kind Euch früge ‚was erwartet mich im ewigen Leben?‘ Was werdet Ihr ihm da antworten, wenn Ihr nichts wißt? Wie wollt Ihr ihm einen Bescheid geben? Werdet Ihr ihm den Reiz der Welt und des Teufels zeigen? Das wäre nicht gut,“ sagte er und hielt inne, das Haupt auf die Seite neigend und Lewin mit guten sanften Augen anschauend.
Dieser antwortete jetzt nicht; nicht deswegen, weil er etwa nicht in einen Streit mit dem Geistlichen hätte kommen mögen, sondern, weil ihm noch niemand derartige Fragen gestellt hatte, und er, wenn erst einmal Nachkommen sie ihm stellen würden, noch Zeit genug hatte, darüber nachzudenken, was er dann antworten wollte.
„Ihr tretet ein in diejenige Zeit Eures Lebens,“ fuhr der Geistliche fort, „da es nötig ist, einen Weg zu wählen und sich auf demselben zu halten. Betet zu Gott, damit er in seiner Güte Euch helfe und sich Eurer erbarme,“ schloß er. „Unser Herr und Gott Jesus Christus in seiner göttlichen Gnade und Milde, seiner Liebe zu den Menschen vergebe dir mein Sohn!“ und das Sühnegebet beendend, segnete ihn der Priester und entließ ihn.
Als Lewin an diesem Tage heimgekehrt war, empfand er[10] ein freudiges Gefühl darüber, daß diese peinliche Lage nun ihr Ende erreicht hatte, so erreicht, daß er nicht hatte zur Lüge greifen müssen. Daneben aber war in ihm auch eine unklare Erinnerung davon zurückgeblieben, daß das, was jener gute und liebenswerte Greis gesagt hatte, durchaus nicht so dumm gewesen war, als es ihm anfänglich geschienen, und daß es etwas hierbei gebe, was der Aufklärung bedürfe.
„Natürlich nicht jetzt,“ dachte Lewin, „aber später einmal.“ Lewin fühlte jetzt mehr, als früher, daß in seiner Seele etwas unklar und unrein sei, und daß er sich in Bezug auf die Religion in der nämlichen Lage befinde, die er so klar bei andern erkannt und nicht eben gern gesehen hatte, wegen deren er seinem Freunde Swijashskiy Vorwürfe gemacht.
Lewin war, den Abend mit seiner Braut bei Dolly verbringend, ausnehmend heiter, und sagte, als er Stefan Arkadjewitsch von der gährenden Gemütsverfassung Mitteilung machte, in der er sich befand, daß er sich wohl befinde wie ein Hund, den man durch den Reifen zu springen gelehrt habe und der nun, nachdem er endlich begriffen und ausgeführt hat, was von ihm verlangt wurde, winselt, und schweifwedelnd vor Entzücken auf Tische und Fenster springt.
Am Tage der Trauung bekam Lewin nach der üblichen Sitte — auf der Beobachtung aller Gebräuche behaarten die Fürstin und Darja Aleksandrowna streng — seine Braut nicht zu sehen und speiste im Hotel wo er wohnte, zusammen mit drei Junggesellen, die sich zufällig gefunden hatten; Sergey Iwanowitsch, Katawasoff, ein Universitätsfreund und nunmehriger Professor der Naturwissenschaften, den Lewin auf der Straße getroffen und mit sich genommen hatte, und Tschirikoff, ein Moskauer Friedensrichter und Gefährte Lewins auf der Bärenjagd.
Beim Diner ging es sehr heiter zu. Sergey Iwanowitsch war in aufgeräumtester Stimmung und trieb seine Kurzweil mit Katawasoffs Eigentümlichkeit. Katawasoff, welcher fühlte, daß seine Originalität geschätzt und verstanden werde, kokettierte mit derselben und Tschirikoff unterstützte die allgemeine Unterhaltung in seiner heiteren und gutmütigen Art.
„Da haben wir es ja,“ sagte Katawasoff mit seiner, auf dem Katheder angenommenen Art, die Worte zu dehnen, „welch ein tüchtiger Bursch unser Freund Konstantin Dmitritsch ist. Ich spreche von dem Abwesenden natürlich, denn er ist schon gar nicht mehr hier. Erst liebte er die Wissenschaft, und nach seinem Abschied von der Universität pflegte er menschliche Interessen; jetzt verwendet er die eine Hälfte seiner Fähigkeiten darauf, sich selbst zu betrügen, und die andere — um diesen Betrug zu rechtfertigen.“
„Einen entschiedeneren Feind des Heiratens, als Euch, habe ich noch nicht gesehen,“ sagte Sergey Iwanowitsch.
„O nein; ich bin kein Feind davon; ich bin vielmehr ein Freund der Arbeitsteilung. Die Menschen, welche selbst nichts fertig bringen können, müssen Menschen hervorbringen, und die übrigen — müssen zu deren Aufklärung und Beglückung wirken. So fasse ich die Sache auf. Für die Mischung dieser beiden Berufszweige giebt es ja eine Unmasse von Liebhabern, ich aber gehöre nicht unter die Zahl derselben.“
„Wie glücklich würde ich sein, wenn ich einmal erführe, daß Ihr Euch verliebt hättet,“ sagte Lewin, „ladet mich nur ja zur Hochzeit ein!“
„Ich bin schon verliebt.“
„Ja, ja, vielleicht in einen Tintenfisch. Du weißt doch,“ wandte sich Lewin an seinen Bruder, „daß Michail Ssemionowitsch ein Werk über Ernährung schreibt und“ —
„Nun; nur nichts durcheinanderbringen! Das ist doch ganz gleich. Es handelt sich jetzt nur darum, daß ich wirklich einen Tintenfisch lieben soll.“
„Das hindert Euch aber nicht, auch ein Weib zu lieben.“
„Er nicht, aber das Weib hindert.“
„Inwiefern denn.“
„Ihr werdet es schon noch sehen. Ihr liebt das Landleben, die Jagd — paßt nur auf!“
„Archip war heute hier und meldete, daß eine Masse Elentiere in Prudno wären, und zwei Bären,“ sagte jetzt Tschirikoff.
„Nun; die müßt Ihr schon ohne mich fangen.“
„Ganz richtig,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „empfehle dich[12] nur gleich von vornherein der Bärenjagd — deine Frau wird dich nicht mehr fortlassen.“
Lewin lächelte. Der Gedanke, daß seine Frau ihn nicht mehr zur Bärenjagd lassen würde, war ihm so angenehm, daß er bereit war, dem Vergnügen, Bären zu sehen, für immer zu entsagen.
„Aber es ist doch schade, daß diese beiden Bären ohne Euch erlegt werden. Besinnt Ihr Euch noch, das letzte Mal in Chapilowo? Das war eine wunderbare Jagd,“ sagte Tschirikoff.
Lewin wollte ihn nicht ernüchtern, indem er sagte, daß es auch ohne die Bärenjagd noch manches Schöne geben könne und antwortete daher nicht.
„Nicht unnützerweise hat sich diese Sitte des Abschiednehmens vom Junggesellenleben eingebürgert,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „wie glücklich du auch sein magst, schade ist es doch um die verlorene Freiheit. Gesteht nur, man hat dabei ein Gefühl wie der Gogolsche Bräutigam, daß man durch das Fenster hinausspringen möchte.“
„Natürlich ist es so, aber er will es nur nicht zugeben,“ sagte Katawasoff und brach in lautes Gelächter aus.
„Was denn! Das Fenster ist ja noch geöffnet! Fahren wir sogleich nach Twjerj! Dort ist eine Bärin, zu der können wir ins Lager. Fahren wir mit dem Fünfuhrzug. Dort macht man was man will,“ meinte Tschirikoff lächelnd.
„Nun, bei Gott,“ antwortete Lewin lächelnd, „ich kann in meinem Innern dieses Gefühl des Bedauerns über meine verlorne Freiheit nicht finden.“
„Ja, in Eurer Seele ist jetzt aber auch ein solches Chaos, daß Ihr überhaupt nichts darin finden könnt,“ sagte Katawasoff, „wartet nur, wenn Ihr erst ein klein wenig mit Euch ins klare gekommen sein werdet, dann werdet Ihr es schon finden.“
„Nein, fühlte ich auch nur im geringsten, daß es außer meinem Gefühl,“ — von Liebe wollte er vor dem Freunde nicht reden, „noch ein Glück gäbe, dann wäre es schade, die Freiheit zu verlieren — aber im Gegenteil, ich freue mich sogar über diesen Verlust meiner Freiheit!“
„Schlimm! Ein hoffnungslos Verlorener!“ sagte Katawasoff, „nun, trinken wir auf seine Genesung, oder wünschen[13] wir ihm nur, daß wenigstens ein Hundertstel seiner Träume in Erfüllung gehe. Schon dies wird ein Glück werden, wie es nie auf der Erde existiert hat.“
Bald nach dem Essen verabschiedeten sich die Gäste, um zur Hochzeitsfeier Toilette zu machen.
Allein zurückgeblieben und sich die Gespräche dieser Hagestolze vergegenwärtigend, frug sich Lewin noch einmal, ob er denn wirklich dieses Gefühl des Bedauerns über den Verlust seiner Freiheit in der Seele habe, von dem sie gesprochen. Er lächelte bei dieser Frage. „Freiheit? Warum Freiheit? Das Glück besteht allein darin, daß man liebt, wünscht und denkt mit ihren Wünschen, ihren Gedanken, das heißt, ohne jede Freiheit — dies ist das Glück! — Aber kenne ich denn ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihre Gefühle?“ flüsterte ihm plötzlich eine Stimme zu. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht und er versank in Nachdenken. Plötzlich hatte ihn eine seltsame Stimmung erfaßt, es überkam ihn Furcht und Zweifel — ein Zweifel an allem. — „Wie, wenn sie mich gar nicht liebte? Wie, wenn sie mich nur deswegen heiratete, um sich eben zu verheiraten? Oder, wenn sie gar selbst nicht wüßte, was sie thut?“ frug er sich. „Sie kann zur Erkenntnis kommen und, kaum verheiratet erkennen, daß sie gar nicht liebt, mich nicht lieben kann?“ Die seltsamsten und schlimmsten Ideen über sie begannen ihm aufzutauchen. Er war eifersüchtig auf sie gegen Wronskiy, wie ein Jahr zuvor; als ob jener Abend, an welchem er sie bei Wronskiy gesehen hatte, erst gestern gewesen wäre. Er argwöhnte, daß sie ihm nicht alles gesagt habe, und er sprang schnell auf. „Nein, so geht es nicht!“ sprach er voll Verzweiflung zu sich. „Ich werde zu ihr gehen, sie fragen, und ein letztes Mal ihr sagen: Wir sind noch frei, ist es nicht besser, es zu bleiben? Es wäre dies doch besser, als ein ewiges Unglück, als Schande und Untreue!“ Verzweiflung im Herzen und voll Zorn gegen die ganze Menschheit, auf sich und sie, verließ er das Hotel und fuhr zu ihr.
Er traf sie in den Hinterzimmern. Sie saß auf einem Koffer und traf mit einer Dienerin Anordnungen, einen Haufen verschiedenartiger Kleider durchmusternd, welche auf den Rücklehnen der Stühle und auf dem Fußboden ausgebreitet lagen.
„Ah!“ rief sie, ihn erblickend, und ihr Gesicht erstrahlte vor Freude. „Wie kommst du — wie kommt Ihr“ — bis zu diesem letzten Tage hatte sie bald „du“, bald „Ihr“ zu ihm gesagt — „das habe ich nicht erwartet. Ich mustere soeben meine Mädchenkleider, für wen das Eine oder Andere“ —
„Ach, sehr gut!“ antwortete er düster, auf die Zofe blickend.
„Geh hinaus, Dunjascha, ich werde dich dann rufen,“ sagte Kity. „Was ist dir?“ frug sie, ihn unbedenklich mit „du“ ansprechend, sobald das Mädchen gegangen war. Sie bemerkte sein seltsames Gesicht, welches aufgeregt und düster aussah, und ein Schrecken befiel sie.
„Kity; ich leide. Ich kann aber nicht allein leiden,“ sprach er, Verzweiflung in der Stimme, blieb vor ihr stehen und schaute ihr beschwörend in die Augen. Er hatte schon an ihrem liebevollen, treuherzigen Gesicht gesehen, daß sich nichts aus dem ergeben werde, was er ihr zu sagen beabsichtigte, aber gleichwohl hatte er das Bedürfnis, von ihr selbst seine Zweifel zerstreut zu sehen. „Ich bin gekommen, dir zu sagen, daß es noch nicht zu spät ist, daß alles wieder aufgehoben und in das alte Geleis zurückgebracht werden kann.“
„Was denn? Ich verstehe nichts. Was ist dir?“
„Das was ich tausendmal gesagt habe und woran ich immer denken muß; das, daß ich deiner nicht wert bin. Du konntest nicht einwilligen, mich zum Manne zu nehmen. Bedenke es. Du hast einen Irrtum begangen. Überlege recht wohl! Du kannst mich nicht lieben! Wenn — sage lieber“ — sprach er, ohne sie anzublicken. „Ich werde unglücklich sein. Mögen alle reden, was sie wollen, es ist besser so, als ein Unglück; es ist besser, jetzt zu sprechen, so lange es noch Zeit ist“ —
„Ich verstehe nicht,“ antwortete sie erschreckt, „das heißt, du willst alles aufheben, daß es nicht mehr nötig sei?“ —
„Ja, wenn du mich nicht liebst.“
„Du bist von Sinnen!“ rief sie aus, vor Unwillen errötend. Aber sein Gesicht sah so kläglich aus, daß sie ihren Verdruß unterdrückte, und sich, die Kleider von einem Lehnstuhl werfend, ihm näher setzte. „Was denkst du eigentlich; sage mir alles!“
„Ich denke, daß du mich nicht lieben kannst. Weshalb solltest du mich denn lieben können?“
„Mein Gott, was soll ich anfangen?“ sagte sie und brach in Thränen aus.
„O, was habe ich gethan!“ rief er jetzt und begann, vor ihr auf die Kniee niederfallend, ihre Hände zu küssen.
Als fünf Minuten später die Fürstin in das Zimmer trat, fand sie die beiden schon vollständig beruhigt. Kity hatte ihm nicht nur versichert, daß sie ihn liebe, sondern ihm sogar, auf seine Frage antwortend, weshalb sie ihn denn liebe, erklärt, warum.
Sie hatte ihm gesagt, daß sie ihn liebe, weil sie ihn ganz kenne, weil sie wisse, was er lieben müsse, und daß alles, was er liebe, stets gut sei. Und dies war ihm auch vollständig klar erschienen. Als die Fürstin bei ihnen eintrat, saßen sie beide nebeneinander auf dem Koffer und musterten Kleider, streitend, daß Kity jenes zimmetfarbene Kleid, welches sie getragen, als ihr Lewin seinen Antrag gemacht hatte, der Dunjascha geben wollte, während er darauf bestand, man dürfe dieses Kleid an niemand weggeben, sondern möge der Dunjascha das blaue schenken.
„Aber verstehst du nicht? Sie ist doch brünett und dies wird ihr daher nicht stehen. Bei mir ist alles schon vorbedacht.“
Als die Fürstin erfahren hatte, weshalb er gekommen sei, geriet sie halb im Scherz und halb im Ernst in Groll und schickte ihn wieder nach Hause, damit er sich ankleide und Kity bei der Toilette nicht störe, da Charles sogleich kommen würde.
„Sie hat so schon während dieser ganzen Tage nicht gegessen und ist magerer geworden und du bringst sie nun mit deinen Thorheiten noch mehr aus der Fassung,“ sagte sie zu ihm; „mach daß du fortkommst nach Hause, nach Hause mein Lieber.“
Lewin kehrte verlegen und beschämt, aber beruhigt, nach seinem Hotel zurück. Sein Bruder, Darja Aleksandrowna und Stefan Arkadjewitsch, alle in voller Gesellschaftstoilette, erwarteten ihn schon, um ihn mit dem Heiligenbild zu segnen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren.
Darja Aleksandrowna mußte noch nach Hause zurückkehren, um ihren pomadisierten und frisierten Sohn zu holen, welcher das Heiligenbild mit der Braut tragen sollte. Dann mußte ein Wagen nach dem Brautführer gesandt werden und ein anderer, der Sergey Iwanowitsch fortbrachte, wieder hergeschickt werden. Überhaupt gab es sehr viele und verwickelte Überlegungen hierbei, und nur Eines war unzweifelhaft, daß nicht mehr gesäumt werden dürfe, da es bereits halb sieben Uhr war.
Die Segnung mit dem Bilde hatte nichts weiter auf sich. Stefan Arkadjewitsch stellte sich in komisch-feierlicher Haltung neben seine Gattin, nahm das Heiligenbild, segnete Lewin, nachdem er diesem befohlen hatte, sich bis auf die Erde zu verbeugen, mit seinem gutmütigen und sarkastischen Lächeln und küßte ihn dreimal. Das Nämliche that Darja Aleksandrowna, die sich dann sogleich beeilte, abzufahren und abermals in das Arrangement der Bewegung der Wagen vertiefte.
„Nun, so wollen wir es also machen: du fährst in unserem Wagen ihn abzuholen, und Sergey Iwanowitsch würde, wenn er die Güte haben wollte, vorausfahren, den Wagen aber zurückschicken.“
„Gewiß, sehr gern.“
„Wir aber können gleich mit ihm fahren. Sind die Kleider in Ordnung?“ frug Stefan Arkadjewitsch.
„Sie sind es,“ versetzte Lewin und befahl Kusma, seinen Anzug zu bringen.
Ein Haufe von Menschen, namentlich Weibern, umringte die zur Trauungsfeier erleuchtete Kirche. Diejenigen, welche nicht bis in die Mitte hatten vordringen können, drängten sich um die Kirchenfenster unter Stoßen und Streiten und schauten durch die Gitter.
Mehr als zwanzig Wagen waren bereits von der Polizei die Straße entlang aufgestellt worden und der Polizeioffizier stand, die Kälte nicht achtend, in seiner glänzenden Uniform am Eingang. Unaufhörlich kamen noch weitere Equipagen angefahren und bald traten Damen in Blumenschmuck mit hochgenommenen Schleppen, bald Herren, das Käppi oder den schwarzen Hut abnehmend, in die Kirche ein. In dieser selbst[17] waren die beiden Lustres und alle Kerzen vor den feststehenden Heiligenbildern bereits angezündet. Der goldige Schimmer auf dem roten Fonds des Ikonostas, das vergoldete Schnitzwerk an den Bildern und das Silber der Kronleuchter und Leuchter, die Steinplatten des Fußbodens mit den Teppichen, sowie die Banner oben über den Chören, die Stufen des Altars und die vom Alter schwarzgewordenen Kirchenbücher, die Leibröcke und Chorröcke, alles das war wie von Licht übergossen. Auf der rechten Seite der geheizten Kirche, in der Masse der Fracks und weißen Krawatten, der Uniformen und verschiedenen Stoff-, Samt- und Atlasroben, der Haarfrisuren und Blumen, der dekolletierten Schultern und Arme, und hohen Handschuhe summte ein verhaltenes, aber lebhaftes Gespräch, das seltsam in dem hohen Kuppelbau wiederhallte. Sobald das Kreischen der aufgehenden Kirchenthür ertönte, verstummte das Gespräch in dem Haufen und alles schaute auf in der Erwartung, den eintretenden Bräutigam und die Braut zu erblicken. Aber die Thür hatte sich schon mehr als zehnmal geöffnet, und immer war es nur ein verspäteter Geladener oder eine Geladene gewesen, die sich nun nach rechts dem Kreis der Gäste beigesellte, oder eine Zuschauerin, die den Polizeioffizier überlistet oder nachsichtig gestimmt hatte, und sich nun dem fremden Haufen links anschloß. Die Verwandten und Bekannten hatten schon die ganze Stufenleiter des Wartens durchlaufen.
Anfangs glaubte man, daß der Bräutigam und die Braut in jedem Augenblick erscheinen müßten und schrieb der Verspätung keinerlei Bedeutung zu. Dann begann man öfter und öfter nach der Thür zu schauen, und davon zu sprechen, es möchte doch ja nichts vorgefallen sein. Dann wurde die Verspätung schon peinlich und die Verwandten wie die Gäste gaben sich den Anschein, als ob sie gar nicht mehr an den Bräutigam dächten und ganz von ihrem Gespräch in Anspruch genommen seien.
Der Protodiakonus räusperte sich ungeduldig, gleichsam zur Andeutung des Wertes seiner Zeit, und machte damit die Scheiben in den Fenstern klirren. Auf dem Chor wurden die Proben der Stimmen vernehmbar, dann das Schneuzen der sich langweilenden Chorsänger. Der Geistliche sandte fortwährend[18] bald den Küster, bald den Diakonus nach Erkundigung fort, ob der Bräutigam noch nicht gekommen sei und ging sogar selbst in seinem lilafarbenen Priestergewand mit dem gestickten Gürtel, häufiger und häufiger zu den Seitenthüren, in der Erwartung des Bräutigams.
Endlich sagte eine der Damen nach der Uhr blickend „das ist aber doch seltsam“ und alle Trauzeugen gerieten in Unruhe und begannen laut ihre Verwunderung und ihr Mißvergnügen zu äußern. Einer der Herren fuhr wieder fort, sich zu erkundigen, was denn geschehen sei. Kity stand währenddem, schon lange fertig, im weißen Kleid, langen Schleier und Kranz von Pomeranzenblüte nebst der die Mutter und Schwester vertretenden Frau Lwoffs im Saale des Hauses der Schtscherbazkiy und blickte durch das Fenster, schon seit einer halben Stunde vergeblich die Benachrichtigung des Brautführers von der Ankunft des Bräutigams in der Kirche erwartend.
Lewin indessen lief noch, zwar in den Beinkleidern, aber ohne Weste und Frack in seinem Zimmer auf und ab, unaufhörlich den Kopf zur Thür hinaussteckend und den Korridor entlang blickend. Auf dem Korridor jedoch wurde derjenige nicht sichtbar, den er erwartete, und voll Verzweiflung kehrte er, mit den Armen fuchtelnd wieder zurück und wandte sich an den ruhig rauchenden Stefan Arkadjewitsch.
„Hat sich jemals wohl ein Mensch in einer gleich entsetzlichen und albernen Lage befunden?“ sagte er.
„Ja, es ist dumm,“ bestätigte Stefan Arkadjewitsch, sanft lächelnd, „doch beruhige dich, man wird es sogleich bringen.“
„Nein, sicherlich,“ sagte Lewin mit verhaltener Wut, „und diese albernen ausgeschnittenen Westen! Unmöglich!“ sagte er mit einem Blick auf den zerknitterten Brusteinsatz seines Oberhemds. „Und wie, wenn die Sachen schon zur Bahn wären?“ rief er voll Verzweiflung.
„Dann ziehst du ein Hemd von mir an!“
„Das hätte aber schon längst geschehen sein müssen!“
„Es ist allerdings nicht angenehm, lächerlich zu werden. Warte doch, es wird sich machen.“
Die Sache lag so, daß als Lewin die Toilette befahl, Kusma, der alte Diener Lewins, den Frack, die Weste und alles was nötig war, brachte.
„Und das Hemd?“ rief Lewin.
„Das habt Ihr ja schon an,“ versetzte Kusma mit stoischem Lächeln.
Kusma hatte nicht daran gedacht, ein frisches Hemd dazubehalten, und nachdem er den Befehl erhalten hatte, alles einzupacken und zu den Schtscherbazkiy zu bringen, von wo aus das junge Ehepaar noch am Abend abreisen wollte, that er also und packte alles ein außer einem Paar Fräcken.
Das am Morgen angezogene Hemd war schon zerknittert, und ließ sich unmöglich unter der modernen offenstehenden Weste tragen. Zu den Schtscherbazkiy zu schicken, war es zu weit. Man schickte in ein Geschäft.
Der Diener kam zurück: „Alles war geschlossen — es ist Sonntag heute.“ — Man schickte nun zu Stefan Arkadjewitsch, ein Hemd kam, aber es war viel zu weit und kurz. Man schickte endlich doch zu den Schtscherbazkiy, um wieder auspacken zu lassen. Der Bräutigam wurde in der Kirche erwartet, und lief wie ein im Käfig eingekerkertes, wildes Tier im Zimmer umher, auf den Korridor hinausschauend und mit Entsetzen und Verzweiflung daran denkend, was er Kity sagen sollte und was diese jetzt denken mochte.
Endlich flog der unglückliche Kusma, mit Mühe nach Atem ringend, mit dem Hemd in das Zimmer herein.
„Ich habe sie gerade noch erwischt; die Sachen waren schon auf dem Fuhrwerk,“ sagte er.
Drei Minuten später stürzte Lewin, ohne nach der Uhr zu sehen, um seine Wunde nicht noch zu vergrößern, Hals über Kopf den Korridor entlang.
„Damit kannst du nicht mehr viel helfen,“ sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd, ihm hastig nachstrebend. „Es wird sich schon machen, es wird sich schon machen — sage ich dir!“
„Er ist da! — Da ist er! Welcher ist es? Ist er nicht ziemlich jung? Und sie — ja — mehr tot als lebendig!“ — klang es in der Menge durcheinander, als Lewin, nachdem er seine Braut an der Einfahrt begrüßt hatte, mit dieser zusammen die Kirche betrat.
Stefan Arkadjewitsch hatte seiner Gattin die Ursache der[20] Verzögerung mitgeteilt, und die Trauzeugen zischelten nun lächelnd untereinander. Lewin sah und hörte nichts, er musterte nur unverwandten Blickes seine Braut.
Alle sagten, daß sie in den letzten Tagen sehr abgenommen hätte, und im Kranze bei weitem nicht so gut aussah, wie gewöhnlich, aber Lewin fand dies nicht. Er schaute ihre hohe Frisur mit dem langen weißen Schleier und den weißen Blüten an, den hochstehenden gefalteten Kragen, der eigenartig jungfräulich von den Seiten und von vorn ihren schlanken Hals bedeckte und auf die überraschend enge Taille, und ihm schien, daß sie so schöner sei, als sie je gewesen, nicht deshalb, weil diese Blüten, dieser Schleier, dieses aus Paris verschriebene Kleid zu ihrer Schönheit noch etwas hätte hinzufügen können, sondern, weil trotz der künstlichen Pracht der Kleidung der Ausdruck ihres guten Gesichtchens, ihres Blickes, ihrer Lippen, immer der nämliche bei ihr geblieben war mit seiner unschuldigen Treuherzigkeit.
„Ich dachte schon, du wolltest mir davonlaufen,“ sagte sie lächelnd zu ihm.
„Es war so thöricht, was sich mit mir zugetragen hat, daß ich es gar nicht erzählen kann,“ antwortete er, errötend, mußte sich aber jetzt zu seinem an ihn herantretenden Bruder Sergey Iwanowitsch wenden.
„Nicht übel, die Geschichte mit deinem Hemd,“ sagte Sergey Iwanowitsch, lächelnd den Kopf schüttelnd.
„Ja, ja,“ versetzte Lewin, ohne zu verstehen, wovon man mit ihm sprach.
„Nun, mein Konstantin, jetzt müssen wir,“ sagte Stefan Arkadjewitsch mit scheinbar erschrecktem Gesicht, „eine wichtige Frage entscheiden. Du nur bist jetzt in der Verfassung, die ganze Bedeutung derselben zu ermessen. Man frägt mich, ob heruntergebrannte Kerzen angesteckt werden sollen, oder nicht heruntergebrannte? Der Unterschied macht zehn Rubel aus,“ fügte er hinzu, die Lippen zu einem Lächeln kräuselnd, „ich habe entschieden, fürchte jedoch, daß du mir deine Einwilligung nicht geben wirst.“
Lewin erkannte, daß dies ein Scherz sein sollte, aber er vermochte nicht zu lächeln.
„Also wie? Nicht gebrannte oder heruntergebrannte? Das ist die Frage.“
„Nun, nicht gebrannte.“
„Nun, freut mich sehr. Die Frage ist entschieden,“ sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd. „Aber wie thöricht doch die Menschen in einer solchen Situation werden,“ fuhr er zu Tschirikoff gewendet fort, nachdem Lewin, ihn zerstreut anblickend, wieder zu seiner Braut getreten war.
„Paß auf, Kity, du mußt also zuerst auf den Teppich treten,“ sagte die Gräfin Nordstone herzukommend. „Wie stattlich Ihr ausseht,“ wandte sie sich an Lewin.
„Dir ist doch nicht ängstlich?“ frug Marja Dmitrjewna, ihre alte Tante.
„Ist dir nicht wohl? Du bist blaß. Halt, beuge dich ein wenig,“ sagte die Lwowa, die Schwester Kitys, ihre vollen schönen Arme krümmend und lächelnd ihr die Blüten auf dem Haupte ordnend.
Auch Dolly kam; sie wollte etwas sagen, konnte aber nichts herausbringen und begann zu weinen und unnatürlich zu lachen.
Kity schaute alle mit den nämlichen abwesenden Blicken an, wie Lewin. Mittlerweile hatten die Kirchendiener ihren priesterlichen Schmuck angelegt und der Geistliche mit dem Diakonus traten zu dem Altar, welcher in der Vorhalle der Kirche stand. Der Geistliche wandte sich an Lewin und sagte zu diesem einige Worte. Lewin vernahm nicht, was der Priester gesagt hatte.
„Nehmt Eure Braut an der Hand und führt sie,“ sagte der Brautherr zu ihm.
Lange Zeit konnte Lewin nicht verstehen, was man von ihm wollte. Man besserte lange an ihm herum und wollte schon die Hoffnung aufgeben — weil er stets nicht mit der richtigen Hand griff, oder den richtigen Arm nahm — als er endlich erkannte, daß er mit der rechten Hand ohne seine eigene Stellung zu verändern, sie ebenfalls bei der rechten Hand zu nehmen hatte. Nachdem er endlich die Braut in der gehörigen Weise bei der Hand genommen hatte, ging der Priester einige Schritte vor und blieb auf der Altarerhöhung stehen. Die Schar der Verwandten und Bekannten in summendem[22] Gespräch und unter dem Rauschen der Schleppen folgte ihnen; jemand beugte sich nieder und ordnete die Schleppe der Braut. In der Kirche wurde es so still, daß man das Fallen der Wachstropfen vernahm.
Der alte Priester im Scheitelkäppchen mit seinen schimmernden, silbergrauen Haarlocken, die hinter den Ohren nach beiden Seiten geteilt waren, streckte die greisen kleinen Hände aus dem schweren silbernen und mit einem goldenen Kreuz auf dem Rücken geschmückten Gewand hervor und blätterte noch ein wenig auf dem Altar.
Stefan Arkadjewitsch begab sich behutsam zu ihm hin und flüsterte ihm, nach Lewin hinblinzelnd etwas zu, worauf er wieder zurückkehrte.
Der Geistliche zündete zwei mit Blumen geschmückte Kerzen an, indem er sie mit der linken Hand schräg hielt, sodaß das Wachs langsam von ihnen herniedertropfte und wandte sich zu den Neuvermählten. Der Geistliche war der nämliche, bei welchem Lewin gebeichtet hatte. Er schaute mit mattem, traurigen Blick auf Bräutigam und Braut, seufzte und segnete mit der Rechten, die er unter dem Priestergewand hervorstreckte, den Bräutigam, worauf er gleichfalls, aber mit einem Anschein hütender Zärtlichkeit, die Finger auf das geneigte Haupt Kitys legte. Er reichte hierauf beiden die Kerzen und verließ sie langsam, das Räucherfaß nehmend.
„Ist es denn wahr?“ dachte Lewin und blickte auf seine Braut. Wie von oben herab erschien ihm ihr Profil, und an einer kaum bemerkbaren Bewegung ihrer Lippen und Wimpern erkannte er, daß sie seinen Blick empfunden hatte. Sie schaute nicht auf, aber der hohe Rüschenkragen bewegte sich leise, der bis zu ihrem rosigen kleinen Ohr heraufging. Er sah, daß ein Seufzer ihre Brust belastete und die kleine Hand zitterte, welche in dem hohen Handschuh das Licht hielt. All jener eitle Kram mit dem Hemd, der Verspätung, die Auseinandersetzung mit den Bekannten und Verwandten, deren Mißvergnügen, seine komische Situation — alles das war plötzlich verschwunden und es wurde ihm freudig und bange zugleich zu Mut.
Der schöne stattliche Protodiakonus im silbern-schimmernden Chorhemd und den nach seitwärts in gewundenen Locken[23] gekämmten Haaren trat schnell vor und blieb, in der üblichen Geste mit zwei Fingern die Stola hebend, dem Geistlichen gegenüber stehen.
„Segne, Herr!“ ertönten langsam einer nach dem anderen, feierliche Klänge, die Luft in Schwingungen versetzend.
„Gelobt sei unser Gott immerdar jetzt und fürderhin in alle Ewigkeit,“ antwortete sanft und in singendem Tone der alte Geistliche, noch immer auf dem Altar nach etwas suchend. Die ganze Kirche erfüllend von den Fenstern an bis zu den Kreuzbögen, erhob sich, harmonisch und getragen, ein voller Akkord vom unsichtbaren Chor aus, wuchs an, stand einen Augenblick und erstarb dann.
Man betete, wie üblich, für den himmlischen Frieden und das Seelenheil, für die Synode und für Gott, es wurde gebetet auch für den Knecht Gottes, Konstantin, und Jekaterina, die sich jetzt verlobten.
„Daß ihnen sende hernieder eine völlige friedsame Liebe, daß ihnen helfe Gott, das bitten wir,“ atmete gleichsam die ganze Kirche von der Stimme des Protodiakonus.
Lewin vernahm die Worte und sie machten ihn betroffen. „Wie konnte man vermuten, daß Hilfe not that, gerade Hilfe?“ dachte er, sich alle seine kürzlichen Befürchtungen und Zweifel wieder zurückrufend. „Was weiß ich! Was vermag ich in dieser schweren Aufgabe ohne Hilfe? Allerdings, Hilfe thut mir jetzt not.“
Als der Diakonus die Litanei beendet hatte, wandte sich der Priester mit seinem Buche zu den Verlobten: „Ewiger Gott, der du das Getrennte vereinet hast,“ las er mit weicher, singender Stimme, „der das Band der Liebe unauflöslich gestiftet, und Isaak und Rebekka gesegnet hat, dir stelle ich diese als Nachfolger in deinem Bunde vor. Segne du sie selbst, diese deine Knechte, Konstantin und Jekaterina, denen ich allen Segen wünsche, gleichwie du ein erbarmender Gott voll Menschenliebe bist und wir dir Lob singen, dem Vater und dem Sohne und dem heiligen Geiste jetzt und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Wiederum ertönte in der Höhe der unsichtbare Chor.
„Der das Getrennte vereinet hat und das Band der Liebe gestiftet, wie gedankenvoll diese Worte sind und wie sie dem[24] entsprechen, was man in diesem Augenblick empfindet,“ dachte Lewin. „Ob sie wohl das Nämliche fühlt wie ich?“
Aufschauend begegnete er ihrem Blick, aus dessen Ausdruck er schloß, daß sie ebenso verstanden hatte, wie er. Aber dies war durchaus nicht der Fall; sie hatte fast gar nichts von den Worten der Ceremonie verstanden, ja, diese während der Verlobung nicht einmal vernommen. Sie war nicht fähig, sie zu vernehmen und zu fassen, so mächtig war jenes eine Gefühl, welches ihr die Seele füllte und mehr und mehr zunahm. Dieses Gefühl war das der Freude über die endgültige Vollendung dessen, was schon sechs Wochen zuvor in ihrer Seele vollendet gewesen war und sie im Laufe dieser langen Wochen erfreut und zugleich bedrückt hatte. In ihrer Seele hatte sich, am nämlichen Tage, als sie in dem zimmetfarbenen Kleid im Salon des Hauses Arbatskiy schweigend zu ihm hingetreten war und sich ihm ergeben hatte, zu Tag und Stunde ein völliger Bruch mit ihrem früheren Leben vollzogen; sie hatte ein vollständig anderes, neues, ihr noch völlig unbekanntes Leben begonnen, in der Wirklichkeit freilich das alte nur fortgesetzt. Diese sechs Wochen bildeten die seligste und doch zugleich auch qualvollste Zeit für sie. Ihr ganzes Leben, alle ihre Wünsche und Hoffnungen, vereinigten sich in jenem einen, von ihr noch nicht verstandenen Manne, mit welchem sie ein Etwas, welches von ihr noch weniger begriffen wurde, als jener Mann selbst, verband, ein bald näherungslustiges, bald abstoßendes Gefühl; bei alledem aber fuhr sie fort, in den Verhältnissen ihres vorherigen Lebens weiter zu leben. In diesem ihren alten Leben hatte sie Schrecken empfunden über sich selbst, über ihre vollendete, unbezwingbare Gleichgültigkeit ihrer gesamten Vergangenheit gegenüber; ihrem Eigentum, ihren Gewohnheiten, den Menschen, die sie geliebt hatten und noch liebten, ihrer Mutter die über diese Gleichgültigkeit erbost war, und ihrem guten, früher über alles in der Welt geliebten, zärtlichen Vater gegenüber. Bald erschrak sie über diesen Gleichmut, bald empfand sie Freude über das, was sie dazu gebracht hatte. Sie mochte nichts weiter denken oder wünschen als ein Leben mit jenem Manne, aber dieses neue Leben war noch nicht eingetreten, und sie vermochte es sich nicht einmal klar vorzustellen. Es war nur ein Erwarten —[25] Furcht und Freude über etwas Neues und noch nicht Bekanntes. Jetzt aber, siehe da, war dies Erwarten und die Unkenntnis, die Reue über den Verzicht auf ihr vorheriges Leben vorüber, und etwas Neues sollte beginnen. Dieses Neue aber konnte nicht furchtbar sein in seiner Unbekanntheit; gleichviel, mochte es furchtbar oder nicht furchtbar sein, es hatte sich sechs Wochen vorher schon in ihrer Seele voll entwickelt und wurde jetzt nur das geweiht, was sich lange vorher schon in derselben vollzogen hatte.
Wieder auf den Altar zurückgekehrt, nahm der Geistliche mit Mühe den sehr kleinen Ring Kitys und steckte ihn, sich Lewins Hand reichen lassend, an dessen erstes Fingerglied. „Es wird verbunden der Knecht Gottes Konstantin mit der Magd Gottes Jekaterina.“ Nachdem er den großen Ring an den rosigen kleinen, in seiner Schwächlichkeit Mitleid erregenden Finger Kitys gesteckt hatte, wiederholte der Priester das Nämliche.
Mehrmals glaubten die Brautleute zu erraten, was sie thun müßten, irrten aber jedesmal, und der Geistliche wies sie mit flüsternder Stimme an. Endlich, nachdem alles Erforderliche erledigt war, und er die Ringe gesegnet hatte, übergab er nochmals Kity den großen und Lewin den kleinen Ring, aber von neuem gerieten beide in Verwirrung, und wechselten zweimal den Ring, ohne daß das zu stande kam, was erforderlich war.
Dolly, Tschirikoff und Stefan Arkadjewitsch traten vor, um zu verbessern. Eine Konfusion, Zischeln und Lächeln entstand, aber der feierlich stille Ausdruck auf den Zügen des Brautpaares änderte sich nicht, im Gegenteil, als sie sich mit den Händen geirrt hatten, schauten sie noch ernster und feierlicher als vorher, und das Lächeln, mit welchem Stefan Arkadjewitsch flüsterte, daß jetzt jedes seinen eigenen Ring aufzustecken habe, erstarb unwillkürlich auf dessen Lippen. Er fühlte, daß jedes Lächeln sie nur kränken könne.
„Denn du hast von Anfang an das männliche Geschlecht geschaffen und das weibliche,“ las der Priester weiter nach dem Ringwechsel, „und von dir wird dem Manne das Weib gesellt zur Hilfe und zur Fortpflanzung des Menschengeschlechts. Denn du selbst, Herr unser Gott, hast die Wahrheit gesandt[26] zu deiner Nachfolge und für deinen Bund, für deine Knechte, unsere heiligen Väter, deine Auserwählten; schaue auf deinen Knecht Konstantin und deine Magd Jekaterina und bestätige ihren Bund im Glauben und in der Einmütigkeit und in der Wahrheit und in der Liebe.“
Lewin empfand mehr und mehr, daß alle seine Ideen über das Heiraten, seine Gedanken darüber, wie er sein Leben hatte einrichten wollen, kindlich gewesen waren, und daß hier etwas vor sich ging, was er bis jetzt noch nicht verstanden hatte, und jetzt sogar noch weniger verstehe, obwohl es sich über ihm selbst vollzog. In seiner Brust hoben sich höher und höher innere Schauer, und zudringliche Thränen traten ihm in die Augen.
In der Kirche befand sich ganz Moskau an Verwandten und Bekannten. Während der Ceremonie der Trauung, in der glänzend erleuchteten Kirche, im Kreise der geputzten Damen und jungen Mädchen, der Herren in weißen Krawatten, in Fräcken und Uniformen war ununterbrochen eine leise Konversation geführt worden, die namentlich die Herren anregten, während die Damen in der Beobachtung aller Einzelheiten einer sie stets ja sehr fesselnden heiligen Handlung versunken waren.
In dem Kreise der der Braut zunächst Stehenden befanden sich deren beide Schwestern, Dolly und die ältere, ruhige und schöne Lwowa, die aus dem Auslande gekommen war.
„Was ist das für ein Mary-Kostüm in Veilchenblau; gerade als wäre es schwarz — zu einer Hochzeit“ — sprach die Korsunskaja.
„Die einzige Rettung für ihren Teint,“ antwortete die Trubezkaja. „Mich wundert, daß man die Trauung abends ausgeführt hat — das ist so kaufmännisch“ —
— „Aber schöner. Auch ich bin abends getraut worden,“ antwortete die Korsunskaja und seufzte, als sie daran dachte, wie schön sie an jenem Tage, wie lächerlich verliebt in sie ihr Mann damals gewesen war, und wie jetzt so alles ganz anders geworden sei.
„Man sagt, daß jemand der mehr als zehnmal Brautführer[27] gewesen ist, nicht heirate; ich wollte es heute zum zehntenmale sein, um mich in Furcht zu setzen, allein die Stelle war besetzt,“ sprach Graf Sinjawin zu der hübschen jungen Fürstin Tscharskaja, die Absichten auf ihn hatte.
Die Tscharskaja antwortete ihm nur mit einem Lächeln. Sie blickte auf Kity, und dachte daran, wie und wann sie selbst mit dem Grafen Sinjawin an Kitys Stelle sein würde, und wie sie diesen dann an seinen jetzigen Scherz erinnern wollte.
Schtscherbazkiy sagte dem alten Fräulein Nikolajewa, daß er den Kranz auf Kitys Chignon setzen werde, damit sie glücklich werde.
„Es ist gar nicht nötig einen Chignon aufzusetzen,“ antwortete die Nikolajewa, die schon längst entschlossen war, daß, wenn sie der alte Witwer, nach welchem sie angelte, heiraten sollte, die Trauung die allereinfachste sein sollte. „Ich liebe dieses ‚fast‘ nicht.“
Sergey Iwanowitsch sprach mit Darja Dmitrjewna, sie scherzend versichernd, daß die Sitte, nach der Vermählung abzureisen, deswegen so verbreitet sei, weil Neuvermählte stets kein gutes Gewissen hätten.
„Euer Bruder kann stolz sein. Es ist wunderbar, wie schön sie ist. Ich glaube, Ihr beneidet ihn?“
„Ich habe das schon durchgemacht, Darja Dmitrjewna,“ antwortete er und sein Gesicht nahm unerwartet einen trüben und ernsten Ausdruck an.
Stefan Arkadjewitsch erzählte nun seiner Schwägerin einen schlechten Witz über eine Ehescheidung.
„Man muß den Kranz zurechtrücken,“ antwortete diese, ohne ihn zu hören.
„Wie schade, daß sie so angegriffen aussieht,“ sagte die Gräfin Nordstone zu der Lwowa. „Und gleichwohl wiegt er ihren kleinen Finger nicht auf. Nichtwahr?“
„O, mir gefällt er sehr gut; aber nicht deswegen etwa, weil er mein künftiger beau frère ist,“ antwortete die Lwowa, „und wie schön er sich hält! Es ist so schwer, sich in solch einer Situation gut zu halten und nicht komisch zu werden. Er aber ist nicht komisch, nicht steif, er ist offenbar ergriffen.“
„Ihr habt dies wahrscheinlich erwartet?“
„Fast so. Sie hat ihn stets geliebt.“
„Nun, beobachten wir, wer von ihnen zuerst auf den Teppich tritt. Ich habe es Kity geraten.“
„Gleichviel,“ antwortete die Lwowa, „wir sind doch alle die untergebenen Weiber; es liegt dies doch einmal in unserer Rasse.“
„Ich bin aber doch vorsätzlich zuerst mit Wasiliy darauf getreten; und Ihr Dolly?“
Dolly stand neben ihnen, sie hörte wohl, antwortete aber nicht; sie war tief gerührt. Die Thränen standen ihr in den Augen und sie hätte kein Wort reden können, ohne in Thränen auszubrechen. Sie freute sich über Kity und Lewin; in ihrer Erinnerung zu der eigenen Trauung zurückkehrend, blickte sie nach dem wonneglänzenden Stefan Arkadjewitsch, vergaß alles Gegenwärtige und dachte nur ihrer ersten unschuldigen Liebe. Sie dachte nicht allein an sich, sondern auch an alle nahestehenden oder ihr bekannten Frauen. Sie erinnerte sich ihrer in jener einzigen, für sie so feierlichen Zeit, da sie ebenso wie Kity unter dem Kranze gestanden hatte mit Liebe, Hoffnung und Bangen im Herzen, sich lossagend von der Vergangenheit und in eine geheimnisvolle Zukunft eintretend. In der Zahl aller dieser Bräute, die ihr ins Gedächtnis kamen, sah sie auch ihre geliebte Anna, über deren vermutliche Trennung sie unlängst die Einzelheiten gehört hatte. Auch sie hatte rein in den Pomeranzenblüten und dem Schleier da gestanden. Und jetzt? „Furchtbar seltsam“ — sagte sie.
Aber nicht nur die Schwestern, auch die Freundinnen und weiblichen Verwandten folgten allen Einzelheiten der heiligen Handlung; auch die fremden Frauen, die Zuschauerinnen beobachteten voll Aufregung, mit stockendem Atem, in der Furcht, eine einzige Bewegung verlieren zu können, den Ausdruck der Mienen des Bräutigams und der Braut, und antworteten ärgerlich den gleichgültigen Reden der gleichgültigen Männer gar nicht, oder überhörten sie oft sogar, wenn dieselben scherzhafte oder nebensächliche Bemerkungen fallen ließen.
„Weshalb sieht sie so verweint aus? Folgt sie ihm gezwungen?“
„Was, gezwungen einem so schönen Manne! Ist er nicht ein Fürst?“
„Das ist wohl seine Schwester dort im weißen Atlaskleid? Höre nur, wie der Diakonus plärrt ‚und sie soll ihren Mann fürchten‘.“
„Sind sie denn fremd?“
„Nein, es sind synodale.“
„Ich habe einen Diener gefragt. Er sagte, daß der Bräutigam die Braut sogleich mit sich auf sein Gut nehmen würde. Er soll unendlich reich sein, heißt es. Deswegen hat man ihm auch die Braut gegeben.“
„Nicht doch, das Paar ist so schön.“
„Und da habt Ihr nun gestritten, Marja Wasiljewna, daß die Kanarienvögel wegflögen. Sieh die dort, es soll eine Gesandtin sein, wie gewählt“ —
„Die Braut ist doch zu lieblich, wie ein geputztes Lämmchen. Was Ihr auch sagen mögt; es ist doch schade um sie.“
So schwatzte der Haufe der Zuschauerinnen durcheinander, dem es gelungen war, durch die Thüren der Kirche hereinzuschlüpfen.
Nachdem die Trauungsfeier in der Kirche beendet war, breitete der Küster vor dem Altarplatz in der Mitte der Kirche ein rosafarbenes, seidenes Zeug aus; der Chor stimmte einen kunstvollen und schwierigen Psalm an, in welchem Tenor und Baß sich antworteten und der Priester, sich umwendend, wies die Verlobten auf das ausgebreitete rosafarbene Stück Zeug hin. So oft diese nun schon davon gehört hatten, daß, wer zuerst auf den Teppich träte, das Regiment in der Familie führen würde, vermochten sich doch weder Lewin noch Kity dessen zu entsinnen, als sie die wenigen Schritte zurücklegten. Sie hörten weder die vernehmbaren Bemerkungen und Auseinandersetzungen, daß nach der Beobachtung der Einen er, nach der Meinung der Anderen — beide zugleich darauf getreten wären.
Nach den üblichen Fragen betreffs ihres Wunsches die Ehe zu schließen, ob sie nicht anderweit Versprechungen gegeben hätten, auf die ihre Antworten ihnen selbst seltsam genug klangen, begann eine neue Ceremonie.
Kity hörte die Worte des Gebetes und bemühte sich, deren[30] Sinn zu verstehen, aber sie vermochte dies nicht. Das Gefühl des Stolzes und der lichten Freude begann mit der sich dem Ende nähernden Feier mehr und mehr ihre Seele zu erfüllen, und machte es ihr unmöglich, aufmerksam zu sein. Man betete: „Gieb ihnen Weisheit und Leibesfrucht zu ihrem Nutzen, damit sie heiter seien beim Anblick ihrer Söhne und Töchter;“ es wurde erwähnt, daß Gott das Weib aus einer Rippe Adams geschaffen habe, und „deswegen wird der Mensch Vater und Mutter verlassen und dem Weibe anhangen und sie werden beide sein ein Leib,“ und „dieses Geheimnis ein großes“ sei; man betete, daß Gott ihnen Fruchtbarkeit und Segen verleihe, wie Isaak und Rebekka, Joseph und Mose, und daß sie die Söhne ihrer Söhne noch sehen möchten. „Alles das ist schön,“ dachte Kity, als sie diese Worte vernahm, „alles das kann auch gar nicht anders sein“ und ein Lächeln der Freude, das sich unwillkürlich allen denen, die sie anschauten, mitteilte, glänzte auf ihrem hellgewordenen Antlitz auf.
„Setzt ihn nur ordentlich auf!“ vernahm man zuredende Stimmen, als der Geistliche ihnen die Kränze aufsetzte, und Schtscherbazkiy mit zitternder Hand, im dreiknöpfigen Handschuh, den Kranz hoch über Kitys Kopf hielt.
„Setzt ihn auf,“ flüsterte diese lächelnd.
Lewin blickte sie an und war überrascht von dem freudestrahlenden Glanze, welcher auf ihrem Gesicht lag; diese Empfindung teilte sich auch ihm unwillkürlich mit, und auch ihm wurde dabei so leicht und heiter zu Mut, wie ihr.
Es machte ihnen Freude, dem Lesen der Apostelsendung zu lauschen und dem Verrauschen der Stimme des Protodiakonus beim letzten Vers, das von dem zuschauenden Publikum mit großer Ungeduld erwartet worden war. Es machte ihnen Freude, aus der flachen Schale den lauen roten Wein, mit Wasser gemischt, zu trinken, es machte ihnen noch mehr Freude, als der Geistliche, das Meßgewand zurückwerfend, ihrer beider Hände in die seine nahm und sie unter dem Dröhnen der Bässe, welche das „Jesu freue dich“ ausführten, rings um den Altar geleitete. Schtscherbazkiy und Tschirikoff, welche die Kränze hielten, verwickelten sich in die Schleppe der Braut, lächelten gleichfalls und waren heiter, bald stehen[31] bleibend, bald nach vorn anstoßend an die Jungvermählten, sobald der Geistliche eine Pause im Rundgang machte. Der Götterfunke der Freude, der in Kity entzündet war, schien sich allen mitzuteilen, die in der Kirche anwesend waren; und Lewin dünkte es, als wenn auch der Geistliche und der Diakonus, ebenso wie er, zu einem Lächeln neigten.
Der Geistliche nahm die Kränze von ihren Häuptern, las das letzte Gebet und beglückwünschte die jungen Eheleute. Lewin schaute auf Kity und noch nie bisher hatte er diese so gesehen. Sie war reizend in dem ungewohnten Schimmer von Glück, welcher auf ihrem Antlitz lag. Lewin wollte zu ihr sprechen, aber er wußte nicht, ob die Feier zu Ende sei. Der Geistliche entriß ihn seinen Bedenken, er lächelte ihm gutmütig zu und sagte leise, „küßt Euer Weib, und Ihr, küßt Euren Mann“ und nahm ihnen die Lichter aus den Händen.
Lewin küßte taktvoll ihre lächelnden Lippen, reichte ihr den Arm, und verließ im Gefühl der Nähe eines neuen, seltsam berührenden Etwas die Kirche.
Er glaubte nicht und konnte nicht glauben, daß es Wahrheit sei. Erst als ihn verwunderte und schüchterne Blicke trafen, glaubte er daran, weil er fühlte, daß sie schon Eins waren.
Nach dem Souper, noch in der nämlichen Nacht, fuhren die jungen Leute nach dem Dorfe ab.
Wronskiy und Anna reisten bereits seit drei Monaten zusammen in Europa. Sie hatten Venedig, Rom, Neapel besucht und waren soeben in einer kleinen italienischen Stadt angekommen, wo sie sich für einige Zeit niederzulassen gedachten.
Ein eleganter Oberkellner, mit einem vom Nacken beginnenden Scheitel im dicht pomadisierten Haar, im Frack und mit breiter weißer Battistbrust im Oberhemd, auch einem Bündel Berloques auf dem gerundeten Bäuchlein, antwortete gerade, die Hände in den Taschen und geringschätzig mit den Augen zwinkernd, in gemessenem Tone einem stehenbleibenden Herrn. Als er von der andern Seite der Einfahrt Schritte vernahm, welche die Treppe hinaufgingen, wandte[32] sich der Oberkellner um, zog, als er den russischen Grafen erblickte, welcher hier die besten Zimmer gemietet hatte, respektvoll die Hände aus den Taschen und erklärte mit einer Verbeugung, daß der Kurier da wäre, und die Angelegenheit mit dem Mieten eines Palazzo im Gange sei.
„Ach, das freut mich sehr,“ sagte Wronskiy, „ist die gnädige Frau daheim oder nicht?“
„Gnädige Frau waren spazieren gegangen, sind aber jetzt zurückgekehrt,“ antwortete der Kellner.
Wronskiy nahm den weichen, breitkrempigen Hut vom Kopfe und trocknete mit dem Taschentuch die schweißbedeckte Stirn und die halb über den Ohren hängenden Haare, welche zurückgekämmt waren und die kahle Stelle auf seinem Kopfe bedeckten. Zerstreut auf den noch immer dastehenden und ihn anschauenden Herrn blickend, wollte er vorübergehen.
„Dieser Herr ist Russe und frug nach Ihnen,“ berichtete der Oberkellner.
Mit einem Gefühl, in dem sich Verlegenheit und der Verdruß mischten, daß man nirgends seinen Bekannten entgehen könne, aber im Wunsche, doch wenigstens eine Zerstreuung in der Einförmigkeit seines Lebens zu finden, blickte Wronskiy nochmals den abseits getretenen und wartenden Herrn an, und in ein und demselben Augenblick leuchteten beider Augen auf.
„Golenischtscheff!“
„Wronskiy!“
In der That, es war Golenischtscheff, ein Kamerad Wronskiys vom Pagencorps her. Golenischtscheff gehörte im Pagencorps der freidenkenden Richtung an, trat aus demselben mit bürgerlichem Range aus und hatte nirgends Dienste genommen. Die Kameraden waren seit dem Verlassen des Corps ganz auseinandergekommen und hatten sich in späterer Zeit nur einmal wiedergesehen.
Bei jener Begegnung erkannte aber Wronskiy, daß Golenischtscheff eine hochgeschraubte, freisinnige Wirksamkeit entwickelt hatte und infolge dessen die Thätigkeit und den Beruf Wronskiys gering schätzte, und so kam es, daß dieser bei dem Zusammentreffen mit Golenischtscheff jene kalte stolze Haltung annahm, die er den Menschen gegenüber anzunehmen verstand, und deren Gedanke der war: „Mag Euch meine Lebensart[33] anstehen oder nicht, dies ist mir ganz gleichgültig; Ihr müßt mich aber achten, wenn Ihr meine Bekanntschaft sucht.“
Golenischtscheff hingegen verhielt sich diesem Tone Wronskiys gegenüber mit geringschätzigem Gleichmut. Es dürfte nun scheinen, als ob jene Begegnung sie noch mehr voneinander hätte trennen müssen, jetzt aber erglänzten beider Mienen und sie riefen sich freudig an, indem sie einander erkannten.
Wronskiy hätte nie erwartet, daß er sich über Golenischtscheff so freuen könne, aber wahrscheinlich wußte er nur selbst nicht, wie er sich langweilte. Er hatte den unangenehmen Eindruck ihrer letzten Begegnung vergessen und streckte jetzt dem einstigen Schulkameraden mit offener, freudiger Miene die Hand entgegen. Ein solcher Ausdruck von Freude veränderte auch den ersten unsicheren Ausdruck im Gesicht Golenischtscheffs.
„Wie freue ich mich, dich zu treffen!“ sagte Wronskiy, freundschaftlich lächelnd seine festen weißen Zähne zeigend.
„Ich habe gehört, ein Wronskiy ist hier; wußte aber nicht, welcher. Ich freue mich ganz außerordentlich!“ —
„Komm doch mit herauf. Nun, was machst du denn?“
„Ich wohne schon seit zwei Jahren hier. Ich arbeite.“
„Ach so,“ versetzte Wronskiy voll Teilnahme, „also komme mit herein.“
Nach der Gewohnheit der Russen begann er französisch, anstatt gerade russisch das zu sagen, was er vor der Dienerschaft verbergen wollte.
„Bist du mit der Karenina bekannt? Wir reisen zusammen. — Ich gehe zu ihr,“ — fuhr er auf französisch fort, Golenischtscheff aufmerksam ins Gesicht blickend.
„Ah, ich wüßte nicht,“ antwortete Golenischtscheff ruhig — der recht wohl das Verhältnis kannte — „bist du schon seit lange hier angekommen?“ fügte er hinzu.
„Ich? Seit vier Tagen,“ antwortete Wronskiy, noch einmal aufmerksam das Gesicht des Schulkameraden musternd.
„Ja wohl, er ist ein vernünftiger Mensch und nimmt die Dinge, wie sichs gehört,“ sagte Wronskiy zu sich selbst, die Bedeutung des Gesichtsausdrucks Golenischtscheffs und den Wechsel der Unterhaltung verstehend; „man kann ihn schon[34] mit Anna bekannt machen; er verhält sich ganz so, wie es sich gehört.“
Wronskiy hatte sich während der drei Monate, die er im Auslande mit Anna zugebracht hatte, im Zusammentreffen mit den Menschen stets die Frage vorgelegt, wie die betreffende neuerscheinende Person seine Beziehungen zu Anna betrachte, und größtenteils begegnete er bei den Männern der Auffassung „wie es sich gehörte“. Wenn man ihn aber frug, oder diejenigen frug, welche verstanden, was das „wie es sich gehört“, eigentlich bedeute, so wäre wohl er selbst ebenso wie jene in großer Verlegenheit gewesen.
In Wirklichkeit verstanden diejenigen, welche nach Wronskiys Meinung das „wie es sich gehört“ kannten, dieses nicht im geringsten, sondern verhielten sich nur im allgemeinen so, wie wohlerzogene Leute sich in allen verwickelten und unlösbaren Fragen zu verhalten pflegen, die das Leben von allen Seiten umgeben — sie verhielten sich zurückhaltend, und mieden Anspielungen und unangenehme Fragen. Sie gaben sich den Anschein, als ob sie vollständig Bedeutung und Sinn der Situation erfaßt hätten, sie erkannten dieselbe an und hießen sie sogar gut, hielten es aber für unangebracht und überflüssig, das alles auszusprechen.
Wronskiy hatte sich nicht sogleich gedacht, daß Golenischtscheff einer von diesen Leuten wäre, und er war daher doppelt erfreut über ihn. In der That verhielt sich Golenischtscheff der Karenina gegenüber, nachdem er bei derselben eingeführt worden war, so, wie Wronskiy es nur immer wünschen konnte. Augenscheinlich vermied er ohne die geringsten Schwierigkeiten alle Gespräche, die zu einer peinlichen Situation hätten führen können.
Er hatte Anna früher nicht gekannt und war überrascht von ihrer Schönheit, noch mehr aber von der Naivetät, mit welcher sie ihre Lage auffaßte. Sie errötete, als Wronskiy Golenischtscheff einführte, und dieses kindliche Erröten, das ihr offenes schönes Gesicht überzog, gefiel ihm außerordentlich. Besonders aber sprach ihn an, daß sie sogleich, wie in der Absicht keinerlei Zweifel in Gegenwart eines Fremden möglich bleiben zu lassen, Wronskiy einfach „Aleksey“ nannte und erzählte, daß sie mit ihm in ein neugemietetes Haus übersiedeln[35] werde, welches man hier den Palazzo nenne. Dieses offenherzige und naive Verhalten angesichts ihrer Lage gefiel Golenischtscheff. Angesichts dieser gutmütig heitern energischen Art und Weise Annas und seiner Bekanntschaft mit Aleksey Aleksandrowitsch und Wronskiy schien es ihm, als ob er sie vollständig verstände. Es schien ihm als ob er erkenne, was sie nicht im entferntesten erkannte; nämlich das, daß sie sich, das Unglück eines Mannes verschuldend, indem sie ihn und ihren Sohn verließ und ihren guten Ruf verlor, dennoch voll Energie heiter und glücklich fühlen konnte.
„Er liegt dort drüben,“ sagte Golenischtscheff, den Palazzo meinend, den Wronskiy gemietet hatte. „Es befindet sich ein schöner Tintoretto dort, aus der letzten Epoche des Künstlers.“
„Wißt Ihr was? Das Wetter ist schön, begeben wir uns einmal hin und besichtigen wir ihn nochmals,“ sagte Wronskiy, sich zu Anna wendend.
„Sehr erfreut; ich komme sogleich mit und will nur meinen Hut aufsetzen, Ihr sagt, es ist heiß?“ sprach sie, an der Thür stehen bleibend und fragend auf Wronskiy blickend. Wiederum bedeckte eine helle Röte ihr Gesicht.
Wronskiy erkannte an ihrem Blick, daß sie nicht wisse, in welchen Beziehungen er mit Golenischtscheff zu stehen gedenke, und besorgt sei, ob sie sich auch so verhalten habe, wie er es gewünscht haben möchte.
Er schaute sie mit einem zärtlichen langen Blicke an.
„Nein, nicht so sehr,“ versetzte er.
Ihr schien, daß sie damit alles verstanden hatte, namentlich, daß er zufrieden mit ihr sei, und ihm zulächelnd ging sie schnellen Schrittes zur Thür hinaus.
Die Freunde blickten einander an und in den Zügen beider erschien Verlegenheit, es war, als ob Golenischtscheff, augenscheinlich bezaubert von ihr, etwas über sie zu sagen wünschte, aber nicht fände was, während Wronskiy das Nämliche wünschte und es doch zugleich fürchtete.
„So ist es also“ — begann Wronskiy, um doch wieder eine Unterhaltung anzuknüpfen, „du hast dich hier angesiedelt? Treibst du denn noch immer deine alte Beschäftigung?“ fuhr er fort, sich erinnernd, daß man ihm gesagt hatte, Golenischtscheff schriebe etwas.
„Ja. Ich schreibe den zweiten Teil meiner ‚Zwei Gesetze‘,“ antwortete dieser, vor Vergnügen über diese Frage ins Feuer geratend, „das heißt, um genau zu sein, ich schreibe noch nicht, sondern bereite noch vor, ich sammle Material. Dieser zweite Teil wird bei weitem umfangreicher werden und fast sämtliche Fragen umfassen. Man will bei uns in Rußland nicht begreifen, daß wir die Erben von Byzanz sind,“ begann er eine lange eifrige Auseinandersetzung.
Wronskiy war es anfangs peinlich, daß er die erste Abhandlung über die „Zwei Gesetze“, über welche der Autor mit ihm sprach, als ob sie etwas ganz Bekanntes wäre, gar nicht kannte. Als aber Golenischtscheff seine Ideen zu entwickeln begann, und Wronskiy ihm zu folgen vermochte, hörte ihn der Letztere, auch ohne die „Zwei Gesetze“ zu kennen, mit Interesse an, da Golenischtscheff gut sprach, doch versetzte ihn die verbissene Erregtheit, mit welcher Golenischtscheff über den ihn beschäftigenden Gegenstand sprach, in Erstaunen und Mißstimmung. Je länger jener sprach, umsomehr entflammte sich sein Blick, umsomehr beeilte er sich, eingebildeten Gegnern zu replizieren und um so unruhiger und trüber wurde sein Gesichtsausdruck. Wronskiy war, indem er sich Golenischtscheff als den hageren, lebhaften und gutmütigen Knaben von gutem Herkommen, der stets der Erste im Corps gewesen war, in die Erinnerung zurückrief, nicht imstande, einen Grund für diese Gereiztheit zu finden, und schüttelte den Kopf über ihn. Insbesondere wollte ihm nicht gefallen, daß Golenischtscheff als ein Mann aus der guten Gesellschaft, sich auf eine Stufe mit gewissen Skriblern stellte, die ihn gereizt hatten, und denen er nun grollte. War das die Sache wert? Wronskiy gefiel dies nicht, aber er empfand, daß Golenischtscheff unglücklich war, und fühlte Mitleid mit ihm. Verzweiflung, ja fast Geistesverwirrung war auf diesen beweglichen, ziemlich angenehmen Zügen sichtbar, während er, Annas Eintreten gar nicht einmal bemerkend, fortfuhr, hastig und eifrig seine Ideen zu äußern.
Als Anna in Hut und Überwurf, mit ihrer schönen Hand in schnellen Bewegungen mit dem Sonnenschirm spielend, neben Wronskiy stehen blieb, riß sich dieser mit einem Gefühl der Erleichterung von den starr auf ihn gerichteten, klagenden[37] Blicken Golenischtscheffs los und schaute mit neuer Liebe auf seine reizende Freundin in ihrer Fülle von Lebenskraft und Freude.
Golenischtscheff konnte sich nur schwer wieder sammeln und blieb anfangs niedergeschlagen und finster, doch belebte ihn Anna, freundlich gegen jedermann gestimmt — wie sie überhaupt während dieser Zeit war — bald wieder durch die Natürlichkeit und Heiterkeit ihres Verkehrs. Nachdem sie verschiedene Themata versucht hatte, brachte sie das Gespräch auf die Malerei, über die er sehr gut sprach und hörte ihm aufmerksam zu. Sie gingen zu Fuße nach dem gemieteten Haus und besichtigten es.
„Über Eines freue ich mich sehr,“ sagte Anna zu Golenischtscheff, als sie bereits auf dem Rückwege waren. „Aleksey wird ein gutes Atelier haben. Du wirst doch ohne Zweifel dieses Zimmer nehmen,“ sagte sie zu Wronskiy auf russisch, ihn jetzt duzend, da sie schon erkannt hatte, daß Golenischtscheff ihnen in ihrer Einsamkeit sehr nahe treten würde, und man so vor ihm nichts zu verhehlen brauche.
„Malst du denn?“ sagte dieser, sich schnell zu Wronskiy hinwendend.
„Ja, ich habe mich lange damit beschäftigt und jetzt wieder ein wenig angefangen,“ versetzte Wronskiy errötend.
„Er hat ein bedeutendes Talent,“ antwortete Anna mit freudigem Lächeln, „ich bin natürlich kein Kritiker, aber kundige Kunstrichter haben es auch gesagt.“
Anna fühlte sich in dieser ersten Zeit ihrer Freiheit und schnellen Genesung in einer Weise glücklich und voll Lebensfreude, die nicht zu vergeben war. Die Erinnerung an das Unglück ihres Gatten vergällte ihr ihre Seligkeit nicht. Diese Erinnerung war ihr einerseits zu furchtbar, als daß sie daran hätte denken mögen, andrerseits verlieh ihr das Unglück des Gatten eine viel zu hohe Seligkeit, als daß sie Reue über dasselbe hätte empfinden können. Die Erinnerung an alles, was sich mit ihr seit ihrer Krankheit zugetragen, die Aussöhnung mit dem Gatten, der Bruch mit ihm, die Nachricht von der Verwundung Wronskiys, dessen erneutes Erscheinen[38] bei ihr, die Vorbereitung der Ehescheidung, das Verlassen des Hauses ihres Gatten, der Abschied von ihrem Sohne — alles das erschien ihr wie ein Fiebertraum, aus welchem sie, allein mit Wronskiy, im Auslande erwacht war. Die Erinnerung — das Böse, das sie ihrem Gatten zugefügt hatte, erweckte in ihr ein Gefühl, welches dem Ekel und dem Gefühl ähnlich war, welches ein Mensch empfindet, der ertrinken wollte und sich von einem andern losgerissen hat, der sich an ihn anklammerte. Dieser letztere Mensch war ertrunken. Natürlich war das keine schöne Handlung, aber es war die einzige Rettung und man that daher am besten, an diese furchtbaren Einzelheiten nicht mehr zu denken.
Ein Schluß der sie über ihre Handlungsweise beruhigte, kam ihr damals, in der ersten Minute nach dem Bruch, und wenn sie jetzt an ihre ganze Vergangenheit dachte, erinnerte sie sich dieses Schlusses. „Ich habe unwiderleglich das Verhängnis dieses Mannes herbeigeführt,“ dachte sie, „aber ich will aus diesem Unglück keinen Vorteil ziehen; auch ich leide und werde leiden, ich bin dessen beraubt, was ich über alles schätzte, — des ehrenhaften Namens und meines Sohnes. Ich habe schlecht gehandelt, und will daher kein Glück, keine Ehescheidung; ich werde leiden in meiner Schmach und der Trennung von dem Sohne.“
Aber so aufrichtig Anna auch leiden wollte, sie litt nicht; und ihre Schmach war für sie nicht vorhanden. Mit dem Takte, von welchem sie beide so viel besaßen, kamen sie im Auslande, indem sie russische Damen mieden, nie in eine falsche Situation und überall trafen sie Leute, die sich stellten, als ob sie die beiderseitige Lage noch weit besser verständen, als sie selbst sie auffaßten. Selbst die Trennung von ihrem Sohne, den sie liebte, war ihr in der ersten Zeit nicht schmerzlich. Ihr Töchterchen, sein Kind, war so lieb, hatte Anna so für sich eingenommen, seit ihr das Mädchen allein verblieben war, daß sie nur selten noch des Sohnes gedachte.
Ihr Bedürfnis zu leben, mit der Genesung erhöht, war so stark, und ihre Lebensverhältnisse waren so ungewohnte und angenehme, daß Anna sich unverzeihlich glücklich fühlte.
Je mehr sie Wronskiy erkannte, desto mehr liebte sie ihn. Sie liebte ihn um seiner selbst willen und wegen seiner Liebe[39] für sie. Ihre vollständige Herrschaft über ihn war ihr eine fortwährende Freude. Seine Nähe war ihr stets willkommen. Alle Züge seines Charakters, den sie mehr und mehr erkannte, waren ihr unaussprechlich lieblich. Sein Äußeres, das sich im Civilanzug verändert hatte, war für sie so anziehend, wie für eine liebende junge Frau. In allem was er sprach, dachte und that, sah sie etwas besonders Edles und Erhabenes, und ihr Entzücken über ihn erschreckte sie selbst sogar häufig. Sie suchte nichts Unschönes in ihm und konnte auch nichts finden; sie wagte es nicht, das Bewußtsein ihrer Nichtigkeit vor ihm gewahr werden zu lassen, denn es schien ihr, als ob er, wenn er dies wüßte, schneller aufhören könne, sie zu lieben. Jetzt aber fürchtete sie nichts so sehr — obwohl sie nicht den geringsten Anlaß hierzu hatte — als, seine Liebe zu verlieren. Sie konnte nicht umhin, ihm dankbar zu sein für sein Verhältnis zu ihr und mußte ihm zeigen, wie hoch sie dasselbe schätzte. Er, der nach ihrer Meinung einen so ausgeprägten Beruf für die Staatscarriere besaß, in der er einmal eine bedeutende Rolle spielen mußte — er hatte seinen Ehrgeiz für sie geopfert, ohne je auch nur das geringste Bedauern darüber zu zeigen.
Er war mehr noch als früher, liebevoll und achtungsvoll gegen sie geworden und der Gedanke, sie möchte sich des Peinlichen ihrer Lage niemals bewußt werden, verließ ihn nicht eine Minute. Er, so ganz ein Mann, war vor ihr nicht nur widerspruchslos, er hatte nicht einmal seinen eigenen Willen, und war offenbar nur damit beschäftigt, auf welche Weise er ihren Wünschen zuvorkommen könne. Und sie konnte nicht umhin, dies hochzuschätzen, obwohl sie das Übermaß seiner Aufmerksamkeit für sie, diese Atmosphäre liebevoller Sorgfalt mit der er sie umgab, bisweilen bedrückte.
Wronskiy jedoch war ungeachtet der vollständigen Verwirklichung dessen, was er so lange ersehnt hatte, nicht vollkommen glücklich. Er fühlte bald, daß die Verwirklichung seines Wunsches ihm nur ein Körnlein von jenem Berg von Glück gewährt hatte, den er erwartete. Diese Verwirklichung zeigte ihm nur den ewigen Fehler, den die Menschen begehen, indem sie sich das Glück als Verwirklichung eines Wunsches denken. In der ersten Zeit, nachdem er sich mit ihr vereinigt[40] und den Civilrock angelegt hatte, empfand er all den Reiz der Freiheit im allgemeinen, den er nicht vorher gekannt hatte, sowie die Freiheit der Liebe, und er war zufrieden; doch nicht auf lange. Bald fühlte er, daß sich in seiner Brust der Wunsch der Wünsche regte — die Langeweile. — Ganz ohne seinen Willen klammerte er sich an jede vorüberhuschende Laune, indem er sie als Wunsch und Ziel erfaßte. Sechzehn Stunden des Tages mußte man sich beschäftigen, obwohl man im Ausland in vollkommener Freiheit lebte, außerhalb jenes Kreises von Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens, wie er die Zeit in Petersburg für sich in Anspruch nahm.
An jene Zerstreuungen des Junggesellenlebens, die Wronskiy bei früheren Reisen ins Ausland beschäftigt hatten, war nicht mehr zu denken, da schon ein einziger Versuch dieser Art einen unerwarteten, einem verspäteten Abendbrot unter Bekannten nicht entsprechenden Trübsinn in Anna hervorrief. Beziehungen zu der Gesellschaft des Ortes, auch den Russen hier, konnten sie bei der Unbestimmtheit ihrer Verhältnisse ebenfalls nicht unterhalten. Eine Besichtigung der Sehenswürdigkeiten hatte, abgesehen davon, daß sie alles schon gesehen hatten, für ihn als einen Russen, und verständigen Menschen, nicht jene unerklärbare Bedeutung, wie sie die Engländer diesem Punkte beimessen.
Wie daher das hungernde Tier nach jedem fallenden Gegenstande schnappt, in der Hoffnung, in ihm etwas zu fressen zu finden, so griff auch Wronskiy vollständig instinktiv bald zur Politik, bald nach neuen Büchern, bald nach der Malerei.
Da er von Kindheit an Talent zur Malerei gehabt, und, indem er nicht wußte, wofür er sein Geld verausgaben sollte, Stahlstiche zu sammeln begonnen hatte, so blieb er endlich bei der Malerei, und begann sich mit ihr zu beschäftigen und jenen brachliegenden Wust von Wünschen, welcher nach Verwirklichung verlangte, in ihr abzulagern.
Er besaß die Fähigkeit, die Kunst zu erfassen, und in der That mit Geschmack die Kunst nachzuahmen; er meinte auch, daß er dasselbe besäße, was der Künstler brauche, und befaßte sich, nachdem er einige Zeit geschwankt hatte, welches Genre der Malerei er erwählen solle: das religiöse, historische oder realistische, mit Malen. Er verstand sich auf jedes Genre und[41] konnte sich für dieses, wie für jenes begeistern, aber er vermochte sich nicht vorzustellen, daß es auch möglich sei, ganz und gar nichts zu wissen, was es für Richtungen in der Malerei gebe, und sich unmittelbar von dem inspirieren zu lassen, was in der Seele lebte, ohne Sorge, ob das, was man malte, auch zu einem bestimmten Genre in der Kunst gehörte. Da er dies nicht kannte, und sich nicht unmittelbar vom Leben beeinflussen ließ, sondern mittelbar, vom Leben wie es durch die Kunst schon verkörpert war, so begeisterte er sich sehr schnell und leicht und erreichte ebenso schnell und leicht, daß das, was er malte, demjenigen Genre sehr ähnlich wurde, welches er nachzuahmen wünschte.
Vor allem gefiel ihm die französische Schule, die graziöse und effektvolle, und nach dieser begann er, das Bild Annas in italienischem Kostüm zu malen. Das Porträt erschien ihm und jedermann, der es sah, als sehr gelungen.
Der alte vernachlässigte Palazzo mit den hohen bossierten Plafonds und Fresken an den Wänden, Mosaikboden und schweren gelben Stoffgardinen an den hohen Fenstern; Vasen auf den Konsolen und Kaminen, geschnitzten Thüren und dämmerigen Sälen, die mit Gemälden vollgehängt waren — dieser Palazzo hielt, nachdem sie in ihn übergesiedelt waren, schon in seiner äußeren Erscheinung in Wronskiy eine angenehme Täuschung wach, die, daß er weniger ein russischer Gutsherr und Stallmeister ohne Amt sei, als vielmehr ein erlauchter Liebhaber und Kunstmäcen, und er selbst — ein bescheidener Künstler, der sich von der Welt losgesagt hatte, von seinen Verbindungen und dem Ehrgeiz — für ein geliebtes Weib.
Die Rolle, welche Wronskiy mit seinem Umzug in den Palazzo erwählt hatte, gelang vollständig und durch Vermittelung Golenischtscheffs mit einigen interessanten Personen bekannt geworden, fühlte er sich für die Anfangszeit beruhigt. Er malte unter der Leitung eines italienischen Professors der Malerei Studien nach der Natur und beschäftigte sich mit dem Kunstleben Italiens im Mittelalter. Das mittelalterliche Kunstleben Italiens hatte für Wronskiy in letzter Zeit soviel[42] Reiz gewonnen, daß dieser selbst einen Hut und das Plaid über der Schulter nach der mittelalterlichen Mode zu tragen begann, was ihm sehr gut stand.
„Da leben wir hier und wissen gar nichts davon,“ sagte eines Tages Wronskiy zu Golenischtscheff, der früh zu ihm gekommen war. „Hast du das Gemälde Michailoffs gesehen?“ Er reichte die am Morgen soeben erhaltene russische Zeitung hin, und wies auf einen Artikel über einen russischen Maler, der in der nämlichen Stadt lebte und hier ein Gemälde ausgeführt hatte, über welches schon lange Gerüchte umliefen und das schon im voraus angekauft worden war.
In dem Aufsatz wurden der Regierung und der Akademie Vorwürfe gemacht, daß der vorzügliche Künstler jeder Aufmunterung und Unterstützung entbehre.
„Ich habe das Bild gesehen,“ antwortete Golenischtscheff, „natürlich ist er nicht talentlos, aber er verfolgt eine vollständig verkehrte Richtung; das ist noch immer jene Richtung Iwanoff-Strauß-Rénan, Christus und der kirchlichen Malerei gegenüber.“
„Was stellt das Gemälde dar?“ frug Anna.
„Christus vor Pilatus. Christus ist als Hebräer mit allem Realismus der neuen Schule dargestellt“ — durch die Frage nach dem Inhalt des Gemäldes auf eines seiner Lieblingsthemen gebracht, begann Golenischtscheff zu erklären.
„Ich begreife nicht, wie man einem so groben Irrtum verfallen kann. Christus hat doch schon seine bestimmte Verkörperung in der Kunst der größten Altmeister. Wenn man nicht Gott darstellen will, sondern einen Revolutionär oder Weisen, so mag man sich den Sokrates aus der Geschichte wählen, den Franklin, die Charlotte Corday — aber nur nicht Christus. — Man nimmt da aber gerade diejenige Gestalt, die man für die Kunst nicht nehmen soll, und dann“ —
„Aber ist es denn wahr, daß sich dieser Michailoff in so großer Armut befindet?“ frug Wronskiy in dem Gedanken, daß er, als russischer Mäcen, ohne Rücksicht darauf, ob das Gemälde gut oder schlecht sei, dem Künstler helfen könne.
„Kaum; er ist ein bedeutender Porträtmaler. Ihr habt wohl sein Porträt der Wasiljtschikowa gesehen? Er scheint indessen nicht mehr Porträts malen zu wollen, und kann es[43] allerdings möglich sein, daß er sich wirklich in Not befindet. Ich sage, daß“; —
„Könnte man ihn nicht bitten, ein Porträt der Anna Arkadjewna zu malen?“ sagte Wronskiy.
„Weshalb meines?“ fiel Anna ein, „außer dem deinigen möchte ich kein anderes haben. Oder noch besser wäre Any“ — so nannte sie ihr kleines Mädchen — „da ist sie gerade,“ fügte sie hinzu, durch das Fenster auf eine hübsche italienische Amme schauend, welche das Kind in den Garten trug, und dann sorglich verstohlen auf Wronskiy blickend.
Die hübsche Amme, deren Kopf Wronskiy für sein Gemälde porträtiert hatte, bildete das einzige geheime Leid im Leben Annas. Wronskiy hatte sie gemalt, sich in ihre Anmut und Mittelalterlichkeit verliebt, und Anna wagte nicht, sich zu gestehen, daß sie fürchtete, sie könne auf diese Amme eifersüchtig werden. Infolge dessen behandelte sie dieselbe ausnehmend gut und verzärtelte sie sogar, ebenso wie den kleinen Sohn derselben.
Wronskiy blickte ebenfalls durch das Fenster und dann Anna in die Augen, wandte sich jedoch hierauf sogleich wieder zu Golenischtscheff und sagte:
„Kennst du diesen Michailoff?“
„Ich bin ihm begegnet, doch ist er ein Sonderling und ohne jede Bildung. Wißt Ihr, er ist einer jener Wilden, jener Neuerer, die man jetzt so häufig trifft; einer jener Freidenker, welche d'emblée, in den Begriffen des Unglaubens, der Negierung und des Materialismus aufgezogen sind. Früher,“ fuhr Golenischtscheff fort, ohne zu bemerken, oder bemerken zu wollen, daß auch Wronskiy und Anna zu reden wünschten, „früher war ein Freidenker ein Mensch, der in den Begriffen Religion, Gesetz und Moral erzogen worden, und selbst durch Kampf und Mühe zum Freidenkertum gelangt war; jetzt zeigt sich ein neuer Typus der selbstgewordenen Freidenker, welche emporwachsen, ohne auch nur davon gehört zu haben, daß es Gesetze der Moral, der Religion giebt, und daß Autoritäten existieren; solcher, die eben geradezu in den Begriffen des absoluten Nein, das heißt also, wie Wilde aufwachsen. So Einer ist er nun; der Sohn eines höheren Moskauer Lakaien wohl, der keinerlei Bildung empfangen hat.[44] Nachdem er in die Akademie eingetreten war und sich einen Namen gemacht hatte, begann er, gerade kein Dummkopf, das Bedürfnis nach Bildung zu fühlen. Er wandte sich daher zu dem, was ihm als Quelle der Bildung erschien — zu den Journalen. Man bedenke nur, in der alten Zeit hätte ein Mensch, der sich bilden wollte, nehmen wir an, ein Franzose, alle Klassiker studieren müssen: die Theologen, Tragiker, Historiker und Philosophen; man bedenke die geistige Arbeit, die ihm da obgelegen haben würde. Jetzt aber, bei uns, ist er geradenwegs auf die oppositionelle Litteratur gestoßen, hat sich schnell den ganzen Extrakt der Verneinungswissenschaft zu eigen gemacht — und ist fertig! Vor zwanzig Jahren würde er in dieser Litteratur die Kennzeichen eines Kampfes mit der Autorität, mit hundertjährigen Anschauungen gefunden haben, er würde aus diesem Kampfe erkannt haben, daß es noch etwas Anderes gebe, jetzt aber verfällt er geradenwegs einer Litteratur, in welcher man die alten Anschauungen nicht einmal mehr einer Bekämpfung würdigt, sondern unverhohlen heraussagt, ‚das ist nichts mehr, évolution, Kampf ums Dasein!‘ Ich habe in meiner Abhandlung“ —
„Wißt Ihr was,“ sagte Anna, die schon lange aufmerksame Blicke mit Wronskiy gewechselt hatte, und wußte, daß diesen der Bildungsgang des Künstlers nicht interessierte, sondern nur der Gedanke beschäftigte, ihm zu helfen, ihm ein Porträt zuzuweisen: „Wißt Ihr was?“ unterbrach sie den sich im Redefluß verlierenden Golenischtscheff, „wir wollen zu ihm gehen!“
Golenischtscheff sammelte sich und stimmte bereitwillig zu, da jedoch der Künstler in einem entfernteren Viertel wohnte, beschloß man einen Wagen zu nehmen.
Nach Verlauf einer Stunde fuhren Anna die neben Golenischtscheff saß, und Wronskiy, der auf dem Vordersitz des Wagens Platz genommen hatte, vor einem neuen, unschön aussehenden Gebäude in dem abgelegenen Stadtviertel vor. Nachdem sie von der heraustretenden Frau des Hausmanns erfahren hatten, daß Michailoff den Zutritt zu seinem Atelier wohl gewähre, augenblicklich aber sich in seiner Privatwohnung, die wenige Schritte entfernt lag, befinde, so sandten sie ihm ihre Karten mit der Bitte um die Erlaubnis, seine Gemälde sehen zu dürfen.
Der Maler Michailoff war, wie immer, bei der Arbeit, als man ihm die Karten des Grafen Wronskiy und Golenischtscheffs überbrachte. Er hatte diesen Morgen in seinem Atelier an einem großen Gemälde gearbeitet. Als er in seine Wohnung gekommen war, hatte er sich über seine Frau geärgert, weil diese nicht mit der Hauswirtin umzugehen verstand, die Geld verlangte.
„Zwanzigmal wohl habe ich dir gesagt, laß dich nicht in Erklärungen ein, du bist ohnehin schon dumm genug; willst du aber auf italienisch etwas erklären, dann wirst du noch dreimal dümmer,“ sagte er zu ihr nach langem Gezänk.
„Sei lieber nicht so nachlässig! Ich kann doch nicht dafür. Wenn ich Geld hätte“ —
„Laß mich in Ruhe, um Gottes willen!“ rief Michailoff, Thränen in der Stimme, eilte, sich die Ohren zuhaltend, in sein Arbeitszimmer hinter die Zwischenwand, und schloß die Thür hinter sich. „Einfältige,“ sprach er zu sich selbst, ließ sich an seinem Tische nieder, klappte den Karton auseinander und machte sich mit besonderem Eifer an eine schon begonnene Zeichnung.
Niemals arbeitete er mit so großem Eifer und Erfolg, als wenn es ihm im Leben nicht gut ging, besonders aber, wenn er sich mit seiner Frau gezankt hatte.
„Könnte man nur sonstwohin durchbrennen!“ dachte er bei seiner Arbeit. Er entwarf eine Zeichnung zu der Figur eines Menschen, der sich im Zornanfall befindet. Die Zeichnung war schon vorher entworfen, aber er war mit derselben nicht zufrieden. „Nein, die andere war besser; wo ist sie denn nur?“ Er ging zu seiner Frau, und frug grollend, und ohne aufzublicken, die alte Magd, wo das Papier wäre, welches er ihnen gegeben hätte. Das Papier mit der darauf hingeworfenen Zeichnung fand sich, es war aber beschmutzt und mit Stearin betropft. Gleichwohl nahm er die Zeichnung, legte sie vor sich auf den Tisch, und begann, nachdem er mit den Augen blinzelnd zurückgetreten war, sie zu betrachten. Plötzlich lächelte er und schwenkte freudig mit den Armen. „So ist es, so!“ sagte er, und begann, den Bleistift ergreifend,[46] schnell zu zeichnen. Ein Stearinflecken hatte der Figur eine neue Stellung verliehen. Er zeichnete diese neue Stellung und plötzlich fiel ihm das energische Gesicht eines Kaufmanns mit hervorstehendem Unterkinn ein, bei dem er sich seine Cigarren kaufte, und dieses Gesicht, dieses Kinn gab er nun seiner Figur. Er lachte vor Lust; die Gestalt war plötzlich aus einer toten, nur gedachten, lebendig, eine solche geworden, die man nicht mehr verändern konnte. Diese Figur lebte, sie war deutlich und zweifellos bestimmt. Man konnte jetzt wohl noch die Zeichnung ändern, im Einklang mit den Erfordernissen der Gestalt, man konnte wohl selbst die Füße anders stellen, die Haltung des linken Armes gänzlich ändern, die Haare zurücklegen. Brachte man auch diese Verbesserungen an, so verankerte man doch nicht die Figur, sondern nur das, was die Figur verdeckte. Er nahm damit gleichsam nur die Hüllen von ihr ab, wegen deren sie nicht ganz sichtbar war und jeder neue Strich zeigte die ganze Gestalt nur noch mehr in all ihrer energischen Kraft, einer Kraft, die ihm plötzlich von den Stearinflecken hervorgebracht zu sein schien. Sorgfältig beendete er gerade die Figur, als man ihm die Karten brachte.
„Sogleich, sogleich!“
Er eilt zu seiner Frau.
„Laß es gut sein, Sascha, sei nicht mehr böse!“ sagte er zu ihr, schüchtern und zärtlich lächelnd, „du warst schuld und ich war schuld; ich will schon alles in Ordnung bringen.“ Nachdem er sich mit seiner Frau ausgesöhnt hatte, zog er einen olivenfarbigen Paletot mit Sammetkragen an, setzte seinen Hut auf, und begab sich nach seinem Atelier. Die so wohlgelungene Figur hatte er bereits vergessen. Es erfreute und erregte ihn jetzt nur der Besuch seines Ateliers seitens dieser vornehmen Russen, die im Wagen angekommen waren.
Über sein Gemälde, dasselbe, welches jetzt auf seinem Platze stand, hatte er auf dem Grunde seines Herzens nur ein Urteil — dies, daß ein ähnliches Gemälde bisher noch niemand gemalt habe. Er wähnte nicht, daß sein Bild besser sei als alle Rafaelschen, er wußte nur, daß das, was er auf demselben wiedergeben wollte, noch nie jemand wiedergegeben hatte. Dies wußte er genau und er wußte es schon lange,[47] seit jener Zeit, da er es zu malen begonnen hatte. Aber die Urteile der Menschen hatten für ihn, wie sie auch sein mochten, gleichwohl eine ungeheure Wichtigkeit, und sie regten ihn bis auf den Grund seiner Seele auf. Jede Bemerkung, selbst die allergeringste, welche bewies, daß seine Kritiker auch nur den kleinsten Teil von dem erkannten, was er in diesem Gemälde gesehen hatte, regte ihn bis auf den Grund seiner Seele auf.
Seinen Kritikern maß er stets größere Tiefe an Verständnis bei, als wie er selbst besaß, und er erwartete von ihnen stets etwas, was er selbst noch nicht in seinem Gemälde gesehen hatte. Oft fand er dies auch, wie ihm schien, in den Urteilen der Beschauer.
Schnellen Schrittes näherte er sich der Thür seines Ateliers; und trotz seiner inneren Erregtheit, frappierte ihn die matte Beleuchtung der Gestalt Annas, wie sie im Schatten der Einfahrt stand und dem eifrig ihr etwas auseinandersetzenden Golenischtscheff zuhörte, zu gleicher Zeit aber auch offenbar wünschte, den herankommenden Künstler zu sehen.
Er selbst war sich dessen gar nicht bewußt geworden, daß er an sie herantretend, diesen Eindruck erfaßt und sich zu eigen gemacht hatte, ebenso wie das Unterkinn jenes Kaufmanns der ihm Cigarren verkaufte, und er barg ihn nun an eine Stelle, von der er ihn wieder hervorholen würde, sobald er ihn brauchte. Die Besucher, schon vorher durch Golenischtscheffs Erzählung über den Künstler ernüchtert, wurden dies noch mehr durch dessen äußere Erscheinung.
Von mittlerer Größe, gedrungen, mit schwankendem Gang, machte Michailoff in seinem zimmetfarbenen Hut, dem olivengrünen Paletot und den engen Beinkleidern — man trug zu dieser Zeit längst schon weite — insbesondere aber durch das Gewöhnliche seines breiten Gesichts und einen Ausdruck, in welchem sich Schüchternheit mit dem Wunsche, seine Würde zu beobachten, vereinigte, einen nicht eben angenehmen Eindruck.
„Bitte ergebenst,“ sagte er, sich bemühend, gleichmütig zu erscheinen, und zog, in den Hausflur tretend, einen Schlüssel aus der Tasche um die Thür zu öffnen.
Beim Eintritt in das Atelier musterte der Künstler Michailoff noch einmal seinen Besuch und prägte seinem Gedächtnis noch den Gesichtsausdruck Wronskiys ein, insbesondere dessen Backenpartieen.
Wenn auch sein künstlerisches Empfinden fortwährend thätig war, indem es Material sammelte, wenn er auch immer mehr und mehr die Erregung darüber empfand, daß die Minute der Beurteilung seines Werkes nahte, so hatte er sich doch dabei schnell und feinsinnig aus unmerklichen Anzeichen eine Vorstellung über diese drei Personen gebildet.
Der Eine da — Golenischtscheff — war ein hiesiger Russe. Michailoff entsann sich weder seiner Familie, noch wußte er mehr, wo er ihm begegnet war, und was er mit ihm gesprochen hatte. Er entsann sich nur noch seines Gesichts, wie er sich überhaupt aller Gesichter entsann, die er einmal gesehen hatte, doch entsann er sich auch, daß dies eines jener Gesichter war, die von seiner Phantasie in die höchst umfangreiche Klasse der unwahren und ausdrucksarmen einregistriert wurden. Die langen Haare und die sehr offene Stirn verliehen dem Gesicht äußere Bedeutung, obwohl sich auf ihm nur wenig, kindlich-unruhiger Ausdruck, der sich über der schmalen Nasenwurzel konzentrierte, zeigte.
Wronskiy und die Karenina mußten nach der Vorstellung, die sich Michailoff von ihnen machte, vornehme und reiche Russen sein, die nichts von Kunst verstanden, wie alle diese reichen Russen, sich aber als Liebhaber und Verehrer derselben gebärdeten.
„Sie haben gewiß schon die ganze alte Kunst gesehen und bereisen jetzt die Ateliers der neuen Meister, die deutschen Charlatane und die englischen Praerafaelistennarren, und kommen nun zu mir nur der Vervollständigung der Umschau halber,“ dachte er.
Er kannte die Manier der Dilettanten sehr genau — je klüger diese erschienen, um so schlimmer war es — welche die Ateliers der zeitgenössischen Künstler nur mit der Absicht zu sehen kamen, daß sie das Recht hätten sagen zu können, die Kunst sei im Niedergang begriffen und daß sich, je mehr man[49] auf die Neuen schaue, umsomehr wahrnehmen lasse, wie unnachahmlich erhaben die alten Meister geblieben seien.
Er erwartete alles dies, sah alles dies, schon auf ihren Gesichtern, in dieser gleichmütigen Nachlässigkeit, mit der sie unter sich sprachen und auf die Büsten blickten und sich ungezwungen bewegten, in der Erwartung, daß er ihnen das Gemälde zeigen würde. Aber nichtsdestoweniger empfand er beim Durchblättern seiner Skizzen und als er die Vorhänge hob und die Decke wegnahm, eine hohe tiefe Erregung; umsomehr, als ihm, obwohl alle vornehmen und reichen Russen dumm und beschränkt nach seinen Begriffen sein mußten, Wronskiy sowohl wie besonders Anna, gefielen.
„So, ist es gefällig?“ sprach er, mit linkischem Gange auf die Seite tretend und nach dem Bilde weisend. „Es ist die Mahnung des Pilatus. Matthäi Kap. XXVII“ — sagte er, im Gefühl, daß seine Lippen vor Aufregung zu zittern begannen. Er ging abseits und trat hinter sie.
Während der wenigen Sekunden, während deren die Besucher schweigend das Gemälde beschauten, blickte es Michailoff gleichfalls an, und er schaute mit gleichgültigem, interesselosem Blick darauf. Während dieser wenigen Sekunden hatte er sich im voraus davon überzeugt, daß das höchste und gerechteste Urteil von ihnen ausgesprochen werden würde, gerade von diesen Besuchern, welche er eine Minute zuvor noch so gering geschätzt hatte. Er hatte alles vergessen, was er über sein Bild vorher gedacht hatte während der drei Jahre, in denen es von ihm gemalt ward; er vergaß alle Vorzüge desselben, die für ihn zweifellos vorhanden waren und sah sein Bild nur mit ihrem unbewegten, unparteiischen und frischen Blick an; und jetzt sah er an ihm nichts Gutes mehr. Er sah im Vordergrund das unwillige Gesicht des Pilatus und das ruhige Antlitz Christi, im Hintergrund die Gestalten der Kreaturen des Pilatus und das Gesicht Johannis, die Vorgänge beobachtend. Jedes Gesicht, unter so vielem Suchen, so vielem Irren, Verbessern an seinem eigenartigen Charakter in ihm erstanden, jedes dieser Gesichter, die ihm soviel Mühe und Freude gemacht hatten, sie alle, so oft umgeändert unter der Rücksichtnahme auf den Gesamteindruck, und auf alle diese Nüancen des Kolorits und der Töne, die er mit soviel Mühe[50] erzielt hatte, alles dies vereint, zeigte sich ihm jetzt, indem er die Augen der Besucher beobachtete, als Trivialität, die schon tausendmal wiederholt worden war.
Selbst das wertvollste dieser Gesichter, das Antlitz Christi, als Mittelpunkt des Bildes, der ihm soviel Freude gemacht hatte, als er es endlich gefunden, alles das erschien jetzt verloren für ihn, als er auf sein Gemälde mit ihren Augen blickte. Er sah nur eine gut — und selbst das nicht einmal, da er jetzt klar eine Masse von Mängeln wahrnahm — gemalte Wiederholung aller jener zahllosen Christusbilder Tizians, Rafaels, Rubens', und der nämlichen Söldner des Pilatus. Alles war trivial, dürftig und veraltet, ja, selbst schlecht gemalt — bunt und schwach. Sie werden recht haben, wenn sie in Gegenwart des Künstlers verstellte höfliche Phrasen drechseln, ihn aber bedauern und verspotten, sobald sie unter sich sind.
Das Schweigen wurde ihm allzu drückend, obwohl es nicht länger als eine Minute gewährt hatte; um es zu brechen und zu zeigen, daß er nicht aus seiner Ruhe gekommen sei, wandte er sich, indem er sich zusammenraffte, an Golenischtscheff.
„Ich hatte wohl, wie mir scheint, das Vergnügen“ — sagte er zu demselben, unruhig bald auf Anna, bald auf Wronskiy blickend, um nicht einen einzigen Zug des Ausdrucks ihrer Gesichter zu verlieren — „Ihnen schon begegnet zu sein?“ —
„Gewiß! — Wir sahen uns bei Rossi, entsinnt Ihr Euch jenes Abends, als jene italienische Dame vortrug,“ begann Golenischtscheff frei, und ohne das geringste Bedauern den Blick von dem Gemälde ab und zum Maler wendend.
Als er indessen bemerkte, daß Michailoff ein Urteil über sein Gemälde erwarte, sagte er: „Euer Bild hat gute Fortschritte gemacht, seit ich es zum letztenmal gesehen habe. So wie damals, überrascht mich auch jetzt die Figur des Pilatus. So muß man diesen Mann auffassen, als gut und brav, aber als Beamter bis auf den Kern seiner Seele, der nicht weiß, was er anrichtet. Mir scheint indessen“ —
Michailoffs bewegliches Gesicht erglänzte plötzlich über und über, seine Augen leuchteten auf.
Er wollte etwas sagen, konnte es aber vor Erregung nicht, und stellte sich nun, als müsse er husten. So niedrig wie[51] er auch die Fähigkeit Golenischtscheff, die Kunst zu verstehen, anschlug, so unbedeutend auch die treffende Bemerkung desselben über die Wahrheit des Gesichtsausdruckes des Pilatus als eines Beamten war, so zurücksetzend für ihn die Äußerung einer so unbedeutenden Bemerkung erscheinen konnte, die zuerst kam, während über das Hauptsächlichste nicht gesprochen worden war, befand sich Michailoff gleichwohl in Entzücken über dieselbe. Er selbst dachte über die Figur des Pilatus das Nämliche, was Golenischtscheff ausgesprochen hatte. Der Umstand, daß dieses Gutachten nur eines von Millionen anderer war, die, wie Michailoff sicher wußte, alle richtig gewesen sein würden, verminderte für ihn die Bedeutung desselben nicht. Er gewann Golenischtscheff für diese Bemerkung lieb und fiel aus der Stimmung der Beklommenheit plötzlich in die des Entzückens. Sofort lebte sein ganzes Gemälde vor ihm wieder auf in all der unaussprechlichen Schwierigkeit alles Lebenden. Michailoff versuchte es nochmals zu sagen, daß er sich den Pilatus ebenso gedacht habe, aber seine Lippen vibrierten nur widerspenstig und er konnte sich nicht äußern. Wronskiy und Anna sagten gleichfalls etwas mit jener leisen Stimme, mit welcher man gewöhnlich — teils um den Künstler nicht zu verletzen, teils um nicht laut eine Dummheit zu sagen, die man so leicht äußern kann, wenn man über Kunst spricht — in Gemäldeausstellungen konversiert.
Michailoff schien es, als ob sein Bild auch auf sie Eindruck gemacht hätte. Er trat zu ihnen hin.
„Wie wunderbar ist der Ausdruck des Christus!“ sagte Anna. Vor allem, was sie gesehen, hatte ihr dieser Ausdruck gefallen, und sie fühlte, daß dies der Mittelpunkt des Gemäldes war und deshalb ein solches Lob dem Künstler angenehm sein würde.
„Man sieht, wie er Pilatus bemitleidet!“
Dies war wiederum eins aus der Million richtiger Urteile, die man an seinem Bilde und an der Figur des Christus finden konnte.
Sie hatte gesagt, daß es ihm leid thue um Pilatus. In dem Ausdruck des Christus mußte ja auch der von Mitleid liegen, da in ihm der der Liebe lag, einer überirdischen Ruhe[52] und Todesbereitschaft, des Bewußtseins einer bevorstehenden Rechenschaft über seine Worte. Gewiß lag der Ausdruck des dienstthuenden Beamten in dem Pilatus, der des Mitleids mit diesem in dem Christus, da der Eine die Verkörperung des fleischlichen, der Andere die des geistigen Lebens ist. Alles das und noch vieles andere ging Michailoff durch den Kopf, und abermals leuchtete sein Auge auf vor Entzücken.
„Und wie diese Figur gearbeitet ist, wie viel Luft; man kann um ihn herumgehen,“ sagte Golenischtscheff, offenbar um mit dieser Bemerkung anzudeuten, daß er den Gedanken und Sinn der Figur nicht billige.
„Ja, ein wunderbares Meisterstück. Wie jene Figuren in dem Hintergrunde sich abheben! Das ist Technik!“ sagte Wronskiy, sich zu Golenischtscheff wendend, und damit auf ein zwischen ihnen stattgehabtes Gespräch darüber, daß Wronskiy an der Erwerbung dieser Technik verzweifelte, anspielend.
„Ja, ja, wunderbar,“ bestätigten Golenischtscheff und Anna.
Trotz des aufgeregten Zustandes, in welchem sich Michailoff befand, griff diesen doch die Bemerkung über die Technik schmerzlich ans Herz und grollend auf Wronskiy blickend, verfinsterte er sich plötzlich. Oft schon hatte er das Wort Technik gehört und durchaus nicht begriffen, was man eigentlich darunter verstände. Er wußte, daß man mit diesem Worte die mechanische Fertigkeit des Malens und Zeichnens meine, die vollständig unabhängig war von dem Inhaltlichen. Oft schon hatte er bemerkt — auch bei der gegenwärtigen Lobesspende — daß man die Technik dem inneren Werte gegenüberstelle, gerade als ob es möglich wäre, das gut zu malen, was schlecht sei. Er wußte wohl, daß viel Aufmerksamkeit und Vorsicht erforderlich sei, um ein Gemälde nicht zu schädigen, wenn man von ihm die Hüllen abnahm, aber eine Kunst des Malens — eine Technik — die gab es dabei nicht. Hätte sich einem kleinen Kinde, oder seiner Köchin das ebenfalls geoffenbart, was er sah, dann würden diese gleichfalls das herauszuschälen verstanden haben, was sie sahen. Aber selbst der erfahrenste und auch geschickteste Beherrscher der Maltechnik wäre allein mit der mechanischen Fertigkeit nicht imstande gewesen, etwas zu malen, wenn sich ihm nicht vorher die Grenzen des Inhaltlichen[53] offenbarten. Dann aber wußte er auch, daß wenn man nun einmal von einer Technik sprach, er ihretwegen nicht gerühmt werden konnte. In allem was er malte und schon gemalt hatte, erkannte er ihm in die Augen fallende Mängel, die aus der Unvorsichtigkeit hervorgegangen waren, mit der er die Hüllen entfernt hatte, und die er nun nicht mehr verbessern konnte, ohne die ganze Schöpfung zu verderben. Fast auf allen Figuren und Gesichtern sah er noch die Mängel nicht vollständig abgenommener Hüllen, die sein Gemälde verdarben.
„Eines, wenn Ihr mir gestattet, diese Bemerkung zu machen, ließe sich sagen,“ äußerte Golenischtscheff.
„Ah, sehr erfreut, ich bitte Euch,“ antwortete Michailoff mit gekünsteltem Lächeln.
„Es ist dies, daß dieser Christus da bei Euch ein Menschgott, aber kein Gottmensch geworden ist. Indessen, ich weiß ja, daß Ihr es eben so gewollt habt.“
„Ich konnte den Christus nicht malen, der nicht in meiner Seele ist,“ versetzte der Maler mürrisch.
„Ja, aber in diesem Falle — wenn Ihr mir gestattet meine Idee auszusprechen — Euer Gemälde ist so gut, daß meine Bemerkung ihm nicht schaden kann, und dann ist dies ja auch nur meine persönliche Meinung. Bei Euch ist das etwas Anderes; selbst das Motiv ist ein anderes. Aber nehmen wir etwa den Iwanoff. — Ich glaube, daß wenn Christus mit der Norm eines historischen Gesichts zusammengebracht wird, es für Iwanoff besser wäre, ein anderes historisches Thema zu wählen, ein neues, noch nicht angeschlagenes.“
„Wie aber, wenn dies das erhabenste Thema wäre, welches sich der Kunst bietet“ —
„Wenn man nur suchen will, so wird man auch andere finden. Es handelt sich nur darum, daß die Kunst keinen Streit, und keine Düfteleien duldet. Vor einem Gemälde Iwanoffs ersteht für den Gläubigen wie für den Nichtgläubigen die Frage: Ist das Gott oder ist es nicht Gott? und diese stört die Einheit des Eindrucks.“
„Warum? Mir scheint, daß für gebildete Menschen,“ sagte Michailoff, „ein Streit nicht mehr bestehen kann.“
Golenischtscheff war hiermit nicht einverstanden und fertigte[54] Michailoff mit seinem ersten Gedanken über die Einheit des Eindrucks ab, die in der Kunst notwendig sei.
Michailoff geriet in Erregung, wußte aber nichts zur Verteidigung seines Gedankens zu sagen.
Anna und Wronskiy hatten schon längere Zeit Blicke miteinander gewechselt im Bedauern über die scharfsinnige Redefertigkeit ihres Freundes; endlich schritt Wronskiy, ohne auf den Hausherrn zu warten, zu einem anderen, einem kleinen Gemälde.
„Ah, wie reizend, wie reizend! Wundersam! Wie reizend!“ riefen beide mit einer Stimme.
„Was hat ihnen so gefallen?“ dachte Michailoff. Er hatte das vor drei Jahren gemalte Bild vergessen; vergessen alle die Leiden und Freuden, welche er mit diesem Bilde durchlebt hatte, indem es ihn mehrere Monate hindurch ausschließlich, und ohne daß er sich davon hätte trennen können, Tag und Nacht beschäftigte, es vergessen, wie er überhaupt stets seine vollendeten Bilder vergaß. Er liebte nicht einmal, es anzuschauen, und stellte es nur deshalb aus, weil er einen Engländer erwartete, der es zu kaufen wünschte.
„Ah; eine alte Studie,“ sagte er.
„Wie hübsch,“ rief Golenischtscheff, gleichfalls augenscheinlich aufrichtig von dem Reiz des Bildes gefesselt.
Zwei Knaben im Schatten einer Bachweide angelten Fische. Der Eine, ältere, hatte soeben die Angel ausgeworfen und führte aufmerksam die Angelspule aus einem Gestrüpp heraus, ganz versunken in diese Beschäftigung; der Andere, jüngere lag im Grase, den wirren Blondkopf auf die Ellbogen gestützt, und schaute mit den blauen Augen nachdenklich auf das Wasser.
Woran mochte er denken?
Das Entzücken über dieses sein Bild rief in Michailoff die frühere Erregung hervor, doch scheute er sich vor diesem unangenehmen müßigen Interesse für ältere Arbeiten, und so suchte er, obwohl ihm dieses Lob angenehm war, die Besucher zu dem dritten Bilde hinzuziehen.
Doch Wronskiy frug, ob er dieses Gemälde verkaufe.[55] Michailoff, von dem Besuch erregt, war diese Frage über Geldgeschäfte jetzt sehr unangenehm.
„Es ist zum Verkauf ausgestellt,“ versetzte er, sich verfinsternd.
Nachdem die Besucher gegangen waren, setzte sich Michailoff vor seinem Bilde „Pilatus und Christus“ nieder und wiederholte sich in Gedanken alles, was gesprochen worden, oder, wenn nicht ausgesprochen, so doch von den Besuchern angedeutet worden war. Und seltsam, was so hohe Bedeutung für ihn gehabt hatte, während sie hier waren und er sich in Gedanken auf ihren Standpunkt versetzte, hatte jetzt plötzlich für ihn allen Wert verloren. Er schaute jetzt auf sein Gemälde mit seinem vollen künstlerischen Blick, und kam zu demjenigen Standpunkte der Überzeugung von seiner Vollkommenheit und darnach auch Bedeutung, welcher ihm notwendig war zu der alle anderen Interessen ausschließenden Spannkraft, mit welcher allein er nur zu arbeiten vermochte.
Der eine Fuß des Christus war allerdings nicht recht befriedigend. Er nahm die Palette und machte sich an die Arbeit. Indem er den Fuß besserte, blickte er fortwährend auf die Gestalt des Johannes im Hintergrund, welche die Besucher gar nicht bemerkt hatten, und die gleichwohl — er wußte es — noch über der Vollkommenheit selbst stand. Nachdem er mit dem Fuß fertig war, wollte er sich an diese Figur begeben, aber er fühlte sich allzu erregt dazu. Nichtsdestoweniger konnte er aber auch nicht arbeiten, wenn er ganz kühl, sowie wenn er zu weich gestimmt war und alles zu sehr sah. Es gab nur eine Stimmung in dem Übergang von der Kühle bis zur Begeisterung, in welcher ihm die Arbeit möglich war. Jetzt befand er sich in allzugroßer Aufregung. Er wollte das Gemälde verhüllen, hielt aber inne, mit der Hand den Vorhang haltend, und schaute lange, beglückt lächelnd, auf die Gestalt des Johannes. Endlich, gleichsam mit Schmerz sich losreißend, ließ er den Vorhang fallen und begab sich ermüdet, aber beglückt heim.
Wronskiy, Anna und Golenischtscheff waren, heimgekehrt, in ausnehmend angeregter und heiterer Stimmung. Man sprach von Michailoff und seinen Bildern. Das Wort „Talent“, unter welchem sie eine angeborene, fast physische[56] Fähigkeit, unabhängig von Verstand und Herz verstanden, und als das sie alles bezeichneten, was von dem Künstler durchlebt wird, tauchte besonders häufig in ihrer Unterhaltung auf, da es ihnen unentbehrlich dazu war, das zu bezeichnen, wofür sie kein Verständnis besaßen, und worüber sie doch sprechen wollten. Sie sagten, man könne ihm das Talent nicht absprechen, infolge der mangelnden Bildung aber vermöge sich dieses nicht zu entwickeln. — Dies sei das Unglück aller russischen Künstler! — Aber das Bild mit den beiden Knaben war doch in ihrer Erinnerung haften geblieben und immer wieder kehrten sie zu ihm zurück. Wie reizend! Wie schön war es ihm gelungen! Und wie einfach! Er selbst weiß gar nicht, wie schön es ist. „Ja, das darf man nicht fortlassen, das muß man kaufen,“ sagte Wronskiy.
Michailoff verkaufte Wronskiy das Bild und willigte auch ein, Annas Porträt zu malen. Am festgesetzten Tage kam er und begann seine Arbeit.
Von der fünften Sitzung an setzte das Porträt jedermann in Erstaunen, besonders Wronskiy, nicht nur durch die Ähnlichkeit, sondern vornehmlich durch seine Schönheit. Es war seltsam, wie Michailoff jene nur ihr eigene Schönheit hatte treffen können. „Man muß sie kennen und lieben, wie ich sie geliebt habe, um diesen eigenen, lieblichen und seelischen Ausdruck bei ihr zu entdecken,“ dachte Wronskiy, obwohl nur er in diesem Gemälde den lieblichen, seelischen Ausdruck erkannte. Derselbe war aber so getreu, daß es ihm und anderen schien, als ob sie ihn schon längst gekannt hätten. „Wie lange habe ich mich nun schon geplagt, und nichts fertig gebracht,“ sprach er bezüglich seines eigenen Porträts, „und er hat sie nur angeschaut und gemalt! Das ist die Technik.“
„Es wird noch kommen,“ tröstete ihn Golenischtscheff, nach dessen Auffassung Wronskiy Talent besaß und, was die Hauptsache war, auch die Bildung, die einen erhabneren Blick auf die Kunst verlieh. Die Überzeugung Golenischtscheffs von Wronskiys Talent wurde noch dadurch gestützt, daß Golenischtscheff Wronskiys Teilnahme und Lob für seine Arbeiten[57] und seine Ideen brauchte, und so fühlte er, daß Lob und Unterstützung hier auf Gegenseitigkeit beruhten.
In einem fremden Hause, und insbesondere in dem Palazzo bei Wronskiy war Michailoff ein abweisend anderer Mensch, als in seinem Atelier. Er war abstoßend höflich, gerade als fürchte er die Annäherung an Menschen, die er nicht achte. Er nannte Wronskiy Ew. Erlaucht und blieb niemals, ungeachtet der Einladungen Annas und Wronskiys, zum Essen da, kam auch nicht zu anderen Zeiten, als zu den Sitzungen. Anna war gegen ihn freundlicher, als gegen andere, und ihm dankbar für das Porträt. Wronskiy war mehr als nur höflich gegen ihn, und interessierte sich augenscheinlich für das Urteil des Künstlers über sein eigenes Gemälde. Golenischtscheff ließ keine Gelegenheit vorüber, Michailoff die wahren Begriffe über Kunst beizubringen, allein Michailoff blieb sich immer gleich in seiner Zurückhaltung gegen alle. Anna fühlte an seinem Blick, daß er sie gern betrachtete, doch er mied Gespräche mit ihr. Zu den Gesprächen Wronskiys über dessen Malerei schwieg er beharrlich, und er schwieg ebenso beharrlich, als man ihm das Bild Wronskiys zeigte; er fühlte sich auch offenbar belästigt von den Reden Golenischtscheffs und erwiderte diesem nichts.
Im allgemeinen gefiel ihnen daher Michailoff mit seinem zurückhaltenden und unangenehmen, gleichsam feindseligen Verhalten sehr wenig, nachdem man ihn näher kennen gelernt hatte, und man war deshalb froh, daß als die Sitzungen beendet waren, in ihren Händen ein schönes Porträt zurückblieb, während er selbst sein Kommen einstellte.
Golenischtscheff war es zuerst, der den Gedanken aussprach, den alle hatten, nämlich, daß Michailoff auf Wronskiy einfach neidisch sei.
„Gesetzt, er beneidete ihn nicht, weil er Talent besitzt, ist es ihm doch verdrießlich, daß ein Hofmann und reicher Mann, noch dazu ein Graf, was schon alle beneiden, ohne besondere Mühe das Nämliche, wenn nicht noch Besseres, leistet, als er, der sein ganzes Leben dem geweiht hat. Die Hauptsache bleibt doch die Bildung, die jener nicht hat.“
Wronskiy verteidigte Michailoff, doch auf dem Grunde seines Herzens glaubte er hieran, weil nach seiner Auffassung[58] ein Mensch aus jener anderen, niedrigeren Welt Neid hegen mußte.
Das Porträt Annas, ebenfalls in derselben Weise nach der Natur gemalt von ihm wie von Michailoff, hätte Wronskiy den Unterschied zeigen müssen, welcher zwischen ihm und jenem bestand, aber er gewahrte denselben nicht. Er hörte nach der Arbeit Michailoffs nur auf, sein Porträt von Anna weiter zu malen, indem er meinte, dies sei nunmehr überflüssig geworden. Sein Gemälde aus dem mittelalterlichen Leben hingegen setzte er fort, und er selbst, wie auch Golenischtscheff und namentlich Anna fanden, daß es sehr schön sei, weil es den berühmten Bildern viel ähnlicher werde, als das Bild Michailoffs.
Dieser nun war, ungeachtet dessen, daß ihn die Porträtierung Annas sehr angezogen hatte, seinerseits noch froher als jene, als die Sitzungen zu Ende waren und er nicht mehr das Geschwätz Golenischtscheffs über Kunst anzuhören brauchte, und die Malerei Wronskiys vergessen durfte. Er wußte, daß es unmöglich war, Wronskiy zu verbieten, mit der Malerei Mutwillen zu treiben; er wußte, daß dieser ebenso wie alle anderen Dilettanten das volle Recht besaß, zu malen was ihm anstand — aber ihm war dies unangenehm. Es war eben unmöglich, einem Menschen zu untersagen, sich eine große Puppe aus Wachs zu machen und sie zu küssen. Aber wenn nun gar dieser Mensch mit der Puppe kam, und sich vor einem Verliebten hinsetzte und beginnen wollte, seine Puppe zu liebkosen, wie ein Verliebter die, welche er liebt, so mußte das dem Verliebten widerlich sein. Und dieses widerliche Gefühl empfand Michailoff beim Anblick der Malerei Wronskiys; es wurde ihm dabei komisch und ärgerlich, kläglich und grimmig zugleich zu Mut.
Die Passion Wronskiys für die Malerei und das Mittelalter hielt nicht lange an. Wronskiy besaß doch soviel Geschmack für Malerei, daß er sein Bild nicht zu beenden vermochte und es blieb liegen. Voll Bestürzung war er inne geworden, daß die Mängel des Bildes, im Anfang weniger bemerkbar, überraschend wirkten, wenn er es fortsetzte. Es ging ihm, wie Golenischtscheff, der fühlte, daß es ihm auf das Reden nicht ankomme und sich beständig damit selbst täuschte, daß nur[59] seine Idee noch nicht ausgereift sei, daß er sie erst austragen und Material sammeln wolle. Aber Golenischtscheff hatte dies verbittert gemacht und es marterte ihn; Wronskiy hingegen vermochte sich weder selbst zu täuschen noch zu peinigen oder gar über sich selbst verbittert zu werden; mit der ihm eigenen Charakterfestigkeit hörte er eben auf, ohne eine Erklärung oder Rechtfertigung, zu malen.
Ohne diese Beschäftigung indessen erschien ihnen — sowohl ihm wie Anna, die sich über seine Ernüchterung verwunderte — das Leben nun so langweilig in der italienischen Stadt, wurde der Palazzo plötzlich so sichtlich alt und schmutzig, schauten die Flecken auf den Gardinen so unangenehm hervor, die Ritzen auf den Fußböden, die abgefallene Stuccatur an den Karnisen, wurde ihnen auch der ewige Golenischtscheff, der italienische Professor und ein deutscher Reisender nach und nach so langweilig, daß man dieses Leben ändern mußte. Man beschloß, nach Rußland auf das Land zu gehen. In Petersburg gedachte Wronskiy mit seinem Bruder eine Vermögensteilung vorzunehmen, während Anna ihren Sohn wiedersehen wollte. Den Sommer beabsichtigten sie auf dem großen Erbbesitz Wronskiys zu verleben.
Lewin war seit drei Monaten verheiratet. Er war glücklich, aber nicht ganz so wie er erwartet hatte. Auf jedem Schritte begegnete er der Enttäuschung in früheren Träumen, doch auch neuen, unerwarteten Reizen. Er war glücklich, sah aber, nachdem er ins Familienleben getreten war, auf jedem Schritte, daß dieses durchaus nicht so war, wie er es sich vorgestellt hatte. Auf jedem Schritte erfuhr er an sich, was ein Mensch fühlen mag, der sich an der glatten glücklichen Fahrt eines Nachens auf dem See ergötzt, nachdem er sich etwa selbst hineingesetzt hat. Er sah, daß er, indem er schon ruhig sitzen mußte und nicht schaukeln durfte, sich auch noch dessen bewußt sein mußte — ohne nur eine Minute zu vergessen, wohin er fahren wollte — daß unter seinen Füßen Wasser war und er rudern mußte, und daß dies den nicht daran gewohnten Händen mühsam wurde. Die Sache sah wohl sehr leicht aus, aber sie zu vollbringen — wenn es[60] auch mit viel Freude verbunden war — blieb doch sehr schwierig.
Als Junggeselle hatte er oft, auf das Eheleben mit seinen kleinlichen Sorgen, seinem Streit, seiner Eifersucht blickend, geringschätzig in seinem Innern gelächelt. In seinem künftigen Eheleben konnte nach seiner Überzeugung nicht nur nichts Ähnliches existieren, es sollten sogar alle äußerlichen Formen desselben, wie ihm dünkte, dem Leben der anderen in allem vollständig unähnlich sein. Plötzlich aber hatte sich anstatt dessen auch sein Leben mit seinem Weibe nicht nur nicht besonders gestaltet, sondern sich im Gegenteil, gerade aus all jenen kleinlichsten Kleinigkeiten zusammengesetzt, die er vordem so sehr verachtet hatte, die aber jetzt, gegen seinen Willen, eine ungewöhnliche und unabweisbare Bedeutung erhalten hatten. Lewin erkannte auch, daß die Regelung aller dieser Kleinigkeiten durchaus nicht so leicht war, als ihm früher geschienen hatte. Ungeachtet dessen, daß Lewin glaubte, die richtigsten Begriffe vom Eheleben zu besitzen, stellte er sich, wie alle Männer, das Familienleben unwillkürlich nur als eine Befriedigung seiner Liebe vor, der kein Hindernis mehr in den Weg treten durfte, und von welcher ihn keine kleinlichen Sorgen abziehen sollten. Er sollte nach seiner Auffassung seine Arbeit verrichten und von derselben ausruhen im Glück der Liebe. Sie sollte daher auch nur geliebt werden; allein er hatte dabei, wie alle Männer, vergessen, daß auch sie arbeiten müsse. Er wunderte sich, wie sie, die poetische, reizende Kity, nicht in den ersten Wochen, nein, schon in den ersten Tagen des Ehelebens bereits, denken, sich erinnern, sich sorgen konnte um Tischtücher, Möbel, Matratzen für die anreisenden Besuche, das Geschirr, den Koch, das Essen und dergleichen. Schon als Bräutigam war er in Erstaunen gesetzt worden von der Bestimmtheit, mit welcher sie auf eine Reise ins Ausland verzichtete und sich dafür entschieden hatte, auf das Dorf zu gehen, gerade als ob sie schon wüßte, was not thue, und daß sie außer an ihre Liebe, auch noch an Nebensächliches denken könne. Dies hatte ihn damals verstimmt, und auch jetzt verstimmten ihn mehrmals ihre kleinen Mühen und Sorgen. Doch er sah, daß ihr dies ein Bedürfnis war, und da er sie liebte, so konnte er nicht umhin,[61] sich über diese Sorgsamkeit zu freuen, wenn er auch nicht wußte weshalb, und wenn er auch darüber spöttelte.
Er lächelte darüber, wie sie die Möbel stellte, welche aus Moskau gebracht worden waren, wie sie ihr Zimmer und seines neu ausschmückte, Gardinen aufsteckte, über die künftige Unterbringung der Besuche verfügte, wie die Dollys; ferner wie sie ihre neue Zofe unterbrachte, wie sie dem alten Koch das Menü vorschrieb und mit Agathe Michailowna in Widerspruch geriet und diese der Verwaltung der Speisekammer enthob. Er sah, daß der alte Koch lächelte und damit zufrieden war, sah, daß Agathe Michailowna bedenklich, aber freundlich den Kopf schüttelte über die neuen Verfügungen der jungen Herrin in der Vorratskammer; er sah, wie Kity ungewöhnlich lieblich war, wenn sie lachend und weinend zugleich, zu ihm kam, um ihm mitzuteilen, daß die Magd Mascha gewöhnt sei, Agathe als Herrin zu betrachten, und daß deshalb niemand auf sie höre. Ihm erschien dies lieblich, aber auch seltsam, und er dachte es würde wohl besser sein, wenn dies nicht wäre.
Er kannte jenes Gefühl der Veränderung nicht, welches sie nun kennen gelernt, nachdem sie daheim wohl bisweilen einmal nach Kohl mit Kwas oder Konfekt verlangt hatte, ohne daß dies oder jenes zu haben gewesen wäre, während sie jetzt befehlen durfte, was sie wollte, ganze Haufen von Konfekt kaufen, Geld soviel sie wollte ausgeben, oder Backwerk bestellen konnte nach Herzenslust.
Mit Freude dachte sie jetzt auch der Ankunft Dollys und der Kinder, besonders deswegen, weil sie für jedes der Kinder dessen Lieblingsgebäck hatte backen lassen, und Dolly ihre ganze neue Einrichtung abschätzen lassen wollte. Sie wußte zwar selbst nicht, warum und zu welchem Zwecke, aber das Hauswesen zog sie unwiderstehlich an. Instinktiv fühlte sie das Nahen des Frühlings und wohl wissend, daß es auch für sie schwere Stunden geben werde, baute sie sich, wie sie es verstand, ihr Nest, und mühte sich zu gleicher Zeit zu lernen, wie man bauen müsse.
Diese pedantische Sorglichkeit Kitys, dem Ideal Lewins von einem erhabenen Glück der ersten Zeit so sehr entgegengesetzt, war eine der Enttäuschungen. Diese liebliche Fürsorge, deren[62] Sinn er nicht begriff, die er aber lieben mußte, war die erste der neuen Enttäuschungen.
Eine zweite Ernüchterung, zugleich aber auch einen Reiz bildeten die Zwiste. Lewin hatte sich nie vorstellen können, daß zwischen ihm und seinem Weibe andere Beziehungen, als zärtliche, achtungsvolle und liebevolle bestehen könnten, und plötzlich, gleich von den ersten Tagen an, gerieten sie einmal so in Zwist, daß sie zu ihm sagte, er liebe sie gar nicht, liebe nur sich selbst und nun zu weinen begann, und die Arme hochhob.
Dieser erste Streit kam davon her, daß Lewin nach einer neuen Meierei gefahren und eine halbe Stunde länger geblieben war, weil er auf einem kürzeren Wege hatte heimfahren wollen, in welchem er sich jedoch geirrt hatte. Er fuhr heim, nur in Gedanken an sie, an ihre Liebe und sein Glück, und je näher er kam, um so heißer wallte in ihm die Zärtlichkeit für sie. Er eilte nach ihrem Zimmer noch mit der nämlichen Empfindung — ja einer noch stärkeren — als die gewesen, mit der er sich dem Hause der Schtscherbazkiy genähert hatte, um seine Werbung anzubringen. Da aber begegnete ihm plötzlich ein finsterer, noch nie an ihr gesehener Ausdruck; er will sie küssen, sie stößt ihn von sich.
„Was hast du?“
„Du hast ja recht gute Laune,“ begann sie, sich bemühend, ruhig und sarkastisch zu erscheinen.
Kaum aber hat sie den Mund geöffnet, als der Redestrom der Vorwürfe einer sinnlosen Eifersucht sich ihr entrang, alles dessen, was sie in dieser halben Stunde gemartert hatte, die von ihr, indem sie unbeweglich am Fenster saß verbracht worden war. Da erkannte er zum erstenmal klar, was er noch nicht gewußt, als er sie nach der Trauung aus der Kirche geführt hatte. Er erkannte, daß sie ihm nicht nur nahe stehe, sondern daß er jetzt nicht einmal mehr wisse, wo sie aufhöre und wo er anfange. Er empfand dies an jenem quälenden Gefühl der Zweiheit, welches er in dieser Minute hatte. Im ersten Augenblick war er verletzt, ebenso schnell aber wurde er auch inne, daß er von ihr nicht verletzt werden könne, daß sie ja er selbst sei. Er empfand in diesem ersten Augenblick ein Gefühl, ähnlich dem, welches ein Mensch hat, wenn er, plötzlich einen starken Schlag von hinten erhaltend, sich gereizt[63] und mit dem Wunsch nach Rache umwendet, den Schuldigen zu entdecken, sich aber dabei überzeugt, daß er sich unvermutet selbst geschlagen hat, und daher niemandem zürnen dürfe, sondern seinen Schmerz überwinden und beschwichtigen müsse.
Niemals hatte er dies mit solcher Macht in der Folge wieder empfunden, aber jenes erste Mal konnte er sich lange Zeit darüber selbst nicht wieder finden. Ein natürliches Gefühl erheischte von ihm, daß er sich rechtfertigte und ihr ihre Schuld vorhalte; dies aber thun, hieß sie nur noch mehr reizen und den Bruch noch größer machen, der die Ursache des ganzen Leides bildete. Die eine, gewöhnlich vorhandene Empfindung zog ihn, die Schuld von sich ab und auf sie zu wälzen, eine andere, noch viel stärkere aber, schnell — so schnell als möglich — den stattfindenden Gefühlsausbruch, zu besänftigen und ihn nicht stärker werden zu lassen. Es war qualvoll, unter einer ungerechten Beschuldigung zu leiden, allein sich zu rechtfertigen und ihr wehe zu thun, war noch schlimmer. Wie ein Mensch im Halbschlaf, der von einem Schmerz gequält ist, so wollte er jetzt die schmerzende Stelle losreißen, von sich werfen und fühlte, als er zur Besinnung kam, daß diese schmerzende Stelle — er selbst war. — Man konnte sich somit nur bemühen, der kranken Stelle behilflich zu sein, zu dulden, und er bemühte sich denn, dies zu thun.
Beide söhnten sich aus; sie, indem sie ihre Schuld einsah, ohne sie jedoch einzugestehen, wurde wieder zärtlich gegen ihn, und beide verspürten ein neues verdoppeltes Glück in ihrer Liebe. Dies hinderte indessen nicht, daß sich diese Zusammenstöße nicht wiederholten, ja sogar ziemlich häufig, und bei den unerwartetsten und geringfügigsten Anlässen. Diese Zusammenstöße entstanden oft daraus, daß sie noch nicht wußten, was das Eine für das Andere bedeutete, daraus, daß sie in dieser ganzen ersten Zeit beide häufig in schlechter Laune waren. Befand sich der eine Teil in guter, der andere in übler Stimmung, so wurde der Frieden nicht gestört, wenn sich aber beide gerade in Mißstimmmung befanden, so entstanden Zwiste aus Ursachen, die ihrer Nichtigkeit halber so unbegreiflich waren, daß beide sich nachher durchaus nicht mehr zu entsinnen vermochten, worüber sie sich entzweit hatten. Allerdings verdoppelte sich hingegen das Glück ihres Lebens,[64] wenn sie beide bei guter Stimmung waren. Nichtsdestoweniger war aber doch diese erste Zeit eine schwere für sie.
Während dieser ganzen Zeit hatte sich eine lebhafte Spannung, gleich einem Zerren nach den beiden Enden einer Kette, durch die sie verbunden waren, fühlbar gemacht.
Überhaupt war jener Honigmonat, das heißt der Monat nach der Hochzeit, von dem sich Lewin, der Überlieferung nach, so viel versprochen hatte, nicht nur nicht süß, sondern bildete vielmehr in der Erinnerung beider gerade die schwerste und niederdrückendste Periode ihres Lebens. Indessen bemühten sie sich beide für ihr späteres Leben alle die häßlichen und beschämenden Umstände dieser ungesunden Zeit, in der sie doch beide selten in normalem Seelenzustand, selten sie selbst gewesen waren, aus ihrem Gedächtnis zu verwischen.
Erst im dritten Monat ihres Ehestandes, nach der Rückkehr von Moskau, wohin sie sich für einen Monat begeben hatten, gestaltete sich ihr Leben geebneter.
Sie waren kaum von Moskau wieder zurückgekommen und freuten sich nun ihrer Einsamkeit. Er saß im Kabinett am Schreibtisch und schrieb; sie, in jenem dunkellila Kleid, welches sie in den ersten Tagen ihres Ehestandes getragen und heute wiederum angelegt hatte, und das besonders denkwürdig und teuer für ihn war, saß auf dem Diwan, dem nämlichen altmodischen Lederdiwan, der stets unter dem Großvater und Vater Lewins im Kabinett gestanden hatte und stickte eine broderie anglaise. Er sann und schrieb, fortwährend in dem angenehmen Gefühl ihrer Gegenwart. Seine Beschäftigung, sowohl die mit der Landwirtschaft, als seinem Werke, in welchem die Prinzipien einer neuen Landwirtschaft dargelegt werden sollten, war nicht von ihm aufgegeben worden, aber so wie ihm vordem schon diese Arbeiten und Ideen klein und geringfügig erschienen waren im Vergleich mit dem Dunkel, welches das ganze Leben bedecke, so erschienen sie ihm auch jetzt noch unwichtig und kleinlich im Vergleich mit dem vom warmen Lichtglanz des Glückes überfluteten Leben, das vor ihm lag. Er setzte seine Arbeiten fort, empfand aber jetzt, daß der Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit auf etwas Anderes[65] übergegangen sei und er infolge dessen ganz anders und klarer auf die Sache blickte. Vordem war für ihn diese Beschäftigung sein Lebensheil gewesen, vordem hatte er empfunden, daß ohne dieselbe sein Dasein allzu düster sein würde; jetzt aber waren ihm diese Arbeiten notwendig, damit ihm das Leben nicht zu einförmig erhellt sein möchte. Nachdem er sich von neuem seinen Manuskripten gewidmet hatte, fand er beim Durchlesen des Geschriebenen mit Genugthuung, das Werk sei es wert, daß er sich mit ihm befaßte. Viele der früheren Ideen zeigten sich ihm zwar überflüssig oder übertrieben, aber vieles noch Fehlende wurde ihm auch klar, als er das ganze Werk in seinen Gedanken wieder auffrischte. Er schrieb jetzt ein neues Kapitel über die Gründe der ungünstigen Lage des Ackerbaues in Rußland. Er legte dar, daß die Armut Rußlands nicht nur von der unregelmäßigen Verteilung des Grundbesitzes und falscher Methode herrühre, sondern auch in der letzten Zeit die in Rußland in nicht normaler Weise zur Entwickelung gelangte äußerliche Civilisation hierzu beigetragen habe, insbesondere durch die Verkehrswege, die Eisenbahnen, welche die Centralisierung in den Städten mit sich gebracht hätten, die Entwickelung des Luxus, und in der Folge hiervon, zum Schaden für die Landwirtschaft, die Entwickelung des Fabrikwesens, des Kreditwesens und seines Trabanten — des Börsenspiels. —
Ihm schien, daß bei einer normalen Entwickelung des Wohlstandes im Reiche, alle diese Erscheinungen erst auftreten, nachdem man auf die Landwirtschaft schon bedeutende Mühe verwendet hätte und dieselbe in gesetzliche, oder wenigstens bestimmte Verhältnisse getreten sei; daß der Reichtum einer Gegend in gleichmäßigem Wachstum stehen müsse, und insbesondere in der Weise, daß andere Schößlinge der Kapitalwirtschaft nicht der Landwirtschaft zuvorkommen dürften, daß im Einklang mit notorisch bekannten Verhältnissen der Landwirtschaft auch dementsprechende Verkehrswege dafür vorhanden sein müßten; und daß bei der gegenwärtigen ungeregelten Ausnutzung des Bodens die Eisenbahnen, welche nicht einem landwirtschaftlichen, sondern einem politischen Bedürfnis entsprängen, verfrüht wären, und, anstatt zu der Hebung der Landwirtschaft, welche letztere man doch von ihnen erwarte[66] beizutragen, dem Landbau zuvorkommend, nur eine Entwickelung der Industrie und des Kredits hervorriefen, jenen aber hemmten. Er bewies, daß weil nun die einseitige und verfrühte Entwickelung eines einzelnen Organs im lebenden Organismus dessen Gesamtentwickelung hemmte, auch der Kredit auf die allgemeine Entwickelung des Wohlstandes in Rußland, die Verkehrswege, den Kraftaufwand der industriellen Thätigkeit, die in Europa so zweifellos notwendig, weil alle zur rechten Zeit entstanden seien, in Rußland nur Schaden verursachten, indem sie die Hauptfrage der Organisierung des Ackerbaues verdrängten.
Während er so seine Ideen niederschrieb, dachte sie daran, wie unnatürlich aufmerksam ihr Gatte gegen den jungen Fürsten Tscharskiy gewesen sei, der ihr am Abend vor der Abreise sehr taktlos die Cour gemacht hatte.
„Er ist offenbar eifersüchtig,“ dachte sie; „mein Gott, wie gut und befangen er ist! Er ist eifersüchtig auf mich! Wenn er wüßte, daß alle für mich soviel sind, wie Peter der Koch.“ Und mit einer ihr selbst wunderlichen Empfindung von Selbstgefühl blickte sie auf seinen Nacken und den rotschimmernden Hals. „Es ist zwar schade, ihn seiner Arbeit zu entreißen — er macht Fortschritte — so muß ich doch sein Gesicht sehen; ob er wohl fühlt, daß ich nach ihm schaue? Ich will, daß er sich umwendet! Ich will es, nun!“ und sie öffnete die Augen weiter, im Wunsche, damit die Wirkung ihres Blickes zu verstärken.
„Ja, sie saugen alle Säfte in sich auf und geben einen falschen Glanz,“ murmelte er, mit Schreiben innehaltend, und blickte sich um, indem er fühlte, daß sie auf ihn schaue, und lächelte.
„Was ist?“ frug er noch lächelnd, und erhob sich.
„Er hat sich umgeblickt,“ dachte sie.
„Nichts. Ich wollte nur, daß du dich umschautest,“ versetzte sie, ihn anblickend und zu erraten suchend, ob es ihm unangenehm gewesen sei oder nicht, daß sie ihn gestört habe.
„Wie wohl wir uns doch so zu Zweien befinden! Ich wenigstens,“ sagte er, zu ihr hintretend und von einem Lächeln des Glückes strahlend.
„Auch mir ist so wohl! Ich werde nirgends mehr hinfahren, namentlich nicht nach Moskau.“
„Woran dachtest du denn eigentlich?“
„Ich? Ich habe gedacht — nein, nein, geh nur, schreib, zerstreue dich nicht,“ sprach sie, die Lippen kräuselnd, „ich muß jetzt diese kleinen Löcher hier ausschneiden, siehst du?“ —
Sie ergriff die Schere und begann auszuschneiden.
„Ach nein, sage mir doch, woran dachtest du?“ sagte er, sich zu ihr setzend und der kreisförmigen Bewegung der kleinen Schere folgend.
„O, woran ich dachte? Ich dachte? An Moskau, an deinen Nacken.“
„O, warum mir solch ein Glück? Es ist übernatürlich. Das ist zu schön,“ sagte er, ihr die Hand küssend.
„Mir ist es im Gegenteil um so schöner, je natürlicher es ist.“
„Du hast da ein Zöpfchen,“ sagte er, behutsam ihren Kopf wendend. „Ein Zöpfchen. Siehst du hier. Doch nein, nein, arbeiten wir!“
Die Arbeit wurde indessen nicht mehr fortgesetzt, und sie fuhren wie schuldbewußt auseinander, als Kusma eintrat, um zu melden, daß der Thee serviert sei.
„Ist aus der Stadt Etwas angekommen?“ frug Lewin Kusma.
„Soeben. Es wird ausgepackt.“
„Komm sobald als möglich,“ sagte sie zu ihm, das Kabinett verlassend, sonst werde ich in deiner Abwesenheit die Briefe lesen. Wir wollen auch vierhändig spielen.“
Allein geblieben, packte er seine Hefte in das neu von ihr gekaufte Portefeuille und wusch sich alsdann die Hände in dem neuen Waschbecken und mit dem neuen, mit ihr zugleich hier erschienenen eleganten Zubehör. Lewin lächelte über seine Gedanken und schüttelte mißbilligend den Kopf darüber; eine Empfindung, die der Reue ähnlich war, quälte ihn. Etwas Beschämendes, Verweichlichtes, Capuanisches, wie er es sich selbst nannte, lag in seiner jetzigen Lebensweise.
„Es ist nicht gut, so zu leben,“ dachte er bei sich. „Bald sind es nun schon drei Monate und ich arbeite fast nichts. Heute habe ich mich beinahe zum erstenmal wieder ernstlich[68] an eine Arbeit gemacht, und was geschah dabei? Kaum angefangen, habe ich sie wieder beiseite geworfen. Selbst meine gewöhnlichen Übungen, selbst die habe ich fast aufgegeben. Die Ökonomie, ich gehe fast gar nicht mehr nach ihr und fahre auch nicht mehr. Bald thut es mir leid, sie im Stich lassen zu müssen, bald sehe ich, daß sie sich langweilt. Habe ich doch gedacht, daß bis zur Heirat das Leben an und für sich nicht gerechnet werden kann, daß es erst nach derselben als ein wirkliches beginnt. Aber nun sind es schier drei Monate, und noch nie habe ich meine Zeit so müßig und so nutzlos hingebracht! Nein; das kann nicht mehr so fortgehen; man muß anfangen. Natürlich ist sie nicht schuld. Ihr kann man in keiner Beziehung Vorwürfe machen. Ich selbst hätte fester sein und meine männliche Unabhängigkeit wahren müssen. Indessen ist es ja möglich, sich selbst wieder daran zu gewöhnen und auch sie darin zu unterrichten; natürlich ist ihr keinerlei Schuld beizumessen,“ sprach er zu sich selbst.
Es ist indessen schwer für einen unzufriedenen Menschen, einem anderen, und zwar gerade dem, der ihm am nächsten steht, in Bezug auf das, worüber er unzufrieden ist, nicht Vorwürfe zu machen. Auch Lewin war es dunkel in den Kopf gekommen, daß — nicht, daß sie selbst schuld daran gewesen wäre — sie konnte an nichts Schuld tragen — ihre Erziehung wohl schuld sei, die allzu oberflächlich und frivol gewesen war — (dieser Narr Tscharskiy; sie, das weiß ich, wollte ihn wohl von sich abweisen, aber sie verstand es nicht). Außer dem Interesse für das Haus — das heißt ihre Familie — außer ihrer Toilette und der broderie anglaise hat sie keine ernsthaften Interessen. Sie hat kein Interesse für ihre eigene Angelegenheit, die Wirtschaft, ihre Bauern, auch nicht für die Musik, in der sie doch ziemlich sicher war, noch für Lektüre. Sie thut nichts und ist doch vollständig zufrieden.
Lewin tadelte dies in seinem Innern und erkannte noch nicht, daß sie sich auf diejenige Periode ihrer Wirksamkeit vorbereite, die für sie erscheinen mußte, und in welcher sie zu gleicher Zeit als Frau ihres Gatten, und Herrin des Hauswesens Kinder zu nähren und zu erziehen haben würde. Er erkannte nicht, daß sie dies durch ihre Ahnung schon wußte[69] und sich in der Vorbereitung auf diese schwere Mühe über die Augenblicke der Sorglosigkeit und des Liebesglückes, die sie jetzt noch genoß, keine Vorwürfe machte, sondern heiter ihr künftiges Nest sich baute.
Als Lewin nach oben kam, saß seine Gattin vor dem neusilbernen Ssamowar hinter dem neuen Theegeschirr und las, nachdem sie die alte Agathe Michailowna mit einer ihr kredenzten Tasse Thee mit an das kleine Tischchen gesetzt hatte, einen Brief Dollys, mit welcher sie beide in beständigem und lebhaftem Briefwechsel standen.
„Da seht, Eure Herrin hat mich hierher gesetzt; sie sagte, ich solle auch mit bei ihr sitzen,“ begann Agathe Michailowna, Kity gutmütig zulächelnd.
In diesen Worten Agathe Michailownas sah Lewin die Lösung eines Dramas, welches sich in jüngster Zeit zwischen dieser und Kity abgespielt hatte. Er sah, daß ungeachtet alles Leides, welches der Agathe Michailowna durch die neue Herrin verursacht worden war, die ihr die Zügel des Hausregiments aus der Hand genommen hatte, Kity sie gleichwohl überwunden und gezwungen hatte, sie zu lieben.
„Da habe ich einen Brief an dich gelesen,“ sagte Kity, ihm einen fehlerhaft geschriebenen Brief reichend. „Hier ist einer von jenem Weibe deines Bruders, wie es scheint,“ sagte sie, „ich habe ihn nicht gelesen. Der hier ist von den Meinen und von Dolly. Denke dir, Dolly hat Grischa und Tanja zum Kinderball zu den Sarmatskiy geführt! Tanja hatte dabei eine Marquise gemacht.“
Lewin hörte sie jedoch gar nicht; errötend hatte er das Schreiben von Marja Nikolajewna, der früheren Geliebten Nikolays, ergriffen und es zu lesen begonnen. Es war dies bereits das zweite Schreiben von ihr. Im ersten Briefe hatte sie geschrieben, daß sein Bruder sich ihrer entledigt habe, ohne daß sie sich eine Schuld beizumessen hätte, und mit rührender Naivetät hinzugefügt, daß sie, obwohl sie nun wieder im Elend lebe, um nichts bitte und nichts wünsche, und daß sie nur der Gedanke quäle, Nikolay Dmitrjewitsch könne ohne sie mit seiner schwachen Gesundheit ins Verderben geraten; sie hatte[70] den Bruder gebeten, Sorge für ihn zu tragen. Jetzt schrieb sie einen zweiten Brief. Sie hatte Nikolay Dmitrjewitsch gefunden, sich wieder mit ihm in Moskau vereint, und war mit ihm in eine Gouvernementsstadt gereist, woselbst er ein Amt erhalten hatte. Dort war er indessen mit seinem Vorgesetzten in Differenzen geraten und wieder nach Moskau zurückgekehrt, „und der teure Mann ist nunmehr so krank geworden, daß er wohl schwerlich je wieder aufkommen wird,“ schrieb sie; „er hat fortwährend Eurer gedacht, Geld besitzt er gar nicht mehr.“
„Lies, da schreibt Dolly von dir,“ begann Kity lächelnd, hielt aber plötzlich inne, als sie die Veränderung ihres Gatten gewahrte.
„Was hast du? Was ist da?“
„Sie schreibt mir, daß mein Bruder Nikolay dem Tode nahe ist. Ich muß zu ihm.“
Das Gesicht Kitys veränderte sich plötzlich. Die Gedanken an Tanja als Marquise, an Dolly, alles war verschwunden.
„Wann wirst du fahren?“ sagte sie.
„Morgen.“
„Und ich gehe mit dir, darf ich!“ fuhr sie fort.
„Kity! Was soll das?“ frug er vorwurfsvoll.
„Was das soll?“ erwiderte sie, gekränkt, daß er darüber wie es schien ungern und mit Verdruß ihren Vorschlag entgegennahm. „Weshalb soll ich nicht mit reisen? Ich werde dir nicht hinderlich sein. Ich“ —
„Ich reise, weil mein Bruder stirbt,“ antwortete Lewin. „Weshalb sollst du da“ —
„Weshalb? Eben deshalb, weshalb du reisest“ —
„In einer für mich so ernsten Minute denkt sie nur daran, daß sie sich allein könnte langweilen,“ dachte Lewin, und die Auslegung in der so ernsten Angelegenheit brachte ihn auf. „Es ist aber unmöglich,“ sagte er in strengem Tone.
Agathe Michailowna, welche sah, daß es zum Streit kommen wollte, setzte leise ihre Tasse nieder und ging hinaus. Kity hatte sie gar nicht bemerkt. Der Ton in welchem ihr Mann die letzten Worte gesprochen hatte, hatte sie insofern besonders verletzt, als dieser offenbar dem nicht glaubte, was sie sagte.
„Ich sage dir, daß wenn du reisest, ich mit dir reisen[71] werde; unbedingt mit reisen werde,“ fügte sie eifernd und zürnend hinzu. „Weshalb ist denn das unmöglich? Weshalb sagst du, es sei unmöglich?“
„Weil wir, Gott weiß wohin, auf was für Wegen und mit welchen Gasthäusern zu reisen haben werden. Du wirst mir nur beschwerlich sein,“ sprach Lewin, sich bemühend, kaltblütig zu bleiben.
„Auf keinen Fall! Ich habe keinerlei Bedürfnisse. Wo du bist, kann ich auch sein!“
„Nun dann, schon deshalb kannst du nicht, weil sich dort jenes Weib befindet, dem du dich doch nicht nähern kannst“ —
„Ich weiß nichts und will nicht wissen, wer oder was dort ist! Ich weiß nur, daß der Bruder meines Gatten stirbt und daß mein Gatte zu ihm geht; ich aber mit meinem Gatten gehen will, um“ —
„Kity! Rege dich nicht auf! Bedenke, die Sache ist zu wichtig, so daß es mir schmerzlich ist, zu denken, du könntest die Empfindung einer Schwäche, die Abneigung davor, allein zu bleiben, hereinmengen. Nun, wird es für dich langweilig hier, so fahre nach Moskau.“
„Da haben wirs! Stets schreibst du mir nur schlechte, niedrige Gedanken zu,“ fuhr sie fort, unter den Thränen der Erbitterung und des Zornes. „Ich will nichts; es ist keine Schwäche, nichts; ich fühle nur, daß es meine Pflicht ist, mit meinem Gatten zu sein, wenn er Leid trägt; du aber willst mir absichtlich weh thun, willst mich absichtlich nicht verstehen.“
„Nein; das ist doch zu schrecklich; geradezu ein Sklave zu sein!“ rief Lewin aus, indem er aufstand. Er war nicht fähig, seinen Verdruß noch länger zurückzuhalten. Doch in diesem Augenblick empfand er, daß er sich selbst traf.
„Aber weshalb hast du dann geheiratet? Wärest du doch frei geblieben! Weshalb hast du geheiratet, wenn du es bereust!“ fuhr sie fort, sprang auf und eilte in den Salon.
Als er ihr nachfolgte, brach sie in Schluchzen aus. Er begann ihr zuzureden mit dem Wunsche die Worte zu finden, welche sie, wenn nicht überzeugen, doch wenigstens beschwichtigen könnten. Aber sie hörte ihn nicht und war mit nichts einverstanden. Er beugte sich herab zu ihr, und ergriff ihre abwehrende[72] Hand. Er küßte die Hand, er küßte ihr das Haar und küßte wiederum ihre Hand — sie schwieg beharrlich. — Als er sie aber mit beiden Händen beim Kopfe nahm und „Kity“ sagte, da kam sie plötzlich zur Besinnung, brach in Thränen aus und war beschwichtigt.
Es wurde also bestimmt, daß man morgen vereint reiste. Lewin sagte zu seinem Weibe, daß er wohl glaube, sie wollte nur mitreisen, um ihm nützlich zu sein; er gab auch zu, daß Marja Nikolajewnas Aufenthalt bei dem Bruder nichts Anstößiges habe — reiste aber nichtsdestoweniger, auf dem Grund seiner Seele unzufrieden mit ihr und mit sich selbst.
Mit ihr war er unzufrieden, weil sie es nicht hatte über sich gewinnen können, ihn fort zu lassen, obwohl es doch notwendig war. Wie seltsam ward es ihm jetzt bei dem Gedanken, daß er, der ja noch vor kurzem nicht gewagt hatte, an das Glück zu glauben, daß sie ihn lieben könne, sich jetzt darüber unglücklich fühlte, daß sie ihn zu sehr liebte! — Mit sich hingegen war er unzufrieden, daß er seinen Willen nicht durchgesetzt hatte. Noch weniger war er im Grund seiner Seele damit einverstanden, daß sie mit jener Weibsperson, die bei seinem Bruder lebte, etwas zu thun haben sollte, und er dachte mit Schrecken an alle Berührungen, welche stattfinden konnten.
Schon das Eine, daß sein Weib, seine Kity, in einem Raume mit jenem Mädchen leben sollte, machte ihn schaudern vor Ekel und Entsetzen.
Das Gasthaus der Gouvernementsstadt, in welcher Nikolay Lewin krank lag, war eines jener Gouvernementshotels, wie sie nach neuen, vervollkommneten Mustern gebaut werden, ausgestattet mit den vorzüglichsten Rücksichtnahmen auf Sauberkeit, Komfort und selbst Eleganz, sich aber infolge des Publikums, das sie besucht, mit außerordentlicher Schnelligkeit in schmutzige Schenken, unter dem Anstrich zeitgemäßer Vervollkommnung, verwandeln, damit aber noch schlimmer werden, als die altmodischen, nur unsauberen Gasthäuser.
Das Hotel war schon in diesen Zustand geraten, und der Soldat in schmutziger Uniform, welcher am Eingang eine[73] Cigarette qualmte, und das Amt eines Portiers versah, sowie die gußeiserne, zugige, düstere und unfreundliche Treppe, der freche Kellner in schmutzigem Frack und der öffentliche Salon mit dem staubbedeckten Bouquet von Wachsblumen, welches den Tisch zierte, der Staub und Schmutz, die Unordnung überall, und dazu noch die eigentümliche gleichzeitig bemerkbare Eisenbahnhast, riefen in dem Lewinschen Ehepaar nach dem jungen Eheleben ein beklemmendes Gefühl hervor; besonders beklemmend dadurch, daß sich der scheinbare Eindruck, den das Gasthaus machte, in keiner Weise mit dem vereinbarte, was beide darin erwartete.
Wie immer, so zeigte es sich auch jetzt, daß, nachdem sie die Frage, zu welchem Preise sie ein Zimmer zu haben wünschten beantwortet hatten, nicht ein einziges in gutem Zustande befindliches da war. Ein gutes Zimmer war von einem Eisenbahnrevisor besetzt, ein zweites von einem Moskauer Advokaten, ein drittes von der Fürstin Astaphjewa, die vom Dorfe gekommen war. Es blieb nur ein schmutziger Raum, neben dem man am Abend noch ein zweites freizumachen versprach.
Voll Verdruß über sein Weib, da es so kam, wie er erwartet hatte, und namentlich, daß er im Augenblick der Ankunft, wo ihm das Herz von Bewegung ergriffen war bei dem Gedanken, wie es mit dem Bruder stehen möge, Sorge für sie zu tragen hatte, anstatt sofort zu dem Bruder eilen zu können, führte Lewin seine Frau in das ihnen zugewiesene Zimmer.
„Geh, geh,“ sagte sie, ihn mit schüchternem, schuldbewußten Blick anschauend.
Schweigend schritt er aus der Thür und traf hier mit Marja Nikolajewna zusammen, die von seiner Ankunft erfahren hatte, aber nicht wagte, bei ihm einzutreten. Sie sah noch geradeso aus, wie er sie in Moskau gesehen hatte, das nämliche wollene Kleid, Arme und Hals nackt, und das nämliche, gutmütig stumpfe, nur etwas voller gewordene, pockennarbige Gesicht.
„Wie geht es? Was macht er? Wie?“
„Sehr schlecht. Er steht gar nicht mehr auf. Er hat Euch schon erwartet. Er — Ihr seid mit Eurer Gattin gekommen?“
Lewin verstand in der ersten Minute nicht, was sie in Verlegenheit setzte, doch klärte sie ihn sogleich auf.
„Ich will gehen — nach der Küche,“ sagte sie; „der Herr wird sich freuen. Er hat schon gehört, und kennt die Dame, und entsinnt sich ihrer noch vom Auslande her.“
Lewin verstand jetzt erst, daß sie seine Frau meine, wußte aber nicht, was er ihr antworten sollte.
„Kommt, kommt!“ sagte er.
Kaum hatte er sich jedoch zum Gehen angeschickt, als sich die Thür seines Zimmers öffnete und Kity herausblickte. Lewin errötete vor Scham und Ärger über sein Weib, das sich selbst und ihn in diese schwierige Situation gebracht hatte; Marja Nikolajewna errötete aber noch mehr. Sie drückte sich seitwärts, bis zum Weinen rot geworden und drehte die Zipfel ihres Tuches, die sie mit beiden Händen ergriffen hatte, in ihren roten Fingern, ohne zu wissen, was sie sagen oder anfangen sollte.
Im ersten Moment sah Lewin den Ausdruck einer lebhaften Neugier in dem Blick, mit welchem Kity auf dieses für sie unbegreifliche, schreckliche Weib schaute, aber dies währte nur einen Augenblick.
„Nun, wie ist es denn, wie ist es denn?“ wandte sie sich an ihren Gatten und an jene. „Was macht er?“ wandte sie sich an ihren Mann und dann an sie.
„Man kann indessen auf dem Korridor nicht sprechen!“ sagte Lewin sich voll Verdruß nach einem Herrn umblickend, welcher dröhnenden Schrittes, als wäre er ganz allein hier, soeben den Korridor hinabging.
„Nun, so kommt doch herein,“ sagte Kity, zu der sich emporrichtenden Marja Nikolajewna gewendet, fügte aber, als sie das erschreckte Gesicht ihres Mannes erblickte, sogleich hinzu, „oder geht, geht, und schickt nach mir,“ und wandte sich wieder in ihr Zimmer zurück.
Lewin ging zu seinem Bruder. Er hatte durchaus nicht erwartet, was er bei dem Bruder sah und empfand. Er hatte erwartet, noch den nämlichen Zustand der Selbsttäuschung zu finden, welcher — er hatte dies gehört — bei Brustleidenden so häufig sein soll, und der ihn während des Besuchs seines Bruders im Herbst so betroffen gemacht hatte.[75] Er hatte erwartet, die physischen Anzeichen des nahenden Todes noch ausgeprägter zu finden, eine größere Schwäche und größere Magerkeit, aber es zeigte sich fast noch immer der nämliche Zustand. Er hatte erwartet, selbst wieder jenes Gefühl des Schmerzes über den Verlust des geliebten Bruders und des Entsetzens vor dessen Tode zu empfinden, welches er damals gehabt hatte, nur in noch höherem Grade. Er hatte sich selbst darauf vorbereitet, aber er fand etwas ganz Anderes.
In einem kleinen, unsauberen Zimmer, deren gemaltes Getäfel an den Wänden bespieen und hinter dessen dünner Zwischenwand Gespräch vernehmbar war, in einer von erstickendem Geruch verunreinigten Luft lag auf einem von der Wand abgerückten Bett ein vom Deckbett verhüllter menschlicher Körper. Ein Arm dieses Körpers lag oben auf der Bettdecke, und die große, wie eine Harke aussehende Hand dieses Armes hing auf unbegreifliche Weise an einer dünnen, langen, von Anfang bis zur Mitte gleichmäßig verlaufenden Spule fest. Der Kopf lag seitwärts gedreht auf dem Kissen. Lewin sah die schweißbedeckten, spärlichen Haare an den Schläfen und über der Stirn.
„Es kann nicht sein, daß dieser entsetzliche Körper mein Bruder Nikolay ist,“ dachte Lewin. Doch er trat näher, erblickte das Gesicht und sein Zweifel war schon unmöglich geworden. Trotz der furchtbaren Veränderung dieser Züge, mußte Lewin doch erst noch diese lebhaften, sich auf den Eintretenden richtenden Augen, und diese leichte Bewegung des Mundes unter dem zusammenklebenden Schnurrbart erblicken, wollte er die furchtbare Wahrheit begreifen, daß dieser Totenkörper da sein lebender Bruder war.
Die glänzenden Augen blickten ernst und vorwurfsvoll auf den eintretenden Bruder, und sogleich mit diesem Blicke entstand eine lebhafte Wechselbeziehung unter den Lebenden. Lewin fühlte sofort den Vorwurf in dem auf ihn gerichteten Blick, und Reue über sein eigenes Glück.
Als Konstantin Nikolays Hand ergriff, lächelte dieser. Sein Lächeln war schwach, kaum merklich, und trotz dieses Lächelns schwand der strenge Ausdruck seiner Augen nicht.
„Du hast wohl nicht erwartet, mich so zu finden,“ brachte er mit Anstrengung hervor.
„Ja — nein“ — sprach Lewin, in seinen eigenen Worten irre werdend. „Warum konntest du nicht früher von dir wissen lassen, zur Zeit meiner Verheiratung? Ich habe überall Nachforschungen nach dir angestellt.“
Es mußte gesprochen werden, damit man nicht schwieg, und er wußte doch nicht, was er sagen sollte, um so weniger, als sein Bruder nicht antwortete, sondern nur unverwandt schaute, und offenbar in den Sinn eines jeden Wortes eindringen wollte. Lewin teilte dem Bruder mit, daß auch seine Frau mit ihm gekommen sei. Nikolay drückte sein Vergnügen darüber aus, sagte aber, er fürchte, sie durch seinen Zustand zu erschrecken. Ein Schweigen trat ein. Plötzlich regte sich Nikolay und begann zu sprechen. Lewin erwartete etwas besonders Bedeutendes und Gewichtiges dem Ausdruck seines Gesichts nach, doch sprach Nikolay nur über seine Gesundheit. Er klagte den Doktor an, beklagte, daß er keinen berühmten Moskauer Arzt habe und Lewin erkannte, daß er noch immer Hoffnung hegte.
Die erste Minute des Schweigens benutzend, erhob sich Lewin, im Wunsche, wenigstens für eine Minute von dem peinigenden Gefühl erlöst zu sein, und sagte, daß er gehen wolle, um seine Frau herzuführen.
„Gut, ich will indessen anordnen, daß hier gesäubert wird. Es ist schmutzig hier und riecht übel, glaube ich. Mascha! Räume hier auf,“ sagte der Kranke mit Anstrengung, „und wenn du aufgeräumt hast, kannst du hinausgehen,“ fügte er hinzu, den Blick fragend auf den Bruder richtend.
Lewin antwortete nichts. Als er auf den Korridor hinaustrat, blieb er stehen. Er hatte gesagt, daß er seine Frau herführen wolle, jetzt aber, als er sich Rechenschaft von jenem Gefühl gab, welches er empfunden hatte, beschloß er, im Gegenteil zu versuchen, sie zu überreden, daß sie nicht zu dem Kranken gehe. „Wozu sie peinigen, wie ich mich peinige?“ dachte er.
„Nun? Was ist? Wie steht es?“ frug ihn Kity mit erschrecktem Gesicht.
„Ach, es ist doch entsetzlich, entsetzlich. Warum bist du nur mitgekommen?“ sagte Lewin.
Kity schwieg einige Sekunden, schüchtern und kläglich auf ihren Mann blickend; dann trat sie auf ihn zu und hing sich mit beiden Armen an seinen Ellbogen.
„Mein Konstantin! führe mich zu ihm, es wird uns zu Zweien leichter werden. Führe du mich nur, führe mich, bitte, und komm,“ sagte sie, „begreife doch, daß es mir bei weitem schwerer wird, dich zu sehen und ihn nicht. Dort werde ich vielleicht dir und ihm nützlich werden können. Bitte gestatte es!“ beschwor sie ihren Mann, als ob das Glück ihres Lebens hiervon abhinge.
Lewin mußte einwilligen und begab sich, nachdem er sich etwas erholt hatte, Marja Nikolajewna schon ganz vergessend, mit Kity wieder zu seinem Bruder.
Leisen Schrittes und unverwandt auf ihren Gatten blickend, welchem sie ihr mutiges und doch gefühlvolles Antlitz wies, betrat sie das Zimmer des Kranken und schloß, sich ohne Hast zurückwendend, geräuschlos die Thür. Mit unhörbaren Schritten näherte sie sich rasch dem Lager des Kranken und so herantretend, daß dieser den Kopf nicht zu drehen brauchte, nahm sie sogleich das Skelett seiner großen Hand in ihre frische, jugendliche, drückte sie und begann dann, mit jener, nur den Frauen eigenen, und nicht verletzenden stillen Lebhaftigkeit mit ihm zu sprechen.
„Wir sind uns in Soden begegnet, sind uns aber dort nicht bekannt gewesen,“ sagte sie, „Ihr habt da nicht vermutet, daß ich einmal Eure Schwester werden würde.“
„Ihr solltet Euch nicht nach mir erkundigt haben?“ frug er mit dem Lächeln, welches schon bei ihrem Eintreten aufleuchtete.
„Nein; dann hätte ich ja erfahren. Wie recht Ihr doch gethan habt, uns von Euch Nachricht zu geben! Kein Tag ist vergangen, daß Konstantin nicht Eurer gedacht und sich beunruhigt hätte um Euch.“
Die Lebhaftigkeit des Kranken währte indessen nicht lange. Sie hatte noch nicht aufgehört zu sprechen, als auf seinem Gesicht abermals der strenge vorwurfsvolle Ausdruck des Neides des Sterbenden gegenüber dem Lebenden erschien.
„Ich fürchte, Ihr werdet Euch hier nicht recht wohl befinden,“ sagte sie, sich von seinem starren Blicke abwendend und im Zimmer Umschau haltend. „Man muß bei dem Wirt ein anderes Zimmer erbitten,“ sagte sie zu ihrem Manne, „schon, damit wir näher sind.“
Lewin konnte den Bruder nicht ruhig ansehen, nicht natürlich und ruhig unbewegt in seiner Gegenwart sein. Als er bei dem Kranken eingetreten war, hatte sich sein Blick und seine Wahrnehmungskraft unbewußt verdunkelt, und er gewahrte nicht mehr die Einzelheiten des Zustandes seines Bruders. Er hörte von dem entsetzlichen Geruch, sah die Unsauberkeit, Unordnung und die peinvolle Lage, dieses Stöhnen, und fühlte, daß Hilfe nicht mehr möglich war. Es war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, daran zu denken, daß er alle Einzelheiten in dem Zustande des Kranken erfaßte, daß da unter der Decke dieser Körper lag, diese gekrümmten abgezehrten Beine, Brustknochen, dieser Rücken und ob es nicht anginge, das alles besser zu legen, etwas zu thun, was die Lage, wenn nicht besser, so doch weniger mißlich gestaltete. Kalt rieselte es ihm über den Rücken hinab, als er an alle diese Einzelheiten zu denken begann. Er war fest überzeugt, daß hier nichts mehr zu thun war, weder etwas für eine Verlängerung des Lebens, noch für eine Erleichterung der Leiden; doch das Bewußtsein, sich eingestehen zu müssen, jede Hilfe sei unmöglich, machte sich ihm schmerzlich fühlbar und versetzte ihn in Erbitterung. Lewin wurde es infolge dessen noch schwerer ums Herz. Der Aufenthalt in dem Zimmer des Kranken war qualvoll für ihn, nicht darin zu sein aber noch schlimmer. Unter verschiedenen Vorwänden begab er sich daher fortwährend hinaus, da er nicht die Kraft besaß, allein hier zu bleiben.
Kity aber dachte, fühlte und handelte durchaus nicht ebenso. Bei dem Anblick des Kranken jammerte es sie um ihn, und das Mitleid in ihrer Frauenseele erweckte durchaus nicht jenes Gefühl des Entsetzens und des Ekels bei ihr, wie es dies bei ihrem Manne hervorgerufen hatte, sondern lediglich die Erkenntnis ihrer Pflicht zu handeln, alle Einzelheiten[79] seines Zustandes kennen zu lernen und ihnen beizukommen. Und da in ihr nicht der geringste Zweifel darüber bestand, daß sie ihm Hilfe leisten müsse, so zweifelte sie auch nicht daran, daß dies möglich sei und begab sich sofort ans Werk.
Alle jene Einzelumstände, deren bloße Vorstellung schon ihren Mann in Schrecken versetzt hatte, lenkten sogleich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie schickte nach einem Arzt und in die Apotheke, befahl der mit ihr gekommenen Zofe, sowie Marja Nikolajewna, zu fegen, den Staub zu wischen und den Kranken zu waschen, wusch selbst mit ab, und reichte Etwas unter die Bettdecke. Gegenstände wurden herbeigebracht oder aus dem Krankenzimmer hinausgetragen nach ihrer Anordnung, und sie selbst begab sich mehrmals nach ihrem Zimmer, ohne die ihr begegnenden Herren zu bemerken, langte Betttücher und Überzüge, Handtücher und Hemden hervor und brachte sie herbei.
Der Diener, welcher im Gesellschaftssaale ein Essen für Ingenieure auszurichten hatte, erschien mehrere Male mit ärgerlicher Miene auf ihren Ruf, konnte aber nicht umhin, ihre Befehle zu erfüllen, da sie dieselben mit so wohlwollender Bestimmtheit erteilte, daß man sie unmöglich sich selbst überlassen konnte. Lewin hieß dies alles durchaus nicht gut; er glaubte nicht, daß daraus noch irgend ein Nutzen für den Kranken erwüchse, vor allem aber fürchtete er, der Kranke könne dabei noch in Aufregung geraten. Dieser jedoch verhielt sich, wenigstens wie es schien, dem gegenüber gleichgültig und geriet nicht in Erregung, sondern empfand nur eine gewisse Scham, interessierte sich aber im allgemeinen für das, was sie an ihm that. Vom Arzte zurückgekehrt, zu welchem Kity ihn gesandt hatte, fand Lewin, die Thüre öffnend, den Kranken in dem Moment, als man nach Kitys Anordnung seine Wäsche wechselte. Das lange bleiche Skelett des Rückens mit den großen hervorstehenden Schulterblättern, und den starrenden Rippen und Rückgratwirbeln war entblößt; Marja Nikolajewna und der Diener waren mit dem einen Hemdärmel in Unordnung geraten und konnten den langen herabhängenden Arm nicht hineinbringen. Kity, welche geschäftig die Thür hinter Lewin wieder schloß, hatte nicht nach dieser[80] Seite geblickt, aber der Kranke stöhnte auf und sie wandte sich schnell zu ihm hin.
„Schneller,“ befahl sie.
„Ihr geht ja nicht,“ sagte der Kranke gereizt, „ich will selber“ —
„Was sagt Ihr?“ frug Marja Nikolajewna dazwischen.
Kity hatte jedoch gehört und verstanden, daß es ihm peinlich und unangenehm war, in ihrer Gegenwart entblößt zu sein.
„Ich sehe nicht hin, sehe nicht hin!“ sagte sie daher, den Arm richtend, „Marja Nikolajewna, tretet von dieser Seite, bringt ihn in Ordnung,“ fügte sie hinzu. — „Geh doch — bitte — in meinem kleinen Reisesack befindet sich ein Riechfläschchen,“ wandte sie sich an ihren Mann, „du weißt ja, in der Seitentasche. Bring es mir doch, während man hier noch vollends Ordnung macht.“
Als Lewin mit dem Riechfläschchen zurückkehrte, fand er den Kranken bereits wieder zurecht gelegt, und alles in seiner Umgebung völlig verwandelt. Der drückende üble Geruch war mit einer Atmosphäre von Essig und Parfüms vertauscht worden, welche Kity mit gespitzten Lippen und aufgeblasenen roten Wangen durch das Flacon umhersprengte. Von Staub war nichts mehr zu sehen und vor dem Bett lag ein Teppich. Aus dem Tische standen geordnet Flacons und Caraffen, lag auch die nötige Wäsche, sowie eine Arbeit in broderie anglaise von Kity. Auf einem andern Tische am Bett des Kranken, stand Getränk, ein Licht und Arzneipulver. Der Kranke selbst, gesäubert und gekämmt, lag in frischen Überzügen, auf hochgemachten Kissen und in weißem Hemd mit einem weißen Kragen um den unnatürlich dünnen Hals, und blickte mit einem Ausdruck von Hoffnung unverwandt auf Kity.
Der von Lewin herbeigebrachte, erst im Klub aufgefundene Arzt, war nicht der nämliche, welcher Nikolay Lewin sonst behandelte und mit welchem dieser unzufrieden war. Der neue Arzt langte ein Hörrohr hervor und behorchte den Kranken, schüttelte den Kopf, verschrieb eine Arznei, und erklärte mit großer Ausführlichkeit zunächst, wie die Arznei zu nehmen sei, und dann, welche Diät beobachtet werden sollte. Er[81] empfahl rohe oder nur weichgekochte Eier, und Selterswasser mit warmer Milch von bestimmter Temperatur.
Nachdem der Arzt gegangen war, sagte der Kranke etwas zu seinem Bruder, allein Lewin vernahm nur die letzten Worte „deine Katja“; an dem Blicke jedoch, mit welchem jener sie anschaute, erkannte Lewin, daß sie gelobt worden sei. Er rief nun auch Katja, wie Nikolay sie genannt hatte.
„Mir ist schon bei weitem besser,“ sagte er, „bei Euch wäre ich freilich schon längst wieder gesund geworden. Wie wohl mir ist!“ Er ergriff ihre Hand und zog sie an seine Lippen, gab aber, wie in der Furcht, es möchte ihr dies unangenehm sein, seine Absicht auf, ließ die Hand sinken und streichelte sie nur. Kity faßte diese Hand mit ihren beiden Händen und drückte sie. „Jetzt legt mich auf die linke Seite und geht schlafen,“ fuhr er fort.
Niemand hatte verstanden, was er sprach, nur Kity hatte es erfaßt. Sie hatte es verstanden, weil sie fortwährend in Gedanken beobachtete, was er wünschen möchte.
„Auf die andere Seite,“ sagte sie zu ihrem Manne, „er schläft stets auf jener. Lege du ihn um, ich möchte nicht gern die Dienerschaft dazu rufen. Ich aber kann es nicht. Ihr könnt es auch nicht?“ wandte sie sich an Marja Nikolajewna.
„Ich fürchte mich,“ versetzte diese.
So entsetzlich es Lewin auch sein mochte, diesen grauenhaften Körper mit beiden Armen umfassen zu müssen und Stellen unter der Bettdecke zu berühren, von denen er nichts wissen mochte, machte Lewin, dem Einflusse seines Weibes nachgebend, das energische Gesicht, das dieses schon an ihm kannte und schickte sich dazu an, indem er die Arme vorstreckte, war aber bei aller seiner Kraft, von der seltsamen Schwere dieser ausgemergelten Glieder überrascht.
Während er ihn wandte, seinen Hals von dem abgezehrten, langen Arme umfaßt fühlend, drehte Kity schnell und leise das Kopfkissen um und schob es wieder unter, legte den Kopf des Kranken zurecht und ordnete ihm das spärliche Haar, welches wieder an den Schläfen klebte.
Der Kranke hielt des Bruders Hand in der seinen. Lewin fühlte, daß er etwas mit dieser Hand zu thun wünsche und[82] dieselbe mit sich zog; erstarrend folgte er derselben. Nikolay führte seine Hand an die Lippen und küßte sie und Lewin erschauerte in Schluchzen und verließ, nicht fähig zu reden, das Gemach.
„Er hat sich vor den Weisen verborgen und den Kindern und Thoren entdeckt.“ So dachte Lewin auch über sein Weib, als er an diesem Abend mit ihr sprach.
Lewin dachte an das Wort des Evangeliums nicht deshalb, weil er selbst sich für weise gehalten hätte. Er hielt sich nicht für weise, wußte aber auch recht wohl, daß er doch klüger war, als sein Weib und als Agathe Michailowna; wußte recht wohl, daß er, wenn er des Todes gedachte, dies mit allen Kräften seines Geistes that. Er wußte auch, daß viele höhere Geister von Männern, deren Gedanken er darüber gelesen hatte, nicht ein Hundertstel von dem gedacht hatten, was sein Weib und Agathe Michailowna darüber wußten. So ungleich nun diese beiden Weiber einander sein mochten, Agathe Michailowna und Katja, wie sie sein Bruder Nikolay, und auch Lewin sehr gern nannte, hierin waren sie einander vollkommen ähnlich. Beide wußten sicher, was Leben eigentlich war, und auch was Tod sei, und obwohl sie nicht antworten konnten, oder die Fragen auch nur verstehen, die sich Lewin aufdrängten, so zweifelten sie beide doch nicht an der Bedeutung dieser Erscheinung und betrachteten dieselbe vollkommen gleichartig, nicht nur unter sich, sondern, indem sie ihre Anschauung mit Millionen Menschen teilten. Der Beweis dafür, daß sie genau wußten, was Tod sei, lag darin, daß sie, ohne sich eine Sekunde zu besinnen, wußten, wie man mit Sterbenden umgehen müsse, und diese nicht fürchteten. Lewin und die anderen wußten, obwohl sie viel über den Tod sagen konnten, augenscheinlich nicht, warum sie ihn fürchteten; sie wußten sicher nicht, was zu thun sei, wenn ein Mensch starb. Wäre Lewin jetzt allein gewesen mit seinem Bruder, so würde er ihn voll Entsetzen betrachtet, und mit noch größerem Entsetzen gewartet haben, aber nicht imstande gewesen sein, irgendwie zu handeln.
Er wußte nicht, was er sagen, wie er blicken, wie er[83] gehen sollte. Über Fernerliegendes mit ihm zu sprechen, erschien verletzend, das ging nicht; über den Tod zu sprechen, die finstere Macht, ging auch nicht; schweigen — gleichfalls nicht. — Blickte er den Kranken an, so konnte dieser denken, er wolle ihn durchforschen, blickte er ihn nicht an, so konnte Nikolay denken, er sei bei etwas ganz Anderem. Ging er auf den Fußspitzen, so mochte der Bruder unzufrieden damit sein, trat er voll auf, so schickte sich das nicht.
Kity dachte augenscheinlich gar nicht an sich und hatte wohl auch nicht die Zeit, an sich zu denken; sie dachte nur an ihn, weil sie etwas Bestimmtes wußte, und alles ging gut bei ihr von statten. Sie hatte ihm von sich erzählt, von ihrer Hochzeit und hatte gelächelt und ihn bemitleidet, ihm geschmeichelt, und mit ihm über Fälle von Genesungen gesprochen, und das alles ging ihr gut von statten; vielleicht weil sie etwas wußte.
Der Beweis dafür, daß ihre Wirksamkeit, wie diejenige Agathe Michailownas, keine instinktive, rein physische unbedachte war, lag darin, daß außer der physischen Beruhigung, der Erleichterung der Leiden, sowohl Agathe Michailowna als Kity für den Sterbenden noch etwas weit Wichtigeres anstrebten, als physische Beruhigung, ein Etwas, das nichts Gemeinsames besaß mit physischen Umständen. Agathe Michailowna hatte in dem Gespräch über jenen verstorbenen Alten gesagt: „Nun, man hat ihm das Abendmahl, die letzte Ölung gegeben, gebe Gott, daß ein jeder so sterbe!“ Ganz ebenso hatte Kity ungeachtet aller Sorge für die Wäsche, die wundgelegenen Stellen, das Trinken des Kranken bereits am ersten Tage demselben von der Notwendigkeit gesprochen, daß er kommuniziere.
Nachdem sie für die Nacht von dem Kranken in ihre beiden Zimmer zurückgekehrt waren, hatte sich Lewin niedergesetzt und den Kopf sinken lassen, ohne zu wissen, was er beginnen solle.
Geschweige, daß er davon gesprochen hätte, zu Abend speisen zu wollen, oder das Nachtlager in Ordnung zu bringen, und zu überlegen, was nun zu thun sei, vermochte er nicht einmal mit seiner Frau zu reden; so schwer war ihm das Herz. Kity hingegen war geschäftiger, als gewöhnlich;[84] sie war sogar lebhafter, als sonst. Sie befahl Abendessen zu bringen, packte selbst die Sachen aus, half die Betten vorzurichten und vergaß nicht einmal, sie mit persischem Pulver zu bestreuen. In ihr lag eine Munterkeit, eine Präcision im Denken, wie sie sich bei den Männern vor einer Schlacht, einem Kampfe, in gefahrvollen entscheidenden Momenten zeigt, jenen Minuten, in welchen ein für allemal der Mann seinen Wert zeigt und beweist, daß seine ganze Vergangenheit nicht umsonst gewesen ist, sondern eine Vorbereitung war für diese Minuten.
Alles ging ihr von statten, und es war noch nicht zwölf Uhr, als alle Sachen sauber ausgepackt waren; sorgfältig und in einer Weise, daß das Zimmer ihrem eigenen Hause ähnlich wurde, ihren Zimmern. Die Betten waren aufgeschlagen, die Bürsten, Kämme, Spiegel aufgelegt, und Servietten übergebreitet.
Lewin fand es sei unverzeihlich, jetzt zu essen, zu schlafen, ja selbst zu reden und dabei zu empfinden, daß jede seiner Bewegungen nicht schicklich sei. Sie hingegen steckte die Bürsten aus, verrichtete aber alles so, daß nichts Verletzendes darin lag.
Essen konnten sie allerdings nicht und lange Zeit fanden sie auch keinen Schlaf, ja sie wollten erst lange Zeit gar nicht zur Ruhe gehen.
„Ich bin sehr froh, daß ich ihm zugeredet habe, morgen zu kommunizieren,“ sagte sie, im Ärmelleibchen vor ihrem Necessaire sitzend und sich mit dem dichten Kamme das reiche duftige Haar strählend, „ich habe dies noch nie gesehen, weiß aber, daß Mama mir gesagt hat, es wären Gebete für die Herstellung dabei.“
„Glaubst du wirklich, daß er wieder gesund werden kann?“ sagte Lewin, nach der, sobald sie den Kamm vorwärts bewegte, fortwährend verhüllten dichten Zahnreihe an der hinteren Seite ihres runden Köpfchens schauend.
„Ich habe den Arzt gefragt; er sagte mir, daß er nicht länger als noch drei Tage leben könne. Aber können die es wissen? Ich bin gleichwohl sehr froh, daß ich ihn überredet habe,“ sagte sie, unter ihrem Haar hervor seitwärts nach ihrem Manne blickend. „Es ist alles möglich,“ fügte sie hinzu mit[85] jenem eigentümlichen, ein wenig schlauen Ausdruck, der stets auf ihrem Gesicht lag, wenn sie über Religion sprach.
Nach jenem Gespräch über die Religion, zur Zeit als sie noch Bräutigam und Braut waren, hatte weder er noch sie ein Gespräch darüber wieder angeknüpft, sie aber erfüllte dies Ceremoniell des Kirchenbesuchs, des Gebetes, stets in dem nämlichen ruhigen Bewußtsein, daß es so erforderlich sei. Ungeachtet seiner Versicherungen des Gegenteils war sie fest überzeugt, daß er ein ebensolcher, ja, noch besserer Christ war, wie sie und daß alles, was er darüber sprach, nur eine seiner sarkastischen Männerlaunen sei, ebenso wie das, was er über die broderie anglaise sagte: „Möchten doch die guten Leute lieber die Löcher zustopfen, hier aber werden sie absichtlich eingeschnitten“ und Ähnliches.
„Jenes Weib da, die Marja Nikolajewna hat nicht verstanden, alles das einzurichten,“ sagte Lewin, „und — ich muß es eingestehen, daß ich sehr, sehr froh bin, daß du mitgekommen bist. Du bist solch eine Reinheit, da߫ — er ergriff ihre Hand, küßte sie aber nicht — das Küssen ihrer Hand in dieser Nähe des Todes, erschien ihm unpassend — sondern preßte sie nur, mit schuldbewußtem Ausdruck in ihre aufleuchtenden Augen blickend.
„Für dich allein wäre es doch so peinlich geworden,“ sagte sie, wand die Hände emporhebend, welche ihre vor Freude erglühenden Wangen deckten, die Zöpfe auf dem Scheitel zusammen und steckte sie fest. „Nein,“ sprach sie, „das hat sie nicht verstanden. Zum Glück habe ich viel in Soden gelernt.“
„Waren denn dort derartige Kranke?“
„Noch schlimmere sogar.“
„Es ist furchtbar für mich, daß ich ihn stets so sehen muß, wie er in der Jugend war. Du glaubst nicht, welch ein schöner Jüngling er gewesen ist; ich aber habe ihn damals nur nicht verstanden.“
„Ich glaube es wohl, recht wohl. Wie empfinde ich es, daß wir so gut mit ihm gewesen sein würden,“ sagte sie, erschrak aber sogleich über das was sie gesagt hatte, sich nach ihrem Manne umschauend, und Thränen traten ihr in die Augen.
„Ja — gewesen sein würden“ — sagte er traurig, „das[86] ist eben einer jener Menschen, von denen man sagt, daß sie nicht für diese Welt sind.“
„Gleichviel, uns stehen noch viele Tage bevor, doch wir müssen uns niederlegen,“ sagte Kity, auf ihre winzige Uhr sehend.
Am anderen Tage empfing der Kranke das Abendmahl und die letzte Ölung. Während der Ceremonie betete Nikolay Lewin inbrünstig. In seinen großen Augen, die nach der Monstranz gerichtet waren, welche auf einem mit farbiger Serviette überdeckten L'hombretisch stand, drückte sich ein so leidenschaftliches Flehen, eine Hoffnung aus, daß es Lewin entsetzlich war, dies mit ansehen zu müssen. Lewin wußte, daß diese leidenschaftliche Bitte und Hoffnung ihm die Trennung vom Leben, das er so sehr liebte, nur noch schwerer machen würde. Lewin kannte seinen Bruder und den Gang seiner Gedanken; er wußte, daß sein Unglaube nicht davon herrührte, weil es ihm leichter ankam, ohne Glauben zu leben, sondern davon, weil Schritt für Schritt die modernen wissenschaftlichen Erklärungen der Welterscheinungen das Glauben verdrängt hatten, und weil er wußte, daß seine jetzige Rückkehr zu demselben keine logische war, die sich auf dem Wege eines solchen Gedankenganges vollzogen hätte, sondern eine nur vorübergehende, egoistische, entstanden in der sinnlosen Hoffnung auf eine Genesung. Lewin wußte auch, daß Kity diese Hoffnung noch durch Erzählungen von ungewöhnlichen Heilungen von denen sie gehört, genährt hatte. Alles dies wußte er, und es war ihm qualvoll, auf diesen flehenden, hoffnungsvollen Blick, auf diese abgezehrte Hand schauen zu müssen, die sich mühsam erhob, um das Zeichen des Kreuzes auf der überhängenden Stirn, den hervorstehenden Schultern und der heiserröchelnden, verödeten Brust zu machen, die alle nicht mehr das Leben in sich zu bergen vermochten, um welches der Kranke bat. Während des Sakraments that Lewin, was er in seinem Unglauben tausendmal gethan hatte. Er sprach, sich zu Gott wendend: „Mache, wenn du bist, daß[87] dieser Mensch gesunde,“ und wiederholte dies mehrere Male, „und du wirst ihn und mich erretten.“
Nach der Salbung wurde es dem Kranken plötzlich bei weitem besser. Er hustete nicht ein einziges Mal im Verlauf einer Stunde, er lächelte, küßte Kity die Hand, dankte ihr mit Thränen und sagte, daß ihm wohl sei, daß er sich nirgends krank fühle und Eßlust und Kraft verspüre. Er erhob sich sogar selbst, als man ihm Suppe brachte und bat noch um ein Kotelett. So hoffnungslos Lewin nun auch war, so augenscheinlich es bei seinem Anblick wurde, daß er nicht genesen könne, befand er sich und Kity während dieser Stunde in dem gleichen Glück, der nämlichen Erregung darüber, ob man sich vielleicht doch nicht im Irrtum befinde.
„Ist er besser? — Ja, bei weitem. — Wunderbar. — Nichts Wunderbares. — Er ist doch besser,“ so sprachen sie flüsternd und einander zulächelnd.
Die Täuschung war indessen nicht von langer Dauer. Der Kranke schlief ruhig ein, nach einer halben Stunde jedoch weckte ihn der Husten, und plötzlich waren alle Hoffnungen seiner Umgebung und in ihm selbst geschwunden. Die Wirklichkeit des Leidens vernichtete, auch abgesehen von dem Zweifel, an den vorher gehegten Erwartungen oder selbst der Erinnerung an sie, die Hoffnungen Lewins und Kitys und die des Kranken selbst.
Ohne dessen zu gedenken, woran er eine halbe Stunde vorher noch geglaubt hatte, gleichsam als wäre es tadelnswert, sich daran zu erinnern, verlangte er, daß man ihm das Jod, in einem Glase, welches von durchlochtem Papier überdeckt war, zum Einatmen gebe. Lewin reichte ihm die Flasche und der nämliche Blick leidenschaftlicher Hoffnung, mit welchem er kommuniziert hatte, richtete sich jetzt auf den Bruder, von diesem Bestätigung für die Worte des Arztes heischend, daß die Einatmung von Jod Wunder thue.
„Wie, ist Kity nicht hier?“ raunte er umherblickend, nachdem ihm Lewin die Worte des Arztes mit innerem Widerstreben bekräftigt hatte. „Nun, so kann ich es sagen; nur ihr zu Liebe habe ich diese Komödie durchgemacht. Sie ist so lieb, aber wir beide können uns gegenseitig nicht mehr täuschen.[88] Hieran glaube ich,“ sprach er, die Flasche mit seiner Knochenhand pressend, und begann über ihr zu atmen.
Um acht Uhr am Abend nahm Lewin mit seiner Frau den Thee auf seinem Zimmer ein, als Marja Nikolajewna atemlos ins Zimmer gestürzt kam. Sie war bleich und ihre Lippen bebten.
„Er stirbt!“ flüsterte sie; „ich fürchte, er stirbt sogleich!“
Beide eilten zu ihm. Er hatte sich erhoben und saß, mit dem Arme auf die Bettdecke gestützt, den langen Rücken gekrümmt, mit tief herniederhängendem Kopfe.
„Wie fühlst du dich?“ frug Lewin flüsternd nach einer Pause.
„Ich fühle, daß ich scheide,“ sprach Nikolay mit Anstrengung, aber die Worte mit einer außerordentlichen Bestimmtheit langsam aus sich herauspressend. Er hob den Kopf nicht, sondern richtete nur das Auge nach oben, ohne mit ihnen das Gesicht des Bruders zu erreichen. „Katja, geh' hinaus,“ fuhr er fort.
Lewin sprang auf und befahl ihr mit gebieterischem Flüstern hinauszugehen.
„Ich scheide,“ sagte er wiederum.
„Weshalb denkst du das?“ antwortete Lewin, um etwas zu sagen.
„Deshalb, weil ich scheide,“ wiederholte Nikolay, sich gleichsam in diesem Ausdruck gefallend. „Es ist zu Ende.“
Marja Nikolajewna trat zu ihm.
„Ihr müßtet Euch legen, dann würde Euch leichter,“ sprach sie.
„Bald werde ich liegen,“ versetzte er leise, „als ein Toter,“ er sprach höhnisch, erbittert, „nun, aber legt mich nur, wenn Ihr wollt.“
Lewin legte den Bruder auf den Rücken, ließ sich neben ihm nieder, und blickte ihm, mit angehaltenem Atem ins Gesicht.
Der Sterbende lag mit geschlossenen Augen, aber auf seiner Stirn bewegte sich ein leises Muskelspiel, wie bei einem Menschen, der tief und angestrengt sinnt. Unwillkürlich dachte Lewin zusammen mit ihm das, was sich jetzt in Nikolay vollziehen mochte, aber ungeachtet aller geistigen Anstrengungen[89] mit jenem übereinzukommen, gewahrte er an dem Ausdruck dieses ruhigen ernsten Gesichts und dem Muskelspiel über den Brauen, daß einem Sterbenden sich voll und ganz jenes Eine offenbart ebenso, wie es für Lewin dunkel blieb.
„Ja, ja, so,“ brachte der Sterbende abgebrochen und langsam hervor. „Bleibt.“ Er schwieg wieder. „So,“ sagte er dann gedehnt und befriedigt, als habe sich nun alles für ihn entschieden. „O Gott!“ begann er dann nochmals und seufzte schwer.
Marja Nikolajewna fühlte seine Füße an, „sie werden kalt“, flüsterte sie.
Lange, sehr lange, wie es Lewin schien, lag der Kranke unbeweglich. Aber er war noch immer am Leben und bisweilen atmete er auf. Lewin war bereits abgespannt von der Anstrengung des Denkens. Er fühlte, daß er trotz aller geistigen Anstrengung nicht begreifen könne, was jenes „so“ bedeutete. Er fühlte, daß er weit entfernt stand von dem Sterbenden. Über die Frage des Todes selbst vermochte er nicht mehr nachzusinnen, aber unwillkürlich kamen ihm Gedanken darüber, was er jetzt sofort zu thun haben werde; dem Bruder die Augen zuzudrücken, ihn ankleiden zu lassen und die Beerdigung zu bestellen. Und seltsam, er fühlte sich dabei vollkommen ruhig und empfand weder Schmerz, noch einen Verlust, und noch weniger Mitleid mit dem Bruder. Wenn jetzt ein Gefühl für seinen Bruder in ihm war, so war es eher der Neid wegen jenes Wissens, welches der Sterbende nun hatte, er aber nicht besitzen konnte.
Noch lange saß er so bei ihm, immer das Ende erwartend, aber das Ende kam nicht. Die Thür öffnete sich und Kity erschien. Lewin stand auf, um sie zurückzuhalten, aber gerade im Augenblick, als er sich erhob, hörte er, daß der Sterbende sich regte.
„Geh nicht fort,“ sagte Nikolay und streckte die Hand aus. Lewin gab ihm die seine und winkte heftig seiner Frau, hinauszugehen.
Die Hand des Sterbenden in der seinen, saß er eine halbe Stunde, eine ganze Stunde und noch eine Stunde.
Er dachte jetzt schon gar nicht mehr an den Tod; er dachte daran, was Kity machen möge. Wer wohnte wohl in dem[90] benachbarten Zimmer? Besaß der Arzt ein eigenes Haus? Er sehnte sich nach Essen und Schlaf, behutsam befreite er seine Hand und fühlte nach den Füßen. Sie waren kalt, aber der Kranke atmete noch. Lewin wollte nun auf den Zehen wieder herausgehen, aber von neuem regte sich der Kranke und sagte: „Geh' nicht fort“ — — —
Der Tag dämmerte herauf. Der Zustand des Kranken blieb noch immer derselbe. Lewin befreite leise seine Hand, ohne auf den Sterbenden zu blicken, begab sich nach seinem Zimmer und schlief ein. Als er erwachte, erfuhr er anstatt der Nachricht vom Tode seines Bruders, die er erwartete, daß der Kranke in den früheren Zustand zurückverfallen sei. Er hatte sich wieder gesetzt, wieder gehustet, wieder zu essen und zu sprechen angefangen, und wieder aufgehört, vom Tode zu reden. Er hatte wieder Hoffnung auf Genesung ausgedrückt, und war noch reizbarer und mürrischer geworden als vorher. Niemand, weder sein Bruder, noch Kity vermochten ihn zu besänftigen. Er war gegen jedermann gereizt, sagte jedermann Unangenehmes, machte allen Vorwürfe über seine Leiden und verlangte, daß man ihm einen berühmten Arzt aus Moskau herbeischaffe. Auf alle Fragen, die man an ihn über sein Befinden richtete, antwortete er stets mit dem Ausdruck von Wut und Vorwurf „ich leide furchtbar, unerträglich!“
Der Kranke litt mehr und mehr, besonders infolge der aufgelegenen Stellen, die sich nicht mehr heilen ließen, und geriet mehr in Wut über seine Umgebung, der er Vorwürfe über alles machte, und namentlich darüber, daß man ihm den Arzt aus Moskau nicht herbeischaffe. Kity bemühte sich in jeder Weise, ihm Beistand zu leisten und ihn zu beschwichtigen, aber alles war vergebens und Lewin sah, daß sie selbst körperlich, wie geistig erschöpft war, obwohl sie es nicht eingestand. Jene Ahnung des Todes, welche in allen durch seinen Abschied vom Leben in jener Nacht, als er den Bruder rief, erweckt worden war, war verwischt. Sie alle wußten wohl, daß er unwiderruflich und binnen kurzem sterben werde, daß er zur Hälfte schon tot sei, sie alle wünschten nur das Eine, er möchte so bald als möglich sterben, aber sie alle gaben ihm, indem sie dies verbargen, aus der Flasche die Arznei, forschten nach Heilmitteln und Ärzten und täuschten ihn, und sich selbst[91] untereinander. Alles dies war eine Lüge, eine häßliche, verletzende und hohnvolle Lüge. Und diese Lüge empfand Lewin, sowohl der Eigenart seines Charakters halber, als auch, weil er den Sterbenden mehr als alle anderen liebte, besonders schmerzlich.
Lewin, welchen der Gedanke, seine beiden Brüder wenigstens vor dem Tode noch auszusöhnen, schon lange beschäftigt hatte, schrieb an Sergey Iwanowitsch, und las, nachdem er Antwort erhalten hatte, dem Kranken das Schreiben vor. Sergey Iwanowitsch schrieb, daß er selbst nicht kommen könne, bat aber in rührenden Ausdrücken den Bruder um Verzeihung.
Der Kranke erwiderte nichts.
„Was soll ich ihm nun schreiben?“ frug Lewin. „Ich hoffe, daß du ihm nicht mehr gram bist?“
„Nein, keineswegs!“ antwortete Nikolay voll Verdruß über diese Frage. „Schreibe ihm, er möge nur einen Arzt schicken!“
Es vergingen noch weitere drei qualvolle Tage; der Kranke befand sich immer im gleichen Zustand. Das Gefühl des Wunsches, er möchte sterben, hatten jetzt alle, die ihn sahen, sowohl der Diener des Hotels, wie der Wirt desselben und alle Insassen des Hauses; der Arzt und Marja Nikolajewna, wie Lewin und Kity.
Allein der Kranke drückte dieses Gefühl nicht aus, sondern eiferte im Gegenteil darüber, daß man den Arzt nicht schaffe, und fuhr fort, Arznei zu nehmen und vom Leben zu sprechen. Nur in den gezählten Minuten, in denen das Opium ihn für einen Augenblick die ununterbrochenen Leiden vergessen ließ, sprach er im Halbschlaf bisweilen aus, was mächtiger als bei allen anderen, in seiner Seele ruhte: „O, wenn doch ein Ende käme“, oder „wann wird das vorüber sein“.
Die Qualen, stetig wachsend, thaten das ihre, und bereiteten ihn zum Tode vor. Es gab jetzt keine Stellung mehr, in welcher er nicht gelitten hätte; es gab keine Minute mehr, in welcher er einmal sich selbst vergessen hätte, keine Stelle, kein Glied seines Körpers, welches nicht geschmerzt, ihn nicht gemartert hätte. Selbst die Erinnerung, die Eindrücke und die Gedanken über diesen Körper erregten in ihm jetzt bereits einen solchen Ekel, wie der Körper selbst. Der Anblick der übrigen Menschen, ihre Gespräche, ihre eigenen Erinnerungen, alles das war für ihn nur peinlich. Seine Umgebung[92] empfand dies, und gestattete sich daher wie unbewußt in seiner Nähe weder eine freie Bewegung, noch Gespräche oder Äußerungen von Wünschen. Sein ganzes Leben zerfloß in das eine Gefühl des Leidens, und des Wunsches, hiervon erlöst zu sein.
Augenscheinlich hatte sich nun jene Wandlung in ihm, die ihn auf den Tod wie auf eine Erfüllung seiner Wünsche, wie auf ein Glück blicken lassen mußte, vollendet. Früher war jedem besonderen Wunsche, hervorgerufen durch Leiden oder Entbehrung, wie Hunger, Müdigkeit, Durst, schon ein Zurechtrücken des Körpers, welches ihm Befriedigung gewährte, genügt worden; jetzt aber fand die Entbehrung und der Schmerz keine Befriedigung mehr, denn schon der Versuch zu einer Befriedigung rief neue Schmerzen hervor, und so flossen denn alle Wünsche in dem einen zusammen — dem Wunsche, erlöst zu sein von all den Qualen und von der Quelle derselben — dem Körper.
Aber zum Ausdruck dieses Wunsches nach Befreiung hatte er keine Worte, und daher sprach er nicht davon, sondern forderte nur noch nach seiner Gewohnheit die Befriedigung der Wünsche, die schon nicht mehr erfüllt werden konnten.
„Legt mich auf die andere Seite,“ sagte er und verlangte gleich darauf, daß man ihn wieder lege, wie vorher. „Gebt mir Bouillon! Schafft sie fort! Sprecht doch etwas, weshalb schweigt ihr so!“ Sobald man aber angefangen hatte, zu sprechen, schloß er die Augen, und drückte Ermattung, Gleichgültigkeit und Widerwillen aus.
Am zehnten Tage nach der Ankunft in der Stadt erkrankte Kity. Es stellte sich Kopfschmerz und Erbrechen bei ihr ein, und sie vermochte den ganzen Morgen nicht, das Bett zu verlassen.
Der Arzt erklärte, daß das Unwohlsein von Ermüdung und Aufregung herrühre und empfahl geistige Ruhe.
Nach Tische indessen erhob sich Kity und begab sich wie gewöhnlich, mit einer Arbeit zu dem Kranken. Er blickte sie streng an, als sie eintrat und lächelte verächtlich, als sie sagte, daß sie unwohl sei. An diesem Tage schneuzte er sich unaufhörlich und stöhnte kläglich.
„Wie fühlt Ihr Euch?“ frug sie ihn.
„Schlechter,“ brachte er mit Mühe heraus, „es schmerzt so.“
„Wo schmerzt es?“
„Überall.“
„Heute geht es zu Ende, paßt auf,“ sagte Marja Nikolajewna; zwar flüsternd, aber doch so, daß der Kranke, welcher fein hörte, wie Lewin bemerkt hatte, sie vernehmen mußte. Lewin zischte ihr zu und blickte sich nach dem Kranken um. Nikolay hatte dies gehört, aber die Worte brachten bei ihm keinen Eindruck hervor. Sein Blick war noch der nämliche vorwurfsvolle und gespannte.
„Warum denkt Ihr das?“ frug Lewin sie, als sie ihm auf den Korridor hinaus folgte.
„Er hat angefangen, sich abzunehmen,“ sagte Marja Nikolajewna.
„Was ist denn das?“
„Nun dies,“ antwortete sie, die Falten in ihrem wollenen Kleide aufzupfend; in der That bemerkte Lewin, daß der Kranke an diesem ganzen Tage an sich etwas herunterreißen wollte. Die Voraussagung Marja Nikolajewnas war richtig. Der Kranke war bis zum Abend schon nicht mehr bei Kräften, die Arme zu heben, und schaute nun vor sich hin, ohne den Ausdruck konzentrierter Aufmerksamkeit im Blick zu verändern. Selbst wenn sein Bruder oder Kity sich über ihn beugten, so daß er sie sehen konnte, blickte er so. Kity sandte nach einem Geistlichen, um das Sterbegebet sprechen zu lassen.
Während dieser das Gebet las, gab der Kranke kein Lebenszeichen von sich, seine Augen waren geschlossen. Lewin, Kity und Marja Nikolajewna standen am Bett. Das Gebet war von dem Geistlichen noch nicht zu Ende gelesen worden, als sich der Sterbende streckte, seufzte und die Augen schloß. Der Geistliche legte, nachdem er das Gebet beendet, das Kreuz auf die kalte Stirn, zog es darauf langsam unter sein Gewand zurück, und berührte, nachdem er noch zwei Minuten schweigend gestanden, die erkaltete, blutlose große Hand.
„Er hat vollendet,“ sprach er und wollte gehen, da aber bewegte sich plötzlich der zusammengeklebte Bart des Toten und deutlich in der Stille wurden aus der Tiefe der Brust bestimmt und klar die Worte vernehmbar:
„Nicht ganz — aber bald.“ —
Nach Verlauf einer Minute erst erhellte sich das Gesicht, ein Lächeln trat unter dem Barte hervor und die anwesenden Frauen befaßten sich nun bestürzt damit, den Verstorbenen anzukleiden.
Der Anblick des Bruders und die Nähe des Todes erneuerte in der Seele Lewins jene Empfindung des Entsetzens vor dem Rätselhaften und zugleich vor der Nähe und Unvermeidbarkeit des Todes, das ihn an jenem Herbstabend ergriffen hatte, als sein Bruder zu ihm gekommen war.
Dieses Gefühl war jetzt noch mächtiger als früher; noch weniger, als früher fühlte er sich fähig, die Vorstellung vom Tode zu verstehen, und noch entsetzlicher stellte sich ihm das Unvermeidliche desselben vor Augen. Jetzt aber brachte ihn dieses Gefühl, dank der Nähe seines Weibes, nicht zur Verzweiflung und trotz des Todes fühlte er die Notwendigkeit, zu leben und zu lieben. Er fühlte, daß die Liebe ihn von der Verzweiflung errettet hatte, und daß diese Liebe unter den Schrecken der Verzweiflung nur noch stärker und reiner geworden war.
Das Geheimnis des Todes hatte sich nicht sobald vor seinen Augen vollzogen, ungelöst geblieben, als schon ein anderes auftauchte, ebenso unlösbar und herausfordernd zu Liebe und Leben.
Der Arzt hatte seine Vermutungen bezüglich Kitys bestätigt; ihr Unwohlsein bestand in Schwangerschaft.
Seit der Minute, in welcher Aleksey Aleksandrowitsch aus den Erklärungen mit Betsy und mit Stefan Arkadjewitsch erkannt hatte, daß von ihm nur gefordert wurde, er möge sein Weib in Ruhe lassen, indem er sie nicht mehr mit seiner Gegenwart belästigte, und daß sein Weib selbst dies wünschte, fühlte er sich so verlassen, daß er keinen selbständigen Beschluß mehr zu fassen vermochte, nicht mehr wußte, was er jetzt wollte, und sich in die Hände von Leuten gebend, welche sich mit dem bekannten Vergnügen um seine Angelegenheiten kümmerten, auf alles nur billigende Antworten gab.
Nun nachdem Anna schon sein Haus verlassen hatte, und die Engländerin sandte, um ihn fragen zu lassen, ob sie[95] mit ihm zusammen zu Mittag speisen werde oder allein, da erkannte er zum erstenmale klar seine Lage und erschrak über sie.
Am schwierigsten in dieser Lage war vor allem, daß er in keiner Weise seine Vergangenheit mit ihr so wie sie jetzt war, in Einklang und Harmonie bringen konnte. Nicht jene Vergangenheit, in der er glücklich mit seinem Weibe gelebt hatte, machte ihn ratlos. Den Übergang aus derselben zu der Erkenntnis der Untreue seines Weibes hatte er bereits wie ein Märtyrer durchlebt, der Zustand war schwer, aber er war ihm verständlich gewesen. Wäre sein Weib damals, nachdem sie ihm von ihrer Untreue Mitteilung gemacht, von ihm gegangen, so würde er erbittert, unglücklich gewesen sein, aber er hätte sich dann nicht in jener für ihn selbst unentwirrbaren, unbegreiflichen Lage befunden, in der er sich jetzt fühlte.
Er konnte sich durchaus nicht seine neuerliche Verzeihung vergeben, seine Versöhnlichkeit, seine Liebe zu dem kranken Weibe, und dem fremden Kinde, angesichts dessen, was jetzt war, das heißt, dessen, was er, gleichsam als Belohnung für alles dies, jetzt empfand, vereinsamt, beschimpft, verlacht, niemandem brauchbar und von allen verachtet.
In den ersten zwei Tagen nach der Abreise seines Weibes empfing Aleksey Aleksandrowitsch Bittsteller, den Geschäftsführer, begab sich ins Komitee, und ging zur Mittagstafel nach dem Salon wie gewöhnlich. Ohne sich Rechenschaft, weshalb er dies thue, zu geben, verwandte er alle Kräfte seines Geistes in diesen zwei Tagen nur darauf, ein ruhiges, ja selbst gleichmütiges Aussehen zu behaupten.
Indem er auf die Fragen, wie mit den Sachen und den Räumen der Anna Arkadjewna verfahren werden sollte, antwortete, machte er die gewaltigsten Anstrengungen über sich selbst, um den Anschein eines Mannes zu wahren, für den das stattgehabte Ereignis nicht unvorhergesehen gekommen sei, und nichts in sich trage, was aus der Reihe der gewöhnlichen Vorkommnisse heraustrete; und er erreichte seine Absicht! Niemand vermochte an ihm Anzeichen der Verzweiflung zu finden. Am zweiten Tag nach der Abreise aber, als Korney ihm die Rechnung vom Modewarenmagazin überreichte, welche[96] Anna zu begleichen vergessen hatte, und meldete, der Commis sei selbst da, befahl Aleksey Aleksandrowitsch, diesen hereinkommen zu lassen.
„Entschuldigen Excellenz, daß ich zu stören wage. Aber wenn Excellenz befehlen, daß ich mich an gnädige Frau wende, so geruhen Excellenz wohl, deren Adresse mitzuteilen.“
Aleksey Aleksandrowitsch dachte nach, wenigstens wie es dem Commis schien, und setzte sich, abgewendet, plötzlich an seinen Tisch. Den Kopf in die Hände gestützt, verharrte er lange in dieser Stellung, einige Male zu sprechen versuchend, aber wieder innehaltend.
Die Empfindungen seines Herrn begreifend, bat Korney den Commis, ein ander Mal wiederzukommen. Nachdem Aleksey Aleksandrowitsch wieder allein war, erkannte er, daß er nicht die Kräfte besitze, die Rolle der Festigkeit und Ruhe noch weiter zu behaupten. Er befahl den auf ihn wartenden Wagen wieder auszuspannen, niemand vorzulassen, und ging auch nicht zur Mittagstafel.
Er fühlte, daß er diesem allgemeinen Andrang von Verachtung und Gefühllosigkeit, wie er beides auf den Zügen des Commis und Korneys und aller ohne Ausnahme, denen er in diesen zwei Tagen begegnet war, offen gesehen hatte, nicht widerstehen könne. Er fühlte, daß er die Gehässigkeit der Menschen nicht werde zurückweisen können, weil diese Gehässigkeit nicht davon herrührte, daß er ein Narr war — in diesem Falle hätte er schon sich bemühen können, als etwas Besseres zu erscheinen — sondern davon, daß er schmachvoll und widerlich unglücklich war.
Er wußte, daß man deswegen — eben deswegen, weil sein Herz zerrissen war — mit ihm mitleidlos sein würde. Er fühlte, daß die Menschen ihn vernichteten, wie man einen zerrissenen Hund, der vor Schmerz winselt, noch erwürgt. Er wußte, daß seine einzige Rettung vor den Menschen die war — seine Wunden vor ihnen zu verbergen — und er hatte dies zwei Tage unbewußt zu thun versucht, fühlte sich aber jetzt nicht mehr bei Kräften, diesen ungleichen Kampf fortzusetzen.
Seine Verzweiflung vergrößerte sich noch in dem Bewußtsein, daß er vollständig vereinsamt dastand mit seinem Leid. Nicht nur in Petersburg besaß er keinen einzigen Menschen,[97] dem er alles hätte anvertrauen können, was er erfahren hatte, der in ihm nicht den hochgestellten Beamten, nicht das Mitglied der guten Gesellschaft bemitleidet hätte, sondern einfach den leidenden Menschen — nein, nirgends hatte er einen solchen Menschen.
Aleksey Aleksandrowitsch war als Waise aufgewachsen; sie waren ihrer zwei Brüder gewesen. Auf den Vater konnten sie sich nicht mehr besinnen, die Mutter war gestorben, als Aleksey Aleksandrowitsch zehn Jahre zählte. Das Vermögen war klein; der Onkel Karenin, ein hoher Beamter und einstiger Günstling des verstorbenen Kaisers, erzog die beiden.
Nachdem Aleksey Aleksandrowitsch das Gymnasium und die Universität mit Prämien absolviert hatte, betrat er sogleich mit Hilfe des Onkels die dienstliche Laufbahn und ergab sich von dieser Zeit an ausschließlich dem amtlichen Strebertum. Weder auf dem Gymnasium noch auf der Universität, oder später im Amte hatte Aleksey Aleksandrowitsch mit irgend jemand freundschaftliche Beziehungen angeknüpft. Sein Bruder war ihm der geistig zunächst stehende Mensch gewesen, doch hatte derselbe im Ministerium der äußeren Angelegenheiten gearbeitet, war stets im Auslande gewesen, und auch bald nach der Verheiratung Aleksey Aleksandrowitschs hier gestorben.
Während er eine Gouverneurstelle bekleidete, hatte die Tante Annas, eine reiche Dame im Gouvernement, den zwar nicht mehr jungen Mann, wohl aber jungen Gouverneur, mit ihrer Nichte bekannt gemacht, und ihn in eine Situation verwickelt, nach welcher er sich entweder erklären oder die Stadt verlassen mußte. Aleksey Aleksandrowitsch schwankte lange. Es gab damals ebenso viel Gründe für diesen Schritt, wie gegen denselben, und es gab keinen entscheidenden Anlaß, der ihn bewogen hätte, seinen Grundsatz, sich im Unentschiedenen zu erhalten, zu ändern. Die Tante Annas indessen hatte ihm bereits durch einen Bekannten zu verstehen geben lassen, daß er das junge Mädchen bereits kompromittiert habe und die Rücksicht auf seine Ehre ihn zwingen müsse, einen Antrag zu machen. Er machte den Antrag, und weihte seiner Braut und Frau alles Gefühl, dessen er fähig war.
Jene Anhänglichkeit, die er für Anna empfand, schloß in[98] seiner Seele auch die letzten Voraussetzungen für eine Unterhaltung herzlicher Beziehungen zu den Menschen aus, und jetzt besaß er unter allen seinen Bekannten keinen Vertrauten. Er besaß wohl viel von dem, was man Verbindungen nennt, Freundschaftsverhältnisse aber hatte er nicht. Aleksey Aleksandrowitsch hatte auch viele, die er zu sich zur Tafel einladen, um Teilnahme in einer ihn interessierenden Sache bitten konnte, um Protektion eines Petenten, mit denen er sich aufrichtig über die Thätigkeit anderer Männer und der höchsten Regierungsstelle äußern konnte — aber seine Beziehungen zu diesen Personen waren in einem durch Sitte und Gewohnheit festbestimmten Bereich begrenzt, aus dem es unmöglich war, herauszutreten. Es war da ein Universitätsfreund, welchem er sich später wieder genähert hatte, und mit dem er über sein persönliches Leid hätte sprechen können, aber dieser Kamerad war Inspizient eines ferngelegenen Lehrbezirks. Unter den Personen, welche in Petersburg waren, standen ihm am nächsten und waren noch die denkbarsten von allen der Kanzleidirektor und sein Arzt.
Michail Wasiljewitsch Sljudin, war ein einfacher, verständiger, guter und moralischer Mensch, und in ihm verspürte Aleksey Aleksandrowitsch eine persönliche Neigung für sich, aber ihre fünfjährige amtliche Thätigkeit hatte zwischen beiden eine Schranke für seelische Beziehungen aufgerichtet.
Aleksey Aleksandrowitsch, die Unterschrift der Papiere beendend, schwieg lange, auf Michail Wasiljewitsch blickend, und versuchte mehrmals zu sprechen, ohne daß er es vermochte. Er hatte schon den Satz vorbereitet „habt ihr von meinem Unglück gehört?“ Aber er vollendete damit, daß er, wie gewöhnlich sagte, „macht mir das also fertig,“ womit er ihn entließ.
Der zweite Mensch war sein Arzt, der gleichfalls freundschaftlich gesinnt für ihn war, aber zwischen ihnen bestand schon seit langem ein schweigendes Einverständnis darüber, daß sie beide mit Geschäften überhäuft wären, und sich beeilen müßten.
An seine weiblichen Freunde, selbst an den nervösesten unter ihnen, die Gräfin Lydia Iwanowna, hatte Aleksey Aleksandrowitsch nicht gedacht. Alle Weiber, schlechtweg als Weiber, waren ihm furchtbar und widerlich.
Aleksey Aleksandrowitsch hatte die Gräfin Lydia Iwanowna vergessen, diese aber nicht ihn. In der schwersten Minute seiner Vereinsamung und Verzweiflung gerade kam sie zu ihm und trat ohne Meldung in sein Kabinett. Sie traf ihn in der Stellung, in welcher er gesessen hatte, den Kopf auf beide Arme gestützt.
„J'ai forcé la consigne,“ sagte sie, indem sie mit schnellen Schritten und schwer atmend vor Erregung und der schnellen Bewegung eintrat. „Ich habe alles gehört! Aleksey Aleksandrowitsch! — Mein Freund!“ — fuhr sie fort, mit beiden Händen fest die seine drückend und ihm mit ihren schönen, sinnigen Augen ins Auge blickend.
Aleksey Aleksandrowitsch verfinsterte sich, erhob sich ein wenig, und schob ihr, seine Hand von ihr losmachend, einen Stuhl zu.
„Nicht gefällig, Gräfin? Ich empfange nicht, weil ich krank bin,“ sagte er und seine Lippen bebten.
„Mein Freund!“ wiederholte die Gräfin Lydia Iwanowna, ohne die Augen von ihm zu verwenden, und plötzlich hoben sich ihre Brauen mit den inneren Seiten, ein Dreieck auf der Stirn bildend, und ihr unschönes gelbes Gesicht wurde noch unschöner; doch Aleksey Aleksandrowitsch empfand, daß sie ihn bemitleide und im Begriff war, zu weinen. Auch ihn überkam eine weiche Stimmung; er ergriff ihre fleischige Hand und küßte sie. „Mein Freund!“ sagte sie mit von Erregung unterbrochener Stimme. „Ihr dürft Euch dem Schmerz nicht so hingeben. Euer Leid ist groß, aber Ihr müßt Trost finden.“
„Ich bin zerschmettert, vernichtet, ich bin kein Mensch mehr,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, ihre Hand freilassend, aber weiter, in ihre von Thränen gefüllten Augen schauend. „Meine Lage ist furchtbar dadurch, daß ich nirgends, in mir selbst nicht einmal, einen Stützpunkt dafür finde.“
„Ihr werdet eine Stütze finden; sucht sie aber nicht in mir; obwohl ich Euch bitte, an meine Freundschaft zu glauben,“ antwortete sie mit einem Seufzer, „unsere Stütze ist die Liebe, jene Liebe, die der da droben uns gegeben hat. Eine[100] Bürde in ihm ist leicht,“ sagte sie mit jenem verzückten Blick, den Aleksey Aleksandrowitsch so gut kannte, „er wird Euch halten und Euch beistehen!“
Trotzdem, daß in diesen Worten sowohl das Mitleid mit seinen erhabenen Empfindungen, wie auch jene, Aleksey Aleksandrowitsch überflüssig erscheinende, neue verzückte, erst seit kurzem in Petersburg verbreitete, mystische Stimmung lag, war es diesem angenehm, sie jetzt zu vernehmen.
„Ich bin schwach. Ich bin vernichtet. Ich habe nichts vorausgesehen und fasse jetzt nichts.“
„Mein Freund,“ wiederholte Lydia Iwanowna.
„Nicht der Verlust dessen ist es, was jetzt nicht mehr ist, nicht dies!“ fuhr Aleksey Aleksandrowitsch fort, „ich klage um nichts. Aber ich muß mich schämen vor den Menschen wegen der Lage, in der ich mich befinde. Das ist schlimm, aber ich kann nicht, kann nicht anders.“
„Nicht Ihr habt jene erhabene That der Vergebung ausgeführt, von der ich entzückt bin, wie jedermann, sondern der droben, der in Eurem Herzen wohnt,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, verzückt die Augen hebend, „und daher dürft Ihr Euch Eurer Handlungsweise nicht schämen.“
Aleksey Aleksandrowitsch verzog das Gesicht und begann, die Hände hinter sich nehmend, mit den Fingern zu knacken.
„Man muß eben alle Einzelheiten kennen,“ sagte er mit dünner Stimme, „die Kräfte des Menschen haben ihre Grenze, Gräfin, und ich habe die Grenze der meinigen gefunden. Den ganzen Tag jetzt muß ich Verfügungen treffen, Verfügungen über das Hauswesen, die sich für mich ergeben haben“ — er betonte das letztere Wort — „aus meiner neuen, vereinsamten Stellung. Das Gesinde, die Gouvernante, die Rechnungen — dieses Kreuzfeuer hat mich versengt und ich war nicht bei Kräften, es zu ertragen. Bei Tische — ich bin gestern kaum seit der Mittagstafel hinausgekommen. Ich konnte es nicht ertragen, wie mich mein Sohn anblickte. Er frug mich nicht, was das alles bedeuten solle, aber er wollte fragen, und ich konnte diesen Blick nicht ertragen. Er fürchtete, mich anzuschauen, aber das ist noch wenig“ — Aleksey Aleksandrowitsch wollte jener Rechnung Erwähnung thun, die man ihm gebracht hatte, doch seine Stimme begann zu zittern und er[101] hielt inne. An diese Rechnung auf blauem Papier, mit den Hüten und Bändern, konnte er nicht ohne Mitleid mit sich selbst denken.
„Ich verstehe, mein Freund,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna. „Ich verstehe alles. Hilfe und Trost werdet Ihr nicht in mir finden, aber ich bin dennoch nur deshalb gekommen, Euch beizustehen, wenn ich kann. Wenn ich doch alle diese kleinlichen, erniedrigenden Mühewaltungen von Euch nehmen könnte. Ich verstehe, daß hier ein Frauenwort, ein weibliches Regiment not thut. Vertraut Ihr es mir an?“
Aleksey Aleksandrowitsch drückte ihr schweigend und dankerfüllt die Hand.
„Wir wollen uns mit dem kleinen Sergey beschäftigen. Ich bin nicht stark in praktischen Dingen. Aber ich werde mich nützlich machen und Eure Hausverwalterin sein. Dankt mir nicht. Ich thue das nicht von mir aus.“ —
„Ich muß danken.“
„Aber, mein Freund, überlaßt Euch nicht diesem Gefühl, von welchem Ihr gesprochen habt — daß Ihr Euch dessen schämtet, was das höchste Gebot des Christen ist: Wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden. Und danken könnt Ihr nicht mir. Ihm ist zu danken, ihn muß man um Hilfe bitten, in ihm allein finden wir Ruhe, Trost, Heil und Liebe,“ sagte sie, und die Augen zum Himmel emporhebend, begann sie zu beten, wie Aleksey Aleksandrowitsch aus ihrem Schweigen erkannte.
Aleksey Aleksandrowitsch vernahm sie jetzt auch, und jene Ausdrücke, welche ihm früher, wenn nicht unangenehm, so doch überflüssig erschienen waren, kamen ihm jetzt natürlich und tröstlich vor. Aleksey Aleksandrowitsch liebte diesen neuen, verzückten Geist nicht; er war ein religiöser Mensch, der sich für Religion hauptsächlich im politischen Sinne interessierte, aber die neue Lehre, die sich mehrere neue Auslegungen gestattete, war ihm deshalb besonders, weil sie dem Streit und der Analyse Thür und Thor öffnete, grundsätzlich unangenehm. Früher hatte er sich kühl, ja selbst feindselig gegen diese neue Lehre verhalten, und mit der Gräfin Lydia Iwanowna, die von derselben eingenommen worden war, zwar nie gestritten, aber geflissentlich durch Schweigen ihre Herausforderungen[102] umgangen. Jetzt nun zum erstenmal hörte er ihre Worte mit Befriedigung und widersprach ihnen innerlich nicht.
„Ich bin Euch sehr, sehr dankbar, sowohl für Eure Thaten als für Eure Worte,“ sprach er, als sie mit Beten fertig war.
Die Gräfin Lydia Iwanowna drückte ihrem Freunde nochmals beide Hände.
„Jetzt will ich ans Werk gehen,“ sagte sie lächelnd, nachdem sie eine Weile geschwiegen und sich die Spuren der Thränen aus dem Gesicht gewischt hatte. „Ich werde zu Sergey gehen, und mich nur im äußersten Notfall an Euch wenden.“ Sie erhob sich und ging hinaus.
Die Gräfin Lydia Iwanowna begab sich zu Sergey und erzählte dem erschreckten Knaben, ihm die Wangen mit Thränen bethauend, daß sein Vater ein Heiliger und seine Mutter gestorben sei.
Die Gräfin Lydia Iwanowna erfüllte ihr Versprechen. Sie nahm in der That alle Sorgen und das Arrangement und die Hausverwaltung Aleksey Aleksandrowitschs auf sich, hatte aber nicht übertrieben, wenn sie sagte, daß sie in praktischen Dingen nicht stark sei. Alle ihre Anordnungen mußten abgeändert werden, da sie unausführbar waren, und sie wurden abgeändert durch Korney, den Kammerdiener Aleksey Aleksandrowitschs, der jetzt, ohne daß dies jemand merkte, das ganze Haus Karenins leitete, und ruhig und schonungsvoll während des Ankleidens seinem Herrn berichtete, was notwendig war. Gleichwohl aber blieb die Hilfe Lydia Iwanownas im höchsten Grade wesentlich: sie verlieh Aleksey Aleksandrowitsch eine moralische Stütze in der Erkenntnis ihrer Liebe und Achtung für ihn, und insbesondere darin, daß sie ihn, — es war ihr dies ein tröstlicher Gedanke — fast zum Christentum bekehrte, das heißt, aus einem gleichgültig und träg Religiösgesinnten zum eifrigen und festüberzeugten Parteigänger jener neuen Offenbarung der christlichen Lehre machte, welche sich in der jüngsten Zeit in Petersburg verbreitet hatte.
Aleksey Aleksandrowitsch wurde es leicht, sich von dieser Lehre überzeugen zu lassen. Er ebenso wie Lydia Iwanowna und andere Leute, die ihre Anschauungen zersplitterten, war einer wahrhaft vertieften Vorstellungskraft, jener geistigen Fähigkeit,[103] dank welcher die Vorstellungen, welche von der Phantasie so hervorgerufen sind, ja thatsächlich werden, daß sie mit den anderen Vorstellungen und mit der Wirklichkeit einen Einklang fordern, völlig beraubt. Er erblickte nichts Unmögliches und Ungestaltes in der Vorstellung, daß der Tod, für die Ungläubigen wirklich vorhanden, für ihn aber nicht da sei, und daß, da er den wahrsten Glauben besitze, über den er selbst Richter wäre, auch keine Sünde mehr in seiner Seele sei, und er schon hier auf Erden ein volles Seelenheil kennen lerne.
Allerdings wurde die Leichtfertigkeit und Fehlerhaftigkeit dieser Vorstellung von seinem eignen Glauben Aleksey Aleksandrowitsch dunkel fühlbar, und er wußte, daß er, wenn er ohne daran zu denken, daß seine Verzeihung die Wirkung einer höheren Kraft gewesen war, sich diesem Gefühl unmittelbar hingab, mehr Glück verspürte, als wenn er, wie jetzt, jede Minute dachte, daß Christus in seiner Seele sei und er, wenn er Akten unterschrieb, damit nur dessen Willen erfülle. Aleksey Aleksandrowitsch war es indessen so unumgänglich notwendig, so zu denken, es war ihm so notwendig, in seiner Herabwürdigung eine, wenn auch nur erklügelte, Erhabenheit zu besitzen, mit welcher er, von allen sonst verachtet, auch alle selbst verachten konnte, daß er sich, wie an eine Rettung, an sein vermeintliches Seelenheil anklammerte.
Die Gräfin Lydia Iwanowna war noch als sehr junges, exaltiertes Mädchen an einen reichen, vornehmen, sehr gutmütigen und sehr ausschweifenden Lebemann verheiratet worden.
Im zweiten Monat schon vernachlässigte sie ihr Gatte und antwortete auf die exaltierten Versicherungen ihrer zärtlichen Gesinnung für ihn nur mit Spott, ja selbst Feindseligkeit, welche sich diejenigen, die das gute Herz des Grafen kannten, und keinerlei Fehler in der verzückten Lydia wahrnahmen, nicht erklären konnten.
Seit jener Zeit lebten beide, wenn auch nicht getrennt, so doch gesondert, und wenn der Gatte seiner Frau begegnete, dann trug er gegen sie einen sich stets gleichbleibenden beißenden[104] Sarkasmus zur Schau, dessen Ursache man nicht begreifen konnte.
Die Gräfin Lydia Iwanowna hatte schon längst aufgehört, in ihren Mann verliebt zu sein, hörte aber von da an nie mehr auf, in irgend jemand sonst verliebt zu sein. Sie war in Mehrere zugleich verliebt, in Männer wie in Frauen; sie war in fast alle Menschen verliebt, die irgendwie besonders hervortraten. Sie war verliebt in alle neuen Prinzessinnen und Prinzen, die mit der Familie des Zaren in Verwandtschaft traten, sie war verliebt in einen Metropoliten, einen Vizegeistlichen und einen Kapellan. Sie war verliebt in einen Journalisten, drei Slovenen und in Komissaroff, in einen Minister, einen Arzt, einen englischen Missionär und in Karenin. Alle diese Liebesverhältnisse, bald sich abschwächend, bald stärker werdend, behinderten sie nicht in der Unterhaltung der verzweigtesten und verwickeltsten Beziehungen mit dem Hof und der Gesellschaft, aber seit der Zeit, da sie nach dem Verhängnis, welches Karenin betroffen, diesen unter ihre Fürsorge genommen hatte, seit der Zeit, da sie im Hause Karenins waltete, in der Sorge um dessen Wohlergehen, empfand sie, daß alle die übrigen Liebesverhältnisse keine echten gewesen waren, und sie jetzt wahrhaft nur in Karenin allein verliebt war.
Das Gefühl, welches sie jetzt für diesen empfand, erschien ihr stärker, als alle früheren Gefühle, und indem sie dasselbe untersuchte und es mit diesen verglich, erkannte sie klar, daß sie in Komissaroff nicht verliebt gewesen sein würde, wenn er nicht das Leben des Zaren gerettet hätte, daß sie in Ristitsch-Kudschizkiy nicht verliebt gewesen sein würde, wenn es keine slavische Frage gäbe, daß sie aber Karenin um seiner selbst willen liebte, um seines hohen, nicht zu erfassenden Geistes, des milden, für sie so zarten Klanges seiner Stimme mit ihren gedehnten Accenten, um seines matten Blickes, seines Charakters, seiner weichen weißen Hände mit den aufgetretenen Adern willen.
Sie freute sich nicht nur der Begegnung mit ihm, sie suchte auch auf seinem Gesicht Kennzeichen des Eindruckes, den sie auf ihn machte. Sie wollte ihm nicht nur in ihren Reden gefallen, sondern mit ihrer ganzen Persönlichkeit. Ihm[105] zu Liebe beschäftigte sie sich jetzt mehr mit ihrer Toilette, als je zuvor. Sie ertappte sich auf Träumereien, was wohl geschehen könne, wenn sie nicht verheiratet und er frei wäre. Sie errötete vor Vergnügen, wenn er in das Zimmer trat, und konnte ein Lächeln des Entzückens nicht unterdrücken, wenn er ihr etwas Angenehmes sagte.
Schon mehrere Tage befand sich die Gräfin Lydia Iwanowna in einer sehr starken Aufregung. Sie hatte erfahren, daß Anna und Wronskiy wieder in Petersburg seien. Man mußte Aleksey Aleksandrowitsch vor dem Wiedersehen mit ihr bewahren, man mußte ihn bewahren selbst vor der qualvollen Kenntnisnahme davon, daß dieses furchtbare Weib in ein und derselben Stadt mit ihm sei und er ihr jeden Augenblick begegnen könne.
Lydia Iwanowna erforschte durch ihre Bekannten, was jene „widerlichen Menschen“, wie sie Anna und Wronskiy nannte, zu thun beabsichtigten, und bemühte sich nun während dieser Tage, alle Bewegungen ihres Freundes zu leiten, damit er ihnen nicht begegnen könnte.
Ein junger Adjutant, ein Freund Wronskiys, durch welchen sie ihre Nachrichten empfangen hatte, und der durch die Gräfin Lydia Iwanowna eine Konzession zu erhalten hoffte, teilte ihr mit, daß die beiden ihre Angelegenheiten ordneten und am nächsten Tage abreisen würden.
Lydia Iwanowna war schon ruhiger geworden, als man ihr am andern Morgen ein Billet brachte, dessen Handschrift sie mit Entsetzen erkannte.
Es war die Handschrift Anna Kareninas. Das Couvert bestand aus dickem, rindenartigem Papier, war länglich und von gelber Farbe und trug ein großes Monogramm, während das Schreiben selbst Wohlgerüche ausströmte.
„Wer hat das gebracht?“
„Ein Beauftragter aus dem Hotel.“
Die Gräfin Lydia Iwanowna vermochte lange nicht, sich zu setzen und den Brief zu lesen. Sie bekam vor Aufregung einen Anfall von Atemnot, an der sie litt. Nachdem sie sich indes beruhigt hatte, las sie folgendes, französisch abgefaßte Schreiben:
„Madame la Comtesse! Die christlichen Gefühle, welche
Ihr Herz erfüllen, verleihen mir die, ich fühle es, unverzeihliche
Kühnheit, Ihnen zu schreiben. Ich bin unglücklich über
die Trennung von meinem Sohne. Ich flehe Sie um die
Erlaubnis an, ihn nur ein einziges Mal sehen zu dürfen vor
meiner Abreise. Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen mich selbst
in Erinnerung bringe, ich habe mich an Sie, und nicht an
Aleksey Aleksandrowitsch nur deshalb gewandt, weil ich diesen
hochherzigen Mann nicht veranlassen will, in der Erinnerung
an mich, zu leiden. Da ich Ihre freundschaftliche Gesinnung
für ihn kenne, werden Sie mich verstehen. Senden Sie
Sergey zu mir, oder soll ich ins Haus kommen zu der üblichen,
festgesetzten Stunde — oder würden Sie mich wissen
lassen, wann und wo ich ihn außerhalb des Hauses sehen
kann? Ich versehe mich nicht einer Verweigerung, da ich die
Großmut dessen kenne, von dem dies abhängt. Sie können
sich die heiße Sehnsucht ihn zu sehen nicht vorstellen, die ich
empfinde, und daher auch nicht die Dankbarkeit, die Ihr Beistand
in mir hervorrufen würde.
Anna.“
Alles in diesem Briefe versetzte die Gräfin Lydia Iwanowna in Zorn; sowohl der Inhalt im allgemeinen, als der Hinweis auf Großmut und insbesondere der, wie ihr schien, frivole Ton.
„Sag', es gebe keine Antwort,“ sprach die Gräfin Lydia Iwanowna, und schrieb sogleich an Aleksey Aleksandrowitsch, sie hoffe, ihn um ein Uhr zur Hofcour zu sehen.
„Ich habe mit Euch über eine wichtige und traurige Angelegenheit zu sprechen, und dort wollen wir verabreden, wo dies geschehen kann. Am besten wohl bei mir, wo ich den Thee so wie Ihr ihn ja liebt, bereiten lassen werde. Es ist unbedingt notwendig. Gott legt uns das Kreuz auf, aber er giebt uns auch die Kraft,“ fügte sie hinzu, um ihn doch wenigstens in Etwas vorzubereiten.
Die Gräfin Lydia Iwanowna schrieb gewöhnlich zwei oder drei Briefe täglich an Aleksey Aleksandrowitsch. Sie liebte diese Verkehrsweise mit ihm, da sie an sich Eleganz und Diskretion besaß, wie sie sich ihr in persönlichen Beziehungen nicht bot.
Die Hofcour war vorüber. Die Abfahrenden pflogen bei der Begegnung noch Gespräche über die letzten Tagesneuigkeiten, über neuempfangene Auszeichnungen und Versetzungen hoher Beamter.
„Etwa der Gräfin Marja Borisowna das Kriegsportefeuille, und an die Spitze des Stabes die Fürstin Watkowskaja,“ sagte ein alter Herr in goldgestickter Uniform zu einer hochgewachsenen Schönheit, die sich bei ihm über die Beförderungen erkundigt hatte.
„Und mich zum Adjutanten,“ versetzte das Fräulein lächelnd.
„Ihr habt bereits Eure Bestimmung. Man bestellt Euch in das Ressort für geistliche Sachen. Und zu Eurem Beistande — Karenin.“
„Guten Tag, Fürst,“ sagte der alte Herr, einem Hinzutretenden die Hand drückend.
„Was habt Ihr zu Karenin gesagt?“ sprach der Fürst.
„Er und Putjakoff haben den Alexander Newskiy erhalten.“
„Ich dachte, er hätte ihn schon.“
„Nein. Seht ihn Euch doch an,“ sagte der alte Herr, mit dem goldgestickten Hute auf den, bei einem einflußreichen Mitglied des Staatsrats an der Saalthür stehenden Karenin weisend, der in Galauniform war und das neue rote Band über der Schulter trug. „Glücklich und zufrieden, wie ein Kupfergroschen,“ fügte er hinzu, stehen bleibend, um einem athletischgebauten, schöngewachsenen Kammerherrn die Hand zu drücken.
„Er ist gealtert,“ sagte der Kammerherr.
„Von Sorgen. Er macht jetzt nur Projekte. Keinen Unglücklichen entläßt er jetzt, bevor er nicht alles gewissenhaft dargelegt hat.“
„Wie, gealtert? Il fait des passions. Ich glaube, die Gräfin Lydia Iwanowna ist jetzt eifersüchtig auf seine Frau.“
„Was soll das heißen! Über die Gräfin Lydia Iwanowna, bitte, sprecht nichts Übles!“
„Ist denn das schlecht, wenn sie in Karenin verliebt ist?“
„Ist es denn wahr, daß die Karenina hier ist?“
„Das heißt nicht hier am Hofe, sondern in Petersburg! Ich begegnete ihr gestern mit Aleksey Wronskiy, bras dessus, bras dessous, auf der Morskaja.“
„C'est un homme qui n'a pas“ — — begann der Kammerherr, hielt aber inne, indem er grüßend Platz machte vor einer vorüberschreitenden Persönlichkeit aus der Familie des Zaren.
So sprach man fortwährend von Aleksey Aleksandrowitsch, ihn richtend und verspottend, während dieser, dem von ihm in Beschlag genommenen Mitglied des Staatsrates den Weg vertretend, und um keine Minute seine Ausführungen verkürzend, um ihn nicht fortlassen zu müssen, demselben Punkt für Punkt einen Finanzplan vorlegte.
Fast zu gleicher Zeit, als Aleksey Aleksandrowitsch von seinem Weibe verlassen wurde, ereignete sich für diesen das bitterste Ereignis was einem Beamten passieren kann — Stillstand in seiner aufwärtsführenden Carriere. Derselbe war Thatsache geworden, und alle erkannten dies klar, Aleksey Aleksandrowitsch selbst aber hatte sich noch nicht eingestanden, daß seine Carriere zu Ende sei. War es der Zusammenstoß mit Stremoff, war es das Unglück mit seinem Weibe, oder einfach der Umstand, daß Aleksey Aleksandrowitsch zu der ihm bestimmten Grenze gelangt war, für jedermann war es im laufenden Jahre klar geworden, daß es mit seiner amtlichen Laufbahn vorüber war. Er bekleidete noch einen wichtigen Posten, er war noch Mitglied vieler Kommissionen und Komitees, aber auch ein Mann, der in Ungnade gefallen, und von welchem man nichts mehr erwartete. Was er auch reden mochte, was er auch in Vorschlag brachte, man hörte ihn, als wäre das, was er beantragte, schon längst bekannt und eben gerade das, was gar nicht notwendig war.
Aber Aleksey Aleksandrowitsch merkte das nicht, im Gegenteil, der direkten Teilnahme an der Regierungsthätigkeit fernstehend, sah er jetzt viel klarer, als früher, die Mängel und Fehler in der Thätigkeit anderer, und hielt es für seine Pflicht, auf die Mittel zu deren Verbesserung hinzuweisen.
Bald nach seiner Trennung von der Gattin begann er, seine Denkschrift über die neue Rechtsordnung zu schreiben, die erste aus einer zahllosen Reihe niemandem nutzbringender Denkschriften[109] über alle Zweige der Verwaltung, welche er sich vorgenommen hatte, zu schreiben.
Aleksey Aleksandrowitsch erkannte seine hoffnungslose Stellung in der Beamtenwelt nicht nur nicht, er war auch nicht erbittert hierüber, sondern eher noch mehr als je zufrieden mit seiner Thätigkeit.
„Ein Beweibter sorgt sich um das Eitle, wie er seinem Weibe gefallen mag, ein Unbeweibter um das Erhabene, wie er dem Herrn gefallen kann,“ sagt der Apostel Paulus, und Aleksey Aleksandrowitsch, in allen Dingen jetzt nur noch geleitet von der heiligen Schrift, erinnerte sich oft dieses Textes. Es schien ihm, daß er seit der Zeit, seit welcher er ohne seine Frau lebte, gerade mit diesen Projekten dem Herrn mehr diente, als früher.
Die augenscheinliche Ungeduld des Mitgliedes des Staatsrats, welches wünschte, von ihm loszukommen, setzte Aleksey Aleksandrowitsch nicht in Verlegenheit; er hörte nicht eher damit auf, seinen Plan zu entwickeln, als bis das Ratsmitglied, die Gelegenheit des Vorüberschreitens der Persönlichkeit aus der Zarenfamilie benutzend, ihm entschlüpft war.
Allein geblieben, ließ Aleksey Aleksandrowitsch den Kopf sinken, indem er seine Gedanken sammelte, blickte dann zerstreut um sich, und schritt der Thür zu, an welcher er der Gräfin Lydia Iwanowna zu begegnen hoffte.
„Wie sind sie alle körperlich so stark und gesund,“ dachte Aleksey Aleksandrowitsch, auf den mächtigen Kammerherrn mit seinem frisierten, wohlriechenden Backenbart blickend, auf den rotschimmernden Hals des straff in seiner Uniform erscheinenden Fürsten, an denen er vorbeizuschreiten hatte. „Es ist ganz richtig gesagt, daß alles in der Welt von Übel ist,“ dachte er, nochmals seitwärts nach den Waden des Kammerherrn blickend.
Langsam seine Beine weiterbewegend, verbeugte er sich mit dem gewöhnlichen Ausdruck von Ermüdung und Würde vor jenen Herren, welche von ihm gesprochen hatten, und suchte, nach der Thür blickend, mit seinen Augen die Gräfin Lydia Iwanowna.
„Ah, Aleksey Aleksandrowitsch!“ sagte der alte Herr, mit[110] boshaft blinzelnden Augen, während Karenin neben ihm hinschritt und mit kalter Bewegung den Kopf neigte.
„Ich habe Euch noch nicht beglückwünscht,“ sagte der alte Herr, auf sein neuempfangenes Ordensband weisend.
„Ich danke Euch,“ versetzte Aleksey Aleksandrowitsch, „welch ein herrlicher Tag ist heute,“ fügte er hinzu, nach seiner Gewohnheit besonders Betonung auf das Wort „herrlich“ legend.
Daß man über ihn lachte, wußte er, aber er erwartete von ihnen ja auch gar nichts anderes als Feindseligkeit; er war schon daran gewöhnt.
Als er die aus dem Korsett emporsteigenden gelben Schultern der Gräfin Lydia Iwanowna, die in die Thür getreten war, und ihre ihn zu sich rufenden, schönen sinnigen Augen erblickte, lächelte er, die weißen, nicht schlecht gewordenen Zähne zeigend, und begab sich zu ihr hin.
Die Toilette Lydia Iwanownas hatte große Mühe gekostet, wie überhaupt alle ihre Toiletten in der letzten Zeit. Der Zweck derselben war jetzt ein vollständig umgekehrter im Vergleich zu dem, welchen sie vor dreißig Jahren damit verfolgt hatte.
Damals hatte sie sich nur mit Etwas putzen wollen, je mehr, um so besser. Jetzt, im Gegenteil hatte sie so notorisch in einer ihren Jahren und ihrer Figur nicht entsprechenden Weise an Schönheit verloren, daß sie nur noch darum bemüht war, den Gegensatz zwischen diesem Putz und ihrer äußeren Erscheinung nicht gar zu schrecklich werden zu lassen.
Was Aleksey Aleksandrowitsch anbetraf, so hatte sie dies erreicht, und erschien diesem anziehend. Sie bildete für ihn die einzige Insel nicht nur von Zuneigung, sondern auch der Liebe, inmitten des Meeres von Feindseligkeit und Hohn, das ihn umgab.
Durch die Spießrutengasse von höhnischen Blicken hindurchschreitend, strebte er naturgemäß ihrem Blick voll Liebe zu, wie die Pflanze dem Licht.
„Ich gratuliere Euch,“ sprach sie zu ihm, mit den Augen auf sein Ordensband weisend.
Ein Lächeln des Vergnügens unterdrückend, zuckte er nur mit den Schultern, die Augen schließend, als wollte er sagen, es könne ihn dies nicht erfreuen. Die Gräfin Lydia Iwanowna[111] wußte recht wohl, daß dies für ihn eine der höchsten Freuden war, obwohl er es nimmermehr eingestanden haben würde.
„Was macht unser Engel?“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, an Sergey denkend.
„Kann nicht gerade sagen, daß ich vollständig zufrieden mit ihm wäre,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, die Brauen in die Höhe ziehend und die Augen öffnend. „Auch Sitnikoff ist nicht zufrieden mit ihm.“ Sitnikoff war der Pädagog, dem die weltliche Erziehung Sergeys anvertraut war. „Wie ich Euch schon gesagt habe, besitzt er eine gewisse Kühlheit gerade denjenigen Hauptfragen gegenüber, die die Seele eines jeden Menschen, und jedes Kind berühren,“ begann er, seine Gedanken über die einzige, ihn neben seiner amtlichen Thätigkeit interessierende Frage zu entwickeln — über die Erziehung seines Sohnes.
Nachdem Aleksey Aleksandrowitsch mit Hilfe Lydia Iwanownas aufs neue dem Leben und der Thätigkeit wieder geschenkt worden war, fühlte er auch seine Verpflichtung, sich mit der Erziehung des Kindes zu befassen, welches in seinen Händen geblieben war. Da er sich vorher niemals mit Erziehungsangelegenheiten beschäftigt hatte, so opferte Aleksey Aleksandrowitsch einige Zeit dem theoretischen Studium des Gegenstandes, und indem er einige anthropologische, pädagogische und didaktische Bücher durchlas, stellte er einen Erziehungsplan auf, und ging, den besten Petersburger Schulmann zur Leitung desselben einladend, ans Werk. Dieses Werk nun beschäftigte ihn beständig.
„Ja, aber das Herz? Ich erkenne in ihm das Herz des Vaters und mit einem solchen Herzen kann ein Kind nicht schlecht sein,“ sagte Lydia Iwanowna verzückt.
„Ja, mag sein; was mich anbetrifft, so erfülle ich meine Pflicht. Das ist alles, was ich thun kann.“
„Ihr kommt doch mit zu mir,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, eine Pause machend, „ich muß über eine traurige Angelegenheit mit Euch reden. Alles hätte ich darum gegeben, Euch mit gewissen Erinnerungen zu verschonen, aber die anderen denken ja nicht so. Ich habe ein Schreiben ‚von ihr‘ erhalten. Sie ist hier, in Petersburg.“
Aleksey Aleksandrowitsch erschrak bei der Gemahnung an[112] sein Weib, sofort aber stand auch jene totenhafte Unbeweglichkeit auf seinen Zügen, welche seine vollkommene Hilflosigkeit in dieser Sache ausdrückte.
„Ich habe das erwartet,“ sagte er.
Die Gräfin Lydia Iwanowna blickte ihn verzückt an, und die Thränen des Enthusiasmus vor seiner Seelengröße traten ihr in die Augen.
Als Aleksey Aleksandrowitsch in das kleine, mit altertümlichem Porzellan dekorierte und Gemälden behängte anheimelnde Kabinett Lydia Iwanownas trat, war die Herrin selbst noch nicht anwesend. Sie kleidete sich um.
Auf einem runden Tische war ein Tafeltuch aufgedeckt, auf welchem ein chinesisches Service und eine silberne Theemaschine stand. Aleksey Aleksandrowitsch betrachtete zerstreut die unzähligen, ihm bekannten Porträts, welche das Kabinett schmückten, und öffnete, nachdem er sich an dem Tische niedergelassen, das auf demselben liegende Evangelium.
Das Rauschen des seidenen Kleides der Gräfin zog ihn davon ab.
„So, nun wollen wir uns gemächlich setzen,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, mit aufgeregtem Lächeln hastig zwischen Tisch und Diwan durchschreitend, „und bei unserem Thee sprechen.“
Nach einigen Worten der Vorbereitung gab die Gräfin Lydia Iwanowna schwer atmend und errötend das empfangene Schreiben Aleksey Aleksandrowitsch in die Hände.
Das Schreiben durchlesend, blieb dieser lange stumm.
„Ich glaube nicht das Recht zu haben, ihr einen abschläglichen Bescheid geben zu dürfen,“ sagte er zaghaft, die Augen erhebend.
„Mein Freund, Ihr seht doch in keinem Menschen das Böse!“
„Im Gegenteil sehe ich, daß alles von Übel ist! Ob es aber richtig ist.“
In seinem Gesicht lag Unentschlossenheit und das Suchen nach Rat, nach Unterstützung und Leitung in der Sache, die ihm unerfaßbar war.
„Nein“ — unterbrach ihn die Gräfin Lydia Iwanowna, „alles hat seine Grenze! Ich begreife die Unmoral,“ sagte sie — nicht ganz aufrichtig, da sie nie begreifen konnte, was Frauen zur Unmoral führt — „begreife aber nicht diese Hartherzigkeit. Gegen wen? gegen Euch! Wie kann man in dieser Stadt verbleiben, in welcher Ihr seid? Nein; man kann hundert Jahre leben und lernt nicht aus! Ich aber lerne Eure Erhabenheit und ihre Niedrigkeit erkennen!“ —
„Wer will einen Stein auf sie werfen?“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, augenscheinlich mit seiner Rolle zufrieden. „Ich habe alles vergeben, und kann sie daher nicht dessen berauben, was eine Forderung ihrer Liebe ist, der Liebe zu ihrem Kinde“ —
„Aber ist denn das Liebe, mein Freund? Ist das aufrichtig von Euch? Gesetzt auch, Ihr habt ihr vergeben, Ihr verzeiht ihr — haben wir deshalb das Recht, auf die Seele jenes Engels einzuwirken? Er hält sie für tot. Er betet für sie und bittet Gott, ihr ihre Sünden zu vergeben. So ist es doch am besten. Sonst aber — was wird er da denken?“ —
„Hieran dachte ich nicht,“ antwortete Aleksey Aleksandrowitsch, augenscheinlich zustimmend.
Die Gräfin Lydia Iwanowna bedeckte das Gesicht mit den Händen und blieb stumm. Sie betete.
„Wenn Ihr nach meinem Rate fragt,“ sagte sie, mit beten fertig und das Gesicht wieder aufdeckend, „dann empfehle ich Euch, dies nicht zu thun. Sehe ich denn nicht selbst, wie Ihr leidet, wie dies alle Eure Wunden wieder geöffnet hat? Aber nehmen wir an, Ihr vergäßet, wie immer, Euch selbst; wozu könnte das dann führen? Zu neuen Leiden nur Eurerseits, zu Qualen für das Kind! Wenn in ihr noch etwas Menschliches geblieben ist, so darf sie dies selbst nicht wünschen. Ich rate, ohne mich dabei zu bedenken, nicht dazu, und wenn Ihr bestimmt, werde ich ihr schreiben.“ —
Aleksey Aleksandrowitsch willigte darein, und die Gräfin Lydia Iwanowna schrieb folgendes Billet auf Französisch:
„Geehrte Frau! Die Erinnerung an Euch kann für Euren Sohn zu Fragen seinerseits führen, auf die es keine Antwort giebt, welche in die Seele des Kindes nicht den Geist des Tadels[114] dem gegenüber einpflanzen müßte, was für ihn ein Heiligtum sein soll; demgemäß ersuche ich Euch, den abschläglichen Bescheid Eures Gatten im Geiste der christlichen Liebe aufzufassen.
Ich bitte den Höchsten um seine Barmherzigkeit mit Euch.
Gräfin Lydia Iwanowna.“
Dieses Schreiben verfolgte jenen geheimen Zweck, den die Gräfin Lydia Iwanowna sogar vor sich selbst verhehlte. Es traf Anna bis auf den Grund der Seele.
Aleksey Aleksandrowitsch seinerseits von Lydia Iwanowna nach Hause zurückgekehrt, vermochte es nicht, sich an diesem Tage seinen gewöhnlichen Geschäften zu widmen, und jenen inneren Frieden des gläubigen und geretteten Menschen zu finden, den er vorher empfunden hatte.
Die Erinnerung an sein Weib, das so schuldbeladen vor ihm war, und vor welchem er so hehr erschien, wie ihm ganz richtig die Gräfin Lydia Iwanowna gesagt hatte, hätte ihn nicht beunruhigen dürfen; und doch war er nicht ruhig; er vermochte das Buch nicht zu verstehen, welches er las, er vermochte die quälenden Erinnerungen an seine Beziehungen zu ihr nicht von sich zu weisen, die Erinnerung an jene Fehler, die er, wie ihm jetzt schien, ihr gegenüber begangen hatte.
Die Erinnerung daran, wie er, bei der Rückkehr von den Rennen, das Geständnis ihrer Untreue entgegengenommen hatte — besonders dies, daß er von ihr nur äußeren Anstand verlangt und nicht zum Duell herausgefordert hatte — peinigte ihn jetzt wie eine Reue. Ebenso folterte ihn auch die Erinnerung an das Schreiben, welches er ihr gesandt hatte, und insbesondere seine Verzeihung, die niemand etwas genützt hatte, und seine Sorge um jenes ihm fremde Kind versengte sein Herz vor Scham und Reue.
Ganz das nämliche Gefühl der Scham und Reue empfand er auch jetzt, da er seine ganze Vergangenheit mit ihr durchmusterte, und indem er sich der ungeschickten Worte erinnerte, mit denen er ihr nach langem Zaudern, seine Erklärung gemacht hatte.
„Aber woran trage ich eine Schuld?“ sprach er zu sich selbst, und diese Frage rief in ihm stets eine andere hervor — die, ob die anderen Menschen wohl anders empfänden, anders liebten, anders heirateten. Jene Wronskiy, Oblonskiy, diese[115] Kammerherren mit den drallen Waden, und eine ganze Reihe von jenen strotzenden, starken, rücksichtslosen Männern stieg vor ihm auf, die stets, wider seinen Willen und allerorten seine Neugier und Aufmerksamkeit erregt hatten.
Er wies diese Gedanken von sich, er bemühte sich, sich zu überzeugen, daß er nicht für das gegenwärtige Leben lebe, sondern für das ewige, daß sich in seiner Seele der Frieden und die Liebe befinde. Aber das, was er in diesem zeitlichen, nichtigen Leben begangen hatte, wie ihm schien, einige unbedeutende Fehler, peinigte ihn doch so, als gäbe es jenes ewige Seelenheil gar nicht, an welches er glaubte.
Aber diese Versuchung währte nicht lange, und alsbald erstand wieder in der Seele Aleksey Aleksandrowitschs jene Ruhe und Erhabenheit, dank welcher er das zu vergessen vermochte, dessen er nicht zu gedenken wünschte.
„Nun, wie steht's Kapitonitsch?“ sagte der kleine Sergey rotwangig und heiter, von dem Spaziergang am Vorabend seines Geburtstags zurückkehrend und seine faltige Poddjovka dem hochgewachsenen, aus seiner ganzen Größe auf den Kleinen herablächelnden alten Portier reichend.
„War heute jener zurückgesetzte Beamte da? Hat ihn der Papa empfangen?“
„Empfangen. Soeben ist der Direktor gegangen und ich habe ihn gemeldet,“ sagte der Schweizer heiter blinzelnd. „Gestattet mir, daß ich Euch auskleide.“
„Sergey!“ sagte der Erzieher, in der Thüre stehen bleibend, welche nach den inneren Gemächern führte. „Legt selbst ab!“
Doch Sergey widmete, obwohl er die schwache Stimme des Pädagogen gehört hatte, diesem nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er stand, sich mit der Hand an dem Brustgurt des Portiers anhaltend und ihm ins Gesicht blickend.
„Hat denn Papa auch für ihn gethan, was not thut?“
Der Portier nickte bestätigend mit dem Kopfe.
Ein Beamter, der schon siebenmal bei Aleksey Aleksandrowitsch mit einem Anliegen vorgesprochen hatte, interessierte Sergey und den Portier. Sergey hatte denselben auf dem[116] Vorsaal getroffen und gehört, wie kläglich er den Portier bat, sein Anliegen vorzutragen, und gesagt hatte, daß er mit seinen Kindern werde untergehen müssen.
Seit dieser Zeit interessierte sich Sergey, der dem Beamten noch ein zweites Mal auf dem Vorsaal begegnet war, für diesen.
„Hat er sich denn recht gefreut?“ frug er.
„Wie sollte er sich nicht gefreut haben? Bald gesprungen wäre er, als er von hier fortging.“
„Hat man etwas für uns gebracht?“ — frug Sergey nach einer Pause.
„Nein, Herr,“ antwortete kopfschüttelnd und flüsternd der Portier, „von der Gräfin ist etwas da.“
Sergey ersah sofort, daß das, wovon der Schweizer sprach, ein Geschenk von der Gräfin Lydia Iwanowna zu seinem Geburtstage sein müsse.
„Was sagst du? Wo ist es denn?“
„Korney hat es zu Papa getragen. Es scheint etwas recht Schönes.“
„Wie groß ist es denn? — So?“ — —
„Kleiner, aber was Hübsches.“
„Ein Buch?“
„Nein, ein Spielzeug. Aber geht, geht, Wasiliy Lukitsch wird gleich rufen,“ sagte der Portier, die nahenden Schritte des Gouverneurs vernehmend und behutsam das bis zur Hälfte im abgezogenen Handschuh steckende Händchen, welches ihn noch bei seinem Ledergurt hielt, losmachend.
„Wasiliy Lukitsch, diese Minute!“ antwortete Sergey mit dem nämlichen heiteren und lieblichen Lächeln, welches den seines Amtes beflissenen Wasiliy Lukitsch stets besiegte.
Sergey war in viel zu heiterer und glücklicher Stimmung, als daß er sich mit seinem Freund, dem Portier, nicht erst noch hätte in das freudige Familienereignis teilen sollen, von dem er auf dem Spaziergang im Sommergarten durch die Nichte der Gräfin Lydia Iwanowna erfahren hatte.
Dieses freudige Ereignis erschien ihm besonders wichtig nach dem Zusammentreffen mit dem Glücksfall des Beamten und seiner eigenen Freude darüber, daß man ihm ein Spielzeug[117] gebracht hatte. Sergey schien es, daß heute ein Tag sei, an welchem jedermann glücklich und heiter sein müsse.
„Weißt du, daß Papa den Alexander Newskiy erhalten hat?“
„Warum sollte ich das nicht wissen? Man ist ja schon gekommen, um zu gratulieren.“
„So; freut er sich?“
„Wie sollte man sich über des Zaren Gunst nicht freuen? Das heißt, er hat ihn ja auch verdient,“ sagte der Portier streng und ernst.
Der kleine Sergey wurde nachdenklich, blickte in das von ihm schon bis in die kleinsten Einzelheiten studierte Gesicht des Portiers, insbesondere auf das Kinn, welches zwischen den grauen Backenbärten hing und das niemand außer Sergey je erblickt hatte, da dieser ihn nie anders als von unten herauf anschaute.
„Deine Tochter ist lange nicht bei dir gewesen?“
Die Tochter des Portiers war Balletttänzerin.
„Wie soll sie an den Wochentagen ausgehen können? Die haben auch zu lernen. Und auch Ihr müßt nun lernen, Herr, geht.“ —
In das Zimmer tretend, erzählte Sergey, anstatt sich zur Lektion niederzulassen, seinem Lehrer von seinen Vermutungen darüber, ob das was man für ihn gebracht habe, eine Maschine sein könnte.
„Was meint Ihr dazu?“ frug er.
Wasiliy Lukitsch dachte nur daran, daß ein Lehrer lediglich die Grammatikstunde zu geben habe, welche um zwei Uhr begann.
„Nein, sagt mir nur, Wasiliy Lukitsch,“ frug er plötzlich, schon hinter dem Arbeitstisch sitzend und das Buch in der Hand haltend, „was ist denn noch mehr, als der Alexander Newskiy? Ihr wißt, daß Papa den Alexander Newskiy erhalten hat?“
Wasiliy Lukitsch antwortete, daß der Wladimir höher sei als der Alexander Newskiy.
„Und noch höher?“
„Am höchsten ist der Orden des heiligen Andreas.“
„Und höher noch als der Andreas?“
„Ich weiß es nicht.“
„Was; selbst Ihr wißt das nicht?“ und Sergey versank, sich aufstemmend, in Nachdenken.
Seine Überlegungen waren sehr verwickelt und mannigfaltig. Er überlegte, wie sein Vater plötzlich auch den Wladimir und den Andreasorden erhalten könnte, und wie er infolgedessen heute in der Lektion bei weitem fleißiger sein wolle, und wie er selbst, wenn er erst einmal groß wäre, alle Orden, und auch das, was noch höher als der Andreasorden sei, erhalten wollte. Sobald man einen ausgesonnen hätte, wollte er ihn verdienen; und dächte man ihn noch höher aus, so wollte er ihn sofort auch verdienen.
In solchen Überlegungen verstrich die Zeit, bis der Lehrer kam. Die Lektion über die Umstände der Zeit und des Ortes und den Umstand der Art und Weise saß nicht, und der Lehrer war nicht nur unzufrieden, sondern selbst erzürnt. Der Groll des Lehrers rührte Sergey. Er fühlte sich schuldig, weil er seine Lektion nicht gelernt hatte, aber wie er sich auch bemühen mochte, er konnte es durchaus nicht ermöglichen; so lange der Lehrer ihm Etwas erklärte, überzeugte er sich und schien zu verstehen, doch sobald er allein war, vermochte er sich durchaus nicht mehr zu entsinnen, und zu begreifen, daß das ziemliche kurze und so verständliche Wort „plötzlich“ ein „Umstand der Art und Weise“ sei; allein dennoch that es ihm leid, daß er den Lehrer kränkte.
Er wählte eine Minute, in welcher der Lehrer schweigend in das Buch blickte.
„Michail Iwanitsch, wann wird Euer Namenstag sein?“ frug er plötzlich.
„Ihr dächtet doch besser an Eure Arbeit; die Namenstage haben keinerlei Bedeutung für ein vernünftiges Wesen. Es sind Tage wie alle anderen, an denen man arbeiten muß.“
Der kleine Sergey schaute aufmerksam seinen Lehrer an, dessen spärlichen Bart und die Brille, welche sich unter die Kerbe, die auf der Nase war, gesenkt hatte, und versank so tief in Gedanken, daß er nichts mehr von dem hörte, was der Lehrer ihm erklärte. Er hatte erkannt, daß dieser nicht so dachte, wie er gesprochen hatte; er fühlte dies an dem Tone, in welchem es gesagt worden war.
„Aber warum haben sie sich alle verabredet, dies immer in ein und derselben Weise zu äußern, immer so langweilig und so zwecklos? Warum stößt er mich von sich, warum liebt er mich nicht?“ frug er sich betrübt und konnte keine Antwort finden.
Nach der Lektion seitens des Lehrers folgte eine Stunde beim Vater. Bis dieser erschien, hatte sich Sergey an den Tisch gesetzt, mit seinem Messerchen spielend, und zu grübeln begonnen. Zu der Zahl der Lieblingsbeschäftigungen Sergeys hatte das Aufsuchen seiner Mutter während des Spazierganges derselben gehört. Er glaubte nicht an den Tod überhaupt, und im besonderen nicht an den ihren, soviel ihm auch Lydia Iwanowna davon gesagt und der Vater es bestätigt hatte, und so suchte er sie, auch nachdem man ihm mitgeteilt hatte, daß sie tot sei, noch immer während der Zeit seiner Ausgänge. Jede vollgebaute, graziöse Dame mit dunklem Haar war seine Mutter. Bei dem Anblick einer solchen Dame regte sich in seiner Seele ein Gefühl der Zärtlichkeit, ein Gefühl, daß er tief Atem holte und die Thränen ihm in die Augen traten, und so wartete er denn, daß sie wieder zu ihm kommen und ihren Schleier aufheben möchte. Ihr Gesicht würde wieder sichtbar werden, sie würde wieder lächeln, ihn umarmen, er würde ihren Duft wahrnehmen, die Zartheit ihrer Hand fühlen und glückselig weinen, wie er schon einmal des Abends ihr zu Füßen gefallen war und sie ihn gestreichelt hatte; er aber hatte gelacht und sie in die weiße beringte Hand gebissen. Später, als er dann zufällig von der Kinderfrau erfuhr, daß die Mutter nicht gestorben sei, und sein Vater und Lydia Iwanowna ihm erklärten, sie sei für ihn tot, weil sie nicht gut gewesen — was er durchaus nicht zu glauben vermochte, da sie ihn ja geliebt hatte — so forschte er noch immer nach ihr und wartete auf sie.
Heute nun im Sommergarten war eine Dame in einem lila Schleier gewesen, welcher er mit stockendem Herzen in der Erwartung, sie wäre es, mit den Blicken gefolgt war, während sie auf dem Wege zu ihnen herankam. Die Dame aber hatte sie nicht erreicht, sondern war abgebogen.
Heute nun fühlte Sergey stärker als je die Regungen dieser Liebe zu ihr und völlig sich selbst vergessend in der Erwartung des Vaters, zerschnitt er den ganzen Rand des Tisches mit dem Messerchen, mit blitzenden Augen vor sich hinblickend und ihrer gedenkend.
„Papa kommt,“ riß ihn Wasiliy Lukitsch aus seiner Träumerei. Sergey sprang auf, eilte auf seinen Vater zu, küßte ihm die Hand, und blickte ihn aufmerksam an, nach Kennzeichen der Freude über den Empfang des Alexander Newskiy-Ordens an ihm suchend.
„Hast du einen hübschen Spaziergang gemacht?“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, sich in seinen Lehnstuhl setzend, ein Exemplar des Alten Testamentes heranziehend und es aufschlagend. Ungeachtet dessen, daß Aleksey Aleksandrowitsch Sergey öfter gesagt hatte, jeder Christ müsse die biblische Geschichte sicher kennen, hatte er sich doch öfter mit Hilfe des Buches verbessern müssen, und Sergey hatte dies bemerkt.
„Ja, es war sehr lustig, Papa,“ sagte er, sich seitwärts auf den Stuhl setzend und ihn schaukelnd — was ihm verboten war.
„Ich habe Nadenka gesehen,“ Nadenka war die bei Lydia Iwanowna zur Erziehung befindliche Nichte, „sie hat mir erzählt, daß man Euch einen neuen Stern verliehen hätte. Freut Ihr Euch auch?“
„Zuerst — schaukle nicht, bitte,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, „zweitens eine Belohnung ist nicht kostbar, nur die Arbeit dafür. Ich möchte du verständest dies. Wenn du arbeitest und lernst, zum Zwecke, Früchte dafür zu ernten, so wird dir die Arbeit schwer erscheinen; wenn du aber arbeitest“ — sprach Aleksey Aleksandrowitsch, indem er sich vergegenwärtigte, wie er sich nur durch sein Pflichtbewußtsein bei der langweiligen Arbeit des heutigen Morgens, die in dem Unterschreiben von hundertundachtzehn Papieren bestanden, aufrecht erhalten hatte — „indem du die Arbeit selbst liebst, so wirst du für dich selbst darin eine Belohnung finden.“
Die von Zärtlichkeit und Lust glänzenden Augen Sergeys wurden trübe und senkten sich unter dem Blick des Vaters. Das war der nämliche, ihm längst bekannte Ton, mit dem[121] ihm sein Vater stets begegnete, und dem Sergey schon sich anzubequemen gelernt hatte.
Der Vater sprach stets mit ihm — so fühlte Sergey — als wende er sich an einen für ihn nur in der Vorstellung vorhandenen Knaben, einen Knaben, wie sie nur in Büchern vorkommen, und der dem Sergey vollständig unähnlich war; und Sergey bemühte sich nun stets, sich vor dem Vater zu stellen, als sei er ein ebensolcher Bücherknabe.
„Du verstehst das, hoffe ich?“ sagte dieser.
„Ja, Papa,“ antwortete Sergey, sich stellend, als sei er ein solcher Phantasieknabe.
Die Lektion bestand in dem Auswendiglernen einiger Verse aus dem Evangelium, und der Wiederholung des Anfangs des Alten Testaments. Die Verse des Evangeliums hatte Sergey ordentlich gelernt, aber im selben Augenblick, als er sie hersagte, schaute er auf des Vaters Stirnbein, welches sich so scharf an der Schläfe bog, daß er den Faden verlor und das Ende des einen Verses in einem einzelnen Worte mit dem Anfang des anderen zusammenbrachte. Aleksey Aleksandrowitsch war es klar, daß Sergey nicht verstanden hatte, was er hersagte, und dies reizte ihn.
Er wurde finster und begann wieder das Nämliche zu erklären, was Sergey schon viele Male gehört hatte und nie wieder vergessen konnte, weil er es schon allzu klar erkannt hatte, in der nämlichen Weise, wie dies, daß „plötzlich“ ein Umstand der Art und Weise sei.
Sergey schaute mit erschrecktem Blick auf den Vater und dachte nur an das Eine: Will der Vater wiederholen lassen oder nicht, was er gesagt hatte, wie es doch bisweilen der Fall war? Dieser Gedanke erschreckte Sergey so sehr, daß er nun gar nichts mehr begriff. Der Vater ließ ihn indessen nicht wiederholen und ging zu der Lektion aus dem Alten Testament über. Sergey recitierte die Ereignisse selbst gut, doch als er Fragen darüber beantworten sollte, was einige der Ereignisse bedeuten sollten, wußte er nichts, obwohl er schon wegen dieser Lektion bestraft worden war. Die Stelle, bei welcher er nichts mehr zu antworten wußte und in Unruhe geriet, in den Tisch schnitt oder mit dem Stuhle schaukelte,[122] war die, wo er von den vorsündflutlichen Patriarchen zu sprechen hatte.
Er kannte keinen von ihnen, außer Henoch, der lebendig in den Himmel aufgenommen worden war. Früher hatte er die Namen gewußt, sie jetzt aber ganz und gar vergessen, besonders deshalb, weil Henoch seine Lieblingsgestalt aus dem ganzen Alten Testament war, und sich an dessen Aufnahme bei Lebzeiten in den Himmel eine ganze, lange Reihe von Ideen in seinem Kopfe knüpfte, der er sich auch jetzt hingab, mit den Augen auf der Uhrkette des Vaters und an einem halb zugeknöpften Knopfe der Weste desselben haften bleibend.
An den Tod, von welchem ihm so oft gesprochen wurde, glaubte Sergey nicht so ganz. Er glaubte nicht daran, daß die von ihm geliebten Leute sterben könnten, und insbesondere nicht, daß er selbst sterben würde. Dies war für ihn vollständig unmöglich und unbegreiflich. Doch man sagte ihm, daß alle Menschen sterben müßten; er frug nun selbst die Leute, denen er glaubte, und diese bestätigten es; die Kinderfrau hatte es ihm auch gesagt, wenn schon ungern. Aber Henoch war doch nicht gestorben, und so starben vielleicht nicht alle Menschen.
„Weshalb soll denn nicht jeder sich vor Gott ebenso verdient machen können und lebend in den Himmel aufgenommen werden?“ dachte Sergey. Die Bösen, das heißt, die Menschen, welche Sergey nicht liebte, die konnten sterben, doch die Guten konnten sämtlich sein wie Henoch.
„Nun, welche sind die Patriarchen?“
„Henoch, Henoch“ —
„Aber das hast du ja schon gesagt. Das ist schlecht, Sergey, sehr schlecht. Wenn du dir nicht Mühe giebst, zu erkennen, was das Nötigste ist von allem für den Christen“ — sagte der Vater aufstehend — „was kann dich denn dann noch interessieren? Ich bin unzufrieden mit dir und auch Peter Ignatzitsch“ — dies war der Hauptlehrer — „ist unzufrieden mit dir. Ich muß dich bestrafen.“
Der Vater und der Lehrer waren beide mit Sergey unzufrieden, und in der That hatte dieser sehr schlecht gelernt. Damit ließ sich aber durchaus nicht sagen, daß er ein unbefähigter Knabe gewesen wäre. Im Gegenteil, er war viel[123] fähiger, als diejenigen Knaben, welche der Pädagog Sergey als Muster hinstellte. Vom Gesichtspunkte des Vaters aus wollte er nicht lernen, was jene lernten. In Wirklichkeit aber — konnte er es nicht lernen. — Er konnte es deshalb nicht, weil sein Geist Bedürfnisse hatte, welche für ihn viel bindender waren, als die, welche ihm der Vater und der Erzieher auseinandersetzten. Diese Bedürfnisse bestanden in dem Drang zu widersprechen, und er stritt kühnlich mit seinen Erziehern. Sergey war neun Jahre alt, noch ein Kind, aber seine Seele kannte er und sie war ihm teuer, er hütete sie, wie das Augenlid das Auge schützt, und ohne den Schlüssel der Liebe ließ er niemand in seine Seele hinein!
Seine Erzieher beklagten sich über ihn, daß er nicht lernen wolle, aber seine Seele war erfüllt von dem Durst nach Erkenntnis. Und er lernte bei Kapitonitsch, bei der Kinderfrau, bei Nadenka, bei Wasiliy Lukitsch — aber nicht bei seinen Lehrern. — Das Wasser, welches ihm der Vater und der Erzieher auf die Räder gaben, war schon längst versiegt und arbeitete an einem anderen Platze.
Der Vater bestrafte Sergey, indem er ihn nicht zu Nadenka, der Nichte Lydia Iwanownas ließ, aber diese Bestrafung erschien Sergey sehr gelegen zu kommen. Wasiliy Lukitsch war bei guter Laune und wies ihm, wie man Windmühlen baut. Der ganze Abend verging nun über dieser Arbeit und den Gedanken daran, wie sich eine Windmühle so bauen ließe, daß man sich selbst auf ihr drehen könne, indem man sie mit den Armen bei den Flügeln faßte, oder sich daran festband — und sich drehen ließ. —
An die Mutter dachte er den ganzen Abend nicht, doch als er sich ins Bett legte, fiel sie ihm plötzlich wieder ein und er betete in seinen Worten, daß seine Mutter morgen, zu seinem Geburtstage, nicht mehr länger für ihn verborgen bleiben und zu ihm kommen möchte.
„Wasiliy Lukitsch, wißt Ihr, worum ich noch außer dem Sonstigen gebetet habe?“
„Damit Ihr besser lernt?“
„Nein.“
„Vom Spielzeug?“
„Nein. Ihr ratet es nicht. Es ist ausgezeichnet, aber[124] ein Geheimnis! Wenn es sich erfüllt, sage ich es Euch. Habt Ihr es noch nicht heraus?“
„Nein. Ich rate es nicht. Sagt mirs doch,“ sprach Wasiliy Lukitsch, und lächelte, was bei ihm selten der Fall war. „Doch, legt Euch nur, ich will das Licht auslöschen.“
„Mir ist ohne Licht das, was ich sehe und wovon ich betete, nur noch sichtbarer. Da — beinahe hätte ich jetzt mein Geheimnis verraten!“ — sagte Sergey unter heiterem Lachen.
Nachdem man das Licht fortgebracht hatte, hörte und fühlte Sergey seine Mutter. Sie stand über ihm und koste ihn mit liebevollem Blick, doch da erschienen die Windmühlen, sein Messerchen, alles ging durcheinander, und er schlief ein.
In Petersburg angekommen, waren Wronskiy und Anna in einem der besten Hotels abgestiegen. Wronskiy gesondert, in der unteren Etage, Anna oben, mit ihrem Kinde, der Amme und der Zofe, in einem großen Appartement, welches aus vier Zimmern bestand.
Am ersten Tage nach seiner Ankunft fuhr Wronskiy zu seinem Bruder; woselbst er seine in Geschäften von Moskau angekommene Mutter traf. Die Mutter und Schwägerin begegneten ihm, wie sonst, sie frugen über seine Reise ins Ausland, sprachen von gemeinsamen Bekannten, erwähnten aber mit keinem Worte sein Verhältnis zu Anna. Sein Bruder aber kam am anderen Tage früh zu ihm und frug ihn selbst nach ihr und Aleksey Wronskiy erzählte ihm offen, daß er seinen Bund mit der Karenina gleich einer Ehe betrachte; daß er hoffe, die Scheidung zu erlangen und sie dann heiraten werde und daß er sie bis dahin ebenso als sein Weib achte, wie man jedes andere Weib achte, und bat ihn, dies der Mutter und seiner Gemahlin so mitzuteilen.
„Wenn die Welt es nicht billigt, so ist mir das gleichgültig,“ sagte Wronskiy, „aber wenn meine Verwandten mit mir in verwandtschaftlichen Beziehungen stehen wollen, so müssen sie in den nämlichen Beziehungen auch mit meiner Frau stehen!“
Der ältere Bruder, welcher die Urteile des jüngeren stets geachtet hatte, wußte nicht recht, ob dies richtig oder falsch sei,[125] so lange die Welt selbst die Frage entschieden haben würde. Er seinerseits hatte gar nichts gegen die Sache und ging zusammen mit Aleksey zu Anna.
Wronskiy sagte in Gegenwart seines Bruders, wie in der aller anderen zu dieser „Ihr“, und verkehrte mit Anna wie mit einer nahen Bekannten, aber doch herrschte die stillschweigende Voraussetzung dabei, daß der Bruder ihre Beziehungen kannte und es wurde davon gesprochen, daß Anna nach dem Gute Wronskiys gehe.
Trotz aller seiner Welterfahrung war Wronskiy nach dem Eintritt in das neue Verhältnis, in welchem er sich befand, in einem furchtbaren Irrtum. Wohl hatte es ihm begreiflich erscheinen müssen, daß die Welt für ihn und Anna verschlossen war, aber jetzt entstanden in seinem Kopfe gewisse unklare Vorstellungen, daß es nur in der älteren Zeit so gewesen sei, und jetzt bei dem schnellen Fortschreiten der Zeit — er war jetzt, ohne daß er selbst es merkte, ein Anhänger jeder Art von Fortschritt geworden — der Blick der Gesellschaft sich verändert habe, und daß auch die Frage, ob sie in der Gesellschaft wieder angenommen werden würden, noch nicht entschieden sei. „Natürlich,“ dachte er, „die Hofkreise werden Anna nicht aufnehmen, aber die ihr nahestehenden Leute können und müssen die Sache auffassen, wie es sich gehört.“
Man kann einige Stunden sitzen, die Füße übereinandergeschlagen, und in ein und derselben Stellung, wenn man weiß, daß uns nichts hindert, diese Lage zu verändern; wenn aber ein Mensch weiß, daß er so mit unterschlagenen Beinen sitzen muß, dann befällt ihn der Krampf, die Füße werden zittern und sich nach dem Orte hinziehen, an den man sie bringen möchte.
Dies erfuhr auch Wronskiy an sich bezüglich seiner Stellung zur Welt. Obwohl er auf dem Grund seiner Seele wußte, daß dieselbe für sie beide verschlossen sei, so versuchte er es doch, ob sich die Welt jetzt nicht ändere und sie doch aufnehmen werde. Aber sehr bald wurde er inne, obwohl die Welt für ihn persönlich offen stand, sie doch für Anna verschlossen blieb. Wie bei dem Spiele Katze und Maus, senkten sich die Hände, die vor ihm erhoben wurden, sofort vor Anna.
Eine der ersten Damen der Petersburger Gesellschaft, welche Wronskiy wiedersah, war seine Cousine Betsy.
„Endlich!“ begegnete ihm diese voll Freude. „Und Anna? Wie freue ich mich. Wo seid Ihr abgestiegen? Ich kann mir denken, wie nach Eurer reizenden Reise unser Petersburg Euch schrecklich sein muß; ich kann mir Euren Honigmond in Rom vorstellen. Was wird mit der Scheidung? Habt Ihr alles besorgt?“
Wronskiy bemerkte, daß der Enthusiasmus Betsys sich verringerte, als sie erfahren hatte, daß eine Scheidung noch nicht erfolgt sei.
„Auf mich wird man den Stein werfen, ich weiß es,“ sagte sie, „aber ich werde zu Anna kommen; ja, ich komme sicherlich. Ihr bleibt wohl nur kurze Zeit hier?“
Und in der That, noch am nämlichen Tage kam sie zu Anna gefahren, doch war ihr Ton schon nicht ganz so der nämliche wie früher. Sie war offenbar stolz auf ihre Kühnheit und wünschte, daß Anna die Treue ihrer Freundschaft schätze. Sie blieb nicht länger als zehn Minuten, von den Stadtneuigkeiten sprechend, und sagte beim Abschied: „Ihr habt mir nicht gesagt, wenn die Ehescheidung stattfindet? Gesetzt auch, daß ich meinerseits der Sache durch die Finger sehe, so werden doch die anderen Euch kalt entgegenkommen, so lange Ihr nicht geheiratet habt. Und das geht ja jetzt so leicht. Ça se fait. Ihr reist also Freitag ab? Schade, daß wir uns nicht noch einmal wiedersehen können.“
Am Tone Betsys konnte Wronskiy erkennen, was er von der Welt zu erwarten hatte, er machte aber gleichwohl noch einen Versuch in seiner Familie. Auf seine Mutter hoffte er dabei freilich nicht. Er wußte, daß diese, von Anna in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so entzückt gewesen, ihr gegenüber jetzt unerbittlich hart war, weil sie an der Vernichtung der Carriere ihres Sohnes Schuld trug. Dieser aber setzte große Hoffnungen auf Warja, die Frau seines Bruders. Ihm schien, daß Warja den Stein nicht mit werfen, sondern in ihrer Einfachheit und Entschlossenheit zu Anna kommen und diese auch empfangen würde.
Am Tage nach seiner Ankunft fuhr Wronskiy denn auch[127] zu ihr, und teilte ihr — er traf sie allein an — offen seinen Wunsch mit.
„Du weißt, Aleksander,“ sprach sie, ihn ruhig zu Ende hörend, „wie ich dich liebe, und wie bereit ich bin, alles für dich zu thun; doch ich habe geschwiegen, weil ich wußte, daß ich weder dir, noch Anna Arkadjewna nützlich sein kann,“ sagte sie, den Namen Anna Arkadjewna mit eigentümlicher Betonung aussprechend. „Denke nicht, daß ich etwa einen Tadel äußern will, vielleicht hätte ich an ihrer Stelle ganz das Nämliche gethan. Ich will und kann nicht auf Einzelheiten eingehen,“ fuhr sie fort, zaghaft in sein finsteres Gesicht schauend. „Doch muß man das Ding beim Namen nennen. Du willst, daß ich sie besuche, sie auch empfange, und damit in der Gesellschaft rehabilitiere, aber verstehe wohl, ich kann das ja nicht thun! Meine Töchter wachsen heran und ich muß in der Welt für meinen Mann leben. Nun komme ich zu Anna Arkadjewna; diese wird ihrerseits begreifen, daß ich sie nicht zu mir einladen kann, oder es dann wenigstens so thun müßte, daß sie nicht Leuten begegnet, die andere Anschauungen haben. Das aber wird sie verletzen! Ich kann ihr nicht aufhelfen.“
„Ich kann aber nicht glauben, daß sie tiefer gefallen sein sollte, als Hunderte von Frauen, die Ihr empfangt,“ unterbrach sie Wronskiy noch düsterer, und erhob sich schweigend in der Erkenntnis, daß das Urteil seiner Schwägerin unabänderlich sei.
„Aleksey! Sei nur nicht bös! Beherzige, bitte, daß ich nicht schuld bin,“ begann Warja wieder, mit schüchternem Lächeln auf ihn blickend.
„Ich zürne dir nicht,“ sagte er, noch ebenso finster, „aber mir ist das doppelt schmerzlich. Mir ist noch schmerzlich, daß dieser Umstand unsere Freundschaft zerstört, oder wenn nicht zerstört, so doch schwächt. Du begreifst, daß dies für mich ja auch nicht anders sein kann.“
Mit diesen Worten verließ er sie.
Wronskiy hatte erkannt, daß weitere Versuche vergeblich sein würden, und er diese wenigen Tage in Petersburg so zu verleben hätte, wie in einer fremden Stadt, indem er alle Beziehungen zu der früheren Gesellschaft mied, um sich nicht[128] Unannehmlichkeiten und Kränkungen aussetzen zu müssen, die ihm doch so peinlich waren.
Eine der hauptsächlichsten Unannehmlichkeiten seiner Lage in Petersburg war die, daß Aleksey Aleksandrowitsch und sein Name, wie es schien, überall zu finden war. Man konnte von nichts zu sprechen anfangen, ohne daß das Gespräch auf Aleksey Aleksandrowitsch kam, man konnte nirgendshin fahren, ohne ihm zu begegnen. So schien es wenigstens Wronskiy, indem er sich wie ein Mensch mit einem schlimmen Finger vorkam, der, als wäre es absichtlich, gerade mit diesem schlimmen Finger an alles anstößt.
Der Aufenthalt in Petersburg erschien Wronskiy auch noch dadurch um so schwerer, als er während dieser ganzen Zeit in Anna gleichsam ein neues, ihm unverständliches Geschöpf erblickte. Bald war sie wie verliebt in ihn, bald wurde sie kalt, reizbar und unergründlich. Sie litt eine Qual und verbarg Etwas vor ihm; bemerkte aber wie es schien, die Kränkungen nicht, die ihm das Leben vergifteten, und für sie mit ihrem feinen Wahrnehmungsvermögen, doch nur noch qualvoller sein mußten.
Unter den Zwecken, welche der Reise nach Rußland zu Grunde lagen, war für Anna auch der des Wiedersehens mit ihrem Sohne. Seit dem Tage, seit welchem sie Italien verlassen, hatte dieser Gedanke nicht aufgehört, sie in Aufregung zu erhalten, und je näher sie Petersburg kam, desto mehr und immer mehr erschien vor ihr das Freudige und Bedeutungsvolle dieses Wiedersehens. Sie legte sich gar nicht die Frage vor, wie sie dieses Wiedersehen bewerkstelligen wollte. Es erschien ihr ganz natürlich und einfach, daß sie ihren Sohn wiedersah, wenn sie mit demselben in einer und derselben Stadt sich befand; allein nach ihrer Ankunft in Petersburg, zeigte sich plötzlich ihre jetzige Stellung in der Gesellschaft klar vor ihr, und sie erkannte, daß es schwierig sei, das Wiedersehen zu ermöglichen.
Bereits zwei Tage war sie in Petersburg. Der Gedanke an den Sohn verließ sie nicht eine Minute, und noch hatte sie ihn nicht gesehen. Geradenwegs in das Haus zu fahren,[129] wo sie mit Aleksey Aleksandrowitsch zusammentreffen konnte, dazu, sie fühlte es, besaß sie nicht das Recht. Man konnte sie vielleicht gar nicht einlassen und sie beleidigen. Zu schreiben und sich mit ihrem Manne in Verbindung zu setzen, war ihr schon dem Gedanken nach peinlich. Sie vermochte nur dann ruhig zu bleiben, wenn sie ihres Mannes gar nicht gedachte. Den Sohn auf dem Spaziergange zu sehen, nachdem sie sich erkundigt hatte, wohin und wann er ausgehe, war ihr nicht genug; sie hatte sich so sehr auf dieses Wiedersehen vorbereitet, sie hatte ihm soviel zu sagen, es verlangte sie so sehr, ihn in ihre Arme zu schließen, ihn zu küssen. Die alte Amme Sergeys konnte ihr behilflich sein und sie benachrichtigen. Aber diese befand sich nicht mehr im Hause Aleksey Aleksandrowitschs. In solcher Ungewißheit und unter Erkundigungen nach der Amme waren die zwei Tage vergangen.
Nachdem Anna von den nahen Beziehungen Aleksey Aleksandrowitschs zur Gräfin Lydia Iwanowna vernommen hatte, entschloß sie sich am dritten Tage, dieser einen Brief zu schreiben, der ihr viel Überwindung kostete, und in welchem sie mit Vorbedacht sagte, daß der Entscheid darüber, ob sie ihren Sohn sehen könne, von der Großmut ihres Mannes abhängen müsse. Sie wußte, daß wenn man den Brief ihrem Manne wies, dieser ihr, seine Rolle des Großmütigen weiterspielend, keinen abschlägigen Bescheid geben würde.
Der Bote, welcher den Brief hingetragen hatte, überbrachte ihr die so harte und unerwartete Nachricht, daß es keine Antwort gebe.
Noch nie hatte sie sich so erniedrigt gefühlt, als in dieser Minute, als sie, den Boten kommen lassend, von diesem die einfache Mitteilung vernahm, daß er gewartet habe, und man ihm endlich gesagt hätte, es würde keine Antwort erteilt werden. Anna fühlte sich gedemütigt, verletzt, aber sie erkannte, daß von ihrem Gesichtspunkt aus die Gräfin Lydia Iwanowna recht habe. Ihr Schmerz war um so größer, als er ein vereinsamter war. Sie konnte und wollte ihn nicht mit Wronskiy teilen. Sie wußte, daß für ihn, obwohl er doch die Hauptursache ihres Unglücks bildete, die Frage ihres Wiedersehens mit ihrem Kinde von höchst geringer Bedeutung sei. Sie wußte, daß er niemals fähig sein werde, ihre Leiden in deren[130] ganzer Tiefe zu verstehen, sie wußte, daß sie ihn wegen eines kühlen Tones bei Erwähnung der Sache würde hassen müssen. Dies aber fürchtete sie über alles in der Welt, und so verbarg sie vor ihm alles, was ihren Sohn betraf.
Den ganzen Tag über zu Haus verweilend, hatte sie die Mittel erwogen, zu einem Wiedersehen mit ihrem Sohne, und war bei dem Entschluß stehen geblieben, an ihren Mann zu schreiben. Sie setzte den Brief noch auf, als ihr das Schreiben Lydia Iwanownas gebracht wurde. Das Schweigen der Gräfin hatte sie beruhigt und besänftigt, das Schreiben aber, und alles das, was sie zwischen den Zeilen desselben las, versetzte sie in solche Erbitterung, erschien ihr, gegenüber ihrer leidenschaftlichen natürlichen Zärtlichkeit für ihr Kind so aufreizend in seiner Gehässigkeit, daß sie gegen andere gereizt wurde und aufhörte, sich selbst anzuklagen.
„Diese Kälte — diese Gefühlsheuchelei!“ sagte sie zu sich selbst. „Ihnen war es ein Bedürfnis, mich zu beleidigen und das Kind zu foltern, und ich soll mich vor ihnen demütigen! Um keinen Preis! Sie ist schlechter, als ich! Ich lüge wenigstens nicht!“ —
Und nun entschloß sie sich, morgen, am Geburtstage Sergeys, geradenwegs in das Haus Aleksey Aleksandrowitschs zu fahren, die Leute zu bestechen und List anzuwenden, um — koste es was es wolle — den Sohn wiederzusehen und den ungeheuerlichen Trug, mit welchem man das unglückliche Kind umgeben hatte, zu zerstreuen.
Sie fuhr nach einem Spielwarenladen, kaufte Spielzeug und überlegte sich ihren Operationsplan. Frühmorgens, um acht Uhr, wenn Aleksey Aleksandrowitsch, wahrscheinlich, noch nicht aufgestanden war, wollte sie sich hinbegeben; sie wollte Geld nehmen, es dem Portier und dem Diener in die Hände drücken, damit man sie einlasse, und wollte, ohne den Schleier zu lüften, sagen, sie käme von einem Paten Sergeys, um diesem zu gratulieren, und ihr sei aufgetragen, Spielzeug auf das Bett des Kindes zu legen. Sie bereitete sich nicht auf die Worte vor, welche sie zum Sohne sprechen wollte — soviel sie auch darüber nachdachte, sie vermochte nichts auszudenken.
Am andern Tage um acht Uhr morgens, stieg Anna[131] allein aus der Mietkutsche und läutete an der großen Einfahrt ihres ehemaligen Hauses.
„Sieh nach, was man will. Wer die Dame ist,“ sagte Kapitonitsch, noch nicht angekleidet, im Überrock und Kaloschen, indem er durch das Fenster nach der Dame blickte, die von einem Schleier bedeckt, dicht vor der Thür stand. Der Gehilfe des Portiers, ein Anna nicht bekannter, junger Bursch, hatte dieser nicht sobald die Thür geöffnet, als sie schon in dieselbe hineintrat, ein Dreirubelpapier aus dem Muff nahm und es ihm in die Hand drückte.
„Sergey — Sergey Aleksandrowitsch,“ sprach sie und wollte voranschreiten. Der Gehilfe des Portiers besah das Rubelpapier, hielt sie aber an der zweiten Glasthür fest.
„Was wollt Ihr?“ frug er.
Sie hörte weder seine Worte, noch antwortete sie etwas.
Als Kapitonitsch die Verwirrung der Unbekannten bemerkte, kam er selbst zu ihr, ließ sie in die Thür herein und frug, was ihr gefällig wäre.
„Vom Fürsten Skorodumoff komme ich und will zu Sergey Aleksandrowitsch,“ sprach sie.
„Der junge Herr ist noch nicht aufgestanden,“ antwortete der Portier, sie aufmerksam betrachtend.
Anna hatte durchaus nicht erwartet, daß das vollständig unverändert gebliebene Äußere des Vorzimmers dieses Hauses, in welchem sie neun Jahre gelebt hatte, so mächtig auf sie einwirken würde. Eine nach der anderen, erhoben sich frohe und trübe Erinnerungen in ihrer Seele und für einen Augenblick hatte sie vergessen, weshalb sie hier war.
„Wollt Ihr gefälligst warten?“ sagte Kapitonitsch, ihr den Pelz abnehmend. Nachdem er den Pelz abgenommen hatte, blickte er ihr ins Gesicht, erkannte sie und machte schweigend eine tiefe Verbeugung. „Bitte gefälligst, gnädigste Frau,“ sagte er zu ihr.
Sie wollte etwas erwidern, doch versagte ihr die Stimme, so daß sie keinen Ton hervorzubringen vermochte. Wie schuldbewußt bittend, blickte sie den Alten an, und stieg dann mit schnellen Schritten die Treppe hinauf. Ganz vorgebeugt und mit den Kaloschen an den Stufen hängen bleibend, lief Kapitonitsch ihr nach im Bemühen, ihr zuvorzukommen.
„Der Lehrer ist dort, er ist vielleicht nicht angekleidet. Ich muß erst melden.“
Anna ging weiter die ihr bekannte Treppe hinauf, ohne zu verstehen, was der Alte gesprochen hatte.
„Hierher, bitte links. Entschuldigt, daß alles noch unsauber ist. Der junge Herr ist jetzt im früheren Diwanzimmer,“ sagte der Portier keuchend. „Gestattet, geduldet Euch ein wenig, Excellenz, ich will nachsehen,“ sagte er, öffnete, vor sie tretend, die hohe Thür und verschwand in derselben. Anna blieb stehen und wartete.
„Er ist soeben erwacht,“ sagte der Portier, wieder aus der Thür kommend.
Im nämlichen Augenblick, als der Portier dies sagte, hörte Anna den Klang eines kindlichen Gähnens. Schon an der Stimme dieses Gähnens erkannte sie den Sohn und sie sah ihn wie lebendig vor sich.
„Laß mich hinein, laß mich, laß mich!“ sprach sie und trat durch die hohe Thür. Rechts von derselben stand das Bett, und im Bett saß der Knabe, welcher sich aufgerichtet hatte, im halbgelösten Hemdchen, den kleinen Körper vorgebeugt, sich streckend und ausgähnend.
Im Augenblick, als seine Lippen sich schlossen, kräuselten sie sich zu einem glücklichen traumhaften Lächeln, und mit diesem Lächeln legte er sich langsam und zufrieden wieder zurück.
„Mein Sergey!“ flüsterte sie, unhörbar an ihn herantretend.
Während ihrer Trennung von ihm, und unter dem Einfluß der Liebe, welche sie in dieser ganzen letzten Zeit empfunden, hatte sie sich ihn als vierjährigen Knaben, so wie sie ihn am liebsten gehabt hatte, vorgestellt.
Jetzt war er schon nicht einmal mehr so, wie sie ihn verlassen hatte. Er hatte sich noch weiter entfernt vom Alter des Vierjährigen, war noch mehr gewachsen und magerer geworden. — Was war das? — Wie hager erschien sein Gesicht, wie kurz war sein Haar? Wie lang seine Hände! Wie hatte er sich verändert seit jener Zeit, da sie ihn verlassen! Aber er war es doch, mit dieser Form seines Kopfes, seinen Lippen, dem geschmeidigen Hals und den breiten kleinen Schultern.
„Sergey!“ wiederholte sie dicht über dem Ohr des Kindes.
Dieser erhob sich wiederum auf den Ellbogen, wandte den Kopf verwirrt nach beiden Seiten, als suche er etwas und öffnete die Augen. Still und fragend blickte Sergey einige Sekunden auf die unbeweglich vor ihm stehende Mutter, dann lächelte er plötzlich, glückselig, schloß wiederum die noch schlaftrunkenen Augen, und warf sich, nicht mehr zurück, sondern ihr entgegen, in ihre Arme.
„Sergey! Geliebter Knabe!“ sprach sie mit erstickter Stimme, mit beiden Armen den blühenden Körper umfangend.
„Mama!“ sagte er, sich regend in ihren Armen, um mit wechselnden Stellen seines Leibes ihre Arme berühren zu können.
Schlaftrunken lächelnd, noch immer mit geschlossenen Augen, faßte er mit den runden Ärmchen von der Bettlehne nach ihren Schultern, und warf sich auf sie, jenen lieblichen Schlafduft, jene Wärme von sich ausströmend, die nur bei Kindern da ist, und begann dann, sein Gesicht an ihrem Hals und ihren Schultern zu reiben.
„Ich wußte es,“ sagte er, die Augen öffnend. „Heute ist mein Geburtstag. Ich wußte es, daß du kommen würdest. Sogleich werde ich aufstehen.“
Mit diesen Worten kam er zu sich.
Voll Sehnsucht betrachtete ihn Anna; sie sah, wie er gewachsen war und sich in ihrer Abwesenheit verändert hatte. Sie erkannte und erkannte auch nicht seine nackten Füße, die jetzt so groß geworden waren und aus der Bettdecke hervorschauten, sie erkannte diese hager gewordenen Wangen, diese verschnittenen, kurzen Haarlocken im Nacken, auf welchen sie ihn so oft geküßt hatte. Sie befühlte alles dies und vermochte nichts zu sprechen; die Thränen erstickten sie.
„Weshalb weinst du denn Mama?“ sagte er, vollständig aus dem Schlafe erwacht. „Mama, weshalb weinst du?“ rief er aus mit weinerlicher Stimme.
„Ich weine nicht; ich weine vor Freude; ich habe dich so lange nicht gesehen. Nein, ich werde nicht, werde nicht weinen,“ sagte sie, ihre Thränen verschluckend und sich abwendend. „Nun, jetzt mußt du dich aber ankleiden,“ fügte sie, sich aufrichtend hinzu, und setzte sich, ohne seine Hände loszulassen,[134] neben seinem Bett auf einen Stuhl, auf welchem sein Anzug bereit lag.
„Wie kleidest du dich ohne mich an? Wie“ — wollte sie natürlich und heiter zu sprechen beginnen, aber sie vermochte es nicht, und wandte sich abermals ab.
„Ich wasche mich nicht in kaltem Wasser. Papa hat es nicht gestattet. Aber Wasiliy Lukitsch, den hast du wohl noch nicht gesehen? Er wird gleich kommen. Du hast dich ja auf mein Kleid gesetzt!“
Sergey lachte auf; sie blickte ihn an und lächelte.
„Mama, mein Herz, meine Taube!“ rief er aus, sich wieder ihr entgegenwerfend und sie umfangend. Es war, als ob er jetzt erst, indem er ihr Lächeln erblickte, klar erkannt hätte, was vorgefallen sei. „Das ist nicht nötig,“ sagte er, ihr den Hut abnehmend, und gleichsam, als ob er sie aufs neue ohne den Hut erkännte, warf er sich abermals ihr entgegen, um sie zu küssen.
„Aber was hast du von mir gedacht? Du hast nicht gemeint, daß ich tot sei?“
„Niemals habe ich es geglaubt.“
„Du hast es nicht geglaubt, mein Herz?“
„Ich habe gewußt, gewußt!“ wiederholte er mit seiner Lieblingsphrase, und begann, nachdem er ihre Hand ergriffen, die mit seinem Haar spielte, sie mit der inneren Fläche an seinen Mund zu pressen und zu küssen.
Wasiliy Lukitsch, welcher anfangs nicht begriff, wer diese Dame da war, und erst aus dem Gespräch erkannte, dies sei jene selbe Mutter, welche ihren Gatten verlassen, und die er nicht kannte, da er erst nach ihrem Scheiden dieses Haus betreten hatte, befand sich in Zweifel, ob er eintreten oder Aleksey Aleksandrowitsch Mitteilung machen sollte. Nachdem er aber erwogen hatte, daß seine Verpflichtung nur darin bestehe, bei Sergey zur bestimmten Stunde zu inspizieren, und er demgemäß keine Beobachtungen anzustellen habe, wer dort saß, die Mutter oder jemand anderes, sondern nur seine Pflicht erfüllen müsse, so kleidete er sich an, trat zur Thür und öffnete sie.
Aber die Liebkosungen zwischen Mutter und Kind, der Klang ihrer Stimmen und das, was sie sprachen, ließ ihn doch noch seinen Entschluß ändern. Er schüttelte den Kopf, seufzte und schloß die Thür wieder.
„Ich werde noch zehn Minuten warten,“ sagte er zu sich selbst, hustend und sich Thränen abwischend.
In der Dienerschaft des Hauses war mittlerweile eine mächtige Bewegung entstanden. Alle hatten erfahren, daß die Herrin angekommen sei, und Kapitonitsch sie eingelassen habe, daß sie sich jetzt in der Kinderstube befinde, während sich doch der Herr selbst stets in der neunten Stunde dorthin begebe; und alle erkannten, daß eine Begegnung der beiden Gatten unmöglich war, und verhindert werden müsse.
Korney, der Kammerdiener, begab sich in die Portierloge und frug, wer die Dame eingelassen habe, und wie dies zugegangen sei, und als er gehört hatte, daß Kapitonitsch sie empfangen und hereingeleitet habe, machte er dem Alten Vorwürfe. Dieser hörte mit hartnäckigem Schweigen zu, als ihm aber Korney sagte, daß man ihn deswegen davonjagen müßte, sprang Kapitonitsch auf ihn zu und sagte, mit den Händen vor Korneys Gesicht fuchtelnd:
„Ja, du hättest sie freilich nicht eingelassen! Ich habe zehn Jahre hier gedient und nichts als Liebes gesehen, du aber wärest gekommen und hättest gesagt ‚bitte, gefälligst hinaus!‘ — Du verstehst die Politik fein! So ist es! Du scheinst auf deine Weise schon zu verstehen, wie man einen Herrn für sich einnimmt und den Mantel nach dem Winde hängt!“
„Ein Soldat!“ erwiderte Korney verächtlich, und wandte sich zu der eintretenden Amme: „Urteilt Ihr, Marja Jesimowna: Er hat die Gnädige eingelassen, ohne jemandem etwas davon zu sagen,“ wandte sich Korney zu ihr.
„Aleksey Aleksandrowitsch wird sogleich erscheinen und nach der Kinderstube gehen.“
„Was giebt es da für Auseinandersetzungen,“ sagte diese, „Ihr Korney Wasiljewitsch, habt ihn irgendwo ein wenig zurückzuhalten, den Herrn nämlich, und ich laufe sogleich, um die gnädige Frau irgendwie beiseite zu bringen. Sind das Auseinandersetzungen!“ —
Als die Kinderfrau in die Kinderstube trat, erzählte Sergey[136] der Mutter gerade, wie er mit Nadenka vom Berge herab, beim Eisfahren gefallen sei und daß sich dabei beide dreimal umkugelt hätten. Sie lauschte den Klängen seiner Stimme, sah sein Gesicht und das Spiel seiner Mienen, sie fühlte seine Hand, aber sie verstand nicht, was er sprach.
„Ich muß fort, und ihn verlassen,“ das allein nur dachte und fühlte sie noch. Sie vernahm wohl die Schritte Wasiliy Lukitschs, der zur Thür schritt, und hustete, sie vernahm wohl die Schritte der nahenden Kinderfrau, aber sie saß, wie zu Stein geworden, und nicht bei Kräften zu sprechen oder aufzustehen.
„Gnädige Frau, meine Liebe!“ begann die Amme, sich Anna nähernd, und ihr Hände und Schultern küssend. „Gott hat unserem Geburtstagskinde Freude gebracht. Ihr habt Euch doch gar nicht verändert.“
„Ach, Amme, du Gute, ich habe gar nicht gewußt, daß Ihr noch im Hause seid,“ sagte Anna, für eine Minute zur Besinnung kommend.
„Ich wohne nicht hier, sondern bei meiner Tochter, und bin nur gekommen, um zu gratulieren, Anna Arkadjewna, meine Teure.“
Die Amme brach plötzlich in Thränen aus und küßte von neuem die Hand der Herrin.
Sergey hielt sich, mit glänzenden Augen lächelnd, mit der einen Hand an seiner Mutter, mit der anderen an der Amme an und stampfte mit den wohlgenährten Füßchen auf den Teppich. Die Zärtlichkeit der geliebten Amme gegen seine Mutter versetzte ihn in Entzücken.
„Mama! Sie kommt oft zu mir, und wenn sie kommt“ — wollte er beginnen, hielt aber inne, als er bemerkte, daß seine Amme der Mutter etwas zuflüsterte, und auf deren Gesicht sich Schrecken auspräge, und etwas wie Scham, was der Mutter so gar nicht zu Gesicht stand.
Diese kam zu ihm.
„Mein Liebling,“ sprach sie.
Sie konnte nicht sagen, „lebewohl“, aber der Ausdruck ihres Gesichts sagte es, und er verstand.
„Mein süßer, lieber Kleiner!“ sagte sie zu ihm und nannte ihn mit einem Kosenamen, mit welchem sie ihn als er noch[137] ganz klein gewesen, zu rufen pflegte, „wirst du mich auch nicht vergessen? Du“ — doch weiter vermochte sie nicht zu sprechen.
Soviel Worte sie sich auch später noch ausdachte, die sie ihm hätte sagen können — jetzt wußte und vermochte sie nichts zu sagen. — Sergey aber verstand alles, was sie ihm mitteilen wollte. Er verstand, daß sie unglücklich sei und ihn liebte. Er verstand sogar, was die Amme flüsternd gesprochen hatte. Hörte er doch die Worte: „Stets in der neunten Stunde“; und er begriff, daß damit sein Vater gemeint sei, und die Mutter mit dem Vater nicht zusammentreffen dürfe. Dies verstand er; Eins aber konnte er nicht begreifen: weshalb sich auf ihrem Antlitz Schrecken und Scham gezeigt hatte! Sie war nicht schuldig, und fürchtete ihn doch und empfand Scham über Etwas. Er wollte eine Frage stellen, die ihm diesen Zweifel hätte aufklären können, wagte es aber nicht zu thun. Er sah, daß sie litt, und empfand Mitleid mit ihr. Schweigend schmiegte er sich an sie und sprach flüsternd:
„Geh' noch nicht. Er kommt noch nicht gleich.“
Die Mutter schob ihn von sich, um zu erkennen, ob er auch so denke, wie er gesprochen hatte, und las aus dem erschreckten Ausdruck seines Gesichts, daß er nicht nur von dem Vater gesprochen habe, sondern sie sogar gleichsam frage, wie er wohl über seinen Vater denken solle.
„Sergey, mein Herzblatt,“ sagte sie, „liebe ihn, er ist besser und edler als ich, und ich trage eine Schuld vor ihm. Wenn du einmal groß bist, dann wirst du urteilen können.“
„Bessere Menschen als dich giebt es nicht!“ rief er voll Verzweiflung, durch Thränen hindurch, faßte sie an den Schultern, und begann sie aus allen Kräften an sich zu pressen mit vor Anstrengung bebenden Armen.
„Meine Seele, mein liebes Kind!“ sagte Anna, und begann, hingerissen, so nach Kinderart zu weinen, wie er selber weinte.
Da öffnete sich die Thür und Wasiliy Lukitsch trat ein.
An der anderen Thür wurden Schritte vernehmbar, und entsetzt flüsterte ihr die Amme zu „er kommt“ und reichte Anna den Hut.
Sergey ließ sich auf sein Bett sinken und begann zu schluchzen, das Gesicht mit den Händen bedeckend. Anna[138] nahm diese Hände weg, küßte ihm noch einmal das bethaute Antlitz und ging schnellen Schrittes zur Thür hinaus.
Aleksey Aleksandrowitsch trat ihr in den Weg. Als er sie erblickt hatte, blieb er stehen und beugte den Kopf.
Ungeachtet dessen, daß sie soeben erst gesagt hatte, er sei besser und edler als sie, erfaßten sie bei dem schnellen Blick, den sie auf ihn warf, seine ganze Erscheinung mit allen ihren Einzelheiten umfangend, die Gefühle des Widerwillens gegen ihn; der Wut und des Neides um den Sohn. Mit schneller Bewegung ließ sie den Schleier fallen, und eilte fast, ihren Schritt verdoppelnd, aus dem Zimmer.
Sie war nicht dazu gekommen, die Geschenke herauszunehmen, die sie mit so großer Liebe und so großem Schmerz gestern im Laden gekauft hatte, und brachte sie wieder mit nach Hause.
So sehr wie Anna auch ein Wiedersehen mit ihrem Sohne gewünscht hatte, so lange sie auch nur hieran gedacht, sich nur hierauf vorbereitet hatte, so hatte sie doch keineswegs erwartet, daß dieses Wiedersehen eine so mächtige Wirkung auf sie ausüben würde.
Zurückgekehrt in ihre einsamen Appartements im Hotel, konnte sie lange nicht fassen, warum sie eigentlich hier sei.
„Ja; das ist alles vorüber und ich bin wieder allein,“ sagte sie zu sich und setzte sich, ohne den Hut abzulegen, auf einen am Kamin stehenden Sessel. Mit unbeweglichen Augen auf die Bronzeuhr blickend, welche auf dem Tische zwischen den Fenstern stand, begann sie zu sinnen.
Die französische Zofe, die mit aus dem Auslande gebracht worden war, trat ein, um sie anzukleiden. Verwundert blickte sie dieselbe an und sagte nur „später“. Der Lakai brachte den Kaffee; sie sagte nur „später“. Die italienische Amme, die das kleine Mädchen geputzt hatte, trat mit demselben ein und brachte es Anna. Das dicke, wohlgenährte Kind hob, wie stets, wenn es die Mutter sah, die nackten mit Bändern umspannten Händchen, die Handflächen nach unten, und begann, mit dem noch zahnlosen Mündchen lächelnd, wie ein Fisch an der Angel mit den Händchen zu arbeiten, und mit[139] ihnen an den gesteiften Falten des gestickten Jäckchens zu scheuern.
Man mußte unwillkürlich lächeln und das Kindchen küssen, man mußte ihm einen Finger vorhalten, an dem es anfassen konnte, jauchzend und mit dem ganzen Körper in Bewegung. Man konnte nicht umhin, ihm die Lippe darzubieten, die es anstatt eines Kusses in das Mündchen nahm. Und alles das that Anna, und sie nahm das Kind auf ihre Arme und ließ es hüpfen, und küßte es auf die frische Wange und die entblößten Ärmchen, aber bei dem Anblick dieses Kindes wurde es ihr nur noch klarer, daß das Gefühl, welches sie für dasselbe hegte, nicht einmal Liebe war im Vergleich zu dem, was sie für Sergey fühlte. Alles an diesem kleinen Mädchen war lieblich, aber alles das fand keinen Eingang in ihr Herz. Auf ihrem ersten Kinde — hatte sie es auch gleich von einem ungeliebten Manne — ruhte alle Kraft jener Liebe, die keine Befriedigung gefunden hatte; das Mädchen war unter den schwierigsten Verhältnissen geboren worden, und auf dasselbe war nicht der hundertste Teil der Sorgfalt verwendet worden, wie auf das erste Kind; außerdem war bei diesem Mädchen alles noch Erwartung, Sergey hingegen schon fast wahrhaft Mensch und ein geliebter Mensch; in ihm kämpften bereits Gedanken und Gefühle miteinander. Er begriff und liebte, er beurteilte sie, wie sie meinte, indem sie seiner Worte und Blicke gedachte. Und doch war sie auf immer nicht nur körperlich, sondern auch geistig von ihm getrennt, ließ sich nichts mehr besser gestalten.
Sie gab das kleine Mädchen der Amme zurück, entließ diese, und öffnete ein Medaillon, in welchem ein Porträt Sergeys war, ihn darstellend, als er noch fast das nämliche Alter hatte, wie das kleine Mädchen jetzt. Sie stand auf und nahm, ihren Hut ablegend, von einem kleinen Tische ein Album, in welchem sich Photographieen ihres Sohnes aus anderen Lebensaltern befanden. Sie wollte diese Photographieen vergleichen, und begann sie aus dem Album herauszunehmen; sie nahm sie alle heraus, nur eine einzige, die letzte und beste, war noch übrig. In weißem Hemd saß er darauf auf einem Stuhle, machte böse Augen und lächelte mit dem Munde. Dies war ein ganz eigentümlicher Ausdruck,[140] der ihm am besten stand. Mit den kleinen, flinken Händen, die sich jetzt besonders angespannt mit ihren weißen, schmalen Fingern bewegten, hatte sie mehrmals an die Ecke des Bildes geklopft, aber das Bild war losgerissen und sie konnte es nicht erlangen. Ein Messer befand sich nicht auf dem Tische, und sie nahm daher eine Photographie, welche daneben stand — es war ein in Rom gefertigtes Bild Wronskiys, welches ihn in rundem Hut und langen Haaren darstellte — und stieß damit das Bild ihres Sohnes heraus.
„Das ist ja er!“ sagte sie, auf das Bild Wronskiys blickend, und sich plötzlich vergegenwärtigend, wer die Ursache ihres jetzigen Harmes sei. Sie hatte noch nicht ein einziges Mal während dieses ganzen Morgens an ihn gedacht. Jetzt aber, als sie dieses männliche, edle, ihr so vertraute und liebe Gesicht wieder erblickte, empfand sie plötzlich eine unerwartete Regung der Liebe zu ihm. „Aber wo bleibt er denn? Läßt er mich allein mit meinem Leiden?“ dachte sie mit einem Gefühl des Vorwurfs, und vergaß dabei, daß sie selbst vor ihm doch alles verborgen hielt, was ihren Sohn betraf. Sie sandte zu ihm mit der Bitte, doch sogleich zu ihr zu kommen; mit stockendem Herzen, sich die Worte vergegenwärtigend, mit denen sie ihm alles sagen wollte, und die Worte seiner Liebe, mit welchen er sie trösten würde, erwartete sie ihn. Der Bote kam mit dem Bescheid zurück, der Herr habe Besuch, würde aber sofort kommen; Wronskiy hatte befohlen, bei ihr anzufragen, ob sie ihn zusammen mit dem Fürsten Jaschwin, der nach Petersburg gekommen sei, empfangen könne.
„Er kommt nicht allein, und hat mich doch seit dem gestrigen Mittag nicht gesehen,“ dachte sie, „er kommt nicht allein, daß ich ihm alles sagen kann, sondern mit Jaschwin.“ Und plötzlich tauchte ein seltsamer Gedanke in ihr auf. „Wie wenn er aufgehört hätte, sie zu lieben?“
Und indem sie die Vorkommnisse der letzten Tage musterte, schien ihr, als ob sie in allem eine Bestätigung dieses entsetzlichen Gedankens sehe; schon darin, daß er gestern nicht zu Haus zu Mittag gespeist hatte, daß er darauf bestanden hatte, sie möchten in Petersburg getrennt logieren, wie darin, daß er jetzt nicht einmal allein zu ihr kam, gerade als ob[141] er einem Wiedersehen Auge in Auge mit ihr aus dem Wege gehen wollte.
„Aber er muß mir dies sagen. Ich muß es wissen; und so bald ich es weiß, dann weiß ich auch, was ich zu thun habe,“ sagte sie zu sich, ohne Fähigkeit, sich die Lage vorzustellen, in welche sie kommen würde, wenn sie sich von seiner Gleichgültigkeit überzeugte. Sie glaubte, er habe aufgehört, sie zu lieben, sie fühlte sich der Verzweiflung nahe, und infolge dessen besonders reizbar. Sie schellte der Zofe und begab sich nach dem Ankleidezimmer. Beim Ankleiden beschäftigte sie sich mehr als während der letztvergangenen Tage mit ihrer Toilette, als ob Wronskiy sie, wenn er sie nicht mehr lieben sollte, deshalb von neuem lieben müsse, weil sie diese Robe und jene Frisur, die ihr besser standen, trug.
Sie hörte die Glocke, noch bevor sie fertig war. Als sie in den Salon trat, begegnete nicht er, sondern Jaschwin ihrem Blick. Jaschwin betrachtete die Photographieen ihres Sohnes, die sie auf dem Tische vergessen hatte, und er beeilte sich nicht eben, den Blick nach ihr zu wenden.
„Wir sind ja Bekannte,“ sagte sie, ihre kleine Hand in die große Jaschwins legend, der in Verwirrung geraten war — was sich bei dem riesigen Wuchs und dem derben Gesicht desselben sonderbar genug ausnahm. — „Wir sind Bekannte seit dem vorigen Jahre, von den Rennen. Gebt doch her,“ sagte sie, mit schneller Bewegung die Bilder des Sohnes, die er ansah, vor Wronskiy wegnehmend, und ihn bedeutungsvoll mit den blitzenden Augen anschauend. „Waren im gegenwärtigen Jahre die Rennen gut? Anstatt der unsrigen, habe ich die Rennen auf dem Corso in Rom gesehen. Ihr liebt übrigens wohl nicht das Leben im Ausland?“ frug sie mit freundlichem Lächeln. „Ich kenne Euch, und kenne alle Eure Geschmacksrichtungen, obwohl ich Euch wenig begegnet bin.“
„Das thut mir sehr leid, da meine Geschmacksrichtungen immer schlechter werden,“ sagte Jaschwin, sich in seinen linken Schnurrbart beißend.
Nachdem er noch einige Zeit geplaudert und bemerkt hatte, daß Wronskiy nach der Uhr blickte, frug Jaschwin sie, ob sie noch lange in Petersburg bleiben werden und griff, seine mächtige Gestalt einknickend, ans Käppi.
„Wahrscheinlich nicht mehr lange,“ sagte sie voll Verwirrung, auf Wronskiy blickend.
„So sehen wir uns also nicht wieder?“ antwortete Jaschwin, aufstehend und sich an Wronskiy wendend, „wo speisest du?“
„Kommt, mit mir zu dinieren,“ sagte Anna entschlossenen Tones, gleichsam erzürnt über sich selbst wegen ihrer Verlegenheit, aber errötend, wie dies stets bei ihr der Fall war, wenn sie vor einer ihr nicht vertrauten Persönlichkeit ihre Meinung äußerte. „Das Essen ist hier nicht gut, aber Ihr könnt ihn doch wenigstens wiedersehen. Aleksey liebt von allen seinen Kameraden aus dem Regiment keinen so, wie Euch.“
„Sehr erfreut,“ sagte Jaschwin mit einem Lächeln, aus dem Wronskiy ersah, daß ihm Anna sehr gefiel.
Jaschwin empfahl sich und ging, Wronskiy blieb allein zurück.
„Du gehst auch?“ sagte sie.
„Ich habe mich schon verspätet,“ antwortete er, „geh! Ich komme dir sogleich nach!“ rief er Jaschwin nach.
Sie nahm ihn bei der Hand und blickte ihn, ohne das Auge abzuwenden, an, in ihren Gedanken suchend, was sie ihm sagen sollte, um ihn zurückzuhalten.
„Warte, ich habe dir etwas zu sagen,“ seine kleine Hand nehmend, preßte sie dieselbe an ihren Hals, „nicht wahr, es thut nichts, daß ich ihn zum Essen geladen habe?“
„Das hast du ganz recht gemacht,“ sagte er, mit ruhigem Lächeln seine engstehenden Zähne zeigend und ihre Hand küssend.
„Aleksey, du bist nicht anders geworden gegen mich?“ sprach sie, mit beiden Händen seine Rechte drückend. „Aleksey, ich quäle mich hier ab, wann reisen wir?“
„Bald, bald. Du kannst nicht glauben, wie auch mir das Leben hier schwer ist,“ sagte er, seine Hand ausstreckend.
„Nun so geh, geh,“ sagte sie verletzt und ging schnell von ihm hinweg.
Als Wronskiy heimkehrte, war Anna noch nicht wieder da. Bald nach ihm war, wie man ihm sagte, eine Dame angekommen und mit dieser zusammen sei sie weggefahren.
Daß sie weggefahren war, ohne gesagt zu haben wohin, was bei ihr bis jetzt noch nicht der Fall gewesen war, daß sie noch an diesem Morgen ausgefahren, ohne ihm etwas davon zu sagen — alles das, zusammen mit dem seltsam aufgeregten Ausdruck ihres Gesichts heute früh und mit der Erinnerung an die feindselige Haltung, mit welcher sie in Gegenwart Jaschwins die Bilder ihres Sohnes fast seinen Händen entrissen hatte, stimmte ihn nachdenklich.
Er schloß, daß es notwendig sei, sich mit ihr auszusprechen, und er erwartete sie nun in ihrem Salon. Anna kehrte indessen nicht allein zurück, sondern brachte ihre Tante mit sich, eine alte Jungfer, die Fürstin Oblonskaja. Das war die Dame, welche heute früh angekommen und mit welcher Anna Einkäufe zu machen ausgefahren war.
Anna schien den besorgten und fragenden Ausdruck der Züge Wronskiys nicht zu bemerken, und berichtete ihm heiter, was sie heute Morgen gekauft habe. Er sah, daß in ihr etwas Besonderes vorgehe; denn in ihren blitzenden Augen lag, wenn sie sich auf ihn im Vorübergleiten hefteten, eine gespannte Aufmerksamkeit, und in ihrer Rede, in ihren Bewegungen jene nervöse Schnelligkeit und Grazie, die ihn in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so bestrickt hatte, jetzt aber beunruhigte und erschreckte.
Das Diner wurde für Vier gedeckt. Alle waren bereits versammelt, um in das kleine Speisezimmer zu gehen, als Tuschkjewitsch mit einem Auftrag für Anna von der Fürstin Betsy ankam. Die Fürstin Betsy bat um Entschuldigung, daß sie nicht gekommen sei, um Abschied zu nehmen. Sie fühle sich unwohl, bat aber Anna, zwischen halb acht und neun Uhr zu ihr zu kommen. Wronskiy blickte Anna an bei dieser Zeitbestimmung, welche bewies, daß Maßregeln getroffen waren, sie niemandem begegnen zu lassen, doch schien dies Anna gar nicht zu bemerken.
„Sehr schade, daß ich gerade zwischen halb acht und neun Uhr nicht kann,“ sagte sie mit leisem Lächeln.
„Die Fürstin wird das sehr bedauern.“
„Auch ich.“
„Ihr wollt wahrscheinlich die Patti hören?“ sagte Tuschkjewitsch.
„Die Patti? Ihr gebt mir da einen guten Gedanken ein. Ich würde hinfahren, wenn es möglich wäre, eine Loge zu erhalten.“
„Ich kann sie erhalten,“ brüstete sich Tuschkjewitsch.
„Ach, da würde ich Euch recht sehr dankbar sein,“ antwortete Anna, „aber wollt Ihr nicht mit uns speisen?“
Wronskiy zuckte kaum merklich die Achsel; er verstand absolut nicht, was Anna that. Weshalb brachte sie diese alte Fürstin mit, weshalb veranlaßte sie Tuschkjewitsch, mitzuspeisen, und, was am wunderbarsten war, weshalb schickte sie ihn nach einer Loge? War es denn denkbar, daß sie in ihrer Lage in das Abonnement der Patti fuhr, wo die gesamte, ihr bekannte Welt zugegen sein würde? Mit ernstem Blick schaute er sie an, doch sie antwortete ihm mit jenem herausfordernden, weniger heiteren, als verzweifelten Blick, dessen Bedeutung er nicht verstehen konnte. Bei Tische war sie provozierend heiter, sie kokettierte fast mit Tuschkjewitsch und Jaschwin. Als man vom Tische aufstand und Tuschkjewitsch wegfuhr, um die Loge zu bestellen, während Jaschwin ging, um zu rauchen, begab sich Wronskiy mit letzterem zusammen hinweg in seine Zimmer. Nachdem er einige Zeit hier verweilt hatte, eilte er wieder nach oben. Anna hatte sich schon in eine hellseidene Toilette mit Samt geworfen, die für sie in Paris gefertigt worden war, mit offener Brust und kostbaren weißen Spitzen auf dem Kopfe, die ihr Gesicht einrahmten, und ihre blendende Schönheit besonders vorteilhaft hervorhob.
„Ihr fahrt bestimmt zum Theater?“ sagte er, sie geflissentlich nicht ansehend.
„Weshalb fragt Ihr so voll Furcht?“ antwortete sie, aufs neue verletzt davon, daß er sie nicht anblickte, „weshalb sollte ich nicht?“ —
Sie schien den Sinn seiner Worte gar nicht zu verstehen.
„Natürlich, nicht die geringste Ursache, warum man es nicht thun sollte,“ antwortete er finster werdend.
„Das sage ich eben auch,“ versetzte sie, mit Absicht keine Ironie in ihren Ton legend, und ruhig den schmalen, duftenden Handschuh umwendend.
„Anna, um Gott! Was ist mit Euch?“ frug er, sie zur Besinnung bringend, ganz ebenso, wie einst ihr Mann zu ihr gesprochen hatte.
„Ich verstehe nicht, wonach Ihr fragt.“
„Ihr wißt, es ist unmöglich ins Theater zu fahren.“
„Warum? Ich fahre ja nicht allein. Die Fürstin Barbara geht, um sich anzukleiden, sie wird mit mir fahren.“
Er zuckte die Schultern mit dem Ausdruck der Unentschlossenheit und Verzweiflung.
„Aber wißt Ihr denn nicht“ — begann er.
„Ich will nichts wissen!“ schrie sie fast auf. „Ich will nicht! Bereue ich denn, was ich gethan habe? Nein, nein, und aber nein! Und geschähe wieder das Nämliche, von Anfang an, so wäre es wieder so. Für uns, für mich und Euch ist nur Eines von Wichtigkeit: ob wir uns gegenseitig lieben! — Andere Erwägungen giebt es nicht! Wozu wohnen wir hier gesondert und sehen uns nicht? Warum kann ich nicht ins Theater fahren? Ich liebe dich und mir ist alles gleich,“ sprach sie russisch, mit jenem eigenartigen, unverständlichen Glanz der Augen auf ihn blickend, „wenn du dich nicht verändert hast. Warum schaust du mich nicht an?“
Er blickte sie an. Er sah die ganze Schönheit ihres Gesichts, dieser Toilette, die ihr stets so gut zu Gesicht stand. Aber jetzt war gerade ihre Schönheit und Eleganz das, was ihn betroffen machte.
„Meine Empfindungen können sich nicht ändern; Ihr wißt es, aber ich bitte Euch, nicht dorthin zu fahren, ich beschwöre Euch,“ sprach er, wieder auf französisch, und mit zärtlicher Bitte in der Stimme, aber Kälte im Blick.
Sie hörte seine Worte nicht, sondern sah nur die Kälte des Blicks und antwortete gereizt:
„Ich bitte Euch nur, mir zu erklären, warum ich nicht fahren soll.“
„Weil es Euch Ursache werden könnte zu“ — er blieb stecken.
„Ich verstehe nichts. Jaschwin n'est pas compromettant und die Fürstin Barbara ist in nichts schlechter, als die anderen. — Da ist sie ja!“ —
Wronskiy empfand zum erstenmale ein Gefühl des Verdrusses, fast des Zornes über Anna, wegen ihres absichtlichen Mißverstehens ihrer Situation. Dieses Gefühl verstärkte sich noch dadurch, daß er ihr die Ursache seines Verdrusses nicht aussprechen konnte. Hätte er ihr offen mitgeteilt, was er dachte, dann hätte er ihr gesagt: „In dieser Toilette sich mit der jedermann bekannten, unverheirateten Fürstin im Theater zu zeigen — hieß nicht nur die Lage eines gefallenen Weibes selbst eingestehen, sondern auch, der Welt eine Herausforderung zuschleudern, oder, mit anderen Worten, sich für immer von dieser lossagen.“
Dies konnte er ihr nicht sagen. „Aber wie kann sie es nicht verstehen, und was geht in ihr vor?“ sagte er zu sich. Er fühlte, wie sich zu ein und derselben Zeit seine Achtung vor ihr verminderte, während die Erkenntnis ihrer Schönheit in ihm wuchs.
Finster kehrte er nach seinem Zimmer zurück und befahl, sich zu Jaschwin setzend, welcher seine langen Beine auf einen Stuhl gestreckt hatte und einen Cognac mit Selterwasser trank, ihm das Nämliche zu bringen.
„Du sagst, der Moguschtschij Lankowskiys. Das ist ein gutes Pferd, ich rate dir, es zu kaufen,“ sagte Jaschwin, das finstere Gesicht des Kameraden musternd. „Er hat zwar ein Hängekreuz — aber seine Füße und der Kopf — etwas besseres kann man nicht verlangen!“
„Ich denke, daß ich ihn kaufen werde,“ antwortete Wronskiy.
Das Gespräch über die Pferde beschäftigte ihn zwar, aber er vergaß nicht eine Minute Annas, unwillkürlich dem Klange der Schritte auf dem Korridor lauschend, und nach der Uhr auf dem Kamin blickend.
„Anna Arkadjewna hat befohlen zu melden, daß sie ins Theater gefahren ist.“
Jaschwin stürzte noch ein Glas Cognac mit Sodawasser hinunter, stand auf und knöpfte sich zu.
„Nun, fahren wir?“ sagte er, fein lächelnd unter dem Schnurrbart, und mit diesem Lächeln zeigend, daß er den Grund der Mißstimmung Wronskiys begreife, derselben aber keine Bedeutung beimesse.
„Ich werde nicht mitfahren,“ versetzte Wronskiy.
„Ich aber muß; ich habe es versprochen. Nun denn, auf Wiedersehen. Kommst du in den Klub? Du kannst Krusinskijs Platz nehmen,“ sagte er im Gehen noch.
„Nein, ich habe Geschäfte.“
„Mit einem Weibe hat man schon Sorgen, aber mit einer, die nicht unser Weib ist, ist es noch schlimmer,“ dachte Jaschwin, das Hotel verlassend.
Wronskiy, allein geblieben, erhob sich vom Stuhle und begann im Zimmer auf und abzuschreiten.
„Was ist denn heute? Das vierte Abonnement. Jegor ist mit seiner Frau dort und meine Mutter wahrscheinlich. Das heißt, ganz Petersburg ist da. Jetzt kommt sie nun, legt den Pelz ab und tritt in die Gesellschaft. Tuschkjewitsch, Jaschwin und die Fürstin Barbara,“ malte er sich aus, „und ich? Entweder fürchte ich mich, oder ich habe meine Protektion über sie an Tuschkjewitsch abgetreten. Wie man die Sache auch betrachten mag — sie ist dumm, dumm! — Aber warum bringt sie mich nur in diese Lage?“ sagte er, mit der Hand ausschlagend.
Mit dieser Bewegung traf er den kleinen Tisch, auf welchem das Selterswasser und eine Caraffe mit Cognac stand und stieß ihn fast um. Er wollte ihn halten, ließ ihn aber fallen, und voll Verdruß stieß er ihn mit dem Fuße um. Er schellte.
„Wenn du bei mir dienen willst,“ sagte er zu dem eintretenden Kammerdiener, „so merke dir deinen Dienst. Daß dies nicht wieder vorkommt! Du hast Ordnung zu machen.“
Der Kammerdiener, welcher sich schuldlos fühlte, wollte sich rechtfertigen, mit einem Blick auf seinen Herrn aber gewahrte er an dessen Miene, daß er hier nur zu schweigen habe, und ließ sich, geschäftig zusammengekrümmt, auf den[148] Teppich nieder, auf dem er die ganz gebliebenen und die zerbrochenen Gläser und Flaschen zusammenzulesen anfing.
„Das ist nicht deine Arbeit, geh, der Diener kann das zusammenlesen, lege mir meinen Frack bereit!“ —
Wronskiy ging halb neun Uhr ins Theater. Die Vorstellung war in vollem Gange.
Der Theaterdiener, ein kleiner Alter, nahm Wronskiy den Pelz ab und begrüßte ihn, nachdem er ihn wiedererkannt hatte, mit „Eure Durchlaucht;“ schlug ihm vor, lieber nicht eine Nummer zu nehmen, und rief einfach Fjodor. In dem hellen Korridor war niemand außer dem Theaterdiener und zwei Lakaien mit Pelzen auf den Armen, die an der Thüre horchten. Aus einer verschlossenen Thür heraus waren die Klänge des vorsichtigen Accompagnements des Orchesters in staccato hörbar, sowie die einer weiblichen Stimme, welche ausgezeichnet ein Recitativ vortrug. Die Thür öffnete sich, den Theaterdiener durchlassend und der Satz, welcher zu Ende ging, traf klar ans Ohr Wronskiys. Die Thür schloß sich indessen sofort wieder und Wronskiy hörte das Ende und die Kadenz nicht mehr, nahm aber an dem dröhnenden Beifallsklatschen durch die Thür heraus wahr, daß die Schlußkadenz zu Ende sei.
Als er in den hell von Lustres und bronzenen Gasarmen erleuchteten Saal trat, dauerte der Lärm noch fort. Auf der Scene stand eine Sängerin, schimmernd in ihren entblößten Schultern und ihren Brillanten, sich verbeugend und lächelnd, und sammelte mit Hilfe ihres Tenors, der sie an der Hand führte, die ungeschickt über die Rampe geworfenen Bouquets auf, wobei sie zu einem Herrn, mit einem Scheitel in der Mitte der pomadeglänzenden Haare, welcher sich mit langen Armen mit einem Gegenstande über die Rampe beugte, trat, und das gesamte Publikum im Parterre wie in den Logen, voller Bewegung, sich vorbeugte, rief und klatschte.
Der Kapellmeister auf seinem erhöhten Platze half bei der Übergabe des Gegenstandes und ordnete dann seine weiße Krawatte. Wronskiy trat in die Mitte des Parterre und begann, stehen bleibend, Umschau zu halten. Weniger als je, widmete er seine Aufmerksamkeit der bekannten, gewohnten[149] Umgebung, der Bühne, und diesem Lärm, dieser ganzen, wohlbekannten, bunten Schar der Zuschauer in dem dichtbesetzten Theater, die ihn nicht interessierten.
Dieselben gewissen Damen mit den gewissen Offizieren waren da wieder im Hintergrund der Logen; dieselben buntfarbigen Damen, Gott weiß wer sie waren, und Uniformen und Röcke, der nämliche schmutzige Haufe auf dem Paradies oben, und in dieser ganzen Masse, in den Logen, dem ersten Rang befanden sich nur einige vierzig „wirkliche“ Herren und Damen. Nach dieser Oase richtete sich sogleich Wronskiys Augenmerk und sogleich war auch er mit ihr in Beziehung getreten.
Der Akt war zu Ende, als er eintrat, und daher schritt er, ohne in die Loge seines Bruders zu treten, bis zur ersten Reihe, und blieb an der Rampe bei Serpuchowskoy stehen, welcher, das eine Knie geknickt und mit dem Absatz gegen die Rampe klappend, ihn schon von weitem erblickt hatte, und ihn mit einem Lächeln zu sich rief.
Wronskiy hatte Anna noch nicht wahrgenommen; er blickte absichtlich nicht nach der Seite, auf der sie war, doch sah er schon an der Richtung der Blicke, wo sie sich befand. Verstohlen blickte er um sich, suchte sie aber nicht. Das Schlimmste erwartend, suchte er mit den Augen Aleksey Aleksandrowitsch; doch zu seinem Glück war derselbe für diesmal nicht im Theater.
„Wie wenig vom Soldaten ist doch an dir geblieben,“ sagte Serpuchowskoy. „Diplomat, Artist — das wäre so Etwas für dich.“
„Ja, ja, als ich nach Haus kam, zog ich den Frack an,“ sagte Wronskiy lächelnd, langsam sein Augenglas nehmend.
„Ich beneide dich eigentlich, offen gestanden darin. Stets, wenn ich aus dem Ausland heimkehre, und dies wieder anlege,“ sagte er, seine Epauletten berührend, „dann thut es mir leid um die Freiheit.“
Serpuchowskoy hatte schon längst seine Erwartungen bezüglich einer dienstlichen Wirksamkeit Wronskiys aufgegeben, liebte diesen aber noch wie früher, und war jetzt besonders liebenswürdig gegen ihn.
„Schade, daß du dich zu dem ersten Akte verspätet hast.“
Wronskiy, der nur mit halbem Ohr zuhörte, ließ sein Glas über die Bel-Etage gleiten und musterte die Logen. Neben einer Dame im Turban und einem kahlköpfigen Alten, der zornig in dem Glase des auf ihn gerichteten Krimstechers blinzelte, erblickte Wronskiy plötzlich den Kopf Annas, stolz, frappierend in seiner Schönheit, lächelnd in der Umrahmung der Spitzen. Sie saß nur zwanzig Schritte von ihm von vorn, und sprach, leicht gewendet, zu Jaschwin etwas. Die Haltung ihres Kopfes auf den schönen breiten Schultern und der verhalten herausfordernde Glanz ihrer Augen und ihres ganzen Antlitzes erinnerte ihn ganz an sie, wie er sie ebenso auf dem Balle in Moskau erblickt hatte. Jetzt aber empfand er diese Schönheit ganz anders. In seinem Gefühl für sie lag nichts Geheimnisvolles mehr, und daher zog ihn zwar ihre Schönheit selbst stärker noch als früher an, zugleich damit aber bereitete sie ihm jetzt auch Schmerz. Sie schaute nicht in der Richtung nach ihm, aber Wronskiy fühlte, daß Anna ihn schon gesehen hatte.
Als Wronskiy das Glas abermals nach jener Richtung bewegte, bemerkte er, daß die unverheiratete Fürstin Barbara auffallend rot aussah, unnatürlich lachte und unaufhörlich nach der Nachbarloge blickte. Anna hingegen, die den Fächer zusammengelegt hatte und mit ihm auf den roten Sammet klopfte, schaute in unbestimmter Richtung, und sah nicht, oder wollte offenbar nicht sehen, was in der Nachbarloge vorging. Auf dem Gesicht Jaschwins lag jener Ausdruck, den es annahm, wenn er verspielt hatte. Mürrisch nahm er tiefer und tiefer seinen linken Schnurrbart in den Mund und schielte nach der gleichen Nachbarloge hinüber.
In dieser, ihnen zur Linken, befanden sich die Kartasoff. Wronskiy kannte sie, und wußte auch, daß Anna mit ihnen bekannt war. Die Kartasowa, ein mageres, kleines Weib, stand in ihrer Loge, und warf, mit dem Rücken gegen Anna gewandt, einen ihr von ihrem Gatten gereichten Überwurf um. Ihr Gesicht sah blaß und böse aus und sie sprach in erregtem Tone. Kartasoff, ein dicker, kahlköpfiger Herr, schaute Anna fortwährend an und bemühte sich dabei, seine Frau zu besänftigen. Nachdem diese gegangen war, zögerte er noch lange, suchte mit seinen Augen den Blick Annas und wollte[151] sie offenbar grüßen. Anna jedoch, die ihn offenbar absichtlich nicht bemerkte, hatte sich rückwärts gewandt und sprach zu Jaschwin, der sich zu ihr mit seinem frisierten Kopfe herniederbeugte. Kartasoff ging, ohne grüßen zu können, und die Loge stand leer.
Wronskiy erkannte nicht, was zwischen den Kartasoff und Anna vorgefallen sei, aber er begriff, daß etwas für Anna Erniedrigendes geschehen war.
Er erkannte dies schon an dem, was er wahrnahm, und vor allem an dem Gesicht Annas, die — er wußte es — ihre letzten Kräfte zusammennahm, um die einmal übernommene Rolle zu Ende zu führen. Diese Rolle, die äußerlich Ruhige zu spielen, gelang ihr vollständig. Wer sie und ihre Kreise nicht kannte, nicht alle die Äußerungen des Bedauerns, des Unwillens und der Verwunderung seitens der Frauen darüber hörte, daß sie sich erlaubt hatte, in der Welt zu erscheinen und sich mit ihrem Spitzenschmuck und ihrer Schönheit so bemerkbar zu machen, die bewunderten die Ruhe und Schönheit dieser Frau und ahnten nicht, daß sie die Empfindungen eines Menschen in sich trug, der an den Schandpfahl gestellt ist.
In der Gewißheit, daß Etwas vorgefallen sei, aber ohne zu wissen was, fühlte Wronskiy eine quälende Unruhe und begab sich, in der Hoffnung, etwas darüber erfahren zu können, nach der Loge seines Bruders. Absichtlich einen der Loge Annas gegenüberliegenden Gang im Parterre wählend, stieß er im Hinausgehen mit seinem früheren Regimentskommandeur, der mit zwei Bekannten sprach, zusammen. Wronskiy hörte, daß der Name der Karenin genannt wurde, und bemerkte, wie der Regimentskommandeur sich beeilte, laut den Namen Wronskiys zu nennen, indem er die Sprechenden anblickte.
„Ah, Wronskiy! Wann kommst du denn einmal zum Regiment? Wir können dich nicht ohne ein Fest fortlassen. Du bist unser Stammhalter,“ sagte der Regimentskommandeur.
„Es thut mir sehr leid, ein ander Mal,“ sagte Wronskiy und eilte die Treppe hinauf in die Loge seines Bruders.
Die alte Gräfin, die Mutter Wronskiys, mit ihren stahlblauen Haarlocken befand sich in derselben. Warja und[152] die Fürstin Sorokina begegneten ihm auf dem Korridor der Bel-Etage.
Nachdem Warja die Fürstin Sorokina zu ihrer Mutter geführt hatte, reichte sie ihrem Schwager die Hand, und begann dann sogleich mit ihm über das zu sprechen, was ihn interessierte. Sie war so aufgeregt, wie er sie nur selten gesehen hatte.
„Ich finde, daß dies niedrig und gemein ist, und Madame Kartasowa dazu nicht das geringste Recht hatte. Madame Kartasowa“ — begann sie.
„Aber was ist denn? Ich weiß gar nicht“ —
„Wie, du hast nicht gehört?“
„Du hörst wohl, daß ich der Letzte bin, der also davon erfährt.“
„Giebt es wohl ein schlechteres Geschöpf, als diese Kartasowa.“
„Aber was hat sie denn gethan?“
„Mir hat es mein Mann erzählt — sie hat die Karenina beleidigt. Ihr Mann hatte mit dieser über die Loge hinüber gesprochen, und die Kartasowa ihm darauf eine Scene gemacht. Sie hat, wie er mir erzählt, sich laut in kränkender Weise ausgesprochen und ist dann gegangen.“
„Graf, Mama läßt Euch rufen,“ sagte die Fürstin Sorokina, aus der Thür der Loge blickend.
„Ich warte schon lange auf dich,“ sprach die Mutter zu ihm, sarkastisch lächelnd. „Man sieht dich ja gar nicht mehr.“
Der Sohn erkannte, daß sie ein Lächeln der Freude nicht unterdrücken konnte.
„Guten Tag, Maman; ich kam eben zu Euch,“ sagte er kühl.
„Warum gehst du denn nicht, faire la cour à madame Karènine?“ fügte sie hinzu, als die Fürstin Sorokina weggetreten war. „Elle fait sensation. On oublie la Patti pour elle.“ —
„Maman, ich bat Euch, nur nicht hiervon zu sprechen,“ antwortete er sich verfinsternd.
„Ich spreche nur das, was alle sprechen.“
Wronskiy erwiderte nichts, und ging wieder, nachdem er der Fürstin Sorokina noch einige Worte gesagt hatte. In der Thür begegnete er seinem Bruder.
„Ah, Aleksey,“ sagte dieser. „Welche Niedrigkeit! Diese Närrin — weiter ist sie nichts! Ich wollte soeben zu ihr gehen. Komm, wir gehen zusammen.“ —
Wronskiy hörte ihn nicht. Mit schnellen Schritten stieg er hinunter; er empfand, daß er etwas thun müsse, wußte aber nicht, was. Sein Verdruß über Anna, daß sie sich und ihn in eine so schiefe Lage gebracht hatte, doch auch das Mitleid mit ihr wegen ihrer Leiden, versetzten ihn in Aufregung. Er ging hinunter ins Parterre und schritt geradenwegs auf den Platz Annas zu. Neben diesem stand Stremoff, der sich mit ihr unterhielt.
„Tenöre giebt es eben nicht mehr. Le moule en est brisé!“
Wronskiy verneigte sich vor ihr und blieb stehen, Stremoff begrüßend.
„Ihr scheint spät gekommen zu sein und die besten Arien nicht gehört zu haben,“ sagte Anna zu Wronskiy, ihn spöttisch anblickend, wie ihm schien.
„Ich bin ein schlechter Kritiker,“ antwortete er, streng auf sie schauend.
„Wie der Fürst Jaschwin,“ sagte sie lächelnd, „welcher findet, daß die Patti zu laut singt. Ich danke Euch,“ mit der kleinen Hand im hohen Handschuh einen von Wronskiy aufgehobenen Theaterzettel nehmend; und plötzlich, in diesem Augenblick, erbebten ihre schönen Züge. Sie stand auf und begab sich in die Tiefe der Loge.
Als Wronskiy bemerkt hatte, daß im folgenden Akt ihre Loge leer war, ging er, während sich in dem bei den Tönen einer Kavatine stillgewordenen Theater ein Zischeln erhob, aus dem Parterre und fuhr heim.
Anna war schon zu Haus. Als Wronskiy bei ihr eintrat, befand sie sich noch in der Toilette, in welcher sie im Theater gewesen war. Sie saß auf dem nächsten an der Wand stehenden Lehnstuhl und starrte vor sich hin. Sie blickte ihn an und nahm dann ihre frühere Stellung wieder ein.
„Anna!“ sagte er.
„Du, du bist schuld an allem!“ rief sie unter Thränen der Verzweiflung und der Wut in der Stimme, und erhob sich.
„Ich habe dich gebeten, dich beschworen, nicht zu fahren; ich habe gewußt, daß es dir unangenehm werden würde“ —
„Unangenehm!“ rief sie, — „entsetzlich! So lange ich lebe, werde ich dies nicht vergessen! — Sie hat gesagt, es sei entehrend, neben mir sitzen zu müssen!“ —
„Die Worte eines thörichten Weibes,“ sagte er, „aber wozu mußtest du dazu herausfordern?“
„Ich hasse deine Ruhe! Du durftest mich nicht so weit bringen. Wenn du mich geliebt hättest“ —
„Anna! Wozu hier eine Frage nach meiner Liebe“ —
„Ja, wenn du mich liebtest, wie ich dich liebe, wenn du dich martertest, wie ich mich martere“ — sprach sie, mit dem Ausdruck des Entsetzens auf ihn blickend.
Es that ihm wehe um sie, und dennoch empfand er auch Verdruß. Er versicherte sie seiner Liebe, weil er sah, daß nur dies allein sie jetzt beruhigen konnte, und machte ihr keine Vorwürfe mit Worten; wohl aber tadelte er sie in seinem Innern.
Und jene Versicherungen der Liebe, die ihm so niedrig erschienen, daß es ihm schwer ankam, sie auszusprechen, sog sie in sich ein und wurde etwas ruhiger. Am andern Tage fuhren beide, vollständig ausgesöhnt, auf das Land.
Darja Aleksandrowna verbrachte den Sommer mit den Kindern in Pokrowskoje bei ihrer Schwester Kity Lewina.
Auf ihrem Gute war das Wohnhaus gänzlich in Verfall geraten, und Lewin mit seiner Gattin hatten ihr zugeredet, den Sommer bei ihnen zuzubringen.
Stefan Arkadjewitsch billigte dieses Arrangement sehr; er drückte sein Bedauern darüber aus, daß der Dienst ihn verhindere, den Sommer mit der Familie zusammen auf dem Dorfe zu verleben, was für ihn das höchste Glück bilde, und kam, in Moskau bleibend, nur selten für einen Tag oder für zwei auf das Land.
Außer den Oblonskiys mit all ihren Kindern und der Gouvernante war bei Lewins während dieses Sommers noch die alte Fürstin, welche es für ihre Pflicht hielt, ihre unerfahrene Tochter im Auge zu behalten, die sich in gewissen Umständen befand. Weiterhin hatte auch Warenka, die Freundin Kitys, von dem Aufenthalt im Auslande her ihr Versprechen erfüllt, zu Kity zu kommen, wenn diese verheiratet sein würde, und war jetzt bei ihrer Freundin zu Besuch.
Alles waren Verwandte und Freunde der Frau Lewins, aber obgleich dieser sie alle lieb hatte, war es ihm doch einigermaßen leid um seine „Lewinsche Welt“ und die Ordnung, welche durch diese Überschwemmung mit dem „Schtscherbazkischen Element“, verschlungen worden war, wie er sich selbst sagte. Von Verwandten seiner Linie weilte in diesem Sommer nur Sergey Iwanowitsch zu Besuch da, und auch dieser war kein Mensch von Lewins, sondern von Koznyscheffschem Schlag, so daß Lewins geistige Sphäre vollständig unterdrückt war.
In Lewins so lange verödet gewesenem Hause befanden sich jetzt so viel Menschen, daß fast alle Räume besetzt waren, und fast jeden Tag kam es vor, daß die alte Fürstin, wenn sie bei Tische sitzend alles überzählte, den dreizehnten, Enkel oder Enkelin, an einen besonderen kleinen Tisch setzen mußte. Auch für Kity, die sich sorgsam mit der Hauswirtschaft befaßte, gab es nicht wenig Sorge um die Beschaffung der Hühner, Kapaunen und Enten, welche bei dem Sommerappetit der Gäste und der Kinder zahlreich verbraucht wurden.
Die ganze Familie saß bei Tische. Die Kinder Dollys machten mit der Gouvernante und Warenka Pläne, wohin sie Pilze suchen gehen wollten. Sergey Iwanowitsch, welcher im Kreise sämtlicher Gäste einen Respekt vor seinem Geist und seiner Gelehrsamkeit genoß, der fast bis zur Verehrung ging, sah alles in die Unterhaltung von den Pilzen vertieft.
„Aber mich nehmt Ihr doch auch mit Euch. Ich gehe sehr gern Pilze suchen,“ sagte er, Warenka anblickend, „und finde, daß das ein sehr hübscher Zeitvertreib ist.“
„Nun, wir werden uns sehr freuen,“ antwortete Warenka errötend. Kity wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Dolly. Der Vorschlag des gelehrten und geistreichen Sergey Iwanowitsch, mit Warenka Pilze suchen zu wollen, stützte gewisse Vermutungen in Kity, welche diese in jüngster Zeit lebhaft beschäftigt hatten. Schnell begann sie mit ihrer Mutter zu sprechen, damit ihr Blick nicht bemerkt werden möchte.
Nach Tisch setzte sich Sergey Iwanowitsch mit seiner Tasse Mokka an das Fenster im Salon, ein mit dem Bruder begonnenes Gespräch fortsetzend und dabei nach der Thür blickend, zu welcher die Kinder hinausgehen mußten, die sich fertig machten, in die Pilze zu gehen.
Lewin saß auf dem Fenster bei seinem Bruder, Kity stand neben ihrem Manne, sichtlich auf das Ende des für sie nicht interessanten Gesprächs wartend, um ihm etwas mitzuteilen.
„Du hast dich sehr verändert, seit du verheiratet bist, und zwar zu deinem Vorteil,“ sagte Sergey Iwanowitsch, Kity zulächelnd und augenscheinlich von der Unterhaltung wenig interessiert, „aber du bist deiner Leidenschaft, die paradoxesten Themen zu verteidigen, getreu geblieben.“
„Katja, es ist für dich nicht gut, zu stehen,“ sagte der[157] Gatte zu ihr, einen Stuhl heranschiebend und sie bedeutungsvoll anschauend.
„Ah; ich habe übrigens gar keine Zeit mehr,“ fügte Sergey Iwanowitsch hinzu, die hinauseilenden Kinder erblickend.
Allen voran, von seitwärts im Galopp mit den drallsitzenden Strümpfchen, ein Körbchen und den Hut Sergey Iwanowitschs schwingend, kam Tanja gerade auf letzteren zugeeilt. Frohmutig auf ihn zueilend mit leuchtenden Augen, die in ihrer Schönheit denen des Vaters so ähnlich waren, reichte sie Sergey Iwanowitsch den Hut und that, als wolle sie ihm denselben aufsetzen, mit schüchternem, sanftem Lächeln ihre Ungebundenheit zügelnd.
„Warenka wartet schon,“ sagte sie, ihm den Hut behutsam aufsetzend, nachdem sie an dem Lächeln Sergey Iwanowitschs erkannt hatte, daß sie dies dürfe.
Warenka stand in der Thür, in einem gelben Kattunkleid, um den Kopf ein weißes Tuch geschlungen.
„Ich komme schon, ich komme, Barbara Andrejewna,“ sagte Sergey Iwanowitsch, seine Tasse Mokka leerend und ein Schnupftuch nebst dem Cigarrenetuis in seinen Taschen verteilend.
„Wie reizend ist doch meine Warenka, nicht wahr?“ sagte Kity zu ihrem Manne, sobald Sergey Iwanowitsch aufgestanden war. Sie sagte dies so, daß Sergey Iwanowitsch sie vernehmen konnte, woran ihr offenbar gelegen war. „Und wie schön sie ist, wie edel schön! Warenka!“ rief Kity. „Ihr werdet wohl im Mühlenholz sein? Wir kommen zu Euch hin!“
„Du vergißt doch entschieden deinen Zustand Kity,“ bemerkte die alte Fürstin, schnell zur Thür herauskommend, „du darfst nicht so schreien.“
Warenka, welche die Stimme Kitys sowie die Äußerung der Mutter vernommen hatte, kam leichten Schrittes zu Kity geeilt. Die Schnelligkeit ihrer Bewegungen, die Farbe, welche ihr munteres Gesicht bedeckte — alles das bewies, daß in ihr etwas Ungewöhnliches vorging. Kity wußte, was dieses Ungewöhnliche war, und beobachtete sie aufmerksam. Sie hatte jetzt Warenka nur gerufen, um ihr für ein wichtiges Ereignis, welches sich nach ihrer Erwägung heute, nach Tische im Walde vollziehen mußte, innerlich Segen zu wünschen.
„Warenka, ich würde sehr glücklich, wenn sich etwas ereignen sollte,“ sagte Kity flüsternd und sie küssend.
„Ihr werdet aber mit uns kommen?“ sagte Warenka in Verwirrung geratend, zu Lewin, und gab sich den Anschein, als habe sie gar nicht gehört, was zu ihr gesagt worden war.
„Ich werde kommen, doch nur bis zur Tenne, und dort werde ich bleiben.“
„Was hast du denn vor?“ sagte Kity.
„Ich muß die neuen Fuhren inspizieren und nachzählen,“ antwortete Lewin, „doch wo wirst du bleiben?“
„Auf der Terrasse.“
Auf der Terrasse hatte sich die ganze weibliche Gesellschaft versammelt. Die Damen liebten es, überhaupt dort nach Tische zu sitzen, aber heute gab es da sogar etwas zu thun. Außer dem Nähen und Sticken, womit sich alle beschäftigten, wurde heute Eingemachtes nach einer für Agathe Michailowna ganz neuen Methode — ohne Zuguß von Wasser — zubereitet.
Kity hatte diese neue Methode, welche bei ihr zu Haus in Gebrauch war, eingeführt. Agathe Michailowna, welcher früher dieses Geschäft anvertraut gewesen war, hatte in der Ansicht, daß das, was im Haus der Lewin gemacht wurde, doch nicht schlecht sein könne, gleichwohl ihr Wasser über die Wald- und Gartenerdbeeren mit der Versicherung gegossen, daß es unmöglich anders sein könne, aber sie wurde in ihrer Meinung überführt, und jetzt brodelte vor aller Augen die Himbeere, und Agathe Michailowna mußte sich überzeugt sehen, daß auch ohne Wasser das Eingemachte gut werde.
Agathe Michailowna mit erhitztem, erbittertem Gesicht, wirren Haaren, und bis an den Ellbogen entblößten, hageren Armen schwenkte die Schüssel im Kreise über dem Feuerbecken und blickte grollend auf die Beeren, aus Seelengrunde wünschend, sie möchten nicht gar werden.
Die Fürstin, welche merkte, daß auf sie, als die hauptsächlichste Ratgeberin bei der Zubereitung der Beeren, der Zorn Agathe Michailownas gerichtet sein müsse, bemühte sich, den Anschein zu wahren, als sei sie mit ganz anderen Dingen[159] beschäftigt, und interessiere sich gar nicht für die Himbeeren; sie sprach von Nebensächlichem, schaute aber immer dabei seitwärts nach dem Kohlenbecken.
„Ich kaufe den Mädchen stets Kleider,“ sagte die Fürstin, ein begonnenes Gespräch fortsetzend — „wollen wir jetzt nicht den Schaum abnehmen, Liebe?“ — fügte sie aber hinzu, sich an Agathe Michailowna wendend. „Das brauchst du durchaus nicht selbst zu thun, es ist heiß,“ hielt Kity diese dabei zurück.
„Ich werde es thun,“ sagte Dolly, stand auf und begann behutsam den Löffel über den schäumenden Zucker zu führen; bisweilen damit, um von ihm das daran haften Gebliebene zu entfernen, auf einen Teller klopfend, der bereits von mischfarbigem, gelbrotem Schaum und flüssigem blutrotem Syrup bedeckt war. „Wie sie das schlecken werden zum Thee,“ gedachte sie dabei ihrer Kinder und rief sich ins Gedächtnis zurück, wie sie selbst, als sie noch ein Kind gewesen, sich schon immer verwundert hatte, daß die Erwachsenen nicht gerade das Beste äßen — nämlich den Schaum — „Stefan sagt, es sei bei weitem besser, Geld zu geben,“ sagte Dolly dabei, das begonnene, interessante Gespräch darüber, wie man die Dienstleute beschenken solle, fortsetzend, „allein“ —
„So viel es möglich ist, Geld,“ sagten wie mit einer Stimme die Fürstin und Kity. „Sie schätzen das.“
„Nun, ich habe beispielsweise im vergangenen Jahre unserer Matrjona Ssemjonowna ein Kleid gekauft,“ sprach die Fürstin.
„Ich besinne mich, zu Eurem Geburtstage ging sie darin.“
„Ein reizendes Muster — so einfach und fein. Ich hätte es mir selbst machen lassen, wenn es nicht ihr gehört hätte; — so, wie das von Warenka war es. So hübsch und billig.“
„Jetzt scheint es fertig zu sein,“ sagte Dolly, den Syrup vom Löffel laufen lassend.
„Wenn Kringel werden, ist es gut. Kocht noch weiter, Agathe Michailowna.“
„Diese Fliegen,“ antwortete Agathe Michailowna gereizt.
„O, wie niedlich, verjagt ihn nicht!“ sprach Kity plötzlich, auf einen Spatz blickend, der sich auf dem Geländer niedergesetzt hatte und das Mark einer Himbeere zu picken begann.
„Ja, aber du mußt etwas weiter vom Kohlenbecken weg,“ sprach die Mutter.
„A propos de Warenka,“ begann Kity französisch, wie sie stets sprachen, damit Agathe Michailowna sie nicht verstehe. „Ihr wißt, maman, daß ich heute aus gewissen Gründen eine Entscheidung erwarte. Ihr versteht wohl, welche. Wie schön wäre das!“
„Ah, welch meisterhafte Freibewerberin du bist,“ sprach Dolly, „wie sie behutsam und geschickt die Leute zusammenführt.“
„Nun, maman, sagt doch, was Ihr dazu meint!“
„Was soll ich meinen? Er“ — unter dem Er verstand man Sergey Iwanowitsch — „konnte stets die erste Partie in Rußland machen, er ist zwar jetzt nicht mehr so jung, aber gleichwohl, ich weiß es, würden ihn auch jetzt noch viele Frauen nehmen. Sie ist sehr gut, aber er könnte doch“ —
„Nein, seht nur erst ein, maman, warum etwas Besseres für ihn, wie für sie nicht zu denken ist. Erstens — sie ist eine Schönheit!“ sprach Kity, einen Finger ausstreckend.
„Sie gefällt ihm sehr, das ist wahr,“ bestätigte Dolly.
„Dann nimmt er eine solche Stellung in der Welt ein, daß ihm ein Vermögen, ein Stand in der Welt für seine Frau ganz und gar nicht erforderlich ist. Ihm ist Eins nur nötig — ein gutes, liebevolles ruhiges Weib.“
„Jawohl, und mit ihr kann man ruhig leben,“ bestätigte Dolly.
„Drittens; sie muß ihn lieben! So ist es ja auch — und soweit wäre alles ganz gut. Ich erwarte, daß sie aus dem Walde kommen und alles entschieden ist. Ich werde es sogleich an ihren Augen erkennen; und würde mich so sehr freuen! Wie denkst du darüber, Dolly?“
„Rege dich nur nicht auf. Du darfst dich durchaus nicht erregen,“ sagte die Mutter.
„Aber ich rege mich ja gar nicht auf, maman; mir scheint nur, daß er heute seinen Antrag machen wird.“
„Ach; es ist so seltsam, wenn ein Mann eine Liebeserklärung macht. Erst ist so eine Scheidewand vorhanden, und plötzlich ist sie durchbrochen,“ sagte Dolly, gedankenvoll lächelnd und sich an die Vergangenheit mit Stefan Arkadjewitsch erinnernd.
„Mama, wie hat Euch denn Papa seine Liebeserklärung gemacht?“ frug Kity plötzlich.
„Es war nichts Außergewöhnliches dabei, sehr einfach,“ antwortete die Fürstin, aber ihr ganzes Gesicht erglänzte bei dieser Erinnerung.
„Nun, wie denn? Ihr habt ihn doch geliebt, bevor Euch noch erlaubt war, mit ihm zu sprechen.“
Kity fand einen eigenen Reiz darin, mit ihrer Mutter jetzt wie mit einer Gleichgestellten über diese höchsten Fragen des Frauenlebens sprechen zu können.
„Versteht sich, liebte er mich! Er kam zu uns auf das Land.“
„Aber wie entschied es sich? Mama?“
„Du denkst wahrscheinlich, daß ihr beide euch etwas Neues ausgedacht hättet? Es war ganz dieselbe Geschichte; mit Blicken und Lächeln“ —
„Wie Ihr das so schön ausgesprochen habt, maman! Ja, die Augen, das Lächeln,“ bestätigte Dolly.
„Aber welche Worte sprach er denn?“
„Was für Worte hat dir dein Konstantin gesagt?“
„Er schrieb sie mit Kreide. Es war wunderbar. Wie weit scheint mir dies schon dahinten zu liegen,“ antwortete Kity.
Die drei Frauen sannen jetzt über ein und dasselbe nach. Kity brach zuerst wieder das Schweigen. Der ganze letzte Winter vor ihrer Verheiratung, ihre Leidenschaft für Wronskiy kam ihr wieder ins Gedächtnis.
„Aber noch Eins — jene frühere Leidenschaft Warenkas,“ sagte sie, in einem natürlichen Gedankengang sich dessen erinnernd. „Ich wollte Sergey Iwanowitsch schon irgendwie Mitteilung machen, ihn vorbereiten. Sie sind ja alle Männer,“ fügte sie hinzu, „und entsetzlich eifersüchtig auf unsere Vergangenheit.“
„Nicht alle,“ antwortete Dolly, „du urteilst so nach deinem Manne; der martert sich noch jetzt ab in der Erinnerung an Wronskiy. Nicht wahr? Habe ich nicht recht?“
„Du hast recht,“ antwortete Kity, gedankenvoll mit den Augen lächelnd.
„Ich weiß nun nicht,“ fuhr die Fürstin fort, ihre mütterliche Obhut für die Tochter wieder übernehmend, „was eigentlich[162] in deiner Vergangenheit ihn stören könnte? Daß Wronskiy dir den Hof machte? Das passiert jedem jungen Mädchen.“
„Ach, sprechen wir nicht davon,“ sagte Kity errötend.
„Nein, gestatte,“ fuhr die Mutter fort, „du selbst wolltest mir ja nicht gestatten, mit Wronskiy Rücksprache zu nehmen. Weißt du noch?“
„Ach, Mama!“ sagte Kity mit einem Ausdruck von Leiden.
„Deine Beziehungen zu ihm konnten ja nicht weitergehen als sie durften; ich selbst würde ihn noch ermutigt haben. Doch im übrigen, liebe Seele, taugt es nicht für dich, wenn du dich erregst. Denke, bitte, hieran, und beruhige dich.“
„Ich bin vollkommen ruhig, maman.“
„Wie war es doch zum Glück damals für Kity, daß Anna kam,“ sagte Dolly, „und wie verhängnisvoll wurde das für sie selbst. Da haben wir es gerade umgekehrt,“ fügte sie hinzu, betroffen über ihren eigenen Gedanken. „Damals war Anna so glücklich und Kity hielt sich für unglücklich. Welch ein völliger Umschlag! Ich denke oft an sie.“
„Das wäre das Weib, an welches man denken dürfte! Ein häßliches, ausschweifendes Weib ohne Herz,“ sprach die Mutter, welche nicht vergessen konnte, daß Kity nicht einen Wronskiy, sondern einen Lewin geheiratet hatte.
„Was ist es für ein Vergnügen, hiervon zu sprechen,“ fuhr Kity voll Verdruß fort, „ich denke nicht daran und will nicht daran denken. Ich will nicht daran denken,“ sprach sie, dabei dem wohlbekannten Klang der Schritte ihres Mannes auf den Stufen zur Terrasse lauschend.
„Wovon ist denn die Rede ‚ich will nicht daran denken?‘“ frug Lewin, die Terrasse betretend.
Niemand antwortete ihm, und er wiederholte seine Frage nicht.
„Ich bedaure, euer Frauenreich gestört zu haben,“ sprach er, mißvergnügt alle anblickend und wohl gewahrend, daß man über etwas gesprochen hatte, wovon man in seiner Gegenwart nicht geredet haben würde.
Einen Augenblick empfand er, daß er die Gefühle Agathe Michailownas teile, die Unzufriedenheit darüber, daß man die Himbeeren ohne Wasser einkoche, und über den fremdartigen Einfluß der Schtscherbazkiy. Er lächelte aber doch und trat zu Kity.
„Nun, wie befindest du dich?“ frug er sie, mit dem gleichen Ausdruck auf sie blickend, mit welchem sich ihr jetzt alle zuwandten.
„Oh; ich befinde mich recht wohl,“ sagte Kity lächelnd, „und wie geht es bei dir?“
„Man fährt dreimal mehr, als der Wagen aushält. Aber wollen wir zu den Kindern hinausfahren? Ich habe anspannen lassen.“
„Wie, willst du Kity im Wagen ausfahren?“ frug die Mutter vorwurfsvoll.
„Wir fahren natürlich Schritt, Fürstin.“
Lewin nannte die Fürstin nie maman, wie das sonst Schwiegersöhne thun, und dies war der Fürstin unangenehm, aber wenn er die Fürstin auch sehr lieb hatte und achtete, konnte er sie doch nicht so nennen, ohne die Empfindungen für seine dahingeschiedene Mutter zu entweihen.
„Fahret mit uns, maman,“ sagte Kity.
„Ich will diese Unüberlegtheit nicht mit ansehen.“
„Dann gehe ich zu Fuß. Ich befinde mich ja ganz wohl.“ Kity erhob sich, trat zu ihrem Gatten und nahm dessen Arm.
„Ganz wohl, aber alles mit Maßen“ — bemerkte die Fürstin.
„Nun, Agathe Michailowna, ist das Eingemachte fertig?“ sagte Lewin lächelnd zu Agathe Michailowna, mit dem Wunsche sie heiter zu stimmen. „Geht es gut nach der neuen Mode?“
„Muß wohl; es geht gut. Nach meiner Meinung ist es fertig.“
„Es ist besser so, Agathe Michailowna; das Eingemachte wird nicht sauer und bei uns ist das Eis jetzt ohnehin schon gethaut, so daß es keinen Platz zum Aufbewahren giebt,“ sagte Kity, sogleich die Absicht ihres Mannes durchschauend und sich in der nämlichen Absicht an die Alte wendend. „Übrigens ist Euer Pökel so gut, daß Mama behauptet, ihn noch nirgends so gegessen zu haben,“ fügte sie hinzu, sich lächelnd einen Zopf ordnend.
Agathe Michailowna blickte grollend Kity an.
„Ihr braucht mich nicht zu trösten, Herrin; ich beurteile Euch, wie er, und befinde mich wohl dabei“ — sprach sie; der rauhe Ausdruck „er“ statt „der Herr“ verletzte Kity.
„Wir wollen zusammen nach Pilzen gehen, Ihr könnt uns die Plätze zeigen.“ Agathe Michailowna lächelte kopfschüttelnd, als wollte sie sagen „wenn ich Euch auch gern gram sein möchte, so kann ich es doch nicht.“
„Handelt, bitte, nach meinem Rate,“ sprach die alte Fürstin, „über das Eingemachte legt Ihr ein Papier und feuchtet es mit Rum an; auch ohne Eis wird alsdann niemals ein Kahm darauf kommen.“
Kity war herzlich froh über die Gelegenheit, mit ihrem Gatten einmal Auge in Auge allein sein zu können, da sie bemerkt hatte, wie ein Schatten der Verstimmung über sein Alles so lebhaft ausdrückendes Gesicht huschte, im Augenblicke da er die Terrasse betreten und man ihm, als er gefragt hatte, wovon man spreche, nicht antwortete.
Als sie zu Fuß den anderen vorausgingen und außer Sehweite des Hauses den ausgefahrenen, staubigen und mit Kornähren und Körnern überstreuten Weg hinausschritten, stützte sie sich fester auf seinen Arm und preßte denselben an sich.
Er hatte jenen momentanen, unangenehmen Eindruck bereits vergessen, und empfand, in der Einsamkeit mit ihr, jetzt, da ihn der Gedanke an ihre Schwangerschaft keinen Augenblick verließ, jene ihm noch neue, freudige, vollkommen von Sinnenlust freie Befriedigung in der Nähe des geliebten Weibes.
Zu sprechen war nichts, aber ihn verlangte es, den Ton ihrer Stimme zu hören, die sich ebenso wie ihr Blick, jetzt in ihrer Schwangerschaft verändert hatte. In ihrer Stimme wie in ihrem Blicke war eine Weichheit, ein Ernst, ähnlich jener, die bei Leuten vorhanden zu sein pflegt, die beständig auf ein einzelnes geliebtes Werk konzentriert sind.
„Du wirst doch nicht müde werden? Stütze dich fester,“ sagte er.
„Nein, ich bin so froh über die Gelegenheit, mit dir einmal allein zu sein, und gestehe dir, daß mir, so wohl mir auch in ihrer Gesellschaft ist, doch unsere Winterabende zu Zweien recht leid thun.“
„Es war schön, doch dies ist noch besser. Wir beide sind besser daran,“ sagte er, ihren Arm drückend.
„Du weißt, wovon wir sprachen, als du eintratest?“
„Von dem Eingemachten?“
„Ja, auch von dem Eingemachten, dann aber davon, wie man einen Heiratsantrag macht.“
„Ah,“ sagte Lewin, mehr den Klang ihrer Stimme hörend, als die Worte die sie sprach, und fortwährend auf den Weg Bedacht nehmend, der jetzt im Walde hinführte und diejenigen Stellen vermeidend, die sie nicht sicher hätte betreten können.
„Auch von Sergey Iwanowitsch und Warenka. Du hast wohl bemerkt? — Ich wünschte es sehr,“ fuhr sie fort, „wie denkst du darüber?“ Sie blickte ihm ins Gesicht.
„Ich weiß nicht, was man da denken muß,“ antwortete Lewin und lächelte. „Sergey erscheint mir in dieser Beziehung sehr seltsam. Ich habe dir wohl erzählt“ —
„Daß er jenes Mädchen, welches gestorben ist, geliebt hatte“ —
„Das war der Fall, als ich noch ein Kind war. Ich kenne dies nur aus der Überlieferung, kann mich aber noch auf ihn damals besinnen. Er war wunderbar liebenswert. Seit jener Zeit beobachte ich ihn im Umgang mit den Frauen; er ist liebenswürdig, manche gefallen ihm auch, aber man fühlt, daß sie für ihn einfach nur Menschen sind, keine Weiber.“
„Ja, aber jetzt mit Warenka. Es scheint, daß doch etwas“ —
„Kann sein, daß dem so ist — doch muß man ihn eben erst kennen lernen; er ist ein absonderlicher und wunderlicher Mensch. Er lebt nur ein geistiges Leben und ist ein Mensch von allzu reinem und erhabenem Gemüt.“
„Wie? Sollte ihn denn etwa ein solches Verhältnis erniedrigen?“
„Nein; aber er ist so daran gewöhnt, ein einsames Geistesleben zu führen, daß er sich mit der Wirklichkeit nicht vertragen kann, und Warenka ist doch immerhin eine Wirklichkeit.“
Lewin war jetzt schon gewohnt, seine Gedanken frei auszusprechen, ohne sich zu bemühen, dieselben dabei in präcise Worte zu kleiden, er wußte, daß sein Weib in den Minuten[166] der Liebe, sowie auch jetzt schon aus der Andeutung verstehen würde, was er sagen wollte, und Kity verstand ihn auch.
„Ja; aber in ihr ist doch nicht diese Wirklichkeit, wie in mir; ich verstehe; daß er mich wohl niemals hätte liebgewinnen können; sie hingegen ist ganz Gemüt.“
„O nein; er liebt dich sehr, und mir ist es stets so angenehm, wenn die Meinigen dich lieb haben.“
„Ja; er ist gut gegen mich, aber“ —
„— nicht so, wie mit dem verstorbenen Nikolay; ihr habt einander liebgewonnen,“ vollendete Lewin. „Weshalb sollte ich das nicht sagen?“ fügte er hinzu, „ich mache mir manchmal Vorwürfe, und das hört erst damit auf, daß man vergißt. O, welch ein furchterweckender, und doch reizvoller Mensch war er! Doch wovon sprachen wir?“ sagte Lewin, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.
„Du denkst, daß er nicht zu lieben vermag,“ sagte Kity, in ihre Sprache übersetzend.
„Nicht, daß er nicht lieben könnte,“ antwortete Lewin lächelnd, „aber er besitzt nicht die Schwäche, die dazu nötig ist — ich habe ihn stets beneidet und selbst jetzt, wo ich doch so glücklich bin, beneide ich ihn noch darum.“
„Du beneidest ihn, weil er nicht lieben kann?“
„Ich beneide ihn darum, daß er besser ist, als ich,“ antwortete Lewin lächelnd. „Er lebt nicht für sich; sein ganzes Leben ist der Pflicht geweiht, und infolge dessen kann er ruhig und zufrieden sein.“
„Und du?“ frug Kity mit schelmischem, liebevollem Lächeln.
Sie konnte nicht im entferntesten den Gedankengang ausdrücken, der sie lächeln machte; aber das letzte Resultat desselben war dies, daß ihr Gatte, von seinem Bruder entzückt, und sich vor demselben herabsetzend, nicht mehr aufrichtig blieb.
Kity wußte, daß diese Heuchelei seinerseits von der Liebe zu dem Bruder herrührte, von dem Gefühl seiner Besorgtheit darüber, daß er allzu glücklich sei, und insbesondere seinem Wunsche, der ihn nie verließ, besser zu sein. Sie liebte dies an ihm und lächelte daher.
„Und du? Womit bist du unzufrieden?“ frug sie mit dem nämlichen Lächeln.
Ihr Mißtrauen seiner Unzufriedenheit mit sich selbst gegenüber,[167] erfreute ihn und ohne Besinnen forderte er sie heraus, ihm die Ursachen ihres Mißtrauens mitzuteilen.
„Ich bin glücklich, aber mit mir nicht zufrieden,“ sprach er.
„So kannst du also unzufrieden sein, wenn du glücklich bist?“
„Wie soll ich sagen. Ich wünsche in meinem Herzen nichts, als daß du nicht strauchelst; so darf man natürlich nicht springen!“ brach er das Gespräch ab, mit einem Vorwurf, weil sie eine zu schnelle Bewegung gemacht hatte, indem sie über einen auf dem Fußwege liegenden Ast weggestiegen war, „wenn ich über mich Betrachtungen anstelle und mich mit anderen vergleiche, besonders mit meinem Bruder, dann fühle ich, daß ich ein Nichts bin.“
„Aber inwiefern denn?“ fuhr Kity noch mit dem nämlichen Lächeln fort, „wirkst du etwa nicht auch für andere? Und deine Meiereien, deine Ökonomie, dein Buch?“
„Nein; ich fühle es namentlich jetzt — und du bist schuld daran,“ sagte er, ihr den Arm pressend, „daß dem eben nicht so ist. Ich arbeite nur so leichthin. Wenn ich all dieses Wirken lieben könnte, wie ich dich liebe — aber so habe ich die ganze letzte Zeit gearbeitet, wie nach einer mir aufgegebenen Lektion.“
„Und was würdest du da über Papa sagen,“ frug Kity; „er ist jedenfalls auch nichts wert, weil er nichts für das Allgemeine gewirkt hat.“
„Er? Nein. Aber man muß jene Natürlichkeit, Klarheit, Güte besitzen, wie dein Vater. Habe ich die etwa? Ich arbeite nicht, ich quäle mich nur, und alles das hast du mir zugefügt! Wärest du nicht gewesen, so wäre auch das da noch nicht,“ sagte er, mit einem Blick auf ihren Körper, den sie verstand, „so würde ich alle meine Kräfte auf die Arbeit verwenden; jetzt aber kann ich dies nicht, und darüber ist mir das Herz schwer; ich arbeite wie man eine aufgegebene Lektion lernt, ich heuchle“ —
„Nun, dann würdest du dich sogleich mit Sergey Iwanowitsch ausgewechselt wünschen,“ sagte Kity. „Würdest wünschen, jene gemeinnützige Thätigkeit betreiben, und jene aufgegebene Lektion lieben zu können, wie er sie liebt, und weiter nichts?“
„Natürlich nicht,“ antwortete Lewin. „Im übrigen bin ich ja so glücklich, daß ich nichts weiter begreife. Du denkst also, daß er ihr heute schon seinen Antrag machen wird?“ fügte er nach einer Pause hinzu.
„Ich denke, vielleicht aber wird er's auch nicht. Jedenfalls wünsche ich es aufs Sehnlichste. Da, halt“ — sie beugte sich nieder und pflückte am Rande des Weges eine wilde Kamille ab. „Nun zähle: Entweder erklärt er sich heute, oder er erklärt sich nicht,“ sprach sie und reichte ihm die Blume.
„Er thut es, er thut es nicht,“ sagte Lewin, die weißen, schmalen langen Blätter abreißend.
„Nein, nein!“ hemmte ihn Kity jetzt, seine Hand erfassend, nachdem sie seinen Fingern voll Erregung gefolgt war. „Du hast zwei abgerissen!“
„Nun, dafür kommt dann dieses kleine hier nicht mit in Anrechnung,“ antwortete Lewin, ein kurzes, noch nicht entwickeltes Blättchen abpflückend, „doch da hat uns der Wagen erreicht.“
„Bist du nicht ermüdet Kity!“ rief die Fürstin.
„Nicht im geringsten!“
„So setze dich doch in den Wagen, wenn die Pferde ruhig sind, und fahrt Schritt.“
Doch in den Wagen zu steigen, hätte keinen Zweck mehr gehabt; man war schon dem Ziel nahe und alles ging zu Fuß weiter.
Warenka mit ihrem weißen Tuch auf dem schwarzen Haar, von den Kindern umringt, und gutherzig und heiter mit ihnen beschäftigt, erschien, augenscheinlich aufgeregt durch die Möglichkeit einer Erklärung mit dem Manne, welcher ihr gefallen hatte, sehr anziehend.
Sergey Iwanowitsch schritt neben ihr hin und ließ nicht nach, ihr Aufmerksamkeiten zu erweisen. Sie anblickend, rief er sich alle die freundlichen Worte ins Gedächtnis zurück, die er von ihr vernommen hatte, alles, was er von ihr Gutes wußte, und erkannte dabei immer mehr und mehr, daß das Gefühl, welches er für sie empfand, ein gewisses besonderes war, das er schon lange vorher nur einmal gehegt hatte in[169] seiner ersten Jugend. Das Gefühl der Freude über ihre Nähe wurde immer stärker, und ging so weit, daß er, als er ihr einen von ihm gefundenen Birkenschwamm auf dünnem Stengel in ihren Korb gab, und die Röte der freudigen und zugleich ängstlichen Aufregung gewahrte, die ihr Gesicht überdeckte, selbst in Verwirrung geriet, und ihr schweigend zulächelte, in einer Weise, die nur zu sprechend war.
„Wenn dem so ist,“ sagte er zu sich, „muß ich erwägen und mich entscheiden, aber mich nicht wie ein Knabe der Verleitung des Augenblickes hingeben. Ich werde jetzt abgesondert von allen, Pilze suchen gehen, da sonst meine Ausbeute nicht bemerkenswert ausfallen wird,“ sprach er und ging allein vom Rande des Waldes, an welchem sie auf dem seidenartigen, niedrigen Grase zwischen vereinzelten alten Birken hingeschritten waren, nach der Mitte des Waldes zu, wo zwischen den weißen Birkenstämmen graue Eschen und dunkle Nußbüsche schimmerten. Nachdem er vierzig Schritt abseits gegangen war und einen in voller Blüte rosenrot prangenden Busch erreicht hatte, blieb Sergey Iwanowitsch stehen, da er wußte, daß man ihn nicht mehr sehen könne.
Rings um ihn herrschte vollkommene Stille. Nur im Wipfel der Birken, unter welchen er stand, summten gleich einem Bienenschwarm, ohne zu verstummen, die Fliegen, und vereinzelt klangen auch die Stimmen der Kinder bis zu ihm. Plötzlich, unweit des Waldrandes, erklang die Altstimme Warenkas, die Grischa rief, und ein freudiges Lächeln trat auf die Züge Sergey Iwanowitschs. Seines Lächelns inne werdend, schüttelte er mißbilligend den Kopf über seinen Zustand, holte das Cigarrenetuis hervor und begann zu rauchen. Lange gelang es ihm nicht, das Zündholz an einem Fichtenstamm in Brand zu setzen. Eine feine Schicht der weißen Rinde haftete auf dem Phosphor und das Feuer erlosch. Endlich brannte eines der Zündhölzer und der duftige Rauch der Cigarre verbreitete sich wie ein hin und her wallendes, breites Tischtuch scharfbegrenzt vor- und rückwärts über dem Busch unter den herniederhängenden Zweigen der Birke. Mit den Augen den Streifen des Rauches folgend, ging Sergey Iwanowitsch leisen Schrittes weiter, über seine seelische Verfassung nachdenkend.
„Warum sollte ich nicht?“ dachte er. „Wäre es ein Strohfeuer oder ein leidenschaftlicher Rausch, fühlte ich nur diese Neigung, diese wechselseitige Neigung — ich kann sagen ‚wechselseitige‘ — und fühlte ich dabei, daß sie im Widerspruch mit meiner ganzen Art zu leben — fühlte ich, daß ich in der Hingabe an diese Neigung meinen Beruf, meine Pflicht verletzte, — aber dies ist nicht der Fall! Das Einzige, was ich dagegen sagen kann, ist dies, daß ich, als ich Maria verlor, mir sagte, ich wollte ihrem Angedenken getreu bleiben. Dies Eine nur kann ich gegen mein Gefühl einwenden; ‚und das ist wichtig,‘“ sagte Sergey Iwanowitsch zu sich, zugleich dabei empfindend, daß dieser Gedanke für ihn persönlich keine Bedeutung weiter habe, als die, daß er etwa in den Augen anderer Leute seine poetische Rolle verdarb. „Abgesehen hiervon, werde ich, soviel ich auch suchen mag, nichts finden, was ich gegen meine Empfindung einzuwenden hätte. Hätte ich allein mit meinem Verstande gewählt, ich könnte nichts Besseres finden.“
So viele Frauen und Mädchen aus seiner Bekanntschaft er sich auch vergegenwärtigen mochte, er konnte sich keiner Jungfrau erinnern, die bis zu solchem Grade alle, gerade alle diejenigen Eigenschaften in sich vereinigte, welche er bei kühler Beurteilung einmal in seinem Weibe zu sehen gewünscht hätte.
Sie besaß den ganzen Reiz und die Frische der Jugend, war aber kein Kind mehr, und wenn sie ihn liebte, liebte sie ihn mit Bewußtsein, so wie ein Weib lieben muß. Dies war das Eine.
Ein Zweites lag darin, daß sie nicht nur der Weltlichkeit fern stand, sondern offenbar einen Ekel vor der Welt empfand, sie zugleich aber doch kannte, und alle die Manieren der Frau aus der guten Gesellschaft besaß, ohne welche für Sergey Iwanowitsch eine Lebensgefährtin undenkbar war.
Ein Drittes bestand darin, daß sie religiös war; doch nicht wie ein Kind, religiös, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, und gut wie beispielsweise Kity; sondern ihr Leben war auf religiösen Überzeugungen begründet. Selbst bis auf Kleinigkeiten fand Sergey Iwanowitsch in ihr alles, was er von einer Frau wünschte; sie war arm und stand allein; so daß sie keinen Haufen von Verwandten und deren Einfluß mit in[171] das Haus des Mannes schleppte, so, wie er das bei Kity sah; sie mußte vielmehr ihrem Gatten in allem verpflichtet sein, was er auch immer für sein künftiges Familienleben gewünscht hätte.
Und dieses Mädchen nun, welches alle jene Eigenschaften in sich vereinte, liebte ihn. Er war bescheiden, mußte dies aber doch wahrnehmen — und liebte sie wieder. — Den einzigen Gegengrund bildeten seine Jahre. Doch seine Konstitution war dauerhaft, er hatte noch kein einziges graues Haar, niemand maß ihm vierzig Jahre bei und er entsann sich, daß Warenka gesagt hatte, nur in Rußland hielten sich die Leute von fünfzig Jahren für Greise, während sich in Frankreich der fünfzigjährige Mann „dans la force de l'âge“ erachte, ja, der vierzigjährige als „un jeune homme“.
Aber was bedeutete die Altersrechnung, da er sich jung an Geist fühlte, so wie er es vor zwanzig Jahren gewesen? War denn nicht Jugend das Gefühl, welches er jetzt empfand, da er, auf der anderen Seite wieder zu dem Rande des Waldes hinaustretend, im hellen Glanz der schrägen Sonnenstrahlen die graziöse Gestalt Warenkas im gelben Kleid und mit dem Körbchen, leichten Schrittes an dem Stamm einer alten Birke vorüberschreitend erblickte, und der Eindruck dieser Erscheinung Warenkas in Eins zusammenfloß mit dem ihn durch seine Schönheit frappierenden Anblick des von den schrägen Lichtstrahlen übergossenen, gelbschimmernden Haferfeldes und des alten fernen Waldes hinter dem Felde, der, mit Gelb ins Bunte spielend, in blauer Ferne verschwamm?
Sein Herz zog sich zusammen vor Lust, ein Gefühl des Friedens überkam ihn, und er empfand, daß er einen Entschluß gefaßt hatte.
Warenka, welche sich soeben niedergelassen hatte, um einen Pilz aufzunehmen, erhob sich mit schneller Bewegung und schaute sich um. Die Cigarre wegwerfend, begab sich Sergey Iwanowitsch mit schnellen Schritten auf sie zu.
„Barbara Andrejewna, als ich noch sehr jung war, hatte ich mir ein Ideal vom Weib gebildet, wie ich es einmal lieben wollte und welches mein Weib nennen zu können, ich glücklich[172] sein würde. Ich habe nun ein langes Leben gelebt und begegne jetzt zum erstenmal dem, was ich suche, in Euch. Ich liebe Euch und trage Euch meine Hand an.“ —
Sergey Iwanowitsch hatte dies zu sich selbst gesagt, während er noch zehn Schritte von Warenka entfernt war. Auf den Knieen liegend, und mit den Händen einen Pilz vor Grischa schützend, rief sie die kleine Mascha.
„Hierher, hierher; ihr Kleinen! Hier sind viel!“ rief sie mit ihrer milden Bruststimme.
Als sie den Sergey Iwanowitsch herankommen sah, erhob sie sich nicht, veränderte auch ihre Stellung nicht; alles aber sagte ihm, daß sie sein Kommen fühle und sich dessen freue.
„Habt Ihr denn etwas gefunden?“ frug sie unter ihrem weißen Tuch hervor, ihm das schöne, ruhig lächelnde Antlitz zukehrend.
„Nicht einen einzigen,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „und Ihr?“
Sie antwortete ihm nicht, mit den Kindern beschäftigt, die sie umringten.
„Noch diesen, neben dem Zweige da,“ wies sie der kleinen Mascha einen kleinen eßbaren Erdschwamm, dessen elastischer roter Hut quer von einem trockenen Grase durchschnitten war, unter dem er sich hervorgemacht hatte.
Warenka erhob sich, als Mascha den Pilz, den sie in zwei Hälften zerbrochen hatte, aufgenommen hatte.
„Dies ruft mir meine eigene Kindheit ins Gedächtnis,“ fügte sie hinzu, an der Seite Sergey Iwanowitschs von den Kindern hinwegschreitend.
Sie gingen schweigend einige Schritte. Warenka sah, daß er sprechen wollte; sie vermutete auch, was, und erstarrte fast in freudiger Erregung und Angst. Beide waren so weit hinweg geschritten, daß sie niemand mehr vernehmen konnte, aber noch begann er nicht zu sprechen. Für Warenka wäre es besser gewesen, zu schweigen. Nach einigem Stillschweigen war es leichter, das zu sagen, was sie sagen wollte, als nach den Worten über die Pilze, aber gegen ihren Willen, gleichsam wider Erwarten, sprach sie:
„So habt Ihr also nichts gefunden? Inmitten des Waldes giebt es allerdings stets weniger.“
Sergey Iwanowitsch seufzte und erwiderte nichts. Es war ihm verdrießlich, daß sie wieder von den Pilzen anfing. Hatte er sie doch auf ihre ersten Worte, die sie über ihre Kindheit gesagt hatte, führen wollen. Gleichsam wider seinen Willen, äußerte er nun, nachdem er einige Zeit geschwiegen, eine Bemerkung zu ihren letzten Worten.
„Ich habe nur gehört, daß die weißen vorzugsweise am Rande stehen, obwohl ich den weißen nicht zu unterscheiden verstehe.“
Wieder vergingen einige Minuten; sie gingen noch weiter von den Kindern hinweg und waren jetzt vollständig allein. Das Herz Warenkas pochte so stark, daß sie seine Schläge vernahm, und empfand, daß sie errötete, blaß wurde und wieder errötete.
Die Frau eines Mannes wie Koznyscheff zu sein, nach ihrer Stellung bei Madame Stahl, erschien ihr als Gipfel des Glücks. Dann aber war sie auch fest überzeugt, daß sie ihn liebe; und dies sollte nun bald entschieden werden. Ihr war furchtbar zu Mut; furchtbar, daß er sprechen würde, furchtbar, daß er nicht sprach.
Jetzt oder nie mußte man sich erklären; und dies empfand auch Sergey Iwanowitsch. Alles, im Blick, in der Röte ihres Gesichts, in den niedergeschlagenen Augen Warenkas, zeigte ihm ihre schmerzliche Erwartung. Sergey Iwanowitsch sah es und empfand Mitleid mit ihr. Er fühlte sogar, daß es sie bedeutend verletzt haben würde, wenn er jetzt nicht sprach. Er wiederholte nun schnell im Geiste die Gründe, die für seinen Entschluß sprachen, er wiederholte die Worte, mit welchen er seinen Antrag ausdrücken wollte; anstatt dieser Worte aber frug er infolge einer ihn unerwartet überkommenden Idee plötzlich:
„Welcher Unterschied ist denn zwischen einem weißen Pilz und einem Birkenschwamm?“
Die Lippen Warenkas bebten vor Erregung, als sie antwortete: „In den Köpfen ist fast gar kein Unterschied, nur im Stengel.“
Und kaum waren diese Worte gesagt, so hatte er wie sie erkannt, daß alles vorüber war; daß das, was hätte gesagt werden müssen, nun nicht gesagt werden würde, und die gemeinsame[174] Erregung, die auf den höchsten Grad gestiegen war, begann sich zu legen.
„Der Birkenpilz — sein Stengel — erinnert an einen seit zwei Tagen nicht rasierten Bart eines Brünetten,“ sagte Sergey Iwanowitsch, schon ruhig geworden.
„Ja, es ist wahr,“ antwortete Warenka lächelnd; unwillkürlich hatte sich die Richtung ihrer Promenade verändert. Sie begannen sich den Kindern wieder zu nähern. Warenka war es schmerzlich zu Mute, und sie empfand Scham, zugleich aber auch verspürte sie ein Gefühl der Erleichterung.
Als Sergey Iwanowitsch heimgekehrt war und alle seine Beweisgründe wiederum durchmusterte, fand er, daß er falsch spekuliert hatte. Er konnte an dem Gedächtnis Marias nicht Verrat üben.
„Stiller, Kinder, seid stiller!“ rief Lewin fast zornig den Kindern zu, vor seinem Weibe stehend, um es zu schützen, als der Haufe der Kinder mit Freudengeschrei ihnen entgegenflog.
Nach den Kindern war auch Sergey Iwanowitsch mit Warenka aus dem Walde gekommen. Kity brauchte Warenka nicht zu fragen; an dem ruhigen und etwas kühlen Ausdruck auf beider Gesichtern erkannte sie, daß sich ihre Pläne nicht verwirklicht hatten.
„Nun, wie steht es?“ frug ihr Gatte sie, als sie wieder nach Hause zurückgekehrt waren.
„Er nimmt sie nicht,“ sagte Kity, in Lächeln und Sprachweise an den Vater gemahnend, was Lewin häufig mit Vergnügen an ihr wahrnahm.
„Warum sollte er nicht?“ —
„So steht es,“ sprach sie, die Hand des Gatten ergreifend, sie an ihren Mund führend und mit geschlossenen Lippen berührend; „so wie man die Hand des Priesters küßt.“
„Wer aber mag denn wohl nicht?“ sagte er lachend.
„Beide. — Sie müßten so hier“ —
„Es kommen Bauern vorüber“ —
„Sie haben nichts gesehen.“ —
Während die Kinder den Thee erhielten, saßen die Erwachsenen auf dem Balkon und unterhielten sich, als sei nichts vorgefallen, obwohl doch alle und insbesondere Sergey Iwanowitsch und Warenka, recht gut wußten, daß sich ein wenn auch negativer, so doch sehr wichtiger Umstand ereignet hatte.
Sie empfanden beide das nämliche Gefühl, ähnlich dem, welches wohl ein Schüler haben mag, der nach einem mißglückten Examen in der alten Klasse zurückgeblieben, oder für immer aus der Anstalt ausgewiesen worden ist. Alle Anwesenden, gleichfalls empfindend, daß etwas geschehen sei, sprachen lebhaft von Nebendingen.
Lewin und Kity fühlten sich besonders glücklich und liebeerfüllt an diesem Abend. Daß sie glücklich waren in ihrer Liebe, das schloß freilich einen unangenehmen Wink für diejenigen in sich, welche es ebenfalls sein wollten und nicht konnten — und hieraus machten sie sich ein Gewissen.
„Denkt an mein Wort, Alexandre wird nicht kommen,“ sagte die alte Fürstin.
Am heutigen Abend erwartete man Stefan Arkadjewitsch von der Bahn, und auch der alte Fürst hatte geschrieben, daß er vielleicht gleichfalls kommen werde.
„Ich weiß, woher es kommt,“ fuhr die Fürstin fort, „er sagt, man müsse junge Leute in der ersten Zeit allein lassen.“
„So hat Papa auch uns gelassen. Wir haben ihn noch nicht wiedergesehen,“ sagte Kity, „und was wären wir denn für junge Eheleute? Wir sind doch schon so alt!“
„Nun, wenn er nicht kommt, muß ich euch verlassen, Kinder,“ sprach die Fürstin, bekümmert seufzend.
„Was ist dir, Mama?“ fielen ihr beide Töchter ins Wort. „Bedenke doch, sein Befinden — wir sind doch jetzt“ —
— Die Stimme der alten Fürstin begann plötzlich und unverhofft zu schwanken. Die Töchter verstummten und blickten sich gegenseitig an. „Maman findet stets eine rührende Seite für sich,“ sagten sie mit diesem Blick. Sie wußten nicht, daß, so wohl sich auch die Fürstin bei ihrer Tochter befand, so notwendig sie sich für diese auch hier fühlte, es ihr gleichwohl qualvoll traurig zu Mute war, ihr, wie ihrem Gatten, seit[176] der Zeit, seit welcher sie ihre letzte geliebte Tochter verheiratet hatten, und das elterliche Heim verödet war.
„Was ist Euch, Agathe Michailowna?“ frug Kity plötzlich die mit geheimnisvoller Miene und bedeutungsvollem Gesicht stehen gebliebene Agathe Michailowna.
„Die Bestimmung für das Abendessen.“
„Schön so,“ sagte Dolly, „gehe du, um deine Verfügungen zu treffen, ich will mit Grischa dessen Lektion wiederholen; er hat ohnehin heute noch nichts gethan.“
„Laß mich doch diese Lektion geben! Nein, Dolly, ich will gehen“ — sagte Lewin aufspringend.
Grischa, welcher bereits das Gymnasium besuchte, mußte im Sommer seine Lektionen repetieren. Darja Aleksandrowna, welche schon in Moskau mit ihrem Sohne zugleich die lateinische Sprache gelernt hatte, hatte es sich, nachdem sie zu Lewin gekommen war, zum Gesetz gemacht, mit ersterem die schwierigsten Lektionen im Lateinischen und der Arithmetik, wenigstens einmal täglich, zu repetieren.
Lewin hatte sich erboten, sie abzulösen, aber die Mutter, welche einmal den Unterricht Lewins mit angehört, und bemerkt hatte, daß derselbe nicht so erteilt würde, wie der Lehrer in Moskau repetierte, so erklärte sie ihm, verlegen und sich bemühend, Lewin nicht zu verletzen, bestimmt, daß man nach dem Buche so vorgehen müsse, wie der Lehrer, und daß sie dies am liebsten wohl selbst wieder thun möchte.
Lewin ereiferte sich über Stefan Arkadjewitsch, weil dieser in seiner Sorglosigkeit sich nicht selbst mit der Überwachung des Unterrichts befaßte, sondern die Mutter, welche doch nichts davon verstand, und ferner auch über die Lehrer, weil sie die Kinder so schlecht unterrichteten; seiner Schwägerin aber gab er das Versprechen, daß er den Unterricht so geben wolle, wie sie es wünschte. Er ging daher mit Grischa nicht mehr nach seiner Methode weiter, sondern nach dem Buche, und daher mit Widerwillen und häufig die Lehrzeit vergessend.
So war es auch heute.
„Nein, ich gehe, Dolly, bleib du sitzen,“ sagte er; „wir werden schon alles machen, wie es der Ordnung gemäß ist, nach dem Buche. Sobald Stefan gekommen ist, wollen wir zur Jagd gehen; wir werden uns dann schon die Zeit vertreiben.“
Lewin begab sich zu Grischa.
Das Nämliche sagte Warenka zu Kity. Warenka hatte es verstanden, sich in dem glücklichen, wohlbestellten Haus der Lewin nützlich zu machen.
„Ich will das Abendessen bestellen, Ihr aber bleibt nur sitzen,“ sagte sie und erhob sich, um zu Agathe Michailowna zu gehen.
„Man hat wohl keine jungen Hühner gefunden. Denn“ — sagte Kity.
„Ich werde schon mit Agathe Michailowna überlegen“ — und Warenka verschwand mit dieser.
„Welch ein liebes Mädchen,“ sagte die Fürstin.
„Nicht lieb, Maman, reizend, wie es keines weiter giebt.“
„So erwartet Ihr also heute Stefan Arkadjewitsch?“ sprach Sergey Iwanowitsch, der augenscheinlich das Gespräch über Warenka nicht fortzusetzen wünschte. „Es dürfte schwer sein, zwei Schwager zu finden, die einander weniger ähnlich wären,“ sagte er mit feinem Lächeln. „Der Eine beweglich, nur in der Gesellschaft lebend wie ein Fisch im Wasser; der Andere, unser Konstantin, lebhaft, schnell, empfänglich für alles; aber sobald er in der Gesellschaft ist, erstirbt er, oder schlägt sich sinnlos wie ein Fisch auf dem Lande.“
„Ja, er ist sehr unüberlegt,“ sagte die Fürstin, sich zu Sergey Iwanowitsch wendend, „ich wollte Euch eben bitten, ihm zu sagen, daß sie,“ sie wies auf Kity, „unmöglich hier bleiben kann, sondern jedenfalls nach Moskau kommen muß. Er sagt, er würde einen Arzt verschreiben“ —
„Maman, er thut alles und ist mit allem einverstanden,“ antwortete Kity, voll Verdruß über die Mutter, weil sie in dieser Angelegenheit Sergey Iwanowitsch zum Richter berief.
Mitten in ihrer Unterhaltung wurde in der Allee das Schnauben von Pferden und das Geräusch von Rädern auf dem Schotter vernehmbar.
Dolly hatte sich noch nicht erhoben, um ihrem Mann entgegenzugehen, als Lewin aus dem Fenster des Zimmers, in welchem Grischa lernte, hinabsprang und Grischa heruntersetzte.
„Es ist Stefan!“ rief Lewin unter dem Balkon hinauf, „wir sind fertig Dolly; fürchte nichts!“ fügte er hinzu, und begann wie ein Knabe, der Equipage entgegenzurennen.
„Is, ea id, eius eius eius,“ schrie Grischa, auf der Allee hinspringend.
„Und noch jemand ist mit! Wahrscheinlich der Papa!“ rief Lewin, am Eingang der Allee stehen bleibend. „Kity geh nicht zu der steilen Treppe herunter!“
Lewin irrte indes, wenn er den, der noch im Wagen saß, für den alten Fürsten gehalten hatte. Als er dem Wagen näher kam, erkannte er neben Stefan Arkadjewitsch nicht den Fürsten, sondern einen rot aussehenden, wohlbeleibten, jungen Mann in schottischer Mütze mit langen Bandstreifen hinten hinunter.
Dies war Wasjenka Wjeslowskij, ein Vetter im dritten Gliede von den Schtscherbazkiy, und ein in Petersburg und Moskau glänzender junger Mann, „ein ausgezeichneter Mensch und leidenschaftlicher Jäger“, wie ihn Stefan Arkadjewitsch vorstellte.
Durchaus nicht verlegen über die Enttäuschung, die er hervorrief, indem er mit seiner Person die des alten Fürsten vertrat, begrüßte Wjeslowskij Lewin heiter, an die alte Bekanntschaft erinnernd, und Grischa in den Wagen hebend, setzte er denselben an des Pointeurs Stelle, den Stefan Arkadjewitsch mitgebracht hatte, weiterfahrend.
Lewin setzte sich nicht mit in den Wagen, sondern ging hinterdrein. Er war verdrießlich, daß der alte Fürst nicht mitgekommen war, den er umsomehr liebte, je mehr er ihn kennen lernte, sowie darüber, daß dieser Wasjenka Wjeslowskij, ein vollständig fremder und überflüssiger Mensch erschienen war. Derselbe kam ihm um so fremder und überflüssiger vor, als er, indem Lewin zur Freitreppe schritt, auf welcher sich der ganze lebhafte Trupp der Erwachsenen und Kinder versammelt hatte, bemerkte, wie Wasjenka Wjeslowskij mit besonderer Zärtlichkeit und galanter Miene Kity die Hand küßte.
„Aha, wir sind ja Cousins mit Eurer Frau und alte Bekannte,“ sagte Wasjenka Wjeslowskiy, die Hand Lewins wiederholt außerordentlich stark drückend.
„Nun, giebt es viel Wild hier?“ wandte sich Stefan Arkadjewitsch an Lewin, der kaum mit der Begrüßung eines jeden fertig wurde. „Ich und der da, wir haben die ernstesten Absichten. Nun maman, seit dem letzten Male nicht wieder[179] in Moskau gewesen! Tanja, für dich habe ich Etwas! Hole dir's, im Wagen, hinten,“ so sprach er nach allen Seiten. „Wie du dich erholt hast, Dollchen,“ sagte er zu seiner Frau, ihr nochmals die Hand küssend, indem er dieselbe in der seinen hielt und sie von oben mit der andern sanft pätschelte.
Lewin, eine Minute zuvor noch in der heitersten Stimmung gewesen, blickte jetzt finster auf alle; es gefiel ihm jetzt nichts mehr.
„Wen mag er gestern mit diesen Lippen da geküßt haben?“ dachte er, die Zärtlichkeit Stefan Arkadjewitschs für seine Gattin sehend. Er schaute Dolly an, und auch sie gefiel ihm nicht. „Sie glaubt doch nicht an seine Liebe. Weshalb ist sie denn so erfreut? — Widerlich,“ dachte Lewin.
Er schaute auf die Fürstin, die einen Augenblick zuvor noch so liebenswürdig mit ihm gewesen war, und es gefiel ihm die Art und Weise nicht, mit welcher sie diesen Wasjenka mit seinen Bändern bewillkommte, als lüde sie ihn in ihr eigenes Haus.
Selbst Sergey Iwanowitsch, der gleichfalls auf die Freitreppe herausgetreten war, erschien ihm unangenehm mit jener geheuchelten Freundlichkeit, mit der er Stefan Arkadjewitsch begegnete, obwohl doch Lewin wußte, daß sein Bruder Oblonskiy weder liebte noch achtete.
Selbst Warenka — selbst diese war ihm zuwider, dadurch, daß sie sich mit ihrem Ausdruck sainte nitouche mit diesem Herrn da bekannt gemacht hatte, obwohl sie doch nur daran dachte, wie sie wohl einen Mann bekommen könne. Am allerverhaßtesten aber war ihm Kity, da sie sich dem nämlichen Tone der Heiterkeit hingab, mit welchem dieser Herr, wie an einem Festtag, für sich und alle, seine Ankunft auf dem Dorfe betrachtete, und sie war ihm ganz besonders unangenehm durch das eigenartige Lächeln, mit welchem sie dem seinigen antwortete.
In geräuschvoller Unterhaltung gingen alle in das Haus; man hatte sich aber kaum niedergelassen, als Lewin sich wandte und hinausging.
Kity sah, daß in ihrem Manne etwas vor sich ging. Sie wollte eine Minute erhaschen, um mit ihm allein zu sprechen,[180] er aber beeilte sich, vor ihr fortzukommen, indem er sagte, er müsse nach dem Comptoir.
Seit langem waren ihm die Wirtschaftsangelegenheiten nicht so wichtig erschienen, als jetzt. „Sie haben hier immer Feiertag,“ dachte er, „hier aber giebt es Arbeiten, die nicht müßiger Natur sind, welche nicht warten, und ohne die man nicht existieren kann.“
Lewin kehrte erst nach Hause zurück, als man ihn zum Abendessen hatte rufen lassen. Auf der Treppe stand Kity und Agathe Michailowna in der Beratung über die Weine für das Abendessen.
„Aber wozu solchen Aufwand machen? Setzt doch vor, was es gewöhnlich giebt.“
„Nein; Stefan trinkt nicht — aber Konstantin, so warte doch, was ist denn mit dir?“ rief Kity, ihm nacheilend; er aber ging unbarmherzig, ohne auf sie zu warten, mit großen Schritten nach dem Salon und mischte sich sofort in das allgemeine, lebhafte Gespräch, das hier Wasjenka Wjeslowskij und Stefan Arkadjewitsch unterhielten.
„Nun, fahren wir morgen zur Jagd?“ sagte Stefan Arkadjewitsch.
„Bitte, fahren wir,“ sagte Wjeslowskij, sich seitwärts auf einen anderen Stuhl setzend und das fette Bein unterschlagend.
„Freut mich sehr, wir werden fahren. Habt Ihr schon gejagt dieses Jahr?“ sagte Lewin zu Wjeslowskij, aufmerksam dessen Fuß betrachtend, aber mit erheuchelter Freundlichkeit, die Kity so gut an ihm kannte, und die ihm so wenig stand. „Ob wir Wachteln finden werden, weiß ich nicht, doch Bekassinen sind viel vorhanden; nur muß man zeitig fahren. Ihr seid doch nicht müde? Bist du nicht ermattet, Stefan?“
„Ich ermattet? Ich bin noch nie matt gewesen. Wir wollen die ganze Nacht nicht schlafen! Fahren wir spazieren!“
„In der That; wir wollen einmal nicht schlafen! Ausgezeichnet!“ stimmte Wjeslowskij bei.
„O, wir sind davon überzeugt, daß du nicht zu schlafen vermagst, und andere nicht schlafen lassen kannst,“ sagte Dolly zu ihrem Gatten mit jener kaum bemerkbaren Ironie, mit[181] welcher sie sich jetzt fast stets an ihn wandte. „Aber nach meiner Ansicht ist es jetzt schon Zeit — ich will gehen, ich werde nicht zu Abend essen.“ —
„Nein, du bleibst sitzen, Dollchen,“ rief Stefan Arkadjewitsch, auf ihre Seite am großen Tische hinübergehend, an welchem zu Abend gegessen wurde. „Ich habe dir noch soviel zu erzählen.“
„In Wahrheit aber nichts.“
„Weißt du, Wjeslowskij war bei Anna; und er wird wieder zu den beiden fahren. Sie sind freilich einige siebzig Werst weit von euch entfernt. Auch ich werde zweifellos einmal hinfahren. Wjeslowskij, komm doch hierher!“
Wasjenka war zu den Damen gegangen, und hatte sich neben Kity niedergelassen.
„Ach bitte erzählt uns doch, bitte, Ihr waret also bei ihr? Wie geht es ihr?“ wandte sich Darja Aleksandrowna an ihn.
Lewin war auf der anderen Seite des Tisches geblieben und sah, ohne in dem Gespräch mit der Fürstin und Warenka innezuhalten, daß zwischen Stefan Arkadjewitsch, Dolly, Kity und Wjeslowskij ein lebhaftes und geheimnisvolles Gespräch geführt wurde. Obwohl das Gespräch leise geführt wurde, gewahrte Lewin doch auf dem Gesicht seiner Frau den Ausdruck einer ernsten Empfindung, als sie unverwandt in das rote Gesicht Wasjenkas blickte, der lebhaft erzählte.
„Es geht ihnen sehr gut,“ berichtete Wasjenka von Wronskiy und Anna.
„Ich natürlich möchte es nicht auf mich nehmen, zu urteilen, aber in ihrem Hause befindet man sich wie in der Familie.“
„Was beabsichtigen sie denn zu thun?“
„Wie es scheint, wollen sie für den Winter nach Moskau.“
„Wie schön wäre es, wenn wir zusammen zu ihnen reisen könnten. Wann wirst du fahren?“ frug Stefan Arkadjewitsch Wasjenka.
„Ich werde den Juli bei ihnen zubringen.“
„Und auch du wirst doch mitfahren?“ wandte sich Stefan Arkadjewitsch an seine Frau.
„Ich habe schon lange hingewollt und werde sicher fahren,“[182] sagte Dolly. „Sie thut mir leid, und ich kenne sie. Sie ist ein schönes Weib. Ich werde allein reisen, wenn du weggehst, und niemand dadurch belästigen. Es ist sogar besser, wenn du nicht da bist.“
„Auch gut,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „und Kity?“
„Ich? Weshalb sollte ich hinreisen?“ antwortete Kity, in mächtige Aufregung geratend, und schaute nach ihrem Gatten.
„Aber Ihr seid doch mit Anna Arkadjewna bekannt?“ frug sie Wjeslowskij, „sie ist ein sehr anziehendes Weib.“
„Ja,“ antwortete sie Wjeslowskij, noch tiefer errötend, erhob sich, und ging zu ihrem Manne.
„Du willst also morgen auf die Jagd fahren?“ sagte sie.
Seine Eifersucht in diesen wenigen Augenblicken war, besonders angesichts dieser Röte, die ihre Wangen bedeckte, als sie mit Wjeslowskij sprach, schon hoch gestiegen. Jetzt faßte er, indem er ihre Worte vernahm, diese nach seiner Weise auf. So seltsam es ihm auch erschien, wenn er späterhin hieran zurückdachte, jetzt schien es ihm klar zu sein, daß sie, wenn sie ihn frug, ob er auf die Jagd fahre, nur interessierte, zu erfahren, ob er Wasjenka Wjeslowskij das Vergnügen machen wolle, ihm, in den sie nach seiner Auffassung schon verliebt war.
„Ja, ich werde fahren,“ antwortete er mit unnatürlicher, ihm selbst abstoßend erscheinender Stimme.
„Aber Ihr verbrächtet doch besser den Tag morgen hier; Dolly hat ja sonst ihren Mann gar nicht gesehen; übermorgen könntet Ihr fahren,“ sagte Kity.
Der Sinn dieser Worte Kitys war von Lewin bereits so gewandelt: „Trenne mich nicht von ihm. Daß du fährst, ist mir ganz gleichgültig, doch laß mich die Gesellschaft dieses reizenden jungen Mannes genießen.“
„Ach, wenn du willst, so werden wir morgen zu Haus bleiben,“ antwortete Lewin mit eigentümlicher Zuvorkommenheit.
Wasjenka mittlerweile, der nicht im geringsten das Leid ahnte, welches seine Anwesenheit verursacht hatte, war mittlerweile nach Kity vom Tische aufgestanden und ihr, sie mit freundlichem lächelnden Blick verfolgend, nachgegangen.
Lewin sah diesen Blick. Er erblich und vermochte eine[183] Minute nicht, Atem zu schöpfen. „Wie kann man sich erlauben, so auf mein Weib zu schauen,“ schäumte es in ihm.
„Also morgen? Fahren wir also,“ sagte Wasjenka, sich auf den Stuhl niederlassend und wiederum nach seiner Gewohnheit den Fuß unterschlagend.
Die Eifersucht Lewins stieg noch höher. Er sah sich schon als betrogenen Gatten, den die Frau und ihr Liebhaber nur dazu brauchen, ihnen die Annehmlichkeiten des Lebens und Vergnügungen zu gewähren. Aber nichtsdestoweniger frug er Wasjenka liebenswürdig und gastfreundlich nach seinen Jagdzügen, seinem Gewehr, den Stiefeln und war einverstanden damit, morgen zu fahren.
Zum Glück für Lewin kürzte die alte Fürstin seine Leiden dadurch, daß sie sich erhob und Kity anriet, schlafen zu gehen. Aber auch hierbei ging es nicht ohne einen neuen Schmerz für Lewin ab. Als sich Wasjenka von der Frau des Hauses verabschiedete, wollte er wiederum ihre Hand küssen, allein Kity sagte errötend, und mit einer naiven Herbheit, wegen der ihr später die alte Fürstin Vorwürfe machte, indem sie ihm ihre Hand entzog: „Das ist bei uns nicht üblich!“
In den Augen Lewins war sie dadurch schuldig, daß sie solche Beziehungen überhaupt zugelassen hatte, und noch schuldiger, weil sie so ungeschickt bewiesen hatte, daß dieselben ihr nicht gefielen.
„Was ist das für ein Vergnügen zu schlafen!“ sprach Stefan Arkadjewitsch, nachdem er beim Abendessen einige Gläser Wein geleert hatte und in seine gemütliche und poetische Stimmung geraten war. „Sieh Kity,“ sagte er, auf den hinter den Linden heraufsteigenden Mond weisend, „wie reizend! Wjeslowskij, das wäre etwas, wenn du eine Serenade singen willst. Weißt du, er hat nämlich eine großartige Stimme, wir haben zusammen unterwegs gesungen. Er hat schöne Romanzen mit, zwei neue; die könnte man mit Barbara Andrejewna singen!“
Als sich alles schon zurückgezogen hatte, ging Stefan Arkadjewitsch mit Wjeslowskij noch in der Allee spazieren, und man hörte ihre Stimmen in der neuen Romanze.
Lewin saß, den Stimmen lauschend, finster in dem Lehnstuhl im Schlafgemach seiner Frau und schwieg hartnäckig auf deren Fragen, was er denn habe; doch als sie endlich selbst schüchtern lächelnd frug: „hat dir etwa irgend etwas mit Wjeslowskij nicht gefallen?“ da brach es hervor aus ihm, und er sagte alles. Das, was er aber hervorbrachte, kränkte ihn, und erzürnte ihn nur so noch mehr.
Er stand vor ihr mit furchtbar unter den finsterzusammengezogenen Brauen blitzenden Augen, und preßte die starken Hände auf die Brust, als biete er alle seine Kräfte auf, an sich zu halten. Der Ausdruck seines Gesichtes wäre rauh und selbst hart gewesen, wenn nicht zugleich auch der Schmerz sich darauf ausgeprägt hätte, was sie rührte. Seine Kinnbacken knirschten und seine Stimme brach ab.
„Verstehe wohl, daß ich nicht etwa eifersüchtig bin; dies ist ein häßliches Wort! Ich kann nicht eifersüchtig sein und glauben, daß — ich kann nicht sagen, was ich fühle, doch dies ist furchtbar! Ich bin nicht eifersüchtig, aber beleidigt, erniedrigt, dadurch, daß jemand wagt, zu denken — wagt, mit solchen Augen auf dich zu blicken!“ — —
„Aber mit was für Augen?“ sagte Kity, sich bemühend, so gewissenhaft als möglich sich alle ihre Reden und Bewegungen vom heutigen Abend, sowie alle Schattierungen derselben ins Gedächtnis zurückzurufen.
Auf dem Grund ihrer Seele fand sie, daß in jener Minute, als er ihr nach dem andern Ende des Tisches gefolgt war, in der That etwas gelegen hatte, aber sie wagte dies nicht einmal auch nur sich selbst einzugestehen, und entschloß sich daher um so weniger, es ihm zu sagen und dadurch seinen Schmerz noch zu vergrößern.
„Was soll nur Anziehendes sein an mir, wie ich jetzt bin“ —
„Ach!“ rief er, sich an den Kopf greifend; „hättest du nicht so gesprochen — das heißt also, wenn du anziehend gewesen wärest“ —
„Mein Konstantin, halt ein, höre doch!“ — sprach sie, ihn mit leidendem und mitleidvollem Ausdruck anblickend. „Was denkst du nur? Wo es für mich doch keinen Menschen giebt, keinen, keinen! Willst du, daß ich niemand hier sehen soll?“
In der ersten Minute war seine Eifersucht beleidigend für sie gewesen; es war ihr verdrießlich gewesen, daß ihr auch die kleinste Zerstreuung, selbst die unschuldigste, untersagt wurde; jetzt aber hätte sie sich gern, nicht in solchen Kleinigkeiten, sondern in allem für seine Ruhe geopfert, um ihn von dem Schmerz zu befreien, den er litt.
„Begreife doch nur das Entsetzliche und das Komische meiner Lage,“ fuhr er in verzweifeltem Flüsterton fort, „daß er in meinem Hause ist, daß er nichts Unanständiges begangen hat, abgesehen von jener Ungezwungenheit und dem Übereinanderschlagen seiner Füße. Er hält dies für den besten Ton, und demzufolge muß ich noch mit ihm liebenswürdig sein!“
„Aber, liebster Konstantin, du übertreibst ja,“ sagte Kity, in der Tiefe ihres Herzens erfreut über die Kraft seiner Liebe zu ihr, die sich jetzt in seiner Eifersucht ausdrückte.
„Am Entsetzlichsten von allem ist, daß du — jetzt so wie du es stets gewesen, ein Heiligtum für mich — daß wir so glücklich gewesen sind, so selten glücklich — und plötzlich konnte dieser Wicht — nicht Wicht; weshalb sollte ich ihn schimpfen? — Ich habe mit ihm nichts zu schaffen! Aber weshalb soll mein Glück, dein Glück“ — —
„Weißt du, ich begreife, woher dies alles gekommen ist,“ begann Kity.
„Woher? Woher?“
„Ich habe gesehen, wie du blicktest, als wir beim Abendessen sprachen.“
„Nun ja, nun ja!“ sagte Lewin erschreckt.
Sie erzählte ihm, wovon man gesprochen hatte, und als sie es erzählte, kam sie vor Erregung außer Atem. Lewin verstummte, betrachtete ihr bleiches, angstvolles Gesicht und griff sich plötzlich an den Kopf.
„Katja, ich habe dich gemartert! Mein Täubchen, verzeihe mir! Dieser Wahnsinn! Katja, ich bin unendlich schuldig! Kann man nur durch solche Thorheit sich quälen!“
„Nein, du nur thust mir leid.“
„Ich? Ich? Was für ein Wahnwitziger ich bin! Weshalb thue ich dir leid? Es ist mir entsetzlich zu denken, daß jeder fremde Mensch unser Glück zerstören kann.“
„Natürlich! das ist eben das Kränkende“ —
„Nein; so werde ich ihn mit Absicht den ganzen Sommer bei uns behalten und mich in Liebenswürdigkeiten gegen ihn überbieten,“ sprach Lewin, ihr die Hand küssend. „Du wirst sehen. Morgen. Ja, es ist wahr, morgen wollen wir fahren.“
Am andern Tage hatten sich die Damen noch nicht erhoben, als die Jagdwagen schon vor der Einfahrt standen und Laska, der bereits am Morgen gemerkt hatte, daß es zur Jagd gehe, sich heulend und nachdem er sich satt getummelt hatte, in den einen der Wagen neben dem Kutscher setzte, welcher ärgerlich und mißlaunig über die Verspätung nach der Thür blickte, aus welcher die Jäger noch immer nicht herauskommen wollten.
Zuerst erschien Wasjenka Wjeslowskij, in großen neuen Jagdstiefeln, welche bis zur Hälfte der dicken Schenkel gingen; in grüner Bluse, mit einer neuen, nach Juchten duftenden Patronentasche gegürtet und in seiner Bändermütze und dem neuen englischen Gewehr. Laska sprang ihm entgegen, begrüßte ihn, sprang an ihm empor und frug ihn auf seine Weise, ob bald noch die anderen herauskommen würden, kehrte aber dann, da er keine Antwort von ihm erhielt, auf seinen Warteposten zurück, um hier wieder still zu werden, den Kopf auf die Seite gewendet und das eine Ohr spitzend.
Endlich öffnete sich kreischend die Thür, und heraus flog, sich wirbelnd und in der Luft drehend, Krak, der hellgescheckte Pointeur Stefan Arkadjewitschs, worauf dieser selbst heraustrat, die Flinte in den Händen und die Cigarre im Munde. Freundlich rief er seinem Hunde zu, der ihm die Pfoten auf Leib und Brust setzte und sich mit denselben in der Jagdtasche verwickelte.
Stefan Arkadjewitsch war mit ledernen Schnürstücken mit untergelegten Strumpflappen an den Füßen, einem zerrissenen Beinkleid und einem kurzen Rock bekleidet. Auf dem Kopfe saß die Ruine eines Hutes, das Gewehr aber, nach modernstem System, war ein wahres Spielzeug und die Jagdtasche und Patrontasche, obwohl abgetragen, von vorzüglicher Qualität.
Wasjenka Wjeslowskij hatte früher diese echte Jägerkoketterie[187] nicht begriffen, in Lumpen zu gehen, und dabei ein Jagdgerät von vorzüglichster Güte zu führen. Er begriff sie aber jetzt, als er Stefan Arkadjewitsch mit diesen Lumpen, in all seiner eleganten, wohlgenährten und behaglich gestimmten Herrenerscheinung erblickte, und faßte den Entschluß, sich bei der nächsten Jagd unfehlbar ebenso zu equipieren.
„Nun, und was macht unser Wirt?“ frug er.
„Ein junges Weib,“ sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd.
„Und noch dazu ein reizendes.“
„Er war bereits angekleidet, aber wahrscheinlich ist er nochmals zu ihr gelaufen.“
Stefan Arkadjewitsch hatte es erraten. Lewin war mehrmals zu seiner Gattin geeilt, um sie noch einmal zu fragen, ob sie ihm seine gestrige Dummheit vergeben habe, und dann, um sie zu bitten, doch um Christi willen vorsichtiger zu sein. Hauptsächlich — sich vor den Kindern ferner zu halten — sie konnten sie leicht einmal stoßen. Dann mußte er von ihr nochmals die Versicherung erhalten, daß sie ihm nicht gram sei darüber, daß er auf zwei Tage fortfuhr, und sie bitten, ihm unbedingt morgen früh, mit dem ersten Zug, ein Billet zu schicken, und ihm wenigstens zwei Worte zu schreiben, damit er nur wußte, daß sie sich wohl befinde.
Kity war es wie stets schmerzlich, sich auf zwei Tage von ihrem Gatten trennen zu sollen; allein als sie seine lebhafte Erscheinung, die besonders groß und kraftvoll in den Jagdstiefeln und der weißen Bluse erschien, und einen gewissen, ihr unverständlichen Schimmer der Jagdfreude wahrgenommen hatte, vergaß sie, um ihm seine Freude zu lassen, ihren Schmerz, und verabschiedete sich heiter von ihm.
„Entschuldigung, meine Herren!“ sagte er, auf die Freitreppe herauskommend. „Hat man das Frühstück eingepackt? Warum ist der Fuchs rechts gespannt? Nun gleichviel! Laska — leg' dich! — Laß sie in die ledige Herde,“ wandte er sich an den Viehwärter, der an der Treppe mit einer Frage über die Wallachen wartete.
Lewin sprang vom Wagen, auf dem er sich schon setzen wollte, zu einem Zimmermann hin, der mit einem Ellenmaß zur Treppe gekommen war.
„Gestern ist er nicht ins Comptoir gekommen und heute hält er mich nun ab. Was ist denn?“
„Wir müssen noch drei Stufen hinzunehmen; dann paßt es; sie wird dann bequemer liegen.“
„Hättest du mir gehorcht,“ antwortete Lewin ärgerlich. „Ich habe gesagt, du sollst zuerst die Treppenlager, und die Stufen zuletzt machen! Jetzt kommst du nun nicht aus. Thu wie ich dir befohlen habe, und mache ein neues Lager.“
Es handelte sich darum, daß in einem im Bau befindlichen Flügel der Zimmermann die Treppe verpfuscht hatte, indem er sie selbständig, ohne die Höhe zu berechnen, gefertigt hatte, sodaß nun alle Stufen schräg hingen, als man die Treppe an ihrem Platz aufstellte. Der Zimmermann wollte nun, die Treppe lassend wie sie war, nur noch drei Stufen hinzufügen.
„Es wird so viel besser werden.“
„Aber wohin willst du denn kommen mit den drei Stufen!“
„Gestattet,“ antwortete der Zimmermann mit geringschätzigem Lächeln; „da sie sich von unten erhebt,“ er sprach dies mit überzeugender Gebärde, „muß es gehen, sie muß passen!“
„Aber drei Stufen gehen doch noch in die Länge? Wohin soll sie denn da kommen?“
„Da sie von unten auf geht, so muß sie passen,“ beharrte der Zimmermann.
„Bis unter die Decke und an die Wand kommt sie.“
„Aber, mit Verlaub, sie kommt doch von unten, da wird sie passen.“
Lewin ergriff seinen Ladestock und begann ihm im Staube die Treppe zu zeichnen.
„Siehst du nun?“
„Wie Ihr befehlt,“ sagte der Zimmermann, plötzlich mit den Augen hell aufblickend und endlich offenbar die Sache begreifend. „Es ist klar, es muß eine neue Treppe gezimmert werden.“
„Nun also, thue nun, wie dir geheißen ist,“ rief Lewin und setzte sich wieder in den Wagen. „Fahr zu! — Halt die Hunde, Philipp!“
Lewin empfand jetzt, nachdem er alle Sorgen des Hauses und der Wirtschaft hinter sich gelassen hatte, ein so mächtiges Gefühl von Lebensfreude und Erwartung, daß er keine Lust verspürte, zu sprechen. Er hatte auch das Gefühl der konzentrierten Aufregung, welche jeder Jäger verspürt, wenn er sich seinem Revier nähert. Wenn ihn jetzt überhaupt etwas beschäftigte, so waren es nur die Fragen, ob man im Kolpenskischen Moor etwas finden werde, wie sich Laska im Vergleich zu Krak zeigen, und wie ihm selbst heute das Jagdglück lächeln würde.
Daß man sich vor einem fremden Jäger keine Blöße gab; daß Oblonskiy ihn nicht überschießen möchte, auch dies kam ihm in den Kopf.
Oblonskiy hatte ein ganz ähnliches Gefühl, und war gleichfalls wortkarg. Nur Wasjenka Wjeslowskij schwatzte lustig und unaufhörlich weiter.
Als Lewin ihn jetzt hörte, fühlte er sich beschämt, wenn er daran dachte, wie ungerecht er gestern gegen ihn gewesen sei.
Wasjenka war in der That ein vorzüglicher, naiver, gutmütiger und sehr heiterer Mensch. Wäre Lewin noch unverheiratet mit ihm zusammengekommen, so würde er sich ihm genähert haben. Nur war ihm ein wenig unangenehmer seine müßige Stellung zum Leben, und eine gewisse Ungezwungenheit bei aller Eleganz. Er schien sich gewissermaßen selbst eine hohe unzweifelhafte Bedeutung beizumessen, daß er lange Nägel und eine kleine Mütze trug und alles übrige dementsprechend, doch konnte man dies bei seiner Gutherzigkeit und Solidität entschuldigen. Er gefiel Lewin wegen seiner guten Erziehung, einer ausgezeichneten Aussprache des Französischen und Englischen, und dann deshalb, weil er ein Mensch seiner eignen Welt war.
Wasjenka gefiel das donische Steppenpferd am linken Strang außerordentlich. Er war fortwährend exaltiert davon, „wie schön muß es sich auf einem Steppenpferd durch die Steppe jagen lassen! Ha? Nicht so?“ sprach er. Er stellte sich in dem Ritt auf einem Steppenroß etwas wundersames poetisches vor, woraus sich zwar nichts ergab, aber seine Naivetät, besonders im Verein mit seiner Schönheit, seinem freundlichen Lächeln und der Grazie seiner Bewegungen war sehr anziehend.[190] Kam es nun davon her, daß seine Natur Lewin sympathisch war, oder davon, daß Lewin sich bemühte, zur Sühne für seinen gestrigen Fehltritt alles an ihm gut zu finden, genug, Lewin fühlte sich angenehm von ihm berührt.
Nachdem man drei Werst gefahren war, tastete Wjeslowskij plötzlich nach seinen Cigarren und der Brieftasche, und wußte nicht, ob er beides verloren oder auf dem Tische liegen gelassen hatte.
In der Brieftasche waren dreihundertsiebzig Rubel, und daher durfte man sie nicht im Stich lassen.
„Wißt Ihr was, Lewin, ich werde auf diesem donischen Beipferd nach Hause reiten. Das wäre ausgezeichnet. Nicht?“ sagte er, schon bereit, aufzusitzen.
„Nein; warum das?“ antwortete Lewin, der schon berechnet hatte, daß Wasjenka nicht weniger als sechs Pud Gewicht haben müsse. „Ich werde den Kutscher schicken.“
Der Kutscher ritt auf dem Beipferd ab, und Lewin lenkte nun selbst die beiden übrigen Pferde.
„Was haben wir denn für eine Marschroute? Erzähle doch gefälligst ein wenig,“ sagte Stefan Arkadjewitsch.
„Der Plan ist folgender: Jetzt werden wir bis Gwozdjowo fahren. In Gwozdjowo befindet sich diesseits eine Niederung mit Schnepfen, hinter Gwozdjowo aber ziehen sich wunderbare Bekassinensümpfe hin, und Schnepfen sind auch da. Es ist jetzt heiß; wir werden gegen Abend — es sind noch zwanzig Werst — ankommen, ein Abendfeld nehmen, dann übernachten, und morgen schon in die großen Sümpfe gehen.“
„Aber giebt es denn unterwegs nichts?“
„O doch, aber wir würden uns da nur aufhalten und es ist heiß. Es giebt zwei ausgezeichnete Plätze, aber schwerlich wird es da etwas geben.“
Lewin hatte selbst Lust, nach jenen Plätzen zu gehen, aber dieselben lagen seiner Wohnung zu nahe und er konnte sie stets erreichen; die Plätze waren auch klein — drei konnten nicht auf ihnen schießen. Infolge dessen schlug er im Geiste einen Haken, und sagte, es dürfte kaum etwas dort zu finden sein. Als sie an dem kleinen Sumpfe angekommen waren,[191] wollte Lewin vorüberfahren, doch der erfahrene Jägerblick Stefan Arkadjewitschs unterschied sogleich die vom Wege her sichtbare Feuchtigkeit.
„Wollen wir nicht hinfahren?“ sagte er, auf den Sumpf weisend.
„Lewin bitte; wie reizend!“ begann Wasjenka Wjeslowskij zu bitten, und Lewin mußte einwilligen.
Sie hatten noch nicht Halt gemacht, als schon die Hunde, sich gegenseitig jagend, dem Sumpf zuflogen.
„Krak! Laska!“
Die Hunde kehrten zurück.
„Zu Dreien wird es uns zu eng werden. Ich werde hier bleiben,“ sagte Lewin, in der Hoffnung, daß sie nichts finden möchten als Kibitze, die sich vor den Hunden erhoben und sich im Fluge überschlagend, kläglich über dem Sumpfe schrieen.
„Nein! — Kommt! Wir wollen zusammen gehen, Lewin!“ rief Wjeslowskij.
„Richtig ist das; es wird zu eng! — Laska, zurück; — Laska! — Braucht Ihr dann nicht einmal einen anderen Hund?“
Lewin blieb bei dem Wagen und schaute voll Mißgunst auf die Jäger. Diese durchwanderten den ganzen Sumpf, aber außer einer Henne und Kibitzen, von denen Wjeslowskij einen erlegte, war nichts darin.
„Nun da seht Ihr, daß ich den Sumpf nicht bedauerte,“ sagte Lewin, „wohl aber den Zeitverlust.“
„Ach nein; es war immerhin ganz hübsch! Habt Ihr es gesehen?“ sprach Wasjenka Wjeslowskij, unbehilflich auf den Wagen kletternd, die Flinte und den Kibitz in den Händen. „Wie ich den gut getroffen habe, nicht wahr? Nun, werden wir denn bald an den richtigen Ort kommen?“
Plötzlich rissen die Pferde in das Geschirr, Lewin schlug mit dem Kopf an den Lauf eines der Gewehre, und ein Schuß ging los. Der Schuß an sich ertönte schon früher, aber es schien Lewin nur so. Wasjenka Wjeslowskij hatte, die Hähne in Ruhe setzend, den einen Drücker berührt, während er den andern Hahn gehalten hatte.
Die Ladung ging in die Luft, ohne jemand Schaden zuzufügen. Stefan Arkadjewitsch schüttelte den Kopf und lächelte[192] Wjeslowskij vorwurfsvoll zu, Lewin aber war nicht in der Stimmung, ihm einen Vorwurf zu machen; erstens wäre jeder Vorwurf nur durch die vorübergegangene Gefahr und die Beule, welche auf der Stirn Lewins auftrat, hervorgerufen erschienen, zweitens aber war Wjeslowskij anfangs so naiv ärgerlich, und fing dann so gutmütig und ansteckend an über die allgemeine Aufregung zu lachen, daß es unmöglich war, nicht mit zu lachen.
Als sie an den zweiten Sumpf gelangten, welcher ziemlich groß war, und daher viel Zeit in Anspruch nehmen mußte, suchte Lewin dahin zu wirken, daß man nicht hineinging. Doch Wjeslowskij besiegte ihn wieder durch sein Bitten, und wiederum blieb Lewin, als gastfreundlicher Wirt, bei dem Wagen zurück.
Sogleich bei der Ankunft witterte Krak nach den Maulwurfshügeln. Wasjenka Wjeslowskij lief als der Erste hinter dem Hunde her und Stefan Arkadjewitsch war noch nicht herangekommen, als schon ein Vogel aufging. Wjeslowskij schoß fehl und der Vogel ließ sich in einer ungemähten Wiese wieder nieder. Wjeslowskij aber war diese Beute bestimmt. Krak fand sie wieder auf, stellte sie und er schoß sie und kehrte dann zu dem Wagen zurück.
„Jetzt geht Ihr, und ich will bei den Pferden bleiben,“ sprach er.
Lewin begann der Jagdneid zu ergreifen. Er übergab Wjeslowskij die Zügel und begab sich in den Sumpf.
Laska, der schon lange kläglich gewinselt und sich über die Ungerechtigkeit beklagt hatte, eilte vorauf direkt nach einem verheißungsvollen, Lewin bekannten Gebiet, in welches Krak noch nicht gekommen war.
„Weshalb hältst du ihn denn nicht zurück?“ rief Stefan Arkadjewitsch.
„Er wird dich nicht schrecken,“ antwortete Lewin, voll Freude über seinen Hund, und ihm eilig folgend.
Auf der Suche Laskas wuchs, je näher dieser den bekannten Hügeln kam, mehr und mehr der Ernst der Situation. Ein kleiner Sumpfvogel zerstreute diesen nur auf einen Augenblick. Er beschrieb einen Kreis vor den Hügeln, begann einen zweiten, erschrak dann plötzlich und verschwand.
„Geh, geh Stefan!“ rief Lewin, welcher fühlte, wie ihm das Herz höher zu schlagen begann, und wie plötzlich, gleich als ob sich ein Riegel in seiner seelischen Spannung zurückbewege, alle Geräusche, den Maßstab ihrer Entfernung verlierend, ihn ungeregelt, aber scharf zu treffen begannen. Er vernahm die Schritte Stefan Arkadjewitschs, sie für das ferne Stampfen der Pferde haltend, er vernahm das spröde Geräusch der mit den Wurzeln sich loslösenden Ecke eines Maulwurfhaufens, auf welchen er getreten war, indem er dasselbe für den Flug eines Vogels hielt. Er vernahm auch im Rücken in nicht großer Entfernung ein Klatschen auf dem Wasser, von welchem er sich nicht Rechenschaft zu geben vermochte.
Indem er sich einen Standort für die Füße suchte, bewegte er sich auf seinen Hund zu.
Eine Bekassine machte sich vor dem Hunde auf. Lewin legte das Gewehr an, aber in dem Augenblicke, als er zielte, verstärkte sich jenes Geräusch von Klatschen auf dem Wasser; es kam näher, und mit ihm vereinigte sich die Stimme Wjeslowskijs, der in sonderbarer Weise laut rief.
Lewin sah, daß er mit der Flinte die Bekassine von hinten treffen werde, schoß aber gleichwohl.
Überzeugt, daß er einen Fehlschuß gethan, blickte er um sich und gewahrte, daß die Pferde mit dem einen Jagdwagen gar nicht mehr auf dem Wege, sondern im Sumpfe waren.
Wjeslowskij, welcher das Schießen hatte sehen wollen, war in den Sumpf gefahren und hatte die Pferde in eine Untiefe geführt.
„Hol' ihn der Teufel,“ sagte Lewin zu sich selbst, zu der feststeckenden Equipage zurückkehrend. „Weshalb seid Ihr denn fortgefahren,“ sagte er mit dürren Worten zu ihm, und machte sich, nachdem er den Kutscher herbeigerufen hatte, daran die Pferde loszubringen.
Lewin war verdrießlich geworden, daß man ihn im Schießen gestört und die Pferde in den Sumpf geführt hatte, hauptsächlich aber auch, daß bei dem Ausspannen der Pferde, was erforderlich war um sie wieder freizumachen, weder Stefan Arkadjewitsch, noch Wjeslowskij ihm und dem Kutscher Hilfe leisteten, weil weder dieser noch jener auch nur den geringsten Begriff davon hatte, worin eigentlich das Anschirren bestehe.[194] Ohne Wjeslowskij ein Wort auf dessen Versicherung, es sei hier ganz trocken, zu antworten, arbeitete Lewin schweigend mit dem Kutscher daran, die Pferde zu befreien.
Als er indessen bei der Arbeit warm geworden war und sah, wie beflissen und eifrig Wjeslowskij den Wagen an der Deichselstange zog, sodaß er diese sogar abbrach, machte er sich selbst Vorwürfe darüber, daß er unter dem Einfluß der gestrigen Empfindung allzu kalt gegen Wjeslowskij gewesen war, und bemühte sich mit besonderer Liebenswürdigkeit seine Barschheit wieder gutzumachen.
Nachdem alles wieder in Ordnung gebracht war, und die Wagen sich wieder auf dem Wege befanden, ließ Lewin das Frühstück bringen.
„Bon appétit — bonne conscience! Ce poulet va tomber jusqu'au fond de mes bottes,“ sagte Wjeslowskij, wieder lustig geworden, mit einem französischen Sprichwort, ein zweites Hühnchen verspeisend. „Jetzt sind unsere Leiden zu Ende und alles wird nun glücklich gehen. Nur will ich wegen meines Vergehens dazu gezwungen sein, auf dem Bocke zu sitzen. Ist es nicht recht so? Nein, ich bin Automedon! Paßt auf, wie ich Euch fahren werde!“ versetzte er, ohne die Zügel loszugeben, als ihn Lewin bat, den Kutscher fahren zu lassen. „Nein; ich muß mein Vergehen wieder gut machen, und befinde mich ganz wohl auf dem Bocke,“ und er fuhr.
Lewin fürchtete ein wenig, er möchte die Pferde malträtieren, besonders das Handpferd, einen Fuchs, den er nicht zu lenken verstand; doch unwillkürlich fügte er sich seiner Heiterkeit, lauschte er den Romanzen, welche Wjeslowskij, auf dem Bocke sitzend, den ganzen Weg entlang sang, oder seinen Erzählungen und Vorführungen, wie man auf englische Manier four in hand fahre — und alle fuhren nach dem Frühstück in der heitersten Stimmung nach dem Sumpfe von Gwozdjowo.
Wasjenka trieb die Pferde so schnell, daß sie zu früh bei dem Sumpfe ankamen, und es noch immer heiß war.
Als sie bei der Niederung angelangt waren, dem Hauptziele der Fahrt, dachte Lewin unwillkürlich, wie er Wasjenka los werden und ohne eine Störung jagen könnte. Stefan[195] Arkadjewitsch wünschte augenscheinlich das Nämliche, und auf seinem Gesicht sah Lewin den Ausdruck einer Besorgnis, welche bei dem echten Jäger stets vor Beginn der Jagd da zu sein pflegt, sowie den einer gewissen ihm eigenen gutmütigen Verschlagenheit.
„Wie wollen wir fahren? Der Sumpf ist ausgezeichnet, ich sehe es; auch Habichte sind da,“ sagte Stefan Arkadjewitsch auf zwei über dem Ried kreisende, große Vögel weisend. „Wo Habichte sind, ist sicher auch Wild.“
„Nun, seht ihr Herren,“ sagte Lewin, mit etwas mürrischem Ausdruck seine Stiefel hochziehend und die Pistons auf dem Gewehr nachsehend; „seht ihr diesen Ried?“ Er wies auf eine kleine, dunkel in Schwarzgrün schimmernde Insel, in einem weiten, sich auf dem rechten Ufer des Flusses ausdehnenden, bis zur Hälfte gemähten nassen Wiesengrund. „Der Sumpf beginnt hier, gerade vor uns, seht ihr — wo das Grün ist. Von da geht er rechts, wo die Pferde sind; — hier befinden sich auch Maulwurfshaufen und Bekassinen — dann rund um diese Wiese bis zu jenem Erlenwald und dicht bis zu der Mühle, dort wo man die Bucht sieht. Das ist ein ausgezeichneter Platz; ich habe einmal siebzehn Bekassinen hier geschossen; wir wollen uns nun mit den beiden Hunden nach den verschiedenen Seiten trennen, und dort bei der Mühle wieder zusammenkommen.“
„Aber wer geht rechts; wer links?“ frug Stefan Arkadjewitsch. „Rechts ist es weiter; geht dort zu Zweien, ich will links gehen,“ sagte er, so harmlos, wie er nur konnte.
„Schön; wir wollen ihn überschießen; also gehen wir, gehen wir,“ drängte Wasjenka.
Lewin konnte damit nur einverstanden sein, und so trennten sie sich. Kaum waren sie in den Sumpf gelangt, als beide Hunde gleichzeitig zu suchen begannen und nach dem Schlamme witterten. Lewin kannte dieses Suchen Laskas, vorsichtig und zurückhaltend; er kannte auch den Platz, und erwartete den Schwarm der Schnepfen.
„Wjeslowskij, geht nebenher, nebenher!“ sagte er mit leiser Stimme, zu dem im Wasser hinterher plätschernden Gefährten, dessen Gewehrlaufrichtung Lewin nach dem unvorhergesehenen Schuß am Kolpenskischen Sumpfe unwillkürlich interessierte.
„Ach nein, ich will Euch nicht im Wege sein, denkt nur nicht an mich!“
Lewin dachte aber unwillkürlich an ihn, und rief sich die Worte Kitys ins Gedächtnis, mit denen diese ihn von sich gelassen: „Paßt auf, und schießt einander nicht!“ — Näher und näher kamen die Hunde, einer am anderen vorüber und jeder seine Spur verfolgend; die Erwartung war so mächtig, daß Lewin das Schmatzen seines aus dem Schlamme emporgehobenen Stiefelabsatzes als Schrei einer Schnepfe erschien, sodaß er den Kolben des Gewehres packte und preßte.
„Puff, puff,“ klang es ihm in die Ohren. Wasjenka hatte in eine Schar Enten geschossen, welche über dem Sumpfe schwebten und jetzt bei weitem noch nicht für Jäger in Schußweite gekommen waren. Lewin hatte sich kaum umgeschaut, als eine Schnepfe schmatzte; eine zweite, eine dritte — noch acht dazu erhoben sich — eine nach der anderen.
Stefan Arkadjewitsch erlegte eine gerade im Augenblick, als sie ihre Zickzacklinien zu beschreiben begann, und die Schnepfe fiel wie ein Klumpen in den Moorgrund. Oblonskiy legte hastig auf eine zweite an, die noch niedrig flog, und auch diese fiel, zugleich mit dem Fall des Schusses, und es war deutlich zu erkennen, wie sie von dem gemähten Grunde aufsprang, mit dem heilgebliebenen weißen Flügel schlagend.
Lewin war nicht so glücklich; er hatte auf die erste Schnepfe zu nahe geschossen und gefehlt; er hatte auf sie angelegt, indem sie sich noch erhob, aber zur gleichen Zeit flog noch eine weitere dicht vor seinen Füßen auf, lenkte ihn ab, und er that einen zweiten Fehlschuß.
Während sie die Gewehre wieder luden, erhob sich eine weitere Bekassine und Wjeslowskij, der soeben zum zweitenmale geladen hatte, sandte ihr über das Wasser noch zwei Ladungen feinen Schrot nach. Stefan Arkadjewitsch sammelte seine Schnepfen und schaute mit glänzenden Augen auf Lewin.
„Nun, jetzt wollen wir uns trennen,“ sprach er, und schritt, auf dem linken Fuße hinkend, die Flinte in Bereitschaft haltend und dem Hunde pfeifend, nach der einen Seite.
Lewin mit Wjeslowskij gingen nach der anderen.
Lewin ging es stets so, daß er, wenn die ersten Schüsse[197] unglücklich waren, in Wallung geriet, ärgerlich wurde und den ganzen Tag schlecht schoß. So war es auch jetzt.
Bekassinen zeigten sich eine Menge; dicht vor den Hunden, vor den Füßen der Jäger gingen sie unaufhörlich auf, und Lewin hätte sein Mißgeschick wieder gut machen können, aber je mehr er schoß, umsomehr blamierte er sich vor Wjeslowskij, der wohlgemut darauf losplatzte, ohne etwas zu erlegen, dadurch aber nicht im geringsten aus der Fassung kam.
Lewin geriet in Unruhe, und mehr und mehr in Hitze, so daß er beim Schießen schon fast nicht mehr hoffte, noch etwas zu erlegen. Auch Laska schien dies zu verstehen; er begann, träger zu suchen, und schaute wie zweifelnd und vorwurfsvoll auf die Jäger. Schuß auf Schuß fiel. Pulverdampf lagerte sich um die Jäger, aber in dem großen Netze der Jagdtasche befanden sich nur drei leichte kleine Bekassinen, von denen eine noch durch Wjeslowskij, eine von beiden gemeinsam erlegt war. Währenddem vernahm man auf der andern Seite des Sumpfes zwar nicht häufige, wohl aber, wie Lewin schien, bedeutungsvolle Schüsse von Stefan Arkadjewitsch, bei denen fast nach einem jeden ein: „Krak, Krak, apport!“ hörbar wurde.
Dies regte Lewin noch mehr auf; die Bekassinen kreisten ohne Aufhören in der Luft über der Niederung. Ihr Schmatzen am Boden und das Schnarren in der Höhe war ohne Unterbrechung von allen Seiten vernehmbar; die vorher aufgestiegenen, und in der Luft kreisenden Vögel ließen sich vor den Jägern nieder und anstatt zweier Habichte schwebten jetzt deren zehn pfeifend über dem Sumpfe.
Nachdem sie die größere Hälfte des Sumpfes durchschritten hatten, gelangten Lewin und Wjeslowskij zu einer Stelle, auf welcher mit langen Streifen eine Bauernwiese abgeteilt war, durch eingetretene Streifen, und durch einen gemähten Schwaden angemerkt. Die Hälfte dieser Wiese war schon gemäht.
Obwohl nun wenig Hoffnung war, auf dem nichtgemähten Teil ebensoviel zu finden, wie auf dem gemähten, so hatte Lewin Stefan Arkadjewitsch doch einmal versprochen, mit diesem wieder zusammentreffen zu wollen, und schritt er daher mit seinem Gefährten weiter durch die gemähten und ungemähten Streifen hindurch.
„He da, ihr Jäger!“ — rief ihnen aus einem Trupp Bauern, welche bei einem ausgespannten Wagen saßen, einer zu, „kommt her, eßt mit uns Mittag! Hier giebt es auch Branntwein zu trinken!“ —
Lewin schaute sich um.
„Komm nur her!“ rief ein heiterer bärtiger Landmann mit rotem Gesicht, die weißen Zähne lächelnd zeigend, und die grünliche, in der Sonne blitzende Flasche hochhaltend.
„Qu'est ce qu'ils disent?“ frug Wjeslowskij.
„Sie laden uns ein zum Branntweintrinken. Wahrscheinlich haben sie die Wiesen geteilt. Ich möchte schon einmal trinken,“ sagte Lewin nicht ohne Hintergedanken, in der Hoffnung, Wjeslowskij möchte sich vom Branntwein verführen lassen und mit zu ihnen hingehen.
„Weshalb laden sie uns ein?“ —
„Nun; sie sind guter Laune. Geht doch einmal hin zu ihnen. Es wird Euch interessieren.“
„Allons, c'est curieux.“
„Geht, geht, Ihr werdet den Weg zur Mühle schon finden!“ rief Lewin, schaute sich um, und bemerkte mit Vergnügen, daß Wjeslowskij, stolpernd und mit müden Beinen, das Gewehr in dem gestreckten Arm haltend, sich aus dem Ried zu den Bauern herausarbeitete.
„Komm du doch auch!“ rief der Bauer Lewin zu. „Alle Wetter, es giebt Pasteten zu essen!“
Lewin gelüstete es stark, einmal Branntwein zu trinken, und ein Stück Brot zu essen. Er war müde geworden und fühlte, daß er nur noch mit Mühe die einsinkenden Füße aus dem Morast zog; und einen Moment schwankte er. Doch sein Hund hatte gestellt, und sofort war alle Müdigkeit verschwunden; leicht schritt er über das Moor hin seinem Hunde zu. Unter seinen Füßen flog eine Bekassine auf, er feuerte und erlegte sie — der Hund stand noch immer. „Los!“ vor dem Hunde erhob sich eine zweite. Lewin schoß; allein der Tag war nicht glücklich; er fehlte, und als er die erlegte Schnepfe suchen wollte, fand er sie nicht einmal. Er suchte den ganzen Ried ab, aber Laska wollte nicht glauben, daß er eine Schnepfe erlegt habe, und als Lewin ihm befahl, zu suchen, that er, als ob er suche, suchte aber nicht.
Auch ohne Wasjenka, welchem Lewin sein Unglück beimaß, wurde also die Sache nicht besser. Bekassinen waren auch hier viel, aber Lewin that Fehlschuß auf Fehlschuß.
Die schrägfallenden Strahlen der Sonne waren noch heiß, die Kleider, von Schweiß durch und durch naß, klebten ihm am Leibe, der linke Stiefel, voller Wasser, war schwer und schmatzte; über das vom Pulverschmand besudelte Gesicht rann der Schweiß in Tropfen, im Munde machte sich ein bitterer Geschmack fühlbar, in der Nase Pulvergeruch und Schlammduft, und in den Ohren klang das unausgesetzte Schnarren der Schnepfen; die Flintenläufe durfte er nicht anrühren, so erhitzt waren sie, das Herz pochte ihm schnell und kurz, die Hände zitterten vor Erregung und die mattgewordenen Beine stolperten und blieben in den Maulwurfhaufen und im Morast stecken; aber er ging weiter und schoß. Endlich, nachdem er wiederum einen schmählichen Fehlschuß gethan, warf er das Gewehr und die Mütze zu Boden.
„Nein; erst muß ich zur Besinnung kommen!“ sagte er zu sich selbst. Flinte und Mütze wieder aufhebend, rief er Laska zu seinen Füßen, und verließ den Ried. Als er auf das Trockene gekommen war, setzte er sich auf einen Erdhaufen, zog sich aus, goß die Stiefel aus, ging dann zum Sumpfe zurück und trank Etwas von dem Wasser mit schlammigem Beigeschmack, feuchtete die glühenden Läufe an und wusch sich Gesicht und Hände. Nachdem er sich so erfrischt hatte, begab er sich wieder nach dem Platze, auf dem sich eine Bekassine niedergesetzt hatte, mit dem festen Vorsatz, nicht in Aufregung zu geraten.
Er wollte ruhig sein, aber es blieb beim Alten. Sein Finger berührte den Drücker früher, als er den Vogel aufs Korn genommen hatte; es ging schlechter und schlechter.
Er hatte nur fünf Stück in seiner Jagdtasche, als er aus dem Ried heraus zu dem Erlenwalde kam, wo er mit Stefan Arkadjewitsch zusammentreffen sollte.
Bevor er diesen jedoch selbst erblickte, gewahrte er seinen Hund. Hinter der Wurzel einer Erle hervor sprang Krak, ganz schwarz von übelriechendem Moorschlamm, und beschnüffelte Laska mit dem Ausdruck des Siegers. Hinter Krak erschien im Schatten der Erlen nun auch die stattliche Gestalt[200] Stefan Arkadjewitschs, der ihm, rot aussehend, schweißbedeckt mit aufgeknöpftem Kragen, noch immer hinkend, entgegenkam.
„Nun, wie steht es? Ihr habt viel geschossen!“ sagte er heiter lächelnd.
„Und du?“ frug Lewin. Das Fragen war indes nicht nötig, weil er schon die gefüllte Jagdtasche erblickt hatte.
„O, nichts von Bedeutung.“
Er hatte vierzehn Stück.
„Ein famoser Sumpf! Dich, scheint es, hat Wjeslowskij gestört. Zwei mit einem Hunde, das ist allerdings unbequem,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, seine Siegesfreude bezwingend.
Als Lewin und Stefan Arkadjewitsch in der Hütte des Bauern ankamen, bei welchem Ersterer stets rastete, war Wjeslowskij bereits da. Er saß mitten in der Hütte, sich mit beiden Händen an einer Bank anhaltend, vor welcher ihn ein Soldat, der Bruder der Bauersfrau, an den schlammbedeckten Stiefeln herunterzerrte, und lachte mit seinem ansteckend lustigen Lachen.
„Ich bin soeben angekommen. Ils ont été charmants. Stellt Euch vor, sie haben mich getränkt und gefüttert! Welch ein Brot, das war wunderbar! Delicieux! Und ein Branntwein! Ich habe noch nie schmackhafteren getrunken! Und sie wollten um keinen Preis Geld nehmen! Sie sagten nur immer „Nje obsudisj!“ —
„Warum sollten sie Geld nehmen? Haben sie denn den Branntwein zum Verkauf?“ sagte der Soldat, der endlich den durchnäßten Stiefel mit dem schwarzgewordenen Strumpfe heruntergezogen hatte.
Trotz der Unsauberkeit der Hütte, welche von den Stiefeln der Jäger und den schmutzigen, sich leckenden Hunden noch erhöht wurde, trotz des Geruches nach Schlamm und Pulver, von welchem dieselbe erfüllt war, und des Fehlens von Messern und Gabeln, tranken die Jäger ihren Thee, nahmen sie ihre Abendmahlzeit mit solchem Appetit, wie man eben nur auf der Jagd ißt. Nachdem sie sich gewaschen und gereinigt hatten, gingen sie nach dem sauber gefegten Heuschuppen, wo die Kutscher den Herren ein Lager zurecht gemacht hatten.
Doch obwohl es bereits dunkelte, hatte keiner der Jäger Lust, zu schlafen.
Hin- und herschweifend zwischen den Erinnerungen und Erzählungen über das Schießen, die Hunde und frühere Jagden — war die Unterhaltung auf das alle interessierende Thema gekommen. Angesichts der bereits mehrmals wiederholten Äußerungen des Entzückens Wasjenkas über den Reiz dieses Nachtlagers, den Duft des Heues, das Anziehende eines zerbrochenen Wagens — der Wagen schien ihm zerbrochen, weil er von den Vorderrädern genommen worden war — über die Gutmütigkeit der Bauern, die ihn mit Branntwein gefüttert hatten, über die Hunde, die beide zu Füßen ihrer Herren lagen, berichtete Oblonskiy über die Reize einer Jagd bei Maltus, wo er im vergangenen Jahre gewesen war.
Maltus war ein bekannter Eisenbahnkrösus. Stefan Arkadjewitsch erzählte, was für Jagdgründe dieser Maltus im Gouvernement von Twer aufgekauft habe, und wie dieselben gepflegt würden, und weiter, was für Equipagen die Jäger geführt hätten und was für ein Zelt zum Frühstück an der Jagdniederung aufgestellt worden sei.
„Ich begreife dich nicht,“ sagte Lewin, sich auf seinem Heulager aufrichtend, „daß dir diese Leute nicht widerlich sind? Ich begreife, daß ein Frühstück mit Lafitte sehr angenehm ist, aber sollte dir gerade dieser Luxus nicht zuwider sein? Alle diese Leute, unsere einstigen Spekulanten, gewinnen ihr Geld so, daß sie mit ihrem Gewinste nur die Verachtung der Menschen verdienen; aber sie verachten diese Geringschätzung, und kaufen sich mit dem ehrlos Erworbenen von ihrer früheren Verachtung los.“
„Vollkommen richtig!“ bemerkte Wasjenka Wjeslowskij, „vollkommen; natürlich thut dies Oblonskiy nur aus Bonhomie, wie die anderen sagen; Oblonskiy fährt nicht zu ihnen“ —
„Keineswegs,“ — Lewin fühlte, wie Oblonskiy lächelte, als er dies sprach, „ich halte ihn einfach nicht für unehrlicher, als sonst einen der reichen Kaufleute und Adligen. Sowohl diese, wie jene sind reich geworden durch ihre Arbeit und ihre Intelligenz.“
„Ja, aber durch was für Arbeit? Ist das etwa Arbeit, daß sie Konzessionen erbeuten und diese weiter verkaufen?“
„Natürlich eine Arbeit. Eine Arbeit in dem Sinne, daß wenn es diese Leute oder ihnen ähnliche nicht gäbe, auch keine Eisenbahnen da wären.“
„Aber diese Arbeit ist doch nicht eine solche, wie die eines Bauern, oder des Gelehrten.“
„Nehmen wir so an; aber es ist eine Arbeit in dem Sinne, daß diese Thätigkeit ein Resultat ergiebt — die Eisenbahnen! Du freilich findest wohl, daß die Eisenbahnen ohne Nutzen sind.“
„Nein; das ist eine andere Frage; ich bin bereit anzuerkennen daß sie nützlich sind, aber jeder Erwerb, welcher der für ihn aufgewandten Mühe nicht entspricht, ist ehrlos.“
„Wer bestimmt aber dieses Verhältnis?“
„Erwerb auf unehrlichem Wege, durch Anwendung von List,“ sagte Lewin, im Gefühl, daß er die Grenze zwischen ehrlich und unehrlich nicht klar zu bestimmen wußte, „ebenso wie der Erwerb der Bankbureaus,“ fuhr er fort, „sind von Übel; sie bestehen in der mühelosen Erwerbung ungeheurer Summen, wie dies der Fall war bei den Aufkäufen; nur die Form hat sich verändert. Le roi est mort, vive le roi! Kaum hatte man die Bodenspekulation vernichtet, da erschienen die Eisenbahnen und Banken; gleichfalls ein Erwerbsbetrieb ohne Müheaufwand.“
„Ja, das kann alles recht wahr und scharfsinnig sein — leg' dich Krak“ — rief Stefan Arkadjewitsch seinem Hunde zu, der sich kratzte und das Heu durchwühlte — augenscheinlich von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugt und daher ruhig und ohne Übereilung.
„Aber du unterscheidest nicht die Grenzen zwischen ehrlicher und unehrlicher Arbeit. Daß ich an Gehalt mehr bekomme, als mein Kanzleivorsteher, obwohl der die Sache besser versteht als ich, ist das ehrlos?“
„Ich weiß nicht.“
„Nun, so will ich dir sagen: Daß du für deinen Müheaufwand in der Landwirtschaft, sagen wir, fünftausend Rubel einnimmst, während unser Wirt hier, der Bauer, so viel er auch arbeiten mag, nicht mehr als fünfhundert hat, ist ganz ebenso ehrlos, wie, daß ich mehr als mein Kanzleivorsteher[203] erhalte, und daß Maltus mehr als ein Eisenbahnmeister einnimmt. Im Gegenteil, ich erblicke ein gewisses, durch nichts begründetes, feindseliges Verhalten der Gesellschaft diesen Leuten gegenüber, und es scheint mir, daß hier der Neid“ —
„Nein; das wäre ungerecht,“ sagte Wjeslowskij, „Neid kann es hier nicht geben, aber etwas Unsauberes liegt in diesem Geschäft.“
„Gestatte;“ fuhr Lewin fort. „Du sagst, es sei ungerecht, daß ich fünftausend Rubel habe, und der Bauer fünfhundert; das ist wahr. Es ist ungerecht, und ich fühle es, doch“ —
„Es ist so in der That. Weshalb essen wir, trinken wir, jagen wir, faulenzen wir, während er ewig, ewig bei der Arbeit ist?“ sagte Wasjenka Wjeslowskij, augenscheinlich zum erstenmal im Leben klar hierüber nachdenkend, und infolge dessen auch vollständig aufrichtig.
„Ja; du fühlst es wohl, würdest ihm aber dein Vermögen doch nicht geben,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, gleichsam mit Absicht Lewin zusetzend.
In letzter Zeit war zwischen den beiden Schwagern eine Art von verborgenem, feindseligem Verhältnis eingetreten; seit der Zeit, seit welcher sie mit den Schwestern verheiratet waren, hatte sich zwischen ihnen gleichsam ein Rivalentum darin entwickelt, wer sein Leben besser fundiert hätte, und jetzt kam diese Gegnerschaft in einem Gespräch zum Ausdruck, welches einen persönlichen Charakter anzunehmen begann.
„Ich werde es ihm deshalb nicht geben, weil es niemand von mir fordert, und wenn ich selbst wollte, würde ich es nicht können,“ versetzte Lewin, „wie überhaupt niemand.“
„Gieb es nur dem Bauer hier; er wird dir nicht abschläglich antworten.“
„Ja; aber wie soll ich es ihm geben? Soll ich mit ihm hinfahren und ihm einen Kaufbrief ausstellen?“
„Ich weiß nicht; doch wenn du überzeugt bist, daß du nicht das Recht hast“ —
„Ich bin durchaus nicht überzeugt hiervon; im Gegenteil fühle ich, daß ich nicht das Recht habe, zu verschenken, daß ich Verbindlichkeiten meinem Boden, wie meiner Familie gegenüber habe.“
„Nein doch; gestatte; wenn du urteilst, daß diese Ungleichheit eine ungerechte sei, weshalb handelst du dann nicht so?“
„Ich handle ja so; nur aber negativ; in dem Sinne, daß ich mich nicht bemühen will, jenen Unterschied der Lage, welcher zwischen mir und jenem besteht, noch zu vergrößern.“
„Nein, entschuldige, aber das ist paradox!“ —
„Ja, das ist eine etwas sophistische Erklärung,“ bestätigte Wjeslowskij. „Ah, da kommt ja unser Wirt,“ sprach er zu dem Bauer, welcher, mit der Thür kreischend, in den Schuppen trat.
„Nun, schläfst du denn noch nicht?“
„Nein; wie soll man schlafen! Ich denke immer, unsere Herren schlafen, da höre ich sie reden,“ fügte er hinzu, behutsam mit den nackten Füßen auftretend.
„Wo schläfst du denn?“
„Wir gehen auf die Nachtwache.“
„Ach, welche Nacht!“ sagte Wjeslowskij, auf die beim schwachen Scheine der Abendröte in dem großen Rahmen der jetzt offenen Thür sichtbar werdenden Umrisse der Hütte und des ausgeschirrten Wagens schauend.
„Hört nur, da singen Weiberstimmen, und wahrhaftig, nicht schlecht. Wer singt denn da, Herr Wirt!“
„Ach, das sind die Mägde, vom Hof.“
„Laßt uns hingehen; wir wollen spazieren gehen! Wir werden doch nicht schlafen; Oblonskiy, kommt mit!“
„Das wäre; ich liege, geht nur,“ antwortete Oblonskiy sich reckend, „es liegt sich ausgezeichnet hier.“
„Nun, dann gehe ich allein,“ sagte Wjeslowskij, lebhaft aufstehend und kleidete sich an. „Auf Wiedersehen denn, ihr Herren. Wenn es hübsch werden sollte, werde ich euch rufen; ihr habt mich mit Wild regaliert, und ich werde eurer nicht vergessen.“
„Nicht wahr, ein vortrefflicher Bursch?“ sprach Oblonskiy, nachdem Wjeslowskij gegangen war und der Bauer hinter ihm die Thür geschlossen hatte.
„Ja, vortrefflich,“ erwiderte Lewin, weiter über das Thema des soeben stattgehabten Gesprächs nachdenkend. Ihm schien es, als habe er, soweit er es verstand, seine Ideen und Empfindungen klar ausgesprochen, und doch hatten diese beiden,[205] zwei nicht eben beschränkte, und aufrichtige Männer, einstimmig gesagt, daß er sich mit Sophismen tröste. Dies machte ihn ratlos.
„So, so ist es, mein Freund. Eins von beiden ist nötig; entweder zugestehen, daß die gegenwärtige Einrichtung der Gesellschaft gerecht ist, und dann deine Rechte behaupten, oder zugestehen, daß du unrechtmäßiger Vorzüge teilhaft bist —, wie ich dies thue — und von diesen mit Vergnügen Gebrauch machen.“
„Nein. Wenn das ungerecht wäre, so könntest du diese Güter nicht mit Vergnügen genießen — ich wenigstens könnte es nicht. — Mir ist die Hauptsache — ich muß fühlen, daß ich keine Schuld trage.“
„Aber wollen wir nicht doch ein wenig mitgehen?“ sagte Stefan Arkadjewitsch, augenscheinlich abgespannt von dieser Anstrengung seines Geistes. „Wir können ja doch nicht schlafen. Es ist wahr; gehen wir!“
Lewin antwortete nicht. Das im Laufe des Gesprächs geäußerte Wort, daß er, wenn auch nur im negativen Sinne, gerecht handle, beschäftigte ihn.
„Sollte man nicht auch in negativem Sinne gerecht sein können?“ frug er sich selbst.
„Wie stark doch auch das frische Heu duftet!“ sprach Stefan Arkadjewitsch, sich erhebend. „Ich kann um keinen Preis schlafen! Wasjenka hat wohl schon etwas angestiftet da drüben. Hörst du das Gelächter und seine Stimme? Wollen wir nicht hingehen? Komm!“
„Nein; ich gehe nicht mit!“ antwortete Lewin.
„Wirklich nicht? Thust du dies auch nur aus Prinzip nicht?“ sagte lächelnd Stefan Arkadjewitsch, in der Finsternis nach seiner Mütze suchend.
„Nicht aus Prinzip, aber wozu sollte ich mitkommen?“
„Weißt du, du machst dir selbst das Leben schwer,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, der die Mütze gefunden hatte, aufstehend.
„Inwiefern?“
„Sah ich denn nicht, wie du dich mit deinem Weibe gestellt hast? Ich habe gehört, wie es bei euch eine Frage der höchsten Wichtigkeit war, ob du für zwei Tage auf die Jagd[206] fahren solltest oder nicht! Alles das ist ja ganz gut, wie ein Idyll, aber für das ganze Leben reicht es nicht zu. Der Mann muß unabhängig sein; er hat seine Mannesinteressen!“
„Der Mann muß männlich sein,“ sprach Oblonskiy, die Thür öffnend.
„Was heißt das? Etwa den Mägden die Cour schneiden?“ frug Lewin.
„Weshalb sollte man nicht einmal hingehen, wenn es dort lustig zugeht? Ça ne tire pas à conséquence. Meine Frau wird sich davon nicht schlechter und ich werde mich wohl befinden. Die Hauptsache ist aber die, daß man das Heiligtum des Hauses wahrt; damit im Hause nichts vorfällt; doch die Hände braucht man sich deshalb noch nicht zu binden!“
„Mag sein,“ versetzte Lewin trocken und wandte sich auf die Seite. „Morgen müssen wir früh aufbrechen und ich werde niemand wecken, sondern mit dem Zwielicht aufgehen.“
„Messieurs, venez vite!“ wurde die Stimme Wjeslowskijs vernehmbar, der zurückkam. „Charmante! Das habe ich entdeckt. Charmante, ein vollständiges Gretchen, und ich bin schon mit ihr bekannt geworden! Wahrhaftig reizend!“ — erzählte er mit so billigendem Gesichtsausdruck, als sei sie eigens für ihn selbst so hübsch geschaffen worden, und als sei er zufrieden mit demjenigen, der dies für ihn arrangiert hatte.
Lewin stellte sich schlafend; Oblonskiy, die Pantoffeln anziehend und eine Cigarre ansteckend, verließ den Schuppen, und bald waren beider Stimmen verklungen.
Lewin konnte lange Zeit nicht einschlafen. Er lauschte, wie seine Pferde das Heu kauten, dann wie sein Wirt mit dem ältesten Sohne sich fertig machte und zur Nachtwache abging; dann hörte er, wie der Soldat sich mit einem Neffen, dem kleinen Sohne des Hausherrn, auf der andern Seite des Schuppens schlafen legte, wie der Knabe mit seinem dünnen Stimmchen dem Onkel seine Eindrücke über die Hunde mitteilte, die ihm furchtbar und ungeheuer erschienen, ferner, wie der Knabe frug, wen diese Hunde fangen wollten, und wie der Soldat mit heiserer und schläfriger Stimme ihm sagte, daß die Jäger morgen in den Sumpf wollten und aus ihren Flinten schießen würden, und wie er schließlich, um die Fragen des Knaben los zu sein, sagte: „Schlaf, Waska, schlaf, oder“ —[207] Bald schnarchte er selbst, und alles war still geworden; nur das Wiehern der Pferde und das Schnarren einer Schnepfe war hörbar.
„Sollte es wirklich nur negativ sein?“ wiederholte er sich, „aber was; — ich bin doch nicht schuld daran.“ — Und er begann hierauf, sich den nächsten Tag zu überlegen. „Morgen will ich früh aufbrechen und werde mir vornehmen, nicht in Aufregung zu kommen. Bekassinen giebt es eine Unmenge. Und werde ich hierher heimkehren, so wird ein Brief von Kity da sein. Ja, Stefan, hast du denn recht? Ich bin nicht männlich gegen sie, ich bin verweichlicht. Aber was thun — es ist wieder etwas Negatives.“
In sein Träumen hinein vernahm er das Lachen und das heitere Geschwätz Wjeslowskijs und Stefan Arkadjewitschs. Für einen Augenblick öffnete er die Augen; der Mond war aufgegangen und durch die geöffnete Thür, hell von dem Mondlicht beleuchtet, sah er sie stehen und plaudern.
Stefan Arkadjewitsch hatte etwas über die Frische der Mädchen gesagt und sie mit einer eben von der Schale befreiten frischen Nuß verglichen, und Wjeslowskij mit seinem ansteckenden Gelächter, wiederholte wahrscheinlich die ihm von dem Bauer gesagten Worte: „Mach dich soviel als möglich an dein Mädchen heran!“
Lewin murmelte im Schlafe:
„Ihr Herren, morgen mit Tagesanbruch!“ und entschlummerte.
Als Lewin mit dem frühen Morgenrot erwacht war, versuchte er es, die Gefährten zu wecken. Wasjenka, auf dem Bauche liegend und den einen Fuß noch mit dem Strumpfe von sich streckend, schlief so fest, daß keine Antwort von ihm zu erhalten war.
Oblonskiy weigerte sich im Schlafe, so früh aufzubrechen und selbst Laska, verschlafen und im Kreis zusammengeringelt, am Rande des Schuppens liegend, erhob sich nur ungern und streckte träge, eins nach dem andern, die Hinterbeine von sich.
Nachdem Lewin sich angekleidet hatte, ergriff er das Gewehr, öffnete sachte die kreischende Thür des Schuppens, und[208] trat auf die Gasse hinaus. Die Kutscher schliefen bei den Wagen, die Pferde träumten; nur eines fraß faul seinen Hafer, ihn mit seinem Schnauben auf der Holzkrippe auseinanderblasend.
Auf dem Hofe war alles noch grau.
„So früh schon auf, Herr?“ wandte sich, freundlich, wie zu einem alten guten Bekannten, die alte Hausmutter, welche aus dem Bauernhause kam, an ihn.
„Ja, es soll zur Jagd gehen, Mütterchen! Komme ich dort nach dem Sumpfe?“
„Gerade durch die Gärten, unsere Tennen, lieber Mann, und die Hanffelder; dort geht der Weg.“
Behutsam mit den nackten, gebräunten Füßen auftretend, führte die Alte Lewin und öffnete ihm den Verschlag bei der Tenne.
„Geradeaus so und du kommst in den Sumpf; unsere Kinder haben dort Nachtweide gehabt.“
Laska lief lustig voraus auf dem Fußsteig; Lewin folgte ihm mit schnellem, leichtem Schritt, fortwährend nach dem Himmel schauend. Er wünschte, die Sonne möchte nicht früher aufgehen, als bis er zum Ried gekommen wäre, doch die Sonne säumte nicht. Der Mond, welcher noch schien, als er herausgetreten war, glänzte jetzt nur noch wie ein Stück Quecksilber. Das Morgenrot, welches man vorher deutlich sehen mußte, war jetzt zu suchen, und vorher unbestimmt gewesene Flecken im fernen Felde waren jetzt klar sichtbar; es waren Kornfeime. Der ohne das Sonnenlicht noch nicht sichtbar gewesene Thau in dem duftenden, hohen Hanf durchnäßte die Füße und die Bluse Lewins bis über den Gürtel. In der klaren Ruhe des Morgens waren die leisesten Geräusche vernehmlich. Eine Biene flog mit dem Sausen der Kugel an Lewins Ohr vorüber. Er schaute auf und sah eine zweite, eine dritte. Sie alle kamen hinter dem Zaune des Bienengartens hervorgeflogen und verschwanden über dem Hanf in der Richtung nach dem Ried. Der Fußsteig führte gerade aus in den Sumpf, und diesen selbst konnte man schon an den Dünsten erkennen, welche sich aus ihm erhoben, hier dichter, dort weniger dicht, so daß die Wiese und Gebüsche wie kleine Inseln in dem Nebel flimmerten.
Am Rande der Niederung und des Weges lagen Knaben und Bauern, welche die Nacht beim Vieh gewacht hatten und im Morgenrot alle unter ihren Kaftanen schliefen. Unweit von ihnen gingen drei gefesselte Pferde; eines derselben klirrte in seinen Ketten. Laska ging neben seinem Herrn, nach vorwärts strebend und sich umblickend.
Nachdem Lewin bei den schlafenden Bauern vorübergegangen und an die erste Wasserstelle gelangt war, besichtigte er die Pistons und ließ den Hund los. Eines der Pferde, ein gutgefütterter, brauner Dreijähriger, erschrak, als er den Hund erblickte, hob den Schweif und schnob. Die übrigen Pferde gerieten gleichfalls in Schrecken, und eilten mit den gefesselten Beinen im Wasser plätschernd, und mit den aus dem dichten Lehm gezogenen Hufen einen Lärm verursachend, welcher dem Klopfen ähnlich war, aus dem Sumpfe.
Laska war stehen geblieben, schaute spöttisch auf die Pferde und fragend auf Lewin. Dieser streichelte den Hund, und pfiff, zum Zeichen, daß er nun beginnen könne.
Munter und vorsichtig eilte Laska über das unter ihm schwankende Moor.
Als er in den Sumpf geeilt war, witterte er unter den ihm vertrauten Gerüchen und Sumpfgräsern, des Schlammes und des hier nicht hergehörigen Duftes von Pferdemist, der in diesem ganzen Revier verbreitet war, den Geruch eines Vogels, des Vogels, der ihn mehr als alle anderen Witterungen in Aufregung versetzte.
An manchen Stellen im Moos und bei Sumpfpflanzen war dieser Geruch sehr stark, aber es ließ sich nicht entscheiden, nach welcher Seite hin er zunahm oder schwächer wurde.
Um die Richtung zu finden, war es nötig, weiter unter den Wind zu gehen. Ohne die Bewegung seiner Füße zu fühlen, eilte Laska in scharfem Galopp, doch derart, daß er bei jedem Sprung Halt machen konnte, wenn es nötig werden sollte, nach rechts, hinweg von dem von Osten her wehenden leichten Morgenwind, und wandte sich dann gegen denselben. Mit offener Nase die Luft in sich einziehend, witterte er sogleich, daß nicht nur die Spuren von ihnen, sondern sie selbst da waren, in seiner Nähe, und nicht vereinzelt, sondern viele. Laska verminderte die Schnelligkeit seines Laufes.[210] Sie waren da, aber wo, vermochte er noch nicht zu bestimmen.
Um den Ort nun zu finden, begann er bereits einen Kreislauf, als ihn die Stimme seines Herrn davon abzog. „Laska, dort,“ sagte er, ihn auf die andere Seite weisend. Der Hund stand, und frug ihn, ob es nicht besser wäre, zu thun, wie er begonnen hätte. Doch der Herr wiederholte mit strenger Stimme seinen Befehl, auf einen mit Wasser überdeckten Fleck zeigend, wo nichts sein konnte.
Er gehorchte ihm, sich stellend als suche er, um ihm Vergnügen zu machen, durchstreifte den Fleck und kehrte dann zu seinem alten Platz zurück, und sofort witterte er die Vögel wieder. Jetzt, da sein Herr ihn nicht mehr störte, erkannte er, was zu thun sei, und begann, ohne auf seine Füße acht zu haben und ärgerlich über die hohen Erdhügel strauchelnd, oder ins Wasser fallend, aber mit flinken starken Füßen seinen Kreislauf, welcher ihm alles klarmachen mußte.
Der Geruch der Vögel wurde stärker und stärker, er drang immer bestimmter und bestimmter auf ihn ein, und plötzlich war es ihm vollkommen klar, daß einer derselben dort, hinter jenem Erdhügel sei, fünf Schritte vor ihm; und er blieb stehen, blieb unbeweglich mit dem ganzen Körper.
Auf seinen niederen Beinen konnte er vor sich nichts sehen, an der Witterung aber erkannte er, daß der Vogel nicht weiter als fünf Schritt entfernt von ihm saß. Er stand, mehr und mehr des Wildes Nähe fühlend und sich in der Erwartung freuend. Die steife Rute war hochgestreckt und bebte nur ganz am Ende. Sein Maul war leicht geöffnet, die Ohren waren gespitzt. Das eine Ohr hatte sich noch während des Laufs zurückgelegt, und er atmete schwer, aber vorsichtig, und schaute sich noch vorsichtiger nach seinem Herrn um, mehr mit den Augen, als mit dem Kopfe. — Dieser, mit seinem gewohnten Gesicht, aber den ihm stets furchtbaren Augen, kam, über die Erdhaufen strauchelnd, ungewöhnlich gemächlich, wie ihm schien, und doch lief er.
Als Lewin das seltsame Suchen Laskas bemerkt hatte, wie sich dieser ganz zur Erde drückte, mit großen Schritten der Hinterfüße gleichsam rudernd, das Maul leicht geöffnet, erkannte er, daß Laska einer Schnepfe nachspüre und eilte, im[211] Geiste Gott bittend, daß er ihm Erfolg, besonders für den ersten Vogel verleihe, zu dem Hunde.
Als er nahe an diesen herangekommen war, hielt er in seiner Größe vor sich Umschau und erblickte mit den Augen, was sein Hund mit der Nase erkannt hatte. In einem Schlupfwinkel zwischen zwei Erdhügeln, in der Entfernung von einem Faden, war eine Bekassine sichtbar. Den Kopf gewendet, lauschte sie; dann plötzlich die Flügel leise reckend und sie wieder zusammenlegend, schüttelte sie das Hinterteil und verbarg sich hinter einer Ecke.
„Stell, stell!“ rief Lewin, Laska in den Rücken stoßend.
„Ich kann ja nicht,“ dachte Laska, „wohin soll ich gehen? Von dorther wittere ich die Vögel, aber wenn ich mich vorwärts bewege, werde ich nicht erfahren, wo sie sind.“ Doch er stieß den Hund mit dem Knie und sprach in aufgeregtem Flüsterton, „stell, mein Laska, stell!“
„Nun, wenn er es denn will, werde ich es thun, doch ich bin jetzt für nichts mehr verantwortlich,“ dachte Laska, und drang in vollem Laufe vorwärts zwischen den Erdhügeln. Er hatte bis jetzt noch nichts gemerkt und nur geschaut und gelauscht, ohne etwas zu erfassen.
Zehn Schritte von seinem vorigen Platze erhob sich mit breitem Schnarchen und dem den Schnepfen eigenen vollen Ton des Flügelschlags eine Schnepfe, stürzte aber sofort auf den Schuß schwer platschend mit der weißen Brust auf den nassen Moor herab. Eine zweite ließ nicht auf sich warten und stieg hinter Lewin ohne Hund auf.
Als Lewin sich nach ihr umwandte, war sie schon weit entfernt, aber sein Schuß erreichte sie. Nachdem sie zwanzig Schritt geflogen war, stürzte sie, sich steil im Kreise erhebend und überschlagend, wie ein geworfener Ball schwer auf einen trockenen Platz herab.
„So hat das Ding Sinn!“ dachte Lewin, die noch warmen, fetten Vögel in seiner Jagdtasche bergend, „nicht so, Laskchen, das wird etwas werden?“
Als Lewin, nachdem er das Gewehr wieder geladen hatte, sich weiter bewegte, war die Sonne, obwohl hinter den Wolken noch nicht sichtbar, bereits aufgegangen. Der Mond, seines Schimmers ganz verlustig gegangen, stand bleich wie eine[212] Wolke am Himmel, und von den Sternen war kein einziger mehr sichtbar. Der Morast sah wie Bernstein aus; die Bläue der Gräser ging über in gelbes Grün. Die kleinen Sumpfvögel tummelten sich auf den von Thau schimmernden, lange Schatten am Bache werfenden Büschen. Ein Habicht war erwacht und saß auf einem Schober, den Kopf von einer Seite auf die andere wendend und grießgrämig auf den Sumpf blickend. Dohlen flogen auf das Feld, und ein barfüßiger Junge trieb schon die Pferde zu dem sich unter seinem Kaftan aufrichtenden, und sich kratzenden Alten. Der Rauch der Schüsse lag weiß wie Milch auf dem Grün des Grases.
Einer der Knaben kam zu Lewin gelaufen.
„Herr, gestern waren da Enten!“ rief er ihm zu und folgte ihm aus der Ferne.
Lewin gewährte es doppeltes Vergnügen, vor den Augen des Knaben, welcher seine Freude darüber ausdrückte, noch Schlag auf Schlag drei Bekassinen erlegen zu können.
Die alte Jägererfahrung, daß wenn das erste Wild, der erste Vogel, nicht gefehlt worden ist, das Revier günstig bleibt, erwies sich als richtig.
Müde und hungrig, aber beglückt, kehrte Lewin um zehn Uhr morgens, dreißig Werst hinter sich, mit neunzehn Stück schönen Wildprets und einer Ente, die er an den Gürtel gebunden hatte, da sie schon nicht mehr in die Jagdtasche ging, in sein Quartier zurück. Seine Gefährten hatten schon längst ausgeschlafen, hatten Hunger empfunden und gefrühstückt.
„Halt, halt, ich weiß doch, daß es neunzehn sind,“ sagte Lewin, zum zweitenmal die Schnepfen durchzählend, welche jetzt nicht mehr den charakteristischen Anblick zeigten, den sie boten, wie sie aufflogen; zusammengekrümmt und eingeschrumpft, mit dem geronnenen Blute und seitwärts herniederhängenden Köpfchen.
Die Rechnung stimmte und der Neid Stefan Arkadjewitschs kitzelte Lewin. Noch angenehmer aber war ihm, daß er, als er in das Quartier zurückkam, schon einen Boten mit einem Brief von Kity antraf.
„Ich bin gesund und munter. Wenn du Besorgnis um[213] mich hegst, so kannst du wohl noch ruhiger sein, als zuvor. Ich habe jetzt einen neuen Leibhüter, Marja Wlasjewna,“ dies war die Wehfrau, eine neue und wichtige Persönlichkeit im Familienleben Lewins. „Sie ist gekommen, um sich nach mir zu erkundigen, und hat mich vollständig gesund befunden; wir haben sie bis zu deiner Rückkunft dabehalten. Alles ist gesund und munter, aber, bitte, übereile dich nicht, und bleibe, wenn die Jagd gut ist, noch einen Tag.“
Diese beiden freudigen Ereignisse, die glückliche Jagd und der Brief seiner Gattin, waren so schwerwiegend, daß zwei kleine Unannehmlichkeiten nach der Jagd von Lewin leicht verwunden wurden. Die eine bestand darin, daß das braune Handpferd, welches gestern offenbar zu viel geleistet hatte, nicht fraß und den Kopf hängen ließ. Der Kutscher sagte, es sei kreuzlahm.
„Ihr habt es gestern übertrieben, Konstantin Dmitritsch,“ sagte er; „zehn Werst sind wir gar nicht auf dem Weg gefahren.“
Die andere Unannehmlichkeit, die im ersten Augenblick seine gute Laune verdarb, über die er indessen später viel lachte, bestand darin, daß von dem ganzen Vorrat an Lebensmitteln, der von Kity in solcher Fülle mitgegeben worden war, daß es schien, als könne er in einer Woche nicht aufgezehrt werden, nichts mehr übrig war.
Müde und hungrig von der Jagd heimkehrend, hatte Lewin so lebhaft von den Pasteten geträumt, daß er, dem Quartier näher kommend, schon den Duft und den Geschmack derselben im Munde witterte, wie Laska das Wild, und sogleich Philipp befahl, sie ihm zu bringen. Da aber stellte sich heraus, daß nicht nur keine Pasteten, sondern auch keine jungen Hühner mehr da waren.
„Es gab schon Appetit,“ sagte Stefan Arkadjewitsch lachend, auf Wasjenka Wjeslowskij weisend; „ich leide doch nicht gerade Mangel an Appetit, aber dies war bewundernswert“ —
„Nun, aber was jetzt thun!“ sagte Lewin, mürrisch auf Wjeslowskij blickend; „Philipp, so gieb mir Rindfleisch!“
„Das Rindfleisch haben wir gegessen und die Knochen den Hunden gegeben,“ antwortete Philipp.
Lewin ärgerte sich hierüber so, daß er voll Verdruß sagte: „Hätten sie mir auch nur wenigstens etwas übrig gelassen!“ und das Weinen stand ihm nahe.
„So weide denn ein Stück Wildbret aus,“ sagte er mit bebender Stimme zu Philipp, es vermeidend, Wasjenka anzublicken, „und lege Nesseln dazu. Laß dir wenigstens etwas Milch für mich geben.“
Bald darauf indessen, nachdem er die Milch getrunken hatte, that es ihm leid, daß er seinen Verdruß einem fremden Menschen gegenüber ausgesprochen hatte, und er begann über seinen hungrigen Zorn zu lachen.
Am Abend machten sie noch einen Streifzug, in welchem auch Wasjenka mehrere Stück erlegte und kehrten nachts heim.
Die Heimfahrt war ebenso vergnügt, wie die Herfahrt. Wjeslowskij sang bald, bald gedachte er mit Wonne seiner Erlebnisse bei den Bauern, die ihn mit Branntwein bewirtet und ihm gesagt hatten, er solle sich nicht besinnen; bald seiner nächtlichen Abenteuer mit den Nüssen und der Magd und dem Bauer, der ihn gefragt hatte, ob er verheiratet sei, und nachdem er erfahren, es wäre nicht der Fall, ihm gesagt hatte, er solle sich nicht um die Frauen anderer kümmern, sondern möglichst bald selber heiraten. Diese Worte hatten Wjeslowskij ganz besonders heiter gestimmt.
„Im allgemeinen bin ich außerordentlich zufrieden mit unserer Fahrt. Und Ihr, Lewin?“
„Ich bin auch sehr zufrieden,“ antwortete dieser, dem es recht froh zu Mut war, aufrichtig. Er empfand nicht nur keine Feindseligkeit mehr, wie er sie in dem Hause gegen Wasjenka Wjeslowskij gehegt hatte, sondern, im Gegenteil, die freundschaftlichste Gesinnung für denselben.
Am andern Tag um zehn Uhr klopfte Lewin, der schon die Ökonomie inspiziert hatte, an das Zimmer, in welchem Wasjenka übernachtete.
„Entrez!“ rief ihm dieser entgegen. „Ihr entschuldigt mich wohl, ich bin soeben erst mit meinen ablutions fertig,“ sagte er lächelnd, im bloßen Hemde vor ihm stehend.
„Laßt Euch nicht stören, bitte,“ sagte Lewin und setzte sich ans Fenster. „Habt Ihr gut geschlafen?“
„Wie ein Toter. Was für ein Tag doch heute zur Jagd wäre!“
„Trinkt Ihr Thee oder Kaffee?“
„Weder dies, noch das: ich frühstücke. Mir liegt übrigens etwas auf dem Herzen. Haben sich die Damen bereits erhoben? Jetzt läßt sichs vortrefflich einen Rundgang machen. Zeigt mir doch einmal Eure Pferde!“
Nachdem Lewin mit durch den Garten gegangen und im Pferdestall eine Weile gewesen, selbst einige gymnastische Übungen mit ihm am Barren gemacht hatte, wandte er sich mit seinem Gaste dem Hause wieder zu und trat mit ihm in den Salon.
„Wir haben vortrefflich gejagt, und wieviele Eindrücke empfangen,“ sagte Wjeslowskij, zu Kity gehend, welche hinter dem Ssamowar saß. „Wie schade, daß die Damen dieser Vergnügungen beraubt sind.“
„Nun, er muß doch mit der Frau des Hauses sprechen,“ dachte Lewin bei sich; es zeigte sich ihm wiederum Etwas in dem Lächeln in jenem triumphierenden Ausdruck, mit dem sich der Besucher an Kity wandte.
Die Fürstin, jenseits des Tisches mit Marja Wlasjewna und Stefan Arkadjewitsch sitzend, rief Lewin zu sich und begann mit ihm ein Gespräch über die Umsiedelung nach Moskau wegen der Niederkunft Kitys und der Anstalt zur Bestimmung eines Quartiers.
Wie für Lewin schon alle Vorbereitungen bei der Hochzeit unangenehm gewesen waren, die mit ihrer Niedrigkeit die Erhabenheit dessen, was sich vollzog, beeinträchtigten, so erschienen ihm die Anstalten für die bevorstehende Niederkunft, deren Zeit gleichsam an den Fingern abgezählt wurde, noch verletzender. Er suchte geflissentlich während dieser ganzen Zeit, die Gespräche über die Art der Windelung des zu erwartenden Kindes zu überhören; er bemühte sich, gewisse geheimnisvolle endlose gestrickte Streifen, gewisse dreieckige Stückchen Leinwand, denen namentlich Dolly eine besondere Wichtigkeit beimaß, und andere Dinge von sich zu weisen und nicht zu sehen.
Das Ereignis der Geburt eines Sohnes — er war überzeugt,[216] es werde ein Sohn sein — das man ihm in Aussicht gestellt hatte, an welches er aber gleichwohl nicht zu glauben vermochte, so ungewöhnlich dünkte es ihm — erschien ihm einerseits als ein so ungeheuerliches und daher unmögliches Glück, anderseits als ein so geheimnisvoller Vorgang — daß diese vermeintliche Kenntnis dessen, was kommen würde, und demnach die Vorbereitung dazu als zu etwas Gewöhnlichem, von Menschen herbeigeführtem, ihm ärgerlich und herabwürdigend vorkam.
Aber die Fürstin verstand seine Empfindungen nicht; sie erklärte seine Unlust, darüber zu denken, zu sprechen, als Leichtsinn und Gleichgültigkeit; und ließ ihn infolge dessen nicht in Ruhe. Sie übertrug es Stefan Arkadjewitsch, eine Wohnung zu besichtigen, und rief nun Lewin zu sich.
„Ich weiß nichts, Fürstin. Thut, was Ihr wollt,“ sagte dieser.
„Es muß aber ein Entschluß gefaßt werden, wann Ihr übersiedelt.“
„Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, daß Kinder zu Millionen auch ohne Moskau geboren werden, und ohne Ärzte — wozu das“ —
„Aber wenn es so steht“ —
„Nun; wie Kity will“ —
„Mit Kity läßt sich hierüber nicht reden. Wie; willst du, daß ich sie erschrecken soll? In diesem Frühling ist die Nataly Galizina gestorben durch die Schuld eines Geburtsfehlers.“
„Wie Ihr sagt, werde ich thun,“ sagte er finster.
Die Fürstin begann nun mit ihm weiter zu sprechen, aber er hörte sie gar nicht. Obwohl ihn das Gespräch mit der Fürstin verstimmte, wurde er nicht infolge desselben mißlaunig, sondern durch das, was er bei dem Ssamowar sah.
„Nein; es ist unmöglich,“ dachte er, bisweilen nach Wasjenka blickend, der zu Kity herniedergebeugt, dieser mit seinem hübschen Lächeln etwas erzählte, und sie anblickte, die errötete und erregt war. Es lag etwas Indecentes in der Stellung Wasjenkas, in seinem Blick, und seinem Lächeln. Lewin sah sogar etwas Indecentes auch in der Haltung und im Blick Kitys. Und wiederum verfinsterte sich die Welt vor seinen[217] Augen. Wiederum, wie gestern, plötzlich, ohne den geringsten Übergang, fühlte er sich von der Höhe seines Glückes, seiner Ruhe und Würde herabgeschleudert, in einen Abgrund der Verzweiflung, Wut und Erniedrigung. Wiederum wurde ihm jedermann und alles widerlich.
„Macht was Ihr wollt, Fürstin,“ sagte er nochmals, sich umblickend.
„Es ist gar schwer, alles allein thun zu sollen,“ sagte Stefan Arkadjewitsch scherzweise zu ihm, offenbar nicht nur auf das Gespräch mit der Fürstin deutend, sondern auch auf die Ursache der Aufregung Lewins, welche er bemerkt hatte. „Wie kommst du heute so spät, Dolly!“
Alles erhob sich, um Darja Alexandrowna zu begrüßen. Wasjenka stand nur für eine Minute auf, und verbeugte sich kaum, mit dem den neumodischen jungen Herrn eigenem Mangel an Höflichkeit gegen die Damen, worauf er seine Unterhaltung wieder fortsetzte, über irgend etwas in Gelächter ausbrechend.
„Mich hat Mascha gepeinigt. Sie schlief schlecht und ist heute entsetzlich launisch gewesen,“ sagte Dolly.
Das Gespräch, welches Wasjenka und Kity pflogen, drehte sich wiederum um das gestrige Thema, um Anna und die Frage, ob die Liebe höher stehen könne als die Gesetze der Welt.
Kity war das Gespräch unangenehm geworden; es regte sie schon durch seinen Inhalt auf, sowie durch den Ton, in welchem es geführt wurde, namentlich aber dadurch, daß sie schon inne geworden war, wie es auf ihren Mann wirke. Sie war indessen zu naiv und zu unschuldig, um es zu verstehen, das Gespräch abzubrechen, etwa schon um deswillen, jenes äußere Behagen, welches ihr die sichtliche Aufmerksamkeit dieses jungen Mannes verursachte, zu verbergen.
Sie wollte das Gespräch abbrechen, wußte aber nicht, was sie da zu thun habe. Was sie auch alles thun mochte, sie wußte, es wurde von ihrem Gatten bemerkt, und alles werde auch nach der üblen Seite ausgelegt werden.
Und in der That, als sie Dolly frug, was mit Mascha sei, und Wasjenka wartete, bis dieses für ihn langweilige Gespräch vorüber sein werde, und er sich einstweilen damit beschäftigte,[218] Dolly gleichgültig anzuschauen, so erschien Lewin diese Frage unnatürlich und anwidernd in ihrer Verschmitztheit.
„Nun; werden wir denn heute in die Pilze gehen?“ frug Dolly.
„Laß uns gehen, bitte; auch ich komme mit!“ sagte Kity und errötete. Sie wollte Wasjenka aus Höflichkeit fragen, ob er mitkäme, frug aber nicht. „Wohin willst du, Konstantin?“ frug sie mit schuldbewußtem Ausdruck ihren Gatten, als dieser mit entschlossenem Schritt an ihr vorüberging. Dieser schuldbewußte Ausdruck bestätigte alle seine Zweifel.
„In meiner Abwesenheit ist ein Maschinist angekommen, ich habe ihn noch nicht gesehen,“ sagte er, ohne sie anzublicken. Er ging hinab, hatte aber das Kabinett noch nicht verlassen, als er die wohlbekannten Schritte seiner Frau vernahm, die ihm unvorsichtig schnell nachkam. „Was willst du?“ sagte er lakonisch zu ihr. „Ich bin beschäftigt.“
„Entschuldigt,“ wandte sie sich an den deutschen Maschinisten, „ich habe einige Worte mit meinem Manne zu sprechen.“
Der Deutsche wollte gehen, doch Lewin sagte zu ihm:
„Laßt Euch nicht stören.“
„Den Dreiuhrzug?“ frug der Deutsche, „sollte man sich nicht verspätigen können?“
Lewin antwortete ihm nicht, sondern ging mit seiner Frau hinaus.
„Nun, was habt Ihr mir zu sagen?“ sprach er auf französisch.
Er blickte nicht in ihr Gesicht, wollte nicht sehen, daß sie, in ihrem Gesundheitszustand im ganzen Gesicht bebte und einen kläglichen beschämten Ausdruck zeigte.
„Ich — ich will sagen, daß man so nicht leben kann, daß das eine Marter ist,“ fuhr sie fort.
„Es sind Leute dort im Büffett,“ sprach er zornig, „macht keine Scene!“
„Nun; gehen wir hierher!“
Sie standen in einem Zwischenzimmer. Kity wollte in das Nebenzimmer treten, doch dort unterrichtete die Engländerin Tanja.
„So wollen wir in den Garten gehen.“
Im Garten stießen sie auf einen Mann, welcher den Weg säuberte. Aber ohne daran zu denken, daß der Mann ihr verweintes Gesicht sehe und Lewins erregte Züge, ohne daran zu denken, daß sie den Anblick von Menschen boten, welche vor einem Unglück fliehen, gingen sie mit schnellen Schritten vorwärts im Gefühl, daß sie sich aussprechen und gegenseitig überzeugen müßten; von einer und derselben Qual eingenommen oder befreit werden müßten, die sie beide empfanden.
„So läßt sich nicht leben! Das ist eine Qual! Ich leide, du leidest! Und weshalb?“ sagte sie, als beide endlich zu einer abgelegenen Bank in der Ecke einer Lindenallee gekommen waren.
„Sage mir nur das Eine: War in seinem Tone etwas Unehrerbietiges, Unlauteres, Erniedrigendes?“ sprach er, vor sie wieder in der nämlichen Stellung tretend, die Fäuste auf der Brust, wie er in jener Nacht vor ihr gestanden.
„Es lag etwas darin,“ sagte sie mit zitternder Stimme. „Aber, mein Konstantin, siehst du denn nicht, daß ich gar nicht schuldig bin? Seit dem Morgen schon wollte ich einen Ton annehmen — aber diese Menschen — warum ist er nur gekommen? Wie glücklich waren wir!“ sprach sie, tiefatmend vor Schluchzen, welches ihren sich allmählich füllenden Körper hob.
Der Gärtner sah mit Verwunderung — trotzdem, daß sie nichts verfolgte und sie nichts zu fliehen hatten, daß auch auf der Bank nichts besonderes Erfreuliches zu finden sein konnte — daß sie an ihm vorüber nach dem Hause zurückkehrten, mit beruhigten, freudeschimmernden Gesichtern.
Nachdem Lewin sein Weib hinausbegleitet hatte, begab er sich in die Gemächer Dollys. Darja Aleksandrowna ihrerseits war den ganzen Tag in großer Erbitterung gewesen. Sie ging im Zimmer auf und ab und sprach zornig zu ihrem in der Ecke stehenden weinenden kleinen Töchterchen.
„Den ganzen Tag wirst du in der Ecke stehen und allein zu Mittag essen; du sollst nicht eine einzige Puppe mehr zu sehen bekommen und auch kein neues Kleid laß ich dir machen,“ sprach sie, gar nicht mehr wissend, womit sie sie noch weiter[220] strafen sollte. „Nein, ist das ein häßliches Kind!“ wandte sie sich zu Lewin. „Woher kommen bei ihr diese schlimmen Neigungen?“
„Was hat sie denn begangen?“ sagte ziemlich gleichgültig Lewin, der sich über seine eigene Angelegenheit Rats zu erholen gewünscht hatte, und dem es daher verdrießlich war, daß er zur unrechten Zeit kam.
„Sie sind mit Grischa nach den Himbeeren gegangen und dort — ich kann dir gar nicht sagen, was sie gethan hat! Tausendmal bedauere ich Miß Elliot. Die jetzige Gouvernante übt um keinen Preis Aufsicht. Sie ist eine Maschine. Figurez vous, que la petite“ — und Darja Aleksandrowna erzählte das Vergehen Maschas.
„Dies beweist noch gar nichts; dies sind durchaus keine häßlichen Neigungen, es ist einfach Mitleid,“ beruhigte sie Lewin.
„Aber du bist wie mißgestimmt? Weshalb kamst du?“ frug Dolly, „wie geht es drüben?“
An dem Tone dieser Frage hörte Lewin, daß es ihm leicht sein würde, zu sagen, was er zu sagen beabsichtigte.
„Ich war nicht drüben, ich war mit Kity allein im Garten. Wir haben uns ein zweites Mal gezankt, seit — Stefan gekommen ist.“ —
Dolly blickte ihn mit klugen, verständnisvollen Augen an.
„Nun, sag' mir, Hand aufs Herz, wäre etwa nicht — nicht bei Kity, sondern bei jenem Herrn ein Ton, welcher unangenehm werden kann, nicht nur unangenehm, sondern furchtbar, verletzend für einen Gatten?“
„Das heißt — wie soll ich sagen — du bleibst stehen, in der Ecke!“ — wandte sie sich zu Mascha, welche, ein kaum bemerkbares Lächeln auf dem Gesicht der Mutter gewahrend, sich umgedreht hatte; „die Meinung der Welt wäre die, daß er sich benimmt, wie sich alle jungen Männer benehmen. Il fait la cour à une jeune et jolie femme, ein Mann von Welt aber darf nur geschmeichelt sein hiervon.“
„Ja, ja,“ versetzte Lewin düster, „aber hast du es bemerkt?“
„Nicht nur ich, auch Stefan hat es bemerkt. Er hat mir nach dem Thee offen gesagt, je crois, que Weslowskij fait un petit brin de cour à Kity.“
„Schön; jetzt bin ich beruhigt. Ich werde ihn davonjagen,“ sagte Lewin.
„Was willst du, hast du den Verstand verloren?“ rief Dolly mit Schrecken. „Was thust du, Konstantin, komme zur Besinnung!“ sagte sie dann lachend — „jetzt kannst du zu Fanny gehen“ — wandte sie sich zu Mascha. — „Nein; wenn du schon willst, so werde ich es Stefan sagen; er mag ihn mit fortnehmen. Man kann ja sagen, du erwartetest Gäste. Überhaupt gehört er ja nicht zu unserem Hause.“
„Nein; das sage ich auch.“
„Aber du wirst Händel suchen?“
„Keineswegs. Mir wird es so ganz lieb sein,“ sagte Lewin, in der That mit heiter glänzenden Augen. „Nun aber vergieb ihr, Dolly; sie wird es nicht wieder thun,“ sagte er zu der kleinen Sünderin, die nicht zu Fanny ging und unentschlossen vor der Mutter stand von unten her schielend und wartend, und ihren Blick suchend.
Die Mutter schaute sie an. Das Kind begann zu schluchzen und vergrub das Gesicht zwischen die Kniee der Mutter, Dolly aber legte ihre hagere, zarte Hand auf des Kindes Haupt.
„Was ist denn Gemeinsames zwischen uns und ihm?“ dachte Lewin, und ging, um Wjeslowskij aufzusuchen.
Als er durch das Vorzimmer ging, befahl er anzuspannen, um auf die Station fahren zu können.
„Es ist gestern die Feder gebrochen,“ antwortete der Diener.
„Dann nehmt den Tarantaß, aber schnell! Wo ist der Besuch?“
Sie gingen nach seinem Zimmer.
Lewin traf Wasjenka gerade, als dieser, der seine Sachen aus dem Koffer ausgepackt und neue Romanzen aufgeschlagen hatte, Gamaschen zum Reiten anprobierte.
Lag nun im Gesicht Lewins etwas Besonderes, oder empfand Wasjenka selbst, daß ce petit brin de cour, den er angestiftet, in dieser Familie unstatthaft wäre; genug, er wurde ein wenig — soviel dies eben ein Weltmann werden kann — verlegen beim Eintritt Lewins.
„Ihr wollt in Gamaschen reiten?“
„Ja; das ist bei weitem sauberer,“ sagte Wasjenka, den[222] feisten Fuß auf einen Stuhl stellend, und die unterste Schnalle zumachend, wobei er heiter lächelte.
Er war unzweifelhaft ein ganz guter Mensch und that Lewin leid. Dieser kämpfte mit sich selbst, als Herr des Hauses, als er die Schüchternheit im Blick Wasjenkas wahrnahm.
Am dem Tische lag ein Stück eines Stockes, den sie am Morgen beim Turnen zusammen zerbrochen hatten, indem sie probierten, den Barren zu heben. Lewin nahm den Trümmer in die Hand und begann, da er nicht wußte, wie er anfangen sollte, das zersplitterte Ende rund herum abzubrechen.
„Ich wollte —“ er verstummte, sagte aber dann plötzlich, Kitys gedenkend und alles dessen, was geschehen war, und ihm entschlossen in die Augen blickend, „ich habe befohlen, für Euch anspannen zu lassen.“
„Was heißt das?“ begann Wasjenka voll Verwunderung, „wohin soll es gehen?“
„Ihr sollt zur Bahn fahren,“ sagte Lewin finster, die Spitze des Stockes abzupfend.
„Verreist Ihr, oder ist etwas vorgefallen?“
„Es ist das vorgefallen, daß ich Besuch erwarte,“ sprach Lewin, schneller und schneller mit den starken Fingern die Zacken des zersplitterten Stockes abbrechend. „Oder vielmehr ich erwarte nicht Besuch, und es ist nichts vorgefallen, aber ich ersuche Euch, abzureisen. Ihr mögt Euch meine Unhöflichkeit erklären, wie Ihr wollt.“
Wasjenka richtete sich auf.
„Ich bitte Euch, mir zu erklären,“ sprach er mit Würde, endlich begreifend.
„Ich kann Euch nicht erklären,“ fuhr Lewin, gedämpften Tones und langsam sprechend fort, sich bemühend, das Beben seiner Kinnbackenmuskeln zu verbergen, „und es ist auch besser für Euch, nicht zu fragen.“
Da sämtliche zersplitterte Enden bereits abgebrochen waren, machte sich Lewin mit den Fingern an die dicken Enden, riß den Stock auseinander und hob das hingefallene Stück sorgsam auf.
Wahrscheinlich mochte der Anblick dieser straffangestrengten Hände, dieser Muskeln da, welche er heute früh beim Turnen[223] befühlt hatte, der blitzenden Augen, der gedämpften Stimme und der bebenden Kinnbacken Wasjenka mehr als Worte überzeugen; er verbeugte sich, nachdem er die Achseln gezuckt und verächtlich gelächelt hatte.
„Kann ich nicht Oblonskiy sehen?“
Das Achselzucken und Lächeln brachten Lewin nicht auf, „was bleibt ihm weiter übrig?“ dachte dieser.
„Ich werde ihn sofort zu Euch schicken.“
„Was ist das für ein Unsinn,“ sagte Stefan Arkadjewitsch der von dem Freunde erfahren hatte, daß man ihn aus dem Hause jage, zu Lewin, als er diesen im Garten fand, wo er, die Abfahrt des Gastes erwartend, spazieren ging.
„Mais c'est ridicule! Was für eine Fliege hat dich denn gestochen. Mais c'est du dernier ridicule! Was ist dir darin erschienen, daß ein junger Mann“ —
Die Stelle, an welcher Lewin die Fliege gestochen hatte, schmerzte aber offenbar noch, da derselbe abermals bleich wurde, als Stefan Arkadjewitsch ihm die Ursache klarmachen wollte, und diesen hastig unterbrach.
„Bitte, erkläre mir keine Ursache! Ich kann nicht anders! Es thut mir sehr leid um deinet- und seinetwillen, aber ihm, glaube ich, verursacht es kein großes Herzeleid, abreisen zu müssen, während mir und meiner Frau seine Gegenwart unangenehm ist.“
„Es ist dies aber eine Beleidigung für ihn! Et puis c'est ridicule!“
„Auch für mich ist es beleidigend und peinlich! Und doch bin ich an nichts schuld, und habe keinen Grund, leiden zu sollen!“
„Das hätte ich nicht von dir erwartet! On peut être jaloux, mais à ce point, c'est du dernier ridicule!“
Lewin wandte sich schnell um und ging von ihm hinweg in die Tiefe der Allee, wo er seinen Spaziergang allein auf und abwärts fortsetzte. Bald vernahm er das Rollen des Tarantaß und sah hinter den Bäumen hervor, wie Wasjenka, auf Heu sitzend, denn leider gab es keine Sitzbank in dem Tarantaß, mit seiner schottischen Mütze, von den Stößen in die Höhe schnellend, durch die Allee fuhr.
„Was giebt es denn noch?“ dachte Lewin, als ein Diener,[224] der aus dem Hause eilte, den Tarantaß halten ließ. Es war der Maschinist, den Lewin gänzlich vergessen hatte. Nachdem derselbe gegrüßt hatte, sprach er etwas mit Wasjenka, stieg darnach auf den Tarantaß und sie fuhren zusammen ab.
Stefan Arkadjewitsch und die Fürstin waren verstimmt von der Handlungsweise Lewins. Auch dieser selbst fühlte sich nicht nur im höchsten Grade „ridicule“, sondern auch schuldig und beschimpft; als er sich aber vergegenwärtigte, was er und sein Weib gelitten hatten, gab er sich, indem er sich selbst frug, wie er ein zweites Mal handeln würde, die Antwort, daß er es ganz wieder so gemacht hätte.
Trotz alledem war zu Ende dieses Tages jedermann, mit Ausnahme der Fürstin, welche Lewin sein Verfahren nicht verzeihen konnte, außergewöhnlich lebhaft und heiter, gleichwie Kinder nach einer Bestrafung oder Erwachsene nach einem wichtigen offiziösen Empfang, so daß abends in der Abwesenheit der Fürstin von der Entfernung Wasjenkas gesprochen wurde, wie von einem längst geschehenen Vorfall.
Auch Dolly, welche von ihrem Vater die Gabe besaß, humoristisch zu erzählen, brachte Warenka zu dem herzlichsten Lachen, als sie zum dritten oder vierten Mal, mit immer neuen humoristischen Zuthaten berichtete, wie sie gerade dabei gewesen sei, ihre neuen Halbstiefeln des Gastes halber anzulegen und schon in den Salon gegangen sei, als sie plötzlich das Kreischen einer alten Karrete vernommen hätte. Und wer hätte darin gesessen? Wasjenka, mit der schottischen Mütze und den Romanzen, mit den Reitgamaschen, auf dem Heu.
„Hätte er nur wenigstens den Wagen anspannen lassen! Aber nein! und dann hörte ich „halt!“ — Nun, denke ich, man hat Mitleid mit ihm bekommen! Ich sehe nach; da setzt man noch den dicken Deutschen zu ihm und fährt ihn weiter. Aus war es mit meinen hübschen schottischen Bändern.“
Darja Aleksandrowna führte ihre Absicht aus und reiste zu Anna.
Es that ihr sehr leid, die Schwester erbittern und etwas thun zu müssen, was deren Gatten unangenehm war; sie[225] begriff, wie sehr recht die Lewin hatten, mit dem Wunsche, keine Beziehungen mit den Wronskiy zu pflegen, allein sie erachtete es für ihre Pflicht, zu Anna zu kommen, und ihr zu zeigen, daß ihre Gefühle sich nicht verändern könnten trotz der Veränderung ihrer Lage.
Um bei dieser Reise nicht von den Lewin abhängen zu müssen, sandte Darja Aleksandrowna nach ihrem Dorfe, um Pferde mieten zu lassen; doch Lewin, der hiervon erfahren hatte, kam, um ihr Vorwürfe zu machen.
„Warum denkst du, daß mir deine Reise unangenehm sei? Ja, und selbst wenn sie mir unangenehm wäre, so wäre sie es mir dadurch noch mehr, daß du nicht meine Pferde nimmst,“ sagte er. „Du hast mir nicht ein einziges Mal gesagt, daß du entschieden fahren wolltest. Und nun auf dem Dorfe Pferde zu mieten, ist erstens unangenehm für mich, und dann, was die Hauptsache ist, man mietet sie, aber sie bringen dich nicht hin. Ich habe doch Pferde; und wenn du mich nicht böse machen willst, so nimmst du sie.“
Darja Aleksandrowna mußte einwilligen, und am festgesetzten Tag hatte Lewin für seine Schwägerin ein Viergespann von Pferden und einen Vorspann aus Zug- und Reitpferden gewählt, bereit gemacht, der nicht sehr schön, aber doch imstande war, Darja Aleksandrowna in einem Tage an ihr Ziel zu bringen.
Jetzt, wo Pferde sowohl für die Fürstin, welche abreiste, wie für die Wehfrau gebraucht wurden, war das eine schwierige Aufgabe für Lewin gewesen, doch konnte derselbe der Pflicht der Gastfreundschaft Folge leistend, nicht zugeben, daß Darja Aleksandrowna von seinem Hause aus Pferde mietete, und außerdem wußte er auch, daß die zwanzig Rubel, welche man von Darja Aleksandrowna für die Fahrt verlangte, für dieselbe von großer Bedeutung waren; die Finanzverhältnisse Darja Aleksandrownas, welche sich in sehr schlechtem Zustande befanden, wurden von den Lewin empfunden, als wären es ihre eigenen.
Darja Aleksandrowna fuhr nach dem Rate Lewins noch vor der Morgenröte ab. Der Weg war gut, der Wagen ging ruhig, die Pferde liefen munter und auf dem Bocke saß noch außer dem Kutscher, an Stelle eines Dieners, der Comptoirschreiber,[226] der von Lewin der Sicherheit halber mitgesandt worden war. Darja Aleksandrowna träumte und erwachte erst, als sie schon zu der Poststation gekommen war, wo die Pferde gewechselt werden mußten.
Nachdem sie den Thee bei jenem nämlichen begüterten Großbauern, bei welchem Lewin auf seiner Fahrt zu Swijashskiy gerastet hatte, eingenommen, und sich mit den Weibern über die Kinder, mit dem Alten über den Grafen Wronskiy unterhalten hatte, den jener sehr lobte, fuhr Darja Aleksandrowna um zehn Uhr weiter. Zu Hause hatte sie, vor Sorgen um ihre Kinder, nie Zeit zu denken. Dafür aber häuften sich jetzt erst, auf dieser vierstündigen Fahrt, alle die vorher unterdrückt gewesenen Gedanken plötzlich in ihrem Kopfe, und sie überdachte ihr ganzes Leben, wie sie es noch nie zuvor gethan, und von den verschiedensten Seiten aus. Ihr selbst kamen ihre eigenen Gedanken seltsam vor.
Im Anfang dachte sie ihrer Kinder, um die sie sich, obwohl ihr die Fürstin, wie besonders Kity — auf diese verließ sie sich vielmehr — versprochen hatten, nach ihnen zu sehen, gleichwohl beunruhigte.
„Wie wenn Mascha wiederum dumme Streiche machte, wenn den Grischa ein Pferd schlüge und der Magen Lilys noch mehr verdorben würde.“
Dann aber begannen die Fragen der Gegenwart sich mit denen der nächsten Zukunft abzulösen. Sie dachte jetzt daran, daß man in Moskau für diesen Winter eine neue Wohnung mieten, die Möbel im Salon umtauschen und der ältesten Tochter einen Pelz fertigen lassen müsse. Darnach tauchten die Fragen der entfernten Zukunft vor ihr auf; wie sie ihre Kinder in die Welt einführen würde, „mit den Mädchen ist es noch nichts“, dachte sie, „aber mit den Knaben?“
„Gut; ich beschäftige mich jetzt mit Grischa, aber ich kann es doch nur deshalb, weil ich selbst jetzt kein Kind unter dem Herzen trage. Auf Stefan läßt sich natürlich nicht rechnen. Jedoch mit Hilfe guter Menschen werde ich sie schon erziehen; und wenn wieder einmal eine Geburt“ — ihr kam der Gedanke, wie ungerecht der Ausspruch sei, daß der Fluch auf dem Weibe liege, daß sie in Schmerzen Kinder gebäre. „Die Geburt selbst hat nichts zu sagen, aber das Austragen —[227] das ist das Qualvolle,“ dachte sie, sich ihrer letzten Schwangerschaft und des Todes dieses letzten Kindes erinnernd. Es fiel ihr auch das Gespräch mit der jungen Frau auf dem Posthof wieder ein. Auf ihre Frage, ob sie Kinder habe, hatte dieselbe ganz heiter geantwortet: „Ich hatte ein Mädchen, aber Gott hat es erlöst, ich habe es zu den Fasten begraben.“
„Hast du es sehr betrauert?“ hatte Darja Aleksandrowna weiter gefragt.
„Wozu betrauern? Der Alte hat Enkel, und zwar viel. Man hat doch nur Sorge dabei, und kann weder arbeiten noch sonst etwas thun, sondern ist nur gebunden.“
Diese Antwort war Darja Aleksandrowna abstoßend erschienen, ungeachtet des gutmütigen Äußeren der jungen Frau, jetzt aber vergegenwärtigte sie sich unwillkürlich diese Worte. Es lag auch ein Teil von Wahrheit in diesen cynischen Äußerungen.
„Und im allgemeinen,“ dachte Darja Aleksandrowna, auf ihr ganzes Leben während der fünfzehn Jahre ihrer Ehe zurückblickend, „Schwangerschaft, Übelkeiten, Stumpfsinn, Gleichgültigkeit für alles, und hauptsächlich Ruin der Schönheit. Kity, die junge, hübsche Kity, auch sie war häßlich geworden, ich aber werde in der Schwangerschaft ungeschlacht, ich weiß es. Geburten, Leiden, undenkbare Schmerzen; dann jene letzte Minute — hierauf aber die Ernährung, alle die schlaflosen Nächte, diese furchtbaren Schmerzen“ —
Darja Aleksandrowna erbebte schon vor der Erinnerung an den Schmerz einer aufgehenden Brustwarze, den sie fast bei jedem Kind gehabt hatte. „Dann kommen die Kinderkrankheiten, diese ewige Angst, dann die Gedanken wegen schlimmer Neigungen“ — sie dachte an das Vergehen der kleinen Mascha in den Himbeeren — „der Unterricht, das Latein, alles das so unverständlich und schwierig. Und außer dem allen noch die Möglichkeit des Todes eben dieser Kinder!“
Und wiederum tauchte in ihrer Phantasie die ewig ihr Mutterherz drückende, herbe Erinnerung an den Tod ihres letzten Knaben auf, der noch an der Brust gelegen hatte, und in der Krippe gestorben war. Sie dachte an sein Begräbnis, die allgemeinherrschende Gleichgültigkeit für jenes kleine rosengeschmückte Grab, an ihren herzzerreißenden, vereinsamten[228] Schmerz über der bleichen, kleinen Stirn mit den hohen Schläfen, über dem geöffneten, verwundert scheinenden Mündchen, welches aus dem Sarge herausschaute, als man denselben mit einem Rosendeckel und einem Kreuz bedeckte.
„Und warum alles das? Was folgt aus alledem? Daß ich, ohne einen Augenblick Ruhe zu haben, bald in gesegneten Umständen, bald ein Kind nährend, ewig mich ereifernd, scheltend, mich selbst und andere folternd, dem Manne zuwider, mein Leben hinlebe, und mir unglückliche, schlecht erzogene und unbemittelte Kinder aufwachsen?
„Und jetzt — wäre nicht dieser Sommer bei den Lewin, ich wüßte nicht, wie wir ihn verleben sollen. — Natürlich sind Konstantin und Kity so zartfühlend, daß sie es uns nicht merken lassen, aber es kann doch nicht so fortgehen! Sie werden Kinder bekommen und uns nicht mehr unterstützen können; sind sie doch schon jetzt in Bedrängnis. Und was kann Papa, der für sich fast nichts mehr übrig behalten hat, noch helfen? Die Verhältnisse liegen so, daß ich die Kinder nicht allein erziehen kann, nur mit Hilfe anderer, und mit eigener Erniedrigung. Und nehmen wir selbst den glücklichsten Fall; sollten mir keine Kinder mehr sterben und sollte ich sie erziehen können, so werden sie im besten Falle doch nur höchstens keine Taugenichtse werden. Das ist alles, was ich wünschen kann. Und dafür so viele Qualen, so viele Mühen! Ein ganzes, verlorenes Leben!“ —
Und wieder fiel ihr ein, was die junge Frau gesagt hatte, wiederum war es ihr widerlich, daran zu denken; und gleichwohl mußte sie doch zugeben, daß in jenen Worten ein Stück rauher Wahrheit lag.
„Ist es denn noch weit, Michail?“ frug Darja Aleksandrowna den Comptoirdiener, um sich ihren Gedanken, die sie bange machten, zu entreißen.
„Von diesem Dorfe sollen es noch sieben Werst sein!“
Der Wagen fuhr in der Dorfgasse über eine kleine Brücke. Über die Brücke ging geräuschvoll und lustig schwatzend ein Haufe frohgelaunter Weiber. Die Weiber blieben auf der Brücke stehen, neugierig den Wagen betrachtend. Alle ihr zugewandten Gesichter erschienen Darja Aleksandrowna gesund, heiter, neckisch für sie in ihrer Lebenslust.
„Sie alle leben, und freuen sich ihres Lebens,“ fuhr Darja Aleksandrowna in ihrem Gedankengang fort, an den Weibern vorüberfahrend, einen Berg hinauf und dann im Trab wieder weiter, angenehm gewiegt auf den geschmeidigen Federn der alten Kutsche, „ich aber, wie aus einem Gefängnis hinausgelassen aus jener Welt, die mich mit ihren Sorgen ertötet, komme nur jetzt auf einen Augenblick zur Besinnung. Sie alle leben doch; diese Weiber, die Schwester Nataly, Warenka, Anna, zu der ich fahre, — nur ich lebe nicht! —
Anna greifen sie an; aber warum? Bin ich denn besser? Ich habe zwar wenigstens einen Mann, den ich liebe. Wäre es nicht so, wie wollte ich lieben, aber ich liebe ja ihn; während Anna den ihren nicht geliebt hat. Wessen ist sie nun schuldig? Sie will leben! Gott hat uns das in die Seele gelegt! Es ist sehr wohl möglich, daß ich das Nämliche gethan hätte. Und bis heute weiß ich noch nicht, ob ich wohl daran that, ihr in jener furchtbaren Zeit gehorcht zu haben, als sie zu mir nach Moskau kam. Damals hätte ich meinen Gatten verlassen und ein neues Leben beginnen müssen. Ich hätte lieben können und wahr geliebt werden können! Und ist es nun etwa besser geworden? Ich achte ihn nicht! Ich brauche ihn aber,“ dachte sie ihres Gatten, „und so dulde ich ihn. Ist das etwa besser? Damals konnte ich noch gefallen, da hatte ich noch meine Schönheit,“ fuhr Darja Aleksandrowna fort, zu sinnen, und sie hätte gern einmal in den Spiegel geblickt. In ihrem Reisesack befand sich ein kleiner Reisespiegel, und sie wollte ihn hervorholen, doch indem sie auf die Rücken des Kutschers und des schaukelnden Comptoirdieners blickte, fühlte sie, daß es ihr fatal sein müßte, wenn einer der beiden sich umschaute; und sie holte den Spiegel nicht hervor.
Aber auch wenn sie nicht in den Spiegel blickte, meinte sie, sei es jetzt noch nicht zu spät; und sie dachte an Sergey Iwanowitsch, der besonders liebenswürdig gegen sie war, an den Freund Stefans, den guten Turovzyn, der mit ihr zusammen ihre Kinder beim Scharlachfieber gepflegt hatte und in sie verliebt war. Und noch ein ganz junger Mann war da, welcher, wie ihr der Gatte im Scherz gesagt, gefunden hatte, sie sei schöner, als alle ihre Schwestern. Die leidenschaftlichsten und unmöglichsten Romane tauchten vor Darja[230] Aleksandrowna auf. „Anna hat recht gehandelt, und ich werde ihr nie den geringsten Vorwurf mehr machen. Sie ist glücklich, begründet das Glück eines andern Menschen, ist nicht abgestumpft, wie ich, sondern wahrhaftig so, wie sie immer war, frisch, verständig und empfänglich für alles,“ dachte Darja Aleksandrowna und ein schlaues Lächeln kräuselte ihre Lippen, namentlich, weil sie an den Roman Annas denkend, sich ähnlich dazu für sich selbst einen eigenen, fast ebensolchen Roman erdachte, mit einem erdichteten Musterhelden, der in sie verliebt war. Ebenso wie Anna, gestand sie alles ihrem Gatten, und die Verwunderung und Bestürzung Stefan Arkadjewitschs bei dieser Nachricht nun machte sie lächeln.
In solchen Träumereien gelangten sie zu dem Scheideweg, welcher von der Landstraße ab nach Wosdwishenskoje führte.
Der Kutscher hielt das Viergespann an und blickte nach rechts, auf ein Roggenfeld hinaus, auf welchem Bauern bei einem Wagen saßen. Der Comptoirdiener wollte abspringen, besann sich aber anders und rief befehlerisch einem Bauern zu, ihn zu sich heranwinkend. Der leichte Wind, welcher während der Fahrt geweht, hatte sich gelegt, als sie anhielten; die Bremsen hatten sich an die heftig abwehrenden, schweißbedeckten Pferde festgesetzt. Das metallisch von dem Wagen herübertönende Geräusch des Sensendengelns verstummte. Einer der Bauern erhob sich und kam zum Wagen.
„He, bist wohl vertrocknet!“ rief der Comptoirdiener gereizt dem langsam über die Erdhügel des nicht ausgefahrenen, trockenen Weges mit den nackten Füßen schreitenden Bauern zu, „so lauf doch!“
Ein kraushaariger Alter, das Haar mit Lindenbast aufgebunden und mit von Schweiß dunkelgefärbtem gekrümmten Rücken, beschleunigte seinen Schritt, trat an den Wagen heran und faßte mit der gebräunten Hand an die Seite des Wagens.
„Wollt Ihr nach Wosdwishenskoje?, auf den Herrenhof? Zum Grafen?“ wiederholte er, „dann fahrt nur so! Macht die Wendung nach links, dann gerade aus und Ihr kommt gerade darauf. Zu wem wollt Ihr denn? Zum Herrn selbst?“
„Ist denn Eure Herrschaft zu Haus, Freund?“ frug Darja Aleksandrowna ausweichend, ohne zu wissen, wie sie, selbst dem Bauern gegenüber, nach Anna fragen sollte.
„Er ist wohl daheim,“ sagte der Bauer einen Schritt vortretend und dabei mit den nackten Füßen im Staube eine deutliche Spur seiner Fußsohle mit den fünf Zehen hinterlassend. „Er wird wohl zu Haus sein,“ wiederholte er, augenscheinlich mit großer Lust, ein Gespräch zu beginnen. „Gestern sind erst Gäste gekommen. Gäste — es war eine Menge — Was willst du!“ — wandte er sich nach einem Burschen um, der ihm vom Wagen her etwas zuschrie. „Sie sind kaum erst alle zu Pferde hier vorbeigekommen, um eine Schnittmaschine zu besichtigen. Jetzt werden sie wohl zu Hause sein. Wo kommt Ihr denn her?“
„Wir sind von weiter weg,“ sagte der Kutscher, auf den Bock steigend, „also es ist nicht weit?“
„Wie ich sage; dort! Wie Ihr eben fahrt“ — sagte er, mit der Hand nach der Seite des Wagens deutend.
Ein junger, gesunder und stämmiger Bursche kam auch heran.
„Wie, haben wir keine Arbeit auf Rechnung der Ernte?“ frug derselbe.
„Weiß nicht, mein Lieber! Wie gesagt, wenn du dich links hältst, kommst du gerade drauf,“ sprach der Bauer, der augenscheinlich ungern die Reisenden fortließ und mit ihnen schwatzen wollte.
Der Kutscher fuhr weiter, doch kaum hatten sie eingelenkt, als der Bauer rief: „Halt! He, Freund! Halt an!“ Eine zweite Stimme rief ebenso. Der Kutscher hielt an.
„Da kommen sie selbst. Dort sind sie!“ rief der Bauer. „Dort sind sie!“ fügte er hinzu, auf vier Reiter und zwei Personen in einem Wagen weisend, welche den Weg daherkamen.
Es war Wronskiy mit seinem Jockey, Wjeslowskij und Anna zu Pferde, die Fürstin Barbara und Swijashskiy im Wagen. Sie waren spazieren geritten, und wollten die Arbeit der neu eingeführten Erntemaschinen besichtigen.
Als die Equipage stand, kamen die Reiter im Schritt heran. Voran ritt Anna neben Wjeslowskij. Sie ritt in[232] ruhigem Schritt eine kleine englische Vollblutstute mit gestrählter Mähne und gestutztem Schweif. Annas schönes Haupt mit den unter dem hohen Hut hervordringenden schwarzen Haaren, ihre vollen Schultern, die schmale Taille in der schwarzen Amazone und ihr ruhiger graziöser Sitz frappierten Dolly.
Im ersten Augenblick erschien es ihr unpassend, daß Anna ritt. Mit der Vorstellung vom Reiten der Damen verband sich nach dem Begriff Darja Aleksandrownas auch die einer jugendlichen flatterhaften Koketterie, die nach ihrer Meinung mit der Lage Annas nicht harmonierte; doch als sie diese in der Nähe sah, söhnte sie sich sofort mit ihrem Reiten aus, denn selbst bei ihrer Eleganz, war alles an ihr so einfach, ruhig und würdevoll in Haltung und Kleidung, sowie auch in ihren Bewegungen, daß nichts natürlicher erscheinen konnte.
Neben Anna auf einem grauen feurigen Kavalleriepferd, welches die starken Füße hochwarf und augenscheinlich mit sich kokettierte, ritt Wasjenka Wjeslowskij in seiner schottischen Mütze mit den wehenden Bändern, und Darja Aleksandrowna konnte sich ein Lächeln nicht verbeißen, als sie ihn erkannte.
Hinter ihnen ritt Wronskiy; er saß auf einem dunkelbraunen Vollblut, welches sichtlich vom Galopp aufgeregt war; um es zu halten, arbeitete er mit den Zügeln.
Nach ihm kam ein kleiner Mensch in Jockeykostüm. Swijashskiy mit der Fürstin in einem neuen Wagen, der von einem starken schwarzen Traber gezogen wurde, folgten den Reitern.
Das Gesicht Annas, als sie die in dem kleinen, alten Wagen in die Ecke geschmiegte Gestalt Dollys erkannte, erglänzte von freudigem Lächeln. Sie stieß einen Schrei aus, erbebte im Sattel und setzte das Pferd in Galopp. Als sie am Wagen angelangt war, sprang sie ohne Beistand ab und eilte, ihre Amazone aufnehmend, Dolly entgegen.
„Ich dachte es wohl, wagte es aber nicht zu denken! Welche Freude! Du vermagst dir meine Freude nicht vorzustellen,“ sagte sie, sich bald mit dem Gesicht an Dolly schmiegend, und sie küssend, bald sich entfernend und sie mit einem Lächeln betrachtend. „Das ist eine Freude, Aleksey!“ sprach[233] sie, sich nach Wronskiy umblickend, der vom Pferde gestiegen war und zu ihnen herankam.
Wronskiy trat, den grauen hohen Hut abnehmend, zu Dolly.
„Ihr könnt nicht glauben, wie erfreut wir über Eure Ankunft sind,“ sagte er, seinen Worten ein besonderes Gewicht verleihend und lächelnd dabei seine festen weißen Zähne zeigend.
Wasjenka Wjeslowskij nahm, ohne vom Pferde zu steigen, die Mütze ab und bewillkommnete den Besuch, freudig die Bänder über seinem Kopfe schwingend.
„Dies ist die Fürstin Barbara,“ antwortete Anna auf den fragenden Blick Dollys, als der Wagen herangekommen war.
„Ah,“ sagte Darja Aleksandrowna, und ihr Gesicht drückte unwillkürlich Mißvergnügen aus.
Die Fürstin Barbara war die Tante ihres Gatten und sie kannte sie lange, achtete sie aber nicht. Wußte sie doch, daß die Fürstin Barbara ihr ganzes Leben als Konkubine reicher Verwandter verbracht hatte. Daß sie aber jetzt bei Wronskiy lebte, einem ihr fremden Mann, dies verletzte in Hinsicht auf die Familie ihres Gatten. Anna bemerkte den Ausdruck im Gesicht Dollys und wurde verlegen; sie errötete, ließ ihre Amazone aus den Händen gleiten und stolperte über dieselbe.
Darja Aleksandrowna begab sich zu dem stehen gebliebenen Wagen und begrüßte kühl die Fürstin Barbara. Swijashskiy war ihr gleichfalls bekannt. Er frug, wie sich sein Freund und Sonderling mit seiner jungen Frau befinde und schlug den Damen, mit einem schnellen Blick auf die nicht gerade dampfenden Pferde und den Wagen mit den ausgebesserten Seiten, vor, in der Equipage zu fahren.
„Ich hingegen werde in diesem Vehikel fahren,“ sagte er, „das Pferd ist sanft und die Fürstin fährt ausgezeichnet.“
„Nein, bleibt, wie Ihr waret,“ sagte Anna herzutretend, „aber wir wollen in diesem Wagen fahren,“ und Dolly bei der Hand nehmend, führte sie dieselbe mit sich.
Darja Aleksandrownas Augen schweiften über die elegante, von ihr noch nicht gesehene Equipage, die schönen Pferde, die vornehmen, glänzenden Personen, die sie umgaben, aber mehr als alles das frappierte sie die Veränderung, welche mit der ihr so wohlbekannten, geliebten Anna vor sich gegangen war. Ein anderes Weib, welches weniger aufmerksam gewesen wäre,[234] und Anna früher nicht gekannt hätte, insbesondere nicht die Gedanken hegte, welchen Darja Aleksandrowna unterwegs nachgehangen hatte, würde nichts Eigenartiges an Anna bemerkt haben.
Jetzt aber war Dolly betroffen von jener nur zeitweisen Schönheit, die allein in Momenten der Liebe bei den Frauen zu erscheinen pflegt, und die sie jetzt auf Annas Gesicht fand. Alles an deren Gesicht, die Schärfe der Grübchen in Wangen und Kinn, die Lage der Lippen, das Lächeln, welches gleichsam rund um ihr Gesicht flog, der Glanz der Augen, die Grazie und Schnelligkeit ihrer Bewegungen, die Fülle des Tones ihrer Stimme, selbst ihre Manieren, mit denen sie ernst-freundlich Wjeslowskij antwortete, der sie um die Erlaubnis bat, sich auf ihre Stute setzen zu dürfen, um sie Galopp mit Rechtseinsatz lehren zu können — alles das war eigentümlich anziehend und sie selbst schien dies zu wissen und darüber Freude zu empfinden.
Nachdem sich die beiden Frauen in den Wagen gesetzt hatten, überkam sie beide eine plötzliche Verlegenheit. Anna geriet in Verwirrung wegen des aufmerksam fragenden Blickes, mit dem Dolly sie anschaute. Dolly, weil sie sich, nach den Worten Swijashskiys über das Vehikel, ihrer schmutzigen alten Kalesche schämte, in welche sich Anna mit ihr gesetzt hatte.
Der Kutscher Philipp und der Comptoirdiener hatten das nämliche Gefühl. Der Comptoirdiener beeilte sich, um seine Verlegenheit zu verbergen, den Damen beim Niedersetzen behilflich zu sein, während Philipp, der Kutscher, mürrisch geworden war, und sich vorgenommen hatte, dieser äußeren Überlegenheit nicht nachzugeben. Ironisch lächelnd blickte er auf den schwarzen Traber, und hatte schon im Geiste das Urteil gefällt, daß dieser Rappe im Wagen nur gut sei zur „Promenade“ und nicht vierzig Werst weit scharf und ohne Ausspann laufen könne.
Die Bauern hatten sich sämtlich von ihrem Wagen erhoben und schauten neugierig und belustigt den Besuchern entgegen, ihre Bemerkungen dazu machend.
„Sehr erfreut, sehr lange nicht gesehen,“ sagte der kraushaarige Alte mit dem Lindenbast.
„Nun, Vater Gerasim, der schwarze Hengst müßte die Garben hereinbringen; das ginge lebhaft!“
„Schaut an! Ist der da in den Hosen auch ein Frauenzimmer?“ sagte Einer, auf den im Damensattel sitzenden Wasjenka Wjeslowskij zeigend.
„Über den Bauer! Wie geschickt er anspielt!“
„Nun Kinder, wollen wir nicht ein Mittagsschläfchen halten?“
„Ach was, jetzt gar Schlaf!“ sagte der Alte, gebückt nach der Sonne schauend. „Mittag ist vorbei! Nehmt die Griffe fest; los!“ —
Anna blickte in Dollys hageres, übermüdetes Gesicht mit den Runzeln, die vom Staube bedeckt waren; sie wollte sagen, was sie dachte, nämlich daß Dolly recht abgemagert sei, aber indem sie sich vergegenwärtigte, daß sie schöner geworden, und der Blick Dollys ihr dies sagte, seufzte sie, und begann, von sich zu sprechen.
„Du blickst mich an,“ sagte sie, „und denkst, kann sie glücklich sein in ihrer Lage. Nun, was soll ich sagen! Es ist schmachvoll, es einzugestehen; aber ich — ich bin unverzeihlich glücklich! — Mir ist etwas Zauberhaftes, Etwas wie ein Traum vor sich gegangen, in dem es uns furchtbar, seltsam wird, aus dem man plötzlich erwacht, um zu fühlen, daß alle diese Schrecken gar nicht da sind. Ich bin erwacht. Ich habe Qualvolles, Furchtbares durchlebt, und es ist jetzt schon geraume Zeit, besonders seit wir hier sind, daß ich so glücklich bin,“ sprach sie mit schüchternem, fragendem Lächeln Dolly ins Auge sehend.
„Wie freue ich mich,“ sagte Dolly lächelnd, aber unwillkürlich kühler, als sie wollte. „Ich freue mich sehr über dich. Weshalb hast du mir nicht geschrieben?“
„Weshalb? Deshalb, weil ich es nicht wagte — du vergißt meine Lage.“
„Gegen mich? Gegen mich hast du es nicht gewagt? Wenn du wüßtest, wie ich — ich glaube“ —
Darja Aleksandrowna wollte ihre Gedanken vom heutigen[236] Morgen aussprechen, aber aus irgend einem Grunde erschien ihr dies jetzt nicht am Platze.
„Doch davon später. Was ist das, alle diese Gebäude?“ frug sie, im Wunsche das Thema zu wechseln, auf die roten und grünen Dächer zeigend, welche hinter dem Grün lebender Akazienzäune sichtbar wurden. Es sah dies alles aus wie ein Städtchen.
Anna antwortete ihr nicht.
„Nein, nein; wie urteilst du über meine Lage, wie denkst du darüber; wie?“ frug sie.
„Ich vermute,“ wollte Darja Aleksandrowna beginnen, doch in diesem Augenblick sprengte Wasjenka Wjeslowskij, der die Stute in Galopp mit Rechtseinsatz gebracht hatte, schwerfällig in seinem kurzen Jaquet auf dem sämischen Leder des Damensattels auf und niedergeworfen, an ihnen vorüber.
„Sie geht, Anna Arkadjewna!“ schrie er.
Anna schaute ihn indessen nicht einmal an, und Darja Aleksandrowna schien es wiederum, daß es unpassend sei, in der Kalesche dieses langatmige Thema anzuschlagen, und sie brach daher in der Äußerung ihres Gedankens ab.
„Ich urteile gar nicht darüber,“ sagte sie, „ich habe dich stets geliebt, und wenn man liebt, liebt man den ganzen Menschen so, wie er ist, nicht so, wie man will, daß er sei.“
Anna versank in Nachdenken, indem sie die Augen vom Gesicht der Freundin wegwendete und blinzelte — eine neue Gewohnheit, die Dolly noch nicht an ihr gekannt hatte — sie wünschte die Bedeutung dieser Worte ganz zu erfassen. Nachdem sie sie augenscheinlich so, wie sie es wünschte, aufgefaßt hatte, schaute sie Dolly an.
„Wenn du Sünden haben solltest,“ sprach sie, „so möchten sie dir alle vergeben sein für dein Kommen und für diese Worte.“
Dolly sah, daß ihr die Thränen in die Augen getreten waren. Schweigend drückte sie Annas Hand.
„Also was sind das für Gebäude? — Wie viel es doch sind!“ Sie wiederholte nach einer Minute des Schweigens ihre Frage.
„Dies sind die Gebäude des Personals, der Fabriken, die Ställe,“ antwortete Anna. „Dort beginnt der Park; alles[237] das war verwildert, aber Aleksey hat es wieder neu hergerichtet. Er liebt dieses Besitztum sehr und fühlt sich, was ich nimmermehr erwartet hätte, leidenschaftlich zur Landwirtschaft hingezogen. Er hat überhaupt eine so reich beanlagte Natur! Was er auch anfassen mag, alles vollführt er ausgezeichnet. Und er langweilt sich nicht nur nicht dabei, sondern beschäftigt sich mit leidenschaftlichem Eifer. So wie ich ihn kenne, ist er ein haushälterischer, vorzüglicher Hausherr geworden, sogar geizig in der Wirtschaft ist er; aber auch nur in der Wirtschaft! Da, wo es sich um Zehntausende handelt, rechnet er nicht,“ sprach sie mit jenem freudig schlauen Lächeln, mit welchem Frauen oft über geheime, ihnen allein bekannte Eigenschaften eines geliebten Mannes sprechen.
„Siehst du dieses große Gebäude da? Das ist das neue Krankenhaus. Ich glaube, daß es mehr als hunderttausend Rubel kosten wird. Und weißt du, woher das Geld gekommen ist? Die Bauern hatten ihn gebeten, ihnen die Wiesen billiger abzulassen, er aber hatte sie abschläglich beschieden, und ich machte ihm Vorwürfe wegen seines Geizes. Natürlich nicht deswegen nun, aber alles in allem erwägend, begann er da dieses Krankenhaus zu bauen, um zu zeigen, verstehst du, daß er nicht geizig sei. Wenn du willst, c'est une petitesse, aber ich liebe ihn dafür umsomehr. Doch du wirst sogleich das Wohnhaus erblicken. Es ist noch vom Großvater her und an der Außenseite in nichts verändert worden.“
„Wie schön,“ sagte Dolly, mit unwillkürlichem Erstaunen, auf ein schönes Haus mit Säulengängen blickend, welches aus dem bunten Grün der alten Bäume des Gartens hervortrat.
„Nicht wahr, das ist schön? Und vom Hause aus, von oben herab, ist die Aussicht wunderbar.“
Sie fuhren auf einen mit Schotter bedeckten und von Blumenbeeten geschmückten Hof, auf welchem zwei Arbeiter ein Blumenbosquet mit unbehauenen porösen Steinen garnierten, und hielten in der gedeckten Einfahrt.
„Ah, sie sind schon angekommen,“ sagte Anna, auf die Reitpferde blickend, die soeben von der Freitreppe hinweggeführt wurden. „Nicht wahr, dieses Pferd ist schön? Es ist eine Stute, mein Liebling. Führe es hierher und bringt Zucker.[238] Wo ist der Graf?“ frug sie zwei herauseilende Paradelakaien. „Ah, dort ist er,“ sagte sie, den heraustretenden und ihr mit Wjeslowskij entgegenkommenden Wronskiy erblickend.
„Wo habt Ihr die Gräfin untergebracht?“ sagte Wronskiy auf Französisch, zu Anna gewendet, begrüßte dann nochmals, ohne eine Antwort abzuwarten, Darja Aleksandrowna und küßte ihr jetzt die Hand: „Ich denke, wir bringen unsern Besuch im großen Balkonzimmer unter? —“
„O nein; das ist zu abgelegen! Besser im Eckzimmer, wir können uns da mehr sehen. Gehen wir,“ sagte Anna, den ihr von einem Lakaien präsentierten Zucker dem Lieblingspferde reichend.
„Et vous oubliez votre devoir,“ sagte sie zu Wjeslowskij, welcher gleichfalls auf der Freitreppe erschienen war.
„Pardon, j'en ai tout plein les poches,“ antwortete dieser lächelnd, die Finger in die Westentasche steckend.
„Mais vous venez trop tard,“ sagte sie, mit dem Taschentuch die Hand abwischend, welche ihr das Pferd feucht gemacht hatte, indem es den Zucker nahm.
Anna wandte sich zu Dolly:
„Du bleibst doch für längere Zeit hier? Nur auf einen Tag? Das ist unmöglich!“
„Ich habe so versprochen, die Kinder —“ sagte Dolly, mit einem Gefühl der Verlegenheit, daß sie den Reisesack aus der Kalesche nehmen mußte, sowie weil sie wußte, daß ihr Gesicht sehr mit Staub bedeckt sein müsse.
„Nein, Dolly, Herzchen; doch wir werden ja sehen. Komm, komm!“ Anna führte Dolly in ihr Zimmer.
Dieses Zimmer war nicht das Paradezimmer, welches Wronskiy vorgeschlagen hatte, sondern das, von welchem Anna sagte, Dolly möchte es entschuldigen. Jedoch auch dieses Gemach, für welches eine Entschuldigung erforderlich gewesen war, war voll von einem Luxus, in welchem Dolly niemals gelebt hatte, und der ihr die besten Salons des Auslandes in die Erinnerung zurückrief.
„Ach, Herzchen, wie bin ich glücklich!“ sprach Anna, für eine Minute in ihrer Amazone neben Dolly Platz nehmend, „erzähle mir doch von den Deinen. Stefan habe ich flüchtig gesehen, doch von Kindern kann er nicht reden. Was macht[239] mein Liebling, die Tanja? Es ist ein großes Mädchen geworden, glaube ich?“
„Ja, sehr groß,“ antwortete Darja Aleksandrowna kurz, selbst verwundert, daß sie so kühl über ihre Kinder Bescheid gab. „Wir befinden uns recht wohl bei den Lewin,“ fügte sie hinzu.
„Ach, hätte ich gewußt,“ antwortete Anna, „daß du mich nicht verachtest. Ihr hättet alle zu uns kommen müssen. Stefan ist doch ein alter und intimer Freund Alekseys,“ fügte sie hinzu, und errötete plötzlich.
„Wir befinden uns so ganz wohl,“ versetzte Dolly verlegen.
„Da habe ich übrigens aus Freude Dummheiten gesagt. Noch einmal, Herzchen, wie freue ich mich über dich,“ sagte Anna, sie wiederum küssend, „aber du hast mir noch nicht gesagt, wie und was du über mich denkst, und ich will alles wissen. Und ich freue mich darüber, daß du mich durchschaust, wie ich bin. Es liegt mir nichts daran, vor allem, daß man denke, ich wollte in irgend etwas demonstrieren. Ich will nicht demonstrieren, sondern einfach nur leben; niemandem Übles thun, außer mir selbst. Dieses Recht habe ich, nicht wahr? Doch das ist eine langatmige Unterhaltung und wir werden schon noch über alles sprechen. Ich gehe jetzt, mich umzukleiden und werde dir ein Mädchen schicken.“
Allein geblieben, schaute sich Darja Aleksandrowna mit dem Blick der Hausfrau in dem Zimmer um. Alles was sie vor dem Haus vorfand, und durch dasselbe schreitend, sowie jetzt in ihrem Zimmer, erblickte, verursachte ihr den Eindruck des Überflusses und der Koketterie, jenes modernen, europäischen Luxus, von dem sie nur in englischen Romanen gelesen, den sie aber noch nie in Rußland und auf dem Lande erblickt hatte. Alles war neu, von den modernen französischen Tapeten an bis zum Teppich, von welchem das ganze Zimmer bedeckt war. Das Bett war mit Sprungfedermatratze versehen, hatte ein besonderes Kopfkissen und Canevasüberzüge auf den kleinen Kissen. Das marmorne Waschbecken, die Toilette, die[240] Tische, die Bronceuhr auf dem Kamin, die Gardinen und Portieren, alles das war teuer und neu.
Die kokette Kammerzofe, welche herbeikam, um ihre Dienste anzubieten, und eine Frisur und Robe trug, die noch moderner war, als diejenige Dollys, sah eben so neu und kostspielig aus, wie das ganze Zimmer.
Darja Aleksandrowna war ihre Höflichkeit, Sauberkeit und Dienstwilligkeit sehr angenehm, doch fühlte sie sich nicht behaglich in ihrer Gegenwart; sie schämte sich vor ihr wegen ihres, unglücklicherweise infolge eines Irrtums von ihr gepackten, ausgebesserten Corsets; sie schämte sich gerade jener Flicken und gestopften Stellen, auf die sie daheim so stolz war. Zu Hause war es ihr klar, daß zu sechs Leibchen vierundzwanzig Arschin Stoff gehörten, zu je fünfundsechzig Kopeken, was mehr als fünfzehn Rubel ausmachte, außer der Arbeit; und diese fünfzehn Rubel waren so herausgeschlagen. Vor der Zofe aber empfand sie weniger Scham, als vielmehr Unbehagen.
Darja Aleksandrowna verspürte große Erleichterung, als die ihr seit alters bekannte Annuschka in das Zimmer trat. Die kokette Zofe war von der Herrin verlangt worden und Annuschka blieb bei Darja Aleksandrowna zurück.
Annuschka war augenscheinlich sehr erfreut über die Ankunft der Dame und schwatzte ohne Unterlaß. Dolly bemerkte, daß sie gern ihre Meinung bezüglich der Lage ihrer Herrin ausgesprochen hätte, insbesondere bezüglich der Liebe und Ergebenheit des Grafen für Anna Arkadjewna, doch Dolly verhinderte sie geflissentlich daran, sobald sie davon zu sprechen begann.
„Ich bin mit Anna Arkadjewna herangewachsen, die Herrin geht mir über alles! Doch wir haben über nichts zu richten, und, wie es scheint, so zu lieben —“
„Gieb mir doch gefälligst Waschwasser, wenn es geht,“ unterbrach sie Darja Aleksandrowna.
„Zu Diensten. Bei uns sind zum Waschen allein zwei Frauen besonders angestellt und die Wäsche wird nur mit Maschine gereinigt. Der Graf führt alles ein. Das ist ein Mann —“
Dolly war froh, als Anna bei ihr eintrat, und mit ihrem Kommen das Geschwätz Annuschkas abschnitt.
Anna hatte sich in eine sehr einfache Battistrobe geworfen und Dolly betrachtete aufmerksam dieses einfache Kleid. Sie erkannte, daß dies zu bedeuten habe, auch solch eine Einfachheit sei nur für Summen zu erringen.
„Eine alte Bekannte,“ sagte Anna im Hinweis auf Annuschka.
Anna war jetzt nicht mehr in Verlegenheit; sie erschien vollständig ungezwungen und ruhig. Dolly erkannte, daß sich Anna jetzt wieder vollständig von dem Eindruck ermannt hatte, welchen ihre Ankunft bei dieser hervorgerufen, und daß sie jetzt wieder jenen hochfahrenden, gleichmütigen Ton angenommen habe, mit welchem gleichsam die Thür zu derjenigen Abteilung in ihr, in welcher sich ihre Gefühle und innersten Gedanken befanden, verschlossen war.
„Nun, was macht dein kleines Mädchen, Anna?“ frug Dolly.
„Die Any?“ — so nannte sie ihre Tochter Anna — „sie befindet sich wohl. Sie hat sich sehr entwickelt, willst du sie einmal sehen? Komm, ich zeige sie dir! Es hat da unendlich viel Sorgen gegeben,“ begann sie zu erzählen, „mit den Ammen. Wir hatten als Amme eine Italienerin, sie war gut, aber dumm! Wir wollten sie fortschicken, doch das Kind war so gewöhnt an sie, daß wir sie noch immer haben.“
„Und wie seid Ihr übereingekommen?“ wollte Dolly fragen, welchen Namen das Mädchen tragen sollte. Als sie indessen das finstergewordene Gesicht Annas bemerkte, veränderte sie den Sinn ihrer Frage. „Und wie seid Ihr übereingekommen? Habt Ihr es schon entwöhnt?“ —
Doch Anna hatte verstanden.
„Du wolltest nicht hiernach fragen? Du wolltest nach seinem Namen fragen? Nicht wahr? Dies eben quält Aleksey! Sie hat keinen Namen. Das heißt, sie ist — eine Karenina“ — sagte Anna, die Augen soweit zusammenkneifend, daß nur die zusammentreffenden Wimpern noch sichtbar waren. „Übrigens,“ fuhr sie mit plötzlich hellwerdendem Gesicht fort, „von dem allen können wir ja später noch reden. Komm, ich will sie dir zeigen! Elle est très — gentile — und kriecht schon fort.“
In der Kinderstube überraschte Darja Alexandrowna der nämliche Luxus, welcher sie im ganzen Hause schon frappiert[242] hatte, noch mehr. Hier gab es kleine Wagen, die aus England verschrieben waren, sowie Gerätschaften für das Gehenlernen; einen eigens konstruierten Diwan nach Art eines Billards zum Kriechen; Wiegen; eigenartige, neue Wannen. Alles war von englischer Arbeit, dauerhaft und gediegen und offenbar teuer. Das Zimmer war groß, sehr hoch und hell.
Als sie eintraten, saß das kleine Mädchen nur im Hemdchen in einem Stühlchen am Tisch und nahm Bouillon zu sich, mit welcher sie sich die ganze kleine Brust begossen hatte. Ein russisches Mädchen, welches in der Kinderstube diente, fütterte das Kind, und aß augenscheinlich selbst mit diesem zugleich dabei. Weder die Amme, noch die Kinderfrau war zugegen; sie befanden sich im Nebenzimmer und man vernahm von dorther ihr Gespräch in seltsamem Französisch, in welchem sie sich einander nur verständlich machen konnten.
Die Stimme Annas vernehmend, trat eine hohe Engländerin mit unangenehmem Gesicht und gemeinem Ausdruck, hastig ihre blonden Locken schüttelnd in die Thür, und begann sich sogleich zu entschuldigen, obwohl ihr Anna noch gar kein Vergehen beigemessen hatte. Auf jedes Wort Annas antwortete die Engländerin schnell mit einem mehrmaligen „yes, mylady!“
Das kleine Mädchen mit seinen schwarzen Brauen und Haaren, den roten Wangen, der festen straffen Haut und dem schönen Körperchen gefiel Darja Aleksandrowna ungeachtet des mürrischen Ausdrucks, mit welchem es auf das fremde Gesicht blickte, sehr; diese beneidete es sogar um seines gesunden Aussehens willen. Auch wie das kleine Mädchen kroch, gefiel ihr sehr; keines ihrer Kinder hatte so gekrochen. Dieses Kindchen war, nachdem man es auf einen Teppich gesetzt, und ein Kleid dahinter gestopft hatte, wunderbar lieblich. Wie ein Tierchen schaute es mit seinen großen glänzenden schwarzen Augen um sich, offenbar erfreut darüber, daß man sich freundlich mit ihm abgebe, stützte sich lächelnd, und die Füßchen seitwärts haltend, energisch auf die Hände und hob schnell das ganze Hinterteilchen empor, worauf es mit den Händchen nach vorwärts faßte.
Der allgemeine Charakter der Kinderstube jedoch, und namentlich die Engländerin, gefiel Darja Aleksandrowna durchaus[243] nicht. Nur damit, daß in eine so illegitime Familie wie es diejenige Annas war, wohl kein gutes Mädchen gehen mochte, erklärte sich Darja Aleksandrowna selbst, daß Anna mit ihrer Menschenkenntnis für ihr Kind eine so unsympathische, gar nicht respektable Engländerin hatte nehmen können. Außerdem aber erkannte sie auch sogleich an einigen Worten, daß Anna, die Amme, die Kinderfrau und das Kind sich nicht zusammengelebt hatten, und der Besuch der Mutter ein ungewöhnliches Ereignis bildete. Anna wollte dem Kinde ein Spielzeug geben und konnte es nicht einmal finden.
Am wundersamsten aber von allem war, daß Anna auf die Frage, wie viel Zähne das Kind habe, irrte und von den zwei letzten Zähnen noch gar nichts wußte.
„Es ist mir bisweilen schwer ums Herz, daß ich hier förmlich überflüssig bin,“ sagte sie beim Verlassen der Kinderstube, und nahm ihre Schleppe auf, um an den bei der Thür stehenden Spielgeräten vorüberzukommen. „So war es nicht bei meinem ersten Manne.“
„Ich dachte, im Gegenteil,“ sagte Darja Aleksandrowna schüchtern.
„O nein; du weißt doch wohl, ich habe ihn gesehen — meinen Sergey,“ sprach Anna, die Augen zusammenkneifend, als schaue sie nach etwas weit Entferntem. „Doch davon können wir ja später sprechen. Du glaubst nicht, ich bin wie eine Hungernde, der man plötzlich ein üppiges Mahl vorgesetzt hat, ohne daß sie weiß, wonach sie langen soll. Das üppige Mahl — bist du und die mir bevorstehenden Gespräche mit dir, die ich mit niemandem sonst führen konnte; ich weiß nun nicht, an welches Thema ich zuerst gehen soll. Mais je ne vous ferai grâce de rien — ich muß mich ganz aussprechen. Ich muß dir ein Bild von der Gesellschaft machen, die du bei uns findest,“ begann sie, „und beginne mit den Damen. Da ist die Fürstin Barbara. Du kennst sie und ich kenne deine Meinung und diejenige Stefans über sie. Stefan sagt, der ganze Zweck ihres Daseins bestehe darin, ihren Vorzug vor ihrer Tante Katharina Pawlowna zu beweisen. Das ist ganz richtig, aber sie ist gut und ich bin ihr sehr dankbar. In Petersburg gab es für mich einen Moment, in welchem mir un chaperon notwendig war; da war sie bei mir; sie[244] ist wahrhaftig gut, und hat mir meine Lage sehr erleichtert. Ich sehe wohl, daß du die ganze Schwierigkeit derselben nicht begreifst — wie sie dort, in Petersburg war,“ fügte sie hinzu. „Hier lebe ich nun vollkommen ruhig und glücklich; doch davon später, erst muß aufgezählt werden. Zweitens kommt Swijashskiy; er ist Präsident und ein sehr solider Mann, doch braucht er Aleksey in Manchem. Du verstehst jetzt, nachdem wir uns auf dem Lande niedergelassen haben, kann Aleksey mit seinen Verhältnissen großen Einfluß ausüben. Dann Tuschkjewitsch — du hast ihn ja gesehen; er war bei Betsy. Man hat ihn jetzt fallen lassen und er ist nun zu uns gekommen. Wie Aleksey sagt, ist er einer von denjenigen Menschen, die sehr angenehm sind, wenn man sie so nimmt, wie sie scheinen wollen — et puis, il est comme il faut — wie die Fürstin Barbara sagt. Ferner Wjeslowskij — den kennst du ja. — Er ist ein sehr lieber Mensch,“ sagte sie, mit schelmischem Lächeln die Lippen kräuselnd. „Was ist denn das für eine seltsame Geschichte mit Lewin gewesen? Wjeslowskij hat sie Aleksey erzählt und wir können sie gar nicht glauben. Il est très gentil et naif“ sagte sie, wieder mit dem nämlichen Lächeln. „Die Männer bedürfen der Zerstreuung und Aleksey braucht Menschen um sich; daher schätze ich diese ganze Gesellschaft. Bei uns muß es lebhaft und heiter zugehen, damit sich Aleksey nichts Neues wünscht. Dann wirst du auch den Direktor sehen. Er ist ein Deutscher, ein sehr hübscher Mann, der auch seine Sache versteht; Aleksey schätzt ihn sehr hoch. Ferner ist da der Arzt, ein noch junger Mann; nicht gerade ein vollkommener Nihilist, aber, weißt du, ‚er ißt mit dem Messer‘ — sonst ist er ein sehr guter Arzt. Endlich ist noch der Architekt da. — Une petite cour.“ —
„Hier bringe ich Euch Dolly, Fürstin, Ihr wolltet sie so gern sehen,“ sagte Anna, mit Darja Aleksandrowna die große Steinterrasse betretend, auf welcher im Schatten, hinter dem Stickrahmen die Fürstin Barbara saß, die einen Sessel für den Grafen Aleksey Kyrillowitsch stickte. „Sie sagt zwar, daß sie bis zu Mittag nichts zu sich nehmen mag, befehlt aber[245] immerhin das Frühstück, während ich mittlerweile gehe, Aleksey zu suchen und sie alle mit hierher bringe.“
Die Fürstin Barbara empfing Dolly mit einer gewissen Gönnermiene und begann sogleich, ihr auseinanderzusetzen, daß sie deshalb bei Anna wohne, weil sie diese mehr liebe, als es deren Schwester, Katharina Pawlowna, gethan, die Anna erzogen hätte, und daß sie es jetzt, nachdem alle Anna verlassen hätten, als ihre Pflicht betrachtet habe, ihr in diesem Übergangsstadium, dem allerschwierigsten, Beistand zu leisten.
„Ihr Mann wird ihr den Konsens zur Ehescheidung geben und dann gehe ich wieder in meine Einsamkeit, jetzt aber kann ich nützlich sein und werde ich meine Pflicht erfüllen, so schwer es mir auch werden mag — ich handle nicht so, wie andere. Und wie lieb bist du, wie schön hast du gehandelt, daß du gekommen bist! Sie leben vollkommen, wie die besten Ehegatten und Gott wird über sie richten, nicht wir dürfen es! Birjusowskij und die Avenijewa, Nikandroff, Wasiljeff und die Mamonowa, und Lisa Neptunowa, da hat doch auch kein Mensch etwas gesagt? Und doch endeten die Fälle so, daß sie sich alle heirateten. Dann aber, c'est un intérieur si joli, si comme il faut. Tout-à-fait à l'anglaise. On se réunit le matin au breakfast et puis on se sépare. Jeder thut, was er will, bis zur Mittagszeit. Die Mittagstafel ist um sieben Uhr. Stefan hat sehr wohl daran gethan, dich zu schicken. Er müßte sich an sie halten. Du weißt ja, er vermag durch seine Mutter und seine Brüder alles, und dann thun sie ja viel Gutes. Hat er dir noch nicht von seinem Krankenhaus erzählt? Ce sera admirable — und alles aus Paris.“
Ihr Gespräch wurde durch Anna unterbrochen, welche die Gesellschaft der Herren beim Billardspiel gefunden hatte und nun zusammen mit ihnen zur Terrasse zurückkehrte. Bis zur Mittagstafel war noch lange Zeit, das Wetter sehr schön und so wurden verschiedenartige Hilfsmittel, die noch übrigen zwei Stunden auszufüllen in Vorschlag gebracht. Der Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben, gab es sehr viele in Wosdwishenskoje, und es waren alle nicht die, wie sie in Pokrowskoje angewendet wurden.
„Une partie de Lawn tennis,“ schlug mit seinem hübschen[246] Lächeln Wjeslowskij vor, „ich spiele wieder mit Euch, Anna Arkadjewna!“
„Ach nein; es ist zu heiß dazu; besser, wir gehen in den Park und fahren auf dem Kahn, um Darja Aleksandrowna die Ufer zu zeigen,“ schlug Wronskiy vor.
„Ich bin mit allem einverstanden,“ meinte Swijashskiy.
„Ich denke, daß es Dolly am angenehmsten sein wird, sich erst ein wenig zu ergehen; nicht so? Und dann erst Kahn zu fahren,“ sagte Anna.
So wurde denn auch bestimmt. Wjeslowskij und Tuschkjewitsch begaben sich ins Bad und versprachen, dort das Boot bereit machen und warten zu wollen.
Sie gingen in zwei Paaren auf dem Wege; Anna mit Swijashskiy und Dolly mit Wronskiy. Dolly war ein wenig verwirrt und ängstlich in dieser ihr vollständig neuen Umgebung, in der sie sich befand. Begeistert und voll Theorien, rechtfertigte sie nicht nur, nein, billigte sie sogar Annas Verfahren. Wie im allgemeinen nicht selten untadelhaft moralische Frauen ermüdet von der Einförmigkeit des sittenstrengen Lebens thun, so entschuldigte sie aus ihrer Ferne nicht nur die verbrecherische Liebe, sie beneidete dieselbe sogar.
Außerdem liebte sie Anna auch von Herzen, aber gleichwohl war es ihr in der Wirklichkeit, nachdem sie diese inmitten aller dieser ihr fremden Leute gesehen hatte, in dem für Darja Aleksandrowna neuen, sogenanntem guten Tone, unbehaglich zu Mut. Besonders unangenehm war es ihr, die Fürstin Barbara zu sehen, welche ihnen alles verzieh für die Annehmlichkeiten, die sie dafür genoß.
Im allgemeinen also billigte Dolly, hingerissen, das Vergehen Annas, aber denjenigen sehen zu müssen, für welchen jenes Verbrechen begangen worden, war ihr doch unangenehm. Wronskiy hatte ihr überhaupt nie gefallen. Sie hielt ihn für sehr stolz, sah aber in ihm nichts von alledem, worauf er hätte stolz sein können — es wäre denn sein Reichtum gewesen. —
Gegen ihren Willen jedoch imponierte er ihr hier in seinem Hause noch mehr als früher, und sie konnte sich vor ihm nicht ungezwungen benehmen. Empfand sie doch ihm gegenüber ein Gefühl, das ähnlich dem war, welches sie über ihr Leibchen[247] vor der Zofe empfunden hatte. So wie ihr in deren Gegenwart nicht Scham, sondern Unmut wegen der Ausbesserungen aufgestiegen war, so empfand sie auch vor ihm fortwährend nicht etwas wie Scham, sondern wie Unmut über das eigene Ich.
Dolly fühlte sich verlegen und suchte ein Thema zur Unterhaltung. Wiewohl sie urteilte, daß ihm in seinem Hochmut ein Lob seines Hauses und Parkes unangenehm sein müsse, sagte sie ihm dennoch, keinen andern Gegenstand der Unterhaltung findend, daß ihr sein Haus sehr gefallen habe.
„Ja; es ist ein sehr schönes Gebäude und nach gutem alten Stil,“ sagte er.
„Mir hat auch der Hof vor der Freitreppe sehr gefallen. War der schon so?“
„O nein!“ antwortete er, und sein Gesicht schimmerte vor Genugthuung. „Wenn Ihr diesen Hof noch jetzt im Frühling gesehen hättet!“
Und er begann nun anfangs zurückhaltend, dann aber sich freier und freier hingebend, ihre Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Einzelheiten der Verschönerung in Haus und Garten hinzulenken. Es war ersichtlich, daß Wronskiy nach dem Aufwand so vieler Mühe zur Verbesserung und Verschönerung seines Landsitzes das Bedürfnis empfand, sich desselben vor einer fremden Person zu rühmen, und sich über das Lob Darja Aleksandrownas von ganzem Herzen freute.
„Wenn Ihr noch das Krankenhaus besichtigen wollt und nicht ermüdet seid, so ist dies nicht zu weit entfernt. Kommt,“ sagte er, ihr ins Gesicht blickend, um sich zu überzeugen, daß sie sich ja nicht etwa langweile.
„Kommst du mit, Anna?“ wandte sie sich an diese.
„Wir werden mit kommen; nicht wahr?“ wandte sie sich an Swijashskiy.
„Mais il ne faut pas laisser le pauvre Weslowskij et Tuschkjewitsch se morfondre là dans le bateau. Man muß es ihnen sagen lassen.“
„Das ist ein Denkmal, welches er sich hier aufrichtet,“ sprach Anna, sich zu Dolly wendend, mit dem nämlichen, wissenden und verschlagenen Lächeln, mit welchem sie früher über das Krankenhaus gesprochen hatte.
„O, ein Kapitalwerk,“ rief Swijashskiy, fügte aber sogleich,[248] um nicht als Jasager Wronskiys zu erscheinen, leichthin eine kritische Bemerkung hinzu. „Ich wundere mich nur, Graf,“ sprach er, „daß Ihr, der Ihr in sanitärer Beziehung so viel für das Volk thut, Euch den Schulen gegenüber so gleichgültig verhaltet.“
„C'est devenu tellement commun les écoles,“ sagte Wronskiy, „Ihr seht doch, daß ich nicht davon, sondern eben hiervon eingenommen bin. — Hierhin geht es nach dem Krankenhaus,“ wandte er sich dann zu Darja Aleksandrowna, nach einem Seitenausgang aus der Allee zeigend.
Die Damen öffneten die Sonnenschirme und betraten den Seitenweg. Nachdem sie einige Windungen durchschritten und zu einem Pförtchen hinausgetreten waren, erblickte Darja Aleksandrowna vor sich auf einem erhöhten Terrain ein großes, rotes, fast vollendetes Gebäude von interessantem Aussehen. Das noch nicht gestrichene, eiserne Dach strahlte blendend in der heißen Sonne. Neben dem fertigen Gebäude war ein zweites, vom Wald umgeben, angelegt; Arbeiter auf den Gerüsten legten Ziegel, übergossen die Lagen aus den Eimern und gleichten sie mit Richtmaßen.
„Wie schnell bei Euch die Arbeit vorwärts geht!“ sagte Swijashskiy, „als ich das letzte Mal hier war, war das Dach noch nicht da.“
„Zum Herbste soll alles fertig sein, und innen ist fast alles bereits ausgeputzt,“ sagte Anna.
„Und was ist das Neues dort?“
„Es ist ein Gebäude für den Arzt und die Apotheke,“ antwortete Wronskiy, den in kurzem Überrock auf ihn zukommenden Architekten erblickend; und ging, sich vor den Damen entschuldigend, diesem entgegen.
Die Kalkgrube umgehend, aus welcher die Arbeiter den Kalk holten, blieb er beim Architekten stehen und begann eifrig zu sprechen.
„Das Fronton liegt immer noch zu niedrig,“ antwortete er Anna, welche gefragt hatte, wovon die Rede sei.
„Ich hatte gesagt, man müsse das Fundament erhöhen,“ sagte Anna.
„Ja, natürlich, das wäre besser, Anna Arkadjewna,“ sagte der Architekt, „es ist außer Acht gelassen worden.“
„Ja, ich interessiere mich sehr hierfür,“ antwortete Anna Swijashskiy, welcher sein Erstaunen über ihre Kenntnisse in der Architektur ausgedrückt hatte. „Das neue Gebäude muß dem Krankenhaus entsprechend sein, ist aber erst später geplant und ohne Riß begonnen worden.“
Nachdem die Rücksprache mit dem Architekten beendet war, gesellte sich Wronskiy wieder zu den Damen und führte dieselben in das Innere des Krankenhauses.
Obwohl man außen noch die Karniese fertig machte und in der tieferen Etage tünchte, war in der oberen schon alles fertig. Auf der breiten, gußeisernen Treppe den Treppenabsatz überschreitend, betrat man das erste große Zimmer. Die Wände waren mit Stuck, der sich wie Marmor ausnahm, geziert, die großen Fenster waren schon eingesetzt, nur der Parkettboden war noch nicht fertig und die Tischler, welche ein emporgenommenes Quadrat hobelten, ließen die Arbeit liegen, um, ihre schmalen Stirnbänder abnehmend, welche ihnen das Haar hielten, die Herrschaft zu begrüßen.
„Das ist das Empfangszimmer,“ sagte Wronskiy, „es wird hier nur ein Tisch und ein Schrank hereinkommen, weiter nichts.“
„Hierher, hier wollen wir durchgehen! Komm nicht an das Fenster,“ sagte Anna, probierend, ob die Farbe schon getrocknet sei. „Aleksey, die Farbe ist schon trocken,“ fügte sie hinzu.
Aus dem Empfangszimmer trat man in den Korridor. Hier zeigte Wronskiy eine nach neuem System konstruierte Ventilation, dann die Marmorwannen und Betten mit eigenartigen Federn. Hierauf zeigte er die Krankensäle, einen nach dem anderen, die Vorratskammer, ein Zimmer für die Wäsche, dann einen Ofen neuester Konstruktion, eine Art Rollen, welche kein Geräusch machen sollten und die solche Gegenstände, die gebraucht wurden beförderten, und noch vieles andere. Swijashskiy lobte alles, als ein Mann, welcher alle neuen Vervollkommnungen kannte. Dolly war geradezu erstaunt über diese Dinge, welche sie bis jetzt noch nicht gesehen hatte, und frug im Begehren, alles zu erfassen, eingehend nach allem, was Wronskiy augenscheinlich Vergnügen machte.
„Ich glaube, dies wird das einzige, vollständig rationell[250] eingerichtete Krankenhaus in Rußland werden,“ sagte Swijashskiy.
„Werdet Ihr auch eine Abteilung für Wöchnerinnen haben,“ frug Dolly. „Das ist doch so notwendig auf dem Lande. Ich habe häufig“ —
Bei aller seiner Höflichkeit fiel ihr hier Wronskiy ins Wort.
„Das ist kein Geburtsinstitut, sondern ein Krankenhaus und für alle Krankheiten bestimmt außer den ansteckenden,“ sagte er. „Aber hier seht einmal das,“ er rollte einen neuerdings erst verschriebenen Lehnsessel zu Darja Aleksandrowna, welcher für Genesende bestimmt war. „Paßt auf,“ er setzte sich in den Sessel und begann ihn fortzubewegen. „Wenn Einer nicht gehen kann, noch zu schwach ist, oder fußleidend, aber Luft schöpfen muß, so fährt er, rollt er sich“ —
Darja Aleksandrowna interessierte sich für alles; alles gefiel ihr sehr, am meisten aber Wronskiy selbst mit dieser natürlichen, naiven Begeisterung.
„Ja, ja, er ist ein sehr lieber und guter Mann,“ dachte sie, ohne ihn zu hören, aber auf ihn blickend und in seinen Ausdruck versunken, während sie sich im Geiste in Anna versetzte. Er gefiel ihr jetzt so wohl in seiner Lebhaftigkeit, daß sie begriff, wie Anna sich in ihn hatte verlieben können.
„Nein, ich glaube die Fürstin ist müde und die Pferde interessieren sie nicht mehr,“ sagte Wronskiy zu Anna, welche vorgeschlagen hatte, zum Marstall zu gehen, wo Swijashskiy den neuen Hengst zu besichtigen wünschte. „Geht Ihr dahin, während ich die Fürstin ins Haus begleite, und wir wollen ein wenig plaudern, wenn es Euch angenehm ist?“ sagte er, zu derselben gewendet.
„Von Pferden verstehe ich gar nichts; und es ist mir so recht angenehm,“ sagte Darja Aleksandrowna etwas verwundert.
Sie sah im Gesicht Wronskiys, daß er etwas von ihr wünschte, und sie irrte nicht. Kaum waren sie wiederum durch das Pförtchen in den Garten gelangt, als er nach der Seite schaute, nach welcher Anna gegangen war, und, nachdem[251] er sich überzeugt hatte, daß diese ihn weder hören noch sehen könne, begann:
„Ihr habt erraten, daß ich mit Euch zu sprechen wünschte,“ sagte er, sie mit lachenden Augen anblickend, „ich irre nicht darin, daß Ihr eine Freundin Annas seid.“ Er nahm den Hut ab, zog ein Tuch hervor und trocknete sich damit seinen Kopf mit dem spärlichen Haar.
Darja Aleksandrowna antwortete nicht, sondern blickte ihn nur erschrocken an. Nachdem sie mit ihm so allein geblieben, wurde es ihr plötzlich ängstlich zu Mut; die lachenden Augen und der ernste Ausdruck seines Gesichts erschreckten sie.
Die verschiedenartigsten Vermutungen, worüber er wohl mit ihr könnte sprechen wollen, gingen ihr durch den Kopf. „Er wird mich einladen, mit den Kindern zu ihm auf Besuch zu kommen, und ich werde ihm abschläglich antworten müssen: Oder soll ich in Moskau einen Kreis für Anna schaffen, oder will er über Wasjenka Wjeslowskiy und dessen Beziehungen zu Anna reden? Vielleicht auch von Kity, oder davon, daß er sich schuldig fühlt?“ Sie sah nur Unangenehmes, erriet aber nicht, wovon er mit ihr mochte reden wollen.
„Ihr habt so großen Einfluß auf Anna, sie liebt Euch so,“ sagte er, „helft mir doch!“
Darja Aleksandrowna schaute fragend und schüchtern auf sein energisches Gesicht, welches bald ganz, bald stellenweis in das Licht der Sonne trat, das bald den Schatten der Linden durchdrang, bald vom Schatten wieder verdunkelt wurde, und wartete auf das, was er weiter sagen würde; doch er schritt, mit dem Spazierstock in den Kies bohrend, schweigend neben ihr hin.
„Wenn Ihr zu uns gekommen seid, Ihr, die einzige Frau unter den früheren Freundinnen Annas — die Fürstin Barbara rechne ich nicht — so verstehe ich darin, daß Ihr dies nicht gethan habt, weil Ihr etwa unser Verhältnis für ein normales haltet, sondern weil Ihr, die ganze Schwierigkeit dieses Verhältnisses begreifend, sie noch immer ebenso liebt und ihr helfen wollt. Habe ich Euch so richtig aufgefaßt?“ frug er, sie anschauend.
„O ja,“ antwortete Darja Aleksandrowna, ihren Sonnenschirm schließend, „doch“ —
— „Nein,“ unterbrach er sie, und blieb stehen, unwillkürlich, und vergessend, daß er hierdurch Darja Aleksandrowna in eine peinliche Situation versetzte, indem diese genötigt war, gleichfalls stehen zu bleiben. „Niemand empfindet mehr und stärker als ich die ganze Schwierigkeit der Lage Annas, und dies ist begreiflich, wenn Ihr mir die Ehre erweist, mich für einen Menschen zu halten, der Herz besitzt, ‚ich bin die Ursache dieser Lage und deshalb fühle ich sie.‘“
„Ich verstehe,“ sagte Darja Aleksandrowna, unwillkürlich freundlich werdend, als er dies so aufrichtig und bestimmt aussprach, „aber eben deswegen, weil Ihr Euch als die Ursache fühlt, übertreibt Ihr, wie ich fürchte,“ sagte sie, „Annas Lage ist eine schwierige in der Welt, ich verstehe wohl.“
„In der Welt ist sie eine Hölle,“ fuhr er hastig fort, das Gesicht in finstre Falten legend, „man kann sich keine schlimmeren moralischen Qualen vorstellen, als die, welche sie in jenen vierzehn Tagen in Petersburg durchlebt hat. Ich bitte Euch darum, das zu glauben.“
„Aber hier, bis jetzt, so lange weder Anna, noch Ihr ein Bedürfnis nach der Welt empfindet“ —
„Die Welt“ — sagte er voll Verachtung, „welches Bedürfnis kann ich nach der Welt empfinden?“
„Bis jetzt — und vielleicht bleibt das immer so — seid Ihr glücklich und ruhig. Ich sehe an Anna, daß sie glücklich ist, vollkommen glücklich, sie hat es mir kaum erst geäußert“ — sagte Darja Aleksandrowna lächelnd; doch unwillkürlich stiegen ihr, während sie dies sprach, Zweifel auf, ob Anna wirklich glücklich war.
Wronskiy hingegen schien hieran nicht zu zweifeln.
„Ja, ja,“ sagte er, „ich weiß, daß sie aufgelebt ist nach allen ihren Leiden; sie ist glücklich. Sie ist wahrhaft glücklich. Aber ich? Ich fürchte das, was uns erwartet. Doch entschuldigt, Ihr wollt gewiß gehen?“
„Nein, ganz gleich.“
„Gut, setzen wir uns dann hierher!“
Darja Aleksandrowna ließ sich auf einer Gartenbank in einer Ecke der Allee nieder. Er blieb vor ihr stehen.
„Ich sehe, daß sie glücklich ist,“ wiederholte er und der Zweifel daran, ob sie glücklich sei, beschlich Darja Aleksandrowna[253] noch mehr. „Aber kann dies so fortgehen? Mögen wir gut oder schlecht gehandelt haben, das bleibt eine andre Frage, aber der Würfel ist gefallen,“ sagte er, aus der russischen in die französische Sprache übergehend, „und wir sind für das ganze Leben miteinander verbunden; wir sind vereint durch die heiligsten Bande der Liebe. Wir haben ein Kind, wir können noch mehr Kinder haben. Aber das Gesetz und alle Umstände in unserem Verhältnis sind derart, daß sich tausend Verwickelungen zeigen, welche Anna jetzt, wo sie ihren Geist von all den Leiden und Prüfungen ausruhen läßt, nicht sieht oder nicht sehen will. Und das ist begreiflich. Ich aber muß sie sehen. Meine Tochter ist nach dem Gesetz — nicht meine Tochter, sondern eine Karenina. Ich will diese Täuschung nicht,“ sagte er, mit einer energischen Geste der Verneinung, und düster fragend Darja Aleksandrowna anblickend.
Diese antwortete nicht und schaute ihn nur an. Er fuhr fort:
„Morgen kann mir ein Sohn geboren werden, mein Sohn, aber nach dem Gesetz — ist er ein Karenin; weder Erbe meines Namens, noch Erbe meines Vermögens, und so glücklich wir in der Familie sein, soviel Kinder wir auch bekommen mögen, zwischen mir und ihnen besteht kein Band. Sie sind Karenin. Begreift nur das Drückende und Entsetzliche dieser Lage! Ich habe es versucht, mit Anna darüber zu sprechen, aber sie reizt dies nur. Sie versteht es nicht und ich vermag nicht, ihr alles zu sagen. Betrachtet indes jetzt die Sache auch noch von einer anderen Seite! Ich bin glücklich, glücklich durch ihre Liebe, aber ich muß eine Beschäftigung haben! Diese Beschäftigung habe ich gefunden und bin stolz auf sie; ich halte sie für edler, als es die Beschäftigung meiner ehemaligen Kameraden am Hof und im Dienst ist, und ohne Zweifel würde ich dieses Wirken nicht mit dem ihren vertauschen mögen. Ich arbeite hier, auf meiner Scholle sitzend, und bin glücklich und zufrieden, und wir brauchen nichts weiter zum Glück. Ich liebe diese Thätigkeit. Cela n'est pas un pis-aller, im Gegenteil“ —
Darja Aleksandrowna bemerkte, daß er an dieser Stelle seiner Erklärung den Faden verlor; sie verstand diese Abschweifung nicht recht und fühlte, daß er jetzt, nachdem er[254] einmal über seine Herzensangelegenheiten, über die er mit Anna nicht reden konnte, zu sprechen angefangen hatte, alles aussprach, und daß sich die Frage seiner Beschäftigung auf dem Lande in der nämlichen Abteilung seiner innersten Gedanken befand, in welcher auch die Frage über seine Beziehungen zu Anna war.
„Indessen, ich fahre fort,“ sagte er, wieder auf den rechten Weg kommend, „das Wichtigste ist, daß ich beim Arbeiten die Überzeugung hegen muß — daß das von mir Geleistete nicht mit mir sterben wird, daß ich Erben haben werde, — und dies ist bei mir nicht der Fall! Stellt Euch selbst die Situation eines Menschen vor, welcher im voraus weiß, daß seine und seines von ihm geliebten Weibes Kinder nicht sein eigen werden, sondern jemandes, der sie haßt und sie gar nicht kennen will. — Das ist doch furchtbar!“
Er verstummte augenscheinlich in starker Erregung.
„Ja, natürlich; ich begreife das. Aber was kann Anna thun?“ frug Darja Aleksandrowna.
„Dies eben führt mich auf den Zweck meiner Aussprache,“ sagte er, sich gewaltsam bezwingend, „Anna kann Etwas thun; es hängt von ihr ab. Selbst zu dem Gesuch an den Zaren um Adoptierung, ist die Ehescheidung unumgänglich erforderlich. Und diese hängt von Anna ab; ihr Gatte war mit der Scheidung einverstanden — Euer Gatte hatte dies damals vollkommen arrangiert, und auch jetzt noch, ich weiß es, würde er sich nicht weigern. Es käme nur darauf an, daß man ihm schriebe. Er hat damals offen geantwortet, daß er sich, wenn sie diesen Wunsch aussprechen sollte, nicht weigern würde. Natürlich,“ sagte er finster, „ist dies nur eine jener Pharisäerhärten, deren allein Leute ohne Herz fähig sind. Er weiß, welche Qual ihr jede Erinnerung an ihn kostet, und fordert, da er es weiß, von ihr einen Brief. Ich begreife, daß ihr das qualvoll sein muß, aber die Ursachen sind so wichtig, daß es heißt passer par-dessus toutes ces finesses de sentiment. Il y va du bonheur et de l'existence d'Anne et de ses enfants. Ich spreche nicht von mir, obwohl es mir schwer, sehr schwer wird,“ sagte er mit dem Ausdruck einer Drohung gegen jemand, der es ihm so schwer machte. „Und so klammere ich mich denn ohne Bedenken an Euch, Fürstin, wie an einen[255] Rettungsanker. Helft mir, sie zu überreden, daß sie ihm schreibt und die Scheidung fordert.“
„Ja, natürlich,“ sagte Darja Aleksandrowna, sich lebhaft ihres letzten Zusammenseins mit Aleksey Aleksandrowitsch erinnernd, „ja versteht sich,“ wiederholte sie entschlossen, mit dem Gedanken an Anna.
„Macht von Eurem Einfluß auf sie Gebrauch und bewirkt, daß sie schreibt. Ich will und kann nicht darüber mit ihr reden.“
„Gut, ich werde mit ihr sprechen. Aber sie selbst sollte gar nicht hieran denken?“ sagte Darja Aleksandrowna, der plötzlich hierbei die seltsame neue Gewohnheit Annas, zu zwinkern, einfiel. Sie dachte wieder daran, daß Anna gerade da, als die Frage auf die Seiten ihres Lebens, die ihr Herz berührten, kam, mit den Augen zwinkerte. „Gerade als ob sie über ihr Leben zwinkerte, um es nicht zu sehen,“ dachte Dolly. „Ohne Zweifel muß ich im eigenen Interesse und in ihrem mit ihr sprechen,“ antwortete sie auf den Ausdruck seiner Dankbarkeit hin.
Sie erhoben sich und schritten dem Hause zu.
Als Anna Dolly bereits zurückgekehrt fand, schaute sie ihr aufmerksam ins Auge, als wolle sie nach dem Gespräch fragen, welches sie mit Wronskiy gehabt, frug aber nicht mit Worten.
„Es scheint schon Zeit zur Mittagstafel zu sein,“ sagte sie. „Wir haben uns ja noch gar nicht gesehen. Ich rechne auf den Abend; jetzt muß ich mich umkleiden, und ich denke wohl auch du wirst dies thun? Wir sind auf dem Bau alle ganz schmutzig geworden.“
Dolly ging nach ihrem Zimmer und war nun in einer komischen Situation. Es war ihr nicht möglich, sich umzukleiden, denn sie hatte schon ihr bestes Kleid angelegt; doch, um wenigstens in Etwas ihre Vorbereitung zur Tafel kenntlich zu machen, bat sie die Zofe, ihr das Kleid zu reinigen, wechselte die Manschetten und ein Band und legte Spitzen auf den Kopf.
„Das ist alles, was ich vermag,“ sagte sie lächelnd zu[256] Anna, welche in dem dritten, wiederum einem sehr einfachen Kleide, zu ihr kam.
„Ja, wir sind hier sehr kokett,“ sagte Anna, sich gleichsam entschuldigend wegen ihrer Toilette. „Aleksey ist erfreut über dein Kommen, wie selten über Etwas. Er ist aufrichtig in dich verliebt,“ fügte sie hinzu. „Aber du bist doch nicht ermüdet?“
Bis zur Tafel war keine Zeit mehr, noch über etwas zu sprechen. Als sie in den Salon traten, trafen sie dort bereits die Fürstin Barbara und die Herren in schwarzen Röcken. Der Architekt war im Frack. Wronskiy stellte dem Besuch den Arzt vor. Den bauleitenden Architekten hatte er mit Darja Aleksandrowna schon in dem Krankenhause bekannt gemacht.
Der dicke Hausmeister, mit seinem glänzenden, runden rasierten Gesicht und im steifgeplätteten Band seiner weißen Krawatte meldete, daß das Essen bereit sei, und die Damen erhoben sich. Wronskiy ersuchte Swijashskiy, Anna Arkadjewna den Arm zu reichen, während er selbst zu Dolly trat. Wjeslowskij gab vor Tuschkjewitsch der Fürstin Barbara seinen Arm, so daß dieser, der Baumeister und der Arzt allein gingen.
Das ganze Essen, der Speisesalon, das Service, der Wein und die Speisen entsprachen nicht nur dem allgemeinen Charakter des modernen Prunkes in diesem Hause, sondern alles war wohl noch luxuriöser und moderner. Darja Aleksandrowna musterte diese ihr neue Pracht und vertiefte sich als Hausfrau, die ein Hauswesen führte — obwohl ohne Hoffnung, etwas von all dem Gesehenen mit ihrem Hauswesen vergleichen zu können, so hoch stand hier alles an Pracht über ihrer Lebensweise — unwillkürlich in alle Einzelheiten und stellte sich dabei die Frage, wer dies alles gemacht hatte und wie es gemacht war.
Wasjenka Wjeslowskij, ihr Gatte und selbst Swijashskiy und viele Leute, die sie kannte, hatten nie hierüber nachgedacht, sondern aufs Wort daran geglaubt, daß jeder rechtschaffene Hausherr seine Gäste merken zu lassen wünscht, alles, was bei ihm gut in der Einrichtung sei, habe ihm, dem Hausherrn, nicht die geringste Mühe gekostet, sondern sei von selbst geworden.
Darja Aleksandrowna aber wußte, daß von selbst nicht einmal der Brei zum Frühstück für die Kinder werde, und infolge dessen auf eine so komplizierte und herrliche Einrichtung gewissermaßen verstärkte Aufmerksamkeit hatte gerichtet werden müssen. Auch an dem Blicke des Aleksey Kyrillowitsch, mit welchem dieser den Tisch überflog, und wie er ein Zeichen mit dem Kopfe nach dem Hausmeister hin gab, und wie er der Darja Aleksandrowna die Auswahl zwischen dem Kwasgericht und der Suppe vorschlug, erkannte sie, daß alles durch die Fürsorge des Herrn selbst geschehe und von dieser gehalten sei. Von Anna hing augenscheinlich dies alles nicht in höherem Grade ab, als etwa von Wjeslowskij. Sie, Swijashskiy, die Fürstin und Wjeslowskiy waren einzig und allein die Gäste, welche heiter genossen, was für sie bereitet war.
Anna war Hausfrau nur der Führung des Gesprächs nach, und dieses Gespräch, sehr schwierig für die Hausherrin bei der nicht großen Tafel, bei Personen wie dem Baumeister und dem Architekten, Leuten einer vollständig anderen Welt, die sich bemühten, nicht zu erröten vor dem ungewohnten Luxus, und nicht lange an dem gemeinsamen Gespräch teilzunehmen vermochten — dieses schwierige Gespräch führte Anna mit ihrem gewohnten Takte, mit Natürlichkeit und selbst mit Vergnügen, wie Darja Aleksandrowna merkte.
Das Gespräch drehte sich darum, wie Tuschkjewitsch und Wjeslowskiy allein im Boot gefahren waren; dann begann Tuschkjewitsch von den letzten Bootwettfahrten in Petersburg im Jachtklub zu erzählen. Doch Anna, eine Pause abwartend, wandte sich sogleich an den Architekten, um denselben aus seinem Schweigen zu ziehen.
„Nikolay Iwanitsch war überrascht,“ sagte sie zu Swijashskiy, „wie das neue Gebäude seit der Zeit, seit welcher er das letzte Mal hier war, gewachsen ist; aber ich bin alltäglich dabei und verwundere mich selbst alltäglich, wie schnell das geht.“
„Mit Erlaucht arbeitet es sich auch gut,“ sagte lächelnd der Architekt — er war im Gefühl seines Wertes ein ehrerbietiger und ruhiger Mensch — „man hat es hier nicht mit Gouvernementsmachthabern zu thun, bei denen erst ein Ries Papier vollgeschrieben werden muß; ich mache dem Grafen[258] Meldung, wir besprechen und mit drei Worten ist die Sache abgemacht.“
„Amerikanische Manieren,“ sagte Swijashskiy lächelnd.
„Ja; dort werden die Gebäude rationell errichtet.“
Das Gespräch kam auf den Mißbrauch der Macht in den Vereinigten Staaten, doch Anna brachte es sogleich auf ein anderes Thema, um den Baumeister aus seinem Schweigen zu ziehen.
„Hast du schon einmal Erntemaschinen gesehen?“ wandte sie sich an Darja Aleksandrowna. „Wir waren hinausgeritten, sie anzusehen, als wir dir begegneten. Ich selbst habe sie zum erstenmale gesehen.“
„Wie arbeiten sie denn?“ frug Dolly.
„Genau so wie Scheren. Es ist ein Brett und daran sind viele kleine Scheren. So hier“ —
Anna ergriff mit ihren schönen, weißen, von Ringen bedeckten Händen ein Messer und eine Gabel und begann zu zeigen. Sie sah offenbar, daß sich aus ihrer Erklärung nichts erkennen lasse, setzte aber, recht wohl wissend, daß sie angenehm sprach und daß ihre Hände schön seien, die Erklärung fort.
„Es sind eigentlich mehr Federmesser,“ sagte Wjeslowskij lächelnd, ohne die Augen von ihr zu verwenden.
Anna lächelte kaum merklich, antwortete ihm aber nicht.
„Nicht wahr, Karl Fjodorowitsch, es sind Scheren?“ wandte sie sich an den Baumeister.
„O ja,“ versetzte der Deutsche in deutscher Sprache, „es ist ein ganz einfaches Ding,“ und begann dann die Konstruktion der Maschine zu erläutern.
„Schade, daß sie nicht strickt. Ich habe auf der Wiener Weltausstellung eine gesehen, die strickt Draht,“ sagte Swijashskiy, „diese wären noch nützlicher gewesen.“
„Es kommt drauf an; der Preis vom Draht muß ausgerechnet werden,“ sagte der Deutsche in deutscher Sprache und wandte sich, seinem Schweigen entrissen, an Wronskiy.
„Das läßt sich ausrechnen, Erlaucht.“ Der Deutsche hatte bereits in die Tasche gegriffen, wo er Bleistift und ein Notizbuch trug, in welchem er alles ausrechnete. Doch besann er sich, daß er bei Tische sitze und stand, den kühlen[259] Blick Wronskiys bemerkend, von seinem Vorhaben ab. „Zu kompliziert; macht zuviel Klopot,“ schloß er.
„Wünscht man Dochots,[A] so hat man auch Klopots,“[B] sagte Wasjenka Wjeslowskij auf Deutsch, sich über den Deutschen lustig machend. „J'adore l'allemand,“ wandte er sich mit dem nämlichen Lächeln zu Anna.
„Cessez!“ sagte diese scherzhaft ernst. „Wir dachten Euch auf dem Felde zu treffen, Wasiliy Ssemjonitsch?“ wandte sie sich dann an den Arzt, einen krankhaften Menschen, „waret Ihr dort?“
„Ich war dort, zog mich aber zurück,“ antwortete dieser mit mürrischem Spott.
„Wahrscheinlich habt Ihr Euch eine gute Motion gemacht?“
„Herrlich!“
„Wie ist denn das Befinden der Alten? Ich hoffe es ist nicht Typhus?“
„Typhus oder nicht Typhus, in der Besserung befindet sie sich nicht gerade.“
„Wie schade,“ sagte Anna, und wandte sich, nachdem sie so der Höflichkeit ihren Hausgenossen gegenüber den Tribut gezollt hatte, wieder zu den Ihrigen.
„Es wäre jedenfalls nach Eurer Erzählung schwierig, eine Maschine zu konstruieren, Anna Arkadjewna,“ sagte Swijashskiy scherzend.
„Nun; inwiefern?“ versetzte Anna mit einem Lächeln, welches sagte, daß sie wohl wisse, in ihrer Erklärung von der Maschinenkonstruktion habe etwas Liebliches gelegen, was von Swijashskiy auch bemerkt worden sei. Dieser neue Zug jugendlicher Koketterie überraschte Dolly unangenehm.
„Dafür sind die Kenntnisse Anna Arkadjewnas in der Architektur bewundernswürdige,“ sagte Tuschkjewitsch.
„Allerdings; ich hörte es; gestern sprach Anna Arkadjewna davon — bis auf die Plinthe ist sie Kennerin“ — sagte Wjeslowskij.
„Es ist nichts Wunderbares dabei, wenn man so viel sieht[260] und hört,“ antwortete Anna, „Ihr freilich wißt gewiß nicht einmal, wovon man ein Haus baut.“
Darja Aleksandrowna sah, daß Anna ungehalten über den Ton von Tändelei war, der zwischen ihr und Wjeslowskij herrschte, und in welchen unwillkürlich sie selbst geriet.
Wronskiy handelte in diesem Falle durchaus nicht so, wie Lewin. Er maß dem Geschwätz Wjeslowskijs offenbar nicht die geringste Bedeutung bei, ja, würzte im Gegenteil noch dessen Scherze.
„Nun sagt doch einmal, Wjeslowskij, womit bindet man denn die Steine!“
„Natürlich mit Cement.“
„Bravo! Aber was ist denn Cement?“
„Nun so etwas wie ein dünner Brei, nein wie Kitt,“ sagte Wjeslowskij, ein allgemeines Gelächter hervorrufend.
Die Konversation unter den Dinierenden mit Ausnahme des in tiefes Schweigen versunkenen Arztes, des Architekten und des Baumeisters, verstummte nicht, bald glatt fließend, bald stockend und jemanden bei einer Schwäche fassend. Einmal wurde auch Darja Aleksandrowna angegriffen und so aufgeregt davon, daß sie sogar errötete, und sich besann, ob man ihr nicht etwas Überflüssiges und Unangenehmes gesagt habe? Swijashskiy hatte über Lewin zu sprechen begonnen, und von seinen seltsamen Urteilen, daß die Maschinen der russischen Landwirtschaft nur schädlich seien, erzählt.
„Ich habe nicht das Vergnügen, diesen Herrn Lewin zu kennen,“ sagte Wronskiy lächelnd, „aber wahrscheinlich hat er wohl niemals die Maschinen gesehen, die er verwirft. Und wenn er eine gesehen und erprobt hat, so wird sie darnach gewesen sein, nicht eine ausländische, sondern eine russische. Wie kann man hierbei noch Ansichten haben?“
„Im allgemeinen türkische Ansichten,“ sagte Wjeslowskij lächelnd, sich an Anna wendend.
„Ich kann seine Urteile nicht vertreten,“ fuhr Darja Aleksandrowna auf, „aber ich kann sagen, daß er ein sehr gebildeter Mann ist, und, wenn er hier wäre, schon wüßte, wie er Euch zu antworten hätte; ich verstehe es allerdings nicht!“
„Ich liebe ihn sehr und wir sind sehr gute Freunde,“ sagte Swijashskiy gutmütig lächelnd. „Mais pardon, il est un[261] petit peu toqué; zum Beispiel behauptet er, daß sowohl das Semstwo, wie die Schiedsrichter nicht nötig wären, und beteiligt sich an nichts.“
„Das ist unsere russische Indifferenz,“ sagte Wronskiy, Wasser aus einer Eiskaraffe in ein feines Glas auf langem Fuße gießend, „man will sich keiner Verpflichtungen bewußt werden, die unsere Rechte uns auferlegen, und stellt diese Pflichten daher in Abrede.“
„Ich kenne keinen Menschen, der strenger wäre in der Erfüllung seiner Pflichten,“ sagte Darja Aleksandrowna, gereizt von diesem Tone der Überlegenheit in Wronskiy.
„Ich, im Gegenteil,“ fuhr Wronskiy fort, offenbar aus irgend einem Grunde von diesem Gespräch in einem gewissen Punkte getroffen, „ich im Gegenteil, so wie Ihr mich seht, bin sehr dankbar für die Ehre, die Ihr mir erwiesen habt, dank Nikolay Iwanitsch“ — er wies auf Swijashskiy — „indem ich zum Ehrenrichter gewählt worden bin. Ich meine, daß für mich die Pflicht, zu den Zusammenkünften zu reisen, die Klage eines Bauern über ein Pferd zu begutachten ebenso wichtig ist, wie alles, was ich überhaupt thun kann. Ich werde es mir zur Ehre anrechnen, wenn man mich zum stimmenden Richter macht. Nur damit kann ich jene Vorteile wieder ausgleichen, welche ich als Grundherr besitze. Zum Unglück versteht man die Bedeutung nicht, welche die Großgrundbesitzer im Reiche haben müßten.“
Darja Aleksandrowna berührte es seltsam, wie er so ruhig in seiner Gerechtigkeit dasaß, in seinem Hause hinter seinem Tische. Sie dachte daran, wie Lewin, von entgegengesetzter Meinung, ebenso entschieden war in seinem Urteil, in seinem Hause, an seinem Tische. Doch sie liebte Lewin und war daher auf seiner Seite.
„So können wir also auf Euch rechnen, Graf, für die nächste Zusammenkunft?“ frug Swijashskiy. „Doch wird zeitig zu fahren sein, damit man um acht Uhr schon dort ist. Wenn Ihr mir die Ehre erweisen wolltet, zu mir zu kommen?“
„Auch ich bin ein wenig einverstanden mit deinem beau frère,“ sagte Anna, „man darf nur nicht ganz so denken, wie er,“ fügte sie lächelnd hinzu. „Ich fürchte, daß in letzter Zeit für uns zu viel dieser gesellschaftlichen Pflichten erstanden sind. Wie[262] es früher so viel Beamte gab, daß für jede Arbeit ein Beamter erforderlich war, so ist jetzt alles gesellschaftlicher Faktor. Aleksey ist jetzt sechs Monate hier und schon ist er Mitglied von wohl fünf oder sechs verschiedenen socialen Institutionen — als Vormund, Richter, Stimmrichter, Beisitzer &c. Du train que cela va, alle seine Zeit geht darin auf. Ich fürchte, daß bei der Masse dieser Geschäfte, alles nur Form ist. In wie viel Orten seid Ihr Ratsmitglied des Gerichtshofs, Nikolay Iwanitsch,“ wandte sie sich an Swijashskiy, „mir scheint in mehr als zwanzig!“
Anna sprach im Scherz, aber in ihrem Tone lag Bitterkeit. Darja Aleksandrowna, welche Anna und Wronskiy aufmerksam beobachtet hatte, bemerkte dies sogleich. Sie bemerkte auch, daß das Gesicht Wronskiys bei diesem Gespräch sofort einen ernsten und eigensinnigen Ausdruck annahm. Als sie dies bemerkt hatte, sowie auch, daß die Fürstin Barbara sogleich, um das Thema zu ändern, hastig von Petersburger Bekannten zu sprechen begann, sich ferner auch daran erinnert hatte, daß Wronskiy im Garten nicht zur passenden Zeit über seine Thätigkeit gesprochen hatte, erkannte Dolly, daß mit dieser Frage über die sociale Wirksamkeit ein gewisser geheimer Zwist zwischen Anna und Wronskiy zusammenhing.
Das Essen, die Weine, die Servierung, alles das war sehr gut, doch auch ebenso, wie es Darja Aleksandrowna bei offiziellen Essen und Bällen, von denen sie jetzt freilich ganz entwöhnt war, gesehen hatte, und von dem nämlichen Charakter des Nichtigen und Gespreizten. Infolge dessen machte auch alles dies, an dem gewöhnlichen Wochentag und in diesem kleinen Kreis einen unangenehmen Eindruck auf sie.
Nach dem Essen setzte man sich auf die Terrasse, dann wurde lawn tennis gespielt, indem man sich in zwei Parteien schied, und auf dem sorgfältig geebneten und abgesteckten croket-ground, auf beiden Seiten des aufgespannten Netzes mit den vergoldeten Stäben auseinandertrat.
Darja Aleksandrowna versuchte zu spielen, konnte aber lange Zeit das Spiel nicht begreifen; nachdem sie es aber erfaßt hatte, war sie so müde geworden, daß sie sich bei der Fürstin Barbara niedersetzte und den Spielenden nur noch zuschaute. Ihr Partner, Tuschkjewitsch, hatte ebenfalls aufgehört,[263] die übrigen aber setzten das Spiel noch lange fort. Swijashskiy und Wronskiy spielten beide sehr gut und mit Ernst. Sie folgten mit scharfen Blicken dem ihnen zugeworfenen Ball, ohne sich zu überhasten oder etwas zu versäumen, liefen ihm behend nach, paßten die Sprünge ab und schleuderten den Ball zielbewußt und richtig über das Netz hinüber.
Wjeslowskij spielte schlechter als die übrigen. Er war zu aufgeregt, inspirierte aber dafür mit seiner Heiterkeit die Spieler. Sein Gelächter und seine Rufe klangen unaufhörlich. Er legte wie alle übrigen Herren, auf den Beschluß der Damen den Überrock ab, und seine volle schöne Figur mit den weißen Hemdärmeln, dem roten schweißbedeckten Gesicht, den hastigen Bewegungen prägte sich förmlich dem Gedächtnis ein.
Als Darja Aleksandrowna sich in dieser Nacht schlafen legte, sah sie, als sie kaum die Augen geschlossen hatte, den über den croket-ground huschenden Wasjenka Wjeslowskij.
Während des Spieles war Darja Aleksandrowna nicht heiter gestimmt gewesen. Ihr mißfiel das auch hierbei fortdauernde, tändelnde Verhältnis zwischen Wasjenka und Anna, sowie die allgemeine Gezwungenheit der Erwachsenen, wenn solche allein, ohne daß Kinder dabei sind, ein Kinderspiel spielen.
Um indessen die übrigen nicht zu stören, und irgendwie die Zeit doch zu verbringen, gesellte sie sich endlich, nachdem sie sich erholt hatte, dem Spiele wieder bei und stellte sich heiter. Diesen ganzen Tag hindurch schien es ihr immer, als spiele sie auf einem Theater, mit Schauspielern, die besser waren als sie, und als verderbe ihr schlechtes Spiel die ganze Aufführung.
Sie war mit der Absicht gekommen, zwei Tage hier zu bleiben, falls es anginge. Aber am Abend während des Spielens, beschloß sie bei sich, morgen schon abzureisen. Jene quälenden mütterlichen Sorgen, die sie unterwegs so gehaßt hatte, erschienen ihr jetzt, nach einem Tage den sie ohne dieselben verbracht hatte, schon in anderem Lichte und lockten sie an sich.
Als Darja Aleksandrowna nach dem Abendthee und einer Spazierfahrt am Abend im Boot allein in ihr Zimmer getreten war, ihr Kleid abgelegt und sich niedergesetzt hatte, um ihr dünnes Haar für die Nacht aufzubinden, empfand sie große Erleichterung.
Dolly wollte sich bereits niederlegen, als Anna im Nachtkostüm bei ihr eintrat.
Im Laufe des Tages hatte diese mehrmals Gespräche über Herzensangelegenheiten begonnen, aber stets, nachdem sie einige Worte gesprochen, wieder inne gehalten. „Später, allein unter uns, wollen wir alles besprechen. Ich habe dir soviel zu sagen,“ hatte sie geäußert.
Jetzt waren sie allein, doch Anna wußte nicht, wovon sie sprechen sollte. Sie saß am Fenster, auf Dolly blickend, fand aber, in ihrem Geiste all den unerschöpflich scheinenden Stoff zu ihren Gesprächen über Geistiges durchmusternd, nichts.
Es schien ihr in dieser Minute, als ob alles schon gesagt wäre.
„Was macht denn Kity?“ sagte sie, schwer aufseufzend und im Gefühl einer Schuld Dolly anblickend. „Sag' mir die Wahrheit, Dolly, zürnt sie mir nicht?“
„Sie zürnen? Nein“ — sagte Darja Aleksandrowna lächelnd.
„Aber sie haßt, verachtet mich?“
„O nein; doch du weißt ja, Eines läßt sich nicht vergeben.“
„Ja, ja,“ sagte Anna, sich abwendend und durch das geöffnete Fenster schauend. „Aber ich war nicht schuld! Wer war denn schuld? Was heißt denn schuldig? Konnte es anders kommen? Wie denkst du darüber? Wäre es möglich gewesen, daß du nicht die Frau Stefans wurdest?“
„Wahrhaftig; ich weiß nicht. Aber sage du mir doch das?“
„Ja, ja, wir waren indessen noch nicht mit Kity fertig. Ist sie glücklich? Er ist ein schöner Mann, wie man sagt.“
„Das will wenig sagen, daß er schön ist. Ich kenne aber keinen besseren Menschen.“
„Ach, wie froh bin ich! Ich bin sehr froh! Es will wenig sagen, daß er ein schöner Mann ist,“ wiederholte sie.
Dolly lächelte.
„Erzähle mir doch etwas von dir selbst! Wir haben uns so viel zu erzählen. Ich sprach auch mit“ — Dolly wußte[265] nicht, wie sie ihn nennen sollte; es war ihr peinlich, ihn Graf oder Aleksey Kyrillowitsch zu nennen.
„Mit Aleksey“ — sagte Anna, „ich weiß, daß Ihr miteinander gesprochen habt. Aber ich wollte dich offen fragen, was du von mir, über mein Leben denkst?“
„Wie kann ich das so plötzlich sagen? Ich weiß es wahrhaftig nicht.“
„Nein, nein, du mußt es mir dennoch sagen. Du siehst ja mein Leben. Doch vergiß nicht, daß du uns im Sommer siehst, wo du gekommen bist, und wir nicht allein sind. Wir aber kamen zeitig im Frühjahr hierher und haben vollständig einsam gelebt, und werden auch einsam weiter leben; etwas Besseres wünsche ich gar nicht. Stelle dir aber auch vor, daß ich allein lebte, ohne ihn; und dies wird kommen. An allem sehe ich, daß dies sich oft wiederholen wird, daß er die Hälfte seiner Zeit außerhalb des Hauses zubringen wird,“ sprach sie, aufstehend und sich näher zu Dolly setzend.
„Natürlich,“ unterbrach sie Dolly, welche ihr entgegnen wollte, „natürlich mit Gewalt werde ich ihn nicht zurückhalten! Ich halte ihn gar nicht! Jetzt sind die Rennen; seine Pferde laufen; er reitet mit. Ich freue mich sehr darüber. Aber was denkst du über mich, stelle dir meine Lage vor. Was soll man dazu sagen?“ Sie lächelte. „Wovon hat er denn mit dir gesprochen?“
„Er sprach über das, wovon ich selbst sprechen will und ich kann leicht sein Anwalt sein. Er sprach davon, ob keine Möglichkeit vorhanden sei, und es nicht gehe, daß“ — Darja Aleksandrowna stockte, „man deine Lage verbessern könnte. Du weißt, wie ich sie betrachte. Aber gleichwohl, wenn möglich, muß geheiratet werden“ —
„Das heißt, eine Ehescheidung!“ sagte Anna, „weißt du, daß das einzige Weib, welches in Petersburg zu mir gekommen ist, Betsy Twerskaja gewesen ist? Du kennst sie ja? Au fond c'est la femme la plus dépravée qui existe. Sie stand in einem Verhältnis zu Tuschkjewitsch, in der schmählichsten Weise ihren Mann hintergehend. Diese nun sagte mir, daß sie mich nicht mehr kennen wollte, so lange mein Verhältnis ein illegales bleibe. Denke nicht etwa, daß ich Vergleiche anstellte. Ich kenne dich, mein Herz, doch ich denke[266] unwillkürlich an sie. Was hat dir denn Aleksey gesagt?“ wiederholte sie.
„Er hat mir gesagt, daß er leide, deinetwegen und seinetwegen. Vielleicht wirst du sagen, das sei Egoismus, aber es ist ein so begründeter und edler Egoismus! Er wünscht zunächst seine Tochter legitim zu machen und dein Gatte zu werden; ein Recht auf dich zu erhalten.“
„Welche Frau, welche Magd kann bis zu solchem Grade Sklavin werden, als ich es bin in meiner Lage!“ unterbrach Anna düster.
„Das Hauptsächlichste was er wünscht — er will, daß du nicht mehr leiden sollst.“
„Das ist unmöglich! Und weiter?“
„Nun, und das Loyalste — er will, daß eure Kinder einen Namen haben.“
„Welche Kinder denn?“ sagte Anna, ohne Dolly anzublicken und mit den Augen zwinkernd.
„Any und die Künftigen“ —
„Daraufhin kann er ruhig sein; ich werde keine Kinder mehr bekommen!“
„Wie darfst du sagen, daß dies nicht mehr der Fall sein könnte?“
„Deshalb nicht, weil ich es nicht will!“
Trotz ihrer hohen Erregung lächelte Anna, als sie den naiven Ausdruck von Neugier, Erstaunen und Schrecken auf Dollys Gesicht bemerkte.
„Der Arzt hat mir nach meiner Krankheit gesagt, daß“ — — — — — — — — — — — — — — — — —
„Nicht möglich!“ sagte Dolly, die Augen weit aufreißend. Für sie war dies eine jener Offenbarungen, deren Folgerungen und Ausführungen so ungeheuer sind, daß man in der ersten Minute nur fühlt, man könne sich das Ganze nicht vorstellen, werde aber noch viel darüber nachzudenken haben.
Diese Eröffnung, welche ihr plötzlich über alle jene früher für sie unbegreiflich gewesenen Familien, die nur ein oder zwei Kinder hatten, eine Erklärung gab, rief in ihr soviel Gedanken, Phantasieen und widerstreitende Empfindungen wach, daß sie nichts zu sagen wußte und nur mit weit geöffneten Augen erstaunt auf Anna schaute. Das war das[267] Nämliche, wovon sie wohl schon geträumt hatte; aber jetzt, als sie kennen gelernt, daß es möglich sei, erschrak sie. Sie fühlte, daß dies die nur allzu einfache Lösung einer zu verwickelten Frage war.
„N'est ce pas immoral!“ sagte sie nur nach einigem Schweigen.
„Inwiefern? Bedenke: Ich habe die Wahl zwischen zwei Dingen. Entweder schwanger zu sein, das heißt krank, oder der Freund und Kamerad meines Gatten zu sein, ganz wie ein Mann,“ sprach Anna in hochfahrendem und leichtsinnigem Tone.
„Nun ja, nun ja,“ sprach Darja Aleksandrowna, die nämlichen Argumente hörend, die sie selbst für sich beigebracht hatte, in ihnen aber nicht mehr die alte Beweiskraft findend. „Für dich, für andere,“ sagte Anna, als errate sie Dollys Gedanken, „kann noch ein Zweifel bestehen, für mich aber — begreife, ich bin kein angetrautes Weib! Er liebt mich so lange, als er liebt. Und womit soll ich dann seine Liebe unterhalten? Doch nur damit!“
Sie streckte die weißen Arme vor ihrem Leibe aus.
Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit, wie dies in Momenten der Aufregung zu sein pflegt, drängten sich Gedanken und Erinnerungen im Kopfe Darja Aleksandrownas.
„Ich,“ dachte sie, „habe meinen Stefan doch nicht an mich fesseln können. Er ging von mir zu anderen, und die erste, welche er für mich eintauschte, hat ihn nicht einmal damit festgehalten, daß sie stets schön und heiter war. Er verließ sie doch und nahm eine andere. Sollte Anna auch nur damit den Grafen Wronskiy fesseln und halten wollen? Wenn er das nur sucht, so wird er Toiletten und Manieren finden, die noch anziehender sind und heiterer. Mögen auch ihre entblößten Arme noch so weiß, so herrlich sein, ihr Leib in voller Schöne prangen, wie ihr erhitztes Antlitz aus diesen schwarzen Haaren heraus — er wird noch Besseres finden, so wie mein ausschweifender, beklagenswerter und doch geliebter Mann es sucht und findet.“
Dolly antwortete nicht und seufzte nur. Anna bemerkte dieses Seufzen, welches ihr Widerspruch bedeutete, und fuhr fort. Sie hatte noch Beweisgründe vorrätig die so stark waren, daß es auf sie nichts mehr zu antworten gab.
„Du sagst, daß dies nicht gut sei? Man muß aber nur bedenken,“ fuhr sie fort, „du vergißt meine Lage. Wie könnte ich Kinder wünschen? Ich spreche nicht von meinen Leiden; ich fürchte sie nicht. Bedenke aber, was werden meine Kinder sein? Unglückliche Kinder, die einen fremden Namen tragen. Allein durch ihre Geburt schon sind sie in die Notwendigkeit versetzt, sich ihrer Mutter zu schämen, ihres Vaters, sowie ihrer Geburt.“
„Aber deshalb ist ja eben die Ehescheidung erforderlich.“
Anna hörte sie nicht; sie wollte eben die nämlichen Beweisgründe erschöpfend beibringen, mit welchen sie sich selbst schon so viele Mal überzeugt hatte.
„Warum ist mir der Verstand gegeben, wenn ich ihn nicht dazu anwenden soll, keine Unglücklichen in die Welt zu setzen?“ Sie blickte Dolly an, fuhr aber ohne eine Antwort abzuwarten fort: „Ich würde mich immerdar vor diesen unglücklichen Kindern schuldig fühlen,“ sagte sie. „Wenn sie nicht da sind, sind sie wenigstens nicht unglücklich, während, wenn sie unglücklich sind, ich allein daran Schuld trage.“
Es waren dies die nämlichen Beweisgründe, welche Darja Aleksandrowna auch für sich selbst beigebracht hatte; aber jetzt hörte sie dieselben, ohne sie zu verstehen. „Wie kann man vor Geschöpfen schuldig sein, die nicht existieren?“ dachte sie bei sich, und plötzlich kam ihr in den Sinn, ob es wohl unter Umständen für ihren Liebling Grischa besser gewesen wäre, wenn er nicht lebte? Dies aber erschien ihr so wunderlich, so seltsam, daß sie den Kopf wiegte, um dieses Wirrsal kreisender, wahnwitziger Gedanken zu zerstreuen.
„Nein, ich weiß nicht, das ist nicht gut,“ sagte sie mit einem Ausdruck von Ekel auf den Zügen.
„Ja, ja, aber du darfst nicht vergessen, was du bist und was ich bin — und außerdem,“ fügte Anna hinzu, ungeachtet der Fülle ihrer eigenen Beweisgründe und der Armut derjenigen bei Dolly, gleichsam anerkennend, daß jenes nicht moralisch sei, „vergiß nicht die Hauptsache, daß ich mich jetzt nicht in der Situation befinde, in welcher du bist. Für dich ist einfach die Frage vorhanden, ob du keine Kinder mehr zu haben wünschst; für mich hingegen, ob ich sie zu haben[269] wünsche. Darin liegt ein großer Unterschied. Du begreifst, daß ich in meiner Lage dies nicht wünschen kann.“
Darja Aleksandrowna erwiderte nichts. Sie empfand plötzlich, daß sie schon so weit von Anna entfernt stehe, daß es zwischen ihnen Fragen gab, in welchen sie nie mehr übereinkommen konnten, und von denen nicht zu sprechen besser war.
„Aber umsomehr wirst du daher deine Verhältnisse ordnen müssen, wenn es möglich ist,“ sagte Dolly.
„Ja, wenn es möglich ist,“ versetzte Anna mit plötzlich veränderter, gedämpfter und trauriger Stimme.
„Ist denn die Ehescheidung unmöglich? Man hat mir gesagt, daß dein Mann damit einverstanden ist.“
„Dolly! Ich mag nicht davon sprechen.“
„Nun, dann wollen wir es auch nicht,“ beeilte sich Darja Aleksandrowna zu sagen, indem sie den Ausdruck des Leidens auf Annas Antlitz bemerkte. „Ich sehe nur, daß du zu schwarz siehst.“
„Ich? Keineswegs! Ich bin sehr heiter und zufrieden. Du hast ja gesehen; je fais des passions Wjeslowskij“ —
„Ja, wenn ich die Wahrheit sagen soll, gefällt mir der Ton Wjeslowskijs nicht,“ sagte Darja Aleksandrowna, im Wunsche, das Thema zu ändern.
„O, keineswegs! Das kitzelt Aleksey, weiter ist es nichts; er aber ist ein Knabe und ganz in meinen Händen. Du verstehst wohl, ich leite ihn, wie ich will. Er ist ganz das, was dein Grischa ist. Dolly!“ — änderte sie plötzlich ihre Rede, „du sagst, ich blicke zu schwarz. Das verstehst du nicht. Es ist zu entsetzlich. Ich suche lieber gar nicht zu sehen.“
„Aber mir scheint, man muß dies. Man muß alles thun, was möglich ist.“
„Was ist denn möglich? Nichts! Du sagst, ich soll Aleksey heiraten, und meinst ich dächte nicht daran. Ich soll nicht daran denken!“ — wiederholte sie, und die Farbe trat ihr ins Gesicht. Sie erhob sich, reckte ihre Brust empor, seufzte tief auf, und begann dann, mit ihrem leichten Gang im Zimmer auf und abzuschreiten, bisweilen dabei stehen bleibend. „Ich soll nicht daran denken? keinen Tag, keine[270] Stunde giebt es, in der ich nicht sänne — und mir Vorwürfe machte über das was ich denke — deshalb, weil die Gedanken hierüber von Sinnen bringen können. Von Sinnen bringen,“ wiederholte sie. „Wenn ich daran denke, so kann ich ohne Morphium schon nicht mehr schlafen. Doch gut. Wir werden ruhig sprechen. Man spricht mir von Ehescheidung. Erstens wird er in diese nicht willigen. Er steht jetzt unter dem Einfluß der Gräfin Lydia Iwanowna.“
Darja Aleksandrowna folgte, auf dem Stuhl steif emporgerichtet sitzend, mit dem Ausdruck innigen Mitgefühls auf dem Gesicht und kopfschüttelnd der hin und wieder wandernden Anna.
„Man muß versuchen,“ sprach sie leise.
„Nehmen wir an, man versucht. Was hätte das zu bedeuten?“ sagte sie; augenscheinlich war dies ein Gedanke, den sie wohl tausendmal überdacht, auswendig gelernt hatte. „Dies bedeutete für mich, die ihn haßt, sich aber nichtsdestoweniger vor ihm als schuldig bekennt — ich halte ihn dabei noch für großmütig — daß ich mich erniedrige, wenn ich ihm schreibe. Aber gesetzt, ich überwinde mich und thue dies! Entweder werde ich alsdann eine verletzende Antwort erhalten, oder die Einwilligung. Gut; ich erhalte die Einwilligung.“ — Anna befand sich gerade in einer entfernten Ecke des Gemachs und war dort stehen geblieben, sich an der Gardine des Fensters zu schaffen machend. „Ich erhalte also die Einwilligung — aber — mein Sohn? Den wird man mir ja nicht geben! Er wird wohl heranwachsen, in der Verachtung gegen mich, im Haus des Vaters, den ich verließ. Wisse, daß ich, wie mir scheint, gleich stark, aber mehr noch als mich selbst, zwei Wesen liebe, Sergey und Aleksey.“
Sie trat in die Mitte des Zimmers und blieb vor Dolly stehen, beide Hände auf ihre Brust pressend. In dem weißen Nachtgewand erschien ihre Gestalt eigentümlich hoch und voll. Sie senkte den Kopf und schaute mit feuchtschimmernden Augen von unten her auf die kleine, hagere und in ihrem geflickten Korsett im Nachthäubchen so kläglich aussehende, am ganzen Körper vor Aufregung zitternde Dolly.
„Nur diese beiden Wesen liebe ich, und doch schließt eines das andere aus. Ich kann sie nicht vereinigen und dies allein[271] ist mir doch nur Bedürfnis. Wenn es nicht angeht, so ist mir alles gleichgültig. Alles, alles gleichgültig. Irgendwie muß es enden, und daher kann und mag ich nicht davon sprechen! Mache du mir also keine Vorwürfe und richte in nichts über mich! Du vermagst in deiner Reinheit nicht alles zu erfassen, woran ich leide.“ Sie trat heran, setzte sich neben Dolly, blickte dieser mit schuldbewußtem Ausdruck ins Gesicht und nahm sie bei der Hand. „Was denkst du? Was denkst du über mich? Verachte mich nicht! Verachtung bin ich nicht wert. Ich bin doch schon unglücklich. Wenn jemand unglücklich ist, so bin ich es,“ sprach sie und brach, sich von ihr abwendend, in Thränen aus.
Allein geblieben, betete Dolly zu Gott und legte sich in ihr Bett. Anna hatte ihr von ganzer Seele leid gethan, so lange sie mit ihr gesprochen; jetzt aber konnte sie sich nicht mehr zum Nachdenken über sie bringen. Die Erinnerungen an ihr Haus und ihre Kinder tauchten in einem eigenartigen, ihr neuen Reiz, mit einem gewissen neuen Schimmer in ihrer Vorstellungskraft auf. Diese ihr eigene Welt erschien ihr jetzt so teuer und lieb, daß sie um keinen Preis außerhalb derselben einen überflüssigen Tag hätte zubringen mögen, und sie beschloß, bestimmt morgen abzureisen.
Anna hatte mittlerweile, nach ihrem Kabinett zurückgekehrt, ein Glas ergriffen, einige Tropfen Arznei hineingeschüttet, deren hauptsächlichster Bestandteil Morphium war, und sich, nachdem sie getrunken, und noch einige Zeit unbeweglich gesessen hatte, in ruhiger und heiterer Stimmung nach dem Schlafgemach begeben.
Als sie in dasselbe eintrat, blickte Wronskiy sie aufmerksam an. Er suchte nach den Spuren des Gesprächs, welches sie, wie er wußte mit Dolly gehabt haben mußte, da sie so lange im Zimmer derselben geblieben war. Aber in ihrem Ausdruck, der zurückgehaltene Aufregung und Geheimthuerei verriet, entdeckte er nur die zwar gewohnte, ihn aber doch immer noch fesselnde Schönheit, ihr Bewußtsein davon, und ihren Wunsch, sie auf ihn wirken zu lassen. Er wollte Anna nicht fragen, was sie beide gesprochen hätten, sondern hoffte, sie werde es ihm selbst sagen. Doch sie sprach nur:
„Ich freue mich, daß Dolly dir gefallen hat. Nicht wahr?“
„Ich kenne sie ja schon lange. Sie ist sehr gut, wie mir scheint, mais excessivement terre-à-terre. Ich habe mich indessen gleichwohl sehr über sie gefreut.“
Er ergriff Annas Hand und schaute ihr fragend ins Auge. Sie lächelte ihm zu, den Blick anders auffassend.
Am anderen Morgen rüstete sich Darja Aleksandrowna trotz der Bitten ihrer Wirte zur Abreise. Der Kutscher Lewins in seinem nicht mehr gerade neuen Kaftan und dem Postkutscherhut, mit den Pferden von verschiedener Farbe, ein Wagen mit den ausgebesserten Seiten, fuhr mürrisch und entschlossen in die geöffnete, mit Sand bestreute Einfahrt.
Der Abschied von der Fürstin Barbara und den Herren war Darja Aleksandrowna unangenehm. Indem sie nur einen Tag hier geblieben war, fühlte sie sowohl, wie ihre Wirte, deutlich, daß sie einander nicht näher getreten waren, und es besser sei, wenn sie nicht mehr zusammenkämen. Nur Anna empfand Schmerz hierüber. Sie wußte, daß jetzt, mit Dollys Fortgehen, niemand mehr die Gefühle in ihrer Seele wachrufen werde, die sich bei diesem Wiedersehen in ihr geregt hatten. Diese Empfindungen wachzurufen, war ihr schmerzlich gewesen, aber gleichwohl wußte sie doch, daß sie gerade den besten Teil ihrer Seele bildeten, und daß dieser Teil ihrer Seele schnell überwuchert sein werde in dem Leben, welches sie führte.
Als sie auf das Feld hinausgekommen war, empfand Darja Aleksandrowna ein angenehmes Gefühl der Erleichterung, und sie wollte soeben ihre Leute fragen, wie es ihnen bei Wronskiy gefallen habe, als plötzlich Philipp der Kutscher selbst anfing:
„Sind die reich, so reich, und doch haben sie im ganzen nur drei Maß Hafer gegeben. Bis die Hähne schrieen, hatten sie es rein aufgefressen. Was sind denn drei Maß? Gerade zum Hineinbeißen. Jetzt kostet der Hafer bei den Hofleuten fünfundvierzig Kopeken; während bei uns den Reisenden soviel gegeben wird, als gefressen wird.“
„Ein geiziger Herr,“ bestätigte der Comptoirdiener.
„Nun, aber seine Pferde haben dir gefallen?“ frug Dolly.
„Seine Pferde, das ist richtig. Das Essen ist ja auch gut. Aber mir schien es so langweilig, Darja Aleksandrowna,[273] ich weiß nicht, wie es Euch gegangen ist,“ sagte er, ihr sein rotes, gutmütiges Gesicht zuwendend.
„Mir ging es auch so. Werden wir denn bis zum Abend ankommen?“
„Wir müssen.“
Nachdem Darja Aleksandrowna heimgekommen war, und alles vollkommen wohlbehalten und besonders herzlich gefunden hatte, erzählte sie mit großer Lebhaftigkeit von ihrer Reise, wie man sie so gut aufgenommen habe, von der Pracht und dem guten Geschmack der Lebensweise der Wronskiy, sowie von ihren Zerstreuungen, und ließ niemand über sie zu Worte kommen.
„Man muß Anna und Wronskiy kennen — ich habe ihn jetzt besser kennen gelernt — um erkennen zu können, wie liebenswürdig sie sind,“ sprach sie, jetzt vollkommen aufrichtig, nachdem sie das dunkle Gefühl von Unzufriedenheit und Mißbehagen vergessen hatte, welches sie dort empfunden.
Wronskiy und Anna verlebten, in unveränderten Verhältnissen, und ohne Maßregeln für die Ehescheidung zu ergreifen, den ganzen Sommer und einen Teil des Herbstes auf dem Lande. Sie waren unter sich einig geworden, nicht von hier weggehen zu wollen, fühlten beide aber, je länger sie einsam waren, besonders im Herbste und wenn kein Besuch da war, daß sie diese Lebensweise nicht würden ertragen können und ändern müßten.
Ihr Leben war so, wie man es besser nicht wünschen konnte; reicher Überfluß, Gesundheit, ein Kind war da und beide hatten ihre Beschäftigung. Anna beschäftigte sich, wenn kein Besuch da war, mit sich selbst und sehr viel mit Lektüre von Romanen und ernsten Büchern, welche in der Mode waren. Sie verschrieb alle Bücher, von denen sie sich entsann, Günstiges in den ausländischen Zeitungen und Journalen die sie erhielt, gelesen zu haben, und las dieselben mit jener Aufmerksamkeit für das Gelesene, welche nur in der Einsamkeit vorhanden zu sein pflegt. Außerdem aber studierte sie alles, womit sich Wronskiy befaßte, nach Büchern oder Fachjournalen, sodaß er sich oft mit landwirtschaftlichen,[274] architektonischen, ja selbst bisweilen mit sportsmännischen und Pferdezucht betreffenden Fragen an sie wandte. Er erstaunte über ihr Wissen, ihr Gedächtnis, und wünschte anfänglich, noch zweifelnd, Bestätigungen; sie fand dann auch in den Büchern das, wonach er gefragt und zeigte es ihm.
Die Einrichtung des Hospitals beschäftigte sie gleichfalls. Sie leistete nicht nur Beistand, sondern richtete vieles selbst ein, oder sann es aus. Ihre Hauptsorge aber bildete — sie selbst; insofern sie Wronskiy teuer war, insofern sie ihm alles ersetzte, was er aufgegeben hatte. Wronskiy schätzte diesen zum einzigen Ziel ihres Lebens gewordenen Wunsch — den, ihm nicht nur zu gefallen, sondern ihm auch zu dienen, aber zugleich dabei fühlte er sich doch bedrückt von den Liebesbanden mit denen sie sich bemühte, ihn zu umstricken.
Je mehr Zeit verging, wünschte er weniger sich von ihnen zu befreien und herauszukommen, als zu versuchen und zu prüfen, ob sie seine Freiheit wirklich einschränkten. Wäre nicht dieser immer stärker werdende Wunsch, frei zu sein, der, nicht jedesmal eine Scene zu haben, wenn er zu einer Gerichtssitzung, zu einem Rennen in die Stadt fahren mußte, gewesen, so würde Wronskiy mit seinem Dasein völlig zufrieden gewesen sein.
Die Rolle, welche er sich erwählt hatte, die Rolle des reichen Grundbesitzers, aus denen der Kern der russischen Aristokratie bestehen müsse, war ihm nicht nur völlig nach Geschmack, sie machte ihm sogar jetzt, nachdem er ein halbes Jahr darin gelebt hatte, ein mehr und mehr wachsendes Vergnügen. Auch sein Werk, welches ihn mehr und mehr beschäftigte und anzog, gedieh vortrefflich. Trotz der ungeheuren Summen, welche ihn das Krankenhaus, die Maschinen, die aus der Schweiz verschriebenen Kühe und vieles andere kosteten, war er sicher, daß er sein Vermögen nicht zerrüttete, sondern vielmehr vergrößerte. Wo es sich um Einkünfte, Waldverkäufe, Getreidelieferungen, Wolle, Landverpachtung handelte, war Wronskiy hart wie ein Kieselstein, und verstand es, auf den Preis zu halten. In Sachen seiner großen Landwirtschaft befolgte er, sowohl auf diesem, wie auf seinen übrigen Gütern, die einfachsten, die gefahrlosesten Methoden, und war höchst sparsam und haushälterisch in den wirtschaftlichen Kleinigkeiten.[275] Bei aller Schlauheit und Gewandtheit seines Deutschen, der ihn in Ankäufe zu verwickeln suchte und jede Berechnung so aufstellte, daß anfangs bei weitem mehr nötig war, dann aber erwog, daß es möglich sei, das Nämliche auch billiger machen, und dabei noch einen Gewinn erzielen zu können, gab Wronskiy diesem in nichts nach.
Er hörte seinen Verwalter an, frug ihn aus und stimmte ihm nur dann bei, wenn das zu Verschreibende oder neu Einzurichtende das allerneueste, in Rußland noch unbekannt, und imstande war, Bewunderung zu erwecken. Im übrigen verstand er sich zu einer großen Ausgabe nur dann, wenn flüssiges Geld vorhanden war, und kümmerte sich, indem er die Ausgabe machte, um alle Einzelheiten, bestand auch darauf, nur das Allerbeste für sein Geld zu erhalten; sodaß er, demzufolge sein Vermögen offenbar nicht zerrüttete, sondern vergrößerte.
Im Monat Oktober waren die Adelswahlen im Gouvernement von Kaschin, in welchem sich die Güter Wronskiys, Swijashskiys, Koznyscheffs, Oblonskiys und ein kleiner Teil von denen Lewins befanden.
Diese Wahlen zogen infolge mannigfacher Umstände und in Anbetracht der Persönlichkeiten, welche daran teilnahmen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Man sprach viel von ihnen und bereitete sich darauf vor. Die Bewohner von Moskau, Petersburg, Fremde, die noch nicht bei den Wahlen gewesen waren, kamen zu denselben.
Wronskiy hatte Swijashskiy schon längst versprochen, dazu kommen zu wollen. Noch vorher fuhr Swijashskiy, welcher Wosdwishenskoje häufig besuchte zu Wronskiy.
Am Vorabend des nämlichen Tages war zwischen Wronskiy und Anna fast ein Streit wegen der geplanten Reise entstanden. Es war gerade die langweiligste, schwerste Zeit auf dem Dorfe, die Herbstzeit, und, auf den Kampf vorbereitet, machte Wronskiy mit einem ernsten und kühlen Ausdruck, mit welchem er vorher noch nie zu Anna gesprochen hatte, derselben Mitteilung von seiner Abreise.
Zu seiner Verwunderung nahm Anna indessen diese Nachricht sehr ruhig auf, und frug nur, wann er zurückkehren werde. Aufmerksam betrachtete er sie, da er diese Ruhe nicht begriff.[276] Sie lächelte zu seinem Blick. Er kannte ihre Fähigkeit, sich in sich selbst zurückzuziehen, und wußte, daß dies nur dann der Fall war, wenn sie bei sich selbst etwas beschlossen hatte, ohne ihm von ihren Plänen Kenntnis zu geben. Er fürchtete dies, doch wünschte er so sehr, eine Scene zu vermeiden, daß er sich den Anschein gab zu glauben — und teilweise glaubte er es auch aufrichtig — was er ja wünschte — sie sei einsichtsvoll.
„Ich hoffe, du wirst dich nicht langweilen.“
„Ich hoffe es,“ sagte Anna, „gestern habe ich eine Kiste Bücher von Gautier erhalten. Nein, ich werde mich nicht langweilen.“
„Sie wünscht diesen Ton festzuhalten; um so besser,“ dachte er, „es wäre ja doch sonst immer ein und dasselbe,“ und fuhr, ohne sie zu einer aufrichtigen Erklärung aufgefordert zu haben, zu den Wahlen.
Es war dies zum erstenmal seit Beginn ihres Verhältnisses, daß er sich von ihr trennte, ohne sich völlig mit ihr ausgesprochen zu haben.
Einerseits beunruhigte ihn dies, andererseits fand er, daß es so besser sei. „Es wird ihr dies im Anfang, wie jetzt, etwas Unklares, Geheimnisvolles sein, aber später wird sie sich daran gewöhnen. Jedenfalls kann ich ihr alles bieten, nur nicht meine männliche Unabhängigkeit,“ dachte er.
Im September war Lewin wegen der Niederkunft Kitys nach Moskau gefahren. Er hatte schon einen ganzen Monat müßig in Moskau verweilt, als Sergey Iwanowitsch, welcher ein Gut im Gouvernement Kaschin besaß und großes Interesse für die Fragen der bevorstehenden Wahlen hegte, sich fertig machte, zu diesen zu fahren. Er nahm dazu auch den Bruder mit sich, der im Sjeleznewskischen Kreis ansässig war. Lewin hatte überdies in Kaschin ein sehr notwendiges Geschäft für seine Schwester, die im Ausland lebte, in Vormundschaftssachen und wegen der Empfangnahme von Geldern für einen Kauf zu erledigen.
Lewin war noch immer unentschlossen, aber Kity, welche[277] gewahrte, daß er sich in Moskau langweile, hatte ihm angeraten, zu fahren und ihm obendrein noch hinter seinem Rücken eine Adelsuniform, welche achtzig Rubel kostete, bestellt. Diese achtzig Rubel, welche für die Uniform bezahlt worden waren, bildeten den Hauptgrund, der Lewin bewog, zu reisen, und so fuhr er nach Kaschin.
Er war bereits den sechsten Tag daselbst, besuchte täglich die Sobranje und befaßte sich mit der Angelegenheit seiner Schwester, die noch nicht in Ordnung war. Die Oberrichter waren sämtlich von den Wahlen in Anspruch genommen und man kam daher nicht bis zu einer so einfachen Angelegenheit, die von der Vormundschaft abhing. Die andere Angelegenheit, die Erhebung der Gelder, begegnete den gleichen Schwierigkeiten. Nach langen Mühen um die Beseitigung der Hindernisse lag das Geld endlich bereit zur Aushändigung, aber der Notar, ein sehr dienstfertiger Mann, konnte den Talon nicht herausgeben, weil die Unterschrift des Präsidenten dazu erforderlich war, dieser selbst aber sich in der Session befand. Alle diese Plagen, das Umherlaufen von Ort zu Ort, die Auseinandersetzungen mit den sehr guten freundlichen Leuten, welche alle die Unannehmlichkeit der Lage des Petenten vollkommen begriffen, diesem aber nicht helfen konnten, diese ganze Anstrengung die keine Resultate ergab, erzeugte in Lewin ein peinliches Gefühl, ähnlich jener ärgerlichen Ohnmacht, welche man im Schlafe empfindet, wenn man physische Kraft anwenden will. Er empfand dies oft, wenn er sich mit seinem sehr gutmütigen Pächter unterhielt. Dieser Pächter that, wie es schien, alles Mögliche, und strengte alle seine Kräfte an, um Lewin der Mühewaltung des Probierens zu entheben; nicht nur einmal hatte er gesagt, dieser solle da oder dorthin fahren, indem er einen ganzen Plan machte, wie er das Geschick umgehen könne, das alles hinderte. Gleichwohl aber hatte er hinzugefügt, „man wird sich freilich weiter sperren, doch probiert nur“. Und Lewin versuchte und ging und fuhr. Jedermann war gut und liebenswürdig, aber es zeigte sich, daß das bereits gangbar Gemachte am Ende wieder überwachsen war und von neuem den Weg verlegte. Besonders unangenehm war es, daß Lewin in keiner Weise erkennen konnte, mit wem er kämpfe, wer einen Vorteil davon habe,[278] daß die Angelegenheit nicht zur Erledigung gelangte. Dies schien niemand zu wissen; auch der Pächter wußte es nicht. Hätte Lewin es erfahren können, wie er wußte, weshalb man zur Kasse auf der Eisenbahn nicht anders als in der Reihe Zutritt hat, so würde es ihm nicht beleidigend und ärgerlich erschienen sein, aber bei den Hindernissen, auf welche er in der Angelegenheit stieß, konnte ihm niemand erklären, weshalb sie vorhanden wären.
Lewin hatte sich indessen seit der Zeit seiner Verheiratung vielfach geändert; er war duldsam geworden, und wenn er nicht gleich verstand, wozu Etwas in einer bestimmten Weise eingerichtet sei, sagte er zu sich selbst, daß er, wenn er nicht alles wisse, auch nicht urteilen könne; daß es wahrscheinlich so sein müsse, und bemühte sich alsdann, nicht in Aufregung zu geraten.
Jetzt, bei den Wahlen gegenwärtig und an ihnen teilnehmend, bestrebte er sich ebenfalls, nicht zu urteilen und zu hadern, sondern soviel als möglich die Sache zu ergründen, mit der sich ehrenhafte und wackere Männer, die er achtete, mit solchem Ernst und solcher Hingebung beschäftigten. Seit er geheiratet hatte, eröffneten sich Lewin so viele neue ernste Seiten, die ihm vordem, infolge einer oberflächlichen Stellungnahme dazu, zu unbedeutend erschienen waren, daß er auch in den Wahlen eine ernstere Bedeutung vermutete und suchte.
Sergey Iwanowitsch erklärte ihm den Sinn und die Bedeutung der bei diesen vorgeschlagenen Veränderungen. Der Gouvernementschef, in dessen Händen nach dem Gesetz soviel wichtige sociale Aufgaben lagen — wie das Vormundschaftswesen, das nämliche, an welchem Lewin jetzt laborierte, die ungeheuren Summen des Adelsvermögens, die Gymnasien, das für Mädchen, das für Knaben und ein Kadettenhaus, die Volksbildung nach den neuen Verhältnissen und endlich, das Semstwo — dieser Gouvernementschef Sjnetkoff war ein Herr von altem, adligen Schlag, der ein ungeheures Vermögen besaß, ein guter Mensch, ehrenhaft in seiner Weise war, aber nicht vollkommen die Anforderungen der Neuzeit erfaßte. Er hielt in allem stets die Partei des Adels, wirkte schnurstracks der Verbreitung der Volksbildung entgegen, und verlieh dem Semstwo, welches doch so außerordentlich große[279] Bedeutung haben sollte, den Charakter einer Gesellschaft. Es war daher notwendig, an seinen Platz einen frischen, in der Zeit stehenden, vernünftigen und vollkommen neuen Mann einzustellen und die Sache so anzufassen, daß aus all den Rechten, die dem Adel nicht als Adel, sondern als einem Element des Semstwo verliehen waren, die Vorteile der Selbstverwaltung gezogen würden, soviel ihrer zu ziehen waren. In dem reichen Gouvernement von Kaschin, welches in allem stets den anderen vorangegangen war, hatten sich jetzt so tüchtige Kräfte angesammelt, daß die Sache, wenn sie hier so geleitet wurde, wie es nötig war, als Muster für alle übrigen Gouvernements, ja für ganz Rußland, dienen konnte. Infolgedessen hatte sie denn eine hohe Bedeutung. Als Gouvernementschef an Stelle Sjnetkoffs hatte man entweder Swijashskiy oder noch besser Njewjedowskiy, einen früheren Professor und außerordentlich klugen Mann, den intimen Freund Sergey Iwanowitschs, in Vorschlag gebracht.
Die Sobranje eröffnete der Gouverneur selbst, der den Edelleuten eine Rede hielt, daß sie die Amtspersonen nicht nach dem Ansehen der Person, sondern nach ihren Verdiensten und zum Wohle des Vaterlandes wählen möchten, und daß er hoffe, der hohe Kaschinskische Adel werde, wie bei den früheren Wahlen, seine Pflicht pietätvoll erfüllen, und das hohe Vertrauen des Monarchen rechtfertigen.
Nachdem der Gouverneur diese Rede geendet hatte, verließ er den Saal, und die Adligen folgten ihm geräuschvoll und lebhaft, einige sogar voll Enthusiasmus, und umgaben ihn, während er sich den Pelz anlegte und mit dem Gouvernementsvorsteher freundschaftlich sprach. Lewin, welcher alles erfahren und nichts unbeachtet lassen wollte, stand mit im Haufen und hörte, wie der Gouverneur sagte: „teilt Marja Iwanowna gefälligst mit, mein Weib bedaure sehr, daß sie ins Kloster geht.“ Nach ihm suchten sich die Adligen heiter ihre Pelze und begaben sich sämtlich in den Gottesdienst.
In der Kathedrale schwor Lewin, zusammen mit den übrigen die Hand erhebend, und die Worte des Protopopen wiederholend, mit den ernstesten Eiden, alles zu erfüllen, was der Gouverneur von ihnen erhoffe.
Der Gottesdienst übte auf Lewin stets einen Einfluß, und[280] als die Worte gesprochen wurden: „Ich küsse das Kreuz“ und er auf die Schar dieser jungen und alten Männer blickte, welche alle das Gleiche wiederholten, fühlte er sich bewegt.
Am zweiten und dritten Tag wurden die Angelegenheiten der Adelsgelder und des Mädchengymnasiums erörtert, die, wie Sergey Iwanowitsch erklärt hatte, keine Wichtigkeit besaßen, und Lewin, von seinen Geschäftsgängen in Anspruch genommen, verfolgte dieselben nicht.
Am vierten Tage erfolgte am Gouverneurstisch die Prüfung der Gouvernementsgelder, und hier gab es zum erstenmale einen Zusammenstoß der neuen Partei mit der alten. Die Kommission, welcher die Prüfung dieser Summe anvertraut war, legte der Sobranje dar, daß die Gelder sämtlich unversehrt seien. Der Gouvernementsvorsteher erhob sich, dankte dem Adel für sein Vertrauen und zerdrückte eine Thräne. Die Adligen begrüßten ihn laut und drückten ihm die Hand. Aber zur selben Zeit sagte ein Adliger aus der Partei Sergey Iwanowitschs, er habe gehört, daß die Kommission die Gelder gar nicht geprüft habe, indem sie die Revision als eine Kränkung des Gouverneurs betrachte. Eines der Kommissionsmitglieder bestätigte dies auch unvorsichtigerweise. Da begann ein ziemlich kleiner, sehr jung aussehender, aber sehr scharfzüngiger Herr zu sprechen, daß es dem Gouvernementsvorsteher wahrscheinlich angenehm sein würde, Rechenschaft über die Summen ablegen zu können, und daß nur das überflüssige Taktgefühl der Kommissionsmitglieder ihn dieser moralischen Genugthuung beraubt habe. Die Kommissionsmitglieder sagten sich hierauf von ihrer Erklärung los und Sergey Iwanowitsch begann ihnen logisch zu beweisen, daß sie entweder anerkennen müßten, die Gelder seien von ihnen für richtig befunden worden, oder nicht, und nahm dieses Dilemma gründlich durch. Sergey Iwanowitsch beantwortete hierauf ein Sprecher der gegnerischen Partei. Dann sprach Swijashskiy und darauf wieder der bissige Herr. Die Debatten zogen sich in die Länge und verliefen ohne Resultat. Lewin war erstaunt, daß man hierüber so lange streiten konnte, namentlich aber darüber, daß Sergey Iwanowitsch, als er ihn frug, ob er vermute, daß die Gelder verloren seien, antwortete:
„O nein! Er ist ein ehrenhafter Mann, aber jene alte[281] Sitte der vaterländischen, familiären Verwaltung der Adelsgeschäfte mußte erschüttert werden.“
Am fünften Tage waren die Wahlen der Kreisvorsteher. Dieser Tag war ziemlich stürmisch bei mehreren Kreisen. Im Kreise Sjelesnewo wurde Swijashskiy einstimmig ohne Ballotage gewählt und bei ihm fand an diesem Tage ein Essen statt.
Am sechsten Tage waren die Gouvernementswahlen. Die großen und kleinen Säle waren gefüllt von den Adligen in ihren verschiedenen Uniformen. Viele kamen nur für diesen Tag. Bekannte, die sich lange nicht gesehen hatten, der eine aus der Krim, der andere aus Petersburg, ein dritter vom Auslande kommend, begegneten sich in den Sälen. Am Gouverneurstisch, unter dem Bild des Zaren, fanden die Wahlkämpfe statt.
Die Adligen, im großen, wie im kleinen Saale, gruppierten sich in Lager und an der Feindseligkeit und dem Mißtrauen der Blicke, an dem bei der Annäherung fremder Personen verstummenden Gespräch, daran, daß mehrere flüsternd selbst in den abgelegenen Korridor gingen, war ersichtlich, daß eine jede Partei Geheimnisse vor der anderen hatte.
Dem äußeren Anschein nach hatten sich die Adligen scharf in zwei Parteien geteilt, in die Alten und die Jungen. Die Alten waren größtenteils in adligen altertümlichen, zugeknöpften Uniformen, mit Degen und Hut, oder in ihren eigenen Kavallerie-, Infanterie- oder Amtsuniformen. Die Uniformen der Alten waren in altertümlicher Weise gestickt, mit Epaulettes auf den Schultern; sie erschienen klein, kurz in den Taillen und so knapp, als hätten ihre Träger sie verwachsen.
Die Jungen hingegen waren in Adelsuniformen mit niedrigen Taillen und breiten Schultern, mit weißen Westen, oder in Uniformen mit schwarzen Kragen und Lorbeer, der Stickerei des Justizministeriums. Zu den Jungen gehörten auch die Hofuniformen, die hier und da die Menge zierten.
Aber die Teilung in Junge und Alte fiel nicht mit der Teilung in die Parteien zusammen; einige der Jungen gehörten nach den Beobachtungen Lewins zur Partei der Alten,[282] und im Gegensatz hierzu zischelten einige sehr alte Edelleute mit Swijashskiy, und waren augenscheinlich eifrige Anhänger der neuen Richtung.
Lewin stand in dem kleinen Saale, in welchem man rauchte und aß, neben einer Gruppe der Seinen, und lauschte auf das, was man sprach, indem er seine Geisteskräfte geflissentlich anstrengte um zu verstehen, was gesprochen wurde. Sergey Iwanowitsch bildete den Mittelpunkt, um welchen sich die Übrigen gesellten. Er hörte jetzt Swijashskiy und Chljustoff an, den Vorsteher eines anderen Kreises, der zu ihrer Partei gehörte.
Chljustoff stimmte mit seinem Kreis nicht dafür, Sjnetkoff um Ballotage zu bitten, und Swijashskiy überredete ihn nun, es doch zu thun, während Sergey Iwanowitsch diesen Plan guthieß. Lewin begriff nicht, weshalb man die gegnerische Partei um Ballotage gerade bezüglich desjenigen Vorstehers bitten wollte, den man ausballotieren wollte.
Stefan Arkadjewitsch, der soeben gegessen und getrunken hatte, trat, sich den Mund mit dem duftenden, eingefaßten Battisttaschentuch wischend, in seiner Kammerherrenuniform zu ihnen.
„Wir nehmen die Position,“ sagte er, sich die Hälften seines Backenbartes streichend, „Sergey Iwanowitsch!“ Und aufmerksam dem Gespräch Gehör schenkend, unterstützte er die Meinung Swijashskiys. „Es ist genug mit einem Kreis, aber Swijashskiy ist augenscheinlich schon Opposition,“ sagte er, mit Worten, die allen, nur nicht Lewin, verständlich waren. „Wie, Konstantin; es scheint, auch du kommst hinter den Geschmack?“ fügte er hinzu, sich an Lewin wendend und faßte diesen unter dem Arme. Lewin wäre recht froh gewesen, hinter den Geschmack gekommen zu sein, aber er konnte nicht verstehen, worum es sich handle, und drückte, einige Schritte von den Redenden wegtretend, Stefan Arkadjewitsch seine Unkenntnis darin aus, weshalb man den Gouvernementsvorsteher bitten wollte.
„O sancta simplicitas,“ sagte Stefan Arkadjewitsch und erklärte Lewin kurz und klar, um was es sich handle.
„Wenn alle Kreise, wie in den früheren Wahlen, den Gouvernementsvorsteher bitten würden, so wählte man ihn[283] mit allen weißen Kugeln. Jetzt ist man in acht Kreisen einverstanden, ihn darum zu ersuchen; wenn nun zwei es verweigern, mit darum anzuhalten, so kann Sjnetkoff die Ballotage verweigern, und dann wird die Partei der Alten einen anderen von den Ihrigen wählen, sodaß unser ganzer Plan verloren ist. Wenn aber nur der eine Kreis Swijashskiys nicht mit bittet, so wird Sjnetkoff ballotieren. Man wird ihn dann selbst wählen und ihm absichtlich das Amt wieder übertragen, sodaß sich die gegnerische Partei verrechnet, und wenn sie einen Kandidaten von den Unseren aufstellen, diesem das Amt überträgt.“
Lewin verstand, aber nicht vollständig, und wollte soeben noch einige Fragen stellen, als plötzlich alle durcheinander zu sprechen begannen, lärmten und sich nach dem großen Saale in Bewegung setzten.
„Was ist das? Wie? Wen wird man wählen? Vertrauen? Zu wem? Was ist? Verwirft man? Es giebt kein Vertrauen! Man läßt Phleroff nicht zu. Was; unter Anklage! So läßt man niemand zu! Das ist niedrig! Das Gesetz!“ hörte Lewin von verschiedenen Seiten rufen, und begab sich zusammen mit der Menge, die sich drängte, und zu fürchten schien, daß sie etwas versäumte, in den großen Saal. Er näherte sich in dem Gedränge der Adligen dem Gouverneurstisch, an welchem der Gouvernementsvorsteher, Swijashskiy und andere Wortführer eifrig miteinander debattierten.
Lewin stand ziemlich entfernt. Ein schwer und heiser atmend neben ihm stehender Adliger und ein zweiter mit knarrenden, dicken Stiefelsohlen, störten ihn, deutlich zu hören. Aus der Ferne vernahm er nur die weiche Stimme des Gouvernementsvorstehers, darauf das pfeifende Organ des scharfzüngigen Adligen und dann die Stimme Swijashskiys. Sie stritten, soviel er zu verstehen imstande war, über die Bedeutung eines Paragraphen des Gesetzes und den Sinn der Worte, „wer sich unter gerichtlicher Untersuchung befindet“.
Der Haufe teilte sich, um dem zum Tisch herantretenden Sergey Iwanowitsch Raum zu geben. Sergey Iwanowitsch sagte, nachdem er die Beendigung der Rede des scharfzüngigen[284] Adligen abgewartet hatte, ihm scheine, daß es am richtigsten sei, sich nach dem Paragraphen des Gesetzes zu richten und bat den Sekretär, den Paragraphen aufzusuchen. In demselben war gesagt, daß man im Falle der Meinungsverschiedenheit zu ballotieren habe.
Sergey Iwanowitsch verlas den Paragraphen, und begann den Sinn desselben zu erörtern, aber da unterbrach ihn ein großer, dicker und krummer Gutsherr mit roten Ohren, in enger Uniform mit im Nacken hinten hochstehendem Kragen. Er trat an den Tisch und rief laut, mit einem Finger darauf schlagend:
„Ballotieren! Zu den Kugeln greifen! Weg da mit dem Geschwätz! Zu den Kugeln!“
Mehrere Stimmen erhoben sich jetzt plötzlich zusammen, und der große Adlige mit seinem Finger, mehr und mehr in Zorn geratend, schrie lauter und lauter. Es ließ sich jedoch nicht unterscheiden, was er sagte. Er sagte das Nämliche, was Sergey Iwanowitsch vorschlug, aber offenbar haßte er diesen und dessen ganze Partei, und dieses Gefühl des Hasses teilte sich nun der ganzen Partei mit und rief den Widerstand einer gleichen, wenn auch gemäßigteren Erbitterung auf der anderen Seite hervor. Rufe erschallten und eine Minute lang wogte alles durcheinander, sodaß der Gouvernementsvorsteher genötigt war, um Ordnung zu bitten.
„Ballotieren! Ballotieren! Wer ein Edelmann ist, der sieht das ein! Wir vergießen unser Blut! Das Vertrauen des Monarchen! Nicht den Gouvernementsvorsteher achten; er ist kein Amtmann! Darum handelt es sich nicht! Bitte, zu den Kugeln! Es ist eine Schande!“ vernahm man zornige, sinnlose Schreie von allen Seiten.
Die Blicke und Gesichter wurden immer zorniger und die Reden immer ungebärdiger. Sie drückten einen unversöhnlichen Haß aus. Lewin begriff nicht im geringsten, worum es sich handle, und war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit, mit welcher die Frage, ob man über Phleroff ballotieren solle oder nicht, behandelt wurde. Er hatte, wie ihm später Sergey Iwanowitsch erklärte, jenen Syllogismus vergessen, daß im Interesse des allgemeinen Wohls der Gouvernementsvorsteher entfernt werden müsse; zu der Entfernung desselben[285] aber war eine Majorität der Kugeln erforderlich; zur Erlangung dieser Majorität weiterhin mußte man Phleroff Stimmrecht erteilen, und zur Anerkennung Phleroffs als eines Stimmberechtigten mußte man erklären, wie der Paragraph des Gesetzes aufzufassen sei.
„Also eine Stimme kann die ganze Angelegenheit entscheiden, und man muß daher ernst und konsequent sein, wenn man der gemeinsamen Sache dienen will,“ schloß Sergey Iwanowitsch.
Lewin hatte dies jedoch vergessen, und es wurde ihm schwer ums Herz, diese von ihm geachteten braven Männer in einer so unangenehmen schlimmen Erregung sehen zu müssen.
Um sich von diesem beklemmenden Gefühl frei zu machen, ging er, ohne das Ende des Streites abzuwarten, in den Saal, in welchem sich niemand befand, als einige Lakaien beim Buffet. Als er die mit dem Abwischen von Geschirr, dann Aufstellen von Tellern und Gläsern beschäftigten Diener, ihre ruhigen, aber lebhaften Gesichter sah, empfand Lewin ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung, als sei er aus einem Zimmer voll widrigen Geruchs in die reine Luft hinausgetreten. Er begann auf und abzuschreiten, mit Befriedigung auf die Diener blickend. Es gefiel ihm sehr, als einer derselben, ein Mann mit grauem Backenbart, den jüngeren, die diesen zum besten hatten, voll Geringschätzung lehrte, wie man Servietten falten müsse. Lewin hatte sich gerade mit dem alten Diener in ein Gespräch eingelassen, als der Sekretär der Adelsvormundschaft, ein alter Herr, der die spezielle Eigenschaft besaß, alle Adligen des Gouvernements dem Namen und der Herkunft nach zu kennen, ihn davon abzog.
„Bitte gefälligst, Konstantin Dmitritsch,“ sagte er zu ihm, „Euer Bruder sucht Euch. Es wird ballotiert.“
Lewin trat in den Saal, erhielt eine weiße Kugel und begab sich hinter seinem Bruder Sergey Iwanowitsch zum Tische, an welchem mit wichtiger, ironischer Miene Swijashskiy stand, der seinen Bart in die volle Hand genommen hatte und daran roch.
Sergey Iwanowitsch steckte die Hand in den Kasten, legte seine Kugel hinein und blieb, Lewin Platz machend, am Orte[286] stehen. Lewin trat heran, wandte sich aber, da er vollständig vergessen hatte, um was es sich handle und in Verlegenheit geraten war, an Sergey Iwanowitsch mit der Frage, wohin er die Kugel legen solle? Er frug leise, während man in seiner Nähe sprach, sodaß er hoffen konnte, es habe niemand seine Frage vernommen. Aber die Sprechenden verstummten und seine unziemliche Frage wurde gehört. Sergey Iwanowitsch runzelte die Stirn.
„Das ist Sache der Überzeugung für einen jeden,“ sagte er gemessen. Einige lächelten. Lewin errötete, streckte hastig die Hand unter das Tuch und legte die Kugel nach rechts, da sie sich gerade in seiner rechten Hand befand. Nachdem er dies gethan hatte, besann er sich, daß er auch die linke Hand hineinstecken müsse und steckte sie hinein, doch schon zu spät, und zog sich dann, noch mehr in Verlegenheit geraten, schnell in die hintersten Reihen zurück.
„Einhundertsechsundzwanzig dafür! Achtundneunzig dagegen!“ klang die Stimme des Sekretärs, welcher den Buchstaben r nicht aussprechen konnte. Gelächter erschallte: ein Knopf und zwei Nüsse waren in dem Kasten gefunden worden. Der Adlige war zugelassen und die Jungpartei hatte gesiegt. Aber die Partei der Alten hielt sich noch nicht für besiegt. Lewin vernahm, daß man Sjnetkoff bat, zu ballotieren, und gewahrte, daß ein Trupp der Edelleute den Gouvernementsvorsteher umringte, welcher sprach. Lewin trat näher. Sjnetkoff sprach, indem er den Edelleuten antwortete, vom Vertrauen des Adels, von dessen Liebe zu ihm, deren er nicht würdig sei, da sein ganzes Verdienst nur in seiner Ergebenheit für den Adel bestehe, dem er zwölf Jahre des Dienstes geweiht hätte. Mehrmals wiederholte er die Worte „ich habe gedient, soviel es meine Kräfte gestatteten, im Glauben und in der Wahrheit; ich schätze euch hoch und danke euch!“ und plötzlich hielt er, von Rührung überwältigt, inne und verließ den Saal.
Mochten nun diese Thränen von dem Gefühl einer Ungerechtigkeit gegen ihn, von der Liebe zum Adel, oder von der Gespanntheit der Situation herrühren, in welcher er sich befand, indem er sich von Gegnern umgeben fühlte — genug, die Erregung teilte sich weiter mit, die Majorität des Adels[287] war gerührt und auch Lewin empfand ein Gefühl von Zärtlichkeit für Sjnetkoff.
In der Thür stieß der Gouvernementsvorsteher mit Lewin zusammen.
„Entschuldigt, bitte, entschuldigt,“ sagte er wie zu einem Unbekannten, lächelte aber, als er Lewin erkannt, und diesem schien es, als ob er etwas hätte sagen wollen, aber vor Erregung nicht sprechen könne.
Der Ausdruck seines Gesichts und seiner ganzen Gestalt in der Uniform, mit den Ordenskreuzen und den weißen galonnierten Beinkleidern, erinnerte Lewin, als er so hastig dahinschritt, an ein gemästetes Schlachtvieh, welches sieht, daß es mit seiner Sache übel bestellt ist.
Der Gesichtsausdruck des Mannes hatte etwas eigentümlich Rührendes für Lewin, welcher erst am Tage vorher in Vormundschaftsangelegenheiten in seinem Hause gewesen war und ihn in der ganzen Größe eines guten und geselligen Menschen kennen gelernt hatte. Das große Haus mit den altertümlichen Familienmeubles; keine geschniegelten oder unsauberen, sondern ehrerbietige alte Diener, offenbar noch aus der Zeit der ehemaligen Leibeigenschaft stammend, die ihren Herrn nicht geändert hatten; eine wohlbeleibte, gutmütige Hausfrau im Häubchen mit Spitzen und einem türkischen Spitzenshawl, welche ihr liebes Enkelchen, die Tochter ihrer Tochter liebkoste; ein jugendlicher Sohn, Gymnasiast der sechsten Klasse, welcher von der Schule gekommen war und den Vater begrüßte, indem er ihm die große Hand küßte; die ermahnenden, freundlichen Reden und Gebärden des Hausherrn; alles dies hatte in Lewin gestern unwillkürlich Hochachtung und Sympathie erweckt. Jetzt erschien ihm dieser alte Herr rührend und beklagenswert und er wünschte, ihm einige angenehme Worte zu sagen.
„Ihr werdet vielleicht wieder unser Vorsteher werden,“ sprach er.
„Kaum,“ versetzte jener, erschreckt aufblickend, „ich bin abgespannt, schon alt; es giebt würdigere und jüngere als ich, mögen die nun dienen,“ und der Vorsteher verschwand durch eine Seitenthür.
Es trat nun der feierlichste Augenblick ein; man mußte[288] zur Wahl schreiten. Die Wortführer der einen und der anderen Partei zählten an den Fingern die weißen und die schwarzen Kugeln nach.
Die Debatten wegen Phleroff hatten der Jungpartei nicht nur die eine Kugel Phleroffs mehr verschafft, sondern auch einen Gewinn an Zeit herbeigeführt, sodaß noch drei Adlige herbeigeholt werden konnten, welchen es durch Intriguen der Alten unmöglich gemacht worden war, an den Wahlen teilzunehmen. Zwei der Adligen, die eine Schwäche für den Wein besaßen, hatte man durch Kumpane Sjnetkoffs trunken gemacht, dem dritten die Uniform entwendet.
Als die Jungpartei dies erfahren hatte, sandte sie sogleich, während der Debatten über Phleroff, in einer Mietkutsche Freunde fort, um den Einen uniformieren zu lassen, und Einen der beiden Berauschten zur Sobranje zu bringen.
„Den Einen habe ich gebracht, ich habe ihn mit Wasser begossen,“ sagte der nach ihm gesandte Gutsherr, zu Swijashskiy tretend, „doch es ist nicht gefährlich, er taugt schon noch dazu.“
„Ist also nicht zu sehr berauscht, daß er nicht etwa umfällt?“ sagte Swijashskiy kopfschüttelnd.
„Nein; er ist ganz munter; doch hatten sie ihn bald völlig niedergetrunken. Ich habe dem Buffetier gesagt, er soll ihm auf keinen Fall Wein geben.“
Der enge Saal, in welchem man rauchte und aß, war gefüllt von den Edelleuten. Die Aufregung stieg stetig, und auf allen Gesichtern war die Unruhe bemerkbar. Namentlich waren die Wortführer in Aufregung, da sie alle Einzelverhältnisse und die Berechnung aller Kugeln kannten. Sie waren die Ordner der bevorstehenden Schlacht. Die Übrigen suchten, wie die Krieger vor dem Kampfe, obwohl sie sich zu diesem vorbereiteten, noch Zerstreuungen. Die Einen nahmen am Tische stehend oder sitzend einen Imbiß; die Anderen gingen Cigaretten rauchend, in dem langen Zimmer auf und nieder, und unterhielten sich mit lange nicht gesehenen Freunden.
Lewin verspürte keine Eßlust, er rauchte nicht; zu den Seinigen, mit Sergey Iwanowitsch, Stefan Arkadjewitsch, Swijashskiy und anderen gehen, wollte er nicht, da bei ihnen[289] in lebhaftem Gespräch Wronskiy in Stallmeisteruniform stand. Schon gestern hatte ihn Lewin bei den Wahlen erblickt, und geflissentlich vermieden, da er nicht wünschte ihm zu begegnen. Er trat ans Fenster und setzte sich nieder, auf die Gruppen blickend, und auf das horchend, was um ihn herum gesprochen wurde.
Es bedrückte ihn namentlich, daß alle, wie er sah, aufgeregt, besorgt und geschäftig waren, und nur er allein nebst einem alten, zahnlosen Greis in Marineuniform, der neben ihm saß, ohne Interesse und ohne Beschäftigung war.
„Das ist ein Betrug! Ich habe ihm gesagt, daß es nicht so ist. Gewiß. Er konnte auf drei Jahre nicht wählen,“ sprach energisch ein etwas verwachsener Gutsherr von kleiner Gestalt mit pomadisierten Haaren, die auf dem gestickten Kragen seiner Uniform lagen, stark mit den Absätzen seiner offenbar für die Wahlen neugefertigten Stiefeln aufstampfend, und wandte sich dann, einen mißvergnügten Blick auf Lewin werfend, kurz ab.
„Ja, eine unsaubere Sache, was man auch sagen mag,“ fuhr ein kleiner Gutsherr mit dünner Stimme fort.
Hinter ihnen näherte sich Lewin eilig ein ganzer Trupp von Gutsherrn, einen dicken General umringend. Die Herren suchten offenbar einen Platz, wo sie so sprechen konnten, daß man sie nicht hörte.
„Wie kann er sich unterstehen, zu sagen, ich hätte ihm die Beinkleider entwenden lassen! Er hat sie vertrunken, denke ich! Ich mache mir den Teufel aus ihm und seinem Fürstenrang! Er soll es nicht wagen, das zu äußern. Eine Schweinerei ist es!“
„Aber erlaubt doch! Die berufen sich auf den Gesetzparagraphen,“ sprach man in einer anderen Gruppe, „die Frau muß als Adlige eingetragen werden!“
„Zum Teufel mit dem Paragraphen! Ich spreche wie es mir ums Herz ist! Darauf stützen sich brave Edelleute. Man soll Vertrauen haben!“
„Wollen Ew. Excellenz mitkommen, fine champagne.“
Ein anderer Trupp ging zu einem laut schreienden Edelmann; es war dies Einer der drei Berauschten.
„Ich habe der Marja Ssemionowna stets geraten zu verpachten, weil sie ihren Vorteil nicht zu wahren versteht,“ sagte[290] ein graubärtiger Gutsherr mit angenehmer Stimme, in der Oberstenuniform des alten Generalstabs. Es war dies der nämliche Herr, welchem Lewin bei Swijashskiy begegnet war. Lewin erkannte ihn sofort, auch der Gutsherr schaute nach Lewin, und sie begrüßten sich.
„Sehr angenehm. Gewiß, ich erinnere mich noch recht wohl; wir sahen uns im vergangenen Jahre bei Nikolay Iwanowitsch.“
„Nun, wie steht es mit Eurer Ökonomie?“ frug Lewin.
„Man arbeitet stets mit Schaden,“ antwortete der Gutsherr mit höflichem Lächeln, aber mit einem Ausdruck von Ruhe und der Überzeugtheit, daß es so sein müsse, neben Lewin stehen bleibend; „aber wie kommt Ihr denn in unser Gouvernement?“ frug er dann. „Ihr seid wohl gekommen, um an unserem coup d'état teilzunehmen?“ sagte er, sicher, aber schlecht die französischen Worte aussprechend. „Ganz Rußland ist zusammengekommen; auch die Kammerherren und beinahe selbst die Minister.“ Er wies auf die repräsentierende Gestalt Stefan Arkadjewitschs in den weißen Pantalons und der Kammerherrenuniform, welcher mit einem General ging.
„Ich muß Euch gestehen, daß ich die Bedeutung der Adelswahlen recht wenig verstehe,“ sprach Lewin.
Der Gutsherr schaute ihn an.
„Was giebt es denn da zu verstehen? Eine Bedeutung liegt darin gar nicht. Es ist das eine hinfällige Institution, welche ihr Fortleben nur dem Trägheitsgesetz verdankt. Seht doch hin; die Uniformen sagen Euch das ja schon. Dies ist eine Sobranje von Friedensrichtern, dauernden Mitgliedern und so fort, aber nicht von Edelleuten.“
„Aber weshalb seid Ihr denn gekommen?“ frug Lewin.
„Aus Gewohnheit; das ist das Eine. Ferner, um die Verbindungen aufrecht zu erhalten. Darin liegt eine moralische Verpflichtung in gewisser Hinsicht. Dann aber, wenn ich die Wahrheit sagen soll, auch aus meinem eigenen Interesse. Mein Schwager wünscht als Mitglied gewählt zu werden; die Familie ist arm und man muß sie vorwärts bringen. Weshalb sind wohl diese Herren gekommen?“ sagte er, auf den bissigen Adligen zeigend, welcher hinter dem Gouverneurstisch sprach.
„Das ist ein neues Adelsgeschlecht.“
„Neues hin, neues her; aber kein Adel! Das sind Landleute, während wir Gutsherren sind. Sie legen als Adlige die Hand an sich selbst.“
„Aber Ihr sagt doch, es sei dies eine abgelebte Institution?“
„Abgelebt hin, abgelebt her; man müßte sich aber doch pietätvoller zu ihr stellen. Wäre wenigstens Sjnetkoff — — mögen wir gut oder schlecht sein, aber tausend Jahre sind wir doch alt geworden. Wißt Ihr, es kann einmal vorkommen, daß man vor seinem Hause einen Garten anlegt und placiert. Da steht Euch nun aber gerade auf dem Platze ein hundertjähriger Baum. Mag er gleich knorrig und alt sein, für die Blumenbouquets wird man ihn doch wohl nicht umhauen, sondern diese so anlegen, daß sie den Baum umfangen;“ sagte er vorsichtig, und änderte darauf das Thema. „Wie geht es denn mit Eurer Ökonomie?“ frug er.
„Auch nicht gut. Fünf Prozent wirft sie ab.“
„Da rechnet Ihr Euch aber noch nicht mit! Ihr seid doch auch etwas wert! Ich kann auch von mir selbst so reden. Während der Zeit, in der ich nicht Landwirtschaft trieb, habe ich im Dienst dreitausend Rubel gehabt. Jetzt arbeite ich mehr, als im Dienst, und habe ebenso wie Ihr, meine fünf Prozent, und damit ist es gut. Meine Arbeit ist dabei noch umsonst.“
„Aber warum thut Ihr es denn, wenn Ihr nur Verlust habt?“
„Nun, man arbeitet eben. Was wollt Ihr sonst? aus Gewohnheit; und man weiß, daß man so muß. Ich will Euch weiter sagen,“ und der Gutsbesitzer stemmte sich mit den Ellbogen auf das Fenster und fuhr fort, „mein Sohn hat keine Lust zur Landwirtschaft; er wird offenbar einmal ein Gelehrter. Niemand wird somit die Sache einmal fortführen, und doch arbeitet man. Jetzt habe ich einen Garten angelegt.“
„Ja, ja,“ sagte Lewin, „das ist völlig richtig. Ich fühle stets, daß in meiner Ökonomie keine rechte Berechnung liegt, man arbeitet aber — man fühlt gleichsam eine Verpflichtung seinem Lande gegenüber.“
„Da will ich Euch noch etwas sagen,“ fuhr der Gutsbesitzer[292] fort. „Mein Nachbar, ein Kaufmann, war bei mir. Wir gingen das Land ab, und den Garten. ‚Nein,‘ sagte er da, ‚Stefan Wasiljewitsch, bei Euch ist alles in Ordnung, aber der Garten ist vernachlässigt.‘ Dabei befindet er sich aber in vollständiger Ordnung. ‚Nach meiner Ansicht, würde ich diese Linden anhauen. Man muß nur bis auf den Saft schlagen. Es sind da ihrer tausend Linden, und jede von ihnen giebt zwei gute Schaffe.‘“
„Für den Erlös daraus müßte er Vieh kaufen oder Land und es den Bauern pachtweise verteilen,“ ergänzte Lewin, welcher offenbar schon mehr als einmal mit ähnlichen Überschlägen zu thun gehabt hatte. „Und er wird sich ein Vermögen begründen, während wir, Ihr und ich, wenn Gott es giebt, nur das unsere zusammenhalten und den Kindern zu hinterlassen streben müssen.“
„Ihr seid verheiratet, wie ich hörte?“ sagte der Gutsbesitzer.
„Ja,“ antwortete Lewin mit Stolz und Genugthuung. „Es ist aber etwas Seltsames,“ fuhr er fort, „wir leben zusammen gerade wie die alten Vestalinnen, und hüten unser Herdfeuer.“
Der Gutsbesitzer lächelte unter seinem weißen Bart.
„So ist es auch bei uns, da hat sich unser Freund Nikolay Iwanitsch, oder jetzt Graf Wronskiy seßhaft gemacht, die eine agronomische Industrie einführen wollen; aber das hat nicht weiter, als bis zu Kapitalverlust geführt.“
„Aber weshalb machen wir es nicht, wie die Kaufleute? Warum fällen wir nicht die Bäume im Garten der Rinde halber?“ sagte Lewin, auf den Gedanken zurückgreifend, der ihn frappiert hatte.
„Nun, wie Ihr sagtet, man hütet sein Feuer. Dieses wäre ja auch nicht ein adliges Verfahren. Unsere adlige Thätigkeit vollzieht sich nicht hier, bei den Wahlen, sondern in unserem Winkel. Es giebt auch einen Standesinstinkt bezüglich dessen, was man soll und was man nicht soll. Bei den Bauern ist es ebenso; wenn ein Bauer gut ist, so sucht er soviel Land zu pachten, als er kann. So schlecht dieses nun sein mag, er pflügt es. Gleichfalls ohne Berechnung, und geradezu zu seinem Schaden.“
„Wie wir“ — sagte Lewin. „Es ist nur außerordentlich angenehm, Euch zu treffen,“ fügte er hinzu, indem er Swijashskiy zu ihm herantreten sah.
„Ah, wir begegnen uns wohl zum erstenmal wieder, seit ich bei Euch war,“ begrüßte ihn der Gutsbesitzer, „wir haben uns auch verschworen.“
„Wie, schmäht Ihr neue Einrichtungen?“ frug Swijashskiy lächelnd.
„Ein wenig.“
„Man hat uns den Mut benommen.“
Swijashskiy nahm Lewin unter den Arm und ging mit ihm zu seinen Freunden.
Jetzt konnte Lewin Wronskiy nicht mehr vermeiden, welcher bei Stefan Arkadjewitsch und Sergey Iwanowitsch stand und offen dem herankommenden Lewin entgegenblickte.
„Sehr erfreut. Mir scheint, als hätte ich einmal das Vergnügen gehabt, Euch begegnet zu sein — bei der Fürstin Schtscherbazkaja,“ sagte er, Lewin die Hand reichend.
„Ja; ich entsinne mich Eurer Begegnung recht wohl,“ sagte Lewin, purpurrot werdend, und wandte sich sogleich, um mit seinem Bruder zu sprechen.
Mit feinem Lächeln unterhielt sich Wronskiy mit Swijashskiy weiter, offenbar ohne den geringsten Wunsch, in ein Gespräch mit Lewin zu geraten; dieser hingegen blickte, mit dem Bruder redend, unverwandt Wronskiy an und überlegte, wovon er wohl mit demselben sprechen könnte, um seine Taktlosigkeit wieder gutzumachen.
„Was verhandelt man jetzt?“ frug Lewin, Swijashskiy und Wronskiy anblickend.
„Sjnetkoff. Er muß abschläglich antworten oder beistimmen,“ antwortete Swijashskiy.
„Nun, hat er denn beigestimmt oder nicht?“
„Darum handelt es sich ja eben; weder dies noch das ist der Fall,“ sagte Wronskiy.
„Und wenn er es verweigert, wer wird dann ballotieren?“ frug Lewin, Wronskiy anschauend.
„Wer da will,“ sagte Swijashskiy.
„Werdet Ihr es thun?“ frug Lewin.
„Nur ich nicht,“ sagte Swijashskiy, in Verlegenheit geratend und einen erschreckten Blick auf den neben ihm mit Sergey Iwanowitsch stehenden, bissigen Herrn werfend.
„Nun wer denn; Njewjedowskiy?“ frug Lewin, im Gefühl, daß er sich verwickelte.
„Dies wäre aber noch schlimmer. Njewjedowskiy und Swijashskiy waren ja die zwei Kandidaten.“
„Ich werde es in keinem Falle thun,“ antwortete der sarkastische Herr. Es war Njewjedowskiy selbst. Swijashskiy machte Lewin mit demselben bekannt.
„Hat es auch deine Achillesferse getroffen?“ sagte Stefan Arkadjewitsch, Wronskiy zublinzelnd, „das ist etwas nach Art der Wettrennen. Man kann da eine Wette machen.“
„Ja; das berührt Einen bei der schwachen Seite,“ sagte Wronskiy. „Und hat man sich einmal mit der Sache abgegeben, so will man sie auch ausführen. Es ist ein Kampf!“ sagte er, stirnrunzelnd und die starken Kinnbacken zusammenbeißend.
„Was für ein Kenner der Swijashskiy ist. Wie klar bei ihm alles ist!“
„Ach ja,“ versetzte Wronskiy zerstreut.
Ein Stillschweigen trat ein, während dessen Wronskiy so wie man eben auf etwas Zufälliges blickt, auf Lewin, auf dessen Füße, Uniform und Gesicht, schaute. Nachdem er die finster auf sich gerichteten Augen bemerkt hatte, äußerte er, um doch wenigstens etwas zu sagen:
„Wie kommt es denn — Ihr seid doch ständiger Dorfbewohner, nicht aber Friedensrichter? Ihr seid ja nicht in der Uniform eines Friedensrichters?“
„Das kommt daher, daß ich glaube, das Friedensgericht repräsentiert eine thörichte Institution,“ antwortete Lewin finster, der schon längst darauf gewartet hatte, mit Wronskiy ins Gespräch zu kommen, um seine Taktlosigkeit bei Gelegenheit wieder auszugleichen.
„Ich glaube dies nicht; im Gegenteil,“ sagte Wronskiy ruhig, aber mit Verwunderung.
„Es ist doch nur eine Spielerei,“ unterbrach ihn Lewin. „Die Friedensrichter sind uns nicht notwendig. Ich habe[295] innerhalb acht Jahren nicht eine einzige Klage gehabt, und was ich gehabt habe, das wurde durch Ersatzleistung ausgeglichen. Der Friedensrichter wohnt in einer Entfernung von vierzig Werst von mir. In einer Sache, in welcher es sich um zwei Rubel handelt, muß ich dann einen Vertrauensmann, welcher mich fünfzehn kostet, schicken.“
Er erzählte nun, wie ein Bauer einem Müller Mehl gestohlen habe, und der Bauer, als der Müller es ihm mitgeteilt, gegen diesen Verleumdungsklage eingereicht hätte. Alles das paßte nicht hierher und war dumm; und Lewin fühlte dies auch, während er sprach.
„O, über dieses Original!“ sagte Stefan Arkadjewitsch mit seinem mandelsüßesten Lächeln, „indessen gehen wir; man scheint zu ballotieren.“
Sie gingen auseinander.
„Ich begreife nicht,“ sagte Sergey Iwanowitsch, den ungeschickten Gang seines Bruders bemerkend, zu diesem, „ich begreife nicht, wie es möglich ist, bis zu solchem Grade jeglichen politischen Taktes bar zu sein. Das ist es eben, was wir Russen nicht haben. Der Gouvernementsvorsteher ist unser Gegner, und du bist mit ihm ami cochon und bittest ihn, zu ballotieren. Graf Wronskiy — ich mache ihn mir ja auch nicht zum Freunde — hat mich zum Essen eingeladen. Ich werde nicht zu ihm fahren, aber er ist auf unserer Seite, weshalb soll ich uns deshalb einen Feind aus ihm machen? Dann frägst du Njewjedowskiy, ob er ballotieren würde. Das geht doch nicht an.“
„Ach, ich verstehe nichts davon! Alles das ist doch fades Zeug,“ antwortete Lewin mürrisch.
„Du sagst da, daß dies alles fades Zeug sei, befassest du dich aber damit, so verwickelst du dich dennoch.“
Lewin blieb stumm und sie betraten zusammen den großen Saal.
Der Gouvernementsvorsteher hatte sich, obwohl er den ihm bereiteten Verrat in der Luft liegen fühlte, und nicht alle ihn darum gebeten hatten, gleichwohl entschlossen, zu ballotieren. Im Saal wurde alles still, der Sekretär verkündete mit lauter Stimme, daß Rittmeister der Garde, Michail Ljepanowitsch Snjetkoff zum Gouvernementsvorsteher gewählt werden solle.
Die Kreisvorsteher kamen mit Tellern, auf welchen die Kugeln lagen, von ihren Tischen zu dem Gouvernementstisch, und die Wahlen begannen.
„Wirf rechts,“ flüsterte Stefan Arkadjewitsch Lewin zu, als er zusammen mit dessen Bruder hinter dem Vorsteher zu dem Tische schritt.
Lewin hatte indessen jetzt jenes Kalkul vergessen, das man ihm erklärt hatte, und fürchtete, Stefan Arkadjewitsch möchte sich geirrt haben, indem er sagte „rechts“. Sujetkoff war doch offenbar der Gegner. Als er daher zum Kasten gekommen war, hielt er die Kugel in der Rechten, überlegte sich jedoch, daß er irre, und nahm, dicht vor dem Kasten, die Kugel in die linke Hand, um sie dann offenbar links zu legen.
Ein Kenner der Sache, welcher an dem Kasten stand, und an der bloßen Bewegung des Ellbogens erkannte, wohin jeder warf, runzelte unwillig die Stirn. Er hatte keine Lust, seinen Scharfsinn anzustrengen.
Alles war still geworden und man vernahm nur das Zählen der Kugeln. Darauf rief eine einzelne Stimme die Zahl der Wähler und der Nichtwählenden aus.
Der Vorsteher war mit beträchtlicher Majorität wieder gewählt worden. Es erhob sich ein allgemeiner Lärm und man drängte nach der Thür. Sjnetkoff trat ein, und der Adel umringte ihn, unter Beglückwünschungen.
„Nun, jetzt ist es wohl zu Ende?“ frug Lewin Sergey Iwanowitsch.
„Es fängt eben erst an,“ versetzte für Sergey Iwanowitsch lächelnd Swijashskiy; „der Kandidat des Vorstehers kann mehr Kugeln erhalten.“
Lewin hatte dies vollkommen vergessen. Er entsann sich erst jetzt, daß hier eine gewisse Feinheit verborgen lag, doch wurde es ihm zuviel, sich darauf besinnen zu sollen, worin sie bestand. Niedergeschlagenheit überkam ihn und er sehnte sich darnach, von diesem Haufen wegzukommen.
Da ihn niemand beachtete, und er wie es schien, von niemand vermißt wurde, begab er sich leise nach dem kleinen Saal, wo man speiste, und fühlte große Erleichterung, als er die Diener wiederum erblickte. Der alte Diener legte ihm die Speisenkarte vor, und Lewin willigte ein. Nachdem er ein[297] Kotelett mit Fasolen gegessen und sich mit dem Diener über dessen frühere Herrschaft unterhalten hatte, begab sich Lewin, der den Saal nicht wieder zu betreten wünschte, in welchem es ihm so unangenehm war, auf die Tribünen.
Diese waren angefüllt von geputzten Damen, die sich über das Geländer beugten, im Bemühen, nicht ein einziges Wort von dem zu verlieren, was unten gesprochen wurde. Um die Damen herum saßen und standen elegante Advokaten, Gymnasialschüler mit Augengläsern, und Offiziere. Überall wurde von den Wahlen gesprochen, und davon, wie der Vorsteher erschöpft sei, und wie vortrefflich die Debatten gegangen wären; in der einen Gruppe vernahm Lewin das Lob seines Bruders. Eine Dame sagte zu einem Advokaten:
„Wie freue ich mich, daß ich Koznyscheff gehört habe! Da ist es schon der Mühe wert, ein wenig zu hungern. Es war reizend! Wie klar und verständlich alles! Bei uns im Gericht spricht niemand so. Nur Maydel, und selbst der ist noch bei weitem nicht so redegewandt.“
Als Lewin einen freien Platz an dem Geländer gefunden hatte, beugte er sich darüber und begann Umschau zu halten und zu lauschen.
Alle Adligen saßen in Spalieren, in ihren Kreisabteilungen. In der Mitte des Saales stand ein Mann in Uniform, welcher mit klingender lauter Stimme rief:
„Es wird ballotiert für die Kandidaten des Gouvernementsvorstehers des Adels, Stabrittmeisters Evgeniy Iwanowitsch Apuchtin!“
Totenstille trat ein, und man vernahm eine schwache Greisenstimme:
„Ich verzichte!“
„Es wird ballotiert der Hofrat Peter Petrowitsch Bolj,“ begann wiederum die Stimme.
„Ich verzichte!“ ertönte eine jugendliche pfeifende Stimme.
Nochmals ertönte das Gleiche und wieder erschallte das „ich verzichte“; und so ging es eine Stunde lang fort. Auf das Geländer gestemmt, schaute und lauschte Lewin. Anfangs wunderte er sich und suchte zu erfassen, was dies alles bedeute; dann aber, nachdem er sich überzeugt hatte, er könne nichts verstehen, fing er an, sich zu langweilen. Als er sich[298] hierauf all die Aufregung und Erbitterung, die er auf den Gesichtern aller wahrgenommen, vergegenwärtigte, wurde es ihm schwer ums Herz; er beschloß abzureisen, und ging hinab.
Als er durch die Vorhalle der Tribünen schritt, begegnete er einem auf- und niederschreitenden, bedrückt aussehenden Gymnasiasten mit thränenschwimmenden Augen. Auf der Treppe begegnete ihm ein Paar. Eine Dame, welche eilig auf den Absätzen lief, war es und der gewandte Genosse des Prokurators.
„Ich habe Euch gesagt, daß Ihr nicht zu spät kommt,“ sagte der Prokurator, gerade, als Lewin zur Seite trat, um die Dame vorüberzulassen.
Lewin war schon auf der Ausgangstreppe und zog soeben aus der Westentasche die Nummer seines Pelzes hervor, als ihn der Sekretär abfing.
„Gestattet, Konstantin Dmitritsch, man ballotiert!“
Zum Kandidaten war Njewjedowskiy, der sich so entschieden geweigert hatte, gewählt worden.
Lewin schritt zur Saalthür; sie war verschlossen. Der Sekretär pochte, die Thür öffnete sich und er befand sich zwei Gutsbesitzern mit geröteten Gesichtern gegenüber.
„In meiner Macht liegt es nicht,“ sagte der eine rotaussehende Gutsbesitzer.
Hinter den beiden hob sich das Gesicht des Gouvernementsvorstehers hervor. Dieses Gesicht erschien furchterweckend mit seinem Ausdruck von Erschöpfung und Angst.
„Ich habe dir befohlen, niemand hinauszulassen!“ schrie er den Thürhüter an.
„Ich habe nur eingelassen, Ew. Excellenz!“
„Mein Gott!“ schwer seufzend ging der Gouvernementsvorsteher, müde in seinen weißen Pantalons, den Kopf gesenkt, dahinschreitend, durch die Mitte des Saales nach dem großen Tische.
Man hatte das Amt Njewjedowskiy übertragen, wie es auch vorher geplant worden war, und dieser war jetzt Gouvernementsvorsteher. Viele befanden sich in heiterer Stimmung, viele waren zufrieden und glücklich, viele entzückt, viele unzufrieden und unglücklich. Der Gouvernementsvorsteher war in einer Verzweiflung, die er nicht verbergen konnte. Als[299] Njewjedowskiy den Saal verließ, umringte ihn die Menge, und folgte ihm begeistert nach, so, wie sie am ersten Tage dem Gouvernementsvorsteher gefolgt war, als derselbe die Wahlen eröffnet hatte, so, wie sie Sjnetkoff gefolgt war, als dieser gewählt wurde.
Der neugewählte Gouvernementsvorsteher und viele aus der triumphierenden Partei der Jungen, speisten an diesem Tage bei Wronskiy.
Wronskiy war einmal deshalb zu den Wahlen gekommen, weil es ihm auf dem Dorfe langweilig geworden war, und er seine Rechte auf Freiheit vor Anna geltend machen mußte, als auch zum Zwecke, Swijashskiy mit seiner Unterstützung bei den Wahlen für alle Bemühungen um Wronskiy bei den Semstwowahlen zu lohnen, und vor allem deshalb, streng alle jene Pflichten der Stellung eines Adligen und Gutsherrn zu erfüllen, die er sich auserwählt hatte.
Aber er hatte durchaus nicht erwartet, daß ihn diese Wahlen so sehr interessieren, ihn so bei seinen Neigungen fassen würden, und daß er der Sache so gewachsen sei. Er war in dem Kreise der Adligen eine vollkommen neue Erscheinung, hatte aber offenbar Erfolg und irrte nicht mit der Annahme, daß er bereits Einfluß unter denselben gewonnen habe.
Zur Erringung dieses Einflusses unterstützte ihn sein Reichtum, und sein vornehmer Rang, ein schönes Besitztum in der Stadt, welches ihm ein alter Bekannter, Schirkoff abgetreten hatte, der sich mit Finanzgeschäften befaßte und eine blühende Bank in Kaschin besaß; ferner sein ausgezeichneter Koch, der vom Dorfe mit hereingebracht worden war, dann seine Freundschaft mit dem Gouverneur, der sein Kamerad, und zwar ein protegierter Kamerad Wronskiys gewesen — vor allem aber sein einfaches, allen gegenüber sich gleich bleibendes Wesen, welches sehr bald die Mehrzahl der Edelleute veranlaßte, ihr Urteil über seinen vermeintlichen Stolz zu ändern.
Er fühlte selbst, daß, mit Ausnahme jenes sonderlichen Herrn, welcher an die Kity Schtscherbazkaja verheiratet war, und der ihm, à propos de bottes, mit wahnsinniger Wut[300] einen Haufen ungereimter Dummheiten nachsagte, jeder Edelmann, mit welchem er sich bekannt gemacht hatte, sein Anhänger wurde.
Er erkannte klar, und auch andere sahen dies ein, daß er zu dem Erfolg Njewjedowskiys sehr viel beigetragen habe, und jetzt, an seiner Tafel, verspürte er bei der Feier der Wahl Njewjedowskiys, die angenehme Empfindung eines Triumphes über den Gewählten.
Die Wahlen selbst hatten ihn derart gefesselt, daß er, falls er im Lauf der nächsten drei Jahre verheiratet sein würde, selbst daran denken wollte, ballotiert zu werden — ganz so, wie man nach dem Gewinn einer Prämie durch den Jockey Lust verspürt, selbst mit zu reiten.
Jetzt wurde der Triumph des Jockeys gefeiert. Wronskiy saß an der Spitze der Tafel, ihm zur Rechten der junge Gouverneur, als General en suite. Für jedermann war er der Herr des Gouvernements, der die Wahlen feierlich eröffnet, der eine Rede hielt, Aufmerksamkeit, Hochachtung und Dienstwilligkeit bei vielen erweckte, wie Wronskiy sah — für Wronskiy aber war er Masloff Katka „der Sündenbock“ — dies war sein Spitzname im Pagencorps gewesen — der vor ihm in Verlegenheit geriet, und den Wronskiy sich bemühte, mettre à son aise. Diesem zur Linken saß Njewjedowskiy mit seinem jugendlichen, unerschütterlich sarkastischen Gesichte; Wronskiy behandelte ihn einfach und achtungsvoll.
Swijashskiy ertrug seine Schlappe heiter. Es war ja nicht einmal eine Schlappe für ihn, wie er selbst sagte, sich mit dem Pokal an Njewjedowskiy wendend; ein besserer Führer jener neuen Richtung, welcher der Adel folgen sollte, ließ sich nicht finden. Und so stand denn, wie er sagte, die volle Rechtschaffenheit auf der Seite des heutigen Erfolges und feierte denselben.
Stefan Arkadjewitsch war gleichfalls bei guter Laune darüber, daß er die Zeit vergnügt verbrachte, und alle zufrieden waren. Swijashskiy ahmte humoristisch die weinerliche Rede des Vorstehers nach und bemerkte, sich an Njewjedowskiy wendend, daß Excellenz wohl eine andere, weit verwickeltere Revisionsweise der Gelder werde wählen müssen, als Thränen.
Ein anderer Spaßvogel unter den Edelleuten erzählte, wie[301] zum Gouverneurballe Lakaien in Kniestrümpfen verschrieben worden seien, und man dieselben jetzt wieder fortschicken müsse, wenn nicht etwa der neue Gouverneur den Ball mit den Lakaien in Kniestrümpfen geben sollte.
Ununterbrochen während des Essens sagte man, wenn man sich zu Njewjedowskiy wandte, „unser Gouverneursoberhaupt“, oder „Ew. Excellenz“.
Man sprach dies mit dem nämlichen Vergnügen, mit welchem man eine junge Frau „Madame“ nennt, mit dem Namen ihres Mannes dazu.
Njewjedowskiy gab sich den Anschein, als lasse ihn das nicht nur gleichgültig, sondern als schätze er diese Titulatur sogar gering, aber es war augenscheinlich, daß er sich glücklich fühlte und sich beherrschen müsse, sein Entzücken nicht auszudrücken, welches zu dieser ungewohnten ungezwungenen Gesellschaft, in der sich alle befanden, nicht gestimmt hätte.
Nach der Tafel wurden mehrere Telegramme an Leute, welche sich für den Verlauf der Wahlen interessierten, abgesandt. Auch Stefan Arkadjewitsch, der sich in heiterster Stimmung befand, sandte an Darja Aleksandrowna ein Telegramm folgenden Inhalts: „Njewjedowskiy mit zwanzig Kugeln gewählt. Ich gratuliere ihm soeben. Teile es weiter mit.“ Er diktierte dasselbe laut und bemerkte dazu: „Man muß ihnen eine Freude machen.“
Als Darja Aleksandrowna die Depesche erhalten hatte, seufzte sie nur über den Rubel, den es gekostet, und erkannte, daß die Sache jetzt wohl bis zum Schluß der Tafel gediehen sein mußte. Sie wußte ja, daß Stefan die Schwäche besaß, am Ende von Banketts „faire jouer le télégraphe“.
Alles war, im Verein mit dem ausgezeichneten Essen und Weinen die nicht von russischen Weinhändlern, sondern direkt von auswärts stammten, sehr vornehm, ungekünstelt und fröhlich gewesen. Ein kleiner Kreis von einigen zwanzig Herren, war von Swijashskiy aus der Mitte der gleichgesinnten, freidenkenden, und zugleich geistreichen und ordnungsliebenden Führer der Jungpartei, ausgewählt worden. Man brachte Toaste aus, auch halbscherzhafte, sowohl auf den neuen Gouvernementsvorsteher, als auf den Gouverneur, auf den Bankdirektor, wie auf „unseren liebenswürdigen Wirt!“ —
Wronskiy war zufrieden. Er hatte nimmermehr einen so angenehmen Ton in der Provinz erwartet.
Gegen das Ende des Essens wurde die Stimmung noch heiterer. Der Gouverneur bat Wronskiy, in das Konzert zu Gunsten der „Brüderschaft“ zu fahren, welches seine Frau veranstaltet habe, die mit ihm bekannt zu werden wünschte.
„Es wird Ball dort sein und man sieht da unsere Schönheiten; in der That bemerkenswert.“
„Not in my line,“ antwortete Wronskiy, der diesen Ausdruck liebte, lächelte aber, und versprach doch zu kommen.
Noch vor dem Aufstehen von der Tafel, als alles eben zu rauchen anfing, trat der Kammerdiener Wronskiys zu diesem heran mit einen Briefe auf der Präsentierschale.
„Aus Wosdwishenskoje per Expressen,“ meldete er mit bedeutungsvoller Miene.
„Wunderbar, wie ähnlich er unserem Kameraden, dem Prokurator Swentizkiy sieht,“ sagte einer der Gäste auf französisch, den Kammerdiener meinend, während Wronskiy, sich verfinsternd, das Schreiben las.
Der Brief war von Anna; schon bevor er ihn gelesen hatte, kannte er seinen Inhalt. In der Annahme, daß die Wahlen in fünf Tagen vorüber sein würden, hatte er versprochen, Freitag zurückkehren zu wollen. Heute war Sonnabend, und er wußte, daß der Inhalt des Briefes aus Vorwürfen bestehen würde, weil er nicht rechtzeitig zurückgekehrt sei. Der Brief, welchen er gestern Abend abgeschickt hatte, war wahrscheinlich noch nicht angekommen.
Der Inhalt des Briefes war der erwartete, aber seine Form eine unerwartete und ihm höchst unangenehme.
„Any ist sehr krank; der Arzt sagt, es könne eine Entzündung eintreten. Ich verliere in meiner Einsamkeit den Kopf. Die Fürstin Barbara ist keine Hilfe, sondern ein Hindernis. Ich erwartete dich vorgestern, gestern, und schicke jetzt, um zu erfahren, wo du eigentlich bist und was du machst. Ich wollte selbst fahren, habe aber davon abgesehen, da ich wußte, daß dir dies unangenehm gewesen sein würde. Gieb mir Antwort, damit ich weiß, was ich anfangen soll.“
„Das Kind ist krank und sie hat selbst reisen wollen! — Unsere Tochter ist krank und dieser feindselige Ton!“ —
Diese harmlose Zerstreuung bei den Wahlen und jene düstere, lastende Liebe, zu welcher er zurückkehren mußte, trafen Wronskiy durch ihren Gegensatz. Aber man mußte abreisen und er fuhr mit dem ersten Zuge in der Nacht nach Hause.
Vor der Abreise Wronskiys zu den Wahlen, hatte Anna, in der Erwägung, daß jene Scenen, welche sich zwischen ihnen bei jeder seiner Reisen wiederholten, nur eine Erkältung herbeiführen, aber nicht fesseln könnten, den Entschluß gefaßt, alle nur möglichen Anstrengungen über sich selbst zu machen, um eine Trennung von ihm ruhig zu ertragen. Aber jener kalte, ernste Blick, mit welchem er sie angeschaut hatte, als er kam, um ihr von seiner Abreise Mitteilung zu machen, hatte sie verletzt, und er war noch nicht abgereist, als ihre Ruhe auch schon vernichtet war.
In ihrer Einsamkeit dachte sie nochmals über jenen Blick nach, welcher sein Recht auf Freiheit ausdrückte, und sie gelangte, wie stets, zu dem Einen — zu dem Bewußtsein ihrer Erniedrigung. —
„Er hat ein Recht zu reisen, wann und wohin er will; nicht nur zu reisen, sondern auch mich zu verlassen. Er hat alle Rechte, ich gar keine! Aber, wenn er dies auch weiß, darf er doch nicht so handeln. Indessen, was hat er denn begangen? Er hat mich angeblickt, mit kaltem ernstem Ausdruck. Dies ist natürlich etwas Unbestimmbares, nicht Greifbares, aber es war früher nicht, und dieser Blick bedeutet viel,“ dachte sie, „dieser Blick beweist, daß die Abkühlung eintritt!“
Obwohl sie sich überzeugt hatte, daß die Abkühlung eintrete, war es ihr dennoch nicht möglich zu handeln, irgendwie ihre Beziehungen zu ihm zu verändern. Nur allein so wie früher, allein mit Liebe und Anhänglichkeit konnte sie ihn halten. Nur ebenso, wie früher durch Arbeit am Tage und Morphium des Nachts, konnte sie die furchtbaren Gedanken darüber ersticken, was werden sollte, wenn er sie zu lieben einmal aufhören würde.
Allerdings, es gab da noch ein Mittel — nicht ihn zu halten; denn dafür wollte sie nichts anderes, als seine Liebe[304] haben, wohl aber, sich ihm zu nähern, in eine Stellung zu treten, aus der er sie nicht entfernen könnte. Dieses Mittel war die Ehescheidung und die Verheiratung mit ihm. Und sie begann dies jetzt zu wünschen und entschloß sich, zum erstenmal, darein zu willigen, sobald er oder Stefan zu ihr davon sprechen würden.
In solchen Gedanken verbrachte sie ohne ihn fünf Tage, die nämlichen, während deren er abwesend sein mußte.
Die Spaziergänge und Unterhaltungen mit der Fürstin Barbara, die Besuche des Krankenhauses, und hauptsächlich die Lektüre eines Buches nach dem andern, füllten ihre Zeit aus.
Am sechsten Tage aber, als der Kutscher ohne Wronskiy zurückkehrte, fühlte sie, daß sie nicht mehr die Kraft besitze, ihre Gedanken über ihn und darüber, was er dort wohl thun möchte, zu unterdrücken.
In dieser Zeit erkrankte ihr Töchterchen. Anna befaßte sich mit seiner Pflege, aber auch dies zerstreute sie nicht, umsoweniger, als die Krankheit nicht gefährlich war. Wie sie auch litt, sie konnte dieses Kind nicht lieben, und Liebe zu heucheln, das vermochte sie nicht. Gegen Abend dieses Tages fühlte Anna, allein, eine solche Bangnis für Wronskiy, daß sie beschloß, nach der Stadt zu fahren; nachdem sie indessen wohlweislich davon abgekommen war, schrieb sie jenes widerspruchsvolle Billet, welches Wronskiy erhielt, und sandte es, ohne es nochmals durchzulesen, mit einem expressen Boten ab.
Am andern Morgen empfing sie sein Schreiben und bereute nun das ihrige. Voll Schrecken erwartete sie die Wiederholung jenes ernsten Blickes, den er auf sie gerichtet hatte als er abreiste, namentlich, nachdem sie nun erfahren hatte, daß das kleine Mädchen nicht gefährlich krank sei. Aber gleichwohl war sie froh darüber, ihm geschrieben zu haben. Jetzt gestand sich Anna selbst bereits ein, daß er von ihr belästigt werde, daß er mit Bedauern seine Freiheit aufgebe, um zu ihr zurückzukehren — war aber nichtsdestoweniger froh, daß er kam. Mochte er von ihr belästigt werden — wenn er nur hier war, damit sie ihn sähe, und jede seiner Bewegungen kannte.
Sie saß im Salon unter der Lampe mit einem neuen Buch von Taine, und las, dem Geräusch des Windes draußen[305] lauschend und jede Minute die Ankunft der Equipage erwartend. Mehrmals schien ihr, als höre sie das Geräusch von Rädern, doch sie hatte geirrt. Endlich vernahm sie nicht nur dieses, sondern auch den Ruf des Kutschers und das dumpfe Geräusch in der gedeckten Einfahrt. Selbst die Fürstin Barbara, welche Patience gespielt hatte, bestätigte es und Anna, in Aufregung geratend, erhob sich, blieb jetzt aber, anstatt hinabzugehen, wie sie schon früher zweimal gethan hatte. Sie schämte sich plötzlich ihrer Täuschung, aber am meisten Besorgnis empfand sie davor, wie er sie bewillkommen werde. Das Gefühl der Kränkung war schon vergangen; sie fürchtete nur noch den Ausdruck seiner Unzufriedenheit. Ihr fiel ein, daß ihr Kind schon seit zwei Tagen wieder völlig gesund war. Sie war sogar verdrießlich über das Kind, weil es gerade zu der Zeit, als der Brief abgeschickt worden war, sich wieder besserte. Hierauf dachte sie daran, daß er nun hier sei, ganz, mit seinen Händen und Augen. Sie vernahm seine Stimme, und alles vergessend, lief sie ihm voll Freude entgegen.
„Was macht Any?“ sagte er, zaghaft von unten her Anna anblickend, die auf ihn zueilte.
Er setzte sich auf einen Stuhl und der Diener zog ihm die warmen Stiefel aus.
„Es ist nichts; ihr ist besser.“
„Und du?“ sagte er, sich schüttelnd.
Sie ergriff mit ihren beiden Händen seine Hand und zog sie an ihre Taille, ohne die Augen von ihm wegzuwenden.
„Es freut mich sehr,“ sagte er, sie kühl anblickend, ihre Frisur, ihr Kleid, von dem er wußte, daß sie es seinetwegen angelegt hatte.
All das gefiel ihm — aber es hatte ihm schon sovielmal gefallen! Und jener strenge versteinerte Ausdruck, den sie so sehr fürchtete an ihm, blieb auf seinem Antlitz.
„Nun, das freut mich sehr. Bist du auch gesund?“ sagte er, mit dem Tuche den nassen Bart abwischend und ihre Hand küssend.
„Dies ist ja gleichgültig,“ dachte sie, „wenn er nur hier ist, und wenn er hier ist, so kann er nicht anders, wagt er nicht anders, als mich zu lieben.“
Der Abend verging voll Glück und Heiterkeit mit der[306] Fürstin Barbara, welche gegen Wronskiy klagte, daß Anna in seiner Abwesenheit Morphium genommen habe.
„Was ist zu thun? Ich konnte nicht schlafen. Meine Gedanken hinderten mich daran. Wenn er da ist, nehme ich es fast nie; — fast nie.“ —
Er erzählte nun von den Wahlen, und Anna verstand es, ihn dabei mit ihren Fragen auf dasjenige zu bringen, was ihn aufheiterte, auf seinen Erfolg. Sie erzählte ihm von allem, was ihn daheim interessieren konnte, und alle ihre Nachrichten waren nur die freundlichsten.
Spät am Abend indessen, nachdem sie allein waren, wünschte Anna, welche sah, daß sie ihn wieder vollständig beherrschte, den lastenden Eindruck seines Blickes, den er infolge ihres Schreibens auf sie gerichtet hatte, zu verwischen.
„Gestehe, dir war es verdrießlich, das Schreiben zu empfangen und du hast mir nicht geglaubt?“
Sie hatte dies kaum gesagt, als sie auch schon erkannte, daß ihr Wronskiy, so liebevoll für sie er auch gestimmt sein mochte, dies nicht vergeben habe.
„Ja,“ antwortete er. „Der Brief war so befremdend. Bald war Any krank, bald wolltest du selbst kommen.“
„Es war alles wahr.“
„Daran zweifle ich auch gar nicht.“
„Doch; du zweifelst. Du bist mißgestimmt; ich sehe es.“
„Keinen Augenblick. Ich bin nur darüber ungehalten; — es ist ja wahr — du, du scheinst nicht zugeben zu wollen, es gäbe Pflichten“ —
— „Ins Konzert zu fahren“ —
— „Wir wollen nicht darüber sprechen,“ sagte er.
„Warum sollen wir nicht davon sprechen?“ antwortete sie.
„Ich will nur sagen, daß man unumgänglich notwendige Geschäfte haben kann. So muß ich jetzt wieder nach Moskau fahren wegen einer Angelegenheit meines Hauses. — Ach, Anna, weshalb bist du so reizbar? Weißt du denn nicht, daß ich ohne dich nicht leben kann?“
„Wenn es so steht,“ sprach Anna, plötzlich den Ton verändernd, „daß dieses Leben dir lästig wird — ja, du kommst auf einen Tag und fährst wieder fort — so machen es“ —
— „Anna, das ist hart. Ich bin bereit, mein ganzes Leben hinzugeben“ —
Doch sie hörte ihn nicht.
„Wenn du nach Moskau fährst, fahre auch ich mit. Ich bleibe nicht hier. Entweder wir müssen uns trennen, oder miteinander leben!“ —
„Aber du weißt doch, daß dies eben mein einziger Wunsch ist! Doch hierzu“ —
— „Ist die Ehescheidung nötig? Ich werde ihm schreiben! Ich sehe, daß ich nicht so leben kann. Aber ich werde mit dir nach Moskau gehen.“
„Das ist ja, als wolltest du mir drohen? Ich wünsche doch nichts weniger, als mich von dir zu trennen,“ sagte Wronskiy lächelnd.
Nicht nur der kalte, böse Blick eines Menschen, welcher verfolgt wird und verstockt ist, glänzte in seinen Augen auf, als er diese zärtlichen Worte sprach.
Sie sah diesen Blick und erriet richtig seine Bedeutung.
„Wenn es so steht, so ist es ein Unglück!“ sprach dieser Blick. Es war dies nur ein augenblicklicher Eindruck, aber sie hatte ihn nie mehr vergessen können.
Anna schrieb an ihren Mann einen Brief, mit der Bitte um die Ehescheidung, und reiste zu Ende des November, sich von der Fürstin Barbara trennend, welche nach Petersburg fahren mußte, zusammen mit Wronskiy nach Moskau. Täglich eine Antwort von Aleksey Aleksandrowitsch erwartend, und nach dieser die Ehescheidung, hatten sie sich jetzt wie Eheleute zusammen einquartiert.
Die Lewins wohnten bereits im dritten Monat in Moskau. Schon längst war der Zeitpunkt verstrichen, wo nach den sichersten Berechnungen der Leute, welche sich auf die Sache verstanden, Kity niederkommen mußte; aber sie ging immer noch und an nichts war bemerkbar, daß die Zeit jetzt näher gekommen sei, als sie zwei Monate vorher gewesen.
Der Arzt, wie die Wehfrau, Dolly und die Mutter, und besonders Lewin, vermochten nicht ohne Schrecken an das Kommende zu denken, und begannen Ungeduld und Unruhe zu empfinden; allein Kity fühlte sich vollkommen ruhig und glücklich.
Sie fühlte jetzt deutlich in sich das Entstehen einer neuen Empfindung von Liebe zu dem künftigen, für sie zum Teil schon vorhandenen Kinde, und lauschte mit Wonne diesem Gefühl. Das Kind war jetzt nicht mehr völlig ein Teil von ihr selbst, sondern lebte zeitweilig schon sein eigenes, von ihr unabhängiges Leben. Oft war ihr dies schmerzhaft, aber gleichzeitig hätte sie auch darüber lachen mögen in seltsamer, ungekannter Freude.
Alle, die sie liebte, waren bei ihr, und alle waren so gut mit ihr, bemühten sich so sehr um sie, in allem bot sich ihr so völlig nur eine große Annehmlichkeit, daß sie sich, wenn sie nicht gewußt und gefühlt hätte, daß dies bald enden werde, kein besseres und angenehmeres Leben gewünscht haben würde.
Eines indessen, was ihr den Reiz an diesem Leben benahm, war, daß ihr Gatte nicht mehr der nämliche war, als der er sie vorher geliebt hatte, und der er auf dem Dorfe gewesen war.
Sie liebte seinen ruhigen, freundlichen und entgegenkommenden[309] Ton auf dem Lande. In der Stadt hingegen schien er beständig in Unruhe und auf der Hut zu sein, als fürchte er, es möchte ihn, oder hauptsächlich sie jemand beleidigen.
Auf dem Dorfe hatte er, offenbar wohl wissend, daß er dort an seinem Platze sei, nie gehastet, war er nie in Anspruch genommen gewesen. Hier aber, in der Stadt, war er beständig in geschäftiger Eile, als wolle er Etwas nicht verfehlen, und doch hatte er gar nichts zu thun.
Sie hatte Mitleid mit ihm; daß er den anderen nicht bemitleidenswert erschien, wußte sie; im Gegenteil, wenn Kity in Gesellschaft auf ihn blickte, wie man bisweilen auf einen geliebten Menschen schaut, im Bemühen, ihn gleichsam wie einen Fremden anzusehen, um den Eindruck in sich selbst bestimmen zu können, welchen derselbe auf die anderen macht, sah sie zum Schrecken für ihre Eifersucht, daß er nicht nur nicht kläglich, sondern sehr anziehend in seiner etwas altertümelnden Rechtschaffenheit, seiner ängstlichen Höflichkeit gegen die Frauen, mit seiner kraftvollen Erscheinung und dem eigenartigen, wie ihr schien ausdrucksvollen Gesicht. Doch sie betrachtete ihn nicht von außen, sondern von innen nach außen; sie sah, daß er hier nicht wahrhaftig war; anders vermochte sie sich seinen Zustand nicht zu erklären.
Bisweilen machte sie ihm innerlich Vorwürfe darüber, daß er nicht verstehe, in der Stadt zu leben; bisweilen räumte sie sich ein, daß es ihm in der That schwer werde, sein Leben hier so einzurichten, daß er damit zufrieden sein konnte.
Und in der That, was sollte er thun? Karten zu spielen liebte er nicht; in den Klub ging er nicht; mit Lebemännern nach Art Oblonskiys umzugehen — was dies bedeutete, hatte sie jetzt schon kennen gelernt — bedeutete zu trinken und nach dem Trinken wer weiß wohin zu fahren. Sie vermochte sich nicht ohne Schrecken zu denken, wohin bei solchen Fällen die Herren sich begeben möchten. Sollte er in Gesellschaft gehen? Sie wußte doch, daß man hierzu Vergnügen in der Annäherung an junge Damen finden müsse, und konnte es daher nicht wünschen. Sollte er daheim sitzen bleiben bei ihr, der Mutter und den Schwestern? So angenehm und unterhaltend ihr auch ein und dieselben Gespräche — der alte Fürst nannte[310] sie „Alina-Nadina“ unter den Schwestern — waren, so wußte sie doch, daß ihm das langweilig werden müsse. Was blieb ihm nun zu thun übrig? Sollte er fortfahren, sein Buch zu schreiben? Er hatte schon versucht, dies zu thun, und sich in die Bibliothek begeben, um sich mit Excerpten und Korrekturen für sein Werk zu beschäftigen, je mehr er indessen, wie er zu ihr sagte, nichts that, um so weniger blieb ihm Zeit übrig. Außerdem aber beklagte er sich bei ihr, daß er hier allzuviel über sein Buch gesprochen habe, daß sich infolge dessen alle Ideen über dasselbe in ihm verwirrten und man das Interesse daran verloren habe.
Ein Vorzug dieses Stadtaufenthalts war der, daß es hier unter ihnen nie mehr Zwiste gab. Mochte dies daher kommen, daß die Bedingungen des Stadtlebens andere waren, oder davon, daß sie beide vorsichtiger und verständiger geworden waren in dieser Beziehung; genug, in Moskau gab es keine Zwiste aus Eifersucht, die sie so gefürchtet hatten, als sie nach der Stadt übersiedelten.
In dieser Beziehung ereignete sich sogar ein für sie beide sehr wichtiges Vorkommnis — die Begegnung Kitys mit Wronskiy. — Eine alte Fürstin, Marja Borisowna, eine Pathe Kitys, die diese stets sehr lieb gehabt hatte, wünschte Kity unbedingt zu sehen. Kity, welche in ihrem Zustande nirgendshin ausfuhr, kam mit ihrem Vater zu der verehrten alten Dame und begegnete bei ihr Wronskiy.
Sie konnte sich bei dieser Begegnung nur damit einen Vorwurf machen, daß ihr für einen Augenblick, als sie die ihr in dem Waffenrock einst so bekannt gewesenen Züge erkannte, der Atem gestockt hatte, das Blut zum Herzen geströmt war, und eine brennende Röte — sie fühlte dies — auf ihr Antlitz trat. Doch dies währte nur einige Sekunden. Ihr Vater hatte, absichtlich laut zu Wronskiy sprechend, sein Gespräch noch nicht geendet, als sie sich schon völlig vorbereitet fühlte, Wronskiy anschauen zu können, und mit ihm, wenn es nötig werden sollte, ganz so zu sprechen, wie sie mit der Fürstin Marja Borisowna sprach: und zwar in einer Weise, daß alles bis auf den geringsten Accent, das geringste Lächeln, von ihrem Gatten gutgeheißen werden konnte, dessen[311] unsichtbare Gegenwart sie in dieser Minute gleichsam über sich fühlte.
Sie sprach mit ihm einige Worte, lächelte sogar ruhig bei seinem Scherz über die Wahlen, die er „unser Parlament“ nannte. — Man mußte hier lächeln, um zu beweisen, daß sie den Scherz verstanden hatte. — Doch sofort wandte sie sich wieder zur Fürstin Marja Borisowna und blickte nicht ein einziges Mal mehr nach ihm, bis er aufstand, um sich zu verabschieden. Da erst blickte sie ihn wieder an, augenscheinlich aber nur deshalb, weil es unhöflich war, einen Menschen nicht anzusehen, wenn er grüßt.
Sie war ihrem Vater dankbar dafür, daß er nichts von der Begegnung mit Wronskiy gesagt hatte, doch sie sah an seiner eigenen Weichheit nach der Visite, während des üblichen Spazierganges, daß er mit ihr zufrieden gewesen war. Auch sie selbst war zufrieden mit sich. Sie hatte keinesfalls erwartet, daß sich in ihr soviel Kraft finden würde, in der Tiefe ihres Herzens alle Erinnerungen an eine frühere Empfindung für Wronskiy zu unterdrücken, und diesem gegenüber nicht nur vollständig gleichmütig und ruhig zu erscheinen, sondern es auch wirklich zu sein.
Lewin errötete bei weitem mehr als Kity, als diese ihm erzählte, daß sie Wronskiy bei der Fürstin Marja Borisowna begegnet sei. Es kam ihr sehr schwer an, ihm dies zu sagen, doch noch schwerer, über die Einzelheiten dieser Begegnung weiter sprechen zu müssen, da er sie nicht frug, sondern sie nur, sich verfinsternd anblickte.
„Es thut mir sehr leid, daß du nicht dabei warst,“ sagte sie, „nicht, weil du nicht im Zimmer warst — ich würde nicht so natürlich geblieben sein in deiner Gegenwart — aber ich erröte jetzt weit mehr, weit, weit mehr,“ sagte sie, sich bis zu Thränen verfärbend, „ach, daß du nicht durch einen Spalt schauen konntest.“
Ihre ehrlichen Augen sagten Lewin, daß sie mit sich zufrieden gewesen war, und er beruhigte sich sogleich, obwohl sie errötet war, und begann nun, Kity selbst zu fragen, was diese ja nur wünschte. Nachdem er alles erfahren hatte, selbst bis auf die Einzelheit, daß sie nur in der ersten Sekunde nicht umhin gekonnt habe, zu erröten, sowie, daß ihr dann so frei[312] und leicht zu Mute geworden sei, wie dem ersten besten Begegnenden gegenüber, wurde Lewin wieder vollständig heiter und sagte, daß er sich sehr darüber freue, und jetzt nicht mehr so thöricht handeln wolle, wie bei den Wahlen, sondern sich bemühen, bei der ersten Begegnung mit Wronskiy so liebenswürdig als möglich zu sein.
„Es ist so peinlich, denken zu müssen, daß man einen Menschen als Feind besitzt, mit dem zusammentreffen zu müssen, uns schwer wird,“ sagte Lewin. „Ich bin sehr, sehr froh darüber.“
„So fahre also zu den Bolj,“ sagte Kity zu ihrem Gatten, als dieser um elf Uhr, bevor er von Hause wegfuhr, zu ihr kam. „Ich weiß, daß du im Klub essen wirst, Papa hat dich eingeschrieben. Was machst du denn aber den Vormittag?“
„Ich will nur zu Katawasoff,“ antwortete Lewin.
„Weshalb so früh?“
„Er hat mir versprochen, mich mit Metroff bekannt zu machen. Ich will mit diesem über mein Werk sprechen; er ist ein bekannter Gelehrter in Petersburg,“ sagte Lewin.
„Ach, derselbe, dessen Abhandlung du so lobtest? Nun, und dann?“ sagte Kity.
„Will ich, vielleicht, noch aufs Gericht, in Sachen meiner Schwester.“
„Und ins Konzert?“ frug sie.
„Was soll ich allein dorthin!“
„Nein, fahre nur; dort hat man jetzt Novitäten. Sie interessierten dich doch so. Ich würde sicher hinfahren.“
„Nun, jedenfalls komme ich vor dem Essen nach Haus,“ sagte er, nach der Uhr blickend.
„Zieh deinen Gesellschaftsrock an, damit du direkt zur Gräfin Bolj fahren kannst.“
„Ist denn das so unbedingt notwendig?“
„Unbedingt! Er ist bei uns gewesen. Und was kostet es dich? Du fährst hin, setzest dich, sprichst fünf Minuten über das Wetter, stehst wieder auf und fährst fort.“
„Du glaubst nicht; ich bin dessen so entwöhnt, daß mir[313] selbst dies schwer wird. Wie wird man es aufnehmen? Kommt da ein fremder Mensch zu ihnen, setzt sich, bleibt ohne jeden Grund länger sitzen, stört die Familie, bringt sich aus der Stimmung, und geht dann wieder!“ —
Kity lachte.
„Aber du hast doch als Junggeselle noch Visiten gemacht?“ sagte sie.
„Allerdings; es ist mir aber stets unangenehm gewesen; jetzt bin ich so davon entwöhnt, daß ich, bei Gott, lieber zwei Tage nicht essen will, als diese Visite machen. So schwer fällt sie mir. Mir scheint stets, als ob man verletzt sei und sagen wolle: ‚Weshalb bist du denn eigentlich ohne Grund hierhergekommen?‘“ —
„O nein; man fühlt sich nicht verletzt. Dafür bürge ich dir schon,“ sagte Kity, ihm lachend ins Gesicht schauend. Sie nahm seine Hand, „nun leb' wohl — fahre hin, ich bitte dich.“ Er wollte schon gehen, nachdem er ihre Hand geküßt hatte, als sie ihn zurückhielt. „Mein Kostja, du weißt wohl, daß ich nur noch fünfzig Rubel habe?“
„Nun, dann will ich zur Bank fahren, um dort Geld zu erheben. Wieviel brauchst du denn?“ sagte er mit einem ihr bekannten Ausdruck von Mißvergnügen.
„Nein doch; warte.“ Sie hielt ihn an der Hand zurück. „Sprechen wir darüber; dies beunruhigt mich. Ich, glaube doch, gebe nichts Überflüssiges aus, und doch geht das Geld nur so dahin. Wir machen Etwas nicht richtig.“
„Keineswegs,“ sagte er, sich räuspernd und von unten her auf sie blickend. Dieses Räuspern kannte sie. Es war das Zeichen hoher Unzufriedenheit bei ihm, nicht über sie, sondern über sich selbst. Er war in der That unzufrieden, doch nicht darüber, daß viel Geld gebraucht wurde, sondern daß man ihn an das erinnerte, was er in der Erkenntnis, daß Etwas nicht in Ordnung sei, zu vergessen wünschte. „Ich habe Sokoloff befohlen, den Weizen zu verkaufen und das Geld für die Mühle im voraus in Empfang zu nehmen. Geld wird jedenfalls kommen.“
„Ja, aber ich fürchte, daß überhaupt viel“ —
„Keineswegs, keineswegs,“ wiederholte er — „doch leb' wohl jetzt, Herzchen.“
„Nicht doch; ich beklage es bisweilen, daß ich auf Mama gehört habe. Wie hübsch wäre es auf dem Dorfe gewesen! Und überdies quäle ich euch alle noch und wir verschwenden Geld“ —
„Durchaus nicht, durchaus nicht. Es ist noch nicht ein einziges Mal, seit ich verheiratet bin, der Fall gewesen, daß ich gesagt hätte, es wäre anders besser, als so, wie es eben ist“ —
„Ist das wahr?“ sagte sie, ihm in die Augen blickend.
Er sprach dies, ohne etwas dabei zu denken, und nur um sie zu beruhigen. Als er aber, sie anblickend, bemerkte, daß diese ehrlichen, lieben Augen fragend auf ihn gerichtet waren, da wiederholte er das Nämliche aus ganzer Seele. „Ich vergesse sie in der That,“ dachte er, und rief sich in das Gedächtnis zurück, was sie beide so bald erwartete.
„Wird es denn bald? Wie fühlst du dich?“ flüsterte er, sie bei beiden Händen nehmend.
„Ich habe schon sovielmal daran gedacht, daß ich jetzt nichts mehr denke und nichts weiß.“
„Hast du nicht Angst?“
Sie lächelte geringschätzig.
„Nicht die Idee,“ sagte sie.
„Wenn also Etwas vorkommen sollte, ich bin bei Katawasoff.“
„Nein; es wird nichts vorkommen; denke auch du nicht daran. Ich werde mit Papa auf den Boulevard fahren; wir wollen zu Dolly; vor dem Essen erwarte ich dich. — Ach ja! Du weißt wohl, daß die Lage Dollys entschieden unhaltbar wird? Sie ist über und über verschuldet, und Geld hat sie nicht. Ich habe gestern mit Mama und mit Arseniy,“ — so nannte sie den Gatten ihrer Schwester, der Lwowa — „gesprochen, und wir haben beschlossen, dich und ihn zu Stefan zu schicken. So ist es entschieden nicht mehr möglich. Mit Papa läßt sich darüber nicht sprechen, doch wenn ihr beide“ —
„Aber was können wir thun?“ frug Lewin.
„Du wirst doch wohl zu Arseniy gehen, sprich mit ihm; er wird dir sagen, was wir beschlossen haben.“
„Nun, mit Arseniy bin ich im voraus in allem einverstanden. Ich werde also zu ihm fahren. Sollten sie gerade[315] ins Konzert gehen, so werde ich auch mit Nataly dorthin fahren. Jetzt leb' wohl.“
Auf der Treppe hielt Lewin der alte, noch unverheiratet lebende Diener Kusma zurück, welcher den Haushalt in der Stadt verwaltete.
„Der Krasavtschik,“ dies war das Handpferd, welches mit vom Lande hereingebracht worden war, „ist beschlagen worden, er hinkt aber immer noch,“ berichtete er, „was befehlt ihr nun?“
In der ersten Zeit des Aufenthalts in Moskau hatten Lewin die vom Land mit hereingebrachten Pferde beschäftigt; er hatte sich auf diesem Gebiet so gut und billig wie möglich einrichten wollen, allein es stellte sich heraus, daß ihm seine Pferde teurer wurden, als die der Mietkutscher, und Mietkutscher nahm man noch obendrein.
„Laß ihn zum Roßarzt bringen, vielleicht ist eine Quetschung vorhanden.“
„Nun, und für den Wagen Katharina Aleksandrownas?“ frug Kusma.
Lewin wunderte sich jetzt nicht mehr, wie während der ersten Zeit seines Lebens in Moskau, daß zur Fahrt von der Wosdwishenka nach den Siwzij Wrashki ein Paar starker Pferde in den schweren Wagen hatten gespannt werden müssen, um diesen durch den kotigen Schnee ein viertel Werst weit zu bringen, worauf sie vier Stunden standen und daß er dafür fünf Rubel zahlte. Jetzt erschien ihm das schon natürlich.
„Laß den Mietkutscher ein Paar Pferde für unseren Wagen bringen,“ sagte er.
„Zu Diensten.“
Nachdem Lewin auf diese Weise, dank den Verhältnissen der Stadt, einfach und leicht eine Schwierigkeit geordnet hatte, welche auf dem Lande soviel überflüssige Mühe und Aufmerksamkeit erfordert hätte, ging er zur Freitreppe hinaus und rief einen Mietkutscher; setzte sich in den Wagen und fuhr nach der Nikitskaja. Unterwegs dachte er nicht mehr an Geld, sondern überlegte, wie er sich mit dem Petersburger Gelehrten, der sich mit Socialwissenschaft beschäftigte, bekannt machen und mit ihm über sein Buch sprechen wollte.
Nur in der allerersten Zeit hatten Lewin in Moskau jene, dem Landbewohner befremdlichen, eiteln und doch unvermeidlichen[316] Geldausgaben überrascht, die von allen Seiten von ihm gefordert wurden. Jetzt hatte er sich jedoch schon an sie gewöhnt. Es ging ihm in dieser Beziehung so, wie es dem Trinker gehen soll: das erste Glas ging schwer, das zweite leichter — nach dem dritten aber ging es wie im Vogelschwarm.
Als Lewin das erste Hundertrubelpapier zum Ankauf der Livree eines Dieners und eines Portiers wechselte, stellte er sich unwillkürlich vor, daß diese Livreen, die niemand etwas nützten, doch unumgänglich erforderlich waren, darnach zu urteilen, wie sich die Fürstin und Kity verwunderten bei der Andeutung, man könne auch ohne Livree auskommen — daß diese Livreen ihm zwei Sommerarbeiter, das heißt, einige dreihundert Arbeitstage von der Osterwoche bis zu Fastnachten kosteten, von denen jeder voll schwerer Arbeit vom frühen Morgen bis zum späten Abend war — und dieses Hundertrubelpapier ging ihm noch schwer vom Herzen. Das folgende indessen, zum Einkauf von Lebensmitteln zu einem Essen das er seinen Verwandten gab, das ihn auf achtundzwanzig Rubel kam, ging, obwohl es in Lewin die Erinnerung daran wachrief, daß achtundzwanzig Rubel doch neun Tschetwert Hafer waren, welcher unter Schweiß und Stöhnen gemäht, gebunden, gedroschen, geworfelt, wieder ausgesät oder aufgeschüttet wurde, schon leichter fort. Jetzt aber riefen die gewechselten Scheine schon gar nicht mehr derartige Erwägungen hervor, sondern flogen wie kleine Vögel davon. Ob die Mühe, welche auf die Erwerbung des Geldes verwendet worden war, dem Vergnügen, welches der dafür erkaufte Gegenstand gewährte, wirklich entsprach, diese Erwägung war schon lange verloren gegangen. Die wirtschaftliche Erwägung, daß es einen bestimmten Preis giebt, unter welchem man das Getreide nicht verkaufen kann, war gleichfalls vergessen. Das Getreide, auf dessen Preis er so lange gehalten hatte, wurde für fünfzig Kopeken der Tschetwert billiger verkauft, als man einen Monat vorher dafür gegeben hatte. Selbst die Erwägung, daß man bei derartigen Ausgaben unmöglich ein ganzes Jahr leben könne, ohne Schulden zu machen, selbst diese Erwägung hatte keine Bedeutung mehr für ihn. Nur Eines war nötig; man mußte Geld auf der Bank haben, ohne daß gefragt wurde,[317] woher es kam, sodaß man stets wußte, wofür man den nächsten Tag das Rindfleisch kaufen könnte.
Er hatte nunmehr auch dies bei sich beobachtet: Stets hatte bei ihm Geld in der Bank gelegen. Jetzt aber war es dort ausgegangen und er wußte nicht recht, woher nun welches nehmen. Und dies versetzte ihn, als Kity mit ihm über das Geld sprach, einen Augenblick in Verlegenheit. Dabei aber hatte er auch keine Zeit, darüber nachzudenken.
Er fuhr dahin, an Katawasoff und die bevorstehende Bekanntschaft mit Metroff denkend.
Lewin war mit seiner Ankunft hier wiederum eng mit seinem ehemaligen Universitätsfreunde, dem Professor Katawasoff in Verkehr getreten, den er seit der Zeit seiner Verheiratung nicht wieder gesehen hatte.
Katawasoff war ihm angenehm durch die Klarheit und Einfachheit seiner Weltanschauung. Lewin glaubte, daß die Klarheit dieser Weltanschauung Katawasoffs aus der Armut von dessen Natur hervorgegangen sei, Katawasoff hingegen meinte, daß die Inkonsequenz in der Denkweise Lewins aus dem Mangel an geistiger Disciplin bei diesem hervorgehe; aber die Klarheit Katawasoffs war Lewin willkommen, und der Überfluß der undisciplinierten Gedanken Lewins war Katawasoff lieb; sie trafen sich gern und debattierten dann.
Lewin las Katawasoff einige Stellen aus seinem Werke vor und sie gefielen diesem. Als gestern Katawasoff Lewin im Kolleg getroffen hatte, hatte er zu ihm gesagt, daß der bekannte Metroff, dessen Abhandlung Lewin so gut gefallen hatte, sich in Moskau befinde, und sehr interessiert sei von dem, was ihm Katawasoff über die Arbeit Lewins mitgeteilt hatte, daß Metroff morgen, um elf Uhr bei ihm, und sehr erfreut sein würde, mit ihm bekannt zu werden.
„Ihr lernt entschieden immer besser aussehen, Verehrtester; es macht einem Freude, Euch zu sehen,“ sagte Katawasoff, Lewin im kleinen Salon entgegentretend. „Ich hörte die Glocke und dachte, nicht möglich, daß er zur rechten Zeit käme — nun, wie steht es mit den Tschernagorzen? Nach der Art des Krieges“ —
„Nun?“ frug Lewin.
Katawasoff teilte ihm in kurzen Worten die letzte Nachricht mit und machte Lewin, in das Kabinett eintretend, mit einem kleinen, feisten Manne von sehr angenehmem Äußern bekannt. Dies war Metroff.
Das Gespräch drehte sich kurze Zeit um Politik, und darum, wie man in den höchsten Sphären Petersburgs die jüngsten Ereignisse betrachte.
Metroff teilte ihm aus zuverlässiger Quelle bekannte Worte mit, die bei dieser Gelegenheit vom Zaren und einem der Minister geäußert worden sein sollten.
Katawasoff hatte auch als verbürgt erfahren, daß der Zar etwas ganz anderes gesagt habe. Lewin bemühte sich, eine Situation herauszuklügeln, nach welcher diese wie jene Worte gesagt worden sein konnten, und das Gespräch über den Gegenstand wurde abgebrochen.
„Der Herr hat auch ein Buch bald fertig geschrieben über die natürlichen Verhältnisse des Arbeiters in Bezug auf den Boden,“ sagte Katawasoff, „ich bin zwar nicht Spezialist, doch hat es mir als Naturwissenschaftler gefallen, daß er die Menschheit nicht als etwas außerhalb der zoologischen Gesetze stehendes auffaßt, sondern im Gegenteil die Abhängigkeit derselben von ihrer Umgebung erkennt und in dieser Abhängigkeit die Gesetze ihrer Entwicklung erforscht.“
„Das ist sehr interessant,“ sagte Metroff.
„Ich habe eigentlich nur ein Buch über die Landwirtschaft zu schreiben begonnen, bin aber unwillkürlich, indem ich mich mit dem wichtigsten Instrument der Landwirtschaft, dem Arbeiter, beschäftigte,“ sagte Lewin errötend, „zu vollständig unerwarteten Resultaten gekommen.“
Und Lewin begann nun vorsichtig, als taste er nach Boden, seine Anschauung darzulegen.
Er wußte, daß Metroff eine Abhandlung gegen die allgemein herrschende politisch-ökonomische Wissenschaft geschrieben hatte, wußte aber nicht, bis zu welchem Grade er hoffen konnte, auf Teilnahme für seine neuen Anschauungen bei ihm zu stoßen, und konnte dies auch nicht an dem klugen und ruhigen Gesicht des Gelehrten erraten.
„Aber worin seht Ihr die besonderen Eigenschaften des[319] russischen Arbeiters?“ sagte Metroff, „in seinen zoologischen Eigenschaften, sozusagen, oder in den Verhältnissen, in denen er sich befindet?“
Lewin sah, daß in dieser Frage schon ein Gedanke ausgesprochen war, mit welchem er nicht in Einklang stand, doch fuhr er fort, seine Idee zu entwickeln, welche darin bestand, daß der russische Arbeiter einen im Vergleich zu dem der Arbeiter anderer Völker vollkommen eigenartigen Blick für sein Land besitze, und beeilte sich, um seine Behauptung zu stützen, hinzuzufügen, daß nach seiner Meinung, dieser Blick des russischen Volkes herrühre aus dem Bewußtsein seines Berufes, die ungeheuren, noch unbebauten Gegenden im Osten bevölkern zu müssen.
„Es ist leicht möglich, in einen Irrtum zu verfallen, wenn man einen Schluß auf die allgemeine Bestimmung eines Volkes macht,“ sagte Metroff, Lewin unterbrechend. „Die Lage des Arbeiters wird stets von dessen Beziehungen zu Boden und Kapital abhängen.“
Ohne Lewin noch zu gestatten, seine Idee ganz auszusprechen, begann nun Metroff, ihm die Eigenart seiner Lehre zu erklären. Worin die Eigenart dieser Lehre bestand, begriff Lewin nicht, weil er sich gar nicht bemühte, sie zu begreifen; er sah, daß Metroff, ebenso wie die anderen, trotz seiner Abhandlung, in welcher die Wissenschaft der Nationalökonomen gestürzt wurde, auf die Situation des russischen Arbeiters doch nur vom Gesichtspunkt des Kapitals des Arbeiterlohnes und der Rente blickte.
Obwohl er nun zugestehen mußte, daß in dem östlichen, dem größten Teile Rußlands, die Rente noch gleich Null war, daß der Arbeitslohn für neun Zehntel der achtzig Millionen Einwohner nur die Ernährung in sich selbst ausdrückte, und ein Kapital noch nicht anders vorhanden sei, als in Gestalt von primitivsten Hilfsmitteln, so blickte er doch lediglich von diesem Standpunkte aus auf die gesamten Arbeiter, obwohl er in vielem gleichwohl nicht mit den Nationalökonomen übereinstimmte, und hielt seine neue Theorie vom Arbeitslohn aufrecht, welche er Lewin entwickelte.
Dieser hörte nur ungern zu und opponierte anfangs. Er wollte Metroff unterbrechen, um ihm seine Idee zu äußern,[320] die nach seiner Meinung eine weitere Erklärung überflüssig machte, aber nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie beide in so verschiedenem Grade die Sache betrachteten, daß niemals Einer den Anderen verstehen würde, opponierte er nicht mehr, und hörte nur noch zu.
Ungeachtet dessen, das für ihn jetzt schon gar nicht mehr interessant war, was Metroff sprach, verspürte er doch ein gewisses Vergnügen, indem er ihm zuhörte. Seiner Eigenliebe wurde dadurch geschmeichelt, daß ihm ein so gelehrter Mann so gern, mit so großer Aufmerksamkeit und solchem Zutrauen zu seiner Kenntnis über den Gegenstand, bisweilen mit einem einzigen Wink auf eine ganze Seite der Sache deutend, seine Gedanken aussprach.
Er schrieb dies seiner Würde zu, ohne zu wissen, daß Metroff in der Unterhaltung mit allen seinen Bekannten besonders gern von jenem Gegenstande mit jedem Menschen, der ihm neu bekannt wurde, sprach; daß er überhaupt gern mit jedermann über eine Sache, die ihn beschäftigte und ihm selbst noch unklar war, redete.
„Doch ich werde mich verspätigen,“ sagte Katawasoff, nach der Uhr blickend, nachdem Metroff seine Darlegung soeben beendet hatte. „Ja, es ist heute Sitzung in der Gesellschaft der Freunde zum Gedächtnis des fünfzigjährigen Jubiläums Swintitschs,“ antwortete er auf Lewins Frage. „Ich habe mich an Peter Iwanowitsch gemacht, und habe versprochen, über seine Arbeiten in der Zoologie zu lesen. Kommt mit mir, es ist sehr interessant.“
„In der That, es ist Zeit,“ sagte Metroff. „Kommt mit uns, und, wenn Ihr wollt, von da aus, mit zu mir. Ich wünschte sehr, von Eurer Arbeit weiter zu hören.“
„Nein; das wird nicht gehen; sie ist noch unvollendet. Aber in die Sitzung komme ich sehr gern mit.“
„Wie, Verehrtester, habt Ihr gehört? Er gab eine ganz eigene Meinung zum besten,“ sagte Katawasoff, im Nebenzimmer den Frack anlegend.
Es begann ein Gespräch über die Universitätsfrage. Die Universitätsfrage bildete einen sehr wichtigen Gegenstand während dieses Winters in Moskau. Drei alte Professoren im[321] Senat hatten die Meinungen jüngerer nicht acceptiert; und diese vertraten nun eine eigene Ansicht.
Diese Ansicht war entsetzlich nach dem Urteile der Einen, sie war sehr einfach und richtig nach dem der Anderen, und die Professoren hatten sich in zwei Lager gespalten.
Die Einen, zu denen Katawasoff gehörte, sahen auf der gegnerischen Seite niedrige Verleumdung und Betrug; die Anderen Kinderei und Mißachtung der Autorität.
Lewin hatte, obwohl er dem Universitätsverband nicht angehörte, schon mehrmals während seines Aufenthalts in Moskau von dieser Angelegenheit gehört und darüber gesprochen, und sich in dieser Beziehung seine eigene Meinung gebildet. Er nahm Teil an dem Gespräch, welches noch auf der Straße fortgesetzt wurde, als alle drei nach dem Gebäude der alten Universität gingen.
Die Sitzung hatte schon begonnen. An einem Tische, welcher mit Tuch gedeckt war und hinter dem sich Katawasoff und Metroff niederließen, saßen sechs Herren, und einer von ihnen, der sich dicht über eine Handschrift beugte, las etwas.
Lewin setzte sich auf einen der leeren Stühle, welche um den Tisch herum standen, und frug flüsternd einen dort sitzenden Studenten, was man lese.
Mit einem mißvergnügten Blick auf Lewin antwortete dieser:
„Eine Biographie ist es.“
Obwohl sich nun Lewin für die Biographie eines Gelehrten gerade nicht interessierte, hörte er doch unwillkürlich zu und erfuhr so manches Interessante und Neue über das Leben des berühmten Gelehrten.
Als der Lektor geendet hatte, dankte ihm der Vorsitzende und las die ihm für das Jubiläum eingesandten Verse des Dichters Ment vor, nebst einigen Worten des Dankes für diesen.
Darauf las Katawasoff mit seiner lauten, schreienden Stimme seine Schrift über die Gelehrtenthätigkeit des Jubilars.
Nachdem Katawasoff geendet hatte, blickte Lewin auf die Uhr und gewahrte, daß es schon zwei Uhr sei; er überlegte, daß er bis zum Konzert Metroff sein Werk nicht werde vorlesen können, und verspürte dazu auch gar keine Lust.
Während der Zeit des Lesens hatte er nur an die stattgehabte[322] Unterredung gedacht, und es war ihm jetzt klar, daß, obwohl vielleicht auch die Ideen Metroffs ihre Bedeutung hatten, seine Ideen doch ebenfalls eine solche besaßen, und aufklären und zu Etwas führen könnten, wofern nur ein jeder für sich auf dem auserwählten Wege arbeite, während aus einer Veränderung dieser beiden Ideen nichts hervorgehen könne.
Nachdem sich Lewin entschlossen hatte, die Einladung Metroffs abzulehnen, begab er sich beim Schluß der Sitzung zu diesem hin. Metroff machte Lewin mit dem Präsidenten bekannt, mit welchem er über politische Neuigkeiten sprach. Hierbei erzählte Metroff dem Präsidenten das Nämliche, was er Lewin erzählt hatte, während Lewin die gleichen Bemerkungen machte, die er schon heute Vormittag geäußert hatte; zur Abwechslung indessen sprach er auch seine eigene Meinung mit aus, die ihm gerade einfiel. Hierauf begann wiederum das Gespräch über die Universitätsfrage. Da Lewin indessen alles das schon gehört hatte, beeilte er sich, Metroff zu sagen, er bedaure, von seiner Einladung nicht Gebrauch machen zu können, empfahl sich und fuhr zu Lwoff.
Lwoff, der mit Nataly, der Schwester Kitys verheiratet war, hatte sein ganzes Leben in den Residenzen und im Auslande zugebracht, wo er auch erzogen worden war und als Diplomat gedient hatte.
Im vergangenen Jahre hatte er die diplomatische Carriere aufgegeben, nicht infolge einer Unannehmlichkeit — er hatte niemals mit jemand Unannehmlichkeiten gehabt — und war in das Hofgericht nach Moskau übergetreten, um seinen beiden Söhnen eine bessere Erziehung angedeihen zu lassen.
Trotz des schärfsten Gegensatzes in den Gewohnheiten und Anschauungen, sowie darin, daß Lwoff auch älter als Lewin war, waren beide in diesem Winter in engen Verkehr miteinander getreten und hatten sich gegenseitig liebgewonnen.
Lwoff befand sich daheim, und Lewin trat ohne Anmeldung bei ihm ein. Lwoff war im Hausrock mit Gürtel, und saß in Halbschuhen von sämischem Leder in einem Lehnstuhl, durch das Pincenez mit blauen Gläsern ein Buch lesend,[323] welches auf einem Lesepult lag, während er, auf der Hut vor der abfallenden Asche, mit der schönen Hand eine bis zur Hälfte aufgerauchte Cigarre hielt.
Sein schönes, feines und jugendliches Gesicht, welchem die lockigen, glänzenden silbernen Haare noch mehr den Ausdruck angestammten Adels verliehen, erglänzte von einem Lächeln, als er Lewin erblickte.
„Ausgezeichnet! Ich wollte schon zu Euch schicken! Nun, was macht Kity! Setzt Euch hierher, da ist es behaglicher,“ er stand auf und bewegte einen Rollstuhl herbei.
„Habt Ihr schon das letzte Cirkular im ‚Journal de St. Petersbourg‘ gelesen? Ich finde es vortrefflich,“ sagte er mit etwas französischem Accent.
Lewin teilte ihm mit, was er von Katawasoff vernommen hatte, und was man in Petersburg spräche, und berichtete, nachdem er über die Politik gesprochen hatte, von seiner Bekanntschaft mit Metroff und seiner Exkursion in die Sitzung. Lwoff interessierte dies sehr.
„Ich beneide Euch, daß Ihr Zutritt zu dieser interessanten Gelehrtenwelt habt,“ sagte er, und ging dann, wie gewöhnlich sogleich zu der ihm bequemeren französischen Sprache über. „Ich habe allerdings leider auch keine Zeit; denn mein Dienst sowohl, als die Beschäftigung mit meinen Kindern beraubt mich derselben; dann aber scheue ich mich nicht, zu bekennen, daß meine Bildung allzu mangelhaft ist.“
„Das glaube ich nicht,“ antwortete Lewin lächelnd, und, wie gewöhnlich, voll Erbarmen mit dieser niedrigen Meinung von sich selbst, die durchaus nicht dem Wunsche, bescheiden zu erscheinen oder zu sein, entsprang, sondern vollständig aufrichtig war.
„Ach, gewiß doch! Ich fühle es jetzt, wie wenig gebildet ich bin. Selbst zur Erziehung der Kinder muß ich viel wieder an meinem Gedächtnis auffrischen, ja geradezu lernen! Denn trotzdem, daß Lehrer da sind, muß auch ein Aufseher da sein, sowie in Eurer Ökonomie Arbeiter nötig sind nebst einem Inspektor. Da lese ich eben“ — er zeigte auf die Grammatik Buslajeffs, welche auf dem Lesepult lag, „das fordert man von Mischa, und es ist doch so schwierig — erklärt mir dies. Hier sagt er“ —
Lewin wollte ihm erklären, daß man dies nicht verstehen könne, sondern lernen müsse, doch Lwoff stimmte dem nicht bei.
„Ihr lacht darüber!“ sagte er.
„Im Gegenteil, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie ich, im Hinblick auf Euch, stets studiere, was mir auch bevorsteht, die Erziehung von Kindern!“
„Nun, aber das Lernen taugt doch nichts,“ sagte Lwoff.
„Ich kann nur sagen,“ antwortete Lewin, „daß ich nie besser erzogene Kinder gesehen habe, als die Euren, und keine besseren Kinder wünschte, als die Euren sind.“
Lwoff hielt augenscheinlich an sich, seine Freude zu zeigen, aber er erglänzte doch von einem Lächeln.
„Wenn sie nur besser werden als ich, das ist alles, was ich wünsche. Ihr kennt noch nicht die ganze Mühe,“ begann er, „mit den Knaben, welche, wie die meinen, in diesem Leben im Auslande verwildert waren.“
„Ihr holt alles ein. Es sind ja so befähigte Kinder, und was die Hauptsache ist — sie haben eine moralische Erziehung. Das ist es, was ich studiere, wenn ich Eure Kinder anblicke.“
„Ihr sagt, eine moralische Erziehung. Man kann sich nicht vorstellen, wie schwer diese ist! Kaum habt Ihr die eine Seite bekämpft, so wachsen andere hervor und es beginnt ein neuer Kampf. Hätte man nicht die Stützen in der Religion — wißt Ihr noch, wir haben zusammen darüber gesprochen — so würde kein Vater mit seinen Kräften allein, ohne diese Hilfe, erziehen können.“
Dieses Lewin stets interessierende Gespräch wurde durch den Eintritt der zur Ausfahrt angekleideten, schönen Nataly Aleksandrowna, unterbrochen.
„Ah, ich habe gar nicht gewußt, daß Ihr hier seid,“ sagte sie, augenscheinlich nicht mit Bedauern, sondern vielmehr erfreut, daß sie dieses, ihr schon längst bekannte, langweilige Gespräch unterbrochen hatte. „Was macht Kity? Ich esse heute bei Euch. Weißt du Arseny,“ wandte sie sich an ihren Gatten, „du nimmst den Wagen.“
Unter den beiden Gatten begann nun ein Gespräch, wie sie den Tag verleben wollten. Da der Gatte mit jemand im Amte zusammenkommen, die Gattin aber in das Konzert[325] und in die öffentliche Sitzung des südöstlichen Komitees fahren mußte, so war viel zu beschließen und zu überlegen.
Lewin, als unabhängiger Mann, mußte Teil an diesen Plänen nehmen, und es ward beschlossen, daß er mit Nataly in das Konzert und in die öffentliche Sitzung fuhr, von da aus den Wagen nach dem Comptoir zu Arseniy sende und dieser Nataly abholen und mit zu Kity nehmen solle — oder, wenn er mit seinen Geschäften noch nicht fertig wäre, den Wagen zurückschicke und Lewin mit ihr fahre.
„Er beschämt mich ganz,“ sagte Lwoff zu seiner Frau, „er versichert mir, daß unsere Kinder vorzüglich sind, während ich doch weiß, daß sie soviel Fehler haben.“
„Arseniy geht bis ins Extrem, ich sage es immer,“ bemerkte seine Gattin. „Wenn man Vollkommenheiten suchen will, so wird man nie zufrieden werden, und Papa sagt die Wahrheit damit, daß es, als man uns noch erzog, nur ein einziges Mittel gab — man steckte uns ins Entresol; während die Eltern in der Bel-Etage wohnten; jetzt hingegen möchten die Eltern in die Rumpelkammer und die Kinder in die Bel-Etage! Die Eltern möchten jetzt schon gar nicht mehr selbst leben, sondern nur noch für ihre Kinder.“
„Aber wie, wenn dies das Angenehmere wäre?“ sagte Lwoff, mit seinem schönen Lächeln, ihren Arm berührend. „Wer dich nicht kennt, wird glauben, du seist keine Mutter, sondern eine Stiefmutter.“
„Nein; das Extrem ist nie gut,“ sagte Nataly ruhig, sein Papiermesser auf den Tisch an den dafür bestimmten Platz legend.
„Nun kommt einmal her, ihr Musterkinder,“ sagte Lwoff zu seinen eintretenden hübschen Knaben, welche, Lewin begrüßend, zu ihrem Vater traten, offenbar in dem Wunsche, ihn nach etwas zu fragen.
Lewin wollte mit ihnen reden und hören, was sie dem Vater zu sagen hätten, aber Nataly begann mit ihm zu sprechen und soeben trat auch ein Kollege Lwoffs im Amte, Machotin, in Hofuniform ein, um mit Lwoff zusammen jemand zu treffen; es begann ein eifriges Gespräch über die Herzogowina, die Fürstin Korzynska, die Duma und den plötzlichen Tod der Apraksina.
Lewin hatte den ihm gegebenen Auftrag ganz vergessen. Er erinnerte sich desselben erst beim Verlassen des Vorzimmers.
„Ach, Kity hat mir ja anvertraut, ich möchte Etwas mit Euch betreffs Oblonskiys besprechen,“ sagte er, als Lwoff auf der Treppe stehen blieb, indem er sein Weib und ihn hinausbegleitete.
„Ja, ja, maman wünscht, daß wir, les beaux-frères, ihn vornehmen,“ sagte er errötend, „aber weshalb wohl ich dabei sein soll?“ —
„So werde ich ihn vornehmen,“ sagte die Lwowa lächelnd, das Ende des Gesprächs abwartend; „doch jetzt kommt!“
In der Matinee führte man zwei sehr interessante Novitäten vor. Die eine war eine Phantasie „König Lear in der Steppe“, die andere ein Quartett, dem Andenken Bachs gewidmet. Beide Stücke waren neu und von originellem Geiste und Lewin wünschte sich eine Meinung über sie zu bilden. Nachdem er seine Schwägerin nach deren Stuhl begleitet hatte, trat er an eine Säule und nahm sich vor, so aufmerksam und gewissenhaft als möglich zuzuhören. Er bemühte sich, nicht abzuschweifen und den Eindruck in sich zu beinträchtigen, indem er auf die Armbewegungen des Kapellmeisters in der weißen Halsbinde blickte, die stets die musikalische Aufmerksamkeit so unangenehm ablenkten, oder auf die Damen in ihren Hüten, welche sich geflissentlich für das Konzert die Ohren mit Bändern zugebunden hatten, oder auf alle jene Personen, die entweder mit nichts beschäftigt, oder von den verschiedensten Interessen, nur nicht dem für Musik, eingenommen waren.
Er bemühte sich, den Begegnungen mit Musikkennern und Schwätzern aus dem Wege zu gehen, und stand nur vor sich niederblickend und lauschte. Doch je mehr er von der Phantasie König Lear hörte, um so ferner fühlte er sich der Möglichkeit gerückt, sich selbst eine bestimmte Meinung zu bilden.
Unaufhörlich begann es, als bereite sich der Ausdruck einer musikalischen Empfindung vor, sogleich aber fiel derselbe in Trümmer von neuen Ansätzen zu musikalischen Phrasen auseinander,[327] bisweilen sogar einfach in durch nichts als die Laune des Komponisten verbundene, aber außerordentlich komplizierte Klänge.
Aber gerade die Unterbrechungen dieser musikalischen Phrasen, die bisweilen gut waren, zeigten sich als unangenehm, weil sie vollständig unerwartet und durch nichts vorbereitet erschienen. Frohsinn und Trauer, Verzweiflung und Zartheit oder Triumph erschienen ohne jede innere Berechtigung, gleichsam wie die Gefühle eines Wahnsinnigen; und ebenso wie bei einem Wahnsinnigen, vergingen sie auch wieder unerwartet.
Lewin hatte während der ganzen Zeit der Aufführung das Gefühl eines Tauben, welcher auf Tanzende schaut. Er war in vollständiger Ungewißheit, nachdem das Stück geendet hatte, und fühlte große Ermüdung von der gespannten, durch nichts gelohnten Aufmerksamkeit. Von allen Seiten wurde lautes Händeklatschen vernehmbar. Alles erhob sich und begann herumzulaufen um sich zu unterhalten.
Im Wunsche, nach dem Eindruck anderer seinen Zweifel aufzuklären, begann auch Lewin zu gehen, um Kenner zu suchen, und war erfreut, als er einen namhaften Musikkenner im Gespräch mit dem ihm bekannten Peszoff erblickte.
„Wunderbar!“ sagte der tiefe Baß Peszoffs.
„Guten Tag, Konstantin Dmitritsch. Ganz besonders formgerecht und monumental, sozusagen; und wie reich an Farben ist jene Stelle, in welcher man die Annäherung Cordelias fühlt, wo die Frau, ‚das ewig Weibliche‘ wie der Deutsche sagt, in den Kampf mit dem Schicksal tritt. Nicht wahr?“
„Nun, inwiefern war denn da gerade Cordelia?“ frug Lewin schüchtern; er hatte vollständig vergessen, daß die Phantasie König Lear in der Steppe ausdrücken solle.
„Es zeigt sich Cordelia — hier!“ sagte Peszoff, mit den Fingern auf den atlasglänzenden Zettel schlagend, den er in der Hand hielt und Lewin nun hinreichte.
Jetzt erst erinnerte sich Lewin des Titels der Phantasie und beeilte sich nun, die Verse Shakespeares in der russischen Übersetzung zu lesen, welche auf der Rückseite des Programms gedruckt standen.
„Ohne dies kann man freilich nicht folgen,“ sagte Peszoff,[328] sich zu Lewin wendend, da der Herr mit welchem er sich unterhalten hatte, gegangen war, und er mit niemand mehr zu sprechen hatte.
Im Zwischenakt entspann sich zwischen Lewin und Peszoff ein Streit über die Vorzüge und Mängel der Wagnerschen Musikrichtung. Lewin wies nach, daß der Irrtum Wagners und aller seiner Nachfolger darin bestehe, daß hier die Musik in das Gebiet einer fremdartigen Kunst übergehen wolle, daß auch die Poesie irre, wenn sie die Züge eines Gesichts beschreibe, was die Malerei zu thun hätte, und führte als Beispiel eines solchen Irrtums jenen Bildhauer an, welcher die Schatten der poetischen Gestalten, die rings um die Figur des Dichters auf dem Piedestal aufragten, in Marmor zu bilden gedachte.
„Diese Schatten werden ebensowenig Schatten für den Bildhauer sein, daß sie sich sogar an der Leiter anhalten können,“ sagte Lewin. Der Satz gefiel ihm, doch er konnte sich nicht entsinnen, ob er ihn nicht schon früher einmal ausgesprochen hatte, gerade gegen Peszoff, und geriet daher, nachdem er ihn geäußert, in Verlegenheit.
Peszoff hingegen wies nach, daß die Kunst einheitlich sei und ihre höchsten Offenbarungen nur in der Vereinigung aller ihrer Arten erreichen könne.
Die zweite Nummer des Konzerts konnte Lewin nicht mehr hören. Peszoff, der neben ihm stehen geblieben war, hatte fast die ganze Zeit mit ihm gesprochen, indem er dieses Stück wegen seiner übermäßigen geschmackswidrigen, unvermittelten Einfachheit den Praeraphaeliten in der Malerei verglich.
Beim Hinausgehen begegnete Lewin noch vielen Bekannten, mit welchen er über Politik, über Musik und gemeinsame Bekannte sprach, unter anderen traf er auch den Grafen Bolj, dessen Besuch er gänzlich vergessen hatte.
„Nun, so fahrt nur gleich hin,“ sagte die Lwowa zu ihm, der er dies mitgeteilt hatte, „vielleicht empfängt man Euch nicht und Ihr kommt dann zu mir in die Sitzung. Ihr werdet mich da schon noch treffen.“
„Man empfängt wohl nicht?“ sagte Lewin, in den Flur des Hauses der Gräfin Bolj tretend.
„Man empfängt, bitte,“ antwortete der Portier, ihm resolut den Pelz abnehmend.
„Ist das unangenehm,“ dachte Lewin, mit einem Seufzer den einen Handschuh abstreifend und seinen Hut glättend. „Weshalb komme ich denn eigentlich? Was soll ich denn mit ihnen reden?“
Durch den ersten Salon schreitend, traf Lewin in der Thür die Gräfin Bolj, welche mit geschäftigem und ernstem Ausdruck dem Diener einen Befehl erteilte.
Als sie Lewin erblickte, lächelte sie und nötigte ihn in den folgenden, kleinen Salon, aus welchem Stimmen vernehmbar waren. In diesem Salon saßen auf Lehnstühlen die beiden Töchter der Gräfin und ein, Lewin bekannter, Moskauer Oberst. Lewin näherte sich ihnen, grüßte, und ließ sich neben dem Diwan nieder, den Hut auf dem Knie haltend.
„Wie ist das Befinden Eurer Frau? Waret Ihr im Konzert? Wir konnten nicht! Mama mußte bei einer Totenmesse gegenwärtig sein.“
„Ja, ich habe gehört — welch ein plötzlicher Todesfall,“ sagte Lewin.
Die Gräfin kam, setzte sich auf den Diwan und frug gleichfalls nach seiner Frau und dem Konzert.
Lewin antwortete und wiederholte die Frage nach dem plötzlichen Tode der Apraksina.
„Sie war überhaupt stets von schwacher Gesundheit.“
„Waret Ihr gestern in der Oper?“
„Ja, ich war da.“
„Die Lucca war sehr gut.“
„Ja, sehr gut,“ sagte er und begann, da es ihm ganz gleichgültig war, was man von ihm denken mochte, zu wiederholen, was er hundertmal schon über die Eigentümlichkeit des Talentes der Sängerin gehört hatte. Die Gräfin Bolj stellte sich, als höre sie zu. Als er dann genug geredet hatte, und nun schwieg, begann der Oberst, welcher bis jetzt geschwiegen hatte.
Der Oberst fing gleichfalls an, über die Oper und die Beleuchtung zu sprechen und als er endlich noch von einem vorgeschlagenen folle journée bei Tjurin berichtet hatte, brach er in Gelächter aus, verursachte ein Geräusch, erhob sich und ging. Auch Lewin war aufgestanden, bemerkte aber an dem Gesicht der Gräfin, daß für ihn die Zeit des Gehens noch nicht da sei; noch zwei Minuten fehlten, und so setzte er sich denn wieder. Da er indessen noch immer darüber nachdachte, wie thöricht das alles sei, so fand er auch keinen Stoff zu einem Gespräch und blieb stumm.
„Fahrt Ihr nicht in die öffentliche Sitzung? Man sagt, sie sei sehr interessant,“ begann die Gräfin.
„Nein, ich habe nur meiner belle soeur versprochen, sie dort abzuholen,“ sagte Lewin.
Ein Schweigen trat ein. Die Mutter wechselte nochmals einen Blick mit der Tochter.
„Jetzt scheint es Zeit zu sein,“ dachte Lewin und stand auf. Die Damen drückten ihm die Hand und baten, seiner Gattin mille choses ausrichten zu wollen.
Der Portier frug ihn, als er ihm den Pelz reichte, „wo beliebt Ihr zu stehen?“ und trug ihn sogleich in ein großes, hübsch gebundenes Buch ein.
„Mir ist das natürlich doch ganz gleichgültig, aber dennoch bleibt das lästig und entsetzlich thöricht,“ dachte Lewin, sich damit tröstend, daß alle es ja so machten, und fuhr nach der öffentlichen Sitzung des Komitees, wo er seine Schwägerin treffen sollte, um mit derselben zusammen nach Haus zu fahren.
In der öffentlichen Sitzung des Komitees war viel Volk und fast die gesamte Gesellschaft zugegen. Lewin trat gerade ein, als das Protokoll verlesen wurde, welches wie jedermann sagte, sehr interessant war. Als die Lektüre des Protokolls beendet war, mischte sich die Gesellschaft untereinander und Lewin traf auch Swijashskiy, der ihn für den Abend dringend in die Gesellschaft für Landwirtschaft einlud, wo ein berühmter Vortrag gelesen werden würde, ferner Stefan Arkadjewitsch, der soeben von den Rennen gekommen war, und noch viele andere Bekannte, und Lewin äußerte und vernahm verschiedene Urteile über die Sitzung, über das neue Musikstück und einen[331] Prozeß. Doch mochte er, wohl infolge der Ermüdung seiner geistigen Spannkraft, die er zu empfinden begann, irren, indem er von dem Prozeß sprach, und dieser Irrtum kam ihm in der Folge mehrmals noch zu seinem Verdruß wieder in die Erinnerung. Indem er von der bevorstehenden Bestrafung eines Ausländers sprach, der in Rußland abgeurteilt wurde, sowie davon, daß es ungesetzmäßig wäre, ihn mit Verbannung ins Ausland zu bestrafen, wiederholte Lewin, was er gestern in einem Gespräch von einem Bekannten vernommen hatte. „Ich denke, daß seine Ausweisung ebensoviel wert wäre, als wenn man einen Hecht damit bestrafen wollte, daß man ihn ins Wasser setzt,“ meinte Lewin. Erst später dachte er wieder daran, daß dieser scheinbar von ihm geäußerte Gedanke, den er von einem Bekannten gehört hatte, aus einer Fabel Kryloffs stammte, der Bekannte aber diesen Gedanken aus dem Feuilleton eines Journals wiederholt hatte.
Nachdem Lewin mit seiner Schwägerin nach Haus gefahren war und Kity heiter und wohl gefunden hatte, fuhr er nach dem Klub.
Er kam erst zu vorgerückter Zeit in den Klub. Gleichzeitig mit ihm kamen Gäste und Mitglieder vorgefahren. Er war sehr lange nicht hier gewesen; seit der Zeit nicht, als er noch nach dem Verlassen der Universität in Moskau gewohnt und die Gesellschaft besucht hatte. Er entsann sich wohl noch des Klubs, und der äußeren Einzelheiten seiner Einrichtung, hatte aber den Eindruck gänzlich vergessen, den er in früherer Zeit davon erhalten hatte.
Kaum jedoch hatte er, nachdem er auf den geräumigen halbrunden Hof gefahren und aus dem Mietgeschirr gestiegen war, die Treppe betreten, während ihm der Portier in seinem Brustgurt geräuschlos die Thür öffnete und sich verbeugte; kaum hatte er in der Portierloge die Kaloschen und Pelze von Mitgliedern wieder erblickt, welche erwogen hatten, daß es weniger Mühe verursachte, die Kaloschen gleich unten abzulegen, als sie mit nach oben zu nehmen; kaum hatte er den geheimnisvollen, ihm vorauseilenden Glockenton vernommen, und die schräge, mit Teppichen belegte Treppe betretend, auf[332] dem Treppenabsatz die Statue erblickt, und in den oberen Thüren den dritten, altgewordenen, ihm wohlbekannten Portier in der Klublivree, der weder zu schnell noch zu langsam die Thür öffnete und den Gast anblickte — da überkam Lewin wieder das alte Klubgefühl, ein Gefühl von Erholung, Vergnügen und Noblesse.
„Bitte, den Hut,“ sagte der Portier zu Lewin, welcher die Klubregel, den Hut in der Portierloge zu lassen, vergessen hatte. „Ihr seid lange nicht hier gewesen. Der Fürst hat Euch noch gestern eingeschrieben. Fürst Stefan Arkadjewitsch ist noch nicht anwesend.“
Der Portier kannte nicht nur Lewin, sondern auch dessen sämtliche Verbindungen und Verwandtschaft und that sofort der ihm nahestehenden Männer Erwähnung.
Den ersten Vorsaal mit den Ofenschirmen, und dann ein rechts abgetrenntes Zimmer, in welchem der Obstverkäufer saß, durchschreitend, überholte Lewin einen langsam gehenden Herrn und trat in das vom Lärm versammelter Menschen erfüllte Speisezimmer.
Er schritt längs der fast schon besetzten Tische hin, die Gäste musternd. Hier und da fielen ihm die verschiedensten Personen, alte und junge, aber kaum bekannte oder nahestehende ins Auge. Hier gab es kein einziges gereiztes oder sorgenvolles Gesicht. Alle, wie es schien, hatten in der Portierloge mit ihren Hüten auch ihre Bedrängnisse und Sorgen zurückgelassen und sich vorgenommen, mit Muße die materiellen Annehmlichkeiten des Lebens hier zu genießen. Hier war auch Swijashskiy, Schtscherbazkiy, Njewjedowskiy, der alte Fürst, sowie Wronskiy und Sergey Iwanowitsch.
„Ah, hast du dich verspätet?“ sagte der Fürst lächelnd, ihm mit der Hand auf die Schulter schlagend. „Was macht Kity?“ fügte er hinzu, die Serviette ordnend, die er sich zwischen einem Knopf der Weste eingeklemmt hatte.
„Befindet sich ganz wohl; die Damen speisen zu Dreien zu Haus.“
„Aha, Alina — Nadina; nun, bei uns hier ist freilich kein Platz mehr. Aber geh zu jenem Tisch und nimm möglichst schnell einen Platz ein,“ sagte der Fürst und ergriff, sich umwendend, behutsam einen Teller mit Quappensuppe.
„Lewin, hierher!“ rief etwas weiterhin eine freundliche Stimme. Es war Turowzyn. Er saß bei einem jungen Offizier und zwischen ihnen standen zwei umgewendete Stühle. Lewin schritt erfreut auf sie zu. Er hatte den gutmütigen Zecher Turowzyn stets lieb gehabt; mit ihm vereinigte sich seine Erinnerung an die Liebeserklärung gegen Kity; heute aber, nach all den angestrengten geistigen Unterhaltungen war ihm die gutmütige Erscheinung Turowzyns besonders willkommen.
„Diese Stühle sind für Euch und Oblonskiy. Er wird auch sogleich da sein!“
Der Offizier, welcher sich sehr gerade hielt, mit heiteren, ewig lachenden Augen war ein Petersburger, namens Gagin. Turowzyn machte beide miteinander bekannt.
„Oblonskiy kommt doch ewig zu spät.“
„Da ist er ja!“
„Bist du soeben gekommen?“ sagte Oblonskiy, schnell zu ihnen herkommend. „Geht es gut? Hast du schon einen Liqueur genommen? Komm!“
Lewin erhob sich und ging mit ihm nach dem großen Tisch, der mit Liqueuren und den mannigfaltigsten Leckerbissen besetzt war. Man konnte wohl aus zwanzig verschiedenen Dingen auswählen, was nach dem Geschmack war, aber Stefan Arkadjewitsch forderte einen ganz besonderen Liqueur, und einer der dastehenden Diener in Livree brachte sofort das Gewünschte. Sie tranken jeder ein Glas und kehrten dann zum Tische zurück.
Sogleich, noch bei der Suppe, brachte man Gagin Champagner und dieser ließ vier Gläser füllen. Lewin wies den angebotenen Wein nicht zurück und bestellte eine zweite Flasche. Er war hungrig, speiste und trank mit großem Appetit und nahm mit noch größerem Vergnügen an den heiteren und leichten Gesprächen seiner Gesellschafter teil. Gagin, der die Stimme hatte sinken lassen, erzählte eine neue Petersburger Anekdote, die, obwohl indecent und ungereimt, doch lustig genug war, sodaß Lewin so laut lachte, daß die Nachbarn ihn anblickten.
„Das ist etwas von der Art, wie ‚dies gerade kann ich gar nicht vertragen!‘ — Weißt du?“ — frug Stefan Arkadjewitsch.[334] „Ach, das ist reizend! Noch eine Flasche,“ sagte er zu dem Diener, und begann zu erzählen.
„Peter Iljitsch Winowskiy lassen bitten,“ unterbrach ein alter Diener Stefan Arkadjewitsch, zwei feine Gläser perlenden Champagners bringend und sich an Stefan Arkadjewitsch und Lewin wendend.
Stefan Arkadjewitsch ergriff das Glas und nickte lächelnd nach der anderen Seite des Tisches, mit einem kahlköpfigen, rothaarigen und bärtigen Herrn einen Blick tauschend, mit dem Kopfe.
„Wer ist dies?“ frug Lewin.
„Du bist ihm schon einmal bei mir begegnet, besinnst du dich? Er ist ein vortrefflicher Mensch.“
Lewin that, was Stefan Arkadjewitsch that und nahm das Glas.
Die Anekdote Stefan Arkadjewitschs war gleichfalls sehr ergötzlich. Lewin erzählte nun seine Anekdote, welche auch gefiel, dann kam das Gespräch auf Pferde, auf die Rennen des heutigen Tages und darauf, wie schlau der Atlasny Wronskiys den ersten Preis gewonnen habe. Lewin bemerkte gar nicht, wie die Zeit beim Essen verging.
„Ah, da ist er ja selbst!“ sagte gegen das Ende des Essens Stefan Arkadjewitsch, sich über die Lehne des Stuhles beugend und dem in Begleitung eines hohen Gardeobersten auf ihn zukommenden Wronskiy, die Hand entgegenstreckend. In dem Gesicht Wronskiys leuchtete gleichfalls die allgemeine heitere Klubgemütlichkeit. Frohgelaunt stützte er sich auf die Schulter Stefan Arkadjewitschs, indem er demselben etwas zuflüsterte, und streckte Lewin mit dem nämlichen heiteren Lächeln die Hand entgegen.
„Sehr erfreut, Euch hier zu treffen,“ sagte er. „Ich hatte Euch damals nach den Wahlen gesucht, man sagte mir aber, Ihr wäret schon weggefahren.“
„Ja; ich bin noch denselben Tag fortgefahren; wir hatten übrigens soeben von Eurem Pferde gesprochen. Ich gratuliere Euch,“ sagte Lewin, „das war ein sehr schneller Ritt!“
„Ihr habt doch wohl auch Pferde?“
„Nein; mein Vater hatte welche; doch ich besinne mich noch und kenne das.“
„Wo hast du gespeist?“ frug Stefan Arkadjewitsch.
„Wir sitzen am zweiten Tisch; hinter den Säulen.“
„Man hat ihm gratuliert,“ sagte der hochgewachsene Oberst.
„Es war der zweite Kaiserpreis; wenn ich doch solches Glück in den Karten hätte, wie er mit den Pferden.“
„Aber, wozu die goldene Zeit verlieren! Ich gehe in das Infernalische,“ sagte der Oberst und verließ den Tisch.
„Das war Jaschwin,“ sagte Wronskiy zu Turowzyn und setzte sich auf den neben ihnen freigewordenen Platz. Nachdem er den ihm vorgesetzten Pokal geleert hatte, bestellte er eine Bouteille. Mochte nun der Einfluß der Klublaune oder der des genossenen Weines schuld sein, genug, Lewin unterhielt sich mit Wronskiy über die beste Viehrasse, und es war ihm sehr lieb, daß er keine Feindseligkeit mehr gegen diesen Mann empfand. Er sagte demselben sogar unter anderem, er habe von seiner Frau gehört, sie sei ihm bei der Fürstin Marja Borisowna begegnet.
„Ach, die Fürstin Marja Borisowna; die ist reizend!“ sagte Stefan Arkadjewitsch, und erzählte nun eine Anekdote von ihr, welche alle zu lachen machte. Besonders Wronskiy lachte so herzlich, daß Lewin sich vollständig mit ihm ausgesöhnt fühlte.
„Nun, seid Ihr fertig?“ frug Stefan Arkadjewitsch aufstehend, und lächelte. „Gehen wir!“
Vom Tische aufstehend, ging Lewin, in dem Gefühl, daß ihm beim Gehen die Hände eigentümlich sicher und leicht in der Bewegung waren, mit Gagin durch die hohen Zimmer nach dem Billardsaal. Als er durch den großen Saal schritt, traf er seinen Schwiegervater.
„Nun, was sagst du? Wie gefällt dir unser Tempel der Muße?“ sagte der Fürst, ihn am Arme nehmend. „Komm, gehen wir weiter!“
„Auch ich wollte gehen und ein wenig zuschauen. Es ist interessant.“
„Ja, für dich. Doch für mich ist das Interesse schon ein anderes, als für dich. Du schaust freilich auf diesen Alten da,“ sprach er, auf ein gebücktes Mitglied des Klubs mit herabhängender Lippe zeigend, welches, nur mit Mühe die Füße in[336] den weiten Stiefeln weiterschiebend, ihnen entgegenkam, „und denkst dabei, daß sie schon als solche alte Ruinen geboren worden sind.“
„Was ist das, Ruinen?“
„Du kennst diese Benennung wohl noch nicht. Es ist das unser Klubausdruck. Weißt du: wenn Einer Jahr aus Jahr ein in den Klub kommt, so wird endlich eine Ruine aus ihm. Ja, du lachst darüber, aber unser einer muß schon aufpassen, wenn er selbst unter die Ruinen kommt. Du kennst doch den Fürsten Tschetschenskiy?“ frug der Fürst und Lewin sah an seinem Gesicht, daß er im Begriff sei, etwas Witziges zu sagen.
„Nein, ich kenne ihn nicht.“
„Nun, gewiß doch; der Fürst Tschetschenskiy ist ja bekannt. Doch gleichviel! — Der spielt also ewig Billard. Vor drei Jahren war er noch nicht unter den Ruinen und noch rüstig. Ja, er selbst nannte andere Ruinen. Doch da kommt er einstmals an, und unser Portier, du kennst ihn doch, den Wasiliy? Nun, der Dicke! Der ist groß in Bonmots! Den frägt der Fürst Tschetschenskiy, ‚he, Wasiliy, wer ist denn alles gekommen? Sind Ruinen mit dabei?‘ Wasiliy antwortet ihm: >Ihr seid die dritte darunter.‘ — Ja, Bruder; so ist es.“ —
Unter Gespräch und Begrüßungen mit begegnenden Bekannten ging Lewin mit dem Fürsten durch alle Zimmer; durch das große, in welchem bereits die Tische standen und die an nicht hohes Spiel gewöhnten Partner spielten, dann in das Diwanzimmer, wo man Schach spielte, und wo Sergey Iwanowitsch im Gespräch mit jemand saß — hierauf durch das Billardzimmer, wo in einer Zimmernische bei dem Diwan eine lustige Champagnergesellschaft, an welcher Gagin teilnahm, sich etabliert hatte. Sie warfen auch einen Blick in das „infernalische Zimmer“, wo sich um einen Tisch, hinter welchem Jaschwin bereits Platz genommen hatte, viele Setzende drängten.
Sich bemühend, Geräusch zu vermeiden, begaben sie sich auch nach dem dämmrigen Lesezimmer, wo unter den Lampen einsam ein junger Mann mit galligem Gesicht saß, der ein Journal nach dem andern ergriff, und ein kahlköpfiger General, der in seine Lektüre vertieft war. Sie gingen auch[337] nach dem Zimmer, welches der Fürst „das verständige“ nannte. In diesem Raume sprachen drei Herren eifrig über die letzte politische Neuigkeit.
„Fürst, wenn es gefällig ist; alles bereit,“ sagte einer seiner Partner, ihn hier findend, und der Fürst ging. Lewin blieb sitzen, hörte zu, aber plötzlich wurde es ihm, indem er sich des heutigen Morgens erinnerte, entsetzlich langweilig zu Mute. Er erhob sich hastig und ging, um Oblonskiy und Turowzyn zu suchen, in deren Gesellschaft es heiter zuging.
Turowzyn saß mit einem Kruge auf einem hohen Diwan im Billardzimmer, und Stefan Arkadjewitsch und Wronskiy unterhielten sich an der Thür in einer entfernten Ecke des Zimmers.
„Nicht, daß sie sich langweilte, aber diese Unbestimmtheit, die Unentschiedenheit in ihrer Lage,“ hörte Lewin und wollte sich eiligst zurückziehen, doch Stefan Arkadjewitsch rief ihn herbei.
„Lewin!“ sagte Stefan Arkadjewitsch, und Lewin bemerkte in seinen Augen zwar nicht Thränen, wohl aber eine gewisse Feuchtigkeit, wie dies stets der Fall bei ihm war, wenn er entweder getrunken hatte, oder in Gefühl zerfloß. Jetzt war bei ihm beides der Fall.
„Lewin geh' nicht fort,“ sprach er und drückte seinen Arm fest mit seiner Hand, augenscheinlich mit dem Wunsche, ihn um keinen Preis von sich zu lassen.
„Dies ist mein aufrichtigster, vielleicht mein bester Freund,“ sagte er zu Wronskiy, „du bist mir gleichfalls mehr vertraut und teuer, und ich will und weiß, daß ihr Freunde und Vertraute werden müßt, da ihr beide gute Menschen seid.“
„Nun, dann bleibt uns nur übrig, den Bruderkuß zu tauschen,“ sagte Wronskiy, gutmütig scherzend und Lewin die Hand reichend.
Dieser nahm schnell die dargebotene Hand und drückte sie fest.
„Es freut mich sehr, sehr,“ sagte Lewin, seine Hand drückend.
„Kellner, eine Flasche Champagner,“ befahl Stefan Arkadjewitsch.
„Auch ich freue mich herzlich,“ äußerte Wronskiy.
Trotz des Wunsches Stefan Arkadjewitschs, und ihrer beiderseitigen Absicht, wußten sie doch nichts weiteres zu sagen, und beide fühlten dies.
„Du weißt, daß er mit Anna nicht bekannt ist?“ sagte Stefan Arkadjewitsch zu Wronskiy, „ich will ihn aber unbedingt mit ihr in Verbindung bringen. Komm Lewin!“
„Solltet Ihr!“ sagte Wronskiy, „sie wird sich sehr freuen! Ich würde sogleich nach Haus fahren,“ fügte er hinzu, „doch Jaschwin beunruhigt mich und ich will hier bleiben, bis er aufhört.“
„Nun, steht es schlecht mit ihm?“
„Er verliert fortwährend, und ich allein nur kann ihn abhalten.“
„Wie wäre es mit einer Pyramide? Lewin spielst du? Schön!“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „stelle eine Pyramide,“ wandte er sich zu dem Marqueur.
„Schon längst fertig,“ erwiderte dieser, der bereits die Bälle in das Dreieck gesetzt hatte und zum Zeitvertreib den roten roulieren ließ.
„Stoßt!“
Nach der Partie ließen sich Wronskiy und Lewin an dem Tische Gagins nieder, und Lewin begann, dem Vorschlage Stefan Arkadjewitschs folgend, auf die Asse zu setzen. Wronskiy saß bald am Tische, fortwährend umgeben von zu ihm kommenden Bekannten, bald begab er sich in das „Infernalische“, um nach Jaschwin zu sehen. Lewin verspürte eine angenehme Erholung von der geistigen Abgespanntheit am Vormittag. Ihn erfreute die Beilegung der Feindschaft mit Wronskiy, und ein Gefühl von Beruhigung, Standeswürde und Frohsinn verließ ihn nicht mehr.
Als die Partie zu Ende war, nahm Stefan Arkadjewitsch Lewin unter dem Arm.
„Gehen wir also zu Anna! Sogleich? Ja? Sie ist zu Haus. Ich habe ihr schon seit Langem versprochen, dich einmal mit zu ihr zu bringen. Wohin willst du für den Abend gehen?“
„Ich habe nichts Besonderes vor. Swijashskiy hatte ich versprochen, in die Gesellschaft für Landwirtschaft zu kommen. Fahren wir hin, wenn du willst,“ sagte Lewin.
„Ausgezeichnet! Fahren wir! Frage doch, ob mein Wagen gekommen ist!“ wandte sich Stefan Arkadjewitsch an einen Lakaien.
Lewin trat zum Tische, bezahlte vierzig Rubel, die von ihm auf die Asse verspielt worden waren, sowie mit einer gewissen geheimnisvollen Manier die Ausgaben für den Klub, die dem alten Lakaien, welcher an der Schwelle stand, bekannt waren, und schritt dann mit eigentümlichen Armbewegungen durch sämtliche Säle dem Ausgang zu.
„Oblonskiys Wagen!“ rief mit starkem Baß der Portier.
Der Wagen fuhr vor und beide nahmen Platz. Nur während der ersten Zeit, so lange der Wagen aus dem Thor des Klubhauses fuhr, hatte Lewin noch das Gefühl der Klubbehaglichkeit, zufriedener Stimmung und der unzweifelhaften Noblesse der Umgebung, kaum aber war der Wagen auf die Straße hinausgefahren, kaum fühlte er das Rollen des Wagens auf der unebenen Straße, hatte er den heftigen Ruf eines begegnenden Mietkutschers vernommen, und bei der mangelhaften Beleuchtung das rote Schild einer Schenke und eines Kaufladens wieder erblickt, da war dieser Eindruck vernichtet, und er begann abermals seine Handlungsweise zu überlegen und sich zu fragen, ob er gut daran thue, zu Anna zu fahren. Was würde Kity sagen?
Stefan Arkadjewitsch ließ ihn indessen nicht zum Nachdenken kommen, und, als ob er seine Zweifel erriete, zerstreute er sie.
„Wie freue ich mich,“ sprach er, „daß du sie kennen lernen wirst. Du weißt, Dolly hat dies längst gewünscht. Auch Lwoff war bei ihr und kommt noch zu ihr. Obwohl sie meine Schwester ist,“ fuhr er fort, „kann ich doch rückhaltslos sagen, daß sie ein merkwürdiges Weib ist. Du wirst ja sehen. Ihre Lage ist sehr schwierig, besonders jetzt.“
„Weshalb denn besonders jetzt?“
„Wir pflegen Verhandlungen mit ihrem Manne über die Ehescheidung. Er ist damit einverstanden, aber es giebt Schwierigkeiten bezüglich ihres Sohnes, und die Sache, welche schon längst erledigt sein müßte, zieht sich nun schon drei Monate hin. Sobald die Scheidung stattgefunden haben wird, heiratet sie Wronskiy. Wie thöricht ist doch jene alte Gewohnheit des sich Drehens und Wendens, der niemand mehr[340] glaubt, und welche dem Glück der Leute im Wege steht!“ sagte Stefan Arkadjewitsch. „Nun, dann aber wird ihr Glück ein gesichertes sein, so wie das meine, das deine.“
„Worin beruht aber die Schwierigkeit?“ frug Lewin.
„Ach, das ist eine lange und langweilige Geschichte! Alles daran ist so unbestimmt. Doch die Sache ist die, sie trägt die Schuld. Indem sie diese Scheidung in Moskau erwartet, wohnt sie schon drei Monate hier, wo jedermann ihn und sie kennt. Sie fährt nirgendshin, sieht keine der Damen, außer Dolly, weil sie es, weißt du, nicht will, daß man aus Mitleid zu ihr käme. Selbst diese Närrin, die Fürstin Barbara, hat sie verlassen, weil sie ihre Gegenwart für unschicklich hält. Unter solchen Verhältnissen, in solcher Lage, würde ein anderes Weib keine Stützpunkte in sich finden. Sie aber, du wirst es sehen, wie sie sich ihr Leben eingerichtet hat, wie ruhig, wie würdevoll sie ist. — Links, durch das Seitengäßchen, gegenüber der Kirche“ — rief Stefan Arkadjewitsch plötzlich, sich durch das Wagenfenster beugend. „O, welche Hitze!“ sagte er, trotz der zwölf Grad Kälte noch mehr mit seinem Pelze fächelnd, der schon offen stand.
„Sie hat doch wohl eine Tochter, wahrscheinlich beschäftigt sie sich mit dieser?“ sagte Lewin.
„Du scheinst dir jede Frau nur als eine Bruthenne vorzustellen, une couveuse,“ sagte Stefan Arkadjewitsch. „Wenn eine Frau beschäftigt ist, muß sie es unfehlbar mit Kindern sein! Nun, sie erzieht das Kind ja vorzüglich, wie es scheint, aber man hört nichts weiter davon. Sie ist vor allem damit beschäftigt, zu schreiben. Ich sehe schon, du lächelst ironisch, aber umsonst. Sie schreibt ein Buch für Kinder und sagt niemand etwas davon; mir aber hat sie es vorgelesen und ich habe das Manuskript Workujeff gegeben — du weißt, der Verleger — er ist ja selbst Schriftsteller, wie mir scheint. Der versteht doch die Sache und sagt, daß es sich hier um einen interessanten Stoff handle. Du denkst gewiß, was ist ein schriftstellerndes Weib! Denke das nicht! Sie ist vor allem ein Weib mit einem Herzen, du wirst ja sehen. Jetzt hat sie eine kleine Engländerin und eine ganze Familie, von der sie in Anspruch genommen ist.“
„Also etwas Menschenfreundliches?“
„Du siehst doch immer nur sofort das Üble; es ist nichts philanthropisches, sondern eine Herzenssache. Sie hatten — ich meine Wronskiy — einen englischen Traineur, einen Meister in seinem Fache, aber auch Säufer. Der hat sich vollständig zu Schanden getrunken — delirium tremens — und die Familie war verlassen. Da erblickte sie die Leute, sie half, bekümmerte sich um sie, und jetzt ist die ganze Familie in ihrer Obhut; und sie hat dies nicht nur so von oben herab gethan, mit Geld, sondern bereitet selbst die Knaben auf russisch für das Gymnasium vor und hat das kleine Mädchen zu sich genommen. Du wirst dieses ja sehen.“
Der Wagen fuhr auf den Hof und Stefan Arkadjewitsch schellte laut an der Einfahrt, vor welcher ein Schlitten stand.
Ohne den öffnenden Dienstmann zu fragen, ob man daheim sei, begab sich Stefan Arkadjewitsch in den Flur. Lewin folgte ihm, mehr und mehr in Zweifel geratend, ob er recht oder nicht recht handle.
In einen Spiegel blickend, bemerkte er, daß er rot aussehe, doch war er überzeugt, nicht berauscht zu sein und stieg die mit Teppichen belegte Treppe hinauf, hinter Stefan Arkadjewitsch her.
Oben frug dieser einen Lakaien, welcher sich verbeugte, wie man einen niedriger Stehenden grüßt, wer bei Anna Arkadjewna sei? und erhielt zur Antwort „Herr Workujeff“.
„Wo ist man?“
„Im Kabinett.“
Durch den kleinen Speisesalon mit den dunkeln, holzbekleideten Wänden, traten sie auf dem weichen Teppich in ein halbdunkles Kabinett, welches nur von einer Lampe mit großem dunklen Schirm erleuchtet wurde. Eine andere Lampe brannte als Refraktor an der Wand und erleuchtete das in Lebensgröße gemalte Porträt einer Frau, welchem Lewin unwillkürlich seine Aufmerksamkeit zuwandte. Es war dies das in Italien von Michailoff gefertigte Porträt Annas. Während Stefan Arkadjewitsch hinter eine Traillage schritt, und eine männliche Stimme, welche gesprochen hatte, verstummte, betrachtete Lewin das Porträt, welches in der schimmernden Beleuchtung aus dem Rahmen heraustrat, und konnte sich nicht davon losreißen. Er hatte sogar vergessen, wo er war,[342] und verwendete, ohne zu hören, was gesprochen wurde, kein Auge von dem wunderbaren Bild.
Das war kein Bild mehr, sondern eine lebende, reizende Frau mit schwarzen wallenden Haaren, entblößten Schultern und Händen und sinnigem halben Lächeln auf den von einem zarten Flaume überdeckten geöffneten Lippen, welche ihn sieghaft und zärtlich mit ihren verwirrenden Augen anschaute. Nur insofern war sie nicht belebt, als sie schöner war, wie eine Lebende sein konnte.
„Sehr erfreut,“ vernahm er plötzlich neben sich eine Stimme, die sich augenscheinlich an ihn wandte; die Stimme desselben Weibes, in welches er sich auf dem Porträt im Anschauen verloren hatte.
Anna war ihm entgegengekommen, hinter der Traillage hervor, und Lewin gewahrte im Zwielicht des Kabinetts die nämliche Frau des Porträts, in dunklen, buntfarbig blauem Kleid, nicht in derselben Stellung, nicht mit dem nämlichen Ausdruck, wohl aber mit derselben Hoheit jener Schönheit, in welcher sie von dem Künstler auf dem Bilde erfaßt worden war. Sie war weniger glänzend in der Wirklichkeit, aber dafür lag in der Lebenden etwas Ungewohntes, Anziehendes, was nicht im Porträt war.
Sie trat ihm entgegen, ohne ihre Freude, ihn zu sehen, zu verhehlen. In dieser Ruhe, mit welcher sie ihm die kleine und energische Hand entgegenstreckte, ihn mit Workujeff bekannt machte und dann auf ein rothaariges, hübsches kleines Mädchen zeigte, welches hier bei einer Arbeit saß, und das sie ihre Pflegebefohlene nannte, lagen die Lewin bekannten, angenehmen Manieren der Frau aus der großen Welt, die stets ruhig und natürlich sind.
„Es ist mir sehr, sehr angenehm,“ wiederholte sie, und in ihrem Munde erhielten diese einfachen Worte für Lewin aus unbekanntem Grunde eine eigentümliche Bedeutung. „Ich kenne und liebe Euch lange schon wegen Eurer Freundschaft für Stefan und wegen Eures Weibes; ich habe dieses nur kurze Zeit gekannt, aber es hat in mir den Eindruck einer[343] reizenden Blüte hinterlassen, ja, einer Blüte! Sie wird also bald Mutter werden?“
Anna sprach ungezwungen und ohne Hast, bisweilen ihren Blick von Lewin auf ihren Bruder richtend. Ersterer empfand, daß der Eindruck, den er hervorbrachte, ein guter sein mußte, und sogleich wurde es ihm nun in ihrer Gesellschaft so leicht, so frei und behaglich zu Mut, als hätte er sie von Kindheit an gekannt.
„Ich habe mit Iwan Petrowitsch im Kabinett Alekseys Platz genommen,“ sagte sie, Stefan Arkadjewitsch auf dessen Frage, ob man rauchen dürfe, — antwortend „damit er eben rauchen könne,“ und nahm, auf Lewin blickend, anstatt zu fragen ob er rauche, ein Cigarrenetuis von Schildkrot, aus welchem sie eine Cigarette zog.
„Wie steht es jetzt mit deiner Gesundheit?“ frug sie ihr Bruder.
„Wie soll es gehen; die Nerven sind stets dieselben.“
„Nicht wahr, ziemlich gut?“ sagte Stefan Arkadjewitsch, bemerkend, daß Lewin das Porträt betrachtete.
„Ich habe noch nie ein besseres Porträt gesehen.“
„Und ziemlich ähnlich, nicht wahr?“ sagte Workujeff.
Lewin schaute vom Porträt auf das Original. Ein eigentümlicher Glanz erleuchtete das Antlitz Annas, während sie seinen Blick auf sich ruhen fühlte. Lewin errötete, und wollte, um seine Verlegenheit zu verbergen, fragen, ob es schon längere Zeit her sei, daß sie Darja Aleksandrowna gesehen habe, doch im selben Augenblick begann Anna:
„Ich habe mit Iwan Petrowitsch soeben von den letzten Gemälden Waschtschenkoffs gesprochen. Habt Ihr sie gesehen?“
„Ja, ich habe sie gesehen,“ antwortete Lewin.
„Doch entschuldigt, ich habe Euch unterbrochen, Ihr wolltet sagen“ —
Lewin frug, ob sie vor längerer Zeit Dolly gesehen hätte.
„Gestern war sie bei mir; sie ist wegen Grischa sehr schlecht auf das Gymnasium zu sprechen. Der Lehrer im Lateinischen scheint es, ist ungerecht gewesen gegen ihn.“
„Ich habe die Bilder gesehen; sie haben mir sehr gefallen,“ wandte sich Lewin zu dem von ihr begonnenen Gespräch zurück.
Lewin sprach jetzt ganz und gar nicht mehr von jener[344] handwerksmäßigen Stellung zum Gegenstande, aus der er am Morgen gesprochen hatte. Jedes Wort der Unterhaltung mit ihr erhielt eine eigentümliche Bedeutung. Schon mit ihr reden war ihm angenehm, noch angenehmer aber, ihr zuzuhören.
Anna sprach nicht nur natürlich, und klug, sondern auch klug und ohne Zwang, ohne ihren Gedanken Wert beizulegen, während sie den Ideen des anderen großes Gewicht beilegte.
Das Gespräch drehte sich um die neue Richtung in der Kunst, um die neue Illustration der Bibel durch einen französischen Künstler. Workujeff zieh den Künstler eines Realismus, der bis zur Derbheit ging. Lewin sagte, daß die Franzosen das Abstrakte in der Kunst entwickelt hätten wie niemand, und sie daher ein besonderes Verdienst in der Rückkehr zum Realismus erblickten. Schon darin, daß sie nicht mehr lögen, sähen sie Poesie.
Noch nie hatte Lewin etwas Vernünftiges, was er je einmal gesagt haben mochte, so viel Vergnügen gemacht, als dies. Das Gesicht Annas erglänzte plötzlich über und über, als sie diesen Gedanken momentan abwog. Sie begann zu lächeln.
„Ich lache,“ sagte sie, „wie man lacht, wenn man ein sehr ähnliches Porträt sieht. Das, was Ihr sagtet, charakterisiert jetzt vollkommen die französische Kunst, wie sie jetzt ist, die Malerei, und selbst die Litteratur; Zola, Daudet. Doch ist es vielleicht stets so, daß man seine conceptions aus erdachten, abstrakten Gestalten konstruiert, dann aber, nachdem alle combinaisons ausgeführt sind, die von erdachten Gestalten langweilen und man beginnt, natürlichere wahrhafte Gestalten auszusinnen.“
„Das ist vollkommen richtig,“ sagte Workujeff.
„Ihr waret wohl im Klub?“ wandte sie sich zu ihrem Bruder.
„Ja, das ist ein Weib!“ dachte Lewin, sich ganz vergessend und unverwandt in ihr schönes, bewegliches Gesicht blickend, welches sich jetzt plötzlich vollkommen verändert hatte. Lewin hörte nicht, wovon sie sprach, indem sie sich zu ihrem Bruder gewandt hatte, er war betroffen von der Veränderung ihres Ausdrucks. Vorher so herrlich in seiner Ruhe, drückte ihr[345] Gesicht plötzlich eine seltsame Neugier, Zorn und Stolz aus. Doch dies währte nur eine Minute. Dann blinzelte sie, als denke sie an Etwas.
„Nun ja, dies ist aber doch für niemand von Interesse,“ sagte sie und wandte sich zu der kleinen Engländerin.
„Please, order the tea in the drawing-room.“
Das kleine Mädchen erhob sich und ging hinaus.
„Nun; hat sie das Examen bestanden?“ frug Stefan Arkadjewitsch.
„Vorzüglich. Es ist ein sehr beanlagtes Mädchen und ein liebenswerter Charakter.“
„Und die Sache wird damit enden, daß du sie mehr liebst, als dein eigenes Kind.“
„So spricht ein Mann. In der Liebe giebt es kein mehr oder weniger; ich liebe meine Tochter mit einer bestimmten, dieses Mädchen mit einer anderen Liebe.“
„Ich sage eben zu Anna Arkadjewna,“ sagte Workujeff, „daß sie, wenn sie auch nur ein Hundertstel der Energie, welche sie für diese Engländerin einsetzt, auf das gemeinsame Werk der russischen Kindererziehung verwendete, eine große, nützliche That vollbrächte.“
„Ja, das was Ihr da wollt, konnte ich nicht. Graf Aleksey Kyrillowitsch hat mich lebhaft ermuntert“ — indem sie die Worte „Graf Aleksey Kyrillowitsch“ aussprach, schaute sie schüchtern fragend Lewin an, welcher ihr unwillkürlich mit einem ehrerbietigen und bestätigenden Blicke antwortete, „mich mit dem Dorfschulwesen zu befassen. Ich kümmerte mich mehrmals darum; die Schulen sind mir sehr wert, aber ich vermochte es nicht, mich der Sache zu widmen. Ihr sprecht von Energie? Die Energie beruht auf der Liebe, und die Liebe läßt sich nicht irgend woher nehmen, nicht anbefehlen. So habe ich dieses Mädchen da lieb gewonnen, ohne selbst zu wissen, weshalb.“
Sie blickte wiederum Lewin an; ihr Lächeln, ihr Blick, alles sagte ihm, daß sie an ihn nur ihre Worte richte, seine Meinung würdige, und dabei im voraus wisse, daß sie sich gegenseitig verstanden.
„Ich begreife das vollkommen,“ antwortete Lewin, „für die Schule und überhaupt für ähnliche Einrichtungen läßt sich[346] nicht das Herz einsetzen, und ich glaube, daß eben infolge dessen diese humanistischen Einrichtungen stets so geringe Resultate erzielen.“
Anna schwieg eine Weile, dann lächelte sie. „Ja, ja,“ bestätigte sie, „ich habe das nie vermocht. Je n'ai pas le coeur assez large, um ein ganzes Bewahrungshaus voller häßlicher kleiner Mädchen lieb haben zu können. Cela ne m'a jamais réussi. Es giebt jedoch so viele Frauen, welche sich hieraus eine position sociale begründet haben. Und jetzt,“ sprach sie mit trauerndem, zutraulichem Ausdruck, äußerlich zu ihrem Bruder gewendet, augenscheinlich aber nur zu Lewin: „jetzt, wo mir eine Beschäftigung so nötig ist, kann ich es um so weniger.“
Plötzlich finster werdend — Lewin nahm wahr, daß sie es über sich selbst wurde, weil sie über sich gesprochen hatte — veränderte sie aber das Thema.
„Ich weiß von Euch,“ sagte sie zu Lewin, „daß Ihr ein schlechter Bürger seid, und ich habe Euch doch verteidigt, so gut ich es verstand.“
„Wie habt Ihr mich denn verteidigt?“
„Bezüglich gewisser Angriffe. Indessen, ist nicht ein wenig Thee gefällig?“ Sie erhob sich und nahm ein in Saffian gebundenes Buch zur Hand.
„Gebt mir dasselbe, Anna Arkadjewna,“ sagte Workujeff, auf das Buch zeigend, „es ist recht wohl wert.“
„O nein; es ist noch so ungefeilt.“
„Ich habe ihm davon gesagt,“ wandte sich Stefan Arkadjewitsch an seine Schwester, auf Lewin deutend.
„Das hast du unnötigerweise gethan. Meine Schrift ist so nach Art jener Körbchen und Schnitzereien, die mir die Lisa Marzalowa aus den Ostrogs bisweilen verkaufte. Sie besuchte in seiner Gesellschaft die Ostrogs. Die Unglücklichen haben da Wunder an Geduldsproben geleistet.“
Lewin entdeckte einen neuen Zug an diesem Weibe, das ihm so außerordentlich gefiel. Außer Verstand, Grazie und Schönheit besaß sie auch Treuherzigkeit. Sie wollte vor ihm all das Drückende ihrer Lage gar nicht verheimlichen; und als sie dies gesagt hatte, seufzte sie, und ihr Gesicht, welches plötzlich einen strengen Ausdruck annahm, hatte sich gleichsam[347] versteinert. Mit diesem Ausdruck auf den Zügen aber war sie noch schöner als vorher, doch derselbe war ein fremdartiger; er stand außerhalb dieses von Glück schimmernden, Glück erzeugenden Kreises von Ausdrücken, wie sie von dem Künstler auf dem Porträt aufgefangen worden waren. Lewin blickte noch einmal auf das Bild und auf ihre Gestalt, wie sie, den Arm des Bruders nehmend, mit diesem durch die hohe Thür schritt, und er empfand eine Zärtlichkeit und ein Mitleid mit ihr, das ihn selbst in Erstaunen versetzte.
Sie hatte Lewin und Workujeff gebeten, in den Salon zu treten, während sie selbst zurückgeblieben war, um mit dem Bruder über Etwas zu sprechen.
„Spricht sie von ihrer Ehescheidung, von Wronskiy, oder darüber, was er im Klub macht, oder von mir?“ dachte Lewin, und die Frage, was sie mit Stefan Arkadjewitsch besprechen möchte, versetzte ihn so in Aufregung, daß er fast gar nicht vernahm, was ihm Workujeff über die Vorzüge des von Anna Arkadjewna geschriebenen Kinderromans erzählte.
Beim Thee wurde das nämliche, so angenehme, gehaltvolle Gespräch fortgesetzt. Es gab nicht nur keine einzige Minute, während welcher man nach einem Stoff für die Unterhaltung hätte suchen müssen, sondern im Gegenteil war fühlbar, daß man nur aussprach, was man sagen wollte, um sogleich bereitwillig innezuhalten und zu hören, was der andere sagte. Alles aber, was man auch sprechen mochte, sagte sie es nun selbst, oder Workujeff, oder Stefan Arkadjewitsch, alles erhielt wie Lewin schien, dank ihrer Aufmerksamkeit und ihren Bemerkungen, ein eigenartiges Gewicht.
Das interessante Gespräch verfolgend, versenkte sich Lewin während der ganzen Zeit in ihren Anblick und in ihre Schönheit, ihren Geist, ihre Bildung, und zugleich in ihre Natürlichkeit und Innerlichkeit. Mochte er zuhören oder reden, fortwährend dachte er an sie, an ihr inneres Leben, und bemühte sich, ihre Empfindungen zu erraten.
Er, der sie früher so streng verurteilt hatte, er rechtfertigte sie jetzt nach einem seltsamen Gedankengang, bemitleidete sie zugleich, und fürchtete, daß Wronskiy sie nicht vollkommen verstehen möchte. In der elften Stunde, als Stefan Arkadjewitsch sich erhob, um vorzufahren — Workujeff war schon[348] zeitiger aufgebrochen — schien es Lewin, als sei er soeben erst angekommen. Nur ungern stand er gleichfalls auf.
„Lebt wohl,“ sagte sie, seine Hand festhaltend und ihm mit anziehendem Blick ins Auge schauend; „ich freue mich recht sehr, que la glace est rompue.“ Sie ließ seine Hand los und blinzelte mit den Augen. „Teilt Eurer Gattin mit, daß ich sie noch so lieb habe wie früher, und daß ich, wenn sie mir meine Situation nicht vergeben kann, wünsche, sie möge mir niemals verzeihen. Um vergeben zu können, muß man durchleben, was ich durchlebt habe, und davor behüte sie der Himmel.“
„Ich werde es sicher ausrichten,“ sagte Lewin errötend.
„Welch ein bewundernswertes, liebenswertes und beklagenswertes Weib,“ dachte er, als er mit Stefan Arkadjewitsch in die kalte Luft hinaustrat.
„Nun, was sagst du? Ich hatte dir schon gesagt,“ begann Stefan Arkadjewitsch, welcher sah, daß Lewin vollständig besiegt war.
„Ja,“ versetzte dieser gedankenvoll, „ein ungewöhnliches Weib! Nicht nur, daß sie Verstand besitzt, sie ist auch wunderbar innig. Mir thut sie außerordentlich leid.“
„Jetzt wird ja wohl, so Gott will, bald alles in Ordnung sein. Man muß nur nicht zu früh richten,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, die Wagenthür öffnend; „entschuldige, wir haben doch nicht einen Weg.“
Fortwährend an Anna denkend, an alle die so einfachen Gespräche, welche mit ihr gepflogen worden waren, und sich dabei alle Einzelheiten ihres Gesichtsausdrucks ins Gedächtnis zurückrufend, mehr und mehr in ihre Lage eindringend und Mitleid mit ihr empfindend, fuhr Lewin nach Hause.
Daheim berichtete ihm Kusma, daß Katharina Aleksandrowna sich wohl befinde, sowie, daß die Schwestern nicht lange erst weggefahren wären, und überreichte zwei Briefe.
Lewin las dieselben gleich an Ort und Stelle, im Vorzimmer, um sich später nicht davon ablenken lassen zu müssen.[349] Der eine Brief war von Sokoloff, seinem Verwalter. Sokoloff schrieb, daß der Weizen nicht verkauft werden könne, da man nur fünf und einen halben Rubel gebe, und ein höheres Gebot nirgends zu erlangen sei. Der andere Brief war von seiner Schwester. Dieselbe machte ihm Vorwürfe darüber, daß ihre Angelegenheit noch immer nicht erledigt sei.
„Nun; so werden wir für fünfeinhalb verkaufen, wenn man nicht mehr geben will,“ entschied Lewin sofort mit einer ungewöhnlichen Leichtfertigkeit die erste Frage, die ihm früher so schwierig erschienen war. „Wunderbar, wie hier die Zeit stets in Anspruch genommen ist,“ dachte er bei dem zweiten Briefe. Er fühlte sich schuldig der Schwester gegenüber, weil er bis jetzt nicht erledigt hatte, worum sie ihn gebeten. „Ich bin heute wieder nicht aufs Gericht gekommen, aber es war heute auch, als hätte man nicht die geringste Zeit.“ Nachdem er beschlossen hatte, es morgen entschieden zur Ausführung zu bringen, begab er sich zu seiner Gattin. Auf dem Wege zu ihr ging er noch einmal schnell in der Erinnerung den ganzen Tag durch, so wie er ihn verbracht hatte. Alle Erlebnisse des Tages bestanden in Gesprächen — Gesprächen, welche er angehört und an denen er teilgenommen hatte.
Alle Gespräche hatten von Dingen gehandelt, mit denen er sich, hätte er allein und auf dem Lande gelebt, nie würde beschäftigt haben, die aber hier sehr interessant waren. Alle diese Gespräche waren auch gut gewesen; nur in zwei Punkten nicht so ganz. Der eine betraf das, was er von dem Hechte gesagt hatte, der andere, daß ihm Etwas „nicht richtig“ vorkam in dem zarten Mitgefühl, welches er für Anna empfand.
Lewin fand sein Weib verstimmt und gelangweilt. Die Tafel der drei Schwestern hatte sich ganz heiter gestaltet, dann aber hatte man auf ihn gewartet und gewartet, alles begann sich zu langweilen, die Schwestern fuhren von dannen und sie war allein zurückgeblieben.
„Nun, was hast du denn gemacht?“ frug sie, ihm in die Augen blickend, welche ein wenig verdächtig glänzten. Um ihn nicht zu hindern, alles zu erzählen, verbarg sie jedoch ihre Wahrnehmung und hörte mit billigendem Lächeln seiner Erzählung zu, wie er den Abend verlebt hatte.
„Nun, ich freute mich sehr, daß ich Wronskiy begegnet bin.[350] Ich habe mich recht wohl und unbefangen in seiner Gesellschaft gefühlt. Du begreifst, daß ich mich jetzt bemühen werde, ihn nie wieder zu sehen; aber diese peinliche Situation mußte doch ihr Ende erreichen,“ sprach er, dachte daran, daß er „sich bemühend, ihn nie wieder zu sehen“, sogleich darauf zu Anna gefahren war, und errötete. „Da reden wir, daß das Volk trinkt; ich weiß nicht, wer mehr trinkt, das Volk oder unsere Gesellschaft; das Volk thut es wenigstens nur an Feiertagen, aber“ —
Kity interessierte indessen die Betrachtung, wie das Volk trinke, nicht. Sie hatte gesehen, daß er rot geworden war, und wünschte zu wissen, warum.
„Nun, und wo warest du dann?“
„Stefan bat mich aufs Dringendste, mit zu Anna Arkadjewna zu fahren.“
Lewin hatte dies kaum gesagt, als er noch mehr errötete, und seine Zweifel darüber, ob er gut oder übel daran gethan habe, zu Anna zu fahren, waren endgültig entschieden. Er wußte jetzt, daß es nicht gerade nötig gewesen war, dies zu thun.
Die Augen Kitys öffneten sich eigentümlich weit und blitzten auf bei dem Namen Annas, doch sich selbst bezwingend, verbarg Kity ihre Aufregung und täuschte ihn.
„Ah,“ sagte sie nur.
„Du wirst wohl nicht ungehalten sein, daß ich dahin gefahren bin. Stefan bat mich und Dolly wünschte es,“ fuhr Lewin fort.
„O nein,“ sagte sie, doch in ihren Augen las er ihre Anstrengung über sich selbst, die ihm nichts Gutes verhieß.
„Sie ist sehr liebenswürdig, sehr, sehr beklagenswert, ein gutes Weib,“ sagte er, von Anna erzählend, von ihren Beschäftigungen und von dem, was sie ihm auszurichten befohlen hatte.
„Ja, natürlich, sie ist sehr beklagenswert,“ sagte Kity, nachdem er geendet hatte. „Von wem hast du einen Brief erhalten?“
Er gab ihr Bescheid, und ging, der Ruhe in ihrem Tone vertrauend, sich auszukleiden.
Als er zurückkehrte, fand er Kity noch in demselben Sessel[351] sitzend. Nachdem er zu ihr hingetreten war, blickte sie ihn an und brach in Thränen aus.
„Was ist? Was ist denn?“ frug er, schon vorher den Grund kennend.
„Du hast dich verliebt in dieses abscheuliche Weib; sie hat dich bestrickt. Ich seh es an deinen Augen! Ja, ja; was soll daraus werden? Du hast im Klub getrunken, getrunken, gespielt und dann bist du zu ihr gefahren. Zu wem? Nein; wir reisen ab! Morgen reise ich ab!“
Lewin vermochte lange nicht, sein Weib zu beruhigen. Endlich hatte er sie indessen beschwichtigt, jedoch nur dadurch, daß er eingestand, daß das Gefühl des Mitleids im Verein mit dem Weine ihn verleitet habe, und daß er dem hinterlistigen Einfluß Annas unterlegen sei, diese aber fortan meiden werde.
Ein Umstand, welchen er am Aufrichtigsten eingestand, war der, daß er, so lange schon in Moskau, lediglich durch diese Unterhaltung, das Essen und Pokulieren um seine klare Vernunft gekommen sei.
So sprachen sie bis drei Uhr nachts, und erst um drei Uhr hatten sie sich so weit versöhnt, daß sie Schlaf fanden.
Nachdem Anna ihre Gäste hinausgeleitet hatte, begann sie, ohne wieder Platz zu nehmen, im Gemach auf und abzuschreiten. Obwohl sie unbewußt — wie sie in letzter Zeit in ihrem Verhalten jungen Männern gegenüber stets gethan — den ganzen Abend alles Mögliche versucht hatte, in Lewin die Empfindung der Liebe für sie zu erwecken, obwohl sie wußte, daß sie dies auch erreicht habe, so weit es eben in ihrem Verhältnis einem ehrenhaften verheirateten Manne gegenüber und für einen einzigen Abend möglich gewesen war — obwohl auch er selbst ihr sehr gefallen hatte (trotz des scharfen Kontrastes, welcher vom Gesichtspunkt des Mannes aus zwischen Wronskiy und Lewin bestand, sah sie als Weib in beiden ganz ebenso das Gemeinsame, wodurch Kity Wronskiy wie Lewin liebgewonnen hatte), dachte sie nicht mehr seiner, sobald er das Zimmer verlassen hatte.
Einundderselbe Gedanke verfolgte sie unablässig in verschiedenen Gestalten: „Wenn ich so auf andere wirke, auf[352] diesen häuslichen, liebenden Mann, wie kommt es da, daß er so kalt ist gegen mich? Oder vielmehr, nicht daß er kalt wäre, er liebt mich, ich weiß es; aber etwas Fremdartiges trennt uns jetzt! Wie kommt es, daß er den ganzen Abend nicht hier ist? Er hat mir durch Stefan sagen lassen, daß er Jaschwin nicht verlassen könne und dessen Spiel verfolgen müsse. Was für ein Kind ist dieser Jaschwin? Aber gesetzt, es wäre wirklich so — er spricht ja nie die Unwahrheit — so liegt in dieser Wahrheit doch etwas anderes! Er freut sich über die Gelegenheit, mir zeigen zu können, daß er auch noch andere Verpflichtungen hat. Ich weiß das, und bin damit einverstanden. Aber weshalb muß er mir dies zeigen? Er will mir beweisen, daß seine Liebe zu mir nicht seine Freiheit hemmen darf! Aber ich brauche keine Beweise, sondern Liebe! Er hätte wohl all das Drückende dieses meines Lebens in Moskau begreifen müssen; lebe ich denn? Ich lebe nicht, ich erwarte eine Lösung, die sich mehr und mehr hinauszieht. Wieder keine Antwort! Stefan sagt, er könne sich nicht zu Aleksey Aleksandrowitsch begeben. Ich kann aber doch nicht nochmals schreiben. Ich kann nichts thun, nichts anfangen, nichts ändern; ich halte mich ruhig zurück, warte ab, indem ich mir Zeitvertreib ersinne — wie die Familie des Engländers, die Schriftstellerei und Lektüre — und doch ist das alles nur eine Täuschung, alles das ist das nämliche Morphium! Er müßte mich beklagen,“ sprach sie und fühlte, wie ihr die Thränen des Jammers über sich selbst in die Augen traten.
Da vernahm sie das jähe Läuten Wronskiys und wischte eilig diese Thränen ab. Sie wischte nicht nur ihre Thränen weg, sie setzte sich noch zur Lampe und schlug ein Buch auf, sich den Anschein der Ruhe gebend. Galt es doch, ihm zu zeigen, daß sie mißgestimmt sei, weil er nicht zurückgekehrt war, wie er versprochen hatte — nur mißgestimmt; aber nimmermehr wollte sie ihm ihren Schmerz zeigen, oder gar etwa ihr Mitleid mit sich selbst.
Sie durfte wohl Mitleid haben mit sich selbst, nicht aber er mit ihr. Sie wollte keinen Hader, sie machte ihm einen Vorwurf daraus, daß er zu streiten wünschte, und doch geriet sie unwillkürlich in streitlustige Stimmung.
„Du hast dich doch nicht gelangweilt?“ sagte er, lebhaft[353] und heiter zu ihr kommend. „Welch eine furchtbare Leidenschaft — das Spiel.“ —
„Nein; ich habe mich nicht gelangweilt und habe schon seit langem gelernt, mich nicht zu langweilen. Stefan und Lewin waren hier.“
„Ja wohl; sie wollten zu dir fahren. Nun, wie hat dir Lewin gefallen?“ sprach er, sich neben ihr niederlassend.
„Sehr gut. Sie sind nicht lange erst weggefahren. Was hat Jaschwin gemacht?“
„Er war im Gewinnen; siebzehntausend Rubel. Ich rief ihn zu mir, er war vollkommen einverstanden, schon aufzubrechen, kehrte aber wieder um und verspielt jetzt.“
„Weshalb bist du denn dann geblieben?“ frug sie, plötzlich die Augen zu ihm erhebend. Der Ausdruck ihres Gesichts war kalt und feindselig, „du hast Stefan gesagt, du wolltest bleiben, um Jaschwin mit zu dir zu nehmen, und hast ihn doch verlassen.“
Der nämliche Ausdruck kalter Kampfbereitschaft drückte sich auch auf seinem Antlitz aus.
„Erstens habe ich ihn in keiner Weise gebeten, dich von etwas zu benachrichtigen, zweitens spreche ich nie die Unwahrheit. Die Hauptsache ist, ich wollte bleiben und bin geblieben,“ sagte er, finster sprechend. „Anna, warum, warum nur das?“ sprach er nach einer Minute des Schweigens, sich zu ihr beugend und die Hand öffnend in der Hoffnung, daß sie die ihre in sie legen werde.
Sie freute sich über diese Aufforderung, zärtlich zu sein, aber eine gewisse, seltsame Macht des Bösen gestattete ihr nicht, sich ihrem Zuge zu ihm hinzugeben, gleich als ob die Ursachen zum Hader es nicht zuließen, daß sie sich selbst überwinde.
„Natürlich; du wolltest bleiben und bist geblieben. Du thust eben, was du willst! Aber warum sagst du mir das? Zu welchem Zweck?“ sagte sie, immer mehr in Erregung geratend. „Macht dir denn jemand deine Rechte streitig? Du willst in deinem Rechte sein; sei es.“
Seine Hand schloß sich, er wandte sich ab und sein Gesicht nahm noch mehr als vorher einen Ausdruck von Trotz an.
„Für dich ist dies nur eine Frage des Eigensinnes,“ sagte sie, ihn unverwandt anblickend, indem sie plötzlich den Namen[354] fand für diesen sie in Wallung versetzenden Ausdruck seines Gesichts, „einfach des Trotzes! Für dich giebt es nur die Frage, wirst du Sieger bleiben gegen mich. Für mich aber“ — wieder empfand sie Mitleid mit sich selbst und sie wäre beinahe in Thränen ausgebrochen. „Wüßtest du, um was es sich für mich handelt! Wenn ich, so wie jetzt, fühle, daß du dich feindselig gegen mich verhältst, thatsächlich feindselig, wüßtest du, was das für mich bedeutet! Wenn du wüßtest, wie nahe ich in diesen Augenblicken dem Unglück bin, wie ich mich selbst fürchte!“ — Sie wandte sich ab, ihr Schluchzen unterdrückend.
„Wovon sprichst du da?“ sagte er, erschreckt vor dem Ausdruck ihrer Verzweiflung, und sich wiederum zu ihr neigend, ihre Hand ergreifend und sie küssend. „Meide ich etwa nicht den Umgang mit den Weibern?“
„Das wäre auch noch!“ sagte sie.
„Nun sag', was ich thun soll, damit du beruhigt bist? Ich bin bereit, alles zu thun, daß du glücklich sein möchtest,“ sprach er, gerührt von ihrer Verzweiflung, „was thue ich nicht, um dich von einem Schmerz zu befreien, wie er dich jetzt erfüllt, Anna,“ sagte er.
„Nicht doch, nicht doch,“ sprach sie, „ich weiß selbst nicht; ist es das einsame Leben, sind es die Nerven — nun, wir wollen nicht weiter davon sprechen! Wie war es mit dem Rennen? Du hast mir nicht davon erzählt?“ frug sie, sich bemühend, den Triumph über den Sieg zu verbergen, welcher nun doch auf ihrer Seite geblieben war.
Er befahl das Abendessen und begann ihr Einzelheiten über die Rennen zu erzählen, aber an seinem Tone, seinen Blicken, die kühler und kühler wurden, erkannte sie, daß er ihr ihren Sieg nicht vergeben hatte, daß jenes Gefühl des Trotzes, gegen welchen sie gekämpft hatte, wieder in ihm erstanden war. Er war kühler gegen sie, als vorher, gleichsam als bereute er es, sich unterworfen zu haben, während sie, an die Worte denkend, welche ihr den Sieg verliehen hatten „ich bin nahe einem furchtbaren Unglück und fürchte mich selbst“, erkannt hatte, daß diese Waffe eine gefährliche war, und sie dieselbe nicht ein zweites Mal anwenden könne.
Sie fühlte aber auch, daß neben der Liebe, die sie beide[355] vereinte, zwischen ihnen der böse Geist einer Kampflust getreten war, den sie weder aus seinem Herzen, noch viel weniger aber aus dem ihren zu vertreiben vermochte.
Es giebt keine Verhältnisse, an die sich der Mensch nicht gewöhnen könnte; besonders wenn er sieht, daß alle, die ihn umgeben, ebenso leben.
Lewin hätte vor drei Monaten nicht geglaubt, daß er unter den Verhältnissen, in denen er sich jetzt befand, ruhig einschlafen könne; nie gedacht, daß er, indem er ein zweckloses, gehaltloses Leben führte, welches noch dazu über seine Mittel ging, nach seinem Rausche, — denn anders konnte er das nicht nennen, was es im Klub gab — nach Anknüpfung ungereimter, freundschaftlicher Beziehungen zu einem Manne, in welchen einst seine Frau verliebt gewesen war, und einem noch ungereimteren Besuch bei einer Frau, die man nur als gefallen bezeichnen konnte, sowie nach seinem Enthusiasmus für diese Frau und der Erbitterung der Gattin — unter solchen Verhältnissen ruhig einschlafen könne. Allein unter dem Einfluß der Ermüdung, einer schlaflos verbrachten Nacht und des genossenen Weines, entschlief er sanft und selig.
Um fünf Uhr weckte ihn das Kreischen einer geöffneten Thür. Er fuhr auf und schaute sich um. Kity war nicht mehr im Bett neben ihm, aber hinter der spanischen Wand bewegte sich ein Licht und er vernahm ihre Schritte.
„Was giebt es, was giebt es?“ sprach er, aus dem Schlafe auffahrend, „Kity, was ist?“
„Nichts,“ antwortete diese, das Licht in der Hand, hinter der Zwischenwand hervortretend. „Es war mir unwohl geworden,“ sagte sie, mit eigentümlich weichem ausdrucksvollen Lächeln.
„Was ist? Fängt es an, fängt es an?“ fuhr er erschreckt fort, „da muß geschickt werden,“ und hastig wollte er sich ankleiden.
„Nein, nein,“ sagte sie, lächelnd, und ihn mit der Hand zurückhaltend. „Es ist augenscheinlich nicht von Bedeutung. Es war mir nur ein wenig unwohl geworden. Jetzt aber ist es vorüber.“
Zu ihrem Bett gehend, löschte sie wieder das Licht, legte sich nieder und blieb still liegen. Obwohl ihm ihre Ruhe, wie die eines verhaltenen Atmens, und mehr noch der Ausdruck einer eigenartigen Weichheit und Aufgeregtheit an ihr, mit welchem sie, hinter der Zwischenwand hervortretend, das „nichts“ zu ihm gesagt hatte, verdächtig erschien, verlangte es ihn doch so sehr nach Schlaf, daß er sofort wieder einschlummerte. Erst später gedachte er dieses stillen Atmens, verstand er da alles, was in ihrer edlen, lieben Seele damals vor sich gegangen war, als sie, ohne sich zu rühren, in der Erwartung des wichtigsten Ereignisses im Leben des Weibes, neben ihm gelegen hatte.
Um sieben Uhr erweckte ihn ihre Hand, die ihn an der Schulter berührte, sowie ein leises Flüstern. Sie kämpfte gleichsam noch zwischen dem Bedauern, ihn wecken zu müssen und dem Wunsche, mit ihm zu sprechen.
„Mein Konstantin, erschrick nicht. Es ist nichts. Aber nur scheint — wir müssen nach der Lisabetha Petrowna schicken“ —
Das Licht wurde wieder angezündet. Sie setzte sich im Bett und hielt ein Strickzeug in der Hand, mit welchem sie sich in den letzten Tagen beschäftigt hatte.
„Bitte, erschrick nicht, es ist nichts. Ich habe durchaus keine Angst,“ sprach sie, sein erschrecktes Gesicht gewahrend, und drückte seine Hand an ihren Busen und dann an ihre Lippen.
Eilig sprang er auf, sich selbst nicht mehr empfindend und kein Auge von ihr wendend, zog seinen Hausrock an und blieb stehen, sie noch immer anblickend. Er mußte gehen, konnte sich aber nicht losreißen von ihrem Blick. Wie sehr er auch ihr Antlitz liebte, ihre Mienen kannte, und ihren Blick, aber so hatte er sie doch noch nie gesehen! Wie abscheulich und furchtbar erschien er jetzt sich selbst, indem er sich ihrer gestrigen Erbitterung entsann, hier vor ihr in ihrer Lage jetzt! Ihr gerötetes Gesicht, umgeben von dem sich unter dem Nachthäubchen hervordrängenden, weichen Haar, schimmerte von Freude und Entschlossenheit. So wenig Unnatürliches und Gekünsteltes auch im allgemeinen Charakter Kitys lag, so war Lewin dennoch betroffen von dem, was sich vor ihm jetzt[357] enthüllte, als plötzlich alle die Schleier abgenommen waren, und der ganze Kern ihrer Seele in ihren Augen leuchtete.
In dieser Einfachheit und Hüllenlosigkeit wurde sie, die, welche er liebte, noch klarer sichtbar für ihn. Lächelnd schaute sie auf ihn, doch plötzlich erbebten ihre Brauen, sie hob das Haupt, und schnell zu ihm tretend, nahm sie ihn bei der Hand; sie schmiegte sich eng an ihn, und umgab ihn mit ihrem heißen Odem. Sie litt und es war, als beklage sie sich bei ihm über ihr Leiden. Auch ihm schien im ersten Augenblick nach seiner Gewohnheit, als sei er schuldig, aber in ihrem Blick lag eine Zärtlichkeit, welche sagte, daß sie ihm nicht nur keinen Vorwurf mache, sondern ihn für diese Leiden liebe. „Wenn ich es nicht bin — wer trüge dann die Schuld hieran?“ dachte er unwillkürlich, den Urheber aller dieser Leiden suchend, um ihn zu strafen; aber es war kein Schuldiger da. Sie litt, klagte und triumphierte zugleich über diese Leiden, sie freute sich ihrer und liebte sie. Er sah, daß sich in ihrer Seele etwas Schönes vollziehe, aber was es war? Er konnte es nicht erfassen. Es stand über seinem Erkenntnisvermögen.
„Ich habe zu Mama geschickt, fahre du möglichst schnell nach der Lisabetha Petrowna — mein Konstantin — es ist nichts; schon vorüber“ — Sie verließ ihn und schellte. „Also geh jetzt; Pascha kommt. Mir fehlt nichts.“
Mit Verwunderung sah Lewin, daß sie die Strickerei ergriff, die sie am Abend mitgebracht hatte und von neuem zu stricken begann.
Während Lewin durch die eine Thür hinausging, hörte er noch, wie das Mädchen durch die andere hereintrat. Er blieb an der Thür stehen und vernahm, wie Kity der Zofe ausführliche Anweisungen erteilte, und mit ihr selbst das Bett zu rücken begann.
Er kleidete sich an und eilte, bis man die Pferde angespannt haben würde — ein Mietgeschirr war noch nicht zu haben — wieder nach dem Schlafzimmer, nicht auf den Fußspitzen, sondern auf Flügeln wie ihm schien.
Zwei Mädchen räumten geschäftig um im Schlafzimmer; Kity selbst ging umher und strickte, schnell die Maschen werfend und Anordnungen dabei treffend.
„Ich werde sogleich zum Arzte eilen. Nach der Lisabetha Petrowna ist man gefahren; ich aber will erst noch hin, ist nicht noch etwas nötig? Soll ich zu Dolly?“
Sie blickte ihn an, offenbar ohne zu hören, was er sprach.
„Ja, ja. Geh,“ sprach sie schnell, sich verfinsternd und ihm mit der Hand zuwinkend. Er war schon in den Salon hinaus, als plötzlich ein klägliches, sogleich wieder verstummendes Stöhnen aus dem Schlafzimmer ertönte. Er blieb stehen und konnte lange nicht verstehen.
„Ja; das war sie,“ sagte er zu sich selbst und lief, sich nach dem Kopfe greifend, hinab. „Gott erbarme dich! Vergieb mir und steh' mir bei!“ stammelte er mit Worten, die gleichsam plötzlich und unerwartet ihm über die Lippen kamen. Er, der da nicht glaubte, wiederholte diese Worte nicht nur mit dem Munde allein. Jetzt, in dieser Minute erkannte er, daß nicht nur alle seine Zweifel, sondern auch die Unmöglichkeit, aus Verstandesgründen zu glauben, die er in sich selbst wahrgenommen hatte, ihn keineswegs daran verhinderten, sich an Gott zu wenden. Alles das flog ihm jetzt wie Staub von seiner Seele herunter. An wen sollte er sich wenden, wenn nicht an den, in dessen Händen er sich fühlte, seine Seele und seine Liebe?
Das Pferd war noch nicht fertig, und so eilte er im Gefühl einer eigentümlichen Spannung seiner physischen Kräfte und Wahrnehmungsfähigkeit für das, was er zu thun hatte, damit nicht eine Minute verloren ging — ohne auf das Pferd zu warten — zu Fuß hinweg und befahl Kusma, ihm nachzukommen. An der Ecke traf er auf eine daherjagende Nachtdroschke. In einem kleinen Schlitten, mit kurzem Sammetpelzmantel und in ein Umschlagtuch gewickelt, saß Lisabetha Petrowna.
„Gott sei Dank, Gott sei Dank!“ sagte er, mit Entzücken sie und ihr kleines blondes Gesicht, welches jetzt einen eigentümlich ernsten, sogar strengen Ausdruck hatte, erkennend. Ohne dem Kutscher zu befehlen, anzuhalten, rannte er neben ihr wieder mit zurück.
„Also seit zwei Stunden? Nicht wahr?“ frug sie, „Ihr werdet Peter Dmitrjewitsch schon treffen, aber drängt ihn nur nicht! Nehmt auch Opium aus der Apotheke mit.“
„So denkt Ihr also, daß es glücklich geht? Gott erbarme sich und steh' mir bei!“ sagte Lewin, welcher jetzt sein aus dem Thor herauskommendes Geschirr erblickte. Zu Kusma in den Schlitten springend, befahl er diesem, zum Arzt zu fahren.
Der Arzt war noch nicht aufgestanden und der Diener sagte, er sei spät zu Bett gegangen und habe nicht befohlen, ihn zu wecken, doch stehe er bald auf.
Der Diener putzte Lampengläser und schien davon sehr in Anspruch genommen zu sein. Diese Aufmerksamkeit des Dieners für seine Gläser und der Gleichmut gegenüber dem, was sich bei Lewin vollzog, setzte diesen anfangs außer Fassung, doch erkannte er, zur Überlegung kommend sogleich, daß ja niemand seine Empfindungen kenne, und kennen müsse, und es daher um so notwendiger sei, ruhig zu handeln, wohlüberlegt und entschlossen, um diese Mauer der Indifferenz zu durchbrechen und seinen Zweck zu erreichen.
„Eile mit Weile,“ sagte Lewin zu sich selbst, mehr und mehr eine Zunahme seiner physischen Kräfte, sowie seiner Wahrnehmungsfähigkeit für alles das, was er zu thun hatte, verspürend.
Nachdem er gehört, daß der Arzt noch nicht aufgestanden sei, blieb Lewin innerhalb der verschiedenen Pläne, die in ihm erstanden, bei dem, daß Kusma mit einem Billet zu einem andern Arzte fuhr, während er selbst in die Apotheke nach Opium eilte; sollte aber, wenn er zurückkäme, der Doktor noch nicht aufgestanden sein, so wollte er den Diener bestechen oder wenn derselbe nicht einwilligte, den Arzt mit Gewalt wecken, koste es, was es wolle.
In der Apotheke verschloß ein dürrer Provisor mit ganz dem nämlichen Gleichmut, mit welchem der Lakai die Gläser geputzt hatte, vermittelst einer Oblate Pulver für einen wartenden Kutscher, und verweigerte das Opium. Im Bestreben, nichts zu überhasten und nicht in Aufregung zu geraten, begann Lewin, nachdem er den Namen des Arztes und der Hebamme genannt, und erklärt hatte, wozu das Opium nötig sei, den Provisor zu überreden. Derselbe frug in deutscher Sprache um Rat, ob er es geben könne, und holte, nachdem[360] er hinter einer Zwischenwand heraus Zustimmung erhalten hatte, ein Gläschen und einen Trichter herbei, worauf er langsam aus einem großen Gefäß in ein kleines Fläschchen goß, einen weißen Papierstreif anklebte und siegelte. Ungeachtet der Bitte Lewins, es nicht zu thun, wollte er das Fläschchen nochmals einwickeln. Das konnte aber Lewin nicht mehr aushalten; entschlossen riß er dem Manne das Fläschchen aus den Händen und stürzte zu der großen Glasthür hinaus.
Der Arzt war noch nicht aufgestanden, und der Diener, jetzt mit dem Aufbreiten eines Teppichs beschäftigt, weigerte sich, ihn zu wecken. Lewin zog ohne Überstürzung ein Zehnrubelpapier hervor, gab es ihm, mit einigen langsam gesprochenen Worten, aber ohne Zeit zu verlieren, und erklärte, daß Peter Dmitrjewitsch — wie erhaben und bedeutungsvoll erschien Lewin jetzt der vorher so unbedeutend gewesene Peter Dmitrjewitsch — versprochen habe, zu jeder Zeit da sein zu wollen, und sicherlich nicht ungehalten sein werde selbst darüber, daß er ihn sogleich wecke.
Der Diener gehorchte, ging nach oben und lud Lewin ein, in das Empfangszimmer zu treten.
Lewin vermochte hinter der Thür zu hören, wie der Arzt hustete, umherging, sich wusch und Etwas sagte. Es vergingen drei Minuten; Lewin schien es, als wäre mehr als eine halbe Stunde vergangen. Er konnte nicht länger warten.
„Peter Dmitrjewitsch, Peter Dmitrjewitsch,“ rief er mit beschwörender Stimme in die geöffnete Thür hinein; „um Gottes willen, verzeiht mir, nehmt mich heute, wie ich bin; es hat schon seit mehr als zwei Stunden begonnen!“
„Sofort, sofort!“ antwortete eine Stimme und Lewin hörte mit Erstaunen, daß der Arzt dies lächelnd sagte.
„Auf eine Minute!“
„Sogleich.“
Es vergingen noch zwei Minuten, während deren der Arzt die Stiefel anzog, zwei weitere, während er das Tuch umwarf und sich den Kopf bürstete.
„Peter Dmitrjewitsch,“ begann Lewin abermals mit kläglicher Stimme, doch gerade erschien der Arzt, angekleidet und gekämmt. „Diese Leute haben kein Gewissen,“ dachte Lewin, „sich zu kämmen, während wir verderben!“
„Guten Morgen!“ sagte der Arzt zu ihm, die Hand hinreichend, als wollte er ihn mit seiner Ruhe necken. „Beunruhigt Euch nicht, wie steht es?“
Sich bemühend, so ausführlich wie möglich zu sein, begann Lewin alle unnötigen Einzelheiten über den Zustand seiner Frau zu erzählen, seinen Bericht unaufhörlich mit Bitten, der Arzt möchte sogleich mit ihm kommen, unterbrechend.
„Habt keine Angst; Ihr kennt das wohl noch nicht. Ich bin gewiß gar nicht notwendig, habe es aber versprochen und werde kommen. Aber Eile hat es keine. Setzt Euch doch gefälligst; ist nicht ein Kaffee gefällig?“
Lewin schaute ihn an, mit dem Blick fragend, ob sich der Arzt über ihn lustig machen wolle. Doch dieser dachte gar nicht daran, zu scherzen.
„Ich weiß schon, weiß schon,“ sprach er lächelnd, „auch ich bin Familienvater, aber wir, die Männer, sind in diesen Augenblicken doch die beklagenswertesten Menschen. Ich habe da eine Patientin, deren Mann in solchen Momenten stets in den Pferdestall läuft.“
„Aber wie meint Ihr, Peter Dmitrjewitsch? Glaubt Ihr, daß alles glücklich gehen kann?“
„Alle Bedingungen für einen günstigen Ausgang sind vorhanden.“
„Ihr kommt also sofort?“ sagte Lewin, zornig auf den Diener blickend, der den Kaffee brachte.
„In einem Stündchen.“
„Ach, nein doch, um Gottes willen!“
„Aber dann laßt mich doch wenigstens meinen Kaffee trinken.“
Der Arzt widmete sich dem Kaffee. Beide schwiegen.
„Man wird die Türken doch entschieden schlagen. Habt Ihr die gestrige Depesche gelesen?“ sagte der Doktor semmelkauend.
„Nein; ich kann nicht mehr,“ rief Lewin aufspringend, „Ihr werdet also nach Verlauf einer Viertelstunde kommen?“
„In einer halben Stunde.“
„Auf Ehrenwort?“
Als Lewin wieder nach Hause kam, traf er mit der Fürstin zusammen, und beide begaben sich zur Thür des Schlafzimmers.[362] Die Fürstin hatte Thränen in den Augen und ihre Hände zitterten; als sie Lewin erblickte, umarmte sie ihn und brach in Thränen aus.
„Nun, liebe Lisabetha Petrowna,“ sagte sie, die ihnen mit hellem, sorglichen Gesicht daraus entgegentretende Lisabetha Petrowna an der Hand fassend.
„Es geht gut,“ sagte sie, „überredet sie nur, sich niederzulegen. Es wird ihr dann leichter sein.“
Seit dem Augenblick, als er erwacht war und erkannt hatte, um was es sich handelte, hatte er sich darauf vorbereitet, ohne Erwägungen und Vermutungen im voraus anzustellen, alle Gedanken und Gefühle in sich verschließend, mannhaft, sein Weib nicht aus der Fassung bringend, sondern im Gegenteil sie beruhigend und ihren Heldenmut stützend — zu ertragen, was ihm bevorstand.
Ohne sich zu gestatten, nur daran zu denken, was kommen würde, und wie das enden sollte, nur nach seinen eingehenden Erkundigungen, wie sehr sich derartige Ereignisse gewöhnlich in die Länge zögen, urteilend, hatte sich Lewin innerlich gefaßt gemacht, zu dulden, fünf Stunden lang, und es hatte ihm das auch möglich geschienen.
Als er indessen vom Arzte heimgekommen war und von neuem ihre Leiden sah, begann er öfter und öfter zu wiederholen „Gott vergieb mir und steh' mir bei!“ und seufzend den Kopf emporzuheben, und fing an zu befürchten, daß er dies nicht aushalten, sondern in Thränen ausbrechen, oder davonlaufen würde. In solch qualvoller Stimmung befand er sich, und doch war erst eine Stunde vergangen.
Aber nach dieser Stunde verging noch eine; zwei, drei, alle fünf Stunden vergingen, die er sich als höchste Frist seiner Geduldsprobe gesetzt hatte, und die Situation war noch immer dieselbe; er litt noch immer, weil sich weiter nichts thun ließ als leiden, jede Minute denkend, er sei bis an die äußersten Grenzen der Geduld gekommen, und das Herz müsse ihm nun von Mitleid zerrissen werden.
Aber Minuten vergingen, Stunden, Stunden auf Stunden, und die Empfindungen von Schmerz und Angst in ihm wuchsen und wurden noch höher gespannt.
Alle jene gewöhnlichen Verhältnisse im Leben, ohne die[363] man sich gewöhnlich nichts vorstellen kann, waren für Lewin nicht mehr vorhanden. Er hatte das Zeitbewußtsein verloren. Jene Minuten — jene Minuten, da sie ihn zu sich rief und er ihre schweißbedeckte, mit außergewöhnlicher Kraft seine Hand bald pressende, bald hinwegstoßende Rechte hielt, schienen ihm bald Stunden, bald schienen sie ihm Minuten. Er war verwundert, als Lisabetha Petrowna ihn bat, das Licht hinter dem Schirm anzuzünden und als er wahrnahm, daß es bereits fünf Uhr abends war.
Hätte man ihm gesagt, daß es jetzt erst zehn Uhr morgens wäre, er würde ebensowenig verwundert gewesen sein. Wo er während dieser Zeit war, wußte er ebensowenig, wie wenn Etwas geschah. Er sah ihr glühendes, bald verzweifeltes und leidendes, bald lächelndes und ihn beschwichtigendes Gesicht. Er sah auch die Fürstin, rot im Gesicht, aufgeregt, mit den aufgegangenen Locken der grauen Haare, und in Thränen, die sie mühsam verschluckte, sich die Lippen zernagen; er sah Dolly, den Arzt, welcher dicke Cigaretten rauchte, und Lisabetha Petrowna mit ihrem festen, energischen und ruhigen Gesicht, sowie den alten Fürsten, der mit finsterem Gesicht im Salon auf und abschritt. Aber wie sie gekommen waren oder gingen, wo sie waren — er wußte es nicht.
Die Fürstin war bald bei dem Arzte im Schlafzimmer, bald im Kabinett, wo sich ein gedeckter Tisch befand; bald war sie abwesend und Dolly war da. Dann erinnerte sich Lewin, daß man ihn fortgeschickt hatte; einmal hatte man ihn geschickt, einen Tisch und ein Sofa zu transportieren. Er hatte dies voll Eifers gethan, indem er meinte, es sei für sie nötig, und erst dann erkannt, daß er sich selbst damit ein Nachtlager bereitet hatte. Darauf sandte man ihn zum Arzt ins Kabinett, damit er nach etwas frage. Der Arzt antwortete und begann dann von den Unordnungen in der Duma zu sprechen. Hierauf schickte man ihn in das Schlafzimmer zur Fürstin, derselben ein Heiligenbild in silbernem, vergoldetem Gewand zu bringen. Er kletterte nebst der alten Kammerfrau der Fürstin auf einen Schrank, um es zu erlangen und zerbrach dabei eine Lampe; die Kammerfrau der Fürstin beruhigte ihn über seine Frau und über die Lampe und er brachte das Heiligenbild und stellte es zu Häupten Kitys, es sorgfältig[364] hinter die Kissen steckend. Aber wo, wann und warum alles das war, wußte er nicht. Er verstand auch nicht, weshalb ihn die Fürstin bei der Hand nahm und ihn mit einem Blick voll Mitleid bat, sich zu beruhigen, weshalb Dolly ihm zuredete, zu essen, und ihn aus dem Zimmer führte, ja, selbst der Doktor ihn ernst und teilnahmsvoll anschaute und ihm einen stärkenden Tropfen empfahl.
Er wußte und fühlte nur, daß das, was sich jetzt vollzog, dem ähnlich war, was sich ein Jahr vorher in dem Hotel der Gouvernementsstadt auf dem Totenbett seines Bruders Nikolay vollzogen hatte.
Jenes aber war ein Schmerz gewesen — dies war eine Freude! — Doch sowohl jener Schmerz, wie diese Freude lagen vereinsamt außerhalb aller gewohnten Verhältnisse des Lebens; sie bildeten in diesem gewöhnlichen Leben gleichsam Öffnungen, durch welche etwas Höheres erschien. In ganz gleicher Weise unergründlich, erhob sich die Seele vor der Betrachtung dieses Höchsten auf eine Höhe, wie sie nie zuvor begriffen, und wohin der Verstand nicht mehr reichte.
„Gott vergieb mir und steh' mir bei,“ stammelte er ohne Unterlaß, ungeachtet der so langjährigen und ihm vollkommen erschienenen Entfremdung, in dem Gefühl, daß er sich ganz so vertrauensselig und naiv wieder zu Gott wende, wie in den Zeiten seiner Kindheit und ersten Jugend.
Während dieser ganzen Zeit herrschten in ihm zwei in sich gesonderte Stimmungen. Die eine war vorhanden, wenn er sich nicht in der Gegenwart seiner Frau befand; sie gruppierte sich um den Arzt, welcher eine seiner dicken Zigaretten nach der anderen rauchte und sie dann an dem Rande des gefüllten Aschenbechers löschte, um Dolly und den Fürsten, von denen ein Gespräch über das Essen, über die Politik und die Krankheit Marja Petrownas gepflogen wurde, und wo Lewin plötzlich auf einen Moment völlig vergaß, was vorging, sich gleichsam erwacht fühlte — die andere herrschte in ihm, wenn er in ihrer Gegenwart war; an ihrem Kopfkissen stand, und es ihm das Herz zerreißen wollte vor Mitleid und doch nicht zerriß, und wo er ohne Aufhören zu Gott flehte.
Jedesmal, wenn ihn ein aus dem Schlafzimmer zu ihm dringender Schrei einer Minute des Vergessens wieder entriß,[365] geriet er in den nämlichen seltsamen Irrtum, dem er in der ersten Minute verfallen war. Jedesmal, sobald er einen Schrei vernahm, sprang er auf und eilte, um sich zu entschuldigen, besann sich aber unterwegs, daß er ja nicht schuld sei; er wollte schützen, helfen. Erblickte er sie aber dann, sah er von neuem, daß es unmöglich sei zu helfen, so geriet er in Schrecken und sprach „Gott vergieb mir und steh mir bei.“
Je weiter die Zeit vorrückte, um so stärker wurden diese beiden Stimmungen; um so ruhiger wurde er, indem er seine Frau völlig vergaß, in der Abwesenheit von ihr, um so qualvoller wurden ihm aber auch ihre Leiden und das Gefühl der Hilflosigkeit, diesen gegenüber. Er sprang empor, wollte fort, und lief zu ihr.
Bisweilen, wenn sie ihn immer und immer wieder rief, machte er ihr Vorwürfe, doch wenn er ihr ergebenes, lächelndes Antlitz gesehen, ihre Worte gehört hatte: „Ich martere dich,“ machte er Gott Vorwürfe, gedachte er aber Gottes, so flehte er sogleich um Vergebung und Erbarmen.
Er wußte nicht, ob es spät oder früh war. Die Kerzen waren schon sämtlich niedergebrannt. Dolly war soeben im Kabinett gewesen und hatte dem Arzte vorgeschlagen, sich niederzulegen.
Lewin saß, den Erzählungen des Doktors über den Charlatanismus eines Magnetiseurs zuhörend, und schaute auf die Asche seiner Cigarette. Es war eine Ruhepause eingetreten und er hatte sich in Gedanken verloren. Er hatte vollständig vergessen, was jetzt vorging, hörte der Erzählung des Arztes zu und verstand sie. Plötzlich ertönte ein mit nichts mehr zu vergleichender Schrei. Der Schrei war so furchtbar, daß Lewin nicht einmal aufsprang, sondern mit stockendem Atem, erschrocken fragend den Arzt anblickte. Dieser neigte lauschend den Kopf seitwärts, und lächelte befriedigt. Alles war so außergewöhnlich gewesen, daß Lewin schon nichts mehr in Erstaunen versetzte. „Es muß wahrscheinlich so sein,“ dachte er und blieb sitzen. Von wem rührte der Schrei her? Er sprang auf und eilte auf den Fußspitzen in das Schlafzimmer; er eilte an Lisabetha Petrowna und der Fürstin vorüber und[366] trat auf seinen Platz zu Häupten. Der Schrei war verstummt, aber es ging jetzt eine Veränderung vor sich. Was es war — das sah und erkannte er nicht, wollte er auch weder sehen, noch erkennen. Aber er nahm diese Veränderung wahr an dem Gesicht Lisabetha Petrownas, welches streng und bleich, noch immer so energisch war, obwohl ihre Kinnbacken bisweilen leise bebten und ihre Augen unverwandt auf Kity gerichtet waren.
Das glühende, erschöpfte Antlitz Kitys mit dem am schweißbedeckten Gesicht klebenden Haargewirr war ihm zugewendet und suchte seinen Blick. Ihre erhobenen Arme verlangten nach den seinen, und mit ihren schweißbedeckten Händen die seinen, welche kalt waren, fassend, drückte sie dieselben an ihr Gesicht.
„Geh' nicht von mir, geh' nicht von mir! Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst!“ sprach sie rasch. „Mama, nehmt mir die Ohrringe weg, sie stören mich. Hast du auch keine Angst? — Bald, bald, Lisabetha Petrowna!“ —
Sie sprach schnell, schnell, und wollte lächeln, aber plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht und sie stieß ihn von sich.
„Nein, das ist furchtbar! Ich sterbe, sterbe! Komm her, komm her!“ schrie sie auf, und wieder ertönte der nämliche, mit nichts zu vergleichende Schrei.
Lewin griff sich nach dem Kopfe und stürzte aus dem Zimmer hinaus.
„Es ist nichts, nichts; alles geht gut!“ rief Dolly ihm nach.
Doch was man auch sagen mochte, er wußte, daß jetzt alles verloren war. Den Kopf gegen die Oberschwelle der Thür gelehnt, stand er im Nebenzimmer und vernahm ein von ihm noch nie gehörtes Wimmern und Schreien; er erkannte, das jetzt ein Wesen schrie, welches früher Kity gewesen war. Ein Kind hatte er nicht gewünscht. Er haßte jetzt dieses Kind, ja wünschte jetzt nicht einmal dessen Leben, sondern nur die Abkürzung dieser entsetzlichen Leiden.
„Doktor! Was ist das! Was ist das; mein Gott!“ sagte er, den eintretenden Arzt am Arme packend.
„Es geht zu Ende,“ sagte der Arzt; sein Gesicht war so[367] ernst, als er dies sagte, daß Lewin dieses „es geht zu Ende“ in dem Sinne auffaßte, als ob sie stürbe.
Nicht mehr bei Sinnen, rannte er in das Schlafzimmer. Das erste, was er hier erblickte, war das Gesicht Lisabetha Petrownas. Es war noch finstrer und ernstrer geworden. Das Gesicht Kitys war nicht da. An der Stelle, wo es vorher gewesen, lag etwas Entsetzenerregendes, nach dem Ausdruck von Anstrengung und den Tönen die von dorther kamen, zu urteilen. Er fiel mit dem Kopfe auf die Bettstelle, und fühlte, wie es ihm das Herz zerriß. Das furchtbare Schreien verstummte nicht mehr, es wurde noch furchtbarer und, als wäre es bis zur höchsten Grenze des Entsetzlichen gelangt — verstummte es plötzlich. Lewin traute seinen Ohren nicht, aber es war nicht zu bezweifeln; das Schreien war verstummt und man hörte jetzt ein leises Geräusch und schnelles Atmen, sowie ihre sich losringende, lebhafte, milde und glückselige Stimme die ein leises „vorbei“ hervorbrachte.
Er hob den Kopf. Kraftlos die Hand auf die Bettdecke sinken lassend, schaute sie ihn, seltsam schön und still, wortlos an; sie wollte lächeln, vermochte es aber nicht, und plötzlich fühlte sich Lewin aus jener geheimnisvollen und furchtbaren, überirdischen Welt, in der er die letzten zweiundzwanzig Stunden gelebt hatte, in die frühere, gewohnte zurückversetzt, die ihm jetzt jedoch in solch neuem Glanze von Glück erschien, daß er ihn nicht ertragen konnte. Die gespannt gewesenen Saiten waren sämtlich gerissen. Schluchzen und Freudenthränen, die er nimmermehr vorausgesehen hätte, stiegen in ihm mit solcher Gewalt, seinen ganzen Körper erschütternd, auf, daß sie ihn lange Zeit am Sprechen verhinderten.
Auf die Kniee niederfallend vor dem Bett, hielt er die Hand seines Weibes an seine Lippen und küßte sie, und diese Hand antwortete seinen Küssen mit einer schwachen Bewegung der Finger. Währenddem aber bewegte sich unten, zu Füßen des Bettes, in den gewandten Händen der Lisabetha Petrowna, wie ein Flämmchen aus dem Leuchter, ein lebendiges menschliches Wesen hin und her, welches früher nie gewesen war, nun aber mit dem gleichen Rechte, mit der nämlichen Bedeutung für sich selbst, leben sollte und seinesgleichen zeugen.
„Es lebt, es lebt! Und noch dazu ein Junge! Fürchtet[368] nichts!“ hörte Lewin die Stimme der Lisabetha Petrowna, die mit der zitternden Hand klatschend den Rücken des Kindes schlug.
„Mama, ist es wahr?“ sagte die Stimme Kitys.
Nur das Schluchzen der Fürstin antwortete ihr.
Inmitten des Schweigens aber ertönte, wie eine unbegreifbare Antwort auf die Frage an die Mutter, eine Stimme, die vollkommen verschieden war von den Stimmen, welche verhalten im Zimmer sprachen. Es war der kecke, dreiste, unbekümmerte Schrei eines neuen menschlichen Wesens, das auf unbegreiflichem Wege erschienen ist.
Hätte man Lewin früher gesagt, daß Kity einmal sterben werde und er mit ihr zusammen, und daß ihre Kinder Engel würden und Gott dann bei ihnen sein werde — er hätte sich über nichts gewundert; jetzt aber, in die Welt der Wirklichkeit zurückversetzt, machte er die größten Anstrengungen im Denken, um zu begreifen, daß sie noch lebte, gesund sei, und daß jenes verzweifelt wimmernde Wesen sein Sohn sei.
Kity lebte, ihre Leiden waren vorüber, und er war unsagbar glücklich. Das erkannte er, und er war vollkommen glücklich darüber. Aber das Kind? Woher kam es, warum war es und was war es? Er vermochte sich durchaus nicht an diesen Gedanken zu gewöhnen; es erschien ihm aber auch durch irgend einen Umstand, an den er sich nicht gewöhnen konnte, überflüssig, überzählig.
In der zehnten Stunde saßen der alte Fürst, Sergey Iwanowitsch und Stefan Arkadjewitsch bei Lewin. Nachdem man über die Wöchnerin gesprochen hatte, unterhielt man sich auch über nebensächliche Dinge.
Lewin hörte ihnen zu und dachte unwillkürlich bei diesen Gesprächen der Vergangenheit, dessen, was bis zum heutigen Morgen geschehen war; er vergegenwärtigte sich auch, wie er sich noch gestern dazu gestellt hatte. Es war ihm, als seien seit dieser Zeit hundert Jahre vergangen. Er fühlte sich auf einer gewissen unzugänglichen Höhe, von welcher er sich vorsorglich herabließ, um diejenigen nicht zu verletzen, mit denen er sprach. Er sprach, und dachte dabei fortwährend seines[369] Weibes, der Einzelheiten ihres jetzigen Zustandes, und seines Sohnes, und suchte sich an den Gedanken seines Vorhandenseins zu gewöhnen. Die ganze Welt des Weiblichen, welche für ihn eine neue, ihm unbekannt gewesene Bedeutung erlangt hatte, seitdem er verheiratet war, erhob sich jetzt in seinem Begriffsvermögen so hoch, daß er sie mit seiner Vorstellungskraft nicht mehr zu umfassen vermochte. Er hörte auf das Gespräch über ein Essen am gestrigen Tag im Klub und dachte dabei „wie mag es jetzt mit ihr stehen, ob sie eingeschlafen ist? Wie mag sie sich befinden? Was mag sie denken? Schreit der kleine Dmitry?“ Und mitten in der Unterhaltung sprang er auf und verließ das Zimmer.
„Man hat mir gemeldet, man kann zu ihr,“ sagte der Fürst. „Gut; sogleich“ — antwortete Lewin, und ging ohne Verzug zu ihr.
Sie schlief nicht und sprach leise mit ihrer Mutter, Pläne über die bevorstehende Taufe entwerfend.
Geputzt, frisiert und in einem zierlichen Häubchen mit blauem Band, die Hände auf der Bettdecke ausgestreckt, lag sie auf dem Rücken, und winkte ihn mit dem Blick zu sich, indem sie dem seinigen begegnete. Ihr Blick, schon ohnehin hell, wurde noch lichter im Maße, als er sich ihr näherte. Auf ihrem Gesicht lag jene Wandlung vom Irdischen zum Überirdischen, welche auf dem Gesicht Verstorbener zu liegen pflegt. Dort aber liegt Vergebung darauf; hier ein Wunsch nach Begegnung. Wiederum trat ihm jene Wallung, ähnlich derjenigen, die er in den Augenblicken der Niederkunft empfunden hatte, ans Herz. Sie nahm ihn bei der Hand und frug, ob er geschlafen habe. Er konnte nicht antworten und wandte sich ab, von seiner Schwäche übermannt.
„Ich habe mich vergessen, mein Konstantin,“ sagte sie zu ihm, „doch jetzt befinde ich mich recht wohl.“ Sie schaute ihn an, doch plötzlich veränderte sich ihr Ausdruck. „Gebt ihn mir her,“ sprach sie, das Wimmern des Kindes vernehmend. „Gebt ihn her, Lisabetha Petrowna, er soll ihn sehen.“
„Hier, der Papa muß ihn sehen,“ sagte Lisabetha Petrowna, ein rotes, seltsames, sich bewegendes Etwas emporhebend und herbeibringend; „doch halt, wir wollen ihn erst putzen,“ und Lisabetha Petrowna legte dieses sich bewegende,[370] rote Ding auf das Bett, wickelte das Kind auf, und wickelte es wieder zu, nachdem sie es mit einem Finger aufgehoben, umgewendet, und es mit irgend etwas bestreut hatte.
Lewin machte, indem er dieses einzige, klägliche Wesen ansah, vergebliche Anstrengungen, in seiner Seele einige Kennzeichen von Vatergefühl für dasselbe zu entdecken. Er empfand nur Ekel vor ihm. Nachdem es jedoch der Hüllen entledigt war, die zarten Ärmchen, Füßchen, die wie Saffran aussahen, sichtbar wurden, mit den kleinen Fingerchen, selbst mit dem Daumen, der sich vor den anderen auszeichnete, und als er wahrnahm, wie Lisabetha Petrowna — als wären es weiche Sprungfedern — die gespreizten Ärmchen andrückte, indem sie sie in ein leinenes Jüpchen steckte, überkam ihn ein solches Mitleid mit diesem Wesen, und eine solche Angst, sie könne demselben schaden, daß er sie an der Hand festhielt.
Lisabetha Petrowna lachte.
„Habt keine Angst; habt keine Angst!“
Nachdem das Kind angezogen und zu einer drallen Puppe umgewandelt worden war, wälzte es Lisabetha Petrowna, als sei sie stolz auf ihr Werk, und trat dann zurück, damit Lewin den Sohn in seiner ganzen Schönheit sehen könne.
Kity schaute unverwandt gleichfalls nach ihm hin.
„Reicht ihn her, reicht ihn her!“ sagte sie und wollte sich sogar erheben.
„Was macht Ihr, Katharina Aleksandrowna, solche Bewegungen dürft Ihr nicht machen! Wartet nur, ich werde ihn Euch schon geben. Jetzt wollen wir uns aber erst Papa zeigen, wie hübsch wir sind.“
Und Lisabetha Petrowna erhob auf dem einen Arme — der andere stützte nur mit den Fingern das noch haltlose Genick — dieses seltsame, zappelnde, seinen Kopf unter dem Saum der Windel verbergende rote Wesen. Doch es hatte auch eine Nase, schielende Augen und schmatzende Lippen.
„Ein schönes Kind!“ sagte Lisabetha Petrowna.
Lewin seufzte voll Ingrimm. Dieses schöne Kind flößte ihm nur das Gefühl des Abscheues und des Mitleids ein. Das war durchaus nicht das Gefühl, welches er erwartet hatte.
Er wandte sich ab, während Lisabetha Petrowna das Kind an die noch nicht gewohnte Brust zu legen suchte.
Ein Lachen ließ ihn plötzlich den Kopf heben. Kity hatte gelacht. Das Kind hatte sich an ihre Brust gemacht.
„Genug, genug nun!“ sagte Lisabetha Petrowna, doch Kity ließ es nicht von sich. Es schlief in ihren Armen ein.
„Sieh jetzt her,“ sprach Kity, ihm das Kind so zuwendend, daß er es sehen konnte. Das ältlich aussehende Gesichtchen runzelte sich plötzlich noch mehr; das Kind nieste.
Lächelnd und mit Mühe die Thränen zurückhaltend, küßte Lewin sein Weib und verließ das verdunkelte Gemach.
Was er für dieses kleine Geschöpf empfand, war durchaus nicht das, was er erwartet hatte. Nichts Heiteres und Freudiges lag in diesem Gefühl; im Gegenteil, es verursachte ihm eine ungewohnte, peinliche Angst; die Erkenntnis eines neuen Gebietes, auf dem er verwundbar war. Diese Erkenntnis war ihm in der ersten Zeit so peinlich, die Angst davor, daß dieses hilflose Wesen nicht litte, war so stark, daß infolge derselben die Empfindung einer ungemessenen Freude, selbst des Stolzes, die er hatte, als das Kind nieste, gar nicht bemerkbar wurde.
Die Verhältnisse Stefan Arkadjewitschs hatten sich sehr verschlechtert. Die Gelder für zwei Drittel des Waldes waren bereits verlebt, und das dritte Drittel hatte er unter einem Zinsenabzug von zehn Prozent bei dem Kaufmann schon im voraus fast ganz erhoben. Der Kaufmann gab kein Geld mehr her, umsoweniger, als sich in diesem Winter Darja Aleksandrowna, zum erstenmale rückhaltlos ihre Rechte auf ihr Vermögen geltend machend, geweigert hatte, einen Kontrakt über den Empfang des Betrages für das letzte Drittel des Waldes zu unterschreiben.
Der ganze Gehalt ging für die häuslichen Ausgaben, sowie für die Begleichung der kleinen Forderungen auf, die sich nicht aufschieben ließen. An Geld war vollständige Ebbe eingetreten.
Das war unangenehm, peinlich, und konnte nach der Meinung Stefan Arkadjewitschs nicht so fortgehen. Die Ursache lag nach seiner Auffassung darin, daß er einen zu geringen Gehalt bezog. Das Amt, welches er bekleidete, war offenbar sehr gut gewesen vor fünf Jahren, jetzt aber war dem nicht[372] mehr so. Petroff, der Bankdirektor, hatte zwölftausend Rubel; Swentizkiy, ein Mitglied der Gesellschaft, hatte siebzehntausend, und Mitin, der die Bank gegründet hatte, bezog fünfzigtausend Rubel. „Offenbar habe ich geschlafen und man hat mich vergessen,“ dachte Stefan Arkadjewitsch bei sich, und fing nun an, das Ohr zu spitzen, und um sich zu schauen, und gegen das Ende des Winters hin hatte er eine sehr gute Stelle erspäht, auf welche er nun eine Attacke machte; zuerst von Moskau aus, mit Hilfe seiner Tanten, Onkel und Freunde, dann aber, nachdem die Sache reif geworden, fuhr er mit dem Frühling selbst nach Petersburg. Es war eines jener Ämter, deren jetzt, mit Einkünften von ein bis zu fünfzigtausend Rubel jährlich Gehalt, mehr geworden sind, als früher vorhanden waren, behagliche, sportelfette Ämter. Es war die Stellung eines Mitglieds in der Kommission der vereinigten Agentur der Kreditaktien-Bilanz der südlichen Eisenbahnen und Bankinstitute. Dieses Amt forderte, wie alle derartigen Stellungen, so ungeheure Kenntnisse, solche Thätigkeit, daß es schwer war, es in einem einzelnen Menschen zu vereinigen.
Da nun ein solcher Mann, der diese Eigenschaften in sich vereinigte, nicht vorhanden war, war es immer noch das beste, wenn das Amt ein ehrenhafter Mann bekleidete, als ein unehrenhafter. Stefan Arkadjewitsch aber war nicht nur ein Ehrenmann — ohne Betonung — sondern er war ein ehrlicher Mensch — mit Betonung — in jenem eigentümlichen Sinne, den dieses Wort in Moskau besitzt, wenn man sagt: Ein ehrlicher Beamter, Schriftsteller, ein ehrliches Journal, eine solide Unternehmung, ehrliche Richtung; und welcher nicht nur andeutet, daß ein Mensch oder eine Institution nicht unehrenhaft ist, sondern auch, daß dieselben fähig sind, bei Gelegenheit der Regierung einen Stich zu versetzen.
Stefan Arkadjewitsch verkehrte in Moskau in denjenigen Kreisen, in denen dieses Wort eingeführt war, in denen er als ehrenhafter Mann angesehen wurde und demgemäß mehr Anrechte auf diese Stellung hatte, als andere.
Das Amt warf jährlich von sieben bis zu zehntausend Rubel ab und Oblonskiy konnte es bekleiden, ohne dabei seinen Regierungsposten aufzugeben. Es hing von zwei Ministerien ab, von einer Dame und zwei Juden, und alle diese[373] Leute mußte Stefan Arkadjewitsch — obwohl sie schon vorbereitet waren — in Petersburg besuchen. Außerdem hatte er seiner Schwester Anna versprochen, von Karenin eine bestimmte Antwort betreffs der Ehescheidung zu erlangen.
Nachdem er sich von Dolly fünfzig Rubel erbeten hatte, fuhr er nach Petersburg.
In dem Kabinett Karenins sitzend, und dessen Projekt betreffs des schlechten Zustandes der russischen Finanzen anhörend, wartete Stefan Arkadjewitsch nur auf die Minute, wo Karenin enden würde, um von seiner Angelegenheit und von Anna zu beginnen.
„Ja, das ist sehr wichtig,“ sagte er, als Aleksey Aleksandrowitsch sein Pincenez abnahm, ohne welches er jetzt nicht mehr lesen konnte, und fragend seinen ehemaligen Schwager anschaute, „das ist sehr richtig in den Einzelheiten, aber bei alledem ist doch das Prinzip unserer Zeit — die Freiheit.“
„Ich stelle aber eben ein anderes Prinzip auf, welches das Prinzip der Freiheit mit einschließt,“ sprach Aleksey Aleksandrowitsch, das Wort „einschließt“ betonend und das Pincenez wieder aufsetzend, um noch einmal seinem Zuhörer die Stelle vorzulesen, in welcher eben dies gesagt war.
Das schöngeschriebene Manuskript mit den großen weißen Rändern durchblätternd, las Aleksey Aleksandrowitsch aufs neue die überzeugende Stelle.
„Ich will kein Protektionssystem, keines im Interesse einzelner Privatpersonen, sondern eines im Interesse des allgemeinen Wohls — für die niedrigsten ebenso wie für die höchsten Klassen“ — sagte er, über dem Pincenez hinweg nach Oblonskiy blickend. „Aber die oben können das nicht begreifen, die sind nur von persönlichen Interessen eingenommen und von Phrasen begeistert.“
Stefan Arkadjewitsch wußte, daß Karenin, wenn er davon zu sprechen begann, was die oben thäten und dächten, die Nämlichen, welche seine Projekte nicht annehmen wollten und die die Ursache aller Übelstände in Rußland waren, dem Schluß schon ziemlich nahe war, und entsagte daher jetzt gern der Verteidigung seines Princips der Freiheit und stimmte vollständig ein. Aleksey Aleksandrowitsch verstummte, nachdenklich seine Schrift durchblätternd.
„Ach, bei dieser Gelegenheit“ — sagte Stefan Arkadjewitsch, „wollte ich dich bitten, wenn du Pomorskiy sehen solltest, ihm doch ein paar Worte davon zu sagen, daß ich recht sehr die offene Stellung als Mitglied der Kommission der vereinigten Agentur der Kreditaktien-Bilanz der südlichen Eisenbahnen zu haben wünschte.“ Stefan Arkadjewitsch war der Titel dieses Amtes, das ihm so sehr am Herzen lag, bereits gewohnt geworden und er sprach ihn schnell herunter, ohne sich dabei zu versehen.
Aleksey Aleksandrowitsch erkundigte sich, worin die Thätigkeit dieser neuen Kommission bestände und überlegte. Er erwog, ob in der Thätigkeit dieser Kommission nicht etwas seinen Plänen Feindliches liegen könne. Doch da die Thätigkeit dieses neuen Instituts eine sehr komplizierte war, und seine Pläne ein sehr großes Gebiet umfaßten, so vermochte er sich dies nicht sofort klarzumachen und sagte, das Pincenez abnehmend:
„Ohne Zweifel kann ich mit ihm davon sprechen; aber warum wünschest du gerade dieses Amt zu übernehmen?“
„Der Gehalt ist gut, gegen neuntausend Rubel, und meine Mittel“ —
„Neuntausend,“ wiederholte Aleksey Aleksandrowitsch und verfinsterte sich. Die Höhe dieses Gehaltes erinnerte ihn daran, daß nach dieser Seite eine vorausgesetzte Thätigkeit Stefan Arkadjewitschs dem Hauptgedanken seiner Projekte entgegen sein würde, welche stets für die Sparsamkeit waren.
„Ich finde, und habe auch darüber eine Denkschrift geschrieben, daß in unserer Zeit diese ungeheuren Gehälter die Kennzeichen einer falschen ökonomischen assiette unserer Regierung sind.“
„Was willst du?“ sagte Stefan Arkadjewitsch. „Nehmen wir an, ein Bankdirektor erhält zehntausend Rubel, so ist er diese doch wohl wert. Oder ein Ingenieur erhält zwanzigtausend.“
„Ich meine, daß der Gehalt eine Bezahlung für Ware ist, und dem Gesetz der Nachfrage und des Angebotes entsprechen muß. Wenn die Normierung eines Gehaltes von diesem Gesetz abweicht, wie zum Beispiel, wenn ich sehe, daß aus einem Institut zwei Ingenieure hervorgehen, gleich kenntnisreich[375] und befähigt, und der eine vierzigtausend Rubel Gehalt erhält, während sich der andere mit zweitausend begnügt; oder wenn man zu Direktoren einer Bank mit ungeheuren Gehältern Rechtsgelehrte einsetzt, die kein bestimmtes Spezialwissen besitzen — so schließe ich daraus, daß der Gehalt nicht nach dem Gesetz von Nachfrage und Angebot bestimmt ist, sondern geradezu nach dem Ansehen der Person. Hierin aber liegt ein Mißbrauch, der sich, wichtig an und für sich, als schadenbringend im Staatsdienst erweist. Ich glaube“ —
Stefan Arkadjewitsch beeilte sich, seinen Schwager zu unterbrechen.
„Ja, aber du giebst doch zu, daß sich da eine neue, unzweifelhaft nutzbringende Institution eröffnet; ein lebensfähiges Unternehmen, wenn du willst. Man schätzt es namentlich insofern hoch, als es auf ehrenhafte Weise geleitet werden soll,“ sagte Stefan Arkadjewitsch gewichtig.
Die Moskauer Bedeutung des Wortes „ehrenhaft“ war jedoch für Aleksey Aleksandrowitsch unverständlich.
„Ehrenhaftigkeit ist nur eine negative Eigenschaft,“ sagte er.
„Aber du würdest mir gleichwohl einen großen Gefallen erweisen,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „wenn du ein Wort für mich bei Pomorskiy einlegen wolltest,“ das Wörtchen „Pomorskiy“ unterdrückend, „so im Gespräch.“
„Das hängt aber doch mehr von Bolgarinoff ab, wie mir scheint,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch.
„Bolgarinoff seinerseits ist völlig einverstanden,“ sagte Stefan Arkadjewitsch errötend. Er errötete bei der Erwähnung dieses Namens, weil er erst am nämlichen Tage früh bei dem Juden Bolgarinoff gewesen war und dieser Besuch einen unangenehmen Eindruck in ihm hinterlassen hatte.
Stefan Arkadjewitsch wußte genau, daß das Unternehmen, dem er seine Kräfte weihen wollte, neu, lebensfähig und solid war, aber am heutigen Morgen, als Bolgarinoff ihn offenbar mit Absicht zwei Stunden mit anderen Bittstellern im Empfangszimmer hatte warten lassen, da war es ihm dennoch plötzlich peinlich zu Mute geworden. Ob nun deswegen, daß er, ein Nachkomme Rjuriks, ein Fürst Oblonskiy, zwei Stunden in dem Empfangszimmer eines Juden wartete, oder weil er zum erstenmal im Leben das Beispiel der Vorfahren, der[376] Regierung zu dienen, nicht befolgt hatte und eine neue Laufbahn betrat; jedenfalls war ihm höchst unbehaglich zu Mute gewesen.
Während der zwei Stunden seines Wartens bei Bolgarinoff hatte Stefan Arkadjewitsch, schnell im Empfangssalon auf und abgehend, sich den Lockenbart streichend, mit anderen Bittstellern Gespräche anknüpfend, und über einen Kalauer nachdenkend, den er darüber zum besten geben wollte, wie er bei dem Juden gewartet habe, geflissentlich vor den anderen, ja selbst vor sich, das Gefühl, welches er empfand, verborgen. Er war während dieser ganzen Zeit in unbehaglicher und verdrießlicher Stimmung gewesen, ohne daß er wußte, wie dies kam; ob vielleicht daher, daß aus dem Kalauer, in dem er sich versuchte, nichts wurde — er lautete: „ich hatt' es zu thun mit Juden und dafür mußt' ich bluten“[C] — oder aus einem anderen Grunde.
Nachdem ihn nun endlich Bolgarinoff mit außerordentlicher Höflichkeit empfangen, augenscheinlich im Triumph über seine Erniedrigung, und ihm einen fast abschläglichen Bescheid erteilt hatte, suchte er dies so schnell als möglich zu vergessen. Jetzt indessen, als er sich hieran erinnerte, errötete er.
Fußnote:
[C] Der Originaltext lautet: „bylo djelo do żyda, i ja dożidalsja“, „es gab mit einem Juden Etwas zu thun und ich mußte tüchtig warten“.
„Jetzt habe ich noch ein Anliegen, und du weißt ja welches. Es betrifft Anna,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, nachdem er eine Weile geschwiegen, und den unangenehmen Eindruck von sich abgeschüttelt hatte.
Kaum hatte Oblonskiy den Namen Annas ausgesprochen, so veränderte sich das Gesicht Aleksey Aleksandrowitschs vollständig; anstatt der früheren Lebhaftigkeit drückte es Ermüdung und etwas Totenhaftes aus.
„Was wollt Ihr denn gerade von mir?“ sagte er, sich im Sessel wendend und sein Pincenez zusammenklemmend.
„Einen Entschluß, irgend einen Bescheid, Aleksey Aleksandrowitsch. Ich wende mich jetzt zu dir — nicht zu dem beleidigten Gatten“ — wollte Stefan Arkadjewitsch sagen, veränderte[377] jedoch diese Worte in der Furcht, die Sache damit zu verderben, indem er fortfuhr, „nicht als zu dem Staatsmann (was übrigens auch nicht recht angebracht war), sondern einfach zu dir als Menschen, und zwar als guten Menschen und Christen. Du mußt Mitleid mit ihr haben,“ sprach er.
„Das heißt, inwiefern denn eigentlich?“ sagte Karenin leise.
„Ja, Mitleid mit ihr haben! Wenn du sie sähest, wie ich sie gesehen habe — ich habe den ganzen Winter bei ihr zugebracht — du würdest Erbarmen mit ihr haben. Ihre Lage ist entsetzlich, wirklich entsetzlich.“
„Mir schien,“ antwortete Aleksey Aleksandrowitsch mit noch dünnerer, fast pfeifender Stimme, „als habe doch nun Anna Arkadjewna alles das, was sie selbst gewollt hat.“
„Ach, Aleksey Aleksandrowitsch, um Gottes willen keine Rekriminationen! Was vorbei ist, ist vorbei, und du weißt, was sie wünscht und ersehnt — die Ehescheidung.“
„Ich habe aber geglaubt, Anna Arkadjewna wird in die Ehescheidung nicht einwilligen für den Fall, daß ich die Bedingung, mir den Sohn zu lassen, stelle. So habe ich auch geantwortet und gemeint, daß diese Angelegenheit abgethan wäre. Ich erachte sie für abgethan,“ sprach Aleksey Aleksandrowitsch mit tönender Stimme.
„Um Gott, ereifere dich nicht,“ sprach Stefan Arkadjewitsch, die Kniee seines Schwagers berührend, „die Angelegenheit ist nicht abgethan. Wenn du mir erlaubst, zu rekapitulieren, so lag die Sache so: Als ihr euch trenntet, warest du großmütig, wie man nur großmütig sein kann; du hast ihr alles bewilligt — die Freiheit, sogar die Trennung! Sie weiß das zu schätzen. Nein, denke nicht anders, sie hat es wirklich geschätzt; bis zu einem Grade, daß sie während jener ersten Minuten im Gefühl ihrer Schuld vor dir, nicht einmal alles überdachte oder überdenken konnte. Sie hat auf alles verzichtet, aber die Wirklichkeit, die Zeit, haben ihr gezeigt, daß ihre Lage qualvoll und unmöglich ist.“
„Das Leben Anna Arkadjewnas kann mich nicht interessieren,“ unterbrach ihn Aleksey Aleksandrowitsch, die Brauen in die Höhe ziehend.
„Gestatte mir, dies zu bezweifeln,“ entgegnete ihm Stefan Arkadjewitsch geschmeidig, „ihre Lage ist peinlich für sie, und[378] unersprießlich für jedermann, wer es auch sei. Sie hat dieselbe verdient, sagst du. Das weiß sie, und sie bittet dich auch nicht, sagt vielmehr offen heraus, daß sie nicht wagt, um Etwas zu bitten. Ich aber, wir Verwandten alle, alle, die sie lieb haben, wir bitten, wir beschwören dich. Warum soll sie sich quälen? Wem würde besser dadurch?“
„Erlaubt; Ihr versetzt mich, wie es scheint, in die Lage eines Angeklagten,“ fuhr Aleksey Aleksandrowitsch fort.
„O nein, o nein; keineswegs; verstehe mich recht,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, abermals seine Hände berührend, als wäre er überzeugt, daß diese Berührung den Schwager erweichen würde; „ich sage nur das Eine, ihre Lage ist qualvoll, dieselbe kann erleichtert werden durch dich, und du verlierst nichts dabei! Ich werde für dich alles so arrangieren, daß du es nicht merkst. Du hattest mir es doch versprochen.“
„Das Versprechen ist früher gegeben worden. Ich habe geglaubt, daß die Frage über den Sohn die Angelegenheit entschieden hätte. Außerdem habe ich gehofft, daß Anna Arkadjewna Großmut genug haben werde“ — Aleksey Aleksandrowitsch brachte dies mit Anstrengung hervor, erbleichend und mit bebenden Lippen.
„Sie stellt alles deiner Großmut anheim und bittet, fleht nur um das Eine — sie dieser unmöglichen Lage zu entheben, in der sie sich befindet! Sie bittet nicht mehr um den Sohn! Aleksey Aleksandrowitsch, du bist ein guter Mensch, versetze dich einen Augenblick in ihre Lage. Die Frage der Ehescheidung ist für sie in ihrer Situation, eine Frage über Leben und Tod. Hättest du nicht früher das Versprechen gegeben, so würde sie sich mit ihrer Lage abzufinden suchen und auf dem Lande bleiben. Aber du hast versprochen, sie hat dir geschrieben und ist nach Moskau gekommen, und in Moskau, wo ihr jede Begegnung einen Stich ins Herz giebt, lebt sie nun seit sechs Monaten, mit jedem Tage eine Entscheidung erwartend. Das ist doch wohl ganz das Nämliche, als wenn man einen zum Tode Verurteilten Monate hindurch mit der Schlinge um den Hals hält, indem man ihm bald den Tod, bald Begnadigung als möglich in Aussicht stellt. Erbarme dich ihrer, und dann will ich es schon auf mich nehmen die Sache zu ordnen! — Vos scrupules“ —
„Ich spreche nicht davon, nicht davon,“ unterbrach ihn Aleksey Aleksandrowitsch mit Widerwillen, „ich hatte da vielleicht etwas versprochen, was zu versprechen ich gar kein Recht hatte.“
„So stellst du also in Abrede, mir ein Versprechen gegeben zu haben?“
„Ich habe mich nie bei der Erfüllung einer Möglichkeit geweigert, wünsche aber Zeit zu haben, um überlegen zu können, inwieweit das Versprochene erfüllbar ist.“
„Nein, Aleksey Aleksandrowitsch!“ begann Oblonskiy aufspringend, „daran will ich nicht glauben! Sie ist so unglücklich, wie nur ein Weib unglücklich sein kann, und du kannst dich nicht weigern, eine solche“ —
— „Soweit mein Versprechen erfüllbar ist. Vous professez d'être un libre penseur, ich aber, als Rechtgläubiger, kann in einer so wichtigen Angelegenheit nicht wider das christliche Gebot handeln.“
„Aber in der christlichen Gesellschaft und bei uns ist doch, soviel ich weiß, die Ehescheidung zulässig,“ sagte Stefan Arkadjewitsch; „die Ehescheidung ist auch in unserer Kirche zulässig und wir sehen“ —
— „Sie ist gestattet, doch nicht in diesem Sinne.“
„Aleksey Aleksandrowitsch, ich erkenne dich nicht wieder,“ sagte Oblonskiy flehend, „hast du nicht alles vergeben? Haben wir dies nicht hoch angeschlagen? Warest du nicht, getrieben gerade vom christlichen Gefühl, bereit, alles zu opfern? Du selbst hast gesagt, man solle auch den Rock hingeben wenn man das Hemd nähme, und jetzt“ —
„Ich bitte dich,“ begann Aleksey Aleksandrowitsch, plötzlich auf die Füße springend, bleich, mit bebenden Kinnbacken und pfeifender Stimme, „ich bitte Euch, abzubrechen, abzubrechen — dieses Gespräch“ —
„O nein doch! Verzeihe mir, verzeih', wenn ich dich gekränkt habe,“ beharrte Stefan Arkadjewitsch, verlegen lächelnd und die Hand hinstreckend, „ich habe ja nur wie ein Gesandter meinen Auftrag übermittelt.“
Aleksey Aleksandrowitsch gab ihm die Hand, begann nachzudenken.
„Ich muß überlegen und mich nach Weisungen umsehen. Übermorgen werde ich Euch eine bestimmte Antwort geben,“ sagte er nach einigem Nachdenken.
Stefan Arkadjewitsch wollte schon gehen, als Korney erschien mit der Meldung:
„Sergey Aleksejewitsch!“
„Wer ist dieser Sergey Aleksejewitsch?“ wollte Stefan Arkadjewitsch anfangen, besann sich aber sogleich. „Ach, der kleine Sergey,“ sagte er, „Sergey Aleksejewitsch! Ich dachte, der Direktor des Departements wäre es. Anna hat mich ja gebeten, ihn zu besuchen,“ erinnerte er sich, und rief sich jenen schüchternen, mitleiderweckenden Ausdruck wieder ins Gedächtnis, mit welchem ihm Anna, indem sie ihn entließ, gesagt hatte, „du wirst ihn sehen, erforsche genau, wo er ist und wer bei ihm ist. Und mein Stefan — wenn es möglich wäre; es wird doch möglich sein?“ Stefan Arkadjewitsch verstand was dieses „wenn es möglich wäre“ bedeutete. Wenn es möglich wäre, die Scheidung so zu stande zu bringen, daß er ihr den Sohn überließ! Jetzt sah er indessen, daß hieran nicht zu denken war, aber dennoch freute er sich, den Neffen zu sehen.
Aleksey Aleksandrowitsch machte seinen Schwager darauf aufmerksam, daß man zu seinem Sohne nie von der Mutter spreche und er ihn daher ersuche, kein Wort von derselben zu erwähnen.
„Er war sehr krank geworden nach jenem Wiedersehen mit seiner Mutter, welches wir nicht vorausgesehen hatten,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch. „Wir fürchteten sogar für sein Leben. Aber eine verständige Pflege und Seebäder im Sommer haben seine Gesundheit wiederhergestellt, und jetzt habe ich ihn auf Anraten des Arztes in die Schule gegeben. In der That hat auch der Einfluß der Kameraden auf ihn eine günstige Wirkung gehabt und er ist vollkommen gesund und lernt gut.“
„Was für ein hübscher Bursch er geworden ist; das ist nicht mehr der kleine Sergey Aleksejewitsch!“ lächelte Stefan Arkadjewitsch, auf den hurtig und ungezwungen eintretenden hübschen, breitschulterigen Knaben in blauer Kutte und langen[381] Beinkleidern blickend. Der Knabe sah gesund und munter aus. Er verneigte sich vor dem Onkel wie vor einem Fremden, doch, als er ihn erkannt hatte, errötete er und wandte sich, als sei er von Etwas beleidigt und erzürnt, hastig von ihm ab. Der Knabe ging zu seinem Vater und gab ihm ein Billet über Censuren, welche er in der Schule erhalten hatte.
„Nun, recht so,“ sagte der Vater, „du kannst gehen.“
„Er ist magerer geworden und gewachsen, er hat aufgehört, ein Kind zu sein und ist ein großer Knabe geworden; das liebe ich,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „besinnst du dich noch auf mich?“
Der Knabe blickte schnell nach seinem Vater.
„Ich besinne mich, mon oncle,“ antwortete er, auf den Oheim blickend und wiederum in Verwirrung geratend.
Der Onkel rief den Knaben zu sich und nahm ihn bei der Hand.
„Nun, wie geht es denn?“ sagte er, im Wunsche, Etwas zu sagen, obwohl er nicht recht wußte, was er sagen sollte.
Der Knabe zog errötend und ohne zu antworten, behutsam seine Hand aus der des Onkels, und sobald Stefan Arkadjewitsch losgelassen hatte, eilte er wie ein Vogel, den man in Freiheit gesetzt hat, mit einem fragenden Blick auf den Vater schnellen Schrittes aus dem Gemach.
Ein Jahr war vergangen, seit der kleine Sergey seine Mutter zum letztenmale gesehen hatte. Seit jener Zeit hatte er nie wieder von ihr gehört. In diesem Jahre nun war er in die Schule gegeben worden und hatte hier Kameraden kennen und lieben gelernt. Jene Gedanken und Erinnerungen an seine Mutter, die ihn nach dem Wiedersehen mit ihr krank gemacht hatten, beschäftigten ihn jetzt nicht mehr. Wenn sie ihn überkamen, scheuchte er sie geflissentlich von sich, indem er sie für schimpflich und nur den Mädchen angemessen hielt aber nicht für einen Knaben und Schulkameraden. Er wußte, daß zwischen Vater und Mutter ein Zwist bestand, der beide trennte; er wußte, daß es ihm beschieden war, bei dem Vater zu bleiben, und suchte sich nun an diesen Gedanken zu gewöhnen.
Daß er den Onkel, welcher seiner Mutter ähnlich war, wiedersah, war ihm unangenehm, weil dies eben wieder jene[382] Erinnerungen, die er für schimpflich hielt, in ihm wachrief. Es war ihm dies um so unangenehmer, als er, nach einigen Worten, die er gehört hatte, indem er an der Thür des Kabinetts wartete, und namentlich nach dem Gesichtsausdruck des Vaters und des Onkels zu urteilen erriet, daß zwischen beiden die Rede von seiner Mutter gewesen sein mußte, und um nun diesen Vater, bei welchem er lebte, und von dem er abhing, nicht hintenanzusetzen, hauptsächlich jedoch sich nicht einer Empfindsamkeit hinzugeben, die er für so verächtlich hielt, bemühte sich der kleine Sergey, diesen Onkel gar nicht anzublicken, welcher gekommen war seine Ruhe zu stören, und nicht an das zu denken, was er ihm ins Gedächtnis zurückrief.
Als ihn jedoch Stefan Arkadjewitsch, der hinter ihm hinausgegangen, und seiner auf der Treppe ansichtig geworden war, zu sich rief, und frug, wie er in der Schule die Zeit in den Zwischenstunden verbringe, unterhielt sich Sergey, außer Gesichtsweite des Vaters, mit ihm.
„Jetzt machen wir Eisenbahn,“ sagte er, auf die Frage antwortend. „Und wißt Ihr wie? Zwei setzen sich auf eine Bank; das sind die Passagiere. Einer steht auf der Bank, und alle spannen sich nun davor. Man kann sie nun mit den Händen oder auch an den Gürteln ziehen und so geht es durch alle Säle. Die Thüren werden schon vorher geöffnet. Nun ist es schwer dabei den Kondukteur zu machen.“
„Das ist der, welcher steht?“ frug Stefan Arkadjewitsch lächelnd.
„Ja; da ist Kühnheit und Gewandtheit notwendig, besonders wenn sie schnell stehen bleiben oder wenn einer fällt.“
„Ja, das ist kein Spaß,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, voll Wehmut in diese lebhaften, an die Mutter gemahnenden Augen blickend, die jetzt nicht mehr Kinderaugen, schon nicht ganz unschuldsvoll waren, und obwohl er Aleksey Aleksandrowitsch versprochen hatte, nicht von Anna zu sprechen, hielt er es doch nicht aus.
„Denkst du denn noch deiner Mama?“ frug er plötzlich.
„Nein; ich denke nicht mehr an sie,“ antwortete Sergey, schnell und schlug, purpurrot werdend, die Augen nieder. Der Onkel konnte nun nichts mehr aus ihm herausbringen.
Der Erzieher Slavjanin fand nach einer halben Stunde seinen Zögling auf der Treppe und konnte lange nicht verstehen, ob Sergey jemand zürne oder weine.
„Ihr habt Euch wohl gestoßen, als Ihr fielet?“ sagte der Erzieher. „Ich habe doch immer gesagt, daß dies ein gefährliches Spiel ist. Das wird wohl dem Direktor gesagt werden müssen.“
„Wenn ich mich gestoßen hätte, so hätte dies ja doch niemand bemerkt. Das ist doch sicher wahr!“
„Nun was aber ist Euch denn dann?“
„Laßt mich! Ob ich daran denke oder nicht! Was geht das ihn an? Warum soll ich daran denken? Laßt mich in Ruhe!“ wandte er sich schon nicht mehr an den Erzieher, sondern an die ganze Welt.
Stefan Arkadjewitsch hatte, wie stets, die Zeit in Petersburg nicht müßig zugebracht. In Petersburg hatte er an Geschäften außer der Scheidung der Schwester und der Angelegenheit mit dem Amte wie immer, noch eine Erholung von nöten nach dem Moskauer Stumpfsinn, wie er sagte.
Moskau war ungeachtet seiner Caféchantants und Omnibusse doch für ihn nur ein stehender Sumpf. Dies fühlte Stefan Arkadjewitsch stets, und wenn er in Moskau besonders bei seiner Familie gelebt hatte, fühlte er, daß sein Lebensmut sank. Wenn er lange Zeit, ohne fortzukommen in Moskau zugebracht hatte, kam er soweit, daß er anfing, sich über die schlechte Laune und die Vorwürfe seines Weibes Gedanken zu machen, über die Gesundheit und Erziehung der Kinder, und die kleinen Interessen seines Dienstes; selbst der Umstand, daß er Schulden hatte, beunruhigte ihn.
Es war indessen nur nötig, daß er nach Petersburg kam und sich dort aufhielt, in dem Kreise, in welchem er verkehrte, und in welchem man lebte, ja wirklich lebte, und nicht erfror wie in Moskau, um sogleich alle diese Gedanken verschwinden und schmelzen zu lassen, wie Wachs vor dem Scheine des Feuers.
Und sein Weib? — Erst heute hatte er mit dem Fürsten Tschetschenskiy gesprochen. Der Fürst Tschetschenskiy hatte[384] Frau und Kinder — die erwachsenen Kinder waren Pagen — und doch auch eine zweite, illegitime Familie, in welcher gleichfalls Kinder vorhanden waren. Obwohl nun die erste Familie auch gut war, fühlte sich der Fürst doch glücklicher in der zweiten; er brachte seinen ältesten Sohn mit in seine zweite Familie und erzählte Stefan Arkadjewitsch, er fände, dies sei ihm nützlich und förderlich.
Was hätte man hierzu in Moskau gesagt?
Seine Kinder? — In Petersburg hinderten die Kinder die Väter nicht daran, zu leben. Die Kinder wurden in Instituten erzogen, und es gab hier nicht jene in Moskau — bei Lwoff zum Beispiel — verbreitete, seltsame Auffassung, daß den Kindern aller Luxus des Lebens, den Eltern allein Mühe und Sorgen zukämen. Hier hatte man erkannt, daß der Mensch verpflichtet sei, für sich selbst zu leben, wie ein gebildeter Mensch eben leben müsse.
Sein Dienst? — Der Dienst war hier gleichfalls nicht eine so strenge hoffnungslose Fessel, wie die, welche man in Moskau trug; hier war ein Interesse am Dienst vorhanden. Eine Begegnung, ein Verdienst, ein treffendes Wort, die Fähigkeit, sich in den Personen nur verschiedene Gegenstände vorzustellen, war alles, um jemand plötzlich Carriere machen zu lassen, wie Bojanzeff, dem Stefan Arkadjewitsch gestern begegnet und der jetzt einer der ersten Beamten war, sie gemacht hatte. Dieser Dienst gewährte Interesse.
Insbesondere wirkten aber die Petersburger Anschauungen in finanziellen Dingen beruhigend auf Stefan Arkadjewitsch. Bartejanskij, welcher mindestens fünfzigtausend Rubel in dem train, welchen er gerade verfolgte, verbrauchte, hatte ihm erst gestern darüber ein bemerkenswertes Wort fallen lassen.
Vor dem Essen hatte Stefan Arkadjewitsch in der Unterhaltung zu Bartejanskij gesagt:
„Du scheinst dem Mordwinskij nahe zu stehen und könntest mir daher einen Dienst erweisen, wenn du bei ihm für mich ein gutes Wort einlegen wolltest. Es ist da ein Amt vorhanden, welches ich haben möchte, als Mitglied der Agentur“ —
„Nun, ich erinnere mich nicht so ganz — aber was hast du für eine Sehnsucht nach diesen Eisenbahngeschäften mit[385] Juden? Doch wie du willst; aber es ist doch etwas Widerwärtiges dabei“ —
Stefan Arkadjewitsch sagte ihm nicht, daß es sich um ein lebensfähiges Unternehmen handle: Bartejanskij hätte dies nicht verstanden.
„Ich brauche Geld; habe nichts mehr zu leben.“
„Aber du lebst doch?“
„Ich lebe wohl, habe aber viel Schulden.“
„Was willst du? Hast du viel?“ sagte Bartejanskij mitleidig.
„Sehr viel, zwanzigtausend Rubel.“
Bartejanskij lachte lustig auf.
„O glücklicher Mensch!“ sagte er, „ich habe anderthalb Million und besitze gar nichts, aber, wie du siehst, kann man doch noch dabei leben!“
Stefan Arkadjewitsch fand nicht sowohl in den Worten allein, als in der Sache selbst die Richtigkeit des Gesagten.
Schivachoff hatte dreihunderttausend Rubel Schulden und nicht eine Kopeke im Vermögen und er lebte doch, und noch dazu auf welche Weise! Den Grafen Krivzoff hatten alle schon totgesungen und er unterhielt doch noch zwei Maitressen. Petrowskiy hatte fünf Millionen durchgebracht und lebte noch immer auf demselben Fuße, verwaltete sogar noch immer Finanzen und bezog zwanzigtausend Rubel Gehalt.
Außer alledem aber wirkte Petersburg auch physisch angenehm auf Stefan Arkadjewitsch ein. Es verjüngte ihn.
In Moskau schaute er zuweilen nach einem grauen Haar, schlief nach dem Essen, reckte sich, stieg im Schritt, schwer atmend die Treppen, langweilte sich mit jungen Weibern und tanzte nicht auf den Bällen. In Petersburg hingegen fühlte er sich stets um zehn Jahre jünger.
Er empfand in Petersburg das, was ihm gestern erst der sechzigjährige Graf Oblonskiy, Peter, der soeben aus dem Ausland zurückgekommen war, gesagt hatte.
„Wir verstehen hier nicht zu leben,“ hatte Peter Oblonskiy gesagt, „glaubst du es wohl — ich habe den Sommer in Baden verlebt, aber, wahrhaftig, mich ganz wie ein junger Mensch gefühlt. Kaum sah ich ein junges Frauenzimmer, so gingen die Gedanken — man aß und trank so leichthin —[386] Kraft und Mut war vorhanden. Da aber bin ich nun nach Rußland gekommen — ich mußte zu meiner Frau und auf das Dorf — ja; du wirst es nicht glauben; vierzehn Tage hindurch hatte ich meinen Hausrock angezogen und aufgehört, zur Tafel Toilette zu machen. An die jungen Frauenzimmer denke ich nicht mehr, ich bin ein vollständiger Greis geworden. Nur das Seelenheil zu retten, bleibt mir noch. Dann aber fuhr ich nach Paris — da kam ich wieder in Ordnung.“
Stefan Arkadjewitsch empfand ganz den nämlichen Unterschied, wie Peter Oblonskiy. In Moskau hatte er so nachgelassen, daß er in der That, wenn er lange noch so hätte fortleben müssen, dazu gekommen wäre — was übrigens ganz gut gewesen sein würde — für das Heil seiner Seele zu sorgen. In Petersburg aber fühlte er sich wieder als wahrer Mensch.
Zwischen der Fürstin Betsy Twerskaja und Stefan Arkadjewitsch bestanden alte, sehr seltsame Beziehungen. Stefan Arkadjewitsch machte ihr stets launig den Hof und sagte ihr, immer im Scherz, die indecentesten Dinge, wobei er recht wohl wußte, daß ihr dies ganz besonders gefiel. Am Tage nach seinem Gespräch mit Karenin begab sich Stefan Arkadjewitsch zu ihr. Er fühlte sich so jung, daß er in dieser scherzhaften Cour und seichten Plauderei unvermutet so weit kam, daß er nicht mehr wußte, wie er sich wieder heraushelfen sollte, obwohl sie ihm leider nicht nur nicht gefiel, sondern sogar widerlich war. Dieser Ton herrschte nun deswegen, weil er ihr sehr gefiel, und so kam es, daß er recht froh über die Ankunft der Fürstin Mjagkaja war, welche diesem Alleinsein zu Zweien ein Ende machte.
„Ah, Ihr hier,“ sagte sie, ihn erblickend, „nun, wie befindet sich Eure arme Schwester? Haltet mich nicht für neugierig,“ fügte sie hinzu, „seit alle sie verlassen haben, alle die, die tausendmal schlechter sind, als sie, finde ich, daß sie schön gehandelt hat. Ich kann es Wronskiy nicht verzeihen, daß er es mich nicht hat wissen lassen, als sie in Petersburg war. Ich wäre zu ihr, und mit ihr überall hingefahren. Übermittelt ihr doch gefälligst den Ausdruck meiner Liebe für sie, und erzählt mir nun von ihr.“
„Ja, ihre Lage ist schwer,“ begann Stefan Arkadjewitsch zu[387] erzählen, in der Einfalt seines Herzens die Worte der Fürstin Mjagkaja, für bare Münze nehmend, doch diese unterbrach ihn sogleich, nach ihrer Gewohnheit, und begann selbst zu erzählen.
„Sie hat gethan, was alle außer mir auch thun, jedoch verheimlichen. Sie aber hat nicht täuschen wollen, sondern schön gehandelt, und noch schöner gehandelt, weil sie diesen halben Narren, Euren Schwager, verließ. Ihr entschuldigt mich wohl; alle haben gesagt, daß er klug sei, klug — nur ich allein habe gesagt, daß er ein Thor ist. Jetzt, nachdem er sich mit der Lydia Iwanowna verbunden hat, und mit dem Landau, sagt jedermann, daß er halbverrückt ist. Ich wäre froh, wenn ich nicht mit jedermann einzustimmen brauchte, aber diesmal kann ich doch nicht anders!“
„Erklärt mir doch gefälligst,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „was das eigentlich bedeutet? Gestern war ich bei ihm in der Angelegenheit meiner Schwester und ersuchte ihn um einen bestimmten Bescheid. Er gab mir keine Antwort und sagte, er wolle sich bedenken, heute morgen aber erhielt ich anstatt der Antwort eine Einladung für diesen Abend zu der Gräfin Lydia Iwanowna.“
„So, so,“ sagte die Fürstin Mjagkaja voll Vergnügen. „Sie werden Landau befragen, was der sagen wird.“
„Wie, Landau? Warum? Wer ist das, Landau?“ —
„Wie, Ihr kennt nicht Jules Landau le fameux, Jules Landau le clairvoyant? Der ist auch halbverrückt, und doch, von ihm hängt das Schicksal Eurer Schwester ab. Aber das kommt eben vom Leben in der Provinz — Ihr wißt von nichts! — Landau, seht Ihr, war ein Kommis in einem Pariser Magazin und kam einmal zu einem Arzte. Beim Arzt schlief er im Empfangszimmer ein und begann im Schlaf allen Kranken Rat zu erteilen, wunderbare Ratschläge! Hierauf hörte die Frau des Juriy Meledinskiy — Ihr wißt, des Kranken — von diesem Landau und nahm ihn mit zu ihrem Manne. Er kurierte nun ihren Gatten, doch hat er ihm noch keinerlei Nutzen gebracht, nach meiner Meinung, da dieser noch immer so gelähmt ist; allein man glaubt an ihn und giebt sich mit ihm ab. Sie haben ihn mit nach Rußland gebracht, hier hat sich alles auf ihn gestürzt und er hat sie[388] alle zu kurieren begonnen. Die Gräfin Bessubowa hat er geheilt und sie hat ihn so lieb gewonnen, daß sie ihn zu ihrem Sohne gemacht hat.“
„Wie, zu ihrem Sohne?“
„Jawohl, adoptiert. Er ist jetzt kein Landau mehr, sondern ein Graf Bessuboff. Doch darum handelt es sich nicht; Lydia jedoch — ich liebe sie sehr, aber sie hat den Kopf nicht auf dem rechten Flecke — hat sich natürlich jetzt diesem Landau in die Arme geworfen und ohne ihn wird weder bei ihr, noch bei Aleksey Aleksandrowitsch ein Beschluß gefaßt, weshalb das Schicksal Eurer Schwester jetzt in den Händen dieses Landau, alias Grafen Bessuboff, liegt.“
Von einem vorzüglichen Essen und dem Genuß einer beträchtlichen Quantität Cognac, den er bei Bartejanskij getrunken hatte, kam Stefan Arkadjewitsch, nur ein wenig spät für die festgesetzte Zeit, zur Gräfin Lydia Iwanowna.
„Wer ist noch bei der Gräfin? Der Franzose?“ frug er den Schweizer, indem er den wohlbekannten Überzieher Aleksey Aleksandrowitschs und einen eigentümlichen, wunderbaren Paletot mit Spangen erblickte.
„Aleksey Aleksandrowitsch Karenin und Graf Bessuboff,“ antwortete der Portier gemessen.
„Die Fürstin Mjagkaja hat richtig vermutet,“ dachte Stefan Arkadjewitsch, als er die Treppe hinaufstieg. „Seltsam; es wäre aber doch wohl ganz gut, sich ihr zu nähern. Sie besitzt einen ungeheuren Einfluß. Wenn sie mit Pomorskiy ein Wörtchen spricht, dann ist mir's gewiß.“
Es war draußen noch vollständig hell, in dem kleinen Salon der Gräfin Lydia Iwanowna aber brannten hinter den herabgelassenen Gardinen schon die Lampen.
An einem runden Tisch hinter der Lampe saß die Gräfin und Aleksey Aleksandrowitsch in leise geführtem Gespräch. Ein kleiner, magerer Mensch mit einer Weibertaille, an den Knieen eingebogenen Füßen, sehr bleich, hübsch, mit glänzenden, schönen Augen und langen Haaren die auf dem Kragen seines Rockes lagen, stand an dem anderen Ende des Zimmers, die Wand mit den Porträts betrachtend.
Nachdem Stefan Arkadjewitsch die Dame des Hauses und Aleksey Aleksandrowitsch begrüßt hatte, blickte er nochmals unwillkürlich nach dem unbekannten Manne.
„Monsieur Landau,“ wandte sich die Gräfin an denselben mit einer Oblonskiy verblüffenden Weichheit und Rücksichtnahme, und machte die beiden miteinander bekannt.
Landau hatte sich schnell umgeblickt, war herangekommen, und hatte lächelnd in die ausgestreckte Rechte Stefan Arkadjewitschs eine unbewegliche, schwitzende Hand gelegt, trat aber dann sogleich hinweg und sah wieder die Porträts an. Die Gräfin und Aleksey Aleksandrowitsch wechselten einen ausdrucksvollen Blick.
„Ich bin sehr erfreut, Euch zu sehen, insbesondere heute,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, Stefan Arkadjewitsch einen Platz neben Karenin anweisend.
„Ich habe Euch mit ihm als einem Landau bekannt gemacht,“ sprach sie mit leiser Stimme, den Franzosen und dann sogleich Aleksey Aleksandrowitsch anblickend, „doch eigentlich ist er Graf Bessuboff, wie Ihr wahrscheinlich wißt. Er liebt indessen diesen Titel nicht.“
„Ja, ich habe davon gehört,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch, „man sagt, er habe die Gräfin Bessubowa vollständig wiederhergestellt.“
„Sie war jetzt bei mir, sie ist so zu beklagen,“ wandte sich die Gräfin an Aleksey Aleksandrowitsch. „Diese Trennung ist für sie entsetzlich. Es ist ein solcher Schlag für sie.“
„Reist er denn bestimmt ab?“ frug Aleksey Aleksandrowitsch.
„Ja; er geht nach Paris; gestern hat er die Stimme gehört,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, Stefan Arkadjewitsch anblickend.
„Ah, die Stimme,“ wiederholte Oblonskiy im Gefühl, daß man sich so vorsichtig wie möglich in dieser Gesellschaft zu verhalten habe, in welcher etwas Absonderliches vor sich ging oder vor sich gehen sollte, zu dem er noch keinen Schlüssel besaß.
Ein minutenlanges Schweigen trat ein, worauf die Gräfin Lydia Iwanowna, gleichsam Sturm laufend auf den Hauptpunkt des Gesprächs, mit feinem Lächeln zu Oblonskiy sagte:
„Ich kenne Euch seit langem und freue mich sehr, Euch näher kennen zu lernen. Les amis de nos amis sont nos amis, aber um ein Freund zu sein, muß man sich in den[390] Seelenzustand des anderen Freundes hineindenken; wobei ich jedoch fürchte, daß Ihr dies mit Bezug auf Aleksey Aleksandrowitsch nicht thut. Ihr versteht, wovon ich rede,“ sprach sie, ihre schönen, sinnigen Augen erhebend.
„Zum Teil, Gräfin, verstehe ich, daß die Lage Aleksey Aleksandrowitschs“ — sagte Oblonskiy, ohne recht zu begreifen, worum es sich handelte und daher mit der Absicht, sich allgemein zu halten.
„Die Veränderung liegt nicht in der äußerlichen Situation,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna ernst, zugleich mit liebevollem Blick dem sich erhebenden und zu Landau gehenden Aleksey Aleksandrowitsch folgend, „sein Herz hat sich verändert, ihm ist ein neues Herz verliehen worden, und ich fürchte, daß Ihr Euch nicht vollkommen in diese Veränderung hineingedacht habt, die in ihm vor sich gegangen ist.“
„Nun, ich kann mir in allgemeinen Umrissen diese Veränderung schon vorstellen. Wir sind stets Freunde gewesen, und jetzt“ — sagte Stefan Arkadjewitsch, mit einem zärtlichen Blicke dem Blick der Gräfin antwortend, wobei er überlegte, welchem der beiden Minister sie näher stände, damit er wissen könne, in bezug auf welchen von den beiden er sie anzugehen hätte.
„Die Veränderung, welche in ihm vor sich gegangen ist, kann seine Gefühle der Nächstenliebe nicht abschwächen; im Gegenteil, diese Veränderung muß die Liebe noch erhöhen. Doch ich fürchte, Ihr versteht mich nicht. Wollt Ihr nicht Thee nehmen?“ sagte sie, mit den Augen auf den Diener weisend, welcher auf dem Präsentierbrett Thee reichte.
„Nicht ganz, Gräfin. Versteht sich, sein Unglück“ —
„Ja, das Unglück, welches sein größtes Glück geworden ist, da sein Herz ein neues ward, von ihm erfüllt,“ sagte sie, voll Liebe auf Aleksey Aleksandrowitsch schauend.
„Ich glaube, man wird sie schon darum bitten können, mit beiden zu sprechen,“ dachte Stefan Arkadjewitsch. „O gewiß, Gräfin,“ sagte er, „doch ich denke, diese Veränderungen sind so innerlicher Natur, daß niemand, selbst nicht der am allernächsten Stehende, gern davon spricht.“
„Im Gegenteil; wir müssen davon reden, und einander beistehen.“
„Nun ja, ohne Zweifel, es bleibt aber doch ein gewisser Unterschied in den Überzeugungen und dabei“ — sagte Oblonskiy mit geschmeidigem Lächeln.
„Es kann keinen Unterschied geben in Sachen der heiligen Wahrheit.“
„Ja, ja, gewiß, doch“ — und in Verlegenheit geratend, verstummte Stefan Arkadjewitsch. Er hatte erkannt, daß es sich um die Religion handelte.
„Mir scheint, er wird sogleich einschlafen,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch bedeutungsvoll flüsternd, indem er zu Lydia Iwanowna herantrat.
Stefan Arkadjewitsch schaute sich um. Landau saß am Fenster, auf die Armlehne und Rücklehne eines Sessels gestützt, mit herniedergesunkenem Haupte. Als er die auf ihn gerichteten Blicke bemerkte, hob er den Kopf und lächelte kindlich-naiv.
„Beobachtet ihn nicht,“ sagte Lydia Iwanowna, mit leichter Bewegung ihren Stuhl zu Aleksey Aleksandrowitsch rückend, „ich habe bemerkt“ — begann sie, als der Diener mit einem Briefe in das Zimmer trat. Lydia Iwanowna durchflog schnell das Billet, und schrieb dann, nachdem sie um Entschuldigung gebeten, mit außerordentlicher Schnelligkeit etwas nieder, gab die Antwort hinaus und wandte sich wieder zu dem Tische. „Ich habe bemerkt,“ fuhr sie in dem begonnenen Gespräch fort, „daß die Moskauer, insbesondere die Herren, die gleichgültigsten Menschen der Religion gegenüber sind.“
„O nein Gräfin, mir scheint, daß die Moskauer im Rufe stehen, die glaubenstreuesten Menschen zu sein,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch.
„Nun, soviel ich es verstehe, seid Ihr leider einer der Gleichgültigen,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, sich mit mattem Lächeln an ihn wendend.
„Wie kann man nur gleichgültig sein!“ sagte Lydia Iwanowna.
„Ich bin in dieser Beziehung weniger gleichgültig, als daß ich nur harre,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch mit seinem weichsten Lächeln, „ich glaube nicht, daß für mich eine Zeit für solche Fragen kommen könnte.“
Aleksey Aleksandrowitsch und Lydia Iwanowna wechselten einen Blick.
„Wir können nie wissen, ob die Zeit für uns gekommen ist oder nicht,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch streng. „Wir dürfen nicht denken, ob wir bereit sind oder nicht bereit; die göttliche Fügung wird nicht von menschlichem Denken geleitet; sie trifft bisweilen nicht diejenigen, welche streben, sondern die, welche unvorbereitet sind, wie sie Saul traf.“
„Nein; mir scheint, jetzt noch nicht,“ sagte Lydia Iwanowna, die währenddem den Bewegungen des Franzosen gefolgt war.
Landau erhob sich und trat zu ihnen.
„Gestattet Ihr mir, zuzuhören?“ frug er.
„O gewiß; ich wollte Euch nicht stören,“ sagte Lydia Iwanowna ihn zärtlich anblickend, „setzt Euch zu uns.“
„Man soll nur die Augen nicht schließen, um nicht des Lichtes beraubt zu sein,“ fuhr Aleksey Aleksandrowitsch fort.
„Ach, wenn Ihr jenes Glück känntet, welches wir empfinden in dem Gefühl von Gottes steter Gegenwart in unserer Seele!“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, verzückt lächelnd.
„Aber der Mensch kann sich bisweilen unfähig fühlen, sich zu dieser Höhe zu erheben,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, welcher merkte, daß er einen Bogen schlug, indem er die Höhe der Religion anerkannte, sich aber zugleich dabei nicht entschließen konnte, seine Freidenkerei vor einer Person einzugestehen, welche ihm mit einem einzigen Worte zu Pomorskiy das gewünschte Amt zu verschaffen vermochte.
„Das heißt, Ihr wollt sagen, daß die Sünde ihn daran hindere?“ sagte Lydia Iwanowna. „Dies ist eine falsche Ansicht. Es giebt keine Sünde für die Gläubigen, ihre Sünde ist schon losgekauft. — Pardon,“ fügte sie hinzu, auf den wiederum mit einem anderen Billet eintretenden Diener blickend. Sie las und antwortete dann in Worten: „Morgen sind wir bei der hohen Fürstin, sagt das; für den Gläubigen giebt es keine Sünde,“ setzte sie das Gespräch fort.
„Ja; aber der Glaube ohne Worte ist doch tot,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, sich dieses Satzes aus dem Katechismus erinnernd, und nur noch durch ein Lächeln seine Unabhängigkeit wahrend.
„So ist es; das ist aus dem Brief des Apostel Jakobus,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, etwas vorwurfsvoll zu Lydia Iwanowna gewendet, wie betreffs einer Sache, über die sie noch nicht ein einziges Mal gesprochen hätten.
„Wie viel Schaden hat die falsche Auslegung dieser Stelle angerichtet! Nichts zieht so sehr vom Glauben ab, als diese Auslegung; ‚ich habe keine Werke, also auch keinen Glauben‘ und doch ist dies nirgends gesagt. Es ist das Umgekehrte gesagt.“
„In Gott sich zu mühen, mit Kasteiungen, in Fasten die Seele zu retten,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna mit widerlicher Geringschätzung, „das sind nur wunderliche Auffassungen unserer Mönche. Denn das ist nirgends gesagt. Es ist dies bei weitem einfacher und leichter,“ fügte sie hinzu, Oblonskiy mit dem nämlichen ermutigenden Lächeln anblickend, mit welchem sie bei Hofe die jungen, von der ungewohnten Umgebung verwirrten Damen ermutigte.
„Wir sind erlöst durch Christum, der für uns gelitten hat. Wir sind erlöst im Glauben,“ sprach Aleksey Aleksandrowitsch, ihre Worte mit seinem Blick billigend.
„Vous comprenez l'anglais?“ frug Lydia Iwanowna und erhob sich, nachdem sie eine bejahende Antwort erhalten hatte, um auf einem kleinen Bücherbrett in den Büchern zu suchen.
„Soll ich ‚Safe and Happy‘ oder ‚Under the Wing‘ lesen?“ sprach sie, Karenin fragend anblickend, setzte sich, nachdem sie das Buch gefunden hatte, wieder auf ihren Platz und schlug es auf.
Die Ausführung war sehr kurz. Es wurde hier der Weg beschrieben, auf welchem der Glaube erworben wird und jenes Glück, welches höher ist, als alles Irdische, das hierbei doch die Seele erfüllt. Der Gläubige kann nicht unglücklich sein, weil er nicht allein ist. „Da seht Ihr.“ Sie wollte schon weiter lesen, als der Diener wiederum hereintrat.
„Bovosdin? Sagt, morgen um zwei Uhr! — Ja,“ sprach sie, die Stelle in dem Buch mit dem Finger bedeckend, und seufzend, mit ihren nachdenklichen schönen Augen vor sich hinblickend. „So wirkt der wahre Glaube; Ihr kennt die Mary Sanina? Ihr kennt ihr Unglück? Sie verlor ihr einziges[394] Kind und war in Verzweiflung. Was geschah da? Sie fand diesen Freund und dankt jetzt Gott für den Tod ihres Kindes. Dies ist das Glück, welches der Glaube verleiht!“
„Ja, ja, das ist viel“ — sagte Stefan Arkadjewitsch, zufrieden damit, daß man las und ihm so Gelegenheit geben würde, ein klein wenig zur Überlegung zu kommen. „Es ist doch offenbar am besten heute nicht um etwas zu bitten,“ dachte er, „könnte man nur, ohne etwas zu verderben, von hier fortkommen.“
„Es wird Euch langweilig werden,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, sich an Landau wendend, „Ihr versteht nicht Englisch; doch es ist nur kurz.“
„O, ich verstehe schon,“ sagte Landau mit dem nämlichen Lächeln und schloß die Augen.
Aleksey Aleksandrowitsch und Lydia Iwanowna sahen sich bedeutungsvoll an und die Lektüre begann.
Stefan Arkadjewitsch fühlte sich vollkommen verblüfft von den neuen, ihm fremdartigen Gesprächen, die er vernahm. Das Getriebe des Petersburger Lebens wirkte im allgemeinen anregend auf ihn ein, indem es ihn aus dem stagnierenden Moskauer Sumpfe herausbrachte, aber er liebte und verstand dieses Getriebe nur in den ihm nahestehenden und bekannten Kreisen — in dieser fremdartigen Umgebung hier wurde er verlegen, konnte er nicht alles verstehen. Indem er der Gräfin Lydia Iwanowna zuhörte, und die auf ihn gerichteten schönen, naiven oder verschlagenen Augen Landaus — er wußte es selbst nicht — sah, begann Stefan Arkadjewitsch eine gewisse eigenartige Schwere im Kopfe zu empfinden.
Die verschiedenartigsten Gedanken gingen in seinem Kopfe durcheinander. Mary Sanina freut sich, daß ihr Kind gestorben ist — es wäre recht angenehm, könnte man jetzt ein wenig rauchen — um sein Seelenheil zu retten, ist nur nötig, daß man glaubt, und die Mönche wissen nicht, wie man das machen muß, wohl aber die Gräfin Lydia Iwanowna kennt das — woher nur das schwere Gefühl in dem Kopfe? Von dem Cognac oder davon, daß das da alles so sehr seltsam ist? Ich glaube doch wohl bis jetzt nichts Anstößiges begangen zu[395] haben; und doch kann ich sie nicht mehr bitten. Man sagt, sie veranlaßt einen zum Beten; als ob sie mich nicht dazu veranlaßt hätten? Das wird doch gar zu dumm. Und welchen Unsinn sie da liest, sie spricht aber gut aus. Landau — Bessuboff — weshalb heißt er Bessuboff? Plötzlich fühlte Stefan Arkadjewitsch, wie seine Kinnlade unwiderstehlich sich zum Gähnen auszurenken begann. Er strich sich seinen Backenbart, indem er das Gähnen verbarg und schüttelte sich, fühlte aber dann, daß er bereits schlafe und schon zu schnarchen anfange. Er erwachte in dem nämlichen Moment, als die Stimme der Gräfin Lydia Iwanowna sprach „er schläft“.
Stefan Arkadjewitsch kam erschrocken zur Besinnung, er fühlte sich schuldbewußt und überführt, tröstete sich aber sogleich, nachdem er wahrgenommen hatte, die Worte „er schläft“ sich nicht auf ihn bezogen, sondern auf Landau.
Der Franzose war ebenso eingeschlafen, wie Stefan Arkadjewitsch. Aber während sein Schlaf sie, wie er meinte, verletzt haben würde — doch selbst hieran dachte er nicht einmal, so seltsam schien ihm alles — erfreute sie der Schlaf Landaus, besonders die Gräfin Lydia Iwanowna, außerordentlich.
„Mon ami,“ sagte Lydia Iwanowna, vorsichtig, um nicht Geräusch zu verursachen, die Falten ihres seidenen Kleides streichend und in ihrer Aufregung Karenin schon nicht mehr Aleksey Aleksandrowitsch nennend, sondern „mon ami — donnez lui la main. Vous voyez? St!“ — lispelte sie dem abermals eintretenden Diener zu: „Niemand wird empfangen.“
Der Franzose schlief, oder stellte sich schlafend, den Kopf nach der Rücklehne des Sessels geneigt und mit der schwitzenden Hand, die auf dem Knie lag, schwache Bewegungen machend, als ob er etwas fangen wollte. Aleksey Aleksandrowitsch erhob sich, ging vorsichtig, sich an dem Tische anhaltend herzu und legte seine Hand in die des Franzosen. Stefan Arkadjewitsch stand gleichfalls auf, die Augen weit öffnend, im Wunsche, völlig wach zu werden, falls er etwa noch schliefe, und blickte bald auf dieses, bald auf jenes. Alles war Wirklichkeit. Stefan Arkadjewitsch fühlte, daß es ihm im Kopfe immer unbehaglicher wurde.
„Que la personne qui est arrivée la dernière, celle[396] qui demande, qu'elle sorte! — Qu'elle sorte!“ — sprach der Franzose, ohne die Augen zu öffnen.
„Vous m'excuserez, mais vous voyez — revenez vers dix heurs, encore mieux demain.“
„Qu'elle sorte!“ wiederholte der Franzose ungeduldig.
„C'est moi, n'est ce pas?“ Mit der bestätigenden Antwort ging Stefan Arkadjewitsch. Er vergaß, um was er Lydia Iwanowna hatte bitten wollen; er vergaß die Sache seiner Schwester, auf den Fußspitzen ging er hinaus, nur in dem einzigen Wunsche, möglichst schnell von hier fortzukommen, wie aus einer Lasterhöhle. Er eilte auf die Straße hinaus und unterhielt sich geraume Zeit scherzend mit dem Kutscher, um möglichst bald wieder zu Verstande zu kommen.
Im französischen Theater, welches er noch für den letzten Akt besuchte, und darauf bei den Tataren beim Champagner, in der ihm eigenen Sphäre, erholte sich Stefan Arkadjewitsch ein wenig, aber gleichwohl war es ihm an diesem Abend gar nicht recht nach Wunsch.
Als er nach Haus zu Peter Oblonskiy gekommen war, bei dem er in Petersburg wohnte, fand er ein Billet von Betsy vor. Dieselbe schrieb ihm, sie wünsche sehr die begonnene Unterhaltung zu beendigen und bitte ihn, morgen zu ihr zu kommen. Er hatte dieses Schreiben kaum durchgelesen, und eine finstere Miene dazu gemacht, als unten die wuchtigen Schritte von Leuten vernehmbar wurden, welche etwas Schweres trugen.
Stefan Arkadjewitsch ging hinaus, um nachzusehen; es war der wieder junggewordene Peter Oblonskiy, welcher so berauscht war, daß er nicht die Treppe heraufgehen konnte. Gleichwohl aber befahl er selbst, ihn auf die Füße zu stellen, als er Stefan Arkadjewitschs ansichtig geworden, und ging mit diesem, an ihn angehängt, in dessen Zimmer, wo er ihm zu erzählen anfing, wie er den Abend verbracht habe. Hier schlief er dann auch ein.
Stefan Arkadjewitsch hatte die Laune verloren, was sich bei ihm selten ereignete, und konnte lange Zeit den Schlaf nicht finden. Alles woran er auch denken mochte, war widerwärtig, aber als das Widerwärtigste, als etwas gewissermaßen[397] Beschämendes, rief er sich den Abend bei der Gräfin Lydia Iwanowna ins Gedächtnis zurück.
Am andern Tage erhielt er von Aleksey Aleksandrowitsch eine bestimmte Verweigerung der Scheidung Annas, und erkannte nun, daß dieser Entschluß auf dem fußte, was der Franzose gestern in seinem wirklichen oder verstellten Schlafe gesagt haben mochte.
Soll im Familienleben etwas unternommen werden, so bedarf es dazu entweder eines vollständigen Zerfalls unter den Gatten, oder einer liebevollen Übereinstimmung. Wenn aber die Beziehungen unter den Gatten unbestimmte sind, weder so noch so, dann kann nichts unternommen werden.
Viele Familien bleiben Jahre lang auf dem alten Platze, der den beiden Gatten gleichgültig geworden ist, nur aus dem Grunde, weil weder ein völliger Zerfall, noch ein ebensolches Einverständnis vorhanden ist.
Sowohl Wronskiy wie Anna war das Moskauer Leben in seiner Hitze, seinem Staub, wobei die Sonne nicht mehr wie im Frühling, sondern wie im Sommer schien, alle Bäume auf den Boulevards längst schon belaubt standen und die Blätter schon von Staub bedeckt waren — unerträglich geworden; doch lebten beide, ohne nach Wosdwishenskoje umzusiedeln, wie schon längst beschlossen war, indem ihnen langweilig gewordenen Moskau weiter, weil zwischen ihnen in letzter Zeit kein Einverständnis mehr bestand.
Die Verstimmung, die sie trennte, hatte keine äußerliche Ursache, und alle Versuche einer Aussprache beseitigten dieselbe nicht nur nicht, sondern vergrößerten sie noch. Es war dies eine innere Verbitterung, welche für Anna ihren Grund in der Abnahme seiner Liebe hatte, für Wronskiy in der Reue darüber, daß er sich ihretwegen in eine schwierige Situation verwickelt hatte, welche Anna, anstatt sie zu erleichtern, nur noch drückender gestaltete. Weder eins, noch das andere von beiden äußerte die Ursache seines Grolls, aber sie hielten sich gegenseitig für ungerecht, und bemühten sich bei jeder Gelegenheit, dies einander zu zeigen.
Für sie war er in seinem ganzen Wesen, mit allen seinen[398] Gewohnheiten, Gedanken, Wünschen, mit seiner ganzen seelischen und physischen Beanlagung nur Eins — die Liebe zum Weib; diese Liebe aber mußte nach ihrem Gefühl, ganz auf sie allein konzentriert sein. Sie hatte sich jedoch vermindert, und folglich hatte er nach ihrem Urteil einen Teil derselben auf andere, oder auf ein anderes Weib übertragen müssen — und so war sie eifersüchtig geworden. Sie war nicht wegen eines anderen Weibes eifersüchtig auf ihn, sondern wegen der Abnahme seiner Liebe. Sie besaß noch keinen Gegenstand auf den sich ihre Eifersucht erstrecken konnte, suchte denselben jedoch, und übertrug bei dem geringsten Fingerzeig diese Eifersucht von dem einen Gegenstand auf den anderen. Bald hegte sie Eifersucht auf ihn wegen jener gewöhnlichen Frauenzimmer, mit denen er dank seinen Junggesellenverbindungen, so leicht in Verbindung treten konnte, bald wegen jener Weltdamen, mit denen er zusammentreffen konnte, bald auch hegte sie Eifersucht auf ein nur in ihrer Vorstellung vorhandenes Mädchen, welches er, indem er sein Verhältnis mit ihr löste, lieben könnte.
Diese letztere Art ihrer Eifersucht folterte sie am meisten, insbesondere deshalb, weil er ihr selbst unvorsichtigerweise in einer offenherzigen Minute gesagt hatte, seine Mutter verstehe ihn so wenig, daß sie sich erlaubt hätte, ihn zur Heirat mit der jungen Fürstin Sorokina zu überreden.
In dieser Eifersucht grollte ihm Anna, und suchte nun in allem Gründe zum Grollen. In allem, was es Drückendes gab in ihrer Lage, klagte sie ihn an; der qualvolle Zustand des Wartens, den sie in Moskau — zwischen Himmel und Erde — durchlebte, die Langsamkeit und Unentschlossenheit Aleksey Aleksandrowitschs, ihre Vereinsamung — alles legte sie ihm zur Last. Wenn er sie liebte, würde er all das Drückende ihrer Lage begriffen, und sie aus derselben befreit haben; daran, daß sie noch in Moskau lebte, und nicht auf dem Lande, war nur er schuld. Er konnte nicht leben, wenn er sich auf dem Lande vergrub, so wie sie es wünschte; ihm war die Gesellschaft unentbehrlich und er hatte sie in diese furchtbare Situation gebracht, deren Schwierigkeit er nicht verstehen wollte. Dann aber trug er auch schuld daran, daß sie auf ewig von ihrem Sohne getrennt war.
Selbst die seltenen Minuten der Zärtlichkeit, die für beide kamen, beruhigten sie nicht; in seiner Zärtlichkeit fand sie jetzt einen Anflug von Ruhe und Zuversicht; was früher nicht gewesen war und sie reizte.
Die Dämmerung war schon eingetreten. Anna schritt allein, seine Heimkehr von einem Essen unter Junggesellen erwartend, zu dem er gefahren war, im Kabinett auf und nieder, einem Raum, in welchem das Geräusch vom Trottoir weniger vernehmlich war — und überdachte nochmals die Ausdrücke, welche bei ihrem gestrigen Zwist gefallen waren, in allen Einzelheiten.
Indem sie immer weiter rückwärts ging von den ihr erinnerlichen, kränkenden Worten bei diesem Streite, bis zu dem, was die Veranlassung dazu gebildet hatte, gelangte sie endlich auf den Beginn der Auseinandersetzung. Lange vermochte sie nicht daran zu glauben, daß der Streit aus einem Gespräch entstanden war, welches völlig harmlos, und für keines der beiden von höherem Werte gewesen war. Es war wirklich so. Alles war daher gekommen, daß er über die Mädchengymnasien gespöttelt hatte, indem er sie für unnütz hielt, während sie für dieselben eingetreten war.
Er hatte sich im allgemeinen der weiblichen Bildung gegenüber respektlos verhalten und gesagt, daß Hanna, die von Anna protegierte Engländerin, durchaus keine Kenntnisse in der Physik nötig habe.
Dies hatte Anna gereizt; sie sah hierin eine geringschätzige Hindeutung auf ihre eigenen Beschäftigungen, und ersann und äußerte nun einen Satz, der ihm den ihr bereiteten Schmerz heimzahlen sollte.
„Ich erwarte nicht, daß Ihr an mich und meine Empfindungen dächtet, wie dies nur ein liebender Mann kann, ich hätte aber nur einfach Taktgefühl erwartet,“ sagte sie.
Und in der That, er errötete vor Verdruß und antwortete etwas Unangenehmes. Sie besann sich nicht mehr auf ihre Antwort, aber gleich darauf hatte er, offenbar in dem Wunsche, ihr auch weh zu thun, geantwortet:
„Eure Leidenschaft für dieses Mädchen interessiert mich nicht, weil ich sehe, daß sie nicht natürlich ist.“
Diese Härte seinerseits, mit welcher er eine Welt stürzte,[400] die sie sich mit soviel Mühe aufgebaut, um ihr schweres Dasein ertragen zu können, diese Ungerechtigkeit, mit der er sie der Heuchelei, der Unnatürlichkeit zieh, empörte sie.
„Ich beklage sehr, daß allein das Rohe und Materielle Euch verständlich und natürlich erscheint,“ sprach sie und verließ das Zimmer.
Als er gestern Abend zu ihr gekommen war, hatten sie des vorgefallenen Zwists gar nicht gedacht, aber beide gefühlt, daß derselbe wohl beigelegt aber nicht vorüber war.
Heute war er nun den ganzen Tag über nicht zu Haus gewesen und sie fühlte sich so vereinsamt und bedrückt in dem Gefühl, mit ihm uneinig zu sein, daß sie alles vergessen, vergeben, sich mit ihm aussöhnen und sich selbst anklagen, ihn aber rechtfertigen wollte.
„Ich selbst bin schuld. Ich bin reizbar und sinnlos eifersüchtig. Ich werde mich mit ihm aussöhnen und wir werden auf das Dorf fahren, dort werde ich ruhiger werden,“ sprach sie zu sich selbst.
„Unnatürlich“, kam ihr plötzlich nicht so sehr das Wort, welches sie vor allem verletzt hatte, wieder ins Gedächtnis, als vielmehr eine Absicht, ihr wehe zu thun. „Ich weiß, was er sagen wollte; er wollte sagen, es sei unnatürlich, nicht die eigene Tochter zu lieben, wohl aber ein fremdes Kind. Was versteht er von Liebe zu Kindern, von meiner Liebe zu Sergey, welchen ich ihm geopfert habe? Aber es war so sein Wunsch, mir weh zu thun! Nein; er liebt eine andere, es kann nicht anders sein,“ und indem sie gewahrte, daß sie, im Wunsche, ruhig zu werden, wiederum den soviel Mal schon von ihr durchlaufenen Kreis vollendet hatte und zu der alten Erbitterung zurückgekehrt war, erschrak sie über sich selbst.
„Geht es denn aber wirklich nicht an? Sollte ich es nicht auf mich nehmen können?“ sprach sie zu sich selbst und begann abermals von Anfang an. „Er ist gerecht, ehrenhaft, er liebt mich. Ich liebe ihn, bald wird die Scheidung erfolgen. Wessen bedarf es da noch? Nur der Ruhe, des Vertrauens, und ich will es auf mich nehmen. Ja, jetzt, sobald er kommt, werde ich ihm sagen, daß ich die Schuldige gewesen bin, obwohl ich es nicht war — und wir wollen dann abreisen,“ und um nicht mehr denken, sich nicht mehr ihrem Groll[401] überlassen zu müssen, schellte sie und befahl die Koffer zum Einpacken der Sachen für die Reise aufs Dorf herbeizubringen.
Um zehn Uhr kam Wronskiy an.
„Nun; ging es recht vergnügt zu?“ frug sie mit schuldbewußtem und sanftem Ausdruck in den Zügen, ihm entgegentretend.
„Wie gewöhnlich,“ versetzte er, sogleich mit einem einzigen Blick auf sie erkennend, daß sie in einer ihrer besten Stimmungen sei. Er war an diese Übergänge schon gewöhnt und heute ganz besonders erfreut davon, weil er selbst sich gleichfalls in bester Laune befand.
„Was sehe ich! So ist's recht!“ sagte er, auf die Koffer im Vorzimmer weisend.
„Ja, wir müssen abreisen, und es ist ganz gut, daß wir auf das Dorf wollen. Dich hält doch wohl nichts zurück?“
„Nur eines wünschte ich. Ich komme sogleich wieder, wir wollen dann sprechen, ich möchte mich nur umkleiden. Laß den Thee geben.“
Er begab sich in sein Kabinett.
Es hatte etwas Verletzendes darin gelegen, als er sagte, „so ist's recht“; wie man zu einem Kinde spricht, wenn dieses aufgehört hat launisch zu sein; und noch verletzender war der Gegensatz zwischen dem schuldbewußten Tone bei ihr und dem selbstbewußten bei ihm; auf einen Augenblick empfand sie in sich den aufsteigenden Wunsch nach Kampf; allein indem sie sich selbst bezwang, erstickte sie denselben und begegnete Wronskiy noch immer so heiter.
Nachdem dieser wieder zu ihr gekommen war, erzählte sie ihm, teilweise die zurechtgelegten Worte wiederholend, davon, wie sie den Tag zugebracht hatte, sowie von ihren Plänen zur Abreise.
„Weißt du, es ist über mich fast wie eine Begeisterung gekommen,“ sprach sie, „weshalb sollen wir hier auf die Scheidung warten? Geht das nicht ganz ebenso auf dem Dorfe? Ich kann nicht mehr länger warten, ich will nicht hoffen, nichts hören von der Scheidung. Ich habe beschlossen, daß dies[402] keinen Einfluß mehr auf mein Leben ausüben soll. Bist du auch einverstanden?“
„O ja;“ sagte er, ihr beunruhigt in das erregte Gesicht blickend.
„Was habt Ihr denn dort angegeben? Wer war dabei?“ sagte sie.
Wronskiy nannte die Gäste. Es war ein vorzügliches Essen gegeben worden, eine Bootwettfahrt dazu und alles das war ganz hübsch ausgefallen, aber in Moskau thut man es nicht ohne ein ridicule. Es war auch eine Dame, eine Schwimmlehrerin der Königin von Schweden dabei aufgetreten und hatte ihre Kunst gezeigt.
„Wie? Sie schwamm?“ frug Anna, sich verfinsternd.
„In einem roten costume de natation; sie war alt und häßlich. Aber wann reisen wir?“
„Welch thörichte Phantasie! Schwimmt sie denn in einer ganz besonderen Weise?“ sagte Anna, ohne hierauf zu antworten.
„Durchaus nichts Besonderes war dabei; ich muß sogar sagen, es war ein furchtbarer Unsinn. Aber wann also denkst du zu reisen?“
Anna schüttelte den Kopf, als wünsche sie, einen unangenehmen Gedanken zu verscheuchen.
„Wann wir reisen? Nun, je früher, um so besser. Morgen werden wir noch nicht fertig sein; aber übermorgen.“
„Ja — doch nein, halt. Übermorgen ist Sonntag, da muß ich zu maman,“ sagte Wronskiy, in Verlegenheit geratend, weil er, sofort nachdem er den Namen der Mutter ausgesprochen hatte, ihren starr und argwöhnisch auf sich gerichteten Blick fühlte. Seine Verwirrung bestätigte ihr ihren Verdacht. Sie geriet in Wallung und entfernte sich von ihm. Jetzt war es nicht mehr die Lehrerin der Königin von Schweden, sondern die junge Fürstin Sorokina, welche mit der Gräfin Wronskaja zusammen auf einem Dorfe bei Moskau lebte, die vor Anna auftauchte.
„Du kannst doch morgen zu ihr fahren?“ sprach sie.
„Nein, nein! In der Angelegenheit, in welcher ich zu ihr will — läßt sich ein Kreditschein und das Geld morgen nicht erhalten,“ antwortete er.
„Wenn dem so ist, so werden wir gar nicht reisen.“
„Warum das?“
„Ich werde nicht später abreisen. Entweder Montag oder gar nicht.“
„Aber warum?“ sagte Wronskiy, wie mit Erstaunen. „Das hat doch gar keinen Sinn.“
„Für dich hat es keinen Sinn, weil du mit mir nichts zu thun hast. Du willst mein Leben nicht begreifen. Das einzige, was mich hier interessiert hat — war Hanna. Du sagst, dies sei eine Heuchelei. Du hast erst gestern gesagt — daß ich meine Tochter nicht liebte, sondern mich stellte, als ob ich diese Engländerin liebte — dies wäre unnatürlich. Ich möchte nun wissen, welches Leben hier für mich ein natürliches sein könnte!“
Einen Augenblick kam sie zur Besinnung und erschrak darüber, daß sie ihrem Vorsatz untreu geworden war. Aber obwohl sie wußte, daß sie sich damit verderbe, vermochte sie nicht mehr an sich zu halten; sie mußte ihm zeigen, wie ungerecht er war, sie konnte sich ihm nicht mehr unterordnen.
„Ich habe dies niemals gesagt; ich habe gesagt, daß ich dieser so plötzlichen Liebe nicht nachfühlen könnte.“
„Warum sprichst du, der mit seiner Offenheit prahlt, nicht die Wahrheit?“
„Ich prahle nie und spreche nie die Unwahrheit,“ sprach er ruhig, den in ihm aufsteigenden Groll niederhaltend, „es ist sehr bedauerlich, wenn du mich nicht achtest“ —
„Die Achtung hat man erdacht, um eine leere Stelle damit zu verdecken, auf welcher die Liebe sein müßte. Aber wenn du mich nicht mehr liebst, so ist es besser und ehrenhafter, dies auszusprechen.“
„Nein, das wird unerträglich!“ rief Wronskiy, vom Stuhle aufstehend. Vor ihr stehen bleibend, sprach er dann langsam: „Weshalb stellst du meine Geduld auf die Probe?“ Er sprach dies mit einem Ausdruck, als könnte er noch mehr sagen, halte aber an sich; „es giebt gewisse Grenzen!“
„Was wollt Ihr damit sagen?“ rief sie, mit Schrecken auf den offenen Ausdruck von Haß schauend, der in seinem ganzen Gesicht, und besonders in den harten, drohenden Augen lag.
„Ich will sagen,“ begann er, stockte aber, „ich muß fragen, was Ihr von mir wollt?“
„Was könnte ich wollen? Ich könnte nur wollen, daß Ihr mich nicht vernachlässigt, wie Ihr es beabsichtigt“ — sagte sie, vollkommen verstehend, was er nicht vollendet hatte, „aber das will ich nicht; das kommt erst in zweiter Reihe. Ich will Liebe, und diese giebt es nicht mehr. Vielleicht, daß alles schon vorbei ist.“
Sie schritt der Thür zu.
„Bleib — bleibe!“ sagte Wronskiy, ohne seine finster zusammengezogenen Brauen zu glätten, und ergriff sie bei der Hand. „Was ist denn eigentlich? Ich habe gesagt, daß die Abreise auf drei Tage verschoben werden muß, du hast mir darauf geantwortet, ich lüge und sei ein ehrloser Mensch!“
„Ja, und ich wiederhole, daß ein Mensch, der mir vorwirft, alles für mich geopfert zu haben“ — sprach sie in der Erinnerung an die Worte eines anderen, früheren Streites — „daß er schlimmer ist, ein Mensch ohne Herz, als ein ehrloser Mensch!“
„Nein; es giebt aber doch eine Grenze für die Geduld!“ rief er aus, ihre Hand schnell loslassend.
„Er haßt mich, das ist klar,“ dachte sie, und verließ schweigend, ohne sich umzublicken, mit unsicheren Schritten das Gemach. „Er liebt eine andere; das ist noch klarer,“ sprach sie zu sich, in ihr Zimmer tretend, „ich will Liebe, aber die ist nicht mehr da. Vielleicht ist alles vorüber,“ wiederholte sie mit den von ihr schon geäußerten Worten, „und wir müssen ein Ende machen. Aber wie?“ frug sie sich und setzte sich in einem Sessel vor dem Spiegel. Gedanken daran, wohin sie jetzt fahren könnte — zu der Tante vielleicht, bei welcher sie erzogen worden war, zu Dolly, oder einfach ins Ausland, ferner daran, was er jetzt, allein in seinem Kabinett thun möge; ob dieser Streit ein entscheidender gewesen oder eine Aussöhnung noch möglich sei, sowie, was jetzt alle ihre früheren Petersburger Bekannten von ihr sagen würden, wie Aleksey Aleksandrowitsch die Sache betrachten würde; viele andere Ideen, was jetzt werden solle nach dem Bruch, kamen ihr in den Kopf, aber sie gab sich ihnen nicht mit ganzer Seele hin.
In ihrer Seele lebte ein unklarer Gedanke, der sie ausschließlich interessierte, doch konnte sie sich nicht klar darüber werden. Indem sie aber nochmals an Aleksey Aleksandrowitsch dachte, rief sie sich zugleich auch die Zeit ihrer Krankheit nach ihrer Niederkunft und jenes Gefühl wieder ins Gedächtnis zurück, welches sie damals nicht verlassen hatte „warum bin ich nicht gestorben?“ und erkannte nun plötzlich das Gefühl, welches in ihrer Seele lebte. Ja; er war es, der Gedanke, der allein alles entschied, „sie mußte sterben.“
„Die Schmach und Schande Aleksey Aleksandrowitschs, Sergeys, und meine eigene furchtbare Schmach — das alles wird durch den Tod gesühnt. Sie wollte — sterben, er aber sollte bereuen, er muß Mitleid empfinden, Liebe, und soll meinethalben leiden!“
Mit beständigem Lächeln des Mitleids mit sich selbst saß sie in dem Lehnstuhl, die Ringe ihrer linken Hand abziehend und wieder aufsetzend, und sich lebhaft seine Gefühle nach ihrem Tode, von den verschiedenen Seiten aus, vorstellend.
Sich nähernde Schritte, es waren seine Schritte, zogen sie ab. Als wäre sie mit dem Weglegen ihrer Ringe beschäftigt wandte sie sich nicht einmal nach ihm um.
Er trat zu ihr und ihre Hand ergreifend, sagte er leise:
„Anna, wir wollen übermorgen fahren, wenn du willst. Ich bin mit allem einverstanden.“
Sie schwieg.
„Nun?“ frug er.
„Du weißt ja selbst,“ sagte sie und brach sogleich, unfähig, noch länger an sich zu halten, in Schluchzen aus. „Verlaß mich, verlaß mich!“ sprach sie unter Schluchzen, „ich werde morgen fortgehen — ich werde noch mehr thun! Wer bin ich noch? Ein lasterhaftes Weib, ein Stein auf deinem Wege. Ich will dich nicht quälen, ich will nicht, und werde dich befreien. Du liebst nicht, liebst eine andere!“
Wronskiy beschwor sie, sich zu beruhigen und beteuerte, daß es doch gar keinen Anlaß zur Eifersucht für sie gäbe, daß er niemals aufgehört habe oder aufhören werde, sie zu lieben, und sie noch mehr liebe, als je zuvor.
„Anna, wozu sollen wir uns beide so quälen?“ sagte er, ihr die Hände küssend. In seinen Zügen malte sich jetzt[406] Zärtlichkeit und ihr schien es, als vernehme sie mit ihrem Ohr einen Klang von Thränen in seiner Stimme, als verspüre sie das Feuchte dieser Thränen auf ihrer Hand, und augenblicklich ging die verzweiflungsvolle Eifersucht Annas in eine verzweiflungsvolle, leidenschaftliche Zärtlichkeit über. Sie umfing ihn und bedeckte ihm Kopf, Hals und Hände mit Küssen.
In dem Gefühl, daß die Aussöhnung eine vollständige war, beschäftigte sich Anna vom andern Morgen ab munter mit den Anstalten zur Abreise.
Obwohl noch gar nicht beschlossen war, ob man Montag oder Dienstag reisen würde, da beide sich gestern gegenseitig Konzessionen gemacht hatten, bereitete sich Anna eifrig auf die Abreise vor, jetzt vollkommen gleichgültig dem gegenüber, ob man früh oder spät am Tage abreiste. Sie stand eben in ihrem Zimmer vor einem geöffneten Schranke, und nahm Sachen heraus, als er bereits angekleidet, früher als gewöhnlich, bei ihr eintrat.
„Ich muß sofort zu maman fahren; sie kann mir das Geld durch Jegoroff übersenden. Morgen bin ich dann bereit zu reisen,“ sagte er.
Mochte sie nun auch noch so gut gelaunt sein, die Erwähnung der Abreise auf den Landsitz schnitt ihr ins Herz.
„O, auch ich beeile mich nicht,“ sagte sie, dachte aber sogleich: vielleicht ist es doch noch möglich, es so einzurichten, daß man thut wie ich wünschte. — „Nein, thu' wie du willst! Geh' in den Speisesalon, ich werde sogleich auch kommen und will nur noch diese überflüssigen Sachen herauslegen,“ sprach sie, noch etwas auf Annuschkas Arme packend, auf welchen bereits ein Berg Leinen ruhte.
Wronskiy verzehrte gerade sein Beefsteak, als sie in den Speisesalon trat.
„Du glaubst nicht, wie kalt mich diese Gemächer lassen,“ sagte sie, sich neben ihm zu ihrem Kaffee setzend. „Es giebt doch nichts Schrecklicheres als diese chambres garnies. Es liegt kein Ausdruck, keine Seele in ihnen. Diese Uhren, Gardinen, und namentlich diese Tapeten — sind wie ein Alp. —[407] Ich gedenke Wosdwishenskojes, wie des gelobten Landes. Du hast noch keine Pferde hergeschickt?“
„Nein; sie werden kommen wenn wir fort sind. Fährst du noch einmal aus?“
„Ich wollte noch zur Wilson; ich muß ihr Kleider bringen. Also morgen ist es gewiß?“ sprach sie mit heiterer Stimme; doch plötzlich veränderte sich ihr Antlitz.
Der Kammerdiener Wronskiys kam, um sich die Unterschrift für ein Telegramm aus Petersburg auszubitten.
Es war nichts Besonderes in der Empfangnahme einer Depesche seitens Wronskiys, aber gleichwohl sagte dieser, als wünschte er etwas vor ihr zu verheimlichen, er wolle im Kabinett unterschreiben, und wandte sich dann hastig zu ihr.
„Gewiß werde ich morgen mit allem in Ordnung sein.“
„Von wem war die Depesche?“ frug sie, ohne ihn zu hören.
„Von Stefan,“ antwortete er gezwungen.
„Warum hast du mir sie nicht gezeigt? Welches Geheimnis kann es zwischen Stefan und mir geben?“
Wronskiy rief den Kammerdiener zurück und befahl, die Depesche zu bringen.
„Ich wollte sie dir nicht zeigen, weil Stefan eine Leidenschaft hat, zu telegraphieren. Wozu telegraphieren, wenn nichts entschieden ist?“
„Über die Scheidung?“
„Ja. Doch er schreibt, er habe noch nichts erreichen können. Kürzlich versprach er einen endgültigen Bescheid. Da lies.“
Mit bebenden Händen ergriff Anna die Depesche und las noch einmal das, was Wronskiy gesagt hatte. Am Schluß war noch hinzugefügt „es ist wenig Hoffnung vorhanden, aber ich werde alles Mögliche und Unmögliche thun.“
„Ich habe gestern gesagt, daß es mir vollkommen gleichgültig ist, wann ich die Scheidung erhalte, ja, selbst, ob ich sie erhalte,“ sprach sie errötend. „Es lag aber doch keine Notwendigkeit vor, mir Etwas zu verheimlichen. So kann er auch vor mir seine Korrespondenz mit Frauen verheimlichen, und er verheimlicht sie auch,“ dachte sie dabei.
„Jaschwin wollte heute früh mit Woytoff herkommen,“ sagte Wronskiy, „es scheint, daß er Pjevzoff alles abgewonnen[408] hat, ja, sogar noch mehr, als dieser bezahlen kann; einige sechzigtausend Rubel.“
„Nein,“ versetzte sie, erzürnt darüber, daß er mit diesem Wechsel des Themas so augenfällig zu verstehen gab, daß sie gereizt sei, „weshalb glaubst du, daß diese Nachricht mich so interessiert, daß man sie sogar zu verbergen hätte? Ich habe gesagt, daß ich nicht daran denken mag, und wünschte, du möchtest ebensowenig davon interessiert werden, wie ich.“
„Ich interessiere mich nur deshalb dafür, weil ich Klarheit liebe,“ sagte er.
„Klarheit liegt nicht in der Form, sondern in der Liebe,“ sagte sie, mehr und mehr in Erregung geratend, aber nicht durch seine Worte, sondern durch den Ton kalter Ruhe, mit welchem er sprach. „Weshalb wünschest du Klarheit?“
„Mein Gott! Wieder die Liebe!“ dachte er, finster werdend. „Du weißt doch, wozu? Für dich, und für die Kinder, welche kommen werden,“ sagte er.
„Kinder wird es nicht geben.“
„Das ist sehr bedauerlich,“ sagte er.
„Dir ist sie erforderlich für die Kinder, aber an mich denkst du nicht,“ sprach sie, vollständig vergessend und überhörend, daß er gesagt hatte „für dich und für die Kinder“. —
Die Frage nach der Möglichkeit, ob sie noch Kinder haben würden, hatte für sie seit Langem eine Streitfrage gebildet, die sie erbitterte. Seinen Wunsch, Kinder zu haben, legte sie sich dahin aus, daß er ihre Schönheit nicht schätze.
„O, ich sagte doch für dich! Vor allem für dich,“ wiederholte er, sich wie unter einem Schmerzgefühl verfinsternd, „weil ich überzeugt bin, daß ein großer Teil deiner Gereiztheit von der Unbestimmtheit unserer Lage herrührt.“
„Ja, jetzt hat er aufgehört, sich zu verstellen und alle seine kalte Gehässigkeit gegen mich ist nun sichtbar,“ dachte sie, seine Worte nicht vernehmend, aber mit Schrecken auf den kalten, harten Richter blickend, der, mit ihr Spott treibend, aus seinen Augen herausschaute. „Dies ist nicht der Grund,“ sagte sie, „ich begreife selbst nicht, daß der Grund meiner Gereiztheit — wie du es nennst, der sein kann, mich vollständig in deiner Gewalt zu befinden. Was für eine Unbestimmtheit der Lage giebt es hierbei? Im Gegenteil.“
„Es ist sehr bedauerlich, daß du nicht verstehen willst,“ unterbrach er sie, beharrlich in dem Wunsche, seinen Gedanken auszusprechen, „die Unbestimmtheit liegt darin, daß dir scheint, als wäre ich frei.“
„Diesbezüglich kannst du ganz ruhig sein,“ sagte sie, und begann, indem sie sich von ihm abwandte, ihren Kaffee zu trinken.
Sie hob die Tasse, und führte sie, den kleinen Finger von sich streckend zum Munde. Nachdem sie einige Schlucke genommen, blickte sie ihn an. An dem Ausdruck seines Gesichts erkannte sie klar, daß ihm ihre Hand und ihre Geste zuwider war, wie das Geräusch, welches sie mit den Lippen verursacht hatte.
„Mir ist alles vollständig gleichgültig, was deine Mutter denkt, und wie sie dich verheiraten will,“ sagte sie, mit zitternder Hand die Tasse niedersetzend.
„Davon sprechen wir ja aber gar nicht.“
„O, eben davon; und glaube mir, daß für mich ein Weib ohne Herz — sei es alt oder nicht alt, deine Mutter oder eine Fremde — ohne Interesse ist, und ich es nicht kennen mag!“
„Anna, ich bitte dich, nicht unehrerbietig von meiner Mutter zu reden.“
„Ein Weib, welches nicht mit seinem Herzen erraten hat, worin das Glück und die Ehre des Sohnes beruht — hat kein Herz.“
„Ich wiederhole meine Bitte, nicht unehrerbietig von meiner Mutter zu sprechen, die ich achte,“ sagte er, seine Stimme hebend und sie streng anblickend.
Sie antwortete nicht. Starr schaute sie ihn an, sein Gesicht, seine Hände; sie rief sich die gestrige Versöhnungsscene mit allen ihren Einzelheiten ins Gedächtnis zurück, sowie seine leidenschaftlichen Liebkosungen. „Ganz die nämlichen Liebkosungen hat er an andere Weiber verschwendet, er wird es weiterhin thun, er will es thun,“ dachte sie.
„Du liebst deine Mutter nicht. — Das sind alles Phrasen, nur Phrasen!“ — sprach sie, ihn haßerfüllt anblickend.
„Wenn es so allerdings steht, dann heißt es“ —
— „Zu einem Entschluß kommen; und ich bin entschlossen;“[410] sagte sie und wollte gehen, doch gerade trat Jaschwin ins Zimmer. Anna begrüßte ihn und blieb.
Warum sie, während in ihrer Seele ein Sturm tobte, und sie fühlte, daß sie auf einem Wendepunkt ihres Lebens stehe, der furchtbare Folgen haben könne — warum sie sich während dieser Minute vor einem fremden Menschen verstellen mußte, der früher oder später ja doch alles erfahren würde, — sie wußte es nicht, sondern ließ sich, den Sturm in sich beschwichtigend, sogleich nieder und begann mit dem Besuch zu konversieren.
„Nun, wie steht es mit Eurer Angelegenheit; habt Ihr eine Schuldverschreibung erhalten?“ frug sie Jaschwin.
„Nicht der Rede wert. Mir scheint, daß ich nicht alles erhalten werde, ich muß Mittwoch verreisen. Wann reist Ihr?“ antwortete dieser, mit den Augen zwinkernd und Wronskiy anblickend. Er erriet augenscheinlich, daß ein Zwist obgewaltet hatte.
„Übermorgen wahrscheinlich,“ sagte Wronskiy.
„Ihr bereitet Euch übrigens schon seit Langem darauf vor.“
„Jetzt ist es jedoch beschlossen,“ sprach Anna, Wronskiy gerade ins Auge schauend, mit einem Blick, der diesem sagte, er solle nicht mehr an die Möglichkeit einer Aussöhnung denken. „Thut Euch denn dieser unglückliche Pjevzoff nicht leid?“ setzte sie dann ihr Gespräch mit Jaschwin fort.
„Ich habe mich noch nie gefragt, Anna Arkadjewna, ob mir etwas leid thut oder nicht. Hier ist mein ganzes Vermögen“ — er wies auf seine Seitentasche — „und jetzt bin ich ein reicher Mann. Heute fahre ich in den Klub, um ihn vielleicht als Bettler wieder zu verlassen. Wird mich doch jeder der sich mit mir zum Spiel niedersetzt, auch bis aufs Hemd ausplündern, so wie ich es mit ihm mache. Wir kämpfen eben miteinander — und darin liegt das Vergnügen.“
„Aber wenn Ihr nun verheiratet wäret,“ sagte Anna, „was würde da aus Eurer Frau.“
Jaschwin brach in Gelächter aus.
„Eben deshalb habe ich auch nicht geheiratet, mir dies auch niemals vorgenommen!“
„Und Helsingfors?“ frug Wronskiy, sich in die Unterhaltung mischend und Anna, welche lächelte, anblickend. Seinem[411] Blick begegnend, nahm das Antlitz Annas plötzlich einen kalten, strengen Ausdruck an, als wollte sie ihm sagen, „es ist nichts vergessen; es ist noch beim Alten.“
„Aber Ihr seid doch gewiß einmal verliebt gewesen?“ wandte sie sich zu Jaschwin.
„O Gott, wie oft. Aber — merkt wohl auf, es kann sich einer zum Spiel setzen, um stets dann davon aufzustehen, sobald die Zeit des Rendezvous kommt — ich kann mich zwar auch mit der Liebe beschäftigen, doch immer nur so, daß ich abends die Partie nicht versäume. So halte ich es.“
„Darnach frage ich nicht; sondern nach dem, um was es sich jetzt handelt;“ sie wollte sagen „Helsingfors,“ das Wort aber nicht aussprechen, welches von Wronskiy gesprochen worden war.
Es kam nun Wojtoff, welcher einen Hengst gekauft hatte; Anna erhob sich und verließ das Zimmer.
Bevor Wronskiy von Hause wegfuhr, trat er noch bei ihr ein. Sie wollte sich stellen, als suchte sie Etwas auf dem Tische, blickte ihm aber, von ihrer Heuchelei beschämt, offen und mit kühlem Blick ins Antlitz.
„Was wollt Ihr?“ frug sie ihn auf französisch.
„Das Attestat über den Gambetta holen. Ich habe ihn verkauft,“ sprach er in einem Tone, der deutlicher als Worte ausdrückte, „ich habe mich durchaus nicht zu erklären und es würde dies auch zu nichts führen. Ich trage doch keine Schuld ihr gegenüber,“ dachte er, „wenn sie sich selbst bestrafen will, tant pis pour elle!“ Im Hinausgehen aber schien ihm, als habe sie etwas gesagt und sein Herz regte sich plötzlich in Mitleid für sie.
„Was ist, Anna?“ frug er.
„Ich sagte nichts,“ antwortete sie immer noch so kalt und ruhig.
„Ah, nichts dann — tant pis,“ dachte er, wieder kühl werdend, wandte sich und ging. Indem er hinausschritt, erblickte er im Spiegel ihr Gesicht, bleich, mit bebenden Lippen. Er wollte nun wohl stehen bleiben und ihr ein tröstendes Wort sagen, doch seine Füße trugen ihn aus dem Zimmer, schneller, als er sich ausgedacht hatte, was er sagen sollte.
Diesen ganzen Tag brachte er außerhalb des Hauses zu; als er spät Abends heimkehrte, sagte ihm die Zofe, daß Anna Arkadjewna Kopfweh habe und bitten lasse, sie nicht zu besuchen.
Noch nie war ein Tag im Hader vorübergegangen. Es war dies das erstemal gewesen. Aber es war auch kein Streit mehr, sondern das offenkundige Eingeständnis einer vollständigen Erkaltung. Konnte man sie denn so anblicken, wie er es gethan hatte, indem er nach dem Attest in das Zimmer getreten war. Sie anzuschauen und zu sehen, daß ihr Herz zerrissen war von Verzweiflung, und schweigend weiterzugehen mit diesem gleichgültigen, ruhigen Gesicht? Nicht nur, daß er kühl gegen sie geworden war; haßte er sie auch, weil er eine andere liebte — das war klar. — Und indem sie sich alle jene harten Worte, die er gesprochen hatte, ins Gedächtnis zurückrief, überdachte sie nochmals diejenigen, die er offenbar ihr zu sagen gewünscht hatte oder ihr sagen konnte, und mehr und mehr geriet sie in Erbitterung.
„Ich halte Euch nicht,“ konnte er sagen, „Ihr könnt gehen, wohin Ihr wollt. Ihr habt Euch von Eurem Manne nicht scheiden lassen wollen, wahrscheinlich, um zu ihm zurückzukehren. Kehrt zurück! Wenn Ihr Geld braucht, will ich es Euch geben. Wieviel Rubel braucht Ihr?“
Die allerhärtesten Worte, welche ihr der rauhe Mann sagen konnte, er sagte sie ihr in ihrer Einbildungskraft und sie verzieh ihm dieselben nicht, als hätte er sie ihr wirklich gesagt.
„Aber hatte er ihr nicht gestern erst seine Liebe geschworen, er, der gerechte und ehrenhafte Mann? Bin ich nicht etwa schon viele Male grundlos in Verzweiflung gewesen?“ sprach sie hierauf zu sich selbst.
Diesen ganzen Tag verbrachte Anna, mit Ausnahme einer Fahrt zur Wilson, die sie zwei Stunden in Anspruch nahm, in Ungewißheit darüber, ob alles vorbei, oder noch eine Hoffnung auf Versöhnung vorhanden wäre, ob sie sogleich fort müsse, oder ihn erst noch einmal sehen solle. Sie wartete auf ihn den ganzen Tag, und erwog bei sich, nachdem sie am Abend, als sie sich in ihr Zimmer zurückzog, befohlen hatte mitzuteilen,[413] daß sie Kopfweh habe; wenn er trotz der Worte der Zofe, zu mir kommt, so bedeutet dies, daß er noch liebt, wenn nicht, daß alles zu Ende ist, und dann werde ich entscheiden, was ich zu thun habe.“ —
Am Abend vernahm sie das Geräusch seines Wagens, sein Läuten, seine Schritte und sein Gespräch mit der Zofe. Er glaubte, was man ihm gesagt hatte, wollte nichts Weiteres hören und begab sich in seine Räume. Es war also wohl alles vorüber.
Der Tod als das einzige Mittel, in seinem Herzen die Liebe zu ihr zu erhalten, ihn zu strafen und den Sieg davonzutragen in diesem Kampfe, den der in ihrem Herzen heimisch gewordene böse Geist mit ihm führte, erschien klar und lebendig vor ihr.
Jetzt war alles gleich; fuhr man nach Wosdwishenskoje oder nicht, erhielt man die Scheidung von dem Gatten oder nicht — es war nichts mehr nötig. Nötig war nur Eines noch — ihn zu strafen! —
Als sie sich die gewohnte Dosis Opium eingoß, und daran dachte, daß man nur die ganze Phiole zu leeren brauchte, um zu sterben, erschien ihr dies so leicht und einfach, daß sie abermals mit Genugthuung daran zu denken begann, wie er Qual und Reue empfinden und sie in der Erinnerung lieben würde, wenn es schon zu spät wäre.
Sie lag im Bett mit offenen Augen, beim Scheine einer einsamen, niedergebrannten Kerze nach dem Stuckkarnies der Zimmerdecke und dem Teile derselben blickend, welcher den Schatten des Bettschirmes hatte, und stellte sich lebendig vor, was er empfinden würde, wenn sie erst nicht mehr wäre, wenn sie für ihn nur noch eine Erinnerung bildete.
„Wie konnte ich diese harten Worte zu ihr sagen,“ würde er sprechen, „wie konnte ich aus ihrem Zimmer gehen, ohne ihr ein Wort zu sagen? Jetzt ist sie nicht mehr. Sie ist von mir gegangen. Sie ist dort“ —
Da bewegte sich plötzlich der Schatten des Bettschirmes, umfing das ganze Karnies, die ganze Decke, andere Schatten von der anderen Seite stürzten ihr entgegen; auf einen Augenblick flohen dieselben davon, bewegten sich aber dann mit erneuter[414] Schnelligkeit heran, wankten hin und her, verschwammen ineinander und alles wurde dunkel.
„Der Tod?“ dachte sie, und ein Schrecken überkam sie, daß sie lange nicht wußte, wo sie war, und lange mit den bebenden Händen kein Zündholz finden konnte, um eine neue Kerze an Stelle derjenigen, welche herabgebrannt und erloschen war, anzuzünden.
„Nein — aber doch — nur leben! Ich liebe ihn ja doch, und er liebt ja mich! Dies ist geschehen und wird vorübergehen!“ sprach sie im Gefühl, daß ihr die Thränen der Freude ob ihrer Rückkehr zum Leben über die Wangen flossen. Um sich von ihrem Schrecken zu erholen, begab sie sich hastig nach seinem Kabinett.
Er schlief in demselben, in festem Schlummer. Sie trat zu ihm heran, und betrachtete ihn, lange sein Gesicht von oben herab beleuchtend. Jetzt, da er schlief, liebte sie ihn so sehr, daß sie bei seinem Anblick die Thränen der Zärtlichkeit nicht zurückzuhalten vermochte; aber sie wußte, daß er sie, wenn er erwachte, mit dem kalten Blick, der sich seines Rechtes bewußt ist, anschauen würde, und sie ihm, bevor sie ihm von ihrer Liebe sprach, darlegen müsse, daß er vor ihr der Schuldige sei. Ohne ihn zu wecken kehrte sie zurück, und schlief nach einer zweiten Dosis Opium bis zum Morgen in schwerem Halbschlummer, währenddessen sie ununterbrochen ihr Empfindungsvermögen behielt.
Am Morgen erschien ihr der furchtbare Alp, der sich mehrmals in ihren Traumbildern, schon vor der Zeit ihres Verhältnisses mit Wronskiy wiederholt hatte, von neuem und erweckte sie. Jener Alte mit dem wirren Barte arbeitete, auf sein Eisen gebeugt und unverständliche, französische Worte sprechend, während sie — wie stets unter diesem Alpdrücken — empfand, was den eigentlichen Schrecken für sie bildete, daß dieser Bauer ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit widmete, sondern eine furchtbare Arbeit in Eisen verrichtete — über ihr. —
Sie erwachte in kaltem Schweiß liegend. Als sie sich erhob, erinnerte sie sich des gestrigen Tages wie im Nebel.
„Es hatte Streit gegeben, das Nämliche, was schon mehrmals stattgefunden hatte. Ich hatte gesagt, daß ich Kopfschmerzen[415] hätte, und er ist nicht zu mir gekommen. Morgen wollen wir reisen; ich muß ihn sehen und mich zur Abreise vorbereiten,“ sagte sie zu sich selbst, und begab sich, nachdem sie gehört hatte, daß er sich in seinem Kabinett befände, zu ihm. Als sie durch den Salon schritt, hörte sie, daß vor der Einfahrt eine Equipage hielt und erblickte durchs Fenster schauend, einen Wagen, aus welchem sich ein junges Mädchen in lilafarbenem Hut herausbeugte, das ihrem Diener, welcher läutete einen Befehl erteilte.
Nach einem Zwiegespräch im Vorzimmer, kam jemand herauf und neben dem Salon wurden die Tritte Wronskiys vernehmbar, welcher mit schnellen Schritten die Treppe hinabeilte.
Anna trat wieder an das Fenster. Da trat er ohne Hut auf die Freitreppe und ging zum Wagen. Das junge Mädchen im lilafarbigen Hut übergab ihm ein Paket. Wronskiy sagte ihr lächelnd etwas und der Wagen fuhr wieder fort. Er eilte schnell wieder zurück die Treppe herauf.
Der Nebel, welcher sich über ihre Seele gebreitet hatte, zerstreute sich plötzlich. Die Empfindungen von gestern preßten mit neuem Weh ihr krankes Herz.
Sie konnte jetzt nicht mehr begreifen, daß sie sich soweit hatte erniedrigen können, noch einen ganzen Tag bei ihm in seinem Hause zu bleiben, und kehrte in ihr Zimmer zurück, um ihn von ihrem Entschluß in Kenntnis zu setzen.
„Die Sorokina war mit ihrer Tochter gekommen und hat mir Geld und Papiere von maman gebracht. Ich konnte es gestern nicht erhalten. Wie steht es mit deinem Kopf; besser?“ sprach er ruhig, ohne den düsteren und ernsten und feierlichen Ausdruck ihres Gesichts bemerken zu wollen.
Sie blickte ihn schweigend und starr an, in der Mitte des Zimmers stehend. Er schaute sie an, verfinsterte sich einen Augenblick und fuhr dann fort, einen Brief zu lesen. Sie wandte sich und ging langsam nach der Thür. Er hätte sie noch zurückrufen können, aber sie war bis an die Thür gegangen und er schwieg noch immer; nur das Rauschen eines gewendeten Blattes des Briefes war vernehmbar.
„Also,“ begann er in dem Augenblick, als sie schon in[416] der Thür stand, „morgen werden wir entschieden fahren, nicht wahr?“
„Ihr, nicht ich,“ sprach sie, sich zu ihm wendend.
„Anna; es ist unmöglich, so zu leben“ —
„Ihr, nicht ich,“ wiederholte sie.
„Das wird unerträglich!“
„Ihr, Ihr werdet die Reue empfinden,“ sprach sie und ging hinaus.
Erschreckt von dem verzweifelten Ausdruck, mit welchem diese Worte gesprochen worden waren, sprang er auf und wollte ihr nacheilen, doch indem er sich besann, setzte er sich wieder, sein Gesicht wurde finster, indem er die Zähne fest aufeinanderbiß.
Diese Drohung, welche unziemlich war, wie er fand, hatte ihn gereizt.
„Ich habe alles versucht,“ dachte er, „es bleibt nur noch Eins übrig — sie nicht mehr zu beachten“ — und machte sich fertig, in die Stadt zu fahren, nochmals zur Mutter, von welcher er eine Unterschrift für die Vollmacht haben mußte.
Sie vernahm das Geräusch seiner Schritte im Kabinett und durch den Speisesalon. Im Salon blieb er stehen; doch wandte er sich nicht zu ihr, sondern erteilte nur Befehl, daß man in seiner Abwesenheit den Hengst an Wojtoff ausliefere. Dann vernahm sie, wie man den Wagen brachte, die Thür sich öffnete und er wiederum hinaustrat. Aber er kehrte nochmals in den Flur zurück und es kam jemand nach oben geeilt. Der Kammerdiener lief nach den vergessenen Handschuhen. Sie trat an das Fenster und sah, wie er, ohne hinzublicken die Handschuhe ergriff, mit der Hand den Rücken des Kutschers berührte und demselben etwas sagte. Ohne die Fenster zu mustern, setzte er sich hierauf in seiner gewohnten Pose in den Wagen, legte die Füße übereinander und drückte sich, einen Handschuh anstreifend, in die Ecke.
„Er ist fort. Es ist zu Ende!“ sprach Anna zu sich selbst, am Fenster stehend und zur Antwort auf diese Worte erfüllten jene Eindrücke in der Finsternis nach dem Erlöschen des Lichtes, und des furchtbaren Traumbildes in Eins zusammengeflossen,[417] ihr Herz mit kaltem Entsetzen. „Nein, es kann nicht sein!“ schrie sie auf und schellte heftig, durch das Zimmer eilend. Ihr war es jetzt so bange, allein zu bleiben, daß sie, ohne das Erscheinen des Dieners abzuwarten, diesem entgegenkam.
„Erkundigt Euch, wohin der Graf gefahren ist,“ sagte sie.
Der Diener versetzte, der Graf sei nach den Marställen gefahren.
„Der Herr haben befohlen zu melden, daß der Wagen sogleich zurückkehren würde, falls es Euch gefällig wäre, auszufahren.“
„Gut. Bleibt. Ich werde sogleich ein Billet schreiben. Schickt Michail mit dem Billet nach den Marställen, so schnell als möglich.“
Sie setzte sich und begann zu schreiben:
„Ich bin schuld. Kehre heim, wir müssen ins Klare kommen. Um Gott, komm, mir ist furchtbar.“
Sie siegelte und übergab dem Diener das Billet.
Jetzt fürchtete sie sich allein zu bleiben und begab sich, nachdem der Diener gegangen war, aus dem Zimmer nach der Kinderstube.
„Was ist das? Das ist er nicht! Das ist nicht Er! Wo sind seine blauen Augen, wo ist sein mildes, sanftes Lächeln?“ war ihr erster Gedanke, als sie ihr dralles, rotbäckiges kleines Mädchen mit den schwarzen krausen Haaren anstatt Sergeys, den sie in einer Verwirrung ihrer Gedanken in der Kinderstube zu sehen erwartet hatte, erblickte.
Das Kind saß am Tische, hartnäckig und geräuschvoll mit einem Korkpfropfen auf den Tisch pochend, und schaute mit seinen zwei schwarzen Augen verständnislos die Mutter an.
Nachdem Anna der Engländerin geantwortet hatte, daß sie sich völlig wohl befinde und morgen aufs Land gehen werde, setzte sie sich zu ihrem Kinde und begann vor demselben den Pfropfen von einer Karaffe zu drehen. Das laute, tönende Lachen des Kindes und die Bewegung, welche dasselbe mit den Brauen machte, brachten ihr aber Wronskiy so lebhaft in die Erinnerung, daß sie, ein Aufschluchzen unterdrückend, hastig aufstand und hinausging.
„Ist denn wirklich alles zu Ende? Nein, es kann nicht[418] sein,“ dachte sie. „Er wird zurückkehren! Aber wie soll er mir jenes Lächeln erklären, seine Lebhaftigkeit, nachdem er mit ihr gesprochen hatte? Indessen auch wenn er mir es nicht erklärt, will ich ihm glauben. Glaube ich ihm nicht, dann bleibt mir noch Eins — aber ich will nicht.“ —
Sie sah nach der Uhr. Es waren zwanzig Minuten vergangen.
„Jetzt hat er mein Billet bereits erhalten und kehrt zurück. Nicht lange mehr, noch zehn Minuten — aber wie, wenn er nicht zurückkehrt? Doch nein, das kann nicht sein! Er darf mich indessen nicht mit verweinten Augen sehen. Ich will gehen und mich waschen. Bin ich denn frisiert oder nicht?“ frug sie sich, ohne sich erinnern zu können. Sie fühlte sich nach dem Kopfe, „ja, ich bin frisiert, aber wann es geschah, weiß ich wirklich nicht mehr.“ Sie glaubte nicht einmal der eigenen Hand und ging zu dem Trumeau, um nachzusehen, ob sie in der That frisiert sei oder nicht. Sie war frisiert und konnte sich dennoch nicht erinnern, wann sie es gethan hatte. „Wer ist das?“ dachte sie, in den Spiegel blickend, und ein fieberhaft glühendes Antlitz mit seltsam blitzenden Augen, die sie erschreckt ansahen, gewahrend. „Das bin ich doch,“ erkannte sie plötzlich und ihre ganze Erscheinung musternd, fühlte sie plötzlich seine Küsse auf sich und zuckte zusammenschauernd mit den Schultern. Dann hob sie die Hand zu den Lippen und küßte sie. „Was ist das; ich bin von Sinnen,“ sprach sie und begab sich in das Schlafzimmer, wo Annuschka aufräumte. „Annuschka,“ sagte sie, vor der Zofe stehen bleibend und sie anschauend, ohne zu wissen, was sie ihr eigentlich sagen wollte.
„Ihr wolltet zu Darja Aleksandrowna fahren,“ antwortete die Zofe, als ob sie verstanden hätte.
„Zu Darja Aleksandrowna? Ja, ich werde fahren.“
„Fünfzehn Minuten hin, fünfzehn Minuten zurück! Er wird schon kommen, er kommt sogleich.“ Sie zog die Uhr hervor und sah darnach. „Wie konnte er nur wegfahren, und mich in einer solchen Lage zurücklassen? Wie kann er leben, ohne mit mir ausgesöhnt zu sein?“ Sie trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinab. Der Zeit nach hätte er schon zurücksein können. Aber ihre Berechnung konnte nicht[419] richtig sein und sie begann aufs neue, sich zu vergegenwärtigen, wann er weggefahren war, und die Minuten zu berechnen. Gerade als sie nach einer größeren Uhr ging, um die ihrige darnach zu vergleichen, kam jemand angefahren. Durch das Fenster blickend, gewahrte sie seinen Wagen. Es kam jedoch niemand zur Treppe herauf, während unten Stimmen vernehmbar wurden. Der Bote war es, welcher im Wagen zurückkehrte. Sie ging zu ihm hinunter.
Der Graf war nicht zu treffen gewesen, er war auf der Chaussee von Nishegorod weggefahren.
„Was bringst du? Was“ — wandte sie sich zu dem rotbäckigen, fröhlichen Michail, der ihr das Billet wieder zurückgab. „Er hat es ja gar nicht erhalten,“ sagte sie sich. „Fahre mit diesem Billet auf das Dorf zur Gräfin Wronskaja, verstehst du? Und bringe sofort Antwort,“ sagte sie zu dem Boten. „Aber was soll ich selbst thun?“ dachte sie, „nun, ich werde zu Dolly fahren, oder, wahrhaftig, ich verliere den Verstand. Ich kann ja auch noch telegraphieren.“ Sie schrieb sogleich eine Depesche nieder.
„Ich muß dich sprechen, komm sogleich.“
Nachdem sie das Telegramm abgeschickt hatte, ging sie sich anzukleiden. Bereits angekleidet und im Hut blickte sie nochmals der etwas beleibt gewordenen, ruhigen Annuschka in die Augen. Offenes Mitleid war in diesen kleinen, gutmütigen, grauen Augen sichtbar.
„Liebe Annuschka, was soll ich thun?“ sagte Anna weinend, sich hilflos in einem Lehnsessel sinken lassend.
„Wozu sich so beunruhigen, Anna Arkadjewna! So geht es eben! Fahrt nur und zerstreut Euch,“ antwortete die Zofe.
„Ja, ich werde fahren,“ sagte Anna, sich ermannend und aufstehend. „Wenn in meiner Abwesenheit ein Telegramm einlaufen sollte, so soll es zu Darja Aleksandrowna geschickt werden — oder nein; ich werde selbst zurückkommen!“ —
„Ja, man muß nicht grübeln, sondern etwas thun, ausfahren, und hauptsächlich dieses Haus verlassen,“ sprach sie, mit Entsetzen die furchtbare Wallung wahrnehmend, welche in ihrem Herzen entstand, ging hastig hinaus und setzte sich in den Wagen.
„Wohin befehlt Ihr?“ frug Peter, bevor er sich auf den Bock setzte. „Nach Znamenka, zu den Oblonskiy!“
Das Wetter war klar. Den ganzen Morgen war ein dichter, feiner Regen gefallen und jetzt hatte es sich seit kurzem erst aufgehellt. Die eisernen Dächer, die Trottoirsteine und Pflastersteine, die Räder, das Lederzeug, Kupfer und Blech an den Equipagen, alles glänzte hell in der Maisonne. Es war drei Uhr, die Zeit, zu welcher es auf den Straßen am lebhaftesten ist.
In der Ecke des ruhig gehenden Wagens sitzend, der auf seinen Sprungfedern bei dem schnellen Gange der beiden Grauen kaum schaukelte, ließ Anna unter dem eintönigen Rasseln der Räder, den schnell wechselnden Eindrücken bei der klaren Luft, von neuem die Vorkommnisse der letzten Tage an sich vorüberziehen und sie erkannte ihre Lage als eine ganz andere, als wie sie ihr zu Haus erschienen war. Jetzt erschien ihr selbst der Gedanke an den Tod nicht mehr so furchtbar und deutlich, und der Tod selbst erschien ihr nicht mehr unvermeidlich. Jetzt machte sie sich Vorwürfe über die Niedergeschlagenheit, bis zu welcher sie sich hatte führen lassen.
„Ich werde ihn beschwören mir zu verzeihen. Ich habe mich ihm untergeordnet und mich schuldig bekannt. Aber warum? Kann ich denn ohne ihn nicht leben?“
Und ohne sich auf die Frage, wie sie ohne ihn leben könnte, zu antworten, begann sie die Ladenschilder zu lesen. „Comptoir und Niederlage. — Zahnarzt — ja, ich werde Dolly alles sagen. Sie liebt Wronskiy nicht. Für mich wird es schmachvoll, schmerzlich sein, aber ich will ihr alles sagen. Sie liebt mich und ich werde ihrem Rate folgen. Ich werde mich ihm nicht unterwerfen, ihm nicht gestatten, mich zu erziehen. — Philippoff, Kalatschenkauf. — Man soll den Teig auch nach Petersburg bringen. Das Moskauer Wasser ist so gut; ja die Brunnen von Mytichy und die Pfannkuchen“ — und sie erinnerte sich, wie sie vor langer, langer Zeit, als sie noch siebzehn Jahre zählte, mit der Tante zum Pfingstfest gekommen war; zu Pferde noch. War ich denn das wirklich, ich mit den schönen Händen? Wie vieles von dem, was mir[421] damals so schön und unerreichbar erschien, ist dahin, während mir das, was ich damals besaß, jetzt auf ewig unerreichbar geworden ist.
Hätte ich damals geglaubt, daß ich bis zu einem solchen Grade von Erniedrigung gelangen könnte? Wie wird er stolz und befriedigt sein, wenn er mein Billet empfängt! Aber ich werde ihm zeigen. — Wie übel doch diese Farbe hier riecht! Warum streicht und baut man nur fortwährend? — „Moden- und Putzwaaren“ — las sie weiter. Ein Mann grüßte sie; es war der Gatte Annuschkas; „unsere Parasiten,“ dachte sie, sich der Worte Wronskiys erinnernd. „Unsere? Warum unsere? Es ist entsetzlich, daß man die Vergangenheit nicht mit der Wurzel ausreißen kann! Man kann sie nicht ausreißen, aber die Erinnerung daran bedecken. Und ich will sie verhüllen.“
Und jetzt dachte sie an ihr vergangenes Leben mit Aleksey Aleksandrowitsch, daran, daß sie ihn aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatte. „Dolly wird denken, daß ich nun den zweiten Mann verlasse, und daher gewiß im Unrecht bin. Kann ich denn aber im Rechte sein? Ich kann es nicht,“ fuhr sie fort und die Thränen stiegen in ihr auf. Doch sie begann sogleich, sich zu denken, warum wohl jene beiden Mädchen dort so lächelten. Wahrscheinlich in Liebesgedanken? Sie wissen nicht, wie traurig, wie niedrig das ist!
Da kommt der Boulevard; Kinder spielen auf ihm. Drei Knaben laufen da und spielen Pferd. — Mein Sergey! — Alles verliere ich und ihn kann ich nicht wieder erhalten. Ja, alles verliere ich, wenn er nicht zurückkehrt. Vielleicht hat er sich mit dem Zug verspätet und ist jetzt schon zurück. Aber soll ich mich schon wieder erniedrigen?“ frug sie sich selbst, „nein, ich will zu Dolly und ihr offen sagen, ich bin unglücklich, ich habe es verdient und bin schuldig — immer aber doch unglücklich — hilf mir! — Diese Pferde, dieser Wagen, wie abscheulich komme ich mir selbst in diesem Wagen vor — alles ist ja sein; doch ich werde nichts mehr davon sehen.“ —
Indem sie sich die Worte überlegte, mit welchen sie Dolly alles sagen wollte, absichtlich sich ihr Herz zerreißend, betrat Anna die Treppe.
„Ist man daheim?“ frug sie im Vorzimmer.
„Katharina Aleksandrowna Lewina ist zugegen,“ antwortete der Diener.
„Kity! Die nämliche Kity, in welche Wronskiy verliebt gewesen ist,“ dachte Anna, „die nämliche, der er in Liebe gedachte. Er bedauerte, sie nicht geheiratet zu haben, aber meiner gedenkt er in Haß und er beklagt es, sich mit mir vereint zu haben.“
Unter den Schwestern fand, als Anna ankam, gerade eine Beratung betreffs der Ernährungsfrage des Kindes statt. Dolly ging allein hinaus, um den Besuch zu empfangen, der in diesem Augenblick ihr Gespräch störte.
„Ach, du bist noch nicht abgereist? Ich wollte selbst zu dir kommen“ — sagte sie, „heute habe ich einen Brief von Stefan erhalten!“
„Wir haben gleichfalls eine Depesche empfangen,“ antwortete Anna, sich umschauend, um Kity zu sehen.
„Er schreibt, er könne nicht begreifen, was Aleksey Aleksandrowitsch eigentlich wolle, würde aber nicht ohne einen Bescheid abreisen.“
„Ich dachte, es wäre jemand bei dir. Kann man den Brief lesen?“
„Ja, Kity ist da,“ sprach Dolly, in Verlegenheit geratend, „sie ist in der Kinderstube geblieben; sie war sehr krank.“
„Ich habe davon gehört. Kann ich den Brief lesen?“
„Sogleich will ihn bringen. Doch er giebt keinen abschläglichen Bescheid, im Gegenteil, Stefan hofft,“ sagte Dolly, in der Thür stehen bleibend.
„Ich hoffe und wünsche auch nichts,“ antwortete Anna. „Was heißt das, hält es Kity für entwürdigend, mit mir zusammenzutreffen?“ dachte Anna, während sie allein war. „Vielleicht ist sie damit auch im Rechte, aber nur durfte sie gerade, welche in Wronskiy verliebt gewesen ist, mir es nicht zeigen, auch wenn dies verdient wäre. Ich weiß, daß mich in meiner Lage kein ehrenhaftes Weib empfangen kann, weiß, daß ich ihm von jener ersten Minute an alles geopfert habe. Nun habe ich meinen Lohn! O, wie ich ihn hasse! Und warum bin ich hierher gefahren? Nur, damit mir noch trauriger und schwerer zu Mute wird!“
Sie vernahm aus dem Nebenzimmer die Stimmen der[423] unter sich sprechenden Schwestern. „Was soll ich jetzt Dolly sagen? Kity ein Vergnügen damit machen, daß ich unglücklich bin, mich ihrer Gönnerschaft aussetzen? Nein, auch Dolly wird nicht begreifen, und ich brauche nichts mit ihr zu reden. Interessant wäre es mir nur gewesen, Kity einmal zu sehen und ihr zu zeigen, daß ich alle, alles verachte, wie mir jetzt alles gleichgültig ist.“
Dolly trat mit dem Briefe ein. Anna las ihn und gab ihn schweigend zurück.
„Das habe ich alles gewußt,“ sagte sie, „und es interessierte mich nicht im geringsten.“
„Aber warum nicht? Ich, im Gegenteil, habe Hoffnung,“ sagte Dolly, Anna neugierig anblickend. Noch nie hatte sie diese in einem so seltsamen Zustande von Erbitterung gesehen, „wann fährst du?“ frug sie.
Anna schaute finster vor sich hin und antwortete ihr nicht.
„Versteckt sich Kity vor mir?“ sprach sie nach der Thür blickend und rot werdend.
„O, was das für Thorheiten sind! Sie läßt das Kind trinken, aber es glückt ihr nicht recht; ich habe ihr geraten — sie ist vielmehr sehr erfreut, und wird sogleich kommen,“ sagte Dolly etwas unsicher, da sie nicht zu lügen verstand. „Da ist sie ja!“ —
Nachdem Kity erfahren hatte, daß Anna gekommen sei, wollte sie nicht erscheinen, doch Dolly redete ihr zu. Nachdem sie sich gesammelt hatte, kam sie nun und trat errötend näher, Anna die Hand reichend.
„Ich freue mich sehr,“ sprach sie mit zitternder Stimme.
Kity war verwirrt gewesen über den Kampf, der in ihr vor sich ging, und zwischen der Feindschaft gegen dieses verworfene Weib, und dem Wunsche, entgegenkommend gegen es zu sein, schwankte sie, allein sobald sie das schöne sympathische Gesicht Annas erblickt hatte, war alle Feindseligkeit sogleich verschwunden.
„Ich würde mich nicht gewundert haben, wenn Ihr nicht wünschtet, mir zu begegnen. Ich bin an alles gewöhnt. Ihr seid krank gewesen? Allerdings, Ihr habt Euch verändert,“ sprach Anna.
Kity empfand, daß Anna sie feindselig betrachtete. Sie[424] erklärte sich diese Feindseligkeit aus der peinlichen Lage, in welcher sich Anna, die früher eine Protektorschaft über sie geübt hatte, vor ihr fühlte.
Sie sprachen von der Krankheit, dem Kinde, von Stefan, aber nichts von alledem interessierte Anna.
„Ich bin gekommen, mich von dir zu verabschieden,“ sagte sie aufstehend.
„Wann fahrt Ihr?“
Anna wandte sich abermals, ohne zu antworten, zu Kity.
„Es freut mich sehr, Euch wiedergesehen zu haben,“ sprach sie lächelnd. „Ich habe über Euch von allen Seiten gehört, selbst von Eurem Gatten. Er ist bei mir gewesen und hat mir sehr gefallen,“ fügte sie, augenscheinlich in übler Absicht hinzu. „Wo ist er denn?“
„Er ist aufs Dorf gefahren,“ antwortete Kity errötend.
„Grüßt ihn von mir, grüßt ihn ja von mir!“
„Gewiß,“ wiederholte Kity treuherzig, ihr voll Mitleid in die Augen blickend.
„Also leb' wohl, Dolly?“ Nachdem Anna Dolly geküßt und Kity die Hand gedrückt hatte, ging Anna eilig fort.
„Sie bleibt immer die gleiche, fesselnde; sie ist sehr hübsch,“ sagte Kity, nachdem sie mit der Schwester allein geblieben, „aber es liegt etwas Mitleiderweckendes in ihr. Es ist doch entsetzlich traurig!“
„Nein, heute lag in ihr etwas Eigenartiges,“ sagte Dolly, „als ich sie hinausbegleitete, schien mir im Vorzimmer, als ob sie weinen wollte.“
Anna setzte sich wieder in den Wagen, noch düsterer gestimmt, als sie es bei ihrer Wegfahrt von Hause gewesen war. Zu den früheren Qualen gesellte sich jetzt das Gefühl der Kränkung und Verstoßenheit, welches sie deutlich bei ihrer Begegnung mit Kity empfunden hatte.
„Wohin befehlt Ihr? Nach Hause?“ frug Peter.
„Ja, nach Hause,“ sagte sie, jetzt gar nicht mehr daran denkend, wohin sie fuhr.
„Wie sie mich anblickten; gerade, als wäre ich etwas Furchtbares, Unbegreifliches und Neugier Erregendes. —[425] Wovon mag der da wohl mit solchem Eifer dem andern erzählen,“ dachte sie, auf zwei Fußgänger blickend. — „Kann man denn einem andern erzählen, was man empfindet? Ich wollte es Dolly erzählen, aber es ist gut, daß ich nicht erzählt habe. Wie froh wäre sie über mein Unglück gewesen! Sie hätte dies zwar verheimlicht, aber in der Hauptsache wäre ihr Gefühl nur die Freude darüber gewesen, daß ich für jene Lust bestraft worden bin, um welche sie mich beneidet hat. Kity nun würde sich noch mehr gefreut haben. Wie ich sie jetzt durch und durch kenne! Sie weiß, daß ich gegen ihren Mann außergewöhnlich liebenswürdig gewesen bin, ist nun eifersüchtig auf mich und haßt mich. Sie verachtete mich aber auch noch. In ihren Augen bin ich ein Weib ohne Moral. Ich hätte ihren Mann mit Liebe zu mir erfüllen können, wenn ich ein sittenloses Weib wäre. — Wenn ich gewollt hätte. — Ich habe auch gewollt! — Der dort ist zufrieden mit sich selbst“ — dachte sie beim Anblicke eines dicken, rotaussehenden Herrn, der an ihr vorübergefahren kam, sie für eine Bekannte hielt, und den Hut auf seinem glänzenden Glatzkopf lüftete, sich dann aber überzeugte, daß er geirrt habe.
„Er glaubte, mich zu kennen, und er kannte mich doch so wenig, wie mich überhaupt jemand auf der Welt kennen mag. Ich selbst kenne ihn nicht. Ich kenne nur seine appetits, wie die Franzosen sagen. — Die da möchten dieses schmutzige Gefrorene haben,“ dachte sie, auf zwei Knaben blickend, welche einen Eisverkäufer angehalten hatten, der seinen Tuber vom Kopfe nahm und mit dem Zipfel seines Handtuchs das schweißbedeckte Gesicht abtrocknete. „Uns alle verlangt nach Süßigkeit und Leckerei. Ist es nicht Konfekt, so kann es schmutziges Gefrorenes sein. Auch mit Kity ist es so; war es nicht Wronskiy, so war es Lewin. Und sie beneidet mich, und haßt mich dafür. Wir alle hassen uns gegenseitig. Ich Kity — Kity mich! Das ist die Wahrheit. — ‚Tjutkin, Coiffeur. — Je me fais coiffer par Tjutkin.‘ Dies werde ich ihm sagen, wenn er kommt,“ dachte sie und lächelte. Doch im selben Augenblick erinnerte sie sich, daß sie jetzt nicht Ursache habe, jemand etwas Scherzhaftes zu sagen; „es giebt auch nichts Scherzhaftes oder Heiteres dabei, alles ist häßlich. Man läutet zur Vesper; wie sorgsam sich dieser Kaufmann bekreuzigt.[426] Als ob er fürchtete, etwas zu verlieren. Wozu diese Kirchen, dieses Läuten, diese Lüge? Nur dazu, um zu verbergen, daß wir uns alle einander hassen, wie diese Mietkutscher da, die sich so erbost streiten. Jaschwin sagt: Der Gegner sucht mich bis aufs Hemd auszuplündern, also thue ich dies auch mit ihm. Das ist Gerechtigkeit!“ —
In diesen Gedanken, welche sie so beschäftigten, daß sie selbst über ihre Lage nachzudenken aufgehört hatte, fand sie sich, als der Wagen vor der Freitreppe ihres Hauses anhielt. Erst als sie den ihr entgegenkommenden Portier erblickte, erinnerte sie sich wieder, daß sie ein Billet und ein Telegramm abgeschickt hatte.
„Ist Antwort da?“ frug sie.
„Ich werde sogleich nachsehen,“ versetzte der Portier, schaute in das kleine Comptoir, langte hinein und reichte ihr ein viereckiges, dünnes Couvert mit einem Telegramm. „Ich kann nicht früher als um zehn Uhr kommen. Wronskiy.“ — las sie.
„Der Bote ist nicht zurückgekehrt?“
„Nein,“ antwortete der Portier.
„Wenn es so steht, weiß ich, was ich zu thun habe,“ sagte sie und eilte in dem Gefühl eines in ihr aufsteigenden, unklaren Grimmes und des Verlangens nach Rache hinauf. „Ich werde selbst zu ihm fahren; bevor ich auf immer gehe, will ich ihm noch alles sagen! Nie habe ich einen Menschen so gehaßt, wie diesen Mann!“ dachte sie. Als sie seinen Hut am Kleidergestell erblickte, schauerte sie zusammen vor Widerwillen.
Sie bedachte nicht, daß sein Telegramm die Antwort auf das ihrige bildete, und er ihren Brief noch gar nicht erhalten hatte. Sie stellte sich ihn jetzt vor in ruhigem Gespräch mit seiner Mutter und der Sorokina, voll Freude über ihre Leiden. „Ja, ich muß möglichst bald fahren,“ sprach sie zu sich, noch ohne zu wissen, wohin. Es verlangte sie, möglichst schnell den Empfindungen entgehen zu können, welche sie in diesem furchtbaren Hause hatte. Die Dienstboten, die Wände, die Gegenstände in diesem Hause — alles forderte in ihr Widerwillen und Zorn heraus, und beklemmte sie mit einer gewissen Schwere.
„Ich muß auf die Eisenbahnstation fahren, und ist er nicht dort, zu ihm selbst und ihn überführen!“
Anna sah in den Zeitungen nach den Fahrplänen der Züge. Es ging abends acht Uhr zwei Minuten ein Zug. „Ja, da will ich eilen.“
Sie befahl andere Pferde anzuspannen, und widmete sich dem Einpacken von Sachen in eine Reisetasche, die ihr für einige Tage erforderlich waren. Sie wußte, daß sie nicht wieder hierher zurückkehren werde. In ihrer Aufregung entschloß sie sich unter den Plänen die ihr in den Kopf kamen, je nach den Vorgängen auf der Station oder auf dem Gute der Gräfin, auf der Strecke Nishegorod bis zur nächsten Stadt zu fahren und dort zu bleiben.
Das Essen stand auf dem Tische. Sie trat heran, roch an Brot und Käse und befahl, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß der Geruch alles Eßbaren ihr nur widerlich sei, den Wagen anzuspannen, worauf sie hinausging.
Das Haus warf seinen Schatten bereits über die ganze Straße; es war ein klarer, noch warmer und sonniger Abend.
Sowohl Annuschka, die ihr mit den Sachen folgte, als Peter, welcher dieselben im Wagen unterbrachte und der Kutscher, der augenblicklich schlechte Laune hatte — alle waren ihr widerlich und reizten sie mit ihren Worten und Bewegungen.
„Ich brauche dich nicht, Peter!“
„Aber das Billet?“
„Nun, wie du willst, mir ist alles gleich,“ sprach sie verdrießlich.
Peter stieg hinten auf und befahl, die Hände in die Seite gestützt, nach dem Bahnhof zu fahren.
„Da ist es wieder! Wieder erfasse ich alles,“ sprach Anna zu sich, sobald der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte, schütternd über das Pflaster fuhr, und die Eindrücke sich wiederum, einer nach dem andern, abwechselten. „Was dachte ich denn zuletzt so Angenehmes,“ suchte sie in ihrer Erinnerung. „>Tjutkin, Coiffeur?‘ — Nein, das war es nicht. Ach ja, wovon Jaschwin gesprochen: Der Kampf ums Dasein und der Haß, sie sind das Eine, was die Menschheit zusammenhält. —[428] O, Ihr fahrt umsonst,“ wandte sie sich in Gedanken zu einer Gesellschaft, die in einer Tschetwernja dahinfuhr, wohl um sich außerhalb der Stadt zu vergnügen. „Auch der Hund, den Ihr da mit Euch führt, wird Euch nichts helfen; Ihr werdet Euch nicht voneinander verlieren.“ Indem sie den Blick nach der Seite richtete, nach der sich Peter wandte, erblickte sie einen fast bis zur Besinnungslosigkeit berauschten Fabrikarbeiter mit wackelndem Kopfe, den ein Polizist führte.
„Da der — das geht schon eher;“ dachte sie, „dieses Vergnügen habe ich mit dem Grafen Wronskiy noch nicht genossen, obwohl ich viel von ihm erwartet hatte.“ Zum erstenmale ließ Anna jetzt die scharfe Beleuchtung, unter der sie alles erblickte, auf ihre Beziehungen zu ihm fallen, über die sie nachzudenken vorher vermieden hatte.
„Was hat er in mir gesucht? Liebe doch nicht so sehr, als mehr eine Befriedigung seiner Eitelkeit.“
Sie erinnerte sich seiner Worte, des Ausdrucks seiner Züge, die in der ersten Zeit ihres Verhältnisses den Eindruck eines ergebenen Jagdhundes auf sie gemacht hatten. Alles bestätigte dies jetzt. „Ja, in ihm lebte der Triumph über einen Erfolg seines Ehrgeizes. Natürlich war ja auch Liebe dabei gewesen, aber den Hauptteil bildete doch der Stolz auf seinen Erfolg. Er hat sich mit mir gebrüstet! Jetzt ist das vorüber. Er soll nun auf nichts mehr stolz sein. Es giebt jetzt keinen Stolz mehr für ihn, sondern nur noch Schande. Er hat mir alles genommen, was er nehmen konnte, jetzt braucht er mich nicht mehr. Er ist meiner überdrüssig, und will nicht mehr mir gegenüber ehrlos sein. Er hat sich gestern versprochen — er will die Scheidung und die Heirat nur, um die Schiffe hinter sich abzubrennen. Er liebt mich — aber wie? — The zest is gone. — Der da will alle in Erstaunen setzen und ist ja sehr zufrieden mit sich selbst,“ dachte sie, auf einen rotbäckigen Handlungsdiener blickend, welcher ein Manegepferd ritt. „Ja, der alte Geschmack an mir ist nicht mehr bei ihm vorhanden. Wenn ich von ihm gehe, wird er herzlich froh sein.“
Dies war keine Vermutung — sie sah es klar in jenem durchdringenden Lichte, welches ihr jetzt den Sinn des Lebens und der menschlichen Verhältnisse offenbarte.
„Meine Liebe wird immer leidenschaftlicher und egoistischer,[429] die seine aber erlischt mehr und mehr, und deshalb trennen wir uns,“ fuhr sie fort zu grübeln. „Und Hilfe ist hierbei unmöglich. Für mich liegt alles in ihm allein und ich fordere, daß er immer mehr und mehr sich mir hingebe. Er aber immer will mehr und mehr von mir entweichen. Wir sind bis zum Bunde miteinander zusammengekommen, gehen aber nun unaufhaltsam nach verschiedenen Richtungen wieder auseinander. Und dies läßt sich auch nicht ändern. Er sagt mir, ich sei sinnlos eifersüchtig, und ich selbst habe mir gesagt, ich bin sinnlos eifersüchtig — aber das ist unwahr. Ich bin nicht eifersüchtig, sondern unzufrieden! Doch“ — sie öffnete den Mund und veränderte den Sitz im Wagen vor der Erregung, die in ihr durch einen plötzlich auftauchenden Gedanken hervorgerufen wurde. „Wenn ich noch etwas Anderes sein könnte, als seine Geliebte, die leidenschaftlich nur seine Liebkosungen liebt; aber ich kann und will gar nichts Anderes sein. Mit diesem Wunsche aber erwecke ich in ihm Widerwillen, er in mir Wut; das kann nicht anders sein! Weiß ich etwa nicht, daß er nicht schon anfinge mich zu hintergehen? Daß er nicht Absichten auf die Sorokina hätte, daß er Kity geliebt hat und mich verrät? Alles dies weiß ich, und mir wird davon nicht leichter. Wenn er, ohne mich zu lieben, nur aus Pflicht gut und zärtlich gegen mich ist, nicht aber das sein will, was ich wünsche; so wäre es noch tausendmal schlimmer, als Haß! Das wäre — die Hölle! Und so ist es auch! Er liebt mich schon lange nicht mehr, und wo die Liebe aufhört, da fängt der Haß an. Diese Straßen kenne ich doch gar nicht. Berge, und Häuser auf Häuser, in den Häusern aber Menschen, nur Menschen. Wie viele Menschen giebt es da, kein Ende ist abzusehen, und alle hassen einander. Aber ich will mir doch einmal ausdenken, was ich eigentlich will, um glücklich zu sein? Nun, gesetzt, ich erhalte die Ehescheidung, Aleksey Aleksandrowitsch giebt mir Sergey und ich heirate Wronskiy.“
Indem sie Aleksey Aleksandrowitschs gedachte, stellte sie sich ihn sogleich mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit vor, als ob er lebendig vor ihr stände, mit seinen sanften, leblosen, erloschenen Augen, den blauen Adern auf den weißen Händen, seinen Betonungen und dem Knacken seiner Finger, und indem[430] sie sich des Gefühls erinnerte, welches zwischen ihnen bestanden und auch Liebe geheißen hatte, erschauerte sie vor Ekel.
„Nun, ich werde die Scheidung erhalten und Wronskiys Weib werden. Wird aber Kity dann aufhören, so auf mich zu schauen, wie sie es heute gethan hat? Nein. Wird dann Sergey aufhören, nach meinen zwei Männern zu fragen oder über sie nachzudenken? Und welches neue Gefühl soll ich mir für Wronskiy und mich ausdenken? Ist ein Etwas möglich, das nicht mehr Glück, und doch auch nicht eine Qual wäre? — Nein und aber nein!“ — antwortete sie sich selbst, jetzt ohne das geringste Zaudern. „Es ist unmöglich! Wir werden durch das Leben getrennt; ich bin sein Unglück, er ist das meine, und es ist unmöglich, ihn oder mich zu rehabilitieren. Alle Versuche sind gemacht worden, die Schraube ist abgelaufen. — Da, eine Bettlerin mit ihrem Kinde! — Sie glaubt, man habe Mitleid mit ihr. Sind wir denn nicht alle nur dazu in die Welt geworfen worden, um einander zu hassen, und uns und die anderen deshalb zu martern? — Da kommen Gymnasiasten. — Sie lachen! Ist Sergey darunter?“ — dachte sie. „Ich habe auch geglaubt, daß ich ihn liebte, und war gerührt von seiner Zärtlichkeit. Und doch habe ich auch ohne ihn gelebt, habe ich ihn um eine andere Liebe vertauscht und diesen Tausch nicht beklagt, so lange ich in dieser Liebe Genüge fand.“
Mit Widerwillen erinnerte sie sich dessen, was sie mit dieser Liebe bezeichnete. Die Klarheit, mit welcher sie jetzt ihr Leben und dasjenige aller Menschen schaute, verursachte ihr Freude. „So mache ich es, wie Peter, oder der Kutscher Fjodor, oder dieser Kaufmann da, und alle anderen Leute, die dort längs der Wolga wohnen, und es ist überall und immer so,“ dachte sie, als sie bei dem niedrigen Stationsgebäude der Nishegoroder Bahn angekommen war und die Artjelschtschiks ihr entgegeneilten.
„Befehlt Ihr nach Obiralovka?“ frug Peter.
Sie hatte vollkommen vergessen, wohin und weshalb sie reisen wollte und vermochte nur mit größter Anstrengung die Frage zu erfassen.
„Ja,“ sagte sie zu ihm, ihr Geldtäschchen hinreichend und stieg, die kleine rote Tasche in die Hand nehmend, aus dem Wagen.
Durch das Gedränge nach dem Wartesaal der ersten Klasse gehend, rief sie sich ein wenig alle die Einzelheiten ihrer Lage und die Entscheidungen ins Gedächtnis zurück, zwischen denen sie schwankte.
Wiederum begann bald Hoffnung, bald Verzweiflung in den alten kranken Stellen die Wunden ihres gemarterten, entsetzlich schlagenden Herzens wieder aufzureißen. In der Erwartung des Zuges auf dem sternförmigen Diwan sitzend, dachte sie, den Blick voll Widerwillen auf die Kommenden und Gehenden gerichtet — sie alle waren ihr widerlich — bald daran, wie sie, auf der Station angekommen, ihm ein Billet schreiben wolle, und was sie ihm schreiben würde; bald daran, wie er sich bei seiner Mutter — die ja Leiden gar nicht verstand — über seine Lage beklagen mochte, wie sie selbst ins Zimmer hereintreten, und was sie zu ihm sagen wollte. Sie dachte auch darüber nach, wie ihr Leben noch glücklich werden könnte und wie qualvoll sie ihn liebe und hasse, und wie entsetzlich ihr Herz schlage.
Die Glocke ertönte; mehrere junge Männer, häßlich, dreist, zudringlich, und zugleich aufmerksam den Eindruck den sie hervorbrachten, beobachtend, kamen vorüber; auch Peter schritt durch den Wartesaal in seiner Livree und Stiefletten, mit stumpfem, tierischen Gesichtsausdruck, und trat zu ihr heran, um sie zum Waggon zu begleiten. Die geräuschvoll aufgetretenen Herren verstummten, als sie an ihnen auf dem Bahnsteig vorüberschritt und einer flüsterte dem andern etwas zu, natürlich etwas Garstiges. Sie trat auf die hohe Stufe und setzte sich allein im Coupé auf den gepolsterten, fleckig gewordenen, einstmals weiß gewesenen Diwan. Die Reisetasche, noch auf dem Polster springend, war soeben hereingelegt worden, mit stupidem Lächeln lüftete Peter vor dem Fenster seine galonierte Mütze zum Zeichen des Abschieds, rücksichtslos warf der Kondukteur die Thür zu und klinkte sie ein.
Eine Dame, ungestaltet, mit einer Tournüre — Anna entkleidete sie in Gedanken und erschrak über ihre Unförmigkeit — und ein junges Mädchen, welches unnatürlich lachte, liefen unten vorbei.
„Bei Katharina Andrejewna — alles bei ihr — ma tante!“ rief das junge Mädchen.
„Selbst dieses Mädchen ist ungestaltet und heuchelt,“ dachte Anna. Um niemand zu sehen, stand sie schnell auf und setzte sich an das gegenüberliegende Fenster in dem leeren Waggon. Ein schmutziger, ungeschlachter Mensch in einer Mütze, unter welcher das Haar wirr hervorstarrte, ging an dem Fenster vorüber, sich zu den Rädern des Waggons niederbeugend. „Es liegt mir etwas Bekanntes in diesem unförmigen Menschen da,“ dachte Anna, und ihres Traumes sich erinnernd, trat sie, vor Entsetzen zitternd, zu der gegenüberliegenden Thür. Der Kondukteur öffnete die Thür und ließ einen Mann mit seiner Frau herein.
„Wollt Ihr vielleicht hinaus?“
Anna antwortete nicht. Der Kondukteur und die Eingetretenen bemerkten unter dem Schleier das Entsetzen auf ihren Zügen nicht. Sie wandte sich nach ihrer Ecke und setzte sich.
Das Ehepaar nahm auf der gegenüberliegenden Seite Platz, aufmerksam, aber verstohlen ihr Kleid betrachtend. Der Mann wie das Weib erschienen Anna widerlich. Der Mann frug, ob sie ihm gestatte, zu rauchen, offenbar nicht, daß er rauchen konnte, sondern um mit ihr eine Unterhaltung anzuspinnen. Nachdem er ihre Erlaubnis erhalten hatte, begann er mit seiner Frau auf französisch über Etwas zu reden, was er noch weniger als das Rauchen brauchte. Sie sprachen, indem sie sich verstellten, von lauter Albernheiten, nur zu dem Zwecke, daß sie es hörte. Anna sah deutlich, wie die beiden sich gegenseitig langweilten und einander haßten. Man konnte auch nicht anders, als solche kläglichen Ausgeburten hassen.
Das zweite Läuten wurde hörbar und gleich darauf folgte der Transport des Gepäckes, unter Lärm, Rufen und Lachen. Anna war es so klar, daß niemand Ursache hatte, sich zu freuen, daß dieses Lachen sie bis zur Schmerzhaftigkeit erbitterte und sie die Ohren schließen wollte, um es nicht hören zu müssen.
Endlich erklang das dritte Läuten, ein Pfiff und das heulende Signal des Dampfkessels ertönte, eine Kette riß und der Ehemann bekreuzigte sich.
„Es wäre eigentlich interessant, ihn zu fragen, was er sich[433] dabei wohl denkt,“ dachte Anna, ihn zornig anblickend. Sie schaute neben der Dame vorüber durch das Fenster auf die Menschen, die sich gleichsam rückwärts zu wälzen schienen, indem sie auf dem Bahnsteig stehend, dem Zug das Geleite gaben. Unter gleichmäßig sich wiederholenden Erschütterungen auf den Verbindungspunkten der Schienen, bewegte sich der Waggon, in welchem Anna saß, an dem Bahnsteig, einer steinernen Mauer, und anderen Waggons vorüber. Die Räder rasselten flüchtiger und geschmeidiger mit leichtem Geräusch auf den Schienen, das Fenster erglänzte in der hellen Abendsonne und ein leichter Wind spielte mit dem Vorhang.
Anna hatte ihre Nachbarn im Waggon vergessen und fing wieder an, bei dem leichten Rollen während der Fahrt, die frische Luft in sich einzuatmen und wieder zu grübeln:
„Wo war ich denn stehen geblieben? Halt, dabei, daß ich mir keine Lage ausfindig machen konnte, in welcher das Leben nicht eine Qual wäre; dabei, daß wir alle dazu geboren sind, einander zu foltern und wir alle dies wissen und alle nur Mittel ausklügeln, um uns gewissermaßen darüber hinwegzutäuschen. Wenn man aber nun die Wahrheit erkennt, was soll man da thun?“
„Dazu ward dem Menschen der Verstand, daß er sich von dem befreit, was ihn quält,“ sagte die Dame auf französisch, offenbar sehr befriedigt von ihrem Satze und mit Hilfe ihrer Zunge Grimassen machend.
Diese Worte antworteten gleichsam auf den Gedanken Annas.
„Daß er sich befreit von dem, was ihn quält,“ wiederholte Anna, und begriff mit einem Blick auf den rotbäckigen Mann und die hagere Frau, daß hier ein krankes Weib sich selbst für unverstanden halte, und ihr Gatte, diese Meinung über sich selbst in ihr unterstütze. Anna durchschaute gleichsam die Geschichte der beiden da und alle versteckten Winkel ihrer Seelen, indem sie ihr Licht auf sie übertrug, aber etwas Interessantes lag nicht darin und sie verfolgte ihren Gedankengang weiter.
„Ja, er quält mich sehr und dazu ward dem Menschen der Verstand, daß er sich befreie. Es ist wohl auch notwendig, sich zu befreien. Warum soll man nicht das Licht verlöschen, wenn man nichts mehr zu sehen hat, wenn es widerlich wird,[434] alles das zu sehen? Weshalb läuft doch jener Kondukteur an der Stange, weshalb schreien jene jungen Leute in dem Waggon? Weshalb sprechen und lachen sie? Das ist doch alles unwahr, alles Lug, alles Trug, alles böse“ — —
Nachdem der Zug in die Station eingelaufen war, stieg Anna mit der Menge der anderen Passagiere aus, blieb aber dann, sich vor ihnen wie vor Verfehmten fernhaltend, auf dem Bahnsteig zurück, und suchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, warum sie denn hierhergefahren sei und was sie hatte thun wollen.
Alles, was ihr vorher als möglich erschienen war, wurde ihrer Vorstellungskraft jetzt so schwer, namentlich vor dem lärmenden Haufen aller dieser ungeschlachten Menschen, die ihr keine Ruhe ließen. Bald kamen Artjeljschtschiks zu ihr gelaufen, die ihre Dienste anboten, bald blickten sie junge Leute an, die mit den Stiefelabsätzen auf den Bohlen des Bahnsteigs stampften und laut miteinander sprachen, bald wichen ihr Begegnende nicht aus. Nachdem sie sich besonnen hatte, daß sie weiter fahren wollte, falls keine Antwort da wäre, hielt sie einen Artjeljschtschik an und frug, ob nicht ein Kutscher mit einem Briefe für den Grafen Wronskiy hier sei.
„Graf Wronskiy? Von dem war soeben jemand hier. Man hat die Fürstin Sorokina nebst Tochter abgeholt. Aber wie sieht denn der Kutscher aus?“
Während sie noch mit dem Artjeljschtschik sprach, trat der Kutscher Michail, rotbäckig und heiter in seiner blauen flotten Poddjevka und Uhrkette, offenbar stolz darauf, daß er seinen Auftrag so gut ausgeführt hatte, zu ihr heran und überreichte ein Billet.
Sie erbrach es; ihr Herz zog sich zusammen, noch bevor sie es gelesen hatte.
„Ich bedaure sehr, daß mich das Billet nicht angetroffen hat; um zehn Uhr werde ich kommen,“ hatte Wronskiy mit flüchtiger Hand geschrieben.
„So. Das hatte ich erwartet,“ sprach sie mit unglückverheißendem Lächeln. „Gut! Fahr' heim!“ fuhr sie dann, zu Michail gewendet, leise fort. Sie sprach leise, weil die Schnelligkeit ihres Herzschlags sie am Atmen behinderte.
„Nein, ich werde dir nicht mehr Gelegenheit geben, mich[435] zu martern,“ dachte sie, sich in ihrer Drohung weder an ihn, noch an sich selbst wendend, sondern an den, welcher sie veranlaßt hatte, sich selbst zu foltern, und schritt auf dem Bahnsteig dahin, am Stationsgebäude vorüber.
Zwei Zofen, welche auf der Plattform hingingen, drehten die Köpfe rückwärts, indem sie nach ihr blickten, und mit vernehmlicher Stimme über ihre Toilette Betrachtungen anstellten. „Das sind echte“, sagten sie über die Spitzen, die sie trug. Die jungen Männer ließen sie auch nicht in Ruhe. Sie schauten ihr wieder ins Gesicht und gingen lachend, mit unnatürlicher Stimme rufend, an ihr vorbei.
Der Stationsvorsteher trat heran und frug sie, ob sie fahren wolle? Ein Knabe, welcher Kwas verkaufte, ließ sie nicht aus den Augen. „Mein Gott, wohin soll ich flüchten?“ dachte sie, sich weiter und weiter von dem Bahnsteig entfernend.
Am Ende desselben blieb sie stehen. Damen und Kinder, welche einen bebrillten Herrn begrüßten und laut lachten und sprachen, verstummten bei ihrem Anblick, als sie neben ihnen angelangt war. Sie beschleunigte ihren Schritt und entfernte sich von ihnen nach dem Rande des Bahnsteigs hin. Ein Güterzug kam heran. Der Perron erbebte und ihr schien es, als ob sie wieder fahre. Plötzlich aber, indem ihr die Zermalmung jenes Menschen am Tage ihrer ersten Begegnung mit Wronskiy einfiel, erkannte sie, was sie zu thun hatte. Schnellen leichten Schrittes stieg sie die Stufen hinab, welche zu den Schienen führten und blieb neben dem dicht an ihr vorüberfahrenden Train stehen. Sie schaute unter die Waggons, auf die Schrauben und Ketten, auf die großen, gußeisernen Räder des langsam rollenden, ersten Waggons und suchte mit dem Augenmaß den Mittelpunkt zwischen den Vorder- und Hinterrädern, sowie den Augenblick zu bestimmen, in welchem sich dieser Mittelpunkt vor ihr befinden würde.
„Dahin!“ — sprach sie zu sich selbst, nach dem Schatten des Waggons auf dem mit Kohlenstaub vermischten Sand, von welchem der Boden bedeckt war, schauend, „dahin, gerade in die Mitte, und ich strafe ihn und bin von allem erlöst; wie von mir selbst.“ — —
Sie wollte sich unter den ersten Waggon, der mit seinem Mittelpunkt neben ihr angekommen war, werfen, allein die[436] rote Reisetasche, die sie nun von dem Arme nahm, hinderte sie und es war schon zu spät. Der Mittelpunkt war an ihr vorüber. Sie mußte also den folgenden Waggon erwarten. Ein Gefühl, ähnlich dem, wie sie es empfunden hatte, wenn sie sich beim Baden bereit machte, in das Wasser zu steigen, wandelte sie an, und sie bekreuzte sich. Die gewohnte Geste der Bekreuzigung rief in ihrer Seele eine ganze Reihe von Erinnerungen aus ihrer Mädchen- und Kinderzeit herauf, und plötzlich zerriß die Finsternis, die alles vor ihr verdeckt hatte, und das Leben trat für einen Moment vor sie hin, mit all seinen lichten, vergangenen Freuden.
Sie verwandte während dessen kein Auge von den Rädern des herankommenden Waggons, und genau in dem Augenblick, als der Mittelpunkt zwischen den Rädern vor ihr war, schleuderte sie den roten Reisesack von sich, fiel, den Kopf zwischen die Schultern ziehend, auf die Hände unter dem Waggon, und ließ sich mit einer leichten Bewegung, als sei sie bereit, sofort wieder aufzustehen, in die Kniee sinken. In dem nämlichen Augenblick aber erschrak sie über das, was sie gethan hatte, „wo bin ich, was thue ich, warum?“ — Sie wollte sich wieder erheben, sich zurückwerfen, aber etwas Ungeheures, Unerbittliches stieß sie vor den Kopf und nahm sie beim Rücken mit. „Herr Gott vergieb mir alles!“ sprach sie, die Unmöglichkeit eines Kampfes fühlend. Der Mensch arbeitete im Selbstgespräch in dem Eisen. Das Licht, bei welchem sie das von Mühsal und Lüge, Weh und Übel erfüllte Buch gelesen hatte, flammte in noch hellerem Glanze empor als je, und erleuchtete alles vor ihr, was früher für sie im Dunkeln gelegen hatte, es prasselte, verdunkelte sich und erlosch auf ewig.
Fast zwei Monate waren vergangen. Die Hälfte der heißen Jahreszeit war schon verstrichen und Sergey Iwanowitsch machte erst jetzt Anstalt, Moskau zu verlassen.
Im Leben Sergey Iwanowitschs hatte sich während dieser Zeit Mehrfaches ereignet. Ein Jahr vorher bereits war sein Buch, die Frucht einer sechsjährigen Arbeit mit dem Titel: „Versuch eines Überblickes über die Grundlagen und Formen des Staatswesens in Europa und Rußland“, beendet worden.
Einige Teile nebst der Einleitung waren in zeitgemäßen Publikationen gedruckt, andere von Sergey Iwanowitsch Männern aus seiner Umgebung vorgelesen worden, sodaß die Gedanken dieses neuen Werkes schon nicht mehr eine vollkommene Neuheit für das Publikum bilden konnten. Gleichwohl aber hatte Sergey Iwanowitsch erwartet, daß das Buch mit seinem Erscheinen einen tiefen Eindruck auf die Gesellschaft und, wenn nicht eine Umwälzung in der Wissenschaft, so doch jedenfalls mächtige Sensation in der Gelehrtenwelt machen werde. Das Buch war nach sorgfältigem Druck im vergangenen Jahre zum Erscheinen und zur Versendung an die Buchhändler gelangt.
Ohne nun jemand über das Werk zu befragen, und ungern und mit erheuchelter Gleichgültigkeit auf die Fragen seiner Freunde, wie dasselbe gehe, antwortend, ohne sich selbst bei den Buchhändlern nach dem Absatz zu erkundigen, verfolgte Sergey Iwanowitsch scharf und mit gespannter Aufmerksamkeit den ersten Eindruck, welchen sein Werk in der Gesellschaft und in der Litteratur hervorbrächte.
Aber es verging eine Woche, eine zweite, dritte, und in der Gesellschaft war kein Eindruck wahrzunehmen. Seine Freunde, Spezialisten und Gelehrte, begannen bisweilen, augenscheinlich[438] aus Höflichkeit, von dem Buche zu sprechen, seine übrigen Bekannten aber, die sich nicht für ein Werk von gelehrter Richtung interessierten, sprachen gar nicht davon. In der Gesellschaft, welche besonders jetzt von anderen Dingen in Anspruch genommen war, herrschte völlige Gleichgültigkeit, und in der Litteratur erschien im Verlauf eines Monats gleichfalls kein Wort über das Buch.
Sergey Iwanowitsch berechnete bis in die Einzelheiten die Zeit, welche zur Abfassung einer Recension erforderlich war, aber es verging ein Monat, ein zweiter unter dem nämlichen Schweigen.
Nur im „Ssjevernyj Shuk“, in einem humoristischen Feuilleton über den Sänger Drabanti, welcher seine Stimme verloren hatte, waren so nebenbei einige geringschätzige Worte über das Buch Koznyscheffs gefallen. Dieselben zeigten, daß dieses schon längst allgemein verurteilt, dem allgemeinen Spott anheimgefallen war.
Erst im dritten Monat erschien in einem Journal ernster Richtung eine kritische Abhandlung. Sergey Iwanowitsch kannte sogar den Verfasser derselben; er war ihm einmal bei Golubzoff begegnet.
Der Verfasser der Abhandlung war ein sehr junger und bissiger Feuilletonist, höchst gewandt als Schriftsteller, aber außerordentlich wenig gebildet, und schüchtern in seinen persönlichen Beziehungen.
Ungeachtet seiner vollkommenen Verachtung für den Autor, machte sich Sergey Iwanowitsch gleichwohl mit vollkommenem Ernst an die Lektüre der Abhandlung. Die Kritik war höchst traurig.
Augenscheinlich hatte der Feuilletonist das ganze Buch gerade so aufgefaßt, wie es unmöglich aufgefaßt werden durfte. Er hatte aber so gewandt die Citate aus demselben zusammengestellt, daß es für diejenigen, welche das Buch nicht gelesen hatten — und offenbar hatte es fast niemand gelesen — vollständig klar wurde, das ganze Werk sei nichts anderes, als eine Sammlung hochtrabender Worte, die noch dazu nicht einmal in passender Weise angewendet worden waren — wie die Fragezeichen bewiesen — und der Verfasser des Buches ein völlig unwissender Mensch. Alles aber war dabei so geistreich,[439] daß selbst Sergey Iwanowitsch sich diesem Scharfsinn gegenüber nicht ablehnend verhalten konnte — aber das alles war doch höchst traurig. —
Trotz der vollkommenen Gewissenhaftigkeit, mit welcher Sergey Iwanowitsch die Richtigkeit der Ausführungen des Recensenten prüfte, blieb er doch nicht eine Minute bei den Fehlern und Gebräuchen stehen, welche darin verspottet wurden, sondern begann sich sogleich unwillkürlich bis in die kleinsten Einzelheiten jene Begegnung und sein Gespräch mit dem Verfasser des Aufsatzes ins Gedächtnis zurückzurufen.
„Habe ich ihn irgendwomit beleidigt?“ frug sich Sergey Iwanowitsch, und indem er sich erinnerte, daß er bei jener Begegnung diesen jungen Mann, der mit einem Worte seine Unwissenheit dokumentiert hatte, korrigiert habe, fand er die Erklärung für die Tendenz der Abhandlung.
Auf diese Kritik folgte ein tödliches Schweigen über das Buch, sowohl in der Presse, wie in der Konversation, und Sergey Iwanowitsch sah, daß sein seit sechs Jahren, mit soviel Liebe und Mühe erschaffenes Werk erfolglos vorübergegangen war.
Die Lage Sergey Iwanowitschs wurde noch schwieriger dadurch, daß er nach der Beendigung desselben keine Kabinettarbeit mehr hatte, wie sie vorher den größten Teil seiner Zeit in Anspruch genommen.
Sergey Iwanowitsch war klug, gebildet, gesund und thätig und wußte nun nicht, wie er seine Arbeitskraft anwenden sollte. Die Gespräche in den Hotels, bei den Zusammenkünften, Sobranjen und in Komitees, sowie überall da, wo man sprechen konnte, nahmen wohl einen Teil seiner Zeit in Anspruch, doch gestattete er sich, als langjähriger Bewohner der Stadt nicht, völlig im Reden aufzugehen, wie dies sein unerfahrener Bruder that, wenn er in Moskau war. Es blieb ihm daher noch viel freie Zeit und Geisteskraft.
Zu seinem Glück tauchte in dieser, infolge des Fehlschlagens seines Buches für ihn so schweren Zeit als Ablösung der Dissidentenfrage, des amerikanischen Bündnisses, der samarischen Hungersnot, der Weltausstellung und des Spiritismus, die slavische Frage auf, die vorher nur in der Gesellschaft geduldet worden war, und Sergey Iwanowitsch, der bereits[440] früher zu denen gehört hatte, welche diese Frage anregten, widmete sich ihr nun ganz.
Im Kreis derer, zu welchen auch Sergey Iwanowitsch gehörte, sprach und schrieb man zu dieser Zeit von nichts anderem, als dem serbischen Kriege. Alles, was gewöhnlich der müßige Haufe thut, um die Zeit totzuschlagen, wurde jetzt zu Gunsten der Slaven gethan. Bälle, Konzerte, Essen, Speeches, die Damentoiletten, das Bier, die Gasthäuser — alles gab Zeugnis von der Sympathie für die Slaven.
Mit vielem von dem, was man bei dieser Gelegenheit sprach und schrieb, war Sergey Iwanowitsch in den Einzelheiten nicht einverstanden. Er sah, daß die slavische Frage eine jener Modefragen wurde, die stets, eine die andere ablösend, der Gesellschaft zum Gegenstand der Unterhaltung dienen.
Er sah auch, daß viele mit gewinnsüchtigen oder ehrgeizigen Absichten unter denen waren, die sich an diesem Werke beteiligten. Er erkannte ferner, daß die Zeitungen vieles Unnötige und Übertriebene abdruckten allein in der Absicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und andere zu übertönen. Er sah, daß bei dieser allgemeinen Erhebung der Gesellschaft alle, denen Etwas fehlgegangen war, oder die beleidigt worden waren, sich vor allen übrigen hervorthaten und am lautesten die Stimme erhoben: Oberkommandierende ohne Armee, Minister ohne Portefeuilles, Journalisten ohne Journale, Parteiführer ohne Anhänger. Er sah, daß viel Leichtsinn und Lächerlichkeit dabei war, sah und erkannte aber auch den unleugbaren, alles überwuchernden Enthusiasmus, der alle Klassen der Gesellschaft in Eins vereinigte, und welchem man die Sympathie nicht versagen konnte. Das Geschick der Glaubensgenossen und slavischen Mitbrüder rief das Mitgefühl für die Leidenden und den Unwillen gegen deren Bedrücker hervor. Der Heldenmut der Serben und Tschernagorzen, die für eine erhabene Sache kämpften, rief im ganzen Volke den Wunsch hervor, den Brüdern zu helfen, aber nicht mehr mit Worten, sondern mit der That.
Hierbei zeigte sich indessen eine andere, für Sergey Iwanowitsch erfreuliche Erscheinung — die Offenbarung der allgemeinen Meinung. — Die Gesellschaft äußerte ihren Wunsch[441] in bestimmter Weise. Der Volksgeist erhielt einen Ausdruck, wie Sergey Iwanowitsch sagte, und je mehr sich derselbe mit dem Gegenstand befaßte, um so einleuchtender schien ihm, daß es sich hier um eine Sache handle, welcher die meiste Verbreitung zu Teil werden müsse, und die Epoche machen werde.
Er widmete sich nun ganz dem Dienst dieser erhabenen Sache und hatte dabei ganz vergessen, seines Buchs noch zu gedenken. Seine ganze Zeit war jetzt ausgefüllt, sodaß er nicht imstande war, alle an ihn gerichteten Korrespondenzen und Bitten zu genügen.
Nachdem er nun den ganzen Frühling und einen Teil des Sommers hindurch gearbeitet hatte, machte er sich erst im Juli bereit, auf das Land zu seinem Bruder zu gehen.
Er reiste ab, sowohl, um sich für einige Wochen zu erholen, als um in der ländlichen Einsamkeit sich an dem Anblick der Erhebung des Volksgeistes zu freuen, von der er und alle Bewohner der Stadt vollständig überzeugt waren. Katawasoff, der schon längst ein Lewin gegebenes Versprechen, diesen zu besuchen, hatte erfüllen wollen, reiste mit ihm zusammen.
Sergey Iwanowitsch und Katawasoff hatten kaum die heute besonders von Menschen belebte Station der Kursker Eisenbahn erreicht, und sich beim Verlassen des Wagens nach dem mit dem Gepäck nachkommenden Diener umgesehen, als in vier Mietkutschen Freiwillige anlangten. Damen mit Bouquets kamen ihnen entgegen, und sie betraten im Geleite von Scharen hinter ihnen drein strömender Menschen die Station.
Eine von den Damen, welche die Freiwilligen begrüßten, wandte sich, indem sie den Saal verließ, an Sergey Iwanowitsch.
„Seid Ihr auch gekommen, ihnen das Geleite zu geben?“ frug sie auf französisch.
„Nein; ich reise für mich, Fürstin, um mich bei meinem Bruder zu erholen. Ihr gebt wohl fortwährend Geleit?“ frug Sergey Iwanowitsch mit einem kaum merklichen Lächeln.
„Das ginge ja nicht,“ antwortete die Fürstin, „aber freilich haben wir selbst bereits achthundert befördert. Malwinskiy glaubte es mir nicht.“
„Mehr als achthundert! Wenn man diejenigen mitzählt, welche nicht direkt von Moskau expediert worden sind, so wären es schon mehr als tausend,“ sagte Sergey Iwanowitsch.
„Da haben wir's. Das habe ich ja gesagt!“ pflichtete die Dame freudig bei. „Und nicht wahr, es ist jetzt ungefähr eine Million dafür geopfert worden?“
„Mehr noch, Fürstin.“
„Was ist denn heute für ein Telegramm gekommen? Wieder die Türken geschlagen?“
„Ja, ich habe es gelesen,“ antwortete Sergey Iwanowitsch. Sie unterhielten sich nun über die neueste Depesche, welche bestätigte, daß während dreier aufeinanderfolgender Tage die Türken auf allen Punkten geschlagen worden seien und sich auf der Flucht befänden, und daß morgen die Entscheidungsschlacht erwartet werde.
„Da hat sich auch ein junger, hübscher Mann gemeldet. Ich weiß nicht, weshalb man Schwierigkeiten gemacht hat, und da wollte ich Euch bitten — ich kenne ihn — daß Ihr doch gefälligst ein Billet schriebt. Er ist von der Gräfin Lydia Iwanowna geschickt.“
Nachdem sich Sergey Iwanowitsch nach den Einzelheiten erkundigt hatte, welche die Fürstin über den jungen Mann, welcher sich gestellt hatte, kannte, schrieb er, in die erste Klasse tretend, ein Billet an die Persönlichkeit, von welcher die Sache abhing und übergab es der Fürstin.
„Ihr wißt wohl, Graf Wronskiy, der bekannte — fährt auch mit diesem Zug,“ sagte die Fürstin mit triumphierendem und vielsagendem Lächeln, als er wieder zurückgekommen war und ihr das Schreiben übergab.
„Ich habe wohl gehört, daß er auch fortginge, aber nicht gewußt, wann. Mit diesem Zuge also fährt er?“
„Ich habe ihn gesehen. Er ist hier. Nur seine Mutter begleitet ihn. Es war dies doch immer noch das beste, was er thun konnte.“
„Gewiß. Versteht sich.“
Während sie sprachen, strömte der Haufe an ihnen vorüber zur Mittagstafel. Sie gingen gleichfalls mit und vernahmen dabei die laute Stimme eines Herrn, welcher, den Pokal in der Hand, eine Rede an die Freiwilligen hielt. „Für[443] den Glauben dient, für die Menschlichkeit und unsere Mitbrüder,“ sprach der Herr mit erhöhter Stimme, „zum erhabenem Werke segne euch unsere Matuschka Moskwa! Zhivio!“ — schloß er dröhnend und mit thränenerstickter Stimme.
Alles rief „Zhivio“! und eine neue Schar, die die Fürstin beinahe über den Haufen geworfen hätte, wälzte sich in den Saal.
„Ah, Fürstin, wie geht es!“ rief freudestrahlend Stefan Arkadjewitsch, der plötzlich inmitten derselben erschien. „Hat er nicht herrlich, feurig gesprochen? Bravo! — Und Sergey Iwanowitsch, Ihr müßtet gleichfalls sprechen — einige Worte, Ihr wißt, so eine Anfeuerung. Ihr versteht dies ja so gut,“ fügte er mit mildem, ehrerbietigem und aufmerksamem Lächeln hinzu, Sergey Iwanowitsch am Arme vorwärtsbewegend.
„Nein, ich fahre sogleich.“
„Wohin denn?“
„Auf das Land zu meinen Bruder,“ antwortete Sergey Iwanowitsch.
„Da seht Ihr ja meine Frau. Ich habe ihr geschrieben, aber Ihr werdet sie schon eher sehen; sagt ihr doch, bitte, daß Ihr mit mir gesprochen habt und alles allright ist. Sie wird es schon verstehen. Habt auch die Güte, ihr mitzuteilen, daß ich zum Mitglied der Kommission der vereinigten — Ihr wißt ja, les petites misères de la vie humaine,“ wandte er sich wie zur Entschuldigung an die Fürstin.
„Die Mjachkaja — nicht Lisa, sondern Bibisch — schickt tausend Gewehre und zwölf Schwestern. Ich hatte es Euch wohl gesagt?“
„Ja, ich hörte davon,“ antwortete Koznyscheff widerwillig.
„Es ist eigentlich schade, daß Ihr abreist,“ fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, „wir geben morgen ein Essen für zwei mit Abgehende — Dimjor Bartejanskiy von Petersburg und unseren Wjeslowskiy, Grischa. Sie gehen beide. Wjeslowskiy hat unlängst geheiratet. Das ist ein braver Bursch. Nicht so, Fürstin?“ wandte er sich zu der Dame.
Die Fürstin blickte ohne zu antworten Koznyscheff an; daß Sergey Iwanowitsch sowohl wie die Fürstin fast wünschten, von ihm loszukommen, brachte Stefan Arkadjewitsch nicht im geringsten in Verlegenheit. Lächelnd blickte er bald auf die[444] Hutfeder der Fürstin, bald seitwärts, als besinne er sich etwas. Als er eine vorüberschreitende Dame mit einer Sammelbüchse bemerkte, rief er sie heran und legte ein Fünfrubelpapier in die Büchse.
„Ich kann diese Sammelbüchsen nicht mit ruhigem Blute sehen, so lange ich Geld habe,“ sagte er. „Was für eine Depesche haben wir denn heute? Die Tschernogorzen sind doch wackere Kerle!“ —
— „Was Ihr sagt!“ rief er aus, als ihm die Fürstin mitteilte, daß Wronskiy mit diesem Zug abfahre. Für einen Augenblick drückte das Gesicht Stefan Arkadjewitschs Trauer aus, aber nach Verlauf einer Minute hatte er, nachdem er leicht mit jedem Fuße einige Male gezuckt, und sich dann den Backenbart gestrichen hatte, das Zimmer, in welchem Wronskiy war, betretend, schon völlig sein verzweifeltes Schluchzen über dem Leichnam der Schwester vergessen, und sah in Wronskiy nur den Helden und alten Freund.
„Bei all seinen Mängeln kann man nicht anders, als ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen,“ sagte die Fürstin zu Sergey Iwanowitsch, sobald Oblonskiy sie beide verlassen hatte. „Es ist das so eine echt russische, slavische Natur! Nur fürchte ich, es wird Wronskiy nicht angenehm sein, ihn zu sehen. Was Ihr auch sagen mögt, mich rührt das Geschick dieses Mannes. Ihr werdet wohl mit ihm während der Fahrt sprechen,“ sagte die Fürstin.
„Ja vielleicht, wenn sich Gelegenheit bietet.“
„Ich habe ihn nie gern gehabt. Aber dieser Entschluß macht vieles wieder gut. Er reist nicht nur für sich allein, sondern führt eine Eskadron auf eigne Rechnung mit.“
„Ja, ich habe davon gehört.“
Die Glocke ertönte; alles drängte sich nach den Thüren.
„Da ist er!“ fuhr die Fürstin fort, auf Wronskiy weisend, welcher, im langen Überrock und schwarzem Hut mit breitem Rande, seine Mutter am Arm führte. Oblonskiy ging lebhaft sprechend neben ihm.
Wronskiy blickte finster vor sich hin, als höre er nicht, was Stefan Arkadjewitsch sprach.
Wahrscheinlich auf eine Weisung Oblonskiys hin, schaute[445] er nach der Seite, auf welcher die Fürstin und Sergey Iwanowitsch standen und lüftete schweigend den Hut. Sein gealtertes, und Leiden ausdrückendes Gesicht erschien wie versteinert.
Nachdem Wronskiy über den Bahnsteig gegangen war, stieg er, die Mutter loslassend, in das Coupé des Waggons.
Auf dem Bahnsteig erschallte es „Boshe Zarja chrani!“ und „Hurrah“ und „Zhivio!“
Einer der Freiwilligen, ein hochgewachsener, sehr junger Mann, mit eingefallener Brust, grüßte besonders bemerkbar, indem er seinen Filzhut und ein Bouquet über dem Kopfe schwang. Hinter ihm schauten, gleichfalls grüßend, zwei Offiziere und ein älterer Mann mit großem Barte und in einer fettigen Mütze heraus.
Nachdem sich Sergey Iwanowitsch von der Fürstin verabschiedet hatte, stieg er mit dem herangetretenen Katawasoff in den zum Brechen vollgepfropften Waggon, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Auf der Station Tarizyn wurde der Zug von einem schönen Chor junger Leute, welche das „Slavsja“ sangen, bewillkommnet. Wieder dankten die Freiwilligen grüßend, und legten sich heraus, doch schenkte ihnen Sergey Iwanowitsch keine Beachtung. Er hatte soviel mit den Freiwilligen zu thun, daß er ihren Durchschnittstypus schon kannte und ihn dies nicht mehr interessierte. Katawasoff hingegen, der bei seinen Arbeiten nicht Gelegenheit gehabt hatte, die Freiwilligen zu beobachten, wurde sehr von ihnen interessiert, und erkundigte sich bei Sergey Iwanowitsch über sie.
Sergey Iwanowitsch empfahl ihm, sich doch in die zweite Klasse zu setzen, und dort selbst einmal mit ihnen zu reden, und auf der folgenden Station befolgte Katawasoff diesen Rat.
Beim ersten Aufenthalt siedelte er in die zweite Klasse über, und machte sich mit den Freiwilligen bekannt. Sie saßen in einer Ecke des Waggons in lautem Gespräch und wußten augenscheinlich recht wohl, daß die Aufmerksamkeit der Passagiere und des eingetretenen Katawasoff auf sie gerichtet sei.
Lauter als alle anderen sprach der hochgewachsene Jüngling mit der flachen Brust. Er war offenbar berauscht und erzählte[446] eine Geschichte, die sich auf ihrem Transport zugetragen hatte. Ihm gegenüber saß ein schon nicht mehr junger Offizier im Rocke der österreichischen Garde. Er hörte lächelnd dem Erzähler zu und hielt ihn in Schranken. Ein Dritter, in Artillerieuniform, saß auf einem Koffer neben ihnen. Ein Vierter schlief.
Ein Gespräch mit dem Jüngling anknüpfend, erfuhr Katawasoff bald, daß dieser ein reicher Moskauer Kaufmann gewesen sei, welcher sein großes Vermögen bis zum zweiundzwanzigsten Jahre durchgebracht hatte. Er gefiel Katawasoff nicht, weil er verweichlicht, verzärtelt, und von schwacher Gesundheit war; augenscheinlich hatte er die Überzeugung, namentlich jetzt, im Rausche, daß er eine Heldenthat vollbringen werde, und flunkerte in unangenehmster Weise.
Ein anderer, ein verabschiedeter Offizier, machte auf Katawasoff gleichfalls einen unangenehmen Eindruck. Er war, wie man sah, ein Mensch, der schon alles versucht hatte. Er war an der Eisenbahn gewesen, dann Geschäftsführer eines Handlungshauses, und hatte Fabriken angelegt. Er sprach über alles, ohne jede Veranlassung, und wendete unpassend gelehrte Ausdrücke an.
Ein dritter, ein Artillerist jedoch, gefiel Katawasoff recht wohl. Er war ein bescheidener, stiller Mensch, der sich offenbar vor den Kenntnissen des abgedankten Gardisten und der heroischen Selbstberäucherung des Kaufmanns beugte, und von sich selbst gar nicht sprach. Als ihn Katawasoff frug, was ihn veranlaßt hätte, nach Serbien zu gehen, antwortete er bescheiden:
„Nun, es gehen ja alle hin. Da gilt es, den Serben auch mit zu helfen. Es thut einem ja leid.“
„Ja; besonders Artilleristen sind ja auch nicht zahlreich dort,“ sagte Katawasoff.
„Ich habe freilich nur kurze Zeit in der Artillerie gedient und es ist möglich, daß man mich zur Infanterie oder Kavallerie bestimmt.“
„Weshalb denn zum Fußvolk, wenn man vor allem Artilleristen braucht?“ sagte Katawasoff, nach dem Alter des Artilleristen urteilend, daß er schon eine höhere Charge bekleiden müsse.
„Ich habe nicht lange in der Artillerie gedient, und bin als Junker entlassen,“ sagte er und begann nun auseinanderzusetzen, weshalb er das Examen nicht bestanden hätte.
Alles das zusammengenommen, machte auf Katawasoff einen unangenehmen Eindruck, und als die Freiwilligen auf der Station ausstiegen, um einmal zu trinken, wünschte Katawasoff, in einem Gespräch mit jemand diese unangenehmen Eindrücke auszutauschen. Ein mitreisender alter Herr in Uniform hatte die ganze Zeit dem Gespräch Katawasoffs mit den Freiwilligen zugehört. Nachdem ersterer mit diesem allein geblieben war, wandte er sich zu ihm.
„Wie groß doch der Unterschied der Verhältnisse aller dieser Leute ist, die nach dorthin abgehen,“ sagte Katawasoff unbestimmt, im Wunsche, seine Meinung auszusprechen und zugleich dabei diejenige des Alten zu erforschen. Der Alte war ein Militär, der zwei Feldzüge mitgemacht hatte. Er wußte was ein Soldat zu bedeuten habe, und hielt diese Leute nach ihrem Aussehen und Sprechen und nach dem Eifer, mit welchem sie unterwegs der Flasche zusprachen, für schlechte Soldaten. Er war auch Bewohner einer Kreisstadt und erzählte, daß aus seiner Vaterstadt einer unter die Soldaten gegangen sei, der Trunkenbold und Dieb gewesen, und den niemand mehr als Arbeiter hätte nehmen mögen. Da er indessen aus Erfahrung wußte, daß es unter der jetzigen Stimmung der Gesellschaft gefährlich sei, eine Meinung auszusprechen, welche der allgemein herrschenden entgegenliefe, und insbesondere, die Freiwilligen abfällig zu beurteilen, sondierte er gleichfalls Katawasoff.
„Ja, dort sind Leute nötig,“ sprach er, mit den Augen lachend. Sie begannen nun, von der letzten Nachricht vom Kriegsschauplatz zu sprechen, verbargen aber voreinander ihre Unwissenheit darüber, gegen wen sie morgen die Entscheidungsschlacht erwarteten, nachdem die Türken der letzten Nachricht gemäß auf allen Punkten geschlagen waren. So trennten sie sich denn beide, ohne ihre Meinung ausgesprochen zu haben.
Nachdem Katawasoff in seinen Waggon zurückgekehrt war, erzählte er, Sergey Iwanowitsch unwillkürlich ausweichend, von seinen Beobachtungen der Freiwilligen, die sich ihm als vorzügliche Burschen erwiesen hatten.
Auf der großen Station in einer Stadt begrüßte wieder Gesang und Zuruf die Freiwilligen, wieder erschienen Sammelnde beiderlei Geschlechts mit Büchsen, die vornehmen Damen des Gouvernements brachten den Freiwilligen Bouquets und begleiteten sie zum Büffett, doch war alles das bei weitem matter und in geringerem Maßstabe angelegt als in Moskau.
Während des Aufenthalts in der Gouvernementsstadt ging Sergey Iwanowitsch nicht ans Büffett, sondern schritt auf dem Bahnsteig auf und nieder.
Als er zum erstenmal am Coupé Wronskiys vorüberkam, bemerkte er, daß das Fenster zugezogen war, bei nochmaligem Passieren desselben indessen erblickte er die alte Gräfin am Fenster, welche Koznyscheff zu sich rief.
„Ich fahre auch mit und begleite ihn bis Kursk,“ sagte sie.
„Ich habe schon gehört,“ antwortete Sergey Iwanowitsch, an ihrem Fenster stehen bleibend und in dasselbe hineinblickend. „Welch schöner Zug von ihm,“ fügte er hinzu, nachdem er bemerkt hatte, daß Wronskiy nicht im Coupé war.
„Ja, was blieb ihm nach seinem Unglück zu thun übrig?“
„Welch furchtbares Ereignis!“ sagte Sergey Iwanowitsch.
„O, was habe ich durchgemacht; aber bitte, tretet doch ein! — O, was habe ich durchgemacht!“ wiederholte sie, nachdem Sergey Iwanowitsch eingetreten war und sich neben ihr auf das Polster gesetzt hatte. „Das vermag sich niemand vorzustellen. Sechs Wochen hat er mit niemand gesprochen und nur erst dann gegessen, wenn ich ihn darum angefleht. Nicht eine Minute durfte man ihn allein lassen. Wir haben alles weggenommen, womit er sich hätte ein Leids anthun können; wir wohnten in der niederen Etage; es ließ sich eben nichts voraussehen. Ihr wißt ja, daß er sich schon einmal ihretwegen geschossen hat,“ sprach sie, und die Brauen der alten Frau zogen sich finster zusammen bei dieser Erinnerung. „Ja; sie hat geendet, wie solch ein Weib enden mußte. Selbst den Tod hat sie sich gemein und niedrig erwählt!“ —
„Wir dürfen nicht richten, Gräfin,“ sagte Sergey Iwanowitsch seufzend, „doch ich begreife, wie schwer dies für Euch gewesen sein muß.“
„O, sprecht nicht davon! Ich wohnte auf meinem Gute, und er war gerade bei mir. Da bringt man ein Billet. Er schreibt Antwort und sendet sie ab. Wir ahnten nicht, daß sie schon da auf der Station war. Abends — ich hatte mich soeben zurückgezogen — erzählt mir meine Mary, daß sich auf der Station eine Dame unter den Eisenbahnzug gestürzt hätte. Dies traf mich wie ein Donnerschlag! Ich erkannte das müsse sie gewesen sein, und das erste, was ich sagen konnte war: Nur ihm nichts mitteilen! — Doch hatte man es ihm schon gesagt. Sein Kutscher war dort gewesen und hatte alles gesehen. Als ich auf sein Zimmer kam, war er nicht mehr bei Sinnen — er war furchtbar anzusehen. Kein Wort hat er gesprochen und ist fortgesprengt. Was dort geschehen ist, ich weiß es nicht, aber sie haben ihn wie einen Toten gebracht. Ich hätte ihn nicht erkannt. — ‚Prostration complète!‘ erklärte der Arzt. Dann brach fast eine Tobwut aus. Doch, was soll ich da erzählen!“ sprach die Gräfin mit der Hand abwehrend. „Eine entsetzliche Zeit! Nein, was Ihr auch sagen mögt, es war ein schlechtes Weib! Und was waren das auch für verzweifelte Leidenschaften! Das mußte auf etwas Absonderliches hinauslaufen und sie hat es auch bewiesen. Sie hat sich vernichtet und zwei edle Männer — ihren Gatten und meinen unglücklichen Sohn!“
„Was sagt denn ihr Gatte dazu?“ frug Sergey Iwanowitsch.
„Er hat ihr Kind zu sich genommen. Mein Aleksander war in der ersten Zeit mit allem einverstanden, doch jetzt quält es ihn furchtbar, daß er einem fremden Menschen seine Tochter übergeben hat. Sein Wort zurücknehmen aber kann er nicht. Karenin kam auch zum Begräbnis, doch bemühten wir uns, ihn nicht Aleksander begegnen zu lassen. Für ihn, den Ehemann, war es immerhin doch noch leichter zu ertragen. Sie hat ihn ja erlöst, aber mein armer Sohn hatte sich ihr so ganz dahingegeben. Alles hatte er für sie aufgegeben, seine Carriere, mich, und dabei hatte sie noch nicht einmal Mitleid mit ihm, sondern hat ihn mit Berechnung noch völlig gemordet. Nein, was Ihr auch sagen mögt, selbst ihr Tod — ist nur der Tod eines abscheulichen Weibes, das keine Religion besaß! Möge Gott mir verzeihen, aber ich muß ihr Angedenken hassen, wenn ich auf den Untergang meines Sohnes schaue.“
„Und wie trägt er es jetzt?“
„Gott hat uns geholfen — dieser serbische Feldzug ist gekommen. Ich bin ein greises Weib, und verstehe nichts davon, aber Gott hat ihm dies gesandt. Mir als Mutter ist es natürlich entsetzlich, und, was die Hauptsache ist, man sagt ce n'est pas très — bien vu à Pétersbourg — aber — was thun! Dies allein nur konnte ihn wieder aufrichten. Jaschwin — sein Freund — hat alles verspielt und sich nach Serbien begeben; er ist zu ihm gekommen und hat ihn überredet. Jetzt beschäftigt ihn die Sache doch. Unterhaltet Euch, bitte, mit ihm, ich will ihn zerstreuen. Er ist so schwermütig. Unglücklicherweise hat er auch noch Zahnschmerzen bekommen. Über Euch wird er sich recht sehr freuen. Bitte sprecht mit ihm; dort drüben geht er.“
Sergey Iwanowitsch sagte, es würde ihm Freude machen und begab sich auf die andere Seite des Zuges.
In dem schrägen Abendschatten von Säcken, welche auf dem Bahnsteig aufgetürmt lagen, ging Wronskiy in seinem langen Überrock, mit bedecktem Kopfe und die Hände in den Taschen hin und her, wie ein wildes Tier im Käfig, sich alle zwanzig Schritte schnell wieder wendend. Als Sergey Iwanowitsch sich Wronskiy näherte, schien ihm, als ob ihn dieser sehe, sich jedoch stelle, als bemerke er ihn nicht. Sergey Iwanowitsch war dies ganz gleichgültig. Er stand außerhalb aller persönlicher Beziehungen mit Wronskiy.
In dieser Minute war Wronskiy in seinen Augen ein wichtiger Faktor in dem großen Werke und Koznyscheff hielt es für seine Pflicht, ihn anzufeuern und aufzumuntern. Er trat zu ihm.
Wronskiy blieb stehen, blickte auf, erkannte Sergey Iwanowitsch und drückte demselben, indem er ihm einige Schritte entgegentrat, warm die Hand.
„Ihr habt vielleicht nicht mit mir sprechen wollen,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „aber kann ich Euch nicht nützlich sein?“
„Mit niemand könnte es mir angenehmer sein, zusammenzutreffen, als mit Euch,“ sagte Wronskiy, „entschuldigt mich, aber Erfreuliches giebt es für mich nicht mehr im Leben.“
„Ich verstehe; ich wollte Euch meine Dienste anbieten,“ sagte Sergey Iwanowitsch, Wronskiy in das sichtlich leidende Gesicht blickend. „Habt Ihr nicht einen Brief für Ristitsch, oder an Milan nötig?“
„O nein!“ antwortete Wronskiy, fast als werde es ihm schwer, zu verstehen: „Wenn es Euch gleich ist, so spazieren wir ein wenig. In den Waggons herrscht eine solche Schwüle! Ob ich ein Schreiben brauche? Nein; ich danke Euch, zum Sterben braucht man keine Empfehlungen. Nur gegen die Türken“ — sagte er lächelnd, mechanisch. Seine Augen hatten noch immer ihren Ausdruck von Erregtheit und Leiden.
„Es wird Euch aber leichter werden, mit vorbereiteten Persönlichkeiten die Beziehungen anzuknüpfen, welche doch jedenfalls erforderlich sind. Indes, wie Ihr wollt. Ich hatte mich sehr gefreut, von Eurem Entschluß zu hören. Giebt es doch schon so viele Angriffe auf die Freiwilligen, daß ein Mann wie Ihr, dieselben in der öffentlichen Meinung nur heben kann!“
„Ich bin als Mensch,“ sagte Wronskiy, „nur insofern brauchbar, als das Leben mir nichts mehr wert ist. Nur, daß physische Energie genug in mir ist, ein Carré zu sprengen, und es zu zerschmettern, oder zu fallen — das weiß ich! Ich freue mich darüber, daß es etwas giebt, wofür ich mein Leben opfern darf, das mir nicht allein überflüssig, nein, interesselos geworden ist. So kommt es doch noch jemand zu nutze.“
Er bewegte ungeduldig die Kinnbacken, infolge des beständigen, nagenden Zahnschmerzes, der ihn sogar daran hinderte, mit dem Ausdruck zu sprechen, den er beabsichtigte.
„Ihr werdet wieder genesen, ich prophezeie es Euch,“ sagte Sergey Iwanowitsch, mit einem Gefühl von Rührung. „Die Erlösung unserer Mitbrüder von einem Joch ist ein Ziel, würdig des Todes wie des Lebens. Verleihe Gott Euch äußeren Erfolg und inneren Frieden,“ fügte er hinzu und reichte ihm die Hand hin.
Wronskiy drückte warm die dargebotene Hand Sergey Iwanowitschs.
„Ja, als Waffe — kann ich noch zu etwas taugen. — Aber als Mensch — bin ich eine Ruine“ — sprach er in Absätzen.
Der quälende Schmerz des Zahnes, welcher ihm den Mund mit Speichel füllte, hinderte Wronskiy am Reden. Er schwieg, nach den Rädern eines langsam und gleichmäßig auf den Schienen hinrollenden Tenders blickend, und plötzlich ließ ihn eine andere Qual, nicht ein Schmerz, sondern ein allgemeines, inneres Unbehagen auf einen Augenblick seinen Zahnschmerz vergessen.
Der Anblick des Tenders und der Schienen, der Einfluß des Gesprächs mit einem Bekannten, welchen er nach dem Verhängnis, das ihn betroffen, nicht begegnet war, brachte ihm ihr Angedenken plötzlich wieder in die Erinnerung, oder vielmehr das, was ihm von ihr noch geblieben war, als er wie ein Wahnsinniger in den Schuppen der Eisenbahnstation gelaufen kam: Auf einem Tische in demselben, schmählich von den Händen Fremder ausgestreckt, ihr blutiger Leib, noch voll von dem kaum entflohenen Leben; der nach hinten geworfene, unversehrt gebliebene Kopf mit seinen schweren Flechten und wallenden Locken an den Schläfen, und auf dem reizvollen Antlitz, mit dem halbgeöffneten roten Munde, der erstarrte, seltsame, klägliche Ausdruck der Lippen, der furchtbar in den nichtgeschlossenen Augen lag, und wie mit Worten das furchtbare Wort aussprach, daß er bereuen solle — das Wort, welches sie während ihres Streites zu ihm gesagt hatte.
Und er bemühte sich, sie so in sein Gedächtnis zurückzurufen, wie sie gewesen, als er ihr zum erstenmale, gleichfalls auf der Eisenbahnstation, begegnet war, ihr, der Geheimnisvollen, der Reizenden, der Liebevollen, Glücksuchenden und -spendenden, aber nicht der hartherzig Quälenden, als die sie ihm aus der letzten Minute ins Gedächtnis kam.
Er suchte sich der seligsten Minuten mit ihr zu erinnern, doch diese waren ihm auf ewig vergiftet. Er rief sie sich nur als die Triumphierende ins Gedächtnis zurück, welche ihre Drohung ausgeführt hatte, die niemand nützte und durch Reue nicht auszugleichen war. Den Zahnschmerz fühlte er nicht mehr, aber Schluchzen verzerrte sein Gesicht.
Nachdem er zweimal wortlos an den Säcken vorübergeschritten war, wandte er sich, nachdem er seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte, ruhig an Sergey Iwanowitsch.
„Habt Ihr keine Depesche seit der gestrigen erhalten?[453] Der Feind ist zwar zum drittenmal geschlagen, aber morgen erwartet man die Entscheidungsschlacht.“
Nachdem sie noch über die Proklamation des Königs Milan und die weittragenden Folgen, welche dieselbe haben könne, gesprochen hatten, trennten sich beide nach dem zweiten Glockensignal und gingen nach ihren beiderseitigen Waggons.
Da Sergey Iwanowitsch nicht wußte, wann er Moskau würde verlassen können, hatte er nicht an seinen Bruder telegraphiert, daß man ihn abhole.
Lewin war nicht daheim, als Katawasoff und Sergey Iwanowitsch in einem kleinen Tarantaß, der auf der Station gemietet worden war, staubbedeckt wie Araber um zwölf Uhr mittags vor der Freitreppe des Herrenhauses von Pokrowskoje vorfuhren.
Kity, welche mit ihrem Vater und der Schwester auf dem Balkon gesessen hatte, erkannte den Schwager und eilte hinunter, ihn zu bewillkommen.
„Wie unrecht von euch, uns nicht Nachricht zu geben,“ sagte sie Sergey Iwanowitsch die Hand reichend und ihm die Stirn darbietend.
„Wir sind ganz wohlbehalten hierher gelangt und haben euch nicht erst Umstände gemacht,“ antwortete Sergey Iwanowitsch. „Ich bin so voll Staub, daß ich mich fürchte, jemand anzurühren. Ich war auch so beschäftigt, daß ich nicht einmal wußte, wann ich mich würde losmachen können. Aber ihr haltet es nach altgewohnter Weise,“ lächelte er, „ihr freut euch eures stillen Glückes fern von Zeitläuften in eurem stillen Heim. Da hat sich auch mein Freund Fjodor Wasiljewitsch endlich mit aufgemacht.“
„Ich bin indessen kein Neger, sondern werde mich waschen — und dann einem Menschen ähnlich sehen,“ sagte Katawasoff mit seinem gewohnten Humor, einen Händedruck wechselnd und mit seinen schimmernden Zähnen in dem geschwärzten Gesicht eigentümlich lächelnd.
„Mein Konstantin wird sich sehr freuen. Er ist nach dem Vorwerk hinaus und muß bald kommen.“
„Er beschäftigt sich nur mit der Landwirtschaft; so macht[454] man es eben hier,“ sagte Katawasoff, „bei uns in der Stadt aber ist außer dem serbischen Kriege auch nichts weiter zu sehen. Wie geht es denn meinem Freunde? Was macht er? Ein wenig Sonderling, nicht?“ —
„Nun, ja, ein wenig;“ antwortete Kity etwas verlegen werdend, mit einem Blick auf Sergey Iwanowitsch, „doch ich will nach ihm schicken. Auch Papa ist bei uns auf Besuch. Er ist erst unlängst aus dem Ausland angekommen.“
Nachdem Kity befohlen hatte, nach Lewin zu schicken, die staubbedeckten Gäste zur Toilette zu führen, den einen in das Kabinett, den anderen in Dollys ehemaliges Zimmer, und ein Frühstück für sie zu servieren, eilte sie, wieder in dem Vollbesitz hurtiger Beweglichkeit, dessen sie in der Zeit ihrer Schwangerschaft beraubt gewesen war, auf den Balkon hinauf.
„Es ist Sergey Iwanowitsch und Katawasoff, der Professor,“ sagte sie.
„O weh,“ sagte der Fürst.
„Er ist aber sehr liebenswürdig, Papa, und Konstantin hat ihn sehr lieb,“ sagte Kity lächelnd, ihm gleichsam zuredend, indem sie den Ausdruck von Ironie auf dem Gesicht des Vaters bemerkte.
„Nun, meinetwegen.“
„Geh doch zu ihnen Herzchen,“ wandte sich Kity zu ihrer Schwester, „und unterhalte sie. Sie haben Stefan auf der Station gesehen, er befindet sich wohl. Ich aber will zu Mita laufen. Wie unangenehm aber, ich habe seit dem Thee nicht wieder angelegt. Der Kleine wird jetzt wach geworden sein und wahrscheinlich schreien,“ und mit schnellen Schritten ging sie, den Andrang der Milch verspürend, nach der Kinderstube.
Sie hatte in der That den Andrang der Milch nicht bloß vermutet — sie legte das Kind noch an — sondern kannte an dem Andrang der Milch bei ihr die Zeit des Bedürfnisses bei demselben genau.
Sie wußte, daß der Kleine schrie, noch bevor sie zur Kinderstube gelangt war. Und wirklich schrie er. Sie vernahm seine Stimme und beschleunigte ihren Schritt, aber je schneller sie ging, um so lauter schrie das Kind. Seine Stimme war gut, gesund, nur hungrig und ungeduldig.
„Schreit es schon lange?“ frug Kity eilig die Kindermuhme,[455] sich auf einen Stuhl setzend und zum Anlegen vorbereitend. „Gebt es schnell her. Ach, Muhme, wie langweilig Ihr doch seid; nun, bindet doch das Häubchen später!“
Das Kind zappelte schreiend vor Gier.
„Das geht aber nicht, Matuschka,“ sagte Agathe Michailowna, die fast stets in der Kinderstube zugegen war. „Man muß es hübsch ordentlich putzen;“ „Eia, eia“, sang sie über dem Kinde, ohne von der Mutter Notiz zu nehmen.
Die Kinderfrau trug das Kind zu der Mutter. Agathe Michailowna folgte ihm mit vor Zärtlichkeit leuchtenden Zügen.
„Er weiß es ja, er weiß es; glaubt mir bei Gott, Matuschka Katharina Aleksandrowna, er hat mich erkannt!“ rief Agathe Michailowna dem Kinde zu.
Doch Kity hörte ihre Worte nicht. Ihre Ungeduld war ebenso hoch gestiegen, wie die des Kindes, und vor Ungeduld wollte die Sache lange nicht von statten gehen. Das Kind faßte nicht, wo es fassen sollte und wurde ungebärdig.
Endlich aber, nach einem verzweifelten, erstickten Schrei und hohlklingenden Schmatzen war es gelungen, und Mutter wie Kind fühlten sich gleichzeitig befriedigt und wurden still.
„Er ist doch ganz in Schweiß gebadet, der arme Kleine,“ sprach Kity, das Kind befühlend. „Weshalb denkt Ihr denn, daß das Kind euch kennt?“ fügte sie hinzu, seitwärts auf die verschmitzt, wie ihr schien, unter dem emporgerückten Häubchen hervorschauenden Äuglein des Kindes, die taktmäßig schwellenden Bäckchen und sein Ärmchen mit der roten Hand blickend, mit dem es kreisende Bewegungen machte. „Kann nicht sein! Wenn es schon jemand erkännte, so müßte es mich erkennen,“ sagte Kity auf die Versicherung Agathe Michailownas hin und lächelte.
Sie lächelte darüber, daß sie, wenn sie auch sagte, es könne noch niemand erkennen, in ihrem Herzen wußte, es kenne nicht nur Agathe Michailowna, sondern wisse und verstehe alles, wisse und verstehe noch mehr von Dingen, die niemand kenne, und die nur sie, die Mutter selbst, nur dank dem Kinde kennen lernte und begriff. Für Agathe Michailowna, die Kinderfrau, den Onkel und selbst ihren Vater war der kleine Mitja nur ein lebendiges Wesen, welches für sich lediglich materielle Pflege verlangte, aber für die Mutter war es schon längst[456] ein Geschöpf mit Charakter, in dem sich bereits eine ganze Geschichte seelischer Beziehungen abgespielt hatte.
„Er erwacht, gebe Gott, daß Ihr es selbst seht! Wenn ich es so mache, glänzt er nur so auf, der Liebling. Er glänzt so auf wie der helle Tag,“ sprach Agathe Michailowna.
„Nun gut, gut: wir werden ja dann sehen,“ flüsterte Kity, „geht jetzt; der Kleine schläft ein.“
Agathe Michailowna ging auf den Zehen hinaus, die Kinderfrau ließ die Gardinen herab, verscheuchte die Fliegen aus dem nesseltuchenen Wiegenvorhang des Bettchens und eine Bremse, die sich am Fensterrahmen stieß und setzte sich, mit einem welken Birkenzweig der Mutter und dem Kinde zufächelnd.
„Die Hitze, die Hitze; wenn doch Gott Regen gäbe,“ sprach sie.
„Ja, ja, sch—sch—sch,“ antwortete Kity nur, das dralle Ärmchen, welches Mitja noch immer leise bewegte indem er die Äuglein bald öffnete, bald schloß, leicht schüttelnd und zärtlich drückend.
Dieses Händchen machte Kity unentschlossen; sie wollte es küssen, scheute sich aber, es zu thun, um das Kind nicht zu wecken. Das Ärmchen hörte endlich auf, sich zu bewegen und die Äuglein schlossen sich. Nur bisweilen erhob das Kind, seine Thätigkeit fortsetzend, die langen gebogenen Wimpern und blickte die Mutter mit seinen in der Dämmerung schwarz erscheinenden, feuchtschimmernden Augen an.
Die Kinderfrau hörte auf zu fächeln und begann zu träumen. Von oben wurde das Lachen der Stimme des alten Fürsten und Katawasoffs vernehmbar.
„Sie sind auch ohne mich in Unterhaltung gekommen,“ dachte Kity, „aber es ist doch ärgerlich, daß Konstantin nicht da ist. Er wird wohl wieder nach dem Bienengarten gegangen sein. Obwohl ich beklage, daß er so oft dort ist, freue ich mich doch auch, denn es zerstreut ihn. Er ist jetzt viel heiterer und angenehmer geworden, als er im Frühjahr war. War er doch sonst immer so finster und peinigte sich, daß es[457] mir recht bang um ihn wurde. Und wie komisch er ist!“ flüsterte sie lächelnd.
Sie wußte, was ihren Mann quälte; es war sein Unglaube. Obwohl Kity, wenn man sie gefragt hätte, ob sie überzeugt sei, daß er, im Falle seines Unglaubens im ewigen Leben der Vernichtung anheimfallen werde, hätte einverstanden damit sein müssen, daß er untergehe — so bildete sein Unglaube doch kein Unglück in ihren Augen, und sie gedachte, obwohl sie sich zugestand, daß es für den Ungläubigen kein Seelenheil geben könne, und die Seele ihres Mannes über alles in der Welt liebend, mit Lächeln seines Unglaubens, und sagte sich selbst, er sei komisch.
„Wozu studiert er ein ganzes Jahr hindurch nur Philosophie,“ dachte sie. „Wenn dies alles in jenen Büchern geschrieben steht, dann kann er sie auch verstehen. Wäre Unrichtiges darin, wozu sollte er sie dann lesen? Er selbst sagt, daß er glauben möchte. Weshalb glaubt er dann nicht? Gewiß deshalb, weil er zu viel denkt? Aber er denkt zu viel wegen seiner einsamen Lebensweise. Er ist stets, stets einsam. Mit uns kann er freilich nicht von allem reden. Ich denke aber, der Besuch wird ihm willkommen sein, besonders Katawasoff. Er liebt es, mit ihm zu disputieren,“ dachte sie und versetzte sich dann sogleich in den Gedanken, wo sie gerade Katawasoff am bequemsten zum Schlafen unterbringen könne — separat oder zusammen mit Sergey Iwanowitsch? Und dann kam ihr plötzlich wieder ein Gedanke, der sie vor Aufregung erzittern ließ und selbst Mitja erschreckte, der sie dafür ernst anblickte. „Die Wäscherin scheint die Wäsche noch nicht gebracht zu haben und für die Gastbetten ist noch keine Bettwäsche da. Wenn man da nicht anordnet, wird Agathe Michailowna dem Sergey Iwanowitsch gewöhnliche Wäsche geben,“ und bei diesem Gedanken stieg Kity das Blut ins Gesicht. „Ja, ich muß es anordnen,“ beschloß sie, und besann sich dann, wieder zu ihrem vorigen Gedanken zurückkehrend, daß etwas Wichtiges doch noch nicht bis zum Schluß von ihr überdacht sei. Sie sann nun nach, was es gewesen war. „Ach ja, Konstantin ist ungläubig!“ sagte sie, abermals lächelnd. „Nun, also ungläubig! Mag er lieber stets so bleiben, als so werden, wie Madame Stahl war, oder ich im[458] Auslande einmal werden wollte. Nein er kann nicht mehr heucheln!“ Ein Zug von seiner Güte tauchte aus jüngster Zeit lebendig vor ihr auf.
Vor vierzehn Tagen war ein reuiges Schreiben Stefan Arkadjewitschs an Dolly angekommen. Stefan beschwor diese darin, seine Ehre zu retten, und ihr Gut zu verkaufen, damit er seine Schulden bezahlen könne.
Dolly war in Verzweiflung; sie haßte ihren Mann, verachtete und beklagte ihn, und entschloß sich zur Scheidung, wollte sich von ihm lossagen, willigte aber schließlich doch in den Verkauf eines Teils ihres Gutes ein. Und nun vergegenwärtige sich Kity mit unwillkürlichem, gerührtem Lächeln die Ratlosigkeit ihres Gatten, seine mehrmaligen unbeholfenen Anläufe in dieser Sache, die ihm am Herzen lag, und wie er endlich, als einziges Mittel, Dolly zu helfen, ohne sie zu verletzen, den Ausweg erdacht hatte, Kity vorzuschlagen, sie möchte ihr Teil an dem Vermögen — sie selbst hatte vorher gar nicht hieran gedacht — hingeben.
„Was wäre das für ein Ungläubiger? Mit solchem Herzen, solcher Besorgnis, einen Menschen zu verletzen, ja nur ein Kind! Alles thut er für seine Nächsten, nichts für sich! Sergey Iwanowitsch denkt, es sei Konstantins Pflicht, für ihn den Verwalter zu spielen. Auch seine Schwester denkt so. Jetzt befindet sich Dolly mit ihren Kindern unter seiner Vormundschaft. Alle die Bauern, welche täglich zu ihm kommen, ist er gleichsam verpflichtet zu bedienen. Bleibe du nur so,“ fuhr sie fort, Mitja der Kinderfrau übergebend und des Kindes Wange mit ihren Lippen berührend.
Seit jener Minute, da Lewin beim Anblick des geliebten sterbenden Bruders zum erstenmal auf die Frage des Lebens, wie des Todes durch jene — wie er sie nannte — neuen Überzeugungen hindurchblickte, die, unmerklich für ihn, während der Zeit von seinem zwanzigsten bis zum vierunddreißigsten Jahre, seine Überzeugungen aus der Kinderzeit wie die seines Jünglingsalters ausgelöst hatten, erschrak er nicht so sehr vor dem Tode, als vor einem Leben, über das er nicht die geringste[459] Kenntnis, woher es stamme, warum es sei und was es sei, besäße.
Der Organismus, die Verrichtungen desselben, die Unerschöpflichkeit der Materie, das Gesetz der Erhaltung der Kraft, die Entwicklung — so lauteten die Begriffe — die für seinen alten Glauben eingetreten waren.
Diese Worte und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen waren recht gut für Verstandeszwecke, für das Leben aber ergaben sie nichts und Lewin fühlte sich plötzlich in der Lage eines Menschen, der einen warmen Pelz für einen Kattunanzug vertauscht hat, und zum erstenmal in der Kälte untrüglich, nicht durch logische Erwägungen, sondern in seiner ganzen Wesenheit davon überzeugt wird, daß er geradezu nackt und einem unvermeidlichen, qualvollen Untergang verfallen sei.
Seit jener Minute hatte Lewin, ohne sich indessen davon Rechenschaft zu geben, und indem er sein Leben wie bisher fortsetzte, fortwährend diese Angst über sein Nichtwissen empfunden.
Außerdem aber empfand er voll Unruhe, daß das, was er seine Überzeugungen nannte, nicht nur Unwissenheit war, sondern eine Richtung im Denken, unter welcher ihm die Erkenntnis dessen, was ihm nötig war, unmöglich wurde.
In der ersten Zeit hatte seine Heirat, sowie ungekannte Freuden und Pflichten die er dabei kennen lernte, diese Gedanken vollständig in ihm erstickt, aber seit kurzem, nach der Niederkunft seiner Frau, während er müßig in Moskau gelebt hatte, war bei Lewin immer häufiger, und immer nachdrücklicher, diese Frage, eine Entscheidung verlangend, aufgetaucht. Die Frage bestand für ihn hierin: „Wenn ich jene Antworten nicht anerkenne, die das Christentum auf die Fragen über mein Leben erteilt, welche Antworten erkenne ich dann an?“ Und in dem gesamten Arsenal seiner Überzeugungen vermochte er weder die geringste Antwort zu finden, noch etwas, was einer solchen ähnlich gewesen wäre.
Er befand sich in der Lage eines Menschen, der Nahrung sucht in Spielzeugmagazinen oder Waffenläden.
Unwillkürlich und ihm selbst unbewußt suchte er jetzt in jedem Buche, bei jedem Gespräch, in jedem Menschen Beziehungen zu diesen Fragen und Lösungen derselben.
Am meisten setzte ihn hierbei der Umstand in Zweifel, daß die Mehrzahl der Menschen seines Kreises und Alters, die doch ebenso wie er, frühere Überzeugungen mit eben solchen neuen vertauscht hatten, wie er sie besaß, hierin kein Unglück sehen, sondern vollkommen zufrieden und ruhig waren, und so kam es, daß Lewin neben der Hauptfrage auch noch Nebenfragen quälten. Ob diese Menschen aufrichtig waren? Ob sie sich nicht verstellten? Oder ob sie etwa anders als er, klarer, die Antworten aufgefaßt hatten, welche die Wissenschaft auf die ihn beschäftigenden Fragen gab? Geflissentlich studierte er die Meinungen dieser Menschen und die Bücher, welche diese Antworten gaben.
Eins, was er seit der Zeit, seit der ihn diese Fragen beschäftigt, gefunden hatte, war dies, daß er sich geirrt habe in jener Annahme, die noch auf den Erinnerungen aus dem Jünglingskreis auf der Universität beruhte, die Religion habe sich überlebt und existiere gar nicht mehr. Sowohl der alte Fürst, wie Lwoff, den er so lieb gewonnen hatte, und Sergey Iwanowitsch und alle Frauen, auch sein Weib, glaubten so, wie er in seiner Kindheit geglaubt hatte; neunzig Hundertstel des russischen Volkes, ja, jenes ganze Volk, dessen Leben ihm die höchste Achtung einflößte, glaubte.
Ein Zweites war dies, daß er sich nach der Lektüre vieler Bücher überzeugt hatte, die Menschen, die mit ihm gemeinsame Anschauungen hatten, könnten sich unter diesen nichts anderes denken, und verneinten jene Fragen einfach, ohne sie zu erklären, jene Fragen, ohne deren Beantwortung er — er fühlte es — nicht leben könne, und bemühten sich, ganz andere dafür zu lösen, die seine Fragen gar nicht interessieren konnten, wie zum Beispiel die über die Entwicklung der Organismen, über die mechanischen Offenbarungen der Seele u. s. w.
Außerdem hatte sich aber noch während der Niederkunft seiner Frau etwas für ihn Ungewöhnliches ereignet. Er hatte dabei, ohne Glauben, zu beten begonnen und während der Minute in der er betete, auch geglaubt. Diese Minute war indessen vorübergegangen und er vermochte jener Stimmung von damals in seinem Leben nicht wieder stattzugeben.
Er vermochte nicht zuzugestehen, daß er damals das Rechte erkannt habe, jetzt aber irre; weil ihm, sobald er ruhig darüber[461] nachzudenken begann, alles in Trümmer fiel. Er vermochte auch das nicht zuzugestehen, daß er damals geirrt habe, weil er seine seelische Stimmung von damals hochschätzte, während, indem er sie für eine Folge seiner Schwachheit anerkannte, jene Minuten entweiht haben würde.
Er befand sich in einer qualvollen Disharmonie mit sich selbst und spannte alle Geisteskräfte an, aus derselben herauszukommen.
Diese Gedanken peinigten und quälten ihn bald mehr, bald weniger, nie aber verließen sie ihn ganz. Er las und dachte, und je mehr er las und sann, desto weiter entfernt von dem verfolgten Ziele fühlte er sich.
Nachdem er sich in jüngster Zeit in Moskau und auf dem Dorfe überzeugt hatte, daß er bei den Materialisten keine Antwort finden werde, las er immer aufs neue wieder Plato und Spinoza, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, die Philosophen, welche das Leben nicht materialistisch erklärten. Diese Ideen erschienen ihm fruchtbringend, mochte er nun lesen, oder selbst Gegengründe gegen die Lehren anderer aussinnen, insbesondere gegen die materialistischen. Doch kaum hatte er gelesen und sich selbst eine Antwort auf die Fragen ausgedacht, da wiederholte sich bei ihm stets ein und dasselbe. Indem er der gegebenen Bestimmung unklarer Begriffe, wie „Geist, Wille, Freiheit, Substanz“ folgte und absichtlich in die Wörterfalle ging, die ihm die Philosophen oder auch er selbst sich gestellt hatte, begann er einigermaßen zu begreifen.
Aber er brauchte nur den künstlichen Gedankengang zu vergessen, und sich zu dem zu wenden, was im Leben befriedigte, wenn er dem gegebenen Faden folgend, nachdachte — und plötzlich stürzte der ganze kunstvolle Bau zusammen wie ein Kartenhaus, und es wurde ihm klar, daß der Bau aus denselben Worten bestand, die nur umgestellt, und unabhängig waren von Etwas, das im Leben viel bedeutungsvoller war, als der Verstand.
Bei der Lektüre Schopenhauers setzte er einmal an Stelle des Begriffs eigner Wille, den der Liebe, und diese neue Philosophie machte ihm zwei Tage lang, so lange er sich mit[462] ihr beschäftigte, Vergnügen. Sie fiel aber gleichsam zusammen, als er darauf aus dem Leben heraus auf sie blickte, und es zeigte sich wieder jenes kattunene Gewand, das nicht warm hielt.
Sein Bruder Iwanowitsch riet ihm, die theologischen Werke Chomjakoffs zu lesen. Lewin las den zweiten Band derselben und war, ungeachtet der ihn anfangs abstoßenden, polemischen, eleganten und scharfsinnigen Diktion, überrascht von Chomjakoffs Lehrmeinung über die Kirche. Ihn überraschte anfangs die Idee, daß die Erlangung der göttlichen Wahrheiten dem Menschen nicht verliehen sei, sondern nur einer Gemeinschaft von Menschen, vereint in der Liebe — der Kirche.
Er freute sich bei dem Gedanken, wie viel leichter es wäre, an eine vorhandene, gegenwärtig lebendige Kirche zu glauben, welche alle Glaubensbekenntnisse der Menschen in sich begreife, und Gott zum Haupte habe, infolge dessen aber heilig und unfehlbar sei, und von ihr nun den Glauben an Gott erst zu empfangen, den an die Schöpfung, den Sündenfall, und die Erlösung — als wenn man mit Gott, dem weit entfernten, geheimnisvollen Gott, der Schöpfung &c. begänne.
Als er nun aber dann die Kirchengeschichte eines katholischen und die eines rechtgläubigen Schriftstellers las und gewahrte, daß beide Kirchen, jede unfehlbar in ihrem Wesen, sich gegenseitig negierten, da verzweifelte er auch an Chomjakoffs Kirchenlehre und das ganze Gebäude wurde von dem gleichen Staub bedeckt, wie die philosophischen Gebäude.
Während dieses ganzen Frühlings hatte er so mit sich selbst im Kampfe gelegen und schreckliche Augenblicke durchlebt.
„Ohne zu wissen, was ich bin und warum ich hier bin — kann man nicht leben! Erfahren aber kann ich es nicht, folglich kann ich nicht leben,“ sprach Lewin zu sich selbst. „In der Unendlichkeit der Zeit, der Unendlichkeit des Stoffes, der Unendlichkeit des Raumes bildet sich die organische Zelle; dieses Bläschen wird eine Zeitlang bestehen und dann zerplatzen; — das bin ich.“
Dies bildete das einzige Resultat jahrhundertelanger menschlicher Denkarbeit nach dieser Richtung.
Es war die letzte Überzeugung, auf welcher sich alle Forschungen des menschlichen Denkens in fast allen ihren Ausläufern[463] aufbauten. Es war die herrschende Überzeugung und Lewin machte dieselbe vor allen anderen Erklärungen als die immer noch klarste, unwillkürlich und ohne zu wissen wann und wie, zu der seinigen.
Aber dies war nicht nur falsch, sondern vielmehr der hartherzige Hohn einer bösen Macht, einer so bösen, widrigen, daß er sich ihr nicht unterordnen konnte.
Man mußte sich befreien von dieser Macht, und die Befreiung lag in den Händen eines jeden. Es galt, diese Abhängigkeit vom Bösen zu beseitigen, und dafür gab es nur ein Mittel — den Tod.
Als glückliches Familienoberhaupt, als ein gesunder Mensch, war Lewin mehrmals dem Selbstmord so nahe, daß er die Schnur versteckte, damit er sich nicht an ihr hing, und sich fürchtete, mit der Flinte zu gehen, um sich nicht zu erschießen.
Doch Lewin erschoß sich weder, noch hing er sich, sondern lebte weiter.
Solange Lewin darüber nachdachte, was er sei und wozu er lebe, fand er keine Antwort und geriet in Verzweiflung, doch als er aufgehört hatte, sich selbst darnach zu fragen, erfuhr er gewissermaßen, was er sei und wozu er lebte, weil er fleißig und zweckmäßig thätig war und lebte. Gerade in dieser jüngsten Zeit hatte er bei weitem konsequenter und zweckbewußter, als früher gelebt.
Im Anfang des Juli aufs Dorf zurückgekehrt, widmete er sich wieder seinen gewöhnlichen Arbeiten. Die Landwirtschaft, die Beziehungen zu den Bauern und Nachbarn, die Hauswirtschaft, die Angelegenheiten seines Bruders und der Schwester, die in seinen Händen lagen, sein Verhältnis zu den Verwandten, zu seinem Weibe, die Sorge um sein Kind, die ihm neue Bienenjagd, der er sich seit dem heurigen Frühling gewidmet hatte, alles das nahm seine Zeit in Anspruch.
Diese Beschäftigungen interessierten ihn nicht deshalb, weil er sie vor sich selbst mit gewissen allgemeinen Anschauungen rechtfertigen konnte, so wie er dies früher gethan hatte, sondern im Gegenteil hatte er jetzt, wo er einerseits durch das Mißlingen seiner einstigen Unternehmungen für das allgemeine[464] Wohl ernüchtert worden, andererseits von seinen Ideen und der Menge der Geschäfte viel zu sehr in Anspruch genommen war, die von allen Seiten auf ihn einstürmten, alle Gedanken über das allgemeine Wohl fahren lassen, und diese Dinge interessierten ihn nur, wie ihm schien, deshalb, weil er eben thun mußte, was er that — weil er nicht anders konnte. Wenn er sich früher bemühte, etwas zu thun (dies hatte fast von seiner Kindheit auf angefangen und sich bis zu seiner vollen Mannbarkeit mehr und mehr entwickelt) was eine Wohlthat für jedermann, für die Menschheit, für Rußland, für das ganze Dorf gewesen wäre — so hatte er bemerkt, daß das Nachdenken darüber ihm angenehm, die Thätigkeit selbst aber stets eine nicht damit harmonierende gewesen war; es hatte die volle Zuversicht dazu, daß