The Project Gutenberg EBook of Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler

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Title: Die griechische Tänzerin
       und andere Novellen

Author: Arthur Schnitzler

Release Date: November 23, 2005 [EBook #17142]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRIECHISCHE TÄNZERIN ***




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Die griechische Tänzerin

und andere Novellen
von

Arthur Schnitzler

S. Fischer, Verlag, Berlin


Inhalt
Der blinde Geronimo und sein Bruder 7
Die Toten schweigen 53
Die Weissagung 85
Das neue Lied 128
Die griechische Tänzerin 157

Der blinde Geronimo und sein Bruder

Der blinde Geronimo stand von der Bank auf und nahm die Gitarre zur Hand, die auf dem Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war. Er hatte das ferne Rollen der ersten Wagen vernommen. Nun tastete er sich den wohlbekannten Weg bis zur offenen Türe hin, und dann ging er die schmalen Holzstufen hinab, die frei in den gedeckten Hofraum hinunterliefen. Sein Bruder folgte ihm, und beide stellten sich gleich neben der Treppe auf, den Rücken zur Wand gekehrt, um gegen den naßkalten Wind geschützt zu sein, der über den feuchtschmutzigen Boden durch die offenen Tore strich.

Unter dem düsteren Bogen des alten Wirtshauses mußten alle Wagen passieren, die den Weg über das Stilfserjoch nahmen. Für die Reisenden, welche von Italien her nach Tirol wollten, war es die letzte Rast vor der Höhe. Zu langem Aufenthalte lud es nicht ein, denn gerade hier lief die Straße ziemlich eben, ohne Ausblicke, zwischen kahlen Erhebungen hin. Der blinde Italiener und sein Bruder Carlo waren in den Sommermonaten hier so gut wie zu Hause.

Die Post fuhr ein, bald darauf kamen andere Wagen. Die meisten Reisenden blieben sitzen, in Plaids und Mäntel wohl eingehüllt, andere stiegen aus und spazierten zwischen den Toren ungeduldig hin und her. Das Wetter wurde immer schlechter, ein kalter Regen klatschte herab. Nach einer Reihe schöner Tage schien der Herbst plötzlich und allzu früh hereinzubrechen.

Der Blinde sang und begleitete sich dazu auf der Gitarre; er sang mit einer ungleichmäßigen, manchmal plötzlich aufkreischenden Stimme, wie immer, wenn er getrunken hatte. Zuweilen wandte er den Kopf wie mit einem Ausdruck vergeblichen Flehens nach oben. Aber die Züge seines Gesichtes mit den schwarzen Bartstoppeln und den bläulichen Lippen blieben vollkommen unbeweglich. Der ältere Bruder stand neben ihm, beinahe regungslos. Wenn ihm jemand eine Münze in den Hut fallen ließ, nickte er Dank und sah dem Spender mit einem raschen, wie irren Blick ins Gesicht. Aber gleich, beinahe ängstlich, wandte er den Blick wieder fort und starrte gleich dem Bruder ins Leere. Es war, als schämten sich seine Augen des Lichts, das ihnen gewährt war, und von dem sie dem blinden Bruder keinen Strahl schenken konnten.

»Bring mir Wein,« sagte Geronimo, und Carlo ging, gehorsam wie immer. Während er die Stufen aufwärts schritt, begann Geronimo wieder zu singen. Er hörte längst nicht mehr auf seine eigene Stimme, und so konnte er auf das merken, was in seiner Nähe vorging. Jetzt vernahm er ganz nahe zwei flüsternde Stimmen, die eines jungen Mannes und einer jungen Frau. Er dachte, wie oft diese beiden schon den gleichen Weg hin und her gegangen sein mochten; denn in seiner Blindheit und in seinem Rausch war ihm manchmal, als kämen Tag für Tag dieselben Menschen über das Joch gewandert, bald von Norden gegen Süden, bald von Süden gegen Norden. Und so kannte er auch dieses junge Paar seit langer Zeit.

Carlo kam herab und reichte Geronimo ein Glas Wein. Der Blinde schwenkte es dem jungen Paare zu und sagte: »Ihr Wohl, meine Herrschaften!«

»Danke,« sagte der junge Mann; aber die junge Frau zog ihn fort, denn ihr war dieser Blinde unheimlich.

Jetzt fuhr ein Wagen mit einer ziemlich lärmenden Gesellschaft ein: Vater, Mutter, drei Kinder, eine Bonne.

»Deutsche Familie,« sagte Geronimo leise zu Carlo.

Der Vater gab jedem der Kinder ein Geldstück, und jedes durfte das seine in den Hut des Bettlers werfen. Geronimo neigte jedesmal den Kopf zum Dank. Der älteste Knabe sah dem Blinden mit ängstlicher Neugier ins Gesicht. Carlo betrachtete den Knaben. Er mußte, wie immer beim Anblick solcher Kinder, daran denken, daß Geronimo gerade so alt gewesen war, als das Unglück geschah, durch das er das Augenlicht verloren hatte. Denn er erinnerte sich jenes Tages auch heute noch, nach beinahe zwanzig Jahren, mit vollkommener Deutlichkeit. Noch heute klang ihm der grelle Kinderschrei ins Ohr, mit dem der kleine Geronimo auf den Rasen hingesunken war, noch heute sah er die Sonne auf der weißen Gartenmauer spielen und kringeln und hörte die Sonntagsglocken wieder, die gerade in jenem Augenblick getönt hatten. Er hatte wie oftmals mit dem Bolzen nach der Esche an der Mauer geschossen, und als er den Schrei hörte, dachte er gleich, daß er den kleinen Bruder verletzt haben mußte, der eben vorbeigelaufen war. Er ließ das Blasrohr aus den Händen gleiten, sprang durchs Fenster in den Garten und stürzte zu dem kleinen Bruder hin, der auf dem Grase lag, die Hände vors Gesicht geschlagen und jammerte. Über die rechte Wange und den Hals floß ihm Blut herunter. In derselben Minute kam der Vater vom Felde heim, durch die kleine Gartentür, und nun knieten beide ratlos neben dem jammernden Kinde. Nachbarn eilten herbei; die alte Vanetti war die erste, der es gelang, dem Kleinen die Hände vom Gesicht zu entfernen. Dann kam auch der Schmied, bei dem Carlo damals in der Lehre war und der sich ein bißchen aufs Kurieren verstand; und der sah gleich, daß das rechte Auge verloren war. Der Arzt, der abends aus Poschiavo kam, konnte auch nicht mehr helfen. Ja, er deutete schon die Gefahr an, in der das andere Auge schwebte. Und er behielt recht. Ein Jahr später war die Welt für Geronimo in Nacht versunken. Anfangs versuchte man ihm einzureden, daß er später geheilt werden könnte, und er schien es zu glauben. Carlo, der die Wahrheit wußte, irrte damals tage- und nächtelang auf der Landstraße, zwischen den Weinbergen und in den Wäldern umher, und war nahe daran, sich umzubringen. Aber der geistliche Herr, dem er sich anvertraute, klärte ihn auf, daß es seine Pflicht war, zu leben und sein Leben dem Bruder zu widmen. Carlo sah es ein. Ein ungeheures Mitleid ergriff ihn. Nur wenn er bei dem blinden Jungen war, wenn er ihm die Haare streicheln, seine Stirne küssen durfte, ihm Geschichten erzählte, ihn auf den Feldern hinter dem Hause und zwischen den Rebengeländen spazieren führte, milderte sich seine Pein. Er hatte gleich anfangs die Lehrstunden in der Schmiede vernachlässigt, weil er sich von dem Bruder gar nicht trennen mochte, und konnte sich nachher nicht mehr entschließen, sein Handwerk wieder aufzunehmen, trotzdem der Vater mahnte und in Sorge war. Eines Tages fiel es Carlo auf, daß Geronimo vollkommen aufgehört hatte, von seinem Unglück zu reden. Bald wußte er, warum: der Blinde war zur Einsicht gekommen, daß er nie den Himmel, die Hügel, die Straßen, die Menschen, das Licht wieder sehen würde. Nun litt Carlo noch mehr als früher, so sehr er sich auch selbst damit zu beruhigen suchte, daß er ohne jede Absicht das Unglück herbeigeführt hatte. Und manchmal, wenn er am frühen Morgen den Bruder betrachtete, der neben ihm ruhte, ward er von einer solchen Angst erfaßt, ihn erwachen zu sehen, daß er in den Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein zu müssen, wie die toten Augen jeden Tag von neuem das Licht zu suchen schienen, das ihnen für immer erloschen war. Zu jener Zeit war es, daß Carlo auf den Einfall kam, Geronimo, der eine angenehme Stimme hatte, in der Musik weiter ausbilden zu lassen. Der Schullehrer von Tola, der manchmal Sonntags herüberkam, lehrte ihn die Gitarre spielen. Damals ahnte der Blinde freilich noch nicht, daß die neuerlernte Kunst einmal zu seinem Lebensunterhalt dienen würde.

Mit jenem traurigen Sommertag schien das Unglück für immer in das Haus des alten Lagardi eingezogen zu sein. Die Ernte mißriet ein Jahr nach dem anderen; um eine kleine Geldsumme, die der Alte erspart hatte, wurde er von einem Verwandten betrogen; und als er an einem schwülen Augusttag auf freiem Felde vom Schlag getroffen hinsank und starb, hinterließ er nichts als Schulden. Das kleine Anwesen wurde verkauft, die beiden Brüder waren obdachlos und arm und verließen das Dorf.

Carlo war zwanzig, Geronimo fünfzehn Jahre alt. Damals begann das Bettel- und Wanderleben, das sie bis heute führten. Anfangs hatte Carlo daran gedacht, irgendeinen Verdienst zu finden, der zugleich ihn und den Bruder ernähren könnte; aber es wollte nicht gelingen. Auch hatte Geronimo nirgend Ruhe; er wollte immer auf dem Wege sein.

Zwanzig Jahre war es nun, daß sie auf Straßen und Pässen herumzogen, im nördlichen Italien und im südlichen Tirol, immer dort, wo eben der dichtere Zug der Reisenden vorüberströmte.

Und wenn auch Carlo nach so vielen Jahren nicht mehr die brennende Qual verspürte, mit der ihn früher jedes Leuchten der Sonne, der Anblick jeder freundlichen Landschaft erfüllt hatte, es war doch ein stetes nagendes Mitleid in ihm, beständig und ihm unbewußt, wie der Schlag seines Herzens und sein Atem. Und er war froh, wenn Geronimo sich betrank.

Der Wagen mit der deutschen Familie war davongefahren. Carlo setzte sich, wie er gern tat, auf die untersten Stufen der Treppe, Geronimo aber blieb stehen, ließ die Arme schlaff herabhängen und hielt den Kopf nach oben gewandt.

Maria, die Magd, kam aus der Wirtsstube.

»Habt’s viel verdient heut?« rief sie herunter.

Carlo wandte sich gar nicht um. Der Blinde bückte sich nach seinem Glas, hob es vom Boden auf und trank es Maria zu. Sie saß manchmal abends in der Wirtsstube neben ihm; er wußte auch, daß sie schön war.

Carlo beugte sich vor und blickte gegen die Straße hinaus. Der Wind blies, und der Regen prasselte, so daß das Rollen des nahenden Wagens in den heftigen Geräuschen unterging. Carlo stand auf und nahm wieder seinen Platz an des Bruders Seite ein.

Geronimo begann zu singen, schon während der Wagen einfuhr, in dem nur ein Passagier saß. Der Kutscher spannte die Pferde eilig aus, dann eilte er hinauf in die Wirtsstube. Der Reisende blieb eine Weile in seiner Ecke sitzen, ganz eingewickelt in einen grauen Regenmantel; er schien auf den Gesang gar nicht zu hören. Nach einer Weile aber sprang er aus dem Wagen und lief mit großer Hast hin und her, ohne sich weit vom Wagen zu entfernen. Er rieb immerfort die Hände aneinander, um sich zu erwärmen. Jetzt erst schien er die Bettler zu bemerken. Er stellte sich ihnen gegenüber und sah sie lange wie prüfend an. Carlo neigte leicht den Kopf, wie zum Gruße. Der Reisende war ein sehr junger Mensch mit einem hübschen, bartlosen Gesicht und unruhigen Augen. Nachdem er eine ganze Weile vor den Bettlern gestanden, eilte er wieder zu dem Tore, durch das er weiterfahren sollte, und schüttelte bei dem trostlosen Ausblick in Regen und Nebel verdrießlich den Kopf.

»Nun?« fragte Geronimo.

»Noch nichts,« erwiderte Carlo. »Er wird wohl geben, wenn er fortfährt.«

Der Reisende kam wieder zurück und lehnte sich an die Deichsel des Wagens. Der Blinde begann zu singen. Nun schien der junge Mann plötzlich mit großem Interesse zuzuhören. Der Knecht erschien und spannte die Pferde wieder ein. Und jetzt erst, als besänne er sich eben, griff der junge Mann in die Tasche und gab Carlo einen Frank.

»O danke, danke,« sagte dieser.

Der Reisende setzte sich in den Wagen und wickelte sich wieder in seinen Mantel. Carlo nahm das Glas vom Boden auf und ging die Holzstufen hinauf. Geronimo sang weiter. Der Reisende beugte sich zum Wagen heraus und schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck von Überlegenheit und Traurigkeit zugleich. Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen, und er lächelte. Dann sagte er zu dem Blinden, der kaum zwei Schritte weit von ihm stand: »Wie heißt du?«

»Geronimo.«

»Nun, Geronimo, laß dich nur nicht betrügen.« In diesem Augenblick erschien der Kutscher auf der obersten Stufe der Treppe.

»Wieso, gnädiger Herr, betrügen?«

»Ich habe deinem Begleiter ein Zwanzig-Frankstück gegeben.«

»O Herr, Dank, Dank!«

»Ja; also paß auf.«

»Er ist mein Bruder, Herr; er betrügt mich nicht.«

Der junge Mann stutzte eine Weile, aber während er noch überlegte, war der Kutscher auf den Bock gestiegen und hatte die Pferde angetrieben. Der junge Mann lehnte sich zurück mit einer Bewegung des Kopfes, als wolle er sagen: Schicksal, nimm deinen Lauf! und der Wagen fuhr davon.

Der Blinde winkte mit beiden Händen lebhafte Gebärden des Dankes nach. Jetzt hörte er Carlo, der eben aus der Wirtsstube kam. Der rief herunter: »Komm, Geronimo, es ist warm heroben, Maria hat Feuer gemacht!«

Geronimo nickte, nahm die Gitarre unter den Arm und tastete sich am Geländer die Stufen hinauf. Auf der Treppe schon rief er: »Laß es mich anfühlen! Wie lang hab ich schon kein Goldstück angefühlt!«

»Was gibt’s?« fragte Carlo. »Was redest du da?«

Geronimo war oben und griff mit beiden Händen nach dem Kopf seines Bruders, ein Zeichen, mit dem er stets Freude oder Zärtlichkeit auszudrücken pflegte. »Carlo, mein lieber Bruder, es gibt doch gute Menschen!«

»Gewiß,« sagte Carlo. »Bis jetzt sind es zwei Lire und dreißig Zentesimi; und hier ist noch österreichisches Geld, vielleicht eine halbe Lira.«

»Und zwanzig Franken – und zwanzig Franken!« rief Geronimo. »Ich weiß es ja!« Er torkelte in die Stube und setzte sich schwer auf die Bank.

»Was weißt du?« fragte Carlo.

»So laß doch die Späße! Gib es mir in die Hand! Wie lang hab ich schon kein Goldstück in der Hand gehabt!«

»Was willst du denn? Woher soll ich ein Goldstück nehmen? Es sind zwei Lire oder drei.«

Der Blinde schlug auf den Tisch. »Jetzt ist es aber genug, genug! Willst du es etwa vor mir verstecken?«

Carlo blickte den Bruder besorgt und verwundert an. Er setzte sich neben ihn, rückte ganz nahe und faßte wie begütigend seinen Arm: »Ich verstecke nichts vor dir. Wie kannst du das glauben? Niemandem ist es eingefallen, mir ein Goldstück zu geben.«

»Aber er hat mir’s doch gesagt!«

»Wer?«

»Nun, der junge Mensch, der hin und her lief.«

»Wie? Ich versteh dich nicht!«

»So hat er zu mir gesagt: ›Wie heißt du?‹ und dann: ›Gib acht, gib acht, laß dich nicht betrügen!‹«

»Du mußt geträumt haben, Geronimo – das ist ja Unsinn!«

»Unsinn? Ich hab es doch gehört, und ich höre gut. ›Laß dich nicht betrügen; ich habe ihm ein Goldstück ...‹ – nein, so sagte er: ›Ich habe ihm ein Zwanzig-Frankstück gegeben.‹«

Der Wirt kam herein. »Nun, was ist’s mit euch? Habt ihr das Geschäft aufgegeben? Ein Vierspänner ist gerade angefahren.«

»Komm!« rief Carlo, »komm!«

Geronimo blieb sitzen. »Warum denn? Warum soll ich kommen? Was hilft’s mir denn? Du stehst ja dabei und –«

Carlo berührte ihn am Arm. »Still, komm jetzt hinunter!«

Geronimo schwieg und gehorchte dem Bruder. Aber auf den Stufen sagte er: »Wir reden noch, wir reden noch!«

Carlo begriff nicht, was geschehen war. War Geronimo plötzlich verrückt geworden? Denn, wenn er auch leicht in Zorn geriet, in dieser Weise hatte er noch nie gesprochen.

In dem eben angekommenen Wagen saßen zwei Engländer; Carlo lüftete den Hut vor ihnen, und der Blinde sang. Der eine Engländer war ausgestiegen und warf einige Münzen in Carlos Hut. Carlo sagte: »Danke« und dann, wie vor sich hin: »Zwanzig Zentesimi.« Das Gesicht Geronimos blieb unbewegt; er begann ein neues Lied. Der Wagen mit den zwei Engländern fuhr davon.

Die Brüder gingen schweigend die Stufen hinauf. Geronimo setzte sich auf die Bank, Carlo blieb beim Ofen stehen.

»Warum sprichst du nicht?« fragte Geronimo.

»Nun,« erwiderte Carlo, »es kann nur so sein, wie ich dir gesagt habe.« Seine Stimme zitterte ein wenig.

»Was hast du gesagt?« fragte Geronimo.

»Es war vielleicht ein Wahnsinniger.«

»Ein Wahnsinniger? Das wäre ja vortrefflich! Wenn einer sagt: ›Ich habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben,‹ so ist er wahnsinnig! – Eh, und warum hat er gesagt: ›Laß dich nicht betrügen‹ – eh?«

»Vielleicht war er auch nicht wahnsinnig ... aber es gibt Menschen, die mit uns armen Leuten Späße machen ...«

»Eh!« schrie Geronimo, »Späße? – Ja, das hast du noch sagen müssen – darauf habe ich gewartet!« Er trank das Glas Wein aus, das vor ihm stand.

»Aber, Geronimo!« rief Carlo, und er fühlte, daß er vor Bestürzung kaum sprechen konnte, »warum sollte ich ... wie kannst du glauben ...?«

»Warum zittert deine Stimme ... eh ... warum ...?«

»Geronimo, ich versichere dir, ich –«

»Eh – und ich glaube dir nicht! Jetzt lachst du ... ich weiß ja, daß du jetzt lachst!«

Der Knecht rief von unten: »He, blinder Mann, Leut’ sind da!«

Ganz mechanisch standen die Brüder auf und schritten die Stufen hinab. Zwei Wagen waren zugleich gekommen, einer mit drei Herren, ein anderer mit einem alten Ehepaar. Geronimo sang; Carlo stand neben ihm, fassungslos. Was sollte er nur tun? Der Bruder glaubte ihm nicht! Wie war das nur möglich? – Und er betrachtete Geronimo, der mit zerbrochener Stimme seine Lieder sang, angstvoll von der Seite. Es war ihm, als sähe er über diese Stirne Gedanken fliehen, die er früher dort niemals gewahrt hatte.

Die Wagen waren schon fort, aber Geronimo sang weiter. Carlo wagte nicht, ihn zu unterbrechen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, er fürchtete, daß seine Stimme wieder zittern würde. Da tönte Lachen von oben, und Maria rief: »Was singst denn noch immer? Von mir kriegst du ja doch nichts!«

Geronimo hielt inne, mitten in einer Melodie; es klang, als wäre seine Stimme und die Saiten zugleich abgerissen. Dann ging er wieder die Stufen hinauf, und Carlo folgte ihm. In der Wirtsstube setzte er sich neben ihn. Was sollte er tun? Es blieb ihm nichts anderes übrig: er mußte noch einmal versuchen, den Bruder aufzuklären.

»Geronimo,« sagte er, »ich schwöre dir ... bedenk doch, Geronimo, wie kannst du glauben, daß ich –«

Geronimo schwieg, seine toten Augen schienen durch das Fenster in den grauen Nebel hinauszublicken. Carlo redete weiter: »Nun, er braucht ja nicht wahnsinnig gewesen zu sein, er wird sich geirrt haben ... ja er hat sich geirrt ...« Aber er fühlte wohl, daß er selbst nicht glaubte, was er sagte.

Geronimo rückte ungeduldig fort. Aber Carlo redete weiter, mit plötzlicher Lebhaftigkeit: »Wozu sollte ich denn – du weißt doch, ich esse und trinke nicht mehr als du, und wenn ich mir einen neuen Rock kaufe, so weißt du’s doch ... wofür brauch ich denn so viel Geld? Was soll ich denn damit tun?«

Da stieß Geronimo zwischen den Zähnen hervor: »Lüg nicht, ich höre, wie du lügst!«

»Ich lüge nicht, Geronimo, ich lüge nicht!« sagte Carlo erschrocken.

»Eh! hast du ihr’s schon gegeben, ja? Oder bekommt sie’s erst nachher?« schrie Geronimo.

»Maria?«

»Wer denn, als Maria? Eh, du Lügner, du Dieb!« Und als wollte er nicht mehr neben ihm am Tische sitzen, stieß er mit dem Ellbogen den Bruder in die Seite.

Carlo stand auf. Zuerst starrte er den Bruder an, dann verließ er das Zimmer und ging über die Stiege in den Hof. Er schaute mit weit offenen Augen auf die Straße hinaus, die vor ihm in bräunlichen Nebel versank. Der Regen hatte nachgelassen. Carlo steckte die Hände in die Hosentaschen und ging ins Freie. Es war ihm, als hätte ihn sein Bruder davongejagt. Was war denn nur geschehen?... Er konnte es noch immer nicht fassen. Was für ein Mensch mochte das gewesen sein? Einen Franken schenkt er her und sagt, es waren zwanzig! Er mußte doch irgendeinen Grund dazu gehabt haben?... Und Carlo suchte in seiner Erinnerung, ob er sich nicht irgendwo jemanden zum Feind gemacht, der nun einen anderen hergeschickt hatte, um sich zu rächen ... Aber soweit er zurückdenken mochte, nie hatte er jemanden beleidigt, nie irgendeinen ernsten Streit mit jemandem vorgehabt. Er hatte ja seit zwanzig Jahren nichts anderes getan, als daß er in Höfen oder an Straßenrändern gestanden war mit dem Hut in der Hand ... War ihm vielleicht einer wegen eines Frauenzimmers böse?... Aber wie lange hatte er schon mit keiner was zu tun gehabt ... die Kellnerin in La Rosa war die letzte gewesen, im vorigen Frühjahr ... aber um die war ihm gewiß niemand neidisch ... Es war nicht zu begreifen!... Was mochte es da draußen in der Welt, die er nicht kannte, für Menschen geben?... Von überallher kamen sie ... was wußte er von ihnen?... Für diesen Fremden hatte es wohl irgendeinen Sinn gehabt, daß er zu Geronimo sagte: Ich habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben ... Nun ja ... Aber was war nun zu tun?... Mit einem Male war es offenbar geworden, daß Geronimo ihm mißtraute!... Das konnte er nicht ertragen! Irgend etwas mußte er dagegen unternehmen ... Und er eilte zurück.

Als er wieder in die Wirtsstube trat, lag Geronimo auf der Bank ausgestreckt und schien das Eintreten Carlos nicht zu bemerken. Maria brachte den beiden Essen und Trinken. Sie sprachen während der Mahlzeit kein Wort. Als Maria die Teller abräumte, lachte Geronimo plötzlich auf und sagte zu ihr: »Was wirst du dir denn dafür kaufen?«

»Wofür denn?!«

»Nun, was? Einen neuen Rock oder Ohrringe?«

»Was will er denn von mir?« wandte sie sich an Carlo.

Indes dröhnte unten der Hof von lastenbeladenen Fuhrwerken, laute Stimmen tönten herauf und Maria eilte hinunter. Nach ein paar Minuten kamen drei Fuhrleute und nahmen an einem Tische Platz; der Wirt trat zu ihnen und begrüßte sie. Sie schimpften über das schlechte Wetter.

»Heute nacht werdet ihr Schnee haben,« sagte der eine.

Der zweite erzählte, wie er vor zehn Jahren Mitte August auf dem Joch eingeschneit und beinahe erfroren war. Maria setzte sich zu ihnen. Auch der Knecht kam herbei und erkundigte sich nach seinen Eltern, die unten in Bormio wohnten.

Jetzt kam wieder ein Wagen mit Reisenden. Geronimo und Carlo gingen hinunter, Geronimo sang, Carlo hielt den Hut hin, und die Reisenden gaben ihr Almosen. Geronimo schien jetzt ganz ruhig. Er fragte manchmal: »Wieviel?« und nickte zu den Antworten Carlos leicht mit dem Kopfe. Indes versuchte Carlo selbst seine Gedanken zu fassen. Aber er hatte immer nur das dumpfe Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen und daß er ganz wehrlos war.

Als die Brüder wieder die Stufen hinaufschritten, hörten sie die Fuhrleute oben wirr durcheinanderreden und lachen. Der jüngste rief dem Geronimo entgegen: »Sing uns doch auch was vor, wir zahlen schon! – Nicht wahr?« wandte er sich an die anderen.

Maria, die eben mit einer Flasche rotem Wein kam, sagte: »Fangt heut nichts mit ihm an, er ist schlechter Laune.«

Statt jeder Antwort stellte sich Geronimo mitten ins Zimmer hin und fing an zu singen. Als er geendet, klatschten die Fuhrleute in die Hände.

»Komm her, Carlo!« rief einer, »wir wollen dir unser Geld auch in den Hut werfen wie die Leute unten!« Und er nahm eine kleine Münze und hielt die Hand hoch, als wollte er sie in den Hut fallen lassen, den ihm Carlo entgegenstreckte. Da griff der Blinde nach dem Arm des Fuhrmannes und sagte: »Lieber mir, lieber mir! Es könnte daneben fallen – daneben!«

»Wieso daneben?«

»Eh, nun! Zwischen die Beine Marias!«

Alle lachten, der Wirt und Maria auch, nur Carlo stand regungslos da. Nie hatte Geronimo solche Späße gemacht!...

»Setz dich zu uns!« riefen die Fuhrleute. »Du bist ein lustiger Kerl!« Und sie rückten zusammen, um Geronimo Platz zu machen. Immer lauter und wirrer war das Durcheinanderreden; Geronimo redete mit, lauter und lustiger als sonst, und hörte nicht auf zu trinken. Als Maria eben wieder hereinkam, wollte er sie an sich ziehen; da sagte der eine von den Fuhrleuten lachend: »Meinst du vielleicht, sie ist schön? Sie ist ja ein altes häßliches Weib!«

Aber der Blinde zog Maria auf seinen Schoß. »Ihr seid alle Dummköpfe,« sagte er. »Glaubt ihr, ich brauche meine Augen, um zu sehen? Ich weiß auch, wo Carlo jetzt ist – eh! – dort am Ofen steht er, hat die Hände in den Hosentaschen und lacht.«

Alle schauten auf Carlo, der mit offenem Munde am Ofen lehnte und nun wirklich das Gesicht zu einem Grinsen verzog, als dürfte er seinen Bruder nicht Lügen strafen.

Der Knecht kam herein; wenn die Fuhrleute noch vor Dunkelheit in Bormio sein wollten, mußten sie sich beeilen. Sie standen auf und verabschiedeten sich lärmend. Die beiden Brüder waren wieder allein in der Wirtsstube. Es war die Stunde, um die sie sonst manchmal zu schlafen pflegten. Das ganze Wirtshaus versank in Ruhe wie immer um diese Zeit der ersten Nachmittagsstunden. Geronimo, den Kopf auf dem Tisch, schien zu schlafen. Carlo ging anfangs hin und her, dann setzte er sich auf die Bank. Er war sehr müde. Es schien ihm, als wäre er in einem schweren Traum befangen. Er mußte an allerlei denken, an gestern, vorgestern und alle Tage, die früher waren, und besonders an warme Sommertage und an weiße Landstraßen, über die er mit seinem Bruder zu wandern pflegte, und alles war so weit und unbegreiflich, als wenn es nie wieder so sein könnte.

Am späten Nachmittage kam die Post aus Tirol und bald darauf in kleinen Zwischenpausen Wagen, die den gleichen Weg nach dem Süden nahmen. Noch viermal mußten die Brüder in den Hof hinab. Als sie das letztemal heraufgingen, war die Dämmerung hereingebrochen, und das Öllämpchen, das von der Holzdecke herunterhing, fauchte. Arbeiter kamen, die in einem nahen Steinbruche beschäftigt waren und ein paar hundert Schritte unterhalb des Wirtshauses ihre Holzhütten aufgeschlagen hatten. Geronimo setzte sich zu ihnen; Carlo blieb allein an seinem Tische. Es war ihm, als dauerte seine Einsamkeit schon sehr lange. Er hörte, wie Geronimo drüben laut, beinahe schreiend, von seiner Kindheit erzählte: daß er sich noch ganz gut an allerlei erinnerte, was er mit seinen Augen gesehen, Personen und Dinge: an den Vater, wie er auf dem Felde arbeitete, an den kleinen Garten mit der Esche an der Mauer, an das niedrige Häuschen, das ihnen gehörte, an die zwei kleinen Töchter des Schusters, an den Weinberg hinter der Kirche, ja an sein eigenes Kindergesicht, wie es ihm aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte. Wie oft hatte Carlo das alles gehört. Heute ertrug er es nicht. Es klang anders als sonst: jedes Wort, das Geronimo sprach, bekam einen neuen Sinn und schien sich gegen ihn zu richten. Er schlich hinaus und ging wieder auf die Landstraße, die nun ganz im Dunkel lag. Der Regen hatte aufgehört, die Luft war sehr kalt, und der Gedanke erschien Carlo beinahe verlockend, weiterzugehen, immer weiter, tief in die Finsternis hinein, sich am Ende irgendwohin in den Straßengraben zu legen, einzuschlafen, nicht mehr zu erwachen. – Plötzlich hörte er das Rollen eines Wagens und erblickte den Lichtschimmer von zwei Laternen, die immer näher kamen. In dem Wagen, der vorüberfuhr, saßen zwei Herren. Einer von ihnen mit einem schmalen, bartlosen Gesichte fuhr erschrocken zusammen, als Carlos Gestalt im Lichte der Laternen aus dem Dunkel hervortauchte. Carlo, der stehen geblieben war, lüftete den Hut. Der Wagen und die Lichter verschwanden. Carlo stand wieder in tiefer Finsternis. Plötzlich schrak er zusammen. Das erstemal in seinem Leben machte ihm das Dunkel Angst. Es war ihm, als könnte er es keine Minute länger ertragen. In einer sonderbaren Art vermengten sich in seinem dumpfen Sinnen die Schauer, die er für sich selbst empfand, mit einem quälenden Mitleid für den blinden Bruder und jagten ihn nach Hause.

Als er in die Wirtsstube trat, sah er die beiden Reisenden, die vorher an ihm vorbeigefahren waren, bei einer Flasche Rotwein an einem Tische sitzen und sehr angelegentlich miteinander reden. Sie blickten kaum auf, als er eintrat.

An dem anderen Tische saß Geronimo wie früher unter den Arbeitern.

»Wo steckst du denn, Carlo?« sagte ihm der Wirt schon an der Tür. »Warum läßt du deinen Bruder allein?«

»Was gibt’s denn?« fragte Carlo erschrocken.

»Geronimo traktiert die Leute. Mir kann’s ja egal sein, aber ihr solltet doch denken, daß bald wieder schlechtere Zeiten kommen.«

Carlo trat rasch zu dem Bruder und faßte ihn am Arme. »Komm!« sagte er.

»Was willst du?« schrie Geronimo.

»Komm zu Bett,« sagte Carlo.

»Laß mich, laß mich! Ich verdiene das Geld, ich kann mit meinem Gelde tun, was ich will – eh! – alles kannst du ja doch nicht einstecken! Ihr meint wohl, er gibt mir alles! O nein! Ich bin ja ein blinder Mann! Aber es gibt Leute – es gibt gute Leute, die sagen mir: ›Ich habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben!‹«

Die Arbeiter lachten auf.

»Es ist genug,« sagte Carlo, »komm!« Und er zog den Bruder mit sich, schleppte ihn beinah die Treppe hinauf bis in den kahlen Bodenraum, wo sie ihr Lager hatten. Auf dem ganzen Wege schrie Geronimo: »Ja, nun ist es an den Tag gekommen, ja, nun weiß ich’s! Ah, wartet nur. Wo ist sie? Wo ist Maria? Oder legst du’s ihr in die Sparkassa? – Eh, ich singe für dich, ich spiele Gitarre, von mir lebst du – und du bist ein Dieb!« Er fiel auf den Strohsack hin.

Vom Gang her schimmerte ein schwaches Licht herein; drüben stand die Tür zu dem einzigen Fremdenzimmer des Wirtshauses offen, und Maria richtete die Betten für die Nachtruhe her. Carlo stand vor seinem Bruder und sah ihn daliegen mit dem gedunsenen Gesicht, mit den bläulichen Lippen, das feuchte Haar an der Stirne klebend, um viele Jahre älter aussehend, als er war. Und langsam begann er zu verstehen. Nicht von heute konnte das Mißtrauen des Blinden sein, längst mußte es in ihm geschlummert haben, und nur der Anlaß, vielleicht der Mut hatte ihm gefehlt, es auszusprechen. Und alles, was Carlo für ihn getan, war vergeblich gewesen; vergeblich die Reue, vergeblich das Opfer seines ganzen Lebens. Was sollte er nun tun? – Sollte er noch weiterhin Tag für Tag, wer weiß wie lange noch, ihn durch die ewige Nacht führen, ihn betreuen, für ihn betteln und keinen anderen Lohn dafür haben als Mißtrauen und Schimpf? Wenn ihn der Bruder für einen Dieb hielt, so konnte ihm ja jeder Fremde dasselbe oder Besseres leisten als er. Wahrhaftig, ihn allein lassen, sich für immer von ihm trennen, das wäre das klügste. Dann mußte Geronimo wohl sein Unrecht einsehen, denn dann erst würde er erfahren, was es heißt, betrogen und bestohlen werden, einsam und elend sein. Und er selbst, was sollte er beginnen? Nun, er war ja noch nicht alt; wenn er für sich allein war, konnte er noch mancherlei anfangen. Als Knecht zum mindesten fand er überall sein Unterkommen. Aber während diese Gedanken durch seinen Kopf zogen, blieben seine Augen immer auf den Bruder geheftet. Und er sah ihn plötzlich vor sich, allein am Rande einer sonnbeglänzten Straße auf einem Stein sitzen, mit den weit offenen, weißen Augen zum Himmel starrend, der ihn nicht blenden konnte, und mit den Händen in die Nacht greifend, die immer um ihn war. Und er fühlte, so wie der Blinde niemand anderen auf der Welt hatte als ihn, so hatte auch er niemand anderen als diesen Bruder. Er verstand, daß die Liebe zu diesem Bruder der ganze Inhalt seines Lebens war, und wußte zum ersten Male mit völliger Deutlichkeit, nur der Glaube, daß der Blinde diese Liebe erwiderte und ihm verziehen, hatte ihn alles Elend so geduldig tragen lassen. Er konnte auf diese Hoffnung nicht mit einem Male verzichten. Er fühlte, daß er den Bruder gerade so notwendig brauchte als der Bruder ihn. Er konnte nicht, er wollte ihn nicht verlassen. Er mußte entweder das Mißtrauen erdulden oder ein Mittel finden, um den Blinden von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu überzeugen ... Ja, wenn er sich irgendwie das Goldstück verschaffen könnte! Wenn er dem Blinden morgen früh sagen könnte: »Ich habe es nur aufbewahrt, damit du’s nicht mit den Arbeitern vertrinkst, damit es dir die Leute nicht stehlen« ... oder sonst irgend etwas ...

Schritte näherten sich auf der Holztreppe; die Reisenden gingen zur Ruhe. Plötzlich durchzuckte seinen Kopf der Einfall, drüben anzuklopfen, den Fremden wahrheitsgetreu den heutigen Vorfall zu erzählen und sie um die zwanzig Franken zu bitten. Aber er wußte auch gleich: das war vollkommen aussichtslos! Sie würden ihm die ganze Geschichte nicht einmal glauben. Und er erinnerte sich jetzt, wie erschrocken der eine blasse zusammengefahren war, als er, Carlo, plötzlich im Dunkel vor dem Wagen aufgetaucht war.

Er streckte sich auf den Strohsack hin. Es war ganz finster im Zimmer. Jetzt hörte er, wie die Arbeiter laut redend und mit schweren Schritten über die Holzstufen hinabgingen. Bald darauf wurden beide Tore geschlossen. Der Knecht ging noch einmal die Treppe auf und ab, dann war es ganz still. Carlo hörte nur mehr das Schnarchen Geronimos. Bald verwirrten sich seine Gedanken in beginnenden Träumen. Als er erwachte, war noch tiefe Dunkelheit um ihn. Er sah nach der Stelle, wo das Fenster war; wenn er die Augen anstrengte, gewahrte er dort mitten in dem undurchdringlichen Schwarz ein tiefgraues Viereck. Geronimo schlief noch immer den schweren Schlaf des Betrunkenen. Und Carlo dachte an den Tag, der morgen war; und ihn schauderte. Er dachte an die Nacht nach diesem Tage, an den Tag nach dieser Nacht, an die Zukunft, die vor ihm lag, und Grauen erfüllte ihn vor der Einsamkeit, die ihm bevorstand. Warum war er abends nicht mutiger gewesen? Warum war er nicht zu den Fremden gegangen und hatte sie um die zwanzig Franken gebeten? Vielleicht hätten sie doch Erbarmen mit ihm gehabt. Und doch – vielleicht war es gut, daß er sie nicht gebeten hatte. Ja, warum war es gut?... Er setzte sich jäh auf und fühlte sein Herz klopfen. Er wußte, warum es gut war: Wenn sie ihn abgewiesen hätten, so wäre er ihnen jedenfalls verdächtig geblieben – so aber ... Er starrte auf den grauen Fleck, der matt zu leuchten begann ... Das, was ihm gegen seinen eigenen Willen durch den Kopf gefahren, war ja unmöglich, vollkommen unmöglich!... Die Tür drüben war versperrt – und überdies: sie konnten aufwachen ... Ja, dort – der graue leuchtende Fleck mitten im Dunkel war der neue Tag – – –

Carlo stand auf, als zöge es ihn dorthin, und berührte mit der Stirn die kalte Scheibe. Warum war er denn aufgestanden? Um zu überlegen?... Um es zu versuchen?... Was denn?... Es war ja unmöglich – und überdies war es ein Verbrechen. Ein Verbrechen? Was bedeuten zwanzig Franken für solche Leute, die zum Vergnügen tausend Meilen weit reisen? Sie würden ja gar nicht merken, daß sie ihnen fehlten ... Er ging zur Türe und öffnete sie leise. Gegenüber war die andere, mit zwei Schritten zu erreichen, geschlossen. An einem Nagel im Pfosten hingen Kleidungsstücke. Carlo fuhr mit der Hand über sie ... Ja, wenn die Leute ihre Börsen in der Tasche ließen, dann wäre das Leben sehr einfach, dann brauchte bald niemand mehr betteln zu gehen ... Aber die Taschen waren leer. Nun, was blieb übrig? Wieder zurück ins Zimmer, auf den Strohsack. Es gab vielleicht doch eine bessere Art, sich zwanzig Franken zu verschaffen – eine weniger gefährliche und rechtlichere. Wenn er wirklich jedesmal einige Zentesimi von den Almosen zurückbehielte, bis er zwanzig Franken zusammengespart, und dann das Goldstück kaufte ... Aber wie lang konnte das dauern – Monate, vielleicht ein Jahr. Ah, wenn er nur Mut hätte! Noch immer stand er auf dem Gang. Er blickte zur Tür hinüber ... Was war das für ein Streif, der senkrecht von oben auf den Fußboden fiel? War es möglich? Die Tür war nur angelehnt, nicht versperrt?... Warum staunte er denn darüber? Seit Monaten schon schloß die Tür nicht. Wozu auch? Er erinnerte sich: nur dreimal hatten hier in diesem Sommer Leute geschlafen, zweimal Handwerksburschen und einmal ein Tourist, der sich den Fuß verletzt hatte. Die Tür schließt nicht – er braucht jetzt nur Mut – ja, und Glück! Mut? Das Schlimmste, was ihm geschehen kann, ist, daß die beiden aufwachen, und da kann er noch immer eine Ausrede finden. Er lugt durch den Spalt ins Zimmer. Es ist noch so dunkel, daß er eben nur die Umrisse von zwei auf den Betten lagernden Gestalten gewahren kann. Er horcht auf: sie atmen ruhig und gleichmäßig. Carlo öffnet die Tür leicht und tritt mit seinen nackten Füßen völlig geräuschlos ins Zimmer. Die beiden Betten stehen der Länge nach an der gleichen Wand dem Fenster gegenüber. In der Mitte des Zimmers ist ein Tisch; Carlo schleicht bis hin. Er fährt mit der Hand über die Fläche und fühlt ein Schlüsselbund, ein Federmesser, ein kleines Buch – weiter nichts ... Nun natürlich!... Daß er nur daran denken konnte, sie würden ihr Geld auf den Tisch legen! Ah, nun kann er gleich wieder fort!... Und doch, vielleicht braucht es nur einen guten Griff und es ist geglückt ... Und er nähert sich dem Bett neben der Tür; hier auf dem Sessel liegt etwas – er fühlt danach – es ist ein Revolver ... Carlo zuckt zusammen ... Ob er ihn nicht lieber gleich behalten sollte? Denn warum hat dieser Mensch den Revolver bereitliegen? Wenn er erwacht und ihn bemerkt ... Doch nein, er würde ja sagen: Es ist drei Uhr, gnädiger Herr, aufstehn!... Und er läßt den Revolver liegen.

Und er schleicht tiefer ins Zimmer. Hier auf dem anderen Sessel unter den Wäschestücken ... Himmel! das ist sie ... das ist eine Börse – er hält sie in der Hand!... In diesem Moment hört er ein leises Krachen. Mit einer raschen Bewegung streckt er sich der Länge nach zu Füßen des Bettes hin ... Noch einmal dieses Krachen – ein schweres Aufatmen – ein Räuspern – dann wieder Stille, tiefe Stille. Carlo bleibt auf dem Boden liegen, die Börse in der Hand, und wartet. Es rührt sich nichts mehr. Schon fällt der Dämmer blaß ins Zimmer herein. Carlo wagt nicht aufzustehen, sondern kriecht auf dem Boden vorwärts bis zur Tür, die weit genug offen steht, um ihn durchzulassen, kriecht weiter bis auf den Gang hinaus, und hier erst erhebt er sich langsam, mit einem tiefen Atemzug. Er öffnet die Börse; sie ist dreifach geteilt: links und rechts nur kleine Silberstücke. Nun öffnet Carlo den mittleren Teil, der durch einen Schieber nochmals verschlossen ist, und fühlt drei Zwanzigfrankenstücke. Einen Augenblick denkt er daran, zwei davon zu nehmen, aber rasch weist er diese Versuchung von sich, nimmt nur ein Goldstück heraus und schließt die Börse zu. Dann kniet er nieder, blickt durch die Spalte in die Kammer, in der es wieder völlig still ist, und dann gibt er der Börse einen Stoß, so daß sie bis unter das zweite Bett gleitet. Wenn der Fremde aufwacht, wird er glauben müssen, daß sie vom Sessel heruntergefallen ist. Carlo erhebt sich langsam. Da knarrt der Boden leise, und im gleichen Augenblick hört er eine Stimme von drinnen: »Was ist’s? Was gibt’s denn?« Carlo macht rasch zwei Schritte rückwärts, mit verhaltenem Atem, und gleitet in seine eigene Kammer. Er ist in Sicherheit und lauscht ... Noch einmal kracht drüben das Bett, und dann ist alles still. Zwischen seinen Fingern hält er das Goldstück. Es ist gelungen – gelungen! Er hat die zwanzig Franken, und er kann seinem Bruder sagen: ›Siehst du nun, daß ich kein Dieb bin!‹ Und sie werden sich noch heute auf die Wanderschaft machen – gegen den Süden zu, nach Bormio, dann weiter durchs Veltlin ... dann nach Tirano ... nach Edole ... nach Breno ... an den See von Iseo wie voriges Jahr ... Das wird durchaus nicht verdächtig sein, denn schon vorgestern hat er selbst zum Wirt gesagt: »In ein paar Tagen gehen wir hinunter.«

Immer lichter wird es, das ganze Zimmer liegt in grauem Dämmer da. Ah, wenn Geronimo nur bald aufwachte! Es wandert sich so gut in der Frühe! Noch vor Sonnenaufgang werden sie fortgehen. Einen guten Morgen dem Wirt, dem Knecht und Maria auch, und dann fort, fort ... Und erst wenn sie zwei Stunden weit sind, schon nahe dem Tale, wird er es Geronimo sagen.

Geronimo reckt und dehnt sich. Carlo ruft ihn an: »Geronimo!«

»Nun, was gibt’s?« Und er stützt sich mit beiden Händen und setzt sich auf.

»Geronimo, wir wollen aufstehen.«

»Warum?« Und er richtet die toten Augen auf den Bruder. Carlo weiß, daß Geronimo sich jetzt des gestrigen Vorfalles besinnt, aber er weiß auch, daß der keine Silbe darüber reden wird, ehe er wieder betrunken ist.

»Es ist kalt, Geronimo, wir wollen fort. Es wird heuer nicht mehr besser; ich denke, wir gehen. Zu Mittag können wir in Boladore sein.«

Geronimo erhob sich. Die Geräusche des erwachenden Hauses wurden vernehmbar. Unten im Hof sprach der Wirt mit dem Knecht. Carlo stand auf und begab sich hinunter. Er war immer früh wach und ging oft schon in der Dämmerung auf die Straße hinaus. Er trat zum Wirt hin und sagte: »Wir wollen Abschied nehmen.«

»Ah, geht ihr schon heut?« fragte der Wirt.

»Ja. Es friert schon zu arg, wenn man jetzt im Hof steht, und der Wind zieht durch.«

»Nun, grüß mir den Baldetti, wenn du nach Bormio hinunterkommst, und er soll nicht vergessen, mir das Öl zu schicken.«

»Ja, ich will ihn grüßen. Im übrigen – das Nachtlager von heut.« Er griff in den Sack.

»Laß sein, Carlo,« sagte der Wirt. »Die zwanzig Zentesimi schenk ich deinem Bruder; ich hab ihm ja auch zugehört. Guten Morgen.«

»Dank,« sagte Carlo. »Im übrigen, so eilig haben wir’s nicht. Wir sehen dich noch, wenn du von den Hütten zurückkommst; Bormio bleibt am selben Fleck stehen, nicht wahr?« Er lachte und ging die Holzstufen hinauf.

Geronimo stand mitten im Zimmer und sagte: »Nun, ich bin bereit zu gehen.«

»Gleich,« sagte Carlo.

Aus einer alten Kommode, die in einem Winkel des Raumes stand, nahm er ihre wenigen Habseligkeiten und packte sie in ein Bündel. Dann sagte er: »Ein schöner Tag, aber sehr kalt.«

»Ich weiß,« sagte Geronimo. Beide verließen die Kammer.

»Geh leise,« sagte Carlo, »hier schlafen die zwei, die gestern abend gekommen sind.« Behutsam schritten sie hinunter. »Der Wirt läßt dich grüßen,« sagte Carlo; »er hat uns die zwanzig Zentesimi für heut nacht geschenkt. Nun ist er bei den Hütten draußen und kommt erst in zwei Stunden wieder. Wir werden ihn ja im nächsten Jahre wiedersehen.«

Geronimo antwortete nicht. Sie traten auf die Landstraße, die im Dämmerschein vor ihnen lag. Carlo ergriff den linken Arm seines Bruders, und beide schritten schweigend talabwärts. Schon nach kurzer Wanderung waren sie an der Stelle, wo die Straße in langgezogenen Kehren weiterzulaufen beginnt. Nebel stiegen nach aufwärts, ihnen entgegen, und über ihnen die Höhen schienen von den Wolken wie eingeschlungen. Und Carlo dachte: Nun will ich’s ihm sagen.

Carlo sprach aber kein Wort, sondern nahm das Goldstück aus der Tasche und reichte es dem Bruder; dieser nahm es zwischen die Finger der rechten Hand, dann führte er es an die Wange und an die Stirn, endlich nickte er. »Ich hab’s ja gewußt,« sagte er.

»Nun ja,« erwiderte Carlo und sah Geronimo befremdet an.

»Auch wenn der Fremde mir nichts gesagt hätte, ich hätte es doch gewußt.«

»Nun ja,« sagte Carlo ratlos. »Aber du verstehst doch, warum ich da oben vor den anderen – ich habe gefürchtet, daß du das Ganze auf einmal – – Und sieh, Geronimo, es wäre doch an der Zeit, hab ich mir gedacht, daß du dir einen neuen Rock kaufst und ein Hemd und Schuhe auch, glaube ich; darum habe ich ...«

Der Blinde schüttelte heftig den Kopf. »Wozu?« Und er strich mit der einen Hand über seinen Rock. »Gut genug, warm genug; jetzt kommen wir nach dem Süden.«

Carlo begriff nicht, daß Geronimo sich gar nicht zu freuen schien, daß er sich nicht entschuldigte. Und er redete weiter: »Geronimo, war es denn nicht recht von mir? Warum freust du dich denn nicht? Nun haben wir es doch, nicht wahr? Nun haben wir es ganz. Wenn ich dir’s oben gesagt hätte, wer weiß ... Oh, es ist gut, daß ich dir’s nicht gesagt habe – gewiß!«

Da schrie Geronimo: »Hör auf zu lügen, Carlo, ich habe genug davon!«

Carlo blieb stehen und ließ den Arm des Bruders los. »Ich lüge nicht.«

»Ich weiß doch, daß du lügst!... Immer lügst du!... Schon hundertmal hast du gelogen!... Auch das hast du für dich behalten wollen, aber Angst hast du bekommen, das ist es!«

Carlo senkte den Kopf und antwortete nichts. Er faßte wieder den Arm des Blinden und ging mit ihm weiter. Es tat ihm weh, daß Geronimo so sprach; aber er war eigentlich erstaunt, daß er nicht trauriger war.

Die Nebel zerteilten sich. Nach langem Schweigen sprach Geronimo: »Es wird warm.« Er sagte es gleichgültig, selbstverständlich, wie er es schon hundertmal gesagt, und Carlo fühlte in diesem Augenblick: für Geronimo hatte sich nichts geändert. Für Geronimo war er immer ein Dieb gewesen.

»Hast du schon Hunger?« fragte er.

Geronimo nickte, zugleich nahm er ein Stück Käse und Brot aus der Rocktasche und aß davon. Und sie gingen weiter.

Die Post von Bormio begegnete ihnen; der Kutscher rief sie an: »Schon hinunter?« Dann kamen noch andere Wagen, die alle aufwärts fuhren.

»Luft aus dem Tal,« sagte Geronimo, und im gleichen Augenblick, nach einer raschen Wendung, lag das Veltlin zu ihren Füßen.

Wahrhaftig – nichts hat sich geändert, dachte Carlo ... Nun hab ich gar für ihn gestohlen – und auch das ist umsonst gewesen.

Die Nebel unter ihnen wurden immer dünner, der Glanz der Sonne riß Löcher hinein. Und Carlo dachte: ›Vielleicht war es doch nicht klug, so rasch das Wirtshaus zu verlassen ... Die Börse liegt unter dem Bett, das ist jedenfalls verdächtig ...‹ Aber wie gleichgültig war das alles! Was konnte ihm noch Schlimmes geschehen? Sein Bruder, dem er das Licht der Augen zerstört, glaubte sich von ihm bestohlen und glaubte es schon jahrelang und wird es immer glauben – was konnte ihm noch Schlimmes geschehen?

Da unter ihnen lag das große weiße Hotel wie in Morgenglanz gebadet, und tiefer unten, wo das Tal sich zu weiten beginnt, lang hingestreckt, das Dorf. Schweigend gingen die beiden weiter, und immer lag Carlos Hand auf dem Arm des Blinden. Sie gingen an dem Park des Hotels vorüber, und Carlo sah auf der Terrasse Gäste in lichten Sommergewändern sitzen und frühstücken. »Wo willst du rasten?« fragte Carlo.

»Nun, im ›Adler‹, wie immer.«

Als sie bei dem kleinen Wirtshause am Ende des Dorfes angelangt waren, kehrten sie ein. Sie setzten sich in die Schenke und ließen sich Wein geben.

»Was macht ihr so früh bei uns?« fragte der Wirt.

Carlo erschrak ein wenig bei dieser Frage. »Ist’s denn so früh? Der zehnte oder elfte September – nicht?«

»Im vergangenen Jahr war es gewiß viel später, als ihr herunterkamt.«

»Es ist so kalt oben,« sagte Carlo. »Heut nacht haben wir gefroren. Ja richtig, ich soll dir bestellen, du möchtest nicht vergessen, das Öl hinaufzuschicken.«

Die Luft in der Schenke war dumpf und schwül. Eine sonderbare Unruhe befiel Carlo; er wollte gern wieder im Freien sein, auf der großen Straße, die nach Tirano, nach Edole, nach dem See von Iseo, überallhin, in die Ferne führt! Plötzlich stand er auf.

»Gehen wir schon?« fragte Geronimo.

»Wir wollen doch heut mittag in Boladore sein, im ›Hirschen‹ halten die Wagen Mittagsrast; es ist ein guter Ort.«

Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand rauchend vor seinem Laden. »Guten Morgen,« rief er. »Nun, wie sieht’s da oben aus? Heut nacht hat es wohl geschneit?«

»Ja, ja,« sagte Carlo und beschleunigte seine Schritte.

Das Dorf lag hinter ihnen, weiß dehnte sich die Straße zwischen Wiesen und Weinbergen, dem rauschenden Fluß entlang. Der Himmel war blau und still. ›Warum hab ich’s getan?‹ dachte Carlo. Er blickte den Blinden von der Seite an. ›Sieht sein Gesicht denn anders aus als sonst? Immer hat er es geglaubt – immer bin ich allein gewesen – und immer hat er mich gehaßt.‹ Und ihm war, als schritte er unter einer schweren Last weiter, die er doch niemals von den Schultern werfen dürfte, und als könnte er die Nacht sehen, durch die Geronimo an seiner Seite schritt, während die Sonne leuchtend auf allen Wegen lag.

Und sie gingen weiter, gingen, gingen stundenlang. Von Zeit zu Zeit setzte sich Geronimo auf einen Meilenstein, oder sie lehnten beide an einem Brückengeländer, um zu rasten. Wieder kamen sie durch ein Dorf. Vor dem Wirtshause standen Wagen, Reisende waren ausgestiegen und gingen hin und her; aber die beiden Bettler blieben nicht. Wieder hinaus auf die offene Straße. Die Sonne stieg immer höher; Mittag mußte nahe sein. Es war ein Tag wie tausend andere.

»Der Turm von Boladore,« sagte Geronimo. Carlo blickte auf. Er wunderte sich, wie genau Geronimo die Entfernungen berechnen konnte: wirklich war der Turm von Boladore am Horizont erschienen. Noch von ziemlich weither kam ihnen jemand entgegen. Es schien Carlo, als sei er am Wege gesessen und plötzlich aufgestanden. Die Gestalt kam näher. Jetzt sah Carlo, daß es ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der Landstraße begegnete. Trotzdem schrak Carlo leicht zusammen. Aber als der Mann näher kam, erkannte er ihn und war beruhigt. Es war Pietro Tenelli; erst im Mai waren die beiden Bettler im Wirtshaus des Raggazzi in Morignone mit ihm zusammen gesessen, und er hatte ihnen eine schauerliche Geschichte erzählt, wie er von einem Strolch einmal beinahe erdolcht worden war.

»Es ist einer stehen geblieben,« sagte Geronimo.

»Tenelli, der Gendarm,« sagte Carlo.

Nun waren sie an ihn herangekommen.

»Guten Morgen, Herr Tenelli,« sagte Carlo und blieb vor ihm stehen.

»Es ist nun einmal so,« sagte der Gendarm, »ich muß euch vorläufig beide auf den Posten nach Boladore führen.«

»Eh!« rief der Blinde.

Carlo wurde blaß. ›Wie ist das nur möglich?‹ dachte er. ›Aber es kann sich nicht darauf beziehen. Man kann es ja hier unten noch nicht wissen.‹

»Es scheint ja euer Weg zu sein,« sagte der Gendarm lachend, »es macht euch wohl nichts, wenn ihr mitgeht.«

»Warum redest du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.

»O ja, ich rede ... Ich bitte, Herr Gendarm, wie ist es denn möglich ... was sollen wir denn ... oder vielmehr, was soll ich ... wahrhaftig, ich weiß nicht ...«

»Es ist nun einmal so. Vielleicht bist du auch unschuldig. Was weiß ich. Jedenfalls haben wir die telegraphische Anzeige ans Kommando bekommen, daß wir euch aufhalten sollen, weil ihr verdächtig seid, dringend verdächtig, da oben den Leuten Geld gestohlen zu haben. Nun, es ist auch möglich, daß ihr unschuldig seid. Also vorwärts!«

»Warum sprichst du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.

»Ich rede – o ja, ich rede ...«

»Nun geht endlich! Was hat es für einen Sinn, auf der Straße stehenzubleiben! Die Sonne brennt. In einer Stunde sind wir an Ort und Stelle. Vorwärts!«

Carlo berührte den Arm Geronimos wie immer, und so gingen sie langsam weiter, der Gendarm hinter ihnen.

»Carlo, warum redest du nicht?« fragte Geronimo wieder.

»Aber was willst du, Geronimo, was soll ich sagen? Es wird sich alles herausstellen; ich weiß selber nicht ...«

Und es ging ihm durch den Kopf: Soll ich’s ihm erklären, eh wir vor Gericht stehen?... Es geht wohl nicht. Der Gendarm hört uns zu ... Nun, was tut’s. Vor Gericht werd ich ja doch die Wahrheit sagen. »Herr Richter,« werd ich sagen, »es ist doch kein Diebstahl wie ein anderer. Es war nämlich so: ...« Und nun mühte er sich, die Worte zu finden, um vor Gericht die Sache klar und verständlich darzustellen. »Da fuhr gestern ein Herr über den Paß ... es mag ein Irrsinniger gewesen sein – oder am End hat er sich nur geirrt ... und dieser Mann ...«

Aber was für ein Unsinn! Wer wird es glauben? ... Man wird ihn gar nicht so lange reden lassen. – Niemand kann diese dumme Geschichte glauben ... nicht einmal Geronimo glaubt sie ... – Und er sah ihn von der Seite an. Der Kopf des Blinden bewegte sich nach alter Gewohnheit während des Gehens wie im Takte auf und ab, aber das Gesicht war regungslos, und die leeren Augen stierten in die Luft. – Und Carlo wußte plötzlich, was für Gedanken hinter dieser Stirne liefen ... ›So also stehen die Dinge,‹ mußte Geronimo wohl denken. – ›Carlo bestiehlt nicht nur mich, auch die anderen Leute bestiehlt er ... Nun, er hat es gut, er hat Augen, die sehen, und er nützt sie aus ...‹ – Ja, das denkt Geronimo, ganz gewiß ... Und auch, daß man kein Geld bei mir finden wird, kann mir nicht helfen, – nicht vor Gericht, nicht vor Geronimo. Sie werden mich einsperren und ihn ... Ja, ihn geradeso wie mich, denn er hat ja das Geldstück. – Und er konnte nicht mehr weiter denken, er fühlte sich so sehr verwirrt. Es schien ihm, als verstünde er überhaupt nichts mehr von der ganzen Sache, und wußte nur eines: daß er sich gern auf ein Jahr in den Arrest setzen ließe ... oder auf zehn, wenn nur Geronimo wüßte, daß er für ihn allein zum Dieb geworden war.

Und plötzlich blieb Geronimo stehen, so daß auch Carlo innehalten mußte.

»Nun, was ist denn?« sagte der Gendarm ärgerlich. »Vorwärts, vorwärts!« Aber da sah er mit Verwunderung, daß der Blinde die Gitarre auf den Boden fallen ließ, seine Arme erhob und mit beiden Händen nach den Wangen des Bruders tastete. Dann näherte er seine Lippen dem Munde Carlos, der zuerst nicht wußte, wie ihm geschah, und küßte ihn.

»Seid ihr verrückt?« fragte der Gendarm. »Vorwärts! vorwärts! Ich habe keine Lust zu braten.«

Geronimo hob die Gitarre vom Boden auf, ohne ein Wort zu sprechen. Carlo atmete tief auf und legte die Hand wieder auf den Arm des Blinden. War es denn möglich? Der Bruder zürnte ihm nicht mehr? Er begriff am Ende –? Und zweifelnd sah er ihn von der Seite an.

»Vorwärts!« schrie der Gendarm. »Wollt ihr endlich –!« Und er gab Carlo eins zwischen die Rippen.

Und Carlo, mit festem Druck den Arm des Blinden leitend, ging wieder vorwärts. Er schlug einen viel rascheren Schritt ein als früher. Denn er sah Geronimo lächeln in einer milden glückseligen Art, wie er es seit den Kinderjahren nicht mehr an ihm gesehen hatte. Und Carlo lächelte auch. Ihm war, als könnte ihm jetzt nichts Schlimmes mehr geschehen, – weder vor Gericht, noch sonst irgendwo auf der Welt. – Er hatte seinen Bruder wieder ... Nein, er hatte ihn zum erstenmal ...


Die Toten schweigen

Er ertrug es nicht länger, ruhig im Wagen zu sitzen; er stieg aus und ging auf und ab. Es war schon dunkel; die wenigen Laternenlichter in dieser stillen, abseits liegenden Straße flackerten, vom Winde bewegt, hin und her. Es hatte aufgehört zu regnen; die Trottoire waren beinahe trocken; aber die ungepflasterten Fahrstraßen waren noch feucht, und an einzelnen Stellen hatten sich kleine Tümpel gebildet.

Es ist sonderbar, dachte Franz, wie man sich hier, hundert Schritt von der Praterstraße, in irgendeine ungarische Kleinstadt versetzt glauben kann. Immerhin – sicher dürfte man hier wenigstens sein; hier wird sie keinen ihrer gefürchteten Bekannten treffen.

Er sah auf die Uhr ... Sieben – und schon völlige Nacht. Der Herbst ist diesmal früh da. Und der verdammte Sturm.

Er stellte den Kragen in die Höhe und ging rascher auf und ab. Die Laternenfenster klirrten. »Noch eine halbe Stunde,« sagte er zu sich, »dann kann ich gehen. Ah – ich wollte beinahe, es wäre so weit.« Er blieb an der Ecke stehen; hier hatte er einen Ausblick auf beide Straßen, von denen aus sie kommen könnte.

Ja, heute wird sie kommen, dachte er, während er seinen Hut festhielt, der wegzufliegen drohte. – Freitag – Sitzung des Professorenkollegiums – da wagt sie sich fort und kann sogar länger ausbleiben ... Er hörte das Geklingel der Pferdebahn; jetzt begann auch die Glocke von der nahen Nepomukkirche zu läuten. Die Straße wurde belebter. Es kamen mehr Menschen an ihm vorüber: meist, wie ihm schien, Bedienstete aus den Geschäften, die um sieben geschlossen wurden. Alle gingen rasch und waren mit dem Sturm, der das Gehen erschwerte, in einer Art von Kampf begriffen. Niemand beachtete ihn; nur ein paar Ladenmädel blickten mit leichter Neugier zu ihm auf. – Plötzlich sah er eine bekannte Gestalt rasch herankommen. Er eilte ihr entgegen. Ohne Wagen? dachte er. Ist sie’s?

Sie war es; als sie seiner gewahr wurde, beschleunigte sie ihre Schritte.

»Du kommst zu Fuß?« sagte er.

»Ich hab den Wagen schon beim Karltheater fortgeschickt. Ich glaube, ich bin schon einmal mit demselben Kutscher gefahren.«

Ein Herr ging an ihnen vorüber und betrachtete die Dame flüchtig. Der junge Mann fixierte ihn scharf, beinahe drohend; der Herr ging rasch weiter. Die Dame sah ihm nach. »Wer war’s?!« fragte sie ängstlich.

»Ich kenne ihn nicht. Hier gibt es keine Bekannten, sei ganz ruhig. – Aber jetzt komm rasch; wir wollen einsteigen.«

»Ist das dein Wagen?«

»Ja.«

»Ein offener?«

»Vor einer Stunde war es noch so schön.«

Sie eilten hin; die junge Frau stieg ein.

»Kutscher,« rief der junge Mann.

»Wo ist er denn?« fragte die junge Frau.

Franz schaute ringsumher. »Das ist unglaublich,« rief er, »der Kerl ist nicht zu sehen.«

»Um Gotteswillen!« rief sie leise.

»Wart einen Augenblick, Kind; er ist sicher da.«

Der junge Mann öffnete die Tür zu dem kleinen Wirtshause; an einem Tisch mit ein paar anderen Leuten saß der Kutscher; jetzt stand er rasch auf.

»Gleich, gnä’ Herr,« sagte er und trank stehend sein Glas Wein aus.

»Was fällt Ihnen denn ein?«

»Bitt schön, Euer Gnaden; i bin schon wieder da.«

Er eilte ein wenig schwankend zu den Pferden. »Wohin fahr’n mer denn, Euer Gnaden?«

»Prater – Lusthaus.«

Der junge Mann stieg ein. Die junge Frau lehnte ganz versteckt, beinahe zusammengekauert, in der Ecke unter dem aufgestellten Dach.

Franz faßte ihre beiden Hände. Sie blieb regungslos. – »Willst du mir nicht wenigstens guten Abend sagen?«

»Ich bitt dich; laß mich nur einen Moment, ich bin noch ganz atemlos.«

Der junge Mann lehnte sich in seine Ecke. Beide schwiegen eine Weile. Der Wagen war in die Praterstraße eingebogen, fuhr an dem Tegethoff-Monument vorüber, und nach wenigen Sekunden flog er die breite, dunkle Praterallee hin. Jetzt umschlang Emma plötzlich mit beiden Armen den Geliebten. Er schob leise den Schleier zurück, der ihn noch von ihren Lippen trennte, und küßte sie.

»Bin ich endlich bei dir!« sagte sie.

»Weißt du denn, wie lang wir uns nicht gesehen haben?« rief er aus.

»Seit Sonntag.«

»Ja, und da auch nur von weitem.«

»Wieso? Du warst ja bei uns.«

»Nun ja ... bei euch. Ah, das geht so nicht fort. Zu euch komm ich überhaupt nie wieder. Aber was hast du denn?«

»Es ist ein Wagen an uns vorbeigefahren.«

»Liebes Kind, die Leute, die heute im Prater spazieren fahren, kümmern sich wahrhaftig nicht um uns.«

»Das glaub ich schon. Aber zufällig kann einer hereinschaun.«

»Es ist unmöglich, jemanden zu erkennen.«

»Ich bitt dich, fahren wir wo anders hin.«

»Wie du willst.«

Er rief dem Kutscher, der aber nicht zu hören schien. Da beugte er sich vor und berührte ihn mit der Hand. Der Kutscher wandte sich um.

»Sie sollen umkehren. Und warum hauen Sie denn so auf die Pferde ein? Wir haben ja gar keine Eile, hören Sie! Wir fahren in die ... wissen Sie, die Allee, die zur Reichsbrücke führt.«

»Auf die Reichsstraßen?«

»Ja, aber rasen Sie nicht so, das hat ja gar keinen Sinn.«

»Bitt schön, gnä’ Herr, der Sturm, der macht die Rösser so wild.«

»Ah freilich, der Sturm.« Franz setzte sich wieder.

Der Kutscher wandte die Pferde. Sie fuhren zurück.

»Warum habe ich dich gestern nicht gesehen?« fragte sie.

»Wie hätt’ ich denn können?«

»Ich dachte, du warst auch bei meiner Schwester geladen.«

»Ach so.«

»Warum warst du nicht dort?«

»Weil ich es nicht vertragen kann, mit dir unter anderen Leuten zusammen zu sein. Nein, nie wieder.«

Sie zuckte die Achseln.

»Wo sind wir denn?« fragte sie dann.

Sie fuhren unter der Eisenbahnbrücke in die Reichsstraße ein.

»Da geht’s zur großen Donau,« sagte Franz, »wir sind auf dem Weg zur Reichsbrücke. Hier gibt es keine Bekannten!« setzte er spöttisch hinzu.

»Der Wagen schüttelt entsetzlich.«

»Ja, jetzt sind wir wieder auf Pflaster.«

»Warum fährt er so im Zickzack?«

»Es scheint dir so.«

Aber er fand selbst, daß der Wagen sie heftiger als nötig hin und her warf. Er wollte nichts davon sagen, um sie nicht noch ängstlicher zu machen.

»Ich habe heute viel und ernst mit dir zu reden, Emma.«

»Da mußt du bald anfangen, denn um neun muß ich zu Hause sein.«

»In zwei Worten kann alles entschieden sein.«

»Gott, was ist denn das?« ... schrie sie auf. Der Wagen war in ein Pferdebahngeleise geraten und machte jetzt, als der Kutscher herauswenden wollte, eine so scharfe Biegung, daß er fast zu stürzen drohte. Franz packte den Kutscher beim Mantel. »Halten Sie,« rief er ihm zu. »Sie sind ja betrunken.«

Der Kutscher brachte die Pferde mühsam zum Stehen. »Aber gnä’ Herr ...«

»Komm, Emma, steigen wir hier aus.«

»Wo sind wir?«

»Schon an der Brücke. Es ist auch jetzt nicht mehr gar so stürmisch. Gehen wir ein Stückchen. Man kann während des Fahrens nicht ordentlich reden.«

Emma zog den Schleier herunter und folgte.

»Nicht stürmisch nennst du das?« rief sie aus, als ihr gleich beim Aussteigen ein Windstoß entgegenfuhr.

Er nahm ihren Arm. »Nachfahren,« rief er dem Kutscher zu.

Sie spazierten vorwärts. Solang die Brücke allmählich anstieg, sprachen sie nichts; und als sie beide das Wasser unter sich rauschen hörten, blieben sie eine Weile stehen. Tiefes Dunkel war um sie. Der breite Strom dehnte sich grau und in unbestimmten Grenzen hin, in der Ferne sahen sie rote Lichter, die über dem Wasser zu schweben schienen und sich darin spiegelten. Von dem Ufer her, das die beiden eben verlassen hatten, senkten sich zitternde Lichtstreifen ins Wasser; jenseits war es, als verlöre sich der Strom in die schwarzen Auen. Jetzt schien ein ferneres Donnern zu ertönen, das immer näher kam; unwillkürlich sahen sie beide nach der Stelle, wo die roten Lichter schimmerten; Bahnzüge mit hellen Fenstern rollten zwischen eisernen Bogen hin, die plötzlich aus der Nacht hervorzuwachsen und gleich wieder zu versinken schienen. Der Donner verlor sich allmählich, es wurde still; nur der Wind kam in plötzlichen Stößen.

Nach langem Schweigen sagte Franz: »Wir sollten fort.«

»Freilich,« erwiderte Emma leise.

»Wir sollten fort,« sagte Franz lebhaft, »ganz fort, mein ich ...«

»Es geht ja nicht.«

»Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.«

»Und mein Kind?«

»Er würde es dir lassen, ich bin fest überzeugt.«

»Und wie?« fragte sie leise ... »Davonlaufen bei Nacht und Nebel?«

»Nein, durchaus nicht. Du hast nichts zu tun, als ihm einfach zu sagen, daß du nicht länger bei ihm leben kannst, weil du einem andern gehörst.«

»Bist du bei Sinnen, Franz?«

»Wenn du willst, erspar ich dir auch das, – ich sag es ihm selber.«

»Das wirst du nicht tun, Franz.«

Er versuchte, sie anzusehen; aber in der Dunkelheit konnte er nicht mehr bemerken, als daß sie den Kopf erhoben und zu ihm gewandt hatte.

Er schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig: »Hab keine Angst, ich werde es nicht tun.«

Sie näherten sich dem anderen Ufer.

»Hörst du nichts?« sagte sie. »Was ist das?«

»Es kommt von drüben,« sagte er.

Langsam rasselte es aus dem Dunkel hervor; ein kleines rotes Licht schwebte ihnen entgegen; bald sahen sie, daß es von einer kleinen Laterne kam, die an der vorderen Deichsel eines Landwagens befestigt war; aber sie konnten nicht sehen, ob der Wagen beladen war und ob Menschen mitfuhren. Gleich dahinter kamen noch zwei gleiche Wagen. Auf dem letzten konnten sie einen Mann in Bauerntracht gewahren, der eben seine Pfeife anzündete. Die Wagen fuhren vorbei. Dann hörten sie wieder nichts als das dumpfe Geräusch des Fiakers, der zwanzig Schritte hinter ihnen langsam weiterrollte. Jetzt senkte sich die Brücke leicht gegen das andere Ufer. Sie sahen, wie die Straße vor ihnen zwischen Bäumen ins Finstere weiter lief. Rechts und links von ihnen lagen in der Tiefe die Auen; sie sahen wie in Abgründe hinein.

Nach langem Schweigen sagte Franz plötzlich: »Also das letztemal ...«

»Was?« fragte Emma in besorgtem Ton.

»– Daß wir zusammen sind. Bleib bei ihm. Ich sag dir adieu.«

»Sprichst du im Ernst?«

»Vollkommen.«

»Siehst du, daß du es bist, der uns immer die paar Stunden verdirbt, die wir haben; nicht ich!«

»Ja, ja, du hast recht,« sagte Franz. »Komm, fahren wir zurück.«

Sie nahm seinen Arm fester. »Nein,« sagte sie zärtlich, »jetzt will ich nicht. Ich laß mich nicht so fortschicken.«

Sie zog ihn zu sich herab und küßte ihn lang. »Wohin kämen wir,« fragte sie dann, »wenn wir hier immer weiter führen?«

»Da geht’s direkt nach Prag, mein Kind.«

»So weit nicht,« sagte sie lächelnd, »aber noch ein bißchen weiter da hinaus, wenn du willst.« Sie wies ins Dunkle.

»He, Kutscher!« rief Franz. Der hörte nichts.

Franz schrie: »Halten Sie doch!«

Der Wagen fuhr immer weiter. Franz lief ihm nach. Jetzt sah er, daß der Kutscher schlief. Durch heftiges Anschreien weckte ihn Franz auf. »Wir fahren noch ein kleines Stück weiter – die gerade Straße – verstehen Sie mich?«

»Is’ schon gut, gnä’ Herr ...«

Emma stieg ein; nach ihr Franz. Der Kutscher hieb mit der Peitsche drein; wie rasend flogen die Pferde über die aufgeweichte Straße hin. Aber die beiden im Wagen hielten einander fest umarmt, während der Wagen sie hin und her warf.

»Ist das nicht auch ganz schön,« flüsterte Emma ganz nahe an seinem Munde.

In diesem Augenblick war ihr, als flöge der Wagen plötzlich in die Höhe – sie fühlte sich fortgeschleudert, wollte sich an etwas klammern, griff ins Leere; es schien ihr, als drehe sie sich mit rasender Geschwindigkeit im Kreise herum, so daß sie die Augen schließen mußte – und plötzlich fühlte sie sich auf dem Boden liegen, und eine ungeheure schwere Stille brach herein, als wenn sie fern von aller Welt und völlig einsam wäre. Dann hörte sie verschiedenes durcheinander: Geräusch von Pferdehufen, die ganz in ihrer Nähe auf den Boden schlugen, ein leises Wimmern; aber sehen konnte sie nichts. Jetzt faßte sie eine tolle Angst; sie schrie; ihre Angst ward noch größer, denn sie hörte ihr Schreien nicht. Sie wußte plötzlich ganz genau, was geschehen war: der Wagen war an irgend etwas gestoßen, wohl an einen der Meilensteine, hatte umgeworfen, und sie waren herausgestürzt. Wo ist er? war ihr nächster Gedanke. Sie rief seinen Namen. Und sie hörte sich rufen, ganz leise zwar, aber sie hörte sich. Es kam keine Antwort. Sie versuchte, sich zu erheben. Es gelang ihr so weit, daß sie auf den Boden zu sitzen kam, und als sie mit den Händen ausgriff, fühlte sie einen menschlichen Körper neben sich. Und nun konnte sie auch die Dunkelheit mit ihrem Auge durchdringen. Franz lag neben ihr, völlig regungslos. Sie berührte mit der ausgestreckten Hand sein Gesicht; sie fühlte etwas Feuchtes und Warmes darüber fließen. Ihr Atem stockte. Blut ...? Was war da geschehen? Franz war verwundet und bewußtlos. Und der Kutscher – wo war er denn? Sie rief nach ihm. Keine Antwort. Noch immer saß sie auf dem Boden. Mir ist nichts geschehen, dachte sie, obwohl sie Schmerzen in allen Gliedern fühlte. Was tu ich nur, was tu ich nur ... es ist doch nicht möglich, daß mir gar nichts geschehen ist. »Franz!« rief sie. Eine Stimme antwortete ganz in der Nähe: »Wo sind S’ denn, gnä’ Fräul’n, wo ist der gnä’ Herr? Es ist doch nix g’schehn? Warten S’, Fräulein, – i zünd nur die Latern an, daß wir was sehn; i weiß net, was die Krampen heut hab’n. Ich bin net Schuld, meiner Seel ... in ein Schoderhaufen sein s’ hinein, die verflixten Rösser.«

Emma hatte sich, trotzdem ihr alle Glieder weh taten, vollkommen aufgerichtet, und daß dem Kutscher nichts geschehen war, machte sie ein wenig ruhiger. Sie hörte, wie der Mann die Laternenklappe öffnete und Streichhölzchen anrieb. Angstvoll wartete sie auf das Licht. Sie wagte es nicht, Franz noch einmal zu berühren, der vor ihr auf dem Boden lag; sie dachte: wenn man nichts sieht, scheint alles furchtbarer; er hat gewiß die Augen offen ... es wird nichts sein.

Ein Lichtschimmer kam von der Seite. Sie sah plötzlich den Wagen, der aber zu ihrer Verwunderung nicht auf dem Boden lag, sondern nur schief gegen den Straßengraben zu gestellt war, als wäre ein Rad gebrochen. Die Pferde standen vollkommen still. Das Licht näherte sich; sie sah den Schein allmählich über einen Meilenstein, über den Schotterhaufen in den Graben gleiten; dann kroch er auf die Füße Franzens, glitt über seinen Körper, beleuchtete sein Gesicht und blieb darauf ruhen. Der Kutscher hatte die Laterne auf den Boden gestellt; gerade neben den Kopf des Liegenden. Emma ließ sich auf die Knie nieder, und es war ihr, als hörte ihr Herz zu schlagen auf, wie sie das Gesicht erblickte. Es war blaß; die Augen halb offen, so daß sie nur das Weiße von ihnen sah. Von der rechten Schläfe rieselte langsam ein Streifen Blut über die Wange und verlor sich unter dem Kragen am Halse. In die Unterlippe waren die Zähne gebissen. »Es ist ja nicht möglich!« sagte Emma vor sich hin.

Auch der Kutscher war niedergekniet und starrte das Gesicht an. Dann packte er mit beiden Händen den Kopf und hob ihn in die Höhe. »Was machen Sie?« schrie Emma mit erstickter Stimme und erschrak vor diesem Kopf, der sich selbständig aufzurichten schien.

»Gnä’ Fräul’n, mir scheint, da ist ein großes Malheur geschehn.«

»Es ist nicht wahr,« sagte Emma. »Es kann nicht sein. Ist denn Ihnen was geschehen? Und mir ...«

Der Kutscher ließ den Kopf des Regungslosen wieder langsam sinken; – in den Schoß Emmas, die zitterte. »Wenn nur wer käm ... wenn nur die Bauersleut eine Viertelstund’ später daherkommen wären ...«

»Was sollen wir denn machen?« sagte Emma mit bebenden Lippen.

»Ja, Fräul’n, wenn der Wagen net brochen wär ... aber so, wie er jetzt zug’richt ist ... Wir müssen halt warten, bis wer kommt.« Er redete noch weiter, ohne daß Emma seine Worte auffaßte; aber während dem war es ihr, als käme sie zur Besinnung, und sie wußte, was zu tun war.

»Wie weit ist’s bis zu den nächsten Häusern?« fragte sie.

»Das ist nimmer weit, Fräul’n, da ist ja gleich das Franz Josefsland ... Wir müßten die Häuser sehen, wenn’s licht wär, in fünf Minuten müßte man dort sein.«

»Gehen Sie hin. Ich bleibe da, holen Sie Leute.«

»Ja, Fräul’n, ich glaub schier, es ist g’scheiter, ich bleib mit Ihnen da – es kann ja nicht so lang dauern, bis wer kommt, es ist ja schließlich die Reichsstraße, und –«

»Da wird’s zu spät, da kann’s zu spät werden. Wir brauchen einen Doktor.«

Der Kutscher sah auf das Gesicht des Regungslosen, dann schaute er kopfschüttelnd Emma an.

»Das können Sie nicht wissen,« – rief Emma, »und ich auch nicht.«

»Ja, Fräul’n ... aber wo find’ i denn ein’ Doktor im Franz Josefsland?«

»So soll von dort jemand in die Stadt und –«

»Fräul’n, wissen’s was! I denk mir, die werden dort vielleicht ein Telephon haben. Da könnten wir um die Rettungsgesellschaft telephonieren.«

»Ja, das ist das beste! Gehen Sie nur, laufen Sie, um Himmels willen! Und Leute bringen Sie mit ... Und ... bitt’ Sie, gehen Sie nur, was tun Sie denn noch da?«

Der Kutscher schaute in das blasse Gesicht, das nun auf Emmas Schoß ruhte. »Rettungsgesellschaft, Doktor, wird nimmer viel nützen.«

»Gehen Sie! Um Gottes willen! Gehen Sie!«

»I geh schon – daß S’ nur nicht Angst kriegen, Fräul’n, da in der Finstern.« Und er eilte rasch über die Straße fort. »I kann nix dafür, meiner Seel,« murmelte er vor sich hin. »Ist auch eine Idee, mitten in der Nacht auf die Reichsstraßen ...«

Emma war mit dem Regungslosen allein auf der dunklen Straße. »Was jetzt?« dachte sie. Es ist doch nicht möglich ... das ging ihr immer wieder durch den Kopf ... es ist ja nicht möglich. – Es war ihr plötzlich, als hörte sie neben sich atmen. Sie beugte sich herab zu den blassen Lippen. Nein, von da kam kein Hauch. Das Blut an Schläfe und Wangen schien getrocknet zu sein. Sie starrte die Augen an; die gebrochenen Augen, und bebte zusammen. Ja warum glaube ich es denn nicht – es ist ja gewiß ... das ist der Tod! Und es durchschauerte sie. Sie fühlte nur mehr: ein Toter. Ich und ein Toter, der Tote auf meinem Schoß. Und mit zitternden Händen rückte sie den Kopf weg, so daß er wieder auf den Boden zu liegen kam. Und jetzt erst kam ein Gefühl entsetzlicher Verlassenheit über sie. Warum hatte sie den Kutscher weggeschickt? Was für ein Unsinn! Was soll sie denn da auf der Landstraße mit dem toten Manne allein anfangen? Wenn Leute kommen ... Ja, was soll sie denn tun, wenn Leute kommen? Wie lang wird sie hier warten müssen? Und sie sah wieder den Toten an. Ich bin nicht allein mit ihm, fiel ihr ein. Das Licht ist ja da. Und es kam ihr vor, als wäre dieses Licht etwas Liebes und Freundliches, dem sie danken müßte. Es war mehr Leben in dieser kleinen Flamme, als in der ganzen weiten Nacht um sie; ja, es war ihr fast, als sei ihr dieses Licht ein Schutz gegen den blassen fürchterlichen Mann, der neben ihr auf dem Boden lag ... Und sie sah in das Licht so lang, bis ihr die Augen flimmerten, bis es zu tanzen begann. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wenn sie erwachte. Sie sprang auf! Das geht ja nicht, das ist ja unmöglich, man darf mich doch nicht hier mit ihm finden ... Es war ihr, als sähe sie sich jetzt selbst auf der Straße stehen, zu ihren Füßen den Toten und das Licht; und sie sah sich, als ragte sie in sonderbarer Größe in die Dunkelheit hinein. Worauf wart ich, dachte sie, und ihre Gedanken jagten ... Worauf wart ich? Auf die Leute? – Was brauchen mich denn die? Die Leute werden kommen und fragen ... und ich ... was tu ich denn hier? Alle werden fragen, wer ich bin. Was soll ich ihnen antworten? Nichts. Kein Wort werd ich reden, wenn sie kommen, schweigen werd ich. Kein Wort ... sie können mich ja nicht zwingen.

Stimmen kamen von weitem.

Schon? dachte sie. Sie lauschte angstvoll. Die Stimmen kamen von der Brücke her. Das konnten also nicht die Leute sein, die der Kutscher geholt hatte. Aber wer immer sie waren – jedenfalls werden sie das Licht bemerken – und das durfte nicht sein, dann war sie entdeckt.

Und sie stieß mit dem Fuß die Laterne um. Die verlöschte. Nun stand sie in tiefer Finsternis. Nichts sah sie. Auch ihn sah sie nicht mehr. Nur der weiße Schotterhaufen glänzte ein wenig. Die Stimmen kamen näher. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Nur hier nicht entdeckt werden. Um Himmels willen, das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das und auf gar nichts anderes kommt es an – sie ist ja verloren, wenn ein Mensch erfährt, daß sie die Geliebte von ... Sie faltet die Hände krampfhaft. Sie betet, daß die Leute auf der anderen Seite der Straße vorübergehen mögen, ohne sie zu bemerken. Sie lauscht. Ja von drüben ... Was reden sie doch?... Es sind zwei Frauen oder drei. Sie haben den Wagen bemerkt, denn sie reden etwas davon, sie kann Wörter unterscheiden. Ein Wagen ... umgefallen ... was sagen sie sonst? Sie kann es nicht verstehen. Sie gehen weiter ... sie sind vorüber ... Gott sei Dank! Und jetzt, was jetzt? O, warum ist sie nicht tot wie er? Er ist zu beneiden, für ihn ist alles vorüber ... für ihn gibt es keine Gefahr mehr und keine Furcht. Sie aber zittert vor vielem. Sie fürchtet, daß man sie hier finden, daß man sie fragen wird: wer sind Sie?... Daß sie mit auf die Polizei muß, daß alle Menschen es erfahren werden, daß ihr Mann – daß ihr Kind –

Und sie begreift nicht, daß sie so lange schon dagestanden ist wie angewurzelt ... Sie kann ja fort, sie nützt ja keinem hier, und sich selbst bringt sie ins Unglück. Und sie macht einen Schritt ... Vorsichtig ... sie muß durch den Straßengraben ... hinüber ... einen Schritt hinauf – o, er ist so seicht! – und noch zwei Schritte, bis sie in der Mitte der Straße ist ... und dann steht sie einen Augenblick still, sieht vor sich hin und kann den grauen Weg ins Dunkle hinein verfolgen. Dort – dort ist die Stadt. Sie kann nichts von ihr sehen ... aber die Richtung ist ihr klar. Noch einmal wendet sie sich um. Es ist ja gar nicht so dunkel. Sie kann den Wagen ganz gut sehn; auch die Pferde ... und wenn sie sich sehr anstrengt, merkt sie auch etwas wie die Umrisse eines menschlichen Körpers, der auf dem Boden liegt. Sie reißt die Augen weit auf, es ist ihr, als hielte sie etwas hier zurück ... der Tote ist es, der sie hier behalten will, und es graut sie vor seiner Macht ... Aber gewaltsam macht sie sich frei, und jetzt merkt sie: der Boden ist zu feucht; sie steht auf der glitschigen Straße, und der nasse Staub hat sie nicht fortgelassen. Nun aber geht sie ... geht rascher ... läuft ... und fort von da ... zurück ... in das Licht, in den Lärm, zu den Menschen! Die Straße läuft sie entlang, hält das Kleid hoch, um nicht zu fallen. Der Wind ist ihr im Rücken, es ist, als wenn er sie vorwärts triebe. Sie weiß nicht mehr recht, wovor sie flieht. Es ist ihr, als ob sie vor dem bleichen Manne fliehen müßte, der dort, weit hinter ihr, neben dem Straßengraben liegt ... dann fällt ihr ein, daß sie ja den Lebendigen entkommen will, die gleich dort sein und sie suchen werden. Was werden die denken? Wird man ihr nicht nach? Aber man kann sie nicht mehr einholen, sie ist ja gleich bei der Brücke, sie hat einen großen Vorsprung, und dann ist die Gefahr vorbei. Man kann ja nicht ahnen, wer sie ist, keine Seele kann ahnen, wer die Frau war, die mit jenem Mann über die Reichsstraße gefahren ist. Der Kutscher kennt sie nicht, er wird sie auch nicht erkennen, wenn er sie später einmal sieht. Man wird sich auch nicht darum kümmern, wer sie war. Wen geht es an? – Es ist sehr klug, daß sie nicht dort geblieben ist, es ist auch nicht gemein. Franz selbst hätte ihr recht gegeben. Sie muß ja nach Haus, sie hat ein Kind, sie hat einen Mann, sie wäre ja verloren, wenn man sie dort bei ihrem toten Geliebten gefunden hätte. Da ist die Brücke, die Straße scheint heller ... ja schon hört sie das Wasser rauschen wie früher; sie ist da, wo sie mit ihm Arm in Arm gegangen – wann – wann? Vor wieviel Stunden? Es kann noch nicht lange sein. Nicht lang? Vielleicht doch! Vielleicht war sie lange bewußtlos, vielleicht ist es längst Mitternacht, vielleicht ist der Morgen schon nahe, und sie wird daheim schon vermißt. Nein, nein, das ist ja nicht möglich, sie weiß, daß sie gar nicht bewußtlos war; sie erinnert sich jetzt genauer als im ersten Augenblick, wie sie aus dem Wagen gestürzt und gleich über alles im klaren gewesen ist. Sie läuft über die Brücke und hört ihre Schritte hallen. Sie sieht nicht nach rechts und links. Jetzt bemerkt sie, wie eine Gestalt ihr entgegenkommt. Sie mäßigt ihre Schritte. Wer kann das sein, der ihr entgegenkommt? Es ist jemand in Uniform. Sie geht ganz langsam. Sie darf nicht auffallen. Sie glaubt zu merken, daß der Mann den Blick fest auf sie gerichtet hält. Wenn er sie fragt? Sie ist neben ihm, erkennt die Uniform; es ist ein Sicherheitswachmann; sie geht an ihm vorüber. Sie hört, daß er hinter ihr stehen geblieben ist. Mit Mühe hält sie sich davon zurück, wieder zu laufen; es wäre verdächtig. Sie geht noch immer so langsam wie früher. Sie hört das Geklingel der Pferdeeisenbahn. Es kann noch lang nicht Mitternacht sein. Jetzt geht sie wieder schneller; sie eilt der Stadt entgegen, deren Lichter sie schon unter dem Eisenbahnviadukt am Ausgang der Straße entgegenschimmern sieht, deren gedämpften Lärm sie schon zu vernehmen glaubt. Noch diese einsame Straße, und dann ist die Erlösung da. Jetzt hört sie von weitem schrille Pfiffe, immer schriller, immer näher; ein Wagen saust an ihr vorüber. Unwillkürlich bleibt sie stehen und sieht ihm nach. Es ist der Wagen der Rettungsgesellschaft. Sie weiß, wohin er fährt. Wie schnell! denkt sie ... Es ist wie Zauberei. Einen Moment lang ist ihr, als müßte sie den Leuten nachrufen, als müßte sie mit, als müßte sie wieder dahin zurück, woher sie gekommen – einen Moment lang packt sie eine ungeheure Scham, wie sie sie nie empfunden; und sie weiß, daß sie feig und schlecht gewesen ist. Aber wie sie das Rollen und Pfeifen immer ferner verklingen hört, kommt eine wilde Freude über sie, und wie eine Gerettete eilt sie vorwärts. Leute kommen ihr entgegen; sie hat keine Angst mehr vor ihnen – das Schwerste ist überstanden. Der Lärm der Stadt wird deutlich, immer lichter wird es vor ihr; schon sieht sie die Häuserzeile der Praterstraße, und es ist ihr, als werde sie dort von einer Flut von Menschen erwartet, in der sie spurlos verschwinden darf. Wie sie jetzt zu einer Straßenlaterne kommt, hat sie schon die Ruhe, auf ihre Uhr zu sehen. Es ist zehn Minuten vor neun. Sie hält die Uhr ans Ohr – sie ist nicht stehen geblieben. Und sie denkt: ich bin lebendig, gesund ... sogar meine Uhr geht ... und er ... er ... tot ... Schicksal ... Es ist ihr, als wäre ihr alles verziehen ... als wäre nie irgendeine Schuld auf ihrer Seite gewesen. Es hat sich erwiesen, ja es hat sich erwiesen. Sie hört, wie sie diese Worte laut spricht. Und wenn es das Schicksal anders bestimmt hätte? – Und wenn sie jetzt dort im Graben läge und er am Leben geblieben wäre? Er wäre nicht geflohen, nein ... er nicht. Nun ja, er ist ein Mann. Sie ist ein Weib – und sie hat ein Kind und einen Gatten. – Sie hat recht gehabt, – es ist ihre Pflicht – ja ihre Pflicht. Sie weiß ganz gut, daß sie nicht aus Pflichtgefühl so gehandelt ... Aber sie hat doch das Rechte getan. Unwillkürlich ... wie ... gute Menschen immer. Jetzt wäre sie schon entdeckt. Jetzt würden die Ärzte sie fragen. Und Ihr Mann, gnädige Frau? O Gott!... Und die Zeitungen morgen – und die Familie – sie wäre für alle Zeit vernichtet gewesen und hätte ihn doch nicht zum Leben erwecken können. Ja, das war die Hauptsache; für nichts hätte sie sich zugrunde gerichtet. – Sie ist unter der Eisenbahnbrücke. – Weiter ... weiter ... Hier ist die Tegethoffsäule, wo die vielen Straßen ineinander laufen. Es sind heute, an dem regnerischen, windigen Herbstabend wenig Leute mehr im Freien, aber ihr ist es, als brause das Leben der Stadt mächtig um sie, denn woher sie kommt, dort war die fürchterlichste Stille. Sie hat Zeit. Sie weiß, daß ihr Mann heute erst gegen zehn nach Hause kommen wird. – sie kann sich sogar noch umkleiden. Jetzt fällt es ihr ein, ihr Kleid zu betrachten. Mit Schrecken merkt sie, daß es über und über beschmutzt ist. Was wird sie dem Stubenmädchen sagen? Es fährt ihr durch den Kopf, daß morgen die Geschichte von dem Unglücksfall in allen Zeitungen zu lesen sein wird. Auch von einer Frau, die mit im Wagen war, und die dann nicht mehr zu finden war, wird überall zu lesen stehen, und bei diesem Gedanken bebt sie von neuem – eine Unvorsichtigkeit, und all ihre Feigheit war umsonst. Aber sie hat den Wohnungsschlüssel bei sich; sie kann ja selbst aufsperren; – sie wird sich nicht hören lassen. Sie steigt rasch in einen Fiaker. Schon will sie ihm ihre Adresse angeben, da fällt ihr ein, daß das vielleicht unklug wäre, und sie ruft ihm irgendeinen Straßennamen zu, der ihr eben einfällt. Wie sie durch die Praterstraße fährt, möchte sie gern irgend etwas empfinden, aber sie kann es nicht; sie fühlt, daß sie nur einen Wunsch hat: zu Hause, in Sicherheit sein. Alles andere ist ihr gleichgültig. Im Augenblick, da sie sich entschlossen hat, den Toten allein auf der Straße liegen zu lassen, hat alles in ihr verstummen müssen, was um ihn klagen und jammern wollte. Sie kann jetzt nichts mehr empfinden als Sorge um sich. Sie ist ja nicht herzlos ... o nein!... sie weiß ganz gewiß, es werden Tage kommen, wo sie verzweifeln wird; vielleicht wird sie daran zugrunde gehen; aber jetzt ist nichts in ihr als die Sehnsucht, mit trockenen Augen und ruhig zu Hause am selben Tisch mit ihrem Gatten und ihrem Kinde zu sitzen. Sie sieht durchs Fenster hinaus. Der Wagen fährt durch die innere Stadt; hier ist es hell erleuchtet, und ziemlich viele Menschen eilen vorbei. Da ist ihr plötzlich, als könne alles, was sie in den letzten Stunden durchlebt, gar nicht wahr sein. Wie ein böser Traum erscheint es ihr ... unfaßbar als Wirkliches, Unabänderliches. In einer Seitengasse nach dem Ring läßt sie den Wagen halten, steigt aus, biegt rasch um die Ecke und nimmt dort einen andern Wagen, dem sie ihre richtige Adresse angibt. Es kommt ihr vor, als wäre sie jetzt überhaupt nicht mehr fähig, einen Gedanken zu fassen. Wo ist er jetzt, fährt es ihr durch den Sinn. Sie schließt die Augen, und sie sieht ihn vor sich auf einer Bahre liegen, im Krankenwagen – und plötzlich ist ihr, als sitze sie neben ihm und fahre mit ihm. Und der Wagen beginnt zu schwanken, und sie hat Angst, daß sie herausgeschleudert werde, wie damals – und sie schreit auf. Da hält der Wagen. Sie fährt zusammen; sie ist vor ihrem Haustor. – Rasch steigt sie aus, eilt durch den Flur, mit leisen Schritten, so daß der Portier hinter seinem Fenster gar nicht aufschaut, die Treppen hinauf, sperrt leise die Tür auf, um nicht gehört zu werden ... durchs Vorzimmer in ihr Zimmer – es ist gelungen! Sie macht Licht, wirft eilig ihre Kleider ab und verbirgt sie wohl im Schrank. Über Nacht sollen sie trocknen – morgen will sie sie selber bürsten und reinigen. Dann wäscht sie sich Gesicht und Hände und nimmt einen Schlafrock um.

Jetzt klingelt es draußen. Sie hört das Stubenmädchen an die Wohnungstür kommen und öffnen. Sie hört die Stimme ihres Mannes; sie hört, wie er den Stock hinstellt. Sie fühlt, daß sie jetzt stark sein müsse, sonst kann noch immer alles vergeblich gewesen sein. Sie eilt ins Speisezimmer, so daß sie im selben Augenblick eintritt wie ihr Gatte.

»Ah, du bist schon zu Haus?« sagt er.

»Gewiß,« antwortet sie, »schon lang.«

»Man hat dich offenbar nicht kommen gesehn.« Sie lächelt, ohne sich dazu zwingen zu müssen. Es macht sie nur sehr müde, daß sie auch lächeln muß. Er küßt sie auf die Stirn.

Der Kleine sitzt schon bei Tisch; er hat lang warten müssen, ist eingeschlafen. Auf dem Teller hat er sein Buch liegen, auf dem offenen Buch ruht sein Gesicht. Sie setzt sich neben ihn, der Gatte ihr gegenüber, nimmt eine Zeitung und wirft einen flüchtigen Blick hinein. Dann legt er sie weg und sagt: »Die anderen sitzen noch zusammen und beraten weiter.«

»Worüber?« fragt sie.

Und er beginnt zu erzählen, von der heutigen Sitzung, sehr lang, sehr viel. Emma tut, als höre sie zu, nickt zuweilen.

Aber sie hört nichts, sie weiß nicht, was er spricht, es ist ihr zumute wie einem, der furchtbaren Gefahren auf wunderbare Weise entronnen ... sie fühlt nichts als: Ich bin gerettet, ich bin daheim. Und während ihr Mann immer weiter erzählt, rückt sie ihren Sessel näher zu ihrem Jungen, nimmt seinen Kopf und drückt ihn an ihre Brust. Eine unsägliche Müdigkeit überkommt sie – sie kann sich nicht beherrschen, sie fühlt, daß der Schlummer über sie kommt; sie schließt die Augen.

Plötzlich fährt ihr eine Möglichkeit durch den Sinn, an die sie seit dem Augenblick, da sie sich aus dem Graben erhoben hat, nicht mehr gedacht. Wenn er nicht tot wäre! Wenn er ... Ach nein, es war kein Zweifel möglich ... Diese Augen ... dieser Mund – und dann ... kein Hauch von seinen Lippen. – Aber es gibt ja den Scheintod. Es gibt Fälle, wo sich geübte Blicke irren. Und sie hat gewiß keinen geübten Blick. Wenn er lebt, wenn er schon wieder zu Bewußtsein gekommen ist, wenn er sich plötzlich mitten in der Nacht auf der Landstraße allein gefunden ... wenn er nach ihr ruft ... ihren Namen ... wenn er am Ende fürchtet, sie sei verletzt ... wenn er den Ärzten sagt, hier war eine Frau, sie muß weiter weggeschleudert worden sein. Und ... und ... ja, was dann? Man wird sie suchen. Der Kutscher wird zurückkommen vom Franz Josefsland mit Leuten ... er wird erzählen ... die Frau war ja da, wie ich fortgegangen bin – und Franz wird ahnen. Franz wird wissen ... er kennt sie ja so gut ... er wird wissen, daß sie davongelaufen ist, und ein gräßlicher Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen nennen, um sich zu rächen. Denn er ist ja verloren ... und es wird ihn so tief erschüttern, daß sie ihn in seiner letzten Stunde allein gelassen, daß er rücksichtslos sagen wird: Es war Frau Emma, meine Geliebte ... feig und dumm zugleich, denn nicht wahr, meine Herren Ärzte, Sie hätten sie gewiß nicht um ihren Namen gefragt, wenn man Sie um Diskretion ersucht hätte. Sie hätten sie ruhig gehen lassen, und ich auch, o ja – nur hätte sie dableiben müssen, bis Sie gekommen sind. Aber da sie so schlecht gewesen ist, sag ich Ihnen, wer sie ist ... es ist ... Ah!

»Was hast du?« sagt der Professor sehr ernst, indem er aufsteht.

»Was ... wie?... Was ist?«

»Ja, was ist dir denn?«

»Nichts.« Sie drückt den Jungen fester an sich.

Der Professor sieht sie lang an. »Weißt du, daß du begonnen hast, einzuschlummern und –«

»Und?«

»Dann hast du plötzlich aufgeschrien.«

»... So?«

»Wie man im Traum schreit, wenn man Alpdrücken hat. Hast du geträumt?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts.«

Und sich selbst gegenüber im Wandspiegel sieht sie ein Gesicht, das lächelt, grausam, und mit verzerrten Zügen. Sie weiß, daß es ihr eigenes ist, und doch schaudert ihr davor ... Und sie merkt, daß es starr wird, sie kann den Mund nicht bewegen, sie weiß es: dieses Lächeln wird, solange sie lebt, um ihre Lippen spielen. Und sie versucht zu schreien. Da fühlt sie, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legen, und sie sieht, wie sich zwischen ihr eigenes Gesicht und das im Spiegel das Antlitz ihres Gatten drängt; seine Augen, fragend und drohend, senken sich in die ihren. Sie weiß: übersteht sie diese letzte Prüfung nicht, so ist alles verloren. Und sie fühlt, wie sie wieder stark wird, sie hat ihre Züge, ihre Glieder in der Gewalt; sie kann in diesem Augenblick mit ihnen anfangen, was sie will; aber sie muß ihn benützen, sonst ist es vorbei, und sie greift mit ihren beiden Händen nach denen ihres Gatten, die noch auf ihren Schultern liegen, zieht ihn zu sich; sieht ihn heiter und zärtlich an.

Und während sie die Lippen ihres Mannes auf ihrer Stirn fühlt, denkt sie: freilich ... ein böser Traum. Er wird es niemandem sagen, wird sich nie rächen, nie ... er ist tot ... er ist ganz gewiß tot ... und die Toten schweigen.

»Warum sagst du das?« hört sie plötzlich die Stimme ihres Mannes. Sie erschrickt tief. »Was hab ich denn gesagt?« Und es ist ihr, als habe sie plötzlich alles ganz laut erzählt ... als habe sie die ganze Geschichte dieses Abends hier bei Tisch mitgeteilt ... und noch einmal fragt sie, während sie vor seinem entsetzten Blick zusammenbricht: »Was hab ich denn gesagt?«

»Die Toten schweigen,« wiederholt ihr Mann sehr langsam.

»Ja ...« sagt sie, »ja ...«

Und in seinen Augen liest sie, daß sie ihm nichts mehr verbergen kann, und lange sehn die beiden einander an. »Bring den Buben zu Bett,« sagt er dann zu ihr; »ich glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen ...«

»Ja,« sagt sie.

Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird.

Und während sie mit ihrem Jungen langsam durch die Tür schreitet, immer die Augen ihres Gatten auf sich gerichtet fühlend, kommt eine große Ruhe über sie, als würde vieles wieder gut ................


Die Weissagung

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Unweit von Bozen, auf einer mäßigen Höhe, im Walde wie versunken und von der Landstraße aus kaum sichtbar, liegt die kleine Besitzung des Freiherrn von Schottenegg. Ein Freund, der seit zehn Jahren als Arzt in Meran lebt und dem ich im Herbste dort wieder begegnete, hatte mich mit dem Freiherrn bekannt gemacht. Dieser war damals fünfzig Jahre alt und dilettierte in mancherlei Künsten. Er komponierte ein wenig, war tüchtig auf Violine und Klavier, auch zeichnete er nicht übel. Am ernstesten aber hatte er in früherer Zeit die Schauspielerei getrieben. Wie es hieß, war er als ganz junger Mensch unter angenommenem Namen ein paar Jahre lang auf kleinen Bühnen draußen im Reiche umhergezogen. Ob nun der dauernde Widerstand des Vaters, unzureichende Begabung oder mangelndes Glück der Anlaß war, jedenfalls hatte der Freiherr diese Laufbahn früh genug aufgegeben, um noch ohne erhebliche Verspätung in den Staatsdienst treten zu können und damit dem Beruf seiner Vorfahren zu folgen, den er dann auch zwei Jahrzehnte hindurch treu, wenn auch ohne Begeisterung erfüllte. Aber als er, kaum über vierzig Jahre alt, gleich nach dem Tode des Vaters, das Amt verließ, sollte sich erst zeigen, mit welcher Liebe er an dem Gegenstand seiner jugendlichen Träume noch immer hing. Er ließ die Villa auf dem Abhang des Guntschnaberges instand setzen und versammelte dort, insbesondere zur Sommers- und Herbstzeit, einen allmählich immer größer werdenden Kreis von Herren und Damen, die allerlei leicht zu agierende Schauspiele oder lebende Bilder vorführten. Seine Frau, aus einer alten Tiroler Bürgerfamilie, ohne wirkliche Anteilnahme an künstlerischen Dingen, aber klug und ihrem Gatten mit kameradschaftlicher Zärtlichkeit zugetan, sah seiner Liebhaberei mit einigem Spotte zu, der sich aber um so gutmütiger anließ, als das Interesse des Freiherrn ihren eigenen geselligen Neigungen entgegenkam. Die Gesellschaft, die man im Schlosse antraf, mochte strengen Beurteilern nicht gewählt genug erscheinen, aber auch Gäste, die sonst nach Geburt und Erziehung zu Standesvorurteilen geneigt waren, nahmen keinerlei Anstoß an der zwanglosen Zusammensetzung eines Kreises, die durch die dort geübte Kunst genügend gerechtfertigt schien und von dem überdies der Name und Ruf des freiherrlichen Paares jeden Verdacht freierer Sitten durchaus fernhielt. Unter manchen anderen, deren ich mich nicht mehr entsinne, begegnete ich auf dem Schlosse einem jungen Grafen von der Innsbrucker Bezirkshauptmannschaft, einem Jägeroffizier aus Riva, einem Generalstabshauptmann mit Frau und Tochter, einer Operettensängerin aus Berlin, einem Bozener Likörfabrikanten mit zwei Söhnen, dem Baron Meudolt, der damals eben von seiner Weltreise zurückgekommen war, einem pensionierten Hofschauspieler aus Bückeburg, einer verwitweten Gräfin Saima, die als junges Mädchen Schauspielerin gewesen war, mit ihrer Tochter, und dem dänischen Maler Petersen.

Im Schlosse selbst wohnten nur die wenigsten Gäste. Einige nahmen in Bozen Quartier, andere in einem bescheidenen Gasthof, der unten an der Wegscheide lag, wo eine schmälere Straße nach dem Gute abzweigte. Aber meist in den ersten Nachmittagsstunden war der ganze Kreis oben versammelt, und dann wurden, manchmal unter der Leitung des ehemaligen Hofschauspielers, zuweilen unter der des Freiherrn, der selbst niemals mitwirkte, bis in die späten Abendstunden Proben abgehalten, anfangs unter Scherzen und Lachen, allmählich aber mit immer größerem Ernste, bis der Tag der Vorstellung herannahte, und je nach Witterung, Laune, Vorbereitung, möglichst mit Rücksicht auf den Schauplatz der Handlung, entweder auf dem an den Wald grenzenden Wiesenplatz hinter dem Schloßgärtchen oder in dem ebenerdigen Saal mit den drei großen Bogenfenstern die Aufführung stattfand.

Als ich das erstemal den Freiherrn besuchte, hatte ich keinen anderen Vorsatz, als an einem neuen Ort unter neuen Menschen einen heiteren Tag zu verbringen. Aber wie das so kommt, wenn man ohne Ziel und in vollkommener Freiheit umherstreift, und überdies bei allmählich schwindender Jugend keinerlei Beziehungen bestehen, die lebhafter in die Heimat zurückrufen, ließ ich mich vom Freiherrn zu längerem Bleiben bereden. Aus dem einen Tag wurden zwei, drei und mehr, und so, zu meiner eignen Verwunderung wohnte ich bis tief in den Herbst oben auf dem Schlößchen, wo mir in einem kleinen Turm ein sehr wohnlich ausgestattetes Zimmer mit dem Blick ins Tal eingeräumt war. Dieser erste Aufenthalt auf dem Guntschnaberg wird für mich stets eine angenehme und, trotz aller Lustigkeit und alles Lärms um mich herum, sehr stille Erinnerung bleiben, da ich mit keinem der Gäste anders als flüchtig verkehrte und überdies einen großen Teil meiner Zeit, zu Nachdenken und Arbeit gleichermaßen angeregt, auf einsamen Waldspaziergängen verbrachte. Auch der Umstand, daß der Freiherr aus Höflichkeit einmal eines meiner kleinen Stücke darstellen ließ, störte die Ruhe meines Aufenthaltes nicht, da niemand von meiner Eigenschaft als Verfasser Notiz nahm. Vielmehr bedeutete mir dieser Abend ein höchst anmutiges Erlebnis, da mit dieser Aufführung auf grünem Rasen, unter freiem Himmel ein bescheidener Traum meiner Jugendjahre so spät als unerwartet in Erfüllung ging.

Die lebhafte Bewegung im Schlosse ließ allmählich nach, der Urlaub der Herren, die in einem Berufe standen, war großenteils abgelaufen, und nur manchmal kam Besuch von Freunden, die in der Nähe ansässig waren. Erst jetzt gewann ich selbst zu dem Freiherrn ein näheres Verhältnis und fand bei ihm zu einiger Überraschung mehr Selbstbescheidung, als sie Dilettanten sonst eigen zu sein pflegt. Er täuschte sich keineswegs darüber, daß das, was auf seinem Schlosse getrieben wurde, nichts anderes war, als eine höhere Art von Gesellschaftsspiel. Aber da es ihm im Gange seines Lebens versagt geblieben war, in eine dauernde und ernsthafte Beziehung zu seiner geliebten Kunst zu treten, so ließ er sich an dem Schimmer genügen, der wie aus entlegenen Fernen über das harmlose Theaterwesen im Schlosse geglänzt kam, und freute sich überdies, daß hier von mancher Erbärmlichkeit, die das Berufliche doch überall mit sich bringt, kein Hauch zu spüren war.

Auf einem unserer Spaziergänge sprach er ohne jede Zudringlichkeit den Einfall aus, einmal auf seiner Bühne im Freien ein Stück dargestellt zu sehen, das schon in Hinblick auf den unbegrenzten Raum und auf die natürliche Umgebung geschaffen wäre. Diese Bemerkung kam einem Plan, den ich seit einiger Zeit in mir trug, so ungezwungen entgegen, daß ich dem Freiherrn versprach, seinen Wunsch zu erfüllen.

Bald darauf verließ ich das Schloß.

In den ersten Tagen des nächsten Frühlings schon sandte ich mit freundlichen Worten der Erinnerung an die schönen Tage des vergangenen Herbstes dem Freiherrn ein Stück, wie es den Forderungen der Gelegenheit wohl entsprechen mochte. Bald darauf traf die Antwort ein, die den Dank des Freiherrn und eine herzliche Einladung für den kommenden Herbst enthielt. Ich verbrachte den Sommer im Gebirge, und in den ersten Septembertagen bei einbrechender kühler Witterung reiste ich an den Gardasee, ohne daran zu denken, daß ich nun dem Schlosse des Freiherrn von Schottenegg recht nahe war. Ja mir ist heute, als hätte ich zu dieser Zeit das kleine Schloß und alles dortige Treiben völlig vergessen gehabt. Da erhielt ich am 8. September aus Wien ein Schreiben des Freiherrn nachgesandt. Dieses sprach ein gelindes Erstaunen aus, daß ich nichts von mir hören ließe, und enthielt die Mitteilung, daß am 9. September die Aufführung des kleinen Stückes stattfände, das ich ihm im Frühling übersandt hatte und bei der ich keineswegs fehlen dürfte. Besonderes Vergnügen versprach mir der Freiherr von den Kindern, die in dem Stück beschäftigt waren und die es sich jetzt schon nicht nehmen ließen, auch außerhalb der Probezeit in ihren zierlichen Kostümen umherzulaufen und auf dem Rasen zu spielen. Die Hauptrolle – so schrieb er weiter – sei nach einer Reihe von Zufälligkeiten an seinen Neffen, Herrn Franz von Umprecht, übergegangen, der – wie ich mich gewiß noch erinnere – im vorigen Jahre nur zweimal in lebenden Bildern mitgewirkt habe, der aber nun auch als Schauspieler ein überraschendes Talent erweise.

Ich reiste ab, war abends in Bozen und kam am Tage der Vorstellung im Schlosse an, wo mich der Freiherr und seine Frau freundlich empfingen. Auch andere Bekannte hatte ich zu begrüßen: den pensionierten Hofschauspieler, die Gräfin Saima mit Tochter, Herrn von Umprecht und seine schöne Frau; sowie die vierzehnjährige Tochter des Försters, die zu meinem Stücke den Prolog sprechen sollte. Für den Nachmittag wurde große Gesellschaft erwartet und abends bei der Vorstellung sollten mehr als hundert Zuschauer anwesend sein, nicht nur persönliche Gäste des Freiherrn, sondern auch Leute aus der Gegend ringsum, denen heute, wie schon öfter, der Zugang zu dem Bühnenplatz freistand. Überdies war diesmal auch ein kleines Orchester engagiert, aus Berufsmusikern einer Bozener Kapelle und einigen Dilettanten bestehend, die eine Ouvertüre von Weber und überdies eine Zwischenaktsmusik exekutieren sollten, welch letztere der Freiherr selbst komponiert hatte.

Man war bei Tisch sehr heiter, nur Herr von Umprecht schien mir etwas stiller als die anderen. Anfangs hatte ich mich seiner kaum entsinnen können, und es fiel mir auf, daß er mich sehr oft, manchmal mit Sympathie, dann wieder etwas scheu ansah, ohne je das Wort an mich zu richten. Allmählich wurde mir der Ausdruck seines Gesichtes bekannter, und plötzlich erinnerte ich mich, daß er voriges Jahr in einem der lebenden Bilder mit aufgestützten Armen in Mönchstracht vor einem Schachbrett gesessen war. Ich fragte ihn, ob ich mich nicht irrte. Er wurde beinahe verlegen, als ich ihn ansprach; der Freiherr antwortete für ihn und machte dann eine lächelnde Bemerkung über das neuentdeckte schauspielerische Talent seines Neffen. Da lachte Herr von Umprecht in einer ziemlich sonderbaren Weise vor sich hin, dann warf er rasch einen Blick zu mir herüber, der eine Art von Einverständnis zwischen uns beiden auszudrücken schien und den ich mir durchaus nicht erklären konnte. Aber von diesem Augenblick an vermied er es wieder, mich anzusehen.

2

Bald nach Tisch hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen. Da stand ich wieder am offenen Fenster, wie ich so oft im vorigen Jahre getan, und freute mich des anmutigen Blickes hinunter in das sonnenglänzende Tal, das, eng zu meinen Füßen, allmählich sich dehnte und in der Ferne sich völlig aufschloß, um Stadt und Fluren in sich aufzunehmen.

Nach einer kurzen Weile klopfte es. Herr von Umprecht trat ein, blieb an der Tür stehen und sagte mit einiger Befangenheit: »Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie störe.« Dann trat er näher und fuhr fort: »Aber sobald Sie mir eine Viertelstunde Gehör geschenkt haben, davon bin ich überzeugt, werden Sie meinen Besuch für genügend entschuldigt halten.«

Ich lud Herrn von Umprecht zum Sitzen ein, er achtete nicht darauf, sondern fuhr mit Lebhaftigkeit fort: »Ich bin nämlich in der seltsamsten Art Ihr Schuldner geworden und fühle mich verpflichtet, Ihnen zu danken.«

Da mir natürlich nichts anderes beifallen konnte, als daß sich diese Worte des Herrn von Umprecht auf seine Rolle bezögen und sie mir allzuhöflich schienen, so versuchte ich abzuwehren. Doch Umprecht unterbrach mich sofort: »Sie können nicht wissen, wie meine Worte gemeint sind. Darf ich Sie bitten, mich anzuhören?« Er setzte sich auf das Fensterbrett, kreuzte die Beine, und, mit offenbarer Absichtlichkeit so ruhig als möglich scheinend, begann er: »Ich bin jetzt Gutsbesitzer, wie Sie vielleicht wissen, bin aber früher Offizier gewesen. Und zu jener Zeit, vor zehn Jahren – heute vor zehn Jahren – begegnete mir das unbegreifliche Abenteuer, unter dessen Schatten ich gewissermaßen bis heute gelebt habe und das heute durch Sie ohne Ihr Wissen und Zutun seinen Abschluß findet. Zwischen uns beiden besteht nämlich ein dämonischer Zusammenhang, den Sie wahrscheinlich so wenig werden aufklären können wie ich; aber Sie sollen wenigstens von seinem Vorhandensein erfahren. – Mein Regiment lag damals in einem öden polnischen Nest. An Zerstreuungen gab es außer dem Dienst, der nicht immer anstrengend genug war, nur Trunk und Spiel. Überdies hatte man die Möglichkeit vor Augen, jahrelang hier festsitzen zu müssen, und nicht alle von uns verstanden es, ein Leben in dieser trostlosen Aussicht mit Fassung zu tragen. Einer meiner besten Freunde hat sich im dritten Monat unseres dortigen Aufenthalts erschossen. Ein anderer Kamerad, früher der liebenswürdigste Offizier, fing plötzlich an, ein arger Trinker zu werden, wurde unmanierlich, aufbrausend, nahezu unzurechnungsfähig und hatte irgendeinen Auftritt mit einem Advokaten, der ihn seine Charge kostete. Der Hauptmann meiner Kompanie war verheiratet und, ich weiß nicht, ob mit oder ohne Grund, so eifersüchtig, daß er seine Frau eines Tages zum Fenster hinunterwarf. Sie blieb rätselhafterweise heil und gesund; der Mann starb im Irrenhause. Einer unserer Kadetten, bis dahin ein sehr lieber, aber ausnehmend dummer Junge, bildete sich plötzlich ein, Philosophie zu verstehen, studierte Kant und Hegel und lernte ganze Partien aus deren Werken auswendig, wie Kinder die Fibel. Was mich anbelangt, so tat ich nichts als mich langweilen, und zwar in einer so ungeheuerlichen Weise, daß ich an manchen Nachmittagen, wenn ich auf meinem Bette lag, fürchtete, verrückt zu werden. Unsere Kaserne lag außerhalb des Dorfes, das aus höchstens dreißig verstreuten Hütten bestand; die nächste Stadt, eine gute Reitstunde entfernt, war schmierig, widerwärtig, stinkend und voll von Juden. Notgedrungen hatten wir manchmal mit ihnen zu tun – der Hotelier war ein Jude, der Cafetier, der Schuster desgleichen. Daß wir uns möglichst beleidigend gegen sie benahmen, das können Sie sich denken. Wir waren besonders gereizt gegen dieses Volk, weil ein Prinz, der unserem Regiment als Major zugeteilt war, den Gruß der Juden – ob nun aus Scherz oder aus Vorliebe, weiß ich nicht – mit ausgesuchter Höflichkeit erwiderte und überdies mit auffallender Absichtlichkeit unseren Regimentsarzt protegierte, der ganz offenbar von Juden abstammte. Das würde ich Ihnen natürlich nicht erzählen, wenn nicht gerade diese Laune des Prinzen mich mit demjenigen Menschen zusammengeführt hätte, der in so geheimnisvoller Weise die Verbindung zwischen Ihnen und mir herzustellen berufen war. Es war ein Taschenspieler, und zwar der Sohn eines Branntweinjuden aus dem benachbarten polnischen Städtchen. Er war als junger Bursche in ein Geschäft nach Lemberg, dann nach Wien gekommen und hatte einmal irgend jemandem einige Kartenkunststücke abgelernt. Er bildete sich auf eigene Faust weiter aus, eignete sich allerlei andere Taschenspielereien an und brachte es allmählich so weit, daß er in der Welt umherziehen und sich auf Varietébühnen oder in Vereinen mit Erfolg produzieren konnte. Im Sommer kam er immer in seine Vaterstadt, um die Eltern zu besuchen. Dort trat er nie öffentlich auf, und so sah ich ihn zuerst auf der Straße, wo er mir durch seine Erscheinung augenblicklich auffiel. Er war ein kleiner, magerer, bartloser Mensch, der damals etwa dreißig Jahre alt sein mochte, mit einer vollkommen lächerlichen Eleganz gekleidet, die zur Jahreszeit gar nicht paßte: er spazierte in einem schwarzen Gehrock und mit gebügeltem Zylinder herum und trug Westen vom herrlichsten Brokat; bei starkem Sonnenschein hatte er einen dunklen Zwicker auf der Nase.

Einmal saßen wir unser fünfzehn oder sechzehn nach dem Abendessen im Kasino an unserem langen Tisch wie gewöhnlich. Es war eine schwüle Nacht, und die Fenster standen offen. Einige Kameraden hatten zu spielen begonnen, andere lehnten am Fenster und plauderten, wieder andere tranken und rauchten schweigend. Da trat der Korporal vom Tage ein und meldete die Ankunft des Taschenspielers. Wir waren zuerst einigermaßen erstaunt. Aber ohne weiteres abzuwarten, trat der Gemeldete in guter Haltung ein und sprach in leichtem Jargon einige einleitende Worte, mit denen er sich für die an ihn ergangene Einladung bedankte. Er wandte sich dabei an den Prinzen, der auf ihn zutrat und ihm – natürlich ausschließlich, um uns zu ärgern – die Hand schüttelte. Der Taschenspieler nahm das wie selbstverständlich hin und bemerkte dann, er werde zuerst einige Kartenkunststücke zeigen, um sich hierauf im Magnetismus und in der Chiromantie zu produzieren. Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als einige unserer Herren, die in einer Ecke beim Kartenspiel saßen, merkten, daß ihnen die Figuren fehlten: auf einen Wink des Zauberers kamen sie aber durch das geöffnete Fenster hereingeflogen. Auch die Kunststücke, die er folgen ließ, unterhielten uns sehr und übertrafen so ziemlich alles, was ich auf diesem Gebiete gesehen hatte. Noch sonderbarer erschienen mir die magnetischen Experimente, die er dann vollführte. Nicht ohne Grauen sahen wir alle zu, wie der philosophische Kadett, in Schlaf versetzt, den Befehlen des Zauberers gehorchend, zuerst durchs offene Fenster sprang, die glatte Mauer bis zum Dach hinaufkletterte, oben knapp am Rand um das ganze Viereck herumeilte und sich dann in den Hof hinabgleiten ließ. Als er wieder unten stand, noch immer im schlafenden Zustand, sagte der Oberst zu dem Zauberer: »Sie, wenn er sich den Hals gebrochen hätte, ich versichere Sie, Sie wären nicht lebendig aus der Kaserne gekommen.« Nie werde ich den Blick voll Verachtung vergessen, mit dem der Jude diese Bemerkung wortlos erwiderte. Dann sagte er langsam: »Soll ich Ihnen aus der Hand lesen, Herr Oberst, wann Sie tot oder lebendig diese Kaserne verlassen werden?« Ich weiß nicht, was der Oberst oder wir anderen ihm auf diese verwegene Bemerkung sonst entgegnet hätten – aber die allgemeine Stimmung war schon so wirr und erregt, daß sich keiner wunderte, als der Oberst dem Taschenspieler die Hand hinreichte und, dessen Jargon nachahmend, sagte: »Nu, lesen Sie.« Dies alles ging im Hof vor sich, und der Kadett stand noch immer schlafend mit ausgestreckten Armen wie ein Gekreuzigter an der Wand. Der Zauberer hatte die Hand des Obersten ergriffen und studierte aufmerksam die Linien. »Siehst du genug, Jud?« fragte ein Oberleutnant, der ziemlich betrunken war. Der Gefragte sah sich flüchtig um und sagte ernst: »Mein Künstlername ist Marco Polo.« Der Prinz legte dem Juden die Hand auf die Schulter und sagte: »Mein Freund Marco Polo hat scharfe Augen.« – »Nun, was sehen Sie?« fragte der Oberst höflicher. »Muß ich reden?« fragte Marco Polo. »Wir können Sie nicht zwingen,« sagte der Prinz. »Reden Sie!« rief der Oberst. »Ich möcht lieber nicht reden,« erwiderte Marco Polo. Der Oberst lachte laut. »Nur heraus, es wird nicht so arg sein. Und wenn es arg ist, muß es auch noch nicht wahr sein.« – »Es ist sehr arg,« sagte der Zauberer, »und wahr ist es auch.« Alle schwiegen. »Nun?« fragte der Oberst. »Von Kälte werden Sie nichts mehr zu leiden haben,« erwiderte Marco Polo. »Wie?« rief der Oberst aus, »kommt unser Regiment also endlich nach Riva?« – »Vom Regiment les’ ich nichts, Herr Oberst. Ich seh nur, daß sie im Herbst sein werden ein toter Mann.« Der Oberst lachte, aber alle anderen schwiegen; ich versichere Sie, uns allen war, als ob der Oberst in diesem Augenblick gezeichnet worden wäre. Plötzlich lachte irgendeiner absichtlich sehr laut, andere taten ihm nach, und lärmend und lustig ging es zurück ins Kasino. »Nun,« rief der Oberst, »mit mir wär’s in Ordnung. Ist keiner von den anderen Herren neugierig?« Einer rief wie zum Scherz: »Nein, wir wünschen nichts zu erfahren.« Ein anderer fand plötzlich, daß man gegen diese Art, sich das Schicksal vorhersagen zu lassen, aus religiösen Gründen eingenommen sein müßte, und ein junger Leutnant erklärte heftig, man sollte Leute wie Marco Polo auf Lebenszeit einsperren. Den Prinzen sah ich mit einem unserer älteren Herren rauchend in einer Ecke stehen und hörte ihn sagen: »Wo fängt das Wunder an?« Indessen trat ich zu Marco Polo hin, der sich eben zum Fortgehen bereitete, und sagte zu ihm, ohne daß es jemand hörte. »Prophezeien Sie mir.« Er griff wie mechanisch nach meiner Hand. Dann sagte er: »Hier sieht man schlecht.« Ich merkte, daß die Öllampen zu flackern begonnen hatten und daß die Linien meiner Hand zu zittern schienen. »Kommen Sie hinaus, Herr Leutnant, in den Hof. Mir is lieber bei Mondschein.« Er hielt mich an der Hand, und ich folgte ihm durch die offene Tür ins Freie.

Mir kam plötzlich ein sonderbarer Gedanke. »Hören Sie, Marco Polo,« sagte ich, »wenn Sie nichts anderes können als das, was Sie eben an unserem Herrn Oberst gezeigt haben, dann lassen wir’s lieber.« Ohne weiteres ließ der Zauberer meine Hand los und lächelte. »Der Herr Leutnant haben Angst.« Ich wandte mich rasch um, ob uns niemand gehört hätte; aber wir waren schon durch das Kasernentor geschritten und befanden uns auf der Landstraße, die der Stadt zuführte. »Ich wünsche etwas Bestimmteres zu wissen,« sagte ich, »das ist es. Worte lassen sich immer in verschiedener Weise auslegen.« Marco Polo sah mich an. »Was wünschen der Herr Leutnant?... Vielleicht das Bild von der künftigen Frau Gemahlin?« – »Könnten Sie das?« Marco Polo zuckte die Achseln. »Es könnte sein ... es wär möglich ...« – »Aber das will ich nicht,« unterbrach ich ihn. »Ich möchte wissen, was später einmal, zum Beispiel in zehn Jahren, mit mir los sein wird.« Marco Polo schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen ... aber was anderes kann ich vielleicht.« – »Was?« – »Irgendeinen Augenblick, Herr Leutnant, aus Ihrem künftigen Leben könnte ich Ihnen zeigen wie ein Bild.« Ich verstand ihn nicht gleich. »Wie meinen Sie das?« – »So mein ich das: ich kann einen Moment aus Ihrem künftigen Leben hineinzaubern in die Welt, mitten in die Gegend, wo wir gerade stehen.« – »Wie?« – »Der Herr Leutnant müssen mir nur sagen, was für einen.« Ich begriff ihn nicht ganz, aber ich war höchst gespannt. »Gut,« sagte ich, »wenn Sie das können, so will ich sehen, was heut in zehn Jahren in derselben Sekunde mit mir geschehen wird ... Verstehen Sie mich, Marco Polo?« – »Gewiß, Herr Leutnant,« sagte Marco Polo und sah mich starr an. Und schon war er fort ... aber auch die Kaserne war fort, die ich eben noch im Mondschein hatte glänzen sehen – fort die armen Hütten, die in der Ebene verstreut und mondbeglänzt gelegen waren – und ich sah mich selbst, wie man sich manchmal im Traume selber sieht ... sah mich um zehn Jahre gealtert, mit einem braunen Vollbart, eine Narbe auf der Stirn, auf einer Bahre hingestreckt, mitten auf einer Wiese – an meiner Seite kniend eine schöne Frau mit rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben und ein Mädchen neben mir, dunklen Wald im Hintergrund und zwei Jagdleute mit Fackeln in der Nähe ... Sie staunen – nicht wahr, Sie staunen?«

Ich staunte in der Tat, denn das, was er mir hier schilderte, war genau das Bild, mit welchem mein Stück heute abend um zehn Uhr schließen und in dem er den sterbenden Helden spielen sollte. »Sie zweifeln,« fuhr Herr von Umprecht fort, »und ich bin fern davon, es Ihnen übel zu nehmen. Aber mit Ihrem Zweifel soll es gleich ein Ende haben.«

Herr von Umprecht griff in seine Rocktasche und zog ein verschlossenes Kuwert heraus. »Bitte, sehen Sie, was auf der Rückseite steht.« Ich las laut: »Notariell verschlossen am 14. Januar 1859, zu eröffnen am 9. September 1868.« Darunter stand die Namenszeichnung des mir persönlich wohlbekannten Notars Doktor Artiner in Wien.

»Das ist heute,« sagte Herr von Umprecht. »Und heute sind es eben zehn Jahre, daß mir das rätselhafte Abenteuer mit Marco Polo begegnete, das sich nun auf diese Weise löst, ohne sich aufzuklären. Denn von Jahr zu Jahr, als triebe ein launisches Schicksal sein Spiel mit mir, schwankten die Erfüllungsmöglichkeiten für jene Prophezeiung in der seltsamsten Weise, schienen manchmal zu drohender Wahrscheinlichkeit zu werden, verschwanden in nichts, wurden zu unerbittlicher Gewißheit, verflatterten, kamen wieder ... Aber lassen Sie mich nun zu meinem Berichte zurückkommen. Die Erscheinung selbst hatte gewiß nicht länger gedauert als einen Augenblick; denn noch klang von der Kaserne her das gleiche laute Auflachen des Oberleutnants an mein Ohr, das ich gehört hatte, ehe die Erscheinung aufgestiegen war. Und nun stand auch Marco Polo wieder vor mir, mit einem Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht sagen kann, ob es schmerzlich oder höhnisch sein sollte, nahm den Zylinder ab, sagte: »Guten Abend, Herr Leutnant, ich hoffe, Sie sind zufrieden gewesen,« wandte sich um und ging langsam auf der Landstraße vorwärts in der Richtung der Stadt. Er ist übrigens am nächsten Tage abgereist.

Mein erster Gedanke, als ich der Kaserne wieder zuging, war, daß es sich um eine Geistererscheinung gehandelt haben mußte, die Marco Polo, vielleicht von einem unbekannten Gehilfen unterstützt, mittels irgendwelcher Spiegelungen hervorzubringen imstande gewesen war. Als ich durch den Hof kam, sah ich zu meinem Entsetzen den Kadetten noch immer in der Stellung eines Gekreuzigten an der Mauer lehnen. Man hatte seiner offenbar vollkommen vergessen. Die anderen hörte ich drin in der höchsten Erregung reden und streiten. Ich packte den Kadetten beim Arm, er wachte sofort auf, war nicht im geringsten verwundert und konnte sich nur die Erregung nicht erklären, in welcher sich alle Herren des Regiments befanden. Ich selbst mischte mich gleich mit einer Art von Grimm in die aufgeregte, aber hohle Unterhaltung, die sich über die Seltsamkeiten, deren Zeugen wir gewesen, entwickelt hatte, und redete wohl nicht klüger als die anderen. Plötzlich schrie der Oberst: »Nun, meine Herren, ich wette, daß ich noch das nächste Frühjahr erlebe! Fünfundvierzig zu eins!« Und er wandte sich zu einem unserer Herren, einem Oberleutnant, der eines gewissen Rufes als Spieler und Wetter genoß. »Nichts zu machen?« Obzwar es klar war, daß der Angeredete der Versuchung schwer widerstand, so schien er es doch unziemlich zu finden, eine Wette auf den Tod seines Obersten mit diesem selbst abzuschließen, und so schwieg er lächelnd. Wahrscheinlich hat er es bedauert. Denn schon nach vierzehn Tagen, am zweiten Morgen der großen Kaisermanöver, stürzte unser Oberst vom Pferde und blieb auf der Stelle tot. Und bei dieser Gelegenheit merkten wir alle, daß wir es gar nicht anders erwartet hatten. Ich aber begann erst von jetzt an mit einer gewissen Unruhe an die nächtliche Prophezeiung zu denken, von der ich in einer sonderbaren Scheu niemandem Mitteilung gemacht hatte. Erst zu Weihnachten, anläßlich einer Urlaubsreise nach Wien, eröffnete ich mich einem Kameraden, einem gewissen Friedrich von Gulant – Sie haben vielleicht von ihm gehört, er hat hübsche Verse gemacht und ist sehr jung gestorben ... Nun, der war es, der mit mir zusammen das Schema entwarf, das Sie in diesem Umschlag eingeschlossen finden werden. Er war nämlich der Ansicht, daß solche Vorfälle für die Wissenschaft nicht verloren gehen dürften, ob sich nun am Ende ihre Voraussetzungen als wahr oder falsch herausstellten. Mit ihm bin ich bei Doktor Artiner gewesen, vor dessen Augen das Schema in diesem Kuwert verschlossen wurde. In der Kanzlei des Notars war es bisher aufbewahrt, und gestern erst ist es, meinem Wunsche gemäß, mir zugestellt worden. Ich will es gestehen: der Ernst, mit dem Gulant die Sache behandelte, hatte mich anfangs ein wenig verstimmt; aber als ich ihn nicht mehr sah und besonders, als er kurz darauf starb, fing die ganze Geschichte an, mir sehr lächerlich vorzukommen. Vor allem war es mir klar, daß ich mein Schicksal vollkommen in der Hand hatte. Nichts in der Welt konnte mich dazu zwingen, am 9. September 1868, abends zehn Uhr, mit einem braunen Vollbart auf einer Bahre zu liegen; Wald- und Wiesenlandschaft konnte ich vermeiden, auch brauchte ich nicht eine Frau mit roten Haaren zu heiraten und Kinder zu bekommen. Das einzige, dem ich vielleicht nicht ausweichen konnte, war ein Unfall, etwa ein Duell, von dem mir die Narbe auf der Stirn zurückbleiben konnte. Ich war also fürs erste beruhigt. – Ein Jahr nach jener Weissagung heiratete ich Fräulein von Heimsal, meine jetzige Gattin; bald darauf quittierte ich den Dienst und widmete mich der Landwirtschaft. Ich besichtigte verschiedene kleinere Güter und – so komisch es klingen mag – ich achtete darauf, daß sich womöglich innerhalb dieser Besitzungen keine Partie zeigte, die dem Rasenplatz jenes Traumes (wie ich den Inhalt jener Erscheinung bei mir zu nennen liebte) gleichen könnte. Ich war schon daran, einen Kauf abzuschließen, als meine Frau eine Erbschaft machte, und uns dadurch eine Besitzung in Kärnten mit einer schönen Jagd zufiel. Beim ersten Durchwandern des neuen Gebietes gelangte ich zu einer Wiesenpartie, die, von Wald begrenzt und leicht gesenkt, mir in eigentümlicher Art der Örtlichkeit zu gleichen schien, vor der mich zu hüten ich vielleicht allen Anlaß hatte. Ich erschrak ein wenig. Meiner Frau hatte ich von der Prophezeiung nichts erzählt; sie ist so abergläubisch, daß ich ihr mit meinem Geständnis gewiß das ganze Leben bis zum heutigen Tage« – er lächelte wie befreit – »vergiftet hätte. So konnte ich ihr natürlich auch meine Bedenken nicht mitteilen. Aber mich selbst beruhigte ich mit der Überlegung, daß ich ja keineswegs den September 1868 auf meinem Gute zubringen müßte. – Im Jahre 1860 wurde mir ein Knabe geboren. Schon in seinen ersten Lebensjahren glaubte ich, in seinen Zügen Ähnlichkeit mit den Zügen des Knaben aus dem Traume zu entdecken; bald schien sie sich zu verwischen, bald wieder sprach sie sich deutlicher aus – und heute darf ich mir ja selbst gestehen, daß der Knabe, der heute abends um zehn an meiner Bahre stehen wird, dem Knaben der Erscheinung aufs Haar gleicht. – Eine Tochter habe ich nicht. Da ereignete es sich vor drei Jahren, daß die verwitwete Schwester meiner Frau, die bisher in Amerika gelebt hatte, starb und ein Töchterchen hinterließ. Auf Bitten meiner Frau fuhr ich über das Meer, holte das Mädchen ab, um es bei uns im Hause aufzunehmen. Als ich es zum erstenmal erblickte, glaubte ich zu merken, daß es dem Mädchen aus dem Traume vollkommen gliche. Der Gedanke fuhr mir durch den Kopf, das Kind in dem fremden Lande bei fremden Leuten zu lassen. Natürlich wies ich diesen unedlen Einfall gleich wieder von mir, und wir nahmen das Kind in unserem Hause auf. Wieder beruhigte ich mich vollkommen, trotz der zunehmenden Ähnlichkeit der Kinder mit den Kindern jener prophetischen Erscheinung, denn ich bildete mir ein, daß die Erinnerung an die Kindergesichter des Traumes mich doch vielleicht trügen mochte. Mein Leben floß eine Zeitlang in vollkommener Ruhe hin. Ja ich hatte beinahe aufgehört, an jenen sonderbaren Abend in dem polnischen Nest zu denken, als ich vor zwei Jahren durch eine neue Warnung des Schicksals in begreiflicher Weise erschüttert wurde. Ich hatte auf ein paar Monate verreisen müssen; als ich zurückkam, trat mir meine Frau mit roten Haaren entgegen, und ihre Ähnlichkeit mit der Frau des Traumes, deren Antlitz ich ja nicht gesehen hatte, schien mir vollständig. Ich fand es für gut, meinen Schrecken unter dem Ausdruck des Zornes zu verbergen; ja ich wurde mit Absicht immer heftiger, denn plötzlich kam mir ein an Wahnsinn grenzender Einfall: wenn ich mich von meiner Frau und den Kindern trennte, so müßte ja all die Gefahr schwinden, und ich hätte das Schicksal zum Narren gehalten. Meine Frau weinte, sank wie gebrochen zu Boden, bat mich um Verzeihung und erklärte mir den Grund ihrer Veränderung. Vor einem Jahre, anläßlich einer Reise nach München, war ich in der Kunstausstellung von dem Bildnis einer rothaarigen Frau besonders entzückt gewesen, und meine Frau hatte schon damals den Plan gefaßt, sich bei irgendeiner Gelegenheit diesem Bildnis dadurch ähnlich zu machen, daß sie sich die Haare färben ließ. Ich beschwor sie natürlich, ihrem Haar möglichst bald die natürliche dunkle Farbe wieder zu verleihen, und als es geschehen war, schien alles wieder gut zu sein. Sah ich nicht deutlich, daß ich mein Schicksal nach wie vor in meiner Gewalt hatte?... War nicht alles, was bisher geschehen, auf natürliche Weise zu erklären?... Hatten nicht tausend andere Güter mit Wiesen und Wald und Frau und Kinder?... Und das einzige, was vielleicht Abergläubische schrecken durfte, stand noch aus – bis zum heurigen Winter: die Narbe, die Sie nun doch auf meiner Stirne prangen sehen. Ich bin nicht mutlos – erlauben Sie mir, daß ich Ihnen das sage; ich habe mich als Offizier zweimal geschlagen und unter recht gefährlichen Bedingungen – auch vor acht Jahren, kurz nach meiner Verheiratung, als ich schon den Dienst verlassen hatte. Aber als ich im vorigen Jahre aus irgendeinem lächerlichen Grund – wegen eines nicht ganz höflichen Grußes – von einem Herrn zur Rede gestellt wurde, habe ich es vorgezogen« – Herr von Umprecht errötete leicht – »mich zu entschuldigen. Die Sache wurde natürlich in ganz korrekter Weise erledigt, aber ich weiß ja doch ganz bestimmt, daß ich mich auch damals geschlagen hätte, wäre nicht plötzlich eine wahnwitzige Angst über mich gekommen, daß mein Gegner mir eine Wunde an der Stirne beibringen und dem Schicksal damit einen neuen Trumpf in die Hand spielen könnte ... Aber Sie sehen, es half mir nichts: die Narbe ist da. Und der Augenblick, in dem ich hier verwundet wurde, war vielleicht derjenige innerhalb der ganzen zehn Jahre, der mich am tiefsten zum Bewußtsein meiner Wehrlosigkeit brachte. Es war heuer im Winter gegen Abend; ich fuhr mit zwei oder drei anderen Personen, die mir vollkommen unbekannt waren, in der Eisenbahn zwischen Klagenfurt und Villach. Plötzlich klirren die Fensterscheiben, und ich fühle einen Schmerz an der Stirn; zugleich höre ich, daß etwas Hartes zu Boden fällt; ich greife zuerst nach der schmerzenden Stelle – sie blutet; dann bücke ich mich rasch und hebe einen spitzen Stein vom Fußboden auf. Die Leute im Kupee sind aufgefahren. »Ist was geschehen?« ruft einer. Man merkt, daß ich blute, und bemüht sich um mich. Ein Herr aber – ich seh es ganz deutlich – ist in die Ecke wie zurückgesunken. In der nächsten Haltestelle bringt man Wasser, der Bahnarzt legt mir einen notdürftigen Verband an, aber ich fürchte natürlich nicht, daß ich an der Wunde sterben könnte: ich weiß ja, daß es eine Narbe werden muß. Ein Gespräch im Waggon hat sich entsponnen, man fragt sich, ob ein Attentat beabsichtigt war, ob es sich um einen gemeinen Bubenstreich handle; der Herr in der Ecke schweigt und starrt vor sich hin. In Villach steige ich aus. Plötzlich ist der Mann an meiner Seite und sagt: »Es galt mir.« Eh ich antworten, ja nur mich besinnen kann, ist er verschwunden; ich habe nie erfahren können, wer es war. Ein Verfolgungswahnsinniger vielleicht ... vielleicht auch einer, der sich mit Recht verfolgt glaubte von einem beleidigten Gatten oder Bruder, und den ich möglicherweise gerettet habe, da eben mir die Narbe bestimmt war ... wer kann es wissen?... Nach ein paar Wochen leuchtete sie auf meiner Stirn an derselben Stelle, wo ich sie in jenem Traume gesehen hatte. Und mir ward es immer klarer, daß ich mit irgendeiner unbekannten höhnischen Macht in einem ungleichen Kampf begriffen war, und ich sah dem Tag, wo das letzte in Erfüllung gehen sollte, mit wachsender Unruhe entgegen.

Im Frühling erhielten wir die Einladung meines Onkels. Ich war fest entschlossen, ihr nicht zu folgen, denn ohne daß mir ein deutliches Bild in Erinnerung gekommen wäre, schien es mir doch möglich, daß gerade auf seinem Gut hier die verruchte Stelle zu finden wäre. Meine Frau hätte aber eine Ablehnung nicht verstanden, und so entschloß ich mich doch, mit ihr und den Kindern schon Anfang Juli herzureisen, in der bestimmten Absicht, sobald als möglich das Schloß wieder zu verlassen und weiter in den Süden, nach Venedig oder an den Lido, zu gehen. An einem der ersten Tage unseres Aufenthaltes kam das Gespräch auf Ihr Stück, mein Onkel sprach von den kleinen Kinderrollen, die darin enthalten wären, und bat mich, meine Kleinen mitspielen zu lassen. Ich hatte nichts dagegen. Es war damals bestimmt, daß der Held von einem Berufsschauspieler dargestellt werden sollte. Nach einigen Tagen packte mich die Angst, daß ich gefährlich erkranken und nicht würde abreisen können. So erklärte ich denn eines Abends, daß ich am nächsten Tage das Schloß auf einige Zeit zu verlassen und Seebäder zu nehmen gedächte. Ich mußte versprechen, Anfang September wieder zurück zu sein. Am selben Abend kam ein Brief des Schauspielers, der aus irgendwelchen gleichgültigen Gründen dem Freiherrn seine Rolle zurückstellte. Mein Onkel war sehr ärgerlich. Er bat mich, das Stück zu lesen – vielleicht könnte ich ihm unter unseren Bekannten einen nennen, der geeignet wäre, die Rolle darzustellen. So nahm ich denn das Stück auf mein Zimmer mit und las es. Nun versuchen Sie sich vorzustellen, was in mir vorging, als ich zu dem Schlusse kam und hier Wort für Wort die Situation aufgezeichnet fand, die mir für den 9. September dieses Jahres prophezeit worden war. Ich konnte den Morgen nicht erwarten, um meinem Onkel zu sagen, daß ich die Rolle spielen wollte. Ich fürchtete, daß er Einwendungen machen könnte; denn seit ich das Stück gelesen, kam ich mir vor wie in sicherer Hut, und wenn mir die Möglichkeit entging, in Ihrem Stück zu spielen, so war ich wieder jener unbekannten Macht preisgegeben. Mein Onkel war gleich einverstanden, und von nun an nahm alles seinen einfachen und guten Gang. Wir probieren seit einigen Wochen Tag für Tag, ich habe die Situation, die mir heute bevorsteht, schon fünfzehn- oder zwanzigmal durchgemacht: ich liege auf der Bahre, die junge Komtesse Saima mit ihren schönen roten Haaren, die Hände vor dem Antlitz, kniet vor mir, und die Kinder stehen an meiner Seite.«

Während Herr von Umprecht diese Worte sprach, fielen meine Augen wieder auf das Kuwert, das noch immer versiegelt auf dem Tische lag. Herr von Umprecht lächelte. »Wahrhaftig, den Beweis bin ich Ihnen noch schuldig,« sagte er und öffnete die Siegel. Ein zusammengefaltetes Papier lag zutage. Umprecht entfaltete es und breitete es auf dem Tische aus. Vor mir lag ein vollkommener, wie von mir selbst entworfener Situationsplan zu der Schlußszene des Stückes, Hintergrund und Seiten waren schematisch aufgezeichnet und mit der Bezeichnung »Wald« versehen; ein Strich mit einer männlichen Figur war etwa in der Mitte des Planes eingetragen, darüber stand: »Bahre« ... Bei den anderen schematischen Figuren stand in kleinen Buchstaben mit roter Tinte zugeschrieben: »Frau mit rotem Haar«, »Knabe«, »Mädchen«, »Fackelträger«, »Mann mit erhobenen Händen«. Ich wandte mich zu Herrn von Umprecht: »Was bedeutet das: ›Mann mit erhobenen Händen?‹«

»Daran,« sagte Herr von Umprecht zögernd, »hätt ich nun beinahe vergessen. Mit dieser Figur verhält es sich folgendermaßen: In jener Erscheinung gab es nämlich auch, von den Fackeln grell beleuchtet, einen alten, ganz kahlen Mann, glatt rasiert, mit einer Brille, einen dunkelgrünen Schal um den Hals, mit erhobenen Händen und weit aufgerissenen Augen.«

Diesmal stutzte ich.

Wir schwiegen eine Weile, dann fragte ich, seltsam beunruhigt: »Was vermuten Sie eigentlich? Wer sollte das sein?«

»Ich nehme an,« sagte Umprecht ruhig, »daß irgendeiner von den Zuschauern, vielleicht aus der Dienerschaft des Onkels ... oder einer von den Bauern am Schluß des Stückes in besondere Bewegung geraten und auf unsere Bühne stürzen könnte ... vielleicht aber will es das Schicksal, daß ein aus dem Irrenhause Entsprungener durch einen jener Zufälle, die mich wirklich nicht mehr überraschen, gerade in dem Augenblick, wo ich auf der Bahre liege, über die Bühne gerannt käme.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wie sagten Sie?... Kahl – Brille – ein grüner Schal?... – Nun erscheint mir die Sache noch seltsamer als früher. Die Gestalt des Mannes, den Sie damals gesehen, ist tatsächlich von mir in meinem Stück beabsichtigt gewesen, und ich habe darauf verzichtet. Es war der wahnsinnige Vater der Frau, von dem im ersten Akt die Rede ist, und der zum Schluß auf die Szene stürmen sollte.«

»Aber Schal und Brille?«

»Das hätte wohl der Schauspieler aus Eigenem getan – glauben Sie nicht?«

»Es ist möglich.«

Wir wurden unterbrochen. Frau von Umprecht ließ ihren Gatten zu sich bitten, da sie ihn gerne vor der Vorstellung sprechen möchte, und er empfahl sich. Ich blieb noch eine Weile und betrachtete aufmerksam den Situationsplan, den Herr von Umprecht auf dem Tisch hatte liegen lassen.

3

Bald trieb es mich zu dem Orte hin, an dem die Vorstellung stattfinden sollte. Er lag hinter dem Schlößchen, durch eine anmutige Gartenanlage davon geschieden. Dort, wo diese mit niederen Hecken abschloß, waren etwa zehn lange Bankreihen aus einfachem Holz aufgestellt; die vorderen Reihen waren mit dunkelrotem Teppichstoff bedeckt. Vor der ersten standen einige Notenpulte und Stühle; einen Vorhang gab es nicht. Die Trennung der Bühne von dem Zuschauerraum war durch zwei seitlich ragende hohe Tannenbäume angedeutet; rechts schloß sich wildes Gesträuch an, hinter dem ein bequemer Lehnstuhl, dem Zuschauer unsichtbar, für den Souffleur bestimmt, stand. Zur Linken lag der Platz frei und ließ den Blick ins Tal offen. Der Hintergrund der Szene war von hohen Bäumen gebildet; sie standen dicht aneinandergedrängt nur in der Mitte, und links schlichen schmale Wege aus dem Schatten hervor. Weiter drin im Wald, innerhalb einer kleinen künstlichen Lichtung, waren Tisch und Stühle aufgestellt, wo die Schauspieler ihrer Stichworte harren mochten. Für die Beleuchtung war gesorgt, indem man zur Seite der Bühne und des Zuschauerraumes kulissenartig hohe alte Kirchenleuchter mit riesigen Kerzen aufgerichtet hatte. Hinter dem Gesträuch zur Rechten war eine Art Requisitenraum im Freien; hier sah ich nebst anderem kleinern Gerät, das im Stück notwendig war, die Bahre stehen, auf der Herr von Umprecht am Schlusse des Stückes sterben sollte. – Als ich jetzt über die Wiese schritt, war sie von der Abendsonne mild überglänzt ... Ich hatte natürlich über die Erzählung des Herrn von Umprecht nachgedacht. Nicht für unmöglich hielt ich es anfangs, daß Herr von Umprecht zu der Art von phantastischen Lügnern gehörte, die eine Mystifikation unter Schwierigkeiten von langer Hand vorbereiten, um sich interessant zu machen. Ich hielt es selbst für denkbar, daß die Unterschrift des Notars gefälscht war und daß Herr von Umprecht andre Leute eingeweiht hatte, um die Sache folgerecht durchzuführen. Besondere Bedenken stiegen mir über den vorläufig unbekannten Mann mit den erhobenen Händen auf, mit dem sich Umprecht wohl ins Einvernehmen gesetzt haben konnte. Aber meinen Zweifeln widersprach vor allem die Rolle, die dieser Mann in meinem ersten Plane gespielt, der niemandem bekannt sein konnte – und besonders der günstige Eindruck, den ich von der Person des Herrn von Umprecht gewonnen hatte. Und so unwahrscheinlich, ja so ungeheuerlich sein ganzer Bericht mir erschien – irgend etwas in mir verlangte sogar danach, ihm glauben zu dürfen; es mochte die törichte Eitelkeit sein, mich als Vollstrecker eines über uns waltenden Willens zu empfinden. – Indes hatte einige Bewegung in meiner Nähe angehoben; Diener kamen aus dem Schloß, Kerzen wurden angezündet, Leute aus der Umgebung, manche auch in bäurischer Kleidung, stiegen langsam den Hügel herauf und stellten sich bescheiden zu seiten der Bänke auf. Bald erschien die Frau des Hauses mit einigen Herren und Damen, die zwanglos Platz nahmen. Ich gesellte mich zu ihnen und plauderte mit Bekannten vom vorigen Jahr. Die Mitglieder des Orchesters waren erschienen und begaben sich auf ihre Plätze; die Zusammenstellung war ungewöhnlich genug; es waren zwei Violinen, ein Cello, eine Viola, ein Kontrabaß, eine Flöte und eine Oboe. Sie begannen sofort, offenbar verfrüht, eine Ouvertüre von Weber zu spielen. Ganz vorne, in der Nähe des Orchesters, stand ein alter Bauer, der glatzköpfig war und eine Art von dunklem Tuch um den Hals geschlungen hatte. Vielleicht war der vom Schicksal dazu bestimmt, dacht ich, später eine Brille herauszunehmen, irrsinnig zu werden und auf die Szene zu laufen. Das Tageslicht war völlig dahin, die hohen Kerzen flackerten ein wenig, da sich ein leichter Wind erhoben hatte. Hinter dem Gesträuch wurde es lebendig, auf verborgenen Wegen waren die Mitwirkenden in die Nähe der Bühne gelangt. Jetzt erst dachte ich wieder an die anderen, die mitzuspielen hatten, und es fiel mir ein, daß ich noch niemanden außer Herrn von Umprecht, seinen Kindern und der Försterstochter gesehen hatte. Nun hörte ich die laute Stimme des Regisseurs und das Lachen der jungen Komtessa Saima. Die Bänke waren alle besetzt, der Freiherr saß in einer der vordersten Reihen und sprach mit der Gräfin Saima. Das Orchester fing an zu spielen, dann trat die Försterstochter vor und sprach den Prolog, der das Stück einleitete. Den Inhalt des Ganzen bildete das Schicksal eines Mannes, der, ergriffen von einer plötzlichen Sehnsucht nach Abenteuern und Fernen, die Seinen ohne Abschied verläßt und im Verlaufe eines Tages so viel Schmerzliches und Widriges erlebt, daß er wieder zurückzukehren gedenkt, ehe Frau und Kinder ihn vermißt haben; aber ein letztes Abenteuer auf dem Rückweg, nahe der Tür seines Hauses, hat seine Ermordung zur Folge, und nur mehr sterbend kann er die Verlassenen begrüßen, die seiner Flucht und seinem Tod als den unlösbarsten Rätseln gegenüberstehen.

Das Spiel hatte begonnen, Herren und Damen sprachen ihre Rollen angenehm; ich erfreute mich an der einfachen Darstellung der einfachen Vorgänge und dachte im Anfang nicht mehr an die Erzählung des Herrn von Umprecht. Nach dem ersten Akt spielte das Orchester wieder, aber niemand hörte darauf, so lebhaft war das Geplauder auf den Bänken. Ich selbst saß nicht, sondern stand, ungesehen von den anderen, der Bühne ziemlich nahe, auf der linken Seite, wo der Weg sich frei dem Tale zu senkte. Der zweite Akt begann; der Wind war etwas stärker geworden, und die flackernde Beleuchtung trug zu der Wirkung des Stückes nicht wenig bei. Wieder verschwanden die Darsteller im Wald, und das Orchester setzte ein. Da fiel mein Blick ganz zufällig auf den Flötisten, der eine Brille trug und glatt rasiert war; aber er hatte lange weiße Haare, und von einem Schal war nichts zu sehen. Das Orchesterspiel schloß, die Darsteller traten wieder auf die Szene. Da merkte ich, daß der Flötenspieler, der sein Instrument vor sich hin auf das Pult gelegt hatte, in seine Tasche griff, einen großen grünen Schal hervorzog und ihn um den Hals wickelte. Ich war im allerhöchsten Grade befremdet. In der nächsten Sekunde trat Herr von Umprecht auf; ich sah, wie sein Blick plötzlich auf dem Flötisten haften blieb, wie er den grünen Schal bemerkte und einen Augenblick stockte; aber rasch hatte er sich wieder gefaßt und sprach seine Rolle unbeirrt weiter. Ich fragte einen jungen, einfach gekleideten Burschen neben mir, ob er den Flötisten kenne, und erfuhr von ihm, daß jener ein Schullehrer aus Kaltern war. Das Spiel ging weiter, der Schluß nahte heran. Die zwei Kinder irrten, wie es vorgeschrieben war, über die Bühne, Lärm im Walde drang näher und näher, man hörte schreien und rufen; es machte sich nicht übel, daß der Wind stärker wurde und die Zweige sich bewegten; endlich trug man Herrn von Umprecht als sterbenden Abenteurer auf der Bahre herein. Die beiden Kinder stürzten herbei, die Fackelträger standen regungslos zur Seite. Die Frau trat später auf als die anderen, und mit angstvoll verzerrtem Blick sinkt sie an der Seite des Gemordeten nieder; dieser will die Lippen noch einmal öffnen, versucht, sich zu erheben, aber – wie es in der Rolle vorgeschrieben – es gelingt ihm nicht mehr. Da kommt mit einem Mal ein ungeheurer Windstoß, daß die Fackeln zu verlöschen drohen; ich sehe, wie einer im Orchester aufspringt – es ist der Flötenspieler – zu meinem Erstaunen ist er kahl, seine Perücke ist ihm davongeflogen; mit erhobenen Händen, den grünen flatternden Schal um den Hals, stürzt er der Bühne zu. Unwillkürlich richte ich mein Auge auf Umprecht; seine Blicke sind starr, wie verzückt auf den Mann gerichtet; er will etwas reden – er vermag es offenbar nicht – er sinkt zurück ... Noch meinen viele, daß dies alles zum Stücke gehöre; ich selbst bin nicht sicher, wie dieses erneute Niedersinken zu deuten ist; indes ist der Mann an der Bahre vorüber, immer noch seiner Perücke nach, und verschwindet im Wald. Umprecht erhebt sich nicht; ein neuer Windstoß läßt eine der beiden Fackeln verlöschen; einige Menschen ganz vorne werden unruhig – ich höre die Stimme des Freiherrn: »Ruhe! Ruhe!« – es wird wieder stille – auch der Wind regt sich nicht mehr ... aber Umprecht bleibt ausgestreckt liegen, rührt sich nicht und bewegt nicht die Lippen. Die Komtesse Saima schreit auf – natürlich glauben die Leute, auch dies sei im Stück so vorgeschrieben. Ich aber dränge mich durch die Menschen, stürze auf die Bühne, höre, wie es hinter mir unruhig wird – die Leute erheben sich, andere folgen mir, die Bahre ist umringt ... »Was gibt’s, was ist geschehen?« ... Ich reiße einem Fackelträger seine Fackel aus der Hand, beleuchte das Antlitz des Liegenden ... Ich rüttle ihn, reiße ihm das Wams auf; indes ist der Arzt an meine Seite gelangt, er fühlt nach dem Herzen Umprechts, er greift seinen Puls, er wünscht, daß alles zur Seite trete, er flüstert dem Freiherrn ein paar Worte zu ... die Frau des Aufgebahrten hat sich hinaufgedrängt, sie schreit auf, wirft sich über ihren Mann, die Kinder stehen wie vernichtet da und können es nicht fassen ... Niemand will es glauben, was geschehen, und doch teilt es einer dem andern mit; – und eine Minute später weiß man es rings in der Runde, daß Herr von Umprecht auf der Bahre, auf der man ihn hineingetragen, plötzlich gestorben ist ...

Ich selbst bin am selben Abend noch ins Tal hinuntergeeilt, von Entsetzen geschüttelt. In einem sonderbaren Grauen habe ich mich nicht entschließen können, das Schloß wieder zu betreten. Den Freiherrn sprach ich am Tag darauf in Bozen; dort erzählte ich ihm die Geschichte Umprechts, wie sie mir von ihm selbst mitgeteilt worden war. Der Freiherr wollte sie nicht glauben, ich griff in meine Brieftasche und zeigte ihm das geheimnisvolle Blatt; er sah mich befremdet, ja angstvoll an und gab mir das Blatt zurück – es war weiß, unbeschrieben, unbezeichnet ...

Ich habe Versuche gemacht, Marco Polo aufzufinden; aber das einzige, was ich von ihm erfahren konnte, war, daß er vor drei Jahren zum letztenmal in einem Hamburger Vergnügungsetablissement niederen Ranges aufgetreten ist.

Was aber unter allem diesem Unbegreiflichen das unbegreiflichste bleibt, ist der Umstand, daß der Schullehrer, der damals seiner Perücke mit erhobenen Händen nachlief und im Walde verschwand, niemals wiedergesehen, ja daß nicht einmal sein Leichnam aufgefunden wurde.

Nachwort des Herausgebers

Den Verfasser des vorstehenden Berichtes habe ich persönlich nicht gekannt. Er war zu seiner Zeit ein ziemlich bekannter Schriftsteller, aber so gut wie verschollen, als er, kaum sechzig Jahre alt, vor etwa zehn Jahren starb. Sein gesamter Nachlaß ging, ohne besondere Bestimmung, an den in diesen Blättern genannten Meraner Jugendfreund über. Von diesem wieder, einem Arzt, mit dem ich mich anläßlich eines Aufenthaltes in Meran im vorigen Winter zuweilen über allerlei dunkle Fragen, insbesondere über Geisterseherei, Wirkung in die Ferne und Weissagekunst unterhalten hatte, wurde mir das hier abgedruckte Manuskript zur Veröffentlichung übergeben. Gern möchte ich dessen Inhalt für eine frei erfundene Erzählung halten, wenn nicht der Arzt, wie auch aus dem Bericht hervorgeht, der am Schluß geschilderten Theatervorstellung mit ihrem seltsamen Ausgang beigewohnt und den in so rätselhafter Weise verschwundenen Schullehrer persönlich gekannt hätte. Was aber den Zauberer Marco Polo anlangt, so erinnere ich mich noch sehr wohl, als ganz junger Mensch in einer Sommerfrische am Wörther See seinen Namen auf einem Plakat gedruckt gesehen zu haben; er blieb mir im Gedächtnis, weil ich gerade zu dieser Zeit im Begriffe war, die Reisebeschreibung des berühmten Weltfahrers gleichen Namens zu lesen.


Das neue Lied

»Ich bin nicht schuld daran, Herr von Breiteneder ... bitte sehr, das kann keiner sagen!« Karl Breiteneder hörte diese Worte wie von fern an sein Ohr schlagen und wußte doch ganz genau, daß der, der sie sprach, neben ihm einherging – ja er spürte sogar den Weindunst, in den diese Worte gehüllt waren. Aber er erwiderte nichts. Es war ihm unmöglich, sich in Auseinandersetzungen einzulassen; er war zu müde und zerrüttet von dem furchtbaren Erlebnis dieser Nacht, und es verlangte ihn nur nach Alleinsein und frischer Luft. Darum war er auch nicht nach Hause gegangen, sondern lieber im Morgenwind die menschenleere Straße weiterspaziert, ins Freie hinaus, den bewaldeten Hügeln entgegen, die drüben aus leichten Mainebeln hervorstiegen. Aber ein Schauer nach dem anderen durchlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen, und er spürte nichts von der wohligen Frische, die ihn sonst nach durchwachten Nächten in der Frühluft zu durchrieseln pflegte. Er hatte immer das entsetzliche Bild vor Augen, dem er entflohen war.

Der Mann neben ihm mußte ihn eben erst eingeholt haben. Was wollte denn der von ihm?... warum verteidigte er sich?... und warum gerade vor ihm?... Er hatte doch nicht daran gedacht, dem alten Rebay einen lauten Vorwurf zu machen, wenn er auch sehr gut wußte, daß der die Hauptschuld trug an dem, was geschehen war. Jetzt sah er ihn von der Seite an. Wie schaute der Mensch aus! Der schwarze Gehrock war zerdrückt und fleckig, ein Knopf fehlte, die andern waren an den Rändern ausgefranst; in einem Knopfloch steckte ein Stengel mit einer abgestorbenen Blüte. Gestern abend hatte Karl die Blume noch frisch gesehen. Mit dieser selben Nelke geschmückt, war der Kapellmeister Rebay an einem klappernden Pianino gesessen und hatte die Musik zu sämtlichen Produktionen der Gesellschaft Ladenbauer besorgt, wie er es seit bald dreißig Jahren tat. Das kleine Wirtshaus war ganz voll gewesen, bis in den Garten hinaus standen die Tische und Stühle, denn heute war, wie es mit schwarzen und roten Buchstaben auf großen, gelben Zetteln zu lesen stand: »Erstes Wiederauftreten des Fräulein Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße Amsel‹, nach ihrer Genesung von schwerem Leiden.«

Karl atmete tief auf. Es war ganz licht geworden, er und der Kapellmeister waren längst nicht mehr die einzigen auf der Straße. Hinter ihnen, auch von Seitenwegen, ja sogar von oben aus dem Walde, ihnen entgegen, kamen Spaziergänger. Jetzt erst fiel es Karl ein, daß heute Sonntag war. Er war froh, daß er keinerlei Verpflichtung hatte, in die Stadt zu gehen, obzwar ihm ja sein Vater auch diesmal einen versäumten Wochentag nachgesehen hätte, wie er es schon oft getan. Das alte Drechslergeschäft in der Alserstraße ging vorläufig auch ohne ihn, und der Vater wußte aus Erfahrung, daß sich die Breiteneders bisher noch immer zur rechten Zeit zu einem soliden Lebenswandel entschlossen hatten. Die Geschichte mit Marie Ladenbauer war ihm allerdings nie ganz recht gewesen. »Du kannst ja machen, was du willst,« hatte er einmal milde zu Karl gesagt, »ich bin auch einmal jung gewesen ... aber in den Familien von meine Mädeln hab ich doch nie verkehrt! Da hab ich doch immer zuviel auf mich gehalten.«

Hätte er auf den Vater gehört – dachte Karl jetzt – so wäre ihm mancherlei erspart geblieben. Aber er hatte die Marie sehr gern gehabt. Sie war ein gutmütiges Geschöpf, hing an ihm, ohne viel Worte zu machen, und wenn sie Arm in Arm mit ihm spazieren ging, hätte sie keiner für eine gehalten, die schon so manches erlebt hatte. Übrigens ging es bei ihren Eltern so anständig zu wie in einem bürgerlichen Hause. Die Wohnung war nett gehalten, auf der Etagere standen Bücher; öfters kam der Bruder des alten Ladenbauer zu Besuch, der als Beamter beim Magistrat angestellt war, und dann wurde über sehr ernste Dinge geredet: Politik, Wahlen und Gemeindewesen. Am Sonntag spielte Karl oben manchmal Tarock; mit dem alten Ladenbauer und mit dem verrückten Jedek, demselben, der abends im Klownkostüm auf Gläser- und Tellerrändern Walzer und Märsche exekutierte; und wenn er gewann, bekam er sein Geld ohne weiteres ausbezahlt, was ihm in seinem Kaffeehaus durchaus nicht so regelmäßig passierte. In der Nische am Fenster, vor dem Glasbilder mit Schweizer Landschaften hingen, saß die blasse lange Frau Jedek, die abends in der Vorstellung langweilige Gedichte vortrug, plauderte mit der Marie und nickte dazu beinahe ununterbrochen. Marie sah aber zu Karl herüber, grüßte ihn scherzend mit der Hand oder setzte sich zu ihm und schaute ihm in die Karten. Ihr Bruder war in einem großen Geschäft angestellt, und wenn ihm Karl eine Zigarre gab, so revanchierte er sich sofort. Auch brachte er seiner Schwester, die er sehr verehrte, zuweilen von einem Stadtzuckerbäcker etwas zum Naschen mit. Und wenn er sich empfahl, sagte er mit halbgeschlossenen Augen: »Leider daß ich anderweitig versagt bin ...« – Freilich, am liebsten war Karl mit Marie allein. Und er dachte an einen Morgen, an dem er mit ihr denselben Weg gegangen war, den er jetzt ging, dem leise rauschenden Wald entgegen, der dort oben auf dem Hügel anfing. Sie waren beide müde gewesen, denn sie kamen geradeswegs aus dem Kaffeehaus, wo sie bis zum Morgengrauen mit der ganzen Volkssängergesellschaft zusammengesessen waren; nun legten sie sich unter eine Buche am Rand eines Wiesenhanges und schliefen ein. Erst in der heißen Stille des Sommermittags wachten sie auf, gingen noch weiter hinein in den Wald, plauderten und lachten den ganzen Tag, ohne zu wissen warum, und erst spät abends zur Vorstellung brachte er sie wieder in die Stadt ... So schöne Erinnerungen gab es manche, und die beiden lebten sehr vergnügt, ohne an die Zukunft zu denken. Zu Beginn des Winters erkrankte Marie plötzlich. Der Doktor hatte jeden Besuch strenge verboten, denn die Krankheit war eine Gehirnentzündung oder so etwas ähnliches, und jede Aufregung sollte vermieden werden. Karl ging anfangs täglich zu den Ladenbauers, sich erkundigen; später aber, als die Sache sich länger hinzog, nur jeden zweiten und dritten Tag. Einmal sagte ihm Frau Ladenbauer an der Türe: »Also heut dürfen Sie schon hineinkommen, Herr von Breiteneder. Aber bitt schön, daß Sie sich nicht verraten.« – »Warum soll denn ich mich verraten?« fragte Karl, »was ist denn g’schehn?« – »Ja, mit den Augen ist leider keine Hilfe mehr.« – »Wieso denn?« – »Sie sieht halt nichts mehr ..., das ist ihr leider Gottes von der Krankheit zurückgeblieben. Aber sie weiß noch nicht, daß es unheilbar ist ... Nehmen Sie sich zusammen, daß sie nichts merkt.« Da stammelte Karl nur ein paar Worte und ging. Er hatte plötzlich Angst, Marie wiederzusehen. Es war ihm, als hätte er nichts an ihr so gern gehabt, als ihre Augen, die so hell gewesen waren und mit denen sie immer gelacht hatte. Er wollte morgen kommen. Aber er kam nicht, nicht am nächsten und nicht am übernächsten Tage. Und immer weiter schob er den Besuch hinaus. Er wollte sie erst wiedersehen, nahm er sich vor, bis sie sich selbst in ihr Schicksal gefunden haben konnte. Dann fügte es sich, daß er eine Geschäftsreise antreten mußte, auf die der Vater schon lange gedrungen hatte. Er kam weit herum, war in Berlin, Dresden, Köln, Leipzig, Prag. Einmal schrieb er an die alte Frau Ladenbauer eine Karte, in der stand: Gleich nach seiner Rückkehr würde er hinaufkommen, und er ließe die Marie schön grüßen. – Im Frühjahr kam er zurück; aber zu den Ladenbauers ging er nicht. Er konnte sich nicht entschließen ... Natürlich dachte er auch von Tag zu Tag weniger an sie und nahm sich vor, sie ganz zu vergessen. Er war ja nicht der erste und nicht der einzige gewesen. Er hörte auch gar nichts von ihr, beruhigte sich mehr und mehr, und aus irgendeinem Grunde bildete er sich manchmal ein, daß Marie auf dem Land bei Verwandten lebte, von denen er sie manchmal sprechen gehört hatte.

Da führte ihn gestern abends – er wollte Bekannte besuchen, die in der Nähe wohnten – der Zufall an dem Wirtshaus vorüber, wo die Vorstellungen der Gesellschaft Ladenbauer stattzufinden pflegten. Ganz in Gedanken wollte er schon vorübergehen, da fiel ihm das gelbe Plakat ins Auge, er wußte, wo er war, und ein Stich ging ihm durchs Herz, bevor er ein Wort gelesen hatte. Aber dann, wie er es mit schwarzen und roten Buchstaben vor sich sah: »Erstes Auftreten der Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße Amsel‹, nach ihrer Genesung,« da blieb er wie gelähmt stehen. Und in diesem Augenblick stand der Rebay neben ihm, wie aus dem Boden gewachsen: den weißen Strubbelkopf unbedeckt, den schäbigen schwarzen Zylinder in der Hand und mit einer frischen Blume im Knopfloch. Er begrüßte Karl: »Der Herr Breiteneder – nein, so was! Nicht wahr, beehren uns heute wieder! Die Fräul’n Marie wird ja ganz weg sein vor Freud, wenn sie hört, daß sich die frühern Freund’ doch noch um sie umschaun. Das arme Ding! Viel haben wir mit ihr ausg’standen, Herr von Breiteneder; aber jetzt hat sie sich verfangt.« Er redete noch eine ganze Menge, und Karl rührte sich nicht, obwohl er am liebsten weit fortgewesen wäre. Aber plötzlich regte sich eine Hoffnung in ihm, und er fragte den Rebay, ob denn die Marie gar nichts sehe – ob sie nicht doch wenigstens einen Schein habe. »Einen Schein?« erwiderte der andere. »Was fällt Ihnen denn ein, Herr von Breiteneder!... Nichts sieht sie, gar nichts!« Er rief es mit seltsamer Fröhlichkeit. »Alles kohlrabenschwarz vor ihr ... Aber werden sich schon überzeugen, Herr von Breiteneder, hat alles seine guten Seiten, wenn man so sagen darf – und eine Stimme hat das Mädel, schöner als je!... Na, Sie werden ja sehn, Herr von Breiteneder. – Und gut is sie – seelengut! Noch viel freundlicher, als sie eh schon war. Na, Sie kennen sie ja – haha! – Ah, es kommen heut mehrere, die sie kennen ... natürlich nicht so gut wie Sie, Herr von Breiteneder; denn jetzt ist es natürlich vorbei mit die gewissen G’schichten. Aber das wird auch schon wieder kommen! Ich hab eine gekannt, die war blind und hat Zwillinge gekriegt – haha! – Schauen S’, wer da is,« sagte er plötzlich, und Karl stand mit ihm vor der Kassa, an der Frau Ladenbauer saß. Sie war aufgedunsen und bleich und sah ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Sie gab ihm ein Billett, er zahlte, wußte kaum, was mit ihm geschah. Plötzlich aber stieß er hervor: »Nicht der Marie sagen, um Gottes willen, Frau Ladenbauer ... nichts der Marie sagen, daß ich da bin!... Herr Rebay, nichts ihr sagen!«

»Is schon gut,« sagte Frau Ladenbauer und beschäftigte sich mit anderen Leuten, die Billette verlangten.

»Von mir kein Wörterl,« sagte Rebay. »Aber nachher, das wird eine Überraschung sein! Da kommen S’ doch mit? Großes Fest – hoho! Habe die Ehre, Herr von Breiteneder.« Und er war verschwunden. Karl durchschritt den gefüllten Saal, und im Garten, der sich ohne weiteres anschloß, setzte er sich ganz hinten an einen Tisch, wo vor ihm schon zwei alte Leute Platz genommen hatten, eine Frau und ein Mann. Sie sprachen nichts miteinander, betrachteten stumm den neuen Gast, und nickten einander traurig zu. Karl saß da und wartete. Die Vorstellung begann, und Karl hörte die altbekannten Sachen wieder. Nur schien ihm alles eigentümlich verändert, weil er noch nie so weit vom Podium gesessen war. Zuerst spielte der Kapellmeister Rebay eine sogenannte Ouvertüre, von der zu Karl nur vereinzelte harte Akkorde drangen, dann trat als erste die Ungarin Ilka auf, in hellrotem Kleid, mit gespornten Stiefeln, sang ungarische Lieder und tanzte Tschardas. Hierauf folgte ein humoristischer Vortrag des Komikers Wiegel-Wagel; er trat im zeisiggrünen Frack auf, teilte mit, daß er soeben aus Afrika angekommen wäre, und berichtete allerlei unsinnige Abenteuer, deren Abschluß seine Hochzeit mit einer alten Witwe bildete. Dann kam ein Duett zwischen Herrn und Frau Ladenbauer; beide trugen Tiroler Kostüm. Nach ihnen, in schmutziger weißer Klowntracht, folgte der närrische kleine Jedek, zeigte zuerst seine Jongleurkünste, irrte mit riesigen Augen unter den Leuten umher, als wenn er jemanden suchte; dann stellte er Teller in Reihen vor sich auf, hämmerte mit einem Holzstab einen Marsch darauf, ordnete Gläser und spielte auf den Rändern mit feuchten Fingern eine wehmütige Walzermelodie. Dabei sah er zur Decke auf und lächelte selig. Er trat ab, und Rebay hieb wieder auf die Tasten ein, in festlichen Klängen. Ein Flüstern drang vom Saal in den Garten, die Leute steckten die Köpfe zusammen, und plötzlich stand Marie auf dem Podium. Der Vater, der sie hinaufgeführt hatte, war gleich wieder wie hinabgetaucht; und sie stand allein. Und Karl sah sie oben stehen, mit den erloschenen Augen in dem süßen blassen Gesicht; er sah ganz deutlich, wie sie zuerst nur die Lippen bewegte und ein bißchen lächelte. Ohne es selbst zu merken war er vom Sessel aufgesprungen, lehnte an der grünen Laterne und hätte beinah aufgeschrien vor Mitleid und Angst. – Und nun fing sie an zu singen. Mit einer ganz fremden Stimme, leise, viel leiser als früher. Es war ein Lied, das sie immer gesungen, und das Karl mindestens fünfzigmal gehört hatte, aber die Stimme blieb ihm seltsam fremd, und erst als der Refrain kam »Mich heißens’ die weiße Amsel, im G’schäft und auch zu Haus,« glaubte er, den Klang der Stimme wiederzuerkennen. Sie sang alle drei Strophen, Rebay begleitete sie, und nach seiner Gewohnheit blickte er öfters streng zu ihr auf. Als sie zu Ende war, setzte Applaus ein, laut und donnernd. Marie lächelte und verbeugte sich. Die Mutter kam die drei Stufen aufs Podium hinauf, Marie griff mit den Armen in die Luft, als suchte sie die Hände der Mutter, aber der Applaus war so stark, daß sie gleich ihr zweites Lied singen mußte, das Karl auch schon an die fünfzigmal gehört hatte. Es fing an: »Heut geh ich mit mein Schatz aufs Land ...,« und Marie warf den Kopf so vergnügt in die Höhe, wiegte sich so leicht hin und her, als wenn sie wirklich mit ihrem Schatz aufs Land gehen, den blauen Himmel, die grünen Wiesen sehen und im Freien tanzen könnte, wie sie’s in dem Lied erzählte. Und dann sang sie das dritte, das neue Lied. –

»Hier wäre ein kleines Garterl,« sagte Herr Rebay, und Karl fuhr zusammen. Es war heller Sonnenschein; weit erglänzte die Straße, ringsum war es licht und lebendig. »Da könnt’ man sich hineinsetzen,« fuhr Rebay fort, »auf ein Glas Wein; ich hab schon einen argen Durst – es wird ein heißer Tag.«

»Ob’s heiß wird!« sagte irgendwer hinter ihnen. Breiteneder wandte sich um ... Wie, der war ihm auch nachgelaufen?... Was wollte denn der von ihm?... Es war der närrische Jedek; man hatte ihn nie anders geheißen, aber es war zweifellos, daß er in der nächsten Zeit ernstlich und vollkommen verrückt werden mußte. Vor ein paar Tagen hatte er seine lange blasse Frau am Leben bedroht, und es war rätselhaft, daß man ihn frei herumlaufen ließ. Jetzt schlich er in seiner zwerghaften Kleinheit neben Karl einher; aus dem gelblichen Gesichte glotzten aufgerissene, unerklärlich lustige Augen ins Weite, auf dem Kopf saß ihm das stadtbekannte, graue weiche Hütel mit der verschlissenen Feder, in der Hand hielt er ein dünnes Spazierstaberl. Und nun, den andern plötzlich voraus, war er in das kleine Gasthausgärtchen hineingehüpft, hatte auf einer Holzbank, die an dem niederen Häuschen lehnte, Platz genommen, schlug mit dem Spazierstock heftig auf den grüngestrichnen Tisch und rief nach dem Kellner. Die beiden anderen folgten ihm. Längs des grünen Holzgitters zog die weiße Straße weiter nach oben, an kleinen, traurigen Villen vorbei, und verlor sich in den Wald.

Der Kellner brachte Wein. Rebay legte den Zylinder auf den Tisch, fuhr sich durch das weiße Haar, rieb sich dann mit beiden Händen nach seiner Gewohnheit die glatten Wangen, schob Jedeks Glas beiseite, und beugte sich über den Tisch zu Karl hin. »Ich bin doch nicht auf’n Kopf g’fallen, Herr von Breiteneder! Ich weiß doch, was ich tu!... Warum soll denn ich schuld sein?... Wissen S’, für wen ich Couplets geschrieben hab in meinen jüngeren Jahren?... Für’n Matras! Das ist keine Kleinigkeit! Und haben Aufsehen gemacht! Text und Musik von mir! Und viele sind in andere Stück’ eingelegt worden!«

»Lassen S’ das Glas stehn,« sagte Jedek und kicherte in sich hinein.

»Ich bitte, Herr von Breiteneder,« fuhr Rebay fort und schob das Glas wieder von sich. »Sie kennen mich doch, und Sie wissen, daß ich ein anständiger Mensch bin! Auch gibt’s in meinen Couplets niemals eine Unanständigkeit, niemals eine Zote!... Und das Couplet, wegen dem der alte Ladenbauer damals is verurteilt worden, war von einem andern!... Und heut bin ich achtundsechzig, Herr von Breiteneder – das ist ein Numero! Und wissen S’, wie lang ich bei der G’sellschaft Ladenbauer bin?... Da hat der Eduard Ladenbauer noch gelebt, der die G’sellschaft gegründet hat. Und die Marie kenn ich von ihrer Geburt an. Neunundzwanzig Jahr bin ich bei die Ladenbauers – im nächsten März hab ich Jubiläum ... Und ich hab meine Melodien nicht g’stohlen – sie sind von mir, alles von mir! Und wissen Sie, wieviel man in der Zeit auf die Werkeln g’spielt hat?... Achtzehn! Net wahr, Jedek?...«

Jedek lachte immerfort lautlos, mit aufgerissenen Augen. Jetzt hatte er alle drei Gläser vor seinen Platz hingeschoben und begann mit seinen Fingern leicht über die Ränder zu streichen. Es klang fein, ein bißchen rührend, wie ferne Oboen- und Klarinettentöne. Breiteneder hatte diese Kunstfertigkeit immer sehr bewundert, aber in diesem Augenblick vertrug er die Klänge durchaus nicht. An den andern Tischen hörte man zu; einige Leute nickten befriedigt, ein dicker Herr patschte in die Hände. Plötzlich schob Jedek alle drei Gläser wieder fort, kreuzte die Arme und starrte auf die weiße Straße, über die immer mehr und mehr Menschen aufwärts dem Wald entgegenwanderten. Karl flimmerte es vor den Augen, und es war ihm, als wenn die Leute hinter Spinneweben tänzelten und schwebten. Er rieb sich die Stirn und die Lider, er wollte zu sich kommen. Er konnte ja nichts dafür! Es war ein schreckliches Unglück – aber er hatte doch nicht schuld daran! Und plötzlich stand er auf, denn als er an das Ende dachte, wollte es ihm die Brust zersprengen. »Gehen wir,« sagte er.

»Ja, frische Luft ist die Hauptsache,« entgegnete Rebay.

Jedek war plötzlich böse geworden, kein Mensch wußte, warum. Er stellte sich vor einen Tisch hin, an dem ein friedliches Paar saß, fuchtelte mit seinem Spazierstaberl herum und schrie mit hoher Stimme: »Da soll der Teufel ein Glaserer werden – Himmelsackerment!« Die beiden friedlichen Leute wurden verlegen und wollten ihn beschwichtigen; die übrigen lachten und hielten ihn für betrunken.

Breiteneder und Rebay waren schon auf der weißen Straße, und Jedek, wieder ganz ruhig geworden, kam ihnen nachgetänzelt. Er nahm sein graues Hütel ab, hing es an seinen Spazierstock und hielt den Stock mit dem Hut über die Schultern wie ein Gewehr, während er mit der anderen Hand gewaltige grüßende Bewegungen zum Himmel empor vollführte.

»Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich mich entschuldigen will,« sagte Rebay mit klappernden Zähnen. »Oho, hab gar keine Ursache! Durchaus nicht! Ich hab die beste Absicht gehabt, und jedermann wird es mir zugestehen. Hab ich denn das Lied nicht selber mit ihr einstudiert?... Bitte sehr, jawohl! Ja, noch wie sie mit den verbundenen Augen im Zimmer gesessen is, hab ich’s einstudiert mit ihr ... Und wissen S’, wie ich auf die Idee kommen bin? Es ist ein Unglück, hab ich mir gedacht, aber es ist doch nicht alles verloren. Ihre Stimme hat sie noch, und ihr schönes Gesicht ... Auch der Mutter hab ich’s g’sagt, die ganz verzweifelt war. Frau Ladenbauer, hab ich ihr gesagt, da ist noch nichts verloren – passen S’ nur auf! Und dann, heutzutage, wo es diese Blindeninstitute gibt, wo sie sogar mit der Zeit wieder lesen und schreiben lernen ... Und dann hab ich einen gekannt – einen jungen Menschen, der ist mit zwanzig Jahren blind worden. Der hat jede Nacht von die schönsten Feuerwerk geträumt, von alle möglichen Beleuchtungen ...«

Breiteneder lachte auf. »Reden S’ im Ernst?« fragte er ihn.

»Ach was!« entgegnete Rebay grob, »was wollen Sie denn? Soll ich mich umbringen, ich?... Warum denn? – Meiner Seel, ich hab Unglück genug gehabt auf der Welt! – Oder meinen Sie, das ist ein Leben, Herr von Breiteneder, wenn man einmal Theaterstück geschrieben hat, wie ich als junger Mensch, und man ist mit achtundsechzig schließlich so weit, daß man auf einem elenden Klimperkasten für schäbige paar Kreuzer die heisern Ludern begleiten muß, und ihnen die Couplets schreiben ... Wissen S’, was ich für ein Couplet krieg’?... Sie möchten sich wundern, Herr von Breiteneder!«

»Aber man spielt sie auf dem Werkel,« sagte Jedek, der jetzt ganz ernst und manierlich, ja elegant neben ihnen herging.

»Was wollen denn Sie von mir?« sagte Breiteneder. Es war ihm plötzlich, als verfolgten ihn die beiden, und er wußte nicht, warum. Was hatte er mit den Leuten zu tun?... Rebay aber sprach weiter: »Eine Existenz hab ich dem Mädel gründen wollen!... Verstehen S’, eine neue Existenz!... Grad mit dem neuen Lied!... Grad mit dem!... Und ist es vielleicht nicht schön?... Ist es nicht rührend?...«

Der kleine Jedek hielt plötzlich Breiteneder am Rockärmel zurück, erhob den Zeigefinger der linken Hand, Aufmerksamkeit gebietend, spitzte die Lippen und pfiff. Er pfiff die Melodie des neuen Liedes, das Marie Ladenbauer, genannt die »weiße Amsel«, heute nachts gesungen hatte. Er pfiff sie geradezu vollendet; denn auch das gehörte zu seinen Kunstfertigkeiten.

»Die Melodie hat’s nicht gemacht,« sagte Breiteneder.

»Wieso?« schrie Rebay. – Sie gingen alle rasch, liefen beinahe, trotzdem der Weg beträchtlich anstieg. »Wieso denn, Herr von Breiteneder?... Der Text ist schuld, glauben S’?... Ja, um Gottes willen, steht denn in dem Text was anderes, als was die Marie selbst gewußt hat?... Und in ihrem Zimmer, wie ich’s ihr einstudiert hab, hat sie nicht ein einziges Mal geweint. Sie hat g’sagt: »Das ist ein trauriges Lied, Herr Rebay, aber schön ist’s!...« »Schön ist’s,« hat sie gesagt ... Ja freilich ist es ein trauriges Lied, Herr von Breiteneder – es ist ja auch ein trauriges Los, was ihr zugestoßen ist. Da kann ich ihr doch kein lustiges Lied schreiben?...«

Die Straße verlor sich in den Wald. Durch die Äste schimmerte die Sonne; aus den Büschen tönte Lachen, klangen Rufe. Sie gingen alle drei nebeneinander, so schnell, als wollte einer dem andern davonlaufen. Plötzlich fing Rebay wieder an: »Und die Leut – Kreuzdonnerwetter! – haben sie nicht applaudiert wie verrückt?... Ich hab’s ja im voraus gewußt, mit dem Lied wird sie einen Riesenerfolg haben! – Und es hat ihr auch eine Freud gemacht ... förmlich gelacht hat sie übers ganze Gesicht, und die letzte Strophe hat sie wiederholen müssen. Und es ist auch eine rührende Strophe! wie sie mir eingefallen ist, sind mir selber die Tränen ins Aug gekommen – wissen S’ wegen der Anspielung auf das andere Lied, das sie immer singt...« Und er sang, oder er sprach vielmehr, nur daß er die Reimworte immer herausstieß wie einen Orgelton: »Wie wunderschön war es doch früher auf der Welt, – Wo die Sonn’ mir hat g’schienen auf Wald und auf Feld, – Wo i Sonntag mit mein’ Schatz spaziert bin aufs Land – Und er hat mich aus Lieb nur geführt bei der Hand. – Jetzt geht mir die Sonn’ nimmer auf und die Stern’, – Und das Glück und die Liebe, die sind mir so fern!«

»Genug!« schrie Breiteneder, »ich hab’s ja gehört!«

»Ist’s vielleicht nicht schön?« sagte Rebay und schwang den Zylinder. »Es gibt nicht viele, die solche Couplets machen heutzutag. Fünf Gulden hat mir der alte Ladenbauer gegeben ... das sind meine Honorare, Herr von Breiteneder. Dabei hab ich’s noch einstudiert mit ihr.«

Und Jedek hob wieder den Zeigefinger und sang sehr leise den Refrain: »O Gott, wie bitter ist mir das geschehn – Daß ich nimmer soll den Frühling sehn ...«

»Also warum, frag ich!...« rief Rebay. »Warum?... Gleich nachher war ich doch bei ihr drin ... Ist nicht wahr, Jedek?... Und sie ist mit einem glückseligen Lächeln dag’sessen, hat ihr Viertel Wein getrunken, und ich hab ihr die Haar’ gestreichelt und hab ihr g’sagt: »Na, siehst du, Marie, wie’s den Leuten g’fallen hat? Jetzt werden gewiß auch Leut’ aus der Stadt zu uns herauskommen; das Lied wird Aufsehen machen ... Und singen tust du’s prachtvoll ...« Und so weiter, was man halt so red’t, bei solchen Gelegenheiten ... Und der Wirt ist auch hereingekommen und hat ihr gratuliert. Und Blumen hat sie bekommen – von Ihnen waren s’ nicht, Herr von Breiteneder ... Und alles war in bester Ordnung ... Also, warum soll da mein Couplet schuld sein? Das ist ja ein Blödsinn!«

Plötzlich blieb Breiteneder stehen und packte den Rebay bei den Schultern. »Warum haben S’ ihr denn gesagt, daß ich da bin?... Warum denn?... Hab ich Sie nicht gebeten, daß Sie’s ihr nicht sagen sollen?«

»Lassen S’ mich aus! Ich hab ihr nichts gesagt! Von der Alten wird sie’s gehört haben!«

»Nein,« sagte Jedek verbindlich und verbeugte sich, »ich war so frei, Herr von Breiteneder – ich war so frei. Weil ich g’wußt hab, Sie sein da, hab ich ihr g’sagt, daß Sie da sein. Und weil sie so oft nach Ihnen g’fragt hat, während sie krank war, hab ich ihr g’sagt: ›Der Herr Breiteneder is da ... hinten bei der Latern is er g’standen,‹ hab ich ihr g’sagt, ›und hat sich großartig unterhalten!‹«

»So?« sagte Breiteneder. Es schnürte ihm die Kehle zu, und er mußte die Augen fortwenden von dem starren Blick, den Jedek auf ihn gerichtet hielt. Ermattet ließ er sich auf eine Bank nieder, an der sie eben vorbeikamen, und schloß die Augen. Er sah sich plötzlich wieder im Garten sitzen, und die Stimme der alten Frau Ladenbauer klang ihm im Ohr: »Die Marie laßt Ihnen schön grüßen: ob Sie nicht mit uns mitkommen möchten nach der Vorstellung?« Er erinnerte sich, wie ihm da mit einem Male zumute geworden war, so wunderbar wohl, als hätte ihm die Marie alles verziehen. Er trank seinen Wein aus und ließ sich einen besseren geben. Er trank so viel, daß ihm das ganze Leben leichter vorkam. Geradezu vergnügt sah und hörte er den folgenden Produktionen zu, klatschte wie die anderen Leute, und als die Vorstellung aus war, ging er wohlgelaunt durch den Garten und den Saal ins Extrazimmer des Wirtshauses, an den runden Ecktisch, wo sich die Gesellschaft nach der Vorstellung gewöhnlich versammelte. Einige saßen schon da: der Wiegel-Wagel, Jedek mit seiner Frau, irgendein Herr mit einer Brille, den Karl gar nicht kannte – alle begrüßten ihn und waren gar nicht besonders erstaunt, ihn wiederzusehen. Plötzlich hörte er die Stimme der Marie hinter sich: »Ich find schon hin, Mutter, ich kenn’ ja den Weg.« Er wagte nicht, sich umzuwenden, aber da saß sie schon neben ihm und sagte: »Guten Abend, Herr Breiteneder – wie geht’s Ihnen denn?« Und in diesem Augenblick erinnerte er sich auch, daß sie seinerzeit zu irgendeinem jungen Menschen, der früher einmal ihr Liebhaber gewesen war, später immer »Sie« und »Herr« gesagt hatte. Und dann aß sie ihr Nachtmahl; man hatte ihr alles vorgeschnitten hingesetzt, und die ganze Gesellschaft war heiter und vergnügt, als hätte sich gar nichts geändert. »Gut is’ gangen,« sagte der alte Ladenbauer. »Jetzt kommen wieder bessere Zeiten.« Frau Jedek erzählte, daß alle die Stimme der Marie viel schöner gefunden hatten als früher, und Herr Wiegel-Wagel erhob sein Glas und rief: »Auf das Wohl der Wiedergenesenen!« Marie hielt ihr Glas in die Luft, alle stießen mit ihr an, auch Karl rührte mit seinem Glas an das ihre. Da war ihm, als ob sie ihre toten Augen in die seinen versenken wollte, und als könnte sie tief in ihn hineinschauen. Auch der Bruder war da, sehr elegant gekleidet, und offerierte Karl eine Zigarre. Am lustigsten war Ilka; ihr Verehrer, ein junger dicker Mann mit angstvoller Stirn, saß ihr gegenüber und unterhielt sich lebhaft mit Herrn Ladenbauer. Frau Jedek aber hatte ihren gelben Regenmantel nicht abgelegt und schaute in irgendeine Ecke, wo nichts zu sehen war. Zwei oder dreimal kamen Leute von einem benachbarten Tisch herüber und gratulierten Marie; sie antwortete in ihrer stillen Weise wie früher, als hätte sich nicht das Allergeringste verändert. Und plötzlich sagte sie zu Karl: »Aber warum denn gar so stumm?« Jetzt erst merkte er, daß er die ganze Zeit dagesessen war, ohne den Mund aufzutun. Aber nun wurde er lebhafter als alle, beteiligte sich an der Unterhaltung; nur an Marie richtete er kein Wort. Rebay erzählte von der schönen Zeit, da er Couplets für Matras geschrieben hatte, trug den Inhalt einer Posse vor, die er vor fünfunddreißig Jahren verfertigt hatte, und spielte die Rollen selbst gewissermaßen vor. Insbesondere als böhmischer Musikant erregte er große Heiterkeit. Um eins brach man auf. Frau Ladenbauer nahm den Arm ihrer Tochter. Alle lachten, schrien ... es war ganz sonderbar; keiner fand mehr etwas Besonderes daran, daß um Marie die Welt nun ganz finster war. Karl ging neben ihr. Die Mutter fragte ihn harmlos nach allerlei: wie’s zu Hause ginge, wie er sich auf der Reise unterhalten hätte, und Karl erzählte hastig von allerlei Dingen, die er gesehen, insbesondere von den Theatern und Singspielhallen, die er besucht hatte, und wunderte sich nur immer, wie sicher Marie ihren Weg ging, von der Mutter geführt, und wie ruhig und heiter sie zuhörte. Dann saßen sie alle im Kaffeehaus, einem alten, rauchigen Lokal, das um diese Zeit schon ganz leer war; und der dicke Freund der ungarischen Ilka hielt die Gesellschaft frei. Und nun, im Lärm und Trubel ringsum, war Marie ganz nah an Karl gerückt, geradeso wie manchmal in früherer Zeit, so daß er die Wärme ihres Körpers spürte. Und plötzlich fühlte er gar, wie sie seine Hand berührte und streichelte, ohne daß sie ein Wort dazu sprach. Nun hätte er so gern etwas zu ihr gesagt ... irgend was Liebes, Tröstendes – aber er konnte nicht ... Er schaute sie von der Seite an, und wieder war ihm, als sähe ihn aus ihren Augen etwas an; aber nicht ein Menschenblick, sondern etwas Unheimliches, Fremdes, das er früher nicht gekannt – und es erfaßte ihn ein Grauen, als wenn ein Gespenst neben ihm säße ... Ihre Hand bebte und entfernte sich sachte von der seinen, und sie sagte leise: »Warum hast du denn Angst? Ich bin ja dieselbe.« Er vermochte wieder nicht zu antworten und redete gleich mit den anderen. Nach einiger Zeit rief plötzlich eine Stimme: »Wo ist denn die Marie?« Es war die Frau Ladenbauer. Nun fiel allen auf, daß Marie verschwunden war. »Wo ist denn die Marie?« riefen andere. Einige standen auf, der alte Ladenbauer stand an der Tür des Kaffeehauses und rief auf die Straße hinaus: »Marie!« Alle waren aufgeregt, redeten durcheinander. Einer sagte: »Aber wie kann man denn so ein Geschöpf überhaupt allein aufstehen und fortgehen lassen?« Plötzlich drang ein Ruf aus dem Hof des Hauses herein: »Bringt’s Kerzen!... Bringt’s Laternen!« Und eine schrie: »Jesus Maria!« Das war wieder die Stimme der alten Frau Ladenbauer. Alle stürzten durch die kleine Kaffeehausküche in den Hof. Die Dämmerung kam schon über die Dächer geschlichen. Um den Hof des einstöckigen alten Hauses lief ein Holzgang, an der Brüstung oben lehnte ein Mann in Hemdärmeln, einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand, und schaute herunter. Zwei Weiber im Nachtkleid erschienen hinter ihm, ein anderer Mann rannte über die knarrende Stiege herunter. Das war es, was Karl zuerst sah. Dann sah er irgend etwas vor seinen Augen schimmern, jemand hielt einen weißen Spitzenschal in die Höhe und ließ ihn wieder fallen. Er hörte Worte neben sich: »Es hilft ja nichts mehr ... sie rührt sich nimmer ... Holt’s doch einen Doktor!... Was ist denn mit der Rettungsgesellschaft?... Ein Wachmann! Ein Wachmann!...« Alle flüsterten durcheinander, einige eilten auf die Straße hinaus, der einen Gestalt folgte Karl unwillkürlich mit den Augen; es war die lange Frau Jedek in dem gelben Mantel, sie hielt beide Hände verzweifelt an die Stirn, lief davon und kam nicht zurück ... Hinter Karl drängten Leute. Er mußte mit den Ellbogen nach rückwärts stoßen, um nicht über die Frau Ladenbauer zu stürzen, die auf der Erde kniete, Mariens beide Hände in ihrer Hand hielt, sie hin und her bewegte und dazu schrie: »So red doch!... so red doch!...« Jetzt kam endlich einer mit einer Laterne, der Hausbesorger, in einem braunen Schlafrock und in Schlappschuhen; er leuchtete der Liegenden ins Gesicht. Dann sagte er: »Aber so ein Malheur! Und grad da am Brunnen muß sie mit’m Kopf aufg’fallen sein.« Und nun sah Karl, daß Marie neben der steinernen Umfassung des Brunnens ausgestreckt lag. Plötzlich meldete sich der Mann in Hemdärmeln auf dem Gange: »Ich hab was poltern gehört, es ist noch keine fünf Minuten!« Und alle sahen zu ihm hinauf, aber er wiederholte nur immer: »Es sind noch keine fünf Minuten, da hab ich’s poltern gehört ...« – »Wie hat sie denn nur heraufg’funden?« flüsterte jemand hinter Karl. »Aber bitt’ Sie,« erwiderte ein anderer, »das Haus ist ihr doch bekannt; da hat sie sich durch die Küche halt herausgetastet, dann hinauf über die Holzstiegen, und dann über die Brüstung hinunter – is ja net so schwer!« So flüsterte es rings um Karl, aber er kannte nicht einmal die Stimmen, obwohl es sicher lauter Bekannte waren, die redeten; und er wandte sich auch nicht um. Irgendwo in der Nachbarschaft krähte ein Hahn. Karl war es zumut wie in einem Traum. Der Hausmeister stellte die Laterne auf die Umfassung des Brunnens; die Mutter schrie: »Kommt denn nicht bald ein Doktor?« Der alte Ladenbauer hob den Kopf der Marie in die Höhe, so daß das Licht der Laterne ihr gerade ins Gesicht schien. Nun sah Karl deutlich, wie die Nasenflügel sich regten, die Lippen zuckten und wie die offenen toten Augen ihn geradeso anschauten, wie früher. Er sah jetzt auch, daß es an der Stelle, von der man den Kopf der Marie emporgehoben hatte, rot und feucht war. Er rief: »Marie! Marie!« Aber es hörte ihn niemand, und er hörte sich selber nicht. Der Mann oben im Gang stand noch immer da, lehnte über die Brüstung, die zwei Frauen neben ihm, als wohnten sie einer Vorstellung bei. Die Kerze war ausgelöscht. Violetter Frühdämmer lag über dem Hof. Frau Ladenbauer hatte den Kopf der Marie auf das zusammengefaltete weiße Spitzentuch gebettet; Karl blieb regungslos stehen und starrte hinab. Es war hell genug mit einem Mal. Er sah jetzt, daß alles in Mariens Gesicht vollkommen ruhig war und daß sich nichts bewegte als die Blutstropfen, die von der Stirne, aus den Haaren über die Wangen, über den Hals langsam auf das feuchte Steinpflaster hinabrannen; und er wußte nun, daß Marie tot war ...

Karl öffnete die Augen, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Er saß allein auf der Bank am Wegrande, und er sah, wie der Kapellmeister Rebay und der verrückte Jedek dieselbe Straße hinuntereilten, die sie alle miteinander heraufgegangen waren. Die beiden schienen heftig miteinander zu reden, mit fuchtelnden Händen und gewaltigen Gebärden, der Spazierstock Jedeks zeichnete sich wie eine feine Linie am Horizont ab; immer rascher gingen sie, von einer leichten Staubwolke begleitet, aber ihre Worte verklangen im Wind. Ringsherum glänzte die Landschaft, und tief unten in der Glut des Mittags schwamm und zitterte die Stadt.


Die griechische Tänzerin

Die Leute mögen sagen, was sie wollen, ich glaube nicht daran, daß Frau Mathilde Samodeski an Herzschlag gestorben ist. Ich weiß es besser. Ich gehe auch nicht in das Haus, aus dem man sie heute zur ersehnten Ruhe hinausträgt; ich habe keine Lust, den Mann zu sehen, der es ebensogut weiß als ich, warum sie gestorben ist; ihm die Hand zu drücken und zu schweigen.

Einen anderen Weg schlag ich ein; er ist allerdings etwas weit, aber der Herbsttag ist schön und still, und es tut mir wohl, allein zu sein. Bald werde ich hinter dem Gartengitter stehen, hinter dem ich im vergangenen Frühjahr Mathilde zum letztenmal gesehen habe. Die Fensterladen der Villa werden alle geschlossen sein, auf dem Kiesweg werden rötliche Blätter liegen, und an irgendeiner Stelle werde ich wohl den weißen Marmor durch die Bäume schimmern sehen, aus dem die griechische Tänzerin gemeißelt ist.

An jenen Abend muß ich heute viel denken. Es kommt mir fast wie eine Fügung vor, daß ich mich damals noch im letzten Augenblick entschlossen hatte, die Einladung von Wartenheimers anzunehmen, da ich doch im Laufe der Jahre die Freude an allem geselligen Treiben so ganz verloren habe. Vielleicht war der laue Wind schuld, der abends von den Hügeln in die Stadt geweht kam und mich aufs Land hinauslockte. Überdies sollte es ja ein Gartenfest sein, mit dem die Wartenheimers ihre Villa einweihen wollten, und man brauchte keinerlei besonderen Zwang zu fürchten. Sonderbar ist es auch, daß ich im Hinausfahren kaum an die Möglichkeit dachte, Frau Mathilde draußen zu begegnen. Und dabei war mir doch bekannt, daß Herr Wartenheimer die griechische Tänzerin von Samodeski für seine Villa gekauft hatte; – und daß Frau von Wartenheimer in den Bildhauer verliebt war, wie alle übrigen Frauen, das wußt’ ich nicht minder. Aber selbst davon abgesehen hätte ich wohl an Mathilde denken können, denn zur Zeit, da sie noch Mädchen war, hatte ich manche schöne Stunde mit ihr verbracht. Insbesondere gab es einen Sommer am Genfer See vor sieben Jahren, gerade ein Jahr vor ihrer Verlobung, den ich nicht so leicht vergessen werde. Es scheint sogar, daß ich mir damals trotz meiner grauen Haare mancherlei eingebildet hatte, denn als sie im Jahre darauf Samodeskis Gattin wurde, empfand ich einige Enttäuschung und war vollkommen überzeugt – oder hoffte sogar –, daß sie mit ihm nicht glücklich werden könnte. Erst auf dem Fest, das Gregor Samodeski kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise in seinem Atelier in der Gußhausgasse gab, wo alle Geladenen lächerlicherweise in japanischen oder chinesischen Kostümen erscheinen mußten, habe ich Mathilde wiedergesehen. Ganz unbefangen begrüßte sie mich; ihr ganzes Wesen machte den Eindruck der Ruhe und Heiterkeit. Aber später, während sie im Gespräch mit anderen war, traf mich manchmal ein seltsamer Blick aus ihren Augen, und nach einiger Bemühung habe ich deutlich verstanden, was er zu bedeuten hatte. Er sagte: ›Lieber Freund, Sie glauben, daß er mich um des Geldes willen geheiratet hat; Sie glauben, daß er mich nicht liebt; Sie glauben, daß ich nicht glücklich bin – aber Sie irren sich ... Sie irren sich ganz bestimmt. Sehen Sie doch, wie gut gelaunt ich bin, wie meine Augen leuchten.‹

Ich bin ihr auch später noch einige Male begegnet, aber immer nur ganz flüchtig. Einmal auf einer Reise kreuzten sich unsere Züge; ich speiste mit ihr und ihrem Gatten in einem Bahnhofsrestaurant, und er erzählte allerhand Witze, die mich nicht sonderlich amüsierten. Auch im Theater sprach ich sie einmal, sie war mit ihrer Mutter dort, die eigentlich noch immer schöner ist als sie ... der Teufel weiß, wo Herr Samodeski damals gewesen ist. Und im letzten Winter hab ich sie im Prater gesehen; an einem klaren, kalten Tage. Sie ging mit ihrem kleinen Mäderl unter den kahlen Kastanien über den Schnee. Der Wagen fuhr langsam nach. Ich befand mich auf der anderen Seite der Fahrbahn und ging nicht einmal hinüber. Wahrscheinlich war ich innerlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt; auch interessierte mich Mathilde schließlich nicht mehr besonders. So würde ich mir heute vielleicht gar keine weiteren Gedanken über sie und über ihren plötzlichen Tod machen, wenn nicht jenes letzte Wiedersehen bei Wartenheimers stattgefunden hätte. Dieses Abends erinnere ich mich heute mit einer merkwürdigen, geradezu peinlichen Deutlichkeit, etwa so wie manchen Tags am Genfer See. Es war schon ziemlich dämmerig, als ich hinauskam. Die Gäste gingen in den Alleen spazieren, ich begrüßte den Hausherrn und einige Bekannte. Irgendwoher tönte die Musik einer kleinen Salonkapelle, die in einem Boskett versteckt war. Bald kam ich zu dem kleinen Teich, der im Halbkreis von hohen Bäumen umgeben ist; in der Mitte auf einem dunklen Postament, so daß sie über dem Wasser zu schweben schien, leuchtete die griechische Tänzerin; durch elektrische Flammen vom Hause her war sie übrigens etwas theatralisch beleuchtet. Ich erinnere mich des Aufsehens, das sie im Jahre vorher in der Sezession erregt hatte; ich muß gestehen, auch auf mich machte sie einigen Eindruck, obwohl mir Samodeski ausnehmend zuwider ist, und trotzdem ich die sonderbare Empfindung habe, daß eigentlich nicht er es ist, der die schönen Sachen macht, die ihm zuweilen gelingen, sondern irgend etwas anderes in ihm, irgend etwas Unbegreifliches, Glühendes, Dämonisches meinethalben, das ganz bestimmt erlöschen wird, wenn er einmal aufhören wird, jung und geliebt zu sein. Ich glaube, es gibt mancherlei Künstler dieser Art, und dieser Umstand erfüllt mich seit jeher mit einer gewissen Genugtuung.

In der Nähe des Teiches begegnete ich Mathilden. Sie schritt am Arm eines jungen Mannes, der aussah wie ein Korpsstudent und sich mir als Verwandter des Hauses vorstellte. Wir spazierten zu dritt sehr vergnügt plaudernd im Garten hin und her, in dem jetzt überall Lichter aufgeflackert waren. Die Frau des Hauses mit Samodeski kam uns entgegen. Wir blieben alle eine Weile stehen, und zu meiner eigenen Verwunderung sagte ich dem Bildhauer einige höchst anerkennende Worte über die griechische Tänzerin. Ich war eigentlich ganz unschuldig daran; offenbar lag in der Luft eine friedliche, heitere Stimmung, wie das an solchen Frühlingsabenden manchmal vorkommt: Leute, die einander sonst gleichgültig sind, begrüßen sich herzlich, andere, die schon eine gewisse Sympathie verbindet, fühlen sich zu allerlei Herzensergießungen angeregt. Als ich beispielsweise eine Weile später auf einer Bank saß und eine Zigarette rauchte, gesellte sich ein Herr zu mir, den ich nur oberflächlich kannte und der plötzlich die Leute zu preisen begann, die von ihrem Reichtum einen so vornehmen Gebrauch machen wie unser Gastgeber. Ich war vollkommen seiner Meinung, obwohl ich Herrn von Wartenheimer sonst für einen ganz einfältigen Snob halte. Dann teilte ich wieder dem Herrn ganz ohne Grund meine Ansichten über moderne Skulptur mit, von der ich nicht sonderlich viel verstehe, Ansichten, die für ihn sonst gewiß ohne jedes Interesse gewesen wären; aber unter dem Einflusse dieses verführerischen Frühlingsabends stimmte er mir begeistert zu. Später traf ich die Nichten des Hausherrn, die das Fest äußerst romantisch fanden, hauptsächlich, weil die Lichter zwischen den Blättern hervorglänzten und Musik in der Ferne ertönte. Dabei standen wir gerade neben der Kapelle: aber trotzdem fand ich die Bemerkung nicht unsinnig. So sehr stand auch ich unter dem Banne der allgemeinen Stimmung.

Das Abendessen wurde an kleinen Tischen eingenommen, die, soweit es der Platz erlaubte, auf der großen Terrasse, zum andern Teil im anstoßenden Salon aufgestellt waren. Die drei großen Glastüren standen weit offen. Ich saß an einem Tisch im Freien mit einer der Nichten; an meiner anderen Seite hatte Mathilde Platz genommen mit dem Herrn, der aussah wie ein Korpsstudent, übrigens aber Bankbeamter und Reserveoffizier war. Gegenüber von uns, aber schon im Saal, saß Samodeski zwischen der Frau des Hauses und irgendeiner anderen schönen Dame, die ich nicht kannte. Er warf seiner Gattin eine scherzhaft verwegene Kußhand zu; sie nickte ihm zu und lächelte. Ohne weitere Absicht beobachtete ich ihn ziemlich genau. Er war wirklich schön mit seinen stahlblauen Augen und dem langen schwarzen Spitzbarte, den er manchmal mit zwei Fingern der linken Hand am Kinn zurechtstrich. Ich glaube aber auch, daß ich nie in meinem Leben einen Mann so sehr von Worten, Blicken, Gebärden gewissermaßen umglüht gesehen habe als ihn an diesem Abend. Anfangs schien es, als ließe er sich das eben nur gefallen. Aber bald sah ich an seiner Art, den Frauen leise zuzuflüstern, an seinen unerträglichen Siegerblicken und besonders an der erregten Munterkeit seiner Nachbarinnen, daß die scheinbar harmlose Unterhaltung von irgendeinem geheimen Feuer genährt wurde. Natürlich mußte Mathilde das alles geradeso gut bemerken als ich; aber sie plauderte anscheinend unbewegt bald mit ihrem Nachbarn, bald mit mir. Allmählich wandte sie sich zu mir allein, erkundigte sich nach verschiedenen äußeren Umständen meines Lebens und ließ sich von meiner vorjährigen Reise nach Athen berichten. Dann sprach sie von ihrer Kleinen, die merkwürdigerweise schon heute Lieder von Schumann nach dem Gehör singen konnte, von ihren Eltern, die sich nun auch auf ihre alten Tage ein Häuschen in Hietzing gekauft, von alten Kirchenstoffen, die sie selbst im vorigen Jahr in Salzburg angeschafft hatte, und von hundert anderen Dingen. Aber unter der Oberfläche dieses Gespräches ging etwas ganz anderes zwischen uns vor; ein stummer erbitterter Kampf: sie versuchte mich durch ihre Ruhe von der Ungetrübtheit ihres Glückes zu überzeugen – und ich wehrte mich dagegen, ihr zu glauben. Ich mußte wieder an jenen japanisch-chinesischen Abend in Samodeskis Atelier denken, wo sie sich in gleicher Weise bemüht hatte. Diesmal fühlte sie wohl, daß sie gegen meine Bedenken wenig ausrichtete und daß sie irgend etwas ganz Besonderes ausdenken mußte, um sie zu zerstreuen. Und so kam sie auf den Einfall, mich selbst auf das zutunliche und verliebte Benehmen der zwei schönen Frauen ihrem Gatten gegenüber aufmerksam zu machen und begann von seinem Glück bei Frauen zu sprechen, als wenn sie sich auch daran geradeso wie an seiner Schönheit und an seinem Genie ohne jede Unruhe und jedes Mißtrauen als gute Kameradin freuen dürfte. Aber je mehr sie sich bemühte, vergnügt und ruhig zu scheinen, um so tiefere Schatten flogen über ihre Stirne hin. Als sie einmal das Glas erhob, um Samodeski zuzutrinken, zitterte ihre Hand. Das wollte sie verbergen, unterdrücken; dadurch verfiel aber nicht nur ihre Hand, sondern der Arm, ihre ganze Gestalt für einige Sekunden in eine solche Starrheit, daß mir beinahe bange wurde. Sie faßte sich wieder, sah mich rasch von der Seite an, merkte offenbar, daß sie daran war, ihr Spiel endgültig zu verlieren, und sagte plötzlich, wie mit einem letzten verzweifelten Versuch: »Ich wette, Sie halten mich für eifersüchtig.« Und ehe ich Zeit hatte, etwas zu erwidern, setzte sie rasch hinzu: »Oh, das glauben viele. Im Anfang hat es Gregor selbst geglaubt.« Sie sprach absichtlich ganz laut, man hätte drüben jedes Wort hören können. »Nun ja,« sagte sie mit einem Blick hinüber, »wenn man einen solchen Mann hat: schön und berühmt ... und selber den Ruf, nicht sonderlich hübsch zu sein ... Oh, Sie brauchen mir nichts zu erwidern ... ich weiß ja, daß ich seit meinem Mäderl ein bißchen hübscher geworden bin.« Sie hatte möglicherweise recht, aber für ihren Gemahl – davon war ich völlig überzeugt – hatte der Adel ihrer Züge nie sonderlich viel bedeutet, und was ihre Gestalt anlangt, so hatte sie mit der mädchenhaften Schlankheit für ihn wahrscheinlich ihren einzigen Reiz verloren. Doch ich stimmte ihr natürlich mit übertriebenen Worten bei; sie schien erfreut und fuhr mit wachsendem Mute fort: »Aber ich habe nicht das geringste Talent zur Eifersucht. Das habe ich selbst nicht gleich gewußt; ich bin erst allmählich darauf gekommen, und zwar hauptsächlich vor ein paar Jahren in Paris ... Sie wissen ja, daß wir dort waren?«

Ich erinnerte mich.

»Gregor hat dort die Büsten der Fürstin La Hire und des Ministers Chocquet gemacht und mancherlei anderes. Wir haben dort so angenehm gelebt wie junge Leute ... das heißt, jung sind wir ja noch beide ... ich meine, wie ein Liebespaar, wenn wir auch gelegentlich in die große Welt gingen ... Wir waren ein paarmal beim österreichischen Botschafter, die La Hires haben wir besucht und andere. Im ganzen aber machten wir uns nicht viel aus dem eleganten Leben. Wir wohnten sogar draußen auf Montmartre, in einem ziemlich schäbigen Haus, wo übrigens Gregor auch sein Atelier hatte. Ich versichere Sie, unter den jungen Künstlern, mit denen wir dort verkehrten, hatten manche keine Ahnung, daß wir verheiratet waren. Ich bin überall mit ihm herumgestiefelt. Oft bin ich in der Nacht mit ihm im Café Athenés gesessen, mit Léandre, Carabin und vielen anderen. Auch allerlei Frauen waren zuweilen in unserer Gesellschaft, mit denen ich wahrscheinlich in Wien nicht verkehren möchte ... obzwar schließlich – –« Sie warf einen hastigen Blick hinüber auf Frau Wartenheimer und fuhr rasch wieder fort: »Und manche war sehr hübsch. Ein paarmal war auch die letzte Geliebte von Henri Chabran dort, die seit seinem Tode immer ganz in Schwarz ging und jede Woche einen anderen Liebhaber hatte, die aber in dieser Zeit auch alle Trauer tragen mußten, das verlangte sie ... Sonderbare Leute lernt man kennen. Sie können sich denken, daß die Frauen meinem Manne dort nicht weniger nachgelaufen sind als anderswo; es war zum Lachen. Aber da ich doch immer mit ihm war – oder meistens, so wagten sie sich nicht recht an ihn heran, um so weniger, als ich für seine Geliebte galt ... Ja, wenn sie gewußt hätten, daß ich nur seine Frau war –! Und da bin ich einmal auf einen sonderbaren Einfall gekommen, den Sie mir gewiß nie zugetraut hätten – und aufrichtig gestanden, ich wundere mich heute selbst über meinen Mut.« Sie sah vor sich hin und sprach leiser als früher: »Es ist übrigens auch möglich, daß es schon mit etwas im Zusammenhang stand – nun, Sie können sich’s ja denken. Seit ein paar Wochen wußte ich, daß ich ein Kind zu erwarten hatte. Das machte mich unerhört glücklich. Im Anfang war ich nicht nur heiterer, sondern merkwürdigerweise auch viel beweglicher als jemals früher ... Also denken Sie, eines schönen Abends habe ich mir Männerkleider angezogen und bin so mit Gregor auf Abenteuer aus. Natürlich hab ich ihm vor allem das Versprechen abgenommen, daß er sich keinerlei Zwang antun dürfte ... nun ja, sonst hätte die ganze Geschichte keinen Sinn gehabt. Ich habe übrigens famos ausgesehen – Sie hätten mich nicht erkannt ... niemand hätte mich erkannt. Ein Freund von Gregor, ein gewisser Léonce Albert, ein junger Maler, ein buckliger Mensch, holte uns an diesem Abend ab. Es war wunderschön ... Mai ... ganz warm ... und ich war frech, davon machen Sie sich keinen Begriff. Denken Sie sich, ich hab meinen Überzieher – einen sehr eleganten gelben Überzieher – einfach abgelegt und ihn auf dem Arm getragen ... so wie das eben Herren zu tun pflegen ... Es war allerdings schon ziemlich dunkel ... In einem kleinen Restaurant auf dem äußeren Boulevard haben wir diniert, dann sind wir in die Roulotte gegangen, wo damals Legay sang und Montoya ... »Tu t’en iras les pieds devant« ... Sie haben es ja neulich hier gehört im Wiedener Theater – nicht wahr?« Jetzt warf Mathilde einen raschen Blick zu ihrem Mann hinüber, der nicht darauf achtete. Es war, als wenn sie nun auf längere Zeit von ihm Abschied nähme. Und nun erzählte sie drauflos, immer heftiger, stürzte sozusagen vorwärts. »In der Roulotte,« sagte sie, »war eine sehr elegante Dame, die ganz nahe vor uns saß; die kokettierte mit Gregor, aber in einer Weise ... nun, ich versichere Sie, man kann sich nichts Unanständigeres vorstellen. Ich werde nie begreifen, daß ihr Gatte sie nicht auf der Stelle erwürgt hat. Ich hätte es getan. Ich glaube, es war eine Herzogin ... Nun, Sie müssen nicht lachen, es war gewiß eine Dame der großen Welt, trotz ihres Benehmens ... das kann man schon beurteilen ... Und ich wollte eigentlich, daß Gregor auf die Sache einginge ... natürlich! – ich hätte gern gesehen, wie man so etwas anfängt ... ich wünschte, daß er ihr einen Brief zusteckte – oder sonst was täte – was er eben in solchen Fällen getan haben wird, bevor ich seine Frau wurde ... Ja, das wollte ich, trotzdem es nicht ohne Gefahr für ihn gewesen wäre. Offenbar steckt in uns Frauen so eine grausame Neugier ... Aber Gregor hatte, Gott sei Dank, keine Lust. Wir gingen sogar recht bald fort, wieder hinaus in die schöne Mainacht, Léonce blieb immer mit uns. Der hat sich übrigens an diesem Abend in mich verliebt und wurde gegen seine Gewohnheit geradezu galant. Es war sonst ein sehr verschüchterter Mensch – wegen seines Aussehens ... Ich sagte ihm noch: »Man muß wohl einen gelben Überzieher haben, damit Sie einem den Hof machen.« Wir sind so vergnügt weiterspaziert wie drei Studenten. Und jetzt kam das Interessante: wir gingen nämlich ins Moulin Rouge. Das gehörte zum Programm. Es war auch notwendig, daß endlich irgend etwas geschah. Bisher hatten wir ja noch gar nichts erlebt ... nur mich – denken Sie: mich selbst – hatte ein Frauenzimmer auf der Straße angeredet. Aber das war ja nicht die Absicht gewesen ... Um ein Uhr waren wir im Moulin Rouge. Wie es da zugeht, wissen Sie ja wahrscheinlich; eigentlich hatte ich mir’s ärger vorgestellt ... Es passierte auch anfangs dort nicht das Geringste, und es sah ganz danach aus, als sollte der ganze Scherz zu nichts führen. Ich war ein bißchen ärgerlich. »Du bist ein Kind,« sagte Gregor. »Wie denkst du dir das eigentlich? Wir kommen, und sie fallen uns zu Füßen –?« Er sagte »uns« aus Höflichkeit für Léonce; es war keine Rede davon, daß man Léonce zu Füßen fallen konnte. Aber wie wir nun schon alle ernstlich daran dachten, nach Hause zu gehen, nahm die Sache eine Wendung. Mir fiel nämlich eine Person auf ... mir, wirklich mir ... die schon ein paarmal ganz zufällig an uns vorübergegangen war ... Sie war ganz ernst und sah ziemlich anders aus als die meisten anwesenden Damen. Sie war gar nicht auffallend gekleidet – in Weiß, vollkommen in Weiß ... Ich hatte bemerkt, wie sie zwei oder drei Herren, die sie ansprachen, überhaupt gar keine Antwort gab, einfach weiterging, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sie schaute nur dem Tanze zu, sehr ruhig, interessiert, sachlich möchte ich sagen ... Léonce fragte – ich hatte ihn darum gebeten – ein paar Bekannte, ob ihnen das hübsche Wesen schon irgendwo begegnet wäre, und einer erinnerte sich, daß er sie im vorigen Winter auf einem der Donnerstagsbälle im Quartier Latin gesehen hatte. Léonce sprach sie dann in einiger Entfernung von uns an, und ihm gab sie Antwort. Dann kam er mit ihr näher, wir setzten uns alle an einen kleinen Tisch und tranken Champagner. Gregor kümmerte sich gar nicht um sie – als wenn sie überhaupt nicht dagewesen wäre ... Er plauderte mit mir, immer nur mit mir ... Das schien sie nun besonders zu reizen. Sie wurde immer heiterer, gesprächiger, ungenierter, und wie das so kommt, allmählich hatte sie ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Was so ein armes Ding alles erleben kann – oder erleben muß, möglicherweise! Man liest ja so oft davon, aber wenn man es einmal als etwas ganz Wirkliches hört, von einer, die daneben sitzt, da ist es doch ganz sonderbar. Ich erinnere mich noch an mancherlei. Wie sie fünfzehn Jahre alt war, hat sie irgendeiner verführt und sitzen lassen. Dann war sie Modell. Auch Statistin an einem kleinen Theater ist sie gewesen. – Was sie uns vom Direktor für Dinge erzählte!... Ich wäre auf und davon gelaufen, wenn ich nicht vom Champagner schon ein wenig angeheitert gewesen wäre ... Dann hatte sie sich in einen Studenten der Medizin verliebt, der in der Anatomie arbeitete, den holte sie manchmal aus der Leichenkammer ab ... oder blieb vielmehr mit ihm dort ... nein, es ist nicht möglich, zu wiederholen, was sie uns erzählt hat! – Der Mediziner verließ sie natürlich auch. Und das wollte sie nicht überleben – gerade das! Und sie brachte sich um, das heißt, sie versuchte es. Sie machte sich selbst darüber lustig ... in Ausdrücken! Ich höre noch ihre Stimme ... es klang gar nicht so gemein, als es war. Und sie lüftete ihr Kleid ein wenig und zeigte über der linken Brust eine kleine rötliche Narbe. Und wie wir alle diese kleine Narbe ganz ernsthaft betrachten, sagte sie – nein, schreit sie plötzlich meinen Mann an: »Küssen!« Ich sagte Ihnen schon, Gregor kümmerte sich gar nicht um sie. Auch während sie ihre Geschichten erzählte, hörte er kaum zu, sah in den Saal hinein, rauchte Zigaretten, und jetzt, wie sie ihn so anrief, lächelte er kaum. Ich hab ihn aber gestoßen, gezwickt, ich war ja wirklich etwas beduselt ... jedenfalls war es die sonderbarste Stimmung meines Lebens. Und ob er nun wollte oder nicht, er mußte die Narbe ... das heißt, er mußte so tun, als berührte er die Stelle mit den Lippen. Ja, und dann wurde es immer lustiger und toller. Nie hab ich so viel gelacht wie an diesem Abend – und gar nicht gewußt, warum. Und nie hätte ich es für möglich gehalten, daß sich ein weibliches Wesen – und noch dazu solch eines – im Verlauf einer Stunde so wahnsinnig in einen Mann verlieben könnte, wie dieses Geschöpf in Gregor. Sie hieß Madeleine.«

Ich weiß nicht, ob Frau Mathilde den Namen absichtlich lauter aussprach – jedenfalls schien es mir, als hörte ihn ihr Gatte, denn er sah zu uns herüber; seine Frau sah er sonderbarerweise nicht an, aber unsere Blicke begegneten sich und blieben eine ganze Weile ineinander ruhen, nicht eben mit besonderer Sympathie. Dann plötzlich lächelte er seiner Gattin zu, sie nickte zurück, er sprach mit seinen Nachbarinnen weiter, und sie wandte sich wieder zu mir.

»Ich kann mich natürlich nicht mehr an alles erinnern, was Madeleine später gesprochen hat,« sagte sie, »es war ja alles so wirr. Aber ich will aufrichtig sein: es gab eine Sekunde, in der ich ein bißchen verstimmt wurde. Das war, als Madeleine die Hand meines Mannes nahm und küßte. Aber gleich war es wieder vorbei. Denn, sehen Sie, in diesem Augenblick mußte ich an unser Kind denken. Und da hab ich gefühlt, wie unauflöslich ich und Gregor miteinander verbunden waren, und wie alles andere nichts sein konnte, als Schatten, Nichtigkeiten oder Komödie, wie heute abend. Und da war alles wieder gut. Wir sind dann noch alle bis zum Morgengrauen auf dem Boulevard in einem Kaffeehause gesessen. Da hörte ich, wie Madeleine meinen Gatten bat, er solle sie nach Hause begleiten. Er lachte sie aus. Und dann, um den Spaß zu einem guten und in gewissem Sinne vorteilhaften Ende zu führen – Sie wissen ja, was die Künstler alle für Egoisten sind ... insofern es sich nämlich um ihre Kunst handelt ... – kurz, er sagte ihr, daß er Bildhauer sei, und forderte sie auf, nächstens zu ihm zu kommen, er wollte sie modellieren. Sie antwortete: »Wenn du ein Bildhauer bist, lasse ich mich hängen! Aber ich komm’ doch.«

Mathilde schwieg. Aber nie habe ich die Augen eines weiblichen Wesens so viel Leid ausdrücken – oder verbergen sehen. Dann, nachdem sie sich gefaßt zu dem letzten, was sie mir noch zu sagen hatte, fuhr sie fort: »Gregor wollte durchaus, ich sollte am nächsten Tag im Atelier sein. Ja, er machte mir sogar den Vorschlag, hinter dem Vorhang verborgen zu bleiben, wenn sie käme. Nun, es gibt Frauen, viele Frauen, ich weiß es, die darauf eingegangen wären. Ich aber finde: entweder man glaubt oder man glaubt nicht ... Und ich habe mich entschlossen, zu glauben. Hab ich nicht recht?« Und sie sah mich mit großen, fragenden Augen an. Ich nickte nur, und sie sprach weiter: »Madeleine kam natürlich am Tag darauf und dann sehr oft ... wie manche andere vorher und nachher gekommen ist ... und daß sie eine der schönsten war, können Sie mir glauben. Sie selbst sind erst heute vor ihr in Bewunderung gestanden, draußen am Teich.«

»Die Tänzerin?«

»Ja, Madeleine hat zu ihr Modell gestanden. Und nun denken Sie, daß ich in einem solchen oder in einem anderen Falle mißtrauisch gewesen wäre! Würde ich nicht ihm und mir das Dasein zur Qual gemacht haben? Ich bin sehr froh, daß ich keine Anlage zur Eifersucht habe.«

Irgend jemand stand in der offenen Mitteltür und hatte begonnen, einen wahrscheinlich sehr witzigen Toast auf den Hausherrn zu sprechen, denn die Leute lachten von ganzem Herzen. Ich aber betrachtete Mathilde, die ebensowenig zuhörte wie ich. Und ich sah, wie sie zu ihrem Gatten hinüberschaute und ihm einen Blick zuwarf, der nicht nur eine unendliche Liebe verriet, sondern auch ein unerschütterliches Vertrauen heuchelte, als wäre es wahrhaftig ihre höchste Pflicht, ihn im Genuß des Daseins auf keine Weise zu stören. Und er empfing auch diesen Blick – lächelnd, unbeirrt, obwohl er natürlich ebensogut wußte als ich, daß sie litt und ihr Leben lang gelitten hat wie ein Tier.

Und darum glaub ich nicht an die Fabel von dem Herzschlag. Ich habe an jenem Abend Mathilde zu gut kennen gelernt, und für mich steht es fest: so wie sie vor ihrem Gatten die glückliche Frau gespielt hat vom ersten Augenblick bis zum letzten, während er sie belogen und zum Wahnsinn getrieben hat, so hat sie ihm auch schließlich einen natürlichen Tod vorgespielt, als sie das Leben hinwarf, weil sie es nicht mehr ertragen konnte. Und er hatte auch dieses letzte Opfer hingenommen, als käme es ihm zu.

Da stehe ich vor dem Gitter ... Die Läden sind fest geschlossen. Weiß und wie verzaubert liegt die kleine Villa im Dämmerschein, und dort schimmert der Marmor zwischen den roten Zweigen ...

Vielleicht bin ich übrigens ungerecht gegen Samodeski. Am Ende ist er so dumm, daß er die Wahrheit wirklich nicht ahnt. Aber es ist traurig, zu denken, daß es für Mathilde im Tode keine größere Wonne gäbe, als zu wissen, daß ihr letzter himmlischer Betrug gelungen ist.

Oder irre ich mich gar? Und es war ein natürlicher Tod?... Nein, ich lasse mir nicht das Recht nehmen, den Mann zu hassen, den Mathilde so sehr geliebt hat. Das wird ja wahrscheinlich für lange Zeit mein einziges Vergnügen sein ...

Ende

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

Die in vorliegendem Band abgedruckten Novellen sind den »Gesammelten Werken« entnommen.

Gesammelte Werke
von Arthur Schnitzler

I. Die erzählenden Schriften in drei Bänden

In Leinen 10 M, in Halbleder 13 M, in Ganzleder 17 M

Inhalt: Sterben. Blumen. Ein Abschied. Die Frau des Weisen. Der Ehrentag. Die Toten schweigen. Andreas Thameyers letzter Brief. Der blinde Geronimo und sein Bruder. Leutnant Gustl. Die griechische Tänzerin. Frau Berta Garlan. Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg. Die Fremde. Die Weissagung. Das neue Lied. Der Tod des Junggesellen. Der tote Gabriel. Das Tagebuch der Redegonda. Der Mörder. Die dreifache Warnung. Die Hirtenflöte. Der Weg ins Freie.

II. Die Theaterstücke in vier Bänden

In Leinen 12 M, in Halbleder 16 M, in Ganzleder 21 M

Inhalt: Anatol. Das Märchen. Liebelei. Freiwild. Das Vermächtnis. Paracelsus. Die Gefährtin. Der grüne Kakadu. Der Schleier der Beatrice. Lebendige Stunden. Die Frau mit dem Dolche. Die letzten Masken. Literatur. Der einsame Weg. Zwischenspiel. Der Puppenspieler. Der tapfere Cassian. Zum großen Wurstel. Der Ruf des Lebens. Komtesse Mizzi oder Der Familientag. Der junge Medardus. Das weite Land.

Werke von Arthur Schnitzler

Sterben

Novelle. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark

Der Dichter und der Arzt haben sich in dieser Erzählung zu gemeinsamer Tat vereint, und was sie vollbracht haben, verdient die größte Anerkennung, um so mehr, als das Sujet an Handlung sehr arm ist und sich nur auf zwei Haupt- und eine Nebenperson beschränkt. Die deutsche Literatur könnte sich glücklich preisen, wenn sie viele solche Bücher hätte wie diese einfache Erzählung.

(Deutsche Revue)

Die Frau des Weisen

Novelletten. 8. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark

Die Poesie des Vergehens lockt Schnitzler immer und lohnt seine liebevolle Hingabe an die Schatten, die auf den Lebensweg fallen, mit dichterischen Erfolgen. Die Gestalten, die er zeichnet, sind der Reflexion verfallen, aus der Reflexion heraus erstehen die Konflikte. Eine weichgestimmte Natur, hegt er edle Instinkte. Frauen, die Chopin gerne spielen, müssen Schnitzler gerne lesen.

(Neues Wiener Tagblatt)

Leutnant Gustl

Novelle. 18. Auflage. Geheftet 1 Mark, gebunden 2 Mark

Eine bittere Satire vom militärischen Standpunkt aus, aber als Erzählung von prachtvoller Geschlossenheit, in jedem Zuge lebendig, und wie virtuos dabei in der Ausführung! Selten ist das Innere eines in engen Vorurteilen befangenen Menschen, der durch ein Ungefähr in fieberhafte Aufregung gerät, meisterhafter durchleuchtet und dargestellt worden als in dieser auch stofflich höchst spannenden, aus einem einzigen Monolog bestehenden Novelle.

(Dresdner Anzeiger)

Dämmerseelen

Novellen. 12. Auflage. Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark

Schnitzler beweist auch in seinem neuesten Werkchen jene außerordentliche Treffsicherheit des Tones, die im Konzert der zahlreichen europäischen Musikanten leicht an ihren Sonderakkorden erkannt wird. Von jener weltmännischen Gewandtheit, die nur irrtümlich als oberflächlich gilt, weil sie schamhaft genug ist, heiße Tränen hinter dem heimlichen Wappenschilde des Lächelns zu verbergen, läßt er durch die Maske des spielerisch tändelnden Dandys das wahre Antlitz des sinnenden ernsten Dichters lugen.

(Breslauer Morgenzeitung)

Der Weg ins Freie

Roman. 25. Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark

Je länger dieses Buch in mir nachklingt, desto stärker wird der menschliche Eindruck, den es hinterläßt. Hier ist diese wundervolle Vereinigung, daß man überall spürt, wie stark in dem Dichter Schnitzler der Mensch ist; hier hat der Dichter den Menschen und der Mensch den Dichter beleuchtet, hier ist Leben und Schaffen, künstlerisches, und beinahe möchte man sagen privates Fühlen so vollkommene Einheit, daß man über das Buch hinaus den Eindruck der reinen Individualität empfängt, die es geschrieben hat.

(Die Zeit, Wien)

Masken und Wunder

Novellen, 11. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark

Ein geheimnisreicher Name für ein rätselvolles, ernstes und tiefes Buch! Von den Seelen merkwürdiger Menschen, zumal von Frauen, ist darin gehandelt – skeptisch und mit verhaltener Ironie, aber auch mit der seelischen Tiefe, die wunderliche Menschenschicksale in ihrem Wesen erfaßt und in den feinsten Gründen ihrer Existenz darlegt.

(Generalanzeiger, Mannheim)

Frau Beate und ihr Sohn

Novelle. 12. Auflage. Geheftet Mark 2.50, gebunden Mark 3.50

Aus der Welt weicher Sinnlichkeit und unbewachten Genußtriebs, die uns Schnitzler so oft mit überlegener Ironie geschildert hat, arbeitet er in dieser Meisternovelle eine erschütternde Tragik heraus. Schnitzler hat in dieser novellistischen Tragödie der entweihten Mutterschaft sein Stärkstes geboten.

(Vossische Zeitung, Berlin)

Gustaf af Geijerstam

Gesammelte Romane in fünf Bänden


Fünf Bände in schöner, gediegener Ausstattung mit einem Porträt des Dichters. Geheftet 12 Mark, in Leinen gebunden 15 Mark


1. Bd.: Einleitung / Auf der letzten Schäre / Das Geheimnis des Waldes / Kristins Myrte / Sammel / Alte Briefe / Frau Gerdas Geheimnis.

2. Bd.: Das Haupt der Medusa / Die Komödie der Ehe.

3. Bd.: Das Buch vom Brüderchen / Frauenmacht.

4. Bd.: Karin Brandts Traum / Gefährliche Mächte.

5. Bd.: Die Brüder Mörk / Die alte Herrenhofallee.


Mit dieser neuen Ausgabe seiner Werke wohnt Geijerstam mitten unter uns. Man hat ihn in Deutschland verstanden. Diese Sammlung seiner Werke – rein äußerlich, bei schöner Ausstattung und sehr billigem Preise, die denkbar beste Vereinigung von Volks- und Bibliotheksausgabe – ist Beweis dafür. Den Geijerstam, den man braucht, hat man in dieser Auswahl ganz. Sie findet ihre literarische Rechtfertigung zudem in einer Einleitung von Friedrich Düsel, und diese Einführung gibt eine seelisch eindringliche, man könnte beinahe sagen erschöpfende Analyse von Geijerstams künstlerischer Persönlichkeit ... In Geijerstam kündigt sich eine neue Weltanschauung an, noch viel zu unentwickelt, um in den Rahmen von zehn Geboten gefaßt zu werden, doch aber recht eigentlich die Weltanschauung des Menschen, der nicht die Kraft, dafür aber die Zartheit seiner eigenen Empfindungen besitzt. – Eine neue Frucht der Erkenntnis gleißt aus der grünen Blätterpracht dieser Erzählungen! Aus dem Stamm des sozialen Mitleidens ist sie erwachsen. Menschen mit verfeinerten Empfindungsorganen werden danach greifen und werden – wie das immer war – beides daraus schmecken: Tod und Leben.

(Frankfurter Zeitung)

Otto Erich Hartleben

Ausgewählte Werke in drei Bänden


Auswahl und Einleitung von Franz Ferdinand Heitmüller. Mit dem Bilde des Dichters. Preis geheftet 8 Mark, in drei Pappbänden gebunden 10 Mark, in drei Ganzpergamentbänden 15 Mark.


1. Bd.: Gedichte: Einleitung / Die Gedichte vollständig.

2. Bd.: Prosa: Die Serenyi / Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe / Wie der Kleine zum Teufel wurde / Vom gastfreien Pastor / Der Einhornapotheker / Der römische Maler / Der bunte Vogel.

3. Bd.: Dramen: Angele / Hanna Jagert / Die Erziehung zur Ehe / Die sittliche Forderung / Rosenmontag.


Ein schönes Werk der Pietät. In wundervoller Ausstattung ist hier ein Überblick über des toten Poeten Lebenswerk gegeben. Den ersten Band ziert ein schönes Bild Hartlebens. Druck, Papier, Einband – alles ist zu jener vornehmen Harmonie abgetönt, die des Dichters eigene Person ausströmte und mit der er jeden gefangen nahm, der die Freude hatte, ihm im Leben zu begegnen. Diese drei Bände stellen eine Zierde für jede Bibliothek dar.

(Universum, Leipzig)

Dieses Werk faßt als Rahmen noch ein ganz apartes Schmuckstück, nämlich das Bildnis einer reinen, edlen Frauengestalt, wenn es in seiner Einleitung Bruchstücke aus den Tagebuchaufzeichnungen wiedergibt, mit denen Hartlebens Mutter die erste Jugend ihres Ältesten geleitete. Diese Tagebuchnotizen geben sogar in doppeltem Sinne Biographisches. Denn sie kennzeichnen ihre Verfasserin, diese stille Frau, die nicht Frau Ajas Humor, aber Frau Ajas Geduld und ihre Liebe hat.

(Hamburger Fremdenblatt)

Peter Nansen

Werke in drei Bänden


Mit dem Bilde des Dichters. Drei Leinenbände in elegantem Futteral 12 Mark. Jeder Band einzeln geheftet 3 Mark 50 Pf., in Leinen gebunden 4 Mark 50 Pf.


1. Band: Jugend und Liebe. Eine glückliche Ehe / Aus dem ersten Universitätsjahr / Die Feuerprobe / Das erleuchtete Fenster / Des Bürgermeisters Winterüberzieher / Der Simulant / Aus dem Tagebuch eines Verliebten / Ein Weihnachtsmärchen / Der Weihnachtsbaum / Fräulein Mimi / Eine Ballunterhaltung.

2. Band: Theater. Judiths Ehe / Eine glückliche Ehe / Kameraden / Ein Hochzeitsabend / Die gestörte Verbindung.

3. Band: Die Romane des Herzens. Julies Tagebuch / Maria / Gottesfriede.


Nansens freie Selbständigkeit und seine künstlerische Unbefangenheit, die manchen als Rücksichtslosigkeit erscheinen mag, weisen ihm eine hohe Stellung unter seinen Landsleuten an, denen so vielfach über der Tendenz die Gabe abhanden gekommen ist, die Welt zu schildern, wie sie ist. Nansen will ein neues Frauenideal der nordischen Literatur zu Ehren bringen, indem er in erster Linie die »Weibheit« der Frau – wie Laura Marholm sagen würde – berücksichtigt; aber diese Absicht ist nicht die Hauptsache. Seine Bücher haben dagegen einen eigenen poetischen Wert.

(Norddeutsche Allgemeine Zeitung)

Peter Nansen stammt aus der elegischen, graziösen Hauptstadt des Nordens, die architektonisch mit Dresden, seelisch mit Wien, geistig mit Paris verwandt ist. Er gehört zu denen, die das Klima der nordischen Literatur wärmer, sinnlicher, verführerischer gemacht haben, so daß wir die Franzosen bald ganz entbehren können.

(Das Literarische Echo)

[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf Grundlage der 1914 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen.

p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (entfernt)
p 024: Anführungszeichen ergänzt: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!«
p 026: Anführungszeichen ergänzt: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!«
p 102: Anführungszeichen ergänzt: »Wie?– -> »Wie?«–
p 128: Anführungszeichen ergänzt: »Ich bin nicht schuld daran,
p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte.
p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ]

[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from scans of an original copy, published in 1914 as part of the series "Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane". The table below lists all corrections applied to the original text.

p 001: Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane -> (deleted)
p 024: added missing quotes: »Wofür denn?! ->»Wofür denn?!«
p 026: added missing quotes: »Lieber mir, ... daneben! -> daneben!«
p 102: added missing quotes: »Wie?– -> »Wie?«–
p 128: added missing quotes: »Ich bin nicht schuld daran,
p 139: an die fünfzigmal gehört hätte. -> hatte.
p 148: Die Marie laßt Ihnen schon grüßen -> schön ]






End of Project Gutenberg's Die griechische Tänzerin, by Arthur Schnitzler

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both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

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work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
https://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org.  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at https://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     gbnewby@pglaf.org


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit https://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including including checks, online payments and credit card
donations.  To donate, please visit: https://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


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