The Project Gutenberg EBook of Umwege, by Hermann Hesse

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Title: Umwege

Author: Hermann Hesse

Release Date: October 6, 2019 [EBook #60437]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

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Umwege

Erzählungen
von
Hermann Hesse

S. Fischer, Verlag, Berlin
1912

Signet

Neunte Auflage.
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1912 S. Fischer, Verlag, Berlin.

Inhalt

Ladidel9
Die Heimkehr88
Der Weltverbesserer149
Emil Kolb211
Pater Matthias265

Ladidel

Erstes Kapitel

Der junge Herr Alfred Ladidel wußte von Kind auf das Leben leicht zu nehmen. Es war sein Wunsch gewesen, sich den höheren Studien zu widmen, doch als er mit einiger Verspätung die zu den oberen Gymnasialklassen führende Prüfung nur notdürftig bestanden hatte, entschloß er sich nicht allzuschwer, dem Rat seiner Lehrer und Eltern zu folgen und auf diese Laufbahn zu verzichten. Und kaum war dies geschehen und er als Lehrling in der Schreibstube eines Notars untergebracht, so lernte er einsehen, wie sehr Studententum und Wissenschaft doch meist überschätzt werden und wie wenig der wahre Wert eines Mannes von bestandenen Prüfungen und akademischen Semestern abhänge. Gar bald schlug diese Ansicht Wurzel in ihm, überwältigte sein Gedächtnis und veranlaßte ihn manchmal unter Kollegen zu erzählen, wie er nach reiflichem Überlegen gegen den Wunsch der Lehrer diese scheinbar einfachere Laufbahn erwählt habe, und daß dies der klügste und wertvollste Entschluß seines Lebens gewesen sei, wenn er ihn auch ein beträchtliches Opfer gekostet habe. Seinen Altersgenossen, die in der Schule geblieben waren und die er jeden Tag mit ihren Büchermappen auf der Gasse antraf, nickte er mit Herablassung zu und freute sich, wenn er sie vor ihren Lehrern die Hüte ziehen sah, was er selber längst nimmer tat. Tagsüber stand er geduldig unter dem Regiment seines Notars, der es den Anfängern nicht leicht machte, und eignete sich mit Geschick manche liebliche und stattliche Kontorgewohnheit an, die ihn freute, zierte und schon jetzt äußerlich den älteren Kollegen gleichstellte. Am Abend übte er mit Kameraden die Kunst des Zigarrenrauchens und des sorglosen Flanierens durch die Gassen, auch trank er im Notfall unter seinesgleichen ein Glas Bier schon mit Anmut und nachlässiger Ruhe, obwohl er seine von der Mama erbettelten Taschengelder lieber zum Konditor trug, wie er denn auch im Kontor, wenn die andern zur Vesper ein Butterbrot mit Most genossen, stets etwas Süßes verzehrte, sei es nun an schmalen Tagen nur ein Brötchen mit Eingemachtem oder in reichlichern Zeiten ein Mohrenkopf, Butterteiggipfel oder Makrönchen.

Indessen hatte er seine erste Lehrzeit abgebüßt und war mit Stolz nach der Hauptstadt verzogen, wo es ihm überaus wohl gefiel. Erst hier kam der höhere Schwung seiner Natur zur vollen Entfaltung, und wenn er bisher immer noch eine Sehnsucht und heimliche Begierde in sich getragen hatte, so gedieh nun sein Wesen völlig zu Glanz und heiterem Glücke. Schon früher hatte sich der Jüngling zu den schönen Künsten hingezogen gefühlt und im Stillen nach Schönheit und Ruhm Begierde getragen. Jetzt galt er unter seinen jüngeren Kollegen und Freunden unbestritten für einen famosen Bruder und begabten Kerl, der in Angelegenheiten der feineren Geselligkeit und des Geschmacks als Führer galt und um Rat gefragt wurde. Denn hatte er schon als Knabe mit Kunst und Liebe gesungen, gepfiffen, deklamiert und getanzt, so war er in allen diesen schönen Übungen seither zum Meister geworden, ja er hatte neue dazu gelernt. Vor allem besaß er eine Gitarre, mit der er Lieder und spaßhafte Verslein begleitete und bei jeder Geselligkeit Ruhm und Beifall erntete, ferner machte er zuweilen Gedichte, die er aus dem Stegreif nach bekannten Melodien zur Gitarre vortrug, und ohne die Würde seines Standes zu verletzen, wußte er sich auf eine Art zu kleiden, die ihn als etwas Besonderes, Geniales kennzeichnete. Namentlich schlang er seine Halsbinden mit einer kühnen, freien Schleife, die keinem andern so gelang, und wußte sein hübsches braunes Haar höchst edel und kavaliermäßig zu kämmen. Wer den Alfred Ladidel sah, wenn er an einem geselligen Abend des Vereins Quodlibet tanzte und die Damen unterhielt, oder wenn er im Verein Fidelitas im Sessel zurückgelehnt seine kleinen lustigen Liedlein sang und dazu auf der am grünen Bande hängenden Gitarre mit zärtlichen Fingern harfte, und wie er dann abbrach und den lauten Beifall bescheidentlich abwehrte und sinnend leise auf den Saiten weiterfingerte, bis alles stürmisch um einen neuen Gesang bat, der mußte ihn hochschätzen, ja beneiden. Da er außer seinem kleinen Monatsgehalt von Hause ein anständiges Sackgeld bezog, konnte er sich diesen gesellschaftlichen Freuden ohne Sorgen hingeben und tat es mit Zufriedenheit und ohne Schaden, da er immer noch trotz seiner Weltfertigkeit in manchen Dingen fast noch ein Kind geblieben war. So trank er noch immer lieber Himbeerwasser als Bier und nahm, wenn es sein konnte, statt mancher Mahlzeit lieber eine Tasse Schokolade und ein paar Stücklein Kuchen beim Zuckerbäcker. Die Streber und Mißgünstigen unter seinen Kameraden, an denen es natürlich nicht fehlte, nannten ihn darum das Baby und nahmen ihn trotz allen schönen Künsten nicht ernst. Dies war das einzige, was ihm je und je zu schaffen und betrübte Stunden machte.

Mit der Zeit kam dazu allerdings noch ein anderer Schatten, der leise doch immerhin düsternd über diesen hellen Lebensfrühling zog. Seinem Alter gemäß begann der junge Herr Ladidel den hübschen Mädchen sinnend nachzuschauen und war beständig in die eine oder andre verliebt. Das bereitete ihm anfänglich zwar ein neues, inniges Vergnügen, bald aber doch mehr Pein als Lust, denn während sein Liebesverlangen wuchs, sanken sein Mut und Unternehmungsgeist auf diesem Gebiete immer mehr. Wohl sang er daheim in seinem Stüblein zum Saitenspiel viele verliebte und gefühlvolle Lieder, in Gegenwart schöner Mädchen aber entfiel ihm aller Mut. Wohl war er immer noch ein vorzüglicher Tänzer, aber seine Unterhaltungskunst ließ ihn ganz im Stiche, wenn er je versuchen wollte, einiges von seinen Gefühlen kundzugeben. Desto gewaltiger redete und sang und glänzte er dann freilich im Kreis seiner Freunde, allein er hätte ihren Beifall und alle seine Lorbeeren gerne für einen Kuß, ja für ein liebes Wort vom Munde eines schönen Mädchens hingegeben.

Diese Schüchternheit, die zu seinem übrigen Wesen nicht recht zu passen schien, hatte ihren Grund in einer Unverdorbenheit des Herzens, welche ihm seine Freunde gar nicht zutrauten. Diese fanden, wenn ihre Begierde es wollte, ihr Liebesvergnügen da und dort in kleinen Verhältnissen mit Dienstmädchen und Köchinnen, wobei es zwar verliebt zuging, von Leidenschaft und idealer Liebe oder gar von ewiger Treue und künftigem Ehebund aber keine Rede war. Und ohne dies alles mochte der junge Herr Ladidel sich die Liebe nicht vorstellen. Er verliebte sich stets in hübsche, wohlangesehene Bürgerstöchter und dachte sich dabei zwar wohl auch einigen Sinnengenuß, vor allem aber doch eine richtige, sittsame Brautschaft. An eine solche war nun bei seinem Alter und Einkommen nicht von ferne zu denken, was er wohl wußte, und da seine Sinne maßvoll beschaffen waren, begnügte er sich lieber mit einem zarten Schmachten und Notleiden, als daß er wie andere es mit einem Kochmädel probiert hätte.

Dabei sahen ihn, ohne daß er es zu bemerken wagte, die Mädchen gern. Ihnen gefiel sein hübsches Gesicht, seine Tanzkunst und sein Gesang, und sie hatten auch das schüchterne Begehren an ihm gern und fühlten, daß unter seiner Schönheit und zierlichen Bildung ein unverbrauchtes und noch halb kindliches Herz sich verbarg.

Allein von diesen geheimen Sympathien hatte er einstweilen nichts, und wenn er auch in der Fidelitas noch immer Bewunderung und Beliebtheit genoß, ward doch der Schatten tiefer und bänglicher und drohte sein bisheriges leichtes und lichtes Leben allmählich fast zu verdunklen. In solchen übeln Zeiten legte er sich mit gewaltsamem Eifer auf seine Arbeit, war zeitweilig ein musterhafter Notariatsgehilfe und bereitete sich abends mit Fleiß auf das Amtsexamen vor, teils um seine Gedanken auf andere Wege zu zwingen, teils um desto eher und sicherer in die ersehnte Lage zu kommen, als ein Werber, ja mit gutem Glück als ein Bräutigam auftreten zu können. Allerdings währten diese Zeiten niemals lange, da Sitzleder und harte Kopfarbeit seiner Natur nicht angemessen waren. Hatte der Eifer ausgetobt, so griff der Jüngling wieder zur Gitarre, spazierte zierlich und sehnsüchtig in den schönen hauptstädtischen Straßen oder schrieb Gedichte in sein Heftlein. Neuerdings waren diese meist verliebter und gefühlvoller Art, und sie bestanden aus Worten und Versen, Reimen und hübschen Wendungen, die er in Liederbüchlein da und dort gelesen und behalten hatte. Diese setzte er zusammen, ohne weiteres dazu zu tun, und so entstand ein sauberes Mosaik von gangbaren Ausdrücken beliebter Liebesdichter und andren naiven Plagiaten. Es bereitete ihm Vergnügen, diese Verslein mit leichter, sauberer Kanzleihandschrift ins Reine zu schreiben, und er vergaß darüber oft für eine Stunde seinen Kummer ganz. Auch sonst lag es in seiner glücklichen Natur, daß er in guten wie bösen Zeiten gern ins Spielen geriet und darüber Wichtiges und Wirkliches vergaß. Schon das tägliche Herstellen seiner äußeren Erscheinung gab einen hübschen Zeitvertreib, das Führen des Kammes und der Bürste durch das halblange braune Haar, das Wichsen und sonstige Liebkosen des kleinen, lichten Schnurrbärtchens, das Schlingen des Krawattenknotens, das genaue Abbürsten des Rockes und das Reinigen und Glätten der Fingernägel. Weiterhin beschäftigte ihn häufig das Ordnen und Betrachten seiner Kleinodien, die er in einem Kästchen aus Mahagoniholz verwahrte. Darunter befanden sich ein Paar vergoldeter Manschettenknöpfe, ein in grünen Sammet gebundenes Büchlein mit der Aufschrift »Vergißmeinnicht«, worein er seine nächsten Freunde ihre Namen und Geburtstage eintragen ließ, ein aus weißem Bein geschnitzter Federhalter mit filigran-feinen gotischen Ornamenten und einem winzigen Glassplitter, der – wenn man ihn gegen das Licht hielt und hineinsah – eine Ansicht des Niederwalddenkmals enthielt, des weiteren ein Herz aus Silber, das man mit einem unendlich kleinen Schlüsselchen erschließen konnte, ein Sonntagstaschenmesser mit elfenbeinerner Schale und eingeschnitzten Edelweißblüten, endlich eine zerbrochene Mädchenbrosche mit mehreren zum Teil aufgesprungenen Granatsteinen, welche der Besitzer später bei einer festlichen Gelegenheit zu einem Schmuckstück für sich selber verarbeiten zu lassen gedachte. Daß es ihm außerdem an einem dünnen, eleganten Spazierstöcklein nicht fehlte, dessen Griff den Kopf eines Windhundes darstellte, sowie an einer Busennadel in Form einer goldenen Leier, versteht sich von selbst.

Wie der junge Mann seine Kostbarkeiten und Glanzstücke verwahrte und wert hielt, so trug er auch sein kleines, ständig brennendes Liebesfeuerlein getreu mit sich herum, besah es je nachdem mit Lust oder Wehmut und hoffte auf eine Zeit, da er es würdig verwenden und von sich geben könne.

Mittlerweile kam unter den Kollegen ein neuer Zug auf, der Ladideln nicht gefiel und seine bisherige Beliebtheit und Autorität stark erschütterte. Irgendein junger Privatdozent der technischen Hochschule begann abendliche Vorlesungen über Volkswirtschaft zu halten, die namentlich von den Angestellten der Schreibstuben und niedern Ämter fleißig besucht wurden. Ladidels Bekannte gingen alle hin und in ihren Zusammenkünften erhoben sich nun feurige Debatten über soziale Angelegenheiten und innere Politik, an welchen Ladidel weder teilnehmen wollte noch konnte. Es wurden Vorträge gehalten und Bücher gelesen und besprochen, und ob er auch versuchte mitzutun und Interesse zu zeigen, es kam ihm das alles doch im Grunde der Seele als Streberei und Wichtigtuerei vor. Er langweilte und ärgerte sich dabei, und da über dem neuen Geiste seine früheren Künste von den Kameraden fast vergessen und kaum mehr geschätzt oder begehrt wurden, sank er mehr und mehr von seiner einstigen Höhe herab in ein ruhmloses Dunkel. Anfangs kämpfte er noch und nahm mehrmals eines von den dicken Büchern mit nach Hause, allein er fand sie hoffnungslos langweilig, legte sie mit Seufzen wieder weg und tat auf die Gelehrsamkeit wie auf den Ruhm Verzicht.

In dieser Zeit, da er den hübschen Kopf weniger hoch und Unzufriedenheit im Gemüte trug, vergaß er eines Freitags, sich rasieren zu lassen, was er immer an diesem Tage sowie am Dienstag zu besorgen pflegte. Darum trat er auf dem abendlichen Heimweg, da er längst über die Straße hinausgegangen war, wo sein Barbier wohnte, in der Nähe seines Speisehauses in einen bescheidenen Friseurladen, um das Versäumte nachzuholen; denn ob ihn auch Sorgen bedrückten, mochte er dennoch keiner Gewohnheit untreu werden. Auch war ihm die Viertelstunde beim Barbier immer ein kleines Fest; er hatte nichts dawider, wenn er etwa warten mußte, sondern saß alsdann vergnügt auf seinem Sessel, blätterte in einer Zeitung und betrachtete die mit Bildern geschmückten Anpreisungen von Seifen, Haarölen und Bartwichsen an der Wand, bis er an die Reihe kam und mit Genuß den Kopf zurücklegte, um die vorsichtigen Finger des Gehilfen, das kühle Messer und zuletzt die zärtliche Puderquaste auf seinen Wangen zu fühlen.

Auch jetzt flog ihn die gute Laune an, da er unter den im Winde klingenden Messingbecken weg den Laden betrat, den Stock an die Wand stellte und den Hut aufhängte, sich in den weiten Frisierstuhl lehnte und das Rauschen des schwach duftenden Seifenschaumes vernahm. Es bediente ihn ein junger Gehilfe mit aller Aufmerksamkeit, rasierte ihn, wusch ihn ab, hielt ihm den ovalen Handspiegel vor, trocknete ihm die Wangen, fuhr spielend mit der Puderquaste darüber und fragte höflich: »Sonst nichts gefällig?« Dann folgte er dem aufstehenden Gaste mit leisem Tritt, bürstete ihm den Rockkragen ab, empfing das wohlverdiente Rasiergeld und reichte ihm Stock und Hut. Das alles hatte den jungen Herrn in eine gütige und zufriedene Stimmung gebracht, er spitzte schon die Lippen, um mit einem wohligen Pfeifen auf die Straße zu treten, da hörte er den Friseurgehilfen, den er kaum angesehen hatte, fragen: »Verzeihen Sie, heißen Sie nicht Alfred Ladidel?«

Während er erstaunt die Frage bejahte, faßte er den Mann ins Auge und erkannte sofort seinen ehemaligen Schulkameraden Fritz Kleuber in ihm. Nun hätte er unter andern Umständen diese Bekanntschaft mit wenig Vergnügen anerkannt und sich gehütet, einen Verkehr mit einem Barbiergehilfen anzufangen, dessen er sich vor Kollegen zu schämen gehabt hätte. Allein er war in diesem Augenblick herzlich gut gestimmt, und außerdem hatte sein Stolz und Standesgefühl in dieser letzten Zeit bedeutend nachgelassen. Darum geschah es ebenso aus guter Laune wie aus einem Bedürfnis nach Freundschaftlichkeit und Anerkennung, daß er dem Friseur die Hand hinstreckte und rief: »Schau, der Fritz Kleuber! Wir werden doch noch Du zueinander sagen? Wie geht dir's?« Der Schulkamerad nahm die dargebotene Hand und das Du fröhlich an, und da er im Dienst war und jetzt keine Zeit hatte, verabredeten sie eine Zusammenkunft für den Sonntag Nachmittag.

Auf diese Stunde freute der Barbier sich sehr, und er war dem alten Kameraden dankbar, daß er trotz seinem vornehmern Stande sich ihrer Schulfreundschaft hatte erinnern mögen. Fritz Kleuber hatte für seinen Nachbarssohn und Klassengenossen immer eine gewisse Verehrung gehabt, da jener ihm in allen Lebenskünsten überlegen gewesen war, und Ladidels Eleganz und zierliche Erscheinung hatte ihm auch jetzt wieder tiefen Eindruck gemacht. Darum bereitete er sich am Sonntag, sobald sein Dienst getan war, mit Sorgfalt auf den Besuch vor, legte seine besten Kleider an und bewegte sich auf der Straße mit Vorsicht, um nicht staubig zu werden. Ehe er in das Haus trat, in dem Ladidel wohnte, wischte er die Stiefel mit einer Zeitung ab, dann stieg er freudig die Treppen empor und klopfte an die Türe, an der er Alfreds große Visitenkarte leuchten sah.

Auch dieser hatte sich ein wenig vorbereitet, da er seinem Landsmann und Jugendfreund gern einen glänzenden Eindruck machen wollte. Er empfing ihn mit großer Herzlichkeit, wennschon nicht ohne rücksichtsvolle Überlegenheit, und hatte einen vortrefflichen Kaffee mit feinem Gebäck auf dem Tische stehen, zu dem er Kleuber burschikos einlud.

»Keine Umstände, alter Freund, nicht wahr? Wir trinken unsern Kaffee zusammen und machen nachher einen Spaziergang, wenn dir's recht ist.«

Gewiß, es war ihm recht, er nahm dankbar Platz, trank Kaffee und aß Kuchen, bekam alsdann eine Zigarette und zeigte über diese schöne Gastlichkeit eine so unverstellte Freude, daß auch dem Notariatskandidaten das Herz aufging. Sie plauderten bald im alten heimatlichen Ton von den vergangenen Zeiten, von den Lehrern und Mitschülern und was aus diesen allen geworden sei. Der Friseur mußte ein wenig erzählen, wie es ihm seither gegangen und wo er überall herumgekommen sei, dann hub der andre an und berichtete ausführlich über sein Leben und seine Aussichten. Und am Ende nahm er die Gitarre von der Wand, stimmte und zupfte, fing zu singen an und sang Lied um Lied, lauter lustige Sachen, daß dem Friseur vor Lachen und Wohlbehagen die Tränen in den Augen standen. Sie verzichteten auf den Spaziergang und beschauten statt dessen einige von Ladidels Kostbarkeiten, und darüber kamen sie in ein Gespräch über das, was jeder von ihnen sich unter einer feinen und noblen Lebensführung vorstellte. Da waren freilich des Barbiers Ansprüche an das Glück um vieles bescheidener als die seines Freundes, aber am Ende spielte er ganz ohne Absicht einen Trumpf aus, mit dem er dessen Achtung und Neid gewann. Er erzählte nämlich, daß er eine Braut in der Stadt habe, und lud den Freund ein, bald einmal mit ihm in ihr Haus zu gehen, wo er willkommen sein werde.

»Ei sieh,« rief Ladidel, »du hast eine Braut! So weit bin ich leider noch nicht. Wisset ihr denn schon, wann ihr heiraten könnet?«

»Noch nicht ganz genau, aber länger als zwei Jahre warten wir nimmer, wir sind schon über ein Jahr versprochen. Ich habe ein Muttererbe von dreitausend Mark, und wenn ich dazu noch ein oder zwei Jahre fleißig bin und was erspare, können wir wohl ein eigenes Geschäft aufmachen. Ich weiß auch schon wo, nämlich in Schaffhausen in der Schweiz, da habe ich zwei Jahre gearbeitet, der Meister hat mich gern und ist alt und hat mir noch nicht lang geschrieben, wenn ich so weit sei, mir überlasse er seine Sache am liebsten und nicht zu teuer. Ich kenne ja das Geschäft gut von damals her, es geht recht flott und ist gerade neben einem Hotel, da kommen viele Fremde, und außer dem Geschäft ist ein Handel mit Ansichtskarten dabei.«

Er griff in die Brusttasche seines braunen Sonntagsrockes und zog eine Brieftasche heraus, darin hatte er sowohl den Brief des schaffhausener Meisters, wie auch eine in Seidenpapier eingeschlagene Ansichtskarte mitgebracht, die er seinem Freunde zeigte.

»Ah, der Rheinfall!« rief Alfred, und sie schauten das Bild zusammen an. Es war der Rheinfall in einer purpurnen bengalischen Beleuchtung, der Friseur beschrieb alles, kannte jeden Fleck darauf und erzählte davon und von den vielen Fremden, die das Naturwunder besuchen, kam dann wieder auf seinen Meister und dessen Geschäft, las seinen Brief vor und war voller Eifer und Freude, so daß sein Kamerad schließlich auch wieder zu Wort kommen und etwas gelten wollte. Darum fing er an vom Niederwalddenkmal zu sprechen, das er selber zwar nicht gesehen hatte, wohl aber ein Onkel von ihm, und er öffnete seine Schatztruhe, holte den beinernen Federhalter heraus und ließ den Freund durch das kleine Gläslein schauen, das die Pracht verbarg. Fritz Kleuber gab gerne zu, daß das eine nicht mindere Schönheit sei als sein roter Wasserfall, und überließ bescheiden dem andern wieder das Wort, der sich nun, sei es aus wirklichem Interesse oder zum Teil aus Höflichkeit, nach dem Gewerbe seines Gastes erkundigte. Das Gespräch ward lebhaft, Ladidel wußte immer neues zu fragen und Kleuber gab gewissenhaft und treulich Auskunft. Es war vom Schliff der Rasiermesser, von den Handgriffen beim Haarschneiden, von Pomaden und Ölen die Rede, und bei dieser Gelegenheit zog Fritz eine kleine Porzellandose mit feiner Pomade aus der Tasche, die er seinem Freunde und Wirt als ein bescheidenes Gastgeschenk anbot. Nach einigem Zögern nahm dieser die Gabe an, die Dose ward geöffnet und berochen, ein wenig probiert und endlich auf den Waschtisch gestellt. Hier nahm Alfred Gelegenheit, Fritz seine Toilettesachen vorzuweisen, die ohne Luxus doch vollkommen und wohlgewählt waren, nur mit der Seife wollte Kleuber nicht einverstanden sein und empfahl eine andere, welche zwar etwas weniger dufte, dafür aber keinerlei schädliche Dinge enthalte.

Mittlerweile war es Abend geworden, Fritz wollte bei seiner Braut speisen und nahm Abschied, nicht ohne sich für das Genossene freundlich zu bedanken. Auch Alfred fand, es sei ein schöner und wohlverbrachter Nachmittag gewesen, und sie wurden einig, sich am Dienstag oder Mittwoch abend wieder zu treffen.

Zweites Kapitel

Inzwischen fiel es Fritz Kleuber ein, daß er sich für die Sonntagseinladung und den Kaffee bei Ladidel revanchieren und auch ihm wieder eine Ehre antun müsse. Darum schrieb er ihm Montags einen Brief mit goldnem Rande und einer ins feine Papier gepreßten Taube und lud ihn ein, am Mittwoch abend mit ihm bei seiner Braut, dem Fräulein Meta Weber in der Hirschengasse, zu speisen. Darauf erhielt er mit der nächsten Post Ladidels elegante Visitenkarte mit den Worten »– dankt für die freundliche Einladung und wird um acht Uhr kommen.«

Auf diesen Abend bereitete Alfred Ladidel sich mit aller Sorgfalt vor. Er hatte sich über das Fräulein Meta Weber erkundigt und in Erfahrung gebracht, daß sie neben einer ebenfalls noch ledigen Schwester von einem lang verstorbenen Kanzleischreiber Weber abstammte, also eine Beamtentochter war, so daß er mit Ehren ihr Gast sein konnte. Diese Erwägung und auch der Gedanke an die noch ledige Schwester veranlaßten ihn, sich besonders schön zu machen und auch im voraus ein wenig an die Konversation zu denken.

Wohlausgerüstet erschien er gegen acht Uhr in der Hirschengasse und hatte das Haus bald gefunden, ging aber nicht hinein, sondern aus der Gasse auf und ab, bis nach einer Viertelstunde sein Freund Kleuber daherkam. Dem schloß er sich an, und sie stiegen hintereinander in die hochgelegene Wohnung der Jungfern hinauf. An der Glastüre empfing sie die Witwe Weber, eine schüchterne kleine Dame mit einem versorgten alten Leidensgesicht, das dem Notariatskandidaten wenig Frohes zu versprechen schien. Er grüßte sehr tief, ward vorgestellt und in den Gang geführt, wo es dunkel war und nach der Küche duftete. Von da ging es in eine Stube, die war so groß und hell und fröhlich, wie man es nicht erwartet hätte; und vom Fenster her, wo Geranien im Abendscheine tief wie Kirchenfenster leuchteten, traten munter die zwei Töchter der kleinen Witwe. Diese waren ebenfalls freudige Überraschungen und überboten das Beste, was sich von dem kleinen alten Fräulein erwarten ließ, um ein Bedeutendes. Sie trugen beide auf schlanken, kräftigen Gestalten kluge, frische Blondköpfe und waren ganz hell gekleidet.

»Grüßgott,« sagte die eine und gab dem Friseur die Hand.

»Meine Braut,« sagte er zu Ladidel, und dieser näherte sich dem hübschen Mädchen mit einer Verbeugung ohne Tadel, zog die hinterm Rücken versteckte Hand hervor und bot der Jungfer einen Maiblumenstrauß dar, den er unterwegs gekauft hatte. Sie lachte und sagte Dank und schob ihre Schwester heran, die ebenfalls lachte und hübsch und blond war und Martha hieß. Dann setzte man sich unverweilt an den gedeckten Tisch zum Tee und einer mit Kressensalat bekränzten Eierspeise. Während der Mahlzeit wurde fast kein Wort gesprochen, Fritz saß neben seiner Braut, die ihm Butterbrote strich, und die alte Mutter schaute mühsam kauend um sich, mit dem unveränderlichen kummervollen Blick, hinter dem es ihr recht wohl war, der aber auf Ladidel einen beängstigenden Eindruck machte, so daß er wenig aß und sich bedrückt und still verhielt wie in einem Trauerhaus.

Nach Tisch blieb die Mutter zwar im Zimmer, verschwand jedoch in einem Lehnstuhl am Fenster, dessen Gardinen sie zuvor geschlossen hatte, und schien zu schlummern. Die Jugend blühte dafür munter auf, und die Mädchen verwickelten den Gast in ein neckendes und kampflustiges Gespräch, wobei Fritz seinen Freund unterstützte. Von der Wand schaute der selige Herr Weber aus einem kirschholzenen Rahmen verwundert und bescheiden hernieder, außer seinem Bildnis aber war alles in dem behaglichen Zimmer hübsch und frohgemut, von den in der Dämmerung verglühenden Geranien bis zu den Kleidern und Schühlein der Mädchen und bis zu einer an der Schmalwand hängenden Mandoline. Auf diese fiel, als das Gespräch ihm anfing heiß zu machen, der Blick des Gastes, er äugte heftig hinüber und drückte sich um eine fällige Antwort, die ihm Not machte, indem er sich erkundigte, welche von den Schwestern denn musikalisch sei und die Mandoline spiele. Das blieb nun an Martha hängen, und sie wurde sogleich von Schwester und Schwager ausgelacht, da die Mandoline seit den verschollenen Zeiten einer längst verwehten Backfischschwärmerei her kaum mehr Töne von sich gegeben hatte. Dennoch bestand Herr Ladidel mit Ernst und Innigkeit darauf, Martha müsse etwas vorspielen, und bekannte sich als einen unerbittlichen Musikfreund. Da das Fräulein durchaus nicht zu bewegen war, griff schließlich Meta nach dem Instrument und legte es vor sie hin, und da sie abwehrend lachte und rot wurde, nahm Ladidel die Mandoline an sich und klimperte leise mit suchenden Fingern darauf herum.

»Ei, Sie können es ja,« rief Martha. »Sie sind ein Schöner, bringen andre Leute in Verlegenheit und können es nachher selber besser.«

Er erklärte bescheiden, das sei nicht der Fall, er habe kaum jemals so ein Ding in Händen gehabt, hingegen spiele er allerdings seit mehreren Jahren die Gitarre.

»Ja,« rief Fritz, »ihr solltet ihn nur hören! Warum hast du auch das Instrument nicht mitgebracht? Das mußt du nächstesmal tun, gelt!«

Darum baten auch die Schwestern dringlich, und der Gast begann einigen Glanz zu gewinnen und auszustrahlen. Zögernd erklärte er sich bereit, die Bitte zu erfüllen, wenn er wirklich den Damen mit seiner Stümperei ein bißchen Vergnügen machen könne. Er fürchte nur, man werde ihn hernach auslachen, und es werde dann Fräulein Martha sich doch noch als Virtuosin entpuppen, wofür er sie einstweilen immer noch zu halten geneigt sei.

Der Abend ging hin wie auf Flügeln. Als die beiden Jünglinge Abschied nahmen, erhob sich am Fenster klein und sorgenvoll die vergessene Mutter, legte ihre schmale, wesenlose Hand in die warmen, kräftigen Hände der Jungen und wünschte eine gute Nacht. Fritz ging noch ein paar Gassen weit mit Ladidel, der des Vergnügens und Lobes voll war.

In der still gewordenen Weberschen Wohnung wurde gleich nach dem Weggange der Gäste der Tisch geräumt und das Licht gelöscht. In der Schlafstube hielten wie gewöhnlich die beiden Mädchen sich still, bis die Mutter eingeschlafen war. Alsdann begann Martha, anfänglich flüsternd, das Geplauder.

»Wo hast du denn deine Maiblumen hingetan?«

»Du hast's ja gesehen, ins Glas auf dem Ofen.«

– »Ach ja. Gut Nacht!« –

»Ja, bist müd?«

»Ein bißchen.«

»Du, wie hat dir denn der Notar gefallen? Ein bissel geschleckt, nicht?«

»Warum?«

»Na, ich hab immer denken müssen, mein Fritz hätte Notar werden sollen und dafür der andre Friseur. Findest du nicht auch? Er hat so was Süßes.«

»Ja, ein wenig schon. Aber er ist doch nett, und hat Geschmack. Hast du seine Krawatte gesehen?«

»Freilich.«

»Und dann, weißt du, er hat etwas Unverdorbenes. Anfangs war er ja ganz schüchtern.«

»Er ist auch erst zwanzig Jahr. – Na, gut Nacht also!«

Fräulein Martha dachte noch eine Weile, bis sie einschlief, an den Alfred Ladidel. Er hatte ihr gefallen, und sie ließ einstweilen, ohne sich weiter preiszugeben, eine kleine Kammer in ihrem Herzen für den hübschen Jungen offen, falls er eines Tages Lust hätte, einzutreten und Ernst zu machen. Denn an einer bloßen Liebelei war ihr nicht gelegen, teils weil sie diese Vorschule schon vor Zeiten hinter sich gebracht hatte (woher noch die Mandoline rührte), teils weil sie nicht Lust hatte, noch lange neben der um ein Jahr jüngeren Meta unverlobt einherzugehen. Was an diesem Abend in ihr aufgegangen war, das tat nicht weh und brannte nicht, sondern hatte vorerst nur ein zartes, vertraulich stilles Licht wie die junge, zage Sonne eines Tages, der sich Zeit lassen kann und ohne Eile schön zu werden verspricht.

Auch dem Notariatskandidaten war das Herz nicht unbewegt geblieben. Zwar lebte er noch in dem dumpfen Liebesdurst eines kaum flügge Gewordnen und verliebte sich in jedes hübsche Töchterlein, das er zu sehen bekam; und es hatte ihm eigentlich Meta besser gefallen. Doch war diese nun einmal schon Fritzens Braut und nimmer zu haben, und Martha konnte sich neben jener wohl auch zeigen; so war Alfreds Herz im Laufe des Abends mehr und mehr nach ihrer Seite geglitten und trug ihr Bildnis mit dem hellen, schweren Kranz von blonden Zöpfen in unbestimmter Verehrung davon.

Bei solchen Umständen dauerte es nur wenige Tage, bis die kleine Gesellschaft wieder in der abendlichen Wohnstube beisammen saß; nur daß diesmal die jungen Herren später gekommen waren, da der Tisch der Witwe eine so häufige Bewirtung von Gästen nicht vermocht hätte. Dafür brachte Ladidel seine Gitarre mit, die ihm Fritz mit Stolz vorantrug, und in kurzem tönte und lachte das Zimmer vergnüglich in den warmen Abend hinaus, an der alten Mutter vorüber, die am Fenster ruhte und unbeschadet ihres Trauergesichtes ihre heimliche Freude und Verwunderung an der Lust der Jugend hatte. Der Musikant wußte es so einzurichten, daß zwar seine Kunst zur Geltung kam und reichen Beifall erweckte, er aber doch nicht allein blieb und alle Kosten trug. Denn nachdem er einige Lieder vorgetragen und in Kürze die Kunst seines Gesangs und Saitenspiels entfaltet hatte, zog er die andern mit ins Spiel und stimmte lauter Weisen an, die gleich beim ersten Takt von selber zum Mitsingen verlockten.

Das Brautpaar, von der Musik und der festlichen Stimmung erwärmt und benommen, rückte nahe zusammen und sang nur leise und strophenweise mit, dazwischen plaudernd und sich mit verstohlenen Fingern streichelnd, wogegen Martha dem Spieler gegenüber saß, ihn im Auge behielt und alle Verse freudig mitsang. So waren zwei Paare entstanden, ohne daß jemand dessen achtete, und war ein Anfang für Alfred und Martha gewonnen, den sie ohne Mißbrauch während dieser Abendstunde bis zum stillen Einverständnis einer guten Kameradschaft führten.

Nur als beim Abschiednehmen in dem schlecht erleuchteten Gang das Brautpaar seine Küsse tauschte, standen die beiden andern, mit dem Adieusagen schon fertig, eine Minute lang verlegen wartend da. Im Bett brachte sodann Meta die Rede wieder auf den Notar, wie sie ihn immer nannte, dieses Mal voller Anerkennung und Lob. Aber die Schwester sagte nur Ja ja, legte den blonden Kopf auf beide Hände und lag lange still und wach, ins Dunkle schauend und tief atmend. Später, als die Schwester schon schlief, stieß Martha einen langen, leisen Seufzer aus, der jedoch keinem gegenwärtigen Leide galt, sondern nur einem dumpfen Gefühl für die Unsicherheit aller Liebeshoffnungen entsprang, und den sie nicht wiederholte. Vielmehr entschlief sie bald darauf leicht und mit einem innigen Lächeln auf dem frischen Munde.

Der Verkehr gedieh behaglich weiter, Fritz Kleuber nannte den eleganten Alfred mit Stolz seinen Freund, Meta sah es gerne, daß ihr Verlobter nicht allein kam, sondern den Musikanten mitbrachte, und Martha gewann den Gast desto lieber, je mehr sie seine fast noch kindliche Harmlosigkeit erkannte. Ihr schien, dieser hübsche und lenksame Jüngling wäre recht zu einem Manne für sie geschaffen, mit dem sie sich zeigen und auf den sie stolz sein könnte, ohne ihm doch jegliche Herrschaft überlassen zu müssen.

Auch Alfred, der mit seinem Empfang bei den Weberschen sehr zufrieden war, spürte in Marthas Freundlichkeit eine heimliche Wärme, die er bei aller Schüchternheit wohl zu schätzen wußte. Eine Liebschaft und Verlobung mit dem schönen, stattlichen Mädchen wollte ihm in kühnen Stunden nicht ganz unmöglich, zu allen Zeiten aber begehrenswert und selig lockend erscheinen.

Dennoch geschah von beiden Seiten nichts Entscheidendes. Alfred kam sehr häufig mit seinem Freund zu Besuch, zweimal wurden auch gemeinsame Sonntagsspaziergänge unternommen, aber es blieb bei dem Zustande vertraulicher Nachbarschaft, den jener erste Gitarrenabend begründet hatte. Daß nichts Weiteres geschah, hatte manche Gründe. Vor allem hatte Martha an dem jungen Manne im längeren Umgang manches allzu Unreife und Knabenhafte entdeckt und es rätlich gefunden, einem noch so unerfahrenen Jünglinge den Weg zum Glücke nicht allzusehr zu erleichtern, sondern abzuwarten, bis er die ersten Stufen selber fände und unterwegs etwa, sei es auch nicht ohne Bitternis, einige Reife und Zuverlässigkeit gewänne. Sie sah wohl, daß es ihr ein Leichtes wäre, ihn an sich zu nehmen und festzuhalten; allein sie hatte es gar nicht so eilig, und war selber, wenn auch unverletzt, so doch nicht unerfahren und ungewitzigt aus den üblichen Enttäuschungen erster Liebeswege hervorgegangen. So erschien es ihr billig, daß der junge Herr es auch nicht allzuleicht habe und nicht am Ende gar den Eindruck gewänne, sie habe sich ihm nachgeworfen. Immerhin war es ihr Wille, ihn zu bekommen, und sie beschloß, ihn einstweilen wohl im Auge zu behalten und gerüstet den Zeitpunkt zu erwarten, da er seines Glückes würdig sein würde.

Bei Ladidel waren es andere Bedenken, die ihm die Zunge banden. Da war zuerst seine Schüchternheit, die ihn immer wieder dazu brachte, seinen Beobachtungen zu mißtrauen und an der Einbildung, er werde geliebt und begehrt, zu verzweifeln. Sodann fühlte er sich dem großen, gescheiten, sicheren Mädchen gegenüber elend jung und unfertig, – nicht mit Unrecht, obwohl sie kaum drei oder vier Jahre älter sein konnte als er. Und schließlich erwog er in ernsthaften Stunden mit Bangen, auf welch unfesten Grund seine äußere Existenz gebaut war. Je näher nämlich das Jahr heranrückte, in dem er die bisherige untergeordnete Tätigkeit beenden und im Staatsexamen seine Fähigkeit und Wissenschaft kundtun mußte, desto dringender wurden seine Zweifel. Wohl hatte er alle hübschen, kleinen Übungen und Äußerlichkeiten des Amtes rasch und sicher erlernt, er machte im Büro eine gute Figur und spielte den beschäftigten Schreiber vortrefflich; aber das Studium der Gesetze fiel ihm schwer, und wenn er an alles das dachte, was im Examen verlangt wurde, brach ihm der Schweiß aus. Konnte er denn um ein Mädchen anhalten oder auch nur Hoffnungen in ihr erwecken, ehe er diese lebensgefährliche Klippe hinter sich und ein auskömmliches und ehrenhaftes Leben vor sich sah?

Zuweilen sperrte er sich verzweifelt in seiner Stube ein und beschloß, den steilen Berg der Wissenschaft im Sturm zu nehmen. Kompendien, Gesetzbücher und Kommentare lagen auf seinem Tisch, auch entlieh er handschriftliche Auszüge aus den Fragen und Aufgaben früherer Examina, er stand morgens früh auf und setzte sich fröstelnd hin, er spitzte Bleistifte und machte sich genaue Arbeitspläne für Wochen voraus. Aber sein Wille war schwach, er hielt niemals lange aus, er fand immer andres zu tun, was im Augenblick nötiger und wichtiger schien; und je länger die Bücher dalagen und ihn anschauten, desto bitterer und ungenießbarer ward ihr Inhalt. Er verschob es wieder, es war ja noch Zeit, und er meinte, wenn es erst brennend würde und zu drängen begänne, werde wohl das Notwendige doch noch bewältigt werden.

Inzwischen wurde seine Freundschaft mit Fritz Kleuber immer fester und erfreulicher. Es geschah zuweilen, daß Fritz ihn abends aufsuchte und, wenn es eben nötig schien, sich erbot, ihn zu rasieren. Dabei fiel es Alfred ein, diese nette, leichte, saubere Hantierung selber ein wenig zu probieren, und Fritz ging mit Vergnügen darauf ein. Auf seine ernsthafte und beinah ehrerbietige Art zeigte er dem hochgeschätzten Freund die Handgriffe, lehrte ihn ein Messer tadellos abziehen und einen guten, haltbaren Seifenschaum schlagen. Alfred zeigte sich, wie der andre vorausgesagt hatte, überaus gelehrig und fingerfertig. Bald vermochte er nicht nur sich selber schnell und fehlerlos zu barbieren, sondern auch seinem Freund und Lehrmeister diesen Dienst zu tun, und er fand darin ein Vergnügen und eine Befriedigung, die ihm manchen von den Studien verbitterten Tag auf den Abend noch rosig machte. Eine ungeahnte Lust bereitete es ihm, als Fritz ihn auch noch in das Haarflechten einweihte. Er brachte ihm nämlich, von seinen schnellen Fortschritten entzückt, eines Tages einen künstlichen Zopf aus Frauenhaar mit und zeigte ihm, wie ein solches Kunstwerk entstehe. Ladidel war sofort begeistert für dieses zarte Handwerk und machte sich mit feinen, geduldigen Fingern daran, die Strähne zu lösen und wieder ineinander zu flechten. Es gelang ihm bald, und nun kam Fritz mit schwereren und feineren Arbeiten, und Alfred lernte spielend, zog das lange seidne Haar mit Feinschmeckerei durch die Finger, vertiefte sich in die Flechtarten und Frisurstile, ließ sich bald auch das Lockenbrennen zeigen und hatte nun bei jedem Zusammensein mit dem Freunde lange, lebhafte Unterhaltungen über fachmännische Dinge. Er schaute nun auch die Frisuren aller Frauen und Mädchen, denen er begegnete, mit prüfendem und lernendem Auge an und überraschte Kleuber durch manches treffende Urteil.

Nur bat er ihn wiederholt und dringend, den beiden Fräulein Weber nichts von diesem Zeitvertreib zu sagen. Er fühlte, daß er mit dieser neuen Kunst dort wenig Ehre ernten würde. Und dennoch war es sein Lieblingstraum und verstohlener Herzenswunsch, einmal die langen blonden Haare der Jungfer Martha in seinen Händen zu haben und ihr neue, feine, kunstvolle Zöpfe zu flechten.

Darüber vergingen die Tage und Wochen des Sommers. Es war in den letzten Augusttagen, da nahm Ladidel an einem Spaziergang der Familie Weber teil. Man wanderte das Flußtal hinauf zu einer Burgruine und ruhte in deren Schatten auf einer schrägen Bergwiese vom Gehen aus. Martha war an diesem Tage besonders freundlich und vertraulich mit Alfred umgegangen, nun lag sie in seiner Nähe auf dem grünen Hang, ordnete einen Strauß von späten Feldblumen, tat ein paar silbrige zitternde Grasblüten hinzu und sah gar lieb und reizend aus, so daß Alfred den Blick nicht von ihr lassen konnte. Da bemerkte er, daß etwas an ihrer Frisur aufgegangen war, rückte ihr nahe und sagte es, und zugleich wagte er es, streckte seine Hände nach den blonden Zöpfen aus und erbot sich, sie in Ordnung zu bringen. Martha aber, einer solchen Annäherung von ihm ganz ungewohnt, wurde rot und ärgerlich, wies ihn kurz ab und bat ihre Schwester, das Haar aufzustecken. Alfred schwieg betrübt und ein wenig verletzt, schämte sich und nahm später die Einladung, bei Frau Weber zu speisen, nicht an, sondern ging nach der Rückkehr in die Stadt sogleich seiner Wege.

Es war die erste kleine Verstimmung zwischen den Halbverliebten und sie hätte wohl dazu dienen können, ihre Sache zu fördern und in Gang zu bringen. Doch ging es umgekehrt, und es kamen andere Dinge dazwischen.

War Alfred Ladidel auch eine kindliche und leichte Natur und zum Glücke geboren, so sollte doch auch er einigen Sturm erleben und einmal das Wasser an der Kehle spüren, ehe sein fröhliches Schiff zum Hafen kam.

Drittes Kapitel

Martha hatte es mit ihrem Verweise nicht schlimm gemeint und war nun erstaunt, als sie wahrnahm, daß Alfred eine Woche und länger ihr Haus mied. Er tat ihr ein wenig leid und sie hätte ihn gar gerne wiedergesehen. Als er aber acht und zehn Tage ausblieb und wirklich zu grollen schien, besann sie sich darauf, daß sie ihm das Recht zu einem so liebhabermäßigen Betragen niemals eingeräumt habe. Nun begann sie selber zu zürnen. Wenn er wiederkäme und den gnädig Versöhnten spielen würde, wollte sie ihm zeigen, wie sehr er sich getäuscht habe.

Indessen war sie selbst im Irrtum, denn Ladidels Ausbleiben hatte nicht Zorn und Trotz, sondern Schüchternheit und Furcht vor Marthas Strenge zur Ursache. Er wollte einige Zeit vergehen lassen, bis sie ihm seine damalige Zudringlichkeit vergeben und er selber die Dummheit vergessen und die Scham überwunden habe. In dieser Bußzeit spürte er deutlich, wie sehr er sich schon an den Umgang mit Martha gewöhnt hatte und wie sauer es ihn ankommen würde, auf die warme Nähe eines lieben Mädchens wieder zu verzichten. Das Studieren, das er zur Verstärkung seiner Buße und zum Kampf wider die lange Zeit betrieb, trug nicht dazu bei, ihn zu trösten und geduldiger zu machen. So hielt er es denn nicht länger als bis in die Mitte der zweiten Woche aus, rasierte sich eines Tages sorgfältig, schlang eine neue Binde um den reinen Hemdkragen und sprach bei den Weberschen vor, diesmal ohne Fritz, den er nicht zum Zeugen seiner Beschämtheit machen wollte.

Um nicht mit leeren Händen und lediglich als Bettler zu erscheinen, hatte er sich einen hübschen Plan ausgedacht. Es stand für die letzte Woche des September ein großes Fest- und Preisschießen bevor, worauf die ganze Stadt schon eifrig rüstete. Zu dieser Lustbarkeit gedachte Alfred Ladidel, der selber ein Liebhaber solcher Festfreuden war, die beiden Fräulein Weber einzuladen und hoffte damit eine hübsche Begründung seines Besuches wie auch gleich einen Stein im Brett bei Martha zu gewinnen.

Ein freundlicher oder auch nur milder Empfang hätte den Verliebten, der seit Tagen seiner Einsamkeit übersatt war, getröstet und zum treuen Diener gemacht. Nun hatte aber Martha, durch sein Ausbleiben, das sie für Trotz hielt, verletzt, sich hart und strenge gemacht. Sie grüßte kaum, als er die Stube betrat, überließ Empfang und Unterhaltung ihrer Schwester und ging, mit Abstauben beschäftigt, im Zimmer ab und zu, als wäre sie allein. Ladidel war sehr eingeschüchtert, machte ein betrübtes, demütiges Gesicht, und wagte erst nach einer Weile, da sein verlegenes Gespräch mit Meta versiegte, sich an die Beleidigte zu wenden und seine Einladung vorzubringen, von welcher er sich einen Umschwung und Marthas Versöhnung versprach.

Die aber war jetzt nimmer zu fangen. Alfreds Bestürzung und demütige Ergebenheit bestärkte nur ihren Beschluß, das Bürschlein diesmal in die Kur zu nehmen und ihm die Krallen zu stutzen. Sie hörte kühl zu, dankte kurz und höflich, lehnte die Einladung jedoch ab mit der Begründung, es stehe ihr nicht zu, mit jungen Herren Feste zu besuchen, und was ihre Schwester angehe, so sei diese verlobt und sei es Sache ihres Bräutigams, sie einzuladen und mitzunehmen, falls er dazu Lust habe.

Das alles brachte sie so frostig vor, und schien Alfreds guten Willen so wenig anzuerkennen, daß er erstaunt und ernstlich verletzt sich an Meta mit der Frage wandte, ob sie diese Meinung teile. Und da Meta, wenn schon höflicher, der Schwester recht gab, griff Ladidel nach seinem Hut, verbeugte sich kurz und ging davon wie ein Mann, der bedauert, an einer falschen Türe angeklopft zu haben, und nicht im Sinn hat wiederzukommen. Die alte Frau Weber war nicht da, Meta versuchte zwar ihn zurückzuhalten und ihm zuzureden, Martha aber hatte seine Verbeugung mit einem Nicken gleichmütig erwidert, und Alfred war es nicht anders zumute, als hätte sie ihm für immer abgewinkt. Er ging hinaus und schnell die Treppe hinab, und je schneller er lief und je weiter er wegkam, desto rascher verwandelten sich seine Bestürzung und Enttäuschung in Beleidigung und Zorn, da er eine solche Aufnahme seines redlichen Willens durchaus nicht verdient zu haben glaubte.

Einen geringen Trost gewährte ihm der Gedanke, daß er sich in dieser Sache männlich und stolz gezeigt habe. Zorn und Trauer überwogen jedoch, grimmig lief er nach Hause, und als am Abend Fritz Kleuber ihn besuchen wollte, ließ er ihn an der Türe klopfen und wieder gehen, ohne sich zu zeigen. Die Bücher sahen ihn ermahnend an, die Gitarre hing an der Wand, aber er ließ alles liegen und hängen, ging aus und trieb sich den Abend in den Gassen herum, bis er müde war. Dabei fiel ihm alles ein, was er je Böses über die Falschheit und Wandelbarkeit der Weiber hatte sagen hören, und was ihm früher als ein leeres und scheelsüchtiges Geschwätz erschienen war. Jetzt begriff er alles, fand auch die bittersten Worte zutreffend, wenn nicht zu milde, und hätte wohl ein Gedicht mit kräftigen Sprüchen solcher Art zusammengestellt, wenn es ihm nicht doch zu elend ums Herz gewesen wäre.

Es vergingen einige Tage, und Alfred hoffte beständig, gegen seinen Stolz und Willen, es möchte etwas geschehen, ein Brieflein oder eine Botschaft durch Fritz kommen, denn nachdem der erste Groll vertan war, schien ihm eine Versöhnung doch nicht ganz außer der Möglichkeit, und sein Herz wandte sich über alle Gründe hinweg stetig zu dem bösen Mädchen zurück. Allein es geschah nichts und es kam niemand. Das große Schützenfest jedoch rückte näher, und ob es dem betrübten Ladidel gefiel oder nicht, er mußte tagaus tagein sehen und hören, wie jedermann sich bereitmachte, die glänzenden Tage zu feiern. Es wurden Bäume errichtet und Girlanden geflochten, Häuser mit Tannenzweigen geschmückt und Torbögen mit Inschriften, die große Festhalle am Wasen war fertig und ließ schon Fahnen flattern, und dazu tat der Herbst seine schönste Bläue auf, stieg die Sonne aus den leichten Morgennebeln täglich klarer und festlicher empor.

Obwohl Ladidel sich wochenlang auf das Fest gefreut hatte, und obwohl ihm und seinen Kollegen ein freier Tag oder gar zwei bevorstanden, verschloß er sich doch der Freude gewaltsam und hatte fest im Sinn, die Festlichkeiten mit keinem Auge zu betrachten und in den Tagen der allgemeinen Fröhlichkeit desto trotziger bei seinem Schmerz zu bleiben. Mit Bitterkeit sah er Fahnen und Laubgewinde, hörte da und dort in den Gassen hinter offenen Fenstern die Musikkapellen Proben halten und die Mädchen bei der Arbeit singen, und je mehr die Stadt von Erwartung und Vorfreude scholl und tönte, desto feindseliger ging er in dem Getümmel seinen finstern Weg, das Herz voll Bitternis und grimmiger Entsagung. In der Schreibstube hatten die Kollegen schon seit einiger Zeit von nichts als dem Fest mehr gesprochen und Pläne ausgeheckt, wie sie der Herrlichkeit recht schlau und gründlich froh werden wollen. Zuweilen gelang es Ladidel, den Unbefangenen zu spielen und so zu tun, als freue auch er sich und habe seine Absichten und Pläne; meistens aber saß er schweigend an seinem Pult und trug einen wilden Fleiß zur Schau. Dabei brannte ihm die Seele nicht nur um Martha und den Verdruß mit ihr, sondern mehr und mehr auch um die große Festlichkeit, auf die er so lang und freudig gewartet hatte und von der er nun nichts haben sollte.

Seine letzte Hoffnung fiel dahin, als Kleuber ihn aufsuchte, wenige Tage vor dem Beginn des Festes. Dieser machte ein betrübtes Gesicht und erzählte, er wisse gar nicht, was den Mädchen zu Kopf gestiegen sei, sie hätten seine Einladung zum Fest abgelehnt und erklärt, in ihren Verhältnissen könne man keine Lustbarkeiten mitmachen. Nun machte er Alfred den Vorschlag, mit ihm zusammen sich frohe Festtage zu schaffen, wenn auch in aller Bescheidenheit, denn wenn er auch nicht gesonnen sei, auf alles zu verzichten, so wisse er doch, was er seinem Stande als Bräutigam schulde. Immerhin geschähe es den spröden Jungfern ganz recht, wenn er nun eben ohne sie den einen oder andern Taler draufgehen lasse. Allein Ladidel widerstand auch dieser Versuchung. Er dankte freundlich, erklärte aber, er sei nicht recht wohl und wolle auch die freie Zeit dazu benutzen, um in seinen Studien weiterzukommen. Von diesen Studien hatte er seinem Freunde früher so viel erzählt und so viele Kunstausdrücke und Fremdwörter dabei aufgewendet, daß Fritz nun in tiefem Respekt keine Einwände wagte und traurig wieder ging. Aber als er fort war, langte Alfred die Gitarre herab, stimmte und präludierte, räusperte sich und sang in seinem Leide das Lied: »Wie die Blümlein draußen zittern.« Und als der Refrain zum zweiten Male wiederkehrte: »O bleib bei mir und geh nicht fort, mein Herz ist ja dein Heimatort!«, da überschlug ihm die Stimme und er ließ den Kopf über die Gitarre sinken und seine Tränen über die Saiten laufen. Erst eine Stunde später, als er schon im Bette lag, fiel ihm ein, daß das Instrument leiden könnte, und er stand auf, um es abzuwischen, aber die Tropfen waren schon im trocknen Holz verronnen.

Indessen kam der Tag, da das Schützenfest eröffnet werden sollte. Es war ein Sonntag, und das Fest sollte die ganze Woche dauern. Die Stadt hallte von Gesang, Blechmusik, Böllerschießen und Freudenrufen wider, aus allen Straßen her kamen und sammelten sich Züge, Vereine aus dem ganzen Lande waren angekommen, und der Bahnhof wimmelte von Festbesuchern, die in Extrazügen gefahren kamen. Allenthalben schallte Musik, und die Ströme der Menschen und die Weisen der Musikkapellen trafen am Ende alle vor der Stadt am Schützenhause zusammen, wo das Volk seit dem Morgen zu Tausenden wartend stand. Schwarz drängte der Zug in dickem Fluß heran, schwer wankten die Fahnen darüber und stellten sich auf, bis ihrer wohl hundert waren, und eine Musikbande um die andere schwenkte rauschend auf den gewaltigen Platz. Auf alle diese Pracht schien mit noch fast sommerlicher Wärme eine heitere Sonntagssonne hernieder. Die Bannerträger hatten dicke Tropfen auf den geröteten Stirnen, die Festordner schrieen heiser und rannten wie Besessene umher, von der Menge gehänselt und durch Zurufe angefeuert; wer in der Nähe war und Zutritt fand, nahm die Gelegenheit wahr, schon um diese frühe Stunde an den wohlversehenen Trinkhallen einen frischen Trunk zu erkämpfen. Die Wirte riefen sich heiß, traktierten und befahlen einem Volk von Kellnern, Schenkmädchen, Knechten und Verkäuferinnen, fluchten und schwitzten und rechneten, in der Stille lachend, für diesen Glanztag einen Goldregen voraus.

Während dieses feierlichen Tumultes saß Ladidel in seiner Stube auf dem Bett und hatte noch nicht einmal Stiefel an, so wenig schien ihm an der Freude gelegen. Er trug sich jetzt, nach langen ermüdenden Nachtgedanken, mit dem Vorsatz, einen Brief an Martha zu schreiben. Er wollte sie bitten, ihm die Ursache ihres Zürnens zu nennen, ihr sein Unglück darstellen und ihr Herz bewegen, von dem er noch immer in leiser Ahnung sich einiger Anhänglichkeit und Freundschaft versah. Nun zog er aus der Tischlade sein Schreibzeug und einen feinen Briefbogen mit seinem Monogramm hervor, desgleichen ein blaues Kuvert, steckte eine gute neue Feder ins Rohr, machte sie mit der Zunge naß, prüfte die Tinte und schrieb alsdann in einer runden, elegant ausholenden Kanzleischrift zunächst die Adresse, an das wohlgeborne Fäulein Martha Weber in der Hirschgasse, zu eigenen Händen. Mittlerweile stimmte ihn das aus der Ferne herübertönende Geblase und Festgelärme elegisch und er fand es gut, seinen Brief mit der Schilderung dieser Stimmung anzufangen. So begann er mit Sorgfalt:

»Sehr geehrtes Fräulein!

Erlauben Sie mir, mich an Sie zu wenden. Es ist Sonntag morgen und die Musik spielt von ferne, weil das Schützenfest beginnt. Nur ich kann an demselben nicht teilnehmen und bleibe daheim.«

Er überlas die Zeilen, war zufrieden und besann sich weiter. Da fiel ihm noch manche schöne und treffende Wendung ein, mit welcher er seinen betrübten Zustand schildern konnte. Aber was dann? Es wurde ihm klar, daß dies alles nur insofern einen Wert und Sinn haben konnte, als es die Einleitung zu einer Liebeserklärung und Werbung wäre. Und wie konnte er dies wagen? Und je länger er sann, desto mehr ward ihm klar, daß es mit dem Briefe nicht gehe. Und was er auch dachte und ausfand, es hatte alles keinen Wert, solange er nicht sein Examen und damit die Berechtigung zur Werbung hatte. Nun hätte er dies ja wohl im Dunkeln lassen und die Zeit bis dahin als Wartezeit und kurzen Aufschub betrachten können; allein er wußte recht wohl, wie es um seine Aussichten im Examen stand, und konnte weder sich selber noch das Mädchen über diese Sorge wegtäuschen.

Also saß er wieder unschlüssig und verzweifelt, und wieder schien ihm alles, was Martha ihm Freundliches erwiesen und was er zu seinen Gunsten zu deuten hatte, jämmerlich ungewiß und gering. Eine Stunde verging und er kam nicht weiter. Das ganze Haus lag in tiefer Ruhe, da alles draußen war, und über die Dächer hinweg jubelte die ferne Musik und das Brausen der Glocken. Ladidel hing seiner Trauer nach und bedachte, wieviel Freude und Lust ihm heute verloren ging, und daß er kaum in langer Zeit, ja vielleicht niemals wieder Gelegenheit haben würde, eine so große und glänzende Festlichkeit zu sehen. Darüber überfiel ihn ein Mitleiden mit sich selber und ein unüberwindliches Trostbedürfnis, dem die Gitarre nicht zu genügen vermochte.

Darum tat er gegen Mittag das, was er durchaus nicht hatte tun wollen. Er zog seine Stiefel an und verließ das Haus, und während er nur hin und wider zu wandeln meinte und bald wieder daheim sein und an den Brief und an sein Elend denken wollte, zogen ihn Musik und Lärm und Festzauber von Gasse zu Gasse wie der Magnetberg ein Schiff, und unversehens stand er bei dem Schützenhaus. Da wachte er auf und schämte sich seiner Schwäche und meinte seine Trauer verraten zu haben, doch währte alles dies nur Augenblicke, denn die Menge trieb und toste betäubend, und Ladidel war nicht der Mann, in diesem Jubel fest zu bleiben oder wieder zu gehen. Auf sein Gemüt wirkten, wie bei einem Kinde und wie beim niederen Volk, Umgebung und Ton und Luft zerstreuend und erregend, der Taumel so vieler zog ihn mit und nahm ihn wie eine mächtige Wolke von sich selber und allem kaum Gewesenen hinweg in ein verzaubertes Reich des Feiertags und der besinnungslosen Lust.

Ladidel trieb ohne Ziel und ohne Willen umher, von der Menge mitgenommen, und sah und hörte und roch und atmete so viel Fremdes, Erregendes ein, daß ihm wohlig schwindelte. Ungefragt erfuhr er alles, was der Menge wichtig war und wissenswert erschien, daß das Schießen erst am Nachmittag beginnen sollte, dagegen die Festtafel bald anhebe, daß nach Tische vielleicht der König herauskommen werde, um sich das auch zu besehen, ferner wieviel und welcherlei Preise bereitlägen und wer sie gestiftet habe, was der Eintritt zur Halle und was ein Gedeck an der Festtafel koste. Dazwischen rauschte aus Trompeten und Hörnern da und dort und überall feurige Musik, und in Pausen drang von der Ferne her, wo das Tafeln begonnen hatte, eindringlich und süß die weichere Musik von Geigen und Flöten. Außerdem geschah auf Schritt und Tritt in der Menge des Volkes viel Sonderbares, Erheiterndes und Erschreckendes, es wurden Pferde scheu, Kinder fielen um und schrien, ein vorzeitig Betrunkener sang unbekümmert, als wäre er allein, sein Lied und schien über sein eigenes Taumeln und Entrücktsein überaus belustigt und vergnügt. Händler zogen rufend umher, mit Orangen und Zuckerwaren, mit Luftballonen für die Kinder, mit Backwerk und mit künstlichen Blumensträußchen für die Hüte der Burschen, abseits drehte sich unter heftiger Orgelmusik ein Karussell. Hier hatte ein Hausierer laute Händel mit einem Käufer, der nicht zahlen wollte, dort führte ein Polizeidiener ein verlaufenes Büblein an der Hand.

Dieses heftige Leben sog der betäubte Ladidel in sich und fühlte sich beglückt, an einem solchen Treiben teilzunehmen und Dinge mit Augen zu sehen, von denen man noch lange im ganzen Lande reden würde. Es war ihm wichtig, zu hören, um welche Stunde man den König erwarte, und als es ihm gelungen war, in die Nähe der Ehrenhalle zu dringen, wo die Tafel auf einer fahnengeschmückten Höhe stattfand, schaute er mit Bewunderung und Verehrung den Oberbürgermeister, die Stadtvorstände, den Oberamtmann und andre Würdenträger mit Orden und Abzeichen zumitten des Ehrentisches sitzen und speisen und weißen Wein aus geschliffenen Gläsern trinken. Flüsternd nannte man die Namen der Männer, und wer etwas Weiteres über sie wußte oder gar schon mit ihnen zu tun gehabt hatte, fand dankbare Zuhörer. Ein bekannter Fabrikant und Millionär wurde erkannt und besprochen, dann der Sohn eines Ministers, und schließlich wollte man in einem jungen Manne oben an der Tafel einen Prinzen erkennen. Daß das alles vor seinen Augen vor sich ging und soviel Glanz zu schauen ihm vergönnt war, machte einen jeden glücklich. Auch der kleine Ladidel staunte und bewunderte und fühlte sich groß und bedeutend als Zuschauer solcher Dinge; er sah ferne Tage voraus, da er Leuten, die weniger glücklich waren und nicht hatten dabei sein können, die ganze Herrlichkeit genau beschreiben würde.

Das Mittagessen vergaß er ganz, und als er nach einigen Stunden Hunger verspürte, setzte er sich in das Zelt eines Zuckerbäckers und verzehrte ein paar Stücke Kuchen. Dann eilte er, um ja nichts zu versäumen, wieder ins Gewühl, und war so glücklich, den König zu sehen, wenn auch nur von hinten. Nun erkaufte er sich den Eintritt zu den Schießständen, und wenn er auch vom Schießwesen nichts verstand, sah er doch mit Vergnügen und Spannung den Schützen zu, ließ sich einige berühmte Helden zeigen und betrachtete mit Ehrfurcht das Mienenspiel und Augenzwinkern der Schießenden. Alsdann suchte er das Karussell auf und sah ihm eine Weile zu, wandelte unter den Bäumen in der frohen Menschenflut, kaufte eine Ansichtskarte mit dem Bildnis des Königs und dem Landeswappen, hörte alsdann lange Zeit einem Marktschreier zu, der seine Waren fleißig ausrief und einen Witz um den andern machte, und weidete seine Augen am Anblick der geputzten Volksscharen. Errötend entwich er von der Bude eines Photographen, dessen Frau ihn zum Eintritt eingeladen und unter dem Gelächter der Umstehenden einen entzückenden jungen Don Juan genannt hatte. Und immer wieder blieb er stehen, um einer Musik zuzuhören, bekannte Melodien mitzusummen und sein Stöcklein im Takt dazu zu schwingen.

Über dem allem wurde es Abend, das Schießen hatte ein Ende, und es begann da und dort ein Zechen in Hallen oder unter Bäumen. Während der Himmel noch in zartem Lichte schwamm und Türme und ferne Berge in der Herbstabendklarheit standen, glommen hier und dort schon Lichter und Laternen auf. Ladidel ging in seinem Rausche dahin und bedauerte das Sinken des Tages. Die solide Bürgerschaft eilte nun heimwärts zum Abendessen, müdgewordene Kinder ritten taumelnd auf den Schultern der Väter, die eleganten Wagen verschwanden. Dafür regten sich Lust und Übermut der Jugend, die sich auf Tanz und Wein freute, und wie es auf dem Platze und den Gassen leerer ward, tauchte da und dort und an jeder Ecke bald scheu, bald kühn ein Liebespaar auf, Arm in Arm und noch mit sonntäglichem Anstande, jedoch voll Ungeduld und Ahnung nächtlicher Lust.

Um diese Stunde begann die Fröhlichkeit und Selbstvergessenheit Ladidels sich zu verlieren wie das hinschwindende Tageslicht. Die Erinnerung an Trauer und Leid kehrte mählich wieder, vermischt mit einem ungelöschten Festdurst und Erlebensdrang. Ergriffen und traurig werdend strich der einsame Jüngling durch den warmen Abend. Es kicherte kein Liebespaar an ihm vorbei, dem er nicht nachsah, und als nun in einem Garten unter hohen schwarzen Kastanien mit lockender Pracht Reihen von roten Papierampeln aufglühten und aus eben diesem Garten her eine weiche, sehnliche Musik ertönte, da folgte er dem Ruf der heißen, flüsternden Geigen und trat ein. An langen Tischen aß und trank viel junges Volk, dahinter wartete ein großer Tanzplan erst halb erleuchtet. Der junge Mann nahm am leeren Ende eines Tisches Platz und verlangte, als ein Kellner zu ihm kam, Wein und Essen. Dann ruhte er aus, atmete die Gartenluft und horchte auf die Musik, aß ein weniges und trank langsam in kleinen Schlücken den ungewohnten Wein. Je länger er in die roten Lampen schaute, die Geigen spielen hörte und den Duft der Festnacht atmete, desto einsamer und elender kam er sich vor, und zugleich erschien ihm dieser Ort als eine Stätte seliger Lust, von deren Genuß nur er allein ausgeschlossen sei. Wohin er blickte, sah er rote Wangen und begierige Augen leuchten, junge Burschen in Sonntagskleidern mit kühnen und herrischen Blicken, Mädchen im Putz mit verlangenden Augen und tanzbereiten, unruhigen Füßen. Und er war noch nicht lange mit seinem Abendessen fertig, als die Musik mit erneuter Wucht und Süße anstimmte, der Tanzplatz von hundert Lichtern strahlte und Paar auf Paar in Eile und hastiger Begierde sich zum Tanze drängte.

Ladidel sog langsam an seinem Wein, um noch eine Weile dableiben zu können, und als der Wein doch schließlich zu Ende war, konnte er sich nicht entschließen, heimzugehen. Er ließ nochmals ein kleines Fläschlein kommen und saß und starrte und fiel in eine stachelnde Unruhe, als müsse allem zum Trotz an diesem Abend ihm ein Glück blühen und etwas vom Überfluß der Wonne auch für ihn abfallen. Und wenn es nicht geschah, so schrieb er sich in Leid und Trotz das Recht zu, wenigstens dem Fest und seinem Unglück zu Ehren den ersten Rausch seines Lebens zu trinken.

Zu diesem wäre es nun wohl trotzdem nicht gekommen, denn so schlimm er es meinte, seine Natur war klüger und hätte ihm nicht erlaubt, mehr als einen kindlichen Versuch nach dieser Seite hin zu tun. Es war auch keineswegs der Wein, der ihn verlockte, und den Rausch hatte er nimmer nötig, da Umtrieb und Lärm und Freudenschwall ihm den Kopf hinreichend erhitzt und verwirrt hatten. Aber der mäßige und zierliche Jüngling konnte soviel Übermut und Lustbarkeit, soviel Tanzmusik und den Anblick so vieler hübscher erhitzter Tänzerinnen nicht ertragen, ohne gleichfalls ein Verlangen nach Lust und Selbstvergessen und blühender Jugendtorheit zu verspüren. Und so stiegen, je heftiger rings um ihn die Freude tobte, sein Unglück sowohl wie sein Trostbedürfnis höher, und rissen den Unbeschützten zur Übertreibung und zum Rausche hin. Die Stunde war gekommen, da der Most seiner Jugend verderben oder sich Lust schaffen mußte.

Viertes Kapitel

Während Ladidel vor seinem Weinglas am Tische saß und mit heißen Augen in das Tanzgewühl blickte, vom roten Licht der Ampeln und vom raschen Takt der Musik bezaubert und seines Kummers bis zur Verzweiflung überdrüssig, hörte er plötzlich neben sich eine leise Stimme, die fragte: »Ganz allein?«

Schnell wandte er sich um und sah über die Lehne der Bank gebeugt ein hübsches Mädchen mit schwarzen Haaren, mit einem weißen linnenen Hütlein und einer roten leichten Bluse angetan. Sie lachte mit einem hellroten Munde, während ihr um die erhitzte Stirn und die dunkeln Augen ein paar lose Locken hingen. »Ganz allein?« fragte sie mitleidig und schelmisch, und er gab Antwort: »Ach ja, leider.« Da nahm sie sein Weinglas, fragte mit einem Blick um Erlaubnis, sagte Prosit und trank es in einem durstigen Zuge aus. Er sah dabei ihren schlanken Hals, der bräunlich aus dem roten leichten Stoff emporstieg, und indessen sie trank, fühlte er mit heftig klopfendem Herzen, daß sich hier ein Abenteuer anspinne. Er fühlte es nicht ohne Schrecken, aber er war allsofort entschlossen, dabei zu bleiben und alles gehen zu lassen, wie es wollte.

Und es ging vortrefflich. Um doch etwas zur Sache zu tun, schenkte Ladidel das leere Glas wieder voll und bot es dem Mädchen an. Aber sie schüttelte den Kopf und blickte rückwärts nach dem Tanzplatz, wo soeben eine neue Musik erscholl.

»Tanzen möcht ich,« sagte sie und sah dem Jüngling in die Augen, der augenblicklich aufstand, sich vor ihr verbeugte und seinen Namen nannte.

»Ladidel heißen Sie? Und mit dem Vornamen? Ich heiße Fanny.«

Sie nahm ihn an sich und beide tauchten in den Strom und Schwall des Walzers, den Ladidel noch nie so ausgezeichnet getanzt hatte. Früher war er beim Tanzen lediglich seiner Geschicklichkeit, seiner flinken Beine und feinen Haltung froh geworden und hatte dabei stets daran gedacht, wie er aussehe und ob er auch einen guten Eindruck mache. Jetzt war daran nicht zu denken. Er flog in einem feurigen Wirbel mit, gezogen und hingeweht und wehrlos, aber glücklich und im Innersten erregt. Bald zog und schwang ihn seine Tänzerin, daß ihm Boden und Atem verloren ging, bald lag sie still und eng an ihn gelehnt, daß ihre Pulse an seinen schlugen und ihre Wärme die seine entfachte.

Als der Tanz zu Ende war, legte Fanny ihren Arm in den ihres Begleiters und zog ihn mit sich weg. Tief atmend wandelten sie langsam einen Laubengang entlang, zwischen vielen andern Paaren, in einer Dämmerung voll warmer Farben. Durch die Bäume schien tief der Nachthimmel mit blanken Sternen herein, von der Seite her spielte, von beweglichen Schatten unterbrochen, der rote Schein der Festampeln, und in diesem ungewissen Licht bewegten sich plaudernd die ausruhenden Tänzer, die Mädchen in weißen und andern hellfarbigen Kleidern und Hüten, mit bloßen Hälsen und Armen, manche mit stattlichen Fächern versehen, die gleich Pfauenrädern spielten. Ladidel nahm das alles nur als einen farbigen Nebel wahr, der mit Musik und Nachtluft zusammenfloß, und daraus nur hin und wieder im nahen Vorbeistreifen ein helles Gesicht mit funkelnden Augen, ein offener lachender Mund mit glänzenden Zähnen, ein zärtlich gebogener weißer Arm für Augenblicke deutlich hervorschimmerte.

»Alfred!« sagte Fanny leise.

»Ja, was?«

»Gelt, du hast auch keinen Schatz? Meiner ist nach Amerika.«

»Nein, ich hab keinen.«

»Willst du nicht mein Schatz sein?«

»Ich will schon.«

Sie lag ganz in seinem Arm und bot ihm den feuchten hellroten Mund. Liebestaumel wehte in den Bäumen und Wegen; Ladidel küßte den roten Mund und küßte den weißen Hals und den bräunlichen Nacken, die Hand und den Arm seines Mädchens. Er führte sie, oder sie ihn, an einen Tisch abseits im tiefen Schatten, ließ Wein kommen und trank mit ihr aus einem Glase, hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt und fühlte Feuer in allen Adern. Seit einer Stunde war die Welt und alles Vergangene hinter ihm versunken und ins Bodenlose gefallen, um ihn wehte allmächtig die glühende Nacht, ohne Gestern und ohne Morgen.

Auch die hübsche Fanny freute sich ihres neuen Schatzes und ihrer blühenden Jugend, jedoch weniger rückhaltslos und gedankenlos als ihr Liebster, dessen Feuer sie mit der einen Hand zu mehren, mit der andern abzuwehren bemüht war. Der schöne Tanzabend gefiel auch ihr wohl, und sie tanzte ihre Touren mit heißen Wangen und blitzenden Augen; doch war sie nicht gesonnen, darüber ihre Absichten und Zwecke zu vergessen, und diese gingen nicht auf Vergnügen und flüchtiges Liebesglück, sondern auf soliden Erwerb.

Darum erfuhr Ladidel im Laufe des Abends, zwischen Wein und Tanz, von seiner Geliebten eine lange traurige Geschichte, die mit einer kranken Mutter begann und mit Schulden und drohender Obdachlosigkeit endete. Sie bot dem bestürzten Liebhaber diese bedenklichen Mitteilungen nicht auf einmal dar, sondern mit vielen Pausen, während deren er sich stets wieder erholen und neue Glut fassen konnte, sie bat ihn sogar, nicht allzuviel daran zu denken und sich den schönen Abend nicht verderben zu lassen, bald aber seufzte sie wieder tief auf und wischte sich die Augen. Bei dem guten Ladidel wirkte denn auch, wie bei allen Anfängern, das Mitleid eher entflammend als niederschlagend, sodaß er das Mädchen gar nimmer aus den Armen ließ und ihr zwischen Küssen goldene Berge für die Zukunft versprach.

Sie nahm es hin, ohne sich getröstet zu zeigen, und fand dann plötzlich, es sei spät, und sie dürfe ihre arme kranke Mutter nicht länger warten lassen. Ladidel bat und flehte, wollte sie dabehalten oder zumindest begleiten, schalt und klagte und ließ auf alle Weise merken, daß er die Angel geschluckt habe und nimmer entrinnen könne.

Mehr hatte Fanny nicht gewollt. Sie zuckte hoffnungslos die Achseln, streichelte Ladidels Hand und bat ihn, nun für immer von ihr Abschied zu nehmen. Denn, wenn sie bis morgen Abend nicht im Besitze von hundert Mark sei, so werde sie samt ihrer armen Mama auf die Straße gesetzt werden und könne für das, wozu die Verzweiflung sie dann treiben würde, nicht einstehen. Ach, sie wollte ja gern lieb sein und ihrem Alfred jede Gunst gewähren, da sie ihn nun einmal so schrecklich liebe, aber unter diesen Umständen sei es doch besser, auseinanderzugehen und sich mit der ewigen Erinnerung an diesen schönen Abend zu begnügen.

Dieser Meinung war Ladidel nicht. Ohne sich viel zu besinnen, versprach er das Geld morgen Abend herzubringen, und schien fast zu bedauern, daß sie seine Liebe auf keine größere Probe stelle.

»Ach, wenn du das könntest!« seufzte Fanny. Dabei schmiegte sie sich an ihn, daß er beinahe den Atem verlor.

»Verlaß dich drauf,« sagte er. Und nun wollte er sie nach Hause begleiten, aber sie war so scheu und hatte plötzlich eine so furchtbare Angst, man möchte sie sehen und ihr guter Ruf möchte notleiden, daß er mitleidig nachgab und sie allein ziehen ließ.

Darauf schweifte er noch wohl eine Stunde lang umher. Da und dort tönte aus Gärten und Zelten noch nächtliche Festlichkeit. Erhitzt und müde kam er endlich nach Hause, ging zu Bett und fiel sogleich in einen unruhigen Schlaf, aus dem er schon nach einer Stunde wieder erwachte. Da brauchte er lange, um sich aus einem zähen Wirrwarr verliebter Träume zurechtzufinden. Die Nacht stand bleich und grau im Fenster, die Stube war dunkel und alles still, sodaß Ladidel, der nicht an schlaflose Nächte gewöhnt war, verwirrt und ängstlich in die Finsternis blickte und den noch nicht verwundenen Rausch des Abends im Kopf rumoren fühlte. Irgend etwas, was er vergessen hatte und woran zu denken ihm doch notwendig schien, quälte ihn eine gute Weile. Am Ende klärte sich jedoch die peinigende Trübe und der ernüchterte Träumer wußte wieder genau, um was es sich handle. Und nun drehten seine Gedanken sich die ganze lange Nacht hindurch um die Frage, woher das Geld kommen solle, das er seinem neuen Schätzchen versprochen hatte. Er begriff nimmer, wie er das Versprechen hatte geben können, es mußte in einer Bezauberung geschehen sein. Auch trat ihm der Gedanke, sein Wort zu brechen, nahe und sah gar friedlich aus. Doch gewann er den Sieg nicht, zum Teil, weil eine ehrliche Gutmütigkeit den Jüngling abhielt, eine Notleidende umsonst auf die zugesagte Hilfe warten zu lassen. Noch mächtiger freilich war die Erinnerung an Fannys Schönheit, an ihre Küsse und die Wärme ihres Leibes, und die sichere Hoffnung, das alles schon morgen ganz zu eigen zu haben. Darum entschlug und schämte er sich des Gedankens, ihr untreu zu werden, und wandte allen Scharfsinn daran, einen sicheren und ungefährlichen Weg zu dem versprochenen Gelde zu ersinnen. Allein je mehr er sann und spann, desto größer ward in seiner Vorstellung die Summe und desto unmöglicher ihre Erlangung.

Als Ladidel am Morgen grau und müde, mit verwachten Augen und schwindelndem Kopfe, ins Kontor trat und sich an seinen Platz setzte, wußte er noch immer keinen Ausweg und hätte gern für die hundert Mark seine Seligkeit verkauft. Er war in der Frühe schon bei einem Pfandleiher gewesen und hatte seine Uhr und Uhrkette samt allen seinen kleinen Kostbarkeiten versetzen wollen, doch war der saure und beschämende Gang vergeblich gewesen, denn man hatte ihm für das Ganze nicht mehr als zehn Mark geben wollen. Nun bückte er sich traurig über seine Arbeit und brachte eine öde Stunde über Tabellen hin, da kam mit der Post, die ein Lehrling brachte, ein kleiner Brief für ihn. Erstaunt öffnete er das zierliche Kuvert, steckte es in die Tasche und las heimlich das kleine rosenrote Billett, das er darin gefunden hatte. »Liebster, gelt du kommst heut Abend? Mit Kuß deine Fanny.«

Das gab den Ausschlag. Ladidel beschloß, unter allen Umständen und um jeden Preis sein Versprechen zu halten. Das Brieflein verbarg er in der Brusttasche und zog es je und je heimlich hervor, um daran zu riechen, denn es hatte einen feinen warmen Duft, der ihm wie Wein zu Kopfe stieg.

Schon in den Überlegungen der vergangenen Nacht war der Gedanke in ihm aufgestiegen, im Notfalle das Geld auf eine verbotene Weise an sich zu bringen, doch hatte er diesen Plänen keinen Raum in sich gegönnt. Nun kamen sie wieder und waren stärker und schmeichelnder geworden. Ob ihm auch als einem redlichen Menschen vor Diebstahl und Betrug im Herzen graute, so wollte ihm doch der Gedanke, es handle sich dabei nur um eine erzwungene Anleihe, deren Erstattung ihm heilig sein würde, mehr und mehr einleuchten. Über die Art der Ausführung aber zerbrach er sich vergeblich den Kopf. Es wäre ihm leicht gewesen, sich die Summe auf der Bank, wo man ihn kannte, zu verschaffen, wenn er sich hätte entschließen können, die Handschrift seines Prinzipals zu fälschen. Aber zu einem solchen richtigen Spitzbubenstück reichte es ihm doch nicht. Er brachte den Tag verstört und bitter hin, sann und plante, und er wäre am Ende betrübt, doch unbefleckt, aus dieser Prüfung hervorgegangen, wenn ihn nicht am Abend, in der letzten Stunde, eine allzu verlockende Gelegenheit doch noch zum Schelm gemacht hätte.

Der Prinzipal gab ihm Auftrag, da und dahin einen Wertbrief zu senden, und zählte ihm die Banknoten hin. Es waren sieben Scheine, die er zweimal durchzählte. Da widerstand er nicht länger, brachte mit zitternder Hand eines von den Papieren an sich und siegelte die sechse ein, die denn auch zur Post kamen und abreisten.

Die Tat wollte ihn reuen, schon als der Lehrling den Siegelbrief wegtrug, dessen Aufschrift nicht mit seinem Inhalte stimmte. Von allen Arten der Unterschlagung schien ihm diese nun die törichtste und gefährlichste, da im besten Fall nur Tage vergehen konnten, bis das Fehlen des Geldes entdeckt und Bericht darüber einlaufen würde. Als der Brief fort und nichts zu bessern war, hatte der im Bösen unbewanderte Ladidel das Gefühl eines Selbstmörders, der den Strick um den Hals und den Schemel schon weggestoßen hat, nun aber gerne doch noch leben möchte. Drei Tage kann es dauern, dachte er, vielleicht aber auch nur einen, dann bin ich meines guten Rufes, meiner Freiheit und Zukunft ledig, und alles um die hundert Mark, die nicht einmal für mich sind. Er sah sich verhört, verurteilt, mit Schanden fortgejagt und ins Gefängnis gesteckt und mußte zugeben, daß das alles durchaus verdient und in der Ordnung sei.

Erst auf dem Wege zum Abendessen fiel ihm ein, es könnte am Ende auch besser ablaufen. Daß die Sache gar nicht entdeckt werden würde, wagte er zwar nicht zu hoffen; aber wenn nun das Geld auch fehlte, wie wollte man beweisen, daß er der Dieb war? Um sich zu stärken, trank er wider seine Gewohnheit ein Bier zum Abendbrot und ging dann nach Hause, um sich schön zu machen. Mit dem Sonntagsrock und seiner besten Wäsche angetan, erschien er eine Stunde später auf dem Tanzplatze. Unterwegs war seine Zuversicht zurückgekehrt, oder es hatten doch die wieder erwachten heißen Wünsche seiner Jugend die Angstgefühle übertäubt.

Es ging auch an diesem Abend lebhaft zu, doch fiel es dem einsam wartenden Ladidel auf, daß der Ort nicht von der guten Bürgerschaft, sondern zumeist von geringeren Leuten und auch von manchen verdächtig Aussehenden besucht war. Als er sein Viertel Landwein getrunken hatte und Fanny noch nicht gekommen war, befiel ihn ein Mißbehagen an dieser Gesellschaft und er verließ den Garten, um draußen hinterm Zaun zu warten. Da lehnte er in der Abendkühle an einer finstern Stelle des Geheges, sah in das Gewühl und wunderte sich, daß er gestern inmitten derselben Leute und bei derselben Musik so glücklich gewesen war und so ausgelassen getanzt hatte. Heute wollte ihm alles weniger gefallen; von den Mädchen sahen viele frech und liederlich aus, die Burschen hatten üble Manieren und unterhielten selbst während des Tanzes ein lärmendes Einverständnis durch Schreie und Pfiffe. Auch die roten Papierlaternen sahen weniger festlich und leuchtend aus, als sie ihm gestern erschienen waren. Er wußte nicht, ob nur Müdigkeit und Ernüchterung, oder ob sein schlechtes Gewissen daran schuld sei; aber je länger er zuschaute und wartete, desto weniger wollte der Festrausch wieder kommen, und er nahm sich vor, mit Fanny, sobald sie käme, von diesem Ort wegzugehen.

Als er wohl eine Stunde gewartet hatte und müd und ungeduldig zu werden begann, sah er am jenseitigen Eingang des Gartens sein Mädchen ankommen, in der roten Bluse und mit dem weißen Segeltuchhütchen, und betrachtete sie neugierig. Da er solang hatte warten müssen, wollte er nun auch sie ein wenig necken und warten lassen, auch reizte es ihn, sie so aus dem Verborgenen zu belauschen.

Die hübsche Fanny spazierte langsam durch den Garten und suchte; und da sie Ladidel nicht fand, setzte sie sich beiseite an einen Tisch. Ein Kellner kam, doch winkte sie ihm ab. Dann sah Ladidel, wie sich ihr ein Bursche näherte, der ihm schon gestern als ein vorlauter und roher Patron aufgefallen war. Er schien sie gut zu kennen, und soweit Ladidel sehen konnte, fragte sie ihn eifrig nach etwas, wohl nach ihm, und der Bursche zeigte nach dem Ausgang und schien zu erzählen, der Gesuchte sei dagewesen, aber wieder fortgegangen.

Nun begann Ladidel Mitleid zu haben und wollte zu ihr eilen, doch sah er in demselben Augenblick mit Schrecken, wie der unangenehme Bursche die Fanny ergriff und mit ihr zum Tanz antrat. Aufmerksam beobachtete er sie beide, und wenn ihm auch ein paar grobe Liebkosungen des Mannes das Blut ins Gesicht trieben, so schien doch das Mädchen gleichgültig zu sein, ja ihn abzuwehren.

Kaum war der Tanz zu Ende, so ward Fanny von ihrem Begleiter einem andern zugeschoben, der den Hut vor ihr zog und sie höflich zur neuen Tour aufforderte. Ladidel wollte ihr zurufen, wollte über den Zaun zu ihr hinein, doch kam es nicht dazu, und er mußte in trauriger Betäubung zusehen, wie sie dem Fremden zulächelte und mit ihm den Schottischen begann. Und während des Schottischen sah er sie schön mit dem andern tun und seine Hände streicheln und sich an ihn lehnen, gerade wie sie es gestern ihm selbst getan hatte, und er sah den Fremden warm werden und sie fester umfassen und am Schluß des Tanzes mit ihr durch die dunkleren Laubengänge wandeln, wobei das Paar dem Lauscher peinlich nahe kam und er ihre Worte und Küsse gar deutlich hörten konnte.

Da ging Alfred Ladidel heimwärts, mit tränenden Augen, das Herz voll Scham und Wut und dennoch froh, der Hure entgangen zu sein. Junge Leute kehrten von den Festplätzen heim und sangen, Musik und Gelächter drang aus den Gärten; ihm aber klang alles wie ein Hohn auf ihn und alle Lust, und wie vergiftet. Als er heimkam, war er todmüde und hatte kein Verlangen mehr als zu schlafen. Und da er seinen Sonntagsrock auszog und gewohnterweise seine Falten glatt strich, knisterte es in der Tasche und er zog unversehrt den blauen Geldschein hervor. Unschuldig lag das Papier im Kerzenschein auf dem Tische; er sah es eine Weile an, schloß es dann in die Schublade und schüttelte den Kopf dazu. Um das zu erleben, hatte er nun gestohlen und sein Leben verdorben.

Gegen eine Stunde lag er noch wach, doch dachte er in dieser Zeit nicht mehr an Fanny und nicht mehr an die hundert Mark, noch an das, was jetzt über ihn kommen würde, sondern er dachte an Martha Weber und daran, daß er sich nun alle Wege zu ihr verschüttet habe.

Fünftes Kapitel

Was er jetzt zu tun habe, wußte Ladidel genau. Er hatte erfahren, wie bitter es ist, sich vor sich selber schämen zu müssen, und stand sein Mut auch tief, so war er dennoch fest entschlossen, mit dem Gelde und einem ehrlichen Geständnis zu seinem Prinzipal zu gehen und von seiner Ehre und Zukunft zu retten, was noch zu retten wäre.

Darum war es ihm nicht wenig peinlich, als am folgenden Tage der Notar nicht ins Kontor kam. Er wartete bis Mittag und vermochte seinen Kollegen kaum in die Augen zu blicken, da er nicht wußte, ob er morgen noch an diesem Platze stehen und als ihresgleichen gelten werde.

Nach Tische erschien der Notar wieder nicht, und es verlautete, er sei unwohl und werde heut nimmer ins Geschäft kommen. Da hielt Ladidel es nicht länger aus. Er ging unter einem Vorwand weg und geradenwegs in die Wohnung seines Prinzipals. Man wollte ihn nicht vorlassen, er bestand aber mit Verzweiflung darauf, nannte seinen Namen und begehrte in einer wichtigen Sache den Herrn zu sprechen. So wurde er in ein Vorzimmer geführt und aufgefordert zu warten.

Die Dienstmagd ließ ihn allein, er stand in Verwirrung und Angst zwischen plüschbezogenen Stühlen, lauschte auf jeden Ton im Hause und hatte das Sacktuch in der Hand, da ihm ohne Unterlaß der Schweiß über die Stirn lief. Auf einem ovalen Tische lagen goldverzierte Bücher, Schillers Glocke und der siebziger Krieg, ferner stand dort ein Löwe aus grauem Stein und in Stehrahmen eine Menge von Photographien. Es sah hier feiner, doch ähnlich aus wie in der schönen Stube von Ladidels Eltern, und alles mahnte an Ehrbarkeit, Wohlstand und Würde. Die Photographien stellten lauter wohlgekleidete Leute vor, Brautpaare im Hochzeitsstaat, Frauen und Männer von guter Familie und zweifellos bestem Rufe, und von der Wand schaute ein wohl lebensgroßer Mannskopf herab, dessen Züge und Augen Ladidel an das Bildnis des verstorbenen Vaters bei den Weberschen Damen erinnerten. Zwischen so viel bürgerlicher Würde sank der Sünder in seinen eigenen Augen von Augenblick zu Augenblick tiefer, er fühlte sich durch seine Übeltat von diesem und jedem ehrbaren Kreise ausgeschlossen und unter die Abgängigen und Ehrlosen geworfen, von denen keine Photographien gemacht und unter Glas gespannt und in den guten Stuben rechter Leute aufgestellt werden.

Eine große Wanduhr von der Art, die man Regulatoren nennt, schwang ihren messingenen Perpendikel gleichmütig und unangefochten hin und wider, und einmal, nachdem Ladidel schon recht lang gewartet hatte, räusperte sie sich leise und tat sodann einen tiefen, schönen, vollen Schlag. Der arme Jüngling schrak auf, und in demselben Augenblick trat ihm gegenüber der Notar durch die Türe. Er beachtete Ladidels Verbeugung nicht, sondern wies sogleich befehlend auf einen Sessel, nahm selber Platz und sagte: »Was führt Sie her?«

»Ich wollte,« begann Ladidel, »ich hatte, ich wäre – –.« Dann aber schluckte er energisch und stieß heraus: »Ich habe Sie bestehlen wollen.«

Der Notar nickte und sagte ruhig: »Sie haben mich sogar wirklich bestohlen, ich weiß es schon. Es ist vor einer Stunde telegraphiert worden. Sie haben also wirklich einen von den Hundertmarkscheinen genommen?«

Statt der Antwort zog Ladidel den Schein aus der Tasche und streckte ihn dar. Erstaunt nahm der Herr ihn in die Finger, spielte damit und sah Ladidel scharf an.

»Wie geht das zu? Haben Sie schon Ersatz geschafft?«

»Nein, es ist derselbe Schein, den ich weggenommen hatte. Ich habe ihn nicht gebraucht.«

»Sie sind ein Sonderling, Ladidel. Daß Sie das Geld genommen hätten, wußte ich sofort. Es konnte ja sonst niemand sein. Und außerdem wurde mir gestern erzählt, man habe Sie am Sonntag Abend auf dem Festplatz in einer etwas verrufenen Tanzbude gesehen. Oder hängt es nicht damit zusammen?«

Nun mußte Ladidel erzählen, und so sehr er sich Mühe gab, das Beschämendste zu unterdrücken, es kam wider seinen Willen doch fast alles heraus. Der alte Herr unterbrach ihn nur zwei-, dreimal durch kurze Fragen, im übrigen hörte er gedankenvoll zu und sah zuweilen dem Beichtenden ins Gesicht, sonst aber zu Boden, um ihn nicht zu stören.

Am Ende stand er auf und ging in der Stube hin und wider. Nachdenklich nahm er eine von den Photographien in die Hand. Plötzlich bot er das Bild dem Übeltäter hin, der in seinem Sessel ganz zusammengebrochen kauerte.

»Sehen Sie,« sagte er, »das ist der Direktor einer großen Fabrik in Amerika. Er ist ein Vetter von mir, Sie brauchen es ja nicht jedermann zu erzählen, und er hat als junger Mensch in einer ähnlichen Lage wie Sie tausend Mark entwendet. Er wurde von seinem Vater preisgegeben, mußte hinter Schloß und Riegel und ging nachher nach Amerika.«

Er schwieg und wanderte wieder umher, während Ladidel das Bild des stattlichen Mannes ansah und einigen Trost daraus sog, daß also auch in dieser ehrenwerten Familie ein Fehltritt vorgekommen sei, und daß der Sünder es doch noch zu etwas gebracht habe und nun gleich den Gerechten gelte, und sein Bild zwischen den Bildern unbescholtener Leute stehen dürfe.

Inzwischen hatte der Notar seine Gedanken zu Ende gesponnen und trat zu Ladidel, der ihn schüchtern anschaute.

Er sagte fast freundlich: »Sie tun mir leid, Ladidel. Ich glaube nicht, daß Sie schlecht sind, und hoffe, Sie kommen wieder auf rechte Wege. Am Ende würde ich es sogar wagen und Sie behalten. Aber das geht doch nicht. Es wäre für uns beide unerquicklich und ginge gegen meine Grundsätze. Und einem Kollegen kann ich Sie auch nicht empfehlen, wenn ich auch an Ihre guten Vorsätze gern glauben will. Wir wollen also die Sache zwischen uns für abgetan ansehen, ich werde niemand davon sagen. Aber bei mir bleiben können Sie nicht.«

Ladidel war zwar überfroh, die böse Sache so menschlich behandelt zu sehen. Da er sich aber nun ans Freie gesetzt und so ins Ungewisse geschickt fand, verzagte er doch und klagte: »Ach, was soll ich aber jetzt anfangen?«

»Etwas Neues,« rief der Notar, und unversehens lächelte er. »Seien Sie ehrlich, Ladidel, und sagen Sie: wie wäre es Ihnen wohl nächstes Frühjahr im Staatsexamen gegangen? Schauen Sie, Sie werden rot. Nun, wenn Sie auch schließlich den Winter über noch manches hätten nachholen können, so hätte es doch schwerlich gereicht, und ich hatte ohnehin schon seit einiger Zeit die Absicht, darüber mit Ihnen zu reden. Jetzt ist ja die beste Gelegenheit dazu. Meine Überzeugung, und vielleicht im Stillen auch Ihre, ist die, daß Sie Ihren Beruf verfehlt haben. Sie passen nicht zum Notar und überhaupt nicht ins Amtsleben. Nehmen Sie an, Sie seien im Examen durchgefallen, und suchen Sie recht bald einen andern Beruf, in dem Sie es weiter bringen können. Vielleicht ist es für eine Kaufmannslehre noch nicht zu spät – aber das ist Ihre und Ihres Vaters Sache. Ihr Monatsgeld schicke ich Ihnen morgen. Wenn Sie noch etwas im Kontor liegen haben, was Ihnen gehört, so holen Sie es jetzt. – Nur noch eins: Ihr Vater muß die Sache natürlich wissen!«

Ladidel sagte leise ja und senkte den Kopf.

»Es ist das Beste, Sie sagen es ihm selbst. Aber tun Sie es gewiß, und warten Sie damit nicht lang, denn schreiben muß ich ihm doch. Am besten fahren Sie gleich morgen nach Hause. Und jetzt adieu. Sehen Sie mir ins Gesicht! Und behalten Sie mich in gutem Andenken. Wenn Sie mir später einmal Bericht geben, wird es mich freuen. Nur jetzt den Kopf nicht ganz hängen lassen und keine neuen Dummheiten machen! – Adieu denn, und grüßen Sie den Herrn Vater von mir!«

Er gab dem Bestürzten die Hand, drückte ihm die seine kräftig und schob ihn, der noch reden und danken wollte, zur Tür.

Damit stand unser Freund auf der Gasse und konnte sehen, was weiter käme. Er hatte im Kontor nur ein paar schwarze Ärmelschoner zurückgelassen, an denen war ihm nichts gelegen, und er zog es vor, sich dort nimmer zu zeigen und sich das Abschiednehmen von den Kollegen zu ersparen. Allein so betrübt er war und so sehr ihm vor der Heimfahrt und dem Vater und der ganzen kommenden Zeit graute, auf dem Grund seiner Seele war er doch dankbar und beinahe vergnügt, der furchtbaren Angst vor Polizei und Schande ledig zu sein; und während er langsam durch die Straßen ging, schlich auch der Gedanke, daß er nun kein Examen mehr vor sich habe, als ein tröstlicher Lichtstrahl in sein Gemüt, das von den vielen Erlebnissen dieser Tage auszuruhen und aufzuatmen begehrte.

So begann ihm beim Dahinwandeln allmählich auch das ungewohnte Vergnügen, Werktags um diese Tageszeit frei durch die Stadt zu spazieren, recht wohl zu gefallen. Er blieb vor den Auslagen der Kaufleute stehen, betrachtete die Kutschenpferde, die an den Ecken warteten, schaute auch zum zartblauen Herbsthimmel hinan und genoß für eine Stunde ein unverhofftes Ferien- und Herrengefühl. Dann kehrten seine Gedanken in den alten engen Kreis zurück, und als er, schon wieder gedrückt und ziemlich mutlos, in der Nähe seiner Wohnung um eine Gassenecke bog, mußte ihm gerade eine hübsche junge Dame begegnen, die dem Fräulein Martha Weber ähnlich sah. Da fiel ihm alles wieder recht aufs Herz, seine mißglückten und lächerlichen Versuche auf dem Gebiete der Liebe zumal, und er mußte sich vorstellen, was wohl die Martha denken und sagen würde, wenn sie seine ganze Geschichte erführe. Erst jetzt fiel ihm ein, daß sein Fortgehen von hier ihn nicht nur von Amt und Zukunft, sondern auch aus der Nähe des geliebten Mädchens entführe. Und alles um diese Fanny.

Je mehr ihm das klar wurde, desto stärker ward sein Verlangen, nicht ohne einen Gruß an Martha fortzugehen. Schreiben mochte und durfte er ihr nicht, es blieb ihm nur der Weg durch Fritz Kleuber. Darum kehrte er, kurz vor dem Hause, um und suchte Kleuber in seiner Rasierstube auf.

Der gute Fritz hatte eine ehrliche Freude, ihn wieder zu sehen. Doch deutete Ladidel ihm nur in Kürze an, er müsse aus besonderen Gründen seine Stelle verlassen und wegreisen.

»Nein aber!« rief Fritz betrübt. »Da müssen wir aber wenigstens noch einmal zusammensein, wer weiß, wann man sich wieder sieht! Wann mußt du denn reisen?«

Alfred überlegte. »Morgen muß ich doch noch packen. Also übermorgen.«

»Dann mache ich mich morgen abend frei und komme zu dir, wenn dir's recht ist.«

»Ja, gut. Und gelt, wenn du wieder zu deiner Braut kommst, sagst du viele Grüße von mir – an alle!«

»Ja, gern. Aber willst du nicht selber noch hingehen?«

»Ach, das geht jetzt nimmer. – Also morgen!«

Trotzdem überlegte er diesen und den ganzen folgenden Tag, ob er es nicht doch tun solle. Allein er fand nicht den Mut dazu. Was hätte er sagen und wie seine Abreise erklären sollen? Ohnehin überfiel ihn heute eine heillose Angst vor der Heimreise und vor seinem Vater, vor den Leuten daheim und aller Schande, der er entgegenging. Und er packte nicht, er fand nicht einmal den Mut, seiner Wirtin die Stube zu kündigen. Statt all dies Notwendige zu tun, saß er und füllte Bogen mit Entwürfen zu einem Brief an seinen Vater.

»Lieber Vater! Der Notar kann mich nicht mehr brauchen –«

»Lieber Vater! Da ich doch zum Notar nicht recht passe –«. Es war nicht leicht, das Schreckliche sanft und doch deutlich zu sagen. Aber es war immerhin leichter, diesen Brief zusammenzudichten als heimzufahren und zu sagen: Da bin ich wieder, man hat mich fortgejagt. Und so ward denn bis zum Abend der Brief wirklich fertig. Hatte der Sünder beim Schreiben und Wiederschreiben seine Vergehen oftmals überdenken und den bittern Trank der Scham und Reue leeren müssen, so hatte er im Verlauf doch auch Gelegenheit gefunden, die böse Sache von freundlicheren Seiten her zu betrachten und Balsam auf die Wunde zu streichen.

Dennoch war er am Abend mürbe und mitgenommen, und Kleuber fand ihn so milde und weich wie noch nie. Er hatte ihm, als ein Abschiedsgeschenk, eine kleine geschliffene Glasflasche mit edelm Odeur mitgebracht. Die bot er ihm hin und sagte: »Darf ich dir das zum Andenken mitgeben? Es wird schon noch in den Koffer gehen.« Indessen sah er sich um und rief verwundert: »Du hast ja noch gar nicht gepackt! Soll ich dir helfen?«

Ladidel sah ihn unsicher an und meinte: »Ja, ich bin noch nicht soweit. Ich muß noch auf einen Brief warten.«

»Das freut mich,« sagte Fritz vergnügt, »so hat man doch Zeit zum Adieusagen. Weißt du, wir könnten eigentlich heut Abend miteinander zu den Webers gehen. Es wäre doch schade, wenn du so wegreisen würdest.«

Dem armen Ladidel war es, als ginge eine Tür zum Himmel auf und würde im selben Augenblick wieder zugeschlagen. Er wollte etwas sagen, schüttelte aber nur den Kopf, und als er sich zwingen wollte, würgten die Worte ihn in der Kehle, und unversehens brach er vor dem erstaunten Fritz in ein Schluchzen aus.

»Ja lieber Gott, was hast du?« rief der erschrocken. Ladidel winkte schweigend ab, aber Kleuber war darüber, daß er seinen bewunderten und stolzen Freund in Tränen sah, so ergriffen und gerührt, daß er ihn in die Arme nahm wie einen Kranken, ihm die Hände streichelte und ihm in unbestimmten Ausdrücken seine Hilfe anbot.

»Ach, du kannst mir nicht helfen,« sagte Alfred, als er wieder reden konnte. Doch ließ Kleuber ihm keine Ruhe, und schließlich kam es Ladidel wie eine Erlösung vor, einer so wohlmeinenden Seele zu beichten, so daß er nachgab. Sie setzten sich einander gegenüber, Ladidel wandte sein Gesicht ins Dunkle und fing an: »Weißt du, damals als wir zum erstenmal miteinander zu deiner Braut gegangen sind –« und erzählte weiter, alles und alles, von seiner Liebe zu Martha, von ihrem kleinen Streit und Auseinanderkommen, und wie leid ihm das tue. Sodann kam er auf das Schützenfest zu sprechen, auf seine Verstimmung und Verlassenheit, von der Tanzwirtschaft und der Fanny, von dem Hundertmarkschein, und wie dieser unverwendet geblieben sei, endlich von dem gestrigen Gespräch mit dem Notar und seiner jetzigen Lage. Er gestand auch, daß er das Herz nicht habe, so vor seinen Vater zu kommen, daß er ihm geschrieben habe und nun mit Schrecken des Kommenden warte.

Dem allem hörte Fritz Kleuber still und aufmerksam zu, betrübt und in der Seele aufgewühlt durch solche Ereignisse. Als der andre schwieg und das Wort an ihm war, sagte er leise und schüchtern: »Da tust du mir leid.« Und obschon er selber gewiß niemals im Leben einen Pfennig veruntreut hatte, fuhr er fort: »Es kann ja jedem so etwas passieren, und du hast ja das Geld auch wieder zurückgebracht. Was soll ich da sagen? Die Hauptsache ist jetzt, was du anfangen sollst.«

»Ja, wenn ich das wüßte! Ich wollt, ich wär tot.«

»So darfst du nicht reden,« rief Fritz entsetzt. »Weißt du denn wirklich nichts?«

»Gar nichts. Ich kann jetzt Steinklopfer werden.«

»Das wird nicht nötig sein. – Wenn ich nur wüßte, ob es dir keine Beleidigung ist – –«

»Was denn?«

»Ja, ich hätte einen Vorschlag. Ich fürchte nur, es ist eine Dummheit von mir, und du nimmst es übel.«

»Aber sicher nicht! Ich kann mirs gar nicht denken.«

»Sieh, ich denke mir so – du hast ja hie und da dich für meine Arbeit interessiert, und hast selber zum Vergnügen es damit probiert. Du hast auch viel Genie dafür und könntest es bald besser als ich, weil du geschickte Finger hast und so einen feinen Geschmack. Ich meine, wenn sich vielleicht nicht gleich etwas Besseres findet, ob du es nicht mit unsrem Handwerk probieren möchtest?«

Ladidel war erstaunt; daran hatte er nie gedacht. Das Gewerbe eines Barbiers war ihm bisher zwar nicht schimpflich, doch aber wenig nobel vorgekommen. Nun aber war er von jener hohen Stufe herabgesunken und hatte wenig Grund mehr, irgendein ehrliches Gewerbe gering zu achten. Das fühlte er auch; und daß Fritz sein Talent so rühmte, tat ihm wohl. Er meinte nach einigem Besinnen: »Das wäre vielleicht gar nicht das Dümmste. Aber weißt du, ich bin doch schon erwachsen, und auch an einen andern Stand gewöhnt; da würde ich schwer tun, noch einmal als Lehrbub bei irgendeinem Meister anzufangen.«

Fritz nickte. »Wohl, wohl. So ist es auch nicht gemeint!«

»Ja wie denn sonst?«

»Ich meine, du könntest bei mir lernen, was noch zu lernen ist. Entweder warten wir, bis ich mein eigenes Geschäft habe, das dauert nimmer lang. Du könntest aber auch schon jetzt zu mir kommen. Mein Meister nähme ganz gern einen Volontär, der geschickt ist und keinen Lohn will. Dann würde ich dich anleiten, und sobald ich mein eigenes Geschäft anfange, kannst du bei mir eintreten. Es ist ja vielleicht nicht leicht für dich, dich dran zu gewöhnen; aber wenn man eine gute und feine Kundschaft hat, ist es doch kein übles Geschäft.«

Ladidel hörte mit angenehmer Verwunderung zu und spürte im Herzen, daß hier sein Schicksal sich entschied. War es auch vom Notar zum Friseur ein gewisser Rückschritt, so empfand er doch zum erstenmal im Leben die innige Befriedigung eines Mannes, der seinen wahren Beruf entdeckt und den ihm bestimmten Weg gefunden hat.

»Du, das ist ja großartig,« rief er glücklich und streckte Kleubern die Hand hin. »Jetzt ist mir erst wieder wohl in meiner Haut. Mein Alter wird ja vielleicht nicht gleich einverstanden sein, aber er muß es ja einsehen. Gelt, du redest dann auch ein Wort mit ihm?«

»Wenn du meinst –«, sagte Fritz schüchtern.

Nun war Ladidel so entzückt von seinem zukünftigen Beruf und so voll Eifers, daß er begehrte, augenblicklich eine Probe abzulegen. Kleuber mochte wollen oder nicht, er mußte sich hinsetzen und sich von seinem Freunde rasieren, den Kopf waschen und frisieren lassen. Und siehe, es glückte alles vorzüglich, kaum daß Fritz ein paar kleine Ratschläge zu geben hatte. Ladidel bot ihm Zigaretten an, holte den Weingeistkocher und setzte Tee an, plauderte und setzte seinen Freund durch diese rasche Heilung von seinem Trübsinn nicht wenig in Erstaunen. Fritz brauchte länger, um sich in die veränderte Stimmung zu finden, doch riß Alfreds Laune ihn endlich mit, und wenig fehlte, so hätte dieser wie in frühern vergnügten Zeiten die Gitarre ergriffen und Schelmenlieder angestimmt. Es hielt ihn davon nur der Anblick des Briefes an seinen Vater ab, der noch auf dem Tische lag und ihn am spätern Abend nach Kleubers Weggehen noch lang beschäftigte. Er las ihn wieder durch, war nimmer mit ihm zufrieden und faßte am Ende den Entschluß, nun doch heimzufahren und seine Beichte selber abzulegen. Nun wagte er es, da er einen Ausweg aus der Trübsal und ein neues Glück seiner warten wußte.

Sechstes Kapitel

Als Ladidel von dem Besuch bei seinem Vater wiederkehrte, war er zwar etwas stiller geworden, hatte aber seine Absicht erreicht und trat für ein halbes Jahr als Volontär bei Kleubers Meister ein. Fürs erste sah er damit seine Lage bedeutend verschlechtert, da er nichts mehr verdiente und das Monatsgeld von Hause sehr sparsam gemessen war. Er mußte seine hübsche Stube aufgeben und eine geringe Kammer nehmen, auch sonst trennte er sich von manchen Gewohnheiten, die seiner neuen Stellung nicht mehr angemessen schienen. Nur die Gitarre blieb bei ihm und half ihm über vieles weg, auch konnte er seiner Neigung zu sorgfältiger Pflege seines Haupthaares und Schnurrbartes, seiner Hände und Fingernägel jetzt ohne Beschränkung frönen. Er schuf sich nach kurzem Studium eine Frisur, die jedermann bewunderte, und ließ seiner Haut mit Bürsten, Pinseln, Salben, Seifen, Wassern und Pudern das Beste zukommen. Was ihn jedoch mehr als dies alles beglückte und mit dem Wechsel seines Standes versöhnte, war die Befriedigung, die er im neuen Berufe fand, und die innerliche Gewißheit, nunmehr ein Metier zu betreiben, das seinen Talenten entsprach und in dem er Aussicht hatte, Bedeutendes zu leisten.

Anfänglich ließ man ihn freilich nur untergeordnete Arbeiten tun. Er mußte Knaben die Haare schneiden, Arbeiter rasieren und Kämme und Bürsten reinigen, doch erwarb er durch seine Fertigkeit im Flechten künstlicher Zöpfe bald seines Meisters Vertrauen und erlebte nach kurzem Warten den Ehrentag, da er einen wohlgekleideten, nobel aussehenden Herrn bedienen durfte. Dieser war zufrieden und gab sogar ein Trinkgeld, und nun ging es Stufe für Stufe vorwärts. Ein einzigesmal schnitt er einen Kunden in die Wange und mußte Tadel über sich ergehen lassen, im übrigen erlebte er beinahe nur Anerkennung und Erfolge. Besonders war es Fritz Kleuber, der ihn bewunderte und nun erst recht für einen Auserwählten ansah. Denn wenn er selbst auch ein tüchtiger Arbeiter und seiner Fertigkeit sicher war, so fehlte ihm doch sowohl die leichte Erfindungskraft, die für jeden Kopf sofort die entsprechende Frisur zu schaffen weiß, wie auch das leichte, unterhaltende, angenehme Wesen im Umgang mit nobler Kundschaft. Hierin war Ladidel bedeutend, und nach einem Vierteljahr begehrten schon die verwöhnteren Stammgäste immer von ihm bedient zu werden. Er verstand es auch vortrefflich, nebenher seine Herren zum häufigeren Ankauf neuer Pomaden, Bartwichsen und Seifen, teurer Bürstchen und Kämme zu überreden; und in der Tat mußte in diesen Dingen jedermann seinen Rat willig und dankbar hinnehmen, denn er selbst sah beneidenswert tadellos und wohlbestellt aus.

Da die Arbeit ihn so in Anspruch nahm und befriedigte, trug er jede Entbehrung leichter, und so hielt er auch die lange Trennung von Martha Weber geduldig aus. Ein Schamgefühl hatte ihn gehindert, sich ihr in seiner neuen Gestalt zu zeigen, ja er hatte Fritz inständig gebeten, seinen neuen Stand vor den Damen zu verheimlichen. Dies war allerdings nur eine kurze Zeit möglich gewesen. Meta, der die Neigung ihrer Schwester zu dem hübschen Notar nicht unbekannt geblieben war, hatte sich hinter Fritz gesteckt und bald ohne Mühe alles herausbekommen. So konnte sie der Schwester nach und nach ihre Neuigkeiten enthüllen und Martha erfuhr nicht nur den Berufswechsel ihres Geliebten, den er jedoch aus Gesundheitsrücksichten vorgenommen habe, sondern auch seine unveränderte treue Verliebtheit. Sie erfuhr ferner, daß er sich seines neuen Standes vor ihr schämen zu müssen meine und jedenfalls nicht eher sich wieder zeigen möge, als bis er es zu etwas gebracht und begründete Aussichten für die Zukunft habe.

Eines Abends war in dem Mädchenstübchen wieder vom »Notar« die Rede. Meta hatte ihn über den Schellenkönig gelobt, Martha aber sich wie immer spröde verhalten und es vermieden, Farbe zu bekennen.

»Paß auf,« sagte Meta, »der macht so schnell voran, daß er am Ende noch vor meinem Fritz ans Heiraten kommt.«

»Meinetwegen, ich gönns ihm ja.«

»Und dir aber auch, nicht? Oder tust du's unter einem Notar durchaus nicht?«

»Laß mich aus dem Spiel! Der Ladidel wird schon wissen, wo er sich eine zu suchen hat.«

»Das wird er, hoff ich. Bloß hat man ihn zu spröd empfangen, und jetzt ist er scheu und findet den Weg nimmer recht. Dem wenn man einen Wink gäbe, er käm auf allen Vieren gelaufen.«

»Kann schon sein.«

»Wohl. Soll ich winken?«

»Willst denn du ihn haben? Du hast doch deinen Bartscherer, mein ich.«

Meta schwieg nun und lachte in sich hinein. Sie sah wohl, wie ihrer Schwester ihre vorige Schärfe leid tat und sie gar zu gern ihren Alfred auf gute Art wieder zu Handen gekriegt hätte. Sie sann auf Wege, den Scheugewordenen wieder herzulocken, und hörte Marthas verheimlichten Seufzern mit einer kleinen Schadenfreude zu.

Mittlerweile meldete sich von Schaffhausen her Fritzens alter Meister wieder und ließ wissen, er wünsche nun bald sich einen Feierabend zu gönnen. Da frage er an, wie es mit Kleubers Absichten stehe. Zugleich nannte er die Summe, um welche sein Geschäft ihm feil sei, und wieviel davon er angezahlt haben müsse. Diese Bedingungen waren nun billig und wohlmeinend, jedoch reichten Kleubers Mittel dazu nicht hin, so daß er in Sorgen umherging, und diese gute Gelegenheit zum Selbständigwerden und Heiratenkönnen zu versäumen fürchtete. Und endlich überwand er sich und schrieb ab, und erst dann erzählte er die ganze Sache Ladideln.

Der schalt ihn, daß er ihn das nicht habe früher wissen lassen, und machte sogleich den Vorschlag, er wolle die Angelegenheit vor seinen Vater bringen. Wenn der zu gewinnen sei, könnten sie ja das Geschäft gemeinsam übernehmen.

Der alte Ladidel war überrascht, als die beiden jungen Leute mit ihrem Anliegen zu ihm kamen, und wollte nicht sogleich daran, obwohl die Summe seinen Beutel nicht erschöpft hätte. Doch hatte er zu Fritz Kleuber, der sich seines Sohnes in einer entscheidenden Stunde so wohl angenommen hatte, ein gutes Vertrauen, auch hatte Alfred von seinem jetzigen Meister ein überaus lobendes Zeugnis mitgebracht. Ihm schien, sein Sohn sei jetzt auf gutem Wege, und er zögerte, ihm nun einen Stein darein zu werfen. Nach einigen Tagen des Hin- und Widerredens entschloß er sich und fuhr selber nach Schaffhausen, um sich alles anzusehen.

Der Kauf kam zustande, und die beiden Kompagnone wurden von allen Kollegen beglückwünscht. Kleuber beschloß im Frühjahr Hochzeit zu halten und bat sich Ladidel als ersten Brautführer aus. Da war ein Besuch im Hause Weber nicht mehr zu umgehen. Ladidel kam in Fritzens Gesellschaft sehr rot und schämig daher, und konnte vor Herzklopfen kaum die vielen Treppen hinaufkommen. Oben empfing ihn der gewohnte Duft und das gewohnte Halbdunkel, Meta begrüßte ihn lachend, und die alte Mutter schaute ihn ängstlich und bekümmert an. Hinten in der hellen Stube aber stand Martha ernsthaft und etwas blaß in einem dunkeln Kleide, gab ihm auch die Hand und war diesmal kaum minder verwirrt als er selber. Man tauschte Höflichkeiten, fragte nach der Gesundheit, trank aus kleinen altmodischen Kelchgläsern einen hellroten süßen Stachelbeerwein und besprach dabei die Hochzeit und alles dazu gehörige. Herr Ladidel bat sich die Ehre aus, Fräulein Marthas Kavalier sein zu dürfen, und wurde eingeladen, sich nun auch wieder fleißig im Hause zu zeigen. Beide sprachen miteinander nur höfliche und unbedeutende Worte, sahen einander aber heimlich an, und jedes fand das andre auf eine nicht auszudrückende, doch reizende Art verändert. Ohne es einander zu sagen, wußten und spürten sie jedes, daß auch das andre in dieser Zeit gelitten habe, und beschlossen heimlich, einander nicht wieder ohne Grund weh zu tun. Zugleich merkten sie auch beide mit Verwunderung, daß die lange Trennung und das Trotzen sie einander nicht entfremdet, sondern näher gebracht habe, und es wollte ihnen scheinen, nun seien wenig Worte mehr notwendig und die Hauptsache zwischen ihnen in Ordnung.

So war es denn auch, und dazu trug nicht wenig bei, daß Meta und Fritz die beiden nach schweigendem Übereinkommen wie ein versprochenes Paar ansahen. Wenn Ladidel ins Haus kam, was jetzt häufiger als je geschah, so schien es allen selbstverständlich, daß er Marthas wegen komme und vor allem mit ihr zusammen sein wolle. Ladidel half treulich bei den Vorbereitungen zur Hochzeit mit und tat es so eifrig und mit dem Herzen, als gälte es seine eigene Heirat. Verschwiegen aber und mit unendlicher Kunst erdachte er sich für Martha eine herrliche neue Frisur.

Einige Tage vor der Hochzeit nun, da es im Hause drüber und drunter ging, erschien er eines Tages feierlich, wartete einen Augenblick ab, da er mit Martha still allein war, und eröffnete ihr, es liege ihm eine gewagte Bitte an sie auf dem Herzen. Sie ward rot und glaubte alles zu ahnen, und wenn sie den Tag auch nicht gut gewählt fand, wollte sie doch nichts versäumen und gab bescheiden Antwort, er möge nur reden. Ermutigt brachte er dann seine Bitte vor, die auf nichts andres zielte als auf die Erlaubnis, dem Fräulein für den Festtag mit einer neuen von ihm ausgedachten Frisur aufwarten zu dürfen.

Verwundert willigte Martha ein, daß eine Probe gemacht werde. Meta mußte helfen, und nun erlebte Ladidel den Augenblick, daß sein alter Wunsch in Erfüllung ging, und er Marthas lange blonde Haare in den Händen hielt. Zu Anfang wollte diese zwar haben, daß Meta allein sie frisiere und er nur mit Rat beistehe. Doch ließ dieses sich nicht durchführen, sondern bald mußte er mit eigener Hand zugreifen und verließ nun den Posten nicht mehr. Als das Haargebäude seiner Vollendung nahe war, ließ Meta die beiden allein, angeblich nur für einen Augenblick, doch blieb sie lange aus. Inzwischen war Ladidel mit seiner Kunst fertig geworden. Martha sah sich im Spiegel königlich verschönt, und er stand hinter ihr, da und dort noch bessernd. Da übermochte ihn die Ergriffenheit, daß er dem schönen Mädchen mit leiser Hand liebkosend über die Schläfe strich. Und da sie sich beklommen umwandte und ihn still mit nassen Augen ansah, geschah es von selbst, daß er sich über sie beugte und sie küßte und, von ihr in Tränen festgehalten, vor ihr kniete und als ihr Liebhaber und Bräutigam wieder aufstand.

»Wir müssen es der Mama sagen,« war alsdann ihr erstes schmeichelndes Wort, und er stimmte zu, obwohl ihm vor der betrübten alten Witwe ein wenig bange war. Als er jedoch vor ihr stand und Martha an der Hand führte und um ihre Hand anhielt, schüttelte die alte Frau nur ein wenig den Kopf, sah sie beide ratlos und bekümmert an und hatte nichts dafür und nichts dawider zu sagen. Doch rief sie Meta herbei, und nun umarmten sich die Schwestern, lachten und weinten, bis Meta plötzlich stehen blieb, die Schwester mit beiden Armen von sich schob, sie dann festhielt und begierig ihre Frisur bewunderte.

»Wahrhaftig,« sagte sie zu Ladidel, und gab ihm die Hand, »das ist Ihr Meisterstück. Aber gelt, wir sagen jetzt Du zu einander?«

Am vorbestimmten Tage fand mit Glanz die Hochzeit und zugleich die Verlobungsfeier statt. Darauf reiste Ladidel in Eile nach Schaffhausen, während die Kleubers in derselben Richtung ihre Hochzeitsreise antraten. Der alte Meister übergab Ladidel das Geschäft, und der fing sofort an, als hätte er nie etwas anderes getrieben. In den Tagen bis zu Kleubers Ankunft half der Alte mit, und es war nötig, denn die Ladentüre ging fleißig. Ladidel sah bald, daß hier sein Weizen blühe, und als Kleuber mit seiner Frau auf dem Dampfschiff von Konstanz her ankam, und er ihn abholte, packte er schon auf dem Heimwege seine Vorschläge zur künftigen Vergrößerung des Geschäftes aus.

Am nächsten Sonntag spazierten die Freunde samt der jungen Frau zum Rheinfall hinaus, der um diese Jahreszeit reichlich Wasser führte. Hier saßen sie zufrieden unter jungbelaubten Bäumen, sahen das weiße Wasser strömen und zerstäuben und redeten von der vergangenen Zeit. »Ja,« sagte Ladidel nachdenklich und schaute auf den tobenden Strom hinab, »nächste Woche wäre mein Examen gewesen.«

»Tut dirs nicht leid?« fragte Meta. Ladidel gab keine Antwort. Er schüttelte nur den Kopf und lachte. Dann zog er aus der Brusttasche ein kleines Paket, machte es auf und brachte ein halb Dutzend feine kleine Kuchen hervor, von denen er den andern anbot und sich selber nahm.

»Du fängst gut an,« lachte Fritz Kleuber. »Meinst du, das Geschäft trage schon soviel?«

»Es trägts,« nickte Ladidel im Kauen. »Es trägts und muß noch mehr tragen.«

Die Heimkehr

Die Gerbersauer wandern im ganzen nicht ungerne und es ist Herkommen, daß ein junger Mensch ein Stück Welt und fremde Sitte sieht, ehe er sich selbständig macht, heiratet und sich für immer in den Bann der heimischen Gewohnheiten und Regeln begibt. Doch pflegen die meisten schon nach kurzen Wanderzeiten die Vorzüge der Heimat einzusehen und wiederzukehren, und es ist eine Rarität, daß einer bis in die höheren Mannesjahre oder gar für immer in der Fremde hängen bleibt. Immerhin kommt es je und je einmal vor und macht den, der es tut, zu einer widerwillig anerkannten, doch vielbesprochenen Berühmtheit in der Heimatstadt.

Ein solcher war August Schlotterbeck, der einzige Sohn des Weißgerbers Schlotterbeck an der Badwiese. Er ging wie andere junge Leute auf Wanderschaft, und zwar als Kaufmann, denn er war als Knabe schwächlich gewesen und für die Gerberei untauglich befunden worden. Später freilich zeigte sich, wie es häufig mit solchen Kindern geht, daß die Zartheit und Schwäche nur eine Laune der Wachsjahre gewesen und dieser August ein recht kräftiger und zäher Bursche war. Jedoch hatte er nun schon den Handelsberuf ergriffen und schaute im Schreibstubenrock mit Ärmelschonern auf die Handwerker zwar duldsam, doch mit einigem Mitleid herab, seinen Vater nicht ausgenommen. Und sei es nun, daß der alte Schlotterbeck dadurch an Vaterzärtlichkeit verlor, sei es, daß er in Ermangelung weiterer Söhne doch einmal darauf verzichten mußte, die alte Schlotterbecksche Gerberei der Familie zu erhalten – kurz, er begann gegen seine alten Tage das Geschäft sichtlich zu vernachlässigen und es sich wohl sein zu lassen, als wäre keine Nachkommenschaft da, und endete damit, daß er nach sorglos verlebtem Alter entschlief und seinem einzigen Sohne das Geschäft so verschuldet hinterließ, daß August froh sein mußte, es um ein Geringes an einen jungen, eben Meister gewordenen Gerber loszuwerden.

Vielleicht war dies die Ursache, daß August länger als nötig in der Fremde verblieb, wo es ihm übrigens gut erging, und schließlich überhaupt nimmer an die Heimkehr dachte. Als er etwas über dreißig Jahre alt war und weder zur Begründung eines eigenen Geschäftes noch zu einer Heirat Veranlassung gefunden hatte, erfaßte ihn spät ein Reisedurst. Er hatte die letzten Jahre bei gutem Gehalt in einer Fabrikstadt der Ostschweiz gearbeitet, nun gab er diese Stellung auf und begab sich nach England, um mehr zu lernen und nicht einzurosten. Obwohl ihm England und die Stadt Glasgow, in der er Arbeit genommen hatte, nicht sonderlich gefiel, geschah es doch, daß er dort sich an ein Weltbürgertum und eine unbeschränkte Freizügigkeit gewöhnte und das Zugehörigkeitsgefühl zur Heimat verlor oder auf die ganze Welt ausdehnte. Und da ihn nichts hielt, kam ihm ein Angebot aus Chicago, als Direktor eine große Fabrik zu leiten, ganz gelegen, und er war bald in Amerika so heimisch oder so wenig heimisch geworden wie an den früheren Orten. Längst sah ihm niemand mehr den Gerbersauer an, und wenn er einmal Landsleute traf, was alle paar Jahre vorkam, begrüßte und behandelte er sie nett und höflich wie andere Leute auch, wodurch ihm in der Heimat der Ruf erwuchs, er sei zwar reich und gewaltig, aber auch gar hochmütig und amerikanisch geworden.

Als er nach Jahren in Chicago genug gelernt und genug erspart zu haben meinte, folgte er seinem einzigen Freunde, einem Deutschen aus Südrußland, in dessen Heimat und tat dort in Bälde eine kleine Fabrik auf, die ihn ernährte und einen guten Ruf genoß. Er heiratete die Tochter seines Freundes und dachte nun für den Rest seines Lebens unter Dach zu sein. Aber das Weitere ging nicht nach seinem Sinn. Zunächst verdroß und bekümmerte es ihn, daß er ohne Kinder blieb, worüber seine Ehe an Frieden und Genüge viel verlor. Dann starb die Frau, was ihm trotz allem weh tat und den rüstigen, fast noch jünglinghaften Mann etwas älter und nachdenklicher machte. Nach einigen weiteren Jahren begannen die Geschäfte sich zu verschlechtern und infolge von politischen Unruhen am Ende bedenklich zu stocken. Als aber wiederum ein Jahr später auch noch sein Freund und Schwiegervater starb und ihn ganz allein ließ, war es um die wohlerworbene Ruhe und Seßhaftigkeit des Mannes geschehen. Er merkte, daß doch nicht ein jeder Fleck Erde gleich dem andern ist, wenigstens nicht für einen, dessen Jugend und Glückszeit sich gegen das Ende neigt. Es geschah, daß er die gesicherten politischen Zustände der Heimat in Gedanken mit dem dortigen Skandal verglich, daß er mit Unbehagen an das Altwerden und den Feierabend zu denken kam, daß ihm ohne Anlaß heimische Namen und Worte, Geschichten und sogar Liederverse einfielen. Aus diesen Zeichen schloß August Schlotterbeck, daß er trotz seiner guten Gesundheit und obwohl er kaum mehr als fünfzig Jahre hatte, kein junger Mensch mehr sei, und mit dem Bewußtsein der unerschütterten Jugendlichkeit ging ihm auch das des Weltbürgertums und der unbedingten Freiheit verloren. Er dachte mehr und mehr daran, wie er sich noch eines zufriedenen Alters versichern möchte, und da die Geschäfte wenig Lockung mehr für ihn hatten, andrerseits der Wandertrieb und die Schwungkraft der früheren Jahre sich verloren hatte, kreiste die Sehnsucht und Hoffnung des alternden Fabrikanten zu seiner eigenen Verwunderung immer enger und begehrlicher um das Heimatland und um das Städtlein Gerbersau, dessen er in Jahrzehnten nur selten und ohne Rührung gedacht hatte.

Daheim war unterdessen der Auswanderer in einige Vergessenheit gesunken, nachdem vor manchen Jahren sein letztes Lebenszeichen ihm den Ruf großen Edelmutes und Reichtums eingetragen hatte. Es war damals ein Vetter von ihm gestorben und August hatte Anspruch auf einen mäßigen großmütterlichen Erbesanteil, dessen Genuß jetzt an ihn fiel. Die Sache war ihm mitgeteilt und er zu einer Äußerung aufgefordert worden, da hatte er zu Gunsten der Waisen des Verstorbenen Verzicht geleistet. Seither aber hatte er weder den Dankbrief des Vormundes beantwortet noch sonst das Geringste von sich hören lassen. Man wußte zwar oder nahm an, er sei noch am Leben, fand sonst aber keinen Stoff zum Bereden an dem Entfernten, den die jetzige junge Generation nicht mehr kannte, und so erlosch, wenigstens außerhalb der engsten Verwandtschaft, sein Andenken mehr und mehr. Er ward vergessen im selben Maße als er selber neuerdings sich in Gedanken wieder der fernen Heimat näherte, und von seinen Jugendgenossen erwartete keiner ihn wiederzusehen.

Inzwischen wurden Schlotterbecks Gedanken und Bedenklichkeiten ihm lästig und eines Tages faßte er mit der Schnelligkeit und Ruhe seiner früheren Zeiten den Beschluß, die kaum noch rentierende Fabrik aufzugeben und das ihm stets fremd gebliebene Land zu verlassen. Mit entschlossenem Eifer, doch ohne Übereilung betrieb er den Verkauf seines Geschäftes, dann den des Hauses und endlich des gesamten Hausrats, brachte das ledig gewordene Vermögen vorläufig in süddeutschen Banken unter, brach sein Zelt ab und reiste über Venedig und Wien nach Deutschland.

Mit Behagen trank er an einer Grenzstation das erste bayrische Bier seit vielen Jahren, aber erst als die Namen der Städte heimatlicher zu tönen begannen und als die Mundart der Mitreisenden immer deutlicher und schneller nach Gerbersau hinwies, ergriff den Weltreisenden eine starke Unruhe, bis er, über sich selber verwundert, beinahe mit Herzklopfen die Stationen ausrufen hörte und in den Gesichtern der Einsteigenden lauter wohlbekannt und fast verwandtschaftlich anmutende Züge fand. Und endlich fuhr der Zug die letzte steile Strecke in langen Windungen talabwärts, und unten lag zuerst klein und von Windung zu Windung größer und näher und wirklicher das Städtlein am Fluß, zu Füßen der Tannenwaldberge. Dem Reisenden lag ein starker Druck auf dem Herzen, wie er alles noch stehen sah wie vor Zeiten, und unversehens fielen ihm lauter Begebenheiten aus der Bubenzeit und aus der Lehrlingszeit ein, die er eigentlich lang vergessen hatte. Das tatsächliche Nochvorhandensein dieser ganzen Welt, des Flusses und des Rathaustürmchens, der Gassen und Gärten bedrückte ihn mit einer Art von Tadel, daß er das alles so lang vernachlässigt und vergessen und aus dem Herzen verloren hatte.

Doch dauerte diese ungewöhnliche und eigentlich beängstigende Rührung nicht lange, und am Bahnhofe stieg Herr Schlotterbeck aus und ergriff seine hübsche gelblederne Reisetasche wie ein Mann, der in Geschäften unterwegs ist und sich freut, bei der Gelegenheit einen von früher her bekannten Ort einmal wieder zu sehen. Er fand an der Station die Knechte von drei Gasthöfen, was ihm einen Eindruck von Fortschritt und Entwickelung machte, und da der eine auf seiner Mütze den Namen des alten Gasthauses zum Schwanen trug, dessen sich Schlotterbeck aus der Vergangenheit her erinnerte, gab er diesem sein Gepäck und ging allein zu Fuß stadteinwärts.

Der gut und einfach, doch ein klein wenig ausländisch gekleidete Fremde zog bei seinem langsamen Dahinschreiten manche Blicke auf sich, ohne darauf zu achten. Er hatte die alte, beobachtungsfrohe Reiselaune wieder gefunden und betrachtete das alte Nest mit Aufmerksamkeit, ohne es mit Begrüßungen und Fragen und Auftritten des Wiedererkennens eilig zu haben. Zunächst wandelte er durch die etwas veränderte Bahnhofstraße dem Flusse zu, auf dessen grünem Spiegel wie sonst die Gänse schwammen und dem wie ehemals die Häuser ihre ungepflegten Rückseiten und winzigen Hintergärtchen zukehrten. Dann schritt er über den oberen Steg und durch unveränderte, arme enge Gassen der Gegend zu, wo einst die Schlotterbecksche Weißgerberei gewesen war. Da suchte er jedoch das hohe Giebelhaus und den großen Grasgarten mit den Lohgruben vergebens. Das Haus war verschwunden und der Garten und Gerberplatz überbaut. Etwas betreten und unwillig wandte er sich ab und weiter, um den Marktplatz zu besuchen, den er im alten Zustande fand, nur schien er kleiner geworden, und auch das stattliche Rathaus war weniger ansehnlich, als er es in der Erinnerung getragen hatte. Dafür war die Kirche erneuert und gediehen, und die Bäume davor nicht mehr die von damals, sondern junge, die aber auch schon wieder recht ehrwürdige Wipfel zur Schau trugen.

Der Heimgekehrte hatte nun fürs erste genug gesehen und fand ohne Mühe den Weg zum Schwanen, wo er ein gutes Essen verlangte und auf die erste Erkennungsszene gefaßt war. Doch fand er die frühere Wirtsfamilie nicht mehr und ward ganz wie ein willkommener, doch fremder Gast behandelt, was ihm auch lieb war. Jetzt bemerkte er auch erst, daß seine Redeweise und Aussprache, die er in allen den Jahren immer für gut schwäbisch und kaum verändert gehalten hatte, hier fremd und sonderbar klang und von der Kellnerin mit einiger Mühe verstanden wurde. Es fiel auch auf, daß er beim Essen den Salat zurückwies und neuen verlangte, den er sich selber anmachte, und daß er statt der süßen Mehlspeise, aus der in Gerbersau jedes Dessert besteht, Eingemachtes verlangte, von dem er dann einen ganzen Topf ausaß. Und als er nach Tische sich einen zweiten Stuhl heranzog und die Füße auf ihn legte, um ein wenig zu ruhen, waren Wirtsleute und Mitgäste darüber heftigst erstaunt. Ein Gast am Nebentisch, den diese fremde Sitte aufregte, stand auf und wischte seinen Stuhl mit dem Sacktuch ab, wobei er sagte: »Ich hab ganz vergessen abzuwischen. Wie leicht könnt einer seine dreckigen Stiefel drauf gehabt haben!« Man lachte leise, Schlotterbeck drehte aber nur den Kopf hinüber und schnell wieder zurück, dann legte er die Hände zusammen und pflegte der Verdauung.

Eine Stunde später machte er sich auf und streifte nochmals durch die ganze Stadt. Neugierig schaute er durch die Scheiben in manchen Laden und manche Werkstatt, um zu sehen, ob da oder dort etwa noch einer von den ganz Alten, die zu seiner Zeit schon die Alten gewesen waren, übrig wäre. Von diesen sah er jedoch fürs erste einzig einen Lehrer, bei dem er einstmals sein erstes Alphabet auf die Tafel gemalt hatte, auf der Straße vorübergehen. Der Mann mußte zumindest hoch in den siebenzig sein und ging alt geworden und wohl schon lange außer Amtes, doch noch deutlich am Schwung der Nase und sogar an den Bewegungen erkennbar, noch leidlich aufrecht und zufrieden einher. Schlotterbeck hatte Lust ihn anzusprechen, doch hielt ihn immer noch eine leise Angst vor dem Sturm der Begrüßungen und Händedrücke zurück. Er ging weiter, ohne jemand zu grüßen, von vielen betrachtet, doch von keinem erkannt, und brachte so diesen ganzen ersten Tag in der Heimat als ein Fremder und Unbekannter zu.

Wenn es nun auch an menschlicher Ansprache und Bewillkommnung mangelte, sprach doch die Stadt selber desto deutlicher und eindringlicher zu ihrem heimgekehrten Kinde. Wohl gab es überall Veränderungen und Neues, das Angesicht des Städtleins aber war nicht älter noch anders geworden und sah den Ankömmling vertraut und mütterlich an, so daß es ihm wohl und geborgen zu Mute ward und die Jahrzehnte der Fremde und Reisen und Abenteuer wunderlich zusammengingen und einschmolzen, als wären sie nur ein Abstecher und kleiner Umweg gewesen. Geschäfte gemacht und Geld verdient hatte er da und dort, er hatte auch in der Ferne ein Weib genommen und verloren, sich wohl gefühlt und Leid erfahren, allein zugehörig und daheim war er doch nur hier, und während er für einen Fremden galt und sogar als Ausländer betrachtet wurde, kam er sich selber ganz zu Hause und gleichartig mit diesen Leuten, Gassen und Häusern vor. Es ging bei diesen Betrachtungen nicht ohne eine kleine Wehmut ab; denn statt nun hier Haus und Arbeit, Familie und Nachkommen zu haben, hatte er seine guten Jahre in der Ferne verbraucht und weder eine neue Heimat erworben, noch sich in der alten befestigt und angewurzelt. Doch ließ er solche Gefühle nicht Meister werden, hörte ihnen nur mit halber Billigung zu und war im ganzen doch der Meinung, es sei nicht zu spät, daß er heimkomme, und er habe noch ein hinreichendes Stück Leben zugute, um noch einmal ein Gerbersauer zu werden und haltbare Wurzeln am alten Ort zu schlagen.

Die Neuerungen in der Stadt gefielen ihm nicht übel. Er fand, es sei auch hier Arbeit und Bedürfnis gewachsen, wenn auch mit Maß, und sowohl die Gasanstalt wie das neue Volksschulhaus fand seine Billigung. Die Bevölkerung schien ihm, der dafür in der Welt ein Auge bekommen hatte, recht wohlerhalten, ob auch nicht mehr so ungemischt einheimisch wie vor Zeiten, da die Enkel von Zugewanderten noch durchaus für Fremde gegolten hatten. Die ansehnlicheren Geschäfte schienen alle noch in den Händen von ortsbürtigen Leuten zu sein, der Zuwachs aus Eindringlingen war nur unter der Arbeiterschaft deutlich zu spüren. Es mußte also das bürgerliche Leben von einstmals noch wohlerhalten fortbestehen, und es war zu hoffen, daß ein Heimkommender auch nach langer Abwesenheit sich bald zurechtfinden und wieder heimisch machen könne.

Kurz, dem einsam und beschäftigungslos gewordenen Manne kam die Heimat, die er sich nicht in den Zeiten der Fremde durch Heimweh und Erinnerungslust unnütz verklärt hatte, nun lieblich vor und atmete einen friedvoll wohligen Zauber, dem der im Gefühlswesen Unverdorbene und Ungeübte nicht widerstand. Als er zeitig am Abend in das Gasthaus zurückkehrte, war er in guter Stimmung und bereute nicht, diese Reise getan zu haben. Er nahm sich vor, zunächst einige Zeit hier zu bleiben und abzuwarten, und wenn dann die Befriedigung anhielte, sich am Ort niederzulassen. Es ließe sich dann, dachte er, selbständig oder im Anschluß an eine der Gerbersauer Fabriken mit der Zeit eine neue, erfreuliche Tätigkeit beginnen. Denn er glaubte doch schon jetzt zu spüren, daß ein beschauliches Rentenverzehren und Spazierengehen nicht seine Sache sein werde.

Das Bewußtsein, in der alten heimischen Stadt zu sein und doch von keinem einzigen Menschen erkannt und begrüßt zu werden, tat ihm gar nicht weh, wenn es auch wunderlich war, so wie in einer Maske zwischen lauter Schulfreunden, Jugendgenossen und Verwandten einherzugehen. Er genoß es mit schlauer Freude und mit dem Hintergedanken, daß er jetzt immer noch ohne alles Aufheben wieder verschwinden könnte, wenn es ihm einfiele. Dazu wußte er genau, daß das Begrüßen und Anstaunen und Ausfragen gar reichlich auf ihn warte; denn er kannte die hiesige Art noch wohl genug, um sich das alles recht gut vorausdenken zu können. Er hatte es damit nicht eilig, da ja nach einer so langen Zeit auch von den ehemaligen Freunden mehr Neugierde und freundliche Überraschung als Freundschaft und Teilnahme zu erwarten war.

Das behaglich erwartungsvolle Inkognito des alten Weltfahrers nahm denn auch bald sein Ende. Nach dem Abendessen brachte der Schwanenwirt seinem Gaste das Logierbuch und ersuchte ihn höflich, die Rubriken unter Nummer soundso auszufüllen. Er tat es weniger, weil es unbedingt notwendig war, als weil er selber es satt hatte, sich über Herkunft und Rang des Fremdlings den Kopf zu zerbrechen. Und der Gast nahm das dicke Buch, las eine Weile die Namen vormaliger Gäste durch, nahm dann dem wartenden Wirte die eingetauchte Feder aus der Hand und schrieb mit kräftigen, deutlichen Buchstaben, alle Fächlein gewissenhaft ausfüllend. Der Wirt sagte Dank, streute Sand auf und entfernte sich mit dem Folianten wie mit einer Beute, um vor der Türe sofort seine Neugierde zu stillen. Er las: Schlotterbeck, August – aus Rußland – auf Geschäftsreisen. Und wenn er auch die Herkunft und Geschichte des Mannes nicht kannte, so schien der Name Schlotterbeck doch auf einen Gerbersauer hinzudeuten. In die Gaststube zurückkehrend, fing der Wirt mit dem Fremden ein vorsichtiges und respektvolles Gespräch an. Er begann mit dem Gedeihen und Wachstum der hiesigen Stadt, kam auf Straßenverbesserungen und neue Eisenbahnanschlüsse zu sprechen, berührte die Stadtpolitik, äußerte sich über die letztjährige Dividende der Wollspinnerei-Aktiengesellschaft und schloß nach einem Viertelstündchen mit der harmlosen Frage, ob der Herr nicht Verwandte am Orte habe. Darauf antwortete Schlotterbeck gelassen, ja, er habe Verwandte hier und gedenke etwa noch bei ihnen vorzusprechen, fragte aber nach keinem und zeigte so wenig Neugier, daß das Gespräch bald versiegend dahinschwankte und in sich selbst versank, und der Wirt mit Höflichkeit sich zurückziehen mußte. Der Gast trank einen guten Wein mit Maß und Genuß, las unberührt von den Gesprächen des Nachbartisches eine Zeitung und suchte früh seine Schlafstube auf.

Inzwischen taten der Eintrag ins Fremdenbuch und die Unterhaltung mit dem Schwanenwirt in aller Stille ihre Wirkung, und während August Schlotterbeck ahnungslos und zufrieden in dem guten, auf heimische Art geschichteten Wirtsbette den ersten Schlaf und Traum im Vaterlande tat, machte sein Name und das Gerücht von seiner Ankunft manche Leute munter und gesprächig und einen sogar schlaflos. Dieser war Augusts leiblicher Vetter und nächster Verwandter, der Kaufmann Lukas Pfrommer an der Spitalgasse. Eigentlich war er Buchbinder und hatte früher als Handwerksbursche ein paar Jahre lang in deutschen Landen das Handwerk gegrüßt, alsdann in Gerbersau eine bescheidene Werkstätte eröffnet und lange Zeit den Schulkindern ihre ruinierten Fibeln wieder geflickt und der Frau Amtsrichter halbjährlich die Gartenlaube eingebunden, auch Schreibhefte hergestellt und Haussegen eingerahmt, vom Untergang bedrohte Holzschnitte durch Hinterkleben und Aufziehen der Welt erhalten und den Kanzleien graue und grüne Aktendeckel, Mappen und Kartonbände geliefert. Dabei hatte er unmerklich etwas erspart und hinter sich gebracht, jedenfalls keine Sorgen gehabt. Alsdann hatten die Zeiten sich verändert, die kleinen Handwerker hatten fast alle irgend ein Schaufenster und Ladengeschäft angefangen, die größeren waren Fabrikanten geworden. Da hatte auch Pfrommer die Vorderwand seines Häusleins durchschlagen und ein Schaufenster eingesetzt, sein Erspartes von der Bank genommen und einen Papier- und Galanteriewarenladen eröffnet, wo seine Frau den Verkauf betrieb und Haushalt und Kinder drüber zu kurz kommen ließ, indessen der Mann weiter in seiner Werkstatt schaffte. Doch war der Laden jetzt die Hauptsache, wenigstens vor den Leuten, und wenn er nicht mehr einbrachte, als das Handwerk, so kostete er doch mehr und machte mehr Sorgen. So war Pfrommer Kaufmann geworden. Mit der Zeit gewöhnte er sich an diese geachtete und stattlichere Stellung, zeigte sich in den Straßen nimmer in der grünen Schürze, sondern stets im guten Rock, lernte mit Kredit und Hypotheken arbeiten und konnte sich zwar in Ehren halten, hatte die Ehre aber weit teurer als früher. Die Vorräte an unverkäuflich gewordenen Neujahrskarten, Bildchen, Albumen, an abgelegenen Zigarren und im Schaufenster verbleichtem Trödelkram wuchsen langsam, doch sicher und kamen ihm nicht selten im Traume vor. Und seine Frau, eine geborene Pfisterer aus der oberen Vorstadt, die früher ein lustiges und erfreuliches Weibchen gewesen war, verwandelte sich durch das Empfehlen und Schöntun im Laden sowie später durch die Sorgen und Rechenkünste allmählich in eine unruhige Sorgerin, der das seßhaft gewordene süße Ladenlächeln gar nimmer in das altgewordene Gesicht paßte. Es war keine Not im Hause, und Herr Pfrommer galt in seiner Heimat für einen ansehnlichen Vertreter des guten Bürgerstandes, aber ihm selber war es in den bescheidenen Handwerkszeiten, in die er doch jetzt nimmer zurückgekehrt wäre, bedeutend wohler gewesen und besser gegangen als in der neuen Pracht.

Dieser Mann, Schlotterbecks Vetter, hatte gestern Abend gegen neun Uhr, als er mit der Zeitung bei der Lampe saß, zu seiner großen Überraschung einen Besuch des Schwanenwirtes erhalten. Er hatte ihn erstaunt empfangen, jener aber hatte nicht Platz nehmen wollen, sondern erklärt, er müsse sofort zu seinen Gästen zurück, unter denen er übrigens den Herrn Pfrommer in letzter Zeit leider nur selten habe sehen dürfen. Aber er sei der Meinung, unter Mitbürgern und Nachbarn sei ein kleiner Liebesdienst selbstverständlich und Ehrensache, darum wolle er ihm in allem Vertrauen mitteilen, daß bei ihm seit heute ein fremder Herr logiere, mit wohlhabenden Manieren, der sich Schlotterbeck schreibe und aus Rußland zu kommen vorgebe. Da war Lukas Pfrommer aufgesprungen und hatte wie bei einem Hausbrand der Frau gerufen, die schon im Bette war, nach Stiefeln, Stock und Sonntagshut gekeucht und sich sogar in aller Eile noch die Hände gewaschen, um dann im Laufschritt hinter dem Wirte her in den Schwanen zu eilen. Dort hatte er aber den russischen Vetter nicht mehr im Gastzimmer angetroffen, und ihn in der Schlafstube aufzusuchen wagte er doch nicht, denn er mußte sich sagen, wenn der Vetter extra seinetwegen die große Reise getan hätte, so hätte er ihn wohl schon bei sich gesehen. So trank er denn erregt und halb enttäuscht einen halben Liter Heilbronner zu sechzig, um dem Wirte eine Ehre anzutun, lauschte auf die Unterhaltung einiger Stammgäste und hütete sich, etwas von dem eigentlichen Zwecke seines Hierseins zu verraten.

Am Morgen war Schlotterbeck kaum in den Kleidern und zum Kaffee heruntergekommen, als ein älterer Mann von kleinem Wuchs, der offenbar schon eine gute Weile bei seinem Gläschen Kirschengeist gewartet hatte, sich seinem Tische in Befangenheit näherte und ihn mit einem recht schüchternen Kompliment begrüßte. Schlotterbeck sagte guten Morgen und fuhr fort, sein Butterbrot mit herrlichem Honig zu bestreichen; der Besucher aber blieb stehen, sah ein wenig zu und räusperte sich wie ein Redner, ohne doch etwas Deutsches herauszubringen. Erst als ihn der Fremde fragend anblickte, entschloß er sich, mit einem zweiten Kompliment an den Tisch heranzutreten und mit seinen Eröffnungen zu beginnen.

»Mein Name ist Lukas Pfrommer«, sagte er und schaute den Rußländer erwartungsvoll an.

»So«, sagte dieser, ohne sich aufzuregen. »Sind Sie Buchbinder, wenn ich fragen darf?«

»Ja, Kaufmann und Buchbinder, an der Spitalgasse. Sind Sie – –«

Schlotterbeck sah ein, daß er jetzt preisgegeben sei, und suchte nicht länger hinterm Berg zu halten.

»Dann bist du mein Vetter«, sagte er einfach. »Hast du schon gefrühstückt?«

»Also doch!« rief Pfrommer triumphierend. »Ich hätte dich kaum mehr gekannt.«

Er streckte mit plötzlicher Freudigkeit dem Vetter die Hand entgegen und konnte erst nach manchen Gebärden und Armbewegungen der Ergriffenheit am Tische Platz nehmen.

»Ja du lieber Gott,« rief er bewegt, »wer hätt' es gedacht, daß wir dich einmal wiedersehen würden. Aus Rußland! Ist es eine Geschäftsreise?«

»Ja, nimmst du eine Zigarre? Was hat dich eigentlich hergeführt?«

Ach, den Buchbinder hatte vieles hergeführt, wovon er jedoch vorerst schwieg. Er habe ein Gerücht gehört, der Vetter sei wieder im Land, und da habe er keine Ruhe mehr gehabt. Gott sei Dank, nun habe er ihn gesehen und begrüßt; es hätte ihm sein Leben lang leid getan, wenn ihm jemand zuvorgekommen wäre. Der Vetter sei doch wohl? Und was denn die liebe Familie mache?

»Danke. Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben.«

Entsetzt fuhr Pfrommer zurück. »Nein, ist's möglich?« rief er mit tiefem Schmerz. »Und wir haben gar nichts gewußt und haben nicht einmal kondolieren können! Meine herzliche Teilnahme, Vetter!«

»Laß nur, es ist ja schon lang her. Und wie geht's bei dir? Du bist Kaufmann geworden?«

»Ein bißchen. Man sucht sich eben über Wasser zu halten und womöglich was für die Kinder auf die Seite zu tun. Ich führe auch recht gute Zigarren. – Und du? Was macht die Fabrik?«

»Die hab' ich aufgegeben.«

»Im Ernst? Ja warum denn?«

»Die Geschäfte sind nimmer gegangen. Wir haben Hungersnot und Aufstände gehabt.«

»Ja, das Rußland! Ich hab' mich immer ein bißchen gewundert, daß du gerade in Rußland ein Geschäft angefangen hast. Schon dieser Despotismus, und dann die Nihilisten, und die Beamtenwirtschaft muß ja arg sein. Ich habe mich immer ein bißchen auf dem Laufenden gehalten, du begreifst, wenn ich doch einen Verwandten dort wußte. Der Pobjedonoszeff – –«

»Ja, der lebt auch noch. Aber verzeih', von Politik verstehst du sicher mehr als ich.«

»Ich? Ich bin gar kein Politiker. Man liest ja so ein bißchen im Blatt, aber – – Nun, und was machst du denn jetzt für Geschäfte? Hast du viel verloren?«

»Ja, tüchtig.«

»Das sagt er so ruhig! Mein Beileid, Vetter! Wir haben hier ja keine Ahnung gehabt.«

Schlotterbeck lächelte ein wenig.

»Ja,« sagte er nachdenklich, »ich dachte damals in der schlimmsten Zeit daran, mich vielleicht an euch hier zu wenden. Nun, es ist schließlich auch so gegangen. Es wäre auch dumm gewesen. Wer wird einem so entfernten Verwandten, den man kaum mehr kennt, noch Geld in die Pleite nachwerfen.«

»Ja du mein Gott, – Pleite, sagst du?«

»Nun ja, es hätte so kommen können. Wie gesagt, ich fand dann anderwärts Hilfe ...«

»Das war wirklich nicht recht von dir! Sieh, wir sind ja arme Teufel und brauchen unser bißchen nötig genug; aber daß wir dich gerade hätten stecken lassen, nein, es ist nicht recht von dir, daß du das hast meinen können.«

»Na, tröste dich, es ist ja besser so. Wie geht's denn deiner Frau?«

»Danke, gut. Ich Esel, fast hätte ich's in der Freude vergessen, ich soll dich ja zum Mittagessen einladen. Du kommst doch?«

»Gut. Danke schön. Ich hab' unterwegs eine Kleinigkeit für die Kinder eingekauft, das könntest du gerade mit nehmen und deine Frau einstweilen von mir grüßen.«

Damit wurde er ihn los. Der Buchbinder zog erfreut mit einem Paketchen nach Hause, und da der Inhalt sich als recht nobel erwies, nahm seine Meinung von des Vetters Geschäften wieder einen Aufschwung. Dieser war indessen froh, den gesprächigen Mann für eine Weile vom Hals zu haben, und begab sich aufs Rathaus, um seinen Paß vorzulegen und sich zu einem hiesigen Aufenthalt für unbestimmte Zeit anzumelden.

Es hätte dieser Anmeldung nicht bedurft, um Schlotterbecks Heimkehr in der Stadt bekannt zu machen. Dies geschah ohne sein Bemühen durch eine geheimnisvolle drahtlose Telegraphie, so daß er jetzt auf Schritt und Tritt angerufen, begrüßt oder zumindest angeschaut und durch Lüftung der Hüte bewillkommnet wurde. Man wußte schon gar viel von ihm, namentlich aber nahm sein Barvermögen in der Leute Mund schnell einen fürstlichen Umfang an. Einige verwechselten beim Weiterberichten in der Eile Chicago mit San Franzisko und Rußland mit der Türkei, nur das mit unbekannten Geschäften erworbene Vermögen blieb ein fester Glaubenssatz, und in den nächsten Tagen wimmelte es in Gerbersau von Lesarten, die zwischen einer halben und zehn Millionen und zwischen den Erwerbsarten vom Kriegslieferanten bis zum Sklavenhändler je nach Temperament und Phantasie der Erzähler auf und nieder spielten. Man erinnerte sich des längstverstorbenen alten Weißgerbers Schlotterbeck und der Jugendgeschichte seines Sohnes, es fanden sich solche, die ihn als Lehrling und als Schulbuben und als Konfirmanden noch im Gedächtnis hatten, und eine verstorbene Fabrikantenfrau wurde zu seiner unglücklichen Jugendliebe ernannt.

Er selber bekam, da es ihn nicht interessierte, wenig von diesen Historien zu hören. An jenem Tage, da er bei seinem Vetter zu Tisch geladen war, hatte ihn vor dessen Frau und Kindern ein unüberwindliches Grauen erfaßt, so übel maskiert war ihm die Spekulation auf den Erbvetter entgegengetreten. Er hatte um des Friedens willen dem Verwandten, der viel zu klagen gewußt hatte, ein mäßiges Darlehn gewährt, zugleich aber war er sehr kühl und wortkarg geworden und hatte sich für weitere Einladungen einstweilen im voraus freundlich bedankt. Die Frau war enttäuscht und gekränkt, doch ward im Hause Pfrommer von dem Vetter vor Zeugen nur ehrerbietig geredet.

Dieser blieb noch ein paar Tage im Schwanen wohnen. Dann fand er ein Quartier, das ihm zusagte. Es war oberhalb der Stadt gegen die Wälder hin eine neue Straße entstanden, vorerst nur für den Bedarf einiger Steinbrüche, die weiter oben lagen. Doch hatte ein Baumeister, der in dieser etwas beschwerlich zu erreichenden, doch wunderschönen Lage künftige Geschäfte witterte, auf dem noch für wenige Kreuzer käuflichen Boden am Beginn des neuen Weges einstweilen drei hübsche kleine Häuschen gebaut, weiß verputzt mit braunem Gebälk. Man schaute von hier aus hoch auf die Altstadt hinab und konnte sehen und hören, was da unten getrieben wurde, weiterhin sah man talabwärts den Fluß durch die Wiesen laufen und gegenüber die roten Felsenhöhen hängen, und rückwärts hatte man in nächster Nähe den Tannenwald. Von den drei hübschen Spekulantenhäuslein stand eines fertig, doch leer, eines hatte schon vor drei Jahren ein pensionierter Gerichtsvollzieher gekauft, und das dritte war noch im Bau. Da dieser aber der Vollendung entgegenrückte und nur noch wenige Handwerker darin zu tun hatten, ging es hier oben recht still und friedevoll zu. Denn auch der Gerichtsvollzieher, übrigens ein friedfertiger und geduldiger Mann, war schon nicht mehr da. Er hatte das untätige Leben nicht ertragen und war einem alten Leiden, das er bis dahin manche Jahrzehnte lang mit Arbeit und Humor überwunden hatte, nach kurzer Zeit erlegen. In dem Häuschen saß nun ganz allein mit einer ältlichen Schwägerin die Witwe des Gerichtsvollziehers, ein recht frisches und sauberes Frauchen, von welcher noch zu reden sein wird.

In dem mittleren Hause, das je hundert Schritt von dem Witwensitz und dem Neubau entfernt lag, richtete nun Schlotterbeck sich ein. Er mietete den unteren Stock, der drei Zimmer und eine Küche enthielt, und da er keine Lust hatte, seine Mahlzeiten hier oben in völliger Einsamkeit einzunehmen, kaufte und mietete er nur Bett, Tische, Stühle, Kanapee, ließ die Küche leer und dingte zur täglichen Aufwartung eine Frau, die zweimal des Tages kam. Den Kaffee kochte er sich am Morgen, wie früher in langen Junggesellenjahren, selber auf Weingeist, mittags und abends aß er in der Stadt. Die kleine Einrichtung gab ihm eine Weile angenehm zu tun, auch trafen nun seine Koffer aus Rußland ein, deren Inhalt die leeren Wandschränke füllte. Täglich erhielt und las er einige Zeitungen, darunter zwei ausländische, auch ein lebhafter Briefwechsel kam in Gang und dazwischen machte er da und dort in der Stadt seine Besuche, teils bei Verwandten und alten Bekannten, teils bei den Geschäftsleuten, namentlich in den Fabriken. Denn er suchte ohne Hast, doch aufmerksam nach einer bequemen und vorteilhaften Gelegenheit, sich mit Geld und Arbeit an einem gewerblichen Unternehmen zu beteiligen. Dabei trat er allmählich auch zu der bürgerlichen Gesellschaft seiner Vaterstadt wieder in einige Beziehung. Er wurde da und dort eingeladen, auch zu den geselligen Vereinen und an die Stammtische der Honoratioren. Freundlich und mit den Manieren eines gereisten Mannes von Vermögen nahm er da und dort teil, ohne sich fest zu verpflichten, aber auch ohne zu wissen, wie viel Kritik hinter seinem Rücken an ihm geübt wurde.

August Schlotterbeck war trotz seines offenen Blickes in einer Täuschung über sich selbst befangen. Er meinte zwar ein klein wenig über seinen Landsleuten zu stehen, lebte aber doch in dem Gefühl, ein Gerbersauer zu sein und in allem Wesentlichen recht wieder an den alten Ort zu passen. Und das stimmte nun nicht so ganz. Er wußte nicht, wie sehr er in der Sprache und Lebensweise, in Gedanken und Gewohnheiten von seinen Mitbürgern abstach. Diese empfanden das desto besser, und wenn auch Schlotterbecks guter Ruf im Schatten seines Geldbeutels eine schöne Sicherheit genoß, wurde doch im einzelnen gar viel über ihn gesprochen, was er nicht gern gehört hätte. Manches, was er ahnungslos in alter Gewohnheit tat, erregte hier Kritik und Mißfallen, man fand seine Sprache zu frei, seine Ausdrücke zu fremd, seine Anschauungen amerikanisch und sein ungezwungenes Benehmen mit jedermann anspruchsvoll und unfein. Er sprach mit seiner Aufwärterin wenig anders als mit dem Stadtschultheißen, er ließ sich zu Tisch laden, ohne innerhalb sieben Tagen eine Verdauungsvisite abzustatten, er machte zwar im Männerkreis kein Zotenflüstern mit, sagte aber Dinge, die ihm natürlich und von Gott gewollt schienen, auch in Familien in Gegenwart der Damen harmlos heraus. Namentlich in den Beamtenkreisen, die in der Stadt wie billig zuoberst standen und den feinen Ton angaben, in der Sphäre zwischen Oberamtmann und Oberpostmeister, machte er keine Eroberungen. Diese kleine, ängstlich geschonte und behütete Welt amtlicher Machthaber und ihrer Frauen, voll von gegenseitiger Hochachtung und Rücksicht, wo jeder des anderen Verhältnisse bis auf den letzten Faden kennt und jeder in einem Glashause sitzt, hatte an dem heimgekehrten Weltfahrer keine Freude, um so mehr da sie von seinem sagenhaften Reichtum doch keinen Vorteil zu ziehen hoffen konnte. Und in Amerika hatte Schlotterbeck sich angewöhnt, Beamte einfach für Angestellte zu halten, die wie andere Leute für Geld ihre Arbeit tun, während er sie in Rußland als eine schlimme, gefürchtete Kaste kennen gelernt hatte, bei der nur Geld etwas vermochte. Da war es schwer für ihn, dem niemand Anweisungen gab, die Heiligkeit der Titel und die ganze zarte Würde dieses Kreises richtig zu begreifen, am rechten Ort Ehrfurcht zu zeigen, Obersekretäre nicht mit Untersekretären zu verwechseln und im geselligen Verkehr überall den rechten Ton zu treffen. Als Fremder kannte er auch die verwickelten Familiengeschichten nicht und es konnte gelegentlich ohne seine Schuld passieren, daß er im Hause des Gehenkten vom Strick redete. Da sammelten sich denn unter der Decke unverwüstlicher Höflichkeit und verbindlichsten Lächelns die kleinen Posten seiner Verfehlungen zu säuberlich gebuchten und kontrollierten Sümmchen an, von denen er keine Ahnung hatte, und wer konnte, sah mit Schadenfreude zu. Auch andere Harmlosigkeiten, die Schlotterbeck mit dem besten Gewissen beging, wurden ihm übelgenommen. Er konnte jemand, dessen Stiefel ihm gefielen, ohne lange Einleitungen nach ihrem Preise fragen. Und eine Advokatenfrau, die zu ihrem Kummer unbekannte Sünden der Vorfahren dadurch büßen mußte, daß ihr von Geburt an der linke Zeigefinger fehlte, und dies unverschuldete Gebrechen mit Kunst und Eifer zu verbergen suchte, wurde von ihm mit aufrichtigem Mitleid gefragt, wann und wo sie denn ihres Fingers verlustig geworden sei. Der Mann, der Jahrzehnte in mancherlei Ländern sich seiner Haut gewehrt und seine Geschäfte getrieben hatte, konnte nicht wissen, daß man einen Amtsrichter nicht fragen darf, was seine Hosen kosten. Er hatte wohl gelernt, im Gespräch mit jedermann höflich und vorsichtig zu sein, er wußte, daß manche Völker kein Schweinefleisch oder keine Taube verzehren, daß man zwischen Russen, Armeniern und Türken es vermeidet, sich zu einer allein wahren Religion zu bekennen; aber daß mitten in Europa es große Gesellschaftskreise und Stände gab, in welchen es für roh gilt, von Leben und Tod, Essen und Trinken, Geld und Gesundheit freiweg zu reden, das war diesem entarteten Gerbersauer unbekannt geblieben. Daß man Gift streuen und Fallen legen nach Belieben, aber von niemand geradezu sagen darf, man könne ihn nicht ausstehen, das war nebst mancher andern goldenen Regel ihm weder in Amerika noch in Rußland beigebracht worden.

Auch konnte es ihm im Grunde einerlei sein, ob man mit ihm zufrieden sei, da er wenig Ansprüche an die Menschen machte, viel weniger als sie an ihn. Er ward zu allerlei guten Zwecken um Beiträge angegangen und gab sie jeweils nach seinem Ermessen. Man dankte dafür höflichst und kam bald mit neuen Anliegen wieder, doch war man auch hier nur halb zufrieden und hatte Gold und Banknoten erwartet, wo er Silber und Nickel gab. Zum Glück erfuhr er von diesen Verurteilungen nichts und lebte eine gute Zeit im fröhlichen Glauben dahin, ein einwandfreier Bürger und wohlgelittener, wenn nicht gar beliebter Mann zu sein.

Bei jedem Gange in die Stadt hinab, also täglich mehrere Male, kam Herr Schlotterbeck an dem netten kleinen Hause der Frau Entriß vorbei, der Witwe des Gerichtsvollziehers, die hier in Gesellschaft einer schweigsamen und etwas blöden Schwägerin ein sehr stilles Leben führte.

Diese noch wohlerhaltene und dem Leben nicht abgestorbene Witwe hätte im Genuß ihrer Freiheit und eines kleinen Vermögens ganz angenehme und unterhaltsame Tage haben können. Es hinderte sie daran aber sowohl ihr eigener Charakter wie auch der Ruf, den sie sich im Lauf ihrer Gerbersauer Jahre erworben hatte. Sie stammte aus dem Badischen, und man hatte sie einst, schon aus Rücksicht für ihren in der Stadt wohlbeliebten Mann, freundlich und erwartungsvoll aufgenommen. Doch hatte mit der Zeit sich ein abfälliger Leumund über sie gebildet, dessen eigentliche Wurzel ihre übertriebene Sparsamkeit war. Daraus machte das Gerede einen giftigen Geiz, und da man einmal kein Gefallen an der Frau gefunden hatte, hängte sich beim Plaudern eins ans andere und sie wurde nicht nur als ein Geizkragen und eine Pfennigklauberin, sondern auch als Hausdrache verrufen. Der Gerichtsvollzieher selber war nun nicht der Mann, der über die eigene Frau schlecht gesprochen hätte, aber immerhin blieb es nicht verborgen, daß der heitere und gesellige Mann seine Freude und Erholung weniger daheim bei der Frau als im Rößle oder Schwanen bei abendlichen Biersitzungen suchte. Nicht daß er ein Trinker geworden wäre, Trinker gab es in Gerbersau unter der angesehenen Bürgerschaft überhaupt nicht. Aber doch gewöhnte er sich daran, einen Teil seiner Mußezeit im Wirtshaus hinzubringen und auch tagsüber zwischenein gelegentlich einen Schoppen zu nehmen. Trotz seiner schlechten Gesundheit setzte er dieses Leben so lange fort, bis ihm vom Arzt und auch von der Behörde nahegelegt ward, sein anstrengendes Amt aufzugeben und im Ruhestand seiner bedürftigen Gesundheit zu leben. Doch war es nach seiner Pensionierung eher schlimmer gegangen, und jetzt war alles darüber einig, daß die Frau ihm das Haus verleidet und von Anfang an den Untergang des braven Mannes verschuldet habe. Als er dann starb, ergoß sich der allgemeine Unwille über die Witwe. Sie blieb allein mit der Schwägerin sitzen und fand weder Frauentrost noch männliche Beschützer, obwohl außer dem schuldenfreien Haus auch noch einiges Vermögen vorhanden war.

Die unbeliebte Witwe schien jedoch unter der Einsamkeit nicht unerträglich zu leiden. Sie hielt Haus und Hausrat, Bankbüchlein und Garten in bester Ordnung und hatte damit genug zu tun, denn die Schwägerin litt an einer leisen Verdunkelung des Verstandes und tat nichts anderes als zuschauen und sich die stillen Tage mit Murmeln, Reiben der Nase und häufigerem Betrachten eines alten Bilderalbums vertreiben. Die Gerbersauer, damit das Gerede über die Frau auch nach des Mannes Tode nicht aufhöre, hatten sich ausgedacht, sie halte das arme Wesen zu kurz, ja in furchtbarer Gefangenschaft. Es hieß, die Gemütskranke leide Hunger, werde zu schwerer Arbeit angehalten, schlafe in einem nie gereinigten und gelüfteten Verschlag, Hitze und Kälte ausgesetzt, und werde das alles sicherlich nimmer lange aushalten, was ja auch im Interesse der Entriß liege und ihre Absicht sei. Da diese Gerüchte immer offener hervortraten, mußte schließlich von Amts wegen etwas getan werden, und eines Tages erschien im Haus der erstaunten Frau der Stadtschultheiß mit dem Oberamtsarzt, sagte ernstlich mahnende Worte über die Verantwortung, verlangte zu sehen, wie die Kranke wohne und schlafe, was sie arbeite und esse, und schloß mit der Drohung, wenn nicht alles einwandfrei befunden werde, müsse die Gestörte in einem staatlichen Krankenhause versorgt werden, natürlich auf Kosten der Frau Entriß. Diese verhielt sich kühl und gab zur Antwort, man möge nur alles untersuchen. Ihre Schwägerin sei harmlos und ungefährlich, wenn in der Stadt der Blödsinn überhand nehme, müsse er aus einer andern Quelle kommen, und wenn man die Kranke anderwärts versorgen wolle, könne es ihr nur lieb sein, es müsse das aber auf Kosten der Stadt geschehen und sie zweifle, ob das arme Geschöpf es dann besser haben werde als bei ihr. Die Untersuchung ergab, daß die Kranke keinerlei Mangel litt, anständig und reinlich gekleidet war und bei der wohlwollenden Frage, ob sie etwa gern anderswo leben möchte, wo sie es sehr gut haben werde, furchtbar erschrak und flehentlich sich an ihrer Schwägerin festhielt. Der Arzt fand sie durchaus wohlgenährt und ohne alle Spuren harter Arbeit, und er ging samt dem Stadtschultheiß verlegen wieder fort.

Was nun den Geiz der Frau Entriß betrifft, so kann man darüber verschieden urteilen. Es ist gar leicht, Charakter und Lebensführung einer schutzlosen Frau zu tadeln. Daß sie sparsam war, steht fest. Sie hatte nicht nur vor dem Gelde, sondern vor jeder Habe und jedem noch so kleinen Werte eine tiefe Hochachtung, so daß es ihr bitter schwer fiel, etwas auszugeben, und unmöglich war, etwas wegzuwerfen oder umkommen zu lassen. Von dem Gelde, das ihr Mann seinerzeit in die Wirtshäuser getragen hatte, tat ihr ein jeder Kreuzer heute noch leid wie ein unsühnbares Unrecht, und es mag wohl sein, daß darüber die Eintracht ihrer Ehe entzweigegangen war. Desto eifriger hatte sie, was der Mann so leichtsinnig vertat, durch genaue Rechnung im Hause und durch fleißige Arbeit einigermaßen einzubringen gesucht. Und nun, da er gestorben und damit das schreckliche Loch im Beutel geschlossen war, da kein Taler und kein Pfennig mehr unnütz aus dem Hause ging und ein Teil der Zinsen jährlich zum Kapital geschlagen werden konnte, erlebte die gute Haushalterin ein spätes, ruhiges Glück, ja Behagen. Nicht daß sie sich irgendetwas über das Notwendige gegönnt hätte, sie sparte eher mehr als früher, aber das Bewußtsein, daß es Früchte trug und sich langsam summierte, verlieh ihrem Wesen eine stille Zufriedenheit, die sie nimmer aufs Spiel zu setzen entschlossen war.

Eine ganz besondere Freude und Genugtuung empfand Frau Entriß, wenn sie irgend etwas Wertloses zu Wert bringen, etwas finden oder erobern konnte, etwas Weggeworfenes doch noch brauchen und etwas Verachtetes verwerten. Diese Leidenschaft war keineswegs nur auf den baren Nutzen gerichtet, sondern hier verließ ihr Denken und Begehren den engen Kreis des Notwendigen und erhob sich in das Gebiet des Ästhetischen. Die Frau Gerichtsvollzieher war dem Schönen und dem Luxus nicht abgeneigt, sie mochte es auch gerne hübsch und wohlig haben, nur durfte das niemals einen Pfennig bares Geld kosten. So war ihre Kleidung äußerst bescheiden, aber sauber und nett, und seit sie mit dem Häuslein auch ein kleines Stück Boden besaß, hatte ihr Bedürfnis nach Schönem und Erfreulichem ein lohnendes Ziel gefunden. Sie wurde eine eifrige Gärtnerin.

Wenn August Schlotterbeck am Zaun seiner Nachbarin vorüberschritt, schaute er jedesmal mit Freude und einem leisen Neid in die kleine bescheidene Gartenpracht der stillen Witwe. Nett bestellte Gemüsebeete waren appetitlich von Rabatten mit Schnittlauch und Erdbeeren, aber auch mit Blumen eingefaßt, und Rosen, Levkojen, Goldlack und Reseden schienen ein anspruchsloses, in sich begnügsames Glück zu verkünden.

Es war nicht leicht gewesen, auf dem steilen Gelände und in dem hoffnungslos unfruchtbaren Sandboden einen solchen Wuchs zu erzielen. Hier hatte Frau Entrißens Leidenschaft Wunder getan, und tat sie noch immer. Sie brachte mit eigenen Händen aus dem Walde schwarze Erde und Laub herbei, sie ging des Abends auf den Spuren der schweren Steinbruchwagen und sammelte mit zierlichem Schäufelein den goldeswerten Dung, den die Pferde und ihre Herren achtlos liegen ließen. Hinterm Hause tat sie jeden Abfall und jede Kartoffelschale sorgsam auf den Haufen, der im nächsten Frühling durch seine Verwesung das arme leichte Land schwerer und reicher machen mußte. Sie brachte aus dem Walde auch wilde Rosen und Setzlinge von Maiblumen und Schneeglöckchen mit, und den Winter hindurch zog sie im Zimmer und Keller ihre Ableger mit aller Sorgfalt auf. Ein wenig ahnungsvolles Begehren nach Schönheit, das in jedem Menschengemüt verborgen duftet, eine Freude am Nützen des Brachliegenden und Verwenden des umsonst zu Habenden, und vielleicht unbewußt auch ein still glimmender Rest unbefriedigter Weiblichkeit machten sie zu einer vortrefflichen Gartenmutter.

Ohne von der Nachbarin etwas zu wissen, tat Herr Schlotterbeck täglich mehrmals anerkennende Blicke in die von jedem Unkraut reinen Beete und Wegchen, labte seine Augen an dem frohen Grün der Gemüse, dem zarten Rosenrot und den luftigen Farben der Winden, und wenn ein leichter Wind ging und ihm beim Weitergehen eine Handvoll süßen Gartenduftes nachwehte, freute er sich dieser lieblichen Nachbarschaft mit einer zunehmenden Dankbarkeit. Denn es gab immerhin Stunden, in denen er ahnte, daß der Heimatboden ihm das Wurzelfassen nicht eben leicht mache, und sich einigermaßen vereinsamt und betrogen vorkam.

Als er sich gelegentlich bei Bekannten nach der Gartenbesitzerin erkundigte, bekam er die Geschichte des seligen Gerichtsvollziehers und viel arge Urteile über seine Witwe zu hören, so daß er nun eine Zeitlang das friedevolle Haus im Garten mit einem traurigen Erstaunen darüber betrachtete, daß diese anmutende Lieblichkeit der Wohnsitz einer so verworfenen Seele sein müsse.

Da begab es sich, daß er sie eines Morgens zum erstenmal hinter ihrem niederen Zaune sah und anredete. Bisher war sie stets, wenn sie ihn von weitem daherkommen sah, still ins Haus entwichen. Diesmal hatte sie ihn, über ein Beet gebückt, im Arbeitseifer nicht kommen hören, und nun stand er am Zaune, hielt höflich den Hut in der Hand und sagte freundlich guten Morgen. Sie gab, halb wider ihren Willen, den Gruß zurück, und er hatte es nicht eilig, sondern fragte sie: »Schon fleißig, Frau Nachbarin?«

»Ein bißchen«, sagte sie, und er fuhr ermuntert fort: »Was Sie für einen schönen Garten haben!«

Sie gab darauf keine Antwort, und er schaute sie, die schon wieder an ihren Gräslein zupfte, verwundert an. Er hatte sie sich, jenem Gerede nach, mehr furienmäßig vorgestellt, und nun war sie zu seinem angenehmen Erstaunen recht ordentlich und gefällig von Gestalt, das Gesicht ein wenig streng und ungesellig, aber frisch und ohne Hinterhalt, und so im ganzen eine gar nicht unerquickliche Erscheinung.

»Ja, dann will ich weitergehen«, sagte er freundlich. »Adieu, Frau Nachbarin.«

Sie blickte auf und nickte, wie er den Hut schwang, sah ihm drei, vier Schritte weit nach und fuhr darauf gleichmütig in ihrer Arbeit fort, ohne sich über den Nachbar Gedanken zu machen. Dieser aber dachte noch eine Weile an sie. Es war ihm wunderlich, daß diese Person ein solches Greuel sein solle, und er nahm sich vor, sie ein wenig zu beobachten. Das tat er denn auch, und als ein weltkundiger Mann sah er bald aus vielen kleinen Zügen ein Bild zusammen, das keinem Engel gleichsah, aber auch nicht zu dem Teufel paßte, den die Leute aus ihr machen wollten. Er nahm wahr, wie sie ihre paar Einkäufe in der Stadt still und rasch ohne langes Herumschweifen und Reden besorgte, er sah sie den Garten pflegen und ihre Wäsche sonnen, stellte fest, daß sie keine Besuche empfing, und belauschte das kleine, einsame Leben der fleißigen Frau mit Hochachtung und Rührung. Auch ihre etwas scheuen, abendlichen Gänge nach den Roßäpfeln, um die sie sehr verschrien war, blieben ihm nicht verborgen. Doch fiel es ihm nicht ein, darüber zu spotten, wenn er auch darüber lächeln mußte. Er fand sie ein wenig scheu geworden, aber ehrenwert und tapfer, und er dachte sich, es sei schade, daß soviel Sorge und Achtsamkeit an so kleine Zwecke gewendet werde. Zum erstenmal begann er jetzt, durch diesen Fall stutzig geworden, dem Urteil der Gerbersauer zu mißtrauen und manches faul zu finden, was er bisher gläubig hingenommen hatte.

Inzwischen traf er die Frau Nachbarin je und je wieder und wechselte ein paar Worte mit ihr. Er redete sie jetzt mit ihrem Namen an, und auch sie wußte ja, wer er sei, und sagte Herr Schlotterbeck zu ihm. Er wartete gern mit dem Ausgehen, bis er sie im Freien sah, und ging dann nicht vorüber, ohne ein kleines Gespräch über Witterung und Gartenaussichten anzuknüpfen und sich an ihren einfachen, ehrlichen und recht gescheiten Antworten zu freuen.

Einst brachte er einen seiner Bekannten abends im Adler auf die Frau zu sprechen. Er erzählte, wie der saubere Garten ihm aufgefallen sei, wie er die Frau in ihrem stillen Leben beobachtet habe und nicht begreifen könne, daß sie in so üblem Ruf stehe. Der Mann hörte ihm höflich zu, dann meinte er: »Sehen Sie, Sie haben ihren Mann nicht gekannt. Ein Prachtskerl, wissen Sie, immer witzig, ein lieber Kamerad, und so gut wie ein Kind! Und den hat sie einfach auf dem Gewissen.«

»An was ist er denn gestorben?«

»An einem Nierenleiden. Aber das hat er schon jahrelang gehabt und ist fidel dabei gewesen. Dann nach seiner Pensionierung, statt daß ihm die Frau es jetzt nett und freundlich daheim gemacht hätte, ist er ganz hausscheu geworden. Manchmal ist er schon zum Mittagessen ausgegangen, weil sie ihm zu schlecht gekocht hat! Ein bißchen leichtsinnig mag er ja von Natur gewesen sein, aber daß er am Ende gar zuviel geschöppelt hat, daran ist allein sie schuld gewesen. Sie ist ein Ripp, wissen Sie. Da hat sie zum Beispiel eine Schwägerin im Haus, ein armes krankes Ding, das seit Jahren tiefsinnig ist. Die hat sie wahrhaftig so behandelt und hungern lassen, daß die Behörde sich darum bekümmern und sie kontrollieren mußte.«

Auf so bösen Bericht war Schlotterbeck doch nicht gefaßt gewesen. Er traute dem Erzähler nicht recht, aber die Sache ward ihm überall bestätigt, wo er darum anklopfte. Es schien ihm wunderlich und wollte ihm leid tun, daß er sich in der Frau so hatte täuschen können. Aber so oft er sie wiedersah und einen Gruß mit ihr wechselte, schwand aller Groll und Verdacht wieder dahin. Er entschloß sich und ging zum Stadtschultheiß, um etwas Sicheres zu erfahren. Er wurde mit Freundlichkeit aufgenommen; als er jedoch seine Frage vorbrachte, wie es denn mit der Frau Entriß und ihrer Schwägerin stehe, ob sie wirklich im Verdacht der Mißhandlung und unter Kontrolle sei, da meinte der Stadtschultheiß abweisend: »Es ist ja nett, daß Sie sich für Ihre Nachbarin so interessieren, aber ich glaube doch, daß diese Sachen Sie eigentlich wenig angehen. Ich denke, Sie können es uns ruhig überlassen, daß wir zum Rechten sehen. Oder haben Sie eine Beschwerde vorzubringen?«

Da wurde Schlotterbeck eiskalt und schneidig, wie er es in Amerika manchmal hatte sein müssen. Er ging leise und machte die Türe zu, setzte sich dann wieder und sagte: »Herr Stadtschultheiß, Sie wissen, wie über die Frau Entriß geredet wird, und da Sie selber bei ihr waren, müssen Sie auch wissen, was wahr daran ist. Ich brauche ja keine Antwort mehr, es ist alles verlogen und böswilliger Klatsch. Oder nicht? – Also. Warum dulden Sie das?«

Der Herr war anfangs erschrocken, hatte sich aber schnell wieder gefaßt. Er zuckte die Achseln und sagte: »Lieber Herr, ich habe wirklich anderes zu tun, als mich mit solchen Sachen zu befassen. Es kann sein, daß da und dort der Frau etwas nachgeredet wird, was nicht recht ist, aber dagegen muß sie sich selber wehren. Sie kann ja klagen.«

»Gut,« sagte Schlotterbeck, »das genügt mir. Sie geben mir also die Versicherung, daß die Kranke dort Ihres Wissens in guter Behandlung ist?«

»Ihretwegen, ja, Herr Schlotterbeck. Aber wenn ich Ihnen raten darf, lassen Sie die Finger davon! Sie kennen die Leute hier nicht und machen sich bloß mißliebig, wenn Sie sich in ihre Sachen mischen.«

»Danke, Herr Stadtschultheiß. Ich will mir's überlegen. Aber einstweilen, wenn ich wieder einen so über die Frau reden höre, werde ich ihn einen Ehrabschneider heißen und mich dabei auf Ihr Zeugnis berufen.«

»Tun Sie das nicht! Der Frau nutzen Sie damit doch nichts, und Sie haben nur Verdruß davon. Ich warne Sie, weil es mir leid täte, wenn –«

»Ja, ich danke schön.«

Die Folge dieses Besuches war zunächst, daß Schlotterbeck von seinem Vetter Pfrommer aufgesucht wurde. Es hatte sich herumgeredet, daß er ein merkwürdiges Interesse für die schlimme Witwe zeige, und Pfrommer war von einer Angst ergriffen worden, der verrückte Vetter möchte auf seine alten Tage noch Torheiten machen. Wenn es zum Schlimmsten käme und er die Frau heiratete, würden seine Kinder von den ganzen Millionen keinen Taler kriegen. Mit großer Vorsicht unterhielt er seinen Vetter von der hübschen Lage seiner Wohnung, kam langsam auf die Nachbarschaft zu sprechen und ließ vermuten, er wisse viel über die Frau Entriß zu erzählen, falls es den Vetter interessiere. Der winkte jedoch gleichmütig ab, bot dem Buchbinder einen vortrefflichen Kognak an und ließ ihn zu alldem, was er hatte sagen wollen, gar nicht kommen.

Aber noch am selben Nachmittag sah er seine Nachbarin im Garten erscheinen und ging hinüber. Zum erstenmal hatte er ein langes, vertrauliches Gespräch mit ihr, worin er auf sein einsames Leben hinwies und ihre freundlich-tröstliche Nachbarschaft dankbar rühmte. Sie ging klug und bescheiden darauf ein, des eigentlichen Plauderns ungewohnt und doch mit frauenhafter Anpassung und, wie ihm schien, auch Anmut.

Diese Unterhaltungen wiederholten sich von jetzt an täglich, immer über den Staketenzaun hinweg, denn seine Bitte, ihn auch einmal im Garten selber oder gar im Hause zu empfangen, lehnte sie mit stiller Entschiedenheit ab.

»Das geht nicht«, sagte sie lächelnd. »Wir sind ja beide keine jungen Leute mehr, aber die Gerbersauer haben immer gern was zu plappern und es wäre schnell ein dummes Gerede beieinander. Ich bin ohnehin übel angeschrieben, und Sie gelten auch für eine Art Sonderling, wissen Sie.«

Ja, das wußte er jetzt, im zweiten Monat seines Hierseins, und seine Freude an Gerbersau und den Landsleuten hatte schon bedeutend nachgelassen. Er begann zu merken, daß er hier doch fremd sei und daß Höflichkeit, Duldung und Entgegenkommen der Leute nicht seinem Namen und Wesen oder dem aus der Fremde heimgekehrten Mitbürger, sondern eben seinem Geldsack galt. Es belustigte ihn, daß man sein Vermögen weit überschätzte, und die ängstliche Beflissenheit seines Vetters Pfrommer und anderer Angelkünstler machte ihm einen gewissen Spaß, aber für die beginnende Enttäuschung konnte ihn das nicht entschädigen, und er hatte den Wunsch, sich dauernd hier niederzulassen, heimlich schon wieder zurückgenommen. Vielleicht wäre er einfach wieder abgereist und hätte nochmals wie in jungen Jahren die Wanderschaft gekostet, wovor ihm nicht bange war. Es hielt ihn aber jetzt ein feiner Dorn zurück, so daß er spürte, er werde nicht gehen können, ohne sich zu verletzen und ein Stücklein von sich hängen zu lassen.

Darum blieb er wo er war, und ging häufig an dem kleinen, weiß und braunen Nachbarhaus vorüber. Das Schicksal der Frau Entriß war ihm jetzt nimmer so dunkel, da er sie besser kannte und sie ihm auch manches erzählt hatte. Namentlich vermochte er sich den seligen Gerichtsvollzieher jetzt recht deutlich vorzustellen, von dem die Witwe ruhig und ohne Tadel sprach, der aber doch im Grunde genommen ein Windbeutel gewesen sein mußte, daß er es nicht verstanden hatte, unter der Herbe und Strenge dieser Frau den köstlichen Kern aufzuspüren und ans Licht zu bringen. Herr Schlotterbeck war überzeugt, daß sie neben einem verständigen Manne, vollends in reichlichen Verhältnissen, eine Perle abgeben müßte. Ihr Geiz war eine in Einsamkeit und Enttäuschung zur Leidenschaft ausgewachsene Liebhaberei, schien ihm, und war auch eigentlich keine Habsucht, da sie soviel Respekt vor jedem Werte besaß, um ihn auch ohne eigenen Vorteil möglichst zu retten und zu bewahren.

Je mehr er die Frau kennen lernte und ein Bild von ihr bekam, worin freilich Neigung und Hoffnung stark mitmalen halfen, desto besser begriff er, daß sie in Gerbersau unmöglich verstanden werden konnte. Denn auch der Gerbersauer Charakter schien ihm nun verständlicher geworden, wenn auch dadurch nicht lieber. Jedenfalls erkannte er, daß er selber diesen Charakter nicht oder nicht mehr habe und hier ebensowenig gedeihen und sich entfalten könne wie die Frau Entriß. Diese Gedanken waren, ihm unbewußt, lauter spielende Paraphrasen zu seinem stillen Verlangen nach einem nochmaligen Ehebund und Versuch, sein einsam gebliebenes Leben doch noch fruchtbar und unsterblich zu machen.

Der Sommer hatte seine Höhe erreicht und der Garten der Witwe duftete mitten in der sandigen und glühenden Umgebung triumphierend weit über seinen niederen Zaun hinaus, besonders am Abend, wenn dazu noch vom nahen Waldrande die Vögel aufatmend den schönen Tag lobten und aus dem Tale in der Stille nach dem Schluß der Fabriken der Fluß leise herauf rauschte. An einem solchen Abend kam August Schlotterbeck zu Frau Entriß und trat ungefragt nicht nur in den Garten, sondern auch in die Haustüre, wo eine dünne, erschrockene Glocke ihn anmeldete und die Hausfrau ihn verwundert und fast ein wenig ungehalten ansprach. Er erklärte aber, heute durchaus hereinkommen zu müssen, und ward denn von ihr in die Stube geführt, wo er sich umblickte und es allerdings etwas kahl und schmucklos, doch reinlich und abendsonnig fand. Die Frau legte schnell ihre Schürze ab, setzte sich auf einen Stuhl beim Fenster und hieß auch ihn sich setzen.

Da fing Herr Schlotterbeck eine lange, hübsche Rede an. Er erzählte sein ganzes Leben, seine erste kurze Ehe nicht ausgenommen, mit einfacher Trockenheit, schilderte dann etwas wärmer seine Heimkehr nach Gerbersau, seine erste Bekanntschaft mit ihr und erinnerte sie an manche Gespräche, in denen sie einander so gut verstanden hätten. Und nun sei er da, sie wisse schon warum, und hoffe, sie sei nicht gar zu sehr überrascht.

»Über mein Vermögen kann ich mich ausweisen. Ich bin kein Millionär, wie die Leute hier herumreden, aber so ungefähr eine viertel Million oder etwas drüber wird schon da sein. Im übrigen meine ich, wir seien beide noch zu jung und kräftig, als daß es schon Zeit wäre, Verzicht zu leisten und sich einzuspinnen. Was soll eine Frau wie Sie schon allein sitzen und sich mit dem Gärtlein bescheiden, statt noch einmal anzufangen und vielleicht hereinzubringen, was früher am rechten Glück gefehlt hat?«

Die Frau Entriß hatte beide Hände still auf ihren Knien liegen und hörte aufmerksam dem Freier zu, der allmählich warm und lebhaft wurde und wiederholt seine rechte Hand ausstreckte, als fordere er sie auf, sie zu nehmen und festzuhalten. Sie tat aber nichts dergleichen, sie saß ganz still und genoß es, ohne alles wirklich mit den Gedanken zu erfassen, daß hier jemand gekommen war, um ihr Freundlichkeit und Liebe und guten Willen zu zeigen. Die beiden Leute saßen einander nahe gegenüber, er von seinem Willen und Verlangen erwärmt und verjüngt, sie aber von einem zarten Wohlsein und einer nur halb erwarteten Ehrung leise erregt wie eine Jubilarin, und über beide Gesichter glühte mit feiner Abschiedsröte die tiefstehende Sonne durch das offene Fenster. Da sie weder Antwort gab noch aus ihrem seltsamen Traumgefühle aufsah, fuhr Schlotterbeck nach einer Pause zu reden fort. Gütig und hoffnungsvoll stellte er ihr vor, wie es sein und werden könnte, wenn sie einverstanden wäre, wie da an einem andern, neuen Ort ohne unliebe Erinnerungen sich ein friedlich fleißiges Leben führen ließe, bescheiden und doch etwas mehr aus dem Vollen, mit einem größeren Garten und einem reichlicheren Monatsgelde, wobei dennoch jährlich zurückgelegt würde. Er sprach, von ihrem lieben Anblick besänftigt und von dem rotgelben, innigen Abendscheine leicht und wohlig geblendet, recht milde mit halber Stimme und zufrieden, daß sie wenigstens zuhörte und ihn da sein und gelten und werben ließ. Und sie hörte und schwieg, von einer angenehmen Müdigkeit in der Seele leicht gelähmt. Es ward ihr nicht völlig bewußt, daß das eine Werbung und eine Entscheidung für ihr Leben bedeute, auch schuf dieser Gedanke ihr weder Erregung noch Qual, denn sie war durchaus entschieden und dachte keine Sekunde daran, das für Ernst zu nehmen. Aber die Minuten gingen so gleitend und leicht und wie von einer Musik getragen, daß sie benommen lauschte und keines Entschlusses fähig war, auch nicht des kleinen, den Kopf zu schütteln oder aufzustehen.

Wieder hielt Schlotterbeck inne und atmete tief, sah sie fragend an und sah sie unverändert mit niedergeschlagenen Augen und fein geröteten Wangen verharren, als schaue sie ein wohlgefälliges Spiel oder lausche einer seltenen Musik. Und wieder hielt er ihr die Hand entgegen, die sie aber nicht zu sehen schien, und fing nochmals an, gläubig wie ein Träumer von der Zukunft zu reden, die er schon an einem kleinen goldenen Faden zu halten meinte. Ihre Bewegung verstand er nicht, denn er deutete sie zu seinen Gunsten, aber er fühlte doch denselben hingenommenen und traumhaften Zustand und hörte gleich ihr die merkwürdigen Augenblicke wie auf wohllautend rauschenden Flügeln durch das abendhelle Stüblein und durch sein Gemüt reisen.

Beiden schien es später, sie seien eine gar lange Zeit so halbverzaubert beieinander gesessen, doch waren es nur Minuten, denn die Sonne stand noch immer nah am Rande der jenseitigen Berge, als sie aus dieser Stille jäh erweckt wurden.

Im Nebenzimmer hatte sich die kranke Schwägerin aufgehalten und war, schon durch den ungewohnten Besuch in Aufregung und einige Angst geraten, bei dem langen, leisen Gespräch und Beisammensein der Beiden von argen Ahnungen und Wahnvorstellungen befallen worden. Es schien ihr Ungewöhnliches und Gefährliches vorzugehen und allmählich ergriff sie, die nur an sich selber zu denken vermochte, eine wachsende Furcht, der fremde Mann möchte gekommen sein, um sie fortzuholen. Denn eine stille, argwöhnische Angst hievor war das Ergebnis jenes Besuches der Magistratsherren gewesen, und seither konnte nichts noch so Geringes im Hause vorfallen, ohne daß die arme Jungfer mit Entsetzen an eine gewaltsame Hinwegführung und Einsperrung an einem unbekannten fernen Orte denken mußte.

Darum kam sie jetzt, nachdem sie eine Weile mit immer abnehmenden Kräften gegen das Grauen gekämpft hatte, gewaltsam schluchzend und in Verzweiflung aufgelöst in die Stube gelaufen, warf sich vor ihrer Schwägerin nieder und umfaßte ihre Knie unter Stöhnen und zuckendem Weinen, so daß Schlotterbeck erschrocken auffuhr und die Frau Entriß plötzlich aus ihrer Benommenheit gerissen alles wieder mit nüchternem Verstande wahrnahm und sich der vorigen Verlorenheit unwillig schämte.

Sie stand eilig auf, zog die Kniende mit sich empor, fuhr ihr mit tröstender Hand übers Haar und redete halblaut und eintönig auf sie ein wie auf ein heulendes Kind.

»Nein, nein, Seelchen, nicht weinen! Gelt, du weinst jetzt nicht mehr? Komm, Kindelchen, komm, wir sind vergnügt und kriegen was Gutes zum Nachtessen. Hast gemeint, er will dich fortnehmen? O, Dummes du, es nimmt dich niemand fort; nein, nein, darfst mir's glauben, kein Mensch darf dir was tun. Nimmer weinen, Dummelein, nimmer weinen!«

August Schlotterbeck sah mit Verlegenheit und auch mit Rührung zu, die Kranke weinte schon ruhiger und fast mit einem kindlichen Genuß, wiegte den Kopf hin und wider, klagte mit abnehmender Stimme und verzog ihr verzweifeltes Gesicht unter den noch munter laufenden Tränen unversehens zu einem blöden, hilflosen Kleinkinderlächeln. Doch kam sich der Besucher bei dem allen unnütz und mehr als entbehrlich vor, er hustete darum ein wenig und sagte: »Das tut mir leid, Frau Entriß, hoffentlich geht es gut vorbei. Ich werde so frei sein und morgen wiederkommen, wenn ich darf.«

Erst in diesem Augenblick fiel der Frau alles aufs Herz, wie er um sie geworben und sie ihm zugehört und es geduldet habe, ohne daß sie doch willens war, ihn zu erhören. Sie erstaunte über sich selber, es konnte ja aussehen, als habe sie mit ihm gespielt. Nun durfte sie ihn nicht fortgehen und die Täuschung mitnehmen lassen, das sah sie ein, und sie sagte: »Nein, bleiben Sie da, es ist schon vorüber. Wir müssen noch reden.« Ihre Stimme war ruhig und ihr Gesicht unbewegt, aber die Röte der Sonne und die Röte der lieblichen Erregung war verglüht und ihre Augen schauten klug und kühl, doch mit einem kleinen bangen Glanz von Trauer auf den Werber, der mit dem Hute in den Händen wieder niedersaß und nicht begriff, wohin seine Freudigkeit und ihre liebe Wärme gekommen sei.

Sie setzte indessen die Schwägerin auf einen Stuhl und kehrte an ihren vorigen Platz zurück. »Wir müssen sie im Zimmer lassen,« sagte sie leise, »sonst wird sie wieder unruhig und macht Dummheiten. – Ich habe Sie vorher reden lassen, Herr Nachbar, ich weiß selber nicht warum, ich bin ein wenig müd gewesen. Hoffentlich haben Sie es nicht falsch gedeutet. Es ist nämlich schon lange mein fester Entschluß, mich nicht mehr zu verändern. Ich bin fast vierzig Jahre alt, und Sie werden gewiß reichlich fünfzig sein, in diesem Alter heiraten vorsichtige Leute nimmer. Daß ich Ihnen als einem freundlichen Nachbar gut und dankbar bin, wissen Sie ja, und wenn Sie wollen, können wir es weiter so haben. Aber damit wollen wir zufrieden sein, wir könnten sonst den Schaden haben.«

Herr Schlotterbeck sah sie betrübt, doch freundlich an. Unter Umständen, dachte er, würde er jetzt ganz ruhig abziehen und ihr recht geben. Allein der Glanz, den sie vor einer Viertelstunde im Gesicht gehabt hatte, war ihm noch wie ein ernsthaft schöner Spätsommerflor im Gedächtnis und hielt sein Begehren mit Macht am Leben. Wäre der Glanz nicht gewesen, er wäre betrübt, doch ohne Stachel im Herzen seiner Wege gegangen; so aber schien ihm, er habe das Glück schon wie einen zutraulichen Vogel auf dem Finger sitzen gehabt und nur den Augenblick des Zugreifens verpaßt. Und Vögel, die man schon so nahe gehabt, läßt man nicht ohne grimmige Hoffnung auf eine neue Gelegenheit zum Fang entrinnen. Außerdem, und trotz des Ärgers über ihr Entwischen, nachdem sie schon so fromm über seine Freiersrede erglüht war, hatte er sie jetzt viel lieber als noch vor einer Stunde. Bis dahin war es seine Meinung gewesen, eine angenehme und ersprießliche Vernunftheirat zu betreiben, nun aber hatte die stille Weichheit dieser Abendstunde ihn vollends wahrhaft verliebt gemacht, so daß jetzt an ein einfaches, freundlich kühles Bedauern und Adieusagen nimmer zu denken war.

»Frau Entriß,« sagte er deshalb entschlossen, »Sie sind jetzt erschreckt worden und vielleicht von meinem Vorschlag zu sehr überrascht. Auch habe ich vielleicht zu wenig gesagt und mich zu sehr an das Praktische und Geschäftliche der Sache gehalten, wenn es auch nicht so gemeint war. Ich will darum nur sagen, daß mein Herz es ernst meint und nicht von seiner Liebe lassen will, wenn es auch Gründe dagegen geben mag. Ich kann das nicht so ausdrücken, es steht mir nicht an, aber es ist mein Entschluß, davon nimmer zu lassen. Ich habe Sie lieb, und da Sie nur mit dem Verstande Widerstand leisten, kann ich mich nicht zufrieden geben wie ein Handelsmann, den man um ein Haus weiterschickt. Sondern es ist meine Meinung, diesen Krieg weiterzuführen und Sie nach meinen Kräften zu belagern, damit es sich zeigt, wer der Stärkere ist.«

Auf diesen Ton war sie nicht gefaßt gewesen, er klang, wenn auch nicht überzeugend, so doch warm und schmeichelhaft in ihr Frauengemüt und tat ihr im Innern wohl wie ein erster Amselruf im Februar, wenn sie es auch nicht wahr haben wollte. Doch war sie nicht gewohnt, so dunkeln Regungen Macht zu gönnen, und fest entschlossen, den Angriff abzuwehren und ihre liebgewordene Freiheit zu behalten.

Sie sagte: »Sie machen mir ja Angst, Herr Nachbar! Die Männer bleiben eben länger jung als unsereine, und es tut mir leid, daß Sie mit meinem Bescheide nicht zufrieden sein wollen. Denn bei mir sieht es nun einmal nimmer so lebenslustig aus, ich kann mich nicht wieder jung machen und verliebt tun, es käme nicht von Herzen. Auch ist mir mein Leben, so wie es jetzt ist, lieb und gewohnt geworden, ich habe meine Freiheit und keine Sorgen. Und da ist auch das arme Ding, meine Schwägerin, die mich braucht und die ich nicht im Stich lasse, das hab' ich ihr versprochen und will dabei bleiben. – Aber was rede ich lang, wo nichts zu sagen ist! Ich will nicht und ich kann nicht, und wenn Sie es gut mit mir meinen, so lassen Sie mir meinen Frieden und drohen mir nicht mit Belagerungen und dergleichen, ich müßte Ihnen sonst zürnen und würde kein Wort mehr von Ihnen anhören. Wenn Sie wollen, so vergessen wir das heutige und bleiben gute Nachbarn. Im andern Fall kann ich Sie nimmer sehen.«

Schlotterbeck stand auf, verabschiedete sich jedoch noch nicht, sondern ging in erregten Gedanken, als wäre er im eigenen Hause, heftig auf und ab, um einen Weg aus dieser Not zu finden. Sie sah ihm eine Weile zu, ein wenig belustigt, ein wenig gerührt und ein wenig beleidigt, bis es ihr zu viel ward. Da rief sie ihn an: »Seien Sie nicht töricht, Herr Nachbar: Wir wollen jetzt zu Nacht essen, und für Sie wird es auch Zeit sein.«

Aber er hatte eben jetzt seinen Entschluß gefunden. Er nahm seinen Hut, den er in der Aufregung weggelegt hatte, manierlich in die linke Hand, verbeugte sich und sagte mit einem schwachen, etwas mißlungenen Lächeln: »Gut, ich gehe jetzt, Frau Entriß. Sie müssen heut ein bißchen Nachsicht mit mir haben. Ich sage Ihnen jetzt Adieu und werde Sie eine Zeitlang nimmer belästigen. Sie sollen mich nicht für gewalttätig halten. Aber ich komme wieder, sagen wir in vier, fünf Wochen, und ich bitte um nichts, als daß Sie in der Zeit sich diese Sache noch einmal in Gedanken betrachten und mir alsdann eine richtige Antwort geben, ganz wie es Ihnen dann ums Herz sein wird. Ich reise fort, das hatte ich ohnehin im Sinn, und Sie werden also alle Ruhe vor mir haben. Und wenn ich wiederkomme, ist es nur, um Ihre Antwort zu holen. Wenn Sie dann Nein sagen, verspreche ich damit zufrieden zu sein und werde dann Sie auch von meiner Nachbarschaft befreien. Sie sind das Einzige, was mich noch in Gerbersau halten könnte. Also leben Sie recht wohl, und auf Wiedersehen!«

Sie nahm seine Hand nicht an, die er ihr hinbot, gab aber in freundlichem Ton Antwort: »Meine Meinung kennen Sie schon, sie wird nicht anders werden. Damit Sie meinen guten Willen sehen, will ich Ihren Vorschlag gelten lassen. Aber ich hoffe, bis Sie wiederkommen, sehen Sie selber das alles ruhiger an, auch das mit dem Fortziehen, und bleiben mein Nachbar. Adieu denn, und gute Reise!«

»Ja, adieu,« sagte Schlotterbeck wehmütig, nahm den Türgriff in die Hand, warf einen Blick ins Zimmer zurück, den nur die Schwägerin erwiderte, und trat unbegleitet aus dem Hause in die noch lichte Dämmerung. Er schüttelte eine Faust gegen die schwach herauftönende Stadt, welcher er alle Schuld an Frau Entrißens Verstocktheit zuschrieb, und beschloß im Herzen, sie so bald wie möglich für immer zu verlassen, sei es nun mit oder ohne Frau. Dieser Entschluß tat ihm in seinem übrigen schwebenden und abhängigen Zustande wohl, als ein Ausblick auf selbständigere und gesichertere Zeiten, nach denen ihn sehnlich verlangte.

Langsam tat er den kurzen Gang zu seiner Wohnung hinüber, nicht ohne mehrmals nach dem Nachbarhäuschen zurückzuschauen, das mit geschlossener Tür und Gartenpforte gleichmütig und kühl die späte Sommernacht erwartete. Ganz fern stand am verglühten Himmel noch eine kleine Wolke, kaum ein Hauch, und blühte hinsterbend in einem sanften rosigen Goldduft dem ersten Stern entgegen. Bei ihrem Anblick fühlte der Mann noch einmal die feine, innig glühende Erregung der vergangenen Stunde vorüberziehen und schüttelte lächelnd den alten Kopf zu den töricht süßen Wünschen seines Herzens. Dann betrat er sein einsames Haus, verzichtete auf das Abendessen in der Stadt, aß nur ein halbes Pfund Kirschen, die er morgens gekauft hatte, und fing noch am selben Abend an, sich für die Reise zu rüsten.

Am Nachmittag des andern Tages war er fertig, übergab die Schlüssel seiner Aufwärterin und den Koffer einem Dienstmann, seufzte befreit und ging davon, in die Stadt hinunter und dem Bahnhof zu, ohne im Vorbeigehen einen Blick in den Garten und die Fenster der Frau Entriß zu wagen. Sie aber sah ihn wohl, wie er vom Kofferträger begleitet, elegisch dahinging. Er tat ihr leid und sie wünschte ihm von Herzen gute Erholung.

Für Frau Entriß begannen nun stille Tage. Ihr bescheidenes Leben glitt wieder in die vorige Einsamkeit zurück, es kam niemand zu ihr und es schaute niemand mehr über ihren Gartenzaun herein. In der Stadt wußte man genau, daß sie mit allen Künsten nach dem reichen Rußländer geangelt habe, und gönnte ihr seine Abreise, die natürlich keinen Tag verborgen blieb. Sie kümmerte sich nach ihrer Art um das alles nicht, sondern ging ruhig ihren Pflichten und Gewohnheiten nach. Es tat ihr leid, daß es mit Herrn Schlotterbeck so gegangen war, denn sie hatte ihn gern gesehen und sah die freundliche Nachbarlichkeit mit Bedauern gestört. Doch war sie sich keiner Schuld bewußt und in langen Jahren an das Alleinleben so gewöhnt, daß sein Fortgehen ihr keinen ernstlichen Kummer machte. Sie sammelte Blumensamen von den verblühenden Beeten, goß am Morgen und Abend, erntete das Beerenobst, machte ein und tat mit zufriedener Emsigkeit die vielen Sommerarbeiten. Und dann machte ihr die Schwägerin unverhofft zu schaffen.

Diese hatte sich seit jenem Abend still verhalten, schien aber seither noch mehr als früher mit einer heimlichen Angst zu kämpfen, welche eine Art von Verfolgungswahnsinn war und in einem mißtrauischen Träumen von Entführung und Gewalttaten bestand. Der heiße Sommer, der ungewöhnlich viele Gewitter brachte, tat ihr auch nicht gut, und schließlich konnte Frau Entriß kaum mehr auf eine halbe Stunde zu Einkäufen ausgehen, da die Kranke das Alleinbleiben nimmer ertrug. Das elende Wesen fühlte sich nur in der nächsten Nähe der gewohnten Pflegerin sicher und umgab die geplagte Frau mit Seufzen, Händeringen und scheuen Blicken einer grundlosen Furcht. Am Ende mußte sie den Arzt holen, vor dem die Kranke in neues Entsetzen geriet und der nun alle paar Tage zur Beobachtung wiederkam. Für die Gerbersauer war das wieder ein Grund, von erneuter Mißhandlung und behördlicher Kontrolle zu erzählen; die Sache ward nun in Verbindung mit ihren Absichten auf Schlotterbeck gebracht und zu einem skandalösen Fall von arglistiger Habsucht gestaltet.

Unterdessen war August Schlotterbeck nach Wildbad gefahren, wo es ihm jedoch zu heiß und zu lebhaft wurde, so daß er, auch von einiger innerer Unrast geplagt, bald wieder aufpackte und weiterfuhr, diesmal nach Freudenstadt, das ihm von jungen Zeiten her bekannt war. Dort gefiel es ihm recht wohl, er fand die Gesellschaft eines schwäbischen Fabrikanten, mit dem er gut Freund wurde und über technische und kaufmännische Dinge seiner Erfahrung reden konnte. Mit diesem Manne, der Viktor Trefz hieß und gleich ihm selber weit in der Welt herumgekommen war, machte er täglich lange Spaziergänge in den kühlen Wäldern, zum Kniebis hinauf und nach Rippoldsau, oder das schöne Murgtal hinunter, wo man überall in schöner Landschaft und Waldnähe marschieren und in hübschen Ortschaften und guten Gasthäusern sich ausruhen kann. Herr Trefz besaß im Osten des Landes eine Lederwarenfabrik von altem und bekanntem Ruf, sein neuer Freund fragte ihn nach allem aus und ihm war es wohl dabei, seine Erholungstage in so angenehmen und vertrauten Gesprächen hinbringen zu können. Es entstand zwischen den beiden alten Herren eine höfliche Vertraulichkeit und gegenseitige Hochschätzung, denn Schlotterbeck zeigte in der Lederbranche vortreffliche Kenntnisse und außerdem eine Bekanntschaft mit dem Weltmarkt, die für einen Privatier erstaunlich war. So währte es nicht lange, bis er dem Fabrikanten seine Geschichte und Lage genauer mitteilte, und es wollte beiden scheinen, sie könnten unter Umständen einmal auch in Geschäften recht gute Kameraden werden.

Die erhoffte Erholung fand Schlotterbeck also reichlich, er vergaß sogar für halbe Tage seinen schwebenden Handel mit der Witwe in Gerbersau, von dem er Herrn Trefz keine Mitteilung hatte machen mögen. Den alten Geschäftsmann belebte und erregte die Unterhaltung mit einem gewiegten Kollegen und die Aussicht auf etwaige neue Unternehmungen nicht wenig, und die Bedürfnisse seines Herzens zogen sich, da er ihnen nie allzuvielen Raum gegönnt hatte, bescheidentlich zurück. Nur wenn er allein war, etwa abends vor dem Einschlafen, suchte ihn das Bild der Frau Entriß heim und machte ihn wieder warm. Doch auch dann schien ihm die Angelegenheit nicht mehr gar so verzweifelt und gewichtig. Er dachte an jenen Abend im Häuschen der Nachbarin und fand schließlich, sie habe nicht völlig unrecht gehabt. Er sah ein, daß der Mangel an Arbeit und das Alleinhausen zu einem großen Teil an seinen Heiratsgedanken schuld gewesen seien. Nicht daß er nun kalt und untreu geworden wäre, das lag nicht in seiner Art, aber wenn nun, wie zu vermuten war, es bei jener ersten Antwort der Frau bleiben würde, schien ihm das Unglück immerhin unter den jetzigen Umständen nicht unerträglich.

Auf einem Spaziergang im Fichtenwalde wurde er von Herrn Trefz eingeladen, diesen Herbst ihn zu besuchen und seinen Betrieb anzuschauen. Es war noch mit keinem Wort von geschäftlichen Beziehungen die Rede gewesen, doch wußten beide, wie es stand und daß der Besuch sehr wohl zu einer Teilhaberschaft und Vergrößerung des Geschäfts führen könnte. Schlotterbeck nahm dankend an und nannte dem Freunde die Bank, bei der er sich über ihn erkundigen könne.

»Danke, es ist gut,« sagte Trefz, »das Weitere besprechen wir dann, falls Sie Lust haben, an Ort und Stelle.«

Damit fühlte sich August Schlotterbeck dem Leben wiedergewonnen, dem er nun eine unfrohe Weile nur unbeteiligt zugesehen hatte. Er sah Arbeit und Sorge, Gewinn und Erregung des Handels in naher Zukunft winken, und mehr als einst auf die Heimkehr in die alte Heimat freute er sich jetzt auf die Rückkehr zum gewohnten Leben eines Arbeiters und Unternehmers, auf Einrichtungen und Reisen, Korrespondenzen und Berechnungen, auf Telegramme, Verwicklungen und Kämpfe. Es war weniger des Geldes wegen, dessen er für den Bedarf seines Alters genug besaß, als aus Freude an Umtrieb und Wagnis, aus einer gewissen Lust am Verkehr mit dem Welthandel und den Abenteuern des kühnen Kaufmanns. Fröhlich stieg er an jenem Tag in sein Bett und schlief ein, ohne heut ein einziges Mal an seine Witwe gedacht zu haben.

Er ahnte nicht, daß diese eben jetzt recht üble Zeit habe und seinen Beistand wohl hätte brauchen können. Die Schwägerin war unter der Beobachtung des Oberamtsarztes noch scheuer und unheimlicher geworden und machte das kleine Häuschen zu einem Orte des Jammers, indem sie bald schrie wie am Spieß, bald rastlos und schwer seufzend die Treppen auf und ab stieg und durch die Stuben wanderte, bald auch sich in ihrer Kammer einschloß und eingebildete Belagerungen unter Gebet und Winseln bestand. Das arme Geschöpf mußte immerfort bewacht werden, wenn auch ruhige Tage dazwischen kamen, und der geängstigte Doktor, der in solchen Dingen keine Erfahrung hatte, drängte zur Fortschaffung und Versorgung in einer Anstalt. Frau Entriß widersetzte sich dem, so lange sie konnte. Sie hatte sich an die Nähe der schwermütigen Jungfer in langen Jahren gewöhnt und zog ihre Gesellschaft der völligen Einsamkeit immerhin vor, auch hoffte sie, es werde dieser schlimme Zustand nicht lange dauern, und schließlich fürchtete sie die bedenklichen Kosten, die möglicherweise nach Abgang der Kranken in eine Irrenanstalt ihr entstehen könnten. Sie wollte gern der Unglücklichen ihr Lebenlang kochen, waschen und aufwarten, ihre Launen ertragen und sich um sie sorgen; aber die Aussicht, es möchte für dies zerstörte Leben vielleicht jahrelang ihr Erspartes dahingehen und in einen Sack ohne Boden rinnen, war ihr furchtbar. So hatte sie außer der täglichen Sorge um die Gemütskranke auch noch diese Angst und Last zu tragen, und sie fing trotz ihrer Zähigkeit an, etwas vom Fleisch zu fallen und im Gesicht ein wenig zu altern.

Von dem allem wußte Schlotterbeck kein Wort. Er war der sicheren Meinung, die muntere Witwe sitze vergnügt in ihrem hübschen kleinen Hause und sei womöglich froh, den lästigen Nachbarn und Bewerber für eine Weile los zu sein.

Dies stimmte aber nun schon nicht mehr. Zwar hatte die Abreise des Herrn Schlotterbeck nicht die Folge gehabt, ihr nach dem Entfernten Sehnsucht zu wecken und ihr sein Bild zärtlich zu verklären, doch wäre sie jetzt in ihrer Not ganz froh gewesen, einen Freund und Berater zu haben, und war mit ihrer Selbstherrlichkeit durchaus nicht mehr so stolz zufrieden wie bisher. Ja sie hätte, falls es mit der Schwägerin schlimm gehen sollte, sich wohl auch die Bewerbung des reichen Mannes noch einmal näher und freundlicher angesehen.

In Gerbersau war unterdessen das Gespräch über die Abreise Schlotterbecks und ihre vermutliche Bedeutung und Dauer verstummt, da man jetzt an der Witwe Entriß wieder für eine Weile die Mäuler voll hatte. Und während unter den schönen Tannenbäumen von Freudenstadt die beiden Geschäftsleute und Freunde sich immer besser verstanden und schon deutlicher von künftigen gemeinsamen Unternehmungen miteinander plauderten, saß daheim in der Spitalgasse der Buchbinder Pfrommer zwei lange Abende an einem Schreiben an seinen Vetter, dessen Wohl und Zukunft ihm gar sehr am Herzen lag. Einige Tage später hielt August Schlotterbeck diesen Brief, der auf das beste Papier mit einem goldenen Rande geschrieben war, verwundert in den Händen und las ihn langsam zweimal durch. Er lautete:

Lieber und werter Vetter Schlotterbeck!

Der Herr Aktuar Schwarzmantel, der neulich eine Schwarzwaldtour gemacht hat, hat uns berichtet, daß er Dich in Freudenstadt gesehen und daß Du wohl bist und in der Linde logierst. Das hat uns gefreut, und möchte ich Dir an diesem schönen Ort eine gute Erholung wünschen. Wenn man es vermag, ist ja eine solche Sommerkur immer sehr gut, ich war auch einmal ein paar Tage in Herrenalb, weil ich krank gewesen war, und hat mir vorzügliche Dienste getan. Wünsche also nochmals besten Erfolg, und wird unser heimatlicher Schwarzwald mit seinem Tannenrauschen auch Dir gewiß nur gut gefallen.

Lieber Vetter, wir haben alle lange Zeit nach Dir, und wenn du nach guter Erholung wieder heimkommst, wird es Dir gewiß in Gerbersau wieder recht gut gefallen. Der Mensch hat doch nur eine Heimat, und wenn es auch draußen in der Welt viel Schönes geben mag, kann man doch bloß in der Heimat wirklich glücklich sein. Du hast Dich auch in der Stadt sehr beliebt gemacht, alle freuen sich bis Du wiederkommst.

Es ist nur gut, daß Du gerade jetzt verreist bist, wo es in Deiner Nachbarschaft wieder so arg zugeht. Ich weiß es nicht, ob es Dir schon bekannt ist. Die Frau Entriß hat jetzt also doch ihre kranke Schwägerin hergeben müssen. Sie war so mit ihr umgegangen, daß das unglückliche Geschöpf es nimmer hat aushalten können und hat Tag und Nacht um Hilfe gerufen, bis man den Oberamtsarzt geholt hat. Da hat sich gezeigt, daß es mit der kranken Jungfer furchtbar stand, und trotzdem hat die Entriß drauf bestehen und sie um jeden Preis dabehalten wollen, man kann sich denken warum. Aber jetzt ist ihr das Handwerk gelegt, man hat ihr die Schwägerin weggenommen und vielleicht muß sie sich noch anderswo verantworten. Dieselbe ist im Narrenhaus in Zwiefalten untergebracht worden, und die Entriß muß tüchtig für sie zahlen. Warum hat sie früher so an der Kranken gespart!

Wie man das arme Ding fortgebracht hat, das hättest Du sehen sollen, es war ein Jammer. Sie hatten einen Wagen genommen, da saß die Entriß, der Oberamtsarzt, ein Wärter aus Zwiefalten drin und die Patientin. Da fing sie an und hat den ganzen Weg geschrien wie verrückt, daß alles nachgelaufen ist, bis auf den Bahnhof. Auf dem Heimweg hat die Entriß dann allerlei zu hören gekriegt, ein Bub hat ihr sogar einen Stein nachgeworfen.

Lieber Vetter, falls ich Dir hier irgend etwas besorgen kann, tue ich es sehr gern. Du bist ja dreißig Jahre lang von der Heimat fortgewesen, aber das macht nichts und für meine Verwandten ist mir, wie Du weißt, nichts zuviel. Meine Frau läßt Dich auch grüßen.

Ich wünsche Dir gutes Wetter für Deine Sommerfrische. In dem Freudenstadt droben wird es schon kühler sein als hier in dem engen Loch, wir haben sehr heiß und viel Gewitter. Im Bayrischen Hof hat es vorgestern eingeschlagen, aber kalt.

Wenn Du etwas brauchst, stehe ich ganz zur Verfügung. In alter Treue Dein Vetter und Freund

Lukas Pfrommer.

Herr Schlotterbeck las diesen Brief aufmerksam durch, steckte ihn in die Tasche, zog ihn wieder heraus und las ihn nochmals, dann sagte er: »O du Simpel,« was seinem Vetter galt. Doch hielt er sich nicht lange mit Gedanken an den Briefschreiber auf, sondern bedachte sich den Brief selber recht genau, übersetzte ihn aus dem Gerbersauerischen ins Deutsche und suchte sich die geschilderten Begebenheiten vor Augen zu denken. Dabei ergriff ihn Scham und Zorn, er sah das arme Frauelein verhöhnt und preisgegeben, mit Tränen kämpfen und ohne Trost allein sitzen. Je mehr er es überlegte und je deutlicher er alles sah und begriff, desto mehr schwand sein stilles Schmunzeln über den briefschreibenden Vetter dahin. Er war über ihn und über ganz Gerbersau herzlich empört und wollte schon Rache beschließen, da fiel ihm allmählich ein, wie wenig er selber in dieser letzten Zeit an die Frau Entriß gedacht hatte. Er hatte Pläne geschmiedet und sich ohne viel Heimweh gute Tage gegönnt, und währenddessen war es der lieben Frau übel gegangen, sie hatte es schwer gehabt und vielleicht auf seinen Beistand gehofft.

Indem er das bedachte, begann er sich sehr zu schämen. Das Bildnis der kleinen Witwe stand ihm nun wieder so klar und nett vor Augen, daß er nicht begriff, wie er sie tagelang fast ganz habe vergessen können. Was war jetzt zu tun? Jedenfalls wollte er sofort heimreisen. Ohne Verzug rief er den Wirt, ordnete für morgen früh seine Abreise an und teilte dies auch dem Herrn Trefz mit, der sich darüber sehr betrübt zeigte. Doch ward verabredet, daß Schlotterbeck ihn bald besuchen und seine Fabrik ansehen solle. Dann packte dieser seinen Koffer, worin er viel Übung und Geschick hatte, und während er dies tat und die Dämmerung hereinbrach, vergaß er die Scham und den Zorn und alle Bedenken und verfiel in eine muntere, tröstliche Heiterkeit, die ihn den ganzen Abend nimmer verließ. Es war ihm klar geworden, daß alle diese Geschichten nur Wasser auf seine Mühle seien. Die Schwägerin war fort, Gott sei Dank, die Frau Entriß saß vereinsamt und traurig und hatte wohl auch Geldsorgen, da war es Zeit, daß er nochmals vor sie trat und in dem abendsonnigen Stüblein ihr sein Angebot wiederholte. Vergnügt pfiff er ein Freudenlied, das stark mißglückte und ihn doch noch froher und mutiger machte, und den Abend verbrachte er mit Herrn Trefz bei einem guten Markgräflerwein. Die Männer stießen auf ein gutes Wiedersehen und eine weiterdauernde Freundschaft an, der Wirt trank ein Glas mit und hoffte beide gute Gäste im nächsten Jahr wiederzusehen.

Am andern Morgen stand Schlotterbeck zeitig an der Eisenbahn und erwartete den Zug. Der Wirt hatte ihn begleitet und drückte ihm nochmals die Hand, der Hausknecht hob den Koffer in den Wagen und bekam sein Trinkgeld, der Zug fuhr dahin, und nach einigen ungeduldigen Stunden war die Reise getan und Schlotterbeck wandelte an dem grüßenden Stationsvorstande vorbei in die Stadt hinein.

Er nahm nur ein kurzes Frühstück im Adler, der am Wege lag, ließ sich dort den Rock abbürsten und ging alsdann geraden Weges zur Frau Entriß hinauf, deren Garten ihn in der alten Sauberkeit begrüßte. Das Tor war verschlossen und er mußte ein paar Augenblicke warten, bis die Hausfrau daherkam und mit einem fragenden Gesicht – denn sie hatte ihn nicht kommen sehen – die Tür auftat. Da sie ihn erkannte, wurde sie rot und versuchte ein strenges Gesicht zu machen, er trat aber mit freundlichem Gruß herein und sie führte ihn in die Stube.

Sein Kommen hatte sie überrascht. Sie hatte in der vergangenen Zeit wenig an ihn denken können, doch war seine Wiederkunft ihr immerhin kein Schrecken mehr, sondern eher ein Trost. Er sah das auch, trotz ihrer Stille und künstlichen Kühle, sehr wohl, und machte ihr und sich selber die Sache leicht, indem er sie herzhaft an beiden Schultern faßte, ihr halb lachend ins rote Gesicht schaute und fragte: »Es ist jetzt recht, nicht wahr?«

Da wollte sie lächeln und noch ein wenig sprödeln und Worte machen; aber unversehens übernahm sie die Bewegung, die Erinnerung an so viel Sorge und Bitterkeit dieser Wochen, die sie bis zum Augenblick tapfer und trocken durchgemacht hatte, und sie brach zu seinem und ihrem eigenen Schrecken plötzlich in helle Tränen aus. Bald hernach aber erschien auf ihren Wangen wieder der schüchterne Glücksschein, den Herr Schlotterbeck vom letztenmal her kannte, sie lehnte sich an ihn, ließ sich von ihm umfangen, und als nach einem sanften Kusse der Bräutigam sie auf einen Stuhl niedersetzte, sagte er wohlgemut: »Gott sei Dank, das stimmt also. Aber auf den Herbst wird das Häusel verkauft, oder willst du um jeden Preis in dem Nest hier bleiben?«

Sie schüttelte den Kopf, und er sagte fröhlich: »Da bin ich froh! Und das Privatisieren hört auch bald auf. Was meinst du zum Beispiel zu einer Lederwarenfabrik?«

Der Weltverbesserer

1

Berthold Reichardt war vierundzwanzig Jahre alt. Aus einem guten bürgerlichen Hause stammend, besaß er einen angeborenen Sinn für das Schickliche und Angenehme, den aber ein begehrlicher, auf eigene Wege und Erlebnisse erpichter Verstand vor den Gefahren der Bequemlichkeit des Philistertums bewahrte. Zum Unglück hatte er die Eltern früh verloren und von seinen mehrmals wechselnden Erziehern hatte nur ein einziger Einfluß auf ihn bekommen, ein edler doch fanatischer Mensch und frommer Freigeist, welcher dem Jüngling früh die Gewohnheit eines Denkens beibrachte, das bei scheinbarer Gerechtigkeit doch eben nicht ohne Hochmut den Dingen seine Form aufzwang.

Nun wäre es für den jungen Menschen Zeit gewesen, unbefangen seine Kräfte im Spiel der Welt zu versuchen und im Anschluß an irgendeinen Kreis tätigen Lebens sich unter die Menschen zu begeben, um ohne Hast sich nach dem ihm zukömmlichen und erreichbaren Lebensglück umzusehen, auf das er als ein gescheiter und gutartiger, dabei hübscher und wohlhabender Mann gewiß nicht lange hätte zu warten brauchen.

Von diesem natürlichen und einfachen Wege hielten jedoch zwei Umstände ihn ab, beide mehr in seinem Erziehungsgang als seiner Natur begründet, beide unschuldig und edel von Ansehen. Zunächst war da, von jenem wohlmeinenden Erzieher geweckt und befestigt, in dem Jüngling eine Neigung nach dem Abstrakten, die ihn zwang, allen Dingen auf den Grund zu gehen, auch wo kein solcher abzusehen war, und aus Zuständen, für die er nicht verantwortlich war, persönliche Gedanken- und Gewissensprobleme zu ziehen wie Schalen von der Zwiebel, wobei denn jeder natürliche Leichtsinn und jede schöne Unschuld des Denkens erkrankt und verkümmert war.

Daraus hatte sich auch der zweite Übelstand ergeben: Berthold Reichardt hatte keinen bestimmten Beruf gewählt. Gewissenhaft und eifrig hatte er seine Neigungen und Gaben immer wieder geprüft und war dabei geblieben, sich erst recht gründlich im Allgemeinen zu bilden und zu festigen, ehe er den folgenschweren Schritt in eine begrenzte und verantwortliche Tätigkeit wage. Seinen Neigungen gemäß hatte er bei guten Lehrern, auf Reisen und aus Büchern Philosophie und Geschichte studiert mit einer Tendenz nach den ästhetischen Fächern. Sein ursprünglicher Wunsch, Baumeister zu werden, war dabei in den Studienjahren abwechselnd erkaltet und wieder aufgeflammt; schließlich war er, um doch ein festes Ergebnis zu erreichen, bei der Kunstgeschichte stehen geblieben und hatte vorläufig seine Lehrjahre durch eine Doktorarbeit über die Ornamentik in der Architektur der süddeutschen Renaissance abgeschlossen. Als junger Doktor traf er nun in München ein, wo er im Zusammenströmen so vieler junger Talente, Kräfte und Bedürfnisse am ehesten die Menschen und die Tätigkeit zu finden hoffte, zu denen seine Natur auf noch verdunkelten Wegen doch immer stärker hinstrebte. Er dürstete danach, Verkehr mit dem Leben und Einfluß auf Menschen zu üben, am Entstehen neuer Zeiten und Werke mitzuraten und mitzubauen und im Werden und Emporkommen seiner Generation mitzuwachsen.

Des Vorteiles, den jeder Friseurgehilfe hat: durch Beruf und Stellung von allem Anfang an ein festes, klares Verhältnis zum Leben und eine berechtigte Stelle im Gefüge der menschlichen Tätigkeiten zu haben, dieses Vorteils also mußte Berthold bei seinem Eintritt in die Welt und ins männliche Alter entraten. Sein Doktorname bezeichnete keine Arbeit und Stellung, kein Amt und keine Richtung, er war nur ein Titel und Schmuck, am Sonntag zu tragen. Freilich empfand Berthold selbst diesen Mangel an äußerer Bestimmung lediglich als goldene Freiheit, welche er hochzuhalten und durchaus nur um den allerhöchsten Preis, um die Krone des Lebens selber, daranzugeben gewillt war.

In München, wo er schon früher ein Jahr als Student gelebt hatte, war der junge Herr Doktor Reichardt in mehreren Häusern eingeführt, hatte es aber mit den Begrüßungen und den Besuchen nicht eilig, da er seinen Umgang in aller Freiheit suchen und unabhängig von früheren Verpflichtungen sein Leben einrichten wollte. Vor allem war er auf die Künstlerwelt begierig, welche zurzeit eben wieder voll neuer Ideen gärte und beinahe täglich Zustände, Gesetze und Sitten entdeckte, welchen der Krieg zu erklären war.

Da Verwandtes dem Verwandten zustrebt, geriet Reichardt, ohne sich darum Mühe gegeben zu haben, bald in näheren Umgang mit einem kleinen Kreise moderner junger Künstler dieser Art. Man traf sich bei Tische und im Kaffeehaus, bei öffentlichen Vorträgen und bald auch freundschaftlich in den Wohnungen und Ateliers, meistens in dem des Malers Hans Konegen, der eine Art geistiger Führerschaft in dieser Künstlergruppe ausübte.

Das Wohlwollen dieser meist noch sehr jungen Leute hatte sich Berthold vor allem durch die Bescheidenheit erworben, mit welcher er ihren oft verblüffend kühnen Reden zuhörte und auch die gegen seine Person und seinen Stand gerichtete freimütige Kritik hinnahm. Als Hans Konegen ihn einstmals nach seinem Beruf gefragt und Reichardt sich als eine Art von Privatgelehrten vorstellte, der sich durch kunstgeschichtliche Studien den Doktorgrad erworben habe, da hatte ihm der Maler geradezu ins Gesicht gelacht und gesagt: »Ach, Sie sind Kunsthistoriker!« und hatte dieses Wort mit einer so erstaunten Verächtlichkeit betont, als wäre es mit Idiot oder Raubmörder gleichbedeutend. Reichardt aber hatte nur verwundert mitgelacht und ohne Empfindlichkeit zugegeben, daß allerdings das gelehrte Kunststudium viel Äußerliches an sich habe, wie es denn auch für ihn nur eine methodische Bildung bedeute, welche er nun womöglich in einer mehr auf das Leben selbst gerichteten Tätigkeit anzuwenden hoffe.

Im weiteren Umgang mit den jungen Künstlern fand er nun noch manchen Anlaß zur Verwunderung, ohne darüber den guten Willen zum Lernen zu verlieren. Es fiel ihm vor allem auf, daß die paar berühmten Maler und Bildhauer, deren Namen er stets in enger Verbindung mit den jungen künstlerischen Revolutionen nennen gehört oder gelesen hatte, offenbar diesem reformierenden Denken und Treiben der Jungen weit ferner standen, als er gedacht hätte, daß sie vielmehr in einer gewissen Einsamkeit und Unsichtbarkeit nur ihrer persönlichen Arbeit zu leben schienen. Ja, diese Weitberühmten wurden, worüber er anfänglich geradezu erschrak, von den jungen Kollegen keineswegs als Vorbilder bewundert, sondern mit Schärfe, ja mit Lieblosigkeit kritisiert und zum Teil sogar beinahe verachtet. Es schien, als begehe jeder Künstler, der unbekümmert seine Werke schuf, damit einen Verrat an der Sache der revolutionierenden Jugend, ja, als sei trotz Goethe es eines rechten Künstlers Art und Pflicht nicht so sehr zu malen und zu bilden als zu denken und zu reden.

Leider entsprach dieser Verirrung ein gewisser jugendlich-pedantischer, ideologischer Zug in Reichardts Wesen selbst, so daß er trotz gelegentlichen Bedenken dieser ganzen Art sehr bald zustimmte. Es fiel ihm nicht auf, wie wenig und mit wie geringer Leidenschaft in den Ateliers seiner Freunde gearbeitet wurde. Da er selbst ohne Beruf und ohne Nötigung zu positiver Arbeit war, gefiel es ihm wohl, daß auch seine Malerfreunde fast immer Zeit und Lust zum reden und theoretisieren hatten. Namentlich schloß er sich an Hans Konegen an, dessen kaltblütige Kritiklust ihm ebensosehr imponierte wie sein unverhohlenes Selbstbewußtsein. Mit ihm durchstreifte er häufig die vielen Kunstausstellungen und hatte die Überzeugung, dabei erstaunlich viel zu lernen, denn es gab kaum ein Kunstwerk, an dem Konegen nicht klar und schön darzulegen wußte, wo seine Fehler lagen. Anfangs hatte es Berthold oft weh getan, wenn der andere über ein Bild, das ihm gefiel und in das er sich eben mit Freude hineingesehen hatte, gröblich und schonungslos hergefallen war; mit der Zeit gefiel ihm jedoch dieser Ton und färbte sogar auf seinen eigenen ab.

Da hing eine zarte grüne Landschaft, ein Flußtal mit bewaldeten Hügeln, von Frühsommerwolken überflogen, treu und zart gemalt, das Werk eines noch jungen, doch schon rühmlich bekannten bayerischen Malers. »Das schätzen und kaufen nun die Leute,« sagte Hans Konegen dazu, »und es ist ja ganz nett, die Wolkenspiegel im Wasser sind sogar direkt gut. Aber wo ist da Größe, Wucht, Linie, kurz – Rhythmus? Eine nette kleine Arbeit, sauber und lieb, gewiß, aber das soll nun ein Berühmter sein! Ich bitte Sie: wir sind ein Volk, das den größten Krieg der modernen Geschichte gewonnen hat, das Handel und Industrie im größten Maßstab treibt, das reich geworden ist und Machtbewußtsein hat, das eben noch zu den Füßen Bismarcks und Nietzsches saß – und das soll nun unsere Kunst sein!«

Ob ein hübsches waldiges Flußtal geeignet sei, mit monumentaler Wucht gemalt zu werden, oder ob das Gefühl für einfache Schönheiten der ländlichen Natur unseres Volkes unwürdig sei, davon sprach er nicht, und tat man einen derartigen Einwurf, so hieß es unverweilt: »Nun ja, wir können ja auch über das Ding an sich oder über den Kaukasus reden, warum nicht? Aber da wir nun doch einmal gerade von diesem Bild hier sprechen, kann ich nur wiederholen: ist hier Monumentalität? Ist hier Größe? Ist hier der Ausdruck dessen, was unser Volk bewegt?« und so weiter.

Berthold Reichardt verlernte es unter dieser Führung, sich still und bescheiden in irgendein schönes Werk zu vertiefen, und wenn er schließlich gleich seinen neuen Freunden mit Bitterkeit fragte: »Was sollen uns alle diese Ausstellungen? Sie lassen uns ja doch alle kalt!« so hatte er damit mehr Recht als er selber wußte, denn wirklich mochte das geringste dieser Bilder, in einem schlechten Farbendruck reproduziert und einem Bauernbuben geschenkt, diesem weit mehr Freude bereiten als dem so kritischen Betrachter alle Galerien.

Doktor Reichardt wußte nicht, daß seine Bekannten keineswegs die Blüte der heutigen Künstlerjugend darstellten, denn nach ihren Reden, ihrem Auftreten und ihren vielen theoretischen Kenntnissen taten sie das entschieden. Er wußte nicht, daß sie höchstens einen mäßigen Durchschnitt, ja vielleicht nur eine launige Luftblase und Zerrform bedeuteten, und wußte nicht, daß neben dieser lärmenden und überklugen Jugend unbeachtet gar viele stille Talente hausten und arbeiteten. Er wußte auch nicht, wie wenig gründlich und gewissenhaft die Urteile Konegens waren, der von schlichten Landschaften den großen Stil, von Riesenkartons aber tonige Weichheit, von Studienblättern Bildwirkung und von Staffeleibildern größere Naturnähe verlangte, so daß freilich seine Ansprüche stets weit größer blieben als die Kunst aller Könner. Und er fragte nicht, ob eigentlich Konegens eigene Arbeiten so mächtig seien, daß sie ihm das Recht zu solchen Ansprüchen und Urteilen gäben. Wie es Art und schönes Recht der Jugend ist, unterschied er nicht zwischen seiner Freunde Idealen und ihren Taten, und wenn er ihnen in lebhafter Unterredung gegenüberstand, genoß er das Gefühl, als Freund neben lauter Talenten und Ausnahmegeistern zu leben, unter glücklichen Repräsentanten der zeitgenössischen Jugend.

Es übten übrigens auch diese eine Art von auffallender Bescheidenheit. Während sie nämlich über Hodler wie über Botticelli zu reden und alle Forderungen der höchsten Kunst genau zu formulieren wußten, galt ihre eigene Arbeit meistens recht anspruchslosen Dingen, kleinen Gegenständen und Spielereien dekorativer und gewerblicher Art. Aber wie das Können des größten Malers klein wurde und elend dahinschmolz, wenn man es an ihren Forderungen an ihn und ihren Urteilen über ihn maß, so wuchsen ihre eigenen kleinen Geschäftigkeiten ins Gewaltige, wenn man sie darüber sprechen hörte. Der eine hatte eine ganz hübsche Zeichnung zu einer Vase oder Tasse gemacht und wußte nachzuweisen, daß diese Arbeit, so unscheinbar sie sei, doch vielleicht mehr bedeute als mancher Saal voll Bilder, da sie in ihrem schlichten Ausdrucke das Gepräge des Notwendigen trage und auf einer Erkenntnis der statischen und konstruktiven Grundgesetze jedes gewerblichen Gegenstandes, ja des Weltgefüges selbst, beruhe. Ein anderer versah ein Stück graues Papier, das zu Büchereinbänden dienen sollte, mit einigen regellos verteilten gelblichen Flecken und konnte darüber ebenfalls eine Stunde lang philosophieren, wie die Art der Verteilung jener Flecken etwas Kosmisches zeige und ein Gefühl von Sternhimmel und Unendlichkeit zu wecken vermöge und wie der Zusammenklang des Grau mit dem Gelb etwas melancholisch Schweres, aber doch dämonisch Kräftiges habe.

Dergleichen Unfug lag in der Luft und wurde von der Jugend als eine Mode betrieben; mancher kluge, doch schwache Künstler mochte es auch ernstlich darauf anlegen, mangelnden natürlichen Geschmack durch solche Raisonnements zu ersetzen oder zu entschuldigen. Reichardt aber in seiner langsamen Gründlichkeit nahm alles eine Zeit lang ernst und lernte dabei von Grund aus die verderbliche Müßiggängerkunst eines intellektualistischen Beschäftigtseins, das der Todfeind jeder wertvollen Arbeit ist.

2

Über diesem Umgange und Treiben aber konnte er, als ein ziemlich gut erzogener Mensch, doch auf die Dauer nicht alle gesellschaftlichen Verpflichtungen vergessen, und so erinnerte er sich vor allem eines Hauses, in dem er einst als Student verkehrt hatte, da der Hausherr vor Zeiten mit Bertholds Vater in näheren Beziehungen gestanden war. Es war dies ein Herr Justizrat Weinland, der ehemals Diplomat gewesen, dann zur Rechtswissenschaft zurückgekehrt war und als leidenschaftlicher Freund der Kunst und der Geselligkeit ein belebtes und glänzendes Haus geführt hatte. Dort wollte nun Reichardt, nachdem er schon gegen einen Monat in der Stadt wohnte, einen Besuch machen und sprach in sorgfältiger Toilette in dem Hause vor, dessen erste Etage der Rat einst bewohnt hatte. Da fand er zu seinem Erstaunen einen fremden Namen auf dem Türschilde stehen, und als er einen zufällig heraustretenden Diener nach der jetzigen Wohnung des Justizrats fragte, erfuhr er diese und zugleich die Nachricht, der Herr Rat selbst sei vor mehr als Jahresfrist gestorben.

Die Wohnung der Witwe, die Berthold sich aufgeschrieben hatte, lag weit draußen in einer unbekannten stillen Straße am Rande der Stadt, und ehe er dorthin ging, suchte er durch Kaffeehausbekannte, deren er einige noch von der Studentenzeit her vorgefunden hatte, über Schicksal und jetzigen Zustand des Hauses Weinland Bericht zu erhalten. Das hielt nicht schwer, da der verstorbene Rat ein weithin gekannter Mann gewesen war, und so erfuhr Berthold eine ganze Geschichte: Weinland hatte allezeit weit über seine Verhältnisse gelebt und war so tief in Schulden, ja in zweifelhafte und mißliche Finanzgeschäfte hineingeraten, daß niemand seinen plötzlichen Tod für einen natürlichen hatte halten mögen. Jedenfalls hatte sofort nach diesem unerklärten Todesfall die Familie alle Habe verkaufen müssen und sei, obwohl noch in der Stadt wohnhaft, so gut wie vergessen und verschollen, da die angesehenen Freunde sich alle mißtrauisch zurückgezogen hätten und die ganz verarmte Frau nicht in der Lage sei, ein Haus zu machen. Schade sei es dabei am meisten um die Tochter, der jedermann ein besseres Schicksal gegönnt hätte.

Der junge Mann, von solchen Nachrichten überrascht und mitleidig ergriffen, wunderte sich doch über das Dasein dieser Tochter, welche je gesehen zu haben er sich nicht erinnern konnte, und es geschah zum Teil aus Neugierde auf das Mädchen, als er nach einigen Tagen beschloß, die Weinlands zu besuchen. Er nahm einen Mietwagen und fuhr hinaus, durch eine unvornehme Vorstadt bis an die Grenze des freien Feldes, das zum Teil durch einen Exerzierplatz eingenommen wurde, wo im nassen Herbstwetter einige kleine Truppen sich unfroh bewegten. Der Wagen hielt vor einem einzeln stehenden mehrstöckigen Miethause, das trotz seiner Neuheit in Fluren und Treppen schon den trüben Duft der Ärmlichkeit angenommen hatte.

Etwas verlegen trat er in die kleine Wohnung im zweiten Stockwerk, dessen Türe ihm eine Küchenmagd, offenbar erstaunt über den eleganten Besuch, geöffnet hatte. Sogleich erkannte er in der einfachen Stube mit neuen billigen Möbeln die Frau Rätin, deren strenge magere Gestalt und ruhig würdiges Gesicht ihm beinahe unverändert und nur um einen Schatten reservierter und kühler geworden schien. Neben ihr aber tauchte die Tochter auf, und nun wußte er genau, daß er diese noch nie gesehen habe, denn sonst hätte er sie gewiß nicht so ganz vergessen können. Sie hatte die Figur der Mutter, ohne ihr im Gesicht ähnlich zu sein, und sah mit dem gesunden Gesicht, in der strammen, elastischen Haltung und einfachen, doch tadellosen Toilette wie eine junge Offiziersfrau oder Sportsdame aus. Dies war der erste Eindruck, und schon der war angenehm genug. Bei längerem Betrachten ergab sich dann, daß in dem frischen, herben Gesicht ruhige dunkelbraune Augen ihre Stätte hatten, und in diesen ruhigen Augen sowohl, wie in manchen weichen Bewegungen der strengen und beherrschten Gestalt schien erst der wahre Charakter des schönen Mädchens zu wohnen, den das übrige Äußere härter und kälter vermuten ließ, als er war.

Reichardt blieb eine halbe Stunde bei den Frauen. Das Fräulein Agnes war, wie er nun erfuhr, während der Zeit seines früheren Verkehrs in ihrem Vaterhause im Auslande gewesen, und er meinte sich nun zu erinnern, daß damals zuweilen von ihr die Rede gewesen sei. Doch vermieden sie es alle, näher an die Vergangenheit zu rühren, und so kam es von selbst, daß vor allem des Besuchers Person und Leben besprochen wurde. Beide Frauen zeigten sich ein wenig verwundert, ihn so zuwartend und unschlüssig an den Toren des Lebens stehen zu sehen, und Agnes meinte geradezu, wenn er einiges Talent zum Baumeister in sich fühle, so sei das ein so herrlicher Beruf, daß sie sein Zaudern nicht begreife. Beim Abschied fragte er, ob sein gelegentliches Wiederkommen die Damen in ihrer stillen Zurückgezogenheit nicht stören würde, und erhielt die Erlaubnis, nach Belieben sich wieder einzufinden.

Von den veränderten Umständen der Familie, von ihrer Vereinsamung und Verarmung hatte zwar die Lage und Bescheidenheit ihrer Wohnung Kunde gegeben, die Frauen selbst aber hatten dessen nicht nur mit keinem Worte gedacht, sondern auch in ihrem ganzen Wesen und Benehmen kein Wissen von Armut oder Bedrücktheit gezeigt, vielmehr den Ton innegehalten, der in ihrer früheren weitläuftigen Lebensführung ihnen geläufig und selbstverständlich gewesen war. Erst als Reichardt sich, die Damen im Zimmer zurücklassend, auf dem engen finstern Flur allein fand und tappend nach dem Türgriff suchen mußte, kam ihm die Lage dieser Frauen wieder in den Sinn. Er nahm eine ihm noch kaum bewußte Teilnahme und Bewunderung für die schöne, tapfere Tochter mit sich in die abendliche Stadt hinein und fühlte sich bis zur Nacht und zum Augenblick des Einschlafens von einer wohlig reizenden Atmosphäre umgeben, wie vom tiefen, warmen Braun ihrer Blicke.

Dieser sanfte Reiz spornte den Doktor auch zu neuen Arbeitsgedanken und Lebensplänen an. Wenige Tage nach seinem Besuche bei den Frauen Weinland hatte er ein langes, ernstes Gespräch mit dem Maler Konegen, das zwar zu keinem Ziel führte, ihm aber den von ihm noch unerkannten Vorteil einer Abkühlung dieser Freundschaft brachte. Hans Konegen hatte auf Reichardts Klagen hin sofort einen breiten, genial konstruierten Arbeitsplan entworfen, er war in dem großen Atelier heftig hin und wieder geschritten, hatte seinen rotbraunen Bart mit nervösen Händen gedreht und sich alsbald, wie es seine unheimliche Gabe war, in ein flimmerndes Gehäuse eingesponnen, das aus lauter Beredtsamkeit bestand und dem Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, unter welchem jener trocken stand, obwohl es aus nichts bestund als dem rasenden Kreisschwung seines Degens.

Er rechtfertigte zuerst die Existenz seines Freundes Reichardt, indem er den Wert und die Bedeutung solcher Intelligenzen ausführte, die als kritische und heimlich mitschöpferische Berater der Kunst helfen und dienen könnten. Ja, es sei das Wesen der Kunst so kompliziert und unseren materiellen Zeitbestrebungen so fremd geworden, daß ein richtiges verstehendes Verhältnis zur wahren Kunst vielleicht überhaupt nur noch den Künstlern selber und etwa noch solchen emsigen und klugen Kunstgelehrten, wie Reichardt, möglich sei. Um so mehr nun sei es also dessen Pflicht, seine Kräfte der Kunst dienstbar zu machen und als unbeirrbarer Kämpfer für das einzutreten, was er als den Sinn und das Ideal der modernen Kunst erkannt habe. Er möge daher trachten, an einer angesehenen Kunstzeitschrift oder noch besser an einer Tageszeitung kritischer Mitarbeiter zu werden und zu Einfluß zu kommen. Dann würde er, Hans Konegen, ihm durch eine Gesamtausstellung seiner Schöpfungen Gelegenheit geben, einer guten Sache zu dienen und der Welt etwas Neues zu zeigen.

Als Berthold ein wenig mißmutig den Freund daran erinnerte, wie verächtlich sich dieser noch kürzlich über alle Zeitungen und Zeitschriften und über das Amt des Kritikers im allgemeinen geäußert habe, bekannte sich der Maler sogleich freudig zu jener Äußerung, die er zu jeder Stunde zu wiederholen und zu beweisen bereit sei, nahm sie dann aber sofort zur Folie für seine heutigen Absichten und legte dar, wie eben bei dem traurig tiefen Stande der Kritik ein wahrhaft edler und freier Geist auf diesem Gebiete zum Reformator werden könne, zum Lessing unserer Zeit. Übrigens stehe, so lenkte er nach einem freundlichen Seitenpfade ein, dem Kunstschriftsteller auch noch ein anderer und schönerer Weg offen, nämlich der des Buches. Er selbst habe schon manchmal daran gedacht, die Herausgabe einer Monographie über ihn, Hans Konegen, zu veranlassen; nun sei in Reichardt endlich der rechte Mann für die nicht leichte Aufgabe gefunden. Berthold solle den Text schreiben, die Illustration des Buches übernehme er selbst, werde auch Handdrucke seiner drei Holzschnitte in Japanabzügen beiheften und schon dadurch jeden echten und reichen Kunstfreund zum Erwerb des Buches geradezu nötigen.

Reichardt hörte die wortreichen Vorschläge mit einer zunehmenden Verstimmung an. Heute, da er das Übel seiner berufslosen Entbehrlichkeit besonders stark empfand und für einen guten Rat oder auch schon für ein wenig Trost empfänglich und dankbar gewesen wäre, tat es ihm weh zu sehen, wie der Maler in diesem Zustande nichts anderes fand als eine Verlockung, ihn seinem persönlichen Ruhm oder Vorteil dienstbar zu machen.

Aber als er ermüdet und betrübt ihm ins Wort fiel und diese Pläne kurz von der Hand wies, war Hans Konegen keineswegs geschlagen.

»Gut, gut,« sagte er wohlwollend, »ich verstehe Sie vollkommen und muß Ihnen eigentlich recht geben. Die Kritik und die verfluchte Federfuchserei überhaupt ist ja im Grunde eine entbehrliche und lächerliche Sache. Sie wollen Werte schaffen helfen, nicht wahr? Tun Sie das! Sie haben Kenntnisse und Geschmack, Sie haben mich und einige Freunde und dadurch eine direkte Verbindung mit dem schaffenden Geist der Zeit. Gründen Sie also ein schönes Unternehmen, mit dem Sie einen unmittelbaren Einfluß auf das Kunstleben ausüben können! Gründen Sie zum Beispiel einen Kunstverlag, eine Stelle für Herstellung und Vertrieb wertvoller Graphik, ich stelle dazu das Verlagsrecht meiner Holzschnitte und zahlreicher Entwürfe zur Verfügung, ich richte Ihre Druckerei und Ihr Privatbureau ein, die Möbel etwa in Ahornholz mit Messingbeschlägen. Oder noch besser, hören Sie! Beginnen wir eine kleine Werkstätte für vornehmes Kunstgewerbe! Nehmen Sie mich als Berater oder Direktor, für gute Hilfskräfte werde ich sorgen, ein Freund von mir modelliert zum Beispiel prachtvoll und versteht sich auch auf Bronzeguß.«

Und so ging es weiter, munter Plan auf Plan, bis Reichardt beinahe wieder lachen konnte. Überall sollte er der Unternehmer sein, das Geld aufbringen und riskieren, Konegen aber war der Direktor, der Beirat, der technische Leiter, kurz die Seele von allem. Zum ersten Male erkannte Berthold deutlich, wie eng und selbstsüchtig alle Kunstgedanken und Zukunftsideale des Malergenies nur um dessen eigene Person und Eitelkeit oder Gewinnsucht kreisten, und er sah nachträglich mit Unbehagen, wie wenig schön die Rolle war, die er in der Vorstellung und den Absichten dieser Leute gespielt hatte.

Doch überschätzte er sie immer noch, indem er nun darauf dachte, sich still von diesem Umgang zurückzuziehen, unter möglichster Delikatesse und Schonung. Denn kaum hatte Herr Konegen nach mehrmals wiederholten Beredungsversuchen eingesehen, daß Reichardt wirklich nicht gesonnen war, diese Unternehmergelüste zu befriedigen, so fiel die ganze Bekanntschaft dahin, als wäre sie nie gewesen. Der Doktor hatte diesen Leuten ihre paar Holzschnitte und Töpfchen längst abgekauft, einigen auch kleine Geldbeträge geliehen; wenn er nun seiner Wege gehen wollte, hielt niemand ihn zurück. Reichardt, mit den Sitten der Boheme noch wenig vertraut, sah sich mit unbehaglichem Erstaunen von seinen Künstlerfreunden vergessen und kaum mehr gegrüßt, während er sich noch damit quälte, eine ebensolche Entfremdung langsam und vorsichtig einzuleiten. Ein junger Zeichner schickte ihm noch den Entwurf zu einem Exlibris zu, das Herr Reichardt einmal mündlich bei ihm bestellt habe. Er kaufte das kleine Blättchen an, obwohl er sich des Auftrages nicht erinnerte, und legte es in dieselbe Mappe, welche auch Konegens Holzschnitte barg.

3

Zuweilen sprach Doktor Reichardt in dem öden Vorstadthause bei der Frau Rat Weinland vor, wo es ihm jedesmal merkwürdig wohl wurde. Der vornehme Ton dort bildete einen angenehmen erzieherischen Gegensatz zu den Reden und Sitten des Zigeunertums, in welchen der junge Mann sich bewegte, ohne sie freilich selbst je ganz anzunehmen, und immer ernsthafter beschäftigte ihn die Tochter, die ihn zweimal allein empfing, und deren strenge Anmut ihn jedesmal entzückte und verwirrte. Denn er fand es unmöglich, mit ihr jemals über Gefühle zu reden oder doch die ihren kennen zu lernen, da sie bei all ihrer damenhaften Schönheit die Verständigkeit selbst zu sein schien. Und zwar besaß sie jene praktische, auf das Notwendige und Nächste gerichtete Klugheit, welche das nur spielerische Sichabgeben mit geistigen Dingen nicht kennt und welche, wie er sich gestand, von den Bohemiens gewiß als philiströs verlacht worden wäre, während sie ihm doch jedesmal Eindruck machte.

Agnes zeigte eine freundliche, sachliche Teilnahme für den Zustand, in dem sie ihn befangen sah, und wurde nicht müde, ihn auszufragen und ihm zuzureden, ja sie machte gar kein Hehl daraus, daß sie es eines Mannes unwürdig finde, sich seinen Beruf so im Weiten zu suchen wie man Abenteuer suche, statt mit Bescheidenheit und festem Willen an einem bestimmten Punkte zu beginnen. Von den Weisheiten des Malers Konegen hielt sie ebenso wenig wie von dessen Holzschnitten, die ihr Reichardt mitgebracht hatte.

»Das sind Spielereien,« sagte sie bestimmt, »und ich hoffe, Ihr Freund treibe dergleichen nur in Mußestunden. Es sind, so viel ich davon verstehe, Nachahmungen japanischer Arbeiten, die vielleicht den Wert von Stilübungen haben können. Mein Gott, was sind denn das für Männer, die in den besten Jugendjahren sich daran verlieren, ein Grün und ein Grau gegeneinander abzustimmen! Jede Frau von einigem Geschmack leistet ja mehr, wenn sie sich ihre Kleiderstoffe aussucht!«

Die wehrhafte Gestalt bot selber in ihrem sehr einfachen, doch sorgfältig und bewußt zusammengestellten Kostüm das Beispiel einer solchen Frau. Recht als wolle es ihn mit der Nase darauf stoßen, hatte sein Glück ihm diese prächtige Figur in seinen Weg gestellt, daß er sich an sie halte und von ihr zum Rechten geleitet werde. Aber der Mensch ist zu nichts schwerer zu bringen als zu seinem Glück, wenn er einmal verrannt und in Abwege und Spekulationen geraten ist.

Nämlich Berthold hatte, nachdem die Sache mit dem Maler Konegen abgetan war, sich im Labyrinthe seiner Unsicherheit ungesäumt einen neuen stattlichen Gang erwählt, der überallhin führen konnte, und den er jetzt mit dem Eifer verfolgte, dessen gute Grübler seiner Art leider meist nur für Undinge fähig sind.

Bei einem öffentlichen Vortrag über das Thema »Kunst und Leben, oder neue Wege zu einer künstlerischen Kultur« hatte er etwas erfahren, das er umso bereitwilliger aufnahm, als es seiner augenblicklichen enttäuschten Gedankenlage entsprach, nämlich daß es nottue, aus allen ästhetischen und intellektualistischen Interessantheiten herauszukommen. Fort mit der formalistischen und negativen Kritik unserer Kultur, fort mit dem kraftlosen Geistreichtun auf Kosten heiliger Güter und Angelegenheiten unserer Zeit! Dies war der Ruf, dem er wie ein Erlöster folgte. Er folgte ihm in einer Art von Bekehrung sofort und unbedingt, einerlei wohin er führe.

Und er führte auf eine Straße, deren Pflaster für Bertholds Steckenpferde wie geschaffen war, nämlich zu einer neuen Ethik. War nicht ringsum alles faul und verdorben, wohin der Blick auch fallen mochte? Unsere Häuser, Möbel und Kleider geschmacklos, auf Schein berechnet und unecht, unsere Geselligkeit hohl und eitel, unsere Wissenschaft verknöchert, unser Adel vertrottelt und unser Bürgertum verfettet? Beruhte nicht unsere Industrie auf einem Raubsystem, und war es nicht eben deshalb, daß sie das häßliche Widerspiel ihres wahren Ideals darstellte? Warf sie etwa, wie sie könnte und sollte, Schönheit und Heiterkeit in die Massen, erleichterte sie das Leben, förderte sie Freude und Edelmut? Nein, ach nein. Überall saß einer und wollte Geld verdienen, von der Politik bis zur bildenden Kunst war jede geistige Tätigkeit von Anfang an ein Kompromiß mit der Unkultur.

Der gelehrige Gelehrte sah sich plötzlich von Falschheit und Schwindel umgeben, er sah die Städte vom Kohlenrauch beschmutzt und vom Geldhunger korrumpiert, das Land entvölkert, das Bauerntum aussterbend; jede echte und heilige Lebensregung an der Wurzel bedroht. Dinge, die er noch vor Tagen mit Gleichmut, ja mit Vergnügen betrachtet hatte, enthüllten ihm nun ihre innere Fäulnis. Berthold fühlte sich für dies alles mit verantwortlich und zur Mitarbeit an der neuen Ethik und Kultur verpflichtet.

Als er dem Fräulein Weinland zum erstenmal davon berichtete, wurde sie aufrichtig betrübt. Sie hatte Berthold gerne und traute es sich zu, ihm zu einem tüchtigen und schönen Leben zu verhelfen, und nun sah sie ihn, der sie doch sichtlich liebte, blind in diese Lehren und Umtriebe stürzen, für die er nicht der Mann war, und bei denen er nur zu verlieren hatte. Sie sagte ihm ihre Meinung recht deutlich und meinte, jeder der auch nur eine Stiefelsohle mache oder einen Knopf annähe, sei der Menschheit und der Kultur gewiß nützlicher und lieber als alle Propheten. Es gebe in jedem kleinen Menschenleben Anlaß genug, edel zu sein und Mut zu zeigen, und nur wenige seien dazu berufen, das Bestehende anzugreifen und Lehrer der Menschheit zu werden.

Er antwortete dagegen mit Feuer, eben diese Gesinnung, die sie äußere, sei die übliche weltkluge Lauheit, mit welcher es zu halten sein Gewissen ihm verbiete. Es war der erste kleine Streit, den die beiden hatten, und Agnes sah mit Betrübnis, wie der liebe Mensch immer weiter von seinem eigenen Leben und Glück abgedrängt und in endlose Wasserwüsten der Theorie und Einbildungen verschlagen wurde. Schon war er im Begriffe, blind und stolz an der hübschen Glücksinsel vorüber zu segeln, wo sie auf ihn wartete.

Die Sache wurde um so übler, als Reichardt jetzt in den Einfluß eines wirklichen Propheten geriet, den er in einem ethischen Verein kennen gelernt hatte. Dieser Mann, welcher Eduard van Vlissen hieß, war erst Theologe, dann Künstler gewesen und hatte überall, wohin er kam, rasch eine große Macht in den Kreisen der Suchenden und Verirrten gewonnen, welche ihm auch zukam, da er nicht nur unerbittlich im Erkennen und Verurteilen sozialer Übelstände, sondern persönlich auch zu jeder Stunde bereit war, für seine Gedanken einzustehen und sich ihnen zu opfern. Als katholischer Theologe hatte er eine Schrift über den heiligen Franz von Assisi veröffentlicht, worin er den Untergang seiner Ideen aus seinem Kompromiß mit dem Papsttum erklärt und den Gegensatz von heiliger Intuition und echter Sittlichkeit gegen Dogma und Kirchenmacht auf das Schroffste ausgemalt hatte. Von der Kanzel deshalb vertrieben, nahm er seinen Austritt aus der Kirche und tauchte bald darauf in belgischen Kunstausstellungen als Urheber seltsamer mystischer Gemälde auf, die viel von sich reden machten. Seit Jahren aber lebte er nun auf Reisen, ohne Erwerb und ohne festen Wohnort, ganz dem Drange seiner Mission hingegeben. Er gab einem Armen achtlos sein letztes kleines Geldstück, um dann selbst zu betteln. In den Häusern der Reichsten verkehrte er unbefangen und freimütig, stets in dasselbe anständige, doch überaus einfache Lodenkleid gehüllt, das er auch auf seinen Fußwanderungen und Reisen trug. Seine Lehre war ohne feste Dogmen, er liebte und empfahl vor allem Bedürfnislosigkeit und Wahrhaftigkeit, so daß er auch die kleinste Höflichkeitslüge verabscheute. Wenn er daher zu jemand, den er kennen lernte, sagte »Es freut mich,« so galt das für eine Auszeichnung, und eben das hatte er zu Reichardt gesagt.

Seit dieser den merkwürdigen und bedeutenden Mann gesehen hatte und seinen Umgang genoß, wurde sein Verhältnis zu Agnes Weinland immer lockerer und unsicherer. Der Prophet, von dem man sagte, er habe nie in seinem Leben mit Frauen zu tun gehabt, war allerdings in Liebessachen kein Kenner. Während jeder kluge Arzt oder Beichtvater einen jungen Menschen, der mit sich unzufrieden ist, vor allem nach einer etwaigen Liebe oder Brautschaft befragen würde, dachte van Vlissen daran nicht. Er sah in Reichardt einen sympathischen und begabten jungen Mann, der im Getriebe der Welt keinen rechten Platz finden konnte, und den er keineswegs zu beruhigen und zu versöhnen dachte, denn er liebte und brauchte solche Unzufriedene, deren Not er teilte und aus deren Bedürfnis und Auflehnung er die Entstehung der besseren Zeiten erwartete. Während dilettantische Weltverbesserer stets an ihren eigenen Unzulänglichkeiten leiden, die sie der Weltordnung zuschreiben, und über die sie niemals hinauskommen, war dieser holländische Prophet gegen sein eigenes Wohl oder Wehe nahezu völlig unempfindlich und richtete alle Kraft seiner Wünsche und seines Kopfes auf jene Übel, die er als prinzipielle Feinde und Zerstörer menschlichen Friedens ansah. Er haßte den Krieg und die Machtpolitik, er haßte das Geld und den Luxus, und er sah seine Mission darin, seinen Haß auszubreiten und aus dem Funken zur großen Flamme zu machen, damit sie einst das Übel vernichte. In der Tat kannte er Hunderte und Tausende von notleidenden und suchenden Seelen in der Welt, und seine Verbindungen mit solchen reichten vom russischen Gutshofe des Grafen Tolstoi bis in die Friedens- und Vegetarierkolonien an der südfranzösischen Küste und auf Madeira.

Berthold verfiel der Anziehungskraft dieses Mannes vollkommen. Van Vlissen hielt sich nur drei Wochen in München auf und wohnte bei einem schwedischen Maler, in dessen Atelier er sich nachts eine Hängematte ausspannte, und dessen mageres Frühstück er teilte, obwohl er genug reiche Freunde hatte, die ihn mit Einladungen bedrängten. Öffentliche Vorträge hielt er nicht, war aber von früh bis spät und selbst bei Gängen auf der Straße umgeben von einem Kreise Gleichgesinnter oder Ratsuchender, mit denen er einzeln oder in Gruppen redete, ohne zu ermüden. Mit einer einfachen, volkstümlichen Dialektik wußte er alle Propheten und Weisen als seine Bundesgenossen darzustellen und ihre Sprüche als Belege für seine Lehre zu zitieren, nicht nur den heiligen Franz, sondern ebenso Jesus selbst, Sokrates, Buddha, Konfuzius. Hätte Berthold seine Reden irgendwo gedruckt gelesen, so hätten sie vielleicht wenig Eindruck auf ihn gemacht, jedenfalls hätte er sofort ihre ebenso schöne wie gefährliche Einseitigkeit erkannt. So aber unterlag er willig dem Einfluß einer so starken und seltsam anziehenden Persönlichkeit.

Wie ihm ging es auch hundert anderen, die sich in van Vlissens Nähe hielten. Aber Reichardt war einer von den ganz Wenigen, die sich nicht mit der Sensation und Stimmung des gegenwärtigen Augenblicks begnügten, sondern eine ernstliche Umkehrung des Willens in sich erlebten, wozu es gewiß keiner überlegenen Urteilskraft, wohl aber eines ungetrübten und zarten sittlichen Empfindens bedarf.

In dieser Zeit besuchte er Agnes Weinland und ihre Mutter nur ein einzigesmal. Die Frauen bemerkten die Veränderung seines Wesens alsbald; seine fast knabenhafte Begeisterung, die doch keinen kleinsten Widerspruch ertragen konnte, und die fanatisierte Gehobenheit seiner Sprache mißfielen ihnen beiden, und indem er ahnungslos in seinem glücklichen Eifer sich immer heißer und immer weiter von Agnes weg redete, sorgte der böse Feind dafür, daß auch noch gerade heute ihn das denkbar unglücklichste Thema beschäftigen mußte.

Dieses war die damals vielbesprochene Reform der Frauenkleidung, welche von vielen Seiten fanatisch gefordert wurde, von Künstlern aus ästhetischen Gründen, von Hygienikern aus hygienischen, von Ethikern aus ethischen. Während eine lärmende Jugend, von manchen ernsthaften Männern und Frauen bedeutsam unterstützt, gegen die bisherigen Frauenkleider auftrat und der Mode ihre Lebensberechtigung absprach, sah man freilich die schönen und eleganten Frauen der berühmten Künstler, Ärzte und so weiter nach wie vor sich mit dem schönen Schein dieser verfolgten Mode schmücken; und mochte es nun tiefer begründet sein oder nur an mangelnder Gewöhnung der Augen liegen, diese eleganten Frauen gefielen sich und der Welt entschieden besser als die Erstlingsopfer der neuen Reform, die mutig in ungewohnten, fast faltenlosen Kostümen einhergingen.

Reichardt nun stand neuerdings unbedingt auf der Seite der Reformer. Die anfangs humoristischen, dann ernster werdenden und schließlich leicht indignierten Einwürfe der beiden Damen beantwortete er nicht gerade heftig oder unhöflich, aber in einem anmaßend überlegenen Tone, wie ein Weiser, der zu Kindern spricht. Die alte Dame versuchte mehrmals das Gespräch in andere Gleise zu lenken, doch vergebens, bis schließlich Agnes mit Entschiedenheit sagte: »Sprechen wir nicht mehr davon! Ich bin darüber erstaunt, Herr Doktor, wie viel Sie von diesem Gebiet verstehen, auf dem ich mich auch ein wenig auszukennen glaubte, denn ich mache alle meine Kleider selber. Da habe ich denn also, ohne es zu ahnen, Ihre Gesinnungen und Ihren Geschmack durch meine Trachten fortwährend beleidigt.«

Erst bei diesen Worten ward Reichardt inne, wie undelikat und anmaßend sein Predigen gewesen sei, und errötend bat er um Entschuldigung. »Meine Überzeugung zwar bleibt völlig bestehen,« sagte er ernsthaft, »aber es ist mir tatsächlich niemals eingefallen, auch nur einen Augenblick dabei an Ihre Person zu denken, die mir für solche Kritik viel zu hoch steht. Auch muß ich gestehen, daß ich selbst wider meine Anschauungen sündige, indem Sie mich in einer Kleidung sehen, deren Prinzip ich verwerfe. Mit anderen Änderungen meiner Lebensweise, die ich schon vorbereite, werde ich auch zu einer anderen Tracht übergehen, mit deren Beschreibung ich Sie jedoch nicht belästigen darf.«

Unwillkürlich musterte bei diesen Worten Agnes seine Gestalt, die in ihrer unauffällig eleganten Besuchskleidung recht hübsch und nobel aussah, und sie rief mit einem Seufzer: »Sie werden doch nicht im Ernst hier in München in einem Prophetenmantel herumlaufen wollen!«

»Nein,« sagte der Doktor, »ich begreife, daß dies lächerlich und unnütz wäre. Aber ich habe eingesehen, daß ich überhaupt nicht in das Stadtleben tauge, und will mich in Bälde auf das Land zurückziehen, um in schlichter Tätigkeit ein einfaches und naturgemäßes Leben zu führen.«

Eine gewisse Befangenheit, der sie alle drei verfielen, lag lähmend über der weiteren Unterhaltung, so daß Reichardt nach wenigen Minuten Abschied nahm. Er reichte der Rätin die Hand, dann der Tochter, die jedoch erklärte, ihn hinausbegleiten zu wollen. Sie ging, was sie noch nie getan hatte, mit ihm in den engen Flur hinaus und wartete, bis er im Überzieher war. Dann öffnete sie die Tür zur Treppe, und als er ihr nun Abschied nehmend die Hand gab, hielt sie diese einen Augenblick fest, sah ihn mit dunklen Augen aus dem erbleichten Gesicht durchdringend an und sagte: »Tun Sie das nicht! Tun Sie nichts von dem, was Ihr Prophet verlangt! Ich meine es gut.«

Unter ihrem halb flehenden, halb befehlenden Blick überlief ihn ein süßer, starker Schauder von Glück, und im Augenblick mußte er es sich wie eine selige Erlösung vorstellen, sein Leben dieser Frau in die Hände zu geben. Er fühlte, wie weit aus ihrer spröden Selbständigkeit sie ihm hatte entgegenkommen müssen, und einige Sekunden lang schwankte, von diesem Wort und Blick erschüttert, das ganze Gebäude seiner Gedankenwelt, als wolle es einstürzen.

Indessen hatte sie seine Hand losgelassen und leise die Türe hinter ihm geschlossen.

4

Am folgenden Tag merkte van Vlissen wohl, daß sein Jünger unsicher geworden und von fremden Einflüssen gestört war. Er sah ihm lächelnd ins Gesicht, mit seinen merkwürdig klaren, doch leidvollen Augen, doch tat er keine Frage und lud statt dessen, als sie einen Augenblick in Reichardts Wohnung allein waren, ihn zu einem Spaziergange ein. Das hatte er noch nie getan, und Berthold ließ alsbald einen Wagen kommen, in dem sie weit vor die Stadt hinaus isaraufwärts fuhren. Im Walde ließ van Vlissen halten und schickte den Wagen zurück. Der Wald stand vorwinterlich verlassen unter dem bleichen grauen Himmel, es war weit und still, nur aus großer Ferne her hörten sie die Axtschläge von Holzhauern durch die graue Kühle klingen.

Auch jetzt begann der Apostel kein Gespräch. Er schritt mit leichtem, wandergewohntem Gange dahin, aufmerksam mit allen Sinnen die Waldstille einatmend und durchdringend. Wie er die Luft eintrank und den Boden trat, wie er einem entfliehenden Eichhorn nachblickte und mit lautloser Gebärde den Begleiter auf einen nahesitzenden Specht aufmerksam machte, da war etwas still Zwingendes in seinem Wesen, eine ungetrübte Wachheit und überall mitlebende Unschuld oder Güte, in welche der mächtige Mann wie in einen Zaubermantel gehüllt ein Reich zu durchwandern schien, dessen heimlicher König er war. Aus dem Walde tretend sahen sie weite Äcker ausgebreitet, ein Bauer fuhr am Horizont langsam mit schweren Gäulen dahin, und langsam begann van Vlissen zu sprechen, von Saat und Ernte, von Erde und Dung und lauter bäuerlichen Dingen und entfaltete in einfachen Worten ein Bild des ländlichen Lebens, das der stumpfe Bauer unbewußt führe, das aber, von bewußten und dankbaren Menschen geführt, voll Heiligung und Frieden und geheimer Kraft sein müsse. Und der Jünger fühlte, wie die Weite und Stille und der ruhige große Atem der ländlichen Natur Sprache gewann und sich seines Herzens bemächtigte. Erst gegen Abend kehrten sie in die Stadt zurück.

Wenige Tage später fuhr van Vlissen zu Freunden nach Tirol, und Reichhardt reiste mit ihm, und in einem schönen südlichen Tal kaufte er einen Obstgarten und ein kleines, etwas verfallenes Weinberghäuschen, in das er ohne Säumen einziehen wollte, um sein neues Leben zu beginnen. Er trug ein einfaches Kleid aus grauem Loden, wie das des Holländers, und fuhr in diesem Kleide auch nach München zurück, wo er sein Zelt abbrechen und Abschied nehmen wollte.

Schon aus seinem langen Wegbleiben hatte Agnes geschlossen, daß ihr Rettungsversuch vergeblich gewesen sei. Das stolze Mädchen war betrübt, den Mann und die an ihn geknüpften Hoffnungen zu verlieren, doch nicht minder in ihrem Selbstgefühl verletzt, sich einer Grille wegen von ihm verschmäht zu sehen, dem sie nicht ohne Selbstüberwindung so weit entgegengekommen war.

Als jetzt Berthold Reichardt gemeldet wurde, hatte sie alle Lust, ihn gar nicht zu empfangen, bezwang jedoch ihre Verstimmung und sah ihm ohne eigentliche Hoffnung, doch mit einer gewissen erregten Neugierde entgegen. Die Mutter lag im rückwärtigen Zimmer mit einer Erkältung zu Bette.

Mit Verwunderung sah Agnes den Mann eintreten, um den sie mit einem Luftgespinste zu kämpfen hatte, und der nun etwas verlegen und wunderlich verändert vor ihr stand. Er trug nämlich die Tracht van Vlissens, Wams und Beinkleider von grobem Filztuch, statt steifgebügelter Wäsche ein Hemd aus naturfarbenem Linnen mit einem ziemlich breiten weichen Halskragen.

Agnes, die ihn nie anders als im schwarzen Besuchsrock oder im modischen Straßenanzug gesehen hatte, betrachtete ihn einen Augenblick mit Enttäuschung und Staunen, dann bot sie ihm einen Stuhl an und sagte mit einem kleinen Anklang von Spott: »Sie haben sich verändert, Herr Doktor.«

Er lächelte befangen und sagte: »Allerdings, und Sie wissen ja auch, was diese Veränderung bedeutet. Ich komme, um Abschied zu nehmen, denn ich übersiedele dieser Tage nach meinem kleinen Gute in Tirol.«

»Sie haben Güter in Tirol? Davon wußten wir ja gar nichts.«

»O, es ist nur ein Garten und Weinberg, und gehört mir erst seit einer Woche. Sie haben die große Güte gehabt, sich um mein Vorhaben und Ergehen zu kümmern, darum glaube ich Ihnen darüber Rechenschaft schuldig zu sein. Oder darf ich nun auf jene liebe Teilnahme nicht mehr rechnen?«

Agnes Weinland zog die Brauen zusammen und sah ihn an.

»Ihr Ergehen,« sagte sie leise und klar, »hat mich interessiert, so lange ich so etwas wie einen tätigen Anteil daran nehmen konnte. Für die Versuche mit Tolstoischer Lebensweise, die Sie vorhaben, kann ich aber leider nur wenig Interesse aufbringen.«

»Seien Sie nicht zu strenge!« sagte er bittend. »Aber wie Sie auch von mir denken mögen, Fräulein Agnes, ich werde Sie nicht vergessen können, und ich hoffe von Herzen, Sie werden mir das, was ich tue, verzeihen, sobald Sie mich hierin ganz verstehen.«

»O, zu verzeihen habe ich Ihnen nichts.«

Berthold beugte sich vor und fragte leise: »Und wenn wir beide guten Willens wären, glauben Sie nicht, daß Sie dann vielleicht diesen Weg mit mir gemeinsam gehen könnten?«

Sie stand auf und sagte ohne Erregung: »Nein, Herr Reichardt, das glaube ich nicht. Ich kann Ihnen alles Glück wünschen. Aber ich bin in all meiner Armut gar nicht so unglücklich, daß ich Lust hätte, einen Weg zu teilen, der aus der Welt hinaus ins Unsichere führt.«

Und plötzlich aufflammend rief sie fast heftig: »Gehen Sie nur Ihren Weg! Gehen Sie ihn!«

Mit einer zornigstolzen, prachtvollen Gebärde lud sie ihn ein sich zu verabschieden, was er betroffen und bekümmert tat, und indessen er draußen die Türe öffnete und schloß und die Treppe hinabstieg, hatte sie, die seine Schritte verklingen hörte, genau dasselbe wunderlich bittere und hoffnungslose Gefühl im Herzen wie der davongehende Mann, als gehe hier einer Torheit wegen eine schöne und köstliche Sache zugrunde; nur daß jedes dabei der Torheit des andern dachte.

5

Es begann jetzt Berthold Reichardts Martyrium. In den ersten Anfängen sah es gar nicht übel aus. Wenn er ziemlich früh am Morgen das Lager verließ, das er sich selber bereitete, schaute durch das kleine Fenster seiner Schlafkammer das stille morgendliche Tal herein, an dessen tiefster Stelle die Sonne hervortrat. Der Tag begann mit angenehmen und kurzweiligen Betätigungen des Einsiedlerlehrlings, mit dem Waschen oder auch Baden im Brunnentrog, je nach der Wärme des Tages, mit dem Feuermachen im Steinherde, dem Herrichten der Kammer, Milchkochen und trinken. Sodann erschien, alle Tage pünktlich zu seiner Stunde, der Knecht und Lehrmeister, Ratgeber und Minister Xaver aus dem Dorfe, der auch das Brot mitbrachte. Mit ihm ging Berthold nun an die Arbeit, bei gutem Wetter im Freien, sonst im Holzschuppen oder in der Stube. Emsig lernte er unter des Knechtes Anleitung die wichtigsten Geräte handhaben, die Gais melken und füttern, den Boden graben, Obstbäume putzen, den Gartenzaun flicken, Scheitholz für den Herd spalten und Reisig für den Ofen bündeln, und war es kalt und wüst, so wurden im Hause Wände und Fenster verstopft, Körbe und Strohseile geflochten, Spatenstiele geschnitzt und ähnliche Dinge betrieben, wobei der Knecht vergnügt seine Holzpfeife rauchte und aus dem dichten Gewölk hervor eine Menge Geschichten erzählte.

Während aber dem Knechte dies Leben als ein leichtes und halbmüßiges wohlgefiel, offenbarte es dem Herrn die kräftige Würze der Arbeit, die ihm nicht minder gefiel und wohltat. Wenn er mit dem von ihm selbst gespaltenen Holze in der urtümlichen Feuerstelle unterm riesigen schwarzen Schlunde des Küchenrauchfanges Feuer anmachte und das Wasser oder die Milch im viel zu großen Hängekessel zu sieden begann, dann konnte er ein robustes Lebensgefühl robinsonschen Behagens in den Gliedern spüren, das er seit fernen Knabenzeiten nicht gekannt hatte, und in dem er schon die ersten Atemzüge der ersehnten inneren Erlösung zu kosten meinte.

In der Tat mag es für den Kulturmenschen und Städter nichts Erfrischenderes geben als eine Weile mit bäuerlicher Arbeit zu spielen, die Gedanken ruhen zu lassen und die Glieder zu ermüden, früh schlafen zu gehen und früh aufzustehen. Es lassen sich jedoch ererbte und erworbene Gewohnheiten und Bedürfnisse nicht wie Hemden wechseln, und wer seit Schülerzeiten gelernt hat, vorwiegend mit dem Gehirn zu arbeiten, der kann kein Kleinbauer mehr werden. Diese Binsenwahrheit mußte auch Reichardt erfahren.

Seine Abende brachte er allein im Häuschen zu, dann ging der Knecht mit seinem guten Tagelohn nach Hause oder ins Wirtshaus, um unter seinesgleichen froh zu sein und von dem Treiben seines wunderlichen Brotgebers zu erzählen; der Herr aber saß bei der Lampe und las in den Büchern, die er mitgebracht hatte, und die vom Garten- und Obstbau handelten. Diese vermochten ihn aber nicht lange zu fesseln. Er las und lernte gläubig, daß das Steinobst die Neigung hat, mit seinen Wurzeln in die Breite zu gehen, das Kernobst aber mehr in die Tiefe, und daß dem Blumenkohl nichts so bekömmlich sei wie eine gleichmäßige feuchte Wärme. Er interessierte sich auch noch dafür, daß die Samen von Lauch und Zwiebeln ihre Keimkraft nach zwei Jahren verlieren, während die Kerne von Gurken und Melonen ihr geheimnisvolles Leben bis ins sechste Jahr behalten. Bald aber ermüdeten und langweilten ihn diese Dinge, die er von Xaver doch besser lernen konnte, und er gab diese Lektüre auf.

Dafür nahm er jetzt einen kleinen Bücherstoß hervor, der sich in der letzten münchener Zeit bei ihm angesammelt, da er dies und jenes Zeitbuch auf dringende Empfehlungen hin gekauft hatte, zum Lesen aber nie gekommen war. Nun schien ihm die Zeit gekommen, diese Kleinode in Stille und Sammlung auf sich wirken zu lassen. Beim Ordnen dieser Bücher und Schriften fielen ihm freilich einige in die Hände, die er als unnütz beiseite tat, denn sie stammten aus den Tagen seines Verkehrs mit Hans Konegen und handelten von »Ornament und Symbol«, vom »Stil der Zukunft« und ähnlichen Materien. Dann folgten zwei Bändchen von Tolstoi, van Vlissens Abhandlung über den Heiligen von Assisi, Schriften wider den Alkohol, wider die Laster der Großstadt, wider den Luxus, den Industrialismus, den Krieg.

Von diesen Büchern fühlte sich der junge Weltflüchtige wieder kräftig und wohltätig in allen seinen Prinzipien bestätigt, er sog sich mit erbittertem Vergnügen voll an der Philosophie der Unzufriedenen, Asketen und Idealisten, aus deren Schriften her ein feiner Heiligenschein über sein eigenes jetziges Leben fiel. Und als nun bald der Frühling begann, erlebte Berthold mit Wonne den Segen natürlicher Arbeit und Lebensweise, er sah unter seinem Rechen hübsche Beete entstehen, tat zum erstenmal in seinem Leben die schöne, vertrauensvolle Arbeit des Säens und hatte seine Lust am Keimen und Gedeihen der Gewächse. Die Arbeit hielt ihn jetzt bis weit in die Abende hinein gefangen, die müßigen Stunden wurden selten, und in den Nächten schlief er tief und rastbedürftig wie ein rechter Bauer. Wenn er jetzt, in einer Ruhepause auf den Spaten gestützt oder am Brunnen das Vollwerden der Gießkanne abwartend, an Agnes Weinland denken mußte, so zog sich wohl sein Herz ein wenig zusammen, aber das Leiden war ohne Verzweiflung, und er dachte es mit der Zeit wohl vollends zu überwinden, denn er meinte, es wäre doch töricht und schade gewesen, hätte er sich von dieser Liebe verführen und in der argen Welt zurückhalten lassen.

Dazu kam, daß von der Zeit des Wonnemonats an sich auch die Einsamkeit mehr und mehr verlor wie ein Winternebel. Von dieser Zeit an erschienen je und je unerwartete, freundlich aufgenommene Gäste verschiedener Art, lauter fremde Menschen, von denen er nie gewußt hatte, und deren eigentümliche Klasse er nun kennen lernte, da sie alle aus unbekannter Quelle seine Adresse wußten und keiner ihres Ordens durch das Tal zog, ohne ihn heimzusuchen. Es waren dies verstreute Angehörige jener großen Schar von Sonderlingsexistenzen, die außerhalb der gewöhnlichen Weltordnung ein kometenhaftes Wanderleben führen, und deren einzelne Typen nun Berthold allmählich unterscheiden lernte. Denn ihrer sind viele, aber sie lassen sich ordnen und einteilen und bilden Klassen und Gruppen wie andere Lebewesen auch.

Der erste, der sich zeigte, war ein ziemlich bürgerlich aussehender Mann oder Herr aus Leipzig, der die Welt mit Vorträgen über die Gefahren des Alkohols bereiste und auf einer Ferientour unterwegs war. Er blieb nur eine Stunde oder zwei, hinterließ aber bei Reichardt ein angenehmes Gefühl, er sei nicht völlig in der Welt vergessen und gehöre einer heimlichen Gemeinschaft edel strebender Menschen an.

Der nächste Besucher sah schon aparter aus, es war ein regsamer, begeisterter Herr in einem weiten altmodischen Gehrocke, zu welchem er keine Weste, dafür aber ein Jägerhemd, gelbe karrierte Beinkleider und auf dem Kopfe einen hellbraunen, malerisch breitrandigen Filzhut trug. Dieser Mann, welcher sich Salomon Adolfus Wolff nannte, benahm sich mit einer so leutseligen Fürstlichkeit und nannte seinen Namen so bescheiden lächelnd und alle zu hohen Ehrbezeugungen im voraus etwas nervös ablehnend, daß Reichardt in eine kleine Verlegenheit geriet, da er ihn nicht kannte und seinen Namen nie gehört hatte.

Der Fremde war, soweit aus seinem eigenen Berichte hervorging, ein hervorragendes Werkzeug Gottes und vollzog wundersame Heilungen, wegen deren er zwar von Ärzten und Gerichten beargwohnt und angefeindet, ja grimmig verfolgt, von der kleinen Schar der Weisen und Gerechten aber desto höher verehrt wurde. Er hatte soeben in Italien einer Gräfin, deren Namen er nicht verraten dürfe, durch bloßes Händeauflegen das schon verloren gegebene Leben wiedergeschenkt. Nun war er, als ein Verächter der modernen Hastigkeit und häßlichen Eile, zu Fuß auf dem Rückwege nach der Heimat, wo ihn zahlreiche Bedürftige sehnlich erwarteten. Leider sehe er sich die Reise durch Geldmangel erschwert, denn es sei ihm unmöglich, für seine Heilungen anderen Entgelt anzunehmen, als die Dankestränen der Genesenen, und er schäme sich daher nicht, seinen Bruder Reichardt, zu welchem Gott ihn gewiesen, um ein kleines Darlehen zu bitten, welches nicht seiner Person – an welcher nichts gelegen sei – sondern eben den auf seine Rückkunft harrenden Bedürftigen zugute kommen sollte.

Das Gegenteil dieses Heilandes stellte ein junger Mann von russischem Aussehen vor, welcher eines Abends vorsprach, und dessen feine Gesichtszüge und Hände in Widerspruch standen mit seiner äußerst dürftigen Arbeiterkleidung und den zerrissenen groben Schuhen. Er sprach nur wenige Worte deutsch, und Reichardt erfuhr nie, ob er einen verfolgten Anarchisten, einen heruntergekommenen Künstler oder einen Heiligen beherbergt habe. Der Fremdling begnügte sich damit, einen glühend forschenden Blick in Reichardts Gesicht zu tun und ihn dann mit einem geheimen Signal der aufgehobenen Hände zu begrüßen. Er ging schweigend durch das ganze Häuschen, von dem verwunderten Wirte gefolgt, zeigte dann auf eine leerstehende Kammer mit einer breiten Wandbank und fragte demütig: »Ich hier kann schlafen?« Reichardt nickte, lud den Mann zur Abendsuppe ein und machte ihm auf jener Bank ein Nachtlager zurecht, ohne daß der Fremde noch ein Wort gesprochen hätte. Am nächsten Morgen nahm er noch eine Tasse Milch an, sagte mit tiefem Gurgelton »Danke« und ging fort.

Bald nach ihm erschien ein halbnackter Vegetarier, der erste einer langen Reihe von Pflanzenessern, in Sandalen und einer Art von baumwollener Hemdhose. Er hatte, wie die meisten Brüder seiner Zunft, außer einiger Arbeitsscheu keine Laster, sondern war ein lieber, kindlicher Mensch von rührender Bedürfnislosigkeit, der in seinem sonderbaren Gespinste von hygienischen und sozialen Erlösungsgedanken ebenso frei und natürlich dahinlebte, wie er äußerlich seine etwas theaterhafte Wüstentracht nicht ohne Würde trug.

Dieser einfache, kindliche Mann machte Eindruck auf Reichardt. Er predigte nicht Haß und Kampf, sondern war in stolzer Demut überzeugt, daß auf dem Grunde seiner Lehre ganz von selbst ein neues paradiesisches Menschendasein erblühen werde, dessen er selbst sich schon teilhaftig fühlte. Sein oberstes Gebot war: »Du sollst nicht töten!«, was er nicht nur auf Mitmenschen und Tiere bezog, sondern als eine grenzenlose Verehrung alles Lebendigen auffaßte. Ein Tier zu töten, schien ihm scheußlich, und er glaubte fest daran, daß nach Ablauf der jetzigen Periode von Entartung und Blindheit die Menschheit von diesem Verbrechen wieder völlig ablassen werde. Er fand es aber auch mörderisch, Blumen abzureißen und Bäume zu fällen; von allen Gaben der Natur schienen ihm nur die Früchte dem Menschen bestimmt und erlaubt zu sein, welche man auch essen könne, ohne den Gewächsen zu schaden. Reichardt wandte ein, daß wir, ohne Bäume zu fällen, ja keine Häuser bauen könnten, worauf der Frugivore eifrig nickte: »Ganz recht! Wir sollen ja auch keine Häuser haben, so wenig wie Kleider, das alles trennt uns von der Natur und führt uns weiter zu allen den Bedürfnissen, um deren willen Mord und Krieg und alle Laster entstanden sind.« Und als Reichardt wieder einwarf, es möchte sich kaum irgendein Mensch finden, der in unserem Klima ohne Haus und ohne Kleider einen Winter überleben könnte, da lächelte sein Gast abermals freudig und sagte: »Gut so, gut so! Sie verstehen mich ausgezeichnet. Eben das ist ja die Hauptquelle alles Elends in der Welt, daß der Mensch seine Wiege und natürliche Heimat im Schoß Asiens verlassen hat. Dahin wird der Weg der Menschheit zurückführen, und dann werden wir alle wieder im Garten Eden sein.«

Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine gewisse Freude an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, die er noch von manchen anderen Verkündern in anderen Tönungen zu hören bekam, und er hätte ein Riese sein müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser Bekenntnisse ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke gemacht und sein eigenes Denken gefärbt hätte. Die Welt, wie er sie jetzt sah und nicht anders sehen konnte, bestand aus dem kleinen Kreise primitiver Tätigkeiten, denen er oblag, darüber hinaus war nichts vorhanden als auf der einen Seite eine verderbte, verfaulende und daher von ihm verlassene Kultur, auf der anderen eine über die Welt verteilte kleine Gemeinde von Zukünftigen, welcher er sich zurechnen mußte, und zu der auch alle die Gäste zählten, deren manche tagelang bei ihm blieben und gegen deren drollige Außenseite er bald abgestumpft war, während ihr Glauben und Hoffen, ihr Aberglaube und Fanatismus die Luft war, in der sein Geist atmete.

Nun begriff er auch wohl den sonderbar religiös-schwärmerischen Anhauch, den alle diese seine Gäste und Brüder hatten. Askese und Mönchtum, Sektenwesen und Ekstase waren nicht Erscheinungen gewisser Zeiten und Religionen, sondern immer und überall in tausend Formen unter den Menschen vorhanden gewesen und heute noch da, und alle diese Wanderer, Prediger, Asketen und Phantasten gehörten in diesen Kreis. Sie waren das Salz der Erde, die Umschaffenden und Zukunftbringenden, geheime geistige Kräfte hatten sich mit ihnen verbündet, von den Fasten und Mysterien der Ägypter und Inder bis zu den Phantasien der langhaarigen Obstesser und den Heilungswundern der Magnetiseure oder Gesundbeter.

Daß aus diesen Erlebnissen und Beobachtungen alsbald wieder eine systematische Theorie oder Weltanschauung werde, dafür sorgte nicht nur des Doktors eigenes Geistesbedürfnis, sondern auch eine ganze Literatur von Schriften, die ihm von diesen Gästen teils mitgebracht, teils zugesandt, teils als notwendig empfohlen wurden. Eine seltsame Bibliothek entstand in dem kleinen Häuschen, beginnend mit vegetarischen Kochbüchern und endend mit den tollsten mystischen Systemen, über Christentum, Platonismus, Gnostizismus, Spiritismus und Theosophie hinweg alle Gebiete geistigen Lebens in einer allen diesen Autoren gemeinsamen Neigung zu okkultistischer Wichtigtuerei umfassend. Der eine Autor wußte die Identität der pythagoreischen Lehre mit dem Spiritismus darzutun, der andere Jesus als Verkündiger des Vegetarismus zu deuten, der dritte das lästige Liebesbedürfnis als eine Übergangsstufe der Natur zu erweisen, welche sich der Fortpflanzung nur vorläufig bediene, in ihren Endabsichten aber die wandellose leibliche Unsterblichkeit der Individuen anstrebe.

Mit den vielen Bekanntschaften dieses Sommers und Herbstes und mit dieser Büchersammlung fand sich Berthold schließlich bei rasch abnehmenden Tagen seinem zweiten tiroler Winter gegenübergestellt. Mit dem Eintritt der kühlen Zeit und der Herbständerung der Fahrpläne hörte nämlich der Gästeverkehr, an den er sich gewöhnt hatte, urplötzlich auf wie mit der Schere abgeschnitten. Die Apostel und Brüder saßen jetzt entweder still im eigenen Winternest oder hielten sich, soweit sie heimatlos von Wanderung und Bettel lebten, an andere Gegenden und an die Adressen städtischer Gesinnungsgenossen.

Um diese Zeit las Reichardt in der einzigen Zeitung, die er bezog, die Nachricht von dem Tode des Eduard van Vlissen. Der hatte in einem Dorf an der russischen Grenze, wo er der Cholera wegen in Quarantäne gehalten, aber kaum bewacht wurde, in der Bauernschenke gegen den Schnaps gepredigt und war im ausbrechenden Tumult erschlagen worden.

6

Vereinsamt sah Berthold dem Einwintern in seinem Tale zu. Seit einem Jahre hatte er sein Stücklein Boden nimmer verlassen und sich zugeschworen, auch ferner dem Leben der Welt den Rücken zu kehren. Die Genügsamkeit und erste Kinderfreude am Neuen war aber nicht mehr in seinem Herzen, er trieb sich viel auf mühsamen Spaziergängen im Schnee herum, denn der Winter war viel härter als der vorjährige, und überließ die häusliche Handarbeit immer häufiger dem Xaver, der sich längst in dem kleinen Haushalt unentbehrlich wußte und das Gehorchen so ziemlich verlernt hatte.

Mochte sich aber Reichardt noch so viel draußen herumtreiben, so mußte er doch alle die unendlich langen, stillen, toten Abende allein in der Hütte sitzen, und ihm gegenüber mit furchtbaren großen Augen saß die Einsamkeit wie ein Wolf, den er nicht anders zu bannen wußte als durch ein stetes waches Starren in seine leeren Augen, und der ihn doch von hinten überfiel, so oft er den Blick abwandte. Die Einsamkeit saß nachts auf seinem Bett, wenn er durch leibliche Ermüdung den Schlaf gefunden hatte, und vergiftete ihm Schlaf und Träume. Und wenn am Abend der Knecht das Haus verließ und mit wohligen Schritten pfeifend durch den Obstgarten hinab gegen das Dorf verschwand, sah ihm sein Herr nicht selten mit nacktem Neide nach. Für unbefestigte Menschen ist nichts gefährlicher und seelenmordender als die beständige Beschäftigung mit dem eigenen Wesen und Ergehen, dem eigenen Leben, der eigenen einsamen Unzufriedenheit und Schwäche. Die ganze Krankheit dieses Zustandes mußte nun der gute Eremit an sich erleben, und durch die Lektüre so manches mystischen Buches geschult konnte er nun an sich selbst beobachten, wie unheimlich wahr alle die vielen Legenden von den Nöten und Versuchungen der frommen Einsiedler in der Wüste Thebais waren. Von den Entrückungen und dem Einswerden mit dem Herzschlag der Natur, welche jene Heiligen ihrer Askese verdankten, wurde ihm nichts zuteil, es sei denn der bitter traurige Einsamkeitsstolz des freiwillig Ausgeschlossenen, der allein ihn aufrecht hielt.

So brachte er trostlose Monate hin, dem Leben entfremdet und an der Wurzel der Seele krank. Er sah übel aus, und seine früheren Freunde hätten ihn nicht mehr erkannt; denn über dem wetterfarbenen, aber eingesunkenen Gesichte war Bart und Haar lang gewachsen, und aus dem hohlen Gesicht brannten hungrig und durch die Einsamkeit scheu geworden die Augen, als hätten sie niemals gelacht und niemals sich unschuldig an der Buntheit der Welt gefreut.

Ein einziges Mal suchte er, als ihm das Alleinsein in einer schlimmen Stunde unerträglich wurde, das Dorfwirtshaus auf. Sauber gebürstet und gekämmt, doch fremd und wunderlich trat er in die Stube, setzte sich an einen Tisch und ließ sich Wein bringen, von dem er nur wenige Tropfen in ein Glas Wasser goß; und die Stille bei seinem Eintritt, das einsilbige Grüßen und nachherige Wegrücken der Tischnachbarn, das verhaltene Lachen am Nebentische machten ihn sofort verzagt und ließen ihn bereuen, daß er gekommen war. Ach nein, er war kein Prophet wie van Vlissen, der unter Menschen jeder Art seine Überlegenheit bewahrt hatte! Bedrückt und beinahe weinend vor Enttäuschung und Schwächegefühl ging er bald wieder davon.

Es blies schon der erste Föhnwind, da brachte eines Tages der Knecht mit der Zeitung auch einen kleinen Brief herauf, die gedruckte Einladung zu einer Versammlung aller derer, die mit Wort oder Tat sich um eine Reform des Lebens und der Menschheit mühten. Die Versammlung, zu deren Einberufung theosophische, vegetarische und andere Gesellschaften sich vereinigt hatten, sollte zu Ende des Februar in München abgehalten werden. Wohlfeile Wohnungen und fleischfreie Kosttische zu vermitteln erbot sich ein dortiger Verein.

Mehrere Tage schwankte Reichardt ungewiß, ob ihm diese Einladung eine Erlösung oder Versuchung bedeute, dann aber faßte er seinen Entschluß und meldete sich in München an. Und nun dachte er drei Wochen lang an nichts anderes als an dieses Unternehmen. Schon die Reise, so einfach sie war, machte ihm, der länger als ein Jahr eingesponnen hier gehaust hatte, Gedanken und Sorgen; er ließ sich ein Kursbuch kommen und las nachdenklich die Namen der Haltestellen und Umsteigestationen, die er von mancher sorglosen Reise der früheren Zeiten her kannte. Gern hätte er auch zum Bader geschickt und sich Bart und Haar zuschneiden lassen, doch scheute er davor zurück, da es ihm als eine feige Konzession an die Weltsitten erschien, und da er wußte, daß manche der ihm befreundeten Sektierer auf nichts einen so hohen Wert legten wie auf die religiös eingehaltene Unbeschnittenheit des Haarwuchses. Dafür ließ er sich im Dorfe einen neuen Anzug machen, gleich in Art und Schnitt wie sein van Vlissensches Büßerkleid, aber von gutem Tuche, und einen langen, landesüblichen Lodenkragen als Mantel.

Am vorbestimmten Tage verließ er früh am kalten Morgen sein Häuschen, dessen Schlüssel er im Dorf bei Xaver abgab, und wanderte in der Dämmerung das stille Tal hinab bis zum nächsten Bahnhof. Da saß er nun im Wartesaal, von Marktfrauen und Bauernburschen neugierig beobachtet, und aß sein mitgebrachtes Frühstück. Gar gerne wäre er in der zweiten oder ersten Klasse gefahren, nicht so sehr aus alter Gewohnheit als um weniger beobachtet unter diskreten Mitreisenden zu sitzen; aber die Schändlichkeit eines solchen Rückfalles in Luxus und Weltrücksicht war einleuchtend, und er ließ davon ab. Mit Hilfe zweier schöner Äpfel, die von seinem Imbiß übrig waren, machte er sich die Kinder einer Bauernfrau zu Freunden und kam mit den Leuten in ein leidliches Gespräch, das ihm wohltat und Mut machte. Er stieg mit in ihren Wagen und nahm beim Anschluß an die Hauptbahnlinie in Freundschaft Abschied. Nun saß er geborgen und mit einer lang nicht mehr gekosteten frohen Reiseunruhe im Münchener Zug und fuhr aufmerksam durch das schöne Land, unendlich froh, dem unerträglichen heimischen Zustand für ungewisse Tage entronnen zu sein. Von Kufstein an wuchs seine Erregung. Wie war das wunderlich, daß Kufstein und Rosenheim und München und die ganze alte Welt noch unverändert und gleichmütig dastand, und daß alles das, was er sich aus dem Herzen gerissen und in höheren Erkenntnissen ertränkt hatte, doch eben noch da war und lebte!

Es war der Tag vor dem Beginn der Versammlung, und es begrüßten den Ankommenden gleich am Bahnhof die ersten Zeichen derselben. Aus einem Zug, der mit dem seinen zugleich ankam, stieg eine ganze Gesellschaft von Naturverehrern in malerisch exotischen Kostümen und auf Sandalen, mit Christusköpfen und Apostelköpfen, und mehrere Entgegenkömmlinge gleicher Art aus der Stadt begrüßten die Brüder, bis alle sich in einer ansehnlichen Prozession in Bewegung setzten. Reichardt, den ein ebenfalls heute zugereister Buddhist, einer seiner Sommerbesuche, erkannt hatte, mußte sich anschließen, und so hielt er seinen Wiedereinzug in München in einem Aufzug von Erscheinungen, deren Absonderlichkeit ihm hier im Straßenbilde augenblicklich peinlich störend auffiel. Unter dem lauten Vergnügen einer nachfolgenden Knabenhorde und den belustigten Blicken aller Vorübergehenden wallte die seltsame Schar stadteinwärts zur Begrüßung im Empfangssaale.

Reichardt erfragte so bald als möglich die ihm zugewiesene Wohnung und bekam einen Zettel mit der Adresse in die Hand gedrückt. Er verabschiedete sich, nahm an der nächsten Straßenecke einen Wagen und fuhr, ermüdet und verwirrt, nach der ihm unbekannten Straße. Da rauschte um ihn her das Leben der wohlbekannten Stadt, die ihn nichts mehr angehen sollte, da standen die Ausstellungsgebäude, in denen er einst mit dem Maler Konegen Kunstkritik getrieben hatte, dort lag seine ehemalige Wohnung, mit erleuchteten Fenstern, da drüben hatte früher der Justizrat Weinland gewohnt. Er aber war vereinsamt und beziehungslos geworden und hatte nichts mehr mit alledem zu tun, und doch bereitete jede von den wieder erweckten Erinnerungen ihm einen leisen süßen Schmerz. Und in den Straßen lief und fuhr das Volk wie ehemals und immer, als sei nichts Arges dabei und sei keine Sorge noch Gefahr in der Welt, elegante Wagen fuhren auf lautlosen Rädern zu den Theatern, und Soldaten hatten ihre Mädel am Arm.

Das alles erregte den Einsamen, das wogende rötliche Licht, das im feuchten Pflaster sich mit froher Eitelkeit abspiegelte, und das Gesumme der Wagen und Schritte, das ganze wie selbstverständlich spielende Getriebe. Da war Laster und Not, Luxus und Selbstsucht, aber da war auch Freude und Glanz, Geselligkeit und Liebe, und vor allem war da die naive Rechenschaftslosigkeit und gleichmütige Lebenslust einer Welt, deren mahnendes Gewissen er hatte sein wollen, und die ihn einfach beiseite getan hatte, ohne einen Verlust zu fühlen, während sein bißchen Glück darüber in Scherben gegangen war. Und dies alles sprach zu ihm, zog mit ungelösten Fäden an seinen Gefühlen und machte ihn traurig.

Sein Wagen hielt vor einem großen Mietshause, seinem Zettel folgend stieg er zwei Treppen hinan und wurde von einer kleinen roten Frau, die ihn fast mißtrauisch musterte, in ein überaus kahles Zimmerchen geführt, das ihn kalt und ungastlich empfing.

»Für wieviel Tage ist es?« fragte die Vermieterin kühl und bedeutete ihm ohne Zartheit, daß das Mietgeld im Voraus zu erlegen sei.

Unwillig zog er die Geldtasche und fragte, während sie auf die Zahlung lauerte, nach einem besseren Zimmer.

»Für anderthalb Mark im Tag gibt es keine besseren Zimmer, in ganz München nicht,« sagte die Frau kurz und sachlich. Nun mußte er lächeln.

»Es scheint hier ein Mißverständnis zu walten,« sagte er rasch. »Ich suche ein schönes, großes, bequemes Zimmer, nicht eine Schlafstelle. Die Herren, die hier für mich bestellt haben, waren so freundlich, meine Börse möglichst schonen zu wollen. Mir liegt aber nichts am Preise, wenn Sie ein schöneres Zimmer haben.«

Die Vermieterin ging wortlos durch den Korridor voran, öffnete ein anderes Zimmer, drehte das elektrische Licht an und sagte: »Das hier wäre noch frei, das kostet aber dreieinhalb.«

Zufrieden sah der Gast sich in dem weit größeren und wohnlich, fast behaglich eingerichteten Zimmer um, legte den Mantel ab, gab der Frau ihr Geld für einige Tage voraus und sah erst nachträglich, als er in dem fremden Raume umherging und sich auszukleiden begann, daß er allerdings als ein Fremder in höchst uneleganter Kleidung ohne anderes Gepäck als den Rucksack kaum Ansprüche auf einen besseren Empfang machen durfte.

7

Erst am Morgen, da er in dem ungewohnt weichen fremden Bett erwachte und sich auf den vorigen Abend besann, ward ihm bewußt, daß seine Unzufriedenheit mit der einfachen Schlafstelle und sein herrenmäßiges Verlangen nach größerer Bequemlichkeit eigentlich wider sein Gewissen sei. Allein er nahm es sich nicht zu Herzen, stieg vielmehr munter aus dem Bette und sah dem Tag mit Spannung entgegen. Früh ging er aus, und beim nüchternen Gehen durch die noch ruhigen Straßen erkannte er auf Schritt und Tritt bekannte Bilder wieder, mit einer gewissen frohen Dankbarkeit, die ihn selbst überraschte. Es war herrlich, hier umherzugehen und als kleiner Mitbewohner dem großen Mechanismus einer schönen Stadt anzugehören, statt im verzauberten Ring der Einsamkeit zu lechzen und immer nur vom eigenen Gehirn zu zehren. Sogar die weither ertönenden Morgenpfeifen der Fabriken klangen ihm nicht häßlich und erinnerten ihn nicht an Not und Industriesünden, sondern erzählten nur, daß jetzt überall Menschen an ihre Arbeit gingen.

Die großen Kaffeehäuser und Läden waren noch geschlossen, er suchte daher eine volkstümliche Frühstückshalle, um eine Schale Milch zu genießen.

»Kaffee gefällig?« fragte der Kellner und begann schon einzugießen. Lächelnd ließ Reichardt ihn gewähren und roch mit heimlichem Vergnügen den Duft des Trankes, den er ein Jahr lang entbehrt hatte. Doch ließ er es bei diesem kleinen Genusse bewenden, aß nur ein Stück Brot dazu und nahm eine Zeitung zur Hand.

Da fand er bald einen kurzen Artikel, in dem die heutige Versammlung angekündigt und begrüßt wurde. Man sei gespannt, hieß es, auf diesen Kongreß von Menschen, die ein redliches Bemühen um wichtige Lebensfragen vereine, und man hoffe, es werde aus dem Vielerlei widerstreitender Bekenntnisse sich ein brauchbarer Niederschlag gemeinsamer Grundgedanken ergeben. Mit leisem Spott wurde einiger Extravaganzen und Drolligkeiten gedacht und mit Aufrichtigkeit bedauert, daß die Mehrzahl dieser Weltverbesserer allzufern vom Tagesleben sich in Spekulationen verliere, statt tätig da und dort mitzuwirken und sich an praktischen Bewegungen und Unternehmungen der Zeit zu beteiligen.

Das alles war freundlich und hübsch gesagt, und es fiel dem stillen Leser auf, wie sehr diese Urbanität sich von der gehässigen Unzulänglichkeit unterscheide, mit welcher die meisten Schriften der neuen Propheten die Welt beurteilten. Nachdenklich ging er weg und suchte den Versammlungssaal auf, den er mit Palmen und Lorbeer geschmückt und schon von vielen Gästen belebt fand. Die Naturburschen waren sehr in der Minderzahl, und die alttestamentlichen oder tropischen Kostüme fielen auch hier als Seltsamkeiten auf, dafür sah man manchen feinen Gelehrtenkopf und viel Künstlerjugend. Die gestrige Gruppe von langhaarigen Barfüßern stand fremd als wunderliche Insel im Gewoge.

Ein eleganter Wiener trat als erster Redner auf und sprach den Wunsch aus, die Angehörigen der vielen Einzelgruppen möchten sich hier nicht noch weiter auseinanderreden, sondern das Gemeinsame suchen und Freunde werden. Dann sprach er parteilos über die religiösen Neubildungen der Zeit und ihr Verhältnis zur Frage des Weltfriedens. Ihm folgte ein greiser Theosoph aus England, der seinen Glauben als universale Vereinigung der einzelnen Lichtpunkte aller Weltreligionen empfahl. Ihn löste ein Rassentheoretiker ab, der mit scharfer Höflichkeit für die Belehrung dankte, jedoch den Gedanken einer internationalen Weltreligion als eine gefährliche Utopie brandmarkte, da jede Nation oder doch jede Rasse das Bedürfnis und Recht auf einen eigenen, nach seiner Sonderart geformten und gefärbten Glauben habe.

Während dieser Rede wurde eine neben Reichardt sitzende Frau unwohl, und er begleitete sie hilfreich durch den Saal bis zum nächsten Ausgang. Um nicht weiter zu stören, blieb er alsdann hier stehen und suchte den Faden des Vortrages wieder zu erhaschen, während sein Blick über die benachbarten Stuhlreihen wanderte.

Da sah er gar nicht weit entfernt in aufmerksamer Haltung eine schöne Frauenfigur sitzen, die seinen Blick gefangen hielt, und während sein Herz unruhig wurde und jeder Gedanke an die Worte des Redners ihn jäh verließ, erkannte er Agnes Weinland. Heftig zitternd lehnte er sich an den Türbalken und hatte keine andere Empfindung als die eines Verirrten, dem in Qual und Verzweiflung unerwartet über fremde Höhen hinweg die Türme der Heimat winken. Denn kaum hatte er die freie, stolze Haltung ihres Kopfes erkannt und von hinten den verlorenen Umriß ihrer Wange erfühlt, so sank ihm Religion und Rasse, Menschenmenge und Ort wie Nebel dahin, und er wußte nichts auf der Welt als sich und sie, und wußte, der Schritt zu ihr und der Blick ihrer braunen Augen und der Kuß ihres Mundes sei das Einzige, was seinem Leben fehle und ohne welches keine Weisheit und kein Trost ihm helfen könne. Und dies alles schien ihm möglich und in Treue aufbewahrt; denn er meinte mit liebender Ahnung zu fühlen, daß sie, die sonst für dergleichen Dinge wenig Teilnahme hatte, nur seinetwegen oder doch im Gedanken an ihn diese Versammlung aufgesucht habe.

Als der Redner zu Ende war, meldeten sich viele zur Erwiderung, und es machte sich bereits die erste Woge der Rechthaberei und Unduldsamkeit bemerklich, welche fast allen diesen ehrlichen Köpfen die Weite, Freiheit und Liebe nahm, und woran auch dieser ganze Kongreß, statt der Welterlösung zu dienen, kläglich scheitern sollte.

Berthold Reichardt jedoch hatte für diese Vorboten naher Stürme kein Ohr. Er starrte auf die Gestalt seiner Geliebten, als sei sein ganzes Wesen sich bewußt, daß es einzig von ihr gerettet und zu Leben und Glück zurückgeleitet werden könne. Mit dem Schluß jener Rede erhob sich das Fräulein, schritt schlank und geschmeidig dem Ausgang zu und zeigte ein ernstkühles Gesicht, in welchem sichtlich ein Widerwille gegen diese ganzen Verhandlungen unterdrückt wurde. Sie ging ganz nahe an Berthold vorbei, ohne ihn doch zu beachten, und er konnte deutlich sehen, wie ihr beherrschtes kühles Gesicht noch immer in frischer Farbe blühte, doch um einen feinen lieben Schatten älter und stiller geworden war. Zugleich bemerkte er mit wunderlich frohem Stolz, wie die Vorüberschreitende überall von bewundernden und achtungsvollen Blicken begleitet wurde.

Sie trat ins Freie und ging die Straße hinab, wie sonst in tadelloser Kleidung und mit ihrem sportmäßigen, kräftig gleichmäßigen Schritt, nicht eben fröhlich, aber aufrecht und elastisch wie in einem guten Lebensglauben. Ohne Eile ging sie dahin, von Straße zu Straße, nur vor einem prächtig prangenden Blumenladen eine Weile sich vergnügend, ohne zu ahnen, daß ihr Berthold immerzu folgte und in ihrer Nähe war. Und er blieb hinter ihr bis zur Ecke der fernen Vorstadtstraße, wo er sie im Tor ihrer alten Wohnung verschwinden sah.

Dann kehrte er um, und im langsamen Gehen blickte er an sich nieder. Er war froh, daß sie ihn nicht gesehen hatte, und die ganze ungepflegte Dürftigkeit seiner Erscheinung, die ihn schon seit gestern bedrückt hatte, schien ihm jetzt unerträglich. Sein erster Gang war zu einem Barbier, der ihm das Haar scheren und den Bart abnehmen mußte, und als er in den Spiegel sah und dann wieder auf die Gasse trat und die duftige Frische der rasierten Wangen im leisen Winde spürte, fiel alle Befangenheit und einsiedlerische Scheu vollends ganz von ihm ab. Eilig fuhr er nach einem großen Kleidergeschäft, kaufte einen modischen Anzug und ließ ihn so sorgfältig wie möglich seiner Figur anpassen, kaufte nebenan weiße Wäsche, Halsbinde, Hut und amerikanische Stiefel, sah sein Geld zu Ende gehen und fuhr zur Bank um neues, fügte dem Anzug einen Mantel und den Stiefeln Gummischuhe hinzu und fand am Abend, als er in angenehmer Ermüdung heimkehrte, alles schon in Schachteln und Paketen daliegen und auf ihn warten.

Nun konnte er nicht widerstehen, sofort eine Probe zu machen, und zog sich alsbald vom Kopfe zu Füßen mit den neuen Sachen an, lächelte sich etwas verlegen im Spiegel zu und konnte sich nicht erinnern, je in seinem Leben eine so knabenhafte Freude über neue Kleider gehabt zu haben. Daneben hing, unsorglich über seinen Stuhl geworfen, sein asketisches Lodenzeug grau und entbehrlich geworden wie die brüchige Puppenhülle eines jungen Schmetterlings.

Während er so vor dem Spiegel stand, unschlüssig, ob er noch einmal ausgehen sollte, wurde an seine Tür geklopft, und er hatte kaum Antwort gegeben, so trat geräuschvoll ein stattlicher Mann herein, in welchem er sofort den Herrn Salomon Adolfus Wolff erkannte, jenen reisenden Wundertäter, der ihn vor Monaten in der tiroler Einsiedelei besucht hatte.

Wolff begrüßte den »Freund« mit heftigem Händeschütteln und nahm mit Verwunderung dessen frische Eleganz wahr. Er selbst trug den braunen Hut und alten Gehrock von damals, jedoch diesmal auch eine schwarze Weste dazu und neue hellgraue Beinkleider, die jedoch für längere Beine als die seinen gearbeitet schienen, da sie oberhalb der Stiefel eine harmonikaähnliche Anordnung von kleinen widerwilligen Querfalten aufwiesen. Er beglückwünschte den Doktor zu seinem guten Aussehen und hatte nichts dagegen, als dieser ihn zum Abendessen einlud.

Schon unterwegs auf der Straße begann Salomon Adolfus mit Leidenschaft von den heutigen Reden und Verhandlungen zu sprechen und konnte es kaum glauben, daß Reichardt ihnen nicht beigewohnt habe. Am Nachmittag hatte ein schöner langlockiger Russe über Pflanzenkost und soziales Elend gesprochen und dadurch Skandal erregt, daß er beständig den nichtvegetarianischen Teil der Menschheit als Leichenfresser bezeichnet hatte. Darüber waren die Leidenschaften der Parteien erwacht, mitten im Gezänke hatte sich ein Anarchist des Wortes bemächtigt und mußte durch Polizeigewalt von der Tribüne entfernt werden. Die Buddhisten hatten stumm in geschlossenem Zuge den Saal verlassen, die Theosophen vergebens zum Frieden gemahnt. Ein Redner habe das von ihm selbst verfaßte »Bundeslied der Zukunft« vorgetragen, mit dem Refrain:

»Ich laß der Welt ihr Teil,

Im All allein ist Heil!«

und das Publikum sei schließlich unter Lachen und Schimpfen auseinandergegangen.

Erst beim Essen beruhigte sich der erregte Mann und wurde dann gelassen und heiter, indem er ankündigte, er werde morgen selbst im Saale sprechen. Es sei ja traurig, all diesen Streit um nichts mit anzusehen, wenn man selbst im Besitz der so einfachen Wahrheit sei. Und er entwickelte seine Lehre, die vom »Geheimnis des Lebens« handelte und in der Weckung der in jedem Menschen vorhandenen magischen Seelenkräfte das Heilmittel für die Übel der Welt erblickte.

»Sie werden doch dabei sein, Bruder Reichardt?« sagte er einladend.

»Leider nicht, Bruder Wolff,« meinte dieser lächelnd. »Ich kenne ja Ihre Lehre schon, der ich guten Erfolg wünsche. Ich selber bin in Familiensachen hier in München und morgen leider nicht frei. Aber wenn ich Ihnen sonst irgendeinen Dienst erweisen kann, tue ich es sehr gerne.«

Wolff sah ihn mißtrauisch an, konnte aber in Reichardts Mienen nur Freundliches entdecken.

»Nun denn,« sagte er rasch. »Sie haben mir diesen Sommer mit einem Darlehen von zehn Kronen geholfen, die nicht vergessen sind, wenn ich auch bis jetzt nicht in der Lage war, sie zurückzugeben. Wenn Sie mir nun nochmals mit einer Kleinigkeit aushelfen wollten – mein Aufenthalt hier im Dienst unserer Sache ist mit Kosten verbunden, die niemand mir ersetzt.«

Berthold gab ihm ein Goldstück und wünschte nochmals Glück für morgen, dann nahm er Abschied und ging nach Hause, um zu schlafen.

Kaum lag er jedoch im Bette und hatte das Licht gelöscht, da war Müdigkeit und Schlaf plötzlich dahin, und er lag die ganze Nacht brennend in Gedanken an Agnes und in tausend bitteren Zweifeln, denen doch das Herz in stiller Ahnung tapfer widersprach.

Früh am Morgen verließ er das Haus, unruhig und von der schlaflosen Nacht erschöpft. Er brachte die frühen Stunden auf einem Spaziergange und im Schwimmbad zu, saß dann noch eine ungeduldige halbe Stunde vor einer Tasse Tee und fuhr, sobald ein Besuch möglich schien, in einem hübschen Wagen an der Weinlandschen Wohnung vor.

Nachdem er die Glocke gezogen, mußte er eine Weile warten, dann fragte ihn ein kleines neues Mädchen, keine richtige Magd, erstaunt und unbeholfen nach seinem Begehren. Er fragte nach den Damen und die Kleine lief, die Tür offen lassend, nach der Küche davon. Dort wurde nun ein Gespräch hörbar und zur Hälfte verständlich.

»Es geht nicht,« sagte Agnesens Stimme, »du mußt sagen, daß die gnädige Frau krank ist. – Wie sieht er denn aus?«

Schließlich aber kam Agnes selbst heraus, in einem blauen leinenen Küchenkleide, sah ihn fragend an und sprach kein Wort, da sie ihn unverweilt erkannte.

Er streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich hereinkommen?« fragte er, und ehe weiteres gesagt wurde, traten sie in das bekannte Wohnzimmer, wo die Frau Rat in einen Wollenschal gehüllt im Lehnstuhl saß, sich bei seinem Anblick aber alsbald steif und tadellos aufrichtete.

»Der Herr Doktor Reichardt ist gekommen,« sagte Agnes zur Mutter, die dem Besuch die Hand gab.

Sie selbst aber sah nun im Morgenlicht der hellen Stube den Mann an, las die Not eines verfehlten und schweren Jahres in seinem mageren Gesicht und die Sicherheit und den Willen einer geklärten Liebe in seinen Augen.

Sie ließ seinen Blick nicht mehr los, und eines vom andern wortlos angezogen gaben sie einander nochmals die Hand.

»Kind, aber Kind!« rief die Rätin erschrocken, als unversehens ihre Tochter große Tränen in den Augen hatte und ihr erbleichtes Gesicht neben dem der Mutter im Lehnstuhl verbarg.

Das Mädchen richtete sich aber mit neu erglühten Wangen sogleich wieder auf und lächelte noch mit Tränen in den Augen.

»Es ist schön, daß Sie wieder gekommen sind,« begann nun die alte Dame. Da stand das hübsche Paar schon Hand in Hand bei ihr und sah dabei so gut und lachend aus, als habe es schon seit langem zusammengehört.

Emil Kolb

Die geborenen Dilettanten, aus welchen ein so großer Teil der Menschheit zu bestehen scheint, könnte man als Karikaturen der Willensfreiheit bezeichnen. Indem sie nämlich, unendlich weit von der Natur abgeirrt und von der Erkenntnis des Notwendigen entfernt, die ursprüngliche Fähigkeit jedes originellen Menschen entbehren, den Ruf der Natur im eigenen Innern zu vernehmen, treiben sie leichtsinnig und unentschlossen in einem wertlosen Leben scheinbarer Willkür dahin. Da sie Eigenes nicht in sich haben, finden sie sich auf das Nachahmen verwiesen und betreiben nun das, was sie andere aus innerer Anlage und Notwendigkeit tun sehen, spielerisch und willkürlich als Affen der Natur.

Zu diesen Vielen gehörte auch der Knabe Emil Kolb in Gerbersau, und der Zufall (da man bei solchen Menschen doch wohl nicht von Schicksal reden darf) brachte es dahin, daß er mit seinem Dilettantentum nicht gleich vielen anderen zu Ehren und Wohlstande, sondern zu Unehre und Elend kam, obwohl er um nichts schlimmer war als tausend seiner Art.

Emil Kolbs Vater war ein sehr bescheidener Flickschuster, und nur seine Verwandtschaft mit den hochgeschätzten Bürgerfamilien der Dierlamm und der Giebenrath hielt ihn im städtischen Leben etwas oberhalb des Grades von Mißachtung, dessen Leute ohne Geld und ohne Glück sonst unter ihren Mitbürgern genießen.

Diesen großen Verwandten gegenüber machte Herr Kolb vorsichtigerweise von seinem Vetternrecht nahezu gar keinen Gebrauch. Es fiel ihm nicht ein, etwa bei einer Leichenfeier oder in einem Festzuge neben einem Giebenrath schreiten zu wollen oder zu erwarten, daß ihn ein Dierlamm zu seiner Hochzeit oder Taufe einlade. Desto häufiger und stolzer erinnerte er in seinem Hause und unter seinesgleichen an die ehrenvolle Verwandtschaft, die ihm immerhin von Nutzen war. Es war diesem Manne die Gabe versagt, im Walten der Natur und in der Entfaltung menschlicher Schicksale das unabänderlich Notwendige zu erkennen und anzuerkennen; deshalb hielt er denn auch, was seinem Tun und Leben versagt war, wenigstens seinen Wünschen und müßigen Träumen für erlaubt und schwelgte gerne in Vorstellungen eines anderen reicheren, schöneren Lebens, soweit seine auf das Materielle gerichtete Phantasie dessen fähig war.

Kaum hatte diesem Flickschuster sein Weib einen leidlich rüstigen Knaben geboren, so übertrug er seine Schwärmereien auf dessen Zukunft, und damit rückte dies alles, was bisher nur Gedankensünde und Fabelvergnügen gewesen war, in ein bestimmtes Licht des Möglichen, das bald zum Wahrscheinlichen und endlich zum Gewissen wurde. Denn der junge Emil Kolb spürte diese väterlichen Wünsche und Träume schon frühe als eine warme und treibende Luft um sich und gedieh darin wie der Kürbis im Dünger, er nahm sich gleich in den ersten Schuljahren vor, der Messias seiner armen Familie zu werden und später einmal unerbittlich alles zu ernten, was nach seiner seltsamen Religion das Glück ihm nach so langen Entbehrungen der Eltern und Vorfahren schuldete. Emil Kolb fühlte den Mut in sich, einmal das Schicksal eines Gewaltigen auf sich zu nehmen, eines Bürgermeisters oder Millionärs, und wäre heute schon eine goldene Kutsche mit vier Schimmeln bei seines Vaters Hause vorgefahren, so hätte keinerlei Schüchternheit ihn abgehalten, sich hineinzusetzen und mit ruhigem Lächeln die ehrerbietigen Grüße der Mitbürger einzustreichen.

Mag das Träumen und Ersehnen goldener Zukunftsfrüchte das beste Recht aller Jugend sein und manchem tüchtigen Manne die Jahre schwerer Erwartung tragen helfen – jene Tüchtigen meinen es eben doch etwas anders, als Emil es meinte, welchem nicht Verdienst und Können, Macht des Wissens oder Macht der Kunst vorschwebte, sondern lediglich gut Essen und Wohnen, schöne Kleider und feistes Wohlergehen. Schon früh erschienen ihm die wenigen originellen Menschen, die er kennen lernte, lächerlich und geradezu närrisch, daß sie es vorzogen, heimlichen Idealen zu opfern und einen nutzlosen Ehrgeiz zu pflegen, statt ihre guten Gaben einem glatten baren Lohne dienstbar zu machen. So zeigte er auch für alle jene Fächer der Schulwissenschaft reichlichen Eifer, die von den Dingen dieser Erde handeln, wogegen ihm die Beschäftigung mit Geschichten und Sagen der Vorzeit, mit Gesang, Turnen und anderen ähnlichen Dingen als ein reiner Zeitverderb erschien.

Eine besondere Hochachtung jedoch hatte der junge Streber vor der Kunst der Sprache, worunter er aber nicht die Torheiten der Dichter verstand, sondern die Pflege des Ausdruckes zugunsten realer geschäftlicher Handlungen und Vorteile. Er las alle Dokumente geschäftlicher oder rechtlicher Natur, von der einfachen Rechnung oder Quittung bis zum öffentlichen Anschlag oder Zeitungsaufruf, mit tiefem Verständnis und reiner Bewunderung. Denn er sah gar wohl, daß die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, von der gemeinen Sprache der Gasse ebenso weit entfernt wie nur irgendeine tolle Dichtung, geeignet sei, Eindruck zu machen, Macht zu üben und über Unverständige Vorteile zu erlangen. In seinen Schulaufsätzen strebte er diesen Vorbildern beharrlich nach und brachte manche Blüte hervor, die einer kleineren Kanzlei kaum unwürdig gewesen wäre. Und einen in seiner Sammlung solcher Dokumente befindlichen Steckbrief, den er aus der Zeitung des Vaters ausgeschnitten hatte, versah er in einer guten Stunde sogar mit einer kleinen Korrektur, die ihm ein inniges Vergnügen bereitete. Es hieß nämlich dort, nach der Beschreibung des Vermißten: »Wer etwas über den Gesuchten weiß, möge sich beim unterzeichneten Notariatsamt melden«. Dafür setzte Emil Kolb die Worte ein: »Personen, welche in der Lage sein sollten, Auskünfte über den Gesuchten beizubringen – –«.

Eben diese Vorliebe für den feinen Kanzleistil gab den Anlaß und Ankergrund für Emil Kolbs einzige Freundschaft. Der Lehrer hatte seine Klasse einst einen Aufsatz über den Frühling verfassen und mehrere dieser Arbeiten von ihren Urhebern vorlesen lassen. Da tat mancher zwölfjährige Schüler seine ersten scheuen Flüge in das Land der schaffenden Phantasie, und frühe Bücherleser schmückten ihre Aufsätze mit begeisterten Nachbildungen der Frühlingsschilderungen gangbarer Dichter. Es war vom Amselruf und von Maifesten die Rede, und ein besonders Belesener hatte sogar das Wort Philomele gebraucht. Alle diese Schönheiten aber hatten den zuhörenden Emil nicht zu rühren vermocht, er fand das alles blöd und töricht. Da kam, vom Lehrer aufgerufen, der Sohn des Kannenwirts, Franz Remppis, an die Reihe, seinen Aufsatz vorzulesen. Und gleich bei den ersten Worten »Es ist nicht zu bestreiten, daß der Frühling immerhin eine sehr angenehme Jahreszeit genannt zu werden verdient« – gleich bei diesen Worten merkte Kolb mit entzücktem Ohre den Klang einer ihm verwandten Seele, lauschte scharf und beifällig und ließ sich kein Wort entgehen. Dies war der Stil, in welchem das Wochenblatt seine Berichte aus Stadt und Land abzufassen pflegte und den Emil selbst schon mit einiger Sicherheit anzuwenden wußte.

Nach dem Schluß der Schule sprach Kolb dem Mitschüler seine Anerkennung aus, und von der Stunde ab hatten die beiden Knaben das Gefühl, einander zu verstehen und zu einander zu gehören. Da keiner von ihnen je bereit gewesen wäre, ein Opfer zu bringen, verlangte es auch keiner vom andern, vielmehr spürten sie, daß es gut sei, einander gelten und bestehen zu lassen, um einmal einer am andern etwas zu haben und etwa später größere Dinge gemeinsam unternehmen zu können.

Emil begann damit, daß er die Gründung einer gemeinschaftlichen Sparkasse vorschlug. Er wußte die Vorteile des Zusammenlegens und der gegenseitigen Ermunterung zur Sparsamkeit so beredt darzulegen, daß Franz Remppis darauf einging und sich bereit erklärte, sein Erspartes dieser Kasse anzuvertrauen. Doch war er klug genug, darauf zu bestehen, daß das Geld solange in seinen Händen bleibe, bis auch der Freund eine bare Einlage gemacht habe, und da es hierzu niemals kommen wollte, versank der gute Plan, ohne daß Emil an ihn erinnert oder Franz ihm den Versuch einer Überlistung übelgenommen hätte. Ohnehin fand Kolb sehr bald einen Weg, seine kümmerlichen Umstände vorteilhaft mit den weit bessern des Wirtssohnes zu verknüpfen, indem er seinem Kameraden gegen kleine Geschenke und eßbare Gaben in manchen Schulfächern mit seinen Fähigkeiten aushalf. Das dauerte bis zum Ende der Schulzeit, und gegen das Versprechen eines Honorars von fünfzig Pfennigen lieferte Emil Kolb dem Franz die mathematische Arbeit im Abgangsexamen, welches sie auf diese Weise beide wohl bestanden. Emil hatte sogar so gute Zeugnisse eingeheimst, daß sein Vater darauf schwor, an dem prächtigen Jungen sei ein Gelehrter verloren gegangen. Allein an fernere Studien war nicht zu denken. Doch gab sich der Vater Kolb jede Mühe und tat manchen sauren Bittgang zu den wohlhabenden Verwandten, um seinem Sohne einen besonderen Platz im Leben zu verschaffen und seine Hoffnungen auf eine glänzende Zukunft nach Kräften zu fördern. Durch die Befürwortung der Familie Dierlamm gelang es ihm, seinen Knaben als Lehrling im Bankgeschäft der Brüder Dreiß unterzubringen. Damit schien ihm ein bedeutender Schritt nach oben hin getan und eine Gewähr für die Erfüllung weit kühnerer Träume gegeben.

Für junge Gerbersauer, die sich dem Kaufmannsberufe widmen wollten, gab es keine rühmlichere und hoffnungsreichere Eröffnung dieser Laufbahn als die Lehrlingschaft bei den Brüdern Dreiß. Deren Bank und Warengeschäft war alt und hochangesehen, und die Herren hatten jedes Jahr die Wahl unter den besten Schülern der obersten Klassen, deren sie jährlich einen oder zwei als Lehrlinge in ihr Geschäft aufnahmen. So hatten sie stets, da die Lehrzeit dreijährig war, zwischen vier und sechs junger Leute in Lehre und Kost, welche zwar vom zweiten Lehrjahr an die Kost, sonst aber für ihre Arbeit keine Entschädigung erhielten. Dafür konnten sie dann den Lehrbrief des alten ehrwürdigen Hauses als eine überall im Lande gültige Empfehlung ins Leben mitnehmen.

Dieses Jahr war Emil Kolb der einzige neu eintretende Lehrling und wurde darum von manchem beneidet, der sich selbst auf diesen Ehrenplatz gewünscht hatte. Er selbst fand hingegen die Ehre gering und recht teuer bezahlt; denn als jüngster Lehrbub war er derjenige, an welchem alle älteren, auch schon die vom vorigen Jahr, die Stiefel glaubten abreiben zu müssen. Wo etwas im Hause zu tun war, das zu tun sich jeder scheute und zu gut hielt, da rief man nach Emil, dessen Name immerzu gleich einer Dienstbotenglocke durchs Haus erschallte, so daß der junge Mensch nur selten Zeit fand, in einer Kellerecke hinter den Erdölfässern oder auf dem Dachboden bei den leeren Kisten eine kurze Weile seinen Träumen vom Glanz der Zukunft nachzuhängen. Es entschädigte ihn für dies rauhe Leben nur die sichere Rechnung auf den Glanz späterer Tage und die gute reichliche Kost des Hauses. Die Brüder Dreiß, die mit ihrem Lehrlingswesen gute Geschäfte machten und sich außerdem noch einen gut zahlenden Volontär hielten, pflegten an allem zu sparen, nur am Essen für ihre Leute nicht. So konnte der junge Kolb sich jeden Tag dreimal vollständig satt essen, was er mit Eifer tat, und wenn er trotzdem in Bälde lernte, über die miserable Verpflegung zu schimpfen, so war das nur eine zum Brauch der Lehrlinge gehörende Übung, welcher er mit derselben Treue oblag, wie dem Stiefelwichsen am Morgen und dem Rauchen gestohlener Zigaretten am Abend.

Ein Kummer war es ihm gewesen, daß er beim Eintritt in diese Vorhölle seines Berufes sich von dem Freund hatte trennen müssen. Franz Remppis wurde von seinem Vater in eine auswärtige Lehrstelle verdingt und erschien eines Tages, um von Emil Abschied zu nehmen und ihm seinen rotbraunen neuen Leinwandkoffer zu zeigen, auf dessen Ecken aus Weißblech sein Name graviert war. Franzens Trost, daß sie beide einander fleißig schreiben wollten, leuchtete dem armen Emil wenig ein; denn er wußte nicht, woher er das Geld für die Briefmarken hätte nehmen sollen.

Wirklich kam schon bald ein Brief aus Lächstetten, worin Remppis von seinem Einstand am neuen Orte berichtete. Dieses Schreiben, das mit großem Fleiß und Vergnügen aus vielen vortrefflichen Phrasen und kaufmännischen Ausdrücken zusammengestellt war, regte Emil zu einer langen, sorgfältigen Antwort an, mit deren Abfassung er mehrere Abende hinbrachte, deren Absendung ihm jedoch fürs Erste nicht möglich war. Endlich gelang es ihm doch, und er sah es vor sich selbst als eine Entschuldigung und halbe Rechtfertigung an, daß sein erster Fehltritt dem edlen Gefühle der Freundschaft entsprang. Er mußte nämlich einige Briefe zur Post tragen und da es eben eilte, gab der Oberlehrling ihm die Briefmarken dazu in die Hand, die er unterwegs aufkleben solle. Diese Gelegenheit nahm Emil wahr. Er beklebte den Brief an Franz, den er in der Brusttasche bei sich trug, mit einer der hübschen neuen Briefmarken und steckte dafür einen von den Geschäftsbriefen ohne Marke in den Postkasten.

Mit dieser Tat begab sich der junge Mensch unbewußt über eine Grenze, die für ihn besonders gefährlich und lockend war. Wohl hatte er auch zuvor schon je und je, gleich den anderen Lehrbuben, Kleinigkeiten zu sich gesteckt, die seinen Herren angehörten, etwa ein paar gedörrte Zwetschgen oder eine Zigarre. Allein diese Näschereien verübte ein jeder mit ganz heilem Gewissen – sie stellten eine flotte und herrische Gebärde dar, womit der Täter vor sich selber prahlte und seine Zugehörigkeit zum Hause und dessen Vorräten dartat. Hingegen war mit dem Diebstahl der Briefmarke etwas anderes geschehen, etwas weit Schwereres, ein heimlicher Raub an Geldeswert, den keine Gewohnheit und kein Beispiel entschuldigen konnte. Es schlug denn auch dem jungen Missetäter das Herz in geziemender Angst, und einige Tage lang war er zu jeder Stunde darauf gefaßt, daß sein Vergehen entdeckt und er zur Rechenschaft gezogen werde. Es ist selbst für leichtsinnige Menschen und auch für solche, die schon im Vaterhaus genascht und gediebelt haben, dennoch der erste richtige Diebstahl ein unheimliches Erlebnis, und mancher trägt schwerer daran als an weit größeren Sünden. Wenigstens zeigt die Erfahrung, daß häufig junge Gelegenheitsdiebe ihre erste Untat nicht zu tragen vermögen und ohne äußere Nötigung sich durch ein Geständnis erleichtern und für immer reinigen.

Dieses nun tat Emil Kolb nicht. Er litt einige Angst vor der möglichen Entdeckung, und vermutlich brannte auch sein wenig feines Gewissen ein wenig, aber als die Tage gingen und die Sonne weiter schien und die Geschäfte ihren Gang dahinliefen, als wäre nichts geschehen und als habe er nichts zu verantworten, da erschien ihm diese Möglichkeit, in allem Frieden aus fremder Tasche Nutzen zu ziehen, als ein Ausweg aus hundert Nöten, ja vielleicht als der ihm bestimmte Weg zum Glücke. Denn da ihn die Arbeit und Geschäfte nur als ein mühsamer Umweg zum Erwerb und Vergnügen zu freuen vermochten, da er stets wie alle Toren nur das Ziel und nie den Weg bedachte, mußte die Erfahrung, daß man unter Umständen sich ungestraft allerlei Vorteil erstehlen könne, ihn gewaltig in Versuchung führen.

Und dieser Versuchung widerstand er nicht. Es gibt für ein Männlein seines Alters hundert kleine schwer entbehrte Dinge, die vor seinen Träumen wie begehrenswerte Früchte des Paradieses hängen und welchen das Kind armer Eltern stets einen doppelten Wert beimißt. Sobald Emil Kolb begonnen hatte, mit der Vorstellung weiteren unredlichen Erwerbs zu spielen, sobald der Besitz eines Nickelstücks, ja einer Silbermünze ihm keine Unmöglichkeit mehr, sondern jederzeit erreichbar schien, richtete sich sein Verlangen lüstern auf viele kleine Sachen, an die er zuvor kaum gedacht hatte. Da besaß sein Mitlehrling Färber ein Taschenmesser mit einer Säge und einem Stahlrädchen zum Glasschneiden daran, und obwohl das Sägen und Glasschneiden ihm durchaus kein Bedürfnis war, wollte ihm doch der Besitz eines solchen Prachtstückes von Messer überaus wünschenswert vorkommen. Und nicht übel wäre es auch, am Sonntag eine solche blau und braun gefärbte Krawatte zu tragen, wie sie jetzt bei den feineren Lehrjungen die Mode waren. Sodann war es ärgerlich genug zu sehen, wie die vierzehnjährigen Fabriklehrbuben am Feierabend schon zum Bier gingen, während ein Kaufmannslehrling, schon um ein Jahr älter und an Stande so viel höher als jene, jahraus, jahrein kein Wirtshaus von innen zu sehen bekam. Und war es nicht ebenso mit den Mädchen? Sah man nicht manchen halbwüchsigen Stricker oder Weber aus den Fabriken schon am Sonntag freimütig mit den Kolleginnen verkehren oder gar Arm in Arm gehen? Und ein junger Kaufmann sollte seine ganze drei- oder vierjährige Lehrzeit erst abwarten müssen, ehe er imstande wäre, einem hübschen Mädel das Karussellfahren zu bezahlen und eine Bretzel anzubieten?

Diesen Übelständen beschloß der junge Kolb ein Ende zu machen. Es war weder sein Gaumen für die herbe Würze des Bieres noch sein Herz und Auge für die Reize der Mädchen reif, aber er strebte selbst im Vergnügen fremden Zielen nach und wünschte nichts, als so zu sein und zu leben wie die angesehenen und flotten unter seinen Kollegen.

Bei aller Torheit war Emil aber gar nicht dumm. Er bedachte seine Diebeslaufbahn nicht minder sorgfältig, als er zuvor seine erste Berufswahl bedacht hatte, und es blieb seinem Nachdenken nicht verborgen, daß auch dem besten Dieb stets ein Feind am Wege lauere. Es durfte durchaus nicht geschehen, daß er je erwischt wurde, darum wollte er lieber einige Mühe daran wenden und die Sache weitläufig vorbereiten, als einem verfrühten Genusse zulieb den Hals wagen. So überlegte und untersuchte er alle Wege zum verbotenen Gelde, die ihm etwa offen standen, und fand am Ende, daß er sich bis zum nächsten Jahre gedulden müsse. Er wußte nämlich, wenn er sein erstes Lehrjahr tadelfrei abdiene, so würden die Herren ihm die sogenannte Portokasse übertragen, welche stets der zweitjüngste Lehrling zu führen hatte. Um also seine Herren im kommenden Jahre bequemer bestehlen zu können, diente ihnen der Jüngling nun mit der größten Aufmerksamkeit. Er wäre darüber beinahe seinem Entschlusse untreu und wieder ehrlich geworden; denn der ältere von seinen Prinzipalen, der seinen beflissenen Eifer bemerkte und mit dem armen Schustersöhnlein Mitleid hatte, gab ihm gelegentlich einen Zehner oder wandte ihm solche Besorgungen zu, welche ein Trinkgeld abzuwerfen versprachen. So war er häufig im Besitz kleinen Geldes und brachte es dazu, noch mit ehrlich verdientem Gelde sich eine von den braun und blau gescheckten Krawatten zu kaufen, womit die Feinen unter seinen Kollegen sich am Sonntag schmückten.

Mit dieser Halsbinde angetan tat der junge Herr seinen ersten Schritt in die Welt der Erwachsenen und feierte sein erstes Fest. Bisher hatte er sich wohl des Sonntags manchmal den Kameraden angeschlossen, wenn sie langsam und unentschlossen durch die sonnigen Gassen bummelten, vorübergehenden Kollegen ein Witzwort nachriefen und recht heimatlos und verstoßen sich umhertrieben, aus der farbigen Kinderwelt ohne Gnade entlassen und in die würdige Welt der Männer noch nicht aufgenommen. Da hatte Emil sehr wohl gefühlt, daß sie alle noch weit bis zu Glück und Ehre hätten, und hatte nicht ohne bitteren Neid den jungen Fabriklern nachgeschaut, die mit langen Zigarren im Munde und Mädchen am Arm der Musik einer Ziehharmonika folgten.

Nun aber sollte auch er zum erstenmal seit der Schulzeit einen festlichen Sonntag mitfeiern. Sein Freund Remppis hatte in Lächstetten, wie es schien, mehr Glück gehabt als Emil daheim. Und neulich hatte er einen Brief geschrieben, der den Freund Kolb zum Kauf der feinen Halsbinde veranlaßt hatte.

Lieber, sehr geehrter Freund!

Im Besitz Deines Werten vom 12. hujus bin in der angenehmen Lage, Dich für kommenden Sonntag, 23. hj., zu kleiner Fidelität einzuladen. Unser Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes macht am Sonntag seinen Jahresausflug und möchte nicht verfehlen, Dich dazu herzlich einzuladen. Erwarte Dich bald nach Mittag, da erst noch bei meinem Chef essen muß. Werde Sorge tragen, daß alles Deine Anerkennung findet, und bitte, Dich sodann ganz als meinen Gast betrachten zu dürfen. Selbstverständlich sind auch Damen eingeladen! Zusagendenfalls erbitte Antwort wie sonst poste restante Merkur 01137. Deinem Werten mit Vergnügen entgegensehend empfiehlt sich mit Gruß Dein

Franz Remppis, Mitglied des V. j. A. d. H.

Sofort hatte Emil Kolb geantwortet:

Lieber, sehr geehrter Freund!

In umgehender Beantwortung Deines Geschätzten von gestern sage für Deine gütige Einladung besten Dank und wird es mir ein Vergnügen sein, derselben Folge zu leisten. Die Aussicht auf die Bekanntschaft mit den werten Herren und Damen eures löblichen Vereins ist mir so wertvoll wie schmeichelhaft und kann ich nicht umhin, Dich zu dem regen gesellschaftlichen Leben von Lächstetten zu beglückwünschen. Alles Weitere auf unser demnächstiges mündliches Zusammentreffen verschiebend, verbleibe mit besten Grüßen Dein ergebener Freund

Emil Kolb.

P. S. In Eile erlaube mir noch speziellen Dank für die geschäftliche Seite Deiner Einladung, von welcher dankbar Gebrauch machen werde, da zurzeit leider meine Kasse größeren Ansprüchen nicht gewachsen sein dürfte.

Dein treuer Obiger.

Nun war dieser Sonntag gekommen. Es war gegen Ende Juni und da seit wenigen Tagen nach langem Regen heißes Sommerwetter eingetreten war, sah man überall die Heuernte in vollem Gange. Emil hatte für den ganzen Tag ohne Schwierigkeit Urlaub, jedoch kein Geld für die kleine Eisenbahnfahrt nach Lächstetten erhalten. Darum machte er sich zeitig am Vormittag auf den Weg und war bis zur verabredeten Stunde lange genug unterwegs, um sich die bevorstehenden Freuden und Ehren in reichlicher Fülle und Schönheit ausdenken zu können. Daneben tat er an günstigen Orten auch den eben reifenden Kirschen Ehre an und kam bequemlich zur rechten Zeit in Lächstetten an, das er noch nie gesehen hatte. Nach den Schilderungen seines Freundes Remppis hatte er sich diese Stadt in vollem Gegensatze zu dem schlechten, spießigen Gerbersau als einen glänzenden, reichen Ort herrlichster Lebenslust vorgestellt und war nun etwas enttäuscht, die Gassen, Plätze, Häuser und Brunnen eher geringer und schmuckloser zu finden als in der Vaterstadt. Auch das Geschäftshaus Johann Löhle, in welchem sein Freund die Geheimnisse des Handels erlernen sollte, konnte sich mit dem stattlichen Hause der Brüder Dreiß in Gerbersau nicht messen. Dies alles stimmte Emils Erwartungen und Freudebereitschaft einigermaßen herab, doch stärkten diese kritischen Wahrnehmungen seinen Mut und seine Hoffnung, er würde neben der weltgewandteren und lebensfroheren Jugend dieser Stadt bestehen können.

Eine Weile umstrich der Ankömmling das Handelshaus, ohne daß er den Mut gefunden hätte, einzutreten und nach seinem Landsmann zu fragen. Er ging hin und wieder, atmete den Duft der Fremde und Wanderschaft und wagte nur hie und da schüchtern einen Liedanfang zu pfeifen, der in früheren Zeiten als Signal zwischen Franz Remppis und ihm gegolten hatte. Nach einiger Zeit erschien der Gesuchte denn auch in einem hohen Mansardenfensterchen, winkte hinab und wies den Freund durch Zeichen an, ihn nicht vor dem Hause, sondern unten am Marktplatz zu erwarten. Leicht enttäuscht begab sich Emil hinweg und brachte seine Wartezeit vor dem Schaufenster eines Eisenhändlers zu, wo er von neuem feststellte, daß es hier am Orte weniger fein und modern aussehe und zugehe als daheim in Gerbersau.

Nun aber kam Franz daher, und sogleich sank Emils Kritiklust zusammen, da er den Schulfreund in einem ganz neuen Anzug mit einem steifen, unmäßig hohen Hemdkragen und sogar mit Manschetten geschmückt sah.

»Servus!« rief der junge Remppis fröhlich. »Jetzt kann es also losgehen. Hast du Zigarren?«

Und da Emil keine hatte, schob er ihm eine kleine Handvoll in die Brusttasche.

»Schon recht, du bist ja mein Gast. Ums Haar hätte ich heut nicht frei gekriegt, der Alte war verflucht scharf. Aber jetzt wollen wir marschieren.«

So sehr das flotte Wesen Emil gefiel, so konnte er eine Enttäuschung doch nicht verbergen. Er war zu einem Vereinsausfluge eingeladen, er hatte Fahnen und vielleicht sogar Musik erwartet.

»Ja, wo ist denn euer Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes?« fragte er mißtrauisch.

»Der wird schon kommen. Wir können doch nicht unter den Fenstern der Prinzipale ausrücken! Die gönnen einem so wie so kein Vergnügen. Nein, wir treffen uns vor der Stadt beim alten Galgen.«

»So so. Beim Galgen?«

»Ja, so heißt es dort. Es ist ein Wirtshaus. Da sind wir ganz sicher, daß keiner von den Alten hinkommt.«

Bald hatten sie den alten Galgen erreicht, ein kleines Gehölz und ein altes schäbiges Wirtshäuschen, wo sie rasch eintraten, nachdem Franz sich scharf umgesehen hatte, ob niemand ihn beobachte. Drinnen wurden sie von sechs oder sieben anderen Lehrlingen empfangen, die alle vor hohen Biergläsern saßen und Zigarren rauchten. Remppis stellte seinen Landsmann den Kameraden vor, und Emil ward feierlich willkommen geheißen.

»Sie gehören wohl alle zum Verein?« fragte er.

»Gewiß,« wurde ihm geantwortet. »Wir haben diesen Verein ins Leben gerufen, um die Interessen unseres Standes zu fördern, vor allem aber um unter uns die Geselligkeit zu pflegen. Wenn Sie einverstanden sind, Herr Kolb, so wollen wir jetzt aufbrechen.«

Schüchtern fragte Emil seinen Freund nach den Damen, die doch eingeladen seien, und erfuhr, daß man diese später im Walde zu treffen hoffe.

Munter wanderten die jungen Leute in den glänzenden Sommertag hinein. Es fiel Emil auf, mit welchem Eifer Franz sich seiner Vaterstadt rühmte, die er in seinen Briefen beinahe verleugnet hatte.

»Ja, unser Gerbersau!« pries der Freund. »Nicht wahr, Emil, da geht es anders zu als hierzuland! Und was es dort für schöne Mädchen gibt!«

Emil stimmte etwas befangen zu, wurde dann gesprächig und erzählte freimütig, wie wenig groß und schön er Lächstetten im Vergleich mit Gerbersau finde. Einige von den jungen Leuten, die schon in Gerbersau gewesen waren, gaben ihm recht. Bald sprach ein jeder darauf los, rühmte ein jeder seine Stadt und Herkunft, wie es da ein anderes und flotteres Leben sei als in diesem verdammten Nest, und die paar geborenen Lächstettener, die dabei waren, gaben ihnen recht und schimpften auf die eigene Heimat. Sie alle waren voll unerlöster Kindlichkeit und zielloser Freiheitsliebe, sie rauchten ihre Zigarren und rückten an ihren hohen Stehkragen und taten so männlich und wild, als sie konnten. Emil Kolb fand sich rasch in diesen Ton, den er daheim wohl auch schon gehört und ein wenig geübt hatte, und wurde mit allen gut Freund.

Eine halbe Stunde weiter draußen, am Eingang eines prächtigen Föhrenwaldes, erwartete sie eine kleine Gesellschaft von vier halbwüchsigen Mädchen in hellen Sonntagskleidern. Es waren Töchter geringer Häuser, denen es an Beaufsichtigung fehlte und die zum Teil schon als Schulmädel mit Schülern oder Lehrbuben zärtliche Verhältnisse unterhielten. Sie wurden dem Emil Kolb als Fräulein Berta, Luise, Emma und Agnes vorgestellt. Zwei von ihnen hatten schon feste Verhältnisse und hängten sich sofort an ihre Verehrer, die beiden anderen gingen lose nebenher und gaben sich Mühe, die ganze Gesellschaft zu unterhalten. Es war nämlich nach dem Hinzutritt der Damen die frühere lärmende Gesprächigkeit der Jünglinge plötzlich erkaltet und an deren Stelle eine verlegen schweigsame Liebenswürdigkeit getreten, in deren Bann auch Franz und Emil fielen. Alle diese jungen Leute waren noch durchaus Kinder, und ihnen allen fiel es weit leichter, die Manieren von Männern nachzuahmen, als sich ihrem eigenen Alter und Wesen gemäß zu benehmen. Sie alle wären im Grunde lieber ohne Mädchen gewesen oder hätten doch mit diesen wie mit ihresgleichen geschwatzt und gescherzt, aber das schien nicht anzugehen, und da sie alle wohl wußten, daß die Mädchen ohne Erlaubnis ihrer Eltern und unter Gefahren für ihren Ruf diese Wege gingen, suchte ein jeder von diesen jungen Handelsleuten das nachzuahmen, was er sich nach Hörensagen und Lektüre unter einem feinen geselligen Wesen vorstellte. Die Mädchen waren überlegen und gaben den Ton an, der auf eine empfindsame Schwärmerei gestimmt war, und sie alle, die nach Verlust der Kindesunschuld doch der Liebe noch nicht fähig waren, bewegten sich recht ängstlich und befangen in einer phantastisch verlogenen Sphäre zierlicher Sentimentalität.

Emil genoß als Fremder besondere Aufmerksamkeit, und das Fräulein Emma verstrickte ihn bald in ein schönes Gespräch über den Reiz sommerlicher Waldausflüge, das später in eine Unterhaltung über Emils Herkunft und Lebensumstände überging und wobei Emil sich nicht übel bewährte, da er nur Fragen zu beantworten hatte. Bald wußte das Mädchen alles Wissenswerte über den jungen Mann, den sie sich zum Kavalier für diesen Tag erlesen hatte; nur war freilich des Jünglings Auskunft über sich und sein Leben mehr ein Notbehelf und poetischer Zeitvertreib als eine Mitteilung realer Dinge. Denn wenn Fräulein Emma nach dem Stande seines Vaters fragte, schien ihm das Wort Flickschuster gar zu schroff und häßlich und er umschrieb die Sache, indem er erklärte, sein Papa habe ein Schuhgeschäft. Alsbald sah des Fräuleins Phantasie ein glänzendes Schaufenster voll schwarzer und farbiger Schuhwaren, dem ein solcher Duft von Eleganz und geschmackvoller Wohlhabenheit entstieg, daß ihre weiteren Fragen immer schon einen guten Teil solchen Glanzes als vorhanden voraussetzten und den Schusterssohn unvermerkt zu immer kräftigeren Beschönigungen der Wirklichkeit nötigten. Es entstand aus Fragen und Antworten eine hübsche, angenehme Legende. Nach derselben war Emil der etwas streng gehaltene, doch geliebte Sohn nicht eben reicher, doch wohlhabender Eltern, den seine Neigung und Begabung früh von den Schulstudien zum Handel hingeführt hatte. Er erlernte als Volontär, welches Wort auf Rechnung der Emma kam, in einem mächtigen alten Handelshause die Obliegenheiten seines künftigen Berufes und war heute, durch das herrliche Wetter verlockt, herübergekommen, um seinen Schulfreund Franz zu besuchen. Was die Zukunft betraf, so konnte Emil ohne Gefahr und Gewissensbedrängnis die Farben verschwenden, und je weniger von Wirklichkeit, Gegenwart und Arbeit, je mehr von Zukunft, Genuß und Hoffnungen die Rede war, desto mehr kam er ins Feuer und desto besser gefiel er dem Fräulein Emma. Diese hatte von ihrer Abstammung nichts und von ihren übrigen Verhältnissen nur soviel erzählt, daß sie als zartfühlende Tochter einer wenig begüterten und leider auch etwas herrischen, ja groben Witwe manches zu leiden habe, das sie jedoch kraft eines tapferen Herzens ohne Murren zu ertragen wisse.

Auf den jungen Kolb machten sowohl diese moralischen Eigenschaften wie auch das Äußere des Fräuleins einen starken Eindruck. Vielleicht und vermutlich hätte er sich in irgendeine andere, sofern sie nicht gerade häßlich war, ebenso verliebt. Es war das erstemal, daß er so mit einem Mädchen ging, daß ein Mädchen solches Interesse für ihn zeigte und daß er allen Ernstes ein Gebiet betrat, für das er in der Stille sich selber noch zu jung erschien. Desto feierlicher lauschte er den Erzählungen der Emma und gab sich Mühe, keine Höflichkeit zu versäumen. Es blieb ihm nicht verborgen, daß sein Auftreten und sein Erfolg bei Emma ihm Ansehen verlieh und daß es namentlich dem Franz imponierte.

So war der erhoffte Vereinsausflug mit Fahnen, Musik und lärmender Lustbarkeit für den Gerbersauer Gast ein stilles Erlebnis und jedenfalls etwas nicht minder Schönes geworden. Es geschahen zwischen ihm und seinem schönen Fräulein keine Liebeserklärungen und keine Zärtlichkeiten, vor dem Küssen hätte es ihm auch noch gegraut, aber es entstand doch Emils erste Vertrautheit mit einem Mädchen, er war zum erstenmal verliebt und zum erstenmal Kavalier, und beides gefiel ihm nicht wenig.

Da man der Damen wegen nicht wagte, in einer Herberge einzukehren, wurden in der Nähe eines Dorfes zwei von den Jünglingen auf Proviant ausgeschickt. Sie kehrten mit Brot und Käse, Bierflaschen und Gläsern wieder, und es ergab sich ein heiteres Gelage im Grünen, wobei die Mädchen das Brotschneiden und Einschenken übernahmen und mit ihren hellen Sommerkleidern froh und festlich aussahen. Emil, der den ganzen Tag auf den Beinen und ohne Mittagbrot gewesen war, griff nun mit eifrigem Hunger zu den guten Sachen und war der fröhlichste von allen. Doch mußte er bei diesem ersten Fest seines Mannesalters die bittere Erfahrung machen, daß nicht alles Wohlschmeckende auch wohltut und daß seine Kräfte im Schlürfen männlicher Genüsse noch die eines Kindes waren. Er erlag mit Schmach dem dritten oder vierten Glase Bier und mußte den Heimweg nach Lächstetten als Nachzügler unter des Freundes Obhut in Schmerzen und Reue zurücklegen.

Wehmütig nahm er am Abend von dem Freunde Abschied und trug ihm Grüße an die Kameraden und an die lieben Fräulein auf, die er nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Großmütig hatte ihm Franz Remppis ein Billet für die Eisenbahn geschenkt, und während er im Fahren durchs Fenster die schöne sommerliche Landschaft abendlich werden und festlich verglühen sah, empfand er alle Ernüchterung der Rückkehr zu Arbeit und Entbehrung voraus und hätte nichts dagegen gehabt, wenn es angegangen wäre, diesen Tag wieder auszustreichen und zu den ungelebten zu legen.

Dennoch konnte er, ohne zu lügen, nach vier Tagen seinem Freunde schreiben:

»Lieber Freund!

In Anbetracht des verflossenen Sonntags möchte nicht unterlassen, Dir nochmals meinen Dank auszusprechen. Zu meinem lebhaften Bedauern ist mir unterwegs jenes Versehen passiert und hoffe ich sehr, es möchte Dir und den Herren und Damen den schönen Festtag nicht gestört haben. Namentlich wäre Dir äußerst verpflichtet, wenn Du die Güte haben wolltest, dem Fräulein Emma einen Gruß von mir und meine Bitte um Entschuldigung für jenes Unglück zu bestellen. Zugleich wäre ich sehr gespannt, Deine Ansicht über Fräulein Emma erfahren zu dürfen, da ich nicht verhehlen kann, daß eben diese mir völlig zugesagt und ich eventuell nicht abgeneigt wäre, bei späterem Anlaß an selbe mit ernsteren Anträgen heranzutreten. Diesbezüglich Deine strengste Diskretion erbittend und voraussetzend verbleibe mit besten Grüßen in freundschaftlicher Ergebenheit Dein Emil Kolb.«

Franz gab hierauf nie eine richtige Antwort. Er ließ wissen, daß der Gruß ausgerichtet sei und daß die Herren vom Verein sich freuen würden, Emil bald einmal wieder bei sich zu sehen. Der Sommer ging hin, und die Freunde sahen sich in Monaten nur ein einziges Mal, bei einer Zusammenkunft in dem Dorfe Walzenbach, das in der Mitte zwischen Lächstetten und Gerbersau lag und wohin Emil den Schulfreund bestellt hatte. Es kam jedoch keine richtige Wiedersehensfreude auf, denn Emil hatte keinen anderen Gedanken, als etwas über das Fräulein Emma zu erfahren, und Franz wußte seinen Fragen nach ihr immer wieder hartnäckig auszuweichen. Er hatte nämlich seit jenem Sonntage selbst seine Blicke auf diese Jungfer gerichtet und seinen Freund bei ihr auszustechen versucht. Unschönerweise hatte er damit begonnen, daß er dessen Legende zerstört und seine geringe Herkunft ohne Schonung dargetan hatte. Zum Teil wegen dieses Verrates am Freunde, noch mehr aber wegen einer sogenannten Hasenscharte, welche Franz am Munde hatte und die der Emma mißfiel, wies sie ihn sehr kühl ab, wovon Emil jedoch nichts erfuhr. Und nun saßen die alten Freunde einander unoffen und enttäuscht gegenüber und waren beim Auseinandergehen am Abend nur darin einig, daß keiner von beiden eine baldige Wiederholung dieser Zusammenkunft für notwendig hielt.

Im Geschäft der Brüder Dreiß hatte sich Emil indessen zwar nicht eben beliebt, wohl aber nützlich gemacht und soviel Vertrauen erworben, daß im Herbst, nach dem Avancement des ältesten Lehrlings und dem Eintritt eines neuen, die Prinzipale keinen Grund fanden, von einer alten Gewohnheit abzugehen, und dem Jüngling die sogenannte Portokasse übergaben. Es wurde ihm ein Stehpult angewiesen und zugleich Büchlein und Kasse übergeben, ein flaches Kästlein aus grünem Drahtgeflechte, worin oben die Bogen mit Briefmarken, unten aber das bare Geld geordnet lagen.

Der Jüngling, am Ziele langer Wünsche und Pläne angelangt, verwaltete in der ersten Zeit die paar Taler seiner Kasse mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Seit Monaten mit dem Gedanken vertraut, aus dieser Quelle zu schöpfen, nahm er nun doch keinen Pfennig an sich. Diese Ehrlichkeit wurzelte nur zum Teil in der Furcht und in der klugen Voraussetzung, man werde seine Führung in dieser ersten Zeit besonders genau beobachten. Vielmehr war es ein Gefühl von Feierlichkeit und innerer Befriedigung, das ihn gut machte und vom Bösen abhielt. Emil sah sich, im Besitz eines eigenen Stehpultes im Kontor und als Verwalter baren Geldes, in die Reihe der Erwachsenen und Geachteten emporgerückt; er genoß diese Stellung mit Andacht und sah auf den soeben neu eingetretenen jüngsten Lehrling mit großem Mitleid hernieder. Diese gütige und weiche Stimmung hielt ihn gefangen. Allein wie den schwachen Burschen eine Stimmung vom Bösen abzuhalten vermochte, so genügte auch eine Stimmung, ihn an seine üblen Vorsätze zu erinnern und diese zur Ausführung zu bringen.

Es begann, wie alle Sünden junger Geschäftsleute, an einem Montage. Dieser Tag, an welchem nach kurzer Sonntagsfreiheit und mancher Lustbarkeit die Nebel des Dienstes, des Gehorchenmüssens und der Arbeit sich wieder für so lange Tage senken, ist auch für fleißige und tüchtige junge Menschen eine Prüfung, zumal wenn auch die Vorgesetzten den Sonntag der Lust geweiht und alle gute Laune einer Woche im voraus verbraucht haben.

Es war ein Montag zu Anfang des November. Die beiden älteren Lehrlinge waren tags zuvor samt dem Herrn Volontär in der Vorstellung einer durchreisenden Theatertruppe gewesen und hatten nun, durch das gemeinsame seltne Erlebnis heimlich verbunden, viel untereinander zu flüstern. Der Volontär, ein junger Lebemann aus der Hauptstadt, ahmte an seinem Stehpult Grimassen und Gebärden eines Komikers nach und weckte die Erinnerung an gestrige Genüsse jeden Augenblick von neuem. Emil, der den regnerischen Sonntag zu Hause mit Lesen und kaufmännischen Stilübungen hingebracht hatte, horchte mit Neid und Ärger hinüber. Der jüngere Chef hatte ihn am frühen Morgen schon in bitterer Montagslaune angebrummt, allein und ausgeschlossen stand er an seinem Platz, während die anderen ans Theater dachten und ihn ohne Zweifel bemitleideten.

Traurig und erbittert durchlas er einen Brief seines Prinzipals, den er abschicken sollte und aus dem er zuvor noch Stilistisches zu lernen hoffte. Es war ein Brief an einen großen Lieferanten und begann »Sehr geehrter Herr! Ihre geschätzte Faktura noch immer vergebens erwartend, bitte nun endlich, Berechnung über die am 11. Vorigen erhaltenen Waren einzusenden.« Es war nichts Neues, enttäuscht legte der Lehrling den Brief zu den anderen. In diesem Augenblick erschallte draußen auf dem Marktplatz ein fröhlich schmetternder Trompetenstoß, der sich zweimal wiederholte. Das Signal, seit einigen Tagen der ganzen Stadt vertraut, kündete den Ausrufer der Schauspielerfamilie an, der auch sogleich auf dem Platz erschien, sich auf die Vortreppe des Rathauses schwang und mit rollender Stimme verkündete: »Meine Herrschaften! Damen und Herren! Es findet heute Abend acht Uhr im Saale des Hotels zum grauen Hecht die unwiderruflich letzte Vorstellung der bekannten Truppe Elvira statt. Zur Aufführung gelangt das berühmte Stück »Der Graf von Felsheim oder Vaterfluch und Brudermord«. Zu dieser unwiderruflich allerletzten Hauptgalavorstellung wird Alt und Jung hiermit ergebenst eingeladen. Trara! Trara! Am Schlusse findet eine Verlosung wertvoller Gegenstände statt! Jeder Inhaber einer Karte zum ersten und zweiten Rang erhält vollständig gratis ein Los. Trara! Trara! Letztes Auftreten der berühmten Truppe! Letztes Auftreten auf Wunsch zahlreicher Kunstfreunde! Heute Abend halb acht Uhr Kassenöffnung!«

Dieser Lockruf mitten in der Trübe des nüchternen Montagmorgens traf den einsamen Lehrling ins Herz. Die Gebärden und Gesichter des Volontärs, das Tuscheln der Kollegen, bunte, wirre Vorstellungen von unerhörtem Glanz und Genuß flossen zu dem glühenden Verlangen zusammen, endlich auch einmal dies alles zu sehen und zu genießen, und das Verlangen ward alsbald zum Vorsatz, denn die Mittel waren ja in seiner Hand.

An diesem Tage schrieb Emil Kolb zum erstenmal falsche Zahlen in sein kleines sauberes Kassabüchlein und nahm einige Nickelstücke von dem ihm Anvertrauten weg. Aber obwohl dies schlimmer war als vor Monaten jener Diebstahl einer Briefmarke, blieb doch diesmal sein Herz ruhig. Er hatte sich seit langem an den Gedanken dieser Tat gewöhnt, er fürchtete keine Entdeckung, ja er fühlte einen leisen Triumph, als er sich abends vom Prinzipal verabschiedete. Da ging er nun hinweg, das Geld des Mannes in seiner Tasche, und er würde es noch oft so machen, und der dumme Kerl würde nichts merken.

Das Theater machte ihn sehr glücklich. In großen Städten, hatte er sagen hören, gab es noch weit größere und glänzendere Theater, und da gab es Leute, die jeden lieben Abend hineingingen, immer auf die besten Plätze. So wollte er es auch einmal haben. War ihm auch der Sinn des Theaterspielens dunkel, so amüsierten ihn doch die farbigen Figuren und Bilder der Bühne, außerdem war es nobel und gab Ansehen, wenn einer so im Parkett sitzen und sich von den Lustigmachern für sein Geld was vorspielen lassen konnte.

Von da an hatte die Portokasse des Hauses Dreiß ein unsichtbares Loch, durch welches in aller Stille immerzu ein kleiner dünner Geldfluß entwich und dem Lehrling Kolb gute Tage machte. Das Theater freilich zog hinweg in andere Städte, und ähnliches kam sobald nicht wieder. Aber da war bald eine Kirchweih in Hängstett, bald auf dem Brühel ein Karussell, und außer dem Fahrgeld und Bier oder Kuchen war meistens dazu auch ein neuer Hemdkragen oder Schlips unentbehrlich, oder beides. Ganz allmählich wurde der arme junge Mensch zu einem verwöhnten Manne, der sich überlegt, wo er am kommenden Sonntag vergnügt sein will, und der aufs Geld nicht zu sehen braucht. Er hatte bald gelernt, daß es beim Vergnügen auf anderes ankommt als aufs Notwendige, und tat mit Genuß Dinge, die er früher für Sünde und Dummheit gehalten hätte. Beim Bier schrieb er an die jungen Herren in Lächstetten Ansichtskarten, und nicht die billigsten, sondern stets von den lackierten farbigen mit den tiefblauen Himmeln und brandroten Dächern, auf denen jede Gegend schöner aussah, als am schönsten Sommertage. Und wo er sonst ein trockenes Brot verzehrt hatte, fragte er nun nach Wurst oder Käse dazu, er lernte in Wirtschaften herrisch nach Senf und Zündhölzern verlangen und den Zigarettenrauch durch die Nase blasen.

Immerhin mußte er in solchem Verbrauch seines Wohlstandes vorsichtig sein und durfte nicht immer auftreten, wie es ihm gerade Spaß gemacht hätte. Die paar ersten Male spürte er auch vor dem Monatsende und der Kontrolle seiner Kasse ziemliches Bangen. Aber stets ging alles gut, und nirgends fand sich eine Nötigung, den begonnenen Unfug einzustellen. So wurde Kolb, wie jeder Gewohnheitsdieb, trotz aller Vorsicht am Ende sicher und blind.

Und eines Tages, da er wieder das Portogeld für sieben Briefe statt für vier aufgeschrieben hatte und da sein Herr ihm den falschen Eintrag vorhielt, blieb er frech dabei, es müßten sieben Briefe gewesen sein. Und da der Herr Dreiß sich dabei zu beruhigen schien, ging Emil friedlich seiner Wege. Am Abend aber setzte sich der Herr, ohne daß der Schelm davon wußte, hinter sein Büchlein und studierte es sorgsam durch. Denn es war ihm nicht nur der größere Portoverbrauch in letzter Zeit aufgefallen, sondern es hatte ihm heute ein Gastwirt aus der Vorstadt erzählt, der junge Kolb komme neuerdings am Sonntag öfter zu ihm und scheine mehr für Bier auszugeben, als der Vater ihm dafür geben könne. Und nun hatte der Kaufherr geringe Mühe, das Übel zu übersehen und die Ursache mancher Veränderung im Wesen und Treiben seines jungen Kassiers zu erkennen.

Da der ältere Bruder Dreiß gerade auf Reisen war, ließ der jüngere der Sache zunächst ihren Lauf, indem er nur täglich in der Stille die kleinen Unterschlagungen betrachtete und notierte. Er sah, daß sein Verdacht dem jungen Manne nicht Unrecht getan hatte, und wunderte sich ärgerlich über die Ruhe und geschickte Sachlichkeit, mit der ihn der Bursche eine so lange Zeit hintergangen und bestohlen hatte.

Der Bruder kehrte zurück, und am folgenden Morgen beriefen die beiden Herren den Sünder in ihr Privatkontor. Da versagte denn doch die erworbene Sicherheit des Gewissens; kaum hatte Emil Kolb die beiden ernsten Gesichter der Prinzipale und in des einen Händen sein schmales Kassenbüchlein erblickt, so wurde er weiß im Gesicht und verlor den Atem.

Hier begannen Emils schlimme Tage. Als würde ein schmucker Marktplatz durchsichtig, oder eine nette helle Gasse, und man sähe unterm Boden Kanäle, Kloaken und trübe Wasser rinnen, von Gewürm bevölkert und übel riechend, so lag der unreine Grund dieses scheinbar harmlosen jungen Lebens häßlich aufgedeckt vor seinen und seiner Herren Augen da. Das Schlimmste, was er je gefürchtet, war hereingebrochen, und es war übler, als er gedacht hätte. Alles Saubere, Ehrliche, das bisher in seinem Leben gewesen war, versank und war weg, sein Fleiß und Gehorsam war nicht gewesen, es blieb von einem fleißigen Leben zweier Jahre nichts übrig als die Schmach seines Vergehens.

Emil Kolb, der bis dahin einfach ein kleiner Schelm und bescheidener Hausdieb gewesen war, wurde nun zu dem, was die Zeitungen ein Opfer der Gesellschaft nennen.

Denn die beiden Brüder Dreiß waren nicht darauf eingerichtet, in ihren vielen Lehrbuben junge Menschen mit jungen wartenden Schicksalen zu sehen, sondern nur eben Arbeiter, deren Unterhalt wenig kostete und die für Jahre eines nicht leichten Dienstes noch dankbar sein mußten. Sie konnten nicht sehen, daß hier ein verwahrlostes junges Leben an der Wende stand, wo es ins Dunkel hinabgeht, wenn nicht ein guter und williger Mensch zu helfen bereit ist. Einem jungen Diebe zu helfen wäre ihnen im Gegenteil als Sünde und Torheit erschienen. Sie hatten einem Buben aus armem Hause Vertrauen geschenkt und ihr Haus geöffnet, nun hatte dieser Mensch sie hintergangen und ihr Vertrauen mißbraucht – das war eine klare Sache. Die Herren Dreiß waren sogar edel und kamen überein, den armen Kerl nicht der Polizei zu übergeben, und doch wäre dies das Beste gewesen, wenn sie doch einmal selbst die Hand von dem Entgleisten abziehen wollten. Sie entließen ihn vielmehr, ausgescholten und zerschmettert, und trugen ihm auf, er möge zu seinem Vater gehen und ihm selber sagen, weshalb man ihn in einem anständigen Handelshause nicht mehr brauchen könne.

Daraus darf jedoch den Brüdern Dreiß kein Vorwurf gemacht werden. Sie waren ehrenwerte Männer und auf ihre Art wohlmeinend, sie waren nur gewohnt, in allem Geschehenden »Fälle« zu sehen, auf welche sie je nachdem eine der Regeln bürgerlichen Tuns anwenden mußten. So war auch Emil Kolb für sie nicht ein gefährdeter und untersinkender Mensch, sondern ein bedauerlicher Fall, welchen sie nach allen Regeln ohne Härte erledigten.

Sie waren sogar über das notwendige Maß pflichtbewußt und gingen am folgenden Tage selber zu Emils Vater, um mit ihm zu reden, die Sache zu erzählen und etwa mit einem Rate zu dienen. Aber der Vater Kolb wußte noch gar nichts von dem Unglück. Sein Sohn war gestern nicht nach Hause gekommen, er war davongelaufen und hatte die Nacht im Freien hingebracht. Zur Stunde, da seine Prinzipale ihn beim Vater suchten, stand er frierend und hungrig überm Tale am Waldrand und hatte sich, im Selbsterhaltungsdrang gegen die Versuchung freiwilligen Untergangs, so hart und trotzig gemacht, wie es dem schwachen Jungen sonst in Jahren nicht möglich gewesen wäre.

Sein erster Wunsch und Gedanke war gewesen, sich nur zu flüchten, sich zu verbergen und die Augen zu schließen, da er die Schande wie einen großen giftigen Schatten über sich fühlte. Erst allmählich, da er einsah, er müsse zurückkehren und irgendwie das Leben weiter führen, hatte sein Lebenswille sich zu Trotz verhärtet und er hatte sich vorgenommen, den Brüdern Dreiß das Haus anzuzünden. Indessen war auch diese Rachelust vergangen. Emil sah ein, wie sehr er sich den weiteren Weg zu jedem Glück erschwert habe, und kam am Ende mit seinen Gedanken zu dem Schlusse, es sei ihm nun doch jeder lichte Pfad verbaut und er müsse nun erst recht und mit verdoppelten Kräften den Weg des Bösen gehen, um doch noch auf seine Weise Recht zu behalten und das Schicksal zu zwingen.

Der entsetzte kleine Flüchtling von gestern kehrte nach einer verwachten und durchfrornen Nacht als ein junger Bösewicht nach der Heimat zurück, auf Schmach und üble Behandlung gefaßt und zu Krieg und Widerstand gegen die Gesetze dieser schnöden Welt gewillt.

Nun wieder wäre es an seinem Vater gewesen, ihn ohne Umgehung der Prügelstrafe in eine ernsthafte Kur zu nehmen und den geschwächten Willen nicht vollends zu brechen, sondern langsam wieder zu erheben und zum Guten zu wenden. Das war indessen mehr, als der Schuster Kolb vermochte. So wenig wie sein Sohn vermochte dieser Mann das Gesetz des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung zu erkennen oder doch zu fühlen. Statt die Entgleisung seines Sprößlings als eine Folge seiner schlechten Erziehung zu nehmen und den Versuch einer Besserung an sich und dem Kinde zu beginnen, tat Herr Kolb so, als sei von seiner Seite her alles in Ordnung und als habe er allen Grund gehabt, von seinem Söhnlein nur Gutes zu erwarten. Freilich, Vater Kolb hatte nie gestohlen, doch war in seinem Hause der Geist nie gewesen, der allein in den Seelen der Kinder das Gewissen wecken und der Lust zur Entartung trotzen kann.

Der zornige, gekränkte Mann empfing den heimkehrenden Sünder wie ein Höllenwächter bellend und fauchend, er rühmte ohne Grund den guten Ruf seines Hauses, ja er rühmte seine redliche Armut, die er sonst hundertmal verwünscht hatte, und lud alles Elend, alle Last und Enttäuschung seines Lebens auf den halbwüchsigen Sohn, der sein Haus in Schande gebracht und seinen Namen in den Schmutz gezogen habe. Alle diese Ausdrücke kamen nicht aus seinem erschrockenen und völlig ratlosen Herzen, sondern aus Erinnerung, er befolgte damit eine Regel und erledigte einen Fall, ähnlich und trauriger, als es die Dreiß getan hatten.

Emil stand ruhig und ließ den Strom verrinnen, er hielt den Kopf gesenkt und schwieg, er fühlte sich elend, aber beinahe doch dem ohnmächtig wetternden Alten überlegen. Alles was der Vater von der ehrlichen Armut vom besudelten Namen und vom Zuchthause schrie, kam ihm nichtig vor; wenn er irgendeine andere Unterkunft in der Welt gewußt hätte, wäre er ohne Antwort hinweggegangen. Er war in der überlegenen Lage dessen, dem alles einerlei ist, weil er soeben von dem bitteren Wasser der Verzweiflung und des Grauens getrunken hat. Dagegen verstand er die Mutter wohl, die hinten am Tische saß und stille weinte. Er fühlte, daß sie in dieser Stunde etwas von dem kosten mußte, woran er selber diese Nacht gewürgt hatte, aber er fand keinen Weg zu ihr, der er am wehesten getan hatte und von der er doch am ehesten Mitleid erwartete.

Das Haus Kolb war nicht in der Lage oder nicht willens, einen nahezu erwachsenen Sohn unbeschäftigt herumsitzen zu haben.

Der Meister Kolb, als er sich vom ersten Schrecken aufgerafft hatte, hatte zwar noch alles versucht, dem Schlingel trotz allem eine feinere Zukunft zu ermöglichen. Aber ein Lehrling, den die Brüder Dreiß, wenn auch aus unbekannten Ursachen, plötzlich weggejagt hatten, fand in Gerbersau keinen Boden mehr. Nicht einmal der Schreinermeister Kiderle, der doch im Blatt einen Lehrbuben bei freier Kost gesucht hatte, konnte sich entschließen, den Emil aufzunehmen. Ein Schneider freilich war noch da, der hätte ihn genommen, aber dagegen sträubte sich Emil selbst so wild und verzweifelt, daß man ihn gewähren lassen mußte.

Schließlich, als eine Woche nutzlos verstrichen war, sagte der Vater: »Ja, wenn alles nicht hilft, mußt du halt in die Fabrik!«

Er war auf Klagen und Widerstand gefaßt, aber Emil sagte ganz zufrieden: »Mir ist's recht. Aber den Hiesigen mach' ich die Freude nicht, daß sie mich in die Fabrik gehen sehen.«

Daraufhin fuhr Herr Kolb mit seinem Sohne nach Lächstetten hinüber. Da sprach er beim Fabrikanten Erler vor, der tannene Faßspunden herstellte, fand aber kein Gehör, und dann beim Walkmüller, der ebenfalls eilig dankte, und ging schließlich verzweifelnd, nur weil vor dem Abgang des Zuges noch eine halbe Stunde Zeit übrig war, auch noch in die Spindlersche Maschinenstrickerei, wo er im Werkführer zu seiner Überraschung einen Bekannten fand, der sich für ihn verwendete. So ließ man den Zug fahren und wartete auf den Fabrikanten, der nach wenig Worten den jungen Menschen auf Probe zu nehmen einwilligte.

Nach der Art gedankenloser Leute war Vater Kolb froh, als am folgenden Montag sein mißratener Sohn das Haus verließ, um sein Fabriklerleben in Lächstetten zu beginnen. Auch dem Sohne war es wohl, daß er aus den Augen der Eltern kam. Er nahm Abschied, als wäre es für wenige Tage, und hatte doch fest im Sinne, sich daheim nimmer oder doch lange Zeit nicht mehr zu zeigen.

Der Eintritt in die Fabrik fiel ihm trotz aller desperaten Vorsätze doch nicht leicht. Wer einmal gewohnt war, wenn auch nur als geringstes Glied, zu den geachteten Ständen zu gehören und über den Pöbel die Nase zu rümpfen, dem ist es ein saurer Bissen, wenn er einmal selber den guten Rock ausziehen und zu den Verachteten zählen soll.

Dazu kam, daß Emil bei dem Wegzug nach Lächstetten sich darauf verlassen hatte, daß er dort an seinem Freunde Remppis einen guten Halt finden werde. Darin hatte der schlaue Jüngling sich indessen verrechnet. Er hatte nicht gewagt, seinen Freund im stolzen Hause des Prinzipals aufzusuchen, begegnete ihm aber gleich am zweiten Abend auf der Gasse. Erfreut trat er auf ihn zu und rief ihn bei Namen.

»Grüß Gott, Franz, das freut mich aber! Denk, ich bin jetzt auch in Lächstetten!«

Der Freund aber machte gar kein frohes Gesicht. »Ich weiß schon,« sagte er sehr kühl, »man hat es mir geschrieben.«

Sie gingen miteinander die Gasse hinab. Emil suchte einen leichten Ton anzustimmen, aber die Mißachtung, die der Freund ihm so deutlich zeigte, drückte ihn nieder. Er versuchte zu erzählen, zu fragen, ein Zusammentreffen am Sonntag zu verabreden; aber auf alles antwortete Franz Remppis kühl und vorsichtig. Er habe jetzt so wenig Zeit, sei auch nicht recht wohl, und gerade heut erwarte ihn ein Kamerad in einer wichtigen Angelegenheit, und auf einmal war er weg und Emil ging allein durch den Abend zu seiner ärmlichen Schlafstelle, erzürnt und traurig. Er nahm sich vor, dem Freunde bald seine Untreue in einem beweglichen Briefe vorzuhalten, und fand in diesem Vorsatz einigen Trost.

Allein auch hierin kam ihm Franz zuvor. Schon am folgenden Tage erhielt der junge Fabrikler beim abendlichen Nachhausekommen einen Brief, den er mit Sorgen öffnete und mit Schrecken las:

Geehrter Emil!

Unter Bezugnahme auf unser Mündliches von gestern, möchte Dir nahelegen, künftighin auf unsere bisherigen angenehmen Beziehungen zu verzichten. Ohne Dir im geringsten zu nahe treten zu wollen, dürfte es doch angezeigt sein, daß jeder von uns seinen Umgang im Kreise seiner Standesgenossen sucht. Ebendaher erlaube mir auch vorzuschlagen, uns künftig gegebenenfalls lieber mit dem höflichen Sie anzureden.

Ergebenst grüßend Ihr ehemaliger

Franz Remppis.

Auf dem Wege des jungen Kolb, der von da an stetig abwärts führte, war hier der Punkt des letzten Zurückschauens, der letzten Besinnung, ob es nicht auch anders hätte gehen können, ja ob nicht jetzt noch eine Wandlung möglich wäre. Nach einigen Tagen lag dies alles abgetan dahinten, und der junge Mensch lief vollends blindlings in der engen Sackgasse seines Schicksals weiter.

Die Arbeit in der Fabrik war nicht so schlimm, wie sie ihm geschildert worden war. Er hatte zu Anfang nur Handlangerdienste zu tun, Kisten zu öffnen oder zu vernageln, Körbe mit Wolle in die Säle zu tragen, Gänge zum Magazin und zur Reparaturwerkstätte zu besorgen. Es dauerte jedoch nicht lange, so bekam er probeweise einen Strickstuhl zu besorgen, und da er sich anstellig zeigte, saß er in Bälde an seinem eigenen Stuhl und arbeitete im Akkord, so daß es ganz von seinem Fleiß und Willen abhing, wieviel Geld er in der Woche verdienen wollte. Dieses Verhältnis, das sich in keinem anderen Berufe so findet, gefiel dem jungen Burschen sehr wohl, und er genoß seine Freiheit mit grimmigem Behagen, indem er am Feierabend und Sonntag mit den wildesten Kameraden aus der Fabrik bummeln ging. Da gab es keinen Prinzipal mehr, der in häßlicher Nähe kontrollierend saß, und keine Hausordnung eines alten strengen Handelshauses, keine Eltern und nicht einmal ein Standesbewußtsein, das störende Forderungen machen konnte. Geld verdienen und Geld verbrauchen war des Lebens Sinn, und das Vergnügen bestand neben Bier und Tanzen und Zigarren vor allem im Gefühl frecher Unabhängigkeit, womit man am Sonntag den schwarzgekleideten Kaufleuten und anderen Philistern ins Gesicht grinsen konnte, ohne daß es jemand gab, der einem verbieten oder befehlen durfte.

Dafür, daß es ihm mißlungen war, aus seinem geringen Vaterhause in die höheren Stände empor zu gelangen, rächte sich Emil Kolb nun an diesen höheren Ständen. Er fing, wie billig, oben an und ließ den lieben Gott seine Verachtung fühlen, indem er weder Predigt noch Katechese je besuchte und dem Pfarrer, den er zu grüßen gewohnt gewesen war, beim Begegnen auf der Straße vergnügt den Rauch seiner langen Zigarre ins Gesicht blies. Schön war es auch, am Abend sich vor das beleuchtete Schaufenster zu stellen, hinter welchem der Lehrling Remppis noch saure Abendstunden an der Arbeit war, oder in den Laden selbst hinein zu gehen und mit dem baren Gelde in der Hosentasche eine gute Zigarre zu verlangen.

Das Schönste aber waren ohne Zweifel die Mädchen. In der ersten Zeit hielt sich Emil den Frauensälen der Fabrik fern, bis er eines Tages in der Mittagspause aus dem Saal der Sortiererinnen eine junge Mädchengestalt hervortreten sah, die er trotz mancher Veränderungen alsbald wieder erkannte. Er lief hinüber und rief sie an.

»Fräulein Emma! Kennen Sie mich noch?«

Erst in diesem Augenblicke fiel ihm ein, unter welch anderen Umständen er das Mädchen im vorigen Jahre kennen gelernt hatte und wie wenig sein jetziger Zustand dem entsprach, was er ihr damals von sich erzählt hatte.

Auch sie schien sich jener Unterhaltungen noch wohl zu erinnern, denn sie grüßte ihn ziemlich kalt und meinte: »So, Sie sind's? Ja, was tun denn Sie hier?«

Doch gewann er für den Augenblick das Spiel, indem er mit lebhafter Galanterie antwortete: »Es versteht sich doch von selbst, daß ich nur Ihretwegen hier bin!«

Das Fräulein Emma hatte seit dem Sonntagsausflug mit dem Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes ein wenig an Anmut und Mädchenzierlichkeit verloren, hingegen sehr an Lebenserfahrung und Kühnheit gewonnen. Nach einer kurzen Prüfungszeit bemächtigte sie sich des jungen Liebhabers entschieden, der nun seine Sonntage stolz und herrisch am Arm der Schönen verbummelte und an Tanzplätzen und Ausflugsorten seine junge Mannheit sehen ließ.

Es kam da auch zu einem Wiedersehen mit jenem Häuflein junger Ladenschwengel, dessen Gäste Emma und ihr Schatz damals gewesen waren. Da mochten nun die Herren Lehrlinge noch so sehr die Nasen hochziehen und fremd tun, Emil lachte sie geradezu an und hatte sein Mädchen so frech und herausfordernd im Arme, und sie lachte auch so laut und hing ihm so hingegeben an, daß freilich die Handelsständler an ihrem Glücke nicht zweifeln konnten.

Genug Geld zu haben und ohne lästige Kontrolle nach seinem Belieben ausgeben zu dürfen, war für Kolb ein lang ersehntes Vergnügen, dessen er jetzt schwelgerisch genoß. Trotzdem aber und trotz seines blühenden Liebesfrühlings war es dem Manne nicht völlig wohl. Was ihm fehlte, war die Lust des unrechtmäßigen Besitzes und der Kitzel des schlechten Gewissens. Zum Stehlen gab es in seinem jetzigen Leben kaum eine Gelegenheit. Nichts ist dem Menschen schwerer zu entbehren als ein Laster, und wenige Laster sind so zäh wie das der Diebe. Außerdem hatte der junge Mensch in seiner Verwahrlosung einen Haß gegen die Reichen und Angesehenen in sich ausgebildet, aus deren Reihen er für immer ausgestoßen war, und mit dem Hasse ein Verlangen, diese Leute nach Möglichkeit zu überlisten und zu schädigen. Das Gefühl, am Samstag Abend mit einigen wohlverdienten Talern im Beutel aus der Fabrik zu gehen, war ganz angenehm. Aber jenes Gefühl, heimlich über fremde Gelder zu verfügen und einen dummen Kerl von Prinzipal beliebig prellen zu können, war doch weit köstlicher gewesen.

Darum sann Emil Kolb mitten in seinem Glücke immer gieriger auf neue Möglichkeiten zu unehrlichem Erwerb. Eine neue Leidenschaft, die soeben Gewalt über ihn zu üben anfing, tat diesen Plänen Vorschub. Es kam neuerdings manchmal vor, daß er ohne Geld war, obwohl er über seinen Bedarf verdiente. Er hatte nämlich, durch einen Zeitungsartikel angeregt, sich in den Gedanken verliebt, einmal durch einen Lotteriegewinn reich zu werden. Das war schon seinem Vater im Blut gelegen, der in früheren Zeiten manchen Taler an Lose vergeudet, seit langem aber das Geld dafür nimmer aufgebracht hatte. Emil kaufte sich mehrere Lose, und da sie alle nicht gewannen, die Spannung aber im Erwarten und Lesen der Ziehungslisten ihn immer heftiger kitzelte, wurde es ihm zur Gewohnheit, immer wieder sein Geld an diese wilden Hoffnungen zu wagen.

Die Energie eines planmäßigen Denkens, welche er im täglichen Leben und zu redlichen Zwecken kaum aufbrachte, fand er in seinen Diebesplänen wieder. Geduldig suchte er Gelegenheit und Ort eines größeren Unternehmens ausfindig zu machen, und da er durch die heimatlichen Erfahrungen gewitzigt war, schien es ihm richtig, diesmal das eigene Geschäft zu schonen und etwas Entlegneres zu suchen. Da stach ihm der Laden ins Auge, wo Franz Remppis als Lehrling diente, das größte Geschäft des Städtchens.

Das Haus Johann Löhle in Lächstetten entsprach etwa dem der Brüder Dreiß in Gerbersau. Es führte außer Kolonialwaren und landwirtschaftlichen Geräten alle Artikel des täglichen Gebrauches, vom Briefpapier und Siegellack bis zu Kleiderstoffen und eisernen Öfen, und hielt nebenher eine kleine Bank. Den Laden kannte Emil Kolb genau, er war oft genug darin gewesen und über die Standorte mancher Kiste und Lade sowie über Ort und Beschaffenheit der Kasse wohl unterrichtet. Über die sonstigen Räume des Hauses wußte er durch frühere Erzählungen seines Freundes einigermaßen Bescheid, und was ihm zu wissen noch unentbehrlich schien, erfragte er bei gelegentlichen Besuchen des Ladens. Er sagte etwa, wenn er abends gegen sieben Uhr den Laden betrat, zum Hausknecht oder jüngsten Lehrling: »Na, jetzt ist bald Feierabend!« Sagte der dann: »Noch lange nicht, es kann halb neune werden«, so fragte Emil weiter: »So so; aber dann kannst du wenigstens gleich weglaufen, das Ladenschließen wird nicht deine Sache sein.« Und dann erfuhr er, daß der Prokurist Menzel oder zu andern Zeiten der Sohn des Prinzipals immer als Letzter das Geschäft verlasse, und richtete nach alle dem seine Pläne ein.

Darüber verging die Zeit, und es war seit seinem Eintritt in die Fabrik schon ein Jahr vergangen. Diese lange Zeit war auch an dem Fräulein Emma nicht spurlos vorübergegangen. Sie begann etwas gealtert und unfrisch auszusehen; was aber ihren Liebhaber am meisten erschreckte, war der nicht mehr zu verbergende Umstand, daß sie ein Kind erwartete. Das verdarb ihm die Lächstettener Luft, und je näher die gefürchtete Niederkunft heranrückte, desto fester wurde in Kolb der Vorsatz, noch vor diesem Ereignis den Ort zu verlassen. Er erkundigte sich daher fleißig nach auswärtigen Arbeitsgelegenheiten und stellte fest, daß er nichts zu verlieren habe, wenn er sich der Schweiz zuwendete.

Auf den schönen Plan einer Erleichterung des Johann Löhleschen Ladens jedoch dachte er deswegen nicht zu verzichten. Ja es schien ihm sehr gut und schlau, seinen Abgang aus der Stadt mit der Tat zu verbinden. Darum hielt er eine letzte Übersicht über alle seine Mittel und Aussichten, schloß die Rechnung befriedigt ab und vermißte zur Ausführung seines Unternehmens nichts als ein wenig Mut. Der kam ihm jedoch während einer sehr untröstlichen Unterredung mit der Emma, so daß er im Ärger der Stunde ungesäumt den Weg des Schicksals betrat und beim Aufseher für die nächste Woche kündigte. Es wurde ihm ohne Erfolg zum Dableiben geraten, und da er vom Wandern nicht abzubringen war, versprach ihm der Aufseher ein gutes Zeugnis und eine Empfehlung an mehrere Schweizer Fabriken mitzugeben.

So setzte er denn den Tag seiner Abreise fest, und am Abend zuvor beschloß er den Handstreich bei Johann Löhle auszuführen. Er war auf den Einfall gekommen, sich am Abend in das Haus einschließen zu lassen. So suchte er denn, vor dem Hause gegen den Abend hin lungernd, schon mit seinem Zeugnis und Wanderpaß in der Tasche, einen Eingang und fand ihn in einem Augenblick, da niemand in der Nähe schien, durch das große, weit offen stehende Hoftor. Vom Hof schlich er sich still in das Magazin hinüber, das mit dem Laden in unmittelbarer Verbindung stand, und blieb zwischen Fässern und hohen Kisten verborgen, bis es nachtete und das Leben im Geschäfte erlosch. Gegen acht Uhr war es in dem Raume schon völlig dunkel, eine Stunde später verließ der junge Herr Löhle das Geschäft, schloß hinter sich ab und verschwand nach dem oberen Stockwerk, wo seine Wohnung lag.

Der im finstern Magazin versteckte Dieb wartete zwei ganze Stunden, ehe er den Mut fand, einen Schritt zu tun. Dann wurde es ringsum stille, auch von Straße und Marktplatz her war kaum ein Ton mehr zu hören, und Emil trat vorsichtig im Finstern aus seinem Loche hervor. Die Stille des großen, verödeten Raumes beengte ihm das Herz, und als er an der Türe zum Laden hin den Riegel zurückschob, kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß Einbruch ein schweres Verbrechen sei und schwer bestraft werde. Nun aber, im Laden drinnen, nahm die Fülle der guten und schönen Dinge seine Aufmerksamkeit ganz gefangen. Es wurde ihm feierlich zumute, da er die Laden und Wandfächer voller Waren ansah. Da lagen in einem Glaskasten, nach Sorten geordnet, Hunderte von schönen Zigarren, und oben auf dem Wandgerüste standen davon weitere Kisten voll; Zuckerhüte und Feigenkränze, geräucherte lange Würste und Blechkästen voll Zwieback schauten ihn heiter an, und er konnte nicht widerstehen, fürs erste wenigstens eine Handvoll feiner Zigarren in seine Brusttasche zu stopfen.

Beim schwachen Schein seiner winzigen Laterne suchte er alsdann die Kasse auf, eine einfache Holzschieblade im Ladentisch, die jedoch verschlossen war. Aus Vorsicht, damit es ihn nicht verriete, hatte er keinerlei Werkzeuge mitgebracht und suchte sich nun im Laden selbst Stemmeisen, Zange und Schraubenzieher aus. Damit machte er sorgfältig das Schloß der Lade los und hatte bald ohne Mühe die Kasse eröffnet. Mit Begier schaute er beim schwachen Lichte hinein und sah erregt in kleinen Abteilungen geordnet die Münzen liegen, leise glänzend, Zehner bei Zehner und Pfennig bei Pfennig. Er begann das Ausräumen mit den größeren Münzstücken, deren aber sehr wenige da waren, und hatte bald zu seiner zornigen Enttäuschung überrechnet, daß der ganze Inhalt der erbrochenen Kasse höchstens zwanzig Mark betrage. Mit so wenigem hatte er nicht gerechnet und kam sich nun elend betrogen vor. Sein Zorn war so groß, daß er das Haus hätte anzünden mögen. Da war er nun, so sorgfältig vorbereitet, zum erstenmal in seinem Leben eingebrochen, hatte seine schöne Freiheit riskiert und sich in schwere Gefahr begeben, um die paar elenden Geldstückchen zu erbeuten! Den großen Haufen Kupfergeld ließ er verächtlich liegen, tat das andere in seinen Geldbeutel und hielt nun Umschau, was etwa sonst noch des Mitnehmens wert sein möchte. Da war nun genug des Begehrenswerten, aber lauter große und schwere Sachen, die ohne Hilfe nicht hinwegzubringen waren. Wieder kam er sich betrogen vor und war vor Enttäuschung und Kränkung dem Weinen nahe, als er, ohne mehr etwas dabei zu denken, noch einige Zigarren und von einem großen Vorrat, der auf dem Tische gestapelt lag, eine kleine Handvoll Ansichtskarten zu sich steckte und den Laden verließ. Ängstlich suchte er, ohne Licht, den Weg durch das Magazin in den Hof zurück und erschrak nicht wenig, als das schwere Hoftor seinen Bemühungen nicht gleich nachgeben wollte. Verzweifelt arbeitete er am großen Riegel, der in seiner Steinritze am Boden spannte, und atmete tief auf, als er nachgab und das Tor langsam aufging. Er zog es hinter sich notdürftig zu und schritt nun mit einem merkwürdig kühlen Gefühl von Ernüchterung und Bangigkeit durch die toten nächtigen Gassen zu seiner Schlafstelle. Hier lag er ohne Schlaf drei bange Stunden wartend, bis der Morgen graute. Da sprang er auf, wusch sich die Augen klar und trat mit dem alten kecken Gesicht bei den Hauswirten ein, um Adieu zu sagen. Er bekam einen Kaffee eingeschenkt und viel gute Reisewünsche, nahm sein Köfferlein am Stock über die Schulter und ging zum Bahnhof. Und als im Städtchen der Tag erwachte und der Löhlesche Hausknecht beim Ladenöffnen die Kasse aufgebrochen fand, da fuhr Emil Kolb schon ein paar Meilen weiter durch ein schönes Waldland, das er vom Wagenfenster mit Neugierde betrachtete, denn es war die erste so große Reise seines Lebens.

Im Hause Johann Löhle erregte die Entdeckung des Verbrechens großen Sturm, und auch nachdem der Schaden festgestellt und als recht geringfügig erkannt war, summte die lüsterne Aufregung weiter und verbreitete sich durch die ganze Stadt. Polizei und Landjägerschaft erschien, nahm die übliche Reihe von symbolischen Handlungen vor und stieß die vor dem berühmt gewordenen Hause sich drängende Menschenmenge hin und wider.

Auch der Amtsrichter erschien selber und besah sich die schlimme Sache, aber auch er konnte den Täter nicht finden noch ahnen. Es ward der Hausknecht und der Packer und die ganze Reihe der erschrockenen und dennoch über das Unerhörte heimlich wild entzückten Lehrlinge ins Verhör genommen, es wurde nach allen Käufern gefragt, die gestern den Laden beehrt hatten, doch alles war vergebens. Alsdann setzte der Amtsrichter einen Bericht über das Schrecknis auf samt einem genauen Verzeichnis der gestohlenen Sachen. An Emil Kolb dachte niemand.

Indessen dachte dieser selbst sehr häufig an Lächstetten und das Haus Löhle zurück. Er las mit tiefem Bangen, hernach mit Genugtuung die heimatlichen Zeitungen, deren mehrere sich mit dem Fall beschäftigten, und da er sah, daß auf ihn gar kein Verdacht gefallen sei, freute er sich geschmeichelt seiner Geriebenheit und war trotz der kleinen Beute mit seinem ersten Einbruch ganz zufrieden.

Noch war er auf der Wanderschaft und hielt sich gerade in der Gegend des Bodensees auf, denn er hatte wenig Eile und wollte unterwegs auch etwas sehen. Seine erste Empfehlung lautete nach Winterthur, wo er erst einzutreffen gedachte, wenn sein Geld knapp werden würde.

Behaglich saß er in einem kleinen hübschen Wirtshause bei einer guten Wurst, deren Scheiben er bedachtsam und reichlich mit Senf bestrich, dessen Schärfe er sodann mit einem kühlen guten Bier bekämpfte. Darüber ward ihm wohl und fast wehmütig vor Erinnerung und abgeklärter Seelenruhe, so daß er ohne Groll an seine Emma denken konnte. Es schien ihm nun, sie habe es doch gut mit ihm gemeint, ja sie tat ihm leid und er hätte sie gerne ein wenig versöhnt und getröstet. Je länger er daran kaute, desto mehr tat ihm das Mädel leid, und während er das dritte oder vierte Glas von dem guten Bier bestellte und erwartete, kam er zu dem Entschlusse, ihr einen Gruß zu schreiben.

Vergnügt griff er in die Tasche, wo noch ein kleiner Vorrat von den Löhleschen Zigarren übrig war, und zog das kleine steife Päcklein heraus, worin die Lächstettener Ansichtspostkarten waren. Die Kellnerin lieh ihm einen Bleistift, und während er ihn mit der Zungenspitze befeuchtete, schaute er das Bildchen auf den Karten zum erstenmal genauer an. Es stellte die untere Brücke in Lächstetten vor und war auf eine ganz neue Manier mit glänzenden Farben gedruckt, wie sie die arme Wirklichkeit nicht hat. Befriedigt betrachtete Kolb diese Beute, nahm einen Schluck aus dem Bierglas, das die Kellnerin ihm eben gebracht hatte, und fing zu schreiben an.

Mit Deutlichkeit malte er die Adresse, wobei ihm der Stift abbrach. Doch ließ er sich die Laune dadurch nicht verderben, schnitzte den Stift in aller Ruhe wieder zurecht und schrieb dann unter das schönfarbene Bild: »Gedenke Deiner in der Fremde und bin mit vielen Grüßen Dein getreuer E. K.«

Diese zärtliche Karte bekam die betrübte Emma zwar zu Gesicht, jedoch nicht ohne Verzögerung und nicht aus den Händen des Briefboten, sondern aus denen des Herrn Amtsrichters, der das Mädchen durch die plötzliche Vorladung auf sein Amtszimmer nicht wenig erschreckt hatte.

Es waren nämlich jene Ansichtskarten erst vor ganz wenigen Tagen in den Löhleschen Laden gekommen und von dem ganzen Vorrate waren erst drei oder vier Stück verkauft worden, deren Käufer man hatte feststellen können. Es war daher auf die vom Diebe mitgenommenen Karten die Hoffnung seiner Entdeckung gesetzt worden und die davon unterrichteten Postbeamten hatten die vom Bodensee her eintreffende Postkarte mit dem Bild der unteren Brücke von Lächstetten sofort erkannt und angehalten.

Immerhin gelangte Emil Kolb noch bis Winterthur, so daß seine Gefangennehmung und Überlieferung nicht so einfach und glanzlos verlief, sondern mit den Stempeln und Uniformen zweier Länder als feierliche Auslieferung der Schweiz an das Deutsche Reich als Staatsaktion verlief.

Damit ist die Geschichte Emil Kolbs zu Ende. Seine Einlieferung in Lächstetten verlief wie ein großes Volksfest, wobei der Triumph der Einwohnerschaft über den gefesselt einhergeführten achtzehnjährigen Dieb einer kleinen Ladenkasse alle jenen kleinen Züge zeigte, welche dem Leser solcher Berichte den Verbrecher bemitleidenswert und die Einwohnerschaft verächtlich machen. Sein Prozeß dauerte nicht lange. Ob er nun aus dem Zuchthause, das ihn einstweilen aufgenommen hat, zu längerem Aufenthalt in unsere Welt zurückkehren oder – wie ich glaube – den Rest seines Lebens mit kleinen Pausen vollends in solchen Strafanstalten hinbringen wird, jedenfalls wird seine Geschichte uns wenig mehr zu sagen und zu lehren haben. Denn Emil Kolb war kein Charakter, auch nicht als Verbrecher, sondern war auch als Verbrecher nur eben ein Dilettant, der denn auf unsere Achtung keinen Anspruch hat, unser Mitleid aber eher verdient und braucht als mancher, dessen Unglück weniger in seiner eigenen Seele begründet scheint.

Pater Matthias

Erstes Kapitel

An der Biegung des grünen Flusses, ganz in der Mitte der hügeligen alten Stadt, lag im Vormittagslicht eines sonnigen Spätsommertages das stille Kloster. Von der Stadt durch den hoch ummauerten Garten, vom ebenso großen und stillen Nonnenkloster durch den Fluß getrennt, ruhte der dunkle breite Bau in behaglicher Ehrwürdigkeit am gekrümmten Ufer und schaute mit vielen blinden Fensterscheiben hochmütig in die entartete Zeit. In seinem Rücken an der schattigen Hügelseite stieg die fromme Stadt mit Kirchen, Kapellen, Kollegien und geistlichen Herrenhäusern bergan bis zum hohen Dom; gegenüber aber jenseits des Wassers und des einsam stehenden Schwesterklosters lag helle Sonne auf der steilen Halde, deren lichte Matten und Obsthänge da und dort von goldbraun schimmernden Geröllwällen und Lehmgruben unterbrochen wurden.

An einem offenen Fenster des zweiten Stockwerkes saß lesend der Pater Matthias, ein blondbärtiger Mann im besten Alter, der im Kloster und anderwärts den Ruf eines freundlichen, wohlwollenden und sehr achtbaren Herrn genoß. Es spielte jedoch unter der Oberfläche seines hübschen Gesichtes und ruhigen Blickes ein Schatten von verheimlichter Dunkelheit und Unordnung, den die Brüder, sofern sie ihn wahrnahmen, als einen gelinden Nachklang der tiefen Jugendmelancholie betrachteten, welche vor zwölf Jahren den Pater in dieses stille Kloster getrieben hatte und seit geraumer Zeit immer mehr untergesunken und in liebenswürdige Gemütsruhe verwandelt schien. Aber der Schein trügt, und Pater Matthias selbst war der einzige, der um die verborgenen Ursachen dieses Schattens wußte.

Nach heftigen Stürmen einer leidenschaftlichen Jugend hatte ein Schiffbruch diesen einst glühenden Menschen in das Kloster geführt, wo er Jahre in zerstörender Selbstverleugnung und Schwermut hinbrachte, bis die geduldige Zeit und die ursprüngliche kräftige Gesundheit seiner Natur ihm Vergessen und neuen Lebensmut brachte. Er war ein beliebter Bruder geworden und stand im gesegneten Ruf, er habe eine besondere Gabe, auf Missionsreisen und in frommen Häusern ländlicher Gemeinden die Herzen zu rühren und die Hände zu öffnen, so daß er von solchen Zügen stets mit reichlichen Erträgen an barem Gut und rechtskräftigen Legaten in das beglückte Kloster heimkehrte.

Ohne Zweifel war dieser Ruf wohl erworben, sein Glanz jedoch und der des klingenden Geldes hatte die Väter für einige andere Züge im Bild ihres lieben Bruders blind gemacht. Denn wohl hatte Pater Matthias die Seelenstürme jener dunklen Jugendzeiten überwunden und machte den Eindruck eines ruhig gewordenen, doch vorwiegend frohgesinnten Mannes, dessen Wünsche und Gedanken im Frieden mit seinen Pflichten beisammen wohnten; wirkliche Seelenkenner aber hätten doch wohl sehen müssen, daß die angenehme Bonhommie des Paters nur einen Teil seines inneren Zustandes wirklich ausdrückte, über manchen verschwiegenen Unebenheiten aber nur als eine hübsche Maske lag. Der Pater Matthias war nicht ein Vollkommener, in dessen Brust alle Schlacken des ehemals untergegangen waren; vielmehr hatte mit der Gesundung seiner Seele auch der alte, eingeborne Kern dieses Menschen wieder eine Genesung begangen und schaute, wenn auch aus veränderten und beherrschten Augen, längst wieder mit heller Begierde nach dem funkelnden Leben der Welt.

Um es ohne Umschweife zu sagen: Der Pater hatte schon mehrmals die Klostergelübde gebrochen. Seiner reinlichen Natur widerstrebte es zwar, unterm Mantel der Frömmigkeit Weltlust zu suchen, und er hatte seine Kutte nie befleckt. Wohl aber hatte er sie, wovon kein Mensch etwas wußte, schon mehrmals beiseite getan, um sie säuberlich zu erhalten und nach einem Ausflug ins Weltliche wieder anzulegen.

Pater Matthias hatte ein gefährliches Geheimnis. Er besaß, an sicherem Orte verborgen, eine angenehme, ja elegante Bürgerkleidung samt Wäsche, Hut und Schmuck, und wenn er auch neunundneunzig von hunderten seiner Tage durchaus ehrbar in Kutte und Pflichtübung hinbrachte, so weilten seine heimlichen Gedanken doch allzu oft bei jenen seltenen, geheimnisvollen Tagen, die er da und dort als Weltmann unter Weltmenschen verlebt hatte.

Dieses Doppelleben, dessen Ironie auszukosten des Paters Gemüt viel zu redlich war, lastete als ungebeichtetes Verbrechen auf seiner Seele. Wäre er ein schlechter, uneifriger und unbeliebter Pater gewesen, so hätte er längst den Mut gefunden, sich des Ordenskleides unwürdig zu bekennen und eine ehrliche Freiheit zu gewinnen. So aber sah er sich geachtet und geliebt und tat seinem Orden die trefflichsten Dienste, neben welchen ihm sogar zuweilen seine Verfehlungen beinahe verzeihlich erscheinen wollten. Ihm war wohl und frei ums Herz, wenn er in ehrlicher Arbeit für die Kirche und seinen Orden wirken konnte. Wohl war ihm auch, wenn er auf verbotenen Wegen den Begierden seiner Natur Genüge tun und lang unterdrückte Wünsche ihres Stachels berauben konnte. In allen müßigen Zwischenzeiten jedoch erschien in seinem guten Blick der unliebliche Schatten, da schwankte seine nach Sicherheit begehrende Seele zwischen Reue und Trotz, Mut und Angst hin und wider, und bald beneidete er jeden Mitbruder um seine Unschuld, bald jeden Städter draußen um seine Freiheit.

So saß er auch jetzt, vom Lesen nicht erfüllt, an seinem Fenster und sah häufig vom Buche weg ins Freie hinaus. Indem er mit müßigem Auge den lichten frohen Hügelhang gegenüber betrachtete, sah er einen merkwürdigen Menschenzug dort drüben erscheinen, der von der Höhenstraße her auf einem Fußpfad näher kam.

Es waren vier Männer, von denen der eine fast elegant, die anderen schäbig und kümmerlich gekleidet waren, ein Landjäger in glitzernder Uniform ging ihnen voraus und zwei andere Landjäger folgten hinten nach. Der neugierig zuschauende Pater erkannte bald, daß es Verurteilte waren, welche vom Bahnhofe her auf diesem nächsten Wege dem Kreisgefängnis zugeführt wurden, wie er es öfter gesehen hatte.

Erfreut durch die Ablenkung, beschaute er sich die betrübte Gruppe, jedoch nicht ohne in seinem heimlichen Mißmut unzufriedene Betrachtungen daran zu knüpfen. Er empfand zwar wohl ein Mitleid mit diesen armen Teufeln, von welchen namentlich einer den Kopf hängen ließ und jeden Schritt voll Widerstrebens tat; doch meinte er, es ginge ihnen eigentlich nicht gar so übel wie ihre augenblickliche Lage andeute.

»Jeder von diesen Gefangenen«, dachte er, »hat als ersehntes Ziel den Tag vor Augen, da er entlassen und wieder frei wird. Ich aber habe keinen solchen Tag vor mir, nicht nah noch ferne, sondern eine endlose bequeme Gefangenschaft, nur durch seltene gestohlene Stunden einer eingebildeten Freiheit unterbrochen. Der eine oder andere von den armen Kerlen da drüben mag mich jetzt hier sitzen sehen und mich herzlich beneiden. Sobald sie aber wieder frei sind und ins Leben zurückkehren, hat der Neid ein Ende und sie halten mich lediglich für einen armen Tropf, der wohlgenährt hinterm zierlichen Gitter sitzt.«

Während er noch, in den Anblick der Dahingeführten und Soldaten verloren, solchen Gedanken nachhing, trat ein Bruder bei ihm ein und meldete, er werde vom Guardian in dessen Amtszimmer erwartet. Freundlich kam der gewohnte Gruß und Dank von seinen Lippen, lächelnd erhob er sich, tat das Buch an seinen Ort, wischte über den braunen Ärmel seiner Kutte, auf dem ein Lichtreflex vom Wasser herauf in rostfarbenen Flecken tanzte, und ging sogleich mit seinem unfehlbar anmutig-würdigen Schritt über die langen kühlen Korridore zum Guardian hinüber.

Dieser empfing ihn mit gemessener Herzlichkeit, bot ihm einen Stuhl an und begann ein Gespräch über die schlimme Zeit, über das scheinbare Abnehmen des Gottesreiches auf Erden und die zunehmende Teuerung. Pater Matthias, der dieses Gespräch seit langem kannte, gab ernsthaft die erwarteten Antworten und Einwürfe von sich und sah mit froher Erregung dem Endziel entgegen, welchem sich denn auch der würdige Herr ohne Eile näherte. Es sei, so schloß er seufzend, eine Ausfahrt ins Land sehr notwendig, auf welcher Matthias den Glauben treuer Seelen ermuntern, den Wankelmut ungetreuer vermahnen solle und von welcher er, wie man hoffe, eine erfreuliche Beute von Liebesgaben heimbringen werde. Der Zeitpunkt sei nämlich ungewöhnlich günstig, da ja soeben in einem fernen südlichen Lande bei Anlaß einer politischen Revolution Kirchen und Klöster mörderlich heimgesucht worden, wovon alle Zeitungen meldeten. Und er gab dem Pater eine sorgfältige Auswahl von teils schrecklichen, teils rührenden Einzelheiten aus diesen neuesten Martyrien der kämpfenden Kirche.

Dankend zog sich der erfreute Pater zurück, schrieb Notizen in sein kleines Taschenbüchlein, überdachte mit geschlossenen Augen seine Aufgabe und fand eine glückliche Wendung und Lösung um die andere, ging zur gewohnten Stunde munter zu Tische und brachte alsdann den Nachmittag mit den vielen kleinen Vorbereitungen zur Reise hin. Sein unscheinbares Bündel war bald beisammen; weit mehr Zeit und Sorgfalt erforderten die Anmeldungen in Pfarrhäusern und bei treuen gastfreien Anhängern, deren er manche wußte. Gegen Abend trug er eine Handvoll Briefe zur Post und hatte dann noch eine ganze Weile auf dem Telegraphenamt zu tun. Schließlich legte er noch einen tüchtigen Taschenvorrat von kleinen Traktaten, Flugblättern und frommen Bildchen bereit und schlief danach fest und friedevoll als ein Mann, der wohlgerüstet einer ehrenvollen Arbeit entgegengeht.

Zweites Kapitel

Am Morgen gab es, gerade vor seiner Abreise, noch eine kleine unerfreuliche Szene. Es lebte im Kloster ein junger Laienbruder von geringem Verstand, der früher an Epilepsie gelitten hatte, aber seiner zutraulichen Unschuld und rührenden Dienstwilligkeit wegen von allen im Hause geliebt wurde. Dieser einfältige Bursche begleitete den Pater Matthias zur Eisenbahn, seine kleine Reisetasche tragend. Schon unterwegs zeigte er ein etwas erregtes und gestörtes Wesen, auf dem Bahnhofe aber zog er plötzlich mit flehenden Mienen den reisefertigen Pater in eine menschenleere Ecke und bat ihn mit Tränen in den Augen, er möge doch um Gotteswillen von dieser Reise abstehen, deren unheilvollen Ausgang ihm eine sichere Ahnung vorausverkünde.

»Ich weiß, Ihr kommet nicht wieder!« rief er weinend mit verzerrtem Gesicht. »Ach ich weiß gewiß, Ihr werdet nimmer wiederkommen!«

Der gute Matthias hatte alle Mühe, dem Trostlosen, dessen Zuneigung er kannte, zuzureden; er mußte sich am Ende beinahe mit Gewalt losreißen und sprang in den Wagen, als der Zug schon die Räder zu drehen begann. Und im Wegfahren sah er von draußen das angstvolle Gesicht des Halbklugen mit Wehmut und Sorge auf sich gerichtet. Der unscheinbare Mensch in seiner schäbigen und verflickten Kutte winkte ihm noch lange nach, Abschied nehmend und beschwörend, und es ging dem Abreisenden noch eine Weile ein leiser kühler Schauder nach.

Bald indessen überkam ihn die hintangehaltene Freude am Reisen, das er über alles liebte, so daß er die peinliche Szene rasch vergaß und mit zufriedenem Blick und gespannten Seelenkräften den Abenteuern und Siegen seines Beutezuges entgegenfuhr. Die hügelige und waldreiche Landschaft leuchtete ahnungsvoll einem glänzenden Tag entgegen, schon von ersten herbstlichen Feuern überflogen, und der reisende Pater ließ bald das Brevier wie das kleine wohlgerüstete Notizbuch ruhen und schaute in wohliger Erwartung durchs offne Wagenfenster in den siegreichen Tag, der über Wälder hinweg und aus noch nebelverschleierten Tälern emporwuchs und Kraft gewann, um bald in Blau und Goldglanz makellos zu erstehen. Seine Gedanken gingen elastisch zwischen diesem Reisevergnügen und den ihm bevorstehenden Aufgaben hin und wider. Wie wollte er die fruchtbringende Schönheit dieser Erntetage hinmalen, und den nahen sicheren Ertrag an Obst und Wein, und wie würde sich von diesem paradiesischen Grunde das Entsetzliche abheben, das er von den heimgesuchten Gläubigen in dem fernen gottlosen Lande zu berichten hatte!

Die zwei oder drei Stunden der Eisenbahnfahrt vergingen schnell. An dem bescheidenen Bahnhofe, an welchem Pater Matthias ausstieg und welcher einsam neben einem kleinen Gehölz im freien Felde lag, erwartete ihn ein hübscher Einspänner, dessen Besitzer den geistlichen Gast mit Ehrerbietung begrüßte. Dieser gab leutselig Antwort, stieg vergnügt in das bequeme Gefährt und fuhr sogleich an Ackerland und schöner Weide vorbei dem stattlichen Dorfe entgegen, wo seine Tätigkeit beginnen sollte und das ihn bald einladend und festlich anlachte, zwischen Weinbergen und Gärten gelegen. Der fröhliche Ankommende betrachtete das hübsche gastliche Dorf mit Wohlwollen. Da wuchs Korn und Rübe, gedieh Wein und Obst, stand Kartoffel und Kohl in Fülle, da war überall Wohlsein und feiste Gedeihlichkeit zu spüren; wie sollte nicht von diesem Born des Überflusses ein voller Opferbecher auch dem anklopfenden Gaste zugut kommen?

Der Pfarrherr empfing ihn und bot ihm Quartier im Pfarrhause an, teilte ihm auch mit, daß er schon auf den heutigen Abend des Paters Gastpredigt in der Dorfkirche angekündigt habe und daß, bei dem Ruf des Herrn Paters, ein bedeutender Zulauf auch aus dem Filialdorfe zu erwarten sei. Der Gast nahm die Schmeichelei mit Liebenswürdigkeit auf und gab sich Mühe, den Kollegen mit Höflichkeit einzuspinnen, da er die Neigung kleiner Landpfarrer wohl kannte, auf wortgewandte und erfolgreiche Gastspieler ihrer Kanzeln eifersüchtig zu werden.

Hinwieder hielt der Geistliche mit einem recht üppigen Mittagessen im Hinterhalt, das alsbald nach der Ankunft im Pfarrhause aufgetragen wurde. Und auch hier wußte Matthias die Mittelstraße zwischen Pflicht und Neigung zu finden, indem er unter schmeichelnder Anerkennung hiesiger Küchenkünste dem Dargebotenen mit gesunder Begierde zusprach, ohne doch – zumal beim Weine – ein ihm bekömmliches Maß zu überschreiten und seiner Aufgabe zu vergessen. Gestärkt und fröhlich konnte er schon nach einer ganz kurzen Ruhepause dem Gastgeber mitteilen, er fühle sich nun ganz in der Stimmung, seine Arbeit im Weinberge des Herrn zu beginnen. Hatte also der Wirt etwa den schlimmen Plan gehabt, unseren Pater durch die so reichliche Bewirtung lahm zu legen, so war er ihm völlig mißlungen.

Dafür hatte nun allerdings der Pfarrer dem Gast eine Arbeit eingefädelt, welche an Schwierigkeit und Delikatesse nichts zu wünschen ließ. Seit kurzem lebte im Dorf, als am Heimatorte ihres Mannes, in einem neu erbauten Landhause die Witwe eines reichen Bierbrauers, die wegen ihres skeptischen Verstandes und ihrer anmutig gewandten Zunge nicht minder bekannt und mit Scheu geachtet war als wegen ihres Geldes. Diese Frau Franziska Tanner stand zuoberst auf der Liste derer, deren spezielle Heimsuchung der Pfarrer dem Pater Matthias ans Herz legte.

So erschien, auf das zu Gewärtigende vom geistlichen Kollegen wenig vorbereitet, der satte Pater zu guter Nachmittagsstunde im Landhause und begehrte mit der Frau Tanner zu sprechen. Eine nette Magd führte ihn in das Besuchszimmer, wo er eine längere Weile warten mußte, was ihn als eine ungewohnte Respektlosigkeit verwirrte und warnte. Alsdann trat zu seinem Erstaunen nicht eine ländliche Person und schwarzgekleidete Witwe, sondern eine grauseidene damenhafte Erscheinung in das Zimmer, die ihn gelassen willkommen hieß und nach seinem Begehren fragte.

Und nun versuchte er der Reihe nach alle Register, und jedes versagte, und Schlag um Schlag ging ins Leere, während die geschickte Frau lächelnd entglitt und von Satz zu Satz neue Angeln auslegte. War er weihevoll, so begann sie zu scherzen; neigte er zu geistlichen Bedrohungen, so ließ sie harmlos ihren Reichtum und ihre Lust zu mildtätigen Werken glänzen, so daß er aufs neue Feuer fing und ins Disputieren kam, denn sie ließ ihn deutlich merken, sie kenne seine Endabsicht genau und sei auch bereit, Geld zu geben, wenn es ihm nur gelänge, ihr die tatsächliche Nützlichkeit einer solchen Gabe zu beweisen. War es ihr kaum gelungen, den gar nicht ungeschickten Herrn in einen leichten geselligen Weltton zu verstricken, so redete sie ihn plötzlich wieder devot mit Hochwürden an, und begann er sie wieder geistlicherweise als Tochter zu ermahnen, so war sie unversehens eine kühle Dame.

Trotz dieser Maskenspiele und Redekämpfe hatten die beiden ein Gefallen aneinander. Sie schätzte an dem hübschen Pater die männliche Aufmerksamkeit, mit der er ihrem Spiel zu folgen und sie im Besiegen zu schonen suchte, und er hatte mitten im Schweiß der Bedrängnis eine heimliche natürliche Freude an dem Schauspiel weiblich beweglicher Koketterie, so daß es trotz schwieriger Augenblicke zu einer ganz guten Unterhaltung kam und der lange Besuch in gutem Frieden verlief, wobei unausgesprochenerweise freilich der moralische Sieg auf der Seite der Dame blieb. Sie übergab zwar dem Pater am Ende eine Banknote und sprach ihm und seinem Orden ihre Anerkennung aus, doch geschah es in ganz gesellschaftlichen Formen und beinahe mit einem Hauch von Ironie, und auch sein Dank und Abschied fiel so diskret und weltmännisch aus, daß er sogar den üblichen feierlichen Segensspruch vergaß.

Die weiteren Besuche im Dorf wurden etwas abgekürzt und verliefen nach der Regel. Pater Matthias zog sich noch eine halbe Stunde in seine Stube zurück, aus welcher er wohlbereitet und frisch zur Abendpredigt wieder hervorging.

Diese Predigt gelang vortrefflich. Zwischen den im entlegenen Süden geplünderten Altären und Klöstern und dem Bedürfnis des eigenen Klosters nach einigen Geldern entstand ganz zauberhaft ein inniger Zusammenhang, der weniger auf kühlen logischen Folgerungen als auf einer mit Kunst erzeugten und gesteigerten Stimmung des Mitleids und unbestimmter frommer Erregung beruhte. Die Frauen weinten und die Opferbüchsen klangen, und der Pfarrer sah mit Erstaunen die Frau Tanner unter den Andächtigen sitzen und dem Vortrage zwar ohne Aufregung, doch mit freundlichster Aufmerksamkeit lauschen.

Damit hatte der feierliche Beutezug des beliebten Paters seinen glänzenden Anfang genommen. Auf seinem Angesicht glänzte Pflichteifer und herzliche Befriedigung, in seiner verborgenen Brusttasche ruhte und wuchs der kleine Schatz, in einige gefällige Banknoten und Goldstücke umgewechselt. Daß inzwischen die größeren Zeitungen draußen in der Welt berichteten, es stehe um die bei jener Revolution geschädigten Klöster bei weitem nicht so übel, als es im ersten Wirrwarr geschienen habe, das wußte der Pater nicht und hätte sich dadurch wohl auch wenig stören lassen.

Sechs, sieben Gemeinden hatten die Freude, ihn bei sich zu sehen, und die ganze Reise verlief aufs erfreulichste. Nun, indem er sich schon gegen die protestantische Nachbargegend hin dem letzten kleinen Weiler näherte, den zu besuchen ihm noch oblag, nun dachte er mit Stolz und Wehmut an den Glanz dieser Triumphtage und daran, daß nun für eine ungewisse Weile Klosterstille und mißmutige Langeweile den genußreichen Erregungen seiner Fahrt nachfolgen würden.

Diese Zeiten waren dem Pater stets verhaßt und gefährlich gewesen, da das Geräusch und die Leidenschaft einer frohen außerordentlichen Tätigkeit sich legte und hinter den prächtigen Kulissen der klanglose Alltag hervorschaute. Die Schlacht war geschlagen, der Lohn im Beutel, nun blieb nichts Lockendes mehr als die kurze Freude der Ablieferung und Anerkennung daheim, und diese Freude war auch schon keine richtige mehr.

Hingegen war von hier der Ort nicht weit entfernt, wo er sein merkwürdiges Geheimnis verwahrte, und je mehr die Feststimmung in ihm verglühte und je näher die Heimkehr bevorstand, desto heftiger ward seine Begierde, die Gelegenheit zu nützen und einen wilden frohen Tag ohne Kutte zu genießen. Noch gestern hätte er davon nichts wissen mögen, allein so ging es jedesmal und er war es schon müde, dagegen anzukämpfen: am Schluß einer solchen Reise stand immer der Versucher plötzlich da, und fast immer war er ihm unterlegen.

So ging es auch dieses Mal. Der kleine Weiler wurde noch besucht und gewissenhaft erledigt, dann wanderte Pater Matthias zu Fuße nach dem nächsten Bahnhof, ließ den nach seiner Heimat führenden Zug trotzig davonfahren und kaufte sich ein Billett nach der nächsten größeren Stadt, welche in protestantischem Lande lag und für ihn sicher war. In der Hand aber trug er einen kleinen hübschen Reisekoffer, den gestern noch niemand bei ihm gesehen hatte.

Drittes Kapitel

Am Bahnhof eines lebhaften Vorortes, wo beständig viele Züge aus- und einliefen, stieg Pater Matthias aus, den Koffer in der Hand, und bewegte sich ruhig, von niemandem beachtet, einem kleinen hölzernen Gebäude zu, auf dessen weißem Schilde die Inschrift »Für Männer« stand. An diesem Ort verhielt er sich wohl eine Stunde, bis gerade wieder mehrere ankommende Züge ein Gewühl von Menschen ergossen, und da er in diesem Augenblicke wieder hervortrat, trug er wohl noch denselben Koffer bei sich, war aber nicht der Pater Matthias mehr, sondern ein angenehmer, blühender Herr in guter, wennschon nicht ganz modischer Kleidung, der sein Gepäck am Schalter in Verwahrung gab und alsdann ruhig der Stadt entgegenschlenderte, wo er bald auf der Plattform eines Trambahnwagens, bald vor einem Schaufenster zu sehen war und endlich im Straßengetöse sich verlor.

Mit diesem vielfach zusammengesetzten, ohne Pause schwingenden Getöne, mit dem Glanz der Geschäfte, dem durchsonnten Staub der Straßen atmete Herr Matthias die berauschende Vielfältigkeit und liebe Farbigkeit der törichten Welt, für welche seine wenig verdorbenen Sinne empfänglich waren, und gab sich jedem frohen Eindruck willig hin. Es schien ihm herrlich, die eleganten Damen in Federhüten spazieren oder in feinen Equipagen fahren zu sehen, und köstlich, als Frühstück in einem schönen Laden von marmornem Tische eine Tasse Schokolade und einen zarten, süßen französischen Likör zu nehmen. Und daraufhin, innerlich erwärmt und erheitert, hin und wider zu gehen, sich an Plakatsäulen über die für den Abend versprochenen Unterhaltungen zu unterrichten und darüber nachzudenken, wo es nachher sich am besten zu Mittag werde speisen lassen; das tat ihm in allen Fasern wohl. Allen diesen größeren und kleineren Genüssen ging er ohne Eile in dankbarer Kindlichkeit nach, und wer ihn dabei beobachtet hätte, wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dieser schlichte, sympathische Herr könnte verbotene Wege gehen.

Ein treffliches Mittagessen zog Matthias beim schwarzen Kaffee und einer Zigarre weit in den Nachmittag hinein. Er saß nahe an einer der gewaltigen bis zum Fußboden reichenden Fensterscheiben des Restaurants und sah durch den duftenden Rauch seiner Zigarre mit Behagen auf die belebte Straße hinaus. Vom Essen und Sitzen war er ein wenig schwer geworden und schaute gleichmütig auf den Strom der Vorübergehenden. Nur einmal reckte er sich plötzlich auf, leicht errötend, und blickte aufmerksam einer schlanken Frauengestalt nach, in welcher er einen Augenblick lang die Frau Tanner zu erkennen glaubte. Er sah jedoch, daß er sich getäuscht habe, fühlte eine leise Ernüchterung und erhob sich, um weiter zu gehen.

Unschlüssig stand er eine Stunde später vor den Reklametafeln eines kinematographischen Theaters und las die großgedruckten Titel der versprochenen Darbietungen. Dabei hielt er eine brennende Zigarre in der Hand und wurde plötzlich im Lesen durch einen jungen Mann unterbrochen, der ihn mit Höflichkeit um Feuer für seine Zigarette bat.

Bereitwillig erfüllte er die kleine Bitte, sah dabei den Fremden an und sagte: »Mir scheint, ich habe Sie schon gesehen. Waren Sie nicht heute früh im Café Royal?«

Der Fremde bejahte, dankte freundlich, griff an den Hut und wollte weiter gehen, besann sich aber plötzlich anders und sagte lächelnd: »Ich glaube, wir sind beide fremd hier. Ich bin auf der Reise und suche hier nichts als ein paar Stunden gute Unterhaltung und vielleicht ein bißchen holde Weiblichkeit für den Abend. Wenn es Ihnen nicht zuwider ist, könnten wir ja zusammen bleiben.«

Das gefiel Herrn Matthias durchaus, und die beiden Müßiggänger flanierten nun nebeneinander weiter, wobei der Fremde sich dem Älteren stets höflich zur Linken hielt. Er fragte ohne Zudringlichkeit ein wenig nach Herkunft und Absichten des neuen Bekannten, und da er merkte, daß Matthias hierüber nur undeutlich und beinahe etwas befangen sich äußerte, ließ er die Frage lässig fallen und begann ein munteres Geplauder, das Herrn Matthias sehr wohl gefiel. Der junge Herr Breitinger schien viel gereist zu sein und die Kunst wohl zu verstehen, wie man in fremden Städten sich einen vergnügten Tag macht. Auch am hiesigen Ort war er schon je und je gewesen und erinnerte sich einiger Vergnügungslokale, wo er damals recht nette Gesellschaft gefunden und köstliche Stunden verlebt habe. So ergab es sich bald von selbst, daß er mit des Herrn Matthias dankbarer Einwilligung die Führung übernahm. Nur einen heiklen Punkt erlaubte sich Herr Breitinger im voraus zu berühren. Er bat, es ihm nicht zu verübeln, wenn er darauf bestehe, daß jeder von ihnen beiden überall seine Zeche sofort aus dem eigenen Beutel bezahle. Denn, so fügte er entschuldigend bei, er sei zwar kein Rechner und Knicker, habe jedoch in Geldsachen gern reinliche Ordnung und sei zudem nicht gesonnen, seinem heutigen Vergnügen mehr als ein paar Goldfüchse zu opfern, und wenn etwa sein Begleiter großartigere Gewohnheiten habe, so würde es besser sein, sich in Frieden zu trennen, statt etwaige Enttäuschungen und Ärgerlichkeiten zu wagen.

Auch dieser Freimut war ganz nach Matthias' Geschmack. Er erklärte, auf einen goldenen Zwanziger hin oder her komme es ihm allerdings nicht an, doch sei er gerne einverstanden und im voraus überzeugt, daß sie beide aufs beste miteinander auskommen würden.

Darüber hatte Breitinger, wie er sagte, einen kleinen Durst bekommen, und ohnehin war es jetzt nach seiner Meinung Zeit, die angenehme Bekanntschaft durch Anstoßen mit einem Glase Wein zu feiern. Er führte den Freund durch unbekannte Gassen nach einer kleinen, abseits gelegenen Gastwirtschaft, wo man sicher sein dürfe, einen raren Tropfen zu bekommen, und sie traten durch eine klirrende Glastüre in die enge niedere Stube, in der sie die einzigen Gäste waren. Ein etwas unfreundlicher Wirt brachte auf Breitingers Verlangen eine Flasche herbei, die er öffnete, und woraus er den Gästen einen hellgelben kühlen, leicht prickelnden Wein einschenkte, mit welchem sie denn anstießen. Darauf zog sich der Wirt zurück, und bald erschien statt seiner ein großes hübsches Mädchen, das die Herren lächelnd begrüßte und, da eben das erste Glas geleert war, das Einschenken übernahm.

»Prosit!« sagte Breitinger zu Matthias, und indem er sich zu dem Mädchen wandte: »Prosit, schönes Fräulein!«

Sie lachte und hielt scherzweise dem Herrn ein Salzfaß zum Anstoßen hin.

»Ach, Sie haben ja nichts zum Anstoßen,« rief Breitinger und holte selbst von der Kredenz ein Glas für sie. »Kommen Sie, Fräulein, und leisten Sie uns ein bißchen Gesellschaft!«

Damit schenkte er ihr Glas voll und hieß sie, die sich nicht sträubte, zwischen ihm und seinem Bekannten sitzen. Diese zwanglose Leichtigkeit der Anknüpfung machte Herrn Matthias Eindruck. Er stieß nun auch seinerseits mit dem Mädchen an und rückte seinen Stuhl dem ihren nahe. Es war indessen in dem unfrohen Raume schon dunkel geworden, die Kellnerin zündete ein paar Gasflammen an und bemerkte nun, daß kein Wein mehr in der Flasche sei.

»Die zweite Bouteille geht auf meine Kosten!« rief Herr Breitinger. Aber der andere wollte das nicht dulden, und es gab einen kleinen Wortkrieg, bis er sich unter der Bedingung fügte, daß nachher auf seine Rechnung noch eine Flasche Champagner getrunken werde. Fräulein Meta hatte inzwischen die neue Flasche herbeigebracht und ihren Platz wieder eingenommen, und während der Jüngere mit dem Korkziehen beschäftigt war, streichelte sie unterm Tische leise die Hand des Herrn Matthias, der alsbald mit Feuer auf diese Eroberung einging und sie weiter verfolgte, indem er seinen Fuß auf ihren setzte. Nun zog sie den Fuß zwar zurück, liebkoste dafür aber wieder seine Hand, und so blieben sie in stillem Einverständnis triumphierend beieinander sitzen. Matthias ward jetzt gesprächig, er redete vom Wein und erzählte von Zechgelagen, die er früher mitgemacht habe, stieß immer wieder mit den beiden an, und der erhitzende falsche Wein machte seine Augen glänzen.

Als eine Weile später Fräulein Meta meinte, sie habe in der Nachbarschaft eine sehr nette und lustige Freundin, da hatte keiner von den Kavalieren etwas dagegen, daß sie diese einlade, den Abend mitzufeiern. Eine alte Frau, die inzwischen den Wirt abgelöst hatte, wurde mit dem Auftrag weggeschickt. Als nun Herr Breitinger sich für Minuten zurückzog, nahm Matthias die hübsche Meta an sich und küßte sie heftig auf den Mund. Sie ließ es still und lächelnd geschehen, da er aber stürmisch ward und mehr begehrte, leuchtete sie ihn aus feurigen Augen an und wehrte: »Später, du, später!«

Die klappernde Glastüre mehr als ihre beschwichtigende Gebärde hielt ihn zurück, und es kam mit der Alten nicht nur die erwartete Freundin herein, sondern auch noch eine zweite mit ihrem Bräutigam, einem halbeleganten Jüngling mit steifem Hütchen und glatt in der Mitte gescheiteltem schwarzem Haar, dessen Mund unter einem gezwickelten Schnauzbärtchen hervor hochmütig und gewalttätig ausschaute. Zugleich trat auch Breitinger wieder ein, es entstand eine Begrüßung und man rückte zwei Tische aneinander, um gemeinsam zu Abend zu essen. Matthias sollte bestellen und war für einen Fisch mit nachfolgendem Rindsbraten, dazu kam auf Metas Vorschlag noch eine Platte mit Kaviar, Lachs und Sardinen, sowie auf den Wunsch ihrer Freundin eine Punschtorte. Der Bräutigam aber erklärte mit merkwürdig gereizter Verächtlichkeit, ohne Geflügel tauge ein Abendessen nichts, und wenn auf das Rindfleisch nicht ein Fasanenbraten folge, so esse er schon lieber gar nicht mit. Meta wollte ihm zureden, aber Herr Matthias, der inzwischen zu einem Burgunderwein übergegangen war, rief munter dazwischen: »Ach was, man soll doch den Fasan bestellen! Die Herrschaften sind doch hoffentlich alle meine Gäste?«

Das wurde angenommen, die Alte verschwand mit dem Speisezettel, der Wirt tauchte auch wieder auf. Meta hatte sich nun ganz an Matthias angeschlossen, ihre Freundin saß gegenüber neben Herrn Breitinger. Das Essen, das nicht im Hause gekocht, sondern über die Straße herbeigeholt schien, wurde rasch aufgetragen und war gut. Beim Nachtisch machte Fräulein Meta ihren Verehrer mit einem neuen Genusse bekannt: er bekam in einem großen fußlosen Glase ein delikates Getränk dargereicht, das sie ihm eigens zubereitet hatte und das, wie sie erzählte, aus Champagner, Sherry und Kognak gemischt war. Es schmeckte gut, nur etwas schwer und süß, und sie nippte jedesmal selber am Glase, wenn sie ihn zum Trinken einlud. Matthias wollte nun auch Herrn Breitinger ein solches Glas anbieten. Der lehnte jedoch ab, da er das Süße nicht liebe, auch habe dies Getränk den leidigen Nachteil, daß man darauf hin nur noch Champagner genießen könne.

»Hoho, das ist doch kein Nachteil!« rief Matthias überlaut. »Ihr Leute, Champagner her!«

Er brach in ein heftiges Gelächter aus, wobei ihm die Augen voll Wasser liefen, und war von diesem Augenblicke an ein hoffnungslos betrunkener Mann, der beständig ohne Ursache lachte, Wein über den Tisch vergoß und rechenschaftslos auf einem breiten Strome von Rausch und Wohlleben dahintrieb. Nur zuweilen besann er sich für eine Minute, blickte verwundert in die Lustbarkeit und griff nach Metas Hand, die er küßte und streichelte, um sie bald wieder loszulassen und zu vergessen. Einmal erhob er sich, um einen Trinkspruch auszubringen, doch fiel ihm das schwankende Glas aus der Hand und zersprang auf dem überschwemmten Tische, worüber er wieder ein herzliches, doch schon ermüdetes Gelächter begann. Meta zog ihn in seinen Stuhl zurück, und Breitinger bot ihm mit ernsthafter Zurede ein Glas Kirschwasser an, das er leerte und dessen scharfer brennender Geschmack das Letzte war, was ihm von diesem Abend dunkel im Gedächtnis blieb.

Viertes Kapitel

Nach einem todschweren Schlaf erwachte Herr Matthias blinzelnd zu einem schauderhaften Gefühl von Leere, Zerschlagenheit, Schmerz und Ekel. Kopfweh und Schwindel hielten ihn nieder, die Augen brannten trocken und entzündet, an der Hand schmerzte ihn ein breiter verkrusteter Riß, an dessen Herkunft er keine Erinnerung hatte. Nur langsam erholte sich sein Bewußtsein, da richtete er sich plötzlich auf, sah an sich nieder und suchte Stützen für sein Gedächtnis zu gewinnen. Er lag, nur halb entkleidet, in einem fremden Zimmer und Bett, und da er erschreckend aufsprang und zum Fenster trat, blickte er in eine morgendliche unbekannte Straße hinab. Stöhnend goß er ein Waschbecken voll und badete das entstellte heiße Gesicht, und während er mit dem Handtuch darüber fuhr, schlug ihm plötzlich ein böser Argwohn wie ein Blitz ins Gehirn. Hastig stürzte er sich auf seinen Rock, der am Boden lag, riß ihn an sich, betastete und wendete ihn, griff in alle Taschen und ließ ihn erstarrt aus zitternden Händen sinken. Er war beraubt. Die schwarzlederne Brustmappe war fort.

Er besann sich, er wußte alles plötzlich wieder. Es waren über tausend Kronen in Papier und Gold gewesen.

Still legte er sich wieder auf das Bett und blieb wohl eine halbe Stunde wie ein Erschlagener liegen. Weindunst und Schlaftrunkenheit waren völlig verflogen, auch die Schmerzen spürte er nicht mehr, nur eine große Müdigkeit und Trauer. Langsam erhob er sich wieder, wusch sich mit Sorgfalt, klopfte und schabte seine beschmutzten Kleider nach Möglichkeit zurecht, zog sich an und schaute in den Spiegel, wo ein gedunsenes trauriges Gesicht ihm fremd entgegensah. Dann faßte er alle Kraft mit einem heftigen Entschluß zusammen und überdachte seine Lage. Und dann tat er ruhig und bitter das Wenige, was ihm zu tun übrigblieb.

Vor allem durchsuchte er seine ganze Kleidung, auch Bett und Fußboden genau. Der Rock war leer, im Beinkleid jedoch fand sich ein zerknitterter Schein von fünfzig Kronen und zehn Kronen in Gold. Sonst war kein Geld mehr da.

Nun zog er die Glocke und fragte den erscheinenden Kellner, um welche Zeit er heute Nacht angekommen sei. Der junge Mensch sah ihm lächelnd ins Gesicht und meinte, wenn der Herr selber sich nimmer erinnern könne, so werde einzig der Portier Bescheid wissen.

Und er ließ den Portier kommen, gab ihm das Goldstück und fragte ihn aus. Wann er ins Haus gebracht worden sei? – Gegen zwölf Uhr. – Ob er bewußtlos gewesen? – Nein, nur anscheinend bezecht. – Wer ihn hergebracht habe? – Zwei junge Männer. Sie hätten erzählt, der Herr habe sich bei einem Gastmahl übernommen und begehre hier zu schlafen. Er habe ihn zuerst nicht aufnehmen wollen, sei jedoch durch ein schönes Trinkgeld doch dazu bestimmt worden. – Ob der Portier die beiden Männer wieder erkennen würde? – Ja, das heißt wohl nur den einen, den mit dem steifen Hut.

Matthias entließ den Mann und bestellte seine Rechnung samt einer Tasse Kaffee. Den trank er heiß hinunter, bezahlte und ging weg.

Er kannte den Teil der Stadt, in dem sein Gasthaus lag, nicht, und ob er wohl nach längerem Gehen bekannte und halbbekannte Straßen traf, so gelang es ihm doch in mehreren Stunden angestrengter Wanderung nicht, jenes kleine Wirtshaus wieder zu finden, wo das Gestrige passiert war.

Doch hatte er sich ohnehin kaum Hoffnung gemacht, etwas von dem Verlorenen wieder zu gewinnen. Von dem Augenblick an, da er in plötzlich aufzuckendem Verdacht seinen Rock untersucht und die Brusttasche leer gefunden hatte, war er von der Erkenntnis durchdrungen, es sei nicht das Kleinste mehr zu retten. Dieses Gefühl hatte durchaus mit der Empfindung eines ärgerlichen Zufalls oder Unglücks nichts zu tun, sondern war frei von jeder Auflehnung und glich mehr einer zwar bitteren, doch entschiedenen Zustimmung zu dem Geschehenen. Dies Gefühl vom Einklang des Geschehens mit dem eigenen Gemüt, der äußeren und inneren Notwendigkeit, dessen ganz geringe Menschen niemals fähig sind, rettete den armen betrogenen Pater vor der Verzweiflung. Er dachte nicht einen Augenblick daran, sich etwa durch List reinzuwaschen und wieder in Ehre und Achtung zurückzustehlen, noch auch trat ihm der Gedanke nahe, sich ein Leid anzutun. Nein, er fühlte nichts als eine völlig klare und gerechte Notwendigkeit, die ihn zwar traurig machte, gegen welche er jedoch mit keinem Gedanken protestierte. Denn stärker als Bangnis und Sorge, wenn auch noch verborgen und außerhalb des Bewußtseins, war in ihm die Empfindung einer großen Erlösung vorhanden, da jetzt unzweifelhaft seiner bisherigen Unzufriedenheit und dem unklaren, durch Jahre geführten und verheimlichten Doppelleben ein Ende gesetzt war. Er fühlte wie früher zuweilen nach kleineren Verfehlungen die schmerzliche innere Befreitheit eines Mannes, der vor dem Beichtstuhl kniet und dem zwar eine Demütigung und Bestrafung bevorsteht, dessen Seele aber die beklemmende Last verheimlichter Taten schon weichen fühlt.

Dennoch aber war er über das, was nun zu tun sei, keineswegs im klaren. Hatte er innerlich seinen Austritt aus dem Orden schon genommen und Verzicht auf alle Ehren getan, so schien es ihm doch ärgerlich und recht unnütz, nun alle häßlichen und schmerzenden Szenen einer feierlichen Ausstoßung und Verurteilung auskosten zu sollen. Schließlich hatte er, weltlich gedacht, kein gar so schändliches Verbrechen begangen, und das viele Klostergeld hatte ja nicht er gestohlen, sondern offenbar jener Herr Breitinger.

Klar war ihm zunächst nur, daß noch heute etwas Entscheidendes zu geschehen habe; denn blieb er länger als noch diesen Tag dem Kloster fern, so entstand Verdacht und Untersuchung und ward ihm die Freiheit des Handelns abgeschnitten. Ermüdet und hungrig suchte er ein Speisehaus, aß einen Teller Suppe und schaute alsdann, rasch gesättigt und von verwirrten Erinnerungsbildern gequält, mit müden Augen durchs Fenster auf die Straße hinaus, genau wie er es gestern ungefähr um dieselbe Zeit getan hatte.

Indem er seine Lage hin und her bedachte, fiel es ihm grausam auf die Seele, daß er auf Erden keinen einzigen Menschen habe, dem er mit Vertrauen und Hoffnung seine Not klagen könnte, der ihm hülfe und riete, der ihn zurechtweise, rette oder doch tröste. Ein Auftritt, den er erst vor einer Woche erlebt und schon völlig wieder vergessen hatte, stieg unversehens rührend und wunderlich in seinem Gedächtnis auf: der junge halbgescheite Laienbruder in seiner verflickten Kutte, wie er am heimischen Bahnhofe stand und ihm nachschaute, angstvoll und beschwörend.

Heftig wendete er sich von diesem Bilde ab und zwang seinen Blick, dem Straßenleben draußen zu folgen. Da trat ihm, auf seltsamen Umwegen der Erinnerung, mit einem Male ein Name und eine Gestalt vor die Seele, woran sie sich sofort mit instinktivem Zutrauen klammerte.

Diese Gestalt war die der Frau Franziska Tanner, jener reichen jungen Witwe, deren Geist und Takt er erst kürzlich bewundert, und deren anmutig strenges Bild ihn heimlich begleitet hatte. Er schloß die Augen und sah sie, im grauseidenen Kleide, mit dem klugen und beinahe spöttischen Mund im hübschen blassen Gesicht, und je genauer er zuschaute und je deutlicher nun auch der kräftig entschlossene Ton ihrer hellen Stimme und der feste, ruhig beobachtende Blick ihrer grauen Augen ihm wieder vorschwebte, desto leichter, ja selbstverständlicher schien es ihm, das Vertrauen dieser ungewöhnlichen Frau in seiner ungewöhnlichen Lage anzurufen.

Dankbar und froh, das nächste Stück seines Weges endlich klar vor sich zu sehen, machte er sich sofort daran, seinen Entschluß auszuführen. Von dieser Minute an bis zu jener, da er wirklich vor Frau Tanner stand, tat er jeden Schritt sicher und rasch, nur ein einzigesmal geriet er ins Zaudern. Das war, als er jenen Bahnhof des Vorortes wieder erreichte, wo er gestern seinen Sündenwandel begonnen hatte und wo seither sein Köfferchen in Verwahrung stand. Er war des Sinnes gewesen, wieder als Pater in der Kutte vor die hochgeschätzte Frau zu treten, schon um sie nicht allzu sehr zu erschrecken, und hatte deshalb den Weg hieher genommen. Nun jedoch, da er nur eines Schrittes bedurfte, um am Schalter sein Eigentum wieder zu fordern, kam diese Absicht ihm plötzlich töricht und unredlich vor, ja er empfand, wie nie zuvor, vor der Rückkehr in die klösterliche Tracht einen wahren Schreck und Abscheu, so daß er seinen Plan im Augenblick änderte und vor sich selber schwor, die Kutte niemals wieder anzulegen, es komme, wie es wolle.

Daß mit den übrigen Wertsachen ihm auch der Gepäckschein entwendet worden war, wußte und bedachte er dabei gar nicht.

Darum ließ er sein Gepäck liegen, wo es lag, und reiste denselben Weg, den er gestern in der Frühe noch als Pater gefahren, im schlichten Bürgerrocke zurück. Dabei schlug ihm das Herz immerhin, je näher er dem Ziele kam, desto peinlicher; denn er fuhr nun schon wieder durch die Gegend, welcher er vor Tagen noch gepredigt hatte, und mußte in jedem neu einsteigenden Fahrgaste den beargwöhnen, der ihn erkennen und als erster seine Schande sehen würde. Doch war der Zufall und der einbrechende Abend ihm günstig, so daß er die letzte Station unerkannt und unbelästigt erreichte.

Bei sinkender Nacht wanderte er auf müden Beinen den Weg zum Dorfe hin, den er zuletzt bei Sonnenschein im Einspänner gefahren war, und zog, da er noch überall Licht hinter den Läden bemerkte, noch am selben Abend die Glocke am Tore des Tannerschen Landhauses.

Die gleiche Magd wie neulich tat ihm auf und fragte nach seinem Begehren, ohne ihn zu erkennen. Matthias bat, die Hausfrau noch heute abend sprechen zu dürfen, und gab dem Mädchen ein verschlossenes Billett mit, das er vorsorglich noch in der Stadt geschrieben hatte. Sie ließ ihn, der späten Stunde wegen ängstlich, im Freien warten, schloß das Tor wieder ab und blieb eine bange Weile aus. Dann aber schloß sie rasch wieder auf, hieß ihn mit verlegener Entschuldigung ihrer vorigen Ängstlichkeit eintreten und führte ihn in das Wohnzimmer der Frau, die ihn dort allein erwartete.

»Guten Abend, Frau Tanner,« sagte er mit etwas befangener Stimme, »darf ich Sie nochmals für eine kleine Weile stören?«

Sie grüßte gemessen und sah ihn an.

»Da Sie, wie Ihr Billett mir sagt, in einer sehr wichtigen Sache kommen, stehe ich gerne zur Verfügung. – Aber wie sehen Sie denn aus?«

»Ich werde Ihnen alles erklären, bitte, erschrecken Sie nicht! Ich wäre nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich nicht das Zutrauen hätte, Sie werden mich in einer sehr schlimmen Lage nicht ohne Rat und Teilnahme lassen. Ach, verehrte Frau, was ist aus mir geworden!«

Seine Stimme brach, und es schien, als würgten ihn Tränen. Doch hielt er sich tapfer, entschuldigte sich mit großer Erschöpfung und begann alsdann, in einem bequemen Sessel ruhend, seine Erzählung. Er fing damit an, daß er schon seit mehreren Jahren des Klosterlebens müde sei und sich mehrere Verfehlungen vorzuwerfen habe. Dann gab er eine kurze Darstellung seines früheren Lebens und seiner Klosterzeit, seiner Predigtreisen und auch seiner letzten Mission. Und darauf berichtete er ohne viel Einzelheiten, aber ehrlich und verständlich sein Abenteuer in der Stadt.

Fünftes Kapitel

Es folgte auf seine Erzählung eine lange Pause. Frau Tanner hatte aufmerksam und ohne jede Unterbrechung zugehört, zuweilen gelächelt und zuweilen den Kopf geschüttelt, schließlich aber jedes Wort mit einem gleichbleibenden gespannten Ernst verfolgt. Nun schwiegen sie beide eine Weile.

»Wollen Sie jetzt nicht vor allem andern einen Imbiß nehmen?« fragte sie endlich. »Sie bleiben jedenfalls die Nacht hier und können in der Gärtnerwohnung schlafen.«

Die Herberge nahm der Pater dankbar an, wollte jedoch von Essen und Trinken nichts wissen.

»Was wollen Sie nun von mir haben?« fragte sie langsam.

»Vor allem Ihren Rat. Ich weiß selber nicht genau, woher mein Vertrauen zu Ihnen kommt. Aber in allen diesen schlimmen Stunden ist mir niemand sonst eingefallen, auf den ich hätte hoffen mögen. Bitte, sagen Sie mir, was ich tun soll!«

Nun lächelte sie ein wenig.

»Es ist eigentlich schade,« sagte sie, »daß Sie mich das nicht neulich schon gefragt haben. Daß Sie für einen Mönch zu gut oder doch zu lebenslustig sind, kann ich wohl begreifen. Es ist aber nicht schön, daß Sie Ihre Rückkehr ins Weltleben so heimlich betreiben wollten. Dafür sind Sie nun gestraft. Denn Sie müssen den Austritt aus Ihrem Orden, den Sie freiwillig und in Ehren hätten suchen sollen, jetzt eben unfreiwillig tun. Mir scheint, Sie können gar nichts anderes tun, als Ihre Sache mit aller Offenheit Ihren Oberen anheimstellen. Ist das nicht Ihre Meinung?«

»Ja, das ist sie; ich habe es mir nicht anders gedacht.«

»Gut also. Und was wird dann aus Ihnen werden?«

»Das ist es eben! Ich werde ohne Zweifel nicht im Orden behalten werden, was ich auch keinesfalls annehmen würde. Mein Wille ist, ein stilles Leben als ein fleißiger und ehrlicher Mensch anzufangen; denn ich bin zu jeder anständigen Arbeit bereit und habe manche Kenntnisse, die mir nützen können.«

»Recht so, das habe ich von Ihnen erwartet.«

»Ja. Aber nun werde ich nicht nur aus dem Kloster entlassen werden, sondern muß auch für die mir anvertrauten Summen, die dem Kloster gehören, mit meiner Person eintreten. Da ich diese Summen in der Hauptsache nicht selber veruntreut, sondern an Schelme verloren habe, wäre es mir doch gar bitter, für sie wie ein gemeiner Betrüger zur Rechenschaft gezogen zu werden.«

»Das verstehe ich wohl. Aber wie wollen Sie das verhüten?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich würde, wie es selbstverständlich ist, das Geld so bald und so vollkommen als möglich zu ersetzen suchen. Wenn es möglich wäre, dafür eine einstweilige Bürgschaft zu stellen, so könnte wohl ein gerichtliches Verfahren ganz vermieden werden.«

Die Frau sah ihn forschend an.

»Was wären in diesem Falle Ihre Pläne?« fragte sie dann ruhig.

»Dann würde ich außer Landes eine Arbeit suchen und mich bemühen, vor allem jene Summe abzutragen. Sollte jedoch die Person, welche für mich bürgt, mir anders raten und mich anders zu verwenden wünschen, so wäre mir natürlich dieser Wunsch Befehl.«

Frau Tanner erhob sich und tat einige erregte Schritte durchs Zimmer. Sie blieb außerhalb des Lichtkreises der Lampe in der Dämmerung stehen und sagte leise von dort herüber: »Und die Person, von der Sie reden und die für Sie bürgen soll, die soll ich sein?«

Herr Matthias war ebenfalls aufgestanden.

»Wenn Sie wollen – ja,« sagte er tief atmend. »Da ich mich Ihnen, die ich noch kaum kannte, so weit eröffnet habe, mag auch das gewagt sein. Ach, liebe Frau Tanner, es ist mir wunderlich, wie ich in meiner elenden Lage zu solcher Kühnheit komme. Aber ich weiß keinen Richter, dem ich mich so leicht und gerne zu jedem Urteilsspruch überließe, wie Ihnen. Sagen Sie ein Wort, so gehe ich heute noch für immer aus Ihren Augen.«

Sie trat an den Tisch zurück, wo vom Abend her noch eine feine Stickarbeit und eine umgefalzte Zeitung lag, und verbarg ihre leicht zitternden Hände hinter ihrem Rücken. Dann lächelte sie ganz leicht und sagte: »Danke für Ihr Vertrauen, Herr Matthias, es soll in guten Händen sein. Aber Geschäfte tut man nicht so in einer Abendstimmung ab. Wir wollen jetzt zur Ruhe gehen, die Magd wird Sie ins Gärtnerhaus führen. Morgen früh um sieben wollen wir hier frühstücken und weiter reden, dann können Sie noch leicht den ersten Bahnzug erreichen.«

In dieser Nacht hatte der flüchtige Pater einen weit besseren Schlaf als seine gütige Wirtin. Er holte in einer tiefen achtstündigen Ruhe das Versäumte zweier Tage und Nächte ein und erwachte zur rechten Zeit ausgeruht und helläugig, so daß ihn die Frau Tanner beim Frühstück erstaunt und wohlgefällig betrachten mußte.

Diese verlor über der Sache Matthias den größeren Teil ihrer Nachtruhe. Die Bitte des Paters hätte, soweit sie nur das verlorene Geld betraf, ihr dies nicht angetan. Aber es war ihr sonderbar zu Herzen gegangen, wie da ein fremder Mensch, der nur ein einzigesmal zuvor flüchtig ihren Weg gestreift, in der Stunde peinlicher Not so voll Vertrauen zu ihr gekommen war, fast wie ein Kind zur Mutter. Und daß ihr selber dies doch eigentlich nicht erstaunlich gewesen war, daß sie es ohne weiteres verstanden und beinahe wie etwas Erwartetes aufgenommen hatte, während sie sonst eher zum Mißtrauen neigte, das schien ihr darauf zu deuten, daß zwischen ihr und dem Fremden ein Zug von Geschwisterlichkeit und heimlicher Harmonie bestehe.

Der Pater hatte ihr schon bei seinem ersten Besuche neulich einen angenehmen Eindruck gemacht. Sie mußte ihn für einen lebenstüchtigen, harmlosen Menschen halten, dazu war er ein hübscher und gebildeter Mann. An diesem Urteil hatte das seither Erfahrene nichts geändert, nur daß die Gestalt des Paters dadurch in ein etwas schwankendes Licht von Abenteuer gerückt und in seinem Charakter immerhin eine gewisse Schwäche enthüllt schien.

Dies alles hätte hingereicht, dem Mann ihre Teilnahme zu gewinnen, wobei sie die geforderte Bürgschaft oder Geldsumme gar nicht beachtet haben würde. Durch die merkwürdige Sympathie jedoch, die sie mit dem Fremden verband und die auch in den sorgenvollen Gedanken dieser Nacht nicht abgenommen hatte, war alles in eine andere Beleuchtung getreten, wo das Geschäftliche und Persönliche gar eng aneinander hing und wo sonst harmlose Dinge ein bedeutendes, ja schicksalhaftes Aussehen gewannen. Wenn wirklich dieser Mann so viel Macht über sie hatte und so viel Anziehung zwischen ihnen beiden bestand, so war es mit einem Geschenke nicht getan, sondern es mußten daraus dauernde Verhältnisse und Beziehungen entstehen, die immerhin auf ihr Leben großen Einfluß gewinnen konnten.

Dem gewesenen Pater schlechthin mit einer Geldgabe aus der Not und ins Ausland zu helfen, unter Ausschluß aller weiteren Beteiligung an seinem Schicksal als einfache Abfindung, das ging nicht an, dazu stand ihr der Mann zu hoch. Andererseits trug sie Bedenken, ihn auf seine immerhin seltsamen Geständnisse hin ohne weiteres in ihr Leben aufzunehmen, dessen Freiheit und Übersicht sie liebte. Und wieder tat es ihr weh und schien ihr unmöglich, den Armen ganz ohne Hilfe zu lassen.

So sann sie mehrere Stunden hin und wider, und als sie nach kurzem Schlaf in guter Toilette das Frühstückszimmer betrat, sah sie ein wenig geschwächt und müde aus. Matthias begrüßte sie und blickte ihr so klar in die Augen, daß ihr Herz sich rasch wieder erwärmte. Sie sah, es war ihm mit allem, was er gestern gesagt, vollkommen Ernst, und er würde zuverlässig dabei bleiben.

Sie schenkte ihm Kaffee und Milch ein, ohne mehr als die notwendigen geselligen Worte dazu zu sagen, und gab Auftrag, daß später für ihren Gast der Wagen angespannt werde, da er zum Bahnhof müsse. Zierlich aß sie aus silbernem Becherlein ein Ei und trank eine Schale Milch dazu, und erst als sie damit und der Gast ebenfalls mit seinem Morgenkaffee fertig war, begann sie zu sprechen.

»Sie haben mir gestern,« sagte sie, »eine Frage und Bitte vorgelegt, über die ich mich nun besonnen habe. Sie haben auch ein Versprechen gegeben, nämlich in allem und jedem es so zu halten, wie ich es gut finden werde. Ist das Ihr Ernst gewesen und wollen Sie sich noch dazu bekennen?«

Er sah sie ernsthaft und innig an und sagte einfach: »Ja«.

»Gut, so will ich Ihnen sagen, was ich mir zurechtgelegt habe. Sie wissen selbst, daß Sie mit Ihrer Bitte nicht nur mein Schuldner werden, sondern mir und meinem Leben auf eine Weise nähertreten wollen, deren Bedeutung und Folgen für uns beide wichtig werden können. Sie wollen nicht ein Geschenk von mir haben, sondern mein Vertrauen und meine Freundschaft. Das ist mir lieb und ehrenvoll, doch müssen Sie selbst zugeben, daß Ihre Bitte in einem Augenblick an mich gekommen ist, wo Sie nicht völlig tadelfrei dastehen und wo manches Bedenken wider Sie erlaubt und möglich ist.«

Matthias nickte errötend, lächelte aber ein klein wenig dazu, weshalb sie ihren Ton sofort um einen Schatten strenger werden ließ.

»Eben darum kann ich leider Ihren Vorschlag nicht annehmen, werter Herr. Es ist mir für die Zuverlässigkeit und Dauer Ihrer guten Gesinnung zu wenig Gewähr vorhanden. Wie es mit Ihrer Freundschaft und Treue beschaffen ist, das kann nur die Zeit lehren, und was aus meinem Gelde würde, kann ich auch nicht wissen, seit Sie mir das mit Ihrem Freunde Breitinger erzählt haben. Ich bin daher gesonnen, Sie beim Wort zu nehmen. Sie sind mir zu gut, als daß ich Sie mit Geld abfinden möchte, und Sie sind mir wieder zu fremd und unsicher, als daß ich Sie ohne weiteres in meinen Lebenskreis aufnehmen könnte. Darum stelle ich Ihre Treue auf eine vielleicht schwere Probe, indem ich Sie bitte: Reisen Sie heim, übergeben Sie Ihren ganzen Handel dem Kloster, fügen Sie sich in alles, auch in eine Bestrafung durch die Gerichte! Wenn Sie das tapfer und ehrlich tun wollen, ohne mich in der Sache irgend zu nennen, so verspreche ich Ihnen dagegen, nachher keinen Zweifel mehr an Ihnen zu haben und Ihnen zu helfen, wenn Sie mit Mut und Fröhlichkeit ein neues Leben anfangen wollen. – Haben Sie mich verstanden und soll es gelten?«

Herr Matthias nahm ihre ausgestreckte Hand, blickte ihr mit Bewunderung und tiefer Rührung in das schön erregte bleiche Gesicht und machte eine sonderbare stürmische Bewegung, beinahe als wollte er sie in die Arme schließen. Statt dessen verbeugte er sich sehr tief und drückte auf die schmale Damenhand einen festen Kuß. Dann ging er aufrecht aus dem Zimmer, ohne weiteren Abschied zu nehmen, und schritt durch den Garten und stieg in das draußen wartende Kabriolet, während die überraschte Frau seiner großen Gestalt und entschiedenen Bewegung in sonderbar gemischter Empfindung nachschaute.

Sechstes Kapitel

Als der Pater Matthias in seinem städtischen Anzug und mit einem merkwürdig veränderten Gesicht wieder in sein Kloster gegangen kam und ohne Umweg den Guardian aufsuchte, da zuckte Schrecken, Erstaunen und lüsterne Neugierde durch die alten Hallen. Doch erfuhr niemand etwas Gewisses. Hingegen fand schon nach einer Stunde eine geheime Sitzung der Oberen statt, in welcher die Herren trotz manchen Bedenken schlüssig wurden, den übeln Fall mit aller Sorgfalt geheim zu halten, die verlorenen Gelder zu verschmerzen und den Pater lediglich mit einer längeren Buße in einem ausländischen Kloster zu bestrafen.

Da er hereingeführt und ihm dieser Entscheid mitgeteilt wurde, setzte er die milden Richter durch seine Weigerung, ihren Spruch anzuerkennen, in kein geringes Erstaunen. Allein es half kein Drohen und kein gütiges Zureden, Matthias blieb dabei, um seine Entlassung aus dem Orden zu bitten. Wolle man ihm, fügte er hinzu, die durch seinen Leichtsinn verloren gegangene Opfersumme als persönliche Schuld stunden und deren allmähliche Abtragung erlauben, so würde er dies dankbar als eine große Gnade annehmen, andernfalls jedoch ziehe er es vor, daß seine Sache vor einem weltlichen Gericht ausgetragen werde.

Da war guter Rat teuer, und während Matthias Tag um Tag einsam in strengem Zellenarrest gehalten wurde, beschäftigte seine Angelegenheit die Vorgesetzten bis nach Rom hin, ohne daß der Gefangene über den Stand der Dinge das Geringste erfahren konnte.

Es hätte auch noch viele Zeit darüber hingehen können, wäre nicht durch einen unvermuteten Anstoß von außen her plötzlich alles in Fluß gekommen und nach einer ganz anderen Entwicklung hin gedrängt worden.

Es wurde nämlich, zehn Tage nach des Paters unseliger Rückkehr, amtlich und eilig von der Behörde angefragt, ob etwa dem Kloster neuestens ein Insasse oder doch eine so und so beschriebene Ordenskleidung abhanden gekommen, da diese Gewandung soeben als Inhalt eines auf dem und dem Bahnhofe abgegebenen rätselhaften Handkoffers festgestellt worden sei. Es habe dieser Koffer, der seit genau zwölf Tagen an jener Station lagere, infolge eines schwebenden Prozesses geöffnet werden müssen, da ein unter schwerem Verdacht verhafteter Gauner neben anderem gestohlenen Gute auch den auf obigen Koffer lautenden Gepäckschein bei sich getragen habe.

Eilig lief nun einer der Väter zur Behörde, bat um nähere Auskünfte und reiste, da er diese nicht erhielt, unverweilt in die benachbarte Provinzhauptstadt, wo er sich viele, doch vergebliche Mühe gab, die Person und die Spuren des guten Paters Matthias als mit dem Gaunerprozesse unzusammenhängend darzustellen. Der Staatsanwalt zeigte im Gegenteil für diese Spuren ein lebhaftes Interesse und eine große Lust, den einstweilen als krankliegend entschuldigten Pater Matthias selber kennen zu lernen.

Durch diese Ereignisse kam plötzlich eine schroffe Änderung in die Taktik der Väter. Es wurde nun, um zu retten, was noch zu retten wäre, der Pater Matthias mit aller Feierlichkeit aus dem Orden ausgestoßen, der Staatsanwaltschaft übergeben und wegen Veruntreuung von Klostergeldern angeklagt. Und von dieser Stunde an füllte der Prozeß des Paters nicht nur die Aktenmappen der Richter und Anwälte, sondern auch als Skandalgeschichte alle Zeitungen, so daß sein Name im ganzen Lande widerhallte.

Da niemand sich des Mannes annahm, da sein Orden ihn völlig preisgab und die öffentliche Meinung, dargestellt durch die Artikel der liberalen Tagesblätter, den Pater keineswegs schonte und den Anlaß zu einer kleinen frohen Hetze wider die Klöster benutzte, kam der Angeklagte in eine wahre Hölle von Verdacht und Verleumdung und bekam eine schlimmere Suppe auszuessen, als er sich eingebrockt zu haben meinte. Er hielt sich aber in aller Bedrängnis brav und tat keine einzige Aussage, die sich nicht bewährt hätte.

Im übrigen nahmen die beiden ineinander verwickelten Prozesse ihren raschen Verlauf. Mit wunderlichen Gefühlen sah sich Matthias bald als Angeklagter den Pfarrern und Meßnern jener Missionsgegend, bald als Zeuge der hübschen Meta und dem Herrn Breitinger gegenübergestellt, der gar nicht Breitinger hieß und in weiten Kreisen als Gauner und Zuhälter unter dem Namen des dünnen Jakob bekannt war. Sobald sein Anteil an der Breitingerschen Affäre klargestellt war, entschwand dieser und seine Gefolgschaft aus des Paters Augen, und es wurde in wenigen kräftigen Verhandlungen sein eigenes Urteil vorbereitet.

Er war auf eine Verurteilung von allem Anfang an gefaßt gewesen. Inzwischen hatte die Enthüllung der Einzelheiten jenes Tages in der Stadt, das Verhalten seiner Oberen und die öffentliche Stimmung auf seine allgemeine Beurteilung gedrückt, so daß die Richter auf sein unbestrittenes Vergehen den gefährlichsten Paragraphen anwendeten und ihn zu einer recht langen Gefängnisstrafe verurteilten.

Das war ihm nun doch ein empfindlicher Schlag, und es wollte ihm scheinen, eine so harte Buße habe sein in keiner eigentlichen Bosheit beruhendes Vergehen doch nicht verdient. Am meisten quälte ihn dabei der Gedanke an die Frau Tanner und ob sie ihn, wenn er nach Verbüßung einer so langwierigen Strafe und überhaupt nach diesem unerwartet viel beschrieenen Skandal sich ihr wieder vorstelle, noch überhaupt werde kennen wollen.

Zu gleicher Zeit bekümmerte und empörte sich Frau Tanner kaum weniger über diesen Ausgang der Sache und machte sich Vorwürfe darüber, daß sie ihn doch eigentlich ohne Not da hineingetrieben habe. Sie schrieb auch ein Brieflein an ihn, worin sie ihn ihres unveränderten Zutrauens versicherte und die Hoffnung aussprach, er werde gerade in der unverdienten Härte seines Urteils eine Mahnung sehen, sich innerlich ungebeugt und unverbittert für bessere Tage zu erhalten. Allein dann fand sie wieder, es sei kein Grund vorhanden, an Matthias zu zweifeln, und sie müsse es nun erst recht darauf ankommen lassen, wie er die Probe bestehe. Und sie legte den geschriebenen Brief, ohne ihn nochmals anzusehen, in ein Fach ihres Schreibtisches, das sie sorgfältig verschloß.

Über alledem war es längst völlig Herbst geworden und der Wein schon gekeltert, als nach einigen trüben Wochen der Spätherbst noch einmal warme, blaue, zart verklärte Tage brachte. Friedlich lag, vom Wasser in gebrochenen Linien gespiegelt, an der Biegung des grünen Flusses das alte Kloster und schaute mit vielen Fensterscheiben in den zartgolden blühenden Tag. Da zog in dem schönen Spätherbstwetter wieder einmal ein trauriges Trüpplein unter der Führung einiger bewaffneter Landjäger auf dem hohen Weg überm steilen Ufer dahin.

Unter den Gefangenen war auch der ehemalige Pater Matthias, der zuweilen den gesenkten Kopf aufrichtete und in die sonnige Weite des Tales und zum stillen Kloster hinunter sah. Er hatte keine guten Tage, aber seine Hoffnung stand immer wieder, von allen Zweifeln unzerstört, auf das Bild der hübschen blassen Frau gerichtet, deren Hand er vor dem bitteren Gang in die Schande gehalten und geküßt hatte. Und indem er unwillkürlich jenes Tages vor seiner Schicksalsreise gedachte, da er noch aus dem Schutz und Schatten des Klosters in Langeweile und Mißmut hier herübergeblickt hatte, da ging ein feines Lächeln über sein mager gewordenes Gesicht, und es schien ihm das halbzufriedene Damals keineswegs besser und wünschenswerter als das hoffnungsvolle Heute.

Ende

Werke von Hermann Hesse

Peter Camenzind

Roman. 60. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark.

Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn du einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch blühende Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack die Geschichte des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und wandre, bis du zu einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger hoher Bergschroffen liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir Peter Camenzind von den Bergen und vom Walde, von den Strömen und von der Liebe zu erzählen hat. Und glaub mir: Du wirst größer, reiner, freier wieder heimkehren in die Stadtwirrnis.

(Die Woche)

Unterm Rad

Roman. 19. Auflage. Geheftet 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.

Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit der Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer unnachahmlichen sprachlichen Meisterschaft und stilistischen Adels ist.

(Münchener Zeitung)

Es ist dieser Roman ein gutes, tiefes, starkes Buch, geläuterter noch als der »Camenzind«, von einer tüchtigen Männlichkeit durchweht, eine Wohltat für den, der ihn liest, treuherzig, überzeugend, von lebhaftem, heißem Natursinn kündend, frei von ästhetischer Kränkelei – ein klares Schwabenbuch, ein durch und durch deutscher Roman.

(Münchener Neueste Nachrichten)

Diesseits

Erzählungen. 18. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.

Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen, schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses neuen Novellenband »Diesseits« lesen.

(Neue Zürcher Zeitung)

Wie lange habe ich mich darauf gefreut, dieses Buch anzuzeigen! Es ist ein stilles, vornehmes und unsäglich schönes Buch geworden, das man ehrfürchtig in die Hand nimmt, ehrfürchtig aus der Hand legt, still, ergriffen, nachdenklich, voll einer Liebe zu dem Menschen, der ein so starkes, reines Herz hat und es so lauter schenkt. Hermann Hesse bedeutet einen Gipfelpunkt deutscher Erzählerkunst.

(Münchener Zeitung)

Nachbarn

Erzählungen. 12. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.

Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den fünf Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch zusammengeschweißt erscheinen sie ... Ruhig, über allen Dingen schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns diese Geschichten erzählt. Aber in einer Sprache, die ihresgleichen sucht, und die den Stolz in uns aufleben läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott sei Dank, daß es eine deutsche Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln.

(Württemberger Zeitung, Stuttgart)

Hesse arbeitet aus der Stimmung, aus der Landschaft, und darum fließen seine Erzählungen ineinander über. Sie lesen sich entzückend. Natürlicheres, Traulicheres, Feineres wird heute kaum geschrieben.

(Vossische Zeitung, Berlin)

Spamersche Buchdruckerei in Leipzig.

Anmerkungen zur Transkription:

In "er war in dem großen Atelier heftig hin und wieder geschritten, hatte seinen rotbraunen Bart mit nervösen Händen gedreht und sich alsbald, wie es seine unheimliche Gabe war, in ein flimmerndes Gehäuse eingesponnen, das aus lauter Beredtsamkeit bestand und dem Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, unter welchem jener trocken stand, obwohl es aus nichts bestand als dem rasenden Kreisschwung seines Degens." stand "bestund" statt des zweiten "bestand".

In "Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine gewisse Freude an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, die er noch von manchen anderen Verkündern in anderen Tönungen zu hören bekam, und er hätte ein Riese sein müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser Bekenntnisse ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke gemacht und sein eigenes Denken gefärbt hätte." stand "Welte" statt "Welt"

In "Denn er sah gar wohl, daß die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, von der gemeinen Sprache der Gasse ebenso weit entfernt wie nur irgendeine tolle Dichtung, geeignet sei, Eindruck zu machen, Macht zu üben und über Unverständige Vorteile zu erlangen." stand "entlernt" statt "entfernt".






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or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    gbnewby@pglaf.org

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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