The Project Gutenberg EBook of Streifzüge im Süden, by Erich Freund This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Streifzüge im Süden Reiseskizzen aus Italien und Tunis Author: Erich Freund Release Date: June 17, 2018 [EBook #57346] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK STREIFZÜGE IM SÜDEN *** Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Anmerkungen zur Transkription. Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist _so markiert_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so ausgezeichnet~. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. Erich Freund. [Illustration] Streifzüge im Süden. [Illustration] Streifzüge im Süden. Reiseskizzen aus Italien und Tunis. Von Erich Freund. [Illustration] Breslau. Schlesische Buchdruckerei, Kunst- und Verlags-Anstalt v. S. Schottlaender. Leipzig: E. F. Steinacker. New-York: Gustav E. Stechert. 1897. Meinem Onkel J. Inhalt. Seite. Die Bighe-Rennen zu Padua 9 In den euganeeischen Hügeln 21 Venetianische Feste 37 Römische Momentbilder 53 ~Napoli in festa~ 69 Wie man in Neapel fährt 85 Vom Eiland des Tiberius 101 Ein Ausflug nach Tunis 121 I. Von Neapel bis Tunis 121 II. Stadt und Bevölkerung 138 III. Tunesische Vergnügungslocale 153 IV. Vom tunesischen Judenthum 168 Die Bighe-Rennen zu Padua. Der ~prato del valle~. -- Die Renngefährte und ihre Lenker. -- Dante als Sieger im Wettstreit. -- Wie man in Padua am Totalisator spielt. Zum Glück für den Reisenden, der in der Fremde nicht das Internationale, sondern das Nationale zu studiren sucht, haben sich hie und da in der italienischen Provinz einige Gelegenheiten erhalten, bei denen sich der specifisch italienische Sportssinn ohne importirte Muster offenbart. Unter diesen Localrennen vielleicht die interessantesten sind die volksthümlichen ~corse delle bighe~, die _Bighe-Kämpfe_ in der alten Universitätsstadt _Padua_. Ueber den historischen Ursprung der sich seit Jahrhunderten alljährlich im Juli abspielenden Rennen ist Genaues nicht zu erfahren. Die Einen datiren sie bis in's 13. Jahrhundert als eine Art Jubelfeier für die Befreiung der Stadt von dem blutigen Tyrannen Ezzelino, die Anderen gar bis in's römische Alterthum zurück. Wie dem auch sei, der Tag der Bighe ist dem Paduaner der höchste weltliche Festtag, der dem geistlichen Rivalen vom 13. Juni mindestens gleichkommt, allwo die Gläubigen den Schutzpatron Paduas, den hl. Antonius, bei dem Herr Schwerdtlein Goethe'schen Andenkens begraben liegt, mit Hymnen und Processionen feiern. Am Renntage ergießt sich eine wahre Menschenfluth nach dem Süden der Stadt. Dort an der Grenze gegen Bassanello, Paduas lieblichem Bierdörfchen am Bachiglione, breitet sich der priveligirte Ort für alle Volksbelustigungen aus, ~piazza Vittorio Emanuele~ officiell, ~prato del valle~ im Volksmunde benannt. Ein gewaltiger Platz von kolossalen Dimensionen! Viereckig in der Anlage, wird er zumeist von Privathäusern flankirt. Nur an der Südostecke erhebt sich die majestätische Kuppelkirche von St. Giustina und, eng an sie geschmiegt die große Kaserne der hier garnisonirenden Infanterie-Brigade, geistliches und weltliches Regiment dicht bei einander. Mitten im Riesenquadrate der ~piazza~ fällt eine eigenartige Anlage auf: ein kreisrunder Ulmenhain mit schattigen Gängen und marmornen Bänken. Ringsherum zieht sich ein Wassergraben, von barock verzierten Brücken überschritten und umgeben von einer Doppelreihe steinerner Statuen. Es sind die Standbilder »berühmter« Männer, die in Padua gewirkt haben. Diese illustre Gesellschaft, die aus etwa 80 Herren besteht, ist stark gemischt. Neben Tasso, Galilei und Petrarca findet sich auch ein in den weitesten Kreisen unbekannter Heerführer Nursatus, der wie ein Lieutenantsgigerl des 16. Jahrhunderts aussieht, und ein nicht minder obscurer Professor Nonnio, der der Inschrift nach ein verdienstvoller Philologe und die Leuchte eines Paduaner Gymnasii gewesen ist. Das Ganze macht mit seinem ~embarras de richesse~ an Monumentalfiguren einen überraschenden, aber ziemlich geschmacklosen Eindruck. Das hindert freilich die Paduaner Blousenflaneure nicht, hier im Schatten von Kunst und Wissenschaft ihre tägliche Siesta zu halten. Gegen Abend wird es dann auf dem Platze lebendig von eleganterem Treiben. Die ~fine fleur~ von Padua giebt sich hier Rendez-Vous zum Wagen-Corso. Die wohl unterhaltene, kreisförmige Corsobahn dient auch für die Rennen. Zwei mächtige Tribünen umsäumen den Schauplatz in seiner ganzen Rundung. Der äußere Bau ist für die Glücklichen bestimmt, die sich einen Sitzplatz leisten können, der innere erwartet die zahllosen Stehplatzgäste, die nicht mehr als eine Pallanka (Dialektausdruck für das 10 ~Centesimi~-Stück) an ihr Lieblingsvergnügen zu wenden haben. Heute ist das riesige Holztheater ausverkauft. Nach sachverständiger Schätzung sind es über 30000 Menschen, die ungeduldig des Beginnes harren, der auf 6 Uhr festgesetzt ist. Es ist noch nicht 7 Uhr -- für italienische Begriffe also sehr pünktlich -- als die Richter in ihre Logen treten, die wegen der Kreisgestalt der Bahn zahlreich angebracht sind. Plötzlich ein Kanonenschuß. Allgemeines Ah und Bravo. Ohne artilleristische Mitwirkung geht es nun einmal nicht bei italienischen Volksfesten. Aber auch die andern Truppengattungen wollen nicht zurückstehen. Infanterie hält die Ordnung aufrecht, und jetzt erscheint ein Zug Husaren in ihrer kleidsamen dunklen Uniform. Sie reiten »Trab! abgekürztes Tempo« mit aufgesetztem Säbel und halten famose Richtung. Dafür lohnt sie seitens des Publicums wohlwollender Applaus. Nach dieser militärischen Abnahme der Bahn knallt es nochmals aus einigen Kanonenschlünden. Nun richten sich Aller Augen auf ein hohes Gerüst, das in einem Platzwinkel errichtet ist. Durch die geschlossenen Holzgitter des thorartigen Baues kann man die kampfbereit haltenden Gespanne erblicken. Die Bighen präsentirten sich als zweirädrige, niedrige Karren mit hohem bemalten Vorderbord und offener Rückseite, den altrömischen Rennwagen nachgebildet. Um den antikisirenden Eindruck zu vervollständigen, erscheinen die Wagenlenker -- Pferdebesitzer aus dem Mittelstande -- in klassischer Tracht, umgürtet mit der kurzen Tunica, ein buntes Band um die Stirn geschlungen. Zwei Pferde, deren Alltagsmuth durch Spirituosen reichlich angefeuert wird, bilden die Bespannung. Die Wagen, von denen zwölf gemeldet waren, concurriren zunächst in vier Abtheilungen. Die Sieger der Einzelrennen werden sich dann zum Entscheidungskampfe vereinigen. Ein dritter Kanonenschlag durchzittert die Luft. Mit einem Ruck öffnen sich Flügelthüren des Startgerüstes, und die trunkenen Pferde, befeuert durch Geißelhiebe, stürzen in rasendem Tempo hervor. Gleich bei diesem Auslaufe fällt zumeist die Entscheidung. Wer zuerst die Innenseite der Bahncurve erreicht, ist gewöhnlich auch der schließliche Sieger, denn die unpraktische, kreisförmige Anlage der Rennpiste erschwert den nachfolgenden Läufern das Ueberholen des Vordermanns. Darum wird von Anbeginn wie toll gefahren, und da die Karren schwerfällig, die Rosse von Wein und Schlägen wüthend sind, so ereignen sich gar nicht selten Carambolagen, bei denen ganz empfindliche Katastrophen entstehen können. Sobald die Bighen zur Tribünenhöhe kommen, erfährt der Anfangs entschieden malerische Eindruck eine starke Abschwächung. Die schnurrbärtigen Gesichter der Rosselenker nehmen sich gar seltsam aus zu der altrömischen Gewandung, und dann tragen die Herren zweifelhaft weiße Tricots um die wenig oder gar nicht klassisch geformten Glieder, so daß die Braven nicht wie antike Kämpfer, vielmehr wie moderne Jahrmarkts-Clowns ausschauen. Grotesk wird der Anblick gar, als die Karren vorbeigesaust sind und nun ihre offene Rückseite zeigen. In den Tuniken der aufrecht stehenden Peitschenschwinger fängt sich der Wind und wirbelt das leichte Gewebe in die Höhe, so daß die für die breitere Oeffentlichkeit nicht bestimmten Intimitäten der Unterkleider zum Vorschein kommen. Die auf den Tribünen zahlreich anwesenden Vertreterinnen des zarten Geschlechts nehmen an diesen »Enthüllungen« keinen Anstoß. Vielleicht hindert auch der auf den meisten Gesichtern fingerdick aufgetragene Puder das Constatiren eines schicklichen Erröthens. Die zuschauende Volksmenge ist vollauf mit Johlen und Schreien beschäftigt. Der Fahrer der zuerst vorbeifliegenden Bighe wird bejubelt. Eine kleine Partei hält noch zu Nummer 2 und versucht, sie durch rasende Zurufe anzufeuern. Der dritte, der mit weitem Abstande daherkommt, wird regelrecht ausgepfiffen. Man glaubt gar nicht, welch intensiven Höllenlärm die Italiener ohne alle Instrumente zu Stande bringen können. Nun ist das erste Rennen vorüber. Sieger ist ein Herr mit dem nicht übel klingenden Namen Dante. Dazu stammt er aus Siena, wo man das reinste Italienisch spricht. Eine alte englische Vollblutstute, die durch Zufall in seinen Besitz gelangte, hat ihm den Erfolg verschafft, indem sie sammt ihrem Deichselgenossen allen Concurrenten davonlief. Die übrigen Rennen bringen keine neuen Momente. Nur die Personen und Pferde wechseln. Die Pausen werden durch das Volk selbst ausgefüllt, das sich in fortwährender Action befindet. Zumeist dienen als Zielscheibe die beiden Stadtbüttel, die zu Rosse den Verkehr zwischen den Richterlogen vermitteln. Man hat sie in schreiend rothe Postillonsuniformen gesteckt und auf elende Leihklepper gesetzt, die mit Scheuklappen geschmückt sind. Sobald sich diese Ritter von der traurigen Gestalt in Bewegung setzen, giebt es einen infernalischen Radau. In allen Tonarten wird getrampelt, gepfiffen, gebrüllt. Die Veranstalter des hübschen Concerts leben der »stillen« Hoffnung, die alten Rosinanten könnten doch vielleicht scheu werden und ihre rothbefrackten Bändiger abwerfen. Polizei und Militär ist genug zur Stelle. Aber Niemand hindert das wahrhaft ohrenzerreißende Toben. Das ist hier landesüblich und gehört zur Gemüthlichkeit. Im Uebrigen spotten auch die guten Rößlein ihrer fanatischen Verfolger und tragen geduldig und ohrenwackelnd ihre geängstigten Reiter von Loge zu Loge. Der letzte, der Entscheidungs-Lauf der Bighen, wird wieder durch eine ausgiebige Kanonade und mit Husarenumritt eröffnet. Auch hier bleibt das Glück dem endgiltig obsiegenden Dante getreu. Der kugelrunde Herr wird sammt seiner Bighe im Triumphaufzuge zu den Preisrichtern geleitet, um einen Geldpreis einzukassiren, den er sicherlich dem schönsten, antiken Lorbeerreise vorzieht. Das Volk bereitet dem Sieger im Streite große Ovationen, die mit herablassendem Dankesnicken entgegengenommen werden. Da ist jeder Zoll ein Triumphator! Selbstzufriedener ist ganz bestimmt auch der »große« Dante nicht gewesen, als er die »~divina commedia~« beendet hatte. Langsam beginnen sich die Massen zu zerstreuen, die Osterien und Trattorien anfüllend, um einigen Legionen strohumflochtener Chianti-Flaschen die schlanken Hälse zu brechen. Aber noch ist nicht Alles beendet unter den Ulmenbäumen des Mittelringes. Drohend geschwungene Arme werden sichtbar, Schmerzensschreie ertönen. Mein italienischer Begleiter hatte mir versichert, daß seine Landsleute bei Volksfesten zwar gehörigen Lärm machten, sonst aber musterhafte Ordnung hielten. Nun versuchte ich ihn mit dem offenbar soeben inscenirten Krawall zu widerlegen. Statt aller Antwort führte mich der kundige Paduaner schmunzelnd zu dem Schauplatz der Ereignisse. Da liegen im Grase des ~prato~ lang hingestreckt zahlreiche Leute und lassen sich ohne Widerstand nach allen Regeln der Kunst durchwalken. Die Erklärung dieses Phänomens läßt nicht auf sich warten. Man _wettet_ nämlich in Padua bei den Bighe-Rennen um _Prügel_, deren Zahl je nach den Chancen des Sieges variirt. Der tapfere Dante schien nicht Favorit gewesen zu sein, denn der lebendige Totalisator zahlte ziemlich hohe Odds. Von Buchmachern, die eine Tantieme an der Auszahlung beanspruchten, war weit und breit Nichts zu sehen. Wie wäre es, wenn man diesen originellen und wenig kostspieligen Wettbetrieb auch bei uns einführte? Ich glaube, die nicht selten auftretenden Klagen über die zu große Wettlust der sportsfreudigen Kreise würden mit einem Schlage verstummen. In den Euganeeischen Hügeln. Topographie der Euganeen. -- Die kleinen Bettler. -- Petrarca's Katze. -- Der Monte Rua und sein Kloster. -- Der Landsmann aus Kattowitz. -- Bataglia, das Schwefelbad. -- Eine »Rigoletto«-Aufführung. Wenige Wegstunden von _Padua_, der uralten Stadt des heidnischen Antenor und des heiligen Antonius, wölbt sich aus der Ebene ein Bergcomplex hervor, von zahlreichen, dicht bewaldeten Höhen gebildet. Die Italiener nennen diese, von stattlichen Erhebungen gekrönte Kette bescheiden genug die Euganeeischen Hügel. Ob die so benannte Gebirgslandschaft die letzten Ausläufer der Tiroler Alpen oder die ersten Vorläufer der Apenninen darstellt, das zu entscheiden, bin ich nicht Geologe genug. Aber daß die Euganeen aus Trachytfelsen bestehen, weiß Jeder, der nach der Herkunft der eigenthümlichen Pflasterquadern von Venedig und Padua gefragt hat. Die erste Annäherung lehrt, daß diese Berge vulkanischer Natur sind. Wo ein kleiner Wasserlauf sich windet, an jedem Feldrain, steigen heiße Dämpfe auf. Alle diese Bächlein rinnen aus Schwefelquellen von 70gradiger Temperatur. Die anwohnenden Bäuerinnen haben es bequem, wenn sie braten wollen. Das Koch- und Brühwasser fließt ihnen vor der Thür vorüber. Seit altersgrauen Tagen sind die Heilquellen von Abbano und Battaglia, den Hauptorten des Hügellandes, als Badestätten benutzt worden. In den Römerzeiten standen berühmte Thermen in den Euganeen, und heute haben sich die beiden genannten Plätze zu eleganten Bädern ausgewachsen, die gegen Lähmungen, Gicht, Katarrhe und Frauenkrankheiten Wunder wirken. So malerisch liegen die von blauem Höhenschimmer umgebenen Kuppen zur Schau, so lockend winken sie nach Padua herüber, daß man nicht allzu lange zögern mag, ihnen einen Besuch abzustatten. Außerdem habe ich einen lieben Gefährten zur Seite, der als authentischer Besteiger des Aetna und des Groß-Glockner keine Bodenerhebung in der Nähe wissen kann, ohne den Beruf in sich zu spüren, sie von oben zu betrachten. Also klettern wir eines Tages in einen hochrädrigen Kutschirwagen, verlassen Padua durch die alterthümliche ~porta di Ponte Corbo~ und eilen an den trüben Fluthen des Bachiglione entlang gen Süden. Eine Fahrt durch die oberitalienische Campagna gleicht der Fahrt durch einen endlosen Park. Die Fruchtbarkeit des Landes, in dem hauptsächlich Mais und Wein gedeiht, ist eine überaus glückliche. Der gartenmäßige Eindruck der Landschaft wird durch die Gewohnheit der Bauern vermehrt, ihre Felder mit Zierbäumen einzufassen, und diese durch dichte Kettenranken zu verbinden. In all' dem Grün tauchen verfallene Schlösser auf, die einstigen Landsitze der venetianischen Nobili, dazwischen zerstreut die zahlreichen Bauernhöfe mit stattlichen Hallen- und Backsteinbauten. Bei näherer Besichtigung verliert freilich solch eine bäuerische ~casa~ Vieles von ihrem wohlhabendem Außenwesen. Die Bauern des Veneto mögen tüchtige Landwirthe sein, aber die Schmutzabfuhr scheinen sie nicht zu kennen, und so machen die Höfe einen nichts weniger als appetitlichen Eindruck. Auch die Menschen der verschiedenen Altersstufen haben von dieser allgemeinen Schmutzkruste ihr Theil weg bekommen. Insbesondere die Kinder, unter denen blonde Haare und blaue Augen gar keine Ausnahme sind, lassen sich, wenn sie mit den niedlichen schwarzen Ferkeln im Sande tollen, sehr schwer von ihren Spielgefährten unterscheiden. Das Erscheinen eines mit Fremden besetzten Wagens ist für die kleinen Gewohnheitsbettler das Signal, ihre sämmtlichen Künste zu erproben. Zuerst versuchen sie es mit der Sentimentalität und stöhnen in so herzzerbrechender Weise nach ~caritá~, daß man sie dem Hungertode nahe glauben würde, sähen sie nicht gar so wohl genährt aus. Als diese Trauermimik offenbar ihren Zweck verfehlt, ändert sich flugs das Bild. Es wird ein kleiner Wettlauf neben dem Wagen arrangirt, die Augen blitzen, die Zähne leuchten. Dann geht's an's Räderschlagen, daß die dürftige Bekleidung, das aus mehreren Löchern bestehende Hemde, in den Lüften fliegt und die braunen Körper in der Sonne glänzen. Dazwischen tönt unablässig der Ruf nach einem »~soldino~«. Vor Angst, die unermüdlichen Jöhren könnten sich die Schwindsucht an den Hals laufen oder einige Gelenke brechen, spendet man schließlich die ersehnten Kupferstücke. Sofort ist der Schwarm wie weggeblasen. Aber am Straßenrand hocken die kleinen Räuber und überzählen die Beute. Sie haben auf Theilung gespielt. So geht es durch Abbano, des Titus Livius uralten Geburtsort, der sich vornehme Villegiaturen und prächtige Badehäuser zugelegt hat. Etwas weiter in das Gebirge hinein liegt Arqua, ein kleines Dörfchen, das eine berühmte Sehenswürdigkeit enthält: Haus und Grab Petrarca's. In dem gut erhaltenen Häuschen hat der große Sonettendichter seine letzten Lebensjahre zugebracht und einen sanften Tod gefunden. Für sein Grabmal hat er sich selbst das Epitaph geschrieben. Auch eine Genossin Petrarca's ist noch wohleinbalsamirt vorhanden: des Dichters Katze. In Galzignano, einer Ortschaft, die sich reizvoll heimlich zwischen die beiden höchsten Berge der Euganeen, den Monte Venda und den Monte Rua, hineinschmiegt, ist die Wagenfahrt zu Ende. Unser Ziel ist das den letztgenannten Berg krönende Kloster _Rua_. Der Rua-Berg ist ungefähr so hoch, wie der heimische Zobten. Mein Genosse erklärt ihn für ein mittleres Maulwurfhügelchen, dessen Besteigung für ihn, der »auf dem Aetna und dem Großglockner« gewesen ist, eine entschiedene Herablassung bedeutet. Mir aber, der ich im Bergsteigen weniger ~au fait~ bin, wird der Aufstieg, der nicht immer auf gebahnten Wegen und manchmal recht steil aufwärts geht, sauer genug. Dazu brennt die italienische Sonne munter herab und die Rua-Kuppe rückt nur langsam näher. Endlich stehen wir an der Klostermauer, aber mein Frohlocken kam zu früh. Innerhalb der labyrinthisch sich in die Höhe windenden Mauern gilt es noch fast eine halbe Stunde vorwärts zu streben, ehe wir vor dem zinnengeschmückten Thore halten. Die Glocke giebt einen mürrischen, gellen Klang von sich, als wäre sie ärgerlich, in ihrer beschaulichen Ruhe gestört zu werden. Nach längerer Pause öffnet der Pförtner in schneeweißem Wollengewande, Sandalen an den Füßen und einen breitrandigen Strohhut auf dem Kopfe. Schweigend geleitet er uns in ein bescheiden ausgestattetes, niederes Wartezimmer, dessen schönster Schmuck die durch die Fenster lachende Aussicht in's blühende Land ist. Ein zweiter Pater, jünger als der erste, erscheint, um uns durch die Klosterräume zu geleiten. Die Bitte um eine Erfrischung wird freundlich gewährt. Dienstfertig bringt der junge Mönch eiskaltes Wasser herbei, das nach den überstandenen Strapazen wonnevoll mundet. Dabei unterhalten wir Fremden uns ungenirt in der heimatlichen Sprache, sicher, nicht verstanden zu werden. Plötzlich fragte der Pater schüchtern, ob wir Italiener seien. Wir verneinen und proclamiren unser Deutschthum. Da kommt es in stockenden Lauten von den Lippen des Ruensers: »Auch ich bin ein Deutscher.« Neugierig ob der etwas fremdartigen Aussprache forsche ich nach der speciellen Zugehörigkeit des Landsmannes. Die Antwort lautet: »Ich bin aus -- Kattowitz.« Tableau! Hier oben in der Klosterstille von Rua einen Schlesier und noch dazu einen aus dem berühmten Gemeinwesen Kattowitz zu treffen, darauf hatten wir freilich nicht gerechnet. Dem Vereinsamten schien es eine wahre Freude, wieder einmal die Muttersprache reden zu können. Er erzählte, daß er im Polnischen »hinter Warschau« in den Orden getreten und alsbald nach Rua verschickt worden sei. Seit sechs Jahren weile er hier und habe nie den Fuß vor das Thor gesetzt. Dann gab er uns eine durch die Anschauung unterstützte Erklärung des Ruenser Klosterwesens. Der Klosterbau ist uralt, der Erbe des noch älteren, durch Plünderung zerstörten Mönchstifts vom nahen Monte Venda. Die Ruenser Fratres haben Benedictiner Confession und Camaldulenser Regel. Außer der Kirche befindet sich innerhalb der Mauern eine große Anzahl kleiner Siedelhäuschen, die sich terrassenförmig übereinander an die Berglehne hinlagern. Diese steinernen Häuschen enthalten je eine Kapelle, einen Eß- und einen Schlafraum. Davor ein Gärtchen zur Blumenzucht. Jeder Mönch bewohnt eines dieser Gebäude für sich allein. Gemeinsamer Tisch wird nicht gehalten, ebenso ist an den meisten Tagen das Reden und jegliche Unterhaltung untersagt. Das Innere der Zellen ist sauber, einfach, schmucklos. Den einzigen Aufwand auf Rua macht die Kirche, die einige gute Altargemälde und kostbare Weihgefäße besitzt. Ihre Hauptreliquie ist ein in die Wand eingelassenes bärtiges Marmorgesicht, angeblich die Todtenmaske Johannes des Täufers. Sie wurde bei einer Plünderung des Klosters Venda gerettet und hier herüber gebracht. Die beste Zierde von Rua ist seine herrliche Fernsicht. Dicht benachbart ragt der majestätische Venda empor und hinter ihm öffnet sich in Schluchten und Hängen das grünende Bergland der Euganeen. Auf der Nordseite schweift der Blick weit in die sonnige Ebene nach Padua, nach Vicenza und Mestre. In silberne Schleier gehüllt leuchtet am Horizonte das Adriatische Meer und darüber bauen sich die Kuppeln und Thürme der wundersamen Lagunenstadt Venedig empor. Unser Landsmann von Kattowitz ist gegen alle diese Reize gänzlich abgestumpft. Wenn man sie sechs Jahre hindurch täglich vor Augen hat, ist es erklärlich, daß man selbst solcher Schönheit müde wird. Gern hätte ich noch gewußt, was unseren Landsmann veranlaßt hat, in so jungen Jahren in diesen strengen Orden zu treten. Das Antlitz eines religiösen Schwärmers hat er durchaus nicht. Aber als er der Frage ausweicht, dränge ich nicht weiter in ihn. Vielleicht wären auch seine Aufschlüsse nichts weniger als romanhaft interessant gewesen. Endlich schieden wir von unserem freundlichen Führer, nachdem wir unsern Dank noch mit einer kleinen Geldspende verstärkt hatten. Hinunter geht es hurtig genug und bald saßen wir wieder im Wagen, der uns nach Battaglia, dem größten Badeorte der Euganeen führte. Das weit im Lande sichtbare Wahrzeichen von Battaglia ist das auf steilem Trachytkegel thronende Schloß des Grafen Wimpffen dem auf Meilen im Umkreise die Gegend gehört. Mächtige, breite Treppenterrassen, die von der Ebene bis zum Gipfel steigen, ein prachtvoller Park, der sich zu Füßen und an den Seiten des Schloßfelsens entlang zieht, geben der Residenz ein besonders stolzes Gesicht. Die Fahne weht zum Zeichen der Anwesenheit des Besitzers. Trotzdem steht der ganze Complex den Kurgästen zur Benutzung frei. In den Dependenzen des Schlosses befinden sich zahlreiche Badeanlagen, darunter die natürliche Dampfgrotte, die eine Hitze von 50 Graden aufweist. Das Etablissement steht unter gräflicher Administration, wird vortrefflich geleitet und ist vom elegantesten Publicum besucht. Dennoch kostet in der Hochsaison die volle erstklassige Pension nur 10 Lire = 8 Mk. pro Tag. Das ist so ein kleiner Beweis für die außerordentliche Billigkeit von Ober-Italien, von der freilich diejenigen Durchreisenden wenig merken, die ausschließlich in den internationalen Karawansereien der Fremdenstädte verkehren. Von der Trefflichkeit der Verpflegung konnten wir uns selbst überzeugen. Der riesige Speisesaal ist überfüllt, das Diner ausgezeichnet. Oben an der Tafel präsidirt der joviale Badearzt ~Dr.~ Pezzolo durch seine Anwesenheit gewissermaßen die kurgemäße Unschädlichkeit der aufgetragenen Genüsse verbürgend. Herr ~Dr.~ Pezzolo ist ein Feinschmecker. Das beweist er ebenso durch die sorgfältige Auswahl der für seinen Teller bestimmten Stücke, als durch die kluge Disposition, mit der er die beiden hübschesten Mädchen der Badegesellschaft zu Nachbarinnen bekommen hat. Nach dem Diner schlägt die Majorität der Kurgäste den Weg zum Theater ein. Denn Battaglia hat in der ~Sala Marigo~ seine eigene Oper. Man giebt den »Rigoletto« und so wandern auch wir zu dem Musentempel, der zwar electrische Lampen, im übrigen aber das Aussehen eines ziemlich primitiven Tanzsaales aufweist. Die Ausführung der Verdi'schen Schauer-Oper war ähnlich disharmonisch, wie der Raum in dem sie sich abspielte. Einzelne Leistungen strahlten wie electrisches Licht hervor, der Rest war -- Schmiere. Das Orchester, mit 25 Mann besetzt und tüchtig geleitet, wurde seiner Aufgabe vollkommen gerecht. Ausgezeichnet war der Baß Campello. Er mußte jeden Tact, den er sang, wiederholen. Sehr wacker hielt sich der Vertreter der Titelrolle, Cesarotto, der, ein Schüler des trefflichen venetianischen Gesangsmeisters Alberto Selva, eine wohlgebildete, in der höheren Lage glanzvolle Stimme producirte. Sein Vortrag vibrirte von echt italienischem ~slancio~. Damit war, was der Abend an wirklicher Kunst bot, erschöpft. Die Gilda, des Narren holdes Töchterlein, war so abnorm häßlich, daß der herzoglich mantuanische Geschmack ganz unbegreiflich erschien. Leider fühlte das Fräulein auch nicht die Notwendigkeit, ihre äußeren Mängel durch guten Gesang vergessen zu machen. So empfand man bei Gildas entsetzlichen Schicksalen nichts als eine gewisse Befriedigung darüber, daß es der tremolirenden, falsch singenden Person so miserabel erging. Die Duenna Gildas wurde durch eine ältere Dame von unheimlichem Umfang vertreten. Später tänzelte dieser selbe Koloß plötzlich als zarter Page in himmelblauen Tricots neckisch über die Bühne. Der Herr Herzog hatte vielleicht einstmals in längst verschwundenen Tagen eine Stimme gehabt, jetzt hatte er nur noch auf dem linken Tricot einen gesunden Fettfleck. Die krampfhaften Versuche, dieses Malheur zu verbergen, schädigten bisweilen die Würde der herzoglichen Haltung. Bezeichnend für den geringen Ernst, den das italienische Publicum für seine musikalischen Kunstwerke übrig hat, war die »Bereicherung«, die der dritte Act erfuhr. Signor Cesarotto hatte nämlich seine ~serata d'onore~ (Benefiz) und anläßlich dieses Ereignisses erschien er plötzlich im Gesellschaftsanzuge ohne Rigoletto-Maske im Herzogspalaste, um aus dem vorgehaltenen Notenhefte einen unglaublich sentimentalen Singsang anzustimmen, in dessen Refrain er stets behauptete: ~la mia sposa sera la mia bandiera~ (Mein Weib wird meine Fahne (!) sein«). Das schöne Lied stammt von Rotoli und ist noch trivialer, als die Leierkastenmusik des Signor Tosti, neben dem für einen richtigen Italiener kein anderer Lieder-Componist existirt. Aber da die Nummer der hohen Stimmlage des Sängers beste Gelegenheit zur Entfaltung gewährte, so mußte das schaurige Ding gleich mehrmals unter den begeisterten ~Bis~-Rufen der Corona widerholt werden, worauf der glückselig lächelnde Bariton abtrat und sich die Rigoletto-Maske wieder anschminkte. Derlei Geschmacklosigkeiten werden hier absolut nicht als solche empfunden. Im italienischen Zeitungsstil heißt das »eine gelungene Episode«. Trotz dieser unvorhergesehenen Zuthaten fanden auch die blutrünstigen Morithaten Rigolettos ihr Ende und um einen Kunstgenuß reicher fuhren wir durch die schweigende Campagna nach Padua zurück. Frau Luna, hell am sternenklaren Nachthimmel schimmernd, versprach einen wunderschönen Folgetag. Wie recht aber der Rigoletto-Textdichter mit seinem eben so knappen, als wahren Ausspruche »~La donna e mobile~« hatte, sollte sich hier wieder einmal zur Evidenz erweisen, denn Frau Luna hatte gelogen und am nächsten Tage regnete es scheußlich. Venetianische Feste. Die Venetianer als Fischmenschen. -- Das Seebad am Lido. -- Männliche Badefrauen. -- Herrenbesuche im Damenbad. -- Die Restaurationsterrasse und Verlobungen bei Musik. -- Der Gondeltenor und seine Potiphar. -- Volksfeste und die Polizei-Spritze. -- Heiliger Marcus, hilf! Venedig im Sommer ist so recht geeignet, das in Deutschland herrschende Vorurtheil zu widerlegen, Italien sei in der heißen Jahreszeit für den Nordländer ungenießbar. Für Theile des südlichen Italiens, speciell für Rom, sei gern zugegeben, daß ein Besuch im Frühjahr oder Herbst empfehlenswerther ist, obgleich auch dort um diese Zeit das eigentliche Volksleben auf der Gasse fehlt, das in seiner Art mindestens die gleiche Aufmerksamkeit verdient, wie der überströmende Reichthum an Kunstschätzen und Architectur-Schönheiten. Venedig insbesondere belebt sich erst, wenn die Sonne heiß herniederbrennt. Dann steckt die ganze Bevölkerung vor ihren Thüren im Wasser. Der Venetianer wird zum Fischmenschen. Die Familie wandelt innerhalb des Hauses im Badeanzug einher, und jede freie Minute wird rasch zu einem Schwimmausflug vor das Haus benutzt. Eine Gondelfahrt durch das Gewirre von Canälen und Canälchen gewährt gegen den Abend hin einen sonderbar belustigenden Anblick. Pustend, schnaubend und spritzend, wie eine Bande übermüthiger Wasserthiere, tummeln sich Männer, Weiber und Kinder in dem belebenden Element. Aller Augenblicke öffnet sich eine Thür, und heraus stürzt sich eine nothdürftig bekleidete Menschengestalt im Kopfsprunge. Andere halten es noch bequemer und springen gleich vom Fenster aus, ein paar Stockwerke hoch, in die Fluth. Ein deutsches Schutzmannsherz würde sich umdrehen Angesichts dieses ungebundenen Treibens. Die venetianische Polizei erlaubt es sogar officiell und wünscht nur, daß ein gewisses Minimum von Costüme stets vorhanden sei. Damit ist freilich nicht gesagt, daß dieser Ukas überall und immer befolgt wird. In dem nicht allzusauberen Canalwasser tummelt sich natürlich nur das ärmere Volk. Der Wohlhabende an Zeit und Geld fährt hinaus nach dem Lido. Venedig ist nicht blos eine große, mit Wundern aller Art gesegnete Stadt, es ist auch das fashionable _Seebad_ für die angrenzenden Provinzen Ober-Italiens. Dem eleganten Lombarden oder Veneter ist die Saison zu Venedig ebenso ~de rigueur~, wie der Strand von Heringsdorf oder Kolberg dem Berliner. Die Dampfer, welche viertelstündlich den Verkehr zwischen der Riva dei Schiavoni und dem Lido vermitteln, sind stets vollgepfropft mit lustig schwatzendem Badevolke: Die Damen in hellen, lichten, buntfarbigen Toiletten, die Herren in weißem Flanell und englischen Strandmützen, die Knaben in kecken Matrosen-Anzügen, die das gesunde Braun der nackten Waden freilassen, und die kleinen Mädchen in jenen entsetzlichen langen Kleidchen, wie sie die Phantasie der Frau Kate Grenaway und die Mode erdacht haben. Kaum hat das Schiff an der Nordseite des Lido angelegt, so beginnt der allgemeine Sturmlauf nach den Pferdebahnwagen. Der Tramway, dessen Pferdepark die einzigen Exemplare dieser nützlichen Vierfüßler im Bannkreise von Venedig umfaßt, durchfährt die villen- und trattorienbesetzte Insel ihrer Breite nach in circa 5 Minuten und setzt seine Gäste direct vor dem riesigen Bade-Etablissement ab. Das Gebäude mit seinen Vergnügungs- und Bade-Anlagen, seinen zahllosen Zellen, seinen Wäscheausgabe- und Werthaufbewahrungs-Stellen ist so zweckmäßig eingerichtet, daß mancher deutsche Bade-Commissär hier mit großem Nutzen längere Studien machen könnte. Der eigentliche in der See abgegrenzte Baderaum zerfällt in zwei benachbarte Theile, von denen der eine den Herren, der andere den Damen reservirt ist. Die Absperrung ist aber nicht so ernst gemeint. Zunächst hat das schönere Geschlecht officiellen Zutritt im Herrenbade, ein Recht, das ebenso von den Damen der besseren Gesellschaft, wie von den Vertreterinnen der pikanten Gattung benutzt wird. Ferner sind die im Damenbad angestellten »Badefrauen« -- Männer, und das inmitten der Abtheilung haltende Wachtboot ist ebenfalls bemannt und nicht beweibt. Man kann sich denken, daß diese wackeren Leute nicht allzu eifrig bestrebt sind, Herrenbesuche vom Gestade der Seligen fern zu halten. Hie und da kommt es freilich vor, daß eine zornige Dame aus jener Altersklasse, nach der sich die bösen Eindringlinge nicht mehr umzusehen pflegen, so lange Lärm schlägt, bis die schläfrigen Wächter in ihrem Boote zu ihrer Pflicht erwachen und die unterschiedlichen Adams aus dem Paradiese treiben. Nach einer halben Stunde ist aber regelmäßig der ~status quo ante~ wieder hergestellt, und der amüsante Flirt im Wasser nimmt seinen ungestörten Fortgang. Derartige Beobachtungen entschädigen reichlich für die Zahmheit des Seebades selbst. Das Adriatische Meer weist im Sommer sehr hohe Temperaturen (durchschnittlich 24--28 Grad Celsius) und zumeist wenig oder gar keinen Wellenschlag auf. Besinnt es sich einmal darauf, daß ihm als reputirlichem Meere eigentlich eine wildere Physiognomie gebührt, so streikt alsbald das italienische Publicum. Bei etwas kälterem Wasser oder einem mäßigen Wellentreiben, das einem Sylter oder Helgoländer Stammgaste noch wie eitel Süßwasserspielerei erschiene, geht kein Italiener in das balkenlose Element hinein. Dann ist es leer am Lido, und von den wenigen Kühnen, die, von den Badedienern angestaunt, den Kampf mit den Wellen wagen, hört man ausschließlich englische oder deutsche Laute. Nach dem Bade findet man sich auf dem in's Meer hineinragenden Restaurationspavillon zusammen, wo man bei einem Glase Vermouth das laute Treiben der Badenden, die dicht vor der Terrasse ihre schönsten Künste steigen lassen, beobachten oder aber, wenn man Liebhaber einer schlechten Musik ist, der concertirenden Kapelle seine Aufmerksamkeit schenken kann. Für Junggesellen ist indessen diese Terrasse nicht ungefährlich, denn auf ihr nehmen zahlreiche im Wasser angesponnene Romane ein Ende mit Schrecken. Hier ist das Reich der Mütter, hier verlobt man sich. Die Privatstatistik weiß Wunderdinge über die Häufigkeit solcher Fälle zu berichten. Es ist recht sonderbar, daß Paolo Mantegazza, der Feuilletonist unter den Medicinern, diese seltsame Erscheinung bisher unbeachtet gelassen und noch kein Buch geschrieben hat mit dem Titel: »Das Seewasser und sein Einfluß auf den Verehelichungstrieb der Menschen.« Mit allen diesen Attractionen sind aber die Reize des Lido keineswegs erschöpft. Nicht blos der Naturfreund, der Sittenschilderer, der Modeschriftsteller, der Gourmand und die -- Schwiegermutter, auch der Theaterschwärmer kommt zu seinem Recht. Im großen Saale des Restaurants ist meist eine Operntruppe installirt, die allerdings keine übermäßige Anziehungskraft ausübt. Die musikliebende Fremdencolonie findet man Abends auf dem ~Canale grande~ um die unterschiedlichen »Serenaten« der Volkssänger-Gesellschaften Revue passiren zu lassen. Der beliebteste Gondelsänger ist der Tenor Giacomelli, der mit weicher, schmachtender Stimme seine Liebeslieder voller Verve und Inbrunst vorträgt. Die in ihren Gondeln lauschenden Missis finden ihn ~very nice indeed~ und bedauern nur, daß er nicht an allen Abenden zu hören ist. Bisweilen nämlich zuckt der Gondelier, dem man zuruft »~alla serenata Giacomelli~«, die Achsel und meldet geheimnißvoll, das der Gesuchte heute nicht sänge. Bei dringender Nachfrage erfährt man dann, daß der arme Giacomelli das Schicksal der meisten Tenöre theile und von Frauengunst stark umworben sei. Neuerdings habe ihm eine schöne ~principessa~ ihr Herz geschenkt, und dieser Giacomelli sei kein venetianischer Joseph, der den Mantel bei seiner Potiphar lasse, um auf den ~canalazzo~ singen zu gehen. Ist dieser Roman nur Reclame, so ist sie gewiß nicht ungeschickt ersonnen. Denn läßt der glückliche Tenorist an seinen ~principessa~-freien Abenden die Stimme erklingen, so erscheint er allen Damen noch einmal so interessant als sonst. Rudert nach beendetem Ständchen die bunt beleuchtete Sänger-Gondel heran, so regnet es blankes Silber in den herumgehenden Sammelhut. Dem Geliebten einer ~principessa~ kann man doch kein Kupfer geben. ~Noblesse oblige!~ Im Uebrigen verläßt sich die Stadt Venedig nicht allein auf Privatunternehmer, wenn es gilt, den vergnügungssüchtigen Einheimischen und den schaulustigen Fremden Unterhaltung zu bereiten. Drei große »Nummern« pflegt das splendide Municipio allsommerlich loszulassen: eine Riesen-Serenata, ein Wohlthätigkeits-Tombola und endlich, als Culminationspunkt, die altbeliebte Gondel-Regatta. Für die Serenate wird ein rundes Holzschiff erbaut und mit farbigen Lampen reich geschmückt. Auf dieses schwimmende Podium postiren sich ein Orchester von ca. 80 Mann, ein ebenso starker Chor und mehrere Solisten. Die mannigfachen Vorträge bereiten einen wirklichen Kunstgenuß, der im eigenartigsten Concertsaale der Welt mit dem Wasser als Boden, den Gondeln als Logen und dem sternbesäten Himmel als Decke empfangen wird. Die Tombola mit ihren Tausenden von Loosen und drei Gewinnen (400, 500 und 1000 Lire) bietet ein Schauspiel, bei dem das Volk von Venedig die Hauptacteure stellt. Zwei prächtig decorirte Pavillons, der eine für die Ziehung, der andere für das Aufziehen der Nummern bestimmt, werden auf dem Marcusplatze errichtet. Dieser einzige Platz, den seine herrlichen Bauten wie eine steingewordene Märchenphantasie erscheinen lassen, erstrahlt in festlicher Beleuchtung, der gewaltig zum Nachthimmel sich reckende Campanile in bengalischem Lichte. Der Steinboden der Piazza ist zum großen Theile mit Stühlen bestellt, den übrigen Raum nehmen in fürchterlicher Enge stehende Menschenmassen ein. Die zierlichen Tauben, des Marcusplatzes beliebte Pensionärinnen, die doch von den Abendconcerten her an einen schönen Durchschnittstrubel gewöhnt sind, schwingen sich aufgeregt in die Lüfte empor. Im Handumdrehen haben sich mitten im Gewühle die landesüblichen Klein-Industrien entwickelt. Eiswasser, Bleistifte, Cigaretten, Citronen und ähnliche gangbare Artikel werden kreischend feilgeboten, bis ein kräftiger Trompetenstoß den Beginn der Ziehung verkündet. Dann lebt Alles nur noch den Ereignissen Fortunas. Mit athemloser Spannung wird jede einzelne Nummer begrüßt. Um die Personen, deren Loos-Zettel die Glückszahlen enthalten und die Besitzer dem ersehnten Quaterno nähert, bilden sich erregt gesticulirende Gruppen. Ein Schrei geht durch alle diese Menschen, als der erste vermeintliche Gewinner im Laufschritt dem Lotteriepavillon zueilt, und schrilles Pfeifen begrüßt den Unglücklichem der sich in einer Zahl geirrt hatte und darum schleunigst wieder zum Vorschein kam. Als dann der wirkliche Eroberer des Quaternos erschien und noch dazu ein waschechter Venetianer war, da gab es einen tumultuösen Applaus. Die Regatta endlich gestaltet sich zu einem Volksfeste ersten Ranges. Der ~Canale grande~ belebt sich Stunden vor dem Beginn mit einer nicht annähernd zu schätzenden Zuschauer-Corona. Die prächtigen alten Paläste an diesem großen Wasser-Boulevard sind mit Gobelins und Teppichen festlich geschmückt und von Neugierigen bis zum Dache gefüllt. Die flankirenden Kais erscheinen mit Stühlen besetzt wie ein riesiges Parterre. Die Hauptmenge aber bewegt sich auf dem Wasser. Neben dem ganzen stattlichen Gondelaufgebot sind unzählige Barken und riesige Familienboote zur Stelle, die durch Sessel zu schwimmenden Tribünen umgewandelt werden. Ein wahrhaft lebensgefährliches Gewimmel herrscht um die Zielgegend, am Palazzo Foscari zwischen der Rialto-Brücke und dem Ponte Ferro. Hier haben die Schaulustigen sogar auf den aus dem Wasser ragenden Gondelpfählen und auf den Häuserreihen Posto gefaßt. Die Hüter des Gesetzes sind eifrig bei der schweren Aufgabe, in dem Gewimmel von Fahrzeugen freie Bahn für die Rennenden zu machen. Da die Polizei ebenfalls in Gondeln fährt, so ist ihre Actionsfreiheit sehr gehemmt. Die Art, wie die Schutzleute dennoch ihren Anordnungen den nöthigen Nachdruck verschaffen, ist ebenso drastisch wie originell. In jeder Polizeigondel steht ein Feuerwehrmann, der eine direct aus dem Canal gespeiste, riesige Spritze handhabt. Wird den Befehlen der heiligen Hermandad nicht sofort Folge geleistet -- Platsch! ergießt sich ein mächtiger Wasserstrahl auf Gondelführer und Insassen. Das Mittel ist nicht fein, aber es hilft. Ein farbenfroher und glänzender Umzug der städtischen Festordnergondeln eröffnet die Regatta. Die Municipal-Fahrzeuge sind wundervoll mit Peluche, Seide, Metallbehängen und phantastischem Figurenaufputze decorirt. Ihre Lenker stecken in prächtigen mittelalterlichen Trachten von Sammet- und Brocatstoffen, die mit den Bootsfarben harmoniren. Ein Stück des alten Venetianer Glanzes aus den Blüthezeiten der mächtigen Republik scheint in's Leben zurückgekehrt. Einigermaßen contrastirt mit der wirklichen feenhaften Ausschmückung der Boote ein im Mitteltheile jedes Schiffleins aufgepflanzter Weinzuber, aus dem die romantisch gekleideten, mit blonden Pagenperrücken versehenen Ruderjünglinge bei jeder Haltegelegenheit »Einen nehmen«. Je Einer trinkt, und drei Andere halten das Ungethüm von Flasche, das ungefähr den Umfang eines größeren Luftballons hat. Es ist leicht zu begreifen, daß gegen das Ende des Umzuges der Ruderschlag an Präcision Einiges eingebüßt hat. Die eigentliche Regatta ist kein allzu aufregendes Ding. Es concurriren mehrere der Gondelform nachgebildete schmale, niedere Rennboote mit je zwei stehend arbeitenden Ruderern. Da die zu durchmessende Strecke weit über eine Wegstunde lang ist und von einem sportsgerechten Training der Gondoliers keine Rede sein kann, so sind die Gestarteten vor dem Ziele so erschöpft, daß ein ernstlicher Endkampf nicht stattfindet. In weiten Abständen kommen die vier Ersten einher, um ihre Siegesfahnen, an die ein stattlicher Geldpreis geknüpft ist, in Empfang zu nehmen. Dann Tusch, und die Regatta ist zu Ende. Unter den Zuschauern aber beginnt nun der Kampf um's Wegkommen. Die Polizei und ihre Kanonenspritze wären jetzt vortrefflich am Platze, aber Beide sind längst verschwunden. So muß jeder Einzelne sehen, wie er dem Chaos entrinnt. Aller Augenblicke krachen die Boote aufeinander, die Gondoliers fluchen, die Insassen halten bei den fortwährenden Stößen mühsam Balance. Für zartbesaitete Gemüther ist dieses Schlußvergnügen mäßig. Immerhin weiß der Festbericht am nächsten Morgen nur von einem halben Dutzend zertrümmerter Boote und keinem einzigen ernstlichen Unglücksfalle zu berichten. Wahrhaftig, diese Venetianer haben an ihrem heiligen Marcus einen wackeren Schutzpatron. Römische Momentbilder. Römische Rosselenker. -- In der Villa Borghese. -- König und Königin. -- Corso. -- Auf der Piazza Colonna. -- Ben Akiba und die capitolinische Venus. Der _römische Droschkenkutscher_ hat mit seinem deutschen Collegen fast Nichts gemein, als die -- Droschke. Geburt und Erziehung haben gleichmäßig zu der Verschiedenheit der Arten beigetragen. Heißeres, unruhigeres Blut rollt in den Adern des südländischen Rosselenkers, und seine Erziehung hat die Polizei arg vernachlässigt. Der deutsche Droschkenführer fühlt das strenge Auge des Gesetzes beständig auf sich gerichtet. Er hält sich und sein Gefährt in vorschriftsmäßiger Ordnung, kennt das paragraphenreiche Reglement auswendig und harrt auf seinem Kutschbocke in stoischer Ruhe der Fahrgäste, die nicht immer kommen wollen. Natürlich ist er, wie so Vieles in Deutschland, uniformirt. Ganz anders sein Römischer Berufsgenosse. Ihm läßt die Polizei manche Freiheit, und er benutzt sie redlich. Das Institut der Halteplätze kennt man auch hier, aber der Kutscher, der keine Lust zur Geselligkeit hat, stellt sich einfach hin, wo es ihm gerade gefällt. Und nun beginnt die Hauptbeschäftigung des Römischen »Numerirten«: der Kampf um den Fahrgast. Nähert sich seinem Standorte eine Person, die halbwegs aussieht, als könne sie sich den Luxus einer Fahrt leisten, so erhebt sich der Kutscher vom Bocke und winkt mit beiden Armen auf das Lebhafteste, während ein freundliches Lächeln sein Antlitz überzieht. In diesem Augenblicke macht er ganz den Eindruck, als habe er einen alten, lieben Freund wiedergefunden und deute diesem pantomimisch an, daß er leider den Bock nicht verlassen könne und daher um einen Besuch bitte. Folgt der also Aufgeforderte der Einladung nicht, so stellt der Kutscher die Diagnose auf Augenschwäche. Denn nunmehr nimmt er die Peitsche und knallt so heftig, daß selbst die an solche Klänge gewöhnte Rosinante unruhig die Ohren spitzt. Hilft auch dieses Mittel nicht, so theilt der Unermüdliche dem unterdeß näher Gekommenen vorwurfsvoll mit, daß hier eine ~carozza~ stehe, und frägt in schmeichlerischem Tone »~vuole~?« (»Wollen Sie?«) Für gewöhnlich, d. h. in Stadtgegenden, wo sich keine Sehenswürdigkeiten befinden, sind damit seine Künste erschöpft. Glaubt er aber, einen ~forestiere~ vor sich zu haben, dessen Schüchternheit einer besonderen Aufmunterung bedürfe, so setzt er, ganz, wie wenn er gerufen worden wäre, seinen Gaul in Trab und fährt dem Dahinschreitenden derart vor die Füße, daß diesen ein Fortsetzen seines Weges unbedingt in den Wagen führen muß. Macht der also Verfolgte geduldig einen Umweg und geht etwa auf eine in der Nähe befindliche Omnibus- oder Pferdebahn-Haltestelle zu, so hat er stets die Droschke zur Seite, deren Lenker jetzt allerhand mysteriöse Zeichen zu machen beginnt. Er legt einen Finger quer über die Mitte des anderen, d. h. zeigt seine Bereitwilligkeit an, für die Hälfte des Tarifs zu fahren. Oder er unterbietet sich noch weiter und tritt mit den Preisen der Pferdebahn in ernsthafte Concurrenz. Letztere Manöver sind natürlich nur im Sommer, in den Monaten der Fremdendürre, üblich. Zu den Zeiten, wo Rom von Bädekern überfluthet ist, versucht es der Römische Automedon eher mit einer eigenmächtigen kleinen Erhöhung des Tarifes. An den Gefährten selbst, deren Form den Berliner Droschken erster Güte gleicht, fällt eine merkwürdige Einrichtung auf. Rechts vom Kutscher befindet sich die Bremse, die bei den 7 Hügeln, auf denen Rom, wie jeder Klippschüler weiß, erbaut wurde, eine entschiedene Nothwendigkeit ist. Zur Linken des Fahrers aber ragt eine dicke Holzstange von Meterhöhe empor. Erst bei Regenwetter enthüllen sich die Zwecke dieses geheimnißvollen Instrumentes. Auf ihm wird dann nämlich ein riesiger Regenschirm aufgesteckt, gegen dessen Dimensionen sich die umfangreichsten Regendächer unserer Hökerweiber wie zierliche Entoutcas ausnehmen. Diese sinnreiche Einrichtung hat zweierlei Vortheile: erstens schützt sie den Kutscher vor dem Regen, und zweitens wird der Fahrgast noch weit nässer als sonst, denn er kommt buchstäblich aus dem Regen in die Traufe. Die äußere Erscheinung der Herren Droschkenkutscher bestätigt den alten Satz: Wie der Herr, so's Geschirr. Auf den Kutschböcken solcher Wagen, von denen sich der Gast mit Grausen wendet, sitzen Gestalten von wahrhaft imponirender Schmutzigkeit. Daneben überwiegt, wie überall, die Menge derer, die im Guten wie im Schlimmen den Mittelweg einhalten. Endlich aber giebt es auch »Zeuge«, die von Sauberkeit und Frische leuchten und deren Lenker ohne Weiteres als Typen des Bock-Gigerls zu bezeichnen sind. Moderngelbe Schuhe, heller Sommeranzug, schwarzes Künstlerhütchen und genial geschlungene Cravatte bewirken, daß der Kutscher bisweilen eleganter ausschaut als sein Fahrgast. Diese noblen Fiaker finden sich am häufigsten auf der Piazza di Spagna, dem Mittelpunkte des Fremdenviertels. Sie befleißigen sich besonders Damen gegenüber einer Höflichkeit, die beinahe an's Courschneiden grenzt. Diese immerhin auffällige Erscheinung hat ihren guten Grund. Vor wenigen Jahren nämlich hat sich eine schon etwas angejahrte, aber um so reichere Engländerin in einen dieser Rosselenker verliebt und den schwarzlockigen Jüngling als ihren Ehegemahl nach dem Inselreiche entführt, wo der Glückliche, einem ~on dit~ unter seinen früheren Collegen zufolge, nunmehr nur noch »mit Vieren lang« fährt. Seitdem drängt sich die Elite der Römischen Droschken-Kutscher auf der Piazza di Spagna, und mit schmachtenden Blicken verfolgen sie jedes weibliche Wesen, welches große Füße hat und einen rotheingebundenen Bädeker trägt. Ob solche Bemühungen eine zweite Auflage des eben skizzirten Romans gezeitigt haben, darüber schweigt meine Quelle. * * * * * Die Stätten, an denen der Römer am liebsten frische Luft schöpft, sind die Villa Borghese und die Villa Doria-Pamfili. Die erstere, deren fürstliche Besitzer arg verschuldet sind, steht jetzt unter der Verwaltung der Stadt, die aber wenig für ihren Pflegling zu thun scheint. Die riesigen Waldanlagen, die sich am Fuße des Monte Pincio hinziehen, sind ziemlich verwildert, und nur das Casino, in dem sich einige berühmte Rafaels, Tizians und Correggios befinden, prangt in altem, unvermindertem Glanze. Weit vortheilhafter präsentiren sich die Anlagen der Villa Doria, die, auf den Anhöhen jenseits des Vatican gelegen, wundervolle Ausblicke nach außen und köstliche Landschaftsbilder nach innen bietet. Sie ist jedoch schwerer zu erreichen und seltener geöffnet, daher nicht so populär, wie die Villa Borghese. Beide Parks beleben sich erst gegen Abend, wenn man die Schaaren von Kindern ausnimmt, die auch tagsüber auf den Wiesen ihr lautes, lustiges Wesen treiben. Zur Zeit des späten Nachmittags rollen dann die Wagen in endloser Reihe heran. Die Villa »Borghese« erhält vor der schöneren Rivalin schon deswegen den Vorzug, weil der Weg zu ihr durch den Corso, die Hauptstraße Roms, führt. Kein größeres Vergnügen für den Römer, der Equipage hält oder miethet, als dieser Corso auf dem Corso. Nicht Jeder vermag dieses Vergnügen nachzufühlen, denn der Corso ist eng, staubig und von beängstigendem Menschengewühl erfüllt. Und dennoch ist der Ausflug nach den Alleen der Villa eigentlich nur ein Vorwand, um ein halbes Dutzend Mal über den Corso fahren zu dürfen. Das Equipagengedränge ist hier um die Abendstunden oft so arg, daß die Wagen sich kaum im Schritt vorwärts bewegen können. Dem Zuschauer dieses mondainen Schauspiels bleibt somit Zeit genug, die Eleganz der Gefährte zu bewundern, die an Pracht der Anschirrung, Correctheit der Dienerschaft und Trefflichkeit des Pferdematerials durchaus mit Paris, ja beinahe mit London concurriren können. Dieser Equipagenluxus fällt umsomehr auf, als man fortwährend von dem finanziellen Ruin Roms hören und lesen muß. Als Erklärung solchen Widerspruchs wird vorgebracht, daß die angesehenen Familien lieber an Wohnung und sonstigem Haushalte sparen, ehe sie ihre Equipage aufgeben. Die ungemessene Eitelkeit der Italiener, die Alles auf den äußeren Schein zu berechnen pflegen, läßt diese verkehrte Handlungsweise wohl glaublich erscheinen. Das Wagendefilé bietet aber noch ein anderes Interesse. Im Fond der vorbeiziehenden Carrossen erblickt man die vornehme Damenwelt Roms, die sonst nirgends zum Vorschein kommt. In der That zeigt sich die elegante Römerin höchst selten auf der Straße. Man kann von jeder distinguirten weiblichen Erscheinung, die man zu Fuße lustwandelnd trifft, mit Sicherheit annehmen, daß sie eine Fremde ist. So ist die abendliche Stunde der Ausfahrt die einzige, in der Rom seine geburts- und finanzaristokratischen Schönheiten erblickt. Regelmäßige Theilnehmer an diesen Gesellschaftsfahrten sind König und Königin. Der Erstere erscheint in einer äußerst einfachen, aber vortrefflich bespannten Halbkalesche. Die Einfachheit erstreckt sich auch auf die dunkle Livrée der Dienerschaft. Der König trägt stets Civil, während sein Begleiter in voller Adjutanten-Uniform prangt. Deutsche, die sich gemeiniglich einen König ohne Uniform so wenig vorstellen können, wie Kinder einen Herrscher ohne seine Krone, pflegen nicht selten dem Adjutanten ihren ergebensten Gruß darzubringen und scheiden darum von dem denkwürdigen Momente dieser Begegnung mit dem Eindruck, daß der König seinen Bildern recht wenig ähnlich sieht. In Wahrheit würde es aber selbst dem schlechtesten Photographen schwer fallen, das charakteristische Antlitz Humbert's I. nicht zu treffen, dessen mächtiger Schnurrbart nunmehr völlig ergraut ist. Die Ankunft der Königin erfolgt weniger überraschend, als die ihres Gemahls, da ihre Dienerschaft blutrothe, weithin leuchtende Livrée trägt. Um so schlichter ist das Costüm der hohen Dame selbst, die meist in dunkler Kleidung und schwarzem Capotehütchen erscheint. Königin Margherita ist nicht mehr die blendende Schönheit, die sie einstens war, aber immer noch eine anmuthige Frau mit edlen, ernsten Zügen. Ihre Popularität ist von allen Stürmen der letzten Zeit unberührt geblieben. Ist sie doch eine Fürstin, die sich von politischen und staatlichen Angelegenheiten völlig abseits hält und nur in den Vordergrund tritt, wenn es Werken der Wohlthätigkeit und der Kunstförderung gilt. * * * * * Die ~piazza colonna~, die den Corso ziemlich genau halbirt, ist das moderne Forum der Römer. Es hat seit einigen Jahren eine umfängliche Erweiterung erfahren, nachdem die Stadt den die Ostseite des Platzes einnehmenden Palast des Fürsten Piombino für einige Millionen angekauft und dann niedergerissen hat. Niemand weiß, warum! Augenblicklich sind Bestrebungen im Gange, diese Lücke wieder mit Bauten zu belegen. Aber da nicht allzuviel Gelder, sehr viel sich widersprechende Ansichten und recht mäßige Projecte vorhanden sind, so dürften diese Constructionen noch manches Jahr auf sich warten lassen. Auf der Piazza giebt es des Abends großes Concert. Bei der Vorliebe, welche die Italiener für Musik im Allgemeinen und Gratismusik im Besonderen haben, ist es selbstverständlich, daß der biedere, alte Marc Aurel vor seiner stolzen, den Platz beherrschenden Säule allabendlich auf ein riesiges Menschengetümmel herabsehen muß. Der Arbeiter wie der Elegant, der Offizier wie der Rekrut promeniren um die Musiktribüne. Auch lichtscheue Elemente giebt es genug im Haufen. Vor Taschendieben wird gewarnt! Natürlich fehlen die ambulanten Verkäufer nicht. Mit kreischender Stimme bieten sie Zeitungen, Hosenträger, Wachshölzer, Spazierstöcke, Eiswasser und Pfirsiche, kurzum Alles an, was sich nur irgend im Umherziehen transportiren läßt. Wer das Römische Volksleben von heute an der Quelle studiren will, der begebe sich zum Abendconcert nach der Piazza Colonna. Meist concertirt hier die ~banda municipale~, das Musikcorps der Stadt Rom. Die Kapelle ist vor einiger Zeit in Deutschland zu Gaste gewesen und hat freundnachbarliche Erfolge geerntet. Die Truppe bildet auch ein wackeres Ensemble, überragt aber keineswegs den Durchschnitt unserer besseren Militärkapellen. Deutsche Musik spielt die »~banda~« mit Vorliebe, besonders Wagner. Leider! Denn die »Fantasie« aus »Valkiria«, »Siegfrido«, »Tristano« etc. sind Muster von Potpourris, wie sie _nicht_ sein sollen, ein wahrer italienischer »Salat« von allerlei wahllos zusammengestoppelten Leitmotiven. Dazu schlägt der Dirigent, ~cavaliere Vessella~, einen mehr oder minder richtigen Tact. Aber vom Geiste Wagners ist auch nicht ein Hauch zu spüren. Fremde und Italiener athmen auf, wenn Vessella und seine »~banda~« sich wieder auf vertrautes Gebiet zu Verdi und Ponchielli begeben. * * * * * Seit Gutzkow seinen »Uriel Akosta« geschrieben hat, ist der gute Rabbi Ben Akiba niemals wieder zur Ruhe gekommen. Fast täglich kann man in den Zeitungen eine unerhörte, sensationelle Geschichte lesen, der die Bemerkung angehängt ist, daß Derartiges, trotz des alten Ben Akiba noch nicht dagewesen ist. Ebenso regelmäßig erscheint dann nach wenigen Tagen der unumstößliche Nachweis, daß Ben Akiba doch Recht habe und die betreffende Geschichte nicht ohne Präcedenzfall dastehe. So ungern ich mich den Gegnern des wackeren Rabbis zugeselle, so kann ich doch nicht umhin, nachfolgenden Vorfalles zu gedenken, zumal ich damit auf eine Merkwürdigkeit ersten Ranges aufmerksam mache, die noch in keinem Reisehandbuche verzeichnet steht. Am Sonntag ist in allen staatlichen Galerien und Museen Italiens der Eintritt unentgeltlich. Jüngst profitirte ich von dieser Liberalität der italienischen Regierung, um der schönsten Frau Roms, der capitolinischen Venus, wieder einmal meine Aufwartung zu machen. Als ich von dieser Visite hochbefriedigt zurückkehrte, drückte ich dem Galeriediener, der meinen Stock aufbewahrt hatte, das übliche Trinkgeld in die Hand. Aber welch Unerhörtes begab sich -- mit einer stolzen Handbewegung gab mir der Brave die gespendeten Soldi zurück. Ein italienischer Galeriediener, der kein Trinkgeld nimmt, der ist -- alle Besucher dieses gesegneten Landes werden es mir bestätigen -- wirklich noch nicht dagewesen. ~Napoli in festa.~ ~Feste estive.~ -- Der Mercato. -- Konradin und Masaniello. -- Neapolitanische Feuerwerkerei. -- Die Seebade-Saison. -- Die Gassenjungen und die Polizei. -- Die Cloaken als Schlupfwinkel. -- Am Schlosse der »Donna Anna«. -- Wie Luigia deutsch spricht. Neapel im Festgewande ... Kein anderes Land ist so reich an Feiertagen, kirchlichen und nationalen, allgemeinen und localen, wie Italien. Trotzdem begnügt sich der aus Lärm und Lustbarkeit gerichtete Sinn des Südländers keineswegs, die Feste zu feiern, wie sie fallen. Wo sich irgendwo eine größere Pause zwischen Feierdaten einschiebt, ist man alsbald dabei, solch unziemliche Lücke auszufüllen. Für Neapel bringen hauptsächlich Frühjahr und Herbst die traditionellen Vergnügungstage. So würde der Sommer in dieser Hinsicht zur ~saison morte~, wenn eben nicht die Neapolitaner ausgiebig vorsorgten. Da der Kalender keine Feste ansagt, erfindet man welche. Um diese populäre Arbeit gleich gründlich zu thun, constituirt sich ein Comité und eröffnet eine Subscription. Die hier ansässige Fremdencolonie spendet einige nette Summen, und auch die wenigen Italiener, die noch Etwas zu verschenken haben, lassen sich nicht lumpen. Das Resultat dieser Bemühungen ist zunächst ein sehr schönes buntes Placat, dessen Mitte den feuerspeienden Vesuv zeigt, zu seinen Füßen eine dürftig angezogene berittene Sirene aus dem Meere emportauchend. Das Ganze trägt die Ueberschrift »~Feste estive~ (Sommerfeste) ~Napoli~« und verheißt der Menge Illuminationen und Feuerwerke, Sängerfeste und Volkslieder-Concurrenzen, Militärkapellen-Wettstreit und Bootsturniere, Regatten und Taubenschießen, Trab- und Velociped-Rennen. Omnibusse, Pferdebahnen und Droschken schmücken sich mit bunten Fahnen, und die Zeitungen meinen, daß nun für ganz Italien und Europa Nichts mehr im Wege stände, nach Neapel zu kommen, der schönsten, gastfreundlichsten (?) und saubersten (??) Stadt der Welt. Man darf es den Gazetten nicht übelnehmen, wenn sie den Mund etwas voll nehmen. Die Prahlerei liegt dem Italiener im Blute, und die Journale lassen dabei wenigstens fremden Städten auch Etwas zu Gute kommen. Die ~feste estive~ werden eröffnet mit einem großen Volksfeste auf dem _Mercato_, dem an historischen Denkwürdigkeiten reichsten Platze Neapels. Hier wurde Konradin von Schwaben hingerichtet, mit ihm der treue Friedrich von Oesterreich. Hier nahmen alle Aufstände Neapels ihren Anfang. Hier hat auch Masaniello, der kein ganz so eleganter und tenorsingender Herr gewesen sein mag, als der er in der Auber'schen Oper auftritt, dafür aber ein energischer wilder Volksmann, die Menge zum Siege begeistert, um dann auf demselben Platze den Tod zu erleiden. Der Mercato hängt auf seiner Ostseite eng zusammen mit der Piazza del Carmine. Die Kirche, die diesem Platze den Namen giebt, ist von Karl von Anjou, dem Hohenstaufenmörder, errichtet worden. In ihr haben spätere Geschlechter -- o Ironie des Schicksals! -- den ursprünglich im Mercato verscharrten Leichen Konradins und Friedrichs ein geweihtes Plätzchen gegeben, und darüber erhebt sich eine von Maximilian II. von Bayern gestiftete, von Schöpf nach Thorwaldsen ausgeführte Marmorstatue des unglücklichen Hohenstaufensprossen. Konradin und Masaniello, die Helden des Mercato, sind auch die Helden des jüngsten Volksfestes. Den Musikpavillon auf dem Mercato überragt eine Gypsimitation des Thorwaldsen-Monuments Konradins, und neben dem Orchester auf dem Carmineplatze thronte ein großer Masaniello aus Majolica, das Beil in der Hand, mit heroischer Geste zum Sturm auffordernd. Zu ihren Füßen drängte sich eine nach Tausenden zählende Menge, die sich an der geschmackvollen, bunten Lämpchen-Illumination des Festraumes, an der elektrischen Beleuchtung, aus der sich der ehrwürdige Glockenthurm der Carmine-Kirche phantastisch heraus hob, an den Klängen der Musik, vor Allem aber am eigenen Thun und Treiben ergötzte. An den Borden der Plätze waren unzählige Bänke und Tische aufgestellt, und an ihnen schmauste man die vielgestaltigen Maccaroni, die nicht immer appetitlich aussehenden ~frutta di mare~ (darunter Meerspinnen und Tintenfische), am Feuer geröstete Maiskolben und ähnliche Lieblingsspeisen der Neapolitaner. Das Alles war in Kesseln und Tellern angehäuft, die von Schmutz und Oel trieften. Aber ein bischen Schmutz, ein bischen viel Schmutz sogar, gehört nun einmal zur neapolitanischen Gemüthlichkeit. Man spült ihn mit gutem Wein hinunter, dem feurigen Rothen vom Posilipp und von Salerno. Da für diesen Abend kein officielles Feuerwerk angesagt ist, so wird eines improvisirt. Aller Orten läßt man kleine brennende Papierballons zum Nachthimmel emporsteigen. Der Anblick ist schön, aber das Spiel ist nicht ungefährlich. Der Wind treibt einen der Ballons in ein offenes Fenster und verursacht einen kleinen Gardinenbrand. Abgesehen von solchem, hier nicht ausrottbarem Unfug und von dem unerhörten, betäubenden Lärm, den die vergnügte Menge veranstaltet, betragen sich die Massen musterhaft. Betrunkene sieht man hier ebenso wenig wie sonst in Italien. Der Wein, so gut und so billig er ist, wird überall in bescheidenen Quantitäten genossen. Um so fleißiger ist die Zunft der Taschendiebe an der Arbeit. Noch größeren Zulaufs erfreute sich das um wenige Tage später stattfindende Feuerwerk auf der Piazza del Plebiscito. Dieser riesige Raum ist der gegebene, vornehme Festplatz für Neapel. Seine imponirende Fläche wird begrenzt von dem gewaltigen Königspalaste, der Präfectur und der Kirche S. Francesco, die, im Innern dem römischen Pantheon nachgebildet, sich hinter einem malerischen Colonnadenvorbau erhebt. Die nach dem Platze führende Hauptstraße Neapels, der enge Toledo, war prächtig illuminirt. Mit farbigen Lämpchen besetzte Bögen überspannten in phantastischen Formen den Fahrweg. Selbst die Laternen haben ihr nüchternes Aussehen verloren. Man hat sie mit bunten Transparenten umzogen, in denen der Teufel und seine Großmutter eine große Rolle spielen. Durch den Toledo wogt die unentwirrbare Volksmenge, Droschken und Equipagen mitten im Knäuel, nach dem Platze, der, besät mit Menschen, einem immensen Theatersaale gleicht. Die Ungeduld zu zügeln, spielt dort ein Riesenorchester, aus sämmtlichen Militärkapellen Neapels zusammengesetzt, rauschende Weisen. Endlich giebt ein Kanonenschuß das Zeichen zum ersehnten Beginn. Auf den Dächern der Kirche und den angrenzenden Colonnaden haben die Pyrotechniker ihr Hauptquartier aufgeschlagen, und von dort her leuchtet es plötzlich auf. Wohl eine Stunde hindurch schießen Raketen zum Himmel empor, prasseln Feuerräder, schwirren allerlei Feuerwerkskörper durch die Luft. Und als zum Schluß auf der Kuppel der Kirche die in allen Farben strahlende Inschrift emporsteigt »Es lebe Neapel, die Sirene des Südens« -- da bricht donnernder Applaus los, und oben auf der Brüstung der Kirchenkuppel erscheint, winzig anzuschauen', der Obrist-Feuerwerker und verneigt sich mit bewegter Geste vor seiner dankbaren Zuschauerschaft. Kaum ist das pyrotechnische Schauspiel beendet, als sich ein neuer dumpfer Knall vernehmen läßt. Diesmal ist es der Vesuv, der eine dunkelrothe, mächtige Feuerlohe zum Nachthimmel schickt, als wollte er ironisch sagen: Was plagt ihr euch mit eurer armseligen Feuerwerkerei, ihr Menschen? Ich verstehe die Sache doch besser, als ihr. Neben diesen grandiosen Lustbarkeiten, an denen die ganze Stadt theilnimmt, feiert man in einzelnen Vierteln eine Art von Localfesten, meist mit Bezug auf den kirchlichen Patron des Bezirks. Die Gassen sind dann auch hier mit Lampionbögen bunt decorirt, die Leute sitzen schmausend und zechend vor ihren Thüren und ergötzen sich an einem aus Privatmitteln beschafften Feuerwerke. Kurz, diese kleinen Vergnügungen sehen den großen recht ähnlich. Originell an ihnen ist nur, daß eine Musikbande von Thür zu Thür zieht, nach eingeholter Erkundigung die Lieblingsstücke des Hausherrn spielt und zur Freude der umhertanzenden Kinder nicht eher vom Platze weicht, bis sie für ihre musischen Thaten entsprechend belohnt worden ist. Ein sehr umfängliches Fest, das ununterbrochen vier Wochen dauert, bedeutet die Seebadesaison. Der Neapolitaner beginnt mit seinen Seebädern nie vor dem 15. Juli und beschließt sie unweigerlich mit dem 15. August. Einen Grund für diese Beschränkung weiß Niemand anzugeben. Es ist eben eine Sitte, und kein Einheimischer weicht von ihr ab. Dafür wird in diesem knappen Zeitraume mit vieler Lust und allem Raffinement gebadet, und die kurze Stagione ist für den Neapolitaner ein wirkliches Fest, das auch officiell von den vereinigten Besitzern der Bade-Etablissements als solches bezeichnet wird. Die Anstalten, lustige, elegante Holzbauten, erstrecken sich mit kurzen Abständen vom Quai S. Lucia angefangen bis nach den Ausläufern des Posilipps, den vornehmsten Theil Neapels in Länge einer halben Meile flankirend. Am bequemsten zu erreichen sind die Stabilimenti längs der Villa Nazionale, der öffentlichen Promenade Neapels. Sie haben nur einen sehr großen Fehler für diejenigen, welche beim Baden die -- Sauberkeit lieben. Unterhalb der Villa Nazionale münden nämlich die Kloaken der Stadt und entladen dort ihren unappetitlichen Inhalt, das Meer auf Meter hinaus verschlammend und verseuchend. Man sollte meinen, daß kein vernünftiger Mensch eine Badeanstalt aufsuchen wird, die in solch' zweifelhafter Fluth errichtet ist. Der Neapolitaner aber wird, wie schon oben bemerkt, niemals in seinen Vergnügungen durch eine Portion Schmutz gestört, und er tummelt sich in den trüben Wellen mit unvermindertem Behagen. Wenn schon die Neapolitaner, die ihr Bad bezahlen, wenig skrupulös sind, so sind es natürlich erst recht die Unzähligen, die gratis dem Meere einen Besuch abstatten. Es wimmelt tagsüber von Knaben und Jünglingen, welche die Kampen und Vorsprünge zwischen den Anstalten zum Aus- und Ankleiden benutzen und die Schwimmhose als ein höchst entbehrliches Kleidungsstück betrachten. Die Neapolitanischen Gassenjungen sind nicht nur eine auffallend hübsche, sondern auch überaus komische und stets urvergnügte Rasse. Dazu sind sie alle kleine Schwimmkünstler, und so entwickeln sich die drolligsten Scenen im Wasser, die am Lande regelmäßig sehr zahlreiche und sehr dankbare Zuschauer versammeln, unter denen nicht selten die Maler und ihre moderne Concurrenz, die Amateurphotographen, zu finden sind, um einige Genrescenen per Stift oder Apparat zu fixiren. Natürlich ist dieses ungenirte Treiben behördlich verboten, nicht weil man überhaupt prüde ist -- denn die neapolitanische Bevölkerung läßt ihre Kinder auch auf der Straße unbekleidet herumlaufen, ohne daß die Polizei intervenirt -- sondern weil es sich in dem vornehmsten Theile der Stadt entwickelt, in dem die großen Hôtels und die Fremdenpensionen sich befinden. Verbote sind aber in Neapel noch weniger dazu da, befolgt zu werden, als anderswo in Italien. Das Municipium hat erst kürzlich wieder eine Bekanntmachung erlassen, in der allen außerhalb der Anstalten Badenden mit Confiscation der Kleider und anderen fürchterlichen Strafen gedroht wurde. Gefruchtet hat sie aber Nichts, wenigstens nicht für die Tagesstunden. Die Polizei hat nämlich auf eigene Faust einen Compromiß mit dem Badebedürfniß und der Toilettenfeindseligkeit der Herren Jungens geschlossen. So lange die Sonne ihre Strahlen auf die lustige Gesellschaft niedersendet, läßt sich kein Polizist an Ort und Stelle blicken. Erst gegen sechs Uhr, kurz vor Beginn des glänzenden Wagencorsos, der sich allabendlich auf der Fahrstraße zwischen dem Meer und der Villa Nazionale abspielt, debouchirt aus den Baumgängen der Villa eine Abtheilung Polizei gegen das Meer, um die Missethäter zu verjagen. Aber auch dieser Angriff geschieht mit einer Gemüthlichkeit, welche einen deutschen Schutzmann höchlichst verblüffen würde. Die scherzhaften Versuche der Polizisten, die am Ufer lagernden Kleiderbündel mitzunehmen, werden mit fröhlichem Lachen oder energischen Wasserspritzern beantwortet. Ein sehr beliebter Witz der lieben Jugend besteht darin, sich in die finsteren Kloaken-Mündungen zurückzuziehen, wohin kein Schutzmann seine Nase -- zum Glück für die Nase -- stecken kann, und dann, nachdem die heilige Hermandad sich entfernt hat, mit Jubelgeheul wieder zum Vorschein zu kommen. So hat der Corso oben auf der Via Caracciolo oft schon längst begonnen, ehe es den sanften »Hütern des Gesetzes« gelungen ist, alle Badenden aus dem Gesichtskreis der vornehmen Equipagen-Insassen zu vertreiben. Draußen am Posilipp geht es ruhiger zu und vornehmer. Dort baden neben denjenigen Neapolitanern, die sich in sauberem Wasser zu erfrischen vorziehen, die zahlreichen Angehörigen der Fremdencolonie. Hier ist nicht nur das Meer von durchsichtigster Klarheit, man genießt auch den Blick auf eine Umgebung, deren sich kein zweites Seebad rühmen kann. Zur Rechten hat man das zerfallene Schloß der »Donna Anna« (es war dies eine spanische Vicekönigin, nicht etwa die Comthurstochter aus dem »Don Juan«), hinter sich die imposant ansteigende, reich belebte Fahrstraße und die wilden Felsklüfte des Posilipp. Vor sich erblickt der Schwimmende das weite Meer, aus dem in bläulich-rothen Umrissen Capri emportaucht, zur Linken aber das unvergleichlichste Panorama: die amphitheatralisch hingelagerte gewaltige Stadt mit ihren zahllosen, übereinander gethürmten Häusern, daneben die lichtfarbig schimmernden Ortschaften von Portici, Resina und Torre del Greco, im dritten Plane die Berge der Sorrentinischen Halbinsel und als beherrschenden Mittelpunkt des Ganzen den majestätischen Vesuv. In diesen Bädern am Posilipp hört man mehr deutsch reden, als italienisch, und nicht nur von Deutschen allein. Die deutsche Sprache ist jetzt modern hier zu Lande, und es gilt als unzweifelhaft chic, sie zu sprechen. Täglich erscheinen in den nachmittäglichen Badestunden die jugendlichen Zöglinge der am Posilipp zahlreich vertretenen, vornehmen Mädchen-Pensionate, selbstverständlich gehütet und geleitet von ihren respectiven Lehrerinnen. Die obligatorische Unterhaltungssprache im Wasser ist deutsch. »Maria«, rief neulich solch eine kleine Wassernixe ihrer Freundin zu, »ich abe serr gut geschwimmt auf das Rücken, und abe geabt die errliche Anblick von die schöne Stadt.« Leider hatte die begleitende Gouvernante nicht blos große Füße, sondern auch lange Ohren, denn sie antwortete statt der Angeredeten: »Sie machen so grobe Fehler, Signorina Luigia, daß Sie heute Abend keinen Kaffee zum Pranzo haben werden!« Mir that die arme Gemaßregelte herzlich leid trotz ihres geringen Respects vor der deutschen Grammatik, denn erstens hatte die kleine Luigia wunderschöne, nachtschwarze Augen, und dann ist man versöhnlicher Stimmung, wenn man hat »serr gut geschwimmt auf das Rücken und geabt die errliche Anblick von die schöne Stadt«. Wie man in Neapel fährt. Neapolitanische Fiaker und Tramways. -- Der Esel als »Rennthier«. -- Corso am Kai Caracciolo. -- Der Prinz von Neapel. In einer früheren Skizze habe ich den Typus des römischen Droschkenkutschers zu schildern versucht. Sollte dabei irgend etwas Despectirliches gegen die Rosselenker des ewigen Roms gesagt worden sein, so bitte ich sie inständigst um Verzeihung. Ich kannte damals den neapolitanischen »Edlen vom Bock« noch nicht. Er fordert nicht, wie sein römischer College, den Fußgänger auf, in seinem Wagen Platz zu nehmen, er will ihn dazu zwingen. Das erste Stadium ist, daß er dem Gehenden zuruft: »He, Sie, hier steht eine Carrozzelle. Steigen Sie ein!« das zweite, daß er straßenlang so dicht neben dem fürbaß Schreitenden einherfährt, daß er ihn fast an die Mauer drückt (Trottoirs sind selten in Neapel), das dritte, daß er seine Peitsche dem Hartnäckigen um die Ohren sausen läßt, daß Jenem Hören und Sehen vergeht. Es fehlt nur noch, daß die Herren Rosselenker Alle, die nicht fahren wollen, einfach durchprügeln. Selbst hanebüchene Grobheit hilft nicht immer gegen solche Zudringlichkeit, und man sieht nicht selten die geplagten Fremden zu Handgreiflichkeiten ihre Zuflucht nehmen. So wurde neulich ein deutscher Herr, der aus seinem Hotel trat, durch die Dreistigkeit eines Kutschers derart aufgebracht, daß er ihm seinen Cigarrenstummel in's Gesicht warf. Der Effect war ein überraschender. Schmunzelnd fing der Numerirte den Stummel auf, steckte ihn in den Mund und verabschiedete sich mit den deutschen Worten: »Danke schön, auf Wiedersehen!« Natürlich wird der »Forestiere« weit mehr behelligt, als der Einheimische. Von Letzterem nimmt der Kutscher ohne Weiteres an, daß er, falls er überhaupt das nöthige Kleingeld besitzt, die Dienste der Droschke beanspruchen wird. Denn ein Neapolitaner, der zu seinem Vergnügen spazieren _ginge_, wäre eine unerhörte Erscheinung. Diese Abneigung gegen die Benutzung von »Schusters Rappen« ist in ganz Italien heimisch, und zu den Argumenten für die Ansicht des Italieners, daß alle Fremden mehr oder minder verrückt seien, gehört in erster Linie die Gewohnheit der Deutschen und Engländer, hie und da eine Fußtour zu machen. Der neapolitanische Droschkentarif ist ungemein niedrig. Er beträgt für die oft sehr ausgedehnte und bergige Strecke innerhalb des Weichbildes 70 Centesimi (ungefähr 55 Pfennige). Aber innegehalten wird dieser Satz so gut wie niemals. Besteigt man die Droschke, ohne vorher mit dem Kutscher über den Preis zu unterhandeln, so ist sofort die Diagnose auf »Fremd« gestellt und regelmäßig wird dann ein Zuschlag oder ein Trinkgeld so laut und heftig gefordert, daß Viele, ums dem Scandal ein Ende zu machen, das Verlangen erfüllen. Ganz anders, wenn man die einschlägigen Gewohnheiten kennt und der italienischen Sprache mächtig ist. Man fährt dann stets unter dem Tarif. Man ruft dem Kutscher zu: »Halbe Taxe« und fast immer wird auf das Angebot eingegangen. So widerlich das Handeln mit einem Kutscher um eine solche Lappalie ist, so ist es doch kaum zu umgehen. Man wird durch das eben geschilderte Gebahren der Leute einfach dazu gezwungen. Man fährt also nirgends so billig, nirgends aber so unangenehm, wie in Neapel. Das liegt an der Droschke selbst, am Pflaster, an der Eigenart des Verkehrs. Die neapolitanische Carrozzelle ist ungewöhnlich hoch und eng gebaut. Selbst Leute von Mittelwuchs wissen ihre Beine kaum anders unterzubringen, als sie in Höhe des Kutschbockes an den Vorderbord aufzustemmen. Da der Fahrgast ungefähr auf gleichem Niveau mit dem Lenker und dicht hinter ihm sitzt, dieser aber, wie ein Besessener, unaufhörlich mit der Peitsche knallt, so schwebt man in fortwährender Gefahr, empfindlich getroffen zu werden. Das Straßenpflaster wird von den Reisebüchern als eines der besten der Erde gepriesen. Es sieht mit seinen breiten und glatten Lavaplatten in der That recht stattlich aus und mag vortrefflich gewesen sein, als es noch neu war. Heute aber haben sich längst riesige Löcher gebildet, an deren Reparatur Niemand denkt. Da der Kutscher drauf los fährt, ohne eine Umgehung der gefährlichen Stellen zu versuchen, so setzt es alle Augenblicke Stöße, die den Wagen umzuwerfen drohen. Endlich bedingt die Eigenart der bergigen Anlage Neapels, das nur wenig bequem fahrbare Straßen besitzt, eine Ueberfüllung dieser Verkehrswege. So ist der Kutscher, der, so wie er freie Bahn vor sich sieht, eine tolle Pace vorlegt, häufig genöthigt, langsamen Schritt zu fahren. Auch der öftere Wechsel zwischen diesen beiden Extremen ist keineswegs erfreulich für den Insassen der Droschke. Höchst merkwürdig ist die Adjustirung der Droschkengäule, die sich zumeist aus der kleinen, zähen Rasse der Apenninenpferde rekrutiren und im Klettern auf den glatten Hügelstraßen Neapels eine bewundernswerthe Ausdauer und Sicherheit entwickeln. Das Geschirr ist derart mit Kupfer- und Messingplatten überladen, daß das Lederzeug völlig dadurch verdeckt wird. Außerdem trägt das Pferd eine Art Sattel mit einem riesigen Messingaufsatz, der equestrische Scenen darstellt. Die Scheuklappen sind mit bunten Rosetten und Fähnchen verziert, und zwischen den Ohren der Rosinanten ragt ein roth eingebundenes Federbüschel in die Höhe, wie es die kupferfarbigen Helden der Lederstrumpf-Erzählungen zu tragen pflegen, wenn sie skalplüstern den Kriegspfad beschreiten. Man sollte meinen, daß der Kutscher sein Pferd, das er so sorgfältig schmückt, sehr lieb hat. Weit gefehlt: der Neapolitaner ist der rücksichtsloseste Thierquäler, den man sich vorstellen kann. Alle diese Metall- und Bandzierrathen sollen lediglich den Schutz bilden gegen das »~mal'occhio~«, den bösen Blick, vor dem der Neapolitaner, selbst der gebildete, in beständiger Furcht lebt und dem er alles ihm zustoßende Unheil auf das Conto schreibt. Eine weitere Specialität ist das eigentliche Zaumzeug der Droschkenpferde. Sie tragen nämlich kein Gebiß -- Trense oder Kandare -- sondern das Maul bleibt völlig frei. Die Leitzügel münden in große Messingösen, die horizontal zu beiden Seiten der Backenstücke in Höhe des Nasenriemens abstehen. Es ist wunderbar genug, daß der Kutscher trotz dieser primitiven Lenkvorrichtung sein Roß fest in der Hand hält und es sicher durch das Gewimmel des Straßentreibens zu leiten im Stande ist. Ist es kein Vergnügen, sich einer hiesigen Droschke anzuvertrauen, so ist die neapolitanische Pferdebahn ebenfalls kein ideales Beförderungs-Institut. Sie versieht ihren Betrieb nicht nur mit Pferden, sondern mehr noch mit Mauleseln. Diese zähe Mischrasse dient zumeist als Vorspann, und es gewährt einen seltsamen Anblick, wenn an den Stellen, wo die Trace schlimme Steigungen zu überwinden hat, wie bei dem Anstiege vom Quai S. Lucia zur Piazza del plebiscito die Viererbespannung zur Hälfte aus Pferden, zur Hälfte aus Mauleseln besteht. Die Wagen des Tramway führen hier zwei Klassen. Der Tarif richtet sich nach »Sectionen« (eingetheilte Wegstrecken) und die zweite Klasse ist durchschnittlich um 1--2 Soldi billiger, als die erste. Letztere bietet gepolsterte Sitze, die erstere bloße Holzbänke. Vorzuziehen wäre die ungepolsterte Sitzgelegenheit, da die in Neapel so zahlreichen, blutgierigen Hüpfer -- ~vulgo~ Flöhe genannt -- ein ungestörtes Dasein in den Kissen führen und mit Vorliebe dem Passagier einen kleinen Besuch abstatten, wenn nicht andererseits das Publikum zweiter Klasse so reich mit diesen Parasiten versehen wäre, daß es ebenfalls gern von seinem Ueberfluß an Bedürftige abgiebt. Nicht minder lästig sind die zahlreichen Bettler, die sich überall, wo die Pferdebahn Schritt zu fahren durch die Terrain-Verhältnisse gezwungen ist, aufhalten und die Wagen so lange mit Winseln und Heulen begleiten, bis der Kutscher seine Gäule wieder in Trab setzen kann. Die fliegenden Händler finden sich selbstverständlich auch auf den Trittbrettern der Pferdebahnwagen ein und verstärken durch ihr mißtönendes Gekreisch den ungeheueren Wirrwarr. Die naive Unhöflichkeit des Neapolitaners zeigt sich am deutlichsten auf der Trambahn. Die Bänke der Sommerwagen sind auf vier Personen berechnet. Niemals aber werden drei Leute, die es sich bequem gemacht haben, dem aufsteigenden Vierten aus freien Stücken Platz machen. Das einzige Mittel ist, sich energisch auf die Kniee eines der Fahrenden fallen zu lassen und so sein Wegrücken zu erzwingen. Das Unleidlichste aber ist die Einrichtung, daß nicht nur an den Haltestellen, sondern überall auf Verlangen gehalten wird. Der Neapolitaner steigt principiell nur vor seinem Hause auf, resp. läßt sich bis dorthin fahren. Ob eine Haltestelle zwei Schritte entfernt ist, ob eben eines Anderen wegen gehalten worden ist, das ist ihm sehr gleichgiltig. Niemals nimmt er die Gelegenheit wahr, dem Wagen einen Stillstand zu ersparen, sondern giebt, kaum daß dieser sich wieder mühsam in Bewegung gesetzt hat, das Zeichen zu erneutem Aufenthalt. So braucht man zu einer Strecke, die unter normalen Verhältnissen in fünf Minuten zu bewältigen wäre, oft das Drei- und Vierfache. Dabei macht die Pferdebahn glänzende Geschäfte. Trotz ihres hohen Tarifes, trotz der Concurrenz der Droschkenkutscher, die oft zu Pferdebahnpreisen fahren, sind die Tramwagen überfüllt vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Das Zug- und Lastthier des kleinen Mannes von Neapel ist der Esel. Dieses bei uns als störrisch und widerwillig bekannte Vieh ist hier das fleißigste und anspruchsloseste Geschöpf unter der Sonne, es leistet Alles, was man von ihm verlangt, und man verlangt nicht wenig von ihm. Oft verschwindet sein Körper unter der ihm aufgebürdeten Riesenlast, aber er schleppt sie tapfer zum Ziele. An dem Tragsattel befinden sich weit hinausragende breite Querbalken, auf denen sich allerlei Körbe mit Waaren schaukeln. So gleicht das arme Eselein, von dem man nur die melancholisch wackelnden Ohren hervorschauen sieht, einem wandelnden Laden. Ist es vor einen zweirädrigen Karren gespannt, so liegen auf diesem außer der eigentlichen Last meist noch ein viertel Dutzend mangelhaft bekleideter Leute spazieren, eines süßen Schlafes im Sonnenbrande pflegend. Auch als Reitthier dient der brave ~Asinus~. Er bekommt dann einen Strick in's Maul, ein brauner Bengel, mit einem Hemde, oder auch mit »gar Nichts« angethan, schwingt sich auf Esels Rücken, und fort geht's im Galopp. Findet sich ein zweites Paar hinzu, so wird ein kleines Wettrennen veranstaltet. Bei einer solchen Gelegenheit habe ich sogar das Phänomen eines durchgehenden Esels beobachten können. Er fühlte sich seinem Reiter, einem höchstens fünfjährigen Bürschchen, überlegen, »nahm ihm die Hand,« brach auf der »geraden Bahn« aus und setzte »über die Barrière« mitten in die Körbe und in die Conversation einiger Gemüse- und Fischweiber hinein. Ueber diese schweren Hindernisse kam er mit großer Eleganz, bis er endlich seinen Jockey mit einer regelrechten Lançade in einen Fischtrog placirte und dann geduldig wartete, bis der kleine Held wieder aus dem unfreiwilligen Bade emporgestrampelt war und die Prügel der erzürnten Damen der Halle geerntet hatte. Abgesehen von solchen Ausnahmefällen ist jedoch das wackere Grauthier geduldig und beklagt sich über sein schweres Loos nur durch ein langgezogenes Gestöhne, das mit dem »I--ah« seiner deutschen Eselsvettern nicht die mindeste Aehnlichkeit hat und darum alle mit der italienischen Eselssprache noch nicht Vertrauten weidlich erschreckt, weil sie glauben, es sei ein Schwerverwundeter in der Nähe, der um Hülfe schreit. Zu Luxuszwecken dient der Esel nur, wenn humoristische Zwecke beabsichtigt werden. So erscheinen auf dem Corso, den die elegante Welt Neapels allabendlich auf dem herrlichen Quai Caracciolo längs der Via Nazionale abhält, niedliche Miniaturgefährte, angefüllt mit reizenden Kindergestalten und gezogen von winzigen Eseln. Im Uebrigen geht es sehr vornehm zu bei diesem Corso, der, was die landschaftliche Umgebung betrifft, nicht seines Gleichen auf dieser Erde hat. Wollte man von der Zahl und Ausstattung der Equipagen Schlüsse auf die Wohlhabenheit ihrer Besitzer ziehen, so wäre Neapel die Stadt der Millionäre. Nichts aber wäre falscher, als eine derartige Meinung. Mancher dieser Equipagenbesitzer begnügt sich mit einer Wohnung und einer Nahrung, die bei uns der Kleinbürger verschmähen würde. Um so besser werden Pferde, Dienerschaft und Wagen gehalten, damit man Abends beim Corso gute Figur mache. Man sieht denn auch wirklich correcte und vornehme Gespanne in Menge, die den Vergleich mit den besten Mustern aus dem Bois de Boulogne oder dem Hyde-Park aushalten können. Herren wie Damen führen häufig in Person die Zügel, und die Aufgabe, ein feuriges Gespann durch das Gewimmel und den Lärm des Corsos zu bringen, ist wahrlich keine leichte. Auch der in Neapel residirende Kronprinz von Italien, der Abend für Abend an den Gesellschaftsfahrten Theil nimmt, lenkt seine Rosse selbst. Er ist ein kleiner, schmächtiger junger Mann mit ernsten Gesichtszügen und aufgewirbeltem, röthlichem Schnurrbart. Er trägt stets Uniform, und die Neapolitaner, die keine besonderen Militärfreunde sind, wollen daraus einen bewußten Gegensatz zu seinem Vater construiren, der sich mit Vorliebe in Civil kleidet. Natürlich ist das heller Unsinn. Der Kronprinz ist activer General und übt die Functionen eines solchen mit voller Pflichttreue aus. Da es den italienischen Offizieren so streng, wie den deutschen, verboten ist, außerhalb des Dienstes die Uniform zu verlassen, so geht der Kronprinz seinen Untergebenen einfach mit gutem Beispiel voran. Für solche militärische Erwägungen sind aber die Neapolitaner nicht zu haben, und sie beginnen immer von Neuem ihre sehr ungerechtfertigten Raisonnements über die »Uniformschwärmerei« ihres künftigen Königs. Wenn sie gegen die prinzlichen Equipagen Einwendungen erhöben, so wäre das eher zu begreifen. Unter den luxuriösen Gespannen, die den Prinzen rings umgeben, fällt die geringe Eleganz seiner Wagen und Pferde doppelt auf. Nun ist er ja junger Ehemann. Vielleicht wird Prinzessin Helene dafür sorgen, daß ihre Equipagen nicht hinter denen ihrer Unterthanen an Vornehmheit zurückstehen. Vom Eiland des Tiberius. Abfahrt von Neapel. -- Der Landsmann mit dem Jägerhemde. -- Die blaue Grotte und der heilige Constantin. -- Korallen in der Suppe. -- Völkerpsychologie einer kleinen Capresin. -- Das Deutschthum auf Capri. -- Ein Besuch bei »Don Timberio« und des Cäsaren Geschichte in localer Beleuchtung. -- Ein Gentleman-Eremit. -- »Hiddigeigei's« Nachkommen. Das Dampfboot, das den Verkehr vermittelt zwischen Neapel und Capri, liegt Morgens 9 Uhr am Quai Santa Lucia zur Abfahrt bereit, so heißt es nämlich in den betreffenden Anzeigen. Trotzdem es aber an besagtem Quai sehr hübsche Stellen giebt, wo ein Dampfer anlegen könnte, hat er doch weit draußen im Hafen Posto gefaßt. Man muß sich also zunächst einem Ruderboote anvertrauen. Der unverhältnismäßig hohe Preis, der für die kurze Bootsfahrt gefordert wird, bildet eine Nebeneinnahme der Dampfergesellschaft, deren Forderungen für die eigentliche Ueberfahrt im Uebrigen ebenfalls nicht an Bescheidenheit kranken. Auch die auf 9 Uhr festgesetzte Abfahrtszeit wird selbstverständlich nicht innegehalten. Es wird reichlich ein Stündchen später, aber der erfinderische Sinn der Neapolitaner sorgt für Unterhaltung. Zwei schwimmend das Boot umkreisende Knaben ersuchen ein verehrliches Publicum, Soldistücke in's Meer zu werfen. Durch das lichte Wasser, in dem man die Bewegungen der nackten Körper bis in die Tiefe verfolgen kann, tauchen sie zum Grunde und holen die Geldmünzen herauf. Der glückliche Finder macht dann eine dankende Verbeugung und steckt das Geld, in Ermanglung anderer Taschen, in die Backentasche. Das artige Taucherstücklein findet mehr Anklang als der Schwarm von Händlern, die an Bord Lava, Cameen, Schildpatt u. s. w. anbieten. Bevor man die knappe Hälfte der Offerten zurückgewiesen hat, ist die Verspätungsstunde verstrichen. Auf einen älteren Herrn, den der unmögliche Loofah-Hut, das seit längerer Zeit im Dienst befindliche Jägerhemde und die riesigen Stiefel auf hundert Schritte als provinzdeutschen Touristen erkennen lassen, hat es das zudringliche Händlervolk besonders abgesehen. Da er noch neu ist auf italienischem Boden, fehlt ihm die nöthige Partie gediegener Grobheit, ohne die es unmöglich ist, diese Kletten los zu werden. Aus Dank für geleistete Hilfe erzählt mir der Befreite im schönsten, sächsischen Dialekte seine bisher auf der Südlandsreise gewonnenen Eindrücke. Italien wäre so weit ganz schön, aber es hätte auch arge Fehler. Die Kopfkissen der Hotelbetten wären zu klein, das Bier zu theuer, und die meisten Menschen verständen nicht Deutsch. Ich mußte diese Bemerkungen als unzweifelhaft richtig zugeben und fügte noch mit einem Blick auf das Jägerhemde des biederen Sachsen als weiteren Uebelstand hinzu, daß sich auch die Wäscherinnen hier zu Lande viel zu gut bezahlen ließen. Das wäre ihm noch nicht aufgefallen, meinte der Wackere. Ich glaubte ihm das auf's Wort. Endlich setzt sich der Dampfer in Bewegung. Sein Cours geht zunächst nach Sorrent, an Vico Equense vorüber. Vico Equense wurde in der letzten Zeit viel genannt, weil hier im Jahre 1885 jener Knabenmord passirte, den die Geschworenen von _Bourges_ zum Unglücksfall erklärten, als sie zehn Jahre später den _Marquis de Nayves_ freisprachen. In Sorrent, das bei den Italienern als Badeort in hoher Beliebtheit steht, verlassen unseren Dampfer die wenigen Einheimischen, die er mit sich führte. Der Steamer nähert sich jetzt den Felsenkolossen Capris, zwischen die hineingeschmiegt die ~grande marina~ (der große Hafen) und darüber auf waldiger Kuppe das Städtchen Capri liegen. Vorerst dampfen wir stolz daran vorüber zur »blauen Grotte«, deren Besuch für jeden Caprineuling obligatorisch ist. Die »blaue Grotte« ist, wie bekannt, im Jahre 1826 von dem deutschen Maler Kopisch, als er um Capris Felsenküsten schwamm, wieder entdeckt worden. Den größten Gefallen hat Kopisch damit dem Municipium von Capri erwiesen, in dessen Säckel bisweilen solche Ebbe herrschte, daß es den Schutzheiligen der Insel, den heiligen Constantin, dessen silberne Statue sich in der Hauptkirche befindet, bei neapolitanischen Geldmännern versetzen mußte. Jetzt zieht die Stadtverwaltung von der blauen Grotte eine stattliche Einnahme. Man hat eine schwimmende Kasse vor dem Zugange etablirt. Gegen Erlegung von 1½ Francs erwirbt man das Recht, sich auf den Boden eines sehr schmutzigen Kahnes lang auszustrecken und auf diese Weise durch die kaum über das Meeresniveau emporragende Grottenöffnung hineinbefördern zu lassen. Die Grotte selbst gehört zu den wenigen italienischen Sehenswürdigkeiten, die schlechter sind als ihr Ruf. Die Dichter und Maler, die das Lob der Höhle sangen und pinselten, dürften ihre Phantasie arg strapazirt haben. Wirklich malerisch schön ist nur der fluctuirende Boden, das Wasser, das noch um einige Nuancen blauer und durchsichtiger ist als draußen im freien Meere. Höhlenbewohner, natürlich nur zur Zeit des Fremdenbesuches, ist ein halbwüchsiger Knabe, der, wenn sich genügende Entlohnung für ihn findet, zum Grunde taucht, um zu zeigen, wie das Wasser den Körper versilbert. Die diesmaligen Besucher der Grotte waren offenbar Anhänger der Goldwährung, denn der nöthige Garantiefonds für dieses im Bädeker gepriesene bimetallistische Experiment wollte nicht zu Stande kommen. Die kleine Enttäuschung war rasch verwunden, als der Anker angesichts der großen Marina in's Wasser rasselte. Einige Herren, die bisher auf dem Dampfer promenirten und ganz gegen italienische Gewohnheit freiwillige und höfliche Auskunft über allerlei Wissenswerthes gegeben hatten, ohne ein Trinkgeld zu verlangen, entpuppten sich jetzt im entscheidenden Momente als Geschäftsführer capresischer Hotels, deren Vorzüge und Billigkeit sie in lichtesten Contouren erscheinen ließen. Der alterprobte Grundsatz, in Italien _vorher_ nach allen Preisen zu fragen und dann principiell höchstens die Hälfte zu bieten, that auch hier seine Schuldigkeit. Die ursprünglich ziemlich insolenten Forderungen gingen auf ein bescheidenes Maß herunter, und bald saßen wir bei einem auf dem Balcon des Hotels »Grande Bretagne« servirten Dejeuner. Die unten auf der Straße versammelten Vertreter der capresischen Bevölkerung verfehlten nicht, uns das Mahl durch kleine Scherze zu würzen. Einige Damen reiferen Alters, die in Begleitung mehrerer melancholisch dreinschauender Esel erschienen waren, priesen uns ihre Schützlinge als die besten und edelsten Esel unter der Sonne, liebe Thierchen, auf deren Rücken eine kleine Excursion die reinste Wonne sei. Die anwesenden Droschkenkutscher behaupteten dagegen, daß es miserable, traurige Esel wären, während ihre Carozzellen und die davor gespannten Pferdchen uns mit Windeseile nach jedem gewünschten Punkte befördern würden. Diese Soli wurden durch einen Chor weiblicher Wesen fundirt, die in allen Tonarten Korallen feilboten. Wir nahmen alle diese Offerten mit größerer Gemüthsruhe als sonst entgegen, da wir uns auf hohem Balcone sicher vor allzu heftiger Zudringlichkeit wähnten. Die Enttäuschung folgte alsbald. Da wir uns zu theilnahmslos verhielten, eröffneten die guten Capresinnen ein kleines Bombardement mit Korallenketten. Diese flogen auf Tische und Stühle, eine begab sich sogar in die Suppenterrine. Sofort war auch die geschickte Schützin zur Stelle mit der Behauptung, wir müßten wenigstens die im Suppentopfe verunglückte Kette kaufen. Erst als wir in aller Ruhe den Spieß umdrehten und ihr bemerkten, sie müsse die Suppe bezahlen, da diese durch das Hineinfliegen der Korallen verdorben sei, verschwand die übereifrige Handelsfrau aus dem Süden und ward nicht mehr gesehen. Unten lockt das Meer zu erfrischendem Bade. Freundliche Badehütten, den verschiedenen Hôtels zugehörig, stehen zu diesem Zwecke bereit. Eine kleine Capresin, die das Aufschließen und die Wäsche besorgt, hockt sich als Wächterin vor den in der Hütte deponirten Schätzen am Meeresufer nieder. Zwischen zwei Schwimmtouren sonnt man sich behaglich, halb auf dem Strande, halb im Wasser liegend. Das kleine Bade-Fräulein nimmt die Gelegenheit wahr, eine Conversation zu eröffnen. Sie beginnt: »Die Franzosen sind sehr gute Leute.« Ich bin zu wenig Chauvinist, um diesem Satze zu widersprechen, habe aber auch keine Ursache, das Gegentheil zu thun. Ich schweige also. Schon weniger sicher erfolgt nun die zweite Behauptung: »Die Engländer sind auch ausgezeichnete Menschen.« Meinerseits wieder stummes Spiel. »Was ist denn der Signor für ein Landsmann?« kommt endlich die längst erwartete Frage. »Holländer,« sage ich, mir die Nationalität meines Reisegefährten auf einige Minuten ausleihend. »Die Holländer,« meint die Kleine, von ihrer Ungewißheit befreit, aber sehr schwer an dem ungewohnten Worte kauend, »sind besonders vortreffliche Leute, ebenso wie die Capresen. Nur die Neapolitaner sind schlechtes Volk. Sie stehlen Taschentücher und Uhren und sagen den Fremden, daß sie nicht nach Capri kommen sollen. Hier in Capri können Sie ein Taschentuch -- dieses Nasen-Instrument dünkte ihr offenbar eine besondere Kostbarkeit -- mitten auf den Weg legen und Sie bekommen es zurück.« Ich war natürlich entzückt von diesem Beweise capresischer Ehrlichkeit, hegte aber im Stillen meine Zweifel, ob solche Tugend sich ebenso bewähren möchte, wenn man statt des Taschentuches etwa einen 100 Lire-Schein verlieren würde. Nachdem die kleine Volkspsychologin genug von ihrer Wissenschaft zum Besten gegeben, wandte sie sich ihrer eigenen Persönlichkeit zu und berichtete, daß ihr deutsche Maler schon viel Geld geboten hätten, wenn sie ihnen Modell stehen wollte. Sie habe ja auch Lust dazu gehabt, aber der Papa habe es nicht erlaubt. »Und wissen Sie,« fügte sie naiv hinzu, »_jetzt_ commandirt noch der Papa.« Nach diesem einen tröstlichen Ausblick in die Zukunft eröffnenden Worte hob sie in begreiflicher Ideenverbindung an, einige Romane aus der capresischen ~chronique amoureuse~ zu erzählen, von der Bella Margherita, die einen reichen deutschen Fabrikanten geheirathet habe, von der lustigen Santina, die jetzt mit einem berühmten Maler in Rom lebe, von der armen Luigia, die sich in's Meer gestürzt habe, weil der Engländer, den sie geliebt, Capri verließ. Es ist selbstverständlich, daß ich, theils aus Dankbarkeit für so interessante Unterhaltung, theils aus Rücksicht auf mein holländisches Adoptiv-Vaterland, das Trinkgeld besonders reichlich bemaß. So schieden beide Theile befriedigt von einander: Ich mit dem Eindrucke, daß die Capresinnen ebenso schwatzhaft sind, wie die Damen bei -- uns zu Hause; die kleine Plaudertasche mit der bestärkten Ansicht, daß die Holländer wirklich »ganz ausgezeichnete Leute« sind. Der Weg von der großen Marina zur Stadt Capri führte über einen schön angelegten, sanft ansteigenden Fahrweg zwischen hellen Villen und üppigen Gärten empor, überall findet man deutsche Firmen und Inschriften. Auch lebende Beweise von dem Einflusse des Deutschthums fehlen nicht. Unter der lustig lärmenden Kinderschaar, die gerade die Schule der französischen Mönche verläßt, tummeln sich zahlreiche Blondköpfe. Man nennt die so aus der Art Geschlagenen bezeichnender Weise »Deutschenkinder«. Die in Wort und Bild oft gepriesene Anmuth des capresischen Menschenschlages ist übrigens zum Glück keine Legende. Während man sonst im Süden gar oft nach den traditionellen »schönen Italienerinnen« suchen muß, ohne sie zu finden, sieht man hier bildhübsche Mädchen, deren frische Lieblichkeit es begreiflich erscheinen läßt, daß so mancher Fremdling hier sein Herz verloren hat. Nicht nur an der heranwachsenden Bevölkerung, auch an dem Städtchen Capri selbst kann man germanische Einwirkung verfolgen. Es ist da so sauber, so still, so gemüthlich, kurz so ganz anders, wie sonst in italienischen Orten, daß man sich in einem deutschen Gebirgsneste wähnen könnte, wären nicht zur Rechten und zur Linken die weiten Fernsichten in die schimmernde See, die in einer Farbengluth erstrahlt, wie sie nur südlichen Meeren zu eigen ist. Der beliebteste Ausflug geht nach der »Villa des Tiberius«, den Trümmern des alten Kaiserpalastes, welcher einst das Ostkap der Insel, Sorrent gegenüber, krönte. Der Weg dahin ist steil, langgedehnt und sonnig. Wir unterliegen also den wiederholten Offerten einer ihre Esel anpreisenden Vermietherin, und auf dem Rücken dieser in Deutschland so verrufenen, in Italien so beliebten Thiere geht es munter durch die engen Straßen und Thorbögen der Stadt. Wir stören allerlei häusliche Verrichtungen, die sich auf der Gasse abspielen, denn das Reitthier nimmt gerade die ganze Breite des Verkehrsweges ein. Aber alle diese Leute weichen höflich aus und grüßen freundlich dazu. Bald liegt das Städtchen hinter uns, und der Weg zieht sich zwischen Landhäusern und Vignen in die Höhe. Die meinen Esel begleitende Matrone führt einen Stecken in der Hand, und wenn Grauchen auf den landesüblichen Antreibungslaut »Aaah!« nicht genügend reagirt, so bekommt er den Stock zu fühlen. Im Allgemeinen aber trottet er mit seiner gewichtigen Last munter vorwärts, die kleinen, elastischen Beinchen fest zwischen Geröll und Treppenstufen aufsetzend. Nur wenn am Wege Orangenschalen liegen, bleibt er einen Moment stehen und frißt sie. Orangenschalen sind nun einmal seine Leibspeise. Nach dieser einleitenden Bemerkung über die verfeinerte Geschmacksrichtung des Eseleins gedenkt die Führerin keineswegs, die so nett begonnene Unterhaltung wieder einschlafen zu lassen. Da es stets erfreulich ist, ein Stückchen Geschichte in volksthümlicher Beleuchtung zu genießen, so gestatte ich mir die Frage, wer denn eigentlich der Signor Tiberio gewesen sei, nach dessen Villa wir uns begeben. Ein mißtrauischer Blick der Alten sänftigt sich, als sie mein wißbegieriges Antlitz sieht, und sie beginnt ihre Vorlesung. Don Timberio (so verstümmelt der capresische Dialekt den Namen des Cäsaren) war kein einfacher Signor, sondern ein reicher König von Neapel. Als er alt wurde, kriegte er das Regieren satt -- denn die Neapolitaner sind ein häßliches, schlimmes Volk -- und kam hierher, weil er so viel gehört hatte von der Nettigkeit und Höflichkeit der Capresen. Er erbaute sich auf der Felsenspitze ein Schloß, ganz aus Marmor und Mosaik. Bald begann er sich aber trotz der herrlichen Aussicht zu langweilen und wurde so grausam, daß er sich zahllose Sklaven kaufte, um sie zu Tode zu martern. Der Herr Pfarrer warnte ihn oft genug vor diesem sündigen Treiben, aber wer nicht hören will, muß fühlen. Der Teufel wartete nur, bis Don Timberio mal einen Ausflug auf's Festland machte -- denn nach Capri wagt sich der Teufel nicht -- und flugs war er in Timberios Schlafzimmer und erstickte den alten Herrn mit seinem Kopfkissen. Unter so lehrreichen Erzählungen waren wir zu einer freundlichen Osteria gelangt, die den Eingang bildet zum »Salto di Tiberio«, der Localität, wo Tiberius seine Schandthaten mit Vorliebe ausübte. Wenigstens behauptet die französische Inschrift, daß hier der Ort sei, »wo man eine schöne Aussicht genießt und Tiberius seine Verurtheilten in's Meer stürzen ließ.« Da gerade keine Sklaven zur Hand waren, so machte die führende Wirthin das Experiment mit einem großen Steine, den sie über die Brüstung hinabwarf. Es dauerte eine unheimliche Weile, bis man das Aufklatschen des Steines im Meere hörte. Die armen Gemarterten hatten also während des Hinabfallens noch genügende Zeit, die »schöne Aussicht« zu genießen. Die trüben Eindrücke zu verwischen, schlug die Wirthin vor, wir sollten uns von zwei »zufällig« anwesenden jungen Mädchen die Tarantella vortanzen lassen. Da die beiden »jungen Mädchen« jedoch in zu ehrwürdigem Alter standen, als daß wir ihnen die Anstrengungen eines so lebhaften Tanzes zumuthen wollten, so verzichteten wir mit Enthusiasmus. Dann ging es bis zur eigentlichen Villa empor, von der nur noch traurige Reste stehen. Ein Theil der Unterbauten ist zu Ställen und Schuppen eingerichtet. Das Uebrige ist verschwunden oder zerfallen. Nur hier und da sieht man noch Theile eines kostbaren Mosaikfußbodens. Was aber der berüchtigte »Zahn der Zeit« nicht zerstören konnte, das ist der überwältigende Fernblick auf die Golfe von Neapel und Salerno, den man von der Terrasse genießt. Hier auf der Stätte, wo Tiberius einst seinen heidnischen Unfug trieb, steht gleichsam zur Sühne eine einfache, lichte Kapelle. Ein Eremit haust dabei und sorgt für den kirchlichen Dienst. Für gewöhnlich stellt man sich einen Eremiten als einen verwitterten, wildbärtigen Mann in geflickter, schäbiger Mönchskutte vor. Dieser hier ist aber ein Gentleman-Eremit mit sauber rasirtem Antlitz, und tadelloser, eleganter Soutane. Im Uebrigen läßt er sich den Wein, den er credenzt, ganz nett bezahlen, und auch für das Einschreiben in das Fremdenbuch erhebt er eine kleine Taxe. Die Eremitage hier oben ist also gar kein übles Geschäft. Beim Salto di Tiberio besteigen wir wieder die harrenden Esel, deren Aufgabe, uns über die abschüssigen Treppenstufen hinabzutragen, noch schwieriger ist, als der Anstieg. Aber die braven Thiere liefern uns wohlbehalten am Hôtel Tiberio zum Souper ab, wo wir die ziemlich primitiven culinarischen Genüsse mit einem Dutzend zierlicher Katzen theilen, deren Bettelhaftigkeit bisweilen einen etwas zudringlichen Charakter annimmt. Wir verzeihen ihnen gern die schlechte Erziehung in der Hoffnung, einigen directen Nachkommen oder wenigstens nahen Blutsverwandten des Scheffel'schen »Hiddigeigei« eine Gefälligkeit erwiesen zu haben. »Hiddigeigei« selbst genießt auf der Insel verdienten Nachruhm. Das Hauptrestaurant neben dem Hôtel Pagano nennt sich stolz nach dem philosophischen Kater »Café Hiddigeigei«. Weibliche Hände credenzen hier Löwenbräu, das bedeutend zu warm, dafür aber entsprechend theurer ist. Das hindert uns natürlich nicht, dem Andenken Tiberii einen kräftigen Verachtungsfetzen und den Manen Scheffels einen ausgiebigen Hochachtungsschluck darzubringen. Am nächsten Morgen besuchen wir Anacapri, die zweite Stadt auf Capri, die nicht ganz so schön gelegen und fremdenreich ist, wie die »besser situirte« Schwester. Eine neue, kunstvoll in den Felsen gehauene Fahrstraße, die überraschende Ausblicke bietet, verbindet Capri mit Anacapri. Eine Bootsexcursion führt uns nach der »grünen Grotte«, die nicht gleich berühmt, aber mindestens ebenso schön ist, wie die blaue, und nach der »~grotta del matrimonio~«, dem Orte, wo Tiberius jene Bäder genommen haben soll, von denen Suetonius so Erbauliches zu berichten weiß. Als wir zur großen Marina wiederkehren, liegt schon der Dampfer bereit, der uns aus dieser köstlichen Idylle, zu der sich Fels, Meer und Himmel in höchster Schönheit vereinigen, entführen soll nach dem staubigen, lärmvollen Neapel. Ein Ausflug nach Tunis. I. Von Neapel bis Tunis. Im Bureau Florio-Rubattino. -- Neapolitanische Barkenführer bei Nacht. -- Der Herr aus Mailand im Damensalon. -- Addio, Napoli! -- Die »Afrika« und ihr Kapitän. -- Wie man in Cagliari Feste feiert. -- Der Witzbold von Cagliari und der »nervöse Herr«. -- Die weißen Handschuhe des Stewart. -- Afrika in Sicht. -- Ankunftsscherze. Nach Rom führen bekanntlich alle Wege, von Rom nach Tunis aber nur zwei. Und diese beiden Wasserstraßen sind Monopol der großen italienischen Schifffahrtsgesellschaft Florio-Rubattino. Ihr muß man sich anvertrauen, ob man über Cagliari oder über Palermo der tunesischen Küste zustrebt. Das erweckt dem, der die italienischen Beförderungsmittel und ihre zweifelhafte Sauberkeit kennen gelernt hat, zunächst keine angenehmen Empfindungen. Und die ersten Schritte, die man thut, um sich für die Ueberfahrt einen Platz zu sichern, sind keineswegs geeignet, diese Besorgnisse zu zerstreuen. Die Bureaubeamten der Gesellschaft Florio-Rubattino ähneln an Schwerfälligkeit und begrenztem Auskunftsvermögen ihren Collegen von der Eisenbahn. Auf der Agentur in Rom befindet sich zwar ein Schalter mit der schönen Aufschrift »Informationen«, und dahinter sitzt ein sorgfältig frisirter junger Mann. Aber da er bei meinem Besuche gerade die »Riforma« las und sein Nachbar den »Don Chisciotte«, so konnte es nicht ausbleiben, daß erst ein längerer Meinungsaustausch in politischen Dingen, ein Rede-Duell »hie Cavallotti, hie Crispi«, stattfinden mußte, ehe der Mann der Informationen für das Publicum Zeit hatte. Dann wußte er nicht, wann der Dampfer für Cagliari aus Neapel abging, auch nicht, ob überhaupt ein Fahrplan der verschiedenen Linien existirte oder wieviel die Ueberfahrt kosten würde, sondern er wußte nur, daß man diese nützlichen Dinge »vielleicht« auf der Direction wissen würde. Ein um 11 Uhr nach dieser Centralstelle angetretener Gang bereicherte zunächst die allgemeinen Erfahrungen dahin, daß die directorialen Localitäten nur von 2 bis 6 Uhr geöffnet sind, offenbar um eine Ueberarbeitung der Betheiligten zu vermeiden. Der vierstündige Normal-Arbeitstag -- welch' ein Ziel auf's Innigste zu wünschen -- hier ist er eingeführt. Von 2--6 Uhr aber war man wirklich vorhanden. Nur war Genaues auch hier nicht zu hören. Dagegen kam ein riesiger Fahrplan zum Vorschein, groß genug, um eine Zimmerwand zu tapeziren. Leider verlor das kostbare Schriftstück einigermaßen an Werth durch die bei der Uebergabe ausgesprochene Bemerkung, man möge sich auf diesen Fahrplan nicht verlassen, denn Aenderungen seien sehr häufig. Endlich an der dritten Stelle, in Neapel, erlangt man nach einiger Mühe und unterschiedlichen Formalitäten Auskunft und Billet. Ein neuer Scherz steht erst bei der Bezahlung bevor. Der Beamte verweigert die Annahme italienischen Papiergeldes. Er verlangt Gold! Also eine italienische Gesellschaft, die von der Regierung mit jährlich 10 Millionen Lire subventionirt wird, schlägt die einzig gangbare italienische Münze aus und verlangt Gold, trotzdem man Jahre in Italien leben kann, ohne jemals ein italienisches Goldstück zu sehen. Französisches Gold, das bereitwilligst acceptirt wird, beseitigt auch diese Schwierigkeit, und endlich hat man die Bescheinigung in Händen, daß sich die Gesellschaft Florio-Rubattino verpflichtet, den Passagier bis nach Tunis zu befördern und zu beköstigen. In aller Eile leistet sich der Herr hinter dem Schalter noch die unwahre Mittheilung, daß die Gesellschaft für Ein- und Ausbarkirung der Passagiere und Bagagen Sorge trägt. Es fällt der Gesellschaft natürlich gar nicht ein, den Reisenden dieses mühevolle und kostspielige Geschäft abzunehmen. Der nach Cagliari bestimmte Dampfer »Afrika« liegt im Hafen in respectvoller Entfernung vom Quai. Die Abfahrt erfolgt um Mitternacht. Irgend ein Grund zur Wahl dieser höchst unbequemen Stunde liegt selbstverständlich nicht vor, es sei denn der, daß man der Unverschämtheit der neapolitanischen Barkenführer gestatten will, sich in ihrer ganzen Glorie zu zeigen. Wie eine Horde Wilder stürzt das Gesindel dem nächtlichen Ankömmling entgegen. Es dauert eine Weile, ehe man sich auf einen einigermaßen entsprechenden Preis einigen kann. Kaum ist man auf halber Fahrt zwischen Quai und Schiff, als die Bootsleute unter Androhung der Umkehr das Dreifache des Ausbedungenen fordern. Auf geraden Wegen kommt man mit dieser Gesellschaft nicht vorwärts. Ich verspreche also Alles, was Jene wollen, werde dafür mit »Excellenza« angeredet und mit rührender Vorsorge sammt Gepäck an Bord befördert. Dort erweist sich die »Excellenza« für die plötzliche Standeserhöhung wenig dankbar, denn sie zahlt zur Strafe für begangenen Treubruch nur den ursprünglichen Tarif und nicht einen Soldo des mit Recht so beliebten Trinkgeldes. Darauf retirire ich schleunigst in die Kajüte. Hier ist man sicher, denn jetzt ist man die Beute des Stewarts, und der läßt _andere_ Trinkgeldheischende nicht in seinen Bereich. Nach einem Wuthgeheul ziehen die neapolitanischen Hafenpiraten ab, und das Deck ist zu einer Orientirungspromenade frei. Groß ist die Passagierliste der »Afrika« nicht. Außer mir befindet sich nur noch ein deutsches Ehepaar an Bord, das ebenfalls nach Tunis will, und ein mailändischer Handlungsreisender, der mit der eigenthümlichen Rührigkeit dieser Gesellschaftsklasse bereits Mittel und Wege gefunden hat, sich den -- Damensalon reserviren zu lassen. Zauberisch schön ist der Blick vom Verdeck auf das nächtliche Neapel. Gedämpft klingt das nervenerschütternde Geräusch der lärmvollsten Großstadt herüber, in der, wie im Pariser Café Jacques Offenbachs, erst um Mitternacht das Leben beginnt. Feurigen Schlangen gleich, bergauf und bergab, durchziehen die langen Reihen der elektrischen und Gaslaternen die sich zu Bergeshöhe emporstreckende Stadt, in einige lichte Vorposten auslaufend am weit vorspringenden Posilipp. Schweigend und düster, ohne äußere Zeichen des im Innern wüthenden Feuers, überragt der Vesuv das wundervolle Nachtbild. Da schießen Raketen auf am Mercato, und bunte Feuersäulen antworten aus den höheren Theilen der Stadt, vom Capodimonte und vom Vomero. Man vergnügt sich in Neapel, wie fast allnächtlich, mit Feuerwerk. Während es drüben knattert und blitzt, während Leuchtkugeln und Schwärmer prasselnd zum Himmel fahren, setzt sich die »Afrika« langsam in Bewegung. Und bald versinkt Neapel mit seinem Lichterglanz und seinem fröhlichen Lärmen in's schweigende Meer, auf das der Mond seine zitternden Streifen breitet. ~Addio, bella Napoli!~ Es ist Zeit, die Cabine aufzusuchen. Am andern Morgen ist die Toilette mit ungewohnten Schwierigkeiten verknüpft. Auf den Fußboden ist kein Verlaß, und das Waschbecken vollführt mit den Gläsern einen Contre-Tanz. Draußen bläst eine tüchtige Mütze voll Wind, und die »Afrika«, ein ziemlich kleines Schiff, läßt sich von den aufgeregten Wellen tüchtig werfen. Aus den übrigen Cabinen dringen seltsam stöhnende Laute, ein Beweis, daß man dort bereits an Neptun Tribut zahlt. Als die Schiffsglocke melodisch zum Frühstück ruft, versammelt sich der Herr Kapitän ganz allein am schwankenden Tische und läßt es sich stillvergnügt schmecken. Erst gegen Abend sieht der grimme Meergott, klüger, als mancher Finanzminister ein, daß Mägen, die immerfort hergeben sollen, auch Etwas einnehmen müssen, und zum Diner wird der liebenswürdige Lenker des Schiffes von der gesammten Vierzahl seiner Kajüten-Passagiere umgeben. Mit lebhafter Unterhaltung würzt er das Mahl. Zunächst betont er, daß er sich nur ausnahmsweise auf dem »Mittelländischen« bewege. Seine gewöhnliche Tour sei die transatlantische nach Buenos-Ayres und Rio de Janeiro. Nachdem wir hiervon mit gebührendem Respect Notiz genommen, entschuldigte er sich, daß er uns nicht in Neapel auf Deck begrüßt habe. Aber er könne Neapel nicht ausstehen und bleibe stets so lange in seiner Kajüte, als das Schiff im dortigen Hafen ankere. Ihm, dem Genuesen, sind die Neapolitaner die verhaßteste, greulichste »Rasse«. Er erklärte die Einwohner der ~bella Napoli~ kurzweg für die ärgsten Briganten der civilisirten Welt. Und wir können diesem landsmännischen Urtheile trotz seiner Schroffheit nicht ganz Unrecht geben. Jedenfalls ist das Gespräch ein Beweis für die Tiefe der Kluft, die sich in Italien zwischen Nord und Süd öffnet. Das Diner an Bord ist im Uebrigen ausgezeichnet. Zum Schluß giebt es einen Marsala, der das Entzücken der Kenner erregt. Er stammt aus den Kellern Florio's, des sicilianischen Mitbegründers der Gesellschaft, der nicht nur Schiffsrheder, sondern auch Weinhändler ist. Eine seiner besten Marken wird auf den Schiffen gewissermaßen als Reclame-Weine credenzt. Es ist überhaupt an der Zeit, der Compagnie Florio-Rubattino eine Ehrenerklärung zu machen. Ihre Comptoirs am Lande mögen nicht tadellos eingerichtet sein, ihre Schiffe aber lassen Nichts zu wünschen übrig. Tadellose Sauberkeit, aufmerksame Bedienung, zweckmäßig eingerichtete Cabinen und brillante Verpflegung machen den Aufenthalt auf den Florio-Rubattino-Dampfern zu einem durchaus angenehmen. Am Morgen des nächsten Tages kommt die Südküste Sardiniens und Cagliari, die Hauptstadt der Insel, in Sicht. Die Stadt ist malerisch auf schroff aus dem Golf emporstrebendem Hügel gelagert, zu dessen Füßen sich weite, öde Ebenen ziehen, die Salzsümpfe Cagliaris. Die Stadt ist sauber und nett. Abgesehen von einigen Bauten aus der Pisaner-Zeit giebt es eine hübsche, dem Fels abgerungene Terrassen-Promenade mit schöner Aussicht auf das Meer und die gelblich schimmernden Salzläger. Um so interessanter ist unser Spaziergang, zu dem ich mich den deutschen Reisegefährten angeschlossen habe, für die Einheimischen. Fremde scheinen hier noch ein seltener Artikel zu sein, denn halb Cagliari ist uns auf den Fersen, um die Inglesi zu bewundern. Als wir die Cagliaresen dahin aufklären, daß wir keine Engländer, sondern Deutsche seien, giebt es ein ungeheueres Staunen, daß diese klugen Prussiani ein verständliches Italienisch reden. Der Enthusiasmus hierüber setzt sich in eine feierliche Einladung um, ein abendliches Wohlthätigkeitsfest mit unserer Gegenwart zu verschönen. Trotzdem uns der Hauptgewinn der Tombola, ein sardisches Nationalcostüm und eine Büchse Sardinen so gut wie sicher versprochen wird, müssen wir doch mit schmerzlichem Bedauern ablehnen. Die »Asia«, ein anderer größerer Florio-Dampfer, der uns nach Tunis bringen soll, ruft die Säumigen mit greller Stimme an Bord. Hier giebt es noch Manches zu beobachten, ehe die Schraube des Dampfers sich zu drehen beginnt. Zum Hafen steigt eine große Procession, unter Entfaltung vielen Pompes, hernieder. Musik, Pistolenschüsse, Feuerwerk, kurz Alles, was zu einem richtigen italienischen Rummel gehört, läßt sich vernehmen. Man feiert das Fest des heiligen Antonius von Padua. Wir schreiben den 16. Juni, und das Fest des Heiligen ist am 13. Auf meine bezügliche Frage kommt eine reizende Aufklärung. Cagliari zerfällt nämlich in vier Bezirke. Jeder Bezirk feiert seinen Festtag für sich, während jeweilig die drei anderen daran Theil nehmen. Auf diese höchst ingeniöse Art vervierfachen sich die Feiertage in Cagliari. Unter den neu eingetroffenen Passagieren befindet sich ein behäbiger, junger Mann, der von einer ganzen Cohorte Abschied nehmender Freunde begleitet ist. Er macht furchtbaren Lärm, redet die Gepäckträger »meine Herren Cavaliere« an, drückt ihnen, als sie ihren Lohn heischen, gerührt die ausgestreckten Hände, wirft sich zur Begrüßung vor dem Kapitän auf den Bauch und läßt beim Abschied von den Gefährten klatschende Knallerbsen anstatt der Thränen auf das Verdeck fallen. Die Corona der cagliaresischen ~jeunesse dorée~ heult bei jedem dieser Impromptus vor Vergnügen. Kein Zweifel, wir haben einen der gefürchtetsten Witzbolde Cagliari's an Bord. Weniger vergnügt ist ein anderer Jüngling, der die Mütze tief in die Stirne gezogen hat und mit nervöser Hast, fortwährend sich erkundigend, ob man noch nicht abfährt, auf dem Verdeck herumläuft. Gerade als das Signal zur Reise gegeben wird, erfolgt unmittelbar Contreordre; denn vom Lande stößt ein Boot ab, das zwei lebhaft winkende Carabinieri enthält. Bei ihrem Anblick ist der nervöse junge Mann plötzlich verschwunden. Die Beamten der öffentlichen Ordnung klettern an Bord und schicken sich an, das Schiff zu durchsuchen, da man glaubt, daß ein seit Monaten aus dem Gefängniß ausgebrochener Gauner sich auf dem Dampfer befinde. Sehr schlau fangen die Herren Carabinieri ihre Nachforschung nicht an. Sie steigen in die verschiedenen Kajüten hinab und lassen die zahllosen Schlupfwinkel, die solch ein großer Dampfer bietet, undurchforscht. Ohne Resultat kehren die Carabinieri in ihr Boot zurück, und die »Asia« beginnt endlich ihre Fahrt gen Süden. Unten in seiner Cabine liegt der nervöse Herr, läßt sich Eisumschläge machen und hat das »sardinische Fieber«. Auch zu Tische erscheint er nicht, dafür setzt sich der Witzbold, geladen mit angenehm zur Tafel passenden Scherzen, neben den Kapitän. Aber der erwartete Beifall bleibt vollständig aus. Ist es nun diese schmerzliche Enttäuschung oder der Umstand, daß die »Asia« die hohe See erreicht hat und in weichem Rhythmus sich zu heben und zu senken beginnt -- plötzlich wird der Witzbold bleich, murmelt ein paar Worte, stürzt nach seiner Koje und wird nicht mehr gesehen. Die vorhin gerühmten Vorzüge der »Afrika« finden sich in verstärktem Maße auf der »Asia« wieder. Letztere, ein Steamer, der bisher die Route Genua-Bombay befuhr, ist ein mächtiges Schiff mit eleganter Einrichtung und elektrischer Beleuchtung. Der Kapitän, ebenfalls Genuese, ein schmales, feines Männchen, gebietet über einen unversiegbaren Redestrom, dem es ganz gleich ist, ob er sich über die Klippen der Politik, der Philosophie oder des Klatsches ergießt. Küche und Keller sind wiederum vorzüglich, und der Stewart bedient bei Tische sogar in weißen Handschuhen. Dieser Luxus wirkt um so beruhigender, als der Ganymed die entschiedene Neigung hat, beim Serviren den Daumen in die Suppe zu stecken. Dem Stewart sei diese angenehme Manier nicht abzugewöhnen, versichert der Kapitän, und deshalb habe er einen täglichen Wechsel der Handschuhe angeordnet. Man könnte sonst im Consommé am Ende die Spargelsuppe von gestern schmecken. Der Kapitän ist ein Gourmet. Jedenfalls nimmt er hier seinen Ausgangspunkt zu einem halbstündigen Speech über die Macht der Gewohnheit. Dazu schaukeln von der Salondecke herab einige Orchideenkästen, leise den weichen Bewegungen des Schiffes folgend. Kein Wunder, daß sich bald allgemeine Müdigkeit einstellt und die Cabinen frühzeitig aufgesucht werden. Der Kapitän stopft sich ein frisches Pfeifchen und steigt, über eine Gesellschaft kopfschüttelnd, die seine Unterhaltung genießt und dennoch müde werden kann, langsam zum Deck empor. Am andern Morgen frühzeitig kommt die afrikanische Küste in Sicht. Zuerst erscheint ein kahles Inselchen mit einem kleinen Leuchtthurm, dann, als man in den Golf von Tunis einläuft, das Vorgebirge von Karthago mit den weißschimmernden Häusern des Dorfes Sidi bou Saïd, und bald darauf zeigen sich die schlanken Thürme der Kathedrale, die auf den Trümmern Karthagos errichtet ist. Man nähert sich La Goulette, der früheren Hafenstadt von Tunis, und plötzlich weicht der frische Seewind dem glühenden Hauche, der vom Lande herüberweht. Das ist der heiße Athem Afrikas, der Scirocco. Während früher die Dampfer in La Goulette anlegten und die Passagiere mit einer kleinen Bahn, die sich im Besitz von Florio-Rubattino befindet, nach Tunis befördert wurden, haben die Franzosen seit zwei Jahren einen Kanal eröffnet, der in Länge von einer Stunde die Lagune von Tunis, den See El Bahira durchschneidet. Für die Reisenden ist dadurch eine große Bequemlichkeit geschaffen, denn sie fahren jetzt unmittelbar bis an den Quai von Tunis. Den Schaden hat La Goulette und vor allen Dingen die italienische Eisenbahn. Bevor wir im Kanal einlaufen, nehmen wir den Lootsen an Bord, der in einem mit vier Negern bemannten Boote herankommt. Gleichzeitig betreten die Postbeamten, nacktfüßige Araber in malerischen Gewändern, mit ihnen schwarze Gepäckträger und zudringliche Hôtelführer das Schiff. Man hat jetzt den vollen Blick auf das grellweiße Häusermeer von Tunis, das sich vom Strande bis zu einer Hügelkette, von welcher die Stadt im Süden umschlossen wird, emporzieht. Die »Asia« legt an, eine Treppe stellt die Communication mit dem festen Lande her, arabische und schwarze Träger ergreifen die Bagage und schleppen sie zur Douane, die höflich und ohne große Peinlichkeit geübt wird. Am bequemsten ist es, sich dann einem Hôtel anzuvertrauen, dessen Beamter das Nöthige besorgt. Meine deutschen Reisegefährten wollen Privatlogis aufsuchen, und im Nu haben sich sämmtliche anwesende Droschkenkutscher der verschiedenen Gepäckstücke bemächtigt und führen einen erbitterten Faustkampf um die Beute. Rathlos steht das Ehepaar mitten in dem tollen Gewühl, das sich zu einer allgemeinen Hauerei entwickelt, an der alle am Hafen Anwesenden vergnügt theilnehmen. Ich sehe nur noch, wie der Handkoffer von Madame als Wurfgeschoß benutzt wird und einem stämmigen Neger an den Kopf fliegt, wobei jedenfalls der Handkoffer mehr Schaden nimmt als der wollige Dickschädel. Dann führt mich der Omnibus zu den gastlichen Pforten des Grand-Hôtel. II. Stadt und Bevölkerung. Culturbild auf der Trambahn. -- Markthallen und Bazare. -- Palast des Bey. -- Der Herr Oberst nimmt Bakschisch. -- Tunesisch-französische Sittlichkeit. -- Sadok Bey und seine Getreuen. -- Die »Ritter vom Zähringer Löwen«. Der dem Hafen und der Lagune El Bahira zunächst gelegene Theil von Tunis macht durchaus den Eindruck einer mittleren, französischen Provinzstadt. Unmittelbar neben der Hafendouane klingelt dem Ankömmling die Pferdebahn entgegen, und wenige Schritte weiter steht ein Grand Café de Paris. Ein breiter, baumbepflanzter Boulevard führt geradlinig bis nach dem Mittelpunkt des europäischen Verkehrs, der Avenue de France. Elegante Läden mit Pariser Novitäten, zahllose Cafés und Restaurants nehmen diese Straße ein. Man würde sich in Europa wähnen, wenn sich nicht hie und da über einer Hofmauer der schlanke Hals eines Kameels erhöbe oder auf flüchtigem Roß ein Araber mit nachflatterndem weißen Burnus über den Weg dahingaloppirte. Ein frappantes Beispiel, wie in Tunis Orient und Occident einander berühren, bieten die vorbeirollenden Sommerwagen des Tramway. Die Conducteure sind meist Malteser, die Kutscher pechrabenschwarze Neger. Im Passagierraum sitzt neben dem tadellos gekleideten französischen Beamten ein schmutzig brauner Berber, neben der eleganten Modedame, deren riesige Ballonärmel sich im Winde blähen, die breithüftige Jüdin in ihren engen, um das Knie zusammengeschnürten Hosen, die zuckerhutförmige, spitze Behauptung auf dem Kopfe. Ein junger Lieutenant der Chasseurs d'Afrique klemmt das Monocle ein und fixirt ein Araberweib, aus deren schwarzer, das Antlitz dicht verhüllender Gesichtsmaske die dunklen Augen lebhaft hervorleuchten. Ein ganzes Culturbild -- solch' ein tunesischer Pferdebahnwagen. Im modernen Theile der Stadt liegen die Bahnhöfe: der italienische für La Goulette, La Marsa (Residenz des Beys) und Carthago; der französische für Hammann el Lîf, Biserta und Algier. In der Rue d'Allemagne erhebt sich ein prachtvolles, sehr zweckmäßig eingerichtetes neues Postgebäude und nicht weit davon das umfängliche Viereck der Markthallen. Diese, wie alle europäischen Markthallen, sind im Grunde nichts Anderes, als eine solidere Nachahmung der türkischen Bazare, Sûks genannt, in denen sich die Läden an überwölbten Wegen zusammendrängen. Das Leben und Treiben in diesen vornehmlich der europäischen Colonie dienenden Räumen ist besonders zur Vormittagszeit eigenartig. Zunächst fällt dem Beschauer auf, daß alle Verkaufsstände von Männern eingenommen werden. In Tunis giebt es also keine Hökerweiber, sondern nur Hökermänner. Die Geschwätzigkeit scheint aber nicht am Geschlecht, sondern am Gewerbe zu hängen, denn die Verkäufer vom männlichen Stamme reden mindestens eben so viel, wie ihre deutschen Colleginnen. In der Mitte des weiten Hofes erhebt sich der im maurischen Stil kokettirende Fisch-Pavillon. Dort herrscht der meiste Lärm -- wiederum ~tout comme chez nous~. Im Hofe lagern nachlässig dahingestreckt schmutzige Kameele, und in dichten Reihen drängen sich mißmuthige Esel aneinander, die riesigen Marktkörbe auf dem Rücken. Zwischen der Thierwelt hocken Araber und Juden, zanken, feilschen und gerathen sich einander in die Haare. Der französische Polizist, correct und scheinbar waffenlos -- er trägt einen Revolver unter dem Rocke -- mischt sich nur ein, wenn der freundschaftliche Streit in allzu grobe Thätlichkeiten ausartet. Durch all diesen Wirrwarr schreiten mit der Ruhe der Gewohnheit die Damen der europäischen Colonie und machen ihre Einkäufe. Jede hat einen braunen, barfüßigen Berberjungen hinter sich, in dessen seltsam geformten, runden Tragekorb die Waaren gelegt werden. Die kleinen Kerle, die sich bescheiden an den Thoren der Markthalle mit den Worten »~Madame, moi porter~«, anbieten, tragen eine sackartige Kapuze über Kopf und Rücken. Ueber diese Kapuze ziehen sie die Schnur des Korbes um die Stirn und schleppen so mit dem Kopfe oft ganz beträchtliche Lasten. Kostspielig sind diese kleinen, hübschen und stets vergnügten Dienstmänner nicht; denn sie geben sich mit ein paar Sous zufrieden, die dann das Capital bilden für ein am Nachmittag mit einigen Collegen zu entrirendes kleines Jeu. Sie spielen mit sehr schmutzigen Karten und ungeheurem Eifer ein Hazardspiel, das mit Poker eine gewisse Aehnlichkeit zu haben scheint. Der europäische Theil der Stadt reicht bis zur Porte de France, die architektonisch sehr wirksam die Avenue de France abschließt. Dies war früher die streng verschlossene Hauptpforte von Tunis, und ihre jetzt Tag und Nacht weit offen stehenden Thürflügel, über denen die stolze Chiffre ~R. F.~ (République Française) prangt, bezeichnen den Weg, durch den die abendländische Cultur ihren Einzug gehalten hat. Von der kleinen Place de la Bourse, die sich hinter dem Thore rundet, streben fächerförmig vier Straßen nach den verschiedenen Quartieren, in denen sich die Hauptstämme der Bevölkerung, die Araber und Mauren, die Malteser und Juden, zusammengeschlossen haben. Die wichtigste dieser Verkehrsadern, die schmale Rue de la Kasbah, führt in unablässigem Zickzack durch das Herz des arabischen Quartiers nach der Kasbah, der Citadelle von Tunis. Ein Gang durch diese Gasse versetzt den Spaziergänger sofort in die bunte Welt des Orients. In malerische, weite weiße Gewänder gehüllt, den Turban oder den Fez auf dem Haupte, sitzen würdevolle Araber mit gekreuzten Beinen in ihren winzigen Lädchen und Werkstätten und harren geduldig eines Käufers. Behutsam watscheln voluminöse Jüdinnen vorbei, deren gassenfüllender Corpulenz schwer auszuweichen ist, und, stummen Schatten gleich, huschen vermummte Araberfrauen scheu die Mauer entlang. Rechts und links öffnen sich Ausblicke in die dem Fremden untersagten Thorbögen einer Moschee oder in majolicagepflasterte Höfe, in denen sich buntgekleidete, lustige Kinder tummeln. Das Alles giebt ein Bild, das, so oft es auch geschildert worden ist, seinen ganzen, geheimnißvollen Reiz erst ausübt, wenn man es selbst erschaut. Was gerade dem aus Italien kommenden Fremdling sehr angenehm auffällt, das ist die Ruhe auf der Straße, das zurückhaltende Benehmen der Bevölkerung, die Sauberkeit der Häuser. Kein überflüssiges Geschrei der Verkäufer, keine kindisch belästigende Neugier und alberne Zudringlichkeit, keine ekelerregenden Schmutzhöhlen. Man sagte mir einmal als Entschuldigung für das widerwärtige Treiben, das in den schmutz- und lärmerfüllten Straßen Neapels herrscht, Neapel wäre schon mehr eine afrikanische, als eine europäische Stadt. Man hat mit diesem leichtsinnigen Ausspruche Afrika schweres Unrecht gethan. Das unsauberste und übelriechendste Quartier von Tunis ist denn auch richtig das der Malteser und Italiener. Nur in den tunesischen Bazars oder Sûks gebrauche man dieselbe Vorsicht, die in den Läden Neapels und Venedigs angebracht ist. In den engen Abtheilen dieser an bedeckten Straßengängen sich entlang ziehenden Verkaufshallen liegen wahrhafte Schätze an Schmucksachen, kostbaren Essenzen, prachtvollen Teppichen und Seidenstoffen verborgen. Aber schon der Einkauf einer Kleinigkeit gehört zu den zeitraubendsten und unangenehmsten Aufgaben. Die meisten Händler sprechen und verstehen nicht Französisch. Man ist also auf einen Dolmetsch oder Führer angewiesen und diesen Herrschaften, die mit den Kaufleuten unter einer Decke stecken, ist erst recht nicht zu trauen. Die wenigen, fremde Sprachen beherrschenden Verkäufer wollen aus diesem Vorzuge besonderes Capital schlagen und verlangen enorme Preise. Wer unbedingte Sachkenntniß besitzt -- es wimmelt von allerlei gefälschten Kostbarkeiten! -- wer die Geduld hat, drei- bis viermal den Laden zu verlassen und sich eben so oft wieder zurückholen zu lassen, wer so zäh ist, daß er ungefähr den fünften Theil des ursprünglich Verlangten bietet und an diesem Standpunkte stundenlang annähernd festhält, der wird vielleicht in den Sûks kaufen können, ohne allzu arg übervortheilt zu werden. Wer aber diese Sachkenntniß nicht besitzt oder aber ungeduldigen Temperamentes ist, der verzichtet besser auf die zweifelhaften Freuden eines Einkaufes. Verläßt man die Bazare und wandelt bis an's Ende der Rue de la Kasbah, so erreicht man einen baumgeschmückten Platz, der von der alten Citadelle, der jetzigen Kaserne des französischen Zuaven-Regiments, dominirt wird. Zu ihr im rechten Winkel steht das Schloß des Beys, das jedem Besucher zugänglich ist. Allzu viel ist freilich darin nicht zu sehen. Man zeigt einige Säle mit schönen Stuckfiligran-Plafonds, dann die Privatzimmer des Bey mit wurmstichigen Möbeln, endlich den früheren Berathungs-Saal mit dem sehr wackeligen Thron -- wohl symbolisch aufzufassen! -- und einer den Ministertisch überziehenden, ehemals rothen Decke, die so fleckenbesät ist, als hätten die dereinstigen Würdenträger von Tunis ihre ganze Wuth über den Tractat mit den Franzosen in Tinte verspritzt. Als Führer durch alle diese Sehenswürdigkeiten dient ein beleibter, uniformirter Herr, dessen stolze Brust mit Orden bedeckt ist und vor dem die tunesischen Wachen präsentiren. Es ist der »Schloßhauptmann«, der den martialischen Titel »Oberst« führt. Mit Würde geleitet er mich wieder zur Pforte und hält dann die Hand hin. Sollte der Herr Oberst etwa ein »Backschisch« wollen? Bädeker sagt in seiner mit Recht so beliebten Kürze: Trinkgeld 1 Franc. Es ist auch mehr als genug in Anbetracht der mäßigen Wunderdinge, die der Palast enthält. Aber einem Herrn, der so hoch auf der tunesischen Rangliste hält und so viele schöne Orden besitzt, einen Franc zu geben, ist mißlich. Ich wage es dennoch, in der Befürchtung, daß der gekränkte Würdenträger mir die Münze vor die Füße werfen oder mich auf krumme Türkensäbel fordern wird. Nichts von alledem. Der Herr Oberst macht einen tiefen Bückling, sagt ein gerührtes »~Merci~« und murmelt ein paar arabische Worte, die nach Aussage meines Dolmetschers bedeuten: Beehren Sie mich bald wieder. Der Bey und seine Getreuen sind nämlich sehr knapp bei Kasse. Dahin sind die schönen Zeiten, wo der Fürst und seine Minister ungezählte Millionen von ihren lieben Unterthanen erpreßten. Die Franzosen haben die Verwaltung in die Hand genommen, Seiner Hoheit die Schulden bezahlt und ihm außerdem eine jährliche Rente von einer Million Francs ausgesetzt. Davon muß der zur Ruhe gesetzte Ali Bey seine Hofhaltung und seine Armee (250 Mann stark) bestreiten. Kein Wunder, daß der Sold nicht immer prompt gezahlt wird. Und man versichert glaubwürdig, daß der Herr Oberst, der Commandirende des Schlosses, lediglich auf die Fremden-Trinkgelder angewiesen sei. Der Bey, ein alter Herr von 80 Jahren, residirt in seiner Villa zu La Marsa, die dicht am Meer und wenige Minuten von den »Trümmern Carthago's« entfernt liegt. Dort hat er seinen Marstall und seinen stark besetzten Harem, der freilich, Angesichts des hohen Alters des Fürsten, mehr decorativen Zwecken dient. Die einzige Herrscherthätigkeit, die der Bey noch ausübt, ist die Rechtsprechung. Bei wichtigeren Criminalfällen, besonders zu solchen, auf denen Todesstrafe steht, begiebt der Bey sich nach der Stadt und sitzt zu Gericht. Doch giebt es einen Recurs gegen seinen Richterspruch an den obersten Kadi. Auch sonst ist die Jurisdiction über die Eingeborenen in den Händen der tunesischen Richter geblieben, während in allem Uebrigen das französische »Protectorat« in Wahrheit die französische Herrschaft bedeutet. Die hiesige französische Garnison, deren Commandant zugleich tunesischer Kriegsminister ist, besteht aus je einem Regiment Zuaven, Chasseurs d'Afrique und Spahis. Besonders die Zuaven sind ein brillantes Corps. Schlanke Leute mit kühnen, gebräunten Gesichtern, denen die im türkischen Stile gehaltene Uniform -- man kennt sie in Deutschland von 1870 her -- vortrefflich steht. Wenn die Schaarwache der Zuaven des Abends im Laufschritt, Trompetengeschmetter vorauf, und die Mannschaft mit Fackeln in der Hand, die Straßen der Stadt durcheilt, begleitet von Neugierigen in den buntscheckigsten Gewändern, so bietet dieser Aufzug einen Anblick von ganz besonderen phantastischen Contouren. Die Araber von Tunis sind im Allgemeinen von weit friedlicherer Art, als ihre Stammesgenossen in Marokko. Sie lassen sich ruhig das französische Regiment gefallen, ohne es freilich zu lieben. Wenigstens sind sie der ewigen Steuererpressungen ledig, unter denen sie früher zu leiden hatten. Die Franzosen sind auch klug genug, die Gewohnheiten und Eigenthümlichkeiten der Eingeborenen zu respectiren. Z. B. darf kein Europäer die Moscheen betreten, während jene von Algier dem Besucher freigegeben sind. Nur im Punkte der öffentlichen Sittlichkeit sind die neuen Herrscher energisch vorgegangen und mit dem Erfolge, daß in dieser Beziehung Tunis den meisten europäischen Großstädten zum leuchtenden Muster dienen konnte. Selbst in der Nacht sind die Straßen rein von zweifelhaften Elementen, und der Fremde, der nach Tunis geht, um »Sittenstudien« zu machen, kommt nicht auf seine Kosten. Das hier Erreichte ist um so bemerkenswerther, als in Tunis in den siebziger Jahren die zügellosesten Zustände herrschten. Sadok Bey, Ali's Vorgänger, gab seinen Unterthanen nicht die besten Beispiele in seiner persönlichen Führung. An seinem Hofe machte sich die ausgesprochenste Günstlingswirthschaft breit, ja die sämmtlichen Minister und Vertrauensmänner des Fürsten verdankten ihre Stellungen weniger ihrer Tüchtigkeit, als -- anderen Eigenschaften. So war der allmächtige Vezier, Mustapha ben Ismaïl, ursprünglich Barbiergehilfe gewesen, ehe er es verstanden hatte, dem Bey durch seine Schönheit aufzufallen. Seitdem leitete er die Geschicke des Reiches, dessen Kasse er nicht selten mit der seinigen verwechselte. Als seine Herrlichkeit zu Ende ging, konnte er wohlgezählte 80 Millionen Francs redlich gestohlener Gelder mit auf den Weg des Ruhestandes nehmen. Der schnöde Mammon ist freilich nicht bei ihm geblieben. Der gute Mustapha ging nach Frankreich, und dort haben ihm die freundlichen Damen von Paris und die Croupiers von Monte-Carlo seinen Reichthum allmählich wieder abgenommen. Der Reichskanzler und Millionär a. D. lebt jetzt in Konstantinopel von einem Gnadengehalt, das ihm der Sultan zahlt. Mustapha ben Ismaïl war allerdings der Hauptspitzbube, aber er hatte zahlreiche Genossen, die mit ihm um die Wette raubten und plünderten. Man kann sich kaum einen Begriff machen, woher diese Blutsauger die Unsummen genommen haben, denn Tunis, arm an Industrie und Handel, ist keineswegs ein reiches Land. Die Erinnerung an diese saubere Gesellschaft wurde kürzlich auf eine für Deutschland nicht gerade rühmliche Weise aufgefrischt. Von Baden aus recherchirte man zu irgend einem statistischen Zwecke nach dem Verbleib der tunesischen -- Ritter vom Zähringer Löwen. Es waren, wenn ich recht berichtet wurde, drei Würdenträger des Sadok Bey, die wahrscheinlich bei einem fürstlichen Besuch den hohen Orden erhalten hatten. Die Schicksale des einen Decorirten, eben jenes Mustapha ben Ismaïl, habe ich eben erzählt, der zweite ist gestorben oder verschollen, der dritte heißt Elias Chaloum und war früher Kriegsminister. Jetzt ist er etwas bescheidener geworden und fungirt als -- Steuereinnehmer an der Bab el Kadrah mit einem Gehalte von 3 Francs täglich. Ob er bei seinem jetzigen Geschäfte immer den »Zähringer Löwen« trägt? III. Tunesische Vergnügungslocale. Zuaven-Concerte. -- Der Bauchtanz. -- Die »Beuglants«. -- Die Riesendame haut. -- Mr. Rheyal und der Moralist von Tunis. -- Auf den Trümmern von Carthago. -- Bjil Kader. -- Ein afrikanisches Seebad. Es mangelt nicht an abendlichen Vergnügungen in Tunis. Zwar die Theater, von denen eines den für Schaubühnen nicht ganz gewöhnlichen Namen Teatro Cohn führt, spielen im Sommer nicht. Dafür giebt es Zuaven-Musik, arabische Cafés und französische Tingel-Tangels, nach Pariser Muster »Beuglants« genannt. Die Zuaven-Kapelle läßt sich wöchentlich drei Mal auf der kleinen Promenade der Avenue de la Marine hören. Dort sitzen die Musiker auf eleganten Gartenstühlen, und in weiter Corona um sie herum das lauschende Publicum. Das Programm ist jedenfalls nicht vom chauvinistischem Standpunkte aus aufgestellt. Seine Haupt- und Paradestücke bilden eine Phantasie aus der »~cavalleria rusticana~« -- selbst in Tunis kann man den Wimmertönen des Intermezzos nicht entgehen -- Weber's »Aufforderung zum Tanz« und Beethovens »Adagio aus der ~Cis-Moll~-Sonate«. Die Leute spielen ganz brav, aber das Beethoven'sche Adagio von einem kriegerischen Trompeter-Corps vorgetragen zu hören, bleibt ein zweifelhafter Genuß, zumal, wenn man ihn öfters hat. Und da die Zuaven immer dasselbe Programm executiren, mit kleinen Variationen nur in den Nebenstücken, so sind die Verdienste des Dirigenten um die tunesische Musikpflege keine ganz unbestrittenen. Die großen arabischen Cafés, die von den Fremden hauptsächlich besucht wurden, des dort gezeigten _Bauchtanzes_ wegen, der seit der Weltausstellung auch in Paris heimisch ist, gruppiren sich um den viereckigen Platz Halfa-Ouïne. Seit einiger Zeit ist jedoch den dortigen Etablissements die Erlaubniß zur Production des Bauchtanzes entzogen worden, und die Cafés von Halfa-Ouïne dienen jetzt nur noch zur Erholung für die arabischen Elegants, die sich allabendlich in dichten Schaaren einfinden und mit Andacht ihren »Kaoua« schlürfen. Der Bauchtanz hat sich in die Stadt zurückgezogen und kann dort von kunstsinnigen Interessenten aufgesucht werden. Sehr comfortabel sind die betreffenden Locale nicht. Eine Bretterbude mit Segeltuch bedeckt und mit langen Holztischen ausgestattet, an denen die Gäste sitzen. Im Hintergrunde erhebt sich die kleine bühnenmäßige Estrade, auf der das Tänzerinnen-Corps Platz nimmt. Es sind Mauresken oder Jüdinnen, mit interessanten, scharfgeschnittenen Gesichtern, die sie häufig durch eine kinnbartartige Tätowirung entstellen. Die obligate Musik besteht aus Clavier, Mandoline und Flöte. Sie ist von hervorragender Eintönigkeit. Die ersten beiden Instrumente bewegen sich unausgesetzt auf Mitteltönen, und dazu wirft die Flöte, alle drei Tacte etwa, ein paar gellende Quietscher ein. Der »Bauchtanz«, der zu dieser nervenreizenden Musik geleistet wird, besteht in einem eigenthümlichen, halb wiegenden, halb watschelnden Schreiten, das von heftigen, krampfartigen Zuckungen der mittleren Körpertheile begleitet wird. Hat sich die Tänzerin bis zu einem gewissen Grade begeistert, so feuert sie ein schaurig-schöner Chorgesang der Gefährtinnen zu weiterem Thun an. Die Bewegungen werden immer heftiger und wilder, bis die tunesische Balleteuse erschöpft innehält und -- sammeln geht. Die Dame, deren Bauchkünste zu schauen mir vergönnt war, hatte dabei ihren besonderen Truc. Von den einheimischen Gästen nahm sie ruhig den üblichen Sou entgegen, bei den Fremden aber wies sie das Kupfer zurück und verlangte Silber. Als diesem Verlangen nicht entsprochen wurde, schmollte die Schöne und erklärte, ihre anregende Thätigkeit nicht eher wieder aufnehmen zu wollen, bis sie Silber gesehen habe. Um diesem »Bauchtanz-Strike« ein Ende zu machen, zogen wir es vor, das Local zu räumen. Noch ehe wir die Schwelle erreicht hatten, war die strikende Tänzerin bei uns, erklärte sich jetzt bereit, auch Kupfer zu acceptiren, und streckte das mit Hennah roth gefärbte Händchen hin. Ich begnügte mich, der jungen Dame freundschaftlich die Hand zu drücken. Die Undankbare aber bewies keinen Sinn für civile Umgangsformen, denn sie überhäufte mich mit einer Fluth nationaler Schimpfworte. Durchaus im europäisch-pariserischen Stile gehalten sind die »Beuglants«. Es giebt deren in unmittelbarer Nähe der kurzen Avenue de France nahezu ein Dutzend, die sich durchweg mit dem Namen der großen Pariser Tingel-Tangels brüsten. Man trifft da eine »~Horloge~«, ein »~Café des Ambassadeurs~«, ein »~Grand Eden~« u. s. w. Gepflegt wird hauptsächlich das französische Chanson und der Pariser Cancan. Die Leistungen sind fast durchweg gräßliche. Es muß ein ungelöstes Räthsel bleiben, wie es den artistischen Leitern der besagten Etablissements gelungen ist, eine solche Menge ältlicher, häßlicher und total stimmloser Damen aufzutreiben. Die Eintrittspreise sind freilich sehr niedrig bemessen, aber der Besuch einer Vorstellung wird trotzdem ziemlich kostspielig durch die Sitte des Einsammelns seitens der »Künstler«. Wie eine Fußnote des Programms ausdrücklich mittheilt, erhalten die Artisten seitens der Direction nur die Beköstigung und sind im Uebrigen auf die Erträgnisse des Sammelganges angewiesen. Sowie also die Chansonnette ihre Nummer erledigt hat, schlägt sie ein Tuch um die entblößten Schultern und steigt zum Volke herab. Sie ist dabei bescheidener als ihre arabische Collegin, denn der übliche Obolus im Betrage von einem Sou wird stets mit Dank in Empfang genommen. Da aber ungefähr 20 Damen an der Vorstellung theilnehmen, deren Jede bei der Kürze ihrer Nummern zwei- bis dreimal zum Sammeln kommt, so ergiebt sich ein ganz nettes Sümmchen, das der Besucher für die zweifelhaften Genüsse aufzuwenden hat. Das Hübscheste an den Vorstellungen sind allerlei Episoden, die nicht auf dem Programm stehen. So geschah es eines Abends im ~Grand Eden~, daß ein mißmuthiger Araber sich nicht nur weigerte, seinen Sou zu spenden, sondern der drängenden Sängerin noch einen Fußtritt versetzte. Auf der Stelle erhielt er von zarter Hand eine so kolossale Ohrfeige, daß er buchstäblich vom Stuhle fiel. Als das Publicum dieser muskulösen Vertreterin des schwachen Geschlechts Ovationen brachte, lehnte sie diese bescheiden mit dem Bemerken ab, sie sei früher -- »Kraftdame« gewesen. Ein anderes Intermezzo ereignete sich in den »~Ambassadeurs~«, wo Mr. Rheyal de Paris, »~diseur des chansons rabelaisiennes~« auftrat. Das Chantant befindet sich in einem offenen Garten, und als Mr. Rheyal sich gerade mitten in einem seiner saftigsten Vorträge befand, erscholl plötzlich vom Dache eines Nachbarhauses der liebenswürdige Ruf: »Sie Possenreißer, hören Sie doch endlich auf mit ihren Schw...! Ganz verblüfft antwortete Mr. Rheyal: »Aber das Lied ist von Béranger.« »Mir gleich,« klang es zurück, »Schw... sind es doch.« Man sieht, es giebt noch streng moralische Leute in Tunis. Die Umgebung der Stadt bietet manche Gelegenheit zu Ausflügen. Obligatorisch sozusagen ist natürlich die Fahrt nach Carthago. Man benutzt hierzu die italienische Eisenbahn von Florio-Rubattino, eine höchst merkwürdige Anlage. Sie verbindet Tunis mit La Goulette und La Marsa in einem regelrechten Dreieck. Da die Station für Carthago zwischen den beiden letztgenannten Orten liegt, so differirt die Fahrtdauer zwischen 30 Minuten und 1½ Stunden, je nachdem man eine oder mehrere Seiten des Dreiecks absolviren muß. Um sich in dem verzwickten Fahrplan dieser Kleinbahn zurecht zu finden, dazu gehört an sich schon ein beträchtliches Orientirungsvermögen. Man verläßt den Waggon in La Malka, einem kleinen schmutzigen Berberdorfe, in dem das Vieh in innigster Gemeinschaft mit dem Menschen lebt. Der triste Ort verdient aber doch eine eingehendere Besichtigung. Er ist nämlich auf den Cisternen Carthagos erbaut, die verhältnißmäßig gut erhalten sind. Die Bewohner benutzen diese Baulichkeiten als Keller, Ställe oder Sommerfrische. Als ich mich in eine der mächtigen unterirdischen Wölbungen wagte, störte ich zunächst das Wochenbett einer Katze, dann traf ich einen ehrwürdigen älteren Herrn, der Wein pantschte, und endlich drei wild blickende Berber, die bei Fackelschein einen arabischen Dreimänner-Skat klopften. Von La Malka aus sind es nur wenige Schritte bis zur Byrsa, dem Burghügel von Carthago. Er war der Mittelpunkt des wüthenden Schlachtens, als Scipio seine Legionen gegen die verzweifelten Carthager führte. Jetzt liegt der niedere Hügel freundlich im Sonnenlichte, und sein Plateau krönt eine gewaltige, im orientalischen Stil erbaute Kathedrale, deren impertinent weißer Anstrich das Auge blendet. Die Kirche verdankt ihr Entstehen dem bekannten Cardinal Lavigerie, der bei seinem 1892 erfolgten Tode hier beigesetzt wurde. Außer dieser Grabstätte bietet das in großen Dimensionen gehaltene Innere nichts Sehenswerthes. Hinter der Kathedrale liegt ein freundlicher Garten, der einige minderwerthige Antiken, ein kleines Museum und die Kapelle mit der angeblichen Grabstätte des heiligen Ludwig beherbergt. Sein Standbild überragt den Altar. Von den ursprünglichen Riesenbauten der Byrsa ist Nichts erhalten geblieben. Am östlichen Abhange hat man einige Gräber- und Häuser-Ueberreste bloßgelegt. Diese stammen aber ersichtlich aus der späteren, römischen Zeit. Verläßt man den Garten und tritt an den Nordrand des Hügels, so hat man den vollständigsten Ueberblick über das Gesammtterrain der alten Carthager-Stadt. Tief unten zur Rechten erblickt man die beiden in ihrer Form wohl conservirten, kreisrunden Häfen, den Militär- und den Handels-Hafen. Beide sind durch eine schmale Landzunge getrennt, über die einst die starke Umfassungsmauer hinweglief, die den Militärhafen einschloß. Zur Linken erstreckt sich eine breite, hügelige Einsenkung dreiviertel Stunden weit bis zu dem steil in's Meer abfallenden Cap Carthago, auf dessen Vorsprüngen sich ein Leuchtthurm und das stattliche Araberdorf Sidi bou Saïd erheben. Zwischen der Byrsa und dem Cap lag der Haupttheil der alten Stadt. Heute sieht man auf diesem Terrain nur ein paar vereinzelte Häuser, darunter eine der Bruderschaft vom heiligen Ludwig gehörige Missionsschule. An Ausgrabungen werden gezeigt die Reste einer römischen Basilika, eine angeblich punische Nekropole mit zahlreichen unterirdischen Grabgängen, endlich die sogenannten »kleinen Cisternen«, die von der französischen Verwaltung vollkommen restaurirt worden und zur Wasserversorgung der Umgegend bereit sind. Einige authentische Ueberreste des ältesten Carthago finden sich hart am Ufer des Meeres. Es sind die gewaltigen Unterbauten einer antiken Construction, wahrhaftige Riesenblöcke, die den Stürmen der Römer und den Verheerungen der Jahrtausende getrotzt haben. Im Schatten dieser Trümmer läßt es sich gut ruhen, vor sich das tiefblaue Meer, über das hie und da ein weißes Segel zieht. Plötzlich wird die Idylle unterbrochen durch ein langgezogenes, in unmittelbarer Nähe erklingendes Trompetensignal. Es kommt vom nahen Fort Bordj Djdid. Bjil Kader, mein kleiner Führer, ein strammer Berberjunge aus der Malka, meint in seinem gebrochenen, aber ganz passablen Französisch: »Ich möchte jetzt Zuave sein, denn es bläst zum Essen.« Der kleine Kerl hat überhaupt schnurrige Einfälle und waltet seines Führeramtes mit solchem Eifer, daß er mir einen vorbeifahrenden, älteren Herrn als den (seit Jahren verstorbenen) Cardinal Lavigerie bezeichnet. Es ist Zeit zur Rückkehr nach der Station. Dort ist der Zug bereits eingetroffen, aber da der Zugführer gehört hat, daß sich ein Fremder auf Carthago befinde, so kommt es ihm auf ein paar Minuten Wartens nicht an. Bjil Kader steckt mit seligem Lächeln die beiden als Extragabe erhaltenen Cigaretten auf einmal in den Mund und behauptet, daß er jetzt weit besser dampfe als die Locomotive. Dann leistet sich das Dampfrößlein einen dünnen Pfiff, und bald sind die öden und doch so reizvollen Gefilde, auf denen sich einstens eine der größten Culturstätten des Alterthums befand, dem Blicke entschwunden. Ein anderer, landschaftlich genußreicher Ausflug führt nach dem am Ostrande des Golfes von Tunis gelegenen Hammam el Lîf. Die Verbindung nach dort vermittelt ein Secundärstrang der französischen Eisenbahn. Schon die kurze Fahrt bietet prächtige Ausblicke. Zur Linken breitet sich das Meer, zur Rechten läuft eine Hügelreihe, die mit malerischen Forts, Dörfern und Heiligengräbern besetzt ist. Die Bahntrace führt geradenwegs auf den seltsam geformten Bou Kornin zu, einen Berg, der mit seinem lang hingestreckten Vorgelände und seinem Doppelgipfel einem riesigen, in der Ruhe versteinerten Kameel auf's Haar gleicht. Am Südhange des Bou Kornin liegt Hammam el Lîf, seit langer Zeit wegen seiner heißen Schwefelquellen der beliebteste Badeort für die wohlhabende jüdische und arabische Bevölkerung von Tunis. Neuerdings hat sich ein französisches Unternehmer-Consortium gebildet, das die kühne Absicht hegt, Hammam el Lîf zu einem fashionablen Seebade zu gestalten. Sehr viele Umstände begünstigen die Ausführung des Planes. Der Strand hat weichen Sandboden, und die Tiefe des Meeres nimmt nur ganz allmählich zu. Der Wellenschlag ist für südliche Verhältnisse kräftig, die Lage des Ganzen zauberhaft und die Temperatur angenehm und milde. Die Gesellschaft hat bereits Straßen abgesteckt, einige luftige freundliche Villen errichtet und ein imposantes Casino mit Restaurationsterrasse, Spielsälen, Garten und Sommertheater geschaffen. Das provisorische Bade-Etablissement ist dagegen ziemlich primitiv. Es wird trotzdem, hauptsächlich Sonntags, von der französischen Colonie stark frequentirt. Der Besuch des Casinos hat allerdings seit vorigem Jahre Rückschritte gemacht. Damals waren die Spielsäle Abend für Abend überfüllt, denn man fand dort all die netten, kleinen Spielgelegenheiten, durch die sich Monaco so vortheilhaft auszeichnet. Vornehmlich die arabisch-jüdische ~jeunesse dorée~ oblag hier mit rühmlichem Eifer dem Roulette. Der neue französische Gouverneur hat diesem Treiben zur geringen Freude der Casinogesellschaft ein Ende gemacht, und jetzt beherbergt der Spielsaal nur noch die zahmen ~petits chevaux~, eine Unterhaltung, die immerhin in Ermangelung einer besseren lebhaft gewürdigt wird. Es ist entschieden ersprießlicher, den heißen Raum zu verlassen und sich den Sonnenuntergang zu betrachten, der Berg und Meer mit den herrlichsten, fast könnte man sagen unwahrscheinlichsten Farben-Reflexen vergoldet. Es ist ein selten schönes Fleckchen Erde, dieses Hammam el Lîf, und es könnte eine gefährliche Concurrenz werden für die heimatlichen Seebäder, wenn es -- etwas näher zu Berlin läge. IV. Vom tunesischen Judenthum. Werk der ~alliance israélite~ in Tunis. -- Schulen und Schüler. -- Parienti's Ackerbaucolonie. -- Eine orthodoxe Hochzeit. -- Die genudelte Braut und ihr Toilettenwechsel. -- ~Povero sposo!~ Ein großartiges Unternehmen hat die ~Alliance israélite~ durch die Begründung ihrer hiesigen Schulen in's Leben gerufen. Die jüdische Bevölkerung von Tunis beträgt über 40000 Seelen. Für die Kinder dieser Gemeinde gab es bis in die neueste Zeit nur die primitiven Rabbinatsschulen, in denen ausschließlich hebräischer Religions- und Leseunterricht ertheilt wurde. Auf Betreiben des Barons de Castelnuovo, eines italienischen Philanthropen, richtete die Alliance ihr Augenmerk hierher und eröffnete 1878 in einem zu diesem Zwecke erworbenen Hause zuvörderst eine Knabenschule. Trotz des Mißtrauens, das die Rabbiner und der überwiegende Theil der jüdischen Bevölkerung gegen die abendländische Neuerung hegten, betrug dennoch schon die Anfangsfrequenz 750 Schüler, ein Erfolg, der in erster Reihe dem Umstande zu danken war, daß nicht nur der Unterricht gratis ertheilt, sondern auch allen Kindern, die darauf Anspruch machten, freie Beköstigung gewährt wurde. Auch sonst wurde des guten Zweckes wegen diplomatisch vorgegangen, indem man für den Anfang den Lehrkörper hauptsächlich mit Rabbinern besetzte und nur einige wenige Elementarlehrer anstellte. Allmählich mit dem Erstarken des Unternehmens wurde hierin Wandel geschaffen. Zur Zeit sind die Rabbiner lediglich auf den Religionsunterricht beschränkt. Alle übrigen Fächer: Französisch, Arabisch, Arithmetik, Geschichte und Geographie, werden von wissenschaftlich gebildeten Lehrern ertheilt. Im Jahre 1880 wurde dann eine Mädchenschule gegründet, die mit 22 Zöglingen begann. Hier war als einzige Bedingung der Aufnahme europäische Kleidung der Mädchen vorgesehen. Bald darauf eröffnete man ein drittes Werk, eine Art Vorschule (~école maternelle~), in der die ganz Kleinen, und zwar Mädchen und Knaben zusammen, die ersten Weisheitslehren empfangen. Die Entwickelung dieser Schulen von ihren Anfängen bis zur Gegenwart ist eine ganz außerordentliche. Sie umfassen jetzt 1200 Knaben, 600 Mädchen und 400 Vorschüler. Daneben ist ein ausgedehnter Handwerksunterricht eingerichtet, verbunden mit einem Abendcursus, der es den Handwerksschülern ermöglicht, ihre Schulstudien fortzusetzen. Mit besonderer Vorliebe wird seitens der Schüler das Buchdruckerei-Gewerbe erlernt. Aber auch Wagenbauer, Marmorarbeiter, Kunstschmiede etc. werden ausgebildet. Die Schulen der Alliance sind nunmehr in zwei Häusern untergebracht, von denen besonders das den Mädchen reservirte ein stattliches, freundliches Gebäude ist. Die Einnahmen des Unternehmens bestehen aus einer den Schulen überwiesenen Fleischsteuer, einer baaren, von der Regierung gezahlten Subvention, Ueberschüssen aus den Miethserträgen der Häuser und den Zuschüssen der Alliance. Die Ausgaben für Beköstigung und Bekleidung der Zöglinge haben sich vermindert. Man hat nicht mehr nöthig, diese Vergünstigungen als Lockmittel für den Schulbesuch auszuwerfen, nachdem die Eltern allmählich eingesehen haben, welche Vortheile ihren Kindern durch einen geregelten Unterricht zuwachsen. Nur den wirklich Bedürftigen wird noch der Freitisch gewährt. Weniger erfolgreich ist man mit der Einführung eines entsprechenden Schulgeldes gewesen. Kaum acht Procent der Unterrichteten zahlen Schulgeld, aber man hofft mit der Zeit auch hier eine Besserung zu erzielen. Als vortrefflich sind die wissenschaftlichen Resultate der Schule zu bezeichnen. Sie besitzt das Recht, ihren nach bestandenem Schluß-Examen abgehenden Schülern das ~brévet élementaire~ auszustellen, das zum Ertheilen von Unterricht an jeder französischen Normalschule berechtigt, und verleiht dieser Diplome jährlich ungefähr zehn. Die Abiturienten ohne Schluß-Examen erhalten ein »Studienzeugniß«, das ihnen bei der Erlangung von Stellen, insbesondere bei der französischen Administration, von großem Nutzen ist. Von derartigen Zeugnissen werden durchschnittlich siebzig pro Jahr ausgestellt. Ein gleiches Certificat erhalten die Mädchen, wenn sie die Schule verlassen. Der beste Beweis für die Leistungen des Instituts ist wohl die Thatsache, daß bei dem letzten Schul-Wettbewerbe die israelitische Schule die höchste Auszeichnung erhielt. Sie wurde ~hors concours~ gestellt. Der Lehrkörper besteht aus dem Director, einigen Rabbinern und circa zwanzig Elementarlehrern, von denen mehrere aus der Anstalt selbst hervorgegangen sind. An der Mädchenschule unterrichten eine Vorsteherin und zehn Unterlehrerinnen. Darunter befanden sich noch vor Kurzem zwei deutsche Damen, die Vorsteherin, Frl. Ungar, und die Lehrerin, Frl. Braun. Beide wirken gegenwärtig in Adrianopel. Bemerkenswerth ist, daß der Lehrplan nur sogenannte »moralische« Strafmittel kennt. Schläge, Einsperren, Strafarbeiten etc. sind ausgeschlossen. Man bewirkt dadurch, daß die Kinder mit Freuden die Schule besuchen, und ein Nachtheil für die Disciplin ist durch diese Milde noch nirgends erwachsen. Ueberhaupt ist der moralische Einfluß der Schule sehr hoch anzuschlagen. Tausende von Kindern, die früher der Straße oder der einseitigen, orthodoxen Erziehung unwissender Eltern überantwortet waren, wachsen nun unter der sicheren Obhut der Schule zu gebildeten, gesitteten Menschen heran. Noch unberechenbarer ist der Nutzen für den weiblichen Theil der Schüler. Die Lehren, welche die Mädchen hier im jahrelangen Unterricht empfangen, verhindern sie, sich später wieder dem haremartigen, unwürdigen Scheinleben der tunesischen Jüdinnen anzupassen, und so ist die stetig wachsende Zahl der weiblichen Zöglinge die beste Gewähr für die allmähliche Ermöglichung einer Emancipation von den bisherigen erniedrigenden Gewohnheiten. Ich verdanke die bezüglichen Mittheilungen der Freundlichkeit des gegenwärtigen Directors der Schulen, Herrn Parienti. Herr Parienti, trotz seines italienischen Namens ein Franzose, ist eine sympathische Erscheinung mit energischen Gesichtszügen und scharfblickenden Augen. Er wurde erst vor Kurzem nach Tunis berufen, nachdem er bis dahin für die Alliance in Rußland thätig gewesen war. Herrn Parienti's eigenster Initiative ist ein weiterer Schritt nach Vorwärts zu verdanken. Anläßlich einer Urlaubsreise nach Paris erwirkte nämlich Herr Parienti beim Präsidium der Alliance Erlaubniß und Mittel zur Gründung einer _Ackerbauschule_. Bereits wurde ein geeignetes Terrain von 1550 Hektar erworben, dreiviertel Stunden von Tunis entfernt bei Djédéida gelegen. Im October 1895 ist die Besitzung mit einem halben Hundert Knaben belegt worden, die bei vollkommen freier Station unter fachmännischer Leitung praktisch und theoretisch den Ackerbau erlernen werden. Zum ersten Mal seit Bestehen der Schule in Tunis hat sich anläßlich dieses agricolen Unternehmens auf französischer Seite eine gewisse Opposition bemerkbar gemacht, die darauf hindeutet, daß man die jüdische Concurrenz im Ackerbaufache fürchtet. Herr Parienti hat als einzige Antwort darauf die Mittheilung ergehen lassen, daß er bereit sei, bis zu einem bestimmten Procentsatze auch Knaben katholischen wie mohamedanischen Glaubens kostenfrei in seine Ackerbaucolonie aufzunehmen. Ein Rundgang durch die Schulen, auf dem Herr Parienti mich in liebenswürdigster Weise geleitete, zeigte ein sehr freundliches Bild. Die Knabenschule ist in einem Gebäude der ~rue Malta Strida~ untergebracht, in dessem Vordertracte sich elegante Miethwohnungen befinden, deren eine der Director inne hat. Durch den Hausflur gelangt man in einen langen, viereckigen Hof, der mit schattenspendenden Bäumen bepflanzt ist. In einer zweistöckigen Veranda, die diesen Hof umgiebt, befinden sich die ca. 20 Schulzimmer, die sich durchweg lustig und hell präsentiren. An den Hof schließt sich ein Garten, der für die Spiele in den Pausen freigegeben ist. Ein großer Gartensaal dient als Refectorium für die von der Anstalt Beköstigten. Das Haus, in dem die Mädchen und die ganz Kleinen lernen, liegt im arabischen Viertel in der Nähe der ~place Carthagéna~. Es hat den Typus eines italienischen Palazzo und birgt hohe, geräumige Säle, deren Fußböden und Wände mit Porzellan ausgelegt sind. Hier befindet sich auch eine vielbenutzte, kleine Schülerbibliothek. Während unseres Rundganges war Unterrichtszeit, und ich konnte mich von dem guten Aussehen und der Sauberkeit der Schüler, ihrer frischen, intelligenten Art, zu antworten, selbst überzeugen. In Geschichte und Geographie hörte ich durchweg tadellose Antworten. Sogar in Deutschlands Geographie zeigte sich eine höhere Klasse vortrefflich beschlagen. Hier sah ich auch Aufsätze über schwierige, meist historische Themata, die stilistisch wie orthographisch fehlerlos waren. Wenn man bedenkt, daß das Französische den tunesischen Kindern im Grunde eine fremde Sprache ist, so ist das hier Erreichte als ganz außerordentlich zu rühmen. In der Mädchenschule entwickelte sich das Frage- und Antwortspiel weniger im gewohnten Gleise, denn die jungen Damen bewiesen dem unerwarteten Besuche so viele Neugier, daß die Aufmerksamkeit ganz erheblich darunter litt. Auch die hier vorgelegten Hefte wiesen häufigere orthographische Mängel auf. Doch soll ja auch außerhalb Tunis die Orthographie nicht die stärkste Seite der weiblichen Bildung sein. Ich verließ die Anstalt mit herzlichem Danke für Herrn Parienti und mit hohem Respect vor dem schönen, humanen Culturwerke, das die Opferwilligkeit der Alliance und der beharrliche, zielbewußte Eifer der Lehrkräfte auf diesem schwierigen Terrain errichtet haben. Wenige Tage später hatte ich Gelegenheit, zur rechten Contrastwirkung einen Blick in die fremde Welt des orthodoxen, tunesischen Judenthums zu thun. Durch Vermittelung des Hotelführers, der in seinen Mußestunden übrigens »College« des Herrn Parienti, nämlich Vorsteher einer kleinen Rabbinatsschule ist, erhielt ich Zutritt zu einer jüdischen Hochzeit. Die dabei erscheinenden Sitten und Gebräuche ähneln in mancher Hinsicht sehr stark den arabischen, wie denn auch die Stellung der jüdisch-tunesischen Frau sich um Weniges über das Niveau des Haremdaseins erhebt. Selbst die Vielweiberei soll unter den Juden von Tunis im Gebrauche sein. Herr Parienti verneint dies zwar, sondern giebt blos einen außerordentlichen Leichtsinn im Scheiden und Wiederverheirathen zu, von anderer Seite aber wurde auf's Bestimmteste versichert, daß eine ganze Reihe von Haushaltungen mit mehreren Herrscherinnen besetzt sei, von denen freilich nur die Erste völlige Legitimitätsrechte habe. Der traditionelle Hochzeitstag ist der Mittwoch, die Zeit für den Beginn der Ceremonie der späte Nachmittag. Gegen 5 Uhr ist der enge Zugang zur Synagoge, die im Souterrain eines unscheinbaren Hauses liegt, mit Kindern und Bettlern reich besetzt. Aus den Gitterfenstern und von den flachen Dächern der benachbarten Häuser sehen unzählige, grell bunt gekleidete Mädchen, darunter reizende Typen, auf die Straße hinab. Der Hochzeitszug des Bräutigams läßt nicht lange auf sich warten. Ihm schreitet eine Schaar von Knaben voraus, die unter der Aegide eines blinden Cantors einen schrecklich mißtönenden Singsang vollführen. Der Bräutigam, ein hochgewachsener, stattlicher Mann, Apotheker seines Zeichens, hat tadellosen schwarzen Salonanzug, Gehrock und runden Hut angelegt. Seine Verwandten und Freunde tragen sich dagegen höchst zwanglos. Einige sind nach europäischer Manier, die meisten orientalisch gekleidet. Das Innere der Synagoge, der größten, die Tunis besitzt, bietet wenig Besonderes. Es ist ein niederer, ziemlich beschränkter Raum. In der Mitte steht die Kanzel und ringsumher im regellosen Durcheinander ziehen sich Holzbänke, die mit Matten bedeckt sind. Die Frauen besuchen hier die Synagoge nicht, beanspruchen also auch keinen besonderen Raum für sich. Die Ceremonie ist rasch erledigt. Der Rabbi psalmodirt einige Gebete, die von der Gemeinde wiederholt und durch Wippen mit den Füßen begleitet werden. Die kleinen Sänger von vorhin treiben in einem Winkel Unfug. Mein Führer fühlt den Schuldirector in sich erwachen. Er kneift den Haupträdelsführer in's Ohr und verspricht den übrigen die Bastonnade, wofür jede Rabbinatsschule eine besondere Maschinerie besitzt. Kurz, es geht nicht übermäßig andächtig zu im tunesischen Gotteshause. Nach erledigter Andacht begiebt sich der Zug zum Hause der Braut. Der kleine Hof, sauber mit blauweißen Majolikaplatten gepflastert, wird von der Gefolgschaft des Bräutigams eingenommen, an den engen Gitterfenstern der Wohnräume pressen sich Verwandtschaft und Freundinnen der Braut und über die hohe Hofmauer hinweg schauen die neugierigen Nachbarinnen, von denen man nur die Köpfe sieht, die sich scharf gegen den tiefblauen Himmel abheben. Ein seltsames Bild von fast beängstigender Farbenfülle! Die Brautführer verschwinden über eine halsbrecherische, schmale Stiege im Inneren des Hauses. Der Eine kehrt alsbald mit einer Stange wieder, aus der eine riesige weiße Hand mit Fackeln statt der Finger befestigt ist. Nach einigen Minuten erscheint, von Vater, Mutter und Verwandten sorglich geleitet, die 16jährige Braut. Es ist keine Kleinigkeit, das junge Mädchen ungefährdet die steile Treppe herabzubringen, denn die Verlobte ist von einer unglaublichen Corpulenz. Bei ihrem Erscheinen bricht Alles in den gellenden, nervenzerreißenden Ruf: Girigirigi aus. Dieses im Laufe der Ceremonie fortwährend wiederholte Zauberwort soll ganz vortreffliche Eigenschaften für den guten Verlauf der Ehe besitzen. Man befördert die Braut glücklich durch den Hof, setzt sie auf einen Stuhl und lehnt sie an die Mauer. Stehend nimmt der Bräutigam neben ihr seinen Platz. Die Braut trägt ein orientalisches außerordentlich reiches Gewand aus himmelblauem Atlas dicht mit Gold besetzt. Von der hohen, zuckerhutförmigen Haube hängen kostbare Münzen herab, die unförmigen, roth gefärbten Finger sind mit Ringen besteckt. Ein langer, weißer Schleier verhüllt die Gesichtszüge nur wenig. Sie sind regelmäßig, aber schlaff, aufgequollen und apathisch. Wie das junge Mädchen, ohne sich zu rühren, dasitzt, als ob die ganze Sache sie gar Nichts anginge, während die Fackeln phantastische Lichter über ihre goldstrotzenden Kleider werfen, gleicht es einem exotischen Götzenbilde auf ein Haar. Diese dumpfe Apathie der Verlobten ist übrigens kein Wunder. Ganz nach mohamedanischer Anschauung gilt auch dem tunesischen Juden die _dickste_ Braut für die schönste. Darum werden die unglücklichen Geschöpfe vom Momente ihrer Verlobung an regelrecht _genudelt_. Sie dürfen sich keine Bewegung machen, müssen Unmengen von Kouß-Kouß essen, eine mit gepfeffertem, durstreizendem Fleisch gefüllte Mehlspeise, und so schwellen die armen Wesen oft zum Doppelten und Dreifachen ihres bisherigen Umfanges auf. Der Rabbi spricht nunmehr den Segen über das Paar, der Bräutigam steckt einen Ring an die fleischige Hand der Erkorenen, Beide nippen an einem Glase Rothwein, das dann zu Boden geworfen wird, und die religiöse Feier ist zu Ende. Die Herrenwelt beginnt sich in gierigster Weise um die Weinreste in der für das Ehepaar benutzten Flasche zu balgen, da der Aberglaube diesem Weine eine besonders glückbringende Kraft zuspricht. Dann wird die Braut in ihre Gemächer zurücktransportirt, denn erst am nächsten Morgen zu Beginn der zweitägigen Schmauserei betritt sie ihr künftiges Heim. Schon in der Frühe beginnt das Gelage. Die Tafel ist schmucklos, aber mit Speisen in verschwenderischem Maße überladen. Das oben geschilderte Nationalgericht Kouß-Kouß bildet auch hier die ~pièce de résistance~. Getrunken wird hauptsächlich Schnaps, besonders ein in Tunis fabricirter süßlich-scharfer Anisette. Mehrere Gäste berauschen sich sehr rasch, indem sie die diversen Schnäpse mischen. Toaste, die Schrecken europäischer Hochzeitstafeln, kennt man hier zum Glück nicht. Wer das Bedürfniß fühlt, seinem überquellenden Gefühle für die Verehelichten Luft zu machen, der geht hin und küßt das Paar auf die Wangen. Schon dachte ich an einen geordneten Rückzug vor den immer neu anstürmenden Massen von Speisen und Getränken, als sich mir ein Brautführer mit geheimnißvoller Miene nähert und mir mittheilt, daß mir als dem Ehrengaste mit zwei anderen Honoratioren die Ehre zugedacht worden sei, der Braut bei ihrem demnächstigen Toilettenwechsel -- sie trägt während der Festesdauer sieben verschiedene Costümes -- zu helfen. Ein Blick auf die in ihren Strapazen lieblich schwitzende Dame, und ich erkläre mich sehr geehrt von dieser besonderen Gunst, aber ich wäre ein wenig unwohl und müßte mich auf kurze Zeit entfernen. »So bleibt der Toilettenwechsel bis zu Ihrer Rückkehr,« meint höflich der junge Mann. Ich aber ergreife schleunigst die Flucht und hoffe nur, daß man nicht bis zum heutigen Tage auf meine Rückkunft wartete. Im Interesse des verliebten Bräutigams wäre das sehr bedauerlich. [Illustration] Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Korrekturen: S. 21: Appenninen → Apenninen die ersten Vorläufer der {Apenninen} darstellt S. 33: Cefarotto → Cesarotto Titelrolle, {Cesarotto}, der, ein Schüler End of the Project Gutenberg EBook of Streifzüge im Süden, by Erich Freund *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK STREIFZÜGE IM SÜDEN *** ***** This file should be named 57346-0.txt or 57346-0.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/7/3/4/57346/ Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. 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