Title: Auf märkischer Erde
Author: Hanns von Zobeltitz
Release date: October 11, 2022 [eBook #69133]
Language: German
Original publication: Germany: Neufeld & Henius
Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1910 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert. Fremdsprachliche und regional gefärbte Ausdrucksweisen wurden unverändert übernommen.
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Auf märkischer Erde
HANNS VON ZOBELTITZ
Roman
NEUFELD & HENIUS / VERLAG / BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1910 by Egon Fleischel & Co., Berlin
Gedruckt bei A. Heine, G. m. b. H., Gräfenhainichen
[S. 5]
Die Rackowschen waren soeben fortgefahren. Im großen Zimmer räumte Helene mit dem Stubenmädchen den Kaffeetisch ab. Ihr feines Näschen schnoberte, wie’s der Vater nannte, dem leisen, süßen Duft von Waffeln und Pariser Parfüm nach, der noch im Raum lag. Immer hinterließ Tante Marie diesen Veilchengeruch mit dem Moschusakzent, und immer rief er in Helenens erregbarer Phantasie unklare Vorstellungen wach von unerhörtem Luxus, von rauschenden Seidenkleidern, kostbaren indischen Schals, koketten Kapotthütchen, von funkelnden Brillanten und Perlenreihen, die sich um tiefentblößte weiße Nacken schmeichelten. Ganz merkwürdig: immer war dann auch das Bild der schönen Kaiserin Eugenie da, von der die Rackowschen vorhin wieder erzählt hatten. Tante Marie von ihrer Anmut und Eleganz, von den Kleidern, die sie auf der Brunnenpromenade in Ems getragen, und wie groß der Umfang ihrer Krinoline gewesen wäre; Onkel Ernst mit zugespitzten dicken Lippen von ihrer Schönheit, ihrem üppigen rotblonden Haar, ihrem blendenden Teint. Und daß und wie der General Fleury immer um sie gewesen wäre. Da hatten die Herren gelacht, aber Tante Marie und Martha hatten verstohlene Blicke gewechselt.
Die Tassen klirrten leise unter ihren Händen. Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.
Der Rittmeister schritt schweigend auf dem hausgewirkten Läufer entlang, der in der Diagonale des großen Zimmers[S. 6] lag, von der Korridortür bis zur Tür der Vorratskammer. Straff aufrecht ging er, die Hände auf dem Rücken, den Kopf mit dem weißen, ein wenig gelockten Haar etwas vorgebeugt, seine gewohnten zwölf Schrittchen hin, zwölf Schrittchen zurück. Jedesmal, wenn er kehrt machte, sah er zärtlich zu seinem Spätling hinüber. Aber seine Gedanken waren nicht um Helene beschäftigt. Auch sie gingen nach Paris. Immer, wenn der Name Paris fiel, dachte er an seine große Zeit zurück, an die Tage, an denen er sich das Kreuz von Eisen gewonnen hatte, an seinen geliebten Marschall Vorwärts und an den anderen Napoleon, den er heut noch haßte wie Anno 13. Ebenso haßte, wie er den Neffen verachtete, ihn und das ganze Getriebe um ihn her. Ein ehrlicher und kritikloser Haß war’s, und eine ehrliche und kritiklose Verachtung, ganz im altpreußischen Zuschnitt.
An dem letzten der drei Fenster saß Mutter. Mutter — Omama genannt, seit die Kinder von Bruder Wilhelm im Hause waren und heranwuchsen. Selbst Helene vergaß sich manchmal und sagte Omama zu ihrer Mutter. Vor dem birkenen Nähtisch saß sie und träumte mit ihren großen blauen Augen ins Freie, in die grünen Fliederbüsche des Gartens hinaus. Die Hände im Schoß und die Lippen in leiser, stummer Bewegung. Vielleicht skandierte sie wieder einmal. Schrieb’s wohl auch am Abend heimlich auf und legte es heimlich in das Glaskästchen mit den blauen Bändern, wo ihr Allerheiligstes und Allerheimlichstes war, ihr Reliquienschrein. Der alte Rittmeister nannte ihn spottend den Körnersarg. Denn ganz unten lagen ein paar vertrocknete Veilchen, die der Sänger einst der Omama verehrt hatte. Lang, lang war’s her, und aus der jungen Komteß Grucker war ein verhutzeltes altes Frauchen geworden, aus der gefeierten Schönheit, der reichen Erbin eine kleine, greise märkische Edelfrau. Aber sie konnten’s beide nicht vergessen: Omama nicht die eine Begegnung, die eine Stunde unter der Eiche im Park, und der Rittmeister nicht seine rasende Eifersucht. Trotzdem die schleichende Zeit sonst so vieles ertötet und begraben hatte.
[S. 7]
Es war totenstill im großen Zimmer. Nur das Ticken der Kuckucksuhr klang, und bisweilen schnappte Diana, die am Ofen lag, nach einer verspäteten Fliege. Dann blitzte der alte Herr aus seinen scharfen Augen mißbilligend hinüber und machte halblaut: Kusch. Gleich legte der Köter gehorsam den feinen Kopf zwischen die Pfoten. Einen höllischen Respekt hatten die Hunde. Der Rittmeister dressierte sie selber; noch nach der alten Methode, mit Peitsche und Korallenhalsband.
Der Kaffeetisch war längst abgeräumt. Das Mädchen hatte das Damasttuch mit hinausgenommen, Helene breitete die braune Plüschdecke über den Tisch. Wie immer verdroß sie dabei der große runde Fleck, auf dem am Abend die Lampe stand. Sie strich von rechts drüber hin und von links. Es half nichts. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. Abgeschabt und ärmlich. Altmodisch und ärmlich. Wo sie auch hinsah, alles im Zimmer abgeschabt, altmodisch und ärmlich. Die Tapete mit den kleinen Vierecken und den bunten Sträußchen in jedem Quadrat voller Flecken; der Sofateppich mit dem Rosenmuster dünn; die Zimmerdecke grau verblakt; das eckige, steiflehnige Kanapee eingesessen. Und sie dachte wieder an das elegante Rackow und an die elegante Tante Marie, die so häßlich war wie die Nacht und doch alle Welt bezauberte, dachte darüber hinaus wieder an Paris und an die Toiletten der Imperatrice, an funkelnde Diamanten und an Perlenketten, die sich um tiefentblößte weiße Nacken schmeichelten. Und an die Große Oper dachte sie, von der die Rackower erzählt hatten. An die erste Aufführung des „Tannhäuser“, der die im vorigen Jahr in Paris beigewohnt hatten, dachte sie, und was das für eine kuriose Musik gewesen sein sollte, von einem Deutschen namens Wagner, einem Revolutionsmann von 48 — und dann dachte sie an die Desirée Artôt und an die kleine Pauline Lucca, die in Berlin seit dem vorigen Jahr alle Herzen entflammte. Bruder Wilhelm konnte ja nicht genug Wesens von ihr machen.
Helene war an den Ofen getreten. Fast wie im Trotz[S. 8] lehnte sie sich fest an ihn und fühlte dabei, daß ihre Hände fiebrig heiß auf den kalten Kacheln lagen.
Immer noch machte Vater seinen eintönigen Marsch in der Diagonale. Immer noch träumte Mutter zum Fenster hinaus. Immer noch — immer noch. Die Luft war so drückend, und es schien, als senkte sich die graue Zimmerdecke langsam immer tiefer.
„Ich geh’ hinaus auf die Veranda“, sagte sie plötzlich scharf in die Stille hinein. Und wunderte sich, daß sie’s überhaupt sagte.
Der alte Rittmeister unterbrach seinen Marsch nicht, nickte nur, lächelte ihr zu. Mutter sah flüchtig auf. „Nimm mein Tuch um, Lenchen. Es wird schon kalt gegen Abend.“
„Mich friert nicht. Ich geh’ zur Post mit den Jungens. Oder ich geh’ zu Pastors.“
Eigentlich hätte sie sagen mögen: ich geh’ in die weite Welt hinaus. Und wußte doch, daß ihre Welt drüben an der neuen Chaussee, an der schnurgeraden Pappelreihe ihr Ende hatte. Aber vielleicht sah, faßte sie dort wirklich die Post, die von Frankfurt kam ... und hinter Frankfurt lag Berlin ... zwei Stunden nur mit der Eisenbahn, und der wundervolle köstliche Dampfwagen raste von Berlin weiter hinaus in die Weite, in diese köstliche, wundervolle Weite ..
Aber dann, als die schwere eichene Haustür hinter ihr ins Schloß gefallen war, blieb sie doch auf der Veranda stehen.
Denn da saß Martha, hatte eine gewaltige irdene Schüssel im Schoß und schnipselte Bohnen. Fleißig wie immer. Grad daß sie über das bessere Kleid, das sie den Rackowern zu Ehren in der Eile angetan, die große Küchenschürze gebunden hatte.
Als Helene sie so sah, wurde wieder etwas wie Trotz in ihr wach, eine Auflehnung gegen das Bild der Alltäglichkeit. Sie fragte hastig: „Warum quälst du dich selber, Martha? Laß das doch Mamsell machen.“ Und sie wurde rot dabei, denn sie liebte die junge Schwägerin in ihrem heißen Herzen, hegte eine unwillige Bewunderung für sie.
[S. 9]
Martha Hackentin sah nur einen Augenblick auf. „Ich kann doch nicht müßig sein. Mamsell hat in der Leuteküche zu tun.“ Da lief Helene zurück an den Schrank im Flur, holte sich ein Küchenmesser, zog sich einen Stuhl heran und griff in die irdene Schüssel. Es ging ihr gut von der Hand, wenn sie irgendeine Arbeit begann, aber sie hatte keinerlei Neigung zur wirtschaftlichen Betätigung und erlahmte schnell.
Auch jetzt lehnte sie sich bald zurück und sah der Schwägerin zu. Sah auf den glatten dunklen Scheitel und die weiße, etwas niedrige Stirn, die tief über das Gefäß gesenkt war. Sah auf die Hände, die, so gut sie gehalten waren, die stark tätige Hausfrau verrieten.
„Sehnst du dich nie nach der Stadt?“ fragte sie plötzlich.
„Wie sollte ich, Helene? Ich bin ja gern in Rohlbeck. Ich bin doch hier zu Hause.“ Martha hatte auf einen Moment die klaren grauen Augen gehoben, hatte ein wenig mit dem Kopf geschüttelt: Helene tat oft gar zu merkwürdige Fragen.
„Nun ... du bist doch aus der Stadt. Du bist doch kein Landkind.“
„Aber ich hab’ hier meine Heimat gefunden. Meine liebe zweite Heimat.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Ich hab’ meine Kinder hier und meine Arbeit.“
„Ja. Freilich! Arbeit hast du, von früh bis spät. Die erste im Hause auf und die letzte in den Federn. Man müßte sich eigentlich schämen vor dir. Man müßte —“
„Du Närrin! Mir ist’s noch nie zu viel geworden.“
Eine Weile war’s stille zwischen ihnen. Auch Helene hatte wieder in die Schüssel gegriffen, aber sie zog die Bohnen nur spielend durch ihre feingliedrigen langen Hände. Es war wieder, wie es oft war. Sie hätte der Schwägerin nicht weh tun wollen — um alles in der Welt nicht. Aber sie einmal ein wenig aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, an ihrem ewig gleichen, schönen Maßhalten zu rütteln: das reizte sie wie eine verbotene Frucht.
„Wilhelm bleibt diesmal fürchterlich lange in Berlin.“
[S. 10]
„Er muß wohl.“
„Wenn ich an deiner Stelle wär’, Martha — ich stürbe vor Sehnsucht.“
„Es stirbt sich nicht so leicht, du Kind.“
Noch immer klang die Stimme gleich gelassen. Aber die Hände ruhten doch auf eines Atemzugs Länge am Rande der Schlüssel, und die weiße, schmale Stirn hatte sich noch ein wenig tiefer geneigt.
„Du sagst das so: Wilhelm muß! Meine brüderliche Liebe hat an unserer Öde hier nie besonderen Gout gefunden.“
Diesmal sah Martha voll auf. Eine leichte Röte stieg in ihr weiches Gesicht, flutete über den klaren Teint, der vielleicht das Schönste an ihr war, und ebbte gleich wieder ab.
„Das war nicht hübsch von dir, Helene“, sagte sie dann bestimmt. „Du weißt es doch: die kleine Klitsche kann nicht zwei Familien ernähren, und Wilhelm war nicht so ... nicht so vorsichtig, sich eine reiche Frau zu nehmen. Da muß er eben Geld verdienen ... und hat’s gewiß dabei oft schwer genug.“
„Das elende Geld!“ rief Helene. „Das herrliche, das wunderherrliche Geld. Ach Martha ... einmal so recht in Friedrichsdore wühlen können! Scheffelweise möcht’ ich’s haben. So reich sein wie die Rackower, ein großes, glänzendes Haus machen, reisen, die Welt sehen ...“
„Und glaubst du, daß das glücklich macht?“
„Ja! Ja! Mich gewiß. So wie ich nun mal bin. Sieh mich nur strafend an, nenn’ mich nur schlecht! Ich kann mich nicht ändern. Ihr alle könnt mich nicht ändern!“ Heiß hatte sie’s herausgestoßen, mit halblauter, mühsam verhaltener Stimme. Den rostbraunen Haarschopf warf sie zurück, strich sich mit beiden Händen über die Schläfen. Und dann kam gleich der Rückschlag. Die Hände sanken in den Schoß. „Aber wir sind ja hier alle arm wie die Kirchenmäuse. Die ganze Sippe: die Golziner, die Steckschen, die Buckschen. Grad nur die Rackower machen eine[S. 11] Ausnahme, weil die Tante Marquise die Millionen hat. Sonst ... es ist ein Jammer um den elenden märkischen Sand!“
Martha war aufgestanden. Sie setzte die große Schüssel auf den eichenen Tisch. Nun siegte der Unwille doch über ihre Gelassenheit. „Du bist ein rechtes Kind, Helene“, sagte sie ziemlich scharf. „Schäm’ dich, unsere liebe Scholle zu schelten. Die ist treu, wenn sie auch karg sein mag. Und wir müssen Treue um Treue vergelten. Geh hinüber auf den Kirchhof, schau’ dir die alten Gräber an. Da liegen deine Vorfahren, Reihe um Reihe, seit dreihundert Jahren. Seit dreihundert Jahren hat das gegolten: Treue um Treue. Daß dir das die Städterin sagen muß, dir, Helene! Schäme dich!“
Eine Sekunde stand Helene noch im Trotz. Dann flog sie der Schwägerin jäh um den Hals und küßte sie rechts und links auf die Wangen. „Du Gute! Du Liebe! Du Allerbeste ...“
Da trat gerade der alte Herr aus der Haustür, und als er seinen Spätling und die Schwiegertochter in der engen Umarmung sah, lachte er froh: „So hab’ ich euch gern. Das heißt“ — er legte den gekrümmten rechten Zeigefinger um den Nasenrücken — „das heißt ... die Überschwenglichkeit stammt natürlich von der Helene. Hat sie von der guten Mama. Die war auch so ... gleich aus dem Häuschen ... das heißt, damals, als wir noch jung waren. Lieber Gott ... ja ... und ist das heut nicht ein schöner Septemberabend?“
Das letzte sagte er schon, sich umwendend, auf der Mitte der tief ausgetretenen Treppenstufen, die von der Veranda in den Garten hinabführten. Und ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er weiter hinunter, den breiten sandigen Fahrweg entlang, der, von sonnverbrannten kümmerlichen Rasenbeeten umsäumt, am Tore in den Dorfanger mündete.
Es war die Stunde, zu der er sich seit Jahrzehnten, Sommer und Winter, dort am Torweg mit dem Pastor loci[S. 12] traf. Das Wetter mußte schon sehr schlecht sein, wenn der alte Rittmeister und Pastor Heckstein ihr Rendezvous in die große Stube des Schlosses, wie das herrschaftliche Haus trotz aller Einfachheit von alters her genannt wurde, oder in das verräucherte Studierzimmer des Pfarrhauses verlegten. Wetterfeste Greise, die sie waren. Dem Rittmeister verschlug’s nichts, mit seinen fast siebzig Jahren bei strengster Kälte ein paar Kesseltreiben mitzumachen, und Heckstein, der nur wenige Jahre jünger war, fuhr im Winter regelmäßig im offenen Wägelchen ohne Pelz nach seinen beiden Filialdörfern, Dommelt und Rackow, stand im dünnen Talar in der ungeheizten Kirche auf der Kanzel und lachte nachher vor der Kirchtür seinen anderen Freund und Patron Ernst Hackentin aus, wenn der schimpfend die gewaltige Kugel seines Korpus in kostbaren Zobelpelz aus dem gutsherrlichen Gestühl herausrollte.
Auch heut kam er pünktlich des Wegs vom Pfarrhause her, der kleine hagere Mann im schwarzen Düffelrock mit dem schwarzen breitkrämpigen weichen Filzhut über dem scharfkantigen bartlosen Gesicht, aus dessen brauner Lederhaut die großen Augen hell und gutmütig, aber auch eigen lustig und listig herausleuchteten. Er stapfte mit gemächlichen Schritten, hob hier seinen dicken Knotenstock drollig drohend gegen den halbwüchsigen Christian Metzger, der in der letzten Konfirmandenstunde gedöst haben mochte und nun schleunigst Reißaus nahm; blieb dort stehen, um einer Gänseherde, die in wohlgeordneter Marschordnung über den Anger zog, wohlgefällig nachzuschauen, und fragte die Frau Kantorin, die am Zaun stand, wie ihre berühmten Gravensteiner heuer zu geraten versprächen. Da gerade die hübsche Anna Flehr, die Kantorstochter, am selbigen Zaun Maulaffen feilhielt, so kniff er ihr im Vorübergehen fest in die runde, rosige Backe. Für ein hübsches Menschenkind hatte er das gleiche Verständnis wie für einen guten Apfel, wobei ihm aber ein frisches Mädel lieber war als ein Bube und ein duftender Gravensteiner lieber als eine schrumpliche Reinette.
[S. 13]
Vor ihm her trottelte Waldmann, rastete, machte einen Bogen, lief wieder ein Stückchen voraus, kam zurück, schlenkerte mit dem langen Behang — kurz, benahm sich höchst willkürlich. Ganz im Gegensatz zur Diana, die haarscharf hinter dem linken Fuß ihres gestrengen Herrn blieb, mit der feinen Nase dicht an dessen grauem Beinkleid. Und die grundsätzlich nie von dem pastoralen Dackel Notiz nahm.
Schon von weitem grüßten sich die beiden alten Herren. Der Rittmeister hob militärisch zwei Finger an sein Käppchen; der Pastor berührte flüchtig die Hutkrempe.
„N’Abend, Hackentin. Wie geht’s? Wie steht’s?“
„N’Abend, Pastor. Alles gut zu Wege bei dir?“
Sie nannten sich seit achtunddreißig Jahren du; seit Heckstein den Wilhelm getauft hatte. Mit dem stand er nun auch schon zwölf Jahre auf du und du, seit dem Tauftage seines Ältesten. Und dem hatte Heckstein neulich mit einem freundschaftlichen Jagdhieb eröffnet: „Na, Junker Hans, wenn ich deinen Erstgeborenen taufe, machen wir beide Brüderschaft. Sput’ dich nur ’n bissel, daß ich nicht zu lange warten brauch’.“
Ein paar Augenblicke blieben die alten Freunde zwischen den Pfosten des Torwegs stehen, zwei vierkantig behauenen, schwarzgeteerten Eichenstämmen, jeder mit einer Vollkugel gekrönt, die gelegentlich auf der Feldmark gefunden worden waren; Kantor Flehr, der ein Bücherwurm war, hatte damals eine gelehrte Untersuchung angestellt, nach der sie russischer Providenz sein sollten und aus den Julitagen 1759 stammten, in denen General Wedel sich vor Soltykow über die Oder zurückziehen mußte.
Der Pastor sah auf die frische Radspur. „Die Rackower waren hier. Wie waren sie denn, Hackentin?“
„Ernst ist noch ’n bissel dicker geworden, denk’ ich. Das heißt — wenn’s möglich ist. Mariechen war herablassend wie immer, ganz Marquise, hatte ein Monstrum von Krinoline an, ein Kleid mit verrückt vielen Volants und dazu einen neuen Sonnenschirm, blaue Seide mit Spitzen, der wohl wieder die Weiber auf zehn Meilen im Umkreis[S. 14] verdreht machen wird. Das heißt — sie nannte das Ding natürlich nicht Schirm, sondern ombrelle. Auf der Rechnung nimmt sich das übrigens tout-egal aus, und bezahlt wird die doch sobald nicht.“
Sie zwinkerten sich, verständnisvoll lächelnd, mit den Augen zu und bogen in die Allee von hochstämmigen Kastanien ein, die sich längs des Gartenzauns hinzog. Langsam, behaglich schritten sie nebeneinander her; Diana immer mit der Nasenspitze am linken Bein des Rittmeisters, Waldmann bald voraus, bald zurück, bald stehen bleibend und die schlanke Engländerin mit klugen Augen, halb neidisch, halb mißachtungsvoll anschauend.
„Ja, und Ernst hat eine neue Delikatesse erfunden. Crêpes à la Suzette, glaub’ ich, nennt er das Deubelszeug. Das heißt — es sind Eierkuchen mit irgend ’ner Soße aus Likören, wenn ich recht verstanden hab’. Du kannst dir ja das Rezept von ihm geben lassen. Die Pastorin wird sich schon darauf verstehen.“
„Nee, Hackentin. Ich bleibe bei Speckeierkuchen. Wenn’s dazu langt, will ich schon froh sein. Denn was so unsere Bauern sind — du kennst sie ja — wenn die uns die Eier abliefern, wundert sich meine Guste immer, daß Hühner überhaupt so kleine Eier legen können. Was hat Ernst denn sonst noch erzählt?“
Der alte Rittmeister schnellte mit dem Fuß ein Steinchen zur Seite. „Sie sind auf der Durchreise von Ems ein paar Tage in Berlin gewesen, haben auch Wilhelm gesprochen, der wieder mal große Rosinen im Kopf haben soll. Das heißt — von wegen der Eisenbahnkonzession — du weißt ja. Die Rosinen kenne ich nachgerade, aber den Kuchen, in dem sie gebacken werden sollen, den werd’ ich wohl nicht erleben. Na, ich will mich nicht ärgern. Was Ernst sonst erzählte? Politik, Politik und nochmal Politik. Unser herrlicher Landtag — daß ihn der Deibel hole — treibt sein Spielchen weiter, Hohenlohe macht Bücklinge, und Majestät können zusehen, ob schließlich ’n paar Kröten von der Kammer bewilligt werden. Das heißt — wahrscheinlich[S. 15] nicht mal das. Schlechte Zeiten, Heckstein ... hundsmiserable Zeiten. Ein altes Preußenherz möcht’ sich am liebsten umdrehen bei dem Skandal.“
Oft zitierte der Pastor nicht Bibelworte. Die sparte er sich für den Sonntag auf. Aber manchmal glitt ihm doch eins über die Lippen. „Hoffnung läßt nicht zuschanden werden“, meinte er.
„Jawohl, Heckstein, ich weiß. Steht Römer fünf. Aber im Hiob steht auch: der Menschen Hoffnung ist verloren. Siehst du ... so steht’s um meine Hoffnung. Das heißt — um die Armee geht’s, und wenn unser Allergnädigster Herr nur wollte! Bloß dem Wrangel ’nen Wink geben, und der fegte wie Anno achtundvierzig den ganzen liberalen Schwindel zum Tempel raus. Gegen Demokraten helfen nur Soldaten. So aber frißt das Geschwür weiter ... bis in unsere eigenen Familien hinein!“
Das war ein Punkt, auf den der Pastor das Gespräch nur ungern lossteuern sah. Denn das ging auf Fritz Hackentin, des Rittmeisters Zweiten, der erst Leutnant bei den Franzern gewesen war, dann zur Themis geschworen hatte und nun als Kreisrichter in Stellberg saß. Ein guter Junge, aber ein unruhiger Kopf. Etwas unruhiges Blut hatten die Rohlbecker Hackentine ja alle. Das kam von den Gruckers herüber, in denen nun mal der romantische Zug lag. Wenn man so daran dachte: als die alte Gnädige jung gewesen war, als sie noch vierelang fuhr und selber kutschierte —
Aber auf den Fritz durfte Hackentin nicht zu sprechen kommen. Das wurde sonst ungemütlich, und dazu war der Abend zu schön.
Zum Glück waren sie gerade unter der letzten Kastanie angelangt. Drüben stand der Kantor in seiner Haustür, der lange Labammel, dürr wie die endlose Pfeife, aus der er qualmte. Kaum, daß er sie aus den Zähnen zog, um seinen Gruß anzubringen.
„Na, Flehr, was macht der Bakel?“ rief Hackentin über die beiden Zäune hinüber.
[S. 16]
„Danke, Herr Rittmeister. Wie das Sprichwort sagt: Wer den Stock fürchtet, kann nur mit dem Stock regiert werden. Man braucht ihn eben.“
„Ja, Kantor, vielleicht waren’s bessere Zeiten, als man ihn mehr brauchte. Das heißt — nicht bloß in der Schulstube.“
„Ich weiß nicht, Herr Rittmeister, ob das bessere Zeiten waren.“
„Vielleicht erfahren Sie’s noch.“ Hackentin wandte sich. Halblaut, etwas unwirsch meinte er zu seinem alten Freunde: „Der ist auch schon angesteckt, liest mit dem Grunowschen Müller zusammen die ‚Tribüne‘. Du solltest ihm mal feste den Daumen aufs Auge drücken, Heckstein —“
„Er ist nicht der Schlechteste. Seine Bengels hält er stramm in Ordnung, mit und ohne Rohrstöckchen, je nachdem. Sie lernen bei ihm gerade richtig: nicht zu viel und nicht zu wenig. Und solchen Chor in der Kirche, wie er ihn zurechtgebracht hat, wirst du im ganzen Kreise vergeblich suchen. Von der Musika versteht er was. ‚Meine Hochachtung‘, würde dein Schwager Grucker sagen. Na, und was die politische Gesinnung anbetrifft, ... du kennst ja meine Ansicht: das kommt und geht. Wenn wir ein paar Jährchen weiter sind mit Gottes Hilfe, lachen wir beide wohl über die Aufregung von heute. Denn, weißt du, im Grunde ist alles, was brandenburgisch ist, doch loyal bis auf die Knochen.“
Der Alte grollte: „Das haben wir achtundvierzig gesehn ...“
„Ach was! Was war denn da außer Berlin los? Berlin aber ist gar nicht brandenburgisch, wenn’s auch zufällig mitten in unserer lieben Sandstreubüchse liegt. Berlin ist Berlin. Da muß immer gestänkert werden. Aber sonst? Der Flehr da ist typisch. Mal gelegentlich ’n bissel das Maul vollnehmen, mal recht klug schnacken, mal sich recht gebildet fühlen und mal recht schön liberal wählen, wenn’s hoch kommt. Mehr aber nicht.“
„Ist gerade genug. Order muß pariert werden.“
[S. 17]
„Wird auch ... Da kommt ja die Lene. He, Leneken, wohin denn so eilig?“
Mit ihren schnellen Schritten kam sie vom Schlosse her. Einen Hut hatte sie nicht aufgesetzt; in der leisen Dämmerung, die schon anhob, spielten ihre Haarwellen ins Goldig-Rote. Ein Tuch hatte sie umgenommen; fest lag das dünne Gewebe um die Schultern, umspannte knapp die jugendliche Büste und war hinten in der Taille zusammengeknotet.
„Ich will der Post auflauern, Onkel Pastor.“
„Denkst wohl, der Schwager Postillion bringt dir’n Schatz mit, Lene?“
„Der könnte mir grad’ fehlen, Onkel Pastor. Willst du — Waldmann, du Frechdachs! Sieh dir mal Diana an, wie die artig ist.“
„Im Pfarrhaus gibt’s frischen Pflaumenkuchen, Leneken.“
„Ich hasch’ mir beim Zurückkommen ein Stück.“
Sie nickte dem Vater zu, sie winkte von weitem zum Kantor hinüber und huschte weiter, durch das Tor, den Anger entlang.
Die beiden Alten sahen ihr wohlgefällig nach. Es war immer, als schwebte sie über dem Boden. Ganz eigen zierlich setzte sie unter dem weitbauschigen Rock, der grad nur die modische Krinolinenform andeutete, die Füßchen. Schuster Freyer in Logow war sonst kein Held in seinem Fach, aber für das gnädige Fräulein auf Rohlbeck tat er immer sein Bestes.
„Ein Mordsmädel, deine Lene!“ meinte der Pastor schmunzelnd.
Der Rittmeister nickte. „Ein gutes Kind. Das heißt — es ist noch junger Most. Das gärt und gärt und will manchmal überschäumen. Man muß die Lene ein bißchen straff im Zügel halten.“
Heckstein lächelte verstohlen. Er wußte am besten, daß die Kinder im Schloß nie recht im Zügel gehalten worden waren. Nicht gleichmäßig wenigstens. Mal hatten die Zügel am Boden geschleift, mal waren sie wieder gewaltsam angezogen worden; und wenn Hackentin am rechten[S. 18] Zügelende zog, zerrte die alte Gnädige vielleicht gerade am linken. Aber das tat am Ende nicht viel. Es war ein guter Kern in den Kindern.
Wie er das überdachte, während sie langsam wieder unter dem grünen Dach der Kastanien hinschlenderten, fiel ihm ein, daß die Gelegenheit vielleicht günstig wäre, für den Kantor noch ein gutes Wort einzulegen.
„Sieh mal, Hackentin,“ begann er aufs neue, „da hast du eben auf den Flehr geschimpft. Hast aber ganz vergessen, was der Mann sich für eine Mühe mit der Lene gegeben hat und noch gibt. Ich meine von wegen ihres Gesanges.“
„Wird ihm doch auch bezahlt.“
„Na hör’ mal: die paar Dittchen für die Stunde! Du kannst froh sein, daß wir solch einen musikalischen Kantor hier haben, der dafür sorgt, daß Lenes schöne Stimme nicht verkommt. Aber neulich hat er mir selber gestanden, daß er am Rande seiner Kunst ist.“
„Jawohl — jawohl — ich weiß schon. Das heißt — daß Lene in die Stadt müsse, einen anderen, besseren Lehrer bekommen. Die Litanei hat er mir auch schon vorgebetet. Unsinn, Pastor. Dazu langt’s nicht mehr. Und ich will auch nicht. Will nicht, daß der Lene alle möglichen Fladusen in den Kopf gesetzt werden. Damit darfst du mir nicht kommen ...“
Der Rittmeister rückte sein Käppchen plötzlich ganz weit nach rückwärts auf die weißen lockigen Nackenhaare, wandte sich kurz um, und da Diana der Kehrtwendung nicht schnell genug folgte, vielmehr mit fragendem Blick aufsah, kriegte sie einen sanften Hieb —
„Und im übrigen ist der Kantor doch ein Demokrat.“
Helene war indessen den Dorfanger entlang gegangen, hatte ein paar Worte mit der Frau Kantorin gewechselt, die immer aussah wie ein scheues, in der Gefangenschaft gehaltenes Reh, wenn jemand vom Schloß sie ansprach, und die um so scheuer und demütiger wurde, je freundlicher die[S. 19] Worte waren, die man an sie richtete. Dann hatte Lene bei Meister Winkel, dem lobesamen Schneider des Dorfes und dessen Krämer, eine Bestellung der Schwägerin ausgerichtet, die sich auf ein Paar Hosen ihres Neffen Hans bezog, und dann war sie am Kirchhof ein paar Augenblicke stehengeblieben. Da lag, seitlich der kleinen Backsteinkirche, die noch immer des richtigen Geläuts entbehrte, weil weder Patron noch Gemeinde die Mittel aufbrachten, das alte Erbbegräbnis. Es mochte noch in besseren Zeiten gebaut sein, vor hundert oder hundertfünfzig Jahren vielleicht: die eisenbeschlagene Tür war sogar von ein paar Säulen eingerahmt, wirklichen Sandsteinsäulen, mit einem Giebelchen darüber, in dem das Hackentinsche Wappen mit den drei Hecken als Sandsteinrelief eingelassen war. Aber der Zahn der Zeit hatte den Bau angefressen. Die Säulen waren zermürbt, das Wappen war kaum noch erkennbar, das Ziegeldach schadhaft — gut, daß der dicht wuchernde Efeu das Schlimmste zudeckte. Das Erbbegräbnis hatte auch schon lange nicht mehr zugereicht; links und rechts daneben lagen Hackentinsche Gräber. Schlichte Gräber, die sich wenig von denen der wohlhabenden Bauern unterschieden. Höchstens, daß sie ein wenig mehr gepflegt waren, und auch das nur, weil die junge Gnädige eine besondere Vorliebe für den Kirchhof hatte.
Ein paar Minuten stand Helene am Zaun. Ihr lagen Marthas Worte im Sinn von der Treue um Treue. Die hatten sie vorhin gepackt und klangen noch in ihr nach. Aber wie sie so auf die Gräber sah, über denen sich zwei große Maulbeerbäume mit weitgespannten Ästen breiteten, die noch auf des großen Friedrichs Befehl gepflanzt worden waren, fing sie plötzlich an zu frösteln.
Neulich in Rackow hatte sie in einem Bande Gedichte geblättert. Eigentlich nur, weil Tante Marie so viel Wesens von dem großen Franzosen Victor Hugo machte. Jetzt fiel ihr mit einem Male ein Satz daraus ein: „Gloire, jeunesse, orgueil, biens que la tombe emporte ...“
Ruhm und Jugend und Stolz —
[S. 20]
Nein! Nein! Für sie hatten die Gräber nichts Erhebendes! Sie konnte sich nur vor ihnen fürchten. Wie Moderluft wehte es aus ihnen. Ein Schauer überrann sie. Und sie zog das dünne Tuch fester um die Schultern und eilte rasch weiter, am Krug vorüber und an der Schmiede, der neuen Chaussee zu, die dicht am Dorfausgang die schmale Wintze überbrückte.
Da stand schon der Doktor Hemming mit den beiden Junkern. Oder vielmehr er stand, seitlich der Brücke, an eine dicke Weide gelehnt und himmelte über das Stoppelfeld zum Horizont hinüber. Die Jungens aber saßen auf der Steinbrüstung der Brücke; der langaufgeschossene Hans schien es seinem Hauslehrer nachmachen zu wollen, er starrte träumend mit gesenktem Kopf auf das rinnende Wasser, während Thede — Theodor — irgendeine Bohnenstange aufgegabelt hatte, die dreimal so lang war wie der Knirps, und mit ihr ebenso kräftig wie zwecklos in den zerwühlten Uferrändern umherstakte. Vielleicht dachte er in seiner wallenden Phantasie, auf diese bequeme Art ein paar der berühmten Wintze-Krebse zu fangen und Mutter in die Küche liefern zu können.
Alle drei achteten nicht auf die Nahende. Und Helene war das ganz recht. Denn der Hauslehrer mit seinen wasserblauen Schmachtaugen langweilte sie immer; außerdem konnte sie ihn nicht leiden, weil er immer ja sagte, auch wenn ihm der Widerspruch auf der sommersprossigen Stirn geschrieben stand. Und die Jungens — die Jungens waren eben dumme Gören mit hundert unnützen Fragen, dazu mit unfehlbar schmutzigen Pfoten, die überall hinklatschten, wo sie nichts zu suchen hatten.
Aber das war es nicht allein. Die Equipage, die vor dem Kruge hielt und augenscheinlich auch auf die Post wartete, beschäftigte ihre Gedanken. Sie hatte die Rackower Schimmel sofort erkannt und den dicken Jochen, den zweiten Herrschaftskutscher. Es war überhaupt zweite Garnitur, Wagen, Pferde und Kutscher. Wen ließen die Rackower nur abholen? Sie hatten ja nichts davon erzählt, daß sie[S. 21] einen Gast erwarteten. Aber sie hatten freilich fast immer Gäste im Haus. Ob es jemand von den Leibern aus Frankfurt a. O. war? Einer von den jagdlustigen Herren vom Leibregiment, der noch ein paar Rebhühner knallen wollte? Oder ein Ulan aus Züllichau? Oder kam nur Onkel Artenau aus Stellberg, um der Marquise seine neueste Pracht- und Prunkstickerei vorzuführen? Pfui Spinne ... solch ein Mann, der sich Königlich Preußischer Major schimpfen ließ, und den halben Tag am Stickrahmen saß wie eine alte Jungfer.
Mit einem Male hatte Junker Thede doch die Tante erspäht. Er schmiß die Bohnenstange ins Wasser, daß es hoch aufspritzte, schwang seine kurzen Beinchen mit einem Wuppdich über die Brüstung, stieß ein Indianergeheul aus, kam im Galopp angejagt und — richtig — da wollten auch schon seine Pfoten mit den Farbenklexen von Tinte, Flußmoder und Tuschkastenresten an ihren Rock aus geblümter Indienne. „Tante Lene, Tante Lene, weißt du schon das Allerneueste?“
„Finger weg, Thede! Himmel, wie der Junge wieder aussieht!?“ Und da gerade Doktor Hemming sich umschaute, den Strohhut, den er immer bis in den November hinein trug, lüftete und anstatt auf den harmlosen Horizont zu ihr himmelte, mochte der auch gleich sein Teil abbekommen. „Nein, wie Sie den Bengel mit solchen Händen herumlaufen lassen können?! Unsere Ferkelchen sind ja reinlicher als er.“ Und dann kam doch die Neugier ihrer jungen Jahre: „Das Allerneueste? Na, das wird wieder mal was Feines sein?“
„Ein Russe kommt nach Rackow. Ein wirklicher, leibhaftiger Russe.“
„Woher hast du denn dein großes Wissen, Thede?“
„Na ... von dem Rackower Jochen ... natürlich.“
Inzwischen hatte auch der Hans sich von der Brückenmauer herabbequemt. Im Vollgefühl seiner höheren Weisheit höhnte er: „Ja — und Thede stellt sich den Russen mit[S. 22] einer Bärenfellmütze und einem so langen Bart vor. So wie er in der Fibel abgemalt ist.“
gab der Hauslehrer einen Fibelvers eigener Erfindung zum besten und wartete, ob sein Witzchen nicht ein Lächeln auf dem schönen Mädchengesicht heraufzaubern würde.
Aber er wartete vergeblich. „Ach Unsinn —“ meinte Helene nur und schlenderte langsam über die Brücke auf die Chaussee. Ach Unsinn — sagte sie, und doch beschäftigte sie der Russe gewaltig. Ein Russe, ein leibhaftiger Moskowiter! Wo den die Rackower nur aufgegabelt hatten? Und warum die heut nachmittag nichts von ihm erzählt hatten? Gewiß, weil er wieder einmal eine Überraschung für den ganzen Kreis sein sollte. Sicher irgendein Großfürst oder einer der millionenschweren Bojaren. Oder mindestens ein Diplomat. Aber dann hätten sie doch nicht die zweite Garnitur, Pferde, Wagen und Jochen, zum Abholen geschickt ...
Da kam sie aber wirklich, die Post.
Auf dem Stellberger Berge, wo sich die Chaussee in den Wald verlor, wirbelte eine kleine Staubwolke auf, wälzte sich näher und näher den Hang hinunter. Bald wurden dahinter, in kleinen Abständen, noch zwei Wölkchen sichtbar — die Beichaisen. Der Verkehr von Frankfurt a. O. nach Posen mußte lebhaft sein, jetzt im Frühherbst.
Nun unterschied man schon Wagen und Pferde. Und als die Hauptpost draußen an der Schneidemühle vorüberrollte, setzte der Postillion sein Horn an die Lippen. Es klang deutlich, getragen und langsam, herüber:
Der Hauslehrer stand wieder neben Helene. Er fühlte das unwiderstehliche Bedürfnis, geistreich und sinnig zu sein: „Wie lange noch, und wir hören den guten Schwager zum letzten Male. Wenn der Herr Baron erst die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen bauen wird, verödet die Chaussee,[S. 23] und dann heißt es auch für Rohlbeck, was der Dichter Scherenberg klagt:
„Ich denke, Sie wollen ein Mann des Fortschritts sein, Herr Doktor?“ warf Helene schnippisch ein.
„Am rechten Ort, gnädiges Fräulein. Immer am rechten Ort. Aber die Poesie darf darüber nicht verkümmern. Hören Sie doch nur: ‚Ach Reitersmann, ach Reitersmann, laß doch die Lilien stehn. Sie soll ja mein fein’s Liebchen noch einmal sehn ...‘ Ist das nicht schön? ... ‚Dann begraben mich die Leute ums Morgen ... rot ...‘“
„Schade nur, Herr Doktor, daß der Postillion so schauderhaft falsch bläst —“ meinte sie spitz und ärgerte sich, daß sie es sagte. Denn eigentlich hatte der Postillion gar nicht falsch geblasen, und sie selber lauschte solchem Volkslied über alle Welt gern. Und sie dachte daran, wie sie bisweilen in dem stillen Abendfrieden ins Feld hinausgewandert war, ganz allein, sich auf einen Grenzstein gesetzt hatte, den Kopf in beide Hände vergraben, um dem Klang des Posthorns zu lauschen, der ihr immer wie ein Gruß aus weiter, weiter Welt erschien.
Doch da hielt schon die Hauptpost dicht an der Brücke.
Die beiden Junker stürmten mit Geheul voran; teils, um die lederne Posttasche aufzufangen, die der Schwager im kunstvollen Bogen vom hohen Bock herabschleuderte; teils, um den erwarteten „Moskowiter“ mit eigenen Augen zu schauen.
Recht enttäuscht waren sie. Denn der Herr, der ausstieg, hatte gar nichts Besonderes an sich. In ihren Augen zumal.
[S. 24]
Es war ein schlanker, junger Mann in grauem Reiseanzug, der lange Rock eng in der Taille, die Pantalons sehr weit. Das brünette Gesicht bildhübsch, etwas scharf und ganz glatt rasiert. Auf dem braunen Haar trug er einen gewaltigen Kalabreser, und um seinen hohen Kragen war kunstvoll eine bunte Krawatte geschlungen, in der ein großer Brillant funkelte.
Als er ausgestiegen war und die kleine Gruppe — Helene, Doktor Hemming und die beiden Junker — sah, stutzte er und zog den Hut. Aber Helene fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß, ärgerte sich wieder und machte kehrt. So mochte der Fremde merken, daß die junge Dame ihn nicht erwartete. Und da kam auch schon Jochen, meldete sich, wies auf seinen Wagen und half den Koffer aus dem hinteren Verschlag der Post herausheben. Es mußte sehr schnell gehen, denn der Kutscher der ersten Beichaise drängte und drohte weiterzufahren.
„Habt ihr die Posttasche?“ fragte Hemming. „Nun denn — marsch! Großvater wartet.“ Und er ging den Jungens, die um ihr Leben gern sich den Koffer des Fremden noch näher angesehen hätten, voraus, um Helene einzuholen. Aber sie hatte sich beeilt, und er wollte nicht auffällig hasten. So kam er erst dicht vor dem herrschaftlichen Tor wieder an ihre Seite, und im gleichen Augenblick überholte sie auch die Rackower Equipage. Der „Russe“ saß weit zurückgelehnt, in etwas theatralischer Pose, die Beine vorgestreckt, im Fond und lüftete noch einmal mit einer gewissen Grandezza seinen Heckerhut.
Der Doktor grüßte zurück, während Helene den Nacken straffte. Sie sagte sogar: „Warum grüßen Sie denn?“
„Aber ... der Herr ist doch Gast der Rackower Herrschaften. Ich kann doch nicht unhöflich sein.“
„Ich weiß nicht, wie der Mann dazu kommt, mich zu grüßen. Er ist mir doch nicht vorgestellt.“
Sie fühlte selbst, daß sie ungerecht und unlogisch war. Man nahm es sonst auf dem Lande nicht so genau. Es war aber etwas wie das Gefühl in ihr: du mußt dich[S. 25] wehren! Ohne daß sie recht wußte, weshalb und wogegen. Sie war jäh aus dem Gleichgewicht geworfen. Am liebsten hätte sie sich mit Herrn Hemming gezankt, nur um eine Ablenkung zu finden. Sie spitzte schon das Mäulchen, um ihm irgendeine Sottise zu sagen. Doch dann besann sie sich: es lohnte nicht. Es blieb immer einseitig, das Streiten mit diesem weichen Menschen, diesem Ja- und Amensager, dieser Qualle, die auswich, sobald man fest zugriff.
So faßte sie lieber die Jungens, die herangekommen waren, an den Achseln, Hans rechts, Thede links, und jagte mit ihnen den Weg entlang, daß die Posttasche am langen Lederriemen sich wie eine Sturmfahne um ihre Köpfe schwang. Jagte die Verandatreppe hinauf, durch den dunklen Flur in die große Stube, warf die Tasche auf den Tisch: „Da habt ihr sie —“
Mutter saß noch immer an ihrem Traumfenster, schrak aber auf: „Kind, Helene, wie kann man so laut sein. So laut und so wild.“ Vater stand am Ofen, kramte in der Tasche nach dem Brillenfutteral: „Steck’ die Lampe an, Lene.“
Wie alle Abend, wenn die Dämmerung heranschlich. Und wie alle Abend stand nun schon die große, hohe Moderateurlampe mitten auf dem Tisch, auf dem runden, abgeschabten Fleck der braunen Plüschdecke. Wie alle Abend pumpte Helene das Öl auf, horchte auf das leise „Gluck-Gluck-Gluck“, nahm Glocke und Zylinder ab, strich mit ihren hastenden Händen ein Vierteldutzend Schwefelhölzer vergeblich auf dem scharfgeritzten Deckel des Porzellanbehälters an, bis endlich eins zündete.
Mit einem Male war plötzlich in ihr alle Aufregung erloschen. Gluck-Gluck-Gluck machte das Öl in der Lampe, und ihr klang’s wie: alle Abend — alle Abend — alle Abend ...
Nun leuchtete die Lampe auf, warf ihren milden Lichtkreis gerade über den runden Tisch, indes das übrige Zimmer in der Dämmerung blieb. Vater holte vom[S. 26] Schreibtisch den kleinen Schlüssel, schloß die Posttasche auf, wie alle Abend. Und wie alle Abend sammelte sich um den Tisch für das große Ereignis das ganze Haus. Mutter kam von ihrem Traumplatz, Martha kam; der Hauslehrer war plötzlich da, und die Jungens boxten und knufften sich schweigend am Ofen. Wie alle Abend. Vater faßte tief in die Tasche hinein, legte den kleinen Pack Briefe und Zeitungen sorgsam vor sich hin, setzte umständlich die Brille auf und begann zu sortieren.
„Da, Herr Doktor —“ Das war auch derselbe Ton und dieselbe Bewegung an jedem Abend, ein widerwilliger Ton und ein verächtliches Schnippsen der Finger, die dem Hauslehrer seine Zeitung hinüberschnellten. Die Volkszeitung! Jeden Abend aufs neue empörte sich der alte Herr darüber, daß in seinem Hause dies verfl— Demokratenblatt gehalten werden durfte.
„Da, liebe Martha ... von Wilhelm ...“
Ein paar Briefe, die schon äußerlich einen geschäftlichen Charakter zeigten, den blauen Firmenstempel etwa von Moses Conitzer in Stellberg, schob er zur Seite. Dann endlich setzte er sich und faltete fast feierlich die Kreuzzeitung auseinander. Und regelmäßig sagte dabei Mutter aus ihrem hochlehnigen Ohrenstuhl heraus: „Hackentin, mir die Familiennachrichten.“
Eigentlich gab er nur sehr ungern ein Stück Zeitung ab, ehe er sie selber, langsam und gewissenhaft, von Anfang bis zu Ende studiert hatte. Wenn sie keine Beilage brachte, knurrte er wohl auch ein langgezogenes ‚Neee ... nachher ...‘ oder er lachte: ‚Erfährst schon noch früh genug, wer wieder mal in die Mariage geraten ist oder wer’n Kind gekriegt hat.‘ Heut gab es eine Beilage: „Da ... Elisabeth ...“
Und dann wurde es still im Bannkreis der Lampe, an der Runde des großen Tisches.
Der Rittmeister und Hemming entfalteten ihre Zeitungen; Martha las, Zeile für Zeile, den Brief ihres Mannes; die alte Gnädige vertiefte sich in die Familiennachrichten; die[S. 27] beiden Jungens wußten, daß sie das Maul und die streitbaren Hände stille zu halten hatten, holten ihre Lieblingsschmöker, Hans einen Band der Beckerschen Weltgeschichte, Thede sein „Gumal und Lina“, und steckten die Nasen hinein.
Ganz stille war’s, bis auf das Knistern des Papiers.
Der Stuhl zwischen Martha und Mutter blieb leer — Helenens Stuhl. Sie stickte sonst um diese Stunde oder häkelte Frivolitäten. Heut mochte sie’s nicht. Auf leisen Sohlen schlich sie ins dunkle Nebenzimmer, setzte sich an den geöffneten Flügel und träumte vor sich hin.
Manchmal glitt ihre Linke über die Klaviatur, ohne daß sie eine Taste niederdrückte ... manchmal zitterte wohl auch ein ganz leiser Klang aus den Saiten, ein Hauch nur.
Von links her kam dann und wann ein gedämpftes Tellerklirren. Auguste deckte im Saal den Abendtisch. Und mitten in ihre Träumerei hinein dachte Helene: ‚Was es wohl geben wird? Speckbratkartoffeln natürlich und saure Milch ...‘
Langsam kroch drüben über den Wiesen der Mond hinauf. Jetzt legte sich ein Streif blauweißes Licht über das Fensterbrett, nun zog er schon bis zum Flügelende hin.
Einmal sagte Mutter: „Da zeigt Graf Schulenburg von den Alexandern seine Verlobung an ... mit der Witwe seines Bruders ... Meta, geborene Freiin von Eckardstein. Er lag mal ein Manöver hier. Eckardstein ... Eckardstein? Das ist ganz junger Adel ... nicht wahr, Karl?“
„Natürlich, Elisabeth ... das heißt, vom Alten Fritz her, glaub ich, oder so ... Aber nun laßt mich zufrieden mit Hinz und Kunz. Da soll man noch Sinn dafür haben ... schlechte Zeiten ... Schandzeiten ...“
‚Was er wohl antworten wird?‘ dachte Helene. ‚Ja bei den Zeiten. Was, Herr Doktor, bewegte Zeiten ... sagen ... selbstverständlich. Die Qualle hat grad noch den Mut, sich ihre liberale Zeitung zu halten. Weiter langt’s nicht.‘
Richtig ...
[S. 28]
„Jawohl, Herr Rittmeister, bewegte Zeiten.“
„Schandzeiten, sag’ ich Ihnen, Doktor. Da haben wir’s: in der Schlußsitzung des Abgeordnetenhauses der Militäretat abgelehnt — das heißt, grad noch zehn Abgeordnete haben dafür gestimmt!“
Helene interessierte die Politik gar nicht. Langweilte sie geradezu. Knapp, daß sie wußte, wie nun schon zwei Jahre oder darüber der Streit um die Armee zwischen Landtag und König sich hinzog, daß sich der Konflikt immer schärfer und schärfer zuspitzte. Merkwürdig, wie sich die Männer über solche Dinge ereifern konnten. Vater nun gar. Manchmal bebte seine gute alte Stimme förmlich vor Erregung, wenn er von den verfl— Demokraten sprach, die alles besser wissen wollten.
„So ... so ... das sind doch noch brave Leute. Vorgestern war eine Deputation aus dem Kreise Bromberg beim König auf Schloß Babelsberg, um Majestät ihre Ergebenheit und die Stimmung des Kreises zugunsten der Militär-Reorganisation auszusprechen. Der Treskow auf Grocholin ... übrigens ein Treskow ohne c ... hm ..., der Pfarrer Ehrlich auf Groß-Murzyno, der Lehrer Stieff aus Raczkowerdorf ... Also auch mal ’n Lehrer ... merkwürdig ...“
Das war wieder eine Spitze. Aber die Qualle regte sich nicht.
Es wurde wieder ganz stille.
Plötzlich fragte Vater: „Na, Doktor, was meint denn Ihr Blättchen? Das heißt — eigentlich gelüstet es mich nicht nach der Weisheit.“
„Es ist wohl noch alles unentschieden, Herr Rittmeister.“ Wie das Gluck ... Gluck in der Lampe kam es heraus. „Das Ministerium wird wohl gehen müssen.“
„So ... meinen Sie? Auf das Ministerium kommt’s übrigens spottwenig an. Das heißt: in Preußen muß der König regieren. Punktum.“
Wieder las Vater. Die Zeitung knisterte und knisterte.
[S. 29]
Einmal sprach Martha mit ihrer sanften Stimme: „Wilhelm kommt am Sonntag.“ Es klang so viel Glück aus dem Wort und frohe Erwartung. Aber es achtete niemand darauf, nur gerade daß die Jungens aufschauten. In deren Augen war ja doch die Neugier: was bringt Papa uns mit?
Mit einem Male schlug Vater mit der flachen Hand auf das Papier. Und seine Stimme bebte wieder. „Da haben wir’s. Hört mal. Hier, ganz versteckt, steht es: ‚Der bisherige Gesandte am französischen Hofe, Herr von Bismarck-Schönhausen, ist gestern abend von des Königs Majestät zum Staatsminister und interimistischen Vorsitzenden des Staatsministeriums ernannt worden.‘ Das heißt also: Da haben wir den Mann des königlichen Vertrauens. Bismarck-Schönhausen ... Bismarck-Schönhausen ... war der nicht Gesandter in Petersburg, Elisabeth?“
„Ja, ich glaube ... warte einmal ... er hat eine Puttkamer zur Frau ... ich entsinne mich ... von den pommerschen Puttkamers ... Viertlum oder so hieß das Gut.“
„So ... so! Was du nicht immer alles weißt.“
Vater war ganz aufgeregt. Als sich Helene umwandte, sah sie, daß er aufgestanden war und schneller als sonst seinen Lieblingsgang auf dem Läufer in der Diagonale des Zimmers machte. Alle Augenblicke erschien seine Silhouette vor dem hellen Türrahmen. Die Zeitung flatterte in seiner Hand, und er sprach in abgerissenen Worten, halb für sich, halb für die anderen: „Bismarck ... Bismarck-Schönhausen. Das muß der Bismarck sein, der Anno achtundvierzig den Demokraten ordentlich die Wahrheit gezeigt hat. Das heißt: im Vereinigten Landtag ... damals. So ... und ’n Puttkamer aus Viertlum. Hm ... das heißt: eigentlich mag ich diese Herrschaften da nicht, die Blankenburgs und Theddens, die mit dem lieben Gott immer ’n Privatabkommen haben wollen, fast wie Tante Marianne ... ja ... aber wackere, feste Leute sind’s schon, loyal bis in die Knochen, als ob’s Märker wären, die[S. 30] Pommern. Ja ... und was sagen Sie nun eigentlich dazu, Doktor?“
Ganz leise stand Helene auf. Das mußte sie sehen, was die Qualle für ein Gesicht machen würde.
Aber sie kam nicht auf ihre Rechnung. Der Hauslehrer schien aus allen Wolken gefallen. Er sah aus seiner Zeitung hoch, mit himmelnden Augen:
„Verzeihung, Herr Rittmeister, ich habe hier gerade eine Rezension gelesen ... über ein paar neue Stücke im Wallnertheater. ‚Verplefft‘ von Herrn von Moser ... es soll sehr amüsant gewesen sein.“
„Herr von Moser?“ sagte Mama sofort dazwischen. „Das ist auch ein früherer Offizier. Bei den Gardeschützen stand er, den Neuchatellern. Wer jetzt nicht alles schreibt?“
Vater sah erst den Doktor, dann Mutter an, schüttelte den Kopf und lachte. Lachte, daß die Stube dröhnte.
„Na, wenn’s wahr ist und Sie haben gar nicht zugehört, Herr Doktor ... dann ist’s schon ’ne kuriose Geschichte. Wozu halten Sie sich denn justement das Blatt? Das heißt: wenn Sie so wenig Interesse für die Politik haben? Kreuzdonnerwetter ...“
Da ging zum Glück die Tür zum Saal. Auguste kam herein, gluckste: „Es ist angerichtet.“ Ein Duft nach gebratenem Speck umwehte sie. Natürlich ... es gab wieder Speckbratkartoffeln und saure Milch ... wie an jedem Abend. Saure Milch mit Torf, dachte Helene und sah schon im Geiste die Schüssel vor sich, mit dem geriebenen Schwarzbrot, das sie „Torf“ nannten, schüttelte sich und hatte den Herrn von Bismarck-Schönhausen vergessen samt der ganzen Politik.
In Stellberg war Herbstmarkt.
Es war eigentlich nicht viel los. Nur die Pferdejuden hatten zu tun. Mancher Bauer schlug jetzt billig einen[S. 31] Gaul los, den er zur Winterbestellung nicht mehr zu brauchen meinte und nicht bis zum Frühjahr durchfuttern wollte. Vor dem „König von Preußen“ trottelte alle Augenblick eine Schindmähre, am Halfter geführt, in mehr oder minder widerwilligem Trab vorbei, und Moritz Cohn aus Ziebingen, Hartwig Kantorowicz aus Meseritz, Ephraim Hentschel aus Zielenzig standen in ihren langen, dunklen Kaftanen, den hohen, glänzend gewichsten Stiefeln, unter der Mütze die Löckchen über die Schläfen fallend, dabei und machten die Gäule herunter. Bis dann der eine oder der andere doch den Bauer in die Schankstube winkte.
Auf dem Marktplatz waren in zwei Reihen die Buden aufgeschlagen, Zelt- und Bretterwerk. Kleinkram lag darin, Schnittwaren, Hausgerät, allerlei Tand. Von den Stangen wehten die bunten Taschentücher, die der Bauer liebt, mit schönen Bildern darauf: das Königspaar, die Krönung, auch noch die Völkerschlacht bei Leipzig. Dicke wollene, blaue und rote Unterröcke baumelten daneben und weiße Schürzen. In der einen Bude gab’s Peitschen aller Art und Regenschirme, in der nächsten lockten die neuesten Bilderbogen von Gustav Kühn aus Neu-Ruppin. Die schönste Bude aber hatte Tante Hufnagel, die dicke Konditorsfrau. Sie hatte auch den meisten Zulauf. Mit ihren zwei Mamsellen stand sie hinter dem langen Tisch, und sie lächelten alle drei so süß, wie ihre Ware war: Berge von Streuselkuchen und Brezeln, Düten mit Bonbons, vor allem jedoch Stöße von Pfefferkuchen; die „Mehlweißchen“ von Tante Hufnagel waren berühmt bis über Frankfurt hinaus, und auf den Lebkuchenkerzen hatte keine Konkurrenz so schöne Verslein wie sie.
Das große, immer umlagerte Konditorzelt stand gerade gegenüber der Apotheke „Zum Mohren“.
Auch in der Apotheke gab’s heute mächtig viel Arbeit. Die Gelegenheit des Marktes mußte benutzt werden, allerlei Bedarf an Medizin für Mensch und Vieh einzukaufen. Außerdem war der humpelnde Provisor ein halber oder drei Viertel Doktor, nur daß er seine Verordnungen ohne[S. 32] Rezept und umsonst lieferte, sogar mit einem derben Witzlein dazu. Auch gab es in der Apotheke manche schöne Dinge, die nicht zur Heilkunst gehörten, aber in hohem Ansehen standen: allerlei Wohlriechendes, Lederzucker, buntschillernde süße Magenmorsaille mit merkwürdig viel Gewürzen, und vor allem einen Apothekerschnaps, bitter wie Galle, scharf wie Schwefelsäure und wärmend wie ein gutgeheizter Kachelofen — einen herrlichen Apothekerschnaps, der „Doktor“ hieß, aber ein Dutzend Doktoren wert war und doch nur einen Silbergroschen kostete.
Der Provisor Dingeldey hatte an solchen großen Tagen alle Hände voll zu tun. Denn sein Chef, Herr Herr, war durch andere Obliegenheiten vollauf in Anspruch genommen. Höchstens, daß er mal ein eiliges Rezept zusammenbrauen half, was selten genug vorkam, denn an Markttagen verschrieb Doktor Tiburtius wenig oder gar nichts. Da saß der auch an dem großen braunen Tisch im Nebenzimmer der Offizin und trank seinen gezehrten Oberungar, den er für das bekömmlichste Getränk der Welt erklärte. Er trank ihn — und nicht zu knapp. Wie eine ungeheure Koralle stand ihm die Nase im Gesicht, und zweimal im Jahr hatte er das Zipperlein. Das merkten jedesmal seine Patienten im ganzen Kreise am eignen Leibe: denn in diesen schlimmen Perioden verordnete er fast ausschließlich Rizinusöl, abwechselnd mit Kurella. Über Land fahren, zu seinen Kranken, konnte er freilich nicht, wenn er die Füße in den dicksten Strümpfen immer am Ofen halten mußte. So beschränkte er sich darauf, die Mägen auszufegen, wie er es nannte. Und gerade in diesen Zeiten, hieß es, machte er die glänzendsten Kuren. Wenn er dann wieder gesund war, half er mit Grobheit nach. Er konnte furchtbar grob sein, der Doktor Tiburtius. Bei den Bauern hielt er’s für geradezu unentbehrlich; auf den Gutshöfen war er nur wenig höflicher.
Herr Apotheker Herr persönlich widmete sich an den Markttagen fast ausschließlich den Gästen im Nebenzimmer der Offizin. Er wäre sehr entrüstet gewesen, wenn ihm jemand[S. 33] gesagt hätte, er unterhielte da eine Weinstube. Empört wäre er gewesen, wenn jemand geäußert hätte, er bediente seine Gäste. Die Tatsache stand trotzdem fest, daß man im braunen Zimmer Getränke erhielt, die nicht aus der lateinischen Küche stammten. Man mußte freilich zu den Honoratioren zählen, man durfte auch nicht bezahlen. Aber die Eingeweihten wußten, daß jede Flasche unweigerlich einen Taler kostete, nur der Champagner — Grüneberger Landkarte war’s von Foerster & Grempler und trug auf der Etikette einen Plan der gesegneten Gemarkung — nur die Pulle Champagner kostete zwei Taler. Den Obolus legte man beim Abschied schweigend auf den Tabakskasten am Fenster; vergaß es einmal ein Gast, so kam’s auf die Jahresrechnung der Apotheke. Im übrigen wurde Herr Herr durchaus als Herr behandelt. Er saß mitten unter seinen Gästen, wenn er nicht gerade unterwegs war nach dem Keller, und wenn er besonders gut aufgelegt war, so pfiff er ihnen etwas vor. In der ganzen Provinz Brandenburg einschließlich Berlin pfiff anerkanntermaßen niemand so künstlerisch schön als Herr Herr.
Es war noch früh am Tage, gegen elf Uhr, und die Tafelrunde noch klein. Obenan saß der Doktor Tiburtius vor seinem Oberungar. Neben ihm links der Kreisrichter, Fritz von Hackentin und der Herr des Hauses bei einer Flasche Pontac; ihnen gegenüber Major a. D. von Artenau, ein Hüne von Gestalt mit einem riesigen Schnauzbart und buschigen grauen Brauen über den vom ewigen Sticken entzündeten Augen. Er hatte noch um kein Getränk gebeten, wartete vielmehr auf einen Partner für eine „Landkarte“ oder noch lieber für ein kleines Böwlchen; denn abgesehen von seiner grandiosen Stickkunst war er auch der anerkannte Meister im Bowlenbrauen.
Das Gespräch ging langsam. Der Doktor schimpfte auf den Schäfer Knorr in Lobitten, der wieder einmal gegen Gesetz und Kleiderordnung einem alten Weibe das ausgefallene Schultergelenk eingerenkt hätte, und auf die Themis mit den verbundenen Augen, die die allerdummsten und[S. 34] allertollsten Kurpfuschereien dulde, wobei der Kreisrichter einen bitterbösen Seitenblick abbekam.
Fritz Hackentin hörte sich das lächelnd an. Er hielt die schlanke rechte Hand um sein Glas gelegt, drehte es langsam hin und her, hatte sein gewöhnliches ironisches Zwinkern um die klugen grauen Augen und empfand ein kleines Vergnügen darüber, wie der Doktor sich mehr und mehr in die Wut hineinsteigerte. Und erst als der schließlich mit einem „Himmelkreuzdonnerwetter, wozu hat unsereiner denn eigentlich studiert!“ schloß, fragte er trocken: „Ja, hat Meister Knorr denn das Gelenk wirklich wieder in Ordnung gebracht?“
„Was geht denn in drei Deibels Namen mich das an? Ob die olle Gillerten ein Krüppel bleibt oder nicht! Verdient hätte sie’s schon. Was, Herr Herr, hab’ ich recht?“
„Hat der Schäfer Geld für die Kur genommen?“
„Den Geier wird er getan haben. Dazu sind die Kanaille viel zu schlau. Das wird gelegentlich auf andere Weise abgemacht. Heimlich und heimtückisch.“
„Ja, lieber Doktor, wenn der Mann sich nicht hat bezahlen lassen, dann kann die Justiz auch nichts machen.“
„Das ist eben der Skandal. Aber ich faß den Knorr schon noch. Der Kerl muß sitzen! Der Kerl muß ...“
Weiter kam er nicht. Denn Artenau hatte den Hals gereckt, rief dazwischen: „Da kommt der Conte aus Sodelzig ...“ und sie sahen alle auf.
Das Gespann des Grafen Grucker war auch sehenswert. Vor dem Wagen zwei edle Pferde, wie immer naß und mit Schaumflocken übersät, denn der alte Graf fuhr wie ein Toller; das Geschirr arg desolat, hier und dort mit Stricken und Bindfaden geflickt; der Wagen selber aber, die im ganzen Kreise berühmte „Wurst“, bestand aus nicht viel mehr als aus einem langen gepolsterten Brett, das über die Achsen gelegt war. Im Reitsitz saß der Graf darauf, und ganz hinten hockte in einer Art Korb der Kutscher.
[S. 35]
Man hörte schon von der Straße aus die dröhnende Stimme: „Meine Hochachtung! Daß du mir die Schinder ordentlich abreibst!“
Dann klang’s aus der Offizin: „Meine Hochachtung! Na, Herr Provisor, erst mal’n Doktor. Aberst gut vermengeliert. So, danke —“
Dann flog die Tür auf, und der untersetzte starke Mann krachte ins Zimmer: „Meine Hochachtung! Da wär’n wer ja. ’n Tag allinsgesamt. Artenau, ich seh’s dir an deiner schönen Nasenspitze an, du hast auf mich gewartet. Also mansch uns man ’n Röhrenwasser. Puh —“ und er setzte sich auf einen Stuhl, daß es krachte, reichte jedem über den Tisch die Rechte hin und drückte die verschiedenen Hände, bis die Besitzer „au“ sagten. Mit der Linken aber krabbelte er aus der Joppentasche ein halbes Dutzend Zigarren heraus, lang, dick und schwarz wie die Nacht, legte sie vor sich auf den Tisch, zündete sich die erste an und meinte, „Kindersch, ich muß euch ’ne Geschichte erzählen.“
„Nämlich, wie ich zum Frühjahrsmarkt hier nach Stellberg fahre, sagt die Gräfin: ‚Otto,‘ sagt sie, ‚du mußt so gut sein und die Mamsell mitnehmen.‘ ‚Wozu denn?‘ frag ich. ‚Sie muß Geschirr für die Leutküche kaufen.‘ Also Mamsell wird auf die Wurst gepackt, hinten auf ’n Kutschersitz, und der Karl muß hinter mir reiten. Man soll ja nun mal den Weibern nichts abschlagen. Alles geht auch ganz gut, bloß daß der Artenau da ’ne recht längliche Bowle gebraut hatte und wir längelicht hier sitzen blieben. Um dreie läßt die Mamsell gehorsamst fragen, ob der Herr Graf nicht bald abführe, und um viere läßt sie wieder fragen. Da kann doch der geduldigste Mensch ein Wüterich werden. Aber ich bin ganz stille, und Abend gegen neune fahren wir wirklich los. Wie der Hausknecht vom ‚König von Preußen‘ am Wagen leuchtet, seh ich die Mamsell mit ’nem großen Korbe auf dem jungfräulichen Schoß und mit großen, dicken Tränen auf den Backen. Pimperlings rennen die runter. Ich kann alles, aber heulen kann ich[S. 36] nicht sehen. Warum heult das Frauenzimmer: bloß weil sie ’n paar Stündeken hat warten müssen. Als ob ich im Leben nicht schon manchmal viel länger hätt warten müssen, wenn par exemple zum Beispiel die Gräfin nicht mit der Toilette fertig wurde. Na also, ich denke: das Heulen mußt du der Mamsell abgewöhnen. Fahr also drauflos, gleich furioso über das Pflaster, und das Frauenzimmer schreit, als ob es am Spieße steckt. Dann das Stück Chaussee und dann ... na, ihr kennt ja den Waldweg über Ebersvorwerk, schön ist er nicht. Und die Mamsell schreit und schreit. Laß sie man schreien, denk ich, sie sitzt ja dahinten wie in Abrahams Schoß. Sie wird schon stille werden. Wird sie auch, so etwa von Doberow an. Mal dreh ich mich um. ‚Mamsellken‘, ruf ich. Keine Antwort. ‚Karl, ist denn Mamsell noch da?‘ ‚Jawohl, Herr Jraf.‘ Na also. Ich fahr also wieder zu, nicht schlecht, die Füchse hatten lange gestanden. Da sind wir denn endlich. Ich steig ab, die Mamsell steigt ab. Nicht ’ne Träne mehr, aber ’n Gesicht, wie siebzehn Tage Regenwetter. Kein Ton. Aber wie ich frag: ‚Na, Mamsellken?‘ da reißt sie ’s Tuch vom Korb und weist so mit der Hand darauf hin, als wie wenn sie sagen möchte: Da hast du die Bescherung! ’s waren nämlich man bloß noch Scherben drin, blaue, braune, graue und weiße, keiner größer wie ’n Dalerstück. Und wie ich lache: ‚Mamsellken, lassen Sie das man nich die Frau Gräfin sehen, daß Sie so schlecht verpackt haben‘, da schmeißt sie mir den ganzen Zauber vor die Beine: ‚Un zu Johanni zieh ick, Herr Jraf!‘“
Er lachte, daß die Wände dröhnten, und alle lachten mit, so ansteckend war dies tiefe Lachen aus voller Brust. Man mußte immer mit ihm lachen, wenn auch seine Geschichten selten eine richtige Pointe hatten. Er lachte selber, bis er nicht mehr konnte. Dann zog er ein rotseidenes Taschentuch, so groß, daß man damit den halben Tisch hätte zudecken können, und wischte sich die Augen aus. „Na, Artenau, du alter Stickereimajor, biste fertig? Laß mal schmecken. Heut wird aber nich so lange gepichelt. Ich[S. 37] wollte eigentlich nur den Rittmeister sprechen. Kommt Vater nicht, Fritze?“
„Ich denk doch, Onkel Grucker. Wilhelm ist in Rohlbeck und wollte mit Papa kommen.“
„So, der Wilhelm. Na, der wird uns wohl die Eisenbahn in der Tasche mitbringen. Ich pfeife übrigens auf die Eisenbahn, mir ist meine Wurscht lieber.“
„Ich pfeife auch auf die Eisenbahn“, warf Doktor Tiburtius dazwischen. „Stellberg kriegt ja doch keinen Bahnhof, und dann sitzen wir ganz in der Bredouille. Das bißchen Verkehr, was wir hier haben, geht auch noch in die Wicken. Die Chaussee ja: die war gut. Aber die Eisenbahn? Das ist man dummes Zeug. Ist gar kein Bedarf dazu da. Zwischen Berlin und Hamburg, oder zwischen Berlin und Leipzig und so, das laß ich mir gefallen. Aber bei uns? Na, Ihrem Bruder Wilhelm mag sie schon helfen, Herr von Hackentin, uns hilft sie sicher nichts — die Eisenbahn!“
Der Kreisrichter hatte wieder sein überlegenes ironisches Lächeln. „Gegen einen Kulturfortschritt soll man sich nie sträuben.“
„Laß uns bloß mit deiner Kultur und dem Fortschritt zufrieden, mein Junge“, rief der Graf. „Wir haben schon genug Kultur, und den sogenannten Fortschritt hab ich noch von achtundvierzig her im Magen. Aber ich will mich nicht ärgern. Und da hätten wir ja übrigens den Rackower ... meine Hochachtung, wen bringt denn der mit?“
Vor der Tür hielt der Rackower Viererzug. Rappen, in glänzender Kondition mit Silbergeschirren; ein elegantes Coupé dahinter.
„Meine Hochachtung, Dicker!“ schrie Grucker dem Eintretenden entgegen.
„Bonjour, messieurs!“ Ernst Hackentin machte eine seriöse Handbewegung „Erlauben Sie ... gestattet, daß ich unseren lieben Gast vorstelle, Herr Alfred Schwarz, Kaiserlich Russischer Hofopernsänger.“
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Man rückte zusammen. Unwillkürlich schob man sich immer zusammen, sobald der Rackower an einem Tisch erschien; auch dann, wenn mehr als genügend Raum vorhanden war. Er war wirklich übermenschlich dick, der kleine Mann. Eine Fettkugel war er mit ganz kurzen Beinchen und ganz kurzen Armen; der Kopf darüber glich einer zweiten Kugel; glattrasiert, bartlos, mit einer ungeheuerlichen Glatze, die nur im Nacken ein schmaler, graumelierter Haarkranz abschloß; im faltenlosen Gesicht lag stets ein Zug ungemessenster Sorglosigkeit, schrankenlosen Behagens, und dazu blitzten und blinkerten die kleinen Augen wohlwollend und listig zugleich.
Schwer ließ er sich nieder. In gemessenem Abstand von der Tischkante, die ja nicht, wie an der Rackower Tafel, den im ganzen Kreis bekannten ovalen Ausschnitt trug.
„Hier, mein lieber Schwarz, hier, bitte ...“ Er nannte die Namen. „Mein verehrter Herr Herr, dürfen wir uns bei Ihnen zu einer Flasche Pontac invitieren? Vielleicht ein wenig temperiert, wenn es Ihnen keine besondere Mühe macht. Wie geht es der verehrten Gräfin, lieber Grucker? Ah ... gut ... freut mich riesig. Danke, Marie ist auch gut zu Wege. Famöses Herbstwetter, nicht wahr? Ich bin sehr froh, daß es unser lieber Gast so gut trifft.“
Der Rackower sprach mit ganz sanftem Tonfall, deutlich akzentuiert, aber leise. Immer, auch bei Nichtigkeiten, als wenn ihm ungeheuer daran läge, zu überzeugen. Grucker nannte seine Art zu reden manchmal den Hofpredigerton. Er sprach auch gern und langatmig, mit ausgesuchter Höflichkeit, in jeder Einzelwendung. Dazwischen mußte seine silberne Schnupftabakdose, mit dem Namenszug in farbigen Steinen auf dem Deckel, die Runde machen, wenn es irgend anging.
Sonst fesselte seine Redegabe meist auch die Widerstrebenden. Er hatte ja immer den Sack voll Neuigkeiten, schon aus den Pariser Zeitungen, die er sich hielt. Aber heut konzentrierte sich das Interesse doch mehr auf seinen Gast als auf ihn. Ein russischer Hofopernsänger? Etwas[S. 39] noch nicht Dagewesenes im Kreise. Erstens schon an sich: ein Sänger. Zweitens: ein Opernsänger. Drittens: ein russischer! Warum den die Rackower eingeladen hatten? Doppelt merkwürdig, weil Marie Hackentin sonst ja immer die Exklusive markierte. Denn auch ein Hofopernsänger blieb doch immerhin ein Komödiant.
Herr Alfred Schwarz saß zwischen den Herren wie ein Mann, der gewohnt ist, das allgemeine Interesse zu erregen. Schweigsam zuerst, aber mit dem Ausdruck artigsten Zuhörens in dem jugendlichen schönen Gesicht. Dann allmählich auftauend, weltgewandt in das allgemeine Gespräch eingreifend, jede Frage mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit beantwortend. Er saß in sehr legerer Haltung, die schlanken Beine übereinander geschlagen, so daß auf dem einen Fuß das Streifchen eines seidenen Strumpfes sichtbar wurde, und drehte sich aus dem Etui, das auf seinem Schoß lag, eine Zigarette nach der anderen.
Grucker, der leidenschaftliche Kettenraucher, schnoperte eine ganze Weile nach dem starken süßen Duft, bis er fragte: „Schmeckt denn das Deubelszeug eigentlich?“
„Wollen Sie nicht einmal selbst versuchen, Herr Graf?“ Die flinken, schlanken Hände hatten sofort eine Papyros gedreht. „Bitte, wollen Sie hier anfeuchten ...“
„Lecken soll ich?“ Alle lachten, denn Grucker machte die Sache mit seiner dicken, schweren Zunge möglichst ungeschickt. Die erste Zigarette zerkrümelte, mit der zweiten ging es besser, und dann schmunzelte der Konte: „Weiß Gott, nicht übel, so zwischen durch. Ein famöser Tabak das muß ihm der Neid lassen.“
„Die Großfürstin Maria Constantinowna hatte die Gnade, mir ein paar Pfund zu senden.“
„Sie waren lange in Petersburg?“ fragte Fritz Hackentin über den Tisch herüber.
„Vier Saisons. Ich kam ein Jahr nach der Beendigung des Krimkrieges an die Newa.“
„Schlimme Tage für Rußland —“
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„Bah! Man merkte davon in Petersburg wenig. Der Russe trägt nicht schwer. Das Land mochte erschöpft sein, aber es war doch durch die Lieferungen sehr viel Geld verdient worden, und der Rubel rollte. Wir hatten fast immer das Haus zum Brechen voll.“
Artenau war längst fasziniert von dem auffallend schönen Brillanten, den der Sänger in der Krawatte trug. Schließlich zwang er sich nicht länger, beugte sich weit vor und meinte mit seiner stockenden Stimme: „Sie haben da einen wunderschönen Solitär ...“
„Seine Majestät der Zar ließen mir die Nadel nach einer Vorstellung des „Fra Diavolo“ überreichen. Übrigens —“ er lachte gleichmütig — „nachträglich hab ich erfahren, daß Seine Majestät mir einen weit kostbareren Stein bestimmt hatten. Aber das geht in Rußland nun einmal so: auf dem Wege von Seiner Majestät bis zu mir wurde der Brillant immer kleiner.“
„Schweinebande!“ rief Doktor Tiburtius dazwischen. „An den Galgen sollte die Gesellschaft.“
„Es ist in der Welt nicht anders. Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen.“
„Oho! Oho, Herr Schwarz! Bei uns ist’s doch anders. In Preußen gibt’s noch Richter. Bei uns gilt gleiches Recht für jedermann, und wenn wir auf etwas stolz sein dürfen, dann ist’s die Ehrlichkeit unserer gesamten Beamtenschaft.“
Der Sänger verbeugte sich verbindlich: „Ich bin ja selber preußischer Untertan, wenn auch aus einem entlegenen Winkel des Königreichs.“
„Nämlich, wenn man fragen darf?“
„Ich bin dicht an der französischen Grenze geboren, in einem kleinen Ort nahe Saarbrücken.“
Plötzlich fuhr Graf Grucker in die Höhe: „Die Rohlbecker! Und die Lene ist auch mit. Donnerwetter, da muß ich doch ...“ Er stülpte seine Kappe auf und hastete zur Tür hinaus.
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Draußen half Wilhelm Hackentin seinem Vater aus dem Wagen.
Vater und Sohn waren sehr verschieden. Wilhelm überragte den Rittmeister fast um Haupteslänge, und sein Gesicht zeigte nicht die Hackentinschen Züge, sondern die Gruckerschen, mit dem ausgeprägten Kinn, der kühn geschwungenen Nase. Er hieß nicht umsonst der „schöne“ Wilhelm. Und man sah ihm an, er hielt auf sein Äußeres. Während der Vater einen grauen, ausgedienten Flausrock trug, war er sehr elegant und sehr geschmackvoll gekleidet, in einem langen hellen Redingote, unter dem weite, gestreifte Beinkleider mit breiten, schwarzen Galons hervorsahen; und während der Rittmeister Handschuhe grundsätzlich verschmähte, außer beim Kirchgang, deckten seine auffallend kleinen Hände weiche gelbe Lederhandschuhe; der alte Herr trug eine Jagdkappe, abgetragen wie sein Überrock, der Sohn eine seidene schwarze Reisemütze von fast kokettem Schnitt.
„Meine Hochachtung!“ rief der Graf schon auf der obersten Stufe zur Apothekentür, und dann hatte er den Rittmeister umhalst und küßte ihn schallend erst auf die rechte, dann auf die linke Backe. „Tag, Schwager. Tag, Wilhelm!“ Auch der bekam seine Küsse, und dann hob Grucker die Nichte mit seinen mächtigen Armen aus dem Wagen, schwenkte sie einmal im Kreis, daß die Röcke flogen, setzte sie nieder, und gleich hatte auch sie ihr Teil: diesmal aber traf’s nicht die Wangen, sondern die Lippen. Lene hielt übrigens ganz stille. Hätte sich ja auch nicht rühren können, so fest hielt der Onkel. Wollte sich auch nicht rühren: denn Onkel Grucker war eben Onkel Grucker. Und ihr Pate dazu.
Er schnalzte mit der Zunge und lachte: „Meine Hochachtung! Geht man hinein und sorgt, daß mir der Artenau das Röhrenwasser nicht aussauft. Ich muß mit der Lene erst ... na, Puttchen, he? — was müssen wir denn?“
Sie hatte bei ihm schon eingehakt: „... zu Tante Hufnagel gehen ...“
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„Na natürlich. Und wenn’s ’n Daler kost’.“
Das war immer so. Wenn der Graf auf den Jahrmärkten einer seiner Nichten habhaft wurde — und manchmal waren’s auch nur Wahlnichten, aber jung und hübsch mußten sie sein —, dann zog er mit ihnen zu Tante Hufnagel. Und gewöhnlich hatten sie dabei einen Kometenschweif hinter sich: die liebe Jugend des Städtchens. Denn die wußte, daß es dem Sodelziger Herrn, so sparsam der sonst war, auf ein paar Hände voll Pfeffernüsse nicht ankam. Manchmal auch nicht auf eine Handvoll blanker Dreier. Gerad wie dem alten Wrangel in Berlin.
„Na, Puttchen, was macht das Herz?“ scherzte er, während sie über die Straße gingen.
„Onkel Grucker, ich hab keins.“
„Meine Hochachtung! ’n Mädel ohne Herz. So was läßt der liebe Gott ja gar nicht zu. Na hör mal, Deern, ... und ich dachte doch, der hübsche Gardeschütze, der dich immer mit so großen Gucklöchern ansah, bei uns, bei dem Manöverdiner ... der Neuchateller ... wie hieß das Luderchen doch ...“
„Merivaux, Onkel Grucker. Das ist aber auch das Einzige, was ich von ihm weiß.“
„Merivaux — so! Der Deixel soll die französischen Namen behalten. Sind aber brave Kerle, die Neuchateller. Haben sich als gute Royalisten gezeigt, als die da unten Revolution machten. Anno sechsundfünfzig und so. Ja — Tag, Tante Hufnagel. Meine Hochachtung!“
Madame Hufnagel knixte ganz tief, die beiden Mamsellen knixten noch tiefer, und alle drei lächelten so süß, wie ihre Waren waren.
„Na, nu greif mal zu, Puttchen.“
Helene Hackentin zierte sich nicht. Wie hätte man sich denn auch vor der Bude von Tante Hufnagel zieren können. Sie stopfte ein paar Pralinees ins Kröpfchen und steckte sich die Taschen voll. Rechts ein Paket Schokoladenpfefferkuchen und links den kleinen Karton mit einem Königsberger Marzipanherz. „Siehst du, Onkel Grucker, nu hab[S. 43] ich ’n Herz!“ Famos übrigens, daß die Pelerine links und rechts ordentliche Taschen hatte.
Brrr — brrr schmiß der Graf eine Handvoll Pfeffernüsse über die blonden, braunen, schwarzen Köpfe hin. Es summte in der Luft wie ein Schrotschuß Und die liebe Jugend jagte hinterher, stolperte, schubste sich, balgte sich, lag auf den Pflastersteinen und jauchzte. Grucker aber hatte gerad noch einen Blondkopf an den langen Zöpfen erwischt. „Bist du nicht eine kleine Tiburtia? Die Nas’ kenn’ ich doch! Sperr’s Maul auf und mach die Augen zu. So ... da ...“ Unbarmherzig schob er einen wahren Riesenkloß Mehlweißchen in den aufgerissenen Schlund und wollte sich totlachen, wie das Unglückswurm zwischen Lachen und Greinen biß und schluckte.
„So, Tante Hufnagel ... Schluß. Was kost’t der Kitt? ’n Daler zwanzig ... hier! Bist fertig, Puttchen? Na, denn woll’n wir mal. ’n Abend ... ’n Abend ...“
Und wieder knixte Madame Hufnagel ganz tief, beide Mamsellen knixten noch tiefer, alle drei lächelten so süß wie Marzipan. Helene hakte wieder ein, aber dann besann sie sich und meinte, ein wenig zögernd: „Nun muß ich zu Tante Artenau ...“
„Meine Hochachtung! Nee aber — was willst du denn da? Etwa zusehen, wie die semmelblonde Julie das Kunststück fertig bringt, ein Hühnerei in der Achselhöhle auszubrüten? Pfui Spinne. Komm du man mit zu uns ordentlichen Leuten.“
Es stand ihr auf dem Gesicht geschrieben: ihr war das auch lieber. Aber sie zögerte noch immer, griff in die linke Manteltasche — gut doch, daß der Mantel so schöne Taschen hatte! — krabbelte sich ein Stückchen Pfefferkuchen heraus und steckte es zwischen die Zähne. Gerad noch so viel Platz blieb, daß sie fragen konnte: „Wer ist denn drin, Onkel Grucker?“
„Wer wird denn drin sein, Mademoiselle Neugier? Artenau und Tiburtius und Fritze, dein Bruder Demokrat ... na, und Ernst mit seinem Moskowiter Sänger.“
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Es war gut, daß sie nicht über den Straßendamm konnten. Gerad kam nämlich von der Kirche her ein Haufen Menschen mit einer „Moritat“ in der Mitte, und der Mann mit der Schauleinewand pflanzte sich just vor der Apotheke auf. So etwas mußte Grucker sich immer in der Nähe ansehen und anhören, blieb also stehen, sagte lachend: „Meine Hochachtung ... wunderschön!“ und merkte gar nicht, wie Helene aus eigenem Antrieb den Schritt hemmte und daß sie trotzig den Nacken steifte. Bis der Leierkasten sein Lied abgespielt und der Mann das Epos von dem siebenfachen Mord vorgetragen hatte —
Währenddessen konnte Helene sich besinnen. Sie knabberte dabei langsam ihren Pfefferkuchen auf. Da wären wir ja beinah’ recht albern gewesen, dachte sie. Warum denn nicht? Was geht mich dieser ... dieser Russe an. Nun gerade! Und als Grucker sein Dittchen auf den Sammelteller geworfen hatte und sich wieder in Bewegung setzte, fragte sie: „Also der Rackower Gast? Was ist denn das für ein Menschenkind?“
„Biste neugierig, Puttchen?“
„Bewahre. Ich frag nur so ...“
„Na also, wenn du nur so fragst: er trägt seidne Strümpfe und ’ne Krawattennadel, die ihm der Kaiser aller Reußen geschenkt haben soll. Sonst ’n ganz manierliches Kerlchen, scheint’s. Schmokt auch ’n ganz wundervollen Toback. Meine Hochachtung — wirklich! Weiter weiß meines Vaters Sohn nichts von ihm.“
Da waren sie auch schon in der Offizin.
Aber nun zögerte Helene doch wieder. Es war sehr laut im Nebenzimmer. Auch der Graf horchte auf. „Die scheinen ja ’n bissel scharf aneinander geraten. Hör’ mal, Lene ...“
„Ich möchte doch lieber ...“
„Na, du wirst dich doch nicht fürchten! Was sich zankt, liebt sich, Leneken.“
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Er stieß die Türe auf, stapfte mit seinem lauten „Meine Hochachtung!“ über die Schwelle, stieß aber direkt auf seinen Neffen Fritz Hackentin, der — mit dem Hut in der Hand — hinauswollte, rot im Gesicht und vor Erregung zitternd. Der Bruder stand daneben, suchte ihm den Hut zu entwinden.
„Hallo, mein Junge!“ rief Grucker. „Hier wird nicht desertiert.“ Er faßte ihn mit beiden Händen um den Leib, hob ihn hoch, wie man ein Kind hochhebt, drehte ihn um und schob ihn, ohne loszulassen, wieder zum Tisch hin. „Komm, Lene, Mädel, streichle mal ’n bißken. Kreuzdonnerstag und Freitag, man wird doch hier in Ruh’ sein Glas Wein trinken können!“
„Laß mich, Onkel Grucker ... laß mich!“
Aber die eisernen Fäuste hielten fest. „Nee, Fritz. So kommst du nicht los. Erst ’n Versöhnungsschluck. Habt wieder mal hohe Politik getrieben — he? Verflucht und zugenäht! Na, was gab’s denn?“
Drüben saß der alte Rittmeister. Er war so blaß im Gesicht, wie der Sohn rot war, und die Hand, die er am Glas hielt, zitterte auch. Aber er zwang sich. „Wenn du’s wissen willst, Schwager. Das heißt, daß mein Sohn Fritz uns gerad erzählt hat, daß er Mitglied vom Nationalverein ist. Und da hab ich ihm meine Meinung gesagt. Das heißt, über die ganze Schreierei und über den vielgeliebten Schützenherzog in Gotha dazu. Und das kann er nicht vertragen.“
„Deshalb ist es besser, ich gehe!“ stieß der Kreisrichter hervor. „Meine Überzeugung lasse ich nicht antasten, auch von dir nicht, Papa.“
Der Graf hatte ein Lachen, das oft geradezu erlösend wirken konnte. So lachte er jetzt. Und es paßte in dies Lachen hinein, was er zwischendurch in einzelnen Brocken vorbrachte: „Brat mir einer ’n Storch ... kriegen sich Vater und Sohn wegen Herzog Ernst von Sachsen-Koburg-Gotha, Durchlaucht und so, an den Kragen ... aber den Storch recht knusperig, bitte! Kinderkens, seid gut ...[S. 46] lieber Artenau, du oller Stickereimajor, nu aber schnell ’ne neue Mischung ... was Besänftigendes. Heut wird nicht mehr Politik gemacht ... hier setzt du dich, Fritze ... so ... na, und da hab ich euch die Lene mitgebracht ... Lene ... Puttchen ... komm her. Es frißt dich keiner ...“
Sie war an der Tür stehengeblieben.
Daß sich Vater und Bruder stritten, war ihr nichts Neues. Das ging nun schon seit Jahren, man hatte sich nachgerade daran gewöhnt: Vater und Fritz vertrugen sich schließlich immer wieder, und Onkel Grucker brachte das gewiß heute schnell zuwege. Er verstand das Leimen.
Aber diesmal war’s ihr peinlich. Weil der Fremde dabei war. Der Russe, gegen den sie vom ersten Sehen an etwas wie instinktive Abneigung empfunden hatte.
Das Zimmer war mit Tabaksrauch gefüllt. Mehr noch als Onkel Pastors Arbeitsstube am Sonnabend. Mit dem Messer hätte man den Qualm durchschneiden können, und die Augen taten einem weh; kaum, daß man die Herren am Tisch unterscheiden konnte: den Doktor, der bei Lene noch von früher her immer einen Lebertrangeschmack auf der Zunge hervorrief, den lustigen Herrn Herr, Artenau, Onkel Ernst ...
Ja ... und da stand der Russe am Fenster.
Fast wie sie an der Tür. Vielleicht hatte er auch den gleichen Gedanken wie sie: ich wollte, ich wäre nicht hier. Zu verwundern wär’s nicht.
Das Gespräch am Tisch ging noch ein paar Augenblicke weiter. Schon gemäßigter. Sie hörte nur einzelne Worte ... „Das deutsche Vaterland ...“ sagte Fritz. „Nee, unser altes Preußen ...“ sagte Vater, und Onkel Grucker: „Nu laßt’s mal endlich ...“
Da war auch schon der Rackower aufgestanden, dem jeder politische Streit unbequem war, hatte das Monokel ins Auge geklemmt und ihr zugenickt, war zu seinem Gast ans Fenster getreten. Und der wandte ihr im nächsten Moment das Gesicht zu, verbeugte sich.
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Zu dumm, zu kindisch, daß man immer noch rot wurde wie ein Backfisch ...
„Na, Leneken, wo steckst du denn?“ rief der Graf schon zum drittenmal. „So komm doch! ’s ist wieder Friede im Lande.“
Langsam ging sie an den Tisch, nickte, reichte die Hand. Und nun walzte sich Onkel Ernst heran, stellte ihr den Russen vor. Jäh überflutete sie wieder die alberne Röte. Aber sie überwand sie diesmal schnell; vielleicht, weil es ihr so komisch vorkam, daß er Schwarz hieß, einfach Schwarz, während sie irgendeinen Namen auf off oder itsch erwartet hatte.
Der Friede schien wirklich geschlossen, die Gläser wurden neu gefüllt, Grucker hatte schon wieder eine seiner langen dicken Zigarren in Brand. Dann hieß es plötzlich, wie zur Besiegelung des Friedens: „Lieber Herr Herr, pfeifen Sie uns eins“, und der Apotheker ließ sich nicht lange bitten. Er spitzte die Lippen und pfiff. Erst von Schumann: „Wohlauf, noch getrunken, den funkelnden Wein ...“ und dann sein Glanzstück aus „Fra Diavolo“.
Eigentlich liebte Helene dies Kunstpfeifen wenig. Es hatte für ihr empfindliches Ohr immer ein wenig Schrilles. Aber das mußte sie zugeben: Herr Herr machte seine Sache gut, und es war doch Musik. Stets, wenn ein Lied erklang, wurde ihre Seele wach.
Und dann war sie mit einem Male, sie wußte selbst nicht, wie es eigentlich gekommen war, in einem Gespräch mit dem Russen. Sie nannte ihn im stillen immer den Russen, wenn er auch Schwarz hieß.
Er hatte an die Produktion des Apothekers angeknüpft, aber sie waren im Nu darüber hinaus. Von der Musik im allgemeinen sprach er, von den neuesten Opern dann, von Spontini, von Donizetti, von Lortzing und vor allem von Meyerbeer. Eigen erfreut schien er, daß sie gut Bescheid wußte. Einmal sagte er: „Ich hätte nie geahnt, daß man hier, in der Landeinsamkeit, Musik so liebt.“
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„Gerade, wenn man so einsam lebt, meine ich, muß man sie doppelt lieben.“
„Sie ist die große Herzenströsterin.“ Er sprach es mit Emphase, aber das entging ihr.
„Ich finde, daß sie immer neue Sehnsucht weckt“, erwiderte sie.
Als ob er sie nicht ganz verstanden hätte, so schaute er sie an. Er wiegte den schönen Kopf: „Gewiß, sie weckt Sehnsuchten, aber nur, um sie wieder zu stillen.“ Und dann: „Sie üben selber Musik, gnädiges Fräulein? Aber was frage ich — wer sich so stark für Musik interessiert, muß auch versuchen, dem inneren Drang zum Leben zu verhelfen.“
„Ich singe ... ein wenig.“ Erst als sie es gesagt hatte, fiel ihr ein, daß Onkel Grucker vorhin von Herrn Schwarz als dem „Moskowiter Sänger“ gesprochen hatte. Es war aber nur eine ganz unklare Vorstellung in ihr, was der Onkel eigentlich damit gemeint hatte, und sie war nun doch neugierig: „Sie singen auch — nicht wahr?“ fragte sie, und es mochte wohl sehr naiv klingen. Denn er lachte ganz leise, verneigte sich ein wenig: „Es ist ja mein Beruf, gnädiges Fräulein. Ich bin Opernsänger.“
Das war ihr eine kleine Enttäuschung. Er hatte so weltmännisch geplaudert; für einen Diplomaten würde sie ihn gehalten haben, vielleicht auch für einen Offizier in Zivil. Opernsänger ... Komödiant ... das hätte sie nicht gedacht. Aber es interessierte sie gewaltig, und aus dem Untergrund ihres Bewußtseins stiegen zugleich Erinnerungen an eigene heiße, tolle Träume empor, in denen sie sich selber gefeiert gesehen hatte, wie die Jenny Lind gefeiert worden, wie jetzt die Lucca in Berlin. So daß sie sich der ersten Empfindung schämte und lebhaft, doppelt liebenswürdig meinte: „Jetzt verstehe ich erst. Nicht wahr, Herr Schwarz, Sie waren in Petersburg engagiert und daher“ ... nun überkam sie wieder eine leichte Verlegenheit ... „daher hieß es auch, daß Sie Russe[S. 49] wären? Wo haben Sie eigentlich meine Verwandten kennen gelernt?“
„In Ems, gnädiges Fräulein. Wir gebrauchten zur gleichen Zeit die Kur. Das russische Klima hatte bei mir eine kleine Halsaffektion hervorgerufen. Man muß vorsichtig sein in meinem Beruf.“
Sie hatten ganz ungestört miteinander sprechen können, denn die übrige Tafelrunde war völlig durch Herrn Herr in Anspruch genommen. Der mochte wohl von dem Wunsch beseelt sein, ein politisches Gespräch nicht neu aufkommen zu lassen. Hatte erzählt, daß er von Frankfurt eine von den neuen merkwürdigen Lampen mitgebracht hätte, die mit Petroleum gespeist würden, einem Öl, das in Amerika aus der Erde fließe. Der und jener hatte davon schon gehört, der Rackower und Wilhelm Hackentin hatten die Lampen auch in Berlin gesehen. Doktor Tiburtius wollte wissen, daß man Erdöl schon im Altertum zur Beleuchtung gebraucht hätte; Ben Akiba habe nun einmal recht: es gebe nichts Neues unter der Sonne. Im übrigen wäre das ein gefährliches Zeug, stinke wie die Pest und explodiere wie Schießpulver. Als der Apotheker schließlich das Lämplein holte und umständlich anzündete, rückten die Herren wirklich vorsichtig ihre Stühle rückwärts, am weitesten Artenau.
„Meine Hochachtung“, rief Grucker und klatschte sich auf die Oberschenkel.
Da blickte Helene auf und sah durch die dichten schweren Tabakswolken die helle, gelbliche Flamme über dem gläsernen Bassin. Und mit einem Male kam es ihr vor, als wäre sie emporgeflogen, weit hinauf, und nun wieder jäh auf die Erde zurückgeworfen. Die Lampe im großen Zimmer zu Rohlbeck stand plötzlich vor ihr, sie hörte das Gluck-Gluck, und sie sah den häßlichen Fleck, den das schwere Gestell in die alte, braune Plüschdecke gedrückt hatte.
Sie mochte nicht weiter sprechen, und nur wie von fernher hörte sie, was die andern sagten. Bruder Wilhelm natürlich schon von Plänen und Spekulationen, die man in Berlin an das Erdöl knüpfe. Du lieber Gott, das war auch[S. 50] solch Phantast, der gute Wilhelm. Immer wollte er in den Himmel fliegen, und immer setzte ihn das Schicksal hart auf den Rohlbecker Sand zurück. Dann sprach ja wohl Fritz davon, daß das Petroleum, wenn die Zeitungen recht berichteten, sehr billig werden würde, daß es das Licht der Armen werden könnte; die Quellen in Nordamerika sollten schier unerschöpflich sein. Und da mischte sich Vater ein. Was für ein Unsinn, meinte der. Billig — bei den hohen Transportkosten übers Weltmeer. Die armen Leute übrigens — die armen Leute! Erstens gibt’s, gottlob, auf dem Lande keine wirklich armen Leute, das heißt, die Rohlbecker Herrschaft ausgenommen. Und zweitens sollten die armen Leute nur ihre Talglichter weiter ziehen, das heißt, der Kienspan sei auch nicht zu verachten. Und drittens käme die ganze Geschichte doch nur auf eine Konkurrenz für den Landwirt heraus, das heißt, dem guten Rüböl sollte der Garaus gemacht werden. Viertens und letztens aber: in sein Haus käme die neumodsche Sache nicht hinein, das heißt, er hätte nicht Lust, in die Luft gesprengt zu werden. Einmal, in der Schlacht von Leipzig, wär’s schon nahe daran gewesen, und daran hätte er noch genug. Worauf Artenau dringend bat: „Lieber Herr Herr, bitte, nehmen Sie das Ding fort. Aber erst auslöschen, erst auslöschen ...“ und alle lachten.
Nein, alle lachten nicht. Ihr selber war die Kehle wie zugeschnürt, und Herr Schwarz hatte nur ein Lächeln. Ein kleines, feines Lächeln, das etwa sagen mochte: Liebe Leute, was seid ihr für wunderliche Menschenkinder, und wie eng muß euch der Horizont gezogen sein.
Der gelbe Lichtschein über dem gläsernen Behälter war erloschen, der Tabaksschwaden strich wieder über den Tisch. Die Lampe aber wanderte den Tisch entlang. Jeder tastete und fühlte an dem neuen Lichtspender herum, und jeder gab seinen Senf dazu.
Ganz still saß Helene. Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken, und die Hände hatte sie im Schoß verschränkt; fest preßten sich die Finger ineinander.
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„Ich muß Sie singen hören, gnädiges Fräulein“, hörte sie neben sich.
Da kam der alte Trotz über sie. Sie zog die Achsel hoch. „Wozu? Es lohnt nicht!“ gab sie kurz, fast bitter zurück.
„Das können Sie selber nicht wissen. Und ... Sie haben einen Timbre in der Stimme, der meine Erwartung hochspannt.“
Sie sah ihn an. War das eben eine Phrase gewesen? Aber er hielt stand. „Glauben Sie’s mir nur, gnädiges Fräulein.“ Er beugte sich ein wenig vor und sprach leise weiter, in seinem weichen, einschmeichelnden Tonfall: „Es muß doch wohl so etwas geben wie Vorbedeutungen? Als ich vor drei Tagen durch den märkischen Sand rollte, in der Enge der Postchaise, ehrlich gestanden, mit ein wenig gemischten Gefühlen: warum hast du eigentlich die Einladung angenommen? Du hättest doch lieber in Berlin bleiben oder du hättest nach Paris gehen sollen — sehen Sie, da überkam mich plötzlich die Empfindung: du wirst hier etwas erleben. Eine ganz sichere Empfindung. Es ist mir früher schon ähnlich ergangen, und ich habe mich nie getäuscht. Als ich dann ausstieg, da fiel mein erster Blick auf eine junge Dame. Darf ich es aussprechen, auf eine sehr schöne junge Dame. Und ich wußte sofort: dein Erlebnis beginnt. Ich wußte, daß ich Sie wiedersehen würde.“
Er schwieg.
Ihr war das Blut ins Gesicht gewallt. Aber sie straffte den Nacken. Was fiel dem Herrn ein? Wie konnte er so zu ihr sprechen? Ihre Finger schoben sich noch fester ineinander. Starr sah sie geradeaus, mit einem hochmütigen Blick.
„Hätte ich das nicht sagen dürfen?“ hörte sie wieder die weiche Flüsterstimme. „Dann müssen Sie mir verzeihen. Ich bin ein Fremder hier und vielleicht nicht gewöhnt, die Worte auf die Goldwage zu legen. Wir Künstler dünken uns ja allzu leicht freier als der Alltäglichkeitsmensch ...[S. 52] Sind Sie zornig auf mich? Ich will mich bessern ... und dennoch, ich muß es Ihnen sagen: Ihr Unwille macht Sie nur noch reizvoller.“
Sie war empört. Sie antwortete nicht, sie bewegte sich nicht. Sie war empört, und doch lauschte sie: wird er nicht weiter sprechen? Und doch baute sie sich schon eine goldene Brücke: bin ich nicht am Ende ein rechtes Kind? Da draußen in der weiten, weiten Welt mag man noch ganz andere Worte wagen und sagen, und niemand nimmt Anstoß daran.
„Ich muß Sie singen hören!“ wiederholte er. „Ich muß!“
Er wartete. Bis er sich dann plötzlich zu dem Rackower umwandte. „Herr von Hackentin, wissen Sie, daß Sie eigentlich recht grausam gegen Ihren Gast waren?“
„Eheu!“ machte der Dicke. Er war zwar anscheinend während der letzten Minuten aufmerksam dem Gespräch der Herren gefolgt, in dem die Geister wieder aufeinander zu platzen schienen: einem Gespräch über den neuen Ministerpräsidenten Herrn von Bismarck-Schönhausen — aber er hatte dabei kein Auge von dem jungen Mädchen gewandt. Konnte er doch, wie Grucker immer behauptete, unter seinem Monokel „um die Ecke gucken“.
„Eheu!“ sagte er noch einmal. „Wie meinen Sie das, mein lieber Schwarz? Ich bin desolat“ — und sah dabei sehr vergnügt darein.
„Sie haben mir noch nicht dazu verholfen, das gnädige Fräulein singen zu hören.“
Der Rackower schlug sich vor die Stirn. „Beim Zeus! Nein — bei Apoll und allen Musen! Ich bin ganz desolat. Aber wissen Sie, mein lieber Schwarz, ein vorsichtiger Gastfreund spielt nicht all seine Atouts gleich aus. Wir hatten unsere liebe Helene natürlich auf dem Programm.“ Er sah wieder einmal um die Ecke nach der Nichte hin und nickte: „Nun, schöne Helene? Du wirst Tante Marie und uns doch die Freude machen, recht bald einmal zu uns zu kommen? Oder willst du, daß wir dich feierlich invitieren: Madame la Baronne et Monsieur le Baron Ernest usw.?[S. 53] Ist doch sonst nicht zwischen Rohlbeck und Rackow Sitte gewesen.“
Er hatte es langsam, in seinem zierlichen, leisen Hofton gesagt, und so gewann Helene etwas Zeit. Eine Galgenfrist, schien ihr. Zuerst hatte ihr ein kräftiges, trotziges Landmädel-Nein auf der Zunge gelegen. Dann hatte sie sagen wollen: ‚Ich komme schon, aber erst, wenn dieser Herr abgereist ist.‘ Nein, das ging ja nicht. Also: ‚Ich komme schon, aber ich singe nicht.‘ Nun sprach sie: „Ja, danke, Onkel Ernst ... gern!“ Wurde wieder einmal rot dabei und dachte: ‚Wartet nur! Stockheiser werd ich sein. Heiser, wie eure Primadonnen sein sollen, wenn sie nicht singen wollen.‘ Und wußte dabei doch: ‚Du wirst singen ...‘
Im Kreise Stellberg gab es kaum ein wirkliches Schloß. Helene Hackentin hatte nicht unrecht: sie waren ja alle arm wie die Kirchenmäuse, die Golziner, die Steckschen, die Brunowschen; gerade daß sie sich durchschlugen auf dem kargen Boden. Grucker hätte vielleicht bauen können, sprach wohl auch seit Jahrzehnten davon, war aber zu bequem und war ein zu guter Wirt. Fleißig und sparsam, wie sie fast alle, nur nicht so der Not gehorchend, mehr der Gewohnheit nach. Ein wirkliches Schloß gab es freilich, aber das war mehr Burg als Schloß: der riesige Kasten in Nugow, in dem der alte böhmische Graf wie ein halber Einsiedler hauste, Graf Delkowitz, Edler von Kastricz. Das war aber ein Fremder im Kreise, und die Ansässigen kamen selten in die uralte Johanniterburg, deren gewaltiger Turm wie ein Wahrzeichen vergangener Zeiten ins Land ragte.
Auch das Rackower Herrenhaus war kein Schloß. Immerhin war’s ein stattlicher Bau, langgestreckt, einstöckig, mit ein paar in das hohe Dach eingefügten Mansarden und einem neueren rückwärtigen Flügel, den Ernst[S. 54] Hackentin angebaut hatte, als er die hannöversche Erbtochter heimführte. Die Freiin von Lastrop sollte ja entsetzt gewesen sein, als sie mit ihren Eltern zum ersten Male nach Rackow gekommen war, um sich ihren zukünftigen Wohnsitz anzuschauen. Der Anbau war geradezu Bedingung gewesen; aber mit dem Ausbau waren Ernst Hackentin und Frau Marie, die Marquise, wie sie im Kreise mit gutmütigem Spott genannt wurde, eigentlich bis auf den heutigen Tag nicht fertig geworden.
Daß sie nicht niedergerissen und ganz neu gebaut, hatte oft Verwunderung erregt. Einmal, als der alte Lastrop das Zeitliche gesegnet, war’s auch nahe daran gewesen. Der berühmte Landesbaurat Schinkel war in seinem letzten Lebensjahr in Rackow zu Gaste, und Ernst Hackentin sagte bisweilen: „Ja, wenn unser großer Schinkel nicht darüber hinweggestorben wäre.“ Aber die Mittel hatten doch wohl nicht gereicht. Sie saßen ja in einer brillanten Assiette, die Rackower, hieß es; aber sie führten einen riesigen Train, reisten viel, gingen im Winter zu Hofe. Manchmal lachte man im Kreise: Isaak Böhm aus Frankfurt oder gar der kleine Jakob Friedländer aus Zielenzig sollten plötzlich neben anderen illustren Gästen in Rackow gesehen worden sein. Nun — augenblickliche Verlegenheiten kann schließlich jeder haben. Man weiß das ja. Es ging auch niemand etwas an, zumal die Rackower kinderlos waren. Und dann: ein so liebenswürdiges Haus, so liebenswürdige Wirte wie sie gab es auf zwanzig Meilen in der Runde nicht. Wennschon die „Marquise“ bisweilen sehr herablassend sein konnte. War da jüngst der Amtsrat Weese auf Neu-Bukerow nobilitiert worden, ein Mann, mit dem der ganze Adel des Kreises seit Menschengedenken als mit einem Standesgenossen verkehrt hatte. Was tut die Marquise, als sie zum ersten Male wieder mit ihm zusammenkommt? Sie reicht ihm die Hand zum Kuß: „Ich freue mich unsäglich, Herr von Weese, Sie nun endlich ganz als einen der Unseren begrüßen zu können.“ Du lieber Himmel, der alte Mann hatte nachher selber herzlich darüber gelacht.[S. 55] Böse sein konnte man der Marquise ja nicht. Sie war so herzensgut. Und Stil hatte sie doch auch in ihrer Art.
Gastfrei war das Rackower Haus wie kein anderes im ganzen Kreise, und auch die Art der Gastfreundschaft hatte Stil. Hannöverschen Stil — englischen Stil.
Ein paar junge Mädchen, ein paar junge Herren waren meist zu Gaste in Rackow; Hausherr und Hausfrau liebten die Jugend. Die Mädchen logierten im Anbau, die Herren oben in den Mansarden, wo jedes der kleinen Zimmer seinen originellen Namen hatte: da gab es ein „Pompeji“, so genannt nach der roten Tapete, ein „Handtuch“, weil das Zimmer sehr schmal und lang war, eine „Bärenhöhle“, weil hier jahrelang ein Leutnant von Baer während seines Sommerurlaubs gehaust hatte, und eine „Bleikammer“, sintemalen dieses Zimmer der lieben Sonne besonders ausgesetzt war. Unten im Anbau waren die Namen poetischer: es gab den „Pfau“, die „Nachtigall“ und das „Alpenröschen“; es gab sogar eine „Sehnsuchtskammer“, als das letzte Zimmer der Reihe.
In der Sehnsuchtskammer wohnte diesmal Helene Hackentin.
Am Tage nach dem Markt war Tante Marie nach Rohlbeck gekommen. Unangemeldet, auf ihrem Selbstkutschierer mit den Ponys. Hatte sich die liebe petite-nièce auf acht Tage ausgebeten: „Du kommst gleich mit mir, mignonne. Pack’ deine Siebensachen. Vergiß auch ein helles Fähnchen nicht. Vielleicht macht es sich, daß wir ein Tänzchen riskieren.“
Der alte Rittmeister hatte ein wenig geflucht. Mama barmte: „Du bist recht grausam, Marie, uns das Kind zu entführen. Denkst gar nicht an uns Alte!“ Aber die Marquise lachte: „Es ist nur um das Gewöhnen, liebe Elisabeth. Ihr sollt euch dran gewöhnen, daß Helene euch früher oder später, besser früher als später, ganz entführt wird. Seid keine Egoisten. Ihr habt ja Martha, Wilhelm ist jetzt auch da — und dann eure Enkel. Gönnt anderen auch etwas.“
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„Das heißt —“ begann der Rittmeister brummig. Aber er kam nicht weiter. Bei der Rackowerin kam man nie weiter, wenn sie sich vorgenommen hatte, zu persuadieren. Zudem: es war ein Axiom, daß die jungen Mädchen sich in Rackow bewegen lernten, sich abschliffen, gleichsam einen Blick in die große Welt taten. Dem widerstrebten Eltern nur in den seltensten Fällen.
Die aber, die es zunächst anging, stand am unschlüssigsten. Immer war sie leidenschaftlich gern in Rackow gewesen. Nun stand sie und stand, steif und unbeholfen, und drehte an dem Schürzenzipfel wie ein Backfisch.
„Vielen Dank, liebe Tante ... aber ...“
Die Marquise lachte wieder. Ihr goldiges Lachen, das das häßliche Gamingesicht so seltsam verschönen konnte: „Aber ... aber! Aber ich habe nichts anzuziehen. Nicht wahr? Mignonne, du hast deine Jugend, hast deine blanken Augen. Mein Herz, was willst du noch mehr! En avant ... en avant ... in einer Viertelstunde muß dein Köfferchen gepackt sein.“
Noch einen Moment stand Helene. Dann flog sie plötzlich aus der Tür und die Treppe hinauf.
Frau Marie hatte sich in den großen Lehnstuhl mit den mächtigen Ohrenwangen gesetzt. Das zierliche Figürchen verschwand fast in dem Ungeheuer, die Krinoline mußte sie gewaltsam zusammendrücken, und dabei bauschte sie sich erst recht unförmlich auf. Es sah eigentlich komisch aus. Aber die kleine Persönlichkeit beherrschte doch das ganze Zimmer. Sie hielt auch hier Cercle und hatte für jeden eine liebenswürdige Bemerkung. Der Rittmeister bekam eine Anerkennung, wie artig seine Hunde seien; der alten Gnädigen sagte sie ein heiteres Wort, wie Mignonne hübscher würde von Tag zu Tag und daß sie ganz die Augen der Mama hätte. Martha, die ihr eine Limonade brachte, erhielt ein Lob für die vortreffliche Mischung, die Mamsell in Rackow nie erzielte, und Wilhelm mußte über die Fortschritte des Bahnprojekts berichten. Dabei wurde er immer Feuer und Flamme. Sein schönes Gesicht[S. 57] leuchtete auf, er zwirbelte den koketten Spitzbart mit den wohlgepflegten weißen Fingern — und immer hatte er die bestimmteste Zusage von Exzellenz Itzenplitz, die Konzession schon „in der Tasche“ ... gerade daß noch einige kleine Schwierigkeiten zu überwinden waren. Er stöhnte freilich auch immer: „Mein liebes Rohlbeck! Weib und Kind muß ich allein lassen ... aber was soll man tun?“ Ein klein bissel malitiös konnte die Marquise manchmal doch sein: „Nun, Wilhelm, Berlin ist auch ganz pläsierlich“, meinte sie und kicherte. Doch da sie Martha, die sie besonders gern hatte, nicht weh tun wollte, fügte sie gleich hinzu: „Leicht hast du’s allerdings nicht in Berlin, ich weiß das, Wilhelm. Es ist ja jetzt ein großes Wettrennen um die Bahnkonzessionen. Graf Redern erzählte uns davon. Aber es wird doch auch enorm verdient. Wie heißt doch der Mann, der die erste Geige spielt? Richtig: Stroußberg ... ein Jude ... natürlich. Der soll ja bei der Bahn oben in Preußen ein großes Vermögen machen. Wilhelm, Wilhelm ... ich seh dich schon als Millionär! Nun: à tous seigneurs, tous honneurs!“
Dann kam Helene herunter. Hinauf war sie gestürmt, ganz langsam schlich sie nun ins Zimmer, und es klang eigen kleinlaut, als sie sagte: „Ich bin fertig, Tante Marie.“
Etwas Unsicheres, Sprunghaftes lag auch jetzt noch in ihrem Wesen. Sie war in den beiden Tagen, die sie in Rackow war, ihrer selbst nicht froh geworden.
Und es war doch so schön hier. Der Oktober meinte es diesmal besonders gut. Wenn der Amtmann Schmidthals, der seit einem Menschenalter Rackow ziemlich oder ganz selbständig verwaltete, — Graf Grucker legte, sobald auf die Verwaltung seitens des alten „Mistikers“ die Rede kam, den Akzent immer auf die erste Silbe — wenn Schmidthals bei der Veranda vorüberkam und die graue Kappe von dem grauen Haar zog, schmunzelte er jedesmal: „So ahnen Herbst haben wir noch nie gehabbt.“
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Die Rackower waren Spätaufsteher. Onkel Ernst erhob sich erst gegen zehn Uhr aus seinem Riesenbett, und Tante Marie wurde überhaupt erst gegen Mittag sichtbar. Bis zur Mittagsstunde blieben die Gäste sich selber überlassen. Doch auch sie kamen in Rackow bald ins selige Faulenzen hinein. Helene aber war von Hause aus an frühes Aufstehen gewöhnt, denn der alte Rittmeister verlangte ihre Gegenwart bei seiner Morgensuppe, die unweigerlich aus Brotschnittchen mit heißem Wasser aufgebrüht bestand.
So war sie auch hier schon gegen sieben Uhr am Frühstückstisch auf der Veranda.
Gestern hatte sie den Herrlichkeiten dieses Rackower Frühstückstisches ganz allein gegenübergesessen: der großen silbernen Kaffeemaschine, dem silbernen Brotröster, den vielen kalten Platten. Allein mit Höhne, dem Leibdiener Onkel Ernsts, der geräuschlos seines Amtes waltete, immer mit einer diskreten Gönnermiene, wie man sie armen Verwandten gegenüber hat.
Heut erschien, zu ihrer Überraschung, fast gleichzeitig mit ihr der Neuchateller: Leutnant de Merivaux von den Gardeschützen. In hohen Stiefeln, mit der Jagdjoppe; das frische Gesicht zartrosig, trotz des eben überstandenen Manövers, den kleinen Schnurrbart lustig aufgedreht. Lustig war das ganze Kerlchen. Kerlchen — pardon! — nein: der schlanke junge Herr. Aber lustig war er doch, mit seinen leuchtenden blauen Augen und dem gegen alle militärische Vorschrift kurz geschorenen schwarzen Haar, mit seinen raschen Bewegungen und dem leisen Radebrechen in der Sprache, von dem man nie recht wußte, war es echt, war es ein wenig gemacht.
„Bonjour, gnädiges Fräulein!“ rief er gleich und streckte ihr beide Hände entgegen. „Ein so schöner Morgen, ein wonniger Morgen. Wie kann man nur so lange liegen in den Federn, wenn die Sonne so wunderschön scheint und Fräulein von ’ackentin auf der Veranda sitzt. Oh, was sind das hier für faule Menschen.“
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Dann saß er auch schon. „Mein lieber ’öhne, eine Tasse Mokka. Aber recht stark. So ... und recht viel Milch. Danke: Milch, keine Sahne. Mein gnädiges Fräulein, und Sie schmieren mir ein Brot. Ah ... hier bekommt man doch richtiges weißes Brot ... Semmel ... nicht immer pain bis. Ich kann nicht vertragen dies schwarze Brot. Ich hab so ein gar sehr schwachen Magen ... ein Magen wie ein schwächliches Kind.“ Wobei er sich eine Scheibe Schinken auf den Teller legte, die für zwei starke Männer ausgereicht hätte. „Grand merci, gnädiges Fräulein. Je vous en fais mes remerciments! Sie sind sehr gütig. Noch ein Ei, mon chèr ’öhne ... bitte sehr ...“
Man konnte ihm nicht böse sein. Eigentlich wäre sie lieber allein geblieben wie gestern, diese einzig ruhige Stunde in dem geräuschvollen Rackower Leben. Aber mit den Wölfen mußte man nun einmal heulen.
Er trank seinen Kaffee in ganz kleinen Schlückchen, zerpflückte sein geliebtes pain blanc, ließ seine blauen Augen leuchten, erzählte von Berlin und von seiner Kaserne, ganz draußen, weit draußen, fast bei Treptow, wo „sich die Fuchs sagen gut’ Nacht“. Und dann fragte er plötzlich: „Warum ’aben Sie gestern nicht wollen singen, gnädiges Fräulein! Wo wir doch alle so sehr gebeten ’aben.“
„Ich war nicht disponiert, Herr von Merivaux.“
„Ah! Das haben Sie gestern auch gesagt. Aber es ist doch nicht wahr ...“
„Bitte sehr, Herr von Merivaux!“
„Pardon, gnädiges Fräulein. Aber wenn eine Sängerin nicht disponiert ist, hört man es an ihrer Sprache. Sie sind doch nicht heiser. Werden Sie heut singen?“
„Ich weiß es nicht. Ich glaube kaum.“
„Ich ’abe nicht vergessen, wie Sie ’aben gesungen auf Soldelzig, bei Comte Grucker.“
„Verstehen Sie denn etwas von Gesang?“
„Si peu que rien! Leider. Aber ich lieb’ die Musik über alles, und besonders hab’ ich Sie hören gern singen.“
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Helene mußte lachen. Es kam zu komisch heraus, wie er das sagte. Und dabei machte er so eigne Augen. Fast verliebte Augen. Gut, daß man wußte, man brauchte ihn nicht seriös zu nehmen.
„Etwa so gern, wie Sie nach einem guten Diner eine Zigarre rauchen. Nicht wahr, Herr von Merivaux.“
„Ja! Ganz gewiß. Ungefähr so. Ah, eine gute Zigarre. Mon cher ’öhne ... Sie wissen gewiß, wo der Herr Baron hat stehen seine guten Zigarren. Sie sehen ganz aus, als ob Sie auch rauchten gern eine gute Zigarre.“ Er gab dem Diener einen kleinen freundschaftlichen Klaps. „Also wie eine sehr, sehr gute Zigarre, gnädiges Fräulein. Mais, mon dieu, ... Sie dürfen das nicht übelnehmen.“
„Ich denke gar nicht daran. Ich fühle mich sogar sehr geehrt!“
Höhne hatte inzwischen wirklich eine Kiste Importen gebracht. Merivaux zündete sich umständlich eine Zigarre an, und tat liebevoll den ersten Zug. „Bei einer guten Zigarre kommen immer gute Gedanken. Bei Ihrem Gesang, gnädiges Fräulein, denk ich, kann man auch nur ’aben gute Gedanken. Als Sie in Sodelzig haben gesungen das Lied von der Baronin Rothschild — ‚si vous n’avez rien à me dire‘ — hab ich immerzu denken müssen an meine liebe Heimat, an unsere schönen Berge, an den blauen See ... ja ... und an meine gute maman ...“
Er war aufgestanden. Er blies schnell hintereinander ein paar kunstvolle Ringe und lachte: der erste Ring hatte sich zur Decke erhoben, war langsam gesunken und lag nun, für einen Augenblick, gleich einem Kränzlein just um Helenens weißes Morgenhäubchen.
Merivaux lachte, sah auf sie herab, und sie wurde böse: „Was lachen Sie eigentlich, Herr von Merivaux! Über mich?“
Da sagte er: „Schade ... nämlich, er ist jetzt fort. Ja so, gnädiges Fräulein, Sie wissen ja nichts davon. Ich hatte Ihnen eine auréole aufgesetzt ... aus Tabaksrauch[S. 61] ... und ist ein Sonnenstrahl dazu gekommen. Wenn Sie wüßten, wie scharmant das ausgesehen ’at!“
Unwillkürlich faßte sie nach dem Haar.
Aber er schüttelte den Kopf. „Nein, nun ist das fort: auréole und Sonnenstrahl. Aber ... scharmant sieht das immer noch aus ... das ...“
Ein wenig verwirrt war sie doch, ein wenig verlegen. „Was Sie immer für törichtes Zeug reden, Herr von Merivaux!“
„Ich? Aber nein doch ... Sind Sie fertig mit dem Dejeuner, gnädiges Fräulein? Wollen wir ein wenig in den Garten?“
Sie war schon aufgestanden und nickte.
Langsam schritten sie die kleine Treppe hinunter.
Frau Marie war eine Gartenkünstlerin. Sie hatte eine Wüstenei vorgefunden und ein kleines Paradies geschaffen. Vor dem Hause lag ein großes Rosenparterre; gutgehaltene, kurzgeschorene, manneshohe Taxushecken schlossen es seitlich ab; breite Einschnitte, die gewölbten grünen Toren glichen, führten von hier in den eigentlichen Park, der sich weit hinzog und allmählich in Wiesen und Waldpartien überging. Nicht so ausgedehnt war das Ganze, wie der Park von Muskau, den der Graf Pückler angelegt hatte, aber einzelne Teile konnten an Schönheit doch mit dem Meisterwerk des alten Semilasso wetteifern.
Man war stolz im ganzen Kreise auf den Park von Rackow, und auch Helene war es. Sie führte Merivaux von einem Ausblick zum andern; an dem Borkenhäuschen vorüber, in dem im Hochsommer meist der Kaffee genommen wurde, zum schilfumstandenen Teich; von dort zur Höhe, von der man die schönste Aussicht auf das Dorf Rackow hatte und darüber hinweg zu dem Hügelzuge, an dem Rohlbeck lag.
„Da, sehen Sie, Herr von Merivaux. Da bin ich zu Hause ...“
Indem sie das sagte, fühlte sie: es war wirklich schön. Der Herbstzauber ruhte auf dem Landschaftsbilde; die[S. 62] Sonne malte ihre farbigen Reflexe; das Dörfchen unten mit dem hohen altersgrauen Kirchturm war wie eingebettet in Grün, Rot und Gold; weite Felder dann, und dahinter der Höhenzug mit den festgeschlossenen geradlinigen dunklen Kieferforsten.
Aufmerksam schaute der junge Offizier in die Weite. Eine Weile schwieg er. Aber dann begann er von seiner Heimat zu sprechen, von dem ewig blauen See, von ragenden Felsen, von schneegekrönten Häuptern. Er sprach von den Weinhängen, auf denen jetzt die feurigen Trauben reiften, von der üppigen Vegetation am Gestade des Neuchateller Sees mit den Wäldern von echten Kastanien, von den Magnolien und Mandelbäumen im Garten von Schloß Merivaux.
Er konnte also auch ernst sprechen. Sieh einmal an. Ernst und schön. Sie mußte das zugeben. Aber es reizte sie. Sie, die sich immer in die Weite sehnte, lehnte sich plötzlich dagegen auf, daß man ihr die Schönheit der Fremde rühmte, wo sie die Schönheit der eigenen Heimat gelobt wissen wollte.
„Warum sagen Sie mir das alles?“ fragte sie scharf dazwischen.
„Weil ich wohl möchte, daß Sie es kennen lernten, gnädiges Fräulein.“
„So finden Sie es schöner ... schöner als bei uns?“
Er lächelte überlegen. „Das hier ist wie eine Oase. Aber sonst, mon dieu ... nicht so böse Augen machen, bitte ... sonst ist die Mark Brandenbourg ein armes Land.“
„Warum sind Sie denn aber hergekommen?“
„Oh ... warum? Wie können Sie fragen? Weil wir sind Royalisten. Man hat uns geknechtet daheim, die Demagogen haben gesiegt. Aber wir ’alten treu zu unserem Fürsten, zu unserem König. Wir wollen ihm weiterdienen. Vive le roi!“
Sie waren weitergegangen, den breiten Weg zurück. Jetzt blieb Merivaux plötzlich stehen. Er griff mit einer[S. 63] seiner heftigen Bewegungen in die Fliederbüsche, knickte ein paar Zweiglein. „Mein Vater haben sie in prison geworfen, die Revolutionäre, als der Aufstand kam. Dann hat uns Preußen im Stich gelassen ... Politik ... Politik ... was weiß ich. Aber wir bleiben treu ... treu bis zum Tod. Verstehen Sie das, gnädiges Fräulein?“
Helene nickte. Sie fühlte: das war jetzt nicht mehr der kleine lustige Leutnant, der zu ihr sprach. Es war ein Mann, der einer Überzeugung diente. Es stieg heiß in ihr auf. Sie begriff vielleicht nicht ganz. Aber sie empfand: ein Mann, der seine schöne Heimat verläßt, die er über alles liebt, um in der Fremde dem Herrscher mit Blut und Leben zu dienen, dem die Vasallentreue gebührte! Alles um der Treue willen!
Wieder gingen sie ein Stück weiter, schweigend nun.
Da kam ihnen bei der Wegbiegung Herr Schwarz entgegen. Im langen braunen Rock, auf dem Kopf ein winziges Hütchen, in der Hand einen leichten Stock mit goldener Krücke, um den hohen Hemdkragen ein seidenes Cachenez.
Helene sah ihn — und mit einem Male fühlte sie, jäh erschreckend, wie plötzlich all die Sympathie für den jungen, frischen Menschen neben ihr verblich, wie sich all ihre Gedanken widerstrebend dem Sänger zuwandten. Dabei trotzte es in ihr auf: ich will nichts von ihm wissen, ich will nicht — will nicht! Und sie straffte sich, setzte ihre hochmütigste Miene auf.
Herr Schwarz ignorierte beides: die kühle Gleichgültigkeit in dem schönen Mädchengesicht und Abwehr und Verdruß in den Zügen des jungen Offiziers. Der hatte sich schnell eine Gerte aus dem Busch gebrochen und schwippte damit durch die Luft, schlug sich an die Stiefelschäfte.
Vollständig fast ignorierte Herr Schwarz den Neuchateller; gerade nur die notwendigste Höflichkeit lag in seinem Gruß. Er wandte sich ausschließlich an Helene.
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„Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen? Aber was frage ich! Ich bin ja nicht mit Blindheit geschlagen.“
„Fragen Sie doch lieber. Oder soll ich Ihnen sagen: Fräulein von Hackentin ’at mir gerad eben gesagt, daß sie ist stock’eiser. Stock’eiser, Monsieur Schwarz —“
Der Sänger lachte. „Dann wird das gnädige Fräulein einen Scherz gemacht haben. Als ich vor einer Stunde etwa mein Fenster öffnete, hörte ich ein paar halblaute Töne, eine Kadenz nur ... unter mir mußte man auch das Fenster aufgetan haben — nun, kurz und gut, ich wußte sofort, daß diese Stimme nur die von Fräulein von Hackentin sein konnte. Ich wußte, heut ist das gnädige Fräulein nicht mehr indisponiert, heut wird sie singen.“
„Sie wird nicht singen —“ sagte Helene und setzte den Kopf noch gerader auf den Nacken.
Er nahm seinen Stock zwischen beide Hände vor die Brust, daß die goldene Krücke unter das Kinn zu liegen kam, lächelte wieder, überlegen und fast ein wenig ironisch: „Sie wird doch singen, wenn der Kollege sehr bittet.“
„Der Kollege? Welcher Kollege, Herr Schwarz?“
„Nur meine Wenigkeit, gnädiges Fräulein. Sie müssen das Wort schon mit in den Kauf nehmen: wir huldigen ja derselben Kunst, der göttlichen ...“ Plötzlich brach er ab. „Ist das nicht übrigens ein wonniger Oktobermorgen? So warm wie im Hochsommer.“
Merivaux machte eine Bewegung mit dem Zeigefinger um den Hals: „Aber Sie ’aben gepummelt das Cachenez um die Kehle.“
„Vorsicht ist zu allen guten Dingen nutze, Herr Leutnant. Diese ‚Kehle‘ hier aber ist ein gut Ding. Nicht für mich nur, sondern für die Welt, in der man den bel canto zu schätzen weiß.“
Sie waren weitergegangen und standen vor dem kleinen chinesischen Pavillon, der die Fernsicht nach der anderen Seite bot: nicht auf Rohlbeck, sondern nach Stellberg hin. Fast das gleiche Bild, nur daß das Dorf im Vordergrunde fehlte. Und da sagte Schwarz: „Wie schön doch diese Mark[S. 65] Brandenburg ist. Ich hätte es nie für möglich gehalten. Man hatte mir so viel erzählt von ihrem öden Sande, daß ich in eine Wüste zu kommen fürchtete. Aber nun kann ich mich gar nicht satt sehen an diesen weiten Blicken auf die geraden schlichten Linien der Landschaft. Ich kenne doch ein großes Stück Welt, kenne romantischere, äußerlich reizvollere Gegenden. So gepackt aber hat’s mich selten wie hier. Wie das alles zusammenstimmt: Landschaft und Menschen. Alles so offen, so einfach, ohne Kompliziertheit, immer zum Herzen sprechend. Sprechend? Nein, klingend, tönend. Man muß es lieben, beides, Land und Leute.“
Helene schwieg, trotzdem er zu ihr sprach. Nur zu ihr. Sie wollte nicht antworten. Aber hindern konnte sie doch nicht, daß sich die Worte wieder in ihre Seele schmeichelten, die Worte und der Klang dieser Stimme.
„Ist doch ein armselig Land!“ sagte Merivaux dazwischen. Wie aus Trotz heraus.
„Wie Sie das nur behaupten können! Es gibt gewiß reichere Erdenflecken. Länder, in denen wirklich Milch und Honig fließt, Gegenden, die auch auf das äußere Auge stärker wirken. Die Mark spricht, für mich, zur Seele. Und nun die Menschen! Merkwürdige Menschen. Schlendere ich gestern abend durch das Dorf. Ganz allein. An einem Zaun steht ein alter Bauer, ich fang ein Gespräch mit ihm an. Wortkarg gibt er Rede und Antwort. Und dann hat er — ich sprach vom Wetter — fast genau Hamlets Wort: es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...“
Merivaux schlug sich wieder mit seiner Gerte auf den Stiefelschaft, daß es klatschte: „Da ’aben Sie dazu gedichtert, Monsieur Schwarz. Einfach hineingedichtert. Der Bauer ist Bauer, und Bauer bleibt Bauer.“
Der Sänger zog die Achseln hoch und sah zu Helene hinüber, als erwartete er einen Einwurf, eine Parteinahme für sich. Aber die blieb aus. Ihre Gedanken waren eine andere Straße gezogen. In ihr klangen nur seine Worte über das Landschaftsbild. Zuerst hatte sie sich darüber[S. 66] gefreut, gerade weil sie im Gegensatz zu Merivaux’ Urteil standen. Nun schienen sie ihr doch ein wenig phrasenhaft, ein wenig gekünstelt. Was hatte der Neuchateller eben gesagt? Hineingedichtert ...
Da sagte Schwarz, und sie horchte wieder auf seine weiche, einschmeichelnde Stimme: „Wir wollen nicht streiten. Der Morgen ist wirklich zu schön dazu. Kommen wir nicht auf diesem Wege zur Fasanerie, gnädiges Fräulein?“
Sie nickte, und sie gingen weiter.
Erst zu dreien, dann blieb Merivaux ein paar Schritte zurück. Einmal sah sie sich nach ihm um; flüchtig, eigentlich nur aus Höflichkeit, als Verwandte des Hauses, dessen Gast auch er war. Aber er stand an den Büschen, hatte die Zweige auseinandergebogen, spähte vielleicht nach einem Vogelnest. Das mochte ihn mehr interessieren als alles, was der Russe — immer noch nannte sie ihn in Gedanken so — erzählte. Der hatte schnell wieder den Übergang gefunden vom märkischen Bauer zur großen Welt. Aus der Enge in die Weite, schien es ihr. Er sprach von Petersburg, von Paris, von Wien, vom geselligen Leben, vom Theater. Es war ihr so fremd, es war ihr so neu — fast alles, was er sagte. Man mochte wollen oder nicht: man mußte lauschen. Auch dem, was er über sich einfließen ließ: von dem unwiderstehlichen Drang, der ihn, den Sohn eines Bergwerkdirektors, zur Kunst getrieben hätte; wie er schon auf dem Gymnasium durch seine Stimme Aufsehen erregt, welche Kämpfe er zu durchringen gehabt, wie dann das Glück über ihn gekommen wäre. Und nun sei er auf der Höhe —
„Auf der Höhe ... ja ... und doch nimmer befriedigt ...“
Es klang so weich, es klang so schmerzlich: nimmer befriedigt.
Ein Geständnis war es. Es schlug eine Saite in ihrer eigenen Seele an. Sie mußte fragen: „Nimmer befriedigt? Sie? Und warum?“ Ganz zögernd nur, scheu kam das letzte Wort.
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„Ja ... warum? Wer kann das eigentlich sagen? Da ist der heiße Wunsch, immer Reiferes, immer Vollkommneres zu leisten, das große Streben, das den Künstler bis zum letzten Atemzuge nicht verlassen darf. Und daneben steht die unendliche Leere.“
Es zwang sie, ihn anzusehen. Fast schien es, als glänzten seine Augen feucht.
Sie schüttelte zaghaft den Kopf. „Die Leere?“
„So ist es, mein gnädiges Fräulein. Nicht anders. Streben und Beifallslohn ... wunderbar schön sind sie, bezaubernd, berauschend. Aber der Rausch verfliegt, der Zauber erlischt. Es bleibt nur der graue Alltag, in den keine Sonne hineinleuchtet. Manchmal glaubt man freilich, einen freundlichen Sonnenstrahl festhalten zu können ... aber ...“
Er brach ab.
Schweigend gingen sie noch ein paar Schritte weiter, blieben dann stehen. Helene war’s, als stockte ihr der Atem.
Da fragte er: „Werden Sie heut singen?“
Sie neigte den Kopf, ohne ein Wort. Aber es war doch eine Bejahung.
Und dann war mit einem Male Merivaux neben ihnen und noch ein anderer, den er unterwegs aufgelesen haben mußte.
Merivaux hatte wieder ein fröhliches Lachen, das ihr geradezu weh tat in diesem Augenblick. „Also, Monsieur Schwarz, also hier ’ab ich einen ganz Sachverständigen. Also, Monsieur Smithals, also was ’alten Sie von die märkischen Bauer?“
Worauf der stämmige Alte auch lachte: „Unse Pauern? Verfluchtigte Sakarmenter sind’s, Herr Leutnant.“
**
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Helene war unter den Fröhlichen sehr still gewesen.
Man war bei Tisch immer fröhlich in Rackow. Die Tafelrunde hatte hier ihre besondere Weihe. Onkel Ernst[S. 68] war ein Schlemmer. Er nannte sich einen Gourmet, aber er war beides: Gourmet und Gourmand; er aß möglichst erlesen und aß — wie ein Scheunendrescher. Wenn er am eigenen Tisch vor seinem berühmten ovalen Ausschnitt präsidierte, in den sein Bäuchelchen gerade hineinpaßte, glänzte sein Gesicht vor Behagen und Wonne: „Nun, Mariechen, was gibt’s denn heut?“ fragte er noch vor der Suppe, obwohl er das Menü schon vorher mit Monsieur Bombourdan, dem Chef, eingehend erwogen hatte. Und Tante Marie, die selber aß wie ein Piepmatz, aber noch eine weit feinere Zunge hatte als der Rackower, lächelte gnädig: „Du wirst schon zufrieden sein.“ Dann sah Onkel Ernst regelmäßig unter seinem Monokel „um die Ecke“, musterte der Reihe nach seine Gäste und freute sich, wenn er auch bei ihnen einiges Verständnis erhoffen konnte.
Heut mochte das angehen. Die Rohlbecker waren heraufgekommen. Die Rohlbecker Damen — mit denen war zwar in bezug auf kulinarische Genüsse nicht viel anzufangen; der alte Rittmeister würdigte eigentlich nur eine Delikatesse, im Juni den Matjeshering, von dem er sich regelmäßig einmal im Jahr ein kleines Tönnchen aus Hamburg kommen ließ. Aber Wilhelm Hackentin hatte sich in Berlin neuerdings zu einem kleinen Schlecker ausgebildet, der eine Holsteiner Auster von einer Native mit geschlossenen Augen zu unterscheiden wußte. Der lustige Merivaux kannte sich auch aus; französisches Blut! Neulich hatte der davon gesprochen, daß man Hammelkoteletten eigentlich nur in einer Pfanne braten sollte, die mit einer Zwiebel ganz, ganz leicht ausgestrichen wäre — „grad nur ein ’auch“. Nicht übel. Und Alfred Schwarz war geradezu ein Mann nach Onkel Ernsts Herzen. Das Bürschlein hatte schon in Ems eine Zunge bewiesen, die der Nachbarschaft seiner berühmten Stimmbänder nichts nachgab. Eine Bordeauxzunge, die Lage und Jahrgang geradezu erstaunlich zu beurteilen wußte, im Handumdrehen, und die auch beim Champagner nicht versagte. Petersburger Schule, so lächerlich das war. Das Volk soff Wuttki,[S. 69] Wuttki und nochmals Wuttki, aber dafür aßen und tranken die oberen Zehntausend desto besser.
Man war wie immer sehr fröhlich am Rackower Tisch.
Nicht laut indessen. Selbst die heitersten Scherzworte flogen in gedämpftem Ton herüber und hinüber. Gerade, daß die kleine, mollig runde Grete Waldegg, die Tochter vom Stockschen Oberstleutnant, manchmal aufkicherte, wenn ihr Tischherr, der rote Fritze Hackentin, ein bissel mit ihr zu schäkern versuchte.
Helene war unter den Fröhlichen sehr still.
Merivaux hatte sie geführt und gab sich umsonst redlichste Mühe, ein Lächeln auf dem heut so eigen ernsten Gesicht heraufzulocken. Auf ihrer anderen Seite saß ihr Bruder Wilhelm. Der wußte, so gesprächig er war, auch nichts mit ihr anzufangen. Sie saß mit gesenkten Augen und berührte die Speisen kaum. Nur ein Glas roten Champagners, Spezialität des Rackower Kellers, Marke Ruinart & Cie. in Reims — trank sie hastig leer.
Ihr gegenüber hatte, zwischen Martha Hackentin und Tante Marie, der Russe seinen Platz.
Manchmal, auf den Bruchteil einer Sekunde, sah Helene zu ihm hinüber. Wie unter einem Zwang. So lebhaft er sich unterhielt: jedesmal trafen sich doch ihre Blicke. Und immer senkte Helene, erschrocken, die Augen wieder auf ihren Teller.
Der Kaffee wurde im Damast-Salon genommen. Nicht um den großen runden Tisch, wie in Rohlbeck und in den anderen Gutshäusern, wo der Nachmittagskaffee mit „Stippe“ eine besondere Rolle spielte. Frau Marie wußte in ihrem roten Salon die Gäste unaufdringlich in einzelne Gruppen zu gliedern, Altersklassen und Interessensphären geschickt zusammenzuschieben.
Auch ihr Salon hatte Stil. An den damastbespannten Wänden ein paar gute Bilder, ein Aquarell von Hildebrand mit aller Farbenpracht der Tropen, ein treffliches Porträt von Franz Krüger, das Onkel Ernst noch in seiner Jugend[S. 70] Maienblüte, als schlanken Jüngling, darstellte, ein großer Stich nach Guido Reni. Zwischen den Möbeln, wo es irgend anging, Blattpflanzen und blühende Blumen, die der Gärtner täglich erneuern mußte, und neben dem Kamin eine ziemlich große Voliere, hinter deren vergoldeten Stäben ein Dutzend winzig kleiner Tropenvögel das kurze Leben verträumte. Das kurze Leben: denn diese bunten Kinder einer südlicheren Sonne starben dahin wie die Fliegen, trotz der liebevollsten Pflege, und der Berliner Händler mußte alle paar Wochen Nachschub senden. War Tante Marie aber besonders in Stimmung, so öffnete sie die Tür der Voliere, lockte die Tierchen heraus, bis sie frei im Salon umherflatterten. Es gab dann immer lautes Jubeln, viel „Ahs“ und „Ohs“. Nur dem alten Rittmeister war die „Unzucht“ ein Greuel. Er huldigte Frau Marie mit einem Respekt, in dem sich chevalereskes Wesen und derbes Landjunkertum eigen mischten. Aber ihre Behandlung der Tropenfremdlinge nannte er, dem sonst jede Humanitätsduselei weltenfern lag, Tierquälerei.
Unter dem Stich nach Guido Reni stand der wunderschöne Bechsteinflügel in gläsernen Untersätzen auf dem dunkelroten Teppich.
Helene und die mollig runde Grete Waldegg waren von der Hausfrau an dem Tischchen beschäftigt worden, auf dem die silberne Kaffeemaschine mit all ihrem Zubehör prunkte. Das war in Rackow immer das Amt der jungen Mädchen: sie hatten den Mokka zu bereiten, Herrn Höhne zu assistieren, den älteren Damen persönlich das Meißener Schälchen mit einem artigen Knicks zu überreichen. Tante Marie sah dem gern zu, durch die scharfen Gläser ihrer langstieligen Lorgnette, und manchmal gab’s nachher eine kleine Instruktionsstunde: „Cherie, so faßt man aber eine Tasse nicht an“ ... „Mignonne, vor einer Greisin könntest du dich wirklich ein wenig tiefer beugen“ ... „Mein liebes Kind, man macht bei solcher Gelegenheit kein air moussade ... lächeln mußt du, liebenswürdig lächeln ...“
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Ihr eigenes kleines spitzes Gamingesicht hatte ja meist auch solch ein liebenswürdiges, komplisantes Lächeln. Auch jetzt, wo sie — nachdem der Kaffee genommen war — einen Blick der Aufforderung zu Herrn Schwarz hinübersandte. Der stand an der Tür zur Bibliothek, der einzige Gast in Frack und weißer Battistbinde, mit ein paar Orden im Knopfloch, das Täßchen noch in der Hand. Ziemlich vereinsamt. Aber er zeigte es nicht, daß er sich vereinsamt fühlte. Seine Blicke waren all die Zeit im Zimmer umhergewandert, um schließlich immer wieder auf Helenens rostbraunem Haar, das in hundert winzigen Löckchen sich gegen den glatten Scheitel sträubte, haften zu bleiben.
Er verstand den Blick der Hausherrin sofort. Vielleicht hatte er darauf gewartet. Ganz leicht verbeugte er sich, setzte die Schale beiseite, ging auf den Flügel zu, öffnete die Klaviatur. Höhne eilte diensteifrig herbei, schob den Stuhl zurecht.
Helene hatte sich mit Molly und Bruder Fritz ins Schmollwinkelchen neben der Voliere geflüchtet. Ganz tief zurückgelehnt saß sie, hatte die Hände im Schoß verschränkt. Und um ihre roten Lippen spielte ein etwas spöttischer Zug. Sie fand, daß der Russe keine gute Figur machte. Es war immer wie eine Pose; sein Stehen an der Tür, sein gleitendes Schreiten, die Art, wie er jetzt am Flügel Platz nahm, einen Moment nachzusinnen schien. Eine kleine Schadenfreude war in ihr und doch auch eine große Erwartung.
Doch nun klangen die ersten Töne auf. Schwarz schlug ein paar Akkorde an, dann setzte er ein.
Er sang die große Arie aus „Zar und Zimmermann“: „Einst spielt ich mit Zepter und Krone und Stern ...“
Es wurde still im Raum.
Der spöttelnde Zug erlosch in Helenens Gesicht. Es spannte sich. Sie richtete sich auf, und dann beugte sich ihr schlanker Körper mehr und mehr nach vorn. Und die Hände hoben sich aus dem Schoß, preßten sich gegen die Brust, eng verschlungen.
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Großer Gott ... war das denn möglich? Gab es das? Solch eine Stimme! Solchen Wohlklang, solche Kraft ... und solche Kunst! Eine Himmelsgabe, köstlich und wunderbar, gemeistert in edelster Schule! Ein Vortrag, der aus tiefstem Empfinden kommen mußte, der zu dem Herzen sprach, daß es jubeln mußte. Nein, nicht jubeln: stumm lauschen, stumm genießen, in Demut genießen!
Gleich Perlen auf Goldschnur gereiht, so war es, Ton auf Ton. Klar, rein ... erhaben ... groß ... herrlich!
Sie dachte nur: der erste wahrhafte Künstler, den du hörst. Welch eine Gnade ...
Der letzte Ton verklang.
Der Beifall brach los.
Sie hörte ihn kaum. Sie sah nicht, wie Vater klatschte, wie selbst die stille Martha die Hände rührte. Sah nicht, wie Ernst Hackentin sein Bäuchlein trommelte; nicht, wie der Garde-Schütze, der neben Wilhelm hinter dem Stuhl der Mutter stand, die Hände hob, um sie dann gleich sinken zu lassen. Sah auch nicht, wie Tante Marie quer durch den Saal schwebte, trippelnd, raschelnd und lächelnd, am Flügel stehenblieb, dem Sänger zuflüsterte.
Tief in Träumen befangen saß Helene. In Träumen, die vor ihr die Pforten einer neuen Welt weit auftaten ...
Dann horchte sie doch auf, erschreckt zuerst.
Von neuem hob es an. Sie fühlte sogleich, daß eine andere Hand den Flügel meisterte. Als sie den Blick hob, sah sie, daß Tante Marie vor dem Instrument saß, daß der Russe neben ihr stand.
„Letzte Rose“ sang er.
Es war anders als vorhin. Vielleicht war es noch schöner. Seine Stimme klang gleich kräftig, aber weicher, einschmeichelnder. Wie ein ewiges Locken war es, ein süßes, verführerisches Bitten, Flehen, Werben ...
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Wieder saß sie weit vornübergebeugt, die Hände gegen die hochatmende Brust gepreßt. Und nun die Augen auf ihn gerichtet. Sie sah nur sein Profil, die scharf geschnittenen Linien des schönen Gesichts. Gleich einer Silhouette hob sich das ab von dem Hintergrund der roten Damasttapete, hell beleuchtet von den vielen Kerzen des Kronleuchters. Die kleine Gestalt von Tante Marie war nur wie ein helles Fleckchen vor dem Flügel. Über ihr Köpfchen blickte er hinweg auf die Notenblätter. Zwei — dreimal griff seine Hand nach vorn, um sie zu wenden.
Dann plötzlich, ganz zuletzt, wandte er den Kopf. Sein Blick streifte durch den Raum, wie suchend, blieb auf Helene haften. Ein Lächeln kam zu ihr hinüber: war’s recht so? Ein siegesgewisses Lächeln: nicht wahr ... es ist schön gewesen!
Noch eine glänzende Perlenkette von Tönen, sieghaft wie jenes Lächeln, mühelos quellend wie im Triumph des großen Könnens. Und er schwieg.
Wieder der starke Beifall. Ganz leicht neigte er den Kopf zum Dank. Vater, Wilhelm waren schon neben ihm, schüttelten ihm die Hand, Onkel Ernst hob sich aus seinem Sorgenstuhl, rollte sich zum Flügel. Tante Marie hatte den Drehsessel umgewendet, lachte zu ihm in die Höhe.
Aber plötzlich löste er sich aus der Plaudergruppe. Mit raschen Schritten ging er quer durch das Zimmer, blieb vor Helene stehen und bat, ehe sie noch recht zur Besinnung kommen konnte: „Jetzt werden Sie singen, gnädiges Fräulein!“ Bat — und es war doch fast wie ein Befehl. Sie schrak heftig zusammen, aber sie stand auf. Schüttelte den Kopf, hob die Hände zur Abwehr. So stark war sie erschrocken, daß sie nicht sprechen konnte. Nicht einmal das eine: ‚Jetzt — nimmermehr.‘
„Darf ich Sie zum Flügel führen?“ hörte sie seine Stimme. Und zugleich neben sich ein leises, etwas spöttisches Kichern der molligen rundlichen Molly. Es klang ihr auch wie: ‚Jetzt singen ... wie sollte die Lene das riskieren.‘ Aber es peitschte ihren Trotz auf. Sie legte[S. 74] mit einem plötzlichen Entschluß ihre Hand in seinen Arm, ging ein paar Schritte, blieb dann doch wieder stehen: „Ich kann jetzt nicht singen ... nach Ihnen!“
„Gnädiges Fräulein ...“
Sie standen mitten im Zimmer, gerade unter dem Kronleuchter, und nun nicht mehr allein. Tante Marie war herangetreten: „Aber, Mignonne!“ Vater kam und erklärte im Rittmeisterton: „Ziere dich nicht. Das ist ridicül. Das heißt: Sing, so gut du kannst. Mehr verlangt keiner.“
‚Ich kann nicht —‘ wollte sie noch einmal sagen. Aber sie fühlte sich von Schwarz unwiderstehlich weitergezogen, mit einem ganz sachten Druck seines Armes, stand schon am Flügel und wußte gar nicht, wie sie dorthin gekommen war.
„Was werden Sie uns singen?“ fragte Schwarz. Und zum dritten Male wollte sie entgegnen: ‚Gar nicht singen will ich‘ und hatte doch schon die Hand nach dem Notenschränkchen neben dem Instrument ausgestreckt. Er griff gleichzeitig zu. Die Blätter raschelten. Auf einen Augenblick berührte ihre heiße Stirn fast seine Wange. Wieder schrak sie zusammen, richtete sich hastig auf, schüttelte den Kopf. Wortlos ...
‚Warum quälen sie mich!‘ schrie es in ihr. ‚Warum quälen sie mich? Ich kann ja doch gar nichts. Kann ja nicht singen ... hier nicht ... heut nicht ...‘
„Mendelssohn liegt Ihnen gewiß, gnädiges Fräulein?“
Er hatte ein Blatt herausgesucht, wies es ihr hin. Und in heller Verzweiflung neigte sie den Kopf.
„Soll ich akkompagnieren?“
Endlich fand sie die Sprache wieder: „Nein — nein! Ich begleite mich immer selber ...“ Der Gedanke, hinter ihm zu stehen, ihm folgen zu müssen, war ihr unerträglich.
Dann war plötzlich Bruder Wilhelm neben ihr. Sie mochte ihm leid tun. Er schob ihr den Stuhl zurecht, raunte ihr ein paar liebe Worte zu —
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Und nun saß sie, hatte die Hände auf den Tasten, sah auf das Notenblatt und meinte, keinen Finger rühren, keinen Ton herausbringen zu können. Die Stimme stickte ihr ja im Halse, die Kehle war so trocken, war wie zugeschnürt. Weinen hätte sie mögen.
Aber mit einem Male, ganz jäh, war das alles anders.
Mit einem Male kam es wie eine große Befreiung über sie. Unerklärlich, wie das geschah. Ganz plötzlich hatte sie das Empfinden: ‚Du mußt singen! Du kannst es! Du wirst es gut machen, wirst ihm beweisen, daß du keine elende Stümperin bist. Daß auch dir Gott die Gabe verlieh ...‘
Noch sah sie wie durch einen Tränenschleier die Noten. Aber gleich darauf ward es helle vor ihr. Das leise, unsichere Beben der Finger, das sie vorhin gespürt, verschwand. Sie fühlte, wie die Stimme frei wurde ... ganz frei —
Und so sang sie —
Das Goethesche Lied hatte er für sie gewählt.
Während sie sang, wurde sie froh. Das war ja fast immer so; aber heut doch anders wie sonst; eine wahre Lust, hinauszujubeln, erwachte in ihr.
Es war wie ein Rausch. Ein holder, beseligender, traumhafter Rausch. Sie fühlte wohl, daß es ihr glückte, daß sie gut sang, besser als je. Aber sie gab, was sie gab, doch völlig unbewußt. Die Töne quollen in ihr empor, ohne daß sie suchte.
Und dann war alles aus. Mit dem letzten Ton entschwanden ihr Wille und Kraft, die Begeisterung erlosch, die Spannung der Seele ließ nach. Müd und matt wie[S. 76] ein Vögelchen, das aus Wolkenhöhen zu Boden geschmettert wurde, hockte sie vor dem Instrument, die Hände waren von den Tasten gesunken und lagen im Schoß. Sie hörte nur undeutlich den Beifall, dachte nur: ‚ach ... es war ja doch nichts, du kannst ja gar nichts; und wenn sie klatschen ... was verstehen sie!‘ Ein Schluchzen stieg auf in ihr. Sie biß die Zähne aufeinander, preßte die Lippen zusammen; tief herab glitt ihr Kopf, und die Stirn schmerzte.
Mehr sollte sie singen. Die Stimmen schwirrten durcheinander. Man bat, machte Vorschläge: eines der Taubertschen Kinderlieder, das Rothschild-Liedchen: Si vous n’avez rien à me dire ...
Nein! Nein! Nein!
Dann stand sie jäh auf. Mit dem plötzlichen Entschluß: ‚jetzt willst du das letzte wissen ... sein Urteil ... und wenn es dein Todesurteil wäre ...‘
Sie wandte sich kurz um.
Und da sah sie ihn. Er stand nicht in der Gruppe der Verwandten am Instrument. Er war zurückgetreten, lehnte wie vorhin, ehe er gesungen, an der Tür zur Bibliothek.
Sie sah ihn und sah, daß seine Augen zu ihr herüberleuchteten. Und nun kam er, faßte ihre beiden Hände, unbekümmert um alle, die um sie waren, und sprach: „Sie werden eine große Sängerin werden! Eine von den ganz großen, vor denen sich Könige und Fürsten neigen. Ich preise mich glücklich, daß ich als Erster Ihnen das sagen darf.“
Kantor Flehr schob mit gesenktem Haupt langsam über die Dorfaue. Man konnte es ihm ansehen, daß er Sorgen hatte, die ganze Hucke voll, und zwar, trotzdem Kartoffelferien waren und die liebe Jugend ihm daher den Schädel nicht heiß machte.
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Sorgen hatte Kantor Flehr zwar eigentlich immer. Ein Dorfschulmeisterlein im Königreich Preußen und keine Sorgen: das gab’s ja einfach nicht. Gerade daß man vor dem Verhungern geschützt war — bei der Herde Kinder, die sich so nach und nach einfand. Recht machen konnte man es auch niemand: dem Herrn Patron nicht; dem Herrn Pastor nicht, obwohl beide noch nicht die schlimmsten waren, im Gegenteil. Den Bauern und Kätnern, dem lumpigsten Tagelöhner erst recht nicht. Und deren Ehegesponsten nun schon gar nicht. Denn im Grunde genommen: den Weibsen wär’s am liebsten gewesen, wenn sie ihre Rangen gar nicht in die Schule zu schicken brauchten, oder wenn er den Nürnberger Trichter besäße, um Bub und Mädel in einem einzigen Viertelstündchen- alles einzutrichtern, was sie fürs Leben gebrauchten. Damit besagte Rangen den besagten Eltern in Feld und Wirtschaft helfen könnten, von früh bis spät. Von der Bildung hielt das Volk verflucht wenig. Aber man selber hatte doch nun mal sein Pflichtgefühl und seine Ideale. Hatte man, und konnte, durfte man nicht preisgeben. Wenn schon das ganze Dasein immer wieder die elendsten Kompromisse verlangte.
Sorgen also hatte Kantor Flehr eigentlich immer, und sie hatten ihm wohl auch die tausend Runzeln und Fältchen in das alte Gesicht gegraben. Aber an diese alltäglichen Sorgen gewöhnte man sich allgemach, wie man sich daran gewöhnt hatte, daß Quetschkartoffeln mit einem Brocken Speck gar kein so übles Essen waren, oder daran, daß man immer wieder einen Pflock zurückstecken mußte, was die eigene geistige Fortbildung anbetraf, oder daran, daß Goethe und Schiller nur an Sonntagsnachmittagen vom kleinen Bücherbord heruntergenommen werden konnten; auch daran, daß das alte Klavier von Jahr zu Jahr dünner im Ton wurde.
Es mußte schon einiges Besondere zusammenkommen, wenn Kantor Flehr den Kopf so tief auf der Brust trug[S. 78] wie heute, den schmalen, langen Oberkörper so vornübergeneigt hielt.
So war es aber auch. Der Tag verdiente drei Kreuze im Kalender.
Erst hatte man vom alten Heckstein wieder einmal eine kleine Vorlesung entgegennehmen müssen über den Geist der „Regulative —“. Selbstverständlich, das wußte man ja, kam die Salbaderei dem guten Heckstein selber nicht recht aus dem Herzen; war ein viel zu aufgeklärter Mann dazu, um vom Geist dieser Regulative überhaupt aus Überzeugung sprechen zu können, dieser Einschnürungs- und Verdummungsparagraphen. Aber ein Keil drückte da eben den andern. Und das war schließlich dem Pastor doch wohl aus dem Herzen gekommen, daß er sagte: „Überhaupt, Herr Kantor, Sie sind mir zu liberal!“ Ja ... hm ... was sollte man darauf erwidern, wenn der Alte so seinen gichtgekrümmten Zeigefinger hob? Zu liberal! Du mein Gottchen! Man hatte doch eben seine Ideale. Und wer die nicht, innerlich mindestens, hochzuhalten wußte in dieser Zeit, wo die Reaktion wieder mal umging, als ob sie die letzten paar Säulchen untergraben wollte, auf die sich noch die Freiheit des Staatsbürgers stützen konnte ... ja, wer sich seine bißchen Ideale nicht zu wahren wußte, der ging eben moralisch vor die Hunde. Nicht mehr Staatsbürger, sondern Staatsknecht war man dann ...
Nun ja ... und eine Stunde darauf war der Schulze gekommen, Christian Lehmpuhl. Hatte wieder mal solch ein Schreiben vom Herrn Landrat, Hochwohlgeboren. Wenn man nur die Handschrift des hochmögenden allmächtigen Kreissekretärs sah, konnte einem die Galle überlaufen; es roch ordentlich nach Bureaukratie daraus. „Es wird darauf aufmerksam gemacht ...“ fing es immer an. „Wonach zu richten“ oder „Es wird mit Bestimmtheit erwartet ...“ schloß es. Diesmal auch. Und dazwischen gab’s Donner und Blitz gegen die „auf Untergrabung der Königlichen Autorität abzielenden Bestrebungen“; gegen die[S. 79] „schlechten, staatsfeindlichen Zeitungen“, die den „Geist der Auflehnung zu verbreiten suchen“; gab’s eine Lobrede auf das Kreisblatt. Das Kreisblatt! Das Käseblatt! Da stand nun Christian Lehmpuhl und wußte sich nicht Rat. Was sollte man ihm raten? Gegen den Herrn Landrat?! Der Wind und Wetter machen oder die Sonne scheinen lassen konnte über Gerechte und Ungerechte. Zumal, wo man doch genau wußte, daß die Bauern weder eine vernünftige Zeitung noch das Kreisblatt lasen. Was lasen die denn überhaupt! Na ja ... schließlich war’s denn wieder auf aller Weisheit Schluß herausgekommen: „Da wer’ ik woll die Krakulle rumschicken müssen“, hatte der Schulze beschlossen. Schön ... schön: also morgen ging das berühmte gebogene Holzstück von Haus zu Haus, und daran flatterte das Schreiben des Landrats wie ein Fähnchen. Aber der Bauer wandte es ja doch nur rechts und drehte es links; es las keiner, oder wenn es einer las, verstand er’s nicht. Und das war noch das Beste ...
Ja ... und dann war der Herr Doktor Hemming aus dem Schloß herübergekommen. Der Mann wußte ja eminent viel, alles was wahr ist; ein tüchtiger Pädagoge sollte er auch sein, und die Junker lernten mächtig, hieß es. Aber ein unausstehlicher Mensch blieb er mit seinem hochmütig-herablassenden: „Herr Kollege“. Immer klang das wie schneidende Ironie. Und immer hatte er gleich die Politik beim Wickel. Immer in seiner herausfordernden Art. „Es rührt sich endlich, Herr Kollege. Es rührt sich. Haben Sie das neueste Flugblatt des Deutschen Nationalvereins gelesen? Großzügig — famos! Und unser Landtag! Da ist doch noch mal Wille und Kraft. Waldeck und Twesten und die anderen. Alle — ganze Männer! Nicht wahr? Wenn die Regierung ihre Sache auf die Spitze treiben will, sie soll’s nur wagen. Dieser Ansturm des Militarismus wird am festen Willen des Volkes zerschellen, ist eigentlich schon zerschellt, und auch diese neue Größe, dieser Herr von Bismarck, wird daran nichts ändern. Sagen Sie selber, Herr Kollege, soll unsere[S. 80] Nation verbluten unter der Last der Armee? Dieses unproduktiven Heeres, das kein Volksheer mehr ist, sondern nur noch ein dynastisches Werkzeug? Wer könnte das leugnen? Glauben Sie mir nur, Herr Kollege, die Überzeugung wächst in immer weitere Kreise hinein, daß es auf diesem Wege nicht mehr weitergehen kann. Selbst in die Kreise des Junkertums. Fragen Sie mal bei Herrn Fritz von Hackentin an, wie der über die gegenwärtige Situation denkt.“
Eine Viertelstunde war das so weitergegangen. Eigentlich ganz interessant. Man sprach ja gern mal mit einem gebildeten Mann über politische Dinge, wo man so ganz vereinsamt lebte. Wenn nur nicht dieser entsetzliche Hochmut in dem Doktor Hemming gesessen hätte. Sprach man denn überhaupt mit ihm? Er sprach ja allein.
Ja, und dann kam’s zum Schluß: „Übrigens läßt der Rittmeister Ihnen sagen, Herr Kollege, daß er mit Ihnen zu reden hätte. Sie möchten doch gegen Mittag mal im Schloß vorsprechen.“
Na ja ... und das war vielleicht das Ärgerlichste. Das dickste Ende kam nach. Denn der alte Rittmeister war zwar ein lieber, prächtiger Mann, aber gut Kirschenessen war unter Umständen mit ihm nicht. Im Grunde war und blieb er doch immer der Junker, der keine Überzeugung neben der eigenen dulden konnte. Der König von Rohlbeck! Du mein Gottchen! Ein armseliges Königreich. Nur daß man doch darin leben mußte, daß man es unmöglich mit dem alten Herrn verderben durfte. Mit ihm nicht, mit der Herrschaft überhaupt nicht. Es gab da doch zu viel Fäden, die man nicht zerreißen konnte.
Was der Herr Rittmeister nur wollte? Natürlich betraf’s auch wieder die Politik. Man hörte das ja ordentlich im voraus: „Das heißt, Kantor, ich muß sagen ...“
Ja, Kantor Flehr hatte heute seine dreifach gesiebten Sorgen. Das graue Haupt sank immer tiefer auf die schmale Brust herab, je näher er den beiden schwarzen[S. 81] Stämmen mit den Kanonenkugeln darauf kam, die den Eingang zum Schloßgarten flankierten.
Aber dicht vor dem dräuenden Tor hatte er noch eine Begegnung. Von der anderen Seite kam der Großbauer Metschke, Adolf Metschke, und hielt ihn fest. War sonst eigentlich ein ordentlicher Mann, der Metschke, hatte außerdem eine prächtige Stimme, die manchmal den ganzen Kirchenchor zusammenhielt. Aber wen er einmal festhielt, der kam nicht so leicht los.
„Gut, dat ik Ihnen treffe, Herr Kantohr. Ik wollt zundersch mit Ihnen reden. Is das denn die Wahrheit, daß se de Soldaten abschaffn wolln?“
„Aber Metschke —“
„Jestern ist Sie da nämlich ’n Schlosser aus Ziebinge im Krug gewesen. Der hat’s vertellt. Vor janz jewiß. Nu muß Se mein Willem zur Stellung. Sähen Se, Herr Kantohr, da mächt ik doch jerne wissen, ob’s wirklich seine Richtigkeit haben tut?“
Flehr schüttelte den Kopf. „Metschke, woher soll ich das wissen. Man spricht ja so allerlei. Aber abschaffen ... ganz abschaffen ... daran ist nicht zu denken. Mein ich.“
„Se müßten’s doch eberscht wissen, Herr Kantohr. ’s soll doch schon in die Blätter stehn.“
„Da wird viel geschrieben, lieber Metschke.“
Adolf Metschke ließ endlich den Westenknopf frei, aber er stellte sich dafür in Positur gerade vor den Eingang. Kraute mit dem linken Zeigefinger hinter dem Ohr in seinem flachsblonden Schopf, spuckte aus und meinte: „Dat kann woll stimmen. ’s wär ja och janz scheen, aber ik kann Se nich dran glauben, Herr Kantohr. Ick bin Se selwst Suldat ’wesen. Franzer, Se wissen schon. Na, un so was muß woll sin. Min Willem soll och zu de Franzer, wenn’s so bliewt. Un ’s wird woll so bliewn. Nämlich wie sollt das der Keenig denn machen, wenn die Franzosen kommen und er keine Suldaten nich hat?“
Im allgemeinen beschränkte der brave Flehr sein Bildungsbemühen pflichtgemäß auf die Jugend; bei den[S. 82] Alten war, das hatte die Erfahrung ihn gelehrt, doch Hopfen und Malz verloren. Aber manchmal wandelte ihn doch das Bedürfnis an, auch ihnen gegenüber aufklärend zu wirken.
„Ich sagte Ihnen ja schon, Metschke, an die Abschaffung der Armee denkt niemand im Ernst. Aber es wird wohl von Freunden des Volks erwogen, ob man nicht mit weniger Soldaten auskommen kann oder ob man die Soldaten nicht nur ganz kurze Zeit bei der Fahne behalten braucht.“
Metschke kraute sich weiter hinter dem Ohr. Er sann nach. „’s wäre woll janz scheen so“, meinte er. „Wenn der Willem nich so lang aus de Wirtschaft müßte.“ Pause. „Aber, Herr Kantohr, des jeeht och nich mit sohne kurze Zeit. Des ist man bloß Jerede. Ik bin doch selwst beis Kommiß jewesen, Franzer, Herr Kantohr. Un so aus ’m Pauern, was noch jrün und naß hinter de Ohren is, ’n orndlichen Suldaten machen, das is nich so haste nicht, kannste nich. Da is der langsame Schritt und da is ’s Jewehr un ’s Schieße un die Instruxon un so ...“
Es schien, der brave Metschke hatte starke Lust, seine militärischen Erinnerungen noch lang auszuspinnen. Doch der Kantor wurde ungeduldig. Er zog die große silberne Zwiebel aus der Tasche. „Lieber Metschke, ich muß zum Herrn Rittmeister ...“
„So ... zum ollen gnä’gen Herrn. Den sullt’ man mal fragen. Der weiß Bescheid. De hat die Franzosen aus’m Lande mit rausgeschmissen, un ’s Eiserne Kreuz hätt’ er ...“ Damit gab er endlich den Eingang frei. „Scheen Dank ock, Herr Kantohr ... ick meen, et jeeht nich ...“
Langsam ging Flehr weiter, den geraden breiten Weg entlang, der zur Verandatreppe führte. Zuerst mit einem Lächeln im runzligen Gesicht und mit einem Kopfschütteln über diesen Bauern, über die Bauern überhaupt: die wurden innerlich doch nicht frei, die klebten, klebten wie an ihrer Scholle so an allem, was alt hergebracht war.[S. 83] Und wer weiß: wenn der Schlosser aus Ziebingen etwa wieder im Krug seine neuen Weisheiten zum besten gab, ob ihm dann nicht Adolf Metschke als alter Franzer das Fell tüchtig vollgerbte. Womit vielleicht nicht mal ein Unglück geschah. Denn man mochte noch so liberal denken, ... hm ... daß solche Schwätzer zu wühlen versuchten ... hm ... das konnte man doch nicht billigen.
Allmählich erstarb das Lächeln zwischen den Runzeln und Falten, aus denen das zweimal wöchentlich angesetzte Rasiermesser die grauen Stoppeln nie ordentlich herausbekam.
Was eigentlich der alte Rittmeister nur wollte?
Es war so gar nicht seine Art, jemand zu sich zu bescheiden. Hochmütig war er wahrhaftig nicht. Er ging in die ärmste Hütte, und im Kantorhause hatte er oft genug, fast freundnachbarlich, vorgesprochen.
Was er nur wollte?
Und da saß ja auch schon die alte Gnädige an ihrem Fenster, mit ihrem verschleierten Blick, und nickte auf seinen Gruß ganz eigen — schon von weitem. Die alte Gnädige! Ja ... als man nach Rohlbeck gekommen war, da war sie noch jung gewesen und schön und lustig. War vierelang gefahren, mit dem Diener auf dem Bock. Die Zeiten hatten sich geändert; besser waren sie nicht geworden, auch nicht für die Herrschaft. Eigentlich zum Gotterbarmen. Wirklich verschwendet hatten die Hackentins nie, aber das schöne Vermögen zerrann ihnen doch unter den Händen. Wirtschaften konnten sie nicht. Freilich — ein Armer klopfte auch heut noch nicht vergebens im Schloß an. Und wenn man’s recht überlegte: auch im Kantorhause hatten sie oft genug geholfen ...
Was nur der alte Rittmeister wollte?
„Herein!“
Das kam ganz in Rittmeisterton aus der großen Stube.
„Na, da wären wir ja also, Herr Kantor ...“
Dem Rittmeister stak immer noch das „Er“ zwischen den Lippen. Natürlich, er wußte, das ging nicht mehr in der[S. 84] neuen Zeit, Anno 1862. Selbst zum kleinsten Kossäten mußte man „Sie“ sagen. Aber das „Sie“ wollte bisweilen nicht recht über die Lippen, und dann kamen allerlei wunderliche Umschreibungen heraus.
„Also, da wären wir ja, Herr Kantor“, wiederholte er. „Guten Tag auch. Das heißt, ob es ein guter Tag ist heut, wer will das wissen?“
Er stand in der Mitte der Stube. Am Fenster saß die alte Gnädige, am Ofen saß Wilhelm Hackentin, und beide nickten dem Kantor zu. Der dienerte, wobei seine endlos lange Gestalt fast zu einem rechten Winkel zusammenknickte, und dann rieb er sich, verlegen wartend, die knochigen Hände.
„Wir wollen uns lieber setzen, Herr Kantor,“ begann der Rittmeister wieder, blieb aber stehen, um nach einem Weilchen fortzufahren: „Aber warum setzt man sich denn nicht? Da ... bitte ...“
Herr Flehr setzte sich wirklich; aber nur auf die Kante des nächsten Stuhls, und er dachte noch immer: ‚was der Rittmeister nur will?‘
„Also ... nämlich ... das heißt, wir müssen ein ernstes Wort miteinander reden, Herr Kantor.“ Damit begann der alte Herr seine gewohnte Wanderung auf der Diagonale des Zimmers. Es wurde ihm leichter, während des Gehens zu sprechen. Auch jetzt. Freilich in wohlkonstruierten Sätzen kam die Rede nicht heraus:
„Also ... nämlich ... das heißt, gestern in Rackow. Da war ein Sachverständiger, das heißt, man sagt es. Ein kaiserlich russischer Hofopernsänger. Das heißt, manchmal denk ich, er ist ein Luftikus. Da hat das gnädige Fräulein gesungen, Helene. Und der Monsieur Schwarz oder Weiß — Namen kann ich nie behalten —, der hat ein großes Wesen davon gemacht. Mag ja auch sein ... das heißt, ich habe selber gefunden, Lene sang sehr schön. Aber was versteh ich davon?! Also der Mann hat allerlei Fladusen vorgebracht: eine unvergleichlich schöne Stimme, eine Wunderstimme und so, wie sie nur alle hundert Jahre vorkommt.[S. 85] Und daß es ’ne Sünde und ’ne Schande wär, wenn solch eine Stimme nicht an die Öffentlichkeit käme. Öffentlichkeit — schrecklich! Ja ... und sie haben alle auf mich eingeredet, das heißt, der Sänger voran und dann die Rackower und da der Wilhelm auch, Helene müßte nach Berlin. Das heißt ... nämlich ... da liegt der Haken! Ihre Kunst in Ehren, mein lieber Kantor, aber mit der Schule, oder wie man’s nennt, da hapert es noch. So das Tippelchen auf ’m i. Also nach Berlin, zu irgendeiner ganz großen Lehrerin. In Berlin gibt’s natürlich so was. Was gibt’s denn am Ende in Berlin nicht? Nämlich aber: das kostet ein riesiges Geld. Die Berliner nehmen’s von den Lebendigen und den Toten. Und da ... das heißt, da möcht ich erst mal den Kantor Flehr fragen, auf Ehre und Gewissen, ob er nach seinen Kenntnissen meint ... das heißt, ob er wirklich und wahrhaftig glaubt, daß es mit der Stimme von dem gnädigen Fräulein so etwas ganz Besonderes auf sich hat?“
Der alte Rittmeister hatte sich heiß geredet. Ganz fließend hatte er schließlich gesprochen, während er dreimal die Diagonale des Zimmers durchmaß. Jetzt erst sah er auf und zu dem Kantor hinüber. Und da stand er still und staunte.
Es war wohl auch ein wunderliches Bild.
Ruckweise, langsam hatte sich die lange Gestalt gestreckt und gehoben. Das Kinn zuerst, der Nacken dann; der immer gebeugte Rücken war gerade geworden, und nun stand der ganze Mann aufrecht da, ganz aufrecht, hatte die hageren Hände vor der Brust gefaltet, und aus seinen grauen Augen leuchtete es.
Nichts sagte er als: „Lieber Gott, ich danke dir, daß ich das noch erlebe!“ Sagte es so rührend, daß die alte Gnädige am Fenster leise aufschluchzen mußte.
Auch den Rittmeister mußte es wohl packen. Aber er knurrte nur ein paar ganz unverständliche Töne, und um seiner Bewegung Herr zu werden, fuhr er den Kantor an: „Das heißt, wir spielen doch hier nicht Komödie.[S. 86] Man kann doch nie auf eine klare Frage eine deutliche Antwort bekommen — hol’ mich der Deubel!“
Sonst hätte solch ein Ton Herrn Flehr gleich aus der Kontenance gebracht. Diesmal nicht. Mit erhobener Stirn gab er zurück: „Ja, Herr Rittmeister, die sollen Sie haben. Ich bin nur ein einfacher Dorfschulmeister, aber von Gesang versteh ich einiges mehr als die meisten meiner Kollegen. Das muß wohl angeboren sein. Darum kann ich auch, wie der Herr Rittmeister es verlangen, auf Ehre und Gewissen erklären: solch eine Stimme, wie die von dem gnädigen Fräulein, mag’s wirklich nur alle hundert Jahre einmal geben. Das hab’ ich dem Herrn Pastor schon vor Jahr und Tag gesagt und hab ihn gebeten —“
„Ich weiß, ich weiß“, wehrte der alte Rittmeister ab, und dann begann er seine Wanderung von neuem, schweigend, mit immer schnelleren Schritten.
„— und es ist wohl Pflicht, solch eine Gottesgabe zu schulen —“ wagte der Kantor noch einzuwerfen.
„Pflicht! Pflicht!“ kam’s von dem Teppich herüber. „Ich weiß allein, was Pflicht ist. Das braucht man mir nicht zu sagen. Das heißt, ob’s für die Lene ein Glück ist, darauf kommt es an. Dem Mädel den Kopf verkeilen, ihr Rosinen in den Sinn setzen ... ja, und wenn Gott den Schaden besieht, wer hat etwas davon? Öffentlich auftreten — da müßt ich doch vorher in der Grube liegen! Soll eine Hackentin vielleicht als Komödiantin auf der Bühne stehen?!“
Die müde Stimme der alten Gnädigen klang dazwischen: „Solch wirklich ganz große Sängerin ist doch eine Ausnahme, Hackentin. Denk’ an die Sonntag, die eine Gräfin Rossi wurde ...“
„Komödiantin bleibt Komödiantin.“
„Aber Papa, es hat ja noch niemand ernstlich vom Theater gesprochen“, meinte Wilhelm. „Neben der Opernsängerin steht doch die Konzertsängerin.“
„Die muß auch vor die Öffentlichkeit. Das heißt, die singt auch jedem Laffen für ’n preußischen Taler was vor!“
[S. 87]
Da sprach Kantor Flehr noch einmal. Er war schon wieder in sich zusammengesunken, aber nun richtete er sich auf, rang ein wenig mit sich, straffte wie den äußeren auch den inneren Menschen:
„Mit Verlaub, Herr Rittmeister“, begann er, und aus seiner sonst so gedrückten Stimme klang ein fester, warmer Ton. „Kommt es denn so auf das Äußere an, darauf, ob das gnädige Fräulein später einmal, so oder so, fremde Menschen entzücken, begeistern soll? Das ist gewiß auch etwas Herrliches, aber die Hauptsache, meine ich, ist es doch nicht. Die Hauptsache, mein’ ich, ist, daß das gnädige Fräulein für sich lernt. Wenn der liebe Gott einem Menschen solch eine Wundergabe verleiht, begnadet er ihn dadurch vor Millionen, aber er legt ihm auch Pflichten dafür auf. Das wollt ich vorhin schon sagen: die Pflicht, in der Kunst das Höchste anzustreben. Und weil das der Einzelne nicht immer allein kann, müssen alle, die ihn liebhaben, dabei mithelfen. Das hilft nun mal nichts, Herr Rittmeister — mit Verlaub zu sagen. Denn wenn es nicht geschieht, verkümmert die Gottesgabe ... und dann verkümmert damit der ganze Mensch! Er hätte so groß werden können, aber er wird arm und klein. Unglücklich wird er, Herr Rittmeister ... und wenn ihm sonst das Leben mit allen Gütern dieser Welt überschüttet ... er wird arm und klein und unglücklich ...“
Der Rittmeister war stehengeblieben. Er sah mit hellem Staunen zu seinem Kantor hinüber: daß der so sprechen konnte. Die alte Gnädige hatte sich erhoben, kam auf ihren Mann zu, bat leise: „Papachen ...“
Das Ticken der Kuckucksuhr hörte man, so still war es.
Bis dann Hackentin plötzlich sagte: „Die Lene hat einen guten Anwalt an unserem Flehr ... hol’ mich dieser und jener.“ Er zauste einmal rechts und einmal links an seinem weißen Schnurrbart. „Das heißt, Herr Kantor, ich bin noch nicht beim Ja und Amen. Aber unglücklich ... unglücklich soll uns die Lene nicht werden ...“
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Und so kam Helene Hackentin nach Berlin. Zuerst nur, damit Frau Harriers-Wippern, die Herr Schwarz als die erste der Berliner Gesangslehrerinnen namhaft gemacht hatte, ihre Stimme prüfe. Zu mehr wollte sich der alte Rittmeister nicht verstehen.
Wilhelm mußte sowieso wieder nach der Hauptstadt; er sollte die Schwester unter seine Obhut nehmen.
Es war die erste größere Reise für Helene; über Frankfurt a. O. war sie noch nie hinausgekommen. Und diese Reise, samt allem, was mit ihr zusammenhing, war für sie ein so großes Ereignis, daß dadurch manch inneres Erleben der letzten Tage in den Hintergrund geschoben wurde. Wohl zitterte es in ihr nach: im Wachen und im Träumen. Sie schrak bisweilen mitten in ihren kleinen Reisevorbereitungen zusammen, hörte plötzlich wieder die weiche, klingende Stimme, hörte die leise ihr zugeflüsterten Worte: „Ich hab heute ja nur für Sie gesungen!“ Aber das erlosch immer wieder. Sie lächelte wohl auch darüber: es war ja nicht mehr als eine artige Courmacherei, wie sie gewiß in der großen Welt da draußen üblich war und nicht viel bedeutete. Für sie sicher nicht viel bedeutete. Denn sie hatte ja nun ihre Kunst. Die große, himmlische Kunst. Die mußte ihr alles sein. Nur die herzliche Dankbarkeit gegen Schwarz blieb lebendig: er hatte den Bann gebrochen, er hatte den Weg geöffnet und gebahnt; ohne ihn wäre sie wohl ewig in der Enge geblieben. Und als er ihr in Rackow zum Abschied die Hand gereicht, sie noch einmal mit glänzenden Augen angesehen, da hatte sie standgehalten, den Druck seiner Hand ehrlich erwidert, hatte für sein „Auf Wiedersehen!“ ein herzliches „Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen so sehr!“ gehabt.
Ihr junges Herz strömte überhaupt über vor Dankbarkeit. Wie gut und lieb nun alle zu ihr waren. Wieviel Opfer für sie gebracht wurden!
Die Tränen flossen beim Abschied. Aber die Augen blickten schon wieder hell über die Herbstlandschaft, ehe die Post noch die Stellberger Fichten erreicht hatte.
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Sie saßen allein in der Beichaise, Wilhelm und sie. Dem Bruder schien es ähnlich zu gehen wie ihr. Auch er, der immer ein wenig leicht am Wasser baute, hatte beim Abschied Frau und Kinder mit feuchten Augen umarmt; als die Post über die Grenze von Rohlbeck rollte, beugte er sich weit hinaus, sah noch einmal zurück: „Mein liebes altes Rohlbeck!“ Dann saß er eine ganze Weile betrübt und bekümmert in seiner Ecke. Aber kurz vor Stellberg hatte er sich schon wieder aufgerichtet: „Nun, Kleinchen! So in Gedanken? Wart’ nur, was du für Augen machen wirst!“ Er hatte fröhlich gelacht dabei und fing an, von Berlin zu erzählen.
Merkwürdig schnell vergingen dabei die fünf Stunden Postfahrt. Es gab ja schon jetzt genug zu hören und zu sehen: bald kutschierte auf der Chaussee ein Bekannter vorüber und mußte mit Hallo begrüßt werden; bald hielt man zum Pferdewechsel auf einer Poststation, stieg aus, wanderte ein paar Schritte auf und ab, sie immer zärtlich bei dem Bruder eingehakt, trank in Stellberg Kaffee, aß in Reppen Mittagbrot. Spaßhaft, wie Bruder Wilhelm überall bekannt war. Auf jeder Station kamen Leute zu ihm: „Nun, Herr Baron, wieder einmal nach Berlin?“ — „Wie gehen die Geschäfte?“ — „Geht’s voran mit unserer Eisenbahn?“ Und er schüttelte die Hände, gab Auskunft, lachte, lud den zu einem Schnäpschen und jenen zu einem Schoppen Bordeaux ein.
Dann war mit einem Male die Oderbrücke da. Mächtig rauschte der Strom, und drüben breitete sich im Herbstsonnenlicht das Städtebild, Mauer an Mauer, Dach an Dach, turmüberragt.
Frankfurt kannte Helene. Ein paar Male schon war sie hier gewesen, mit Vater oder Martha, um Einkäufe zu besorgen. Ihr war’s die Großstadt. Das Auerbachsche Kleiderstoffgeschäft erschien ihr mit seinen mächtigen Schaufenstern als ein Riesenhaus, und die Rasenacksche Konditorei hatte schon in ihren Kindheitsträumen neben Tante Hufnagel eine Rolle gespielt.
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„Kleinchen,“ meinte der Bruder, „wir haben über zwei Stunden Zeit bis zur Abfahrt des Zuges, und ich habe Geschäfte zu erledigen. Du kennst dich ja hier aus in dem Nest.“ Nest sagte er. „Kannst mich in ’ner Stunde in der Weinstube von Lienau abholen.“
Ihr war’s ganz recht so. Auch körperlich eine Wohltat, sich die Füße zu vertreten nach der langen Fahrt. Und so frank und frei durch die Straße zu bummeln, hier stehenzubleiben und dort, in ein Schaufenster hineinzugucken, dies zu bewundern und das anzustaunen. Wirklich: sie kam sogar bei Rasenack nicht vorbei. Eine Tasse Schokolade mit Schlagsahne wenigstens konnte sie sich leisten. Sie war ja so reich: von allen Seiten hatte man ihr noch etwas in das kleine Portemonnaie hineingesteckt, immer der eine, ohne daß der andere etwas davon wissen sollte; und am letzten Tage war gar Tante Marie in Rohlbeck gewesen, hatte sie zur Seite genommen und ihr etwas Raschelndes in die Hand gedrückt. „Da, Mignonne!“ Ein Zehntalerschein war’s, als sie ihn nachher besah. Zehn Taler — ein Vermögen!
Knapp zur rechten Zeit kam man auf den Bahnhof. Der Breslauer Zug stand schon bereit, und Wilhelm Hackentin konnte gerade noch seine Schwester und sich in ein ziemlich überfülltes Coupé bringen. Helene war atemlos vom schnellen Gehen, aber auch von der Aufregung, zum ersten Male mit der Eisenbahn zu fahren. Sie hatte ein wenig die klare Besinnung verloren, der Bruder mußte sie dirigieren und schieben. Es läutete schon, als sie endlich saß — und da sah sie noch, wie Merivaux, der Gardeschütze, auf dem Perron entlanghastete. Im ersten Augenblicksempfinden wollte sie ihm zurufen: „Hier ist noch ein Platz!“ Wollte winken — doch dann ließ sie die Hand gleich sinken und lehnte sich schweratmend zurück. Sie dachte: ‚Der ist böse auf dich. Schade. Nicht ein gutes Wort hatte er in Rackow mehr für dich. Weshalb nur? Du hast ihm doch nichts getan.‘
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Da pfiff die Lokomotive, zog an, keuchend. Eine dichte Rauch- und Dampfwolke fauchte an dem Fenster vorüber, ein starker Stoß kam, ein rasselnder Ruck und noch einer. Helene griff erschrocken nach der Hand des Bruders: war ein Unglück geschehen? Doch der lächelte, hatte schon sein Zigarrenetui aus der Tasche gezogen. Und dann begann ein Gleiten, gleichmäßig, wie in immer neu atemholendem Rhythmus; draußen flogen die letzten Häuser vorüber, und die ersten Bäume tauchten auf, verschwanden wieder; da war noch ein Fabrikschornstein in der Ferne, kam näher, näher, jetzt stand er fast vor dem Fenster — nun lag er schon weit zurück; eine Schar Krähen flatterte auf und zerstob; auf der Straße drüben trabte ein Pferd wie im Versuch des Wettlaufs, wurde im Nu überholt, wurde kleiner und immer kleiner, war nur noch ein schwarzer Punkt und nun nicht mehr zu sehen.
Weit vornübergebeugt saß Helene und spähte auf die ewig wechselnden Bilder, auf ihr Kommen und Gehen, ihr Auf- und Untertauchen, lauschte dem Klingen der Räder auf den Schienenstößen, fuhr zusammen, wenn der Pfiff der Lokomotive auftönte, wie ein greller Hilfeschrei, freute sich, sobald wieder eins der kleinen Bahnwärterhäuschen kam mit dem stramm stehenden Mann davor, der sein Fähnchen wie zum Salut in der Hand hielt, schrak auf, als gleich rasenden Gespensterwagen, donnernd und polternd, ein Zug auf dem Nebengeleise vorüberbrauste.
Ganz langsam nur beruhigten sich ihre Nerven, und es kam ein wundervolles Empfinden über sie wie in einem Traum: so also ging es aus der Enge in die Weite, in die große herrliche Welt da draußen. Eine Zaubergewalt trug sie hinaus, hinein in das Leben. Dort vorn fauchte, schnob der feurige Riese in ihrem Dienst, spannte seine Kräfte, daß sie gleich Hunderten von starken Rossen dahin jagten, nimmermüde, — der gewaltige Feuerriese, der sie hinaustrug, hinauf, weiter und weiter, höher und immer höher, hinaus in die Welt, hinauf zum Ruhm ...
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Ein paar Male sah sie zu Bruder Wilhelm hinüber. Der saß in seiner Ecke, die Zigarre zwischen den Lippen, hatte sein Notizbuch vorgenommen; er mochte wohl wieder seine Geschäfte im Kopf haben. Da durfte sie nicht stören. Flüchtig glitt ihr Blick über die Mitreisenden. Wie gleichgültig die alle gegen das große Wunder waren! Der dicke Mann dort schlief; eine Dame drüben kramte gerade aus ihrer Reisetasche ein paar Butterbrote heraus, eine andere, jüngere, las in einem abgegriffenen Bande, schien schon bei den letzten Seiten zu sein, hatte einen zweiten Band bereits auf dem Schoß. Mit ihren scharfen Augen konnte Helene den Titel lesen. „Gutzkow, Der Zauberer von Rom“ stand darauf. Und dann saß neben ihr ein junger Mann, der auf einer großen Karte, die er auf den Knien ausgebreitet hielt, herumstudierte; deutlich konnte sie erkennen, daß sein Zeigefinger schwarzen, starken Linien folgte: Berlin-Köln-Paris. Also nach Paris reiste er. Wundersam, wie diese Eisenbahn die Länder aneinanderzurücken schien. Und wie schnell das ging. Helene fiel ein, daß Mutter gelegentlich erzählt hatte, wie sie mit ihren Eltern im eigenen Wagen nach Karlsbad gefahren sei; damals, als Goethe dort zur Kur war. Vier Tage hatte die Reise gewährt. Jetzt brauchte man vielleicht einen Tag ...
Plötzlich wurde ein unwiderstehliches Mitteilungsgefühl in ihr lebendig. Sie legte ihre Hand auf des Bruders Arm. „Wir fliegen ja —“ sagte sie fast beklommen.
Wilhelm ließ sein Notizbuch sinken und lachte: „Fliegen, Lene? Mit dem elenden Bummelzug? Ach nein. Soweit sind wir in unserem guten Preußen noch nicht. Aber in England —“ und er fing an, ihr vom englischen Eisenbahnwesen zu erzählen, von dem großen Jagdzug, der seit Jahresfrist dort Süd und Nord, London und Edinburg verband. Er erzählte von den Schnellzügen zwischen Paris und Marseille, sprach von Nordamerika. Überall schien er Bescheid zu wissen, und seine blauen Augen leuchteten dabei. „Ja, mein Kleinchen, wir leben in einer großen Zeit. Wir stehen aber erst im Anfang der Entwicklung.[S. 93] Wir sind vielleicht nur die Pioniere, die das Feld vorbereiten, die Saat aussäen, die unsere Kinder und Kindeskinder ernten sollen ...“
Er sprach lange und sprach gut. Alles verstand sie freilich nicht. Aber ihr Respekt vor dem Bruder wuchs. Nur daß sie dabei über ein leises Verwundern nicht hinauskam: zu Hause, in Rohlbeck, hatte Wilhelm oft fast etwas Gedrücktes. Es war, als fiele das mehr und mehr ab von ihm, je weiter er sich von der Heimat entfernte. Als atmete er freier, als wüchsen ihm die Gedanken. Aber schien sich nicht auch vor ihr die Welt zu weiten?
Die Dämmerung sank herab. Der Abend kam.
Als der Zug sich Berlin näherte, war es dunkel. Aus der Dunkelheit leuchteten, wie in einem neuen Wunder, blinkende Lichter auf. Vereinzelt erst, mehr und mehr dann; ganze Reihen schließlich. Als hätte die große Stadt sich Helene Hackentin zu Ehren in ein Lichtermeer getaucht. Überall flammte und glühte es. Aus den Fenstern, die vorüberhuschten, von den Straßenfronten herauf, und bunt und farbig, weiß, rot, grün aus den Weichenlaternen der rechts und links endlos wachsenden Schienengeleise. Bis der Zug in den Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof einrollte.
Beängstigend dies Leben und Treiben, und doch wieder so wundervoll, so eigen berauschend. Die Scharen von Reisenden, die der Zug entlud, die hastend und drängend dem Ausgang zustrebten; die Gepäckträger, die sich durch die Menge schoben, die Karren mit Koffern und Ballen; ein Rufen, Schreien, Schwatzen, Fragen, Auskunftgeben, Willkommenheißen, Abschiednehmen ohne Ende. Dann auf einen Augenblick noch einen Gruß von Merivaux, im Vorüberschieben nur. Ein flüchtiges Wort zwischen Wilhelm und ihm: „Sind Sie mit demselben Zuge gekommen?“ — „Schade ... wir hätten zusammen fahren können.“ Schade — auch Helene dachte wieder flüchtig: ‚Schade —‘
„Schnell, Kleinchen — sonst bekommen wir keine Droschke!“
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Und nun die Fahrt durch Berlin. Nahm denn das gar kein Ende? „Sind wir noch nicht bald da, Wilhelm?“
„Geduld, Lene. In Berlin muß man Geduld lernen.“
Immer neue Straßen, breite und enge, immer neue Häusermassen. Immer mächtiger und höher, immer heller beleuchtet, immer reicher die Schaufenster, immer stärker der Verkehr.
„Das ist der Dönhofsplatz, Lene. Sieh mal, das ist das Abgeordnetenhaus — da zerbrechen sich die angeblich Weisesten die Köpfe um das Wohl und Wehe des Landes. So — und nun kommt unsere gute ‚Stadt London‘.“
Der Oberkellner, ein pikfeiner Herr im Frack und weißer Weste, stand am Eingang und dienerte: „Die Zimmer sind bereit, Herr Baron. Nr. 34 für das gnädigste Fräulein.“ Die teppichbelegte Treppe ging’s hinauf, eins, zwei Stockwerke hoch, daß einem der Atem fast versagte. „Hier, Lene — vorläufig nimm vorlieb“, sagte Bruder Wilhelm. „Dein Koffer kommt sofort. Mach’ dich recht schnell ein bissel zurecht, wir essen nachher unten.“
Groß war das Zimmer Nr. 34 nicht, und schön war es auch nicht mit seiner schäbigen Hoteleleganz, dem schmalen Bett, dem kleinen Waschtisch und der Plüschgarnitur, an der die Quasten abgerissen waren. Aber Helene sah das alles nicht. Sie hatte nur einen Wunsch; ein paar Minuten ganz still und ruhig zu sitzen, dort auf dem Bettrand sich ein wenig sammeln zu dürfen, recht zum Bewußtsein zu kommen: du bist nun also wirklich in Berlin. Es war ja alles wie ein Traum.
Lange freilich ließ ihr Wilhelm nicht Zeit. Nach knapp einer Viertelstunde schon pochte er: „Bist du fertig?“ Gerade daß sie noch den Reisestaub abschütteln konnte, das Haar ein wenig glattstreichen. Als sie heraustrat auf den schmalen Korridor, der ihr endlos erschien, wie eine ganze Straße, musterte der Bruder sie. „Na, es mag angehen für heut abend“, sagte er ein wenig von oben herab, aber mit seinem sonnigsten Lächeln.
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Dann saßen sie unten im Speisesaal, im strahlenden Licht der großen Gaskronen. Es war ja doch wohl Gaslicht, von dem sie schon so viel gehört hatte? Dies seltsam helle, eigen flackernde Licht, das von der Decke herableuchtete und aus vielarmigen Leuchtern an den weißen Wänden.
Wilhelm bestellte eine Flasche Champagner und suchte ihr in der riesengroßen Speisekarte ein paar Gerichte aus. Aber sie konnte kaum essen. Es war zu überwältigend — das alles. Der große Saal, in Licht getaucht, die vielen Menschen an den Tischen, das Schwatzen und Lachen der Gäste, die hin und her gleitenden Kellner.
„Prosit, Kleinchen. Was machst du denn für Augen? Fast, als ob du ins Paradies schautest. Ach Kind, gewöhn’ dir das ab. Es ist nicht gut, wenn man sich verwundert zeigt, und mit dem Wasser wird schließlich auch in Berlin gekocht. Da ... trink nur ...“
Und sie trank. Wie Feuer strömte es durch die Adern, stark und süß.
„Ach ... Wilhelm ... lieber Wilhelm ...“
„Ja doch, du kleines Provinzschäfchen. Es ist schon anders wie in Rohlbeck. Was? Aber ob’s immer besser ist? Na, darüber wollen wir uns heut den Kopf nicht zerbrechen. Freuen wir uns der Stunde.“ Er nahm von der Fruchtschale ein paar Rosinen, warf sie in ihren Spitzkelch. „Siehst du, wie das perlt und perlt, wie der Schaum gleich wieder aufsteigt. So ist Berlin. Hier perlt das Leben immer aufs neue hoch, schäumt und schäumt. Trink aus, Lene, trink aus, ehe der Schaum verfliegt.“
Es war wohl spät, als sie die Treppen wieder hinaufstiegen, eins, zwei hohe, steile Treppen. „Wir wohnen dem Himmel nahe, Lene“, scherzte der Bruder. „Schlaf wohl und träume etwas Schönes. Man sagt ja: was man in der ersten Nacht in einem fremden Hause träumt, geht unweigerlich in Erfüllung.“
Die Augen wollten ihr zufallen vor Ermüdung. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Lange, lange nicht. Von[S. 96] der Straße herauf drang es wie ein unaufhörliches Tosen. Wagenrollen auf hartem Pflaster, Hunderte von Menschenstimmen, ebbend jetzt, wieder anschwellend dann.
Aus all dem Hasten dort unten stieg ihr ein Bild der großen Stadt empor, unklar und verworren, wie ein Kind es sich in Gedanken formt und aufbaut. Ein Labyrinth war’s schließlich mit tausend Wegen, die von himmelhohen Wänden eng umschlossen wurden, und sie lief und lief in ihnen umher, ohne ihr Ziel zu finden, immer schneller und immer hastender, stieß mit den Händen überall auf die kalten, öden, eisenharten Steinmauern, wußte nicht ein noch aus ...
Da kam einer, hatte eine hohe Pelzmütze auf, an der ein glitzernder Edelstein funkelte, nahm sie an der Hand, wollte sie führen. „Wir finden schon den Ausweg, Helene Hackentin“, sagte er mit seiner einschmeichelnden Stimme. „Ganz gewiß, wir finden ihn.“ Aber sie hasteten beide weiter und weiter, und immer wieder trafen sie aufs neue himmelhohe, kalte, öde Steinwände, aus denen es keinen Ausweg gab.
Dann war sie, mit einem Male, in der kleinen Kirche von Rohlbeck. Die Orgel klang dünn, wie immer. Der alte Heckstein verließ eben die Kanzel; sie saß im Herrschaftsgestühl, links die Mama und rechts der Vater; auch Martha war da, mit ihrem lieben, glatten, ruhigen Gesicht, das ein wenig traurig aussah. Wilhelm war ja wieder in Berlin. „Das heißt,“ sagte Vater, „Heckstein hat heut schön gepredigt.“ „Nein, Papachen,“ gab Mama zurück, „er hat wieder einmal einen alten Bock geschlachtet.“ „Wenn schon,“ meinte der Vater darauf, „die Hauptsache ist, daß wir unser Kind wiederhaben.“ Und da setzte Kantor Flehr mit dem Schlußgesang ein.
‚Natürlich, du träumst das alles —‘ sagte sich Helene dabei. ‚Träumst es und bist doch eigentlich ganz wach. Hörst ja den Lärm von der Straße und das Laufen auf der Treppe und das Zuschlagen der Türen. Merkwürdig ist das. Aber es ist so schön, dies Träumen. Gerade das[S. 97] letzte, das von Rohlbeck. Und eigentlich hast du heut, den ganzen Tag, noch nicht einmal an Rohlbeck gedacht. An unser liebes altes Rohlbeck — und an Vater und Mutter ...‘
Da faltete sie die Hände. Sie wollte wohl eines ihrer alten Kindergebete vor sich hersagen. Aber sie kam nicht dazu. Mit einem müden, frohen Lächeln schlief sie ein.
Am nächsten Morgen brachte Wilhelm ein kleines Billett mit an den Frühstückstisch, hielt es der Schwester hin, daß sie gerade nur die Handschrift auf der Adreßseite sehen konnte, und fragte scherzend: „Rate! Von wem?“
Helene hatte prächtig geschlafen und war in rosigster Laune. „Vom Kaiser von Rußland!“ gab sie lachend zurück.
„Nicht ganz, aber beinahe. Von einem gewissen kaiserlich russischen Hofopernsänger wenigstens.“
Er wartete wohl, daß sie heftig zugreifen würde. Doch er irrte. Ihre Hand hob sich zwar, sank aber gleich wieder zurück, und sie machte sich eifrig an ihrem Milchbrot zu tun. Daß ihre Hand dabei ein wenig zitterte, bemerkte er nicht, fragte nur wieder: „Bist du denn gar nicht neugierig?“
„Du wirst mir ja schon sagen, was Herr Schwarz dir geschrieben hat.“
„Sehr richtig bemerkt, Lene. Also laß mal dein Brötchen ruhen ... ist übrigens famos, das Berliner Gebäck, nicht wahr? Anders als die Wassersemmeln, die die Semmelmuhme von Lagow im Tragkorb bringt?“
„Sehr fein ist’s. Also ...“
„Ja, also. Herr Schwarz scheint wirklich einer der liebenswürdigsten Tenore des neunzehnten Jahrhunderts. Er schreibt mir: ‚Sehr verehrter Herr von Hackentin! Gestern hatte ich Gelegenheit, Madame Harriers-Wippern zu sprechen. Sie ist erfreut über die Mitteilungen, die ich[S. 98] ihr machen konnte, und gern bereit, das gnädige Fräulein zu prüfen. Da ich nach unserer Verabredung annehme, daß Sie gestern angekommen sind, habe ich Sie gleich für heut mittag 12½ Uhr angesagt. Meine gehorsamsten Empfehlungen an Fräulein Schwester und die Bitte, daß das gnädige Fräulein sich nicht wegen des Probesingens Sorge macht. Das könnte nur schaden und ist auch total unnötig: ich weiß, was ich gesagt habe, und übernehme jede Garantie. Hochachtungsvollst‘ und so weiter und so weiter ...“
Wilhelm faltete den Brief wieder zusammen: „Hoffentlich bist du gut disponiert, Helene ...“
Er bekam nicht gleich Antwort. Aber diesmal konnte Helene ihre Erregung nicht verbergen. Das Blut strömte ihr ins Gesicht, kam und ging. Das Messerchen, das sie noch in der Hand hielt, klirrte gegen den Teller.
„Aber Helene!“ Er schüttelte den Kopf. „Bist doch sonst solch tapferes Mädel. Du wirst doch singen?“
Sie fand noch immer kein Wort. Es wirbelte in ihrem Kopf. Sie wollte lachen und sagen: ‚Natürlich werd ich singen. Gut werd ich singen. Was denkst du denn eigentlich?!‘, aber ihr war es, als könnte sie nicht einen Ton herausbringen.
Dann streckte sie endlich, immer noch schweigend, die Hand hin. Er gab ihr den Brief. Sie überlas einmal, zweimal die etwas flüchtigen Zeilen. Mechanisch zuerst, wie um Zeit zu gewinnen. Dann aufmerksamer, Wort für Wort. Dabei wurde sie ruhiger. Sie rückte gleichsam von der Probe auf ihr Können ab. Aber zugleich kam eine andere Überlegung: ‚Daß Herr Schwarz so großes Interesse an dir nimmt!‘ Es hatte etwas Peinliches für sie, es hatte zugleich etwas Wohltuendes. Es verdroß sie, setzte sie in Verlegenheit — und doch freute sie sich darüber. Und daß es sie freute, verdroß sie wieder. Dabei fühlte sie aufs neue das seltsame Prickeln in ihren Adern, das sie neulich abends in Rackow empfunden hatte, als er sich über sie beugte und ihr leise zuflüsterte mit seiner weichen,[S. 99] einschmeichelnden Stimme: „Sie wissen doch, daß ich nur für Sie gesungen habe!“ Sie dachte: ‚Heut also wirst du ihn wiedersehn‘, und indem sie das dachte, sah sie im Geiste schon sein schmales feines Gesicht vor sich und seine Augen auf sich gerichtet.
Wilhelm wurde ungeduldig. So raffte sie sich auf, mit einem jähen Entschluß: „Ich möchte aber nicht, daß Herr Schwarz bei Frau Harriers-Wippern ist, wenn ich singen soll —“
„Ja ... gib mir doch noch mal den Brief. Er schreibt ja gar nichts davon ...“
„Er ... er wird doch dabei sein ...“
„Und wenn er’s ist, stört dich das?“
„Ja ... es stört mich.“
Der Bruder drehte den Brief in den Händen herum. „Nimm es mir nicht übel, Helene, das ist ein bissel kindisch“, sagte er ärgerlich. „Ist eigentlich auch undankbar. Ich kann dem Mann doch nicht schreiben: ‚meine Schwester wünscht Ihre Gegenwart nicht‘. Übrigens weiß ich nicht einmal seine Adresse.“
„Doch! Die steht ja auf dem Bogen. Hotel de Rome.“
„So. Richtig. Der Herr Hofopernsänger wohnt etwas vornehmer als wir. Ja ... aber was soll ich ihm denn schreiben?“
Sie zog die Stirn kraus, bis eine kleine schmale Trotzfalte zwischen den Brauen stand. „Schreib, was du willst. Ich ... wir dankten ihm ... er möchte sich aber nicht bemühen. Lieber Gott, solch ein kluger Mann, wie du bist, wird doch eine passende Ausrede finden. Ich bitte dich recht sehr, Wilhelm, schreibe gleich ... schicke einen Boten!“
Wilhelm Hackentin schüttelte den Kopf. „Es ist mir wirklich höchst fatal, Lene.“
„Ich bitte dich! Tu es mir zuliebe. Ich ... ich würde sonst nicht singen können. Glaub’ es mir.“
Er trank seinen Kaffee aus, ging dann hinüber nach dem Schreibtisch, der am Fenster stand. „Meinetwegen ...“ sagte er im Fortgehen.
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Sie sah, wie er sich drüben den Stuhl zurechtrückte, sich setzte, zur Feder griff.
Ganz still saß sie, immer die Augen auf ihn gerichtet, immer noch mit der kleinen schmalen Trotzfalte zwischen den Augenbrauen. Sah auf den Bruder und sah doch über ihn hinweg.
Wilhelm schrieb hastig, setzte einmal ab, fuhr fort, überlas, was er geschrieben hatte. Nun stand er auf, kam zurück. „Hier, Helene ...“
Da griff sie nach dem Bogen in seiner Hand und sagte jäh: „Ich hab es mir überlegt. Wir wollen den Brief nicht abschicken.“
Er lachte laut auf. „Na, da hätten wir’s ja. Also eine Kaprice! Weiter nichts als Laune. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. Das, scheint mir, trifft bei dir auch zu. Nun laß mich aber wenigstens in Ruhe eine zweite Tasse Kaffee trinken.“
**
*
Frau Harriers-Wippern wohnte in der Viktoriastraße.
Wilhelm hatte eine Droschke nehmen wollen, aber Helene bat, daß sie zu Fuß gehen dürfte. Ihr war es, als müßte und könnte sie sich einen Druck von der Seele fortlaufen, wie sie wohl in Rohlbeck weit hinaus, über die Felder nach dem Forst gelaufen war, wenn die Unruhe sie geschüttelt hatte.
So gingen sie. Manchmal sah Wilhelm die Schwester heimlich von der Seite an. Er wurde nicht recht klug aus ihr. Ihr Gesicht zeigte eigentlich keine besondere Spannung. Aber ihre Gangart war eigen hastig. Manchmal lief sie fast, um dann wieder plötzlich stehenzubleiben, mit irgendeiner Ausrede, mit einem Blick in ein Schaufenster. Aber er sah wohl, daß dieser Blick nur flüchtig über die Auslagen hinglitt, viel flüchtiger, als er’s von dem Provinzmädel erwartet hätte. Ihre Gedanken mußten ganz wo anders sein.
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Einmal fragte er: „Hast wohl doch ein bissel Herzklopfen, Lene?“
Da schüttelte sie den Kopf.
Sie gingen durch die Leipziger Straße. Dann und wann machte er sie auf ein Gebäude, auf eine Sehenswürdigkeit aufmerksam. „Da hast du das Kriegsministerium.“ „Das ist das Denkmal vom Grafen Brandenburg ... weißt du, dem Sohn König Wilhelms des Zweiten und seiner morganatischen Gattin, der Gräfin Dönhoff“ — „Das sind die alten Torgebäude und dahinter steht die Stadtmauer, die um das ganze innere Berlin geht.“
Sie nickte dann, aber er fühlte, sie hörte kaum, was er sagte.
Am Tor mußten sie eine Weile warten. Auf der Verbindungsbahn kam durch die Hirschelstraße ein langer Güterzug angekrochen; die Maschine läutete, ein Beamter mit einer roten Fahne ging vor ihr her, um die Passanten abzuhalten. Er erklärte ihr das wieder: wie diese Bahn die einzelnen Bahnhöfe für den Güterverkehr miteinander in Verbindung setze, so daß also ein Frachtstück, das etwa von Stettin käme und nach Breslau bestimmt wäre, nicht umgeladen zu werden brauchte. „So?“ sagte sie und weiter nichts.
„Dort drüben — der Potsdamer Bahnhof war der erste in Berlin. Die Bahn nach Potsdam war nämlich überhaupt die erste in Preußen, ist schon vor mehr als zwanzig Jahren gebaut worden. Du, Lene, da passierte eine komische Affäre. Der alte Nagler, der damals an der Spitze der Post stand, wollte nämlich von der Eisenbahn nichts wissen. Und um zu beweisen, daß sie ganz unnötig wäre, ließ er säuberlich konstatieren, daß der ganze Verkehr zwischen Potsdam und Berlin täglich mit drei Voitüren bewältigt würde. Wozu also eine Eisenbahn? Übrigens sind die Herren mit den langen Zöpfen heut noch nicht ausgestorben.“
„So“, sagte sie wieder und weiter nichts.
[S. 102]
Inzwischen war der Güterzug vorübergepoltert, die Menschenmasse, die sich aufgestaut hatte, wälzte sich über den Platz und zog die Geschwister mit. Durch die stille Bellevuestraße gingen sie. „Das ist der Tiergarten,“ meinte Wilhelm und zeigte auf die entlaubten Bäume. „Fünf Minuten weiter wohnt Tante Oschitz, der wir heut nachmittag unsere Visite machen werden.“
„So“, sagte sie zum dritten Male. Und da gab er es auf.
Und nun waren sie in der Viktoriastraße. Wilhelm suchte die Hausnummern ab. „Hier ist’s.“
Da sah er, zum ersten Male, daß aus dem Gesicht der Schwester jeder Blutstropfen gewichen war. Eigen glänzend standen die großen blauen Augen in dem weißen Antlitz. Nur die Lippen waren rot, rot wie Korallen. Und die Unterlippe hatte Helene ein klein wenig zwischen die Zähne gezogen.
„Du hast ja doch Angst —“
„Bewahre. Was denkst du dir denn.“
Sie gingen die teppichbelegte Treppe hinauf, schellten. Ein Diener öffnete. Wilhelm reichte ihm seine Karte. Er verschwand, kam gleich zurück: „Die gnädige Frau läßt bitten.“
Helene sah ihn nicht sofort, aber sie fühlte: er ist hier.
Sie sah zuerst nur die hohe schlanke Frau, die mit liebenswürdigem Lächeln auf sie zukam. Und sie sah auch, daß Frau Harriers-Wippern ein wenig stutzte, als sie dicht vor ihr stand, wie in einer leichten Überraschung. „Fräulein von Hackentin, ich freue mich, daß Sie sich mir anvertrauen wollen“, sagte sie. „Kollege Schwarz hat mir viel von Ihnen erzählt.“ Das Lächeln in dem jugendlichen Gesicht vertiefte sich ein wenig. „Aber er hat nicht übertrieben, wie ich soeben bemerke.“
Da trat er auch schon hinter den großen Blattgewächsen, die den einen Teil des Salons abgrenzten, hervor: „Sie sind sehr indiskret, gnädige Frau“, scherzte er. „Ich gestehe aber, daß ich ein schlechter Schilderer war.“
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Einen Augenblick hielt er Helenens Hand in der seinen. Auf einen Moment kreuzten sich ihre Augen. Ihre Hand war eiskalt, aber ihr Blick hielt dem seinen stand. Vielleicht sogar mit einem etwas feindseligen Ausdruck. Schwarz senkte das Auge zuerst, fast wie in leichter Verlegenheit. Er wandte sich schnell zu Wilhelm Hackentin, ihn zu begrüßen. Und da sagte Frau Harriers-Wippern auch schon, auf die Tür des Nebenzimmers deutend: „Jetzt, bitte, lassen die Herren uns allein.“
Die Probe verlief ganz anders, als Helene erwartet hatte.
Es war, als hätte die große Sängerin und Sangesmeisterin ihr die mühsam errungene Ruhe von den Augen abgelesen. Sie ließ ihr Zeit, bat zunächst, abzulegen, begann zu plaudern. Vom Alltäglichen, von der kleinen Reise, von den ersten Eindrücken in Berlin. Anfangs sprach sie fast allein. Dann, allmählich, brachte sie Helene zum Sprechen, lauschte, fragte nach dem bisherigen Unterricht. „Ein alter Kantor vom Lande. Sieh da! Das sind noch nicht die schlechtesten, und ich freue mich immer aufs neue, welche Liebe zur Musik in diesen Leuten steckt, von der leidigsten Schulmeisterei nicht zu töten.“ Fragte weiter, was Helene gesungen habe. Sprach dazwischen wieder von eigenem Erleben.
Langsam wich die Starrheit aus dem Gesicht des jungen Mädchens, das Blut strömte in die Wangen zurück. Der eine Gedanke, der den ganzen Morgen auf ihr gelastet, wurde von dem Zwang, zuhören, antworten, Auskunft geben zu müssen, verdrängt; von dem Interesse an der schönen liebenswürdigen Dame, von der Verwunderung: „Wird sie dich denn noch nicht zum Singen auffordern?“ Ihr Denken konzentrierte sich wieder mehr und mehr auf das Kommende. Es war auch dabei ein leises Sorgegefühl: ‚Wie wirst du bestehen?‘ Aber es lag nichts Drückendes, nichts Beengendes darin.
Soeben hatte die Sängerin noch von ihrer Jugend geplaudert, daß sie im Kloster erzogen worden sei. Nun[S. 104] stand sie plötzlich am Flügel, schlug ein paar Akkorde an: „Bitte, Fräulein von Hackentin, eine Skala ...“
Es war so überraschend, daß Helene gar nicht recht zur Besinnung kam. Aber indem sie sang, schmolz auch der letzte Rest des Angstempfindens. „Brav!“ hörte sie nur. „Und nun noch einmal. Ordentlich heraus aus dem Kehlchen ...“
„So. Und nun singen Sie mir mal etwas ganz Einfaches. Ganz ohne Begleitung. Vielleicht irgendein Volksliedchen. Ganz wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist, mit Verlaub zu sagen. Soll ich helfen? Wie wär’s mit ‚Ein getreues Herze wissen, hat des höchsten Schatzes Preis ...‘ Das kennen Sie doch — nicht wahr? Also nun los ...“
So sang sie.
Frau Wippern nickte ihr zu, als die erste Strophe verklungen war. Sang dann die zweite, recht, als ob sie selber die größte Freude daran hätte, ließ Helene die dritte singen: saß am Flügel nieder, blätterte in einem Notenheft. „Wie ist’s? Nehmen wir etwas aus unseres guten Papa Webers „Freischütz“: ‚Kommt ein schlanker Bursch gegangen ...‘“
„Brav! Brav!“ hieß es dann wieder. „Nun noch einmal ein paar Tonleitern. Geben Sie her, was Sie haben. Denken Sie, Sie stünden auf Bergeshöhe, ganz allein, und schmetterten die Töne in die freie weite Luft, mit den Lerchen um die Wette.“
Und nun stand Frau Wippern wieder neben Helene. „Öffnen Sie, bitte, einmal den Mund, Sie kleine Lerche. Recht weit, bitte, daß ich ordentlich hineinsehen kann. Ohne Sorge: ich bin ja kein Dentist, und Ihre Beißerchen können sich außerdem sehen lassen. So ... nun mal tief Atem holen ... langsam ausstoßen. Sehr schön.“ Sie klopfte ihr zärtlich auf die Wange. „Sie sind ein mutiges Menschenkind! Seine helle Freude hat man daran.“ Sie lachte. „Wenn Sie wüßten, mit welchen Angstmeierkindern[S. 105] ich manchmal zu tun habe!“ Dann wurde sie wieder ernst. „Aber nun lassen Sie sich sagen, was ich nach solch einer kurzen Probe sagen kann, sagen darf. Das Material ist einfach wundervoll, und Gott und Ihrem alten Kantor sei’s gedankt, den ich dafür im Geiste umarmen möchte: es ist unverbildet. Gesund ist’s, kerngesund! Eine Wonne für jeden Lehrer. Was daraus zu machen ist? Ich könnte wohl sagen: Großes ... das Größte! Aber, liebes Fräulein von Hackentin, prophezeien ist ein mißlich Ding. Das hat mir seinerzeit meine unvergeßliche Lehrerin, meine teure Franziska Cornes, auch vorgehalten, als ich so vor ihr stand, wie Sie heut vor mir. Eine Menschenstimme ist kein mechanisches Instrument. Sie ist hundert Zufälligkeiten, ist den mannigfachsten Anfechtungen unterworfen. Und der Lehrer allein tut’s auch nicht. Der Schüler muß die rechte Liebe haben, unermüdliche Geduld, einen nimmermüden Fleiß. Er darf nie vergessen, welch kostbares Gut ihm verliehen wurde, muß dies Gut pflegen und hegen wie ein Heiligtum —“
Sie schwieg und sah Helene in das schöne Gesicht, aus dem die Erregung der Stunde leuchtete.
„Nun, Fräulein von Hackentin, wie ist’s? Wollen wir’s daraufhin wagen?“
Da schlug Helene in die dargebotene Hand ein und beugte sich zugleich im unwillkürlichen Impuls, diese Hand zu küssen. Aber Frau Wippern zog sie schnell fort: „Da haben wir’s.“ Sie lachte schon wieder ihr berühmtes silberhelles Lachen. „Als ob ich eine alte Dame wäre mit meinen sechsundzwanzig Jahren. Bloß, weil ich Lehrerin bin und so ernste Worte sprechen kann. Nicht wahr? Und jetzt können wir ja auch die Herren der Schöpfung erlösen.“
Wilhelm war stark befangen, aber Schwarz kam gleich auf die Damen zu: „Nun, hab ich zuviel gesagt? Ich sehe es Ihnen beiden ja an: es war vortrefflich. Meinen Glückwunsch der Lehrerin und der Schülerin!“ —
[S. 106]
Dann gingen sie zu dritt die Viktoriastraße hinauf, durch die Lennéstraße dem Brandenburger Tor zu. Helene in der Mitte, Schwarz ihr zur Rechten, der Bruder links.
In Helenens Seele zitterte das Erleben nach. Sie war über die Prüfung hinweggekommen, sie wußte selbst nicht wie. Nun klang es in ihr gleich Musik. Seltsam weich war sie gestimmt. Wie in einem leisen leichten wonnigen Rausch schritt sie dahin. Die Erde schien unter ihr zu federn. Aller Welt hätte sie ein Liebes tun mögen. Da war der Bruder, der gute Wilhelm! Ja ... und der andere, der war doch ein guter Kamerad. Wie dumm sie heut morgen gewesen war. Und so unfreundlich. Allerlei törichte Gedanken hatte sie in sich herumgewälzt.
„Du, Lene, dort drüben wohnt Strousberg.“
Am Morgen hatte sie über Wilhelms Worte hinweggehört, jetzt merkte sie auf. Vielleicht nur, um ihm eine kleine Freude damit zu erweisen.
„Strousberg — wer ist das?“
„Aber besinn dich doch. Ich hab ja so viel von ihm erzählt. Bethel Henry Strousberg, gestern noch ein unbekannter Journalist, heut ein Faiseur, der seine geschickten Finger in allen möglichen Eisenbahnunternehmungen hat. Er wird noch viel von sich reden machen. Denk’ an mich.“
„Werd ich! Werd ich!“
Und sie gingen weiter am Saume des Tiergartens entlang, durch die Schulgartenstraße, die altersgraue Stadtmauer zur Rechten. Schwarz hatte nur wenige Worte gesprochen seit seinen letzten im Musikzimmer. Und nun wunderte sie sich darüber, und sie wartete auf das, was er sagen würde. Er mußte, mußte ihr doch noch etwas sagen! Es war unmöglich, daß sie so weitergingen und sich dann trennten und ... und wer weiß, wann einmal wiedersahen ... niemals vielleicht ...
Oder wartete er darauf, daß sie ihm danken würde? Vielleicht hätte sie’s gemußt. Aber da war etwas in ihr,[S. 107] das ihr die Zunge band. Das Danken mochte Wilhelm besorgen.
Der hatte noch eine Weile von Strousberg weiter gesprochen, dem großen Finanzgenie, der scheinbar aus Papier Gold zu machen verstand. Doch nun fragte er, an der Schwester vorbei: „Wir wurden vorhin unterbrochen, Herr Schwarz. Was also haben Sie für den Winter vor?“
„Ja, so, Herr von Hackentin — es schweben noch verschiedene Engagementsanträge. Eigentlich sollte ich wieder an die Newa. Aber das Klima bekommt mir auf die Dauer nicht. Dann hieß es Wien. Ließe ich mir schon eher gefallen. Die goldige Kaiserstadt an der Donau, wo der Spieß mit dem Backhändl dran sich allezeit dreht. Eine wirkliche Musikstadt zugleich. Freilich, am liebsten möchte ich mich für eine Saison gar nicht binden. Nur gastieren — mit einem pied-à-terre hier. Berlin hat es mir nun einmal angetan — neuerdings —“
Wie er das letzte sagte, fühlte sie, daß sein Auge das ihre suchte. Und mit einem Male überkam sie wieder die Angst, die sie heute früh geschüttelt hatte. Glühend heiß und eiseskalt. Es war nicht mehr der gute Kamerad, der da neben ihr herschritt, dem man dankbar sein mußte: Es war das Schicksal.
Starr sah sie geradeaus.
„Wien ... ja ... eine herrliche Stadt“, hörte sie Wilhelm neben sich. „Ein bissel Phäakenstadt. Aber das reiche wunderbare Hinterland, Ungarn, der ganze Orient — da ist noch eine Zukunft. Da ist viel Geld zu verdienen. Und Sie würden doch lieber hierbleiben? Ist kein Platz für Sie an unserer Oper?“
„Kaum, höchstens als Gast. Hier schwört man zu dem schönen Woworski —“ er zog ein wenig die Achseln hoch — „dann soll ja auch Albert Niemann herkommen. Und schließlich: Exzellenz von Hülsen ist mir persönlich nicht allzu sympathisch. Er sieht mir sein Theaterreich zu sehr wie eine Kompagnie Soldaten an. Aber ich bleibe doch[S. 108] wohl in Berlin. Ich kann mich, ich will mich jetzt hier nicht loslösen ...“
Wieder fühlte sie seinen Blick. Und wieder sah sie starr geradeaus.
Da rief Wilhelm: „Lene, das Brandenburger Tor! Siehst du die Quadriga? Weißt du: Vater erzählt so gern davon, wie sie Napoleon geraubt hat und wie wir sie uns wiedergeholt haben! Anno achtzehnhundertvierzehn. Du ... hör’ mal ... du hast Glück heute ...“
Von jenseits des Tores klang Trommelwirbel, von dem Wachthause her. Und dann rollte aus der mittelsten Toröffnung ein schlichter, zweispänniger offener Wagen. Ein Greis saß darin, mit weißem Bart, ausrasiert am Kinn. Gerade aufgerichtet saß er in seiner schmucklosen Uniform, dem geschlossenen Paletot, der hohen Mütze.
„Der König —“
Ganz dicht fuhr der Wagen an ihnen vorüber. Helene verneigte sich tief. Es durchschauerte sie: gar nicht tief genug konnte sie sich neigen vor des Königs Majestät. So war es ihr von klein auf gesagt und gelehrt worden.
Ein paar Leute standen rechts, standen links. Nur wenige grüßten.
Und dabei hatte der königliche Greis so huldreich an den Mützenschirm gefaßt; fast war es, als ob sein gutes klares Auge auf einen Moment auf der kleinen Gruppe geweilt hätte, als ob über das ernste Antlitz der Schein eines gütigen Lächelns geglitten wäre.
„Warum grüßen denn die Leute nicht, Wilhelm?“ Jetzt endlich fand Helene die Sprache wieder, und in ihr klang ein Ton der Empörung. „Muß man den König denn nicht grüßen?“
„Du Kind! Ja, man müßte. Aber man muß nicht. Dem Prinz-Regenten haben sie noch zugejubelt. Jetzt ist das anders. Seit ein paar Monaten besonders. Die Regierung ist unbeliebt, und der Berliner hält sich für verpflichtet,[S. 109] das auch dem König zu markieren. Manchmal denk ich: gut, daß Vater still in Rohlbeck sitzt. Der würde seinen Zorn nicht bändigen können.“
Sie waren durch das Tor geschritten. Die Wache war unter Gewehr. Es mußte soeben abgelöst worden sein. Die Gardeschützen waren aufgezogen. Über die grünen Röcke und die goldenen Knöpfe blitzte die Sonne. Und da — am Flügel seiner Mannschaft stand Merivaux, den Degen noch in der Hand.
„Bon jour, monsieur de Merivaux“ rief Wilhelm über das Gitter.
Der junge Offizier blickte überrascht auf, senkte den Degen zum Gruß. „Weggetreten“, kommandierte er mit heller Stimme. Die Büchsen klirrten gegen die Gewehrständer, es gab auf einen Moment ein Rasseln und Rauschen. Dann, so schien es, wollte der Neuchateller an das Gitter treten. Aber als ob er sich im letzten Augenblick besönne, grüßte er nur noch einmal und wandte sich nach der Säulenhalle, wo der Kamerad, den er abgelöst hatte, wartend stand.
„Monsieur de Merivaux makte ja ein serr brummiges Gesicht.“ Es klang etwas spöttisch, wie Schwarz das sagte. Es klang etwas komödienhaft mit der übertriebenen Nachahmung des Akzents. Und es sah spöttisch und herausfordernd zugleich aus, wie er dabei mit seinem dünnen Stöckchen gegen die Beinkleider klopfte.
Drüben stand eine einsame Droschke.
„Können wir nicht nach Hause fahren“, bat Helene plötzlich. „Ich bin so müde, Wilhelm.“
**
*
Nun war Helene Hackentin bei der Tante Oschitz untergebracht. „Auf ein paar Wochen,“ hatte Vater geschrieben, „das heißt, wenn wir’s so lange ohne dich aushalten.“ „Ich behalte dich auch ein paar Monate,“ hatte Tante Marianne gesagt, „das heißt, wenn du keine Späne machst.“
[S. 110]
Frau von Oschitz bewohnte dasselbe kleine Haus in der Tiergartenstraße, das der verstorbene Geheime Rat vor einem Vierteljahrhundert gekauft hatte. Rechts nach der Bendlerstraße zu war vor wenigen Jahren ein dreistöckiges Miethaus entstanden, links eine große Villa aufgeführt worden. Dazwischen stand das graue Häuslein, das noch aus der kurfürstlichen Zeit stammte und einst ein Lustschlößchen gewesen sein sollte; ein tiefer Vorgarten schied es von der Straße; dahinter dehnte sich ein noch größerer, wenig gepflegter Garten bis zum Landwehrgraben. „Meine Insel“ nannte Tante Oschitz ihren Besitz manchmal, und er war wirklich wie ein abgeschiedenes Stückchen Erde. Wenn Helene in der ungeheuerlich tiefen Fensternische stand, in der ein ganzer Schreibtisch Platz gefunden hatte, und in den Garten hinaussah, konnte sie denken, daß sie in Rohlbeck wäre. Der Lärm der Stadt drang nicht bis hierher, die weite, von hohen Bäumen umrahmte Rasenfläche glich einer Wiese, und sogar eine Stallung fehlte nicht. Die Pferde freilich hatte Tante Marianne bald nach dem Tode ihres Mannes abgeschafft. „Das Geld, das sie fressen, kann ich besser verwenden.“
Die kleine, zarte Dame sollte einst eine Schönheit gewesen sein. Heut sah man wenig davon. Das Gesicht war mit Fältchen übersät, vor der Zeit gealtert. So hieß sie in der Familie die alte Tante Oschitz und war doch noch gar nicht so sehr alt. Helene wußte das: Mutter, die immer gern den Jahren anderer nachrechnete, hatte oft genug davon erzählt: Marianne Hackentin war Hofdame bei der Prinzessin der Niederlande gewesen, hatte ungezählte Körbe ausgeteilt und erst mit dreißig und einigen Jahren, als sie „längst aus dem Schneider heraus war“, wie Mama das ausdrückte, den Geheimrat erhört — „Matthäi am letzten“. Der einzige Sohn aber, Harro, war siebzehn. Also hatte Tante Marianne etwa die Fünfzig erreicht. Helene kam sie vor wie eine Greisin. Und die kleine, schwächliche Frau wußte sich, bei aller[S. 111] Güte, auch den Respekt einer Greisin zu wahren. Selbst dann, wenn man manchmal gern über sie gelacht hätte.
Einst, erzählte man in der Familie, sollte Tante Oschitz sehr lebenslustig gewesen sein. Mit ihrer Verheiratung war eine Veränderung ihres Wesens eingetreten, über die sogar der Rackower, ihr Jugendfreund, noch heute den Kopf schüttelte; seit sie Witwe war, lebte sie fast ganz weltabgeschieden. Nur ihrem Harro und ihren guten Werken; allenfalls noch ihrer Porzellansammlung, obwohl sie jeden Groschen, den sie dafür ausgab, eigentlich als Sünde betrachtete. Sie war sehr fromm. Die Landeskirche genügte ihr nicht, und sie hatte sich einem kleinen Kreise ähnlich gerichteter Seelen angeschlossen, die der Pastor Müller um sich versammelte. Ein Geistlicher, der auch aus der Landeskirche ausgeschieden war. „Tränen-Müller“ hieß er unter den Ketzern Berlins, denn in seinen Konventikeln sollten die Tränlein fließen wie Bächlein auf den Wiesen.
Als Tante Oschitz zum letzten Male in Rohlbeck gewesen war, hatte sie ein gewaltiges Ringen mit dem alten Heckstein gehabt. Seitdem streckte der, sobald die Rede auf sie kam, immer abwehrend beide Hände aus: „Hackentin, verschone mich bloß mit der Oschitzen. Die ist mir über.“ Und dazu lachte der „dreimal gesottene Rationalist“, — so hatte sie ihn genannt, bis er nicht mehr konnte.
Übrigens mußte Helene dem „Tränen-Müller“ eigentlich dankbar sein. Das Zünglein, ob Tante Marianne sie auf längere Zeit aufnehmen wollte oder nicht, hatte anfangs ein wenig geschwankt, aber er hatte für sie entschieden. Der schöne Mann liebte die „Schönheit der Kreatur“, wie er es ausdrückte. Als der sich an einem der ersten Abende einfand, hatte Helene das Zimmer verlassen wollen, um nicht zu stören. Da war er auf sie zugekommen, hatte seine weißen, weichen Hände sanft auf ihre Schultern gelegt, sie auf den Stuhl niedergedrückt und mit seiner unendlich milden Stimme gesagt: „So bleiben Sie doch, liebes Kind. Ich sehe Sie so gern an.“ Und außerdem liebte[S. 112] er die Musik, sogar die weltliche. Von ihm zuerst hörte sie vom trefflichen Grell, dem Direktor der Singakademie, und vom Sternschen Gesangverein.
Es war sehr still auf der einsamen Insel. Tante Marianne liebte die tiefste Ruhe um sich her. Die Dienstboten schlichen auf Filzsohlen und flüsterten nur. Sogar Harro war auf diese Stille hin erzogen, er sprach im Hause immer vorsichtig und gedämpft. Und doch sprühte dem blonden Gymnasiasten das helle Leben, ja der Übermut aus den blauen, glänzenden Augen. Manchmal, wenn er mit Helene im hinteren Garten spazieren ging, rief er plötzlich laut: „Laß uns laufen! Um die Wette laufen! Bis uns der Atem ausgeht!“ Das taten sie dann. Sie rasten an den hohen Taxushecken entlang bis zum Landwehrgraben und wieder zurück, bis sie wirklich nicht mehr konnten und stehenbleiben mußten, mit roten Wangen und jagenden Pulsen. „Ah, war das schön! War das schön!“
‚Ein Prachtjunge, der Harro! Man muß ihn gern haben!‘ dachte Helene dann. ‚Wer weiß, ob ich’s ohne ihn so gut aushielte auf der einsamen Insel?‘
Denn Tante Oschitz hatte auch ihre „Mucken“. Sie tyrannisierte auf ihre milde Art das ganze Haus und alles, was darin war.
„Nimm dich in acht vor Tante Marianne!“ hatte Wilhelm bei der Übersiedlung gesagt. „Es hat manchem nicht gut getan, mit ihr Kirschen essen zu wollen.“
Dabei standen sich eigentlich gerade der Bruder und Tante Oschitz merkwürdig gut. Manchmal saß Wilhelm wohl eine Stunde und länger bei ihr allein. Manchmal hörte sie fast andächtig zu, wenn er von seinen Projekten sprach. Manchmal freilich strich sie ihm auch eine bittere Wahrheit fingerdick aufs Brot. Gleich in den ersten Tagen einmal. Da hatte er ihr im Auftrag von Vater von der Pension gesprochen, die der für Helene bezahlen wollte.
„Nein, mein lieber Wilhelm, Geld nehme ich nicht. Der Rittmeister hat’s nicht dazu, wird schon seine Mühe haben, das sündhaft schwere Geld für den Unterricht aufzubringen.[S. 113] In Rohlbeck konnte man ja nie rechnen, hat immer nur depensiert. So ist’s denn da immer weiter bergab gegangen.“ Sie sagte es, die Hände im Schoß gekreuzt, mit sanfter Stimme, die aber einen eigen bestimmten Klang hatte.
„Sparsam genug haben Vater und Mutter, weiß Gott, gelebt.“
„Laß doch den lieben Gott aus dem Spiel. Ja, sparsam haben sie gelebt, aber wirtschaften konnten sie nicht. Damit sind sie bei aufgepritschten Brotsuppen und Braunbier auf den Hund gekommen. Ich hab’s doch noch erlebt, als deine Mutter ihr letztes Väterliches ausgezahlt bekam. Dreißigtausend Taler waren es, und in zwei Goldtönnchen ist’s in Rohlbeck angekommen. Was haben sie damit gemacht? Die Tönnchen unter ihre Betten gestellt, und wenn jemand Geld brauchte, dann langte er hinein. Wenn ich’s nicht beschwören könnte, würde ich’s selber nicht glauben. Nicht zinstragend angelegt, nichts — nichts! Einfach aufgebraucht, bei Wassersuppen und Braunbier. Und dabei ist Heinersdorf verkauft worden, und Grunow mußte verkauft werden. Es ist eigentlich gar nicht auszudenken. Sünde ist’s — Sünde!“
„Die alte Zeit, Tante Marianne. Mir wär’s auch lieber; die Eltern hätten besser gewirtschaftet und ich brauchte mich hier nicht zu schinden.“
„Wie häßlich gesagt — schinden? Geldverdienen ist ehrliche Arbeit. So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen, steht in der Heiligen Schrift. Ich laß es dir übrigens, du bist ein emsiger Mann, in deiner Art. Aber daneben steckt das Rohlbecker Blut in dir. Dem kann nicht genug gesteuert werden.“ —
Still und friedfertig floß das Leben dahin auf der einsamen Insel.
Aber die Stille und der Friede des Hauses, denen sich Helene äußerlich anzupassen hatte, füllten ihr Herz nicht. Ihr Herz war unruhig und voller Unrast.
[S. 114]
In ihren Nöten war die Kunst ihr einziger Halt. Doch je weiter die Zeit ging, desto mehr fühlte sie, auch die Kunst war nur ein zerbrechlicher Stecken für sie. Der stärkste Fleiß half da nicht. Er mochte die Stunden töten. Daneben aber blieben andere Stunden, in denen ihre Kunst nur ihre Seele immer stärker aufpeitschte.
Wohl war Frau Harriers-Wippern zufrieden. Fast immer gleich zufrieden. Helene sah es ihr mehr an, als daß sie es aussprach, denn sie war ziemlich karg mit Anerkennung und Lob und verlangte viel, was Helene zuerst ganz wunderlich vorkam: endlose Atemübungen, sorgsame Studien vor dem Spiegel, predigte immer wieder: „Langsam — langsam! Geduld, Fräulein von Hackentin!“ Bisweilen aber nannte sie sie doch ihre liebste Schülerin, bisweilen sprach sie doch von erstaunlich schnellen Fortschritten. Aber dann und wann, und nur immer häufiger, schüttelte sie auch den Kopf: „Sie dürfen sich nicht überanstrengen, liebes Kind.“
„Es strengt mich nicht an. Nie! Nie!“
„Sie wissen das selbst nicht. Mir kann das nicht entgehen. Ihr Temperament reißt Sie zu sehr fort. Es ist etwas Herrliches, gerade für unsere Kunst, um ein starkes Temperament. Nur müssen wir es straff im Zügel zu halten wissen. Bei Ihnen steigert’s sich manchmal bis zur Leidenschaftlichkeit.“
Und Helene wußte: ja — bis zur Leidenschaft!
Das war ihr Schicksal. Er war ihr Schicksal.
Sie hatte sich dagegen gesträubt mit aller Kraft ihres Willens. Mit all ihrem Stolz. Es war stärker als sie.
**
*
Alfred Schwarz war wirklich in Berlin geblieben. War wenigstens meist in Berlin. Ende Oktober gastierte er in der Friedrich-Wilhelmstadt; unmittelbar nach Theodor Wachtel und mit gleich großem Erfolge.
Sie hatte ihn bis dahin nur wenige Male gesehen. Einmal traf sie ihn zufällig — war es zufällig? — im[S. 115] Vorzimmer von Frau Harriers-Wippern. Einmal begegnete sie ihm auf dem Wege zu ihrer Lehrerin. Sie sprachen nur knappe Worte miteinander. Er erkundigte sich nach ihren Fortschritten, wie sie sich eingelebt hätte. Sie gab so kurz als möglich Auskunft, nur so viel, als die kargste Höflichkeit forderte. Kaum so viel: denn die Abwehr lohte in ihrer Seele.
Aber sie mußte an ihn denken, Tag und Nacht. Im Zorn auf ihn und auf sich selber. In schmerzvoller Sehnsucht dann. Immer sah sie ihn vor sich, immer hörte sie seine Stimme. Mitten im Traum schrak sie auf: sie waren wieder in Rackow gewesen, er hatte wieder die „Letzte Rose“ gesungen, er hatte wieder gesagt: nur für Sie — nur für dich! Sie schrak auf und biß vor Scham in ihr Kissen und weinte —
Und nun gastierte er — Frau Harriers-Wippern hatte es beiläufig erzählt — in der Friedrich-Wilhelmstadt.
Ein paar Male war sie in der Königlichen Oper gewesen. Auf Billetts ihrer Lehrerin. Das gehörte ja zu ihrer Ausbildung. Ein paar Male auch in Konzerten. Einmal hatte sie Tante Oschitz in eine Beethovensche Symphonie begleitet, ein andermal durfte Harro mit ihr in ein Stockhausensches Konzert. Der gute Junge! Fast hätte er laut aufgejubelt, und wie er den ritterlichen Kavalier spielte!
Aber die Friedrich-Wilhelmstadt: Tante Marianne hätte nur die Achseln gezuckt. Und sie durfte doch auch nicht fragen, nicht bitten. Sie wollte ja auch gar nicht ... Nein! Nein! Nein!
Da kam Wilhelm: „Lene, hier! Herr Schwarz hat mir zwei Billetts geschickt ...“
Nein! Nein! — Ja! Ja!
Tante Oschitz machte eine bedenkliche Miene, aber Wilhelm streichelte sie mit klugen Worten.
Er sang den Postillion.
Und es war fast eine Enttäuschung. Er sang wundervoll, er spielte hinreißend. Das Haus jubelte ihm zu, wie es[S. 116] kaum Wachtel zugejubelt hatte. Und dennoch war es eine Enttäuschung: sie mochte ihn nicht als Postillion. Es tat ihr weh, ihn mit der Peitsche knallen zu hören. Es war ihr wie eine Erniedrigung. Sie schalt mit sich selber — und sie war doch auch froh darüber; erleichtert fast.
Zwei Tage darauf fuhren am Nachmittag die Rackower vor.
Frau Marie und Frau Marianne liebten sich nicht und waren daher doppelt artig gegeneinander. Immer erkundigten sie sich nach ihren beiderseitigen Interessen, für die sie doch kein Interesse hatten. Tante Marie nach der Mission in Indien, Tante Oschitz nach den Winterplänen der Rackower. Immer mit kleinen Malicen zwischen allen Artigkeiten. Onkel Ernst gab Harro einen derben Klaps: „Nun, mein Junge, wann hast du denn endlich die gräßlichen Schulbänke hinter dir?“ und tätschelte Helene beide Wangen: „Viele Grüße aus Rohlbeck. Sind alle gut zu Wege, bißchen fatigue siehst du aus, Leneken ...“ Dabei sah er schmunzelnd unter seinem Monokel um die Ecke auf die beiden Damen, die sich drüben am Kaffeetisch so eifrig und stimmungsvoll unterhielten.
Und dann hieß es: „Heut abend entführen wir dir natürlich die Lene. Aber, liebste Kusine, das ist doch selbstverständlich. Mach’ bloß kein so böses Gesicht. Wir liefern dir unsere Lene auch pflichtschuldigst persönlich ab. Um den Hausschlüssel müssen wir freilich bitten.“
Den Hausschlüssel bekam Helene nicht. Aber Urlaub bekam sie — „es wird auf dich gewartet werden.“
Vom Theater kein Wort. Und doch wußte Helene: heut abend singt er in Flotows „Martha“. Heut abend höre ich wieder die „Letzte Rose“ ...
Ganz still saß sie nachher im Wagen. Wußte nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte. Würde es wieder eine Enttäuschung sein? Vielleicht konnte sie es überhaupt nicht vertragen, ihn auf der Bühne zu sehen, im Komödiantengewand, geschminkt und aufgeputzt. Vielleicht konnte sie den lärmenden Beifall nicht ertragen, der ihm zujauchzte.[S. 117] So schön wie in Rackow sang er auch gewiß nicht ... damals, als er nur für sie gesungen hatte ...
Dabei mußte sie Rede und Antwort stehen. Über ihren Unterricht, über Tante Marianne. Ja, und dann sprach Tante Marie wieder von Rohlbeck. Rohlbeck ... Rohlbeck ... was war das eigentlich? Wo lag das? Es war ja fast wie ausgelöscht in ihrer Erinnerung. Selten nur hatte sie in all der letzten Zeit an die Eltern gedacht, an Martha ... gerade nur die Pflichtbriefe hatte sie geschrieben. Sie verlangten ja auch nicht viel Nachricht daheim, das Porto war teuer. Ja ... und nun pochte das auch wieder an ...
„Der Rittmeister und Fritz haben sich gründlich brouilliert. Kein Wunder: Fritz ist dem liberalen Wahlverein beigetreten. Ein Hackentin. Eigentlich wirklich ein Skandal. Die Politik ...“
Ach, was ging sie die Politik an. Heut abend hörte sie die „Letzte Rose“ ...
Sie saßen in der Fremdenloge. Vorn Tante Marie und Helene, dahinter Onkel Ernst. Und kaum hatte er die Bühne betreten, so wußte sie, daß er sie bemerkt hatte — wußte: heut singt er wieder nur für dich. Nur für dich. Mag das ganze Haus ihm zujubeln und toben: er singt nur für dich! Nur für dich!
Es versank alles vor ihr. All der Firlefanz dort oben zwischen den gemalten Kulissen. Sie sah auch nicht darauf hin, sah auch kaum ihn. Nur hören — lauschen — lauschen —
Heut zum ersten Male schmolz auch ihre Abwehr, schmolz ihr Stolz. Nichts war in ihr als ein läutendes reines Glücksklingen.
Bis der Vorhang zum letzten Male fiel.
„Na, kleine Enthusiastin! War’s schön?“ meinte Onkel Ernst, während der Logenschließer ihm in den Pelz half. „Mariechen, wir fahren gleich nach dem Hotel. Schwarz kann in einer Viertelstunde auch dort sein.“
[S. 118]
Zuerst verstand sie nicht. Dann bäumte es sich in ihrem Herzen auf. Ihn wiedersehen! Heute noch ... nach diesen Stunden! Fast wie eine Unmöglichkeit erschien es ihr. Als ein Traum, als unfaßbares Glück, und doch bebte und zitterte sie vor der Minute, in der seine Augen den ihren begegnen, seine Hand die ihre fassen würde.
„Wer kommt denn noch, Ernst?“
Onkel Ernst nannte ein paar Namen, gleichgültige Namen. Offiziere wahrscheinlich, Diplomaten. „Merivaux hat abgeschrieben. Die Gardeschützen haben eine große Übung im Terrain.“
Merivaux! Richtig ... der Neuchateller. Ja — so! Mein Gott, wie gleichgültig das alles war.
Und dann, schon im Wagen, mußte sie es doch sagen: „Tante Oschitz wird ungehalten sein. Ich möchte lieber nach Hause.“ Sprach’s, wußte, daß es Lüge war und doch auch Wahrheit.
Es war zu dunkel, als daß die Rackower die Blutwelle hätten sehen können, die ihre Wangen überflutete. Das Rollen des Wagens übertönte den angstvoll zitternden Ton ihrer Stimme. Onkel Ernst sagte nur: „Ach du Schäfchen ...“
Ein paar Minuten darauf stand sie im Salon des Hotel de Rome. Es wurden ihr ein paar Herren vorgestellt, sie hörte die Namen nicht. Man sagte ihr einige Artigkeiten, sie fand nur ein Lächeln. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals hinauf.
Dann war er mit einem Male da. In der Tür stand er, im Frack mit weißer Binde, sah sich um, suchte sie ... ja ... suchte sie ...
Sie las auf seinem Gesicht noch die Erregung der Bühne. Dann ein ganz leichtes, fast unmerkliches Kopfneigen zu ihr hinüber, ein frohes Lächeln: ‚Da bist du ja ... ich bin so glücklich, daß du hier bist ...‘ und er trat zu Tante Marie, küßte ihr die Hand.
Tante Marie hielt Cercle. Sie saß am Kamin, als einzige Dame; die Herren standen um sie herum, plauderten,[S. 119] Deutsch und Französisch. Nun winkte sie mit dem Fächer: „Helene ...“
Wie schwer ihr die wenigen Schritte wurden. Als ob sie Blei an den Sohlen trüge; und sie hätte doch fliegen mögen.
„Mignonne, Herr Schwarz wollte dich begrüßen.“
Wortlos stand sie, knickste, unbewußt, was sie tat, fühlte seine Hand, empfand seinen Blick, wagte die Augen nicht zu erheben. Ihn nicht anzusehen. Denn sie fühlte: siehst du ihn an, jetzt an, so weiß er, daß du sein willenloses Geschöpf bist, für immer und ewig.
Da öffneten sich auch schon die Flügeltüren. Der Oberkellner kam majestätisch auf Tante Marie zu: „Madame, est servi.“ Ein fremder Herr verbeugte sich: „Gnädiges Fräulein, ich habe die Ehre ...“ Sie legte ihre Hand in seinen Arm. Einmal dachte sie, wie im Fluge: ‚Ein Glück, daß er dich nicht führt.‘ Dann: ‚Wärst du doch weit von hier, bei Tante Oschitz und Harro, oder in Rohlbeck ...‘ Dann wieder: ‚Wirst du ihn nachher noch sprechen?‘ ...
Erst als sie saßen, als Graf Werther ein paar Worte zu ihr gesprochen hatte, bemerkte sie, daß Alfred Schwarz ihr zur Rechten saß. Wieder schrak sie zusammen, wieder wagte sie nicht, aufzusehen, nicht, ihn anzusehen. Und sehnte sich doch mit aller Leidenschaft ihrer Seele nach einem Blick aus seinen Augen, nach einem Wort von seinen Lippen.
Dann fiel ihr mit einem Male ein, daß Vater wohl manchmal gesagt hatte: „Bist doch mein tapferes Mädel!“ Sie klammerte sich an das Wort. ‚Nein: nicht feige sein! Ankämpfen, ankämpfen! Um Gottes willen, was sollen denn diese fremden Menschen denken?‘
Es war ihr immer noch, als säße sie in einem großen Schleier. Nur undeutlich sah sie drüben die weiße Feder auf dem Turban, den Tante Marie trug, und den blitzenden Crachat auf der Brust des Herrn neben ihr. Nur undeutlich hörte sie, was man sprach. Aber nun zwang sie sich.[S. 120] ‚Bist doch mein tapferes Mädel!’ Nun kämpfte sie gegen sich an. Und langsam, ganz langsam sank der Schleier nieder. Der Wille kam ihr zurück. Sie nahm ein paar Bissen, sie trank hastig ein Glas Champagner. Sie konnte jetzt antworten. „Ja, ich bin noch nicht lange in Berlin.“ — „Jawohl, es gefällt mir ausgezeichnet.“ ... „Bei meiner Tante Oschitz.“ — „Ganz richtig, mein verstorbener Onkel war Vortragender Rat im Kultusministerium.“
Und dann hörte sie plötzlich auch seine Stimme neben sich. Leise flüsterte er: „Habe ich gut gesungen heut abend? Ich sang auch heut nur für ... nur für ein wunderschönes junges Mädchen, das rechts in der Fremdenloge saß. Ein wunderschönes Mädchen mit rostbraunem Haar, mit blauen, leuchtenden Augen ...“
Die ganze Tischrunde, meinte sie, müßte es gehört haben. Aber das schwirrte und schwirrte durcheinander.
„Darf ich denn diese wunderschönen blauen Augen jetzt nicht wiedersehen?“
Es zwang sie. Er zwang sie. Sie mußte sich ihm zuwenden. Dabei raffte sie noch einmal all ihren Willen, all ihre Kraft zusammen, rang um ein Lächeln, suchte nach einem abwehrenden leichten Scherz zur Antwort. Aber als sie ihn ansah, brachen Wille und Kraft zusammen.
Vielleicht fühlte er es. Vielleicht stieg das Mitleid in ihm empor. Er sprach lauter, so daß es die Nächsten hören mußten: „Es war ein recht gutes Ensemble. Fanden Sie nicht auch, gnädiges Fräulein? Das Orchester ist sogar vortrefflich. Man darf ja nicht die Ansprüche stellen, die einer großen Oper gegenüber berechtigt sind. Aber immerhin, es ist mehr als Mittelmaß. Dazu dies dankbare Publikum!“
Sie verstand seine Absicht, war ihm dankbar. Aber sie brachte nur mit Mühe ein „Es war sehr schön —“ über die Lippen. Ein Hauch war es nur, wohl ihm allein verständlich, und er mochte es deuten — in seinem Sinne. Er strahlte sie an. Und als ob sie nun seiner Stimmung Flügel verliehen hätte, riß er das Tischgespräch an sich.[S. 121] In sprühender Laune erzählte er vom russischen Hofe, gab kleine Theateranekdoten, Kulissenscherze zum besten; sprach dann wieder ernster: von Richard Wagner, den er in Zürich kennen gelernt hatte, von dem greisen Meyerbeer, dem er in Paris nähergetreten war, von Rubinstein, in dessen Petersburger Heim er Gast gewesen. Er sprach vortrefflich, pointenreich. Daß er — immer er im Mittelpunkt aller Wendungen stand, was verschlug’s? Vielleicht gab gerade das Persönliche seiner Unterhaltungsgabe besonderen Reiz.
Helene lauschte und lauschte. Manchmal senkte es sich wieder über sie gleich einem dichten Schleier, so daß sie nicht mehr die Worte, nur noch den Klang seiner Stimme wie im wohligen Traume hörte; dann kamen Momente, in denen sie mit einem heimlichen Jubel dachte: eigentlich spricht er nur zu dir, nur für dich allein. Und ein — zwei Male fühlte sie, wie, während er sprach, seine Hand unter der Tafel die ihre suchte. Dann schrak sie zusammen, rückte ab von ihm und konnte doch nicht wehren, daß er ihren Arm streifte, ganz leise, zärtlich, verstohlen.
Tante Marie hob die Tafel auf.
Im Salon nebenan wurde der Kaffee genommen. Und hier gewann Helene endlich die Selbstbeherrschung zurück. Sie stand, getrennt von ihm, in einem Kreise der jüngeren Herren, fand sich in dem leichten Plauderton zurecht. Es gab einige Anknüpfungspunkte. Der eine der Herren hatte in Sodelzig bei Onkel Grucker in Quartier gelegen, der andere kannte Fritz — „den sonderbaren Schwärmer, der ja unter die Demokraten gegangen sein soll“ — von der Universität her. Wilhelm kannten fast alle. „Warum ist Ihr Herr Bruder heut nicht hier?“ Graf Werther lachte: „Wilhelm Hackentin sitzt bei Ewest mit ein paar englischen Herren zusammen, die nach ungezählten Pfunden aussehen. Ich war vorhin auf einen Stipps drin und sah ihn zwischen wallenden grauen Bärten, ganz ehrwürdig vor lauter Wohlhabenheit.“
Plötzlich war Schwarz wieder neben ihr, und wie er vorhin das Gespräch der ganzen Tafel beherrscht hatte, so[S. 122] wußte er sie jetzt aus der Unterhaltung der anderen herauszureißen, sie für sich selber zu isolieren. Was er zuerst sagte, das durften, konnten sie alle noch hören. Nach ihren Studien fragte er. Ob sie sich zufrieden fühle bei der Kollegin Wippern? Wartete die Antwort nicht ab, sondern ergänzte selber: „Unsere treffliche Harriers-Wippern ist ja Ihres Lobes voll. Meine Lieblingsschülerin, sagt sie immer wieder. Aber eigentlich müßten Sie zur Viardot nach Baden-Baden. Das wäre die rechte Lehrerin für Sie.“
Dann, als sie für ein paar Augenblicke allein standen, flüsterte er hastig: „Entsetzlich — diese Geselligkeit. Dieser Zwang! Nicht zwei Worte kann man unbeobachtet mit jemand sprechen, dem man so viel zu sagen hätte, so unendlich viel ...“
Sie sah scheu, erschrocken, fast verständnislos zu ihm auf, senkte gleich wieder den Blick. Ihr war’s ja, als hätten sie den ganzen Abend über miteinander gesprochen, zueinander, nur zueinander und füreinander.
„... so unendlich viel zu sagen!“ wiederholte er heiß. „Es muß anders werden. Ah, jetzt nur einmal einen Spaziergang durch den Rackower Park, allein, ohne diese zudringlichen, neugierigen, fremden Gesichter. Allein ... wir beide ... wie schön müßte das sein!
... So sprechen Sie doch! Nur ein paar Worte, ich beschwöre Sie. Morgen — nicht wahr? — Morgen gegen ein Uhr gehen Sie zur Wippern ...“
Sie konnte ja nicht sprechen. Ihre Stimme war erstickt. Vor Angst, vor Scham, vor fassungsloser Scheu. Aber der Stolz war von ihr abgefallen, verweht, dahin. Sie neigte willenlos den Kopf.
„Ein Uhr ... Dank ...“ hörte sie noch. Und da kam Onkel Ernst angekugelt, quer durch den Salon: „Leneken, jetzt mußt du aber leider fort. Sonst kriegen wir’s mit Tante Oschitz zu tun, und ich bin kein Ritter Georg — das Drachentöten war nie meine Force.“
[S. 123]
Er nahm sie an der Hand, schielte unter seinem Einglas um die Ecke auf Graf Werther hin und auf Schwarz, die plötzlich in ein angeregtes Gespräch verwickelt schienen, führte Helene zur Tante. Sie knixte, küßte die Hand, bekam einen kleinen zärtlichen Klaps mit dem Fächer, grüßte noch flüchtig nach rechts und links, mußte von Onkel Ernst einen dicken Schmatz auf die Stirn in den Kauf nehmen: „Fameus hast du ausgesehen, Lene. Trotz deines simplen Fähnchens. Tante Marie müßte eigentlich mal mit dir zu Bonwitt fahren .... Nacht, Kind. Grüße den Drachen.“
Draußen stand Höhne mit dem diskret vertraulichen Domestikengesicht, das er armen Verwandten gegenüber immer hatte, geleitete sie, mit zwei Schritt Distanz, die Treppe hinunter zum Hotelwagen: „Untertänigst gute Nacht, gnädiges Fräulein.“
Und dann huschte sie durch den Vorgarten, der im ersten Schnee lag, unter den bereiften Bäumen hin, in fliegender Eile. Schon von weitem sah sie, daß die Lampe im Zimmer von Tante Marianne noch leuchtete. Ein schmaler Lichtkegel fiel aus dem Fenster im Erdgeschoß quer über den weißen Rasen.
Gleich, auf das erste leise Pochen, war Tante Marianne an der Tür. In ihr dickes Umschlagetuch ganz eingehüllt; das kleine, schmale Gesicht hob sich aus dem Schwarz wie ein Nonnenantlitz.
Es sah so ernst und so streng aus, daß Helene zusammenbebte, als ob sie sich einer Schuld bewußt wäre. Aber Tante Marianne hatte kein tadelndes Wort. Sie nickte nur, und es klang höchstens ein wenig spöttisch: „War es sehr schön, Helene? Nun ja, natürlich. Die Rackowschen sind ja die berühmten Amüseurs. Da steht das Licht. Gute Nacht, mein Kind.“
Nun war sie oben in ihrem Zimmerchen.
Als sie den Leuchter auf den Nachttisch stellte, fiel ihr erster Blick auf ein kleines, altes Buch, das bisher nie dort[S. 124] gelegen hatte. Ein Lesezeichen lag darin, in Kreuzesform geschnitten. Und als sie das Buch aufschlug, las sie:
‚... Wer die Welt erkieset ...‘
An jenem Abend, als Helene den Spruch des alten Tauler zum ersten Male las, hatte er sie schwer getroffen.
Nun lächelte sie darüber. Sie hatte ja gar nicht ‚die Welt erkieset‘. Nur einen einzigen, einen geliebten Mann hatte sie sich zu einem stillen, heimlichen Glück gewonnen. Sie hatte ja gar nicht Gott verlassen: der liebe Gott dort oben über den Wolken hatte ihr ja in seiner unergründlichen Güte diesen einzigen, den über alles geliebten Mann geschenkt!
Ihr Herz war so voll. Ihr Glück war so groß. Und daß es so heimlich und verschwiegen, das war zu allem Herrlichen noch eine besondere Gnade. An jedem Abend lag sie mit gefalteten Händen und träumte offenen Auges ein Dankesgebet. Nun wußte sie es: er hatte sie geliebt vom ersten Sehen an; er würde sie lieben bis zu seines Herzens letztem Schlag. Und sie — sie! Ach, was kam es auf sie an?! Wenn sie auf dem Altar, den sie sich errichtet, zu Asche verglühte, was verschlug’s!
Nein, nicht zu Asche verglühen. Immer aufs neue erglühen, leben und lieben! Jeden Augenblick festhalten, Hand in Hand mit dem Geliebten bitten, beten: verweile doch ... du bist so schön! Und über den Augenblick hinaus Pläne schmieden, Hand in Hand mit dem Geliebten. Aug’ in Aug’ mit ihm goldene Pläne, Zukunftsschlösser bauen, Stein auf Stein zu wunderbaren Wölbungen zusammentragen[S. 125] und zu festen Fundamenten. Die Zukunft — die Zukunft gehörte ja ihnen und ihrem Glück! Aber auch geduldig warten und ausharren wollte sie, sich biegen und beugen und arbeiten, studieren. Alles, alles, wie er es wünschte und wollte ...
Sie sahen sich täglich.
Die Liebe machte sie beide erfinderisch. Manchmal mußte sie über ihn lächeln: wie unerschöpflich sein Register an Auskunftsmitteln war. Manchmal scherzte sie, sprach zu ihm Goethes Wort aus der „Iphigenie“: „Mir schien List und Klugheit nicht den Mann zu schänden —“. Manchmal erschrak sie vor seinen Anschlägen und stimmte doch jubelnd bei. Heut mußte der gute Wilhelm herhalten, den Elefanten spielen; morgen sahen sie sich in einem Konzert, in der Oper; dann begegneten sie sich bei der Harriers-Wippern; ein großer Spaziergang durch die verwachsenen, verschneiten Wege des Tiergartens, vom Goldfischteich bis zu Kroll, von Kroll bis zum Hofjäger, kreuz und quer, einte sie heut; morgen mußte sie Besorgungen in der Stadt vorschützen, und er führte sie durch die vergessenen kleinen Straßen Alt-Berlins, wo sie sicher waren, keinem Bekannten zu begegnen. Oder sie trafen sich im Alten Museum, in irgendeinem Teil, wo es für sie nichts zu sehen gab: bei den Ägyptern oder vor den Münzkästen. Da standen sie dann vor irgendeiner Mumie oder den Diadochenmünzen, drückten sich die Hände, flüsterten, raunten, scherzten — und blickten sich in die Augen. Und wenn der Aufseher gerade vorüberging, machten sie ernste, wichtige Gesichter und wiesen mit ausgestrecktem Zeigefinger: „Außerordentlich interessant ... Erstaunlich, diese Alten!“
Wovon sie sprachen, worüber sie raunten und flüsterten? Über ihre Liebe, über ihr Glück. Wie das gekommen, wie das war, wie das bleiben sollte — in alle Ewigkeit. Nur über ihre Liebe, nur über ihr Glück. Oder doch fast nur. Denn er sprach auch bisweilen von seiner Tätigkeit, von seinen Erfolgen; auch wohl von den kleinen unberechenbaren Verdrießlichkeiten und Enttäuschungen, die keinem[S. 126] Schaffenden erspart bleiben. Aber sie brauchte ihn dann nur hell anzusehen, seine Hand zu drücken, und die Schatten verflogen. Selten, sehr selten sprach er von ihrer Kunst. Das tat manchmal ein wenig weh. Aber es genügte ja, daß er wußte, sie schritt fort. Und wie schritt sie fort! Sagte das nicht auch Frau Harriers-Wippern: „Vor ein paar Wochen zeigten Sie nur das starke Temperament, jetzt fühle ich die Seele in Ihrer Stimme.“ Das tat die Liebe — auch das tat die Liebe!
Ein paar Male mußte Alfred verreisen. Auf vier, fünf Tage, einmal auf eine ganze Woche. Nach Dresden, nach Köln, nach Hannover zu Gastspielen. Das waren trostlose Tage. Dann legte sich jedesmal die Stille der einsamen Insel mit Zentnerschwere auf Helene. Nicht als Frieden empfand sie die Ruhe, nur als Öde. Ihrem ganzen Leben fehlte der Inhalt; selbst die Kunst war keine Trösterin. Tante Mariannes leise, dünne Stimme tat ihr fast körperlich weh. Nichts interessierte sie. Was kümmerte es sie, wenn Tante Oschitz aus der „Kreuzzeitung“ vorlas, daß Preußen an der Halsstarrigkeit der liberalen Abgeordneten zugrunde gehen würde, daß der König, Bismarck und Roon auch gegen diese verstockten Demokraten die Heeresreorganisation durchsetzen müßten; daß die Russen sich mit den Polen in den Haaren lägen? Was kümmerte es sie, wenn der Tränen-Müller im dämmrigen Salon schöne Worte über die Weihe der kommenden Weihnacht sprach, während ein halbes Dutzend alter Damen, um ihn gruppiert, Missionsstrümpfe strickte.
Ja, wenn Harro noch der alte gewesen wäre, der junge, liebe, frische Kamerad. Aber um Harros Unbefangenheit war es geschehen. Anfangs hatte sie sich amüsiert, wie er ihr Ritterdienste leistete, daß er ein wenig verliebt in sie war, wie er das äußerte, mit verstohlenen Blicken, mit halben Worten. Nun war das anders. Er konnte sie schweigend eine Viertelstunde lang anstarren, fest zusammengepreßt die Lippen und düster die Augen. Manchmal war es zum Fürchten. Manchmal dachte sie: Er ahnt etwas von deinem[S. 127] heimlichen Glück, er ist eifersüchtig, er quält sich und will dich quälen. Dann war’s wieder, als wollte er gutmachen. Sie fand plötzlich auf ihrem Zimmer ein paar Rosen. Rosen zur Winterszeit! Daß der Junge nur nicht sein ganzes Taschengeld für sie verpulverte. Oder er faßte plötzlich nach ihrer Hand und bat: „Du übst wohl viel, aber uns singst du gar nichts mehr vor. Tu’s wieder, liebe Helene.“ Sie mußte den Kopf schütteln. Was sie jetzt hätte singen können, wie sie’s hätte singen mögen, das paßte nicht für die einsame Insel, auch nicht für Harro —
Schreckliche Tage, diese Tage, an denen Alfred fern war. Aber auch die Sehnsucht hatte ihre Süßigkeit. Und dann flogen ja die heimlichen Briefe herüber und hinüber, Poste restante-Briefe, die sie von der Hauptpost in der Spandauer Straße abholen mußte, jedesmal mit erneutem Herzklopfen. Ein kümmerlicher Ersatz freilich, solch ein Brief. Auch faßte Alfred sich immer so kurz. Kein Wunder zwar bei dieser aufreibenden Tätigkeit auf den Gastspielreisen, bei den langen Fahrten, den Proben, den vielen Verpflichtungen. Aber das Schreiben lag ihm wohl überhaupt nicht. Er berichtete nur, und Herz und Augen suchten in seinen Zeilen oft vergeblich nach den heißen Liebesworten.
Was tat’s! Was verschlug’s?! Ein paar Tage, und er war wieder da! Sie sah ihn wieder, sie flüsterten und raunten, sie lachten und jubelten und waren glücklich.
Dann setzte der Winter, der so lange gezögert hatte, mit voller Macht ein und erwies sich als ein arger Störenfried.
Den richtigen deutschen Winter, wie er nun mit einem Male da war, fürchtete Alfred. Über das bißchen Schnee und ein, zwei Grad Kälte war er fortgekommen; als aber die Eisblumen an den Fenstern blühten, fühlte er im Geist schon den Katarrh, begann zu schelten, daß man an der Spree gegen Witterungsungunst schlechter geschützt sei als an der Newa, und ging trotz Pelzkragen und Schal nur ungern über die Straße. Mit den heimlichen[S. 128] Wanderungen durch den Tiergarten oder durch das Gassengewirr vom Molkenmarkt zum Alexanderplatz war es vorbei. Das Landkind, das mit Vater bei achtzehn Grad Kälte im offenen Schlitten zu fahren gewohnt war, wollte das nicht recht begreifen. Aber da der geliebte Mann so empfindlich war, half’s ja nichts: sie mußte sich fügen.
Sie ratschlagten.
„Ich mache einfach bei deiner Tante Besuch“, meinte er. „Ich habe schon manchen Drachen gezähmt, um mit dem Rackower zu sprechen.“
„Tante Marianne ist kein Drachen. Aber —“
„Aber —“, fragte er heftig zurück. „Sollte ich ihr etwa deiner Meinung nach nicht vornehm genug sein?“
Es kränkte sie ein wenig. Ihr ‚Aber‘ konnte sie doch nicht recht begründen. „Ich hab’s nur so in den Fingerspitzen, Fred ... es tut nicht gut.“
„In den Fingerspitzen? Zeig’ doch mal her.“ Er lachte und küßte jeden einzelnen Finger einzeln auf die rosige Spitze. „In diesen allerliebsten Dingerchen hier können ja nur die allerschönsten Ideen hausen. Wenn in den Fingerspitzen überhaupt Ideen wohnen können.“
Er machte seinen Besuch, wurde sogar angenommen; brachte zur Einführung eine Empfehlung der Rackowschen Herrschaften, sprach sehr zierlich über die reizende Lage der einsamen Insel, bewunderte das alte Berliner Porzellan in der Mahagoniservante, spielte, ganz beiläufig, darauf an, daß er eigentlich die wundervolle Stimme von Fräulein von Hackentin entdeckt hätte — und wurde, ehe er es sich noch versah, in Gnaden entlassen. Oder richtiger: nur entlassen.
Helene war nicht anwesend gewesen. Als ihr aber Tante Oschitz von dem Besuch erzählte, setzte sie hinzu: „Dieser Herr Schwarz oder wie er heißt, paßt zu den Rackowschen. Er ist auch ein Fant!“
Das Blut jagte über Helenens Wangen. Gut, daß es zwischen den tiefen Mauern immer so dämmerig war. „Ein Fant! Tante Marianne, wie kann man so hart[S. 129] urteilen nach einmaligem Sehen!“ stieß sie heiß hervor. Empört war sie. Das war noch das mindeste, was sie der Tante sagen mußte.
Die alte Dame schwieg eine Weile. „Vielleicht hast du recht, Kind,“ meinte sie dann. „Wir sollen nicht allzu schnell urteilen. Ich erkenne auch an, daß dieser Herr dein Bestes gewollt hat. So magst du ihm wohl dankbar sein dürfen. Aber ungerecht war ich, glaube ich mindestens, doch nicht. Ich habe in den Gesichtern der Menschen lesen gelernt: in diesem hübschen glatten Gesicht sehe ich nichts als Oberflächlichkeit.“
„Daß du ihn einmal singen hörtest, Tante!“
„Ich bin wohl nicht musikalisch genug, um das würdigen zu können, Helene. Aber gesetzt, er sänge wie Orpheus, so würde mich das nicht beeinflussen. Kunst ist ein Kräutlein nicht für alle Leutlein, sagt ein altes Sprichwort. Bei seiner Kunst müßte ich immer an das Theater denken, und ich liebe diese Welt des Scheins und des Trugs nicht. Du weißt es.“
Sie sprach das alles mit ihrer ruhigen, leisen, sanften Stimme. Daß diese Stimme doch so wehe tun konnte!
„Herr Pastor Müller geht aber auch ins Theater.“
„Das mag wohl sein, und er wird wissen, wie er es mit sich und Gott abmacht. Du mußt mich nicht falsch verstehen, Helene: ich richte nicht. Ich spreche nur ein subjektives Empfinden aus. Und nun ist’s wohl genug von diesem Herrn Schwarz —“
„Deine Frau Tante ist doch ein Drachen,“ sagte Alfred, als sie sich am Tage darauf trafen. „Sie hat mich kaum eines Wortes gewürdigt. Ja und Nein war ihre Rede, und es fehlte nur das Amen. Das wird wohl gefolgt sein, mit drei Kreuzen, als sich die Tür hinter mir geschlossen hatte.“
Es klang sehr verletzt, und sie fand nicht den Mut, ihm ein Wort zugunsten von Tante Oschitz zu sagen.
„Helene, Schönste, Liebste — könntest du nicht einmal zu mir kommen? Du kennst meine kleine Wohnung ja[S. 130] gar nicht, weißt nicht, wie ich hause. Ich denke es mir so reizend, dir eine Tasse Tee zu bereiten, bei mir, echt russisch, auf einem riesigen Samowar.“
Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf.
„Sei nicht so klein, Helene ...“
Wieder schüttelte sie den Kopf.
Er kannte das schon: sie gab eigentlich immer nach, aber bisweilen grub sich zwischen ihre Brauen ein Fältchen des Eigenwillens ein, dabei spannte sich ihr Nacken, sie schloß die Augen, als wollte sie ihn nicht ansehen — dann war jedes Wort vergeblich.
„Liebste Närrin! Ich hab übrigens noch einen anderen Vorschlag. Eine Entdeckung hab ich neulich gemacht —“
Seitdem trafen sie sich meist in einer winzig kleinen Konditorei in der Bendlerstraße. Nur ein Katzensprung war’s von der einsamen Insel, und doch waren sie hier sicher vor jeder Entdeckung. Denn die Konditorei war jetzt, im Winter, nur während der Mittagsstunden einigermaßen besucht, von den Eisläufern, die sich hier bei einem Glase Punsch ein wenig aufwärmen wollten.
Einen schmalen Verkaufsraum gab’s dort und dahinter ein einziges Zimmerchen mit vier Tischchen. Ein verschossener brauner Plüschvorhang trennte beide Räume. Vorn saß hinter dem Ladentisch ein verrunzeltes Fräuleinchen, immer tief über einen Leihbibliotheksband gebeugt. „Versteinert, wie ihre Kuchen,“ meinte Alfred. Im Gastzimmer waren sie stets allein. Es kam wohl vor, daß die dünne Türklingel ging und Helene aufschrecken ließ. Aber es war dann immer nur irgendein Dienstbote, der etwas holte: ein Dutzend Pfannkuchen, ein paar Spritzkuchen, ein paar Windbeutel.
Manchmal gab’s Anlaß zu einem Scherz. „Hörst du, Helene, Baisers! Baisers! Komm — komm, kleine süße Konditorin ...“
Zuerst hatten sie sich gegenüber gesessen an einem runden Tische mit fleckiger Marmorplatte. Aber es gab da an[S. 131] der Wand ein uraltes Sofa. Zu dem hatte er sie in einer Dämmerungsstunde geführt.
Ach, diese glückseligen Dämmerungsstunden, in denen sie sich am ehesten fortstehlen konnte. Tante las dann, und Harro saß über seinen dreimal gesegneten Schulaufgaben.
Fräulein Minna — sie wußten schon, daß das Kuchenfräulein Minna hieß — kam jedesmal hereingetrippelt, wollte auf einen Stuhl steigen, um die eine Gasflamme anzuzünden.
„Aber Fräulein Minna, Sie Verschwenderin! Es ist ja noch ganz hell!“ rief Fred empört. Und sie trippelte wieder fort, mit einem verständnisvollen Lächeln, trippelte zu ihrem Leihbibliotheksbande, in dem gewiß immer unendlich viel Liebe vorkam.
Der ganze Raum war erfüllt von einem süßen Duft. Zuerst hatte der Helene angewidert. Nun wußte sie nichts mehr davon. So wenig wie davon, ob das Stückchen Kuchen, das sie pflichtschuldigst zerkrümelte, altbacken war oder nicht.
O diese Dämmerungsstunden im Schutze des alten, lieben braunen Plüschvorhangs, auf dem tiefeingesessenen Sofa, wo sie zuerst allein gesessen hatte — und nun mit ihm saß. Eng aneinandergeschmiegt, plaudernd, raunend, flüsternd, Hand in Hand, wo sie träumten, sich Zukunftsschlösser bauten ...
Eifrig bauten sie jetzt Zukunftsschlösser. Er wußte, daß sie ein armes Mädchen war, arm wie eine märkische Kirchenmaus. Nichts brachte sie ihm als ihre Liebe, ihre große Liebe. Aber dafür hatten ja beide ihre Kunst. Ein Jahr noch, und sie möchte hinaustreten können auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Ihre neue Welt! Ihr stand es nun fest, auch sie ging zur Bühne. Der Widerstand der Eltern würde schon zu besiegen sein. Daran zweifelten beide nicht. Zweifel? Es gab für sie überhaupt keine Zweifel: hell, sonnig lag die Zukunft vor ihnen.
[S. 132]
Ein Jahr noch! Was war ein Jahr?! Wo jeder Tag, von einem Sehen zum andern, für Helene verrauschte wie ein Augenblick.
In der kleinen Konditorei feierten sie auch ihr Weihnachten miteinander.
Helene hatte nach Rohlbeck kommen sollen. Aber als Wilhelm sich wenige Tage vor dem Fest einfand, um alles zu verabreden, hatte sie ein Tuch um den Hals und klagte. Nein, bei dieser eisigen Kälte durfte sie ihre Stimme der Gefahr nicht aussetzen. Es ging wirklich nicht, Wilhelm sah das selber ein, auch Tante Oschitz riet ab. Schade ... die Eltern werden’s schmerzlich empfinden. Jawohl ... aber auch sie werden’s einsehen. Und Geld hätte es auch gekostet ... alles kostete so viel Geld, und Vater hatte erst vor kurzem geschrieben, mit den Kartoffelpreisen sei’s jammervoll, „das heißt, liebe Lene, du brauchst dir darüber keine Kopfschmerzen zu machen“.
Als Bruder Wilhelm gegangen war, huschte Helene treppauf in ihr Zimmer, lachte wie ein Schulmädchen, das die französische Stunde geschwänzt hat, und kramte ganz unten aus dem Kommodenkasten die kleine Perlenstickerei heraus, an der sie so glückselig heimlich arbeitete, bei jeder Perle einen Wunsch für ihn hineinflechtend, ein ‚Sei glücklich! Behalt mich lieb!‘
Tante Marianne hatte eine große Weihnachten. Sie bescherte vielen armen Kindern, meist aus dem Osten Berlins, wo dem Pastor Müller jüngst von seiner Gemeinde ein eignes Kapellchen gebaut worden war.
Aber sie hatte auch Helene nicht vergessen. Unmittelbar neben Harros Aufbau stand ihr Gabentisch. Da lagen die Briefe und kleinen Geschenke aus Rohlbeck und von der Tante ein Pelzmuff und ein Buch mit Goldtitel und Goldschnitt: „Amaranth“ war’s, von Oskar von Redwitz. Daneben lag noch ein kleines Bändchen: „Neue Gedichte“ von Emanuel Geibel. Sie blätterte mit ungeduldiger Hand darin. Auf der ersten Seite stand in Harros steifer Handschrift: „Seiner lieben Kusine“ ... Als sie flüchtig aufsah ihm[S. 133] einen Dank zuzuwinken, sah sie, daß er seinen Aufbau noch gar nicht beachtet hatte, daß seine Augen nicht von ihr ließen —
Der gute dumme Junge! Wenn er wüßte, wenn er wüßte ...! Aber es tat ihr doch leid, daß sie so gar nicht an ihn gedacht hatte. An wen hatte sie denn überhaupt gedacht in all den letzten Wochen, als nur an den einen, den einen!
Tante Marianne stand inmitten der Kinder, die scheu und verlegen ihre wollenen Jacken und Strümpfe, ihre Pfefferkuchen, Äpfel und Nüsse beschauten. Für jedes hatte Tante Marianne ein gütiges Wort.
Jetzt war es an der Zeit —
Helene huschte hinüber, zu dem großen Weihnachtsbaum, dankte, küßte die Hand: „Ich gehe nur auf ein paar Minuten zu Frau Harriers-Wippern.“
‚Wie ich schon lügen kann,‘ fand sie selber und freute sich darüber. Lachen hätte sie mögen.
Tante Marianne war vollauf beschäftigt. „Nimm aber den Pelzkragen, Kind!“ sagte sie nur zerstreut und hatte schon wieder einen kleinen Blondkopf beim Wickel, band ihm zur Probe ein paar feste wollene Ohrenklappen über das Flachshaar.
Jetzt war es an der Zeit. Jede Minute war kostbar, jede Minute ein Weihnachtsgeschenk. Im Nu hatte sie den Mantel um, den Kapotthut auf, eilte die Treppe hinunter.
Da stand Harro im Flur. Gerade vor der Haustür, breitbeinig, mit seinem finstersten Gesicht.
„Du willst fort, Helene? Heut? Jetzt? Am Heiligen Abend?“
„Nur zu Frau Harriers-Wippern.“
Das Lügen war nicht so leicht wie vorhin. Der Junge hatte ein paar Augen, die dreinschauten, als wollten sie einen durchbohren.
„Sie hat mich zur Bescherung gebeten. Ich komme gleich zurück, lieber Harro.“
[S. 134]
„Ich bringe dich —“ Er griff schon nach dem Kleiderrahmen an der Wand.
„Nein, das gebe ich nicht zu. Du darfst jetzt nicht von Tante fort.“
„Wir kommen ja gleich zurück.“ Fast höhnisch klang’s, wie er das „gleich“ betonte.
„Unter keinen Umständen, Harro. Laß nur, ich bitt’ dich!“
Der Boden brannte ihr unter den Füßen. Wie nur den dummen, lieben, eifersüchtigen Jungen beruhigen, beseitigen?
„Ich danke dir auch vielmals für das schöne Buch, Harro. Geibels Gedichte hatt’ ich mir schon lange gewünscht. Wie gut du das getroffen hast.“
Er stand noch immer.
Da kam ihr ein toller Einfall.
Sie packte plötzlich den Kopf des Jungen mit beiden Händen und küßte ihn: „Dank, Harro!“ und noch einmal „Dank! Dank!“ Küßte ihn auf die zuckenden Lippen. Derb und herzlich. Und dann ließ sie ihn stehen, rannte zur Tür, rannte durch den Vorgarten, jagte die stille, menschenleere Straße entlang. Immer vor sich hin lachend. Ein Küßchen in Ehren ... da hatte sie einen Glücklichen gemacht, recht zum schönen Weihnachtsfeste. Ein Küßchen in Ehren ... weiß Gott in Ehren, denn solch Kuß zwischen Vetter und Kusine war ja nicht viel anders als zwischen Geschwistern ... aber was der Junge für Augen gemacht hatte!
Das Lachen noch auf den Lippen, die Wangen vom schnellen Lauf in der kalten Luft gerötet, so kam sie in die Konditorei, nickte dem alten Fräulein zu, hob den Plüschvorhang — und wäre fast in ein lautes Jubeln ausgebrochen. Denn da stand Fred, hatte eine richtige kleine Weihnachtspyramide vor und zündete die gelben Wachslichterchen an. Gerade nur zwei Spannen hoch war das Gestellchen, streckte seine acht gradlinigen grünen Arme[S. 135] steif von sich, vier größere unten, vier kleinere oben; auf der Spitze aber turnte ein goldenes Engelchen.
Sie flog auf den Geliebten zu, sie flog ihm an den Hals:
„Ach du ... du ... das hast du für mich ...?“
„Selbst auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Schloß gekauft und höchsteigenhändig hertransportiert. Gibt’s etwas Lieberes, Scheußlicheres als solch eine Berliner Pyramide?“
Und dann saßen sie nebeneinander auf dem Sofa, und erst mußte er die Augen zumachen, „aber fest, ganz fest“, und sie baute ihm unter der Pyramide den kleinen Tabaksbeutel auf, in dessen Perlenstickerei sie so unzählige gute Wünsche hineingearbeitet hatte. Und darauf hielt er ihr mit der Linken die Augen zu und kramte aus der Tasche heraus. Eine Brosche war’s mit gelben geschliffenen Topasen, zierlich in Goldfiligran gefaßt, ein rotes Juchtentäschchen für Visitenkarten, ein Fläschchen Violet de Parme. Und nun ging’s ans Sehen und Bewundern und Bedanken. Mit den kleinen Punschgläsern, die Fräulein Minna hereingebracht, stießen sie an; ein Schüsselchen mit süßem geriebenem Mohn stand daneben, dem Berliner Weihnachtsessen; davon steckte Helene ihm einen Löffel voll in den Mund und wollte sich totlachen, als er sich entsetzt schüttelte.
Mit einem Male klang ein Klavier, dünn und fein, aber ganz deutlich. Es mußte wohl oben, über der Konditorei, beschert werden: „Stille Nacht ... heilige Nacht ...“
Und da begann Helene mitzusingen. Ganz leise zuerst. Dann stimmte er ein, und nun sangen sie beide, laut und voll und jubelnd.
Sie merkten es gar nicht: der Plüschvorhang hob sich verstohlen, zwischen den braunen Falten schob sich das alte verrunzelte Gesicht von Fräulein Minna hindurch. Ganz still stand sie, andachtsvoll lauschend, mit verklärter Miene.
[S. 136]
Der Gesang verhallte. Sie sahen sich an mit leuchtenden Augen und wußten beide, daß sie noch nie, nie so schön gesungen hatten, nie schöner singen würden, als eben.
Langsam glitten die Falten des braunen Vorhangs wieder zusammen.
„War das schön! War das schön!“ hauchte Helene. Und er küßte ihr die Tränen aus den Augen.
Eine ganze Weile saßen sie still. Die winzigen gelben Wachslichterchen brannten herunter. Weihnachtsduft zog durch den Raum. Nun erlosch das letzte Licht —
Da stand Helene auf. „Ich muß fort“, sprach sie leise und gepreßt. Es wurde ihr so schwer, so schwer.
„Bleib doch noch!“ bat er. „Bleib doch —“
Aber sie schüttelte den Kopf, faßte noch einmal seine beiden Hände: „Dank ... Dank für diese Stunde!“ Noch einmal umarmte sie ihn.
Draußen an dem Kuchentisch mit den vielen Glasglocken und Flaschen stand Fräulein Minna. Sie knixte tief, als Helene vorüberkam: „Wie wunderschön haben die Herrschaften gesungen. Unser Domchor kann’s nicht schöner.“
Sie hörte es nicht. Es war wie ein großer Rückschlag auf all die Freude und Seligkeit in ihr, eine herzbeklemmende Angst: Harros Augen standen vor ihrer Seele. Diese hellen Knabenaugen, die sie wie entgeistert angeschaut hatten.
Und auf dem kurzen Weg nach Hause überschlich sie noch ein anderes Gefühl, zum erstenmal: die Scheu vor der Lüge. Bisher hatte die Heimlichkeit täglich neuen Reiz für sie gehabt, plötzlich, jäh, erschrak sie vor ihr. Weshalb jetzt, plötzlich — sie wußte es nicht. Vielleicht taten auch das die hellen Knabenaugen.
Die Straße entlang hastete sie, aber als sie in den Vorgarten kam, wurden ihre Schritte langsamer und langsamer. Noch nie war ihr der Mut gesunken, jetzt lähmte eine dumpfe Zaghaftigkeit ihr die Glieder. Und trotzdem[S. 137] wiederholte sie sich immer wieder: ‚es war doch so schön ... es war doch so schön‘ — und hätte weinen mögen.
Der große Tannenbaum war schon erloschen. Tante Oschitz saß ermüdet in einem Lehnstuhl am Ofen, fragte nur flüchtig: „War’s schön?“ Ganz seltsam klang das Helene. Sie nickte stumm. Dann sah sie verstohlen auf Harro. Der saß an seinem Gabentisch, den Kopf ganz tief über ein Buch gebeugt. Leseratte, die er war. Es wurde Helene leichter ums Herz. Vielleicht — vielleicht hatte sie sich doch getäuscht. Er machte einen so kindlichen Eindruck, wie er dasaß, die Hände an den Schläfen, die Finger in das dichte blonde Haar gewühlt, versunken in sein Geschenkbuch. Nicht einmal aufgeblickt hatte er bei ihrem Kommen.
Dann meldete auch schon der alte Diener, daß angerichtet wäre. Tante Marianne stand auf: „Kommt Kinder!“ Wie Harro nun den Kopf hob, da sah Helene die flammende Röte auf seiner Stirn, auf seinen Wangen und empfand, daß er ihren Blicken auswich. Und als er dann am zierlich gedeckten kleinen Tisch das Gebet sprechen sollte, wie alle Tage, da kamen die gewohnten Worte eigen zerstückt von seinen Lippen. Er sprach wie ein Träumender. So daß die Mutter sagte: „Aber Harro! Was hast du denn? Es ist ja wirklich, als ob du unseren Herrn Jesu über deinem neuen Band Grube vergessen könntest. Schäme dich!“
Er schrak zusammen. Aber es war wie ein Trotz in ihm. Kein Wort der Entschuldigung sprach er, setzte sich, steckte sich mit seinen raschen knabenhaften Bewegungen die Serviette zurecht; immer ohne aufzusehen. Und die Bierkarpfen, von denen er gestern im voraus geschwärmt, rührte er kaum an.
Recht schweigsam verlief das kleine Mahl. Eigentlich sprach nur Tante: von dem Jubel der Kinder vorhin, von der Freude des Schenkens, von der Weihe dieses Abends. Nur mit halber Aufmerksamkeit folgte Helene. Ihre Gedanken wanderten. Aber einmal schrak sie auf, wie aus einem Traum. Tante Marianne erzählte, daß man im Palais, als sie noch Hofdame gewesen, neben den Tannenbäumen[S. 138] stets auch eine der alten Berliner Weihnachtspyramiden gehabt hätte ... „Du hast sicher solch ein Ding noch nie gesehen, Helene, solch eine Pyramide mit den steifen, gerade abstehenden Armen ...“
Bald nach Tisch brachte der Diener die Leuchter hinein, stellte sie auf den Tisch an der Tür, die Porzellankästchen mit den Schwefelhölzern daneben und auf jeden Leuchter die Lichtputzschere. Wie an jedem Abend. „Der gnädigen Herrschaft wünsche ich gute Nacht“, sagte er leise, wie immer. Das war wie an jedem Abend das Zeichen zum Aufbruch. Tante Marianne glitt, langsam und geräuschlos, zu dem Tisch an der Tür hinüber, zündete umständlich die drei Kerzenstümpfe an. „Gute Nacht, Kinder.“ Dann küßte sie den Sohn, legte auf einen Augenblick ihre Rechte in die Helenes, die sich tief über die kühle Matronenhand neigte. Und wie an jedem Abend stiegen die beiden gemeinsam die Treppe hinauf.
Das war sonst oft, fast immer unter halblautem Lachen und Scherzen geschehen, und manchmal hatten sie, zumal in der ersten Zeit, noch ein paar Minuten auf der großen Truhe oben im Flur gesessen und geplaudert.
Heut ging Harro stumm neben Helene her. So stumm — das Herz wurde ihr schwer und schwerer. ‚Wenn ich nur erst in meinem Zimmer wäre,‘ dachte sie beklommen.
Nun war sie oben.
„Gute Nacht, Harro“, sagte sie rasch. „Schlaf wohl!“ und reichte ihm die Hand hin.
Da griff er, mit einem Ruck des Armes, zu, sah sie zum erstenmal heute abend an. Mit einem eigenen Blick, nicht mehr versteint, sondern forschend, vorwurfsvoll. Das Helle, Kindliche schien in den blauen Augen erloschen, ein dunkles, wissendes Leuchten war darin. Seine Hand bebte, wie sie so die ihre umfaßte. Um seine Lippen zuckte es. Plötzlich, ehe sie es hindern konnte, hatte er ihr die Hand geküßt. Sie fühlte eine schwere Träne auf dem Gelenk. Und dann lief er auch schon, wortlos, den Flur hinunter, seinem Zimmer zu.
[S. 139]
Zwischen Weihnacht und Neujahr war Alfred verreist. Er gastierte in Frankfurt am Main, und seine Abwesenheit dehnte sich bis Anfang Januar aus, länger, als er Helene gesagt hatte. Es war eine öde, trübe Zeit für sie, zumal auch Frau Harriers-Wippern Ferien hielt. Die Stunden schlichen dahin und die Tage, und Helene kam in ein Grübeln hinein, das ihrem Wesen sonst ganz fremd war. Wie auf Wolken war sie gewandelt in all den letzten Wochen, wie in einem Rausch. Nun dünkte sie alles um sie her so nüchtern, so leer, ihr Dasein so schal, als wäre ihm jeder Inhalt genommen.
Auch die einsame Insel drückte auf sie, die noch vertiefte Stille dieser Woche, die Tante Marianne so ganz als weihnachtlich empfand. An den Festtagen fuhr unweigerlich am frühen Vormittag die Mietkutsche vor. Tante Oschitz hätte jeden Zwang zum Besuch des Gottesdienstes verworfen, denn er entsprach so gar nicht ihren Anschauungen; aber sie sah es als selbstverständlich an, daß Helene und Harro sich ihr anschlossen. Eine Qual schon allein diese endlose Fahrt, den Vetter auf dem Rücksitz gegenüber! Das Kapellchen, dem die festliche Weihe fehlte; die Predigt, deren steten, sanften Druck auf die Tränendrüsen Helene instinktiv empfand; noch einmal die lange, lange Fahrt, während derer Tante mit Harro ein immer vergebliches Examen über das, was der Tränen-Müller soeben verkündet, anstellte. Trotz auf der einen, Verstimmung auf der andern Seite. Verstimmung, die eigentlich den ganzen Tag über anhielt, um sich erst gegen Abend in eine schmerzliche Mutterzärtlichkeit aufzulösen.
Es war ja gut, daß Harro der Verstimmung wie der Zärtlichkeit auswich — und anderem. Er war tagsüber fast nie zu Hause, hatte tausend Ausreden. Oft genug fehlte er sogar bei den Mahlzeiten; bisweilen kam er erst spät in der Nacht zurück, heimlich, auf verbotenem Wege, mit falschen Schlüsseln. Vielleicht steckte er auch mit den[S. 140] Dienstboten im Bunde. Jedenfalls hörte Helene in ihren unruhigen Nächten oft noch nach Mitternacht seinen leisen Schritt auf dem Korridor. Und es gab ihr jedesmal einen Stich ins Herz: auch daran war sie schuld. Ganz genau wußte sie das.
Einmal, nachmittags, war Tante Marianne zu ihrem Bankier gefahren. Helene saß unten im Salon. Es dämmerte schon leicht, so daß sie ihr Buch aus der Hand legen mußte. Ein paar Male ging sie im Zimmer auf und nieder, setzte sich vor das Instrument, schlug ein paar Akkorde an. Wie eine halbe Ewigkeit erschienen ihr die Tage, in denen sie nicht geübt hatte. Sie dachte nach: wann hast du überhaupt zum letzten Male gesungen? Und da schoß ihr durch den Sinn: ‚Am heiligen Abend! Am heiligen Abend — mit ihm!‘ In jener Stunde, in der sie eigentlich zum letzten Male sich ganz, ganz glücklich gefühlt hatte —
So deutlich ... so zum Greifen deutlich stand plötzlich wieder sein Bild vor ihrer Seele.
Ob auch er wohl jetzt ihrer gedachte?
Tiefer sanken die Schatten herab. Fast dunkel war es im Zimmer.
Ganz leise und sacht fing sie an, gerade so, wie sie beide neulich — neulich angefangen hatten.
Sie wußte nicht, wie das Goethelied ihr ins Gedächtnis gekommen war. Nur das fühlte sie, daß es so ganz ihrer Stimmung entsprach. Und ihre Stimme hob sich, schwoll und schwoll —
[S. 141]
Einmal war es, als ginge eine Tür. Aber sie überhörte es. All ihre Seele war bei dem Gesang. Wie auf Flügeln trug es sie himmelan, als ob ihre Kunst das Herz läutere. Dies zuckende Herz —
Ein paar Atemzüge lang saß sie ganz still, die Hände noch auf den Tasten, mit geschlossenen Augen. Ihr war so wohl und war so weh —
Da hörte sie deutlich nebenan, im Arbeitszimmer des Herrn von Oschitz, ein verhaltenes Schluchzen. Ein einziger kurzer Ton nur war’s. Fast nie betrat jemand dies düstere, kleine Gemach des Verstorbenen. Und noch einmal klang’s auf, so daß sie zusammenschauerte. Ein Wehlaut, wie mit Trotz unterdrückt.
Fast im gleichen Moment aber sprach jemand nebenan. Des alten Dieners Stimme: „Die Lampe, junger Herr — Sie woll’n sich wohl die Augen ganz verderben.“ Und dann schlug wieder eine Tür heftig zu.
‚Armer Harro! Lieber armer Junge! Auch dir muß ich weh tun, du dummer lieber Junge —‘
Während des ganzen Abends, die halbe Nacht über wurde sie den Gedanken an ihn nicht los.
Diese unruhigen Nächte!
Da kamen die Gedanken, wanderten, erloschen und stiegen aufs neue empor. Und die Sehnsucht kam, krallte sich ein, wurde zum zehrenden Schmerz; wollte sich aufrichten, sich emporranken am Glückserinnern, wurde herabgezerrt vom zagenden Zweifel. Wie zerborsten, zertrümmert sah Helene bisweilen den stolzen, schönen Bau der Zukunft vor sich, den sie so froh, so siegesgewiß aufgerichtet hatten. Hindernisse auf Hindernisse, an die sie nie gedacht, türmten sich auf dem Wege, sperrten jede Aussicht.
Er schrieb so selten, so furchtbar selten für ihre Sehnsucht. Seine Briefe waren so kurz und karg. Gierig suchte sie zwischen den Zeilen, was nicht in ihnen stand.[S. 142] Immer nur von seinen Erfolgen, Triumphen schrieb er, von seiner Arbeit. Manchmal, wenn sie solch ein Billett mutlos in den Schoß sinken ließ, kam ihr ein häßlicher Gedanke: er spricht eigentlich auch immer nur von sich. Aber sie schüttelte solch Empfinden ab wie einen Schmutztropfen. Sie schämte sich.
Vor Jahren hatte sie in Rohlbeck einmal Goethes „Wahrheit und Dichtung“ gelesen. Jetzt ging sie an Harros Bücherschrank, suchte sich den Band heraus, ließ Frankfurts Straßen und Gassen wieder vor sich aufsteigen, ging wie im Traum mit dem Geliebten zum alten Römer und in das Haus am Großen Hirschgraben. Von dem schönen Gretchen las sie, von Goethes Sekundanerliebe, und dachte an Harro. Dachte dann jäh auch: ‚die schönen Frankfurterinnen!‘ Es war wie der Blitz einer Eifersucht. Er traf und schmerzte. Aber gleich bat sie Alfred die Sünde ab — und dann lachte sie leise vor sich hin. Wie man so töricht werden kann vor Sehnsucht.
Das Lachen erstarb, die Sehnsucht blieb.
Tante Oschitz kümmerte sich nicht groß um Helene. Das hatte sie nach einigen Anläufen aufgegeben. In ihr lag es nicht, um Seelen zu kämpfen. Sie selber hatte sich durchringen müssen. Das mochten andere auch tun, und es gelang jedem, so Gott es wollte.
Helene war ihr auch wesensfremd. Sie hatte sie gern, aber nicht mehr; es gab keine engeren Verbindungsglieder zwischen beiden, als die Verwandtschaft schlug. Und wenn sie doch einmal, selten, eine Brücke suchte, so schreckte ihre Herbheit Helene ab, vielleicht gerade weil diese herbe Art sich meist so eigen mit sanften Worten gab.
Trotz allem konnte Tante Marianne die Veränderung in Helenens Wesen nicht entgehen.
„Du siehst schlecht aus, Kind“, sagte sie eines Tages. „Ich glaube, du kommst zu wenig an die Luft.“
„Ich bin ganz wohl.“
Sie saßen sich in der tiefen Fensternische, unten im Salon, gegenüber; Tante Marianne mit einer ihrer Handarbeiten[S. 143] beschäftigt, die Harro früher bisweilen respektlos genug mit Penelopes Geweben verglichen hatte; Helene über ihrem Buch.
„Man täuscht sich in der Jugend leicht über das eigene Befinden. Wirklich: dein Aussehen straft deine Versicherung Lügen.“
„Ich bin ganz wohl“, wiederholte Helene hartnäckig.
Tante Oschitz sah schärfer zu und schüttelte den Kopf. „Ich will Harro sagen, daß ihr morgen einen tüchtigen Spaziergang macht.“
„Bitte — nein, Tante —“
Es kam so heftig heraus, daß die alte Dame stutzig wurde. „Habt ihr euch entzweit, du und Harro?“ fragte sie erstaunt. „Ihr wart doch so gute Freunde.“
„O ja ... o nein! Nur ... ich meine ... Harro hat so vieles andere vor jetzt. Er braucht auf mich keine Rücksichten zu nehmen.“
„Viel zu viel hat der Schlingel vor. Ich bin auch nicht blind.“ Tante Marianne lächelte — für ihren Jungen hatte sie im letzten Grunde ihres Herzens immer Entschuldigungen bereit. „Aber es bleibt dabei. Morgen treibe ich euch beide aus dem Hause.“
Es blieb wirklich dabei. Und es wurde ein qualvoller Spaziergang durch den verschneiten Tiergarten. Sie rasten im schnellsten Tempo ihren Gesundheitsmarsch ab. Immer dachte Helene: ‚das sind dieselben Wege, dieselben Wege, die er und ich gingen.‘ Immer dachte sie dazwischen: ‚der arme Junge, der arme Junge!‘
Die Querallee waren sie gegangen, zum Großen Stern, bogen nun wieder in das Weggewirr ein, das zur Rousseau-Insel zurückführte. Ohne ein Wort zu sprechen. Manchmal sah Helene scheu auf ihren Begleiter. Er hatte die Hände tief in die Manteltaschen gesteckt, zur Faust geballt; der schöngeformte Kopf war auf die Brust gesenkt; auf der Stirn unter der Pelzmütze lagen dichte Falten; die Lippen hatte er fest aufeinandergepreßt.
Plötzlich, mitten in der Einsamkeit, blieb er stehen.
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„Helene —“ sagte er jäh, und dann stockte er wieder. Ganz tief, ganz alt hatte seine Stimme geklungen.
Ein Beben überlief sie, eine unbestimmte Angst. Unwillkürlich war auch sie stehengeblieben und wäre doch am liebsten geflohen.
Mit einem Male riß er die Fäuste aus den Taschen, die Tränen stiegen ihm in die Augen. Er faßte nach ihren Händen. Und nun hatte seine Stimme wieder den rührenden Ton der Jugend: „Liebe Helene, kann ich dir nicht helfen?“
Sie empfand alles, was in seinem Herzen vorging. Durchlebte es mit ihm in einem Augenblick: seine ehrliche Jungenliebe, — sein Sehnen — der reine, schöne Wunsch, sich selber für sie zu opfern! Wußte, daß auch er sich einen Altar aufgebaut hatte, auf dem er sein eigenes Herz für sie in Rauch und Asche verbrennen wollte! Fühlte den heiligen Ernst, der in ihm glühte!
Die Angst glitt ab von ihr. Aber weinen hätte sie mögen. Ans Herz hätte sie ihn nehmen mögen wie einen Bruder. Nein — mehr war er, als ihr je ein Bruder gewesen war, je sein würde!
Lügen konnte sie nicht in diesen Augenblicken. Nicht lügen ... schrie es in ihr. Nicht einmal leugnen!
Aber sie konnte auch nicht anders, als den Kopf schütteln. Ernst und schwer und nun auch mit tränenden Augen.
„Ich hab dich gestern singen hören“, sprach er weiter. Ganz langsam kamen die Worte ihm von den Lippen. „Du sangst so wunderbar schön ... das Beethovensche Lied ... das Harfnerlied. So wunderbar schön, aber es war, als bräche dir das Herz darüber entzwei.“
Sie neigte den Kopf. „Unsagbar wohl hat es mir doch getan“, sagte sie. Es waren ihre ersten Worte. Und wie sie sich selber sprechen hörte, kam ihr allmählich das Bewußtsein ihrer Überlegenheit wieder. Der Überlegenheit, die ihr bei fast gleichen Jahren ihr Geschlecht gab und ihr Erleben. Gerade nun empfand sie das: wie jung der liebe[S. 145] Harro da neben ihr war, und auch das andere: wie sie selber in diesen letzten Monaten gereift war.
Ihre Überlegenheit kam zurück, und damit ihre Sicherheit. Aber der innige Wunsch blieb, dies junge Herz zu schonen, ihm gut zu tun, wie sie nur konnte.
Sie drückte ihm die Hände. „Ich danke dir, lieber Harro. Ich weiß, wie gut du es meinst. Ich will dir immer eine treue Freundin bleiben.“
Er zuckte zusammen. „Helfen möchte ich dir!“
„Wir Menschen können einander wohl nur selten helfen.“
„Du sagst, du wolltest meine Freundin sein. Dann mußt du auch Vertrauen zu mir haben, Helene!“
Da war schon wieder der Trotz in seiner Stimme, der rechte Jungenstrotz. Und das tat ihr wohl.
Sie antwortete nicht gleich, sie begann auszuschreiten.
„Es gibt Dinge, Harro, die man auch dem besten, liebsten Freunde nicht mitteilen darf. Stimmungen gibt es und Kämpfe, die man nur selber durchringen und überwinden kann.“
Er nickte, rasch hintereinander, ein paar Male, als ob er gleich empfinde. Doch dann trotzte er wieder auf. „Das ist nicht die richtige Freundschaft!“
„Wir wollen’s der Zeit überlassen, Harro.“
Sie gingen schneller, und er merkte wohl, daß sie ihm auswich. Jetzt schwieg auch er. Biß wieder die Zähne aufeinander, stopfte beide Hände, zur Faust geballt, trotzend in die Manteltaschen, ließ den Kopf tief hängen, und unter der Pelzkappe zog sich das krause Faltengewirr über die Stirn. Einmal kam etwas wie ein bitterer Lachton zwischen den geschlossenen Lippen hervor.
‚Nun ist er doch wieder ganz der törichte Junge‘, dachte sie. ‚Gottlob! Töricht und dabei so lieb, so lieb!‘
Und da waren sie auch schon dicht an der Tiergartenstraße. Durch die Bäume schimmerte grau die einsame Insel mit dem roten Ziegeldach darüber.
‚Ein gutes Wort mußt du ihm doch noch sagen ...‘
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Die Hand streckte sie ihm hin. „Schlag ein, Harro! Also auf gute Freundschaft!“
Er sah auf. Ganz dicht standen seine Brauen aneinander. Er zögerte, rang mit sich. Die Fäuste kämpften in den Manteltaschen: sollen wir oder sollen wir nicht? Die Oberzähne nagten an der Lippe.
Plötzlich stieß er heraus: „Ja — du —!“ Machte kurz kehrte und rannte in den Tiergarten zurück. — —
Nun aber, nun war Alfred endlich in Berlin. Sie sah ihn wieder, hörte seine Stimme, hielt seine Hand in der ihren, saß neben ihm in der lieben, kleinen Konditorei auf dem alten Sofa und bat ihm im geheimen all ihr Zagen und Sorgen, all ihren Kleinmut ab. Nicht im geheimen nur. Ganz offen, ganz ehrlich: „Ich war so töricht, Fred ... ich habe mich so geängstigt ... so hoffnungslos war ich. Ach, Fred, du darfst mich nicht so lange allein lassen. Ich ertrage das nicht. Die Sehnsucht ist zu groß.“
„Ja, die Sehnsucht! Glaubst du denn, Helene, ich hätte nicht unter der Sehnsucht gelitten?“ Er legte den Arm um sie, zog sie an sich. „Aber ich weiß wohl, wir Männer kommen leichter darüber hinweg als ihr Frauen. Schon durch den Beruf. Was war das wieder für eine abscheuliche, anstrengende Sache, dieses ganze Gastspiel! Schon allein die Fahrt bei dieser Kälte. Man ist in Deutschland doch noch um ein Jahrzehnt zurück oder länger. Gerade daß immer alle fünf Stationen eine Fußflasche mit heißem Wasser ins Coupé geschoben wird, während es selbst in Rußland schon ordentlich geheizte Wagen gibt. Ridikül ist’s. Und der ungemütliche Aufenthalt im Frankfurter Hotel, und diese jammervollen Theaterverhältnisse in der lobesamen Freien Reichsstadt!“
„Warst du am Großen Hirschgraben?“
„Wo?“
„Am Großen Hirschgraben ... wo der junge Goethe gewohnt hat.“
Er lachte. „Ach, du liebe, liebe Närrin. Was ist mir der junge Goethe! Hat der am Großen Hirschgraben gewohnt?[S. 147] Ich weiß nicht einmal, wo der liegt. Aber den Tannhäuser hab ich gesungen: das war wenigstens ein Erfolg, der wohltun konnte.“ Und er erzählte von der Aufführung — lang und breit —
Sie wußte selbst nicht, warum es ihr weh tat, daß er vom jungen Goethe nichts wußte, nichts wissen wollte. Es war ja auch ungerecht, daß sie’s mit einer leisen Bitterkeit empfand, sie gestand es sich ein. Und ungerechter noch, daß sie nicht mit der gewohnten Aufmerksamkeit zuhören konnte. Aber sie mußte sich geradezu anstrengen, ihm zu folgen.
Nicht einmal fragte er: wie ist es dir denn ergangen in diesen langen, langen Tagen? Freilich, ein Mann hatte eben seinen Beruf, und es war wohl in der Ordnung, daß er ganz in ihm aufging. Aber weh tat es doch. Nun — auch sie würde ja einmal ihren Beruf haben. —
Und wonnig, beseligend war es doch schon, ihn wieder zu haben. Seine Nähe zu fühlen, seine Hand zu halten. Was wollte sie denn mehr: er liebte sie — er liebte sie! Er sah ihr in die Augen, tief, tief, er suchte ihre Lippen —
Was wollte sie mehr? Was wollte sie mehr! Nichts — nichts — nichts!
Dann zog er ihr kleines Weihnachtsgeschenk heraus: „Das ist mein treuer Begleiter gewesen“, sagte er.
Nun hatte sie ihm längst die Kunst abgelernt, zwischen spitzen Fingern eine Zigarette zu drehen. Er lachte jedesmal, wenn sie ihm die hinhielt, daß er sie anfeuchte. „Nein, daß mußt du tun — schmeckt besser so!“ Und sie lachte wieder, ließ die Zunge vorsichtig über den Papierrand gehen. „Jetzt rauche auch du ein paar Züge!“ Das konnte sie nicht, das lernte sie nicht. Versuchte es, ihm zuliebe, und erstickte fast. „Kleine Deutsche — du!“ spöttelte er. „Da waren meine russischen Freundinnen erfahrener.“ Sie zog ein Gesichtchen. „Aber Lene! Tempi passati! Du bist doch nicht eifersüchtig?“ — „Rasend eifersüchtig könnte ich sein.“ — „Ach geh! Das ist ja immer eine Dummheit.“
[S. 148]
Ein paar Augenblicke sah sie wortlos vor sich hin. Dann schlang sie jäh die Arme um seinen Hals und küßte, küßte ihn.
Fast täglich sahen sie sich nun. Aber meist nur wie im Fluge, auf karge Minuten. Seine Zeit war sehr knapp, er studierte ein paar neue Rollen, hatte mancherlei gesellige Verpflichtungen. Auch ging er nicht mehr so gern wie ehedem in die kleine Konditorei; er behauptete, das gute Kuchenfräulein fiele ihm auf die Nerven und der süße Dunst in dem winzigen Lokal wäre schier unerträglich jetzt im Winter, wo nie gelüftet würde.
„Warum kommst du nicht endlich einmal zu mir? Ich habe dich so oft gebeten. Nachgerade — weißt du, Helene — empfinde ich es fast wie einen Mangel an Vertrauen.“
Ein paar Male sagte er das. Aber sie antwortete nie. Immer straffte sich dann ihr Nacken, und sie bog den Kopf zurück mit dem ablehnenden, abwehrenden, eigensinnigen Ausdruck, den er schon kannte.
Einmal hatten sie sich im Vorzimmer von Frau Harriers-Wippern verabredet. Er mußte ein wenig warten, die Unterrichtsstunde schien sich auszudehnen. Als Helene herauskam, sah er, daß sie geweint hatte. „Nun?“ fragte er. „Was hast du denn?“
Erst wollte sie nicht recht mit der Sprache heraus. Endlich gestand sie, daß Frau Harriers mit ihr nicht mehr so zufrieden wäre wie früher, ihr leise Vorwürfe gemacht hätte: sie sei nicht aufmerksam genug, übe auch wohl nicht mehr so fleißig wie ehedem. Es schien Helene sehr nahegegangen zu sein.
„Ach — bah!“ machte er. „Jeder Lehrer muß gelegentlich tadeln. Aber wenn sie schon recht hat: warum hat denn dein Eifer nachgelassen?“
Sie sah ihn an: mußte er sich denn nicht selber sagen, woran das lag? Daß sie nur an ihn, nur an ihn denken konnte.
[S. 149]
Eine Antwort wartete er nicht ab. „Übrigens, Helene, hab ich dir längst gesagt, daß die gute Harriers nicht mehr die rechte Lehrerin für dich ist.“ Er wurde eifriger. „Ich will dir einen Vorschlag machen: entschließe dich kurz und schnell und fahre zur Viardot!“
„Aber du weißt doch, daß das nicht geht.“
„Nicht geht? Warum denn nicht? Um des elenden Mammons willen? Ich hab genug verdient in den letzten Jahren. Ein Wort von dir, und wir sitzen morgen früh in der Bahn — wir beide, ganz allein, Helene —“
Sie waren aus dem Hause getreten, gingen langsam die Viktoriastraße hinunter, dem Tiergarten zu.
„Sei nicht so klein, Helene! Du bist doch Künstlerin. Du willst eines Künstlers Frau werden. Wir haben das Recht, freier, größer zu denken als andere Menschen. Wirf endlich einmal dein Philistertum hinter dich. Helene, Geliebte — wir beide, allein —“
Wieder straffte sich ihr Nacken. Aber dann ließ sie den Kopf sinken. Glühend heiß stieg es in ihr empor.
Sein leises Raunen klang so einschmeichelnd in ihr Ohr. „Wenn du mich wirklich lieb hast, Helene, wirst du ja sagen. Liebe muß Vertrauen haben, Liebe soll doch auch Opfer bringen können. Opfer? Ich will ja gar kein Opfer. Laß dir sagen, Helene: wir fahren nicht gleich nach Baden-Baden. Wir fahren erst nach Helgoland. Nach dem freien Stück englischen Bodens. In drei Tagen sind wir Mann und Frau. Helene, Geliebte, so kann es nicht weitergehen.“
Ihre Hände krampften sich in der kleinen Muff zusammen. ‚Mann und Frau!‘ dachte sie. ‚Großer guter Gott, wäre denn das möglich?‘ Ein unsagbares Glücksempfinden war in ihr und eine herzbeklemmende Angst. ‚Lieber Gott, hab Erbarmen —‘
Da sah sie drüben, auf der anderen Seite der Straße, Harro gehen. Er kam aus der Schule, hatte die schwarze Mappe mit seinen Büchern unter dem Arm, ging hart an den Vorgärten entlang und spähte mit finsterer Miene zu[S. 150] ihnen herüber. Sie sah es deutlich: seinen trotzigen Mund und das Faltengewirr auf der Stirn.
Mit einem Male rief sie laut: „Harro! Harro!“
Es war der Entschluß eines Augenblicks. Ein Entschluß, der über sie gekommen war, sie wußte selbst nicht wie. Ein Hilfeschrei vor sich selber vielleicht. Stehen blieb sie, als ob plötzlich Bleilasten an ihren Füßen hingen. Und kaum hatte sie gerufen, so brach es wie ein herzzerreißender Jammer über sie herein: ‚Du hast ja Alfred tödlich beleidigt. Das wird er dir nie verzeihen.‘
Der Vetter kam mit hastigen Schritten quer über die Straße.
Aber nun sah sie nicht mehr hin, nun sah sie nur Alfred. Sah erst das Schürzen seiner Lippen, dann das Auffunkeln in seinen Augen. Niederknien hätte sie mögen vor ihm: ‚Vergib mir, vergib! Bis ans Ende der Welt gehe ich mit dir ... allein mit dir ...‘
Plötzlich dachte sie: ‚jetzt schlägt er dich, schlägt dich nieder. Und auch das wäre Seligkeit ...‘
Und dann sah sie plötzlich, wie er sein Gesicht zwang. Ganz ruhig, ein wenig spöttisch sagte er: „Das ist ja wohl Ihr Herr Vetter, gnädiges Fräulein? Guten Tag, Herr von Oschitz.“
Weiter gingen sie, nun zu dritt. Nein, sie ging nicht, sie schleppte sich vorwärts. Ketten hingen ihr an den Gliedern, Ketten umschnürten ihre Seele. Kaum zu atmen vermochte sie.
Harro sprach kein Wort. Er hatte flüchtig seine Pelzkappe berührt, dann wieder beide Hände in die Manteltaschen gesteckt, ganz tief und zu Fäusten geballt. Rechts schritt er neben Helene her, den Kopf im Nacken.
Aber Alfred sprach. Völlig beherrscht, angeregt sogar, heiter, etwas überlegen. Daß es doch ein glücklicher Zufall gewesen wäre, wie man sich bei der Harriers getroffen; vom Winterwetter und der Eisbahn; von seiner Schulbankzeit und wie erleichtert er aufgeatmet hätte, als er den Ranzen hinter sich geworfen.
[S. 151]
Bis zur einsamen Insel ging er mit. „Hat mich sehr gefreut, Herr von Oschitz. Bitte, legen Sie mich der Frau Mama zu Füßen. — Addio, gnädiges Fräulein ...“ Und dann noch, ganz flüchtig scheinbar, nur ihr verständlich: „Ja so ... wir wurden vorher unterbrochen ... vielleicht überlegen Sie sich doch meinen Vorschlag. Die Viardot ist nun einmal die erste Lehrerin Europas. Au revoir!“
Die eiserne Gartentür flog lautschallend ins Schloß, von Harro geschleudert.
Nun noch der kleine Weg durch den Vorgarten.
Da tat Harro endlich den Mund auf, fragte: „Warum hast du mich gerufen?“
Sie hatte die Frage erwartet und erschrak doch vor ihr. Hatte sich die Antwort zurechtgelegt und brachte sie doch nur mühsam heraus: „Ich ... sah dich dort ... drüben ...“
„So? So! Es war also nur eine Begrüßung, quer über die Straße. Es klang auch ganz so ... so wie eine Begrüßung.“
Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie war so matt, so zerschlagen, so widerstandslos.
„Quäl’ mich nicht, Harro!“ bat sie.
Er war stehengeblieben, sah zu Boden, sah dann wieder sie an. Der Trotz wich aus seinem Gesicht, aber die Bitterkeit blieb in seiner Stimme: „Nein, ich will dich nicht quälen. Ich hab dich zu lieb dazu. Ich seh ja auch, dich ... dich quält anderes genug.“
„Es wird schon wieder besser werden. Es ist nur, weißt du — du hast doch gewiß auch oft Verdruß in den Stunden.“
Sie war eine so schlechte Lügnerin, schämte sich so, daß sie gerade vor Harro lügen mußte. Das Blut schoß ihr ins Gesicht.
„In den Stunden also —“
„Quäl’ mich nicht, Harro!“
Da ging er weiter. Die Haustür glitt ins Schloß, ganz sanft drückte Harro sie zu. Schweigend schritten sie nebeneinander die breiten Eichenstufen hinan. Erst vor ihrer[S. 152] Tür, oben im halbdunklen Korridor, blieb er noch einmal stehen. Tief schöpfte er Atem, es war, als ringe er mit sich. Dann sprach er dringend, heiß: „Du hast neulich nichts von mir wissen wollen, Helene. Aber ich muß es dir doch noch einmal sagen, wie gern ich dir helfen möchte. Wenn ... wenn er nur deiner wert ist ...“
Ganz leise hatte er das letzte geflüstert in seiner verhaltenen dunklen Jungensstimme. Verschämt fast und doch so innig. Sie hörte es mit geschlossenen Augen, gegen die Wand gelehnt.
Als sie die Augen öffnete, war Harro fort. Und sie ging in ihr Zimmer und weinte sich aus.
**
*
Am Nachmittag kam Bruder Wilhelm. Helene wurde heruntergerufen, ließ aber um Entschuldigung bitten: sie hätte schreckliche Kopfschmerzen. Die Wahrheit war’s und doch nicht die ganze Wahrheit, sondern eine Ausrede. Nur niemand sehen, niemand hören wollte sie.
Da kam aber Wilhelm selbst heraufgepoltert, sah in das dunkle Zimmer, holte vom Korridor die Lampe: „Aber Lene, was machst du? Tante Marianne klagte auch, du sähst miserabel aus. Laß doch mal zusehen. Wo fehlt’s denn?“
Die Augen taten ihr weh in dem plötzlichen grellen Licht. Sie hielt die Hand vor, auch deshalb: wozu brauchte er die Tränenspuren zu sehen! Ein Lächeln zwang sie heraus, indem sie ihm die Hand gab: „Kopfweh, Wilhelm, weiter nichts. Morgen ist alles wieder gut.“
Der große Optimist war leicht beruhigt, schob die Lampe beiseite, setzte sich: „Na ja, so leicht sind wir Hackentiner nicht unterzukriegen. Ja ... und ich möcht dir doch noch Prost Neujahr sagen. Eine ganze Hucke Grüße und Wünsche bring ich dir aus unserm lieben alten Rohlbeck mit.“
[S. 153]
„Ach ... Rohlbeck ... ja, unser altes liebes Rohlbeck ...“ Wie sie das sagte, hatte sie eine ganz unbestimmte Empfindung: dies Rohlbeck mußte weit, weit abliegen. Unermeßlich weit.
Wilhelm machte sich’s behaglich und begann zu erzählen. Natürlich zuerst von Martha und seinen Schlingels; mit dem üblichen kleinen Seufzer: ja, wer es so gut hätte und immer bei ihnen sein könnte. Von Vater und Mutter dann und von ganz Rohlbeck, mit dem alten Heckstein an der Spitze, der am ersten Feiertag prächtig gepredigt, aber am zweiten dafür wieder mal einen uralten Bock abgeschlachtet hätte — „na, freilich hatten wir am Abend bis Glock eins Whist gedroschen.“ Vom Weihnachtsfest erzählte Wilhelm: wie sie alle in der großen Stube um den Christbaum gestanden hätten. Vater hätte gemeint: „Sehr schön, sehr schön, das heißt, schöner wär’s, wenn die Lene hier wäre“, und Mutter hatte etwas wie Tränen in der Stimme gehabt. Mutter wurde recht alt.
Anfangs hörte Helene nur mit halbem Ohr zu. Aber allmählich, mehr und mehr, gewannen die lieben Gestalten, von denen Wilhelm sprach, doch Leben vor ihrer Seele. Gerade, weil die so matt und flügellahm war. Ihr war’s, als wehte der Duft der großen Kiefer, um die sie alle gestanden, noch heut zu ihr; der großen Kiefer, die Vater in jedem Jahr mit dem Großknecht selber im Walde aussuchen ging. Etwas wie leises, leises Heimweh überkam sie; jetzt, plötzlich, nachdem sie so lange fast gar nicht an die Heimat gedacht hatte.
Ganz anders klang es wie vorhin, als sie nun noch einmal sagte: „Ja ... ja, unser liebes altes Rohlbeck!“
Sie schwiegen ein Weilchen. Dann fragte er, wie sie über das Fest fortgekommen wäre. „Pläsierlich wird’s ja nicht gewesen sein, taxier ich. So mit Tante Oschitz ... ich kenn das. Du hättest doch lieber mitkommen sollen, Lene. Na, übrigens, Vater wird ja jedenfalls zum 3. Februar herkommen.“
„Vater — herkommen?“
[S. 154]
„Ihr lebt aber hier, scheint’s, wirklich auf der berühmten einsamen Insel. Lest ihr denn keine Zeitungen? Zum großen Veteranenfest! Kinder, seid ihr komisch. Zur Enthüllung des Denkmals des hochseligen Königs sollen doch möglichst all die alten Krieger von Achtzehnhundertdreizehn, aus den Freiheitskriegen, nach Berlin kommen. Hast du denn nicht einmal vom König gelesen, wie er das Programm abgeändert hat? Da hatten die Hofschranzen fein säuberlich geschrieben: ‚Alle Krüppel werden dem Veteranenzuge in Wagen aus dem königlichen Marstall folgen.‘ Dick streicht’s unser allergnädigster Herr aus und schreibt eigenhändig dafür hin: ‚Diejenigen, welche infolge ihrer bei der Landesverteidigung erhaltenen ehrenvollen Wunden gelähmt sind ...‘ und so weiter. Fein, nicht wahr? Und schön! Ja, also, ich denk’, Vater wird bestimmt kommen.“
Helene schwieg. In ihr arbeitete es: Vater würde kommen, und Vaters Jägeraugen waren scharf. Er las gewiß in ihrem Gesicht, was sie erlebt. Und wenn er dann fragte! War’s doch überhaupt wie ein Wunder, daß bisher alle blind gewesen waren — bis auf das eine Paar heller Jungensaugen! Wenn Vater kam und sie ansah und fragte — — —
„Gerade redselig bist du nicht, Lene.“
„Wilhelm, mein armer Kopf.“
„Ja so ...“ und er erzählte weiter. Von den Rackowern, die diesmal den Winter daheim bleiben wollten. Sie müßten sparen, hatte der dicke Ernst gesagt. „Na, Lene, die Rackowschen und sparen! Schaden könnt’s ja nicht, denn man munkelt, Ernst sitze bei Ephraim Hirsch feste in der Kreide. Aber die und sparen. Tante Marie hat zu Weihnachten einen Kaschmirschal geschenkt bekommen, der seine tausend Taler unter Brüdern kostet.“ Übrigens hätten sie sehr nach Helene gefragt.
„Wann bist du denn zurückgekommen?“ Sie sagte es eigentlich nur, um etwas zu sagen.
„Gestern nachmittag. Ich wär schon gestern zu dir gekommen, aber meine englischen Freunde hatten mich auf[S. 155] acht Uhr zu Ewest eingeladen. Da traf ich übrigens auch den Russen, wie du ihn ja wohl immer nanntest, Herrn Schwarz. In einer höchst fidelen Gesellschaft.“
Ganz weit lehnte sie sich zurück und deckte die Hand noch fester über die Augen.
„Theatervölkchen, weißt du. Wir haben noch ein paar Flaschen Cliquot zusammen getrunken. Meinen Engländern machte das einen Heidenspaß. Der eine, Mister Forster, hätte am liebsten angebändelt. Es war da eine bildschöne Person darunter, aus Frankfurt, die gefiel dem edlen Briten über die Maßen — doch die war in festen Händen. Aber was red’ ich da ... das ist ja nichts für Mädchenohren.“
Er schämte sich ein wenig und lachte verlegen. Sah nicht, wie die Schwester ganz hintenübersank, wie sie sich dann wieder aufrichtete, starr und steif. Hörte nicht, wie ihre Brust sich hob, ihr Atem schneller ging und immer schneller.
Er sah und hörte nichts. Er sprach schon wieder von Rohlbeck. Es ging so doch nicht mehr lange mit dem ewigen Hin- und Herkutschieren. Wenn endlich die Konzession für die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen hinaus wäre — und er hätte sie sicher in der Tasche, und das gäbe einen ordentlichen Batzen Geld —, dann müßten sie ganz nach Berlin ziehen. Schon der Jungens wegen, damit die in eine ordentliche Schule kämen.
„Na, Lene, und nun Gott befohlen. Soll ich die Lampe mit herausnehmen? Bist wohl lieber im Dunkeln? Ja, solche verdeubelten Kopfschmerzen. Kenn’ ich, hab ich auch manchmal; wenn auch von anderer Art. Adieu, Lene, gib mir die Hand. Donnerwetter, was hast du für eiskalte Hände. Soll ich dir ’n Doktor schicken? Gute Besserung liebe Lene —“
Nun war er endlich gegangen.
Helene hatte ihr Taschentuch herausgezerrt und biß auf das Leinen. Sonst hätte sie aufschreien müssen. Aufschreien, daß es durch das ganze Haus gellte.
[S. 156]
Ihm nachschreien: das ist gelogen! Wie kannst du es wagen, vor meinen Ohren Alfred so zu verleumden! Weißt du denn nicht, daß er mich liebt? Mich — nur mich!
Gelogen! Gelogen! Gelogen!
Immer wieder sprach sie es in Gedanken vor sich hin. Es tat ihr körperlich weh, es war, als ob das Wort jedesmal einer spitzen Nadel gleich ihr ins Gehirn stoße. Aber sie wiederholte, wiederholte: gelogen — gelogen — gelogen —
Eine Stunde wohl saß sie so, ohne sich zu rühren. Ohne einen einzigen anderen Gedanken fassen zu können. Nur, daß ihr wohl ein Wort durch den Sinn schoß, das er neulich gesprochen hatte, lachend: „Du bist doch nicht eifersüchtig?“ Aber es war nur wie eine unklare Erinnerung. Eifersüchtig?! Wie sollte sie eifersüchtig sein? Es war doch alles gelogen — gelogen — gelogen —
Einmal steckte Tante Oschitz den Kopf durch die Türspalt: „Immer noch Kopfschmerzen? Armes Kind! Mach dir doch einen ordentlichen Umschlag von Eau de Cologne.“
„Ja, liebe Tante.“
„Ich muß zu Madame Sandern. Willst du das Abendbrot auf dein Zimmer?“
„Wie du befiehlst, liebe Tante.“
O Gott, daß auch diese sanfte Stimme schmerzen konnte.
„Soll dir das Mädchen die Lampe bringen?“
„Bitte nein, liebe Tante.“
„Recht gute Besserung, Kind. Ich stelle dir unten das Akonit hin. Zehn Tropfen, hörst du.“
„Ja, liebe Tante.“
Langsam schloß sich die Tür wieder. Tante Marianne hatte so geräuschlose Sohlen. Aber heut hörte Helene jeden, jeden ihrer Schritte auf der Treppe, bis zur letzten Stufe, und jeder dieser sanften schleifenden Tritte schmerzte.
Wieder saß sie im tiefen Dunkel. Saß regungslos. Und dachte immer wieder: gelogen — gelogen — gelogen —
Und dachte nun doch zurück an den heutigen Vormittag.[S. 157] Gerade weil sie ja wußte, was der Bruder da leichthin geredet hatte, war gelogen. Selbstverständlich gelogen. Alfred, der ihr heute — heute — ins Ohr geflüstert hatte: „Mann und Frau“ ... „wir allein, ganz allein“: Alfred sollte gestern abend ...
... sollte überhaupt! Ach, diese schlechten, schlechten Menschen!
Lachen müßte man — wenn man nur könnte —
Aber sie selber: sie selber war auch schlecht gewesen. Denn schlecht war es, daß sie kein volles Vertrauen zu ihm fassen konnte. Wie kam das überhaupt? Wenn man jemand liebt, muß man volles Vertrauen haben. Unbedingtes, grenzenloses Vertrauen. Muß Opfer bringen können. Ja, hätte sie denn nicht für ihn sterben mögen ... sterben mit tausend Freuden!
Sie aber ... sie hatte nach Harro gerufen. Wie um Hilfe. Nach dem dummen Jungen, der seines Weges kam, schlendernd, mit der Mappe unter dem Arm. Die Fäuste in den Manteltaschen. In den Augen dieses argwöhnische Überwachen. Was fiel dem Jungen ein!
Mit Verachtung hätte Alfred sie strafen müssen. Aber er war der Großmütigere gewesen, der Überlegene, der Verzeihende.
Und immer — immer war sie klein gewesen, klein und kleinlich ...
Und nun gar eifersüchtig. Nein, nein! Das nicht! Es war ja alles erlogen — erlogen — erlogen —
Wieder saß sie eine Weile ganz still, regungslos.
Dann sprang sie plötzlich jäh auf. Sie tastete im Dunkeln nach ihrem Schrank, riß ihren Mantel heraus und den Pelzhut. Alles im Dunkeln, ohne zu wählen; warf den Mantel um. Mit hastenden, unsicheren Händen. Der Hut wollte und wollte nicht sitzen. Ihr Haar hatte sich wohl gelockert. Sie griff hinein, preßte es gewaltsam unter die Hutform, schürzte die Bänder unter dem Kinn.
Aber als sie die Türklinke in der Hand hatte, wandte sie sich noch einmal um. Nun brauchte sie doch Licht. Strich[S. 158] das Schwefelholz an, entzündete die Kerze, kniete vor der Kommode nieder. Da lag, ganz unten versteckt, die Brosche mit den Topasen. Die mußte sie doch anstecken — heute.
Das ging nur vor dem Spiegel. ‚Mein Gott, wie siehst du aus!‘ dachte sie erschrocken. Auf einen Augenblick kam ihr die Besinnung zurück. Soweit wenigstens, daß sie sich das Haar glatt strich. ‚Nein, häßlich darf er dich nicht finden.‘ So weit wenigstens, daß sie die Knöpfe des Mantels richtig schloß, den Hut gerade rückte.
Die Topasen schimmerten und glänzten, wie sie so bei dem matten Schein der Kerze die Brosche vor sich hin hielt. Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht. Darüber wird er sich gewiß freuen, daß du die angesteckt hast. Heute —
Nun war sie fertig, war ruhig. Wirklich, glaubte sie, ‚ich bin nun ganz ruhig‘. Es war ja nur der Entschluß, der so schwer war.
Sie löschte die Kerze. Sie huschte die Treppe herunter und über den Flur. Leise, vorsichtig, öffnete sie die Haustür. An Harros scharfe Ohren dachte sie dabei. Leise, vorsichtig drückte sie die Tür wieder zu. Es war doch ein Glücksfall, daß Tante Oschitz gerade heut abend aus war. Bei der alten Madame Sandern. Da saßen sie jetzt und strickten Missionsstrümpfe. Komisch eigentlich: um die Neger da hinten, da unten in Afrika sorgte sich Tante Oschitz.
Draußen war es schneidend kalt. Aber die Kälte tat Helene wohl. Sie atmete tief auf. Der Kopfschmerz war verschwunden. Wie fortgezaubert. Durch die Kälte vielleicht, durch den Entschluß vielleicht. Durch einen großen, guten Entschluß! Der das Herz so leicht macht und so froh.
Schnellen Schrittes ging sie die Tiergartenstraße entlang, dann durch die Lennéstraße. Es war sehr leer auf den Straßen bei der starken Kälte. Im Rauhreif standen links die Bäume des Tiergartens, winkten rechts die des Radziwillparks über die alte Stadtmauer. Sogar auf dem Pariser Platz war es still. Der Posten an der Brandenburger[S. 159] Torwache lief in schwerem Mantel hinter dem Gitter herum, um sich warm zu halten. ‚Das ist der Weg, den wir am ersten Tage in Berlin gegangen sind‘, dachte Helene. ‚Und nun gehe ich zu ihm — zu ihm!‘
Das kurze Stück Unter den Linden, die Wilhelmstraße. ‚Ja, zu ihm! Was er wohl für Augen machen wird? ‚Du, Helene?!‘ Ans Herz wird er mich nehmen, und ich will ihm abbitten, alle meine Zweifel, all meine häßlichen kleinen, kleinlichen Gedanken.‘
Jetzt kam die lange Behrenstraße. Ganz am Ende wohnte er, fast gegenüber dem Opernhause. Oft genug war sie ja vorübergegangen, hatte zu seinen Fenstern emporgesehen mit pochendem, sehnsüchtigem Herzen.
Plötzlich kam ihr der Gedanke: wenn er nun nicht zu Hause ist? Aber das war ja unmöglich. Er mußte zu Hause sein, heute: das wollte das Schicksal.
Sie war sehr schnell gegangen, zuletzt fast gelaufen.
Nun, plötzlich, als sie auf der anderen Straßenseite die erleuchteten Fenster des Ewestschen Restaurants sah, stockte ihr der Atem. Dort also hatte er gesessen, in lustiger Gesellschaft, gestern abend — in solcher Gesellschaft. Was hatte Wilhelm erzählt? Doch das war ja gelogen — gelogen — gelogen —
Sie wiederholte es sich immer wieder, immer eindringlicher. Aber das würgende Gefühl in der Brust wurde sie nicht los, die atembeklemmende Enge. Mühsam nur kam sie vorwärts, und jetzt erst fühlte sie die schneidende Kälte, den scharfen Wind, der die Straße entlang jagte, ihr gerade ins Gesicht. Sie schauerte zusammen. An der Rückfront des Palais mußte sie einen Augenblick stehen bleiben. Und da schoß ihr plötzlich der Gedanke durch den Sinn: ‚Hier wohnt der alte König, und Vater kommt als sein Gast. Vater!‘
‚Vater —‘
‚Was Vater wohl dazu sagen würde, wenn er dich hier fände, auf diesem Wege?!‘
[S. 160]
Sooft hatte er ihr den Nacken gesteift, hatte sie den Kopf zurückwerfen lassen, der Hackentinsche Stolz. Halb unbewußt beides: Familienstolz und Mädchenstolz. Heut hatte sie das beides weit hinter sich geworfen. Aber nun war’s doch, als hörte sie Vaters Stimme: „Mädel, wo hast du deinen Stolz?“
Sie biß die Zähne aufeinander, stand noch einen Moment mit geschlossenen Augen. ‚Mein Stolz? Ja, mein Stolz! Was ist mein Stolz gegen meine Liebe!‘ Und weiter ging sie, an den kümmerlichen Büschen des Opernplatzes entlang, jetzt schon seine Fenster suchend.
Die Fenster waren dunkel. Er war nicht daheim.
Aber er mußte ja zu Hause sein. Er hatte gewiß auch ein Zimmer nach dem Hofe hinaus.
Wieder stand sie ein paar Minuten, nach den Fenstern dort drüben hinüberspähend, als ob im nächsten Augenblick hinter den Rouleaus ein Lichtschein aufflammen müßte.
Dann wollte sie über die Straße. Sie mußte ja doch über die Straße. In dies Haus drüben, die zwei Treppen hinauf. Sie mußte ja doch ...
Aber es war wie eine Lähmung in ihr. Die Füße wollten sie nicht hinübertragen. Der Mädchenstolz, der Hackentinsche Stolz war mit einem Male wieder da: Helene Hackentin geht in später Abendstunde zu ihrem Geliebten!
Als ob ihr das jemand ins Ohr raunte. Wie häßlich das war, wie gemein das klang!
Dabei wiederholte sie schwer, langsam die Worte. Triumphierend wollte sie es sich selber zurufen: ‚Ja doch! Ja doch! Gerade das: zu ihrem Geliebten!‘ Aber es ging nicht, der häßliche Klang blieb und blieb.
Einmal sah sie sich wirr um. War es denn überhaupt schon so spät? Sie hatte keine Uhr befragt. Die Straße, der Platz waren menschenleer; doch die Häuser waren noch nicht geschlossen; das Opernhaus war noch erleuchtet. Aber das tat ja alles gar nichts, bedeutete ja gar nichts. Und wenn es zur Mitternachtsstunde gewesen wäre —
Ganz menschenleer war die Straße.
[S. 161]
Plötzlich hörte sie Stimmen. Und sie sah drüben, dicht an den Häusern entlang, ein Paar gehen. Einen Mann und eine Frau, Arm in Arm —
... Alfred ...
Starr aufgerichtet stand sie, starr, wie versteint. Ihre Augen spähten durch die Dunkelheit. Nun traten die beiden in den kümmerlichen Lichtkreis der nächsten Laterne. Nun klangen noch einmal ihre Stimmen herüber, ein Scherzwort, ein kurzes Auflachen. Jetzt waren sie drüben am Hause, stiegen die paar Stufen zur Tür hinauf. Die Tür knarrte, ging auf, schloß sich wieder hinter den beiden.
Starr aufgerichtet stand Helene, starr, wie versteint. Den Kopf weit vorgestreckt, die Augen auf die Tür gerichtet, hinter der die beiden verschwunden waren: Alfred ... und die Frau! Jetzt hatten sie wohl die zweite Treppe erreicht, jetzt standen sie vor seiner Wohnung, jetzt zog er den Schlüssel aus der Tasche.
Mit einem Male flammte es hinter den Rouleaus auf. In einem dämmrigen Schein, wie wenn jemand ein Schwefelholz entzündet. Ein leuchtender Punkt zuerst, dann das ganze Fenster füllend, daß ein breiter Lichtstreif durch die blaue Stoffgardine auf die Straße hinaus fiel. Und hinter dem blauen Vorhang silhouettenhaft, scharf umrissen, zwei Gestalten —
Noch immer stand Helene starr aufgerichtet, wie zu Stein erstarrt, mit weit vorgestrecktem Kopf, die schmerzenden Augen nach drüben gerichtet, die Hände gegen die keuchende Brust gepreßt. Noch immer konnte sie das Unfaßbare nicht begreifen. Aber es bohrte sich ihr wie mit tausend spitzen Nadeln ins Hirn, es schnürte ihr den Atem ein, es legte sich mit Zentnerlasten auf sie: das Unfaßbare, das Unbegreifbare, das Fürchterliche ... die Erkenntnis!
Dann kam endlich ein einzelner Ton des Jammers aus ihrer Brust, ein einziger Wehlaut nur. Die Starrheit wich. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Und dann rannte sie quer durch die kümmerlichen Büsche des öden Platzes,[S. 162] als ob sie dem Entsetzen entfliehen wollte, das noch mit ihr ging und das sie nie, nie verlassen konnte.
Sie jagte über den Platz, als ob sie gehetzt würde, als ob der Schimpf und die Schande hinter ihr drein wären.
Mit einem Male aber waren ihre Kräfte am Ende. Auf die ungeheure seelische Anspannung folgte jäh der Rückschlag. Sie taumelte, raffte sich noch einmal auf. Stand, sah sich wirr um, tat noch ein paar mühsame Schritte vorwärts —
Da fühlte sie eine sanfte, starke Hand an ihrem Arm. Hörte eine Stimme: „Liebe Helene ... ich bin’s ... ich, Harro! Komm ... erlaube, daß ich dich stütze ... liebe Helene ...“
Klar bewußt wurde ihr all das nicht. Aber in ihrer ohnmächtigen Hilflosigkeit empfand sie die hilfreiche Hand, empfand sie den zärtlichen, mitleidsvollen Ton der Stimme. Sie lehnte sich auf den Arm, ließ sich willenlos halten und stützen. Wie von fern her hörte sie wieder: „Nicht durch die vielen Menschen, Helene, nicht wahr? Die Oper ist eben aus. Drüben bekommen wir gewiß einen Wagen.“
Er führte sie, langsam, sorglich, wie man eine Kranke führt. Hob sie in die Droschke, setzte sich still neben sie, fragte nicht, hielt nur ihre Hand mit einem weichen, gleichmäßigen Druck.
Ganz zusammengesunken saß sie in ihrer Ecke. Manchmal ging ein Schauern über sie hin, sie zuckte zusammen wie in einem schrecklichen Traum, schluchzte weh auf. Manchmal faßte ihre freie Hand nach dem Halse, als suchte sie etwas, das sie einengte, ihr den Odem abschnürte.
Die Droschke trottete und trottete über das Pflaster. Es tat so weh, so weh ...
Einmal fuhr Helene auf, rief wie erwachend, fast feindselig: „Wohin bringst du mich!“
Da war wieder die liebe, zärtliche, mitleidsvolle Stimme: „Ängstige dich nicht, Helene ... nach Hause ...“ Ganz seltsam klang die Stimme, so ruhig, so zuversichtlich. War[S. 163] das wirklich Harros Stimme, war das Harros Hand, die die ihre hielt? Merkwürdig ... Harros Hand ... und tat so wohl ...
Wieder kauerte sie sich zusammen, ganz tief in ihre Ecke. Schreckte von neuem auf: „Wo kommst du denn her?“
„So laß doch, Helene. Ich kam ganz zufällig über den Opernplatz.“
Ob er wohl log? Gewiß log er. Das fühlte sie. Aber weiter konnte sie nicht denken. Nur daß er gut zu ihr war, wußte sie.
Weiter und weiter rasselte der Wagen, immer im gleichmäßigen langsamen Trotteltrab. Jeden Hufschlag empfand sie. Es klang fast wie: ‚Wie soll das nun werden? Wie ... soll ... das ... nun ... werden?‘ Aber auch dem konnte sie nicht nachdenken. Es war alles so verworren, so unklar. Nur ein großer, großer Schmerz war da.
Endlich hielt der Wagen.
„Mama ist nicht zu Hause. Johann auch nicht, nur Luise“, hörte sie wieder. „Ich bring dich hinauf. So ... komm ... gib mir deine Hand.“
Das war also doch Harro. Wie verständig der Harro war! Der Junge!
Und dann lag sie auf dem Sofa oben in ihrem Zimmer. Die Lampe brannte, aber Harro hatte den Schirm vorgezogen, das Licht blendete nicht. Es war schön warm; draußen war es doch eisig kalt gewesen. Und die alte Luise war da, brachte heißen Tee, zog ihr die Stiefel aus, rieb ihr die Füße. Und als sie gegangen, kam Harro noch einmal herein, setzte sich zu ihr, streichelte ihr die Hand.
Was war denn das?
Der große Junge hatte ja dicke Tränen in den Wimpern.
Sie sah ihn an, richtete sich mühsam hoch, sah ihn wieder an, mit erwachenden Augen. Sank zurück, schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte — schluchzte bitterlich.
Mit einem Male stand nun alles wieder vor ihrer Seele — durchlebte sie all ihr Unglück noch einmal, rang mit[S. 164] der Verzweiflung, bäumte sich auf, brach völlig zusammen. Nun hörte sie nicht mehr, was Harro ihr zusprach, fühlte nicht mehr den leisen, mitleidsvollen Druck seiner Hand. Fühlte nur eins: es ist aus und zu Ende ... dein Glück liegt in Trümmern und Scherben ...
Eine endlose, endlose Nacht.
Tante Marianne war gekommen, aufs heftigste erschrocken. „Wir hatten noch einen Spaziergang gemacht, Helene und ich“, hatte Harro erklärt. „Da ist sie plötzlich ohnmächtig geworden. Sie war ja schon in den letzten Tagen nicht wohl. Erinnere dich nur, Mama.“
Der Arzt wurde gerufen, Tante brachte Helene zu Bett. Willenlos ließ sie alles mit sich geschehen, sprach nicht, lag mit geschlossenen Augen. Der Medizinalrat machte ein bedenkliches Gesicht — „Ein Nervenfieber im Anzug“ — verschrieb ein Rezept, wollte am nächsten Morgen wiederkommen.
Nicht von Helenens Bett wich die Tante. Ein paar Male kam Harro auf den Fußspitzen, öffnete eine Türspalte, schlich wieder zurück. Die Medizin wurde gebracht. „Du mußt einnehmen, liebes Kind!“ Gehorsam richtete sich Helene auf. „Du bist so gut zu mir, liebe Tante —“ sank wieder zurück, lag mit geschlossenen Augen, endlose, endlose Stunden. Manchmal dachte Tante Marianne: es scheint doch, sie schläft. Aber dann sah sie wieder, wie die Hände auf der Bettdecke leise hin und her gingen, immer, als suchten sie nach etwas Verlorenem. Wie bei einer Fiebernden, und doch war der Puls ganz regelmäßig und die Stirn eher kühl als heiß.
Als der Morgen dämmerte, wurden die Hände ruhiger. Manchmal bewegte Helene die Lippen, als wollte sie etwas sagen oder als spräche sie mit sich selber. Tante Marianne sah das alles, sah auch, wie sich zwischen den Brauen ein paar Fältchen eingruben. Wie bei Harro, dachte sie; es muß doch etwas wie eine Familienähnlichkeit sein. Es schien nun wirklich, als schliefe Helene fest.[S. 165] Auch ihre Lippen waren jetzt ruhig, seltsam zusammengepreßt nur, ganz schmal und blutlos.
Durch die tiefen Fensternischen brach das Tageslicht. Ein erster schmaler Sonnenstrahl legte sich quer über die Bettdecke. Tante Marianne wollte aufstehen, den Vorhang zuziehen. Da schlug Helene die Augen auf. Sie haschte nach der Hand der Tante und sagte matt, aber ganz klar: „Daß ich dir soviel Mühe mache, Tante.“ Sie zog die Hand an ihre Lippen. „Ich werde euch allen das nie danken können. Ich bin wohl überhaupt eine recht undankbare Kreatur.“
Tante Marianne war sehr glücklich. Wer so sprach, konnte nicht ernstlich krank sein! In aufwallender Herzlichkeit beugte sie sich über die Nichte, küßte sie: „Du liebes böses Kind! Wir haben uns wirklich geängstigt. Was für Geschichten machst du nur!“
In Helenes Augen lag immer noch etwas Starres. „Ja ... was für Geschichten ...“ sagte sie langsam. Und dann gleich: „Aber ängstigen braucht ihr euch nicht. Es muß wie ein plötzlicher Anfall gewesen sein. Jetzt bin ich ganz wohl. Und du hast die ganze Nacht hier gewacht. Ich schäme mich, Tante ...“
„Aber, Helene! Und ganz wohl: das glaube nur nicht. Da müssen wir erst den Doktor hören.“
Helene saß aufrecht in ihrem Bett. Sie fühlte, daß ihr Haar sich gelöst hatte, griff nach der einen schweren Flechte, die ihr wie ein Goldband über der Brust hing. Ein flüchtiges Rot ging über ihre Wangen, während sie die hochsteckte. „Ganz wohl? Ganz gesund hätte ich sagen sollen“, sprach sie wieder in ihrem schweren fremden Tonfall.
„Aber Kind, das ist doch dasselbe —“
Sie antwortete nicht, ließ sich zurückfallen, schloß die Augen, sah wieder auf. Etwas unsicher und zaghaft. Griff von neuem nach der Hand der Tante, sagte langsam, als ob ihr doch jedes Wort schwer fiel: „Liebe Tante ...[S. 166] ich habe eine sehr große Bitte ... ich möchte so schnell als möglich nach Hause ... nach Rohlbeck ...“
Dabei blieb sie. Immer wiederholte sie es. Der Tante, dem Arzt, auch Wilhelm gegenüber, der gerufen worden war.
Sie schien auch wirklich ganz gesund. Der Medizinalrat machte zwar einige Einwendungen, sprach dann von einem Nervenchock, gab jedoch zu, daß sie durchaus reisefähig wäre. So gab man ihrem Wunsche schließlich nach. Tante Marianne war vielleicht ein wenig pikiert über die Hast, mit der Helene ihre kleinen Vorbereitungen traf; sie schüttelte den Kopf, konnte sich in den plötzlichen Entschluß nicht hineindenken; die offenbare Veränderung im Wesen der Nichte verwirrte, versöhnte sie aber auch einigermaßen. Eine fremde, stille Schweigsamkeit war in Helene, eine fast wortlose, aber innige Dankbarkeit sprach aus ihr.
Wilhelm wollte die Schwester am nächsten Tage wenigstens bis Frankfurt bringen. Am Abend kam er noch einmal, um sich als unabkömmlich zu entschuldigen. Nun sollte Harro für ihn einspringen. Ob er wohl die Klasse auf einen Tag ohne Schaden versäumen könnte? Er wurde rot, dann erklärte er sein „Selbstverständlich“. Tante Marianne ging hinauf, um Helene Mitteilung zu machen. Sie kniete vor ihrem Köfferchen, sah auf wie erschrocken, sagte dann hastig: „Aber ich kann doch wahrhaftig allein reisen!“ Als die Tante ihr zusprach: „zu unserer Beruhigung, Kind! Wenigstens, daß wir wissen, du bist gut in der Post untergekommen —“ senkte sie den Kopf. Es war also abgemacht.
In ganz früher Morgenstunde mußte sie aus dem Hause, denn der Zug ging schon um acht Uhr, und man gebrauchte bis zum Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof fast eine Stunde.
So elend und übernächtigt sah sie aus, als sie herunterkam, daß die Tante erschrak. Aber Helene schien ganz ruhig. Sie sagte jedem einzelnen Dienstboten Lebewohl; dann umarmte sie die Tante, dankte ihr noch einmal.
[S. 167]
„Liebes Kind, du kommst ja bald wieder. Nimm’s nicht so feierlich.“
„Wenn ich wirklich wiederkomme —“
„Aber, Helene!“
Sie stand einen Moment mit hängendem Kopf, wie tief in Gedanken versunken, griff dann nach der Hand der Tante, zog sie an die Lippen. Es war wie eine Abbitte. Und sie sagte auch wirklich nach einer kleinen Pause: „Verzeih mir, Tante Marianne. Ich hätte wohl manchmal anders sein können. Behalt mich ein wenig lieb ...“
Schweigsam saßen die beiden Reisenden nebeneinander.
Bisweilen sah Harro verstohlen auf Helene, bisweilen wollte er irgendeine kleine Unterhaltung anfangen. Immer wieder verstummte er. Aber er umgab sie mit schonendster Sorglichkeit.
Einmal, kurz vor Frankfurt, sprach Helene wie aus einer langen Gedankenkette heraus: „Ich muß dich noch um etwas bitten —“
„Gewiß, Helene! Sag’s nur!“
„Bitte, geh zu Frau Harriers-Wippern und entschuldige mich. Sag’, daß ich plötzlich hätte abreisen müssen. Ich würde ihr von Rohlbeck aus schreiben.“
„Ich gehe gleich morgen.“ Und dann sagte er fast dasselbe wie seine Mutter: „Helene, du kommst doch bald wieder!“
Da sah sie ihn an, eigentlich zum erstenmal heute, und sie schüttelte langsam den Kopf.
„Helene —“
Es war, als suchte er nach Worten. Über das junge Gesicht strömte wieder das Rot. Er mußte erst eine Scheu überwinden.
„Helene ... du hast doch deine Kunst!“ kam es dann plötzlich heraus. Es klang fast wie vorwurfsvoll und tröstend zugleich.
Sie hatte die Hände im Schoß geschlossen. Sie drückten sich noch fester ineinander. Ihr Blick wich wieder seinem Auge aus. Und dann sagte sie, auch wie in einer inneren[S. 168] Scheu, ganz leise: „Harro ... mir ist’s, als sei auch die zerbrochen ...“
Erst als sie schon am Wagen stand, in dem schmalen Posthof, unmittelbar vor dem Einsteigen, sprach sie noch einmal zu ihm. Ganz kurz nur: „Du bist gestern sehr gut zu mir gewesen, Harro. Ich danke dir vielmals. Und wenn du kannst, Harro ... denke nicht schlecht von mir.“
Er schluckte ein paar Male, als ob er mit Tränen kämpfte. Dabei hatte er die Hände wieder in den Manteltaschen, zu Fäusten geballt. Ruckweise nur erwiderte er: „Schlecht von dir! Ach ... Helene ... nie ... niemals. Ich ... du weißt es ... ich hab dich ja so lieb. Manchmal denk ich, du müßtest eigentlich meine Schwester sein ... manchmal ...“ Plötzlich riß er die Hände aus den Taschen und griff nach ihrer Hand. Das Blut kam und ging in seinem Gesicht. „Nimm’s dir doch nicht so zu Herzen, Helene! Das ist ja alles dummes Zeug ... das ...“
Der Postillion blies. Der Kondukteur drängte. Über Harro schien etwas wie innere Wut zu kommen, er mußte sich irgendwie Luft machen. Mit einem Ellbogenstoß schob er einen dicken Wollhändler zur Seite, schrie ihn an: „Was machen Sie sich hier mausig. Sehen Sie nicht, daß die Dame einsteigen will!“ — Dann hob er Helene in den Wagen, deckte ihr die Reisedecke über die Knie, drückte noch einmal ihre Hände. „Adieu, Helene ... auf Wiedersehen ...“ Da war seine Stimme schon wieder knabenhaft weich geworden. „Bleib gesund ...“
Und dann stand er, die Mütze in der Hand, neben dem hohen Wagen. Der Wind spielte mit seinem blonden Haar. „Adieu ... liebe, liebe Helene ...“
Trotz allem: Helene fühlte sich erleichtert, als sie allein war unter fremden Menschen.
In den endlosen Stunden der Nacht, während sie gelegen hatte, wach mit geschlossenen Augen, mit der Verzweiflung ringend, war, langsam und allmählich, ein neues Gefühl in ihr erwacht. Während der ganzen Fahrt heute war es gewachsen und gewachsen. Nun sie allein war[S. 169] unter den fremden Passagieren, sann und sann sie ihm nach. Es war ein Empfinden, das ihr unsagbare Schmerzen brachte und an das sie sich doch klammerte wie der Ertrinkende an die schmalste Bootsplanke. Es war der Vorwurf: wo hattest du deinen Stolz?!
Gestern abend — deutlich stand der Moment vor ihrer Seele — gestern abend, am Palais, war einer Warnung gleich in letzter Minute der Weckruf in ihr erklungen: was Vater wohl sagen würde? ‚Mädel, wo hast du deinen Stolz?‘
Gestern abend hatte die Leidenschaft sie darüber hinweggepeitscht. Nun klang er immer wieder auf, der Vorwurf: wo hattest du deinen Stolz?
Es war ja freilich nur wie eine schmale Bootsplanke —
Wie sie so saß und sann und grübelte, rann es ihr immer wieder siedend heiß durch die Adern. ‚Und wenn er heut käme und umfaßte dich und du hörtest seine Stimme: wo bliebe dein Stolz? Wie Schnee in der Sonne wäre er.‘ Aber wenn sie so dachte, dann bäumte sich jetzt ihr ganzes Inneres dagegen auf. Die Scham überflutete sie: ‚Nein! Nein! Und wenn er käme! Eine andere war ich gestern — eine andere bin ich heute! Ein Leben liegt zwischen gestern und heut.‘
Auch das fragte sie sich immer wieder: warum fliehst du vor ihm?
Plötzlich in der Nacht, aus der Verzweiflung geboren, war ihr der Entschluß gekommen, und sie hatte nach ihm gegriffen: auch wie der Ertrinkende nach der schmalen Bootsplanke. Nun war ihr Stolz wach geworden und schrie ihr zu: warum fliehst du vor ihm! Aber da war auch die Scheu vor dem Kampf und die übergroße Müdigkeit. Da war die Furcht vor den forschenden Blicken — auch vor Harros wissenden Augen. Da war die Sehnsucht nach Ruhe, nach der Enge und Stille des Landes, nach dem Frieden des Elternhauses.
In ewig gleichem Trabe zog die Post ihres Weges, zwischen den ewig gleichen Pappelreihen entlang, durch[S. 170] die ewig gleichen Schneeflächen, die sich rechts und links breiteten, schier endlos.
Gleichgültig saßen die drei anderen Fahrgäste in ihren Ecken. Fremde Leute — gottlob. Dann und wann blies der Postillion ein kurzes Lied, immer, wenn der Wagen durch ein Dorf ratterte. Ein paar Stimmen dann am Wege, ein Hundegekläff, ein Peitschenknall — und wieder die weite, weite Schneeebene.
Als sie hinausgefahren war aus der Heimat, hatten die Wiesen noch im Grün gestanden. Nun war es Winter geworden. Winter —
Die Gegend wurde bekannter; hier ging der Weg nach Sodelzig ab; dann klangen die Hufschläge scharf auf dem berühmten Pflaster von Stellberg. An der Apotheke fuhr die Post vorbei — hinter jenem Fenster dort hatte sie ihn zum ersten Male gesprochen.
Die drei Hügel kamen, die Mutter Hoffnung, Liebe, Glaube getauft hatte: vom ersten aus sollte man hoffend die Kirchturmspitze von Rohlbeck suchen; beim zweiten sich in der Liebe beglückt fühlen, die in der Heimat wartete; das dritte brachte die nahe Gewißheit des Wiedersehens. Glaube war für Mutter Gewißheit.
Aber je näher die Heimat kam, desto banger wurde Helene.
Warum war sie aus Berlin geflohen? Trug sie die Unruhe nicht in sich, mit sich, in den Frieden der Heimat hinein? Mußte sie nicht auch hier fragenden, forschenden Augen begegnen? Würde man nicht auch im Elternhause um Auskunft drängen?
Sie sah das nun alles ganz, ganz anders vor sich, als in der vergangenen Nacht, wo die schmerzliche Sehnsucht nach der Heimat sie ergriffen hatte. Sie hörte das Fragen, sie fühlte das Forschen der Ihren und wußte, daß keine Antwort sie befriedigen würde. Wem konnte, sollte sie sagen: ich bin geflohen — vor ihm!
Eine: eine war vielleicht im Elternhause, die sie ganz verstehen konnte. Vielleicht?
[S. 171]
Nun schimmerte schon der rote, hohe Schornstein der Dampfmühle über das Schneefeld. Und wie sie das sah, da fiel ihr noch ein rein Äußerliches auf die Seele. Sie sah im Geiste auch das ganz deutlich: die Jungen an der Chaussee, die Posttasche abzuholen, den Hauslehrer dabei —
Mit einem plötzlichen Entschluß sprang sie auf und pochte vorn an die kleine Wagenscheibe. Der Kondukteur sah sich um, öffnete, fragte. Sie wolle hier aussteigen. Jawohl — hier! Und das Gepäck? Das Gepäck sollte in Rohlbeck abgegeben werden, bei denen, die die Posttasche für das Dominium holten.
Die Chaise hielt. Der dicke Wollhändler wachte auf und machte brummend Platz, so wenig, als zum Aussteigen gerade unumgänglich nötig war. Der Kondukteur war abgestiegen, stand am Schlag: „Es ist aber tiefer Schnee —“
Aus ihrem kleinen Portemonnaie holte Helene das letzte Zehngroschenstück für ihn hervor.
Und dann bog sie in den Feldweg ein, der von der Dampfmühle nach dem Gutshof führte.
Es war wirklich tiefer Schnee und kein Fußweg ausgetreten. Anfangs hastete Helene, dann wurde ihr das Ausschreiten schwer und immer schwerer. Sie fühlte, daß ihr der Schweiß ausbrach vor körperlicher Anstrengung, und dabei schüttelte sie der Frost.
Schwerer und schwerer wurde der Weg — und schwerer und schwerer wurde ihr das Herz.
Welch ein Wiedersehen!
Nun war sie am Kreuzweg, dicht hinter dem Garten. Wie ein phantastischer Gedankenblitz fuhr ihr durch den Sinn: vor diesem Kreuzweg hatte sie sich als Kind immer gefürchtet; die alte Beate, die Kindermuhme, erzählte so gruselige Geschichten vom Kreuzweg zur Nachtzeit.
Und jetzt kannte sie den anderen Kreuzweg; den Kreuzweg des Lebens, der in die Nacht führte ...
Das Dach des Elternhauses leuchtete über die kahlen Baumgipfel.
[S. 172]
Da flog Helene, die letzten Kräfte anspannend, durch den Garten. Zum Seiteneingang hin, zu den Wirtschaftsräumen im Souterrain. Auch die Bettler pochten hier an — auch die Bettler.
Hochaufatmend stand sie unten im kalten, halbdunklen Flur. Die Tür zur Leuteküche war nicht ganz geschlossen, ein dichter, heißer Brodem kroch aus ihr hervor.
Hochaufatmend stand sie, vom schnellen Lauf erschöpft. Die Hände preßte sie gegen die Brust: ‚Lieber Gott, gib mir eine gnädige Aufnahme —‘
Mit einem Male ging ganz hinten im Flur die Tür zur Milchkammer.
Helene stürzte vorwärts, umklammerte die Schwägerin, legte den Kopf an ihre Brust, bat nur immer wieder: „Martha ... Martha ... hilf mir!“
Und Martha half in ihrer stillen, schlichten, resoluten Weise. Ohne viel Worte, ohne Fragen und Drängen, ohne forschende Augen.
„Wie sich das gut trifft“, sagte sie. „Dein Zimmer ist geheizt. Wir erwarteten nämlich Margaret Zieldorf. Komme nur —“ Und wie eine, die alles errät, fügte sie hinzu: „Den Eltern bring ich’s nachher bei, damit sie nicht erschrecken.“ Fragte auch gleich nach dem Gepäck, rief eine Magd. „Gut, daß die Jungens Arbeitsstunde haben.“ An alles dachte sie.
Oben brachte sie Helene zu Bett. „Nun ruh dich nur. Ich besorg dir gleich etwas Warmes. Still! Erst ruhen und eine warme Tasse Brühe.“ Zog die Decke fest um Helene, beugte sich herab, küßte sie auf beide Wangen.
Mit weit offenen Augen lag Helene. Nun erst fühlte sie die Abspannung nach der Fahrt, nach dem Gang durch den Schnee und die kalte Starrheit aller Glieder. Manchmal schüttelte der Körper zusammen vor Frost. Aber langsam, allmählich kam doch die wohlige Wärme. Der große, braune Kachelofen sprühte, ab und an gab’s ein heimliches Knastern in den Buchenscheiten. Dann kam Martha zurück, setzte sich aufs Bett: „Natürlich hatte die Köchin keine[S. 173] Brühe, aber ich hab dir schnell ein Warmbier gemacht. Hier — so — und nun trinkst du. Still! Nicht reden. Morgen ist auch noch ein Tag.“
„... die Eltern ...“
„Ja doch, laß mich nur sorgen. Vorläufig bist du mal krank. Nein ... ich will gar nichts wissen. Trink noch einmal. Übrigens, Vater liegt auch zu Bett.“
„Vater?“
„Du brauchst nicht zu erschrecken, er ist kerngesund. Aber er sollte doch nach Berlin reisen, zum Jubiläum der Befreiungsveteranen, und das paßt ihm nicht.“
Martha lachte ganz leise, streichelte Helenes Hand und erzählte weiter, wie man einem Kind erzählt, um es auf andere Gedanken zu bringen. „Nämlich, wie Papa die große Einladungskarte bekommt, stutzt er und sagt bloß: ‚Das heißt‘ ... wird ganz rot, steckt die Einladung ein und geht aus dem Zimmer. Den ganzen Tag gestern haben wir ihn kaum zu Gesicht bekommen, und gegen Abend wurde er ‚krank‘ — ‚das heißt‘, meinte er ‚nach Berlin kann ich nun nicht‘. Wir hatten wirklich etwas Sorge. Aber dann kam der Pastor, und da erfuhren wir’s: unser guter Papa ist nämlich gar nicht Rittmeister. Premierleutnant ist er, und die Einladung war an den Premierleutnant von Hackentin gerichtet, wie das wohl in den Listen steht. Die Leute haben ihn nur zum Rittmeister ernannt, und allmählich hat er’s selber geglaubt. Nun nimmt er’s gewaltig krumm, liegt im Bett, schimpft mit Diana und sagt, wenn einer von uns hereinkommt, immer wieder: ‚Das heißt, nach Berlin kriegt ihr mich nicht. Ich bin krank.‘ Aber das Essen schmeckt ihm, Gott sei Dank.“
„Der arme Papa —“
„Laß nur gut sein. Es ist doch mehr komisch als tragisch. Aber nun will ich mal nach meinen Rangen sehen.“
Sie war schon bis an die Tür, da rief Helene sie zurück. Mit leiser, ängstlicher Stimme. Wie ein Flehen klang’s.[S. 174] Und als sie noch einmal an das Bett trat, richtete Helene sich auf und klammerte sich fest an ihr: „Geh nicht fort ... ich muß mein Herz erleichtern ... ich muß dir alles erzählen ...“
Und so sagte sie’s.
Martha saß bei ihr, hatte ihre beiden Hände genommen, unterbrach nicht, fragte nicht. Und als Helene zu Ende kam, hastend bald, bald stockend, unter heißen Tränen, da küßte sie ihr die von den Wangen. Hielt die Bebende sanft umschlungen und sagte leise: „Es ist kein Menschenherz, dem nicht Kampf beschieden wurde. Auch du wirst darüber hinfortkommen, liebe Lene. Es ist gut, daß du nun heimgekehrt bist.“
„Ich war so leichtgläubig! Ich war so leichtsinnig!“
„Du hast an ihn geglaubt, denn du hast ihn geliebt. Schilt dich nicht, Helene. Deine Liebe entsühnt dich ... Und nun gebe dir der liebe Gott Ruhe für dein armes Herz. Hier im Elternhause!“
Als Helene am nächsten Morgen erwachte, staunte sie: wie hatte sie nur so fest und gut schlafen können!
Wie eine Fremde sah sie sich im Zimmer um. Das war also das enge Zimmerchen, aus dem sie hinausgeflüchtet war, vor drei Monaten erst, in das sie nun wieder zurückflüchtete.
Der große Kachelofen bullerte bereits; ganz leise mußte die Trine in der Frühe geheizt haben. Durch die blaugestärkten steifen Gardinen brach die Morgensonne. Drüben stand der schmale, hohe Kleiderschrank aus Birkenholz, hüben der kleine Waschtisch mit gehäkelten Spitzen und am Fenster ihr winziger, birkener Mädchenschreibtisch mit den geschweiften Füßen. Alles wie ehedem. Gerade, als ob das Zimmerchen nur auf sie gewartet hätte.
Dann glitt ihr Blick die Wand entlang. Und da fiel er drüben auf eine eingerahmte Perlenstickerei. Richtig — das war ja die Arbeit der verstorbenen Tante Melanie. Merkwürdig, in all den Jahren, in denen sie das Zimmer als ihr kleines, eigenstes Heiligtum betrachtet, hatte sie[S. 175] diese kunstvolle Perlenstickerei eigentlich gar nicht beachtet. Sie wußte nicht einmal mehr, wie der Spruch lautete, der da in bunten Perlen auf weißem Seidengrund stand. Nie hatte sie ihn bewußt gelesen.
Nun las sie:
Und sie wandte sich ab. Die Tränen stiegen ihr in die Augen. —
Es war Sonntag.
Die Kirchenglocke läutete zum ersten Male, als Helene die Treppe hinunterstieg.
Unten am Frühstückstisch saßen nur Martha und Mutter. Gerade mußten sie miteinander gesprochen haben: von ihr. „Lene,“ sagte Mutter und hatte ein Tränchen, „da haben wir dich also wieder. Komm, laß schauen, wie du aussiehst.“ Küßte sie und fuhr fort: „Schmalbäckig bist du geworden, aber ich seh schon, es ist nichts Ernstes. Wir wollen dich schon wieder herausfuttern.“
Dann ging Helene zu Vater hinüber. Der lag wirklich auch heut im Bett, hatte einen Teller mit Reinetten vor sich, schälte sich gerade einen Apfel. „Lene, Kind, ei, sieh mal! Martha hat mir schon erzählt. Ja — das heißt, eigentlich siehst du gar nicht so elend aus. Ganz gewiß hat die Oschitzen nicht gut für dich gesorgt. Ruhig, Diana ... willst du wohl die Lene in Frieden lassen. Ja, das heißt, ich bin selber krank. Wollte ja auch nach eurem großmächtigen Berlin, ja, das heißt, wollte, aber da hat mir der Hexenschuß ’nen Strich in die Rechnung gemacht.“
Merkwürdig, merkwürdig: die Welt stürzte gar nicht ein darüber, daß Helene Hackentin ins Elternhaus zurückgeflüchtet war. Merkwürdig, merkwürdig: sie lasen ihr nicht vom Gesicht ab, was sie erlebt und erlitten hatte und immer noch litt.
[S. 176]
Die Jungens umtollten sie wie früher; der Hauslehrer machte seine verliebten Rollaugen wie früher. Und als es zum zweiten Male läutete, stand Mutter auf der Veranda in ihrem schwarzen Kirchenkleide, mit der schwarzen Seidenhaube auf dem Kopf, das goldgeränderte Gesangbuch in der Hand: „Jetzt müssen wir gehen, Lene. Ich bin nur neugierig, was der Heckstein wieder mal für einen alten Bock schlachten wird.“
Zwischen Mutter und Martha saß sie dann im Herrschaftsgestühl.
Oben vor der Orgel stand der alte Flehr.
Der hatte das gnädige Fräulein gleich gesehen, und während er die Register zog, dachte er bewegt: ‚Wie sie nun wohl singen wird, unser Fräulein Helene, nun sie auf der hohen Schule war. Das wird wie eine vox angelica klingen.‘
Aber als die erste Strophe aufklang, lauschte und lauschte er vergebens: die große, helle Stimme fehlte im Chor. Und als er sich verstohlen umwandte, sah er, wie Helene starr vor sich hinblickte — mit festverschlossenen Lippen.
Wieder lag der Schnee über der Rohlbecker Flur, und die Buchenscheite knatterten in den Kachelöfen. Der alte Rittmeister — das war er geblieben, wenn er auch in den Listen der Veteranen nur als Premierleutnant figurierte — der Rittmeister war trotz der schlechten Ernte des letzten Jahres in gehobener Stimmung. Donnerten doch endlich einmal wieder die preußischen Kanonen: gerade vor acht Tagen hatten die Preußen und Österreicher die Dänen aus Schleswig-Holstein herausgeworfen, so daß die nur noch in Düppel und auf Alsen saßen. Man denke: Preußen und Österreicher! Fast wie Anno 1813/14 war das, und wenn der Rittmeister auch manchmal[S. 177] über die Strategie der Bundesgenossen von damals bedenklich den Kopf geschüttelt hatte, auf die österreichische Tapferkeit ließ er nichts kommen. Sogar die alte Gnädige nahm Interesse an den Vorgängen „da oben“. Recht genau verstand sie die Zusammenhänge nicht, aber wenn Vater aus der „Kreuzzeitung“ vorlas, dann klangen auch einzelne Reminiszenzen aus vergangenen Tagen in die Gegenwart hinüber: einen Rittmeister von Gablentz hatte sie im Jahre achtzehnhundertfünfunddreißig, oder war’s sechsunddreißig, oder war’s siebenunddreißig, in Karlsbad kennengelernt, sicher denselben, der „da oben“ nun als Feldmarschalleutnant kommandierte; und dann der alte Wrangel: der hatte ihr ja schon, als sie ein blutjunges Komteßchen war, in die Backe gekniffen — damals, als er gerade Stabsrittmeister bei den ostpreußischen Kürassieren geworden war.
Wenn der Herr von Hackentin am runden Tisch in der großen Stube, auf dem immer noch keine Petroleumlampe leuchten durfte, aus der ersten Seite der „Kreuzzeitung“ die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz vorlas, dann flammten seine Augen auf und zu den beiden Enkeln hinüber: „Ja, Jungens, die Preußen und die Österreicher! Die Alliierten von dreizehn! Schade, daß ihr nicht dabei seid! Das heißt — hm! — es hat ja auch so seine zwei Seiten mit dem Krieg. Aber ’n Lump, der nicht kommt, wenn der König ruft!“ Sobald er jedoch auf die zweite Seite der Zeitung kam, wurde er verdrießlich. „Der Deubel sollte sie holen, diese Demokraten! Das heißt: ich will nicht fluchen. Aber da haben sie im Abgeordnetenhause rundweg die Kriegsanleihe abgelehnt. Natürlich bloß aus Opposition! Und der große Schulze-Delitzsch erklärt feierlichst: ‚Preußen mißbraucht seine Großmachtstellung.‘ Na, natürlich unser roter Kreisrichter wird wohl auch in dasselbe Horn blasen.“ Nur er durfte im Hause noch den Namen des zweiten Sohnes nennen und tat’s stets mit größter Erbitterung: „roter Kreisrichter“ war noch eine sanfte Bezeichnung. Und dann[S. 178] bekam, zum Schluß, immer der Hauslehrer seine Pille: „Na, Herr Doktor, ich hab immer noch nichts von Ihrem Beitritt zu unserem guten Preußischen Volksverein gehört! Sind wohl auch heimlicher Nationalvereinler? Ja, und denken auch so: preußischer Großmachtskitzel. Wie? Das heißt ... natürlich ... haben ja noch kein Pulver gerochen!“
Martha und Helene saßen dazwischen und zupften Scharpie. Kleinen Hügeln gleich bauten sich vor ihnen die weißen losen Fäden auf, und wöchentlich einmal nahm die Botenfrau den Packen mit nach Stellberg, wo in der Apotheke eine Sammelstelle errichtet war. Sobald Vater aber seine Zeitung zusammengefaltet und das Beiblatt mit den Familienanzeigen an Mutter abgegeben hatte, damit die „ihren Honig daraus sauge“, fing er an, Kriegsgeschichten zu erzählen. Dann schoben die Jungens ihre Schmöker beiseite und lauschten. So schön wie Großvater erzählte, so schön stand’s doch nicht in den Büchern.
Manchmal aber, wenn die Posttasche entleert wurde, schob Vater auch Helene einen Brief zu. Neuerdings immer mit einem gewissen Respekt, denn die Briefe trugen den Feldpoststempel „von da oben“.
Bekam Helene solch einen Brief, so tauschte sie mit der Schwägerin einen Blick des Einverständnisses und ging hinauf in ihr Zimmer, um den Brief in der Einsamkeit zu lesen. Vater murrte dann manchmal: „Natürlich wieder vom Harro. Als ob sie die Epistel von dem Jungen nicht auch hier lesen könnte. Das heißt, Junge darf man eigentlich nicht mehr sagen, seit er’s Portepee hat ... der Oschitz.“ Gegen Neujahr war Harro beim vierten Garde-Regiment als Junker eingetreten.
Wenn Helene vor einem der frischen fröhlichen Feldzugsbriefe saß, aus dem so viel junger Mut und so viel Freude am Drauflosgehen sprach, dann dachte sie jedesmal an den ersten Brief zurück, den sie von ihm erhalten hatte. Ein Brief war’s eigentlich nicht gewesen, sondern nur ein doppelter Aufschrei: „Das hier für Dich. Es wurde abgegeben[S. 179] und ich hab’s ergattert, damit’s nicht in unrechte Hände kommt. Schicken mußt ich’s Dir ja wohl. Ach, liebe Helene, ich bin so traurig. Ich habe solche Sehnsucht nach Dir!“
„Das hier“ war ein eingelegter Brief von Alfred Schwarz.
Sie hielt das verschlossene Kuvert lange in der bebenden Hand. Dann ging sie, schwer und langsam, bis zum Ofen und warf den Brief in die Flammen.
Nicht lange darauf war Tante Marie aus Rackow heruntergekommen, unerwartet und unangesagt, zur Kaffeestunde. Hatte unten ein wenig paradiert in ihrem fußfreien perlgrauen Popelinekleide mit der braunroten Tunika darüber und dem Pelzbesatz um den Hals: „Denkt euch, ja, man darf’s endlich wieder zeigen, wenn man ein hübsches Füßchen hat, und die Krinoline wird kleiner und immer kleiner —“; hatte diese kleinen Füßchen in den Lackstiefeln und, unerhört, ein Stückchen eines rotgezwickelten Strumpfes sehen lassen, sowie ihren neuen „Pagenhut“; hatte lachend erzählt, daß Ernst endlich einen guten Käufer für das Vorwerk Grunow gefunden hätte, und hatte dann Helene unter den Arm gefaßt: „Mignonne, Liebes, jetzt komm’ ich auf einen Stipps mit dir hinauf.“
Oben setzte sie sich vor den kleinen Schreibtisch, wippte hin und her, lächelte ein wenig verlegen, ein wenig verschmitzt, sprang wieder auf, küßte in der alten Herzlichkeit Lene auf beide Wangen und fragte dann plötzlich: „Nun, Mignonne, was hast du eigentlich mit unserem Freunde Schwarz gehabt?“
Vom Augenblick an, da der Rackower Schlitten einfuhr, hatte Helene geahnt, was da kommen würde; sie wußte ja, daß die Rackowschen in Berlin gewesen waren.
Nun stand sie doch vor der Tante, wie mit Blut übergossen. Aber auch innerlich gefaßt genug, um antworten zu können: „Sei nicht böse, Tante Marie. Ich muß das mit mir allein abmachen.“
[S. 180]
„Ja, doch! Ich bin ja gar nicht so neugierig, Kind. Nur — der Arme ist so unglücklich. Du hast sein Herz gebrochen, du grausame kleine Person.“
Da lachte Helene auf: „Sein Herz!“
Es klang sehr bitter, und auf Helenes Gesicht lag wohl ein so schmerzlicher Ernst, daß Marie Hackentin verstummte.
Erst nach einer Weile sagte sie mitleidig: „Pauvre enfant! Ja ... die Männer. Ich ahne ...“
Aber gleich war wieder ein Lächeln in dem kleinen, liebenswürdigen, häßlichen Gamingesicht. „Ah, ihr jungen Mädchen von heute, wie nehmt ihr doch alles gleich tragisch. Eine Episode, Mignonne, eine Episode! Was hätte es denn anders sein können? Heiraten konntet ihr euch doch nicht. Eine Hackentin und unser guter Freund Schwarz!“
„Euer guter Freund, Tante Marie —“
„Nun ja. Aber doch nicht mehr.“
Helene schwieg. Was sollte sie antworten?!
Tante Marie hatte sich wieder gesetzt, wippte auf dem Stühlchen, besah sich durch das Lorgnon die Wände. Und Helene stand vor ihr und sah mit brennenden Augen zum Fenster hinaus auf das schneebedeckte Scheunendach.
„Willst du nicht einmal zu uns kommen? Auf ein paar Tage? Dir wird eine Abwechslung gut tun. In nächster Woche haben wir einige Gäste. Auch der nette Neuchateller, weißt du: Merivaux, wird dabei sein.“
„Ich danke dir sehr. Aber — jetzt — noch nicht.“
Das Lorgnon sank herab, und Tante Marie fragte, nun wieder ganz mitleidsvoll: „Tat es denn so sehr weh, Mignonne?“
„Es tat wohl weh. Aber ich komme schon darüber hinweg.“
„Ja, man kommt wohl schließlich darüber hinweg ...“, sagte Tante Marie, ganz anders als sie sonst sprach, langsam und schwer. „Wer von uns hätte nicht ähnliches durchgemacht.“ Und dann war sie gegangen.
‚... ja ... man kommt wohl darüber hinweg.‘
[S. 181]
Das dachte Helene jetzt noch, nach Jahresfrist, immer aufs neue. Und immer aufs neue ergänzte sie: ‚im Frieden des Elternhauses ... Dank meiner lieben, lieben Martha!‘
Man kommt darüber hinweg. Die Wunde schließt sich. Aber die Narbe bleibt, und von Zeit zu Zeit brechen aus ihr die Schmerzen doch wieder hervor. Nicht mehr brennend und heiß, aber mit leisem, mahnendem Zucken. Gestalten steigen dann auf, und Träume kommen.
Wie hatte doch Martha damals gesagt: „Arbeit, Helene — Arbeit!“
Es war wirklich wie ein Allheilmittel. Keine schwanke Bootsplanke, an die sich der Ertrinkende in seiner Not anklammert, sondern ein sicherer Port. Immer wieder fühlte Helene das, wenn die Erinnerung heraufschleichen wollte mit all ihrer Süße, mit der verborgenen Sehnsucht, mit dem bitteren Leid.
Und gottlob, es gab zu tun im Hause, in der Wirtschaft. Dafür sorgte Martha, die ja selber nie ruhte noch rastete.
Die Eltern merkten es kaum, wie die Tochter nun mit angriff. Mutter lebte ihr halbes Traumleben, und Vater hatte höchstens einmal ein flüchtiges Wort: „Ei, sieh mal, Lenchen! Das heißt, wirklich, das freut mich!“ Aber an jedem Abend, wenn Helene todmüde lag, empfand sie den befreienden Segen der Arbeit, der Geist und Körper zur Ruhe zwang und die Träume scheuchte. Und manchmal dachte sie ganz verwundert: ‚was hab ich doch früher ein Drohnenleben geführt! Darum erschien mir auch alles so eng und klein, was mir nun eine Welt für sich geworden ist.‘
Aber das eine Allheilmittel, das ihr Martha gegeben, tat es doch nicht allein. Es gab ein stilles Sichverstehen mit der Schwägerin, ein wortloses gegenseitiges Mitleidsempfinden, das ihnen beiden wohl tat und sie immer näher zueinander brachte. Beide trugen sie Bürden. Oft fragte Helene sich, trägt Martha nicht die schwerere? Und wie trägt sie ihre Last und ihren Kummer! Und dann dachte[S. 182] sie an den Bruder, der immer die heiße Liebe zu den Seinen, zu Weib und Kind, zur Heimatsscholle auf den Lippen trug, der ein Tränchen hatte bei jedem Wiedersehen und bei jedem Abschiednehmen, um ein anderer zu sein, sobald eine Wegstrecke von ein paar Stunden zwischen ihm lag und Rohlbeck. „Wilhelm hat mich bei Ewest noch zum Abschied eingeladen am Abend, ehe wir nach Hamburg fuhren“, hatte Harro geschrieben. „Die Champagnerpropfen flogen, es war höchst fidel.“ Die Champagnerpropfen flogen — und daheim sparte Martha Pfennig zum Pfennig. Der Mann vergaß, sobald ihn die Großstadtluft wieder umwehte; die Frau trug ihre Last und ihre Sehnsucht schweigend und klaglos weiter und sagte sich selber, was sie Helene gesagt hatte: „Arbeit! Arbeit!“
Etwas Wunderbares war es um die Arbeit. Und doch empfand Helene, je weiter die Zeit ins Land ging, eine klaffende Lücke.
Manchmal, wenn sie bei irgendeiner hausfraulichen Tätigkeit neben Martha saß, sprang es jäh in ihr auf: ‚bei aller innigen Liebe, bei allem Verstehen — wir sind doch ganz verschieden!‘ Manchmal, in stillen Stunden, wenn sie allein war, überrann sie, schmerzlich fast, das Gefühl: ‚Ich trag’s nicht so wie sie. Ich müßte mich wehren! Wehren!‘
Das waren dieselben Stunden, in denen, allmählich, aber stärker und immer stärker, der andere Schmerz in ihr wach wurde: und nun hast du auch deine Kunst zu Grabe getragen ...
In den ersten Wochen nach ihrer Heimkehr war es ihr unmöglich gewesen, zu singen; wurde sie gebeten, so wich sie aus. Unmöglich: denn jeder Ton verwundete ihre Seele.
Dann kamen wohl Tage, an denen sie sich zwang, zwingen konnte, wenn Vater abends bat, wie einst: „Nun Lene, wie ist’s? Das heißt ... wenn du dich disponiert fühlst.“ Sie sang dann eins oder das andere ihrer alten Liedchen. Aber sie war jedesmal mit sich selber unzufrieden, fühlte einen fremden Klang aus ihrem Gesang[S. 183] heraus, etwas Erzwungenes. Und bisweilen meinte Vater selber: „Ich weiß nicht — ich weiß nicht. Hast du wirklich in Berlin Fortschritte gemacht?“ Einmal nahm sie auch der alte Heckstein ins Gebet: „Hör’ mal, Jungfer Lene, warum singst du nie in der Kirche mit? Man ist doch neugierig, und unser guter Flehr — gut ist er nämlich, obwohl der Rittmeister in ihm den Demokraten wittert — unser guter Flehr ist einfach unglücklich.“ Da hatte sie, ohne ihn anzusehen, erwidert: „Ich kann nicht, Onkel Pastor.“ — „Ich kann nicht! Weißt du, Lene, das ist so die bequeme Ausrede von allen denen, die nicht wollen. Hast du deine Stimme verloren? Nein — sonst würdest du’s sagen. Also willst du nicht. Kind, in meiner Art liegt’s nicht, mich um ungelegte Eier zu kümmern. Gelegte sind besser. Ich dränge mich auch in niemandes Vertrauen. Aber das kann ich dir sagen: ein bissel Zwang, den der Mensch sich selber auferlegt, ist etwas sehr Gutes. Der brave Zschokke, von dem freilich unsere Heutigen nicht viel wissen wollen, hat mal in seinen Stunden der Andacht gesagt: ‚Der Mensch vermag unglaublich viel über sich, wenn er ernst will.‘ Das solltest du dir auch hinter deine allerliebsten Öhrchen schreiben.“
‚... wenn er ernst will ...‘
Nein, sie wollte nicht. Noch nicht. Sie ging dem Schmerz aus dem Wege, der jedesmal neu brannte, wenn sie sich zwang.
Aber allmählich erwachte doch der Wille, erwachte und erstarkte. Der innere Drang weckte ihn, die große Lücke in ihrem Leben auszufüllen, die bloße körperliche Arbeit nicht schließen konnte; und dann kam die stolze Sehnsucht: geh nicht ganz unter in der Alltäglichkeit. Du brauchst nicht unterzugehen, denn deine Kunst kann dich über sie erheben.
In der Schreibmappe, oben auf dem kleinen Tischchen am Fenster, lag noch der Brief von Frau Harriers-Wippern.
„Wie bedauere ich, daß Sie den Unterricht aufgeben. Gerade Sie, liebes Fräulein, die zu so Großem prädestiniert[S. 184] schienen. Wie ist das nur möglich?“ Und daneben lag der Brouillon der Antwort, zwanzig Male neu begonnen, immer wieder verworfen: „Zwingende äußerliche Ursachen ... leider unüberwindliche Hindernisse.“ Mein Gott, mein Gott, wie armselig — und wie unwahr!
Wochen und Monate waren vergangen, ehe Wille und Kraft stark genug waren, das neue Ringen aufzunehmen. Ganz langsam waren sie erstarkt, aber plötzlich wurden sie zur Tat. Am ersten Pfingstfeiertage war’s gewesen, daß der alte Flehr verwundert vor seiner Orgel auflauschte: da war sie ja, die vox angelica, süß und schön und stark, die sich in seinen geliebten Chor mischte, ihn trug und über ihm sieghaft emporstieg:
„Ich singe wieder, Harro!“ hatte sie damals geschrieben. „Denk Dir doch, lieber Harro, ich kann wieder singen. Auch das war in mir erstorben und ist nun, zu Pfingsten, auferstanden. Leicht macht’s mich und froh, Du wirst das schon verstehen. Sie sind alle, alle zu mir in der schweren Zeit so rührend gut gewesen. Am rührendsten Martha, Wilhelms Frau, die Du leider noch nicht kennst. Sie hat mich gestützt, mich getragen, mir geholfen in meinen Nöten. Aber schließlich kann jeder Mensch sich ganz nur selber helfen. Siehst Du, Harro, nun weiß ich endlich, wodurch ich mir helfen kann. Meine Kunst ist’s, die mich wieder frei machen wird. Es ist freilich anders wie früher. Ich denke nicht mehr an äußere Erfolge, nicht an den Konzertsaal und den Beifall, von dem ich einst träumte. Für mich und[S. 185] für die, die mich liebhaben, will ich singen, meine Gabe pflegen und weiterbilden. Ich bin so froh, Harro. Ich wollte, Du wärst hier, und ich könnte Dir das zeigen, wie froh ich bin. Hinausgehen würde ich mit Dir aufs Feld, wir beide allein, und mit den Lerchen möcht ich dann um die Wette singen.“
Am zweiten Pfingstfeiertag, nach dem Schluß des Gottesdienstes, lernte Helene Herrn von Holfen kennen, den Käufer des Rackower Vorwerks.
Sie hatte ihn schon in der Kirche bemerkt und sich flüchtig gefragt, wer der junge fremde Mann drüben auf der anderen Empore wäre; ein Forsteleve vielleicht, hatte sie gedacht, und sich nicht weiter in ihrer Aufmerksamkeit stören lassen.
Nun stand er vor der Kirchentür, stellte sich Vater vor, bat, ihn mit den Damen bekannt zu machen, und entschuldigte sich zugleich, daß er in Rohlbeck noch nicht seinen Besuch abgestattet; die Übernahme und die erste Einrichtung hätten ihn völlig in Anspruch genommen. Er sagte das alles sehr ruhig, durchaus weltmännisch, bescheiden und doch sicher.
Der alte Rittmeister, kein Freund besonderer Förmlichkeiten, forderte ihn freundnachbarlich auf, „mit hinüber zukommen zu einem einfachen Frühstück und einem Willkommensglase“. Holfen warf einen fragenden Blick auf die alte Gnädige, und da diese die Aufforderung wiederholte, nahm er an.
Seitdem war er ein ziemlich häufiger Gast im Herrenhause. Das Vorwerk Grunow lag näher an Rohlbeck wie an Rackow, war auch dort eingepfarrt; Ernst Hackentin hatte daher einen hübschen Vorwand gehabt, die „schwer zu bewirtschaftende Enklave abzustoßen“. Nun kam Holfen bald mit dieser, bald mit jener Anfrage und kleinen Bitte. Unverheiratet, hatte er allerlei Nöte bei seiner Etablierung, die ihm Anlaß gaben, sich bei dem Rittmeister oder noch mehr bei Martha Rat zu holen. Und sie alle hatten ihn gern. Mutter fand bald heraus, daß einer von den[S. 186] pommerschen Holfens eine Baer zur Frau gehabt hätte, deren Mutter wieder eine Komteß Grucker gewesen, und er hörte dem umständlichen Nachweis dieser Verwandtschaft „durch sieben Scheffel Erbsen“ äußerst artig zu. Mit Vater hatte er kleine anregende militärische Diskurse; er war erst vor anderthalb Jahren aus seinem Regiment, den Pasewalker Kürassieren, geschieden. Mit Martha gewann er bald besonders viel Berührungspunkte, denn sein wirtschaftlicher Eifer und eine gewisse frische naive Art, gerade sie immer aufs neue um Rat anzugehen, machten ihr Freude. Die Jungens schwärmten für ihn. Es kam ihm gar nicht darauf an, gelegentlich mit ihnen einen Wettlauf durch den Garten zu riskieren, und außerdem verstand er allerlei kleine Künste, die ihnen riesig imponierten, fabrizierte köstliche Flöten und ausgezeichnete Meisenkästen.
Gegen Helene war er äußerst zurückhaltend, und sie wieder war vielleicht die einzige im Herrenhause, die wenig auf ihn achtete. Höchstens, daß sie manchmal die Schwägerin ein wenig mit ihm neckte. Merkwürdigerweise hatte die stille Martha Verständnis für einen harmlosen Neckton und ging nicht ungern auf ihn ein. „Dein Courmacher kommt!“ hieß es einmal, und: „Gesteh’s nur, Martha, du hast heut wieder ein zartes Zwiegespräch mit deinem Verehrer gehabt!“ hieß es ein andermal. Und Martha nickte: „Hatten wir auch — über die beste Art der Putenfütterung nämlich. Das ist doch gewiß ein zartes Thema.“
„Ist er wirklich so nett?“
Dann wurde Martha gleich wieder ein bißchen ernst: „Nett? Ich weiß nicht. Aber ein ordentlicher, strebsamer, fleißiger Mann ist er.“
Das war sicher richtig. Helene hörte es von allen Seiten bestätigen. Es hieß auch, daß er das Vorwerk nur gekauft hätte, um sich als angehender Landwirt nicht von vornherein zu stark zu engagieren; er sei recht wohlhabend.
[S. 187]
Übrigens war er nicht ohne höhere Interessen. Dann und wann kam es doch vor, daß Helene und er auf kürzere Augenblicke allein waren, und fast regelmäßig schlug er dann ein Thema an, das sie fesselte. Einmal fand er sie auf der Veranda über dem kleinen Geibel-Band, den ihr Harro geschenkt hatte. Da zitierte er:
„Sie kennen Geibel?“
„Ich kenne und ich liebe ihn.“
„Und warum zitierten Sie gerade aus der ‚Ungeduld‘?“
„Weil mir da Geibel besonders aus dem Herzen spricht.“
Sie saßen sich gegenüber. Helene hatte den Band vor sich, blätterte ein wenig darin, sah dann auf.
„Es ist eigentlich ein politisches Lied. Ich hörte Sie aber neulich doch einmal sagen, Herr von Holfen, daß Sie der Politik gern fern blieben.“
Er lächelte, und sie gestand sich, daß dies Lächeln sein etwas eckiges Gesicht verschönte. Klug sah er aus.
„Ist es ein politisches Lied, gnädiges Fräulein? Dann laß ich diese Politik gelten. Ich mag mich nur nicht Hals über Kopf in das Parteigetriebe des Tages stürzen, bei dem wohl hüben und drüben übertrieben und gesündigt wird. Aber den großen Traum der deutschen Einheit, den Geibel hier aufklingen läßt, den träume ich auch mit; und ich denke und hoffe, er wird noch Wirklichkeit werden. Wenn wir das vielleicht auch nicht erleben.“
Ein andermal war er am Nachmittag gekommen und hatte, ohne daß sie davon wußte, mit den Eltern in der großen Stube gesessen, während sie nebenan mit einer Handarbeit beschäftigt war.
Sie war gerade an diesem Tage in einer besonders gehobenen Stimmung, die sie jetzt nicht selten, wie in einer Art von Reaktion, überkam. Die Arbeit hatte sie sinken[S. 188] lassen, am Fenster hatte sie gestanden, lange Zeit, und über die grünen Wiesen hinweggeschaut, auf denen die Augustsonne lag. Dann war sie an den Flügel getreten und, recht aus ihrer Augenblicksstimmung heraus, sang sie Goethes „Auf dem See“.
Warum war sie gerade auf dieses Lied gekommen? Sie wußte es selber nicht. Aber sie fühlte, daß es sie emporhob, gleich wie auf Schwingen. Etwas Erhabenes, Befreiendes lag in den schlicht schönen Strophen —
Sie sang nicht weiter. In einem stillen Wohlgefühl saß sie noch eine Weile, die Hände auf den Tasten, ging dann wieder ans Fenster, öffnete die Flügel weit, atmete die würzige Luft. Und die Schlußstrophe klang leise in ihr nach: „Weg, o Traum! so gold du bist — Hier auch Lieb und Leben ist.“
Vom Felde kamen die Erntewagen. Ein paar Schnitter gingen nebenher, eine Frau, in der einen Hand ein Kind, in der anderen eine kleine Garbe aufgelesener Halme. Und blau stand der Himmel darüber.
Nachher erschrak sie ein wenig, als Holfen sie begrüßte: „Ich habe schon häufiger in der Kirche Ihre schöne Stimme bewundert. Aber ich hörte Sie noch nie im Hause singen. Darf ich Ihnen danken?“
Beinahe feindselig sah sie ihn zuerst an. Was sie gesungen hatte, wie sie es gesungen hatte, war so ganz ihr Eigenes gewesen.
[S. 189]
Fast schien es, als ob er Ähnliches in ihrem Gesicht lese. Er wurde ein wenig verlegen, faßte sich dann aber: „Etwas Merkwürdiges ist’s um Goethes Lyrik. Sie ist selber Musik. Aber wie herrlich hat sich gerade Schubert den Empfindungen Goethes angepaßt, so daß beides, Ton und Wort, nun doch ein Ganzes scheinen. Und nun muß ich doch eins sagen: ich habe das Lied zum letzten Male von Amalie Weiß gehört. Sie werden wissen, die Wiener Sängerin, die kürzlich den großen Geigenvirtuosen Joachim geheiratet hat. Aber wenn ich ehrlich sein soll: vielleicht war Frau Weiß die größere Künstlerin — mehr Seele lag in Ihrem Gesang.“
Es war so selten, daß Helene Hackentin über ihre Kunst sprechen hörte. Und wenn sie auch die übertriebene Bewunderung ablehnte, sie freute sich doch ein wenig.
Einmal — nicht viel später — meinte Martha neckend: „Hör’, Lene, du machst mir aber jetzt meinen getreuen Courmacher abspenstig.“
Da blickte sie ganz erstaunt auf, fand sich nicht gleich in den scherzenden Ton und antwortete beinahe ernst: „Holfen? Wir sprechen ja fast nie miteinander.“
Sie waren beim Wäscheaufhängen auf der Wiese hinter dem Hause, und Martha kämpfte einen kleinen Kampf mit dem Wind, der ihr ein großes Tischtuch fortreißen wollte. Sie hatte gerade eine Holzklammer zwischen den Lippen und konnte nicht eher weitersprechen, als bis die auf Leinwand und Leine untergebracht war.
„So — ihr sprecht fast nie miteinander? Als ob das nötig wäre. Ich bin jedenfalls brennend eifersüchtig.“
„Du Ärmste! Das tut mir aber furchtbar leid.“
„Spotte du nur! Nein, dieser infame Wind! Bitte, hilf mal halten, Lene. Ja ... was ich sagen wollte: warum mag Holfen noch nicht geheiratet haben?“
Helene hatte soeben ihren kleinen Korb wieder mit Klammern gefüllt, und hielt ihn im linken Arm, während sie mit der rechten Hand Klammer neben Klammer auf die Leine steckte.
[S. 190]
„Wir hätten uns auch nicht gerade diesen windigen Nachmittag auszusuchen brauchen. Ja so ... dein Holfen. Ich denke, er hat die Rechte noch nicht gefunden. Oder vielleicht hat er sie auch schon gefunden, und sie zieht nächstens in Grunow ein.“
„Wenn du das nun sein solltest —“
Plötzlich lag der ganze Korbinhalt auf dem Rasen. Ganz erschrocken war Helene, aber dann lachte sie doch. „Was redest du heute für Unsinn, Martha. Das ist wirklich ein schlechter Scherz ... Nun hilf wenigstens auflesen.“
Sie knieten beide nieder, um die Klammern aufzusuchen. Und da sagte Martha leise und ernst: „Wenn es nun aber kein Scherz wäre?“
„Ach geh! Holfen denkt ja gar nicht daran.“
„Wer weiß?“
Nun wurde Helene auch ernst: „Aber das wäre ja schrecklich.“
„Warum, Lene? Er ist wirklich ein Ehrenmann und würde seine Frau auf Händen tragen. Außerdem: Ihr paßt zusammen, finde ich. Ist er dir denn unsympathisch?“
Die Klammern waren im Körbchen gesammelt. Sie standen auf — aber der Korb blieb zwischen ihnen im Grünen stehen.
Einen Augenblick stand Helene stumm. Die schmale Falte erschien, tief eingegraben, zwischen ihren Augenbrauen. Dann sagte sie hastig: „Ich bitte dich, Martha, wenn du irgend etwas dazu tun kannst, erspare mir und ihm das. Er mag ein vortrefflicher Mensch sein, aber ich empfinde auch nicht das Geringste für ihn.“
Die Schwägerin hatte den Korb schon aufgenommen und wieder mit ihrer Arbeit begonnen: „Du solltest nicht so schnell entscheiden, liebe Lene“, sprach sie ein wenig schwer. „Weißt du: ich kenne Ehen, in die die Frau mit heißem, hoffnungsfrohem Herzen trat, und die ihr nachher Bitternis auf Bitternis brachten. Und ich kenne andere Ehen, für die der Verstand der Frau allein das entscheidende Wort sprach, und die sehr, sehr glücklich wurden!“
[S. 191]
Helene schüttelte den Kopf.
Was wollte Martha eigentlich? Da war wieder einmal der Temperamentsunterschied zwischen ihnen, das Trennende bei aller Übereinstimmung ihres Fühlens. Vielleicht auch ein Etwas, dachte Helene weiter, das Wilhelms Verhalten wenn nicht entschuldbar, so doch erklärlicher, begreiflicher erscheinen ließ: ein Gran Nüchternheit. Das bleibt meist auf dem Untergrund. Aber dann und wann tritt es doch zutage, so wundervoll sonst alle Wesenseinheiten in der lieben Martha gemischt sind. Vielleicht hat Natur das gerade gut gemeint. Vielleicht könnte sie sonst nicht tragen, wie sie trägt.
Sie vollendeten schweigend ihre Arbeit. Erst als sie durch den Garten wieder dem Hause zugingen, sagte Helene: „Ich hoffe immer noch, du hast vorhin gescherzt. Wenn das aber nicht der Fall ist, und du kannst mir’s ersparen — ich bitte dich, liebe Martha, tu’s.“
„Wie sollte ich das? Holfen hat kein Wort zu mir gesprochen, es waren nur Vermutungen. Aber ich glaube freilich, nicht unberechtigte. Ich meinte es gut, Lene, ich wollte dich ein wenig vorbereiten. Und ich meine auch jetzt noch: überleg dir’s, handle nicht unbedacht.“
Helene schüttelte wieder nur den Kopf.
Aber in ihrer Seele war durch das Zwiegespräch nun doch die alte, kaum vernarbte Wunde angerührt worden, daß sie neu schmerzte. Wieder kamen die Erinnerungen, und es kam der Vergleich: in Leid und Weh hatte ihre Liebe sie gerissen, bis dicht an den Abgrund; aber die Seligkeiten, die sie ihr gebracht, die waren unvergeßlich, würden ewig unvergeßlich bleiben. Es waren doch Augenblicke — gelebt im Paradiese. Und daneben stand die Prosa: ein Ehrenmann, hatte Martha gesagt, der seine Frau auf Händen tragen wird. Und wenn der andere — der andere als ein Schuft an dir gehandelt hat: gleichviel — in uns strömte doch die große, die göttliche Leidenschaft. Und wenn der Ehrenmann dir wirklich die Hände unter die Füße breiten würde, dein ganzes Leben hindurch: dies[S. 192] Leben würde dir zur Hölle werden, wenn du die Liebe nicht hättest.
Nein! Nein! Und tausendmal Nein!
Sie wurde noch vorsichtiger Herrn von Holfen gegenüber, wich ihm aus, wo sie nur konnte.
Aber sie fand, daß er sich stets gleichblieb. Er war immer gleich respektvoll, sehr artig — nicht mehr. Martha mußte sich doch wohl getäuscht haben; vielleicht, dachte Helene bisweilen, neigt sie auch ein wenig dazu, Ehen stiften zu wollen.
So schlummerte allmählich ihr Mißtrauen ein.
Darüber war der Sommer vergangen, der Herbst war gekommen.
Und in dieser Zeit, wo der Landwirt etwas mehr Muße hat, lud Holfen die Rohlbecker ein, sich einmal anzuschauen, wie er sich in Grunow eingerichtet hatte. Zum ersten Male. Bisher hatte er immer lachend gebeten, ihn zu entschuldigen: es wäre bei ihm noch die reine Wüstenei.
Es war eine kleine Gesellschaft; die Rackowschen, auch Grucker, dessen ältester Sohn bei den Pasewalker Kürassieren stand, Artenau, der Stickereimajor und Bowlenkünstler, mit seiner semmelblonden Frau und der semmelblonden Tochter. Man kam augenscheinlich, sich über die Junggesellenhäuslichkeit des Neulings im Kreise ein wenig zu amüsieren, und war überrascht, wie hübsch sich Holfen „etabliert“ hatte, um mit Tante Marie zu reden, die das alte Verwalterhaus kaum wiedererkannte und staunend, mit dem langstieligen Lorgnon vor den Augen, von einem Zimmer zum andern ging.
„Aber wirklich, mein lieber Herr von Holfen, Sie haben Wunder geschaffen. Ganz deliziös. Fehlt nur noch, daß Sie eine liebenswürdige Hausfrau in das fertige Nestchen setzen.“
Nur der Garten hatte noch nicht ganz ihren Beifall. Als man draußen unter der großen Linde beim Kaffee saß, zeichnete sie mit der Spitze ihres Sonnenschirms in[S. 193] den Kies einen ganzen Plan, nach dem der Garten freilich fast zu einem Park wurde.
„Meine Hochachtung!“ rief Graf Grucker. „Marie, du bist und bleibst sublim! Verwandle doch gleich das ganze Vorwerkchen in einen Jardin! Die geborene Depensière bist du!“
Tante Marie zog die Achseln hoch: „Was du nicht weißt, mein Lieber! Aber dein Französisch ist mäßig. Falls du mich wirklich als Verschwenderin bezeichnen wolltest, hättest du besser Dissipatrice gesagt. Depensière hat so eine dumme Nebenbedeutung.“
„Meine Hochachtung! Welche denn?“
Während sie das zum Gaudium des kleinen Kreises auseinandersetzte, daß nämlich die Speisemeisterin in den französischen Klöstern Depensière genannt würde, sah ihr Mann sie etwas kummervoll unter seinem Einglas um die Ecke an. Er dachte wahrscheinlich daran, welche Wege sein hübsches Vorwerk gewandelt war. Überhaupt, er war still und in sich gekehrt, Ernst Hackentin. Sogar dem harmlosen Artenau fiel das auf, so daß er den Vetter einmal leise anstieß: „Was hast du denn nur, Dickerchen?“ Er bekam nur eine knurrige Antwort: „Ach, laß mich. Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“
Holfen war der liebenswürdigste Wirt. Aber er war wie von einer leisen, ihm sonst ganz fremden Unruhe erfüllt. Vielleicht gerade, weil er zum erstenmal Gäste bei sich sah und ihm die Hausfrau fehlte. Martha machte zwar auf seine Bitte die Honneurs, aber auch sie wußte ja nicht recht Bescheid. So hastete er ein wenig zu viel umher.
Nach Tisch setzten sich die Herren zu ihrem unvermeidlichen Whist. Die Damen blieben im Vorderzimmer. Die alte Gnädige saß, ein wenig träumend, auf dem Sofa. Tante Marie führte fast allein die Unterhaltung. Sie amüsierte sich. Die beiden Semmelblonden aus Stellberg machten immer so furchtbar dumme Gesichter, wenn sie irgendeine ihrer kleinen Pikanterien erzählte; wie auf Kommando sperrten Mutter und Tochter die Mäulchen auf[S. 194] und klappten sie wieder zu. Es war ja aber auch toll. Da sollte eine Duchesse sich ein Kleid von kristallisierter Gaze haben machen lassen, vier Röcke übereinander, das oberste mit acht Volants, und zu dem Ganzen hatte Laferriere, der große Modeschneider, nicht weniger als elfhundert Ellen Zeug gebraucht. Aber alle Pariser Damen waren freilich nicht so verschwenderisch mit dem Stoff. Es gab sogar sehr sparsame. Die Gräfin Castiglione — „Ihr wißt ja, man sagt, daß sie die Nebenbuhlerin der Kaiserin ist“ — die Gräfin Castiglione ist im vorigen Jahr auf einem Ball des Marineministers als Salambo erschienen — „Ihr kennt doch jedenfalls den Roman von Flaubert, der von der schönen Karthagerin handelt —“, als Salambo also und war in einem Kostüm, das nur aus dem wunderbaren Schmuck bestand, den der Kaiser ihr heimlich geschenkt hat.
Die Tür zum Hinterzimmer stand halb offen. Dann und dann dröhnte Gruckers mächtige Stimme: „Himmel, hast du keine Flinte! Meine Hochachtung, Artenau. Karten hat der Mensch — Karten!“ Whist sollte Schweigen heißen. Aber davon hielten die Herren nichts.
Helene langweilte sich. Vor solchen Geschichtchen, wie Tante Marie sie heut liebte, hatte sie einen Abscheu. Sie stahl sich leise fort. Sah auf einen Augenblick ins Herrenzimmer, aber da war ein Zigarrenrauch, den man mit dem Messer hätte durchschneiden können. So trat sie auf die kleine Veranda, die nach dem Garten hinaus neu angebaut war. Ein winziges Ding, gerade vier Personen hätten darauf Platz finden können. Aber die Aussicht war entzückend. Der Garten fiel ziemlich steil ab. Unten lag der Grunower See, von dunklen Fichten umkränzt. Der Mondschein lag darauf, silbrig leuchtete das Wasser.
Sie lehnte an der Brüstung, schaute hinab und dachte: Unsere Mark ist doch schön.
Mit einem Male stand Holfen seitwärts hinter ihr. Hier, wo das Mondlicht nicht hinkam, im Dachschatten, war[S. 195] es fast ganz dunkel. Sie fühlte Holfen mehr als sie ihn sah. Und sie erschrak.
Dann hörte sie seine Stimme: „Ganz allein, gnädiges Fräulein?“
„Ich wollte ein wenig Luft schöpfen.“
„Ist das nicht hübsch, der Ausblick auf den See? Hier ist mein Lieblingsplatz. Fast jeden Abend sitz ich hier und träume nach des Tages Arbeit ein wenig.“
Er sprach ruhig. Aber Helene fühlte, in der Ruhe lag etwas Beherrschtes. Sie wäre gern ausgewichen, in das Zimmer zurückgetreten. Aber er stand vor der Eingangstür. Und dann — es war wohl doch nur Einbildung —
„Der Platz ist wirklich sehr hübsch. Ich habe oft bedauert, daß wir in Rohlbeck so wenig Wasser haben.“
„Gefällt Ihnen Grunow auch sonst in seiner neuen Gestalt, gnädiges Fräulein?“
Er war ein wenig nach vorn getreten, und seine Stimme vibrierte nun trotz aller Beherrschung leise. Jetzt fühlte sie deutlich, daß ihre erste Befürchtung nicht falsch gewesen war. Und sie dachte nur: wie ersparst du’s ihm und dir? Aber es war kaum noch möglich. Denn er wartete ihre Antwort gar nicht ab, sprach gleich weiter: „Man hat mir heut mehrfach gesagt, ernst der eine, neckend die andere, es wäre fast, als ob ich dies Haus hier schon für seine zukünftige Herrin vorbereitet hätte. Niemand hat wohl geahnt, daß dem wirklich so ist, daß ich seit Monaten täglich, stündlich an diese Herrin gedacht habe.“
Nein — er durfte nicht vollenden! Sie mußte dem lieben Menschen die Beschämung ersparen.
So fiel sie schnell ein: „Das freut mich, Herr von Holfen. Wir alle werden uns sehr freuen, wenn Sie heiraten.“ Aber indem sie sprach, erschrak sie vor ihren eigenen Worten. Wenn er die nun falsch auffaßte? Wie man nur so ungeschickt sein konnte! Hastig fuhr sie fort: „Sehen Sie, jetzt geht der Mond hinter dem Walde unter. Der See liegt im Dunkeln. Es wird plötzlich recht kühl. Ich will doch lieber —“
[S. 196]
Da stand er schon dicht neben ihr, beugte sich ganz vor und bat: „Würden Sie hier als Herrin einziehen mögen — als meine Herrin? Fräulein Helene ... ich habe Sie so sehr lieb. Fast vom ersten Sehen an wußt’ ich es —“
Seine Hand fühlte sie neben der ihren tastend auf dem Geländer. Fühlte, wie sein Auge durch die Dunkelheit sie suchte.
Sie wich seitwärts aus. Ganz schmal machte sie sich, drückte sich gegen die Wand.
„Fräulein Helene ...“
Tief schöpfte sie Atem.
„Herr von Holfen ... bitte ... sprechen Sie nicht weiter ...“ Mühsam, stockend nur brachte sie es heraus. „Ich darf Sie nicht hören ...“
Sie wagte nicht aufzusehen. Dachte nur, jetzt wird er gehen. Und so leid tat er ihr, so unsagbar leid.
Aber er ging nicht. Einen Augenblick schwieg er. Dann hörte sie wieder seine Stimme, bittend, beschwörend: „Weisen Sie mich nicht so ab. Sie kennen mich ja kaum. Vielleicht war das mein Fehler. Ich verstehe mich wenig auf das Werben um ein Mädchenherz. Aber Liebe soll ja doch Gegenliebe wecken. Ich will geduldig sein, will warten, ausharren. Ich hab Sie ja so lieb, Fräulein Helene —“ Und dann, als keine Antwort kam, fragte er heiß: „Ist Ihr Herz nicht frei?“
Es war für sie wie ein Schlag. Denn mit einem Male wußte sie: nein, dein Herz ist nicht frei. Du hast es dir selber nur vorgetäuscht. Du hast vielleicht überwunden, aber nicht vergessen. Mit einem Male standen die Erinnerungen wieder vor ihr, die seligen Erinnerungen, und die qualvoll durchwachten Nächte, die lodernden Sehnsuchten, die sie in die Kissen hineingeweint hatte, Glück und Leid, all das Himmelhochjauchzende, all das zu Tode Betrübte.
Nein, ihr Herz war noch nicht frei. Überwunden mochte es haben, vergessen konnte es nicht.
[S. 197]
Sie kämpfte mit Tränen. Und mit tränenerstickter Stimme bat sie: „Bitte ... lassen Sie mich ...“
Da trat er zurück. Es war ja auch eine Antwort.
Ganz schmal machte sie sich, glitt am Geländer entlang, zur Tür dann, trat in den Salon. Wie das helle Kerzenlicht den Augen weh tat nach der Dunkelheit draußen —
Tante Marie war noch immer in Paris. Sie erzählte gerade von einer Soiree bei der Fürstin Pauline Metternich, der österreichischen Botschafterin, und daß da Hortense Schneider — „Ihr wißt, die die ‚Schöne Helena‘ kreiert hat“ — anwesend gewesen wäre, und Madame Térésa von Alcazar d’Eté hätte ihre famosen Gassenhauer gesungen: „Rien n’est sacré pour un sapeur!“ Die beiden semmelblonden Artenaus sperrten die Mäulchen auf. Mutter nickte ein wenig in ihrer Sofaecke und sagte nur einmal aus ihrem Halbtraum heraus: „Ja ... die Pauline Metternich, das ist eine geborene Sandor ... eine Ungarin.“ Dann polterte Onkel Grucker herein: „Meine Hochachtung! Der Rittmeister hat uns heut aber ordentlich belehrt. ’n Daler acht Groschen! I ... und da ist ja unser Leneken ... Mädel ... ’n Schmatz! Aber ’n ordentlichen, nich so’n vulgären Onkel-Nichten-Kuß, bei dem man nicht weiß, wie und warum!“
Und dann fuhr man hinaus in die dunkle Nacht.
**
*
In den nächsten Wochen ließ sich Holfen nicht in Rohlbeck sehen. Die Rackower erzählten, er wäre in Berlin. „Das heißt,“ meinte Vater, „der Mann kann sich schon mal ’ne Erholung leisten. Was der den Sommer über auf seiner Klitsche geleistet hat, geht auf keine Kuhhaut.“ Martha sah bisweilen, wenn von ihm die Rede war, ein wenig vorwurfsvoll zu Helene hinüber. Aber sie fragte nicht.
[S. 198]
Erst als der Schnee schon lag, sah Helene Holfen wieder. Er kam nun wieder nach Rohlbeck, nicht so häufig vielleicht wie früher, aber scheinbar ganz der alte. Immer liebenswürdig, bei allen beliebt; hatte seine kleinen wirtschaftlichen Anfragen bei Martha, nahm, wenn er einmal zum Abend blieb, den Jungens eine Partie Mühle nach der andern ab. Helene und er begegneten sich, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen. Und sie war ihm dankbar, daß er ihr das ermöglichte.
Sie hatte an jener Abendstunde auf der kleinen Veranda doch schwer gelitten. Nicht nur um Holfens willen, so leid er ihr tat. Sie mußte von neuem einsargen, was damals lebendig geworden, auferstanden war.
Wieder waren ihr Arbeit und Kunst getreue Helferinnen. Zumal ihre Kunst. Harro mußte ihr Noten über Noten senden: Mendelssohn, Schumann, Schubert. Ein paar Opernpartien studierte sie: aus dem „Waffenschmied“, aus dem „Feldlager in Schlesien“. Dann wagte sie sich, zögernd, an die Elsa. Aber da dachte sie sehnsüchtig an ihre Lehrerin zurück, fühlte das Fehlen der verständnisvollen Anleitung, des ermunternden Zuspruchs. Richard Wagner stand noch vor ihr wie ein Koloß. Etwas Erbarmungsloses, fand sie bisweilen, lag in seinen Ansprüchen. Einmal war sie in ihren Nöten zum alten Flehr geflüchtet. Doch der schüttelte nur das graue Haupt, ließ die Hand verlegen um die ewigen Stoppeln auf seinem Kinn gleiten und sagte schmerzlich: „Da kann ich nicht mit, gnädiges Fräulein.“ Beugte sich, immer die lange Pfeife im Munde, mit seinen kurzsichtigen Augen tief auf die Noten, versuchte auf seinem Klimperkasten ein paar Sätze — ging dann plötzlich zu seinem geliebten Mozart über, schlug die blauen Augen auf, daß sie ordentlich leuchteten: „Das ist doch noch Musik!“
... man mußte sich schon selber helfen ...
Jetzt schickte Harro keine Noten mehr.
[S. 199]
Aber dafür seine frohen, übermütigen Briefe von „da oben“ her. Und Vater beorderte dann und wann Helene ans Klavier, daß sie ihm das Chemnitzsche Lied sänge:
Manchmal mußte Helene auch aus Harros Briefen vorlesen. Die Garde stand jetzt schon oben auf jütischem Boden, bei Kolding. Ein wenig neidisch schrieb der tatendurstige Junker von den Kameraden, denen vor den Düppeler Schanzen größere Lorbeeren winkten. Aber kleinere Gefechte gab’s bei ihnen auch, und lustige Geschichtchen wußte er immer zu erzählen. Gestern hatte „Einer von meinem Regiment“ einen flüchtenden Dänen angeschossen, ihn dann eingeholt, triumphierend zurückgebracht: „Das ist mein Däne!“ und ihn durchaus selber gesund pflegen wollen. Vater schmunzelte oder lachte auch hell auf. Als Harro beschrieb, wie wunderschön drollig jetzt die Posten aussähen: im großen weißen neugelieferten Schafpelz mit dem Helm dazu auf dem Kopfe, meinte er: „So sahen unsere Kerle im Winter Anno achtzehnhundertundzwölf auch aus, oben in Kurland, beim alten Yorck. Das heißt, geliefert waren uns die Pelze nicht. Die hatten wir — gestohlen. Aber Helme hatten wir noch nicht, und unsere alten Hüte waren immer so steifgefroren, daß man Suppe draus hätte löffeln können.“
Dann, Ende März, kam ein förmlicher Jubelruf: „Hurra, nun kommen wir doch noch vor Düppel. Unsere neuformierten Garde-Regimenter sollen beweisen, daß sie hinter den alten nicht zurückstehen. Wir wollen’s den Dannemanns schon zeigen! Und wenn der „Rolf Krake“ angeschwommen kommt, dann stecken wir den mitsamt seinen dicken Panzerplatten in die Tasche. Halt mir den[S. 200] Daumen, liebe, liebe Lene! Wenn alles gut geht und ich kann mich ein bissel auszeichnen, bin ich vielleicht in vier Wochen Offizier.“
Helene mußte lächeln. Hinter Harros Zeilen stand immer noch etwas Besonderes, etwas Heimliches, nur für sie Bestimmtes. Er schrieb nie von seiner anbetenden Liebe. Manchmal hatte sie geglaubt, daß er die mit der Schulmappe und der Jungensmütze abgestreift, daß sie sich ihm und ihr wirklich in gute Kameradschaft gewandelt hätte. Aber dann kamen wieder Wendungen, die sie anders deuten mußte. „Wir haben gestern nacht die dritte Parallele ausgehoben. Ganz dicht vor den Schanzen. Sternenklar war die Nacht. Da hab ich hinaufgeschaut zu den blitzenden Sternen, und ich hab immerfort an Dich denken müssen.“
Vater war sehr unruhig in diesen Tagen. Nie konnte er die Posttasche erwarten. Und wenn er aus der „Kreuzzeitung“ das Neueste vom Kriegsschauplatz vorlas, dann kramte er aus dem kleinen Schatz seiner kriegsgeschichtlichen Erinnerungen allerlei Ergänzungen, Erläuterungen hervor. Der Sturm auf die Düppeler Schanzen stand ja bevor. „Wird viel Blut kosten, das heißt, die Artillerie hat natürlich mächtig vorgearbeitet. Aber so ein sturmfreies Werk, mit Graben und Bastionen — keine Kleinigkeit das!“ Ganz aus dem Häuschen waren die Jungens. Papier und Bleistift schleppten sie heran, Großvater mußte ihnen aufzeichnen, wie das eigentlich war: ein sturmfreies Werk und Parallelen und Laufgräben. Eine ganz wunderliche Zeichnung kam dabei heraus. Am Sonntag betete Heckstein von der Kanzel für unsere Tapferen in Schleswig-Holstein.
Und Helene betete herzinnig mit. Nicht daß sie sich um Harro sorgte. Wie hätte dem frischen lieben Harro etwas geschehen sollen? Das schien ihr ganz ausgeschlossen, sie dachte gar nicht daran. Aber die Hände schloß sie doch und bat um Sieg und flocht auch Harro dabei im stillen einen Lorbeerkranz.
Am 18., in der Dämmerstunde, ritt eine Estafette in Rohlbeck ein, ein Stellberger Postillion. Artenau hatte einmal[S. 201] eine vernünftige Idee gehabt und an den ungeduldigen alten Rittmeister gedacht, sich’s zwei blanke Taler kosten lassen.
Mit zitternden Händen riß Vater die Depesche auf. Sie umdrängten ihn alle auf der Veranda, sogar Mutter war herausgekommen, als der Postillion am Tor ins Horn gestoßen hatte.
„Düppel heut vormittag glorreich erstürmt. Schwere Verluste. General Raven tödlich verwundet.“
Der alte Rittmeister hatte sein Käppchen abgenommen.
Sie sahen alle zu ihm empor. Er las noch einmal. Und dann setzte er hinzu, mit bebender Stimme: „Unsere brave Armee! Endlich wieder einmal ein preußischer General für König und Vaterland geblutet. Der erste nach fünfzig Jahren. Jungens, nun lauft! Zum Kantor. Läuten soll er — läuten!“
Eine Stunde später war die Posttasche da. Die „Kreuzzeitung“ wußte noch nichts. Und auch die vom nächsten Tage brachte nur die erste Siegesdepesche und einen einzigen Zusatz: siebzig Offiziere tot und verwundet, gegen tausend Mann. Aber ein kurzer Brief Wilhelms an Martha war dabei: „Ich komme morgen. Lauter gute Nachrichten. Berlin schwimmt in Begeisterung und Jubel.“
Mit Extrapost kam er, ein paar Stunden früher, als erwartet. Die Jungens hatten oben von ihrem Fenster aus mit ihren Luchsaugen die Postchaise schon erspäht, als sie noch bei der Dampfmühle war, und hatten das ganze Haus alarmiert. Wieder standen alle auf der Veranda.
Als er aus dem Wagen sprang, rief er: „Martha, Vater — ich hab die Konzession. Die Eisenbahn ist durch!“
Er stürmte die Stufen hinauf, umhalste einen nach dem andern, sagte, rief immer wieder: „Ich hab die Konzession. Es ist alles in Ordnung. Vater, ich hab vierzigtausend Taler dabei verdient. So freut euch doch! Freut euch doch!“
Sie freuten sich ja auch alle. Aber die große Spannung war in so ganz anderer Weise gelöst, als sie es erwartet[S. 202] hatten. Er mußte es endlich merken. Er lachte: „Ja, so — natürlich, ihr habt alle Düppel im Kopf! Ihr wißt wohl gar nichts Näheres? Großartig! Berlin hättet ihr vorgestern abend sehen sollen. Wie toll zogen die Massen durch die Straßen. Alle Häuser waren illuminiert. Da haben die Berliner nun auf die Soldateska geschimpft und geschimpft, und jetzt sind sie auf einmal Feuer und Flamme. Der König bekam die Depesche von der Erstürmung der ersten sechs Schanzen auf dem Tempelhofer Felde, als er gerade die Franzer besichtigte. Er fuhr gleich nach dem Palais. Da standen schon Hunderte und Tausende und sangen das Preußenlied. Er soll Tränen in den Augen gehabt haben.“
Wilhelm hatte sehr schnell gesprochen. Nun holte er Atem und fuhr langsam fort: „Freilich — schwere Verluste. Daß General von Raven schwer verwundet ist, wißt ihr wohl schon. Ja, und unsere arme Tante Oschitz ... Harro ist vor Schanze VI gefallen —“
Da schrie Helene auf.
Die alten Herrschaften saßen allein auf Rohlbeck.
Wilhelm hatte gleich erklärt: jetzt müßte es ein Ende haben mit der ewigen Trennung. Er sehne sich, Weib und Kind bei sich zu haben. Die Jungens sollten auch aufs Gymnasium. Das letztere war vielleicht für Martha das Ausschlaggebende. Denn sie schied schmerzenden Herzens von der Scholle, die ihr so lieb geworden war, als hätte ihre eigene Wiege darauf gestanden. Und sie fürchtete sich vor Berlin.
Helene war mit Wilhelms im Herbst übergesiedelt. Zuerst nur, um bei dem Umzug und bei der Neueinrichtung zu helfen. Dann blieb sie, auf Vaters ausdrücklichen Wunsch. Sie war so still und ohne rechte Frische gewesen in all der letzten Zeit; seit der Nachricht von Harros Tode, hätte man beinahe sagen können. Ein wunderliches Mädel, fand der alte Rittmeister. Ja, ja doch, es war ja sehr[S. 203] traurig. Aber, du mein Gott, der Junge hatte doch einen so herrlichen Tod gehabt, für König und Vaterland. Und ohne Schmerzen, gleich dahin. Daß Lene das so naheging! Das heißt, sie hatte wirklich immer an dem Harro gehangen, fast wie eine Schwester. Aber nun das schmale, blasse Gesichtchen. Nun, sie mußte mal ordentlich heraus. Sollte auch wieder Unterricht nehmen, daß sie auf andere Gedanken käme. Nicht einen Ton hatte sie gesungen seit dem letzten Male in der Kirche, wo Heckstein der toten Sieger gedachte.
Sie wollte nicht nach Berlin. Wollte nicht — wollte auch die alten Eltern nicht allein lassen. Da sprach der Rittmeister ein Machtwort. „Und überhaupt, das heißt, so alt sind wir denn doch noch nicht! Das bißchen Wirtschaften hier! Für immer und ewig brauchst du ja nicht fortzubleiben, und wenn erst die Eisenbahn fertig ist, dann ist das ja nur ein Katzensprung.“
Wilhelm hatte vor dem Halleschen Tor gemietet. In einem ganz neuen Hause, das die spottsüchtigen Berliner „Neu-Amerika“ getauft hatten, weil es so weit draußen lag und weil es so sehr groß war. Ein Riesenkasten, aber schön gelegen. Von der Vorderfront sah man über die Kanalbrücke auf den Belleallianceplatz mit der Rauchschen Viktoria; die andere Front der Wohnung ging nach der breiten Bellealliancestraße hinaus, und jenseits lag das große Rothersche Stift inmitten eines gewaltigen Gartens. So hatte man doch den Blick auf grüne Bäume. Und die Jungens jubelten: fast an jedem Morgen wurden sie durch lustige Militärmusik mit Piefkes Düppelmarsch geweckt, und wenn sie dann ans Fenster stürzten, dann sahen sie unten die langen, bunten Kolonnen, die durch die Bellealliancestraße dem Kreuzberg zuzogen.
Martha lebte sich anfangs sehr schwer ein. Die Wohnung war gewiß für Berliner Verhältnisse recht geräumig, aber sie empfand überall ihre Enge gegenüber dem Rohlbecker Hause; litt überhaupt unter der Enge der großen Stadt nach den langen Jahren des Landlebens,[S. 204] fand sich auch nicht leicht in die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse, hatte für ihre emsigen Hände zu wenig zu tun. Aber sie war doch glücklich, mit ihrem Manne vereint zu sein. Und allmählich gewöhnte sie sich mehr und mehr, hatte ihr kleines Vergnügen an einem Bummel durch die Leipziger Straße, suchte überall nach den billigsten Quellen und kam jedesmal stolz vom Wochenmarkt auf dem Belleallianceplatz zurück; besonders stolz, wenn sie in einem kleinen Preisdisput mit einem der groben Marktweiber glorreich obgesiegt hatte. Allmählich gewann sie Berlin fast lieb.
Auf Helene wirkte dies Berlin ganz anders als vor zwei Jahren. Sie war gleichgültig geworden gegen die große Stadt. Es interessierte sie nichts mehr, es reizte sie nichts mehr: nichts zum Staunen, nichts zur Bewunderung, nichts zum Widerspruch. Und auch die Erinnerungen glitten nun, wenn sie kamen, an ihr ab wie etwas Fremdgewordenes. Mit Ausnahme der einen, um die der Tod frischen Lorbeer gewunden hatte.
Ihr erster Gang hatte der einsamen Insel gegolten. Sie fand die Tante merkwürdig gefaßt. Ganz schmal und durchsichtig zart war das kleine Gesicht unter der Trauerhaube, aber aufrecht und ruhig: „Der Herr hatte ihn mir gegeben, der Herr hat ihn mir genommen,“ sagte sie fast wie Hiob, „der Name des Herrn sei gelobt.“ Es lag etwas Tiefergreifendes in ihrer Ergebenheit. In Helene lebte der Schmerz anders; sie hätte ihn klagend gen Himmel schreien mögen.
In sein kleines Stübchen führte Tante Marianne sie. Da stand und lag noch alles, wie er es verlassen. An dem letzten Tage vor dem Ausmarsch war er noch darin gewesen.
Tante Marianne setzte sich vor seinen Schreibtisch, ließ die Bücher, die auf dem Tisch lagen, langsam durch ihre Hände gleiten, rückte an dem Tintenfaß. Helene hatte sich ein Korbsesselchen herangezogen, stützte den Kopf in beide Hände und weinte. Sprechen konnte sie nicht.
[S. 205]
Auch die Tante saß lange schweigend, nun mit gefalteten Händen auf der Schreibmappe.
Dann sagte sie ganz langsam: „Er hat dich sehr lieb gehabt, Helene. Mehr vielleicht, als er sollte. Ich hab das auch erst gemerkt, als du fort warst.“
‚Mehr vielleicht, als er sollte.‘ Helene hörte eigentlich nur das. Konnte man denn einen Menschen mehr liebhaben, als man sollte?
Aber sie durfte ja nicht mit der Mutter rechten. Und Tante Marianne würde auch nimmer verstanden haben, wenn sie ihr von dieser reinen und heißen Jünglingsliebe gesprochen hätte und von dem, was ihr Harro gewesen und geworden war in der Zeit ihrer Not. Vielleicht meinte Tante Marianne auch nur ‚Er hat dich sehr liebgehabt — mehr als mich.‘
Nur eins mußte sie sagen. Und es mochte wohl wie ein Auftrotzen klingen: „Ich hab ihn auch sehr liebgehabt.“ Wie ein Auftrotzen, und war doch großer Schmerz.
Tante Marianne sah auf und senkte den Kopf wieder. Vielleicht hatte sie auch das nicht recht verstanden, daß man jemand liebhaben kann in reinster Freundschaft. Vielleicht lebte auch in ihren Gedanken ihr Harro nur noch als Knabe; vielleicht hatte sie nie ganz begriffen, daß aus dem Knaben ein Jüngling geworden war, mit all der Lust und all dem Leid des Jünglingsherzens.
Sie stiegen wieder herunter und saßen im düsteren Wohnzimmer einander gegenüber.
Die Tante fragte nach Rohlbeck, nach den Eltern, nach Wilhelms. Helene gab Antwort. Und beider Gedanken waren doch nur bei ihm. Er stand für sie drüben an der Tür, er saß für sie in der tiefen Fensternische, er ging draußen vorüber unter den blühenden Kastanien.
Plötzlich sagte Tante Marianne, und nun klang doch der ganze Schmerz des Mutterherzens durch all ihre Ergebung hindurch: „Warum mußte er Soldat werden! Ich wollte es nicht. Fast auf den Knien hab ich ihn gebeten —“
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Und wieder saß Helene wortlos. Was sollte sie sagen? Auch das würde Tante Marianne nicht verstehen: daß der Tod auf dem Schlachtfelde der schönste Tod ist und daß mit Harro Hunderte und aber Hunderte, arm und reich, hoch und gering, in den Tod gegangen waren — mit Gott, für König und Vaterland.
Mit Gott! Den Kopf hätte Tante Marianne geschüttelt: ‚Du sollst nicht töten!‘
Und dabei fühlte sie, wie wieder der fragende, vorwurfsvolle Blick auf ihr ruhte. Fast als ob er zu ihr spräche: Du bist schuld daran, daß er so früh eintrat! Daß er ein Mann sein wollte, wo er noch ein Knabe war!
Es fröstelte sie in dem düsteren Zimmer.
Schwer stand sie auf. Küßte der Tante die Hand. „Ich muß nun wohl gehen —“
Tante Marianne blieb auf dem steiflehnigen Sofa sitzen, sagte nur müde: „Grüße Wilhelm und Martha.“
Aber dann plötzlich, als Helene schon an der Tür war, kam die Tante hinter ihr drein, umschlang sie mit beiden Armen, drückte sie an sich und rief unter Schluchzen: „Er hat dich so liebgehabt. Er hat dich ja so liebgehabt!“
Und da weinten sie beide, Wange an Wange. Weinten um den, der in ihren Herzen nie sterben würde: um den Knaben, um den Jüngling, um den jungen Helden, der mit einem Lächeln in den Tod gegangen war.
Seitdem ging Helene häufig nach der einsamen Insel. Mehr und mehr lernte sie Tante Marianne verstehen und schätzen. Auch lieben. Aber diese Liebe rankte sich doch fast nur um die Erinnerung an Harro. Bei allem Verstehen und aller Verehrung, auch in aller Zuneigung blieb etwas Fremdes. Und manchmal dachte Helene: ‚Es ist nicht anders wie in deinem Verhältnis zu Martha. Wir haben uns gefunden, und sind doch nicht ganz eins geworden.‘
Bisweilen, wenn sie von der einsamen Insel kam, ging sie auch an der kleinen Konditorei in der Bendlerstraße[S. 207] vorüber. Einmal stand sogar das alte Kuchenfräulein vor der Tür und sah in den lachenden Frühling hinaus, knixte und machte große Augen. Da grüßte Helene mit einem leichten Kopfneigen und lächelte, indem sie weiterschritt. Wirklich, sie konnte lächeln. Wunderte sich selber darüber, wie fern ihr nun diese Episode lag, und daß sie ihr aus einem großen Erleben zu einer Episode hatte werden können. Aber sie wußte auch: die emsige Arbeit und ihre Kunst hatten das erste und vielleicht das Beste an ihr getan, und doch nicht alles; es mußte die Zeit helfen, sie das Überwinden zu lehren, und es mußte Harros Tod kommen, um das Überwinden zur Tat werden zu lassen. Wie denn der eine Schmerz so oft den andern löst.
Monat auf Monat war verstrichen, und der Sommer stand schon vor der Tür, da raffte sich Helene endlich auch zu dem Besuch bei Frau Harriers-Wippern auf. Immer wieder hatte sie ihn hinausgeschoben. Nun drängten Vaters Briefe; es drängte auch das eigene Gewissen. Denn sie wußte, Mitte Juni ging die Sängerin meist in die Ferien.
Das Herz klopfte ihr doch, als sie die teppichbelegten Stufen zur Wohnung hinaufstieg und die Klingel zog. Sie fühlte sich schuldbewußt der gütigen Meisterin, schuldbewußt auch ihrer eigenen Kunst gegenüber. Die Worte klangen in ihr auf, die die Lehrerin nach der ersten Prüfung gesprochen hatte: von der Heiligkeit der Gabe, die ihr verliehen, und wie man sie hegen und pflegen müsse. Sie aber kam ja eigentlich auch jetzt nicht, um sich in ganzer Hingebung wieder der Kunst zu widmen. Fast gezwungen kam sie, unlustig, wie sie in all diesen Wochen gewesen war.
Sie mußte ein wenig warten. Es war alles wie früher. Unter den großen Blattgewächsen saß sie im Salon, die wohlbekannten Bilder blickten von den Wänden auf sie herab. Aus dem Zimmer nebenan klangen halblaute Worte, dann einzelne Töne, eine Halbkadenz, ein paar Anschläge auf dem Flügel. Wie sie das alles kannte![S. 208] Frau Harriers sang mit halblauter Stimme. Glockenhell aber. Nun die Schülerin. Hilf Himmel — meine arme Lehrerin! Solch eine Stümperei! Wie gequält, wie mühsam — schlecht, einfach schlecht. Was sollte das sein? Heiliger Mozart, wie man sich so an dir versündigen kann! Wenn das unser alter, guter Kantor hören müßte —
Seit Wochen, seit zwei Monaten hatte Helene nicht gesungen, keine Musik gehört. Nun, ganz plötzlich, regte es sich wieder in ihr. Waren es Erinnerungen, war’s die Atmosphäre dieses Hauses, waren es die Töne, die, gedämpft durch Tür und Vorhang, zu ihr drangen? Das Blut wallte. Sie sprang auf, hastete ein paar Male durch das Zimmer, blieb wieder stehen, horchte, lauschte.
Dann ging die Tür. Ein schmächtiges junges Ding, elegant, im lichten Sommerkleid mit ungeheuerlichen Pagodeärmeln, huschte vorüber. Aber gleich hinter ihr trat Frau Harriers-Wippern in den Salon. Blieb an der Schwelle stehen, schlug die Hände zusammen: „Fräulein von Hackentin!“ — kam dann auf Helene zu, faßte sie um den Gürtel: „Sind Sie’s, oder ist’s Ihr Geist?“ — lachte ihr altes, helles Lachen: „Nein, ich fühl’s, sie ist es selber, die Ungetreue, Ungetreueste! Die einzige Ungetreue, der ich je nachtrauerte! Helene Hackentin! Wie ich mich freue! Wie ich mich freue!“
Es stand ihr auf dem schönen Gesicht geschrieben, daß sie sich wirklich freute. Das war nicht mehr die ernste, gemessene Lehrerin, als die Helene sie kannte; fast übermütig war sie: „Da muß man sich nun mit solch einer Demoiselle Stern quälen, die keine Stimme hat, kein Talent, nicht einmal Gehör, nichts, nichts, als einen reichen Vater, muß sich quälen und ärgern und läßt eine Helene Hackentin warten! Warum haben Sie’s mich nicht wissen lassen, daß Sie’s sind — hinausgeworfen hätt’ ich das Modepüppchen aus dem Tempel! Aber nun lassen Sie sich mal ordentlich anschauen —“
Dann wurde sie doch ernst, las wohl in Helenens Zügen das Leid. Sie schob die Hand vertraulich unter ihren[S. 209] Arm: „Kommen Sie fort aus dieser kalten Pracht. Ich hab hinten, nach den Gärten hinaus, ein Privatzimmerchen, in dem wir gemütlicher plaudern können.“
So saßen sie denn in dem kleinen Raum, in den die grünen Baumwipfel hineinwinkten und durch dessen weitgeöffnetes Fenster die laue Sommerluft wehte. Saßen nebeneinander auf der winzigen Couchette wie zwei gute Freundinnen. Doch das Plaudern wollte nicht recht gelingen. Luise Harriers mochte nicht fragen, und Helene Hackentin waren die Lippen geschlossen. Auch in ihr war herzliche Freude über den Empfang. Aber sie konnte doch nicht sprechen über das, was sie erlebt hatte, von dem sie zu niemand gesprochen hatte, außer in den Stunden ihrer größten Herzensangst zu Martha. Nur Harros Tod berührte sie kurz. Und dann war da noch etwas, was ihr die Lippen schloß. Frau Harriers hatte gleich anfangs gesagt, leichthin: „Sie waren ja wohl mit Alfred Schwarz bekannt? Wissen Sie, daß er sich im Winter mit der Theresa Carena verheiratet hat?“
Es schmerzte ja nicht —
Schmerzte es wirklich nicht? Ein dumpfes Wehgefühl hob es aus, eine jähe Leere, als ob das Blut stockte im Kreislauf, auf einen Augenblick im Herzen stehen blieb, nicht mehr zum Gehirn emporsteigen wollte. Auf einen Augenblick nur. Dann konnte Helene ruhig entgegnen: „Ich wußte nichts davon.“
„Er war wieder in Petersburg. Wie ich neulich hörte, soll er jetzt in Paris leben. Er ist ja immer einer von den unsteten Kollegen gewesen, die nirgendwo festen Fuß fassen können oder wollen.“
Helene saß still, mit geneigtem Kopf. Sie mußte doch nachsinnen: ja, ein Unsteter, der nirgend festen Fuß fassen kann. Auch nicht will. Therese Carena? Noch nie hatte sie den Namen gehört. Fragen mochte sie nicht. Es war ja auch gleichgültig. Nur — nur — ob er wohl glücklich war?
Die Unterhaltung versiegte.
[S. 210]
Bis dann Frau Harriers, frisch zugreifend, fragte: „Aber Sie, Fräulein von Hackentin? Ich kann doch nicht länger damit hinter dem Berge halten: was macht die Kunst?“
Da raffte sich Helene auf.
Stockend, ein wenig verlegen begann sie. Mit der kleinen Münze der Erklärungen, Entschuldigungen, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte.
„War denn alles still in Ihnen? Ich kann’s nicht glauben. Wem ein Gott Gaben lieh, wie Ihnen, dem ist Musik ja der Wundertröster in der Not, die helle Sonne im Glück.“
„Sie war mir beides, Sonne und Trost. Dann ist eine Zeit gekommen, in der nichts mehr in mir klang.“
„Das sind Unglücksstunden, armes Kind, über die der Wille hinwegtragen muß. Wer hätte solche Stunden, Tage, Wochen nicht? Ich kenne sie auch. Doch dann modle ich mir den Goethevers auf meine Art um. ‚Gebt ihr euch einmal für Poeten, so kommandiert die Poesie!‘ Das heißt — ich singe. Ich singe mich frei. Aber nun lassen Sie einmal hören, was haben Sie getrieben, was haben Sie studiert, ehe diese bösen Stunden kamen.“
Da berichtete denn Helene. Zagend erst, lebhafter dann. Das Wachwerden, das vorhin im Salon über sie gekommen war, ganz jäh und unerwartet, kam ihr in den Sinn. Sie erzählte von ihrem vergeblichen Gang ins Kantorhaus, wie der alte Flehr über die Elsa-Partie den grauen Kopf geschüttelt hatte. Frau Harriers fand das entzückend: der Kantor, die lange Pfeife im Munde, auf seinem Spinett sich abmühend über die Wagnerschen Noten, zu Zerlinens Lied übergehend, die blauen Augen verzückt gen Himmel gerichtet: „Das ist doch noch Musik!“
„Den Braven möcht ich kennen lernen. Aber Ihnen möchte ich helfen, Fräulein Helene! Doppelt helfen — Sie verstehen mich schon. Ich bleibe zum Glück noch ein paar Wochen hier und hab wenig zu tun. Von morgen an kommen Sie zu mir. Wir studieren die Elsa. Hier meine Hand — schlagen Sie ein!“
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Vielleicht war es zuerst ein wenig Zwang. Blieb noch eine Weile Selbstzucht. Aber dann wachte die Freude wieder auf in dem starken Streben, im Ringen und im Gelingen. Denn es war ein Ringen und es war ein Gelingen an der neuen großen Aufgabe. Langsam nur, aber stetig ging es bergauf. Eins kam zum andern. Zu den Stunden bei Frau Harriers kam italienischer Unterricht bei Signora Marchesi, der kleinen, quirligen Toskanerin, die für die neue Freiheit ihres Vaterlandes schwärmte und die Namen Vittore Emanuele und Cavour in jeden dritten Satz einzuflechten suchte; die die Österreicher so wundervoll haßte, über den Heiligen Vater so köstlich lächelte, die Priester ihrer Kirche ironisierte, aber jeden Morgen zur Messe nach der Hedwigskirche ging.
Tötend langsam waren die ersten Wochen in Berlin hingeflossen, nun flogen die Tage.
Ein herrlicher Frühsommer war es, fruchtbar und reich. Vater schrieb immer wieder, wie prächtig die Ernteaussichten, „das heißt, mehr Regen könnten wir brauchen. Für unseren märkischen Sand ist bis Johanni jeder Regenschauer ein Säckchen Dukaten wert.“ Wenn solch ein Brief, meist an sie gerichtet, kam, so faßte Martha immer die Sehnsucht nach Rohlbeck, nach grüner Wiese, nach duftendem Flieder, nach einem Kirschbaum im Blütenschnee. Ganz plötzlich sagte sie dann bei Tisch: „Jungens, wann kommt ihr heut aus der Schule zurück? Um halb fünf. Gut — wir müssen ins Freie. Du auch, Lene.“ Und sie packte ein Körbchen mit Butterbroten und zog mit ihnen hinaus, die Bellealliancestraße hinauf zum Kreuzberg, und lagerte sich mit ihrer Schar irgendwo in der kleinen Wildnis um das ragende Denkmal; oder es ging noch weiter hinaus auf der Chaussee, quer über den riesigen, sonnigen Exerzierplatz bis nach Tempelhof, in den schattigen Garten von Kreideweiß. Manchmal, selten, hatte auch Wilhelm ein Gelüste nach etwas Familiensimpelei. Dann schlug er aber eine etwas höhere Nüance an. Er lud die Seinen — „Jungens, wascht euch die Pfoten!“ — zu Kaffee und[S. 212] Stippe bei Mielenz an der Potsdamer Brücke ein, wo der elegante Spießer auf schön getürmten Terrassen saß, oder führte sie gar am Abend nach dem „Albrechtshof“ oder nach „Moritzhof“ am Tiergarten. Das war ein besonderer Jubeltag für die Söhne. Denn erstens bekam jeder ein richtiges Seidel bayerisches Bier und eine Schinkenstulle, und dann konzertierte der alte Generalmusikdirektor Wiepprecht dort. Am Schluß stieg der jedesmal auf einen Tisch und dirigierte ein grandioses Schlachtenfurioso mit großem Trommel- und Paukengetöse. Die Jungens und auch Martha fanden das über alle Beschreibung schön. Helene freilich hielt sich lachend die Ohren zu.
Einmal, im Juni, kam Bruder Fritz angereist und logierte bei Wilhelms. Der „rote Kreisrichter“ war ein wenig bedrückt. Der Zwist mit dem Vater lag ihm auf dem guten Herzen, er fühlte sich auch mehr und mehr isoliert in Stellberg, und dann hatte er dienstlich Unannehmlichkeiten. Der neue Justizminister Graf Lippe zog schärfere Saiten gegen die fortschrittlich gesinnten Beamten auf. Es gab gleich am ersten Vormittag eine lange Beratung zwischen den Brüdern, ohne daß viel dabei herauskam. Denn Wilhelm sprach als ein Mann der Kompromisse emsig zum Guten, fürchtete auch persönlich Unbequemlichkeiten für seine geschäftlichen Beziehungen. Fritz aber redete sich schnell wieder in seine „Überzeugungstreue“ hinein, wollte lieber gemaßregelt sein, als nachgeben. Schließlich brach in beiden die Hackentinsche Art durch, sie lagen sich, nach scharfen Worten, versöhnt in den Armen und schwatzten davon, wie man sich am besten in Berlin amüsieren könnte.
„Ohne daß es viel kostet —“ meinte der Stellberger, aber Wilhelm erklärte: „Ach was! Man sieht sich so selten. Ich lade dich zu Hiller ein. Die Weiber kommen auch mit. Und am Abend gehen wir zu Kroll. Martha, Lene — macht euch so schön, als es möglich ist. Ehre wollen wir mit euch einlegen.“
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Er konnte zufrieden sein, und er schmunzelte auch, als der kleine Karl Hiller, der frühere Oberkellner von Ewest, der erst vor kurzem das eigene Geschäft Unter den Linden eröffnet hatte, ihn zu dem reservierten Tisch geführt hatte: Martha und Helene sahen vorzüglich aus. Martha in ihrer schlichten Frauenhaftigkeit, die Schwester rassig, eigenartig — „Donnerwetter, Mädel, als ob du alles Lackzeug frisch gestrichen hättest.“ Rosigster Stimmung war er: er hatte gleich gemerkt, wie sich in dem trotz des Sommers überfüllten Lokal, das rasch in Mode gekommen war, alle Augen auf die schönen Frauenerscheinungen richteten. Auch mit den Toiletten war er zufrieden: etwas übertrieben einfach, aber sie kamen mit, die beiden. Wirklich, sie kamen mit, fand er. Besonders Helene in ihrem Batistkleidchen mit der rosa Tunika über dem Rock. Zum Erstaunen! Das Mädel wußte aus nichts etwas zu machen. Und dann ihr wundervolles Haar, vorn in leichten Wellen gescheitelt, im Nacken der neumodische Chignon, der die rostbraune Flut kaum bändigen konnte.
Rosigster Stimmung war er. An jedem dritten Tisch im Saal hatte er Bekannte, grüßte, nickte, winkte, nannte für die Seinen die Namen: „Da der Prinz von Schwarzburg! ... Graf Dönhoff ... drüben der große Theateragent Röder mit seiner schönen Tochter Mila ... in der Ecke sitzt Strousberg ... siehst du ihn, den kleinen Juden ... und da sitzt der Oberstleutnant Prinz Hohenlohe, Flügeladjutant des Königs ... Du, Martha, da kannst du auch die göttliche Anna Schramm sehen mit dem Rittmeister von Brescius ... und am Nebentisch der schmächtige Zietenhusar, das ist Graf Haeseler ...“
Er grüßte, winkte, bestellte seine Lieblingsmarke, Ruinart, spöttelte mit dem Bruder, der ein wenig steifleinen zwischen Schwester und Schwägerin saß, aß wie ein Gourmet, schlürfte den Champagner mit Kennermiene: „Aber die nächste Bouteille, mein lieber Hiller, etwas kälter.“
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Helene war zuerst ein wenig befangen. Dann taute auch sie auf, plauderte drauflos, neckte Martha, die, wie sie behauptete, neuerdings eine kleine Passion für die Berliner Weiße hätte und die Berliner Schrippe und frische Blut- und Leberwurst; die überhaupt auf dem besten Wege wäre, richtig zu verberlinern. Dann saß sie wieder ein Weilchen stumm, dachte reuig: ‚Was bist du doch für ein Weltkind!‘ trank hastig ein Spitzglas Champagner, lachte sich über die veränderte Stimmung fort: ‚Gott, man ist doch nur einmal jung!‘ — fühlte, wie diese Atmosphäre von Luxus und Wohlleben ihr wohltat, diese Spiegelwände, die weichen, roten Teppiche, der glänzend weiße Damast, die Kristallschalen, das diskrete Plaudern und Lachen, der leise, leichte Duft von Parfüm, Speisen, Zigarrenrauch.
Plötzlich rief Wilhelm: „Merivaux ... suchen Sie einen Platz? Kommen Sie hierher. Wir rücken ein wenig zusammen.“
Da erst sah Helene den Gardeschützen, der mitten im Saal stand, mit dem Oberkellner unterhandelte. Jetzt stutzte er, zögerte einen Augenblick, trat dann an den Tisch heran. „Bonjour, mes dames et messieurs! Sehr freundlich, Herr von ’ackentin. Wenn Sie erlauben —“
Er sprach noch immer mit leichtem Akzent, kämpfte noch immer ein wenig mit dem H, mischte noch immer dann und wann einen französischen Brocken ein. Aber zugelernt hatte er entschieden „in die swere Sprack“ während der zwei Jahre. Wahrhaftig, länger als zwei Jahre hatte Helene den Neuchateller nicht gesehen! Und indem sie das mit leisem Staunen konstatierte, glitt durch ihre Erinnerung doch auch jener Spaziergang, im Rackower Park, die Begegnung mit Alfred Schwarz, ihr Gesang im Salon von Tante Marie —
Merivaux widmete sich zuerst fast ausschließlich Martha, sprach mit den Herren, erzählte, daß er im Winter vierundsechzig — „da wir ja leider nicht mobil wurden“ — auf einige Wochen in der Heimat gewesen wäre: „Schlechte Zeiten für meine Eltern, für unseren ganzen Adel.“ Die[S. 215] Demokraten obenauf, die Royalisten ganz, ganz unten; und allmählich werde auch so mancher von den Guten untreu. Im Vaterhause aber erhebe der alte Herr immer noch sein Glas, gefüllt mit blutrotem Cortaillard: „Vive le roi!“ Und am 22. März hätte auch diesmal die schwarzweiße Hohenzollernfahne über Schloß Merivaux geflattert.
Helene hörte gerne zu, wie er so sprach. Ein romantischer Zug klang daraus, der Widerklang in ihr fand. Dies treue Ausharren auf verlorenem Posten, dieser trotzige Sinn der alten Royalisten im fernen Lande: das war wirklich einmal etwas Eigenes in der Alltäglichkeit des Lebens. Es lag fast greifbar deutlich vor ihr; das altersgraue Schloß mit dem dräuenden Turm und der Zollernflagge, und tief unten der blaue Neuchateller See, wie Merivaux ihn einst ihr geschildert, von grünen Wiesenhalden umkränzt und blütenreichen Hängen, die schneebedeckten Alpenhäupter im Hintergrunde.
Einmal mußte sie unwillkürlich zu Merivaux hinübersehen. Und da begegneten sich ihre Augen. Sie wunderte sich: es war etwas Träumerisches in seinem Blick — etwas Fremdes — und doch wieder etwas seltsam Vertrautes.
Dann wandte er sich gleich an seinen Tischnachbar. Das Gespräch ging weiter. Fritz konnte sich eine etwas unpassende Bemerkung nicht versagen, daß Neuchatel doch eben nur seinen natürlichen Anschluß an die anderen Schweizer Kantone gefunden hätte, wurde aber von Merivaux ziemlich scharf zurückgewiesen. Dann, um weiterer Peinlichkeit zu entgehen, fragte Wilhelm recht unvermittelt nach dem neuen Modell der Jägerbüchse, das die Gardeschützen führten. Und Merivaux sang das Lob der Zündnadel — „sie schösse töter als tot“. Er war zur Abnahme in Sömmerda kommandiert gewesen und hatte den alten Dreyse kennen gelernt, den der König kürzlich geadelt, der aber noch immer wie ein richtiger Schlossermeister von Werkstatt zu Werkstatt ginge, um allenthalben nach dem Rechten zu sehen. Wilhelm erzählte dagegen[S. 216] wieder von dem alten Krupp in Essen und den gezogenen Gußstahlgeschützen und was sich die Herren von der Bombe davon versprächen. Wozu der rote Landrichter gähnte. Eigentlich ärgerte sich Helene über Bruder Fritz: der hatte doch auch einmal des Königs Rock getragen, und nun war ihm das gleichgültig, was selbst sie und Martha interessierte: wie „da oben“ bei Lundby die Zündnadel die erste Ernstprobe auf ihre Brauchbarkeit abgelegt hätte.
Endlich brach man auf. Merivaux ging mit hinaus zu Kroll.
Es dämmerte schon leicht, und der Krollsche Garten glänzte in seiner neuen feenhaften Beleuchtung durch Zehntausende von bunten Gasflämmchen, die alle Rabatten und Bosketts umsäumten, überall aus den grünen Büschen herausschimmerten, von hohen Kandelabern herunterstrahlten. „Etwas Ähnliches gibt es nur noch in Paris, in den Champs Elysées“, behauptete Wilhelm. „Aber was die Pariser nicht haben, ist unser Engel.“ Dieser Engel stand vor seinem Orchester, ein kleines altes Männchen mit kohlschwarzer Perücke, dirigierte ‚mit die Hände und die Füß’‘ und hatte dabei noch Zeit, jede vorüberwandelnde hübsche Frauengestalt mit verliebten Blicken zu verfolgen. An hübschen Frauen aber fehlte es im Krollschen Etablissement nie. Und außer Herrn Engel, fand Helene, gab es recht viele Herren hier, die unverschämte Augen machten.
Man promenierte langsam zwischen den Beeten auf und ab, die so wunderlich von bunten Blechblumen, mit Gasflämmchen in den Kelchen, eingefaßt waren. Und da schob sich Merivaux neben Helene.
Er fragte nach ihrem Gesang, und sie gab ein wenig spitz zurück: „Ich hätte gar nicht geglaubt, daß Sie dafür Interesse haben ...“
„Dann irrten Sie, gnädiges Fräulein“, meinte er.
Sie behielt noch immer ihren etwas ironischen Ton bei: „Also muß ich mich bedanken, daß Sie sich so gütig für mein bißchen Kunst interessieren?“
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„O nein — warum bedanken?“ Er blieb ganz ruhig. „Aber ich darf gewiß sagen, daß ich sehr, sehr oft daran dachte, wie schön Sie in Rackow sangen. Ich ’ab es nicht vergessen: ‚... auf der Welle blinken — tausend schwebende Sterne ...‘ Vielleicht glauben Sie es mir nicht: ich liebe die Musik überhaupt sehr.“
Es klang ihr so naiv, so furchtbar naiv. Sie mußte lächeln, und das sah gewiß wieder ein wenig überlegen, ein wenig spöttisch aus.
„Da haben wir’s! Sie lachen mich einfach aus.“
„Aber, Herr von Merivaux ...“
„Ich nehm es ja gar nicht übel. Wie soll ich? Ich weiß ja doch, Sie können kaum anders, und, gewiß, es scheint vielleicht eine seltene Sache, daß sich ein Offizier stark für Kunst, gerade für Musik interessiert. Aber es kommt doch vor. Par exemple: wir haben hier in Berlin einen Offizier-Musik-Verein, und ich spiele die zweite Violine.“
Sie machten gerade kehrt, fügten sich von neuem in die Reihen der Promenierenden ein. Dabei konnte sie ihm unauffällig ins Gesicht sehen. Ein wenig im Glauben, er habe den Spieß umgedreht und scherze nun seinerseits. Aber er blickte ganz ernst. Es mußte doch wahr sein, was er sagte.
Und er sprach schon weiter: „Sie sind wieder Schülerin von Frau Harriers-Wippern?“
Da mußte sie doch erstaunt zurücksagen: „Woher wissen Sie das?“
‚„Mon Dieu ... Berlin ist so klein. Ich verkehre bei Professor Taubert, und zu den näheren Freunden des ’auses gehört auch Frau Harriers. Sie sprach bisweilen von Ihnen, gnädiges Fräulein, und ’at sehr geklagt, daß Sie gegangen sind auf und davon. Damals! Und weil sie wußte, daß ich die Ehre ’ab, Sie zu kennen, erzählte sie mir neulich, sehr froh, von Ihrem Wiederkommen.“
„Aber davon ahnte ich ja gar nichts.“
Er lachte. „Man kann doch nicht alles ahnen.“
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„Weshalb haben Sie mit mir in Rackow nie von Ihrer Liebe zur Musik gesprochen?“ Fast vorwurfsvoll, ein wenig schmollend, sagte sie es.
„Ja — weshalb nicht? Vielleicht ist mein Interesse erst später recht erwacht.“ Merivaux ging einige Schritte schweigend weiter. „Vielleicht sprach ich auch aus Trotz nicht. Ich weiß nicht recht.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Vielleicht ... nun, vielleicht wollte der Dilettant die Konkurrenz mit dem ... wie sagt man doch — mit dem Mann von Beruf nicht aufnehmen.“
Er hatte das letzte zögernd gesprochen, fast wie widerwillig. Und es schien ihm sofort leid zu tun. Denn er sah wohl, wie Helene Hackentin ablehnend den Nacken straffte, daß sie starr geradeaus blickte und ihren Schritt beschleunigte.
Sie ärgerte sich. Eigentlich traf’s ja doch den Kern der Sache, war’s ganz richtig, was Merivaux eben gesagt hatte: der Dilettant tritt immer vor dem Berufskünstler zurück.
Nun war er wieder an ihrer Seite.
„Was studieren Sie jetzt mit Frau Harriers, wenn ich fragen darf?“
Noch immer konnte sie sich nicht ganz überwinden. Ganz kurz gab sie zurück: „Die Partie der Elsa ...“
„Eine schöne ... eine sehr schwere Aufgabe. Schwer wie fast alles von diesem Maestro Wagner. Man muß sich ganz in ihn hineinleben, wenn man ihn recht verstehen will. Ich ’ab es versucht, aber es will nicht ganz glücken. Vielleicht muß man ganz ein Deutscher sein dazu?“
„Warum das, Herr von Merivaux? Die Musik, die Kunst überhaupt ist doch wohl international?“
„O nein! Nein doch, gnädiges Fräulein. Das sagt man wohl so, das ist aber nicht wahr. Man empfindet wohl nach, aber man empfindet nicht ganz. Es gibt Differenzen. Man kann Mozart überall verstehen und kann[S. 219] Auber überall verstehen. Aber Wagner nicht. Oder doch nicht gleich. Gerade weil er so ganz deutsch ist.“
„Aber Wagner hat doch auch in Paris viele Bewunderer.“
„Wenige, glaub ich. Man wollte ihn in Mode bringen, aber es ist nicht geglückt, trotz der Fürstin Metternich. Sie sollten nur sehen, wie sich die Karikatur über ihn lustig macht. Gavarni und Cham und Noël. Wie man spottet ...“
„Das ist sehr häßlich.“
„Sans doute. Aber der Pariser liebt das so. Und das ’indert nicht, daß Wagner sich vielleicht doch Bahn machen wird, langsam, langsam —“
Da waren sie wieder am Ende der Promenade angelangt, und Wilhelm unterbrach ihr Gespräch. Er hatte einen freien Tisch unter einer der Hallen erspäht und behauptete, einen unendlichen Durst zu haben.
Man kam sehr spät nach Hause. Weit nach Mitternacht. Aber Helene lag noch lange, ohne Schlaf finden zu können. Eigentlich klang immer nur das eine Wort, das Merivaux gesprochen, in ihr nach, das Wort von dem Dilettanten und dem „Mann des Berufs“ — dem Künstler, hätte er sagen sollen. Ja, dem Künstler! Die Gestalt Alfreds stieg wieder auf, aber es war nur noch ein Schatten. Nur daß sie daran dachte: merkwürdig, daß er in all den Stunden, die wir zusammen waren, fast nie ernst über seine, über unsere Kunst gesprochen hat. Immer glitt er darüber hin, berührte höchstens das Persönliche, soweit es ihn und vielleicht noch mich anging ... nie gab er mehr ...
Es war ja auch nichts Tiefgründiges, was sie mit Merivaux gesprochen hatte. Gewiß nicht. Aber es war ihr so überraschend gekommen, weil sie den Neuchateller so ganz anders eingeschätzt hatte, lediglich als den lustigen, flotten Leutnant. Wie man sich doch im Menschen irren kann, dachte sie. Und dachte auch flüchtig an Holfen. Auch bei ihm hatte sie Interessen gefunden, die sie nicht erwartete. Aber es war doch wieder ein Unterschied dabei: Holfen war gewiß ein gescheiter, liebenswürdiger Mann,[S. 220] aber er hatte kein Temperament. Und bei Merivaux verriet sich das überall und immer. Merkwürdig, auch in Äußerlichkeiten. Er war anders als die meisten. Wie eigen er ihr beim Abschied die Hand gedrückt hatte, so gar nicht konventionell. Sehr frei und frank, und doch sehr ehrerbietig.
Am nächsten Morgen dachte sie nicht mehr an ihn. —
Eine Woche später begannen für die Jungens die Großen Ferien, und es ging nach Rohlbeck; nur Wilhelm blieb, mit einem lachenden und einem weinenden Auge, zurück.
Und wieder eine Woche später fuhr Helene, einer dringenden Einladung von Tante Marie folgend, auf einige Tage nach Rackow.
Als sie, in ziemlich früher Vormittagsstunde, durch das Parktor bog, sah sie dicht vor ihrem Wagen, fast schon an der Veranda, einen im ganzen Kreise wohlbekannten und gefürchteten Mann: Herrn Wilke aus Stellberg. Sie hatte zwar seine persönliche Bekanntschaft noch nicht gemacht, aber ihn doch schon, auch in Rohlbeck, gesehen, wenn er bei einem der Kleinbauern oder bei dem Krämer sich als unwillkommenster aller Gäste einfand. Und sie dachte verwundert: ‚Mann des Gesetzes, wie kommst du hierher?‘
Aber da stand schon Onkel Ernst, vergnügt lachend, neben seinem diskret grinsenden Höhne auf der Veranda und begrüßte sie beide fast gleichzeitig: „Tag, Leneken! Herzlich willkommen. Nimm die Sachen vom gnädigen Fräulein, Höhne. Tante ist im Gartensalon, Kind ... Ja, und da sind Sie ja mal wieder, lieber Wilke. Freut mich, Sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Aber Sie sollen doch nicht mit der Dienstmütze auf den Hof kommen! Das macht einen schlechten Eindruck, mein Lieber.“
Der lange Labammel stand militärisch stramm: „Vorschrift, Herr Baron.“
„Ach was, Vorschrift! Na, spazieren Sie nur herauf. Was gibt es denn Schönes?“
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„Sechstausend vierhundert Taler, Herrn Baron zu dienen, und einhundert achtundsechzig Taler fünf Groschen Kosten.“
„I, sieh mal einer an. Ja, wissen Sie, Wilke, da gehen Sie nur morgen mit der Chose zu Ephraim Herz. Der wird’s bezahlen.“
„Unmöglich, Herr Baron. Wie der Lateiner sagt: Hinc Rhodus, hinc saltus!“
„Ihr Latein ist schwach, Wilke. So, nun setzen Sie sich erst mal. Höllisch heiß heut. Was? Erst ’ne kleine Stärkung. Höhne, besorgen Sie ein Frühstück und eine Flasche Burgunder. Unser Herr Wilke ist ein Kenner. Bringen Sie aber auch einen guten Korn mit herauf. Na, so setzen Sie sich doch, Wilke.“
Der lange Mann stand noch immer, hatte das rote Schnupftuch herausgezogen, wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und von der großen roten Nase, die es mit der berühmten Koralle des Doktor Tiburtius aufnehmen konnte. Er zögerte sichtlich. „Gnädigster Herr Baron,“ meinte er, „so geht das nicht. Erst der Dienst. Officinum ante omnia. Ja, Herr Baron, das vom vorigen Male — das passiert mir nicht wieder. Da können der Herr Baron Gift drauf nehmen.“
„Aber wo werd ich denn, Wilke. So, hier setzen Sie sich, alter Freund und Bogenschütze, und heben Sie erst einen Kleinen. Alles der Reihe nach.“
Helene hatte das wunderliche Gespräch, etwas neugierig, etwas ängstlich, aus dem halbdunklen kühlen Korridor mit angehört. Dann war sie zu Tante Marie geflitzt, die in einem hellblauen Batistkleide, das über und über mit weißen Spitzen besäumt war, im Gartensalon auf der Chaiselongue lag und in dem neuen Roman von Fanny Lewald blätterte; hatte Grüße von den Eltern gebracht, war auf ihrem Stübchen, diesmal der „Bärenhöhle“, gewesen, hatte sich ein wenig eingerichtet. Als sie wieder herunterkam und auf die Veranda hinauslugte, saß da immer noch Onkel Ernst, und ihm gegenüber saß Herr Wilke; zwischen ihnen standen die Reste eines stattlichen[S. 222] Frühstücks und einige dickbäuchige Flaschen. Onkel Ernsts Vollmond glänzte eitel Wonne, und Wilkes Nase glänzte in dem alten Unteroffiziersgesicht wie Purpur.
„Ja, ja, mein lieber alter Wilke, man hat seine Not“, klang Onkel Ernsts sanfte, einschmeichelnde Stimme. „Aber man muß sich die Laune nicht verderben lassen. Erst noch ein Schlückchen Burgunder. Das ist 1848er Romané, mein Bester, so was kriegen Sie nicht alle Tage. He?“
„Hab ich mein Leblang noch nicht getrunken, Herr Baron. Nullum vinum nisit franciscum. Aber man soll des Guten nicht zu viel tun. Der Dienst, gnädigster Herr Baron —“ Er knöpfte an seinem Rock und zerrte eine dicke Brieftasche heraus. „Sechstausend vierhundert —“
„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst noch ein Gläschen. Prosit! — Ach, da bist du ja, Leneken. Komm, setz dich ein bissel zu uns. Wilke, Sie kennen doch das Rohlbecker gnädige Fräulein?“
„Wo werd ich denn nich?“ Herr Wilke erhob sich etwas schwer und umständlich, schwenkte ein weniges mit dem langen Oberkörper. „Ich war schon mal beim gnädigen Herrn in Rohlbeck, als das gnädige Fräulein noch in die Windeln lagen, mit Respektus zu melden.“
„Ja, Ihr segensreiches Wirken, mein lieber Wilke, geht durch Generationen. Wir wissen es. Immer im Dienst voran. Immer die Pflicht über alles. Der Mensch braucht Stärkung, um für Dienst und Pflicht die rechte Kraft zu finden. Prost, mein lieber alter Wilke.“
„Danke, Herr Baron, danke untertänigst. Ein wunderbares Weinchen, das der Herr Baron im Kellerchen haben. Ist ja auch berühmt, der Rackower Keller. Aber nu müssen wir doch wohl —“
„Nachher, lieber Wilke. Alles zu seiner Zeit. Erst das Vergnügen und dann die Pflicht. Ja, alter Wilke, wie lange kennen wir uns eigentlich? Aber so trinken Sie doch. Das ist ja geradezu beleidigend, Sie so sitzen zu sehen, so trocken.“
„Na, gnädigster Herr Baron, das wird woll sohner Jahre[S. 223] zwanzig her sein. Vor dem Einzug von der gnädigsten Frau. Damals liefen immer die Wechsel von Hartwich Stern aus Frankfurt!“
„Sieh mal einer an, was Sie für ein Gedächtnis haben. Den wackeren Geschäftsfreund deckt nun auch schon die kühle Erde. Aber wir beide wollen auf sein Gedächtnis mal gleich ein stilles Glas trinken.“
Helene Hackentin saß an der Querseite des Tisches und wußte nicht recht, ob sie sich schämen oder ob sie lachen sollte. Doch wohl lieber lachen. Um etwas Wichtiges konnte es sich ja nicht handeln. Onkel Ernst lachte ja auch sein ganz leises, fast unhörbares Lachen, bei dem sich die beiden Mundwinkel so seltsam nach unten zogen. Dann und wann sah er unter seinem Einglas, das wie angemauert vor dem Auge lag, „um die Ecke“ und nickte Lene zu.
Sicher: das Ganze war ein Witz. Sonst wäre Tante Marie ja auch nicht so ruhig gewesen. Sie hatte vorhin sogar zu Höhne gesagt: „Sorgt nur dafür, daß der alte Wilke sein ordentliches Maß bekommt.“
Und jetzt gab Onkel Ernst dem Höhne ein geheimnisvolles Zeichen. Der stellte neue Gläser und eine Flasche Champagner auf den Tisch. Worauf Herr Wilke die Hände spreizte: „Apage Satanum! Nee, Herr Baron, das geht wirklich nicht. Über allem der Dienst. Sechstausend vierhundert —“
„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst werden wir mal dieser Pulle nähertreten. Leneken, du trinkst auch ein Schlückchen mit.“ Der Korken fuhr gegen das Verandadach. „Veuve Cliquot, braver Wilke. Die edelste aller Witwen soll leben! Na, Witwe? Da haben Sie’s anders gemacht — was? Seit wann sind Sie denn Witwer?“
„Seit acht Jahren, Herrn Baron zu dienen.“
„Also, das nächste stille Glas der teuren Verewigten. Schlimm, was? — So als einsamer Witmann.“
„Es geht, Herr Baron, es geht. Man muß sich trösten.“
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„Da haben Sie ganz recht, guter Wilke. Und ein stattlicher Mann wie Sie findet schon Trost. Darauf müssen Sie mal trinken.“
Es wurde allmählich Helene zu bunt. Sie schlich sich fort, ging hinunter zu den Beeten am See, wo Tante Marie vom Mai bis in den Herbst hinein Erdbeeren zur Reife zu bringen wußte. Es gab da heut etwas Besonderes zu sehen. Quer über die Senke hinweg steckten Arbeiter mit langen Stangen eine schnurgerade Linie ab; drüben am Hang stand eine kleine Gruppe Männer um ein dreibeiniges Gestell, das ein Etwas, fast wie ein Fernrohr, trug. „Unse Isenbahn!“ erklärte der alte Gärtner mit Stolz.
Unsere Eisenbahn: Wilhelms Eisenbahn! In zwei Jahren mochte sich hier ein hoher Damm über das Tal spannen, und die Lokomotive schnob pustend und fauchend darüber hin, hinter ihr drein polterte und ratterte der Zug, und eine endlose graue Rauchwolke zog sich bis drüben zum Waldsaum hin.
„Da wer’n se noch ihre liebe Not mit han“, meinte Marhenke, der Gärtner. „Des is allens Sumpf, man bloß ’n bißken Sand druf. Wenn sie hier Boden ruff karrn, schlingt der Sumpf allens runter. Das geiht so nich, wie se sich dat denken. Dat weeß ich beter.“
Helene lächelte. Sie wußte es erst recht besser: der Ingenieur fand schon Abhilfe. Und wenn der Sumpf wirklich den einen Damm fraß, dann türmte man den zweiten auf ihn; und wenn der unersättliche Grund auch den verschlang, legte die Technik den dritten von Hang zu Hang oder warf eine Eisenbrücke über die Senke. Die Eisenbahn war der Fortschritt, und der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten.
Langsam schlenderte sie zwischen den schmalen Beeten des Gemüsegartens hin. Ihr kam Bruder Fritz, der rote Kreisrichter, in den Sinn. Da hatte sie ja eben dessen Schlagwort nachgebetet: Der Fortschritt läßt sich nicht aufhalten. Du lieber Gott, war das nicht am Ende auch nur ein[S. 225] Wort? Solch ein Wort, das nur den Weg in ödes Land wies, wenn man es verallgemeinerte. Ein an sich gutes Wort, das zur Phrase geworden war in einem unfruchtbaren Kampf.
Der Bruder tat ihr leid, und Vater erst recht. Zwischen beiden hatte das eine Wort Zwietracht gesät. Da half kein Brückenschlagen. Der große Sumpf, Politik geheißen, verschlang jeden Versuch der Verständigung. Als Martha, die immer versöhnen wollte, gestern von Fritzens Besuch in Berlin erzählte, hatte Vater bloß gesagt: „Laßt mich mit dem roten Kreisrichter zufrieden. Das heißt, die Stunde wird ja wohl noch kommen, wo er sein Unrecht einsieht.“
Die Sonne stand hoch am Himmel. Es mußte fast Mittag sein. Nun hatte wohl auch endlich der lange Wilke das Feld geräumt.
Aber als Helene wieder vor der Veranda stand, saß der gestrenge Beamte, der Schrecken dreier Städtchen und von zehn Dörfern, immer noch auf seinem Stuhl. Saß freilich ganz in sich zusammengesunken, mit vornüber geneigtem roten Kopf, aber immer noch die Hand am Glase.
„Prosit, Wilkechen!“ sagte Onkel Ernst gerade. „Nun noch ein Schlückchen auf die Konstitution. Ich meine natürlich Ihre vortreffliche Konstitution!“
„Jawoll ... Herr Baron ... die Konstitution ...“ Es war nur noch ein Lallen. „Sechstausend vierhundert ...“
„Legen Sie’s nur dahin, Wilke“, meinte Onkel Ernst. „So, Leneken, nun könntest du eigentlich mal zum Großknecht laufen, der Ochsenwagen soll kommen.“ Dabei sah er prüfend unter dem Einglas um die Ecke, diesmal auf Herrn Exekutor Wilke, und lächelte zufrieden. Der hatte jetzt die Augen geschlossen und schnarchte wie das Vollgatter einer Schneidemühle, wenn die Sägen solch recht dicken Knorren im Stamm anfassen.
Dann kam der Leiterwagen, mit zwei Ochsen bespannt. Der Amtmann Schmidhals schritt höchstselbst daneben her[S. 226] und half den Schlafenden aufladen. Wie ein Toter lag er da. Onkel Ernst legte ihm die Mütze und das dicke Taschenbuch auf den Bauch und faltete ihm die Hände darüber, schob ihm auch noch den Kopf recht bequem auf dem Strohbündel zurecht.
„So —“ meinte er dann. „Christian, du fährst hübsch langsam nach Stellberg und ladst Wilken vor seinem Hause ab. Und sagst dem ältesten Jungen, der Vater sollte morgen zu Ephraim Herz gehen, der brächte alles in Ordnung. Pascholl, Christian!“
Und da war plötzlich auch Tante Marie, besah sich von der Veranda aus durch ihr Lorgnon das Schauspiel und lachte über das ganze kleine Gamingesicht. „Eigentlich scheußlich“ sagte sie dabei, „... un ivrogne! Fi donc!“ Und lachte wieder.
Die Ochsen zogen an. Schwer rüttelte der Leiterwagen. Das Vollgatter rasselte dazwischen.
Onkel Ernst kam langsam die Treppe hinauf, legte zärtlich seinen dicken Arm um die dünne Taille seiner Frau, die neben ihm wie ein winziges, zierliches Püppchen aussah, und meinte: „Können wir nicht bald essen, Mariechen? Das hat mir Hunger gemacht. Und einen Durst habe ich — einen Durst! Komm, Leneken ... wir wollen uns ein kleines Erdbeerböwlchen brauen ...“
Am liebsten wäre Helene Hackentin schon am nächsten Tage nach Rohlbeck zurückgefahren. Sie konnte einen leisen Ekel nicht überwinden. Das elegante Rackow übte auch nicht mehr den früheren Reiz auf sie aus. Jetzt, plötzlich, empfand sie, wie schal und inhaltlos doch das Leben hier war, wie ganz auf das Äußere gestellt, ein Leben völlig in den Tag hinein. Und zum erstenmal hatte sie einen Blick hinter die Kulissen getan: der Glanz hier war auch nur Schein, mühsam genug vielleicht aufrechterhalten.
Ganz wunderliche Gedanken kamen ihr, ganz revolutionäre Gedanken. Da waren die Rackower: jetzt wußte sie, schwer verschuldet waren sie, hatten ihren Reichtum[S. 227] vergeudet. Da saßen die Eltern in Rohlbeck: die hatten immer sparsam gelebt und doch so schlecht gewirtschaftet, daß sie nun arm waren wie die Kirchenmäuse, wenn man’s klipp und klar heraussagen wollte. Nicht viel anders stand es wohl, mit Ausnahme vielleicht von Onkel Grucker, der auf seinem schönen Majorat saß, mit den anderen Verwandten und Nachbaren im Kreise.
Hatte da Bruder Wilhelm nicht recht, wenn er hinausgegangen war von der Klitsche in die Großstadt, um sich neue Erwerbsmöglichkeiten zu erschließen?! Aber freilich: er hatte das Hackentinsche Blut mit hinübergenommen. Auch er verstand das Zusammenhalten nicht. Das Geld zerrann ihm unter den Händen. Gerade jetzt wieder. Eigentlich trieb er’s mit seinem Gewinn aus der Bahnkonzession auch nicht viel anders, wie es die Eltern getrieben hatten, als ihnen die letzte große Erbschaft ins Haus gebracht worden war und sie die Geldtönnchen unters Bett gestellt und aus ihnen geschöpft hatten, bis das letzte Goldstück fort war.
Das Hackentinsche Blut! Vielleicht, gewiß war’s nicht nur das Hackentinsche. Ganz ähnlich, ganz gleich mochte das Blut in den Adern der anderen Verwandten und Nachbaren rollen. Wer wirtschaftete denn hier im Kreise wirklich erfolgreich? Die einen verschwendeten, die andern darbten fast und kamen doch auf keinen grünen Zweig, zehrten auch nur vom Ererbten und mehrten es nicht.
Einer machte vielleicht eine Ausnahme: Holfen. Aber der gehörte eben schon einer neuen Generation an.
Lag bei dieser neuen Generation wohl die Zukunft?
Helene mußte an die Jungens denken, an Wilhelms Söhne, Hans und Thedi. Und dabei wieder an Martha. Vielleicht schlug in ihnen Marthas Blut durch. Vielleicht erbten sie von ihr die Gabe des Festhaltens, den gesunden, aufs Praktische gerichteten Sinn.
Eigentlich waren ihr die Jungens fremd geblieben. Wie einem wohl oft das Nächste am fremdsten bleibt. Als unartige Bengels, die oft lästig wurden, hatte sie sie[S. 228] meist empfunden. Nun grübelte sie ihnen nach. Der Älteste hatte doch viel von der Mutter, einen nachdenklichen Sinn; ein Bücherwurm war er. Thedi war äußerlich ganz hackentinsch, war auch Vaters Liebling. Glänzend begabt, hieß es; es flog ihm alles zu, was der Hans mühsam erobern mußte. Aber er hielt nichts recht fest. Um ihn konnte man Sorge haben.
Eine ordentliche Sehnsucht nach den Jungens überkam Helene, fast als wäre sie seit Wochen von ihnen getrennt. Auch das zog sie wieder nach Rohlbeck zurück.
Aber aus Rackow kam man nicht so leicht fort. Onkel Ernst und Tante Marie waren von einer Güte und Liebenswürdigkeit, der man gar nicht widerstehen konnte. Mochten sie sonst sein wie sie wollten: sie übten geradezu einen Zauber aus in ihrer grenzenlosen Gastlichkeit.
Jetzt war auch das Haus wieder voll. Die kleine, mollig runde Grete Waldegg wohnte im „Alpenröschen“; Vetter Mollard, der gerade von Florenz zurückgekommen war, wo er zwei Jahre lang Attaché gespielt hatte, war in der „Bleikammer“ einquartiert, und Merivaux, der sich plötzlich angesagt hatte, war gestern abend in den „Pfau“ eingezogen. In der „Nachtigall“ aber hauste Bernhard Rose, ein mittelloser junger Student, der nun schon zum zweiten Male ein paar Sommermonate in Rackow zubringen durfte, um sich ein wenig herauszufüttern. Helene kannte ihn bereits. Im vorigen Sommer war er mit hohlen, blassen Wangen gekommen und wesentlich erholt abgereist. Das war auch etwas, was immer wieder mit Tante Marie versöhnte: ihre Gutherzigkeit war so grenzenlos wie ihre Gastlichkeit — beide freilich gaben sich oft nach Laune und fragten nicht viel nach wie und warum.
Das junge Volk war sehr fidel, und Onkel Ernst und Tante Marie taten mit. Immer stand etwas Neues auf dem Tagesprogramm. Einmal fuhr die ganze Gesellschaft nach dem Walde hinaus, in die Haselberge, auf zwei mächtigen Leiterwagen, um draußen herumzutollen; ein andermal gab’s eine festliche Krocketpartie, in der die[S. 229] Sieger mit Rosenkränzen belohnt wurden; im Dorfwirtshaus wurde ein Preiskegeln veranstaltet, oder es ging nach Nugow, um den alten Grafen Delkowitz, Edlen von Kastricz, in seiner grauen Johanniterburg zu überfallen, seine Segelboote mit Beschlag zu belegen und ein paar Schläge über den großen Nugower See zu machen.
An den Abenden wurde oft musiziert.
Der kleine, blasse Student war ein ganz tüchtiger Klavierspieler, der sogar vor schwereren Aufgaben nicht zurückzuschrecken brauchte. Aribert Mollard klimperte schlecht und recht die Gitarre, und die rundliche, mollige Grete Waldegg sang dazu mit offenbarem Wohlgefallen, mehr schlecht als recht, irgendwelche Liedchen. Merivaux hatte sein Instrument mitgebracht.
Helene war begierig, ihn zu hören. Geradeso begierig, wie sie überrascht gewesen war, als er ihr davon erzählte, daß er Violine spiele.
Nun: er war kein Meister. Sie hörte es sofort heraus. Aber er war auch kein Stümper, und sein Spiel hatte eine angenehme persönliche Note. Es war so frisch, so natürlich und so anspruchslos, wie sein ganzes Wesen. Sie konnte nicht anders: sie mußte ihm nach seinem Vortrag ein paar freundliche Worte sagen.
Er legte gerade sein Instrument in den Kasten zurück, sah auf, lächelte, fast ein wenig trübe: „Der gute Wille ist das beste an meinem Spiel, glaub ich ...“ und setzte dann rasch hinzu: „Aber ich bin sehr glücklich, wenn es Ihnen wenigstens nicht mißfiel!“
Da wurde Helene gerufen. Fast immer mußte sie ja zum Schluß singen. Onkel Ernst steckte jedesmal eine komisch-feierliche Miene auf, wenn er sie dazu aufforderte: er zwang seinen ungeheuerlichen Körper zu einigen tänzelnden Schritten, machte ihr eine großartige Verbeugung, sprach in seinem weichsten Tonfall von der Gnade, die die erhabene Künstlerin seiner niederen Hütte antue —, und stellte ein fürstliches Honorar in Aussicht. Unter tausend Louisdor tat er es nicht.
[S. 230]
Als sie zum erstenmal im roten Damastsalon an den Flügel getreten war, kam ein leises Beben über sie. Die Erinnerung wurde wach an jenen Abend, da sie hier, hier vor Schwarz gesungen hatte. Aber eine kleine Willensanspannung genügte, und sie war darüber hinweg. Und war froh, daß es nicht schwerer gewesen.
Heut sang sie den Schubertschen „Erlkönig“.
Während sie sang, freute sie sich nur des verständnisvollen Begleiters, des kleinen Studenten. Aber auch das und alles andere, das Äußerliche, versank wie immer vor ihrer Seele.
Sie versetzte, versenkte sich ganz in die Dichtung. In die Märchenstimmung. Sie fühlte mit dem Vater, der mit seinem Kinde durch Nacht und Wind reitet; sie empfand die angstvollen Fragen des Kleinen mit. Sie kämpfte mit dem Reiter gegen das Phantom, sie erlebte mit ihm die wilde, rasende Flucht und daß sie umsonst blieb gegen die Naturwelt. Und ihr selbst war’s wunderbar, wie sie nun gelernt hatte, all das im Gesang auszudrücken. Frage und Antwort von Kind und Vater, die Lockungen des Erlkönigs, den ganzen Stimmungsgehalt des Liedes.
Sie dachte, während sie sang, an nichts als an ihre Kunst. Am wenigsten dachte sie an Merivaux.
Aber als sie geendet hatte und sich umsah, sah sie zuerst ihn. Der Zufall wollte, daß er genau an der Stelle stand, wo an jenem Abend Schwarz gestanden: hinter all den fröhlichen Beifallsspendern, allein, an der Tür. Er klatschte auch nicht, wie die anderen. Still stand er, mit leichtgesenktem Kopf. Er kam auch nachher nicht zu ihr, um ihr irgendeine Liebenswürdigkeit zu sagen, ein Wort der Anerkennung.
Ein wenig verdroß es sie doch. Sie wußte ja, daß sie gut gesungen hatte. Gar so schweigsam, gar so zurückhaltend brauchte er auch nicht zu sein.
Recht zur Besinnung darüber kam sie nicht. Denn Onkel Ernst schlug, nachdem „sich der Beifall ausgetost“, wie er meinte, noch einen Mondscheinspaziergang vor. „Und am[S. 231] Brockenhäuschen soll unsere Primadonna assoluta ihr fürstliches Douceur erhalten.“
Es war herrlich im Park. Der Mond stand hoch am sternhellen Horizont, die Taxushecken, die Baumgruppen warfen lange Schatten auf die bekiesten Wege. Auf den heißen Julitag war die abendliche Abkühlung gefolgt. Ganz im Westen, auf Rohlbeck zu, wetterleuchtete es.
Das junge Volk tollte um das Rackowsche Ehepaar herum, das Arm in Arm, im langsamsten Tempo, den leichten Hang zum Brockenhäuschen hinaufging. Es war ein ewiges leises Kichern, Plaudern, Raunen, Flüstern.
Oben, unter dem Brockenhäuschen, stand Höhne, ein Tablett in der Hand, auf dem ein geheimnisvolles Etwas unter der Serviette lag. Auf dem Tisch neben ihm stand eine Bowle in Eis. Ein paar Windlichter leuchteten. Und Onkel Ernst hielt eine kleine Rede, an deren Schluß er das geheimnisvolle Etwas gleich einem Denkmal enthüllte: „Unserer Primadonna, unserer Rohlbecker Helene!“
Es war eine Torte. Eine große Torte mit Marzipanguß, der einen Kranz von lauter Goldfüchsen darstellte: „Das Süße der Süßesten“, verkündete Onkel Ernst und füllte die Gläser. „Aber nun gleich anschneiden! Vorwärts, Höhne! Die ersten beiden Stücke müssen zwei um die Wette essen: Grete und Aribert! Keinen Widerspruch. Hier, Grete, hier stellst du dich hin, dort, Mollard, du ... und nun soll Lene zählen: eins, zwei, drei!“
Da standen sie nun wirklich, wie zwei gehorsame Kinder, hatten jedes ihr Tellerchen in der Hand mit einem Stück Torte darauf, und Helene zählte: eins — zwei — drei —
Aber sie hatten kaum zum erstenmal hineingebissen, so gab es ein ungeheures Spucken, Prusten und Husten. Die mollige Grete ließ den Teller zur Erde fallen, Mollard schluckte verzweifelt und rollte die Augen wie ein Erstickender. Onkel Ernst und Tante Marie wollten sich totlachen.
Die Torte, dies Meisterwerk von Monsieur Bombourdon, war aus Sägespänen gebacken. Aus richtigen holzigen,[S. 232] kienigen, märkischen Sägespänen, die sich wie Harz an die Zähne der unglücklichen Opferlämmer festsetzten, die wie Leimbrocken an Lippen und Zunge klebten. Bis Höhne jedem als Erlösungstrank einen Becher Bowle brachte.
Es war wieder einer jener Momente, in denen Helene nicht recht mitkonnte. Sie sah und hörte, wie alle lachten und kicherten, bald Grete und Aribert am meisten. Aber sie stand ein wenig abseits, ein wenig verlegen. Und plötzlich bemerkte sie, daß auch Merivaux sich abgesondert hatte. Der Neuchateller schien gleich ihr für diesen märkischen Junkerscherz kein rechtes Verständnis zu haben.
Die Bowle war schnell geleert, und wieder unter Plaudern und Lachen ging es durch die Mondscheinnacht dem Schlosse zu. Höhne hatte die Gitarre holen müssen, Mollard sang sinnig-minnig: „Guter Mond — du goldne Zwiebel —“ und die mollige Grete machte schwärmerische Augen.
Es war wohl Zufall, daß Helene Hackentin und Merivaux ein wenig zurückblieben.
Aber als Helene das fröhliche Kichern und Raunen da vorn hörte, in das sich manchmal Onkel Ernst mit einer seiner, im leisen Hofton vorgebrachten drolligen Bemerkungen mischte, überkam auch sie etwas wie Übermut. Eine jugendliche, unbezwingbare Lust, den Neuchateller ein wenig aus seiner Verschlossenheit herauszuwerfen.
„Sie sind heute wirklich gar nicht nett, Herr von Merivaux —“ sagte sie schmollend.
Er zuckte zusammen, wie aus einem Traum aufgestört.
„Wodurch ’ab ich mir die Ungnad zugezogen?“ fragte er dann.
„Der einzige waren Sie, der mir kein Wort über meinen Gesang gesagt hat ...“
Da sah er sie voll an: „Legten Sie Wert darauf, gnädiges Fräulein?“
Eine leichte Verlegenheit mußte sie doch überwinden: „Ich würde es sonst nicht bemerkt haben ...“ Helene wollte die Worte ein wenig kokett herausbringen, aber es gelang[S. 233] ihr nicht recht. Sie klangen ziemlich ernst. Und sie fügte schnell hinzu: „Schon deshalb muß ich Wert auf Ihr Urteil legen, weil Sie der einzige hier sind, der wirkliches Verständnis für Musik hat.“
„Sie vergessen mindestens unseren kleinen Studenten.“
„Nein, nein! Herr Rose hat, wie wohl alles, auch sein Klavierspiel nur durch eisernen Fleiß errungen. Musik aber muß man fühlen.“
„Und wenn ich nun gerade deshalb nicht in den lauten Beifall einstimmen konnte?“
Helene erschrak. Sie blieb stehen. „Hab ich denn schlecht gesungen?“
Nun blieb auch er stehen. „Nicht doch! Au contraire. Wie Sie das nur annehmen können. Gerade weil Sie sangen so schön, so wunderschön, gerade deshalb konnt’ ich nicht applaudieren wie die anderen. Ich konnte nicht.“
Er hatte sehr schnell gesprochen: wie dann immer, wieder mit seinem leichten Akzent. Helene freute sich aufrichtig. Hundertmal mehr als über den ganzen Beifall im Damastsalon. Freute sich, und zugleich wurde der Übermut wieder in ihr lebendig. Wieder meinte sie schmollend, ein wenig kokett: „Aber ein freundliches Wort hätten Sie doch für mich haben können. Sie sind doch sonst nicht verlegen um Worte, Herr von Merivaux.“
Wie sie das gesagt hatte, fühlte sie plötzlich, daß sie beide allein waren. Die anderen waren weitergegangen, schon hinter den Taxushecken verschwunden. Ganz leise nur klang noch das Kichern zurück, dann und wann ein schwacher Ton der Gitarre. Ganz allein standen sie im Mondenschein, der so hell leuchtete, daß sie jede Bewegung seines Gesichtes erkennen konnte. Und sie sah, daß es in diesem schönen, offenen Gesicht arbeitete.
„Wir müssen gehen,“ brachte sie beklommen hervor.
Er schüttelte den Kopf. „Bitte — nein!“ sagte er heiß. „Ich muß Ihnen erklären, Fräulein ’elene, warum ich nicht sprechen konnte vorhin. Erklären, was auf mir gelegen hat seit Jahr und Tag. Warum ich Ihnen ausgewichen[S. 234] bin. Ja, ausgewichen! Bis dann der Zufall mich wieder mit Ihnen zusammenführte. Neulich! Une chance heureuse — wer weiß es? — vielleicht das Unglück meines Lebens.“
„Herr von Merivaux ... bitte ...“
Da stand er vor ihr, die Hände auf der Brust, mit zuckendem Gesicht, sah sie mit seinen großen, ehrlichen Augen an, fragend, forschend, flehend: „Ein paar arme Minuten nur schenken Sie mir ...“
Und sie konnte nicht nein sagen, er zwang sie. Sein Wille zwang sie.
„Wie ich da stand heut abend im Salon, und Sie sangen so wunderschön, da mußt ich denken an einen anderen Abend. Sie ’aben damals gesungen nicht ’alb so vollendet, aber ich hab schon gespürt die Seele in Ihrem Gesang. Vielleicht, weil ich Sie liebte. Damals schon. Aber da war der andere. Und ich fühlte ganz deutlich, daß Ihre Gedanken nur bei ihm waren. All Ihre Gedanken. Und ich muß Sie fragen. Um die Gnade Gottes: Sie liebten ihn?“
Daß sie hätte fliehen können! Weit weg — weit weg! Aber da stand er vor ihr, mit seinem zuckenden Gesicht und den großen ehrlichen Augen, in denen es feucht schimmerte, hatte die Hände erhoben —
Sie neigte nur leise den Kopf.
Er blickte starr auf sie hin. Fragend, forschend, flehend. Mit zusammengepreßten Lippen. Auf eines Atemzugs Länge.
„Und nun? Nun ist das vorbei?“ stieß er hervor.
„Ja — ganz vorbei —“ Es war nur ein Hauch. Aber es zwang sie, es zwang sie: sie mußte aufsehen, mußte ihn ansehen.
Und wie sie ihn ansah, im hellen Mondlicht in sein Gesicht sah, da wußte sie mit einem Male: es sind Harros Augen, die dir entgegenleuchteten, Harros ehrliche, offene Augen, die dir sagen: ‚Ich liebe dich!‘
Es war ein jähes Erstaunen in ihr, daß sie die Ähnlichkeit nie vorher bemerkt hatte, ein jähes Erschrecken:[S. 235] wie Merivaux wäre Harro geworden, wenn der Schnitter Tod ihn nicht hinweggerafft hätte — wie Harro mußte Merivaux gewesen sein, als er ein Kind, ein Jüngling war.
Gleich einem Traumbild war’s, das plötzlich vor ihrer Seele emporstieg, das in ihrem Herzen noch einmal eine Saite aufklingen ließ, die sie für immer zersprungen wähnte.
Sie standen und sahen sich in die Augen.
Die Saite klang und hallte leise, rief wehmütig weiches Empfinden wach. Schmerzliches Erinnern und sanfte Zärtlichkeit. Ein Neues strömte auf sie ein, fremd und doch wohlvertraut. Das Glück vielleicht — vielleicht —
Und da hatte er sie schon in seine Arme geschlossen, fest und innig ans Herz genommen, küßte sie und küßte sie wieder.
Sie hatte die Augen geschlossen, wehrte ihm nicht, lag an seiner Brust.
Seine Lippen fühlte sie, seine Wange an ihrer Wange, sein Atem ging über ihr Gesicht. Liebesworte hörte sie dicht an ihrem Ohr, zärtlich, flehend. Und ihr Blut pulste und rauschte. Immer enger umschloß sie sein Arm, seine Hand glitt sanft über ihren Nacken, über ihr Haar. Ihr Herz pochte. Pochte lauter und lauter. „Küsse mich!“ bat er. „Küsse mich!“
Und sie küßte ihn. —
Plötzlich schraken sie auseinander.
Laute Stimmen kamen, hastige Schritte, wie im Lauf.
Höhne mit einer Blendlaterne und einem Blatt Papier in der Hand. Unmittelbar hinter ihm Onkel Ernst, keuchend: „Helene! Helene!“
Hand in Hand standen sie. Hand in Hand gingen sie ein paar Schritte ihm entgegen.
Merivaux wollte sprechen, erklären.
Aber Onkel Ernst warf nur einen flüchtigen Blick auf sie. Nun er dicht heran war, sahen sie sein erschrockenes Gesicht.
Er keuchte noch immer. Mühsam nur brachte er es heraus: „Erschrick nicht, Helene ... wo hast du denn den[S. 236] Brief, Höhne ... Helene, liebes Kind — der alte Rittmeister — dein guter Vater — ist plötzlich schwer — sehr schwer erkrankt —“
Nach Onkel Ernsts Hand griff Helene, griff dann nach dem Brief. Höhne hob die Blendlaterne hoch, leuchtete —
Der kleine Bogen flatterte auf den Kies.
Einmal, ein einziges Mal schluchzte Helene auf und sank in Merivaux’ Arme.
Als Helene nach Rohlbeck kam, war Vater bereits seit zwei Stunden verschieden. Ohne schweren Todeskampf war der alte Rittmeister hinübergegangen zu den ewigen Heerscharen. Martha führte die Schwägerin zu ihm. Er lag wie ein Schlafender auf seinem schmalen Bett. Auf dem Nachttisch standen zwei Lichter. Das Fenster des Sterbezimmers war geöffnet, nach altem märkischem Brauch. Die Kerzenflammen flackerten leicht in der Zugluft, und der wechselnde Reflex gab dem stillen Greisengesicht dann und wann den Schein des Lebens.
Helene warf sich am Bett auf die Knie, griff nach Vaters Hand, schrie auf, drückte den Kopf neben Vaters Haupt in das Kissen, schluchzte und weinte. Sie wollte nicht glauben, daß Vater tot wäre. Sie konnte überhaupt keinen Gedanken fassen. Zum erstenmal in ihrem Leben stand das große ewige Rätsel des Vergehens vor ihr, und ihr war’s, als müßten ihr Schmerz und ihr Flehen den Vater erwecken können, als müßte Gott sich erbarmen und ein Wunder tun.
Nicht fassen und nicht begreifen konnte sie auch dann, als Martha sie mit sanfter Gewalt emporhob, als der alte Heckstein kam und, selber mit tränenden Augen, tief ergriffen, ihr milden Trost zuzusprechen suchte.
Nicht fassen und nicht begreifen konnte ihre leidenschaftliche Seele, daß es einen Trost geben sollte für solchen[S. 237] Schmerz. Nicht fassen und nicht begreifen auch, wie ruhig und still die anderen waren. Mutter sogar. Die saß zwar am Fußende des Bettes, weinte dann und wann leise vor sich hin, aber sie fand doch Worte. Worte! Fragte, ob Wilhelm und Fritz benachrichtigt wären, ob das Läuten schon bestellt sei. Und Martha schaltete und waltete, dachte an alles, wollte Helene gar nachher drüben an den Kaffeetisch zwingen. Gott im Himmel! Hatten sie alle denn Vater so wenig lieb gehabt?
Die Jungens standen scheu, verstört, mit roten Augen. Sie riß sie an sich — die mußten doch mit ihr fühlen! Ja, die Tränen saßen ihnen locker. Aber nachher schlichen sie auf den Zehenspitzen zu ihren Kaffeetassen. Und drüben lag Vater, Großvater, der sie so sehr geliebt hatte!
„Martha! Martha, wie ist es denn nur möglich! Wie ist’s denn nur gekommen?“
„Du mußt ruhiger sein, Lene. Ehre Gottes Willen! Er hat unserem lieben Vater doch ein so langes Leben und einen so sanften Tod geschenkt!“
„Vater war so rüstig! Vater hätte noch zehn, zwanzig Jahre leben können. Martha, wie ist es gekommen?“
Da sagte es Martha.
Vater war ganz munter gewesen, hatte noch mit beiden Jungens selber die Posttasche geholt. Dann hatten sie um den runden Tisch gesessen, Vater bei der Zeitung —
Martha stockte ein wenig. Aber es war nur wie ein zögerndes Atemholen. „Vater hat sich vielleicht über etwas in der Zeitung geärgert, hat auch geschimpft. Aber dann ist er aufgestanden und ist auf und ab gegangen — du weißt ja, wie alle Tage. Mutter hatte die Familiennachrichten vor sich. Ich häkelte. Siehst du — und da kommt Vater mit einem Male zu Mamachen, beugt sich ein wenig über sie und sagt: ‚Ich weiß nicht, Elisabeth, ich weiß nicht, mir ist so komisch, das heißt —‘ und da fällt er auch schon vornüber. Grad, daß ich ihn noch auffangen konnte. Wir haben ihn gleich zu Bett gebracht.[S. 238] Der Hans ist zum Pastor gelaufen. Vater hat noch ein paar undeutliche Worte gesprochen, lag dann still. Da schrieb ich schnell an dich und hab an Wilhelm depeschiert und einen reitenden Boten nach Stellberg geschickt zu Fritz und zum Doktor —“
„Ja — ja — du hast an alles gedacht!“
„Das mußte ich doch, Helene. Wer sollte es denn sonst? Und dann ist Papa sanft hinübergeschlafen. Ich war zuletzt allein bei ihm und hab ihm die Lider zugedrückt.“
Helene hatte keine Träne mehr. Heiß brannten ihre Augen, aber der Tränenquell war versiegt. Sie starrte vor sich hin. Ja, sie waren alle so ruhig, waren alle so überlegt, so gefaßt. Als ob nur gerade ein Licht ausgelöscht wäre. Als ob nicht eine Lücke gerissen wäre in ihrer aller Leben, die sich nie, nie wieder füllen konnte. Nie — nie — nie —
In den nächsten Tagen, bis zur Beerdigung, ging sie umher wie eine Träumende. Und nur wie durch einen Schleier sah sie alles, was um sie her geschah.
Die Brüder kamen, standen mit gefalteten Händen an Vaters Bahre, hatten Tränen in den Augen, sprachen leise und gedämpft, saßen beieinander, küßten Mutter, beredeten allerlei mit Martha und Heckstein und Flehr. Martha brachte ein Trauerkleid: „Helene, du mußt verständig sein. Man darf sich auch dem tiefsten Schmerz nicht so leidenschaftlich hingeben.“
Onkel Ernst kam und mit ihm Merivaux. Er drückte ihr die Hände, sprach sanft und lieb, wollte sie küssen. Sie schrak zusammen und entwand sich ihm. Sah ihn an fast wie einen Fremden, neigte dann den Kopf, ließ es sich gefallen, daß er ihre Hände hielt —
Sie sah einen Wagen vorfahren, sah, wie der schwarze, florbespannte Sarg heruntergehoben wurde, und lief hinauf in ihr Zimmerchen, lief in dem hin und her, von einer Wand zur anderen, wohl eine Stunde lang.
[S. 239]
So fand sie Wilhelm. Er fragte, ob sie denn Vater nicht noch einmal sehen wollte, ehe der Sarg geschlossen würde.
‚... ehe der Sarg geschlossen wird ...‘, klang es in ihr nach. Schrill und schneidend. Aber sie nickte, und da nahm sie der Bruder unter den Arm, stützte sie, sagte auch wie Martha: „Helene, du mußt verständig sein. Wir trauern doch alle um unseren guten Papa. Aber das Leben fordert seine Rechte. Man muß darüber hinfortzukommen suchen, und wenn es noch so schwer ist.“
Sie nickte wieder, aber verstanden hatte sie kaum, was Wilhelm sagte.
Dann, als sie draußen an der Treppe standen, begann er noch einmal, leise: „Sei gut zu Fritz. Der trägt’s am schwersten.“
Verständnislos sah sie ihn an, bewegte die Lippen. Er mochte es für eine Frage nehmen.
„Nun — er muß doch denken, daß Vater sich so aufgeregt hat, weil er sich bei der Ersatzwahl für den Kreis als fortschrittlicher Kandidat hat aufstellen lassen. Das hat Vater zuletzt in der Zeitung gelesen. Sei gut zu dem armen Fritz —“
Sie hauchte ein Ja, aber recht verstanden hatte sie das auch nicht. Vater! Vater! Sie haben ja alle nichts als Worte.
Und dann stand sie am offenen Sarge. Wie versteint zuerst. Sah auf das stille Greisengesicht, das ganz klein geworden schien, sah auf die weißen Locken, sah auf die wachsweißen Hände, zwischen die Martha ein Kreuzchen und einen kleinen Strauß blauer Vergißmeinnicht gelegt hatte.
Sah dann langsam im Kreise herum, auf die Ihren, die um den Sarg standen. Und sie sah zum ersten Male in all den Gesichtern den heiligen Ernst und den tiefen Schmerz, erkannte zum erstenmal, daß sie alle von der selben Trauer erfüllt waren, wie sie.
[S. 240]
Ganz sacht ging sie zur Mutter hinüber, legte den Arm um ihre Schulter, küßte ihre Stirn. Trat an den Sarg — und da endlich kamen die Tränen. Sie lösten sich sanft, und sie konnte leise ein stilles Gebet sprechen.
Auch Heckstein stand am Sarge seines alten Freundes.
Als sie hinausgingen, lag Diana vor der Tür und winselte. Der Pfarrer beugte sich und klopfte dem Tier leise auf den Kopf, fast zärtlich: „Da reden die klugen dummen Menschen von der unverständigen Kreatur“, meinte er wehmütig und streichelte den Hund. „Kusch, Diana. Er hat dich auch lieb gehabt.“
Dann schob er seine Hand unter Helenes Arm: „Komm, Kind, wir wollen einmal durch den Garten gehen.“
Schweigend gingen sie bis zu den großen Kastanien, unter deren Schatten er mit dem alten Rittmeister so oft gewandelt war. Da bog er ein, drückte Helenes Arm: „Kind, sie haben mir erzählt, daß du wie von Sinnen bist. Das ist nicht recht von dir. Sieh mal, ich will dir nicht mit billigen Trostworten kommen und auch nicht mit Vorwürfen. Aber ich hab dich getauft und konfirmiert, da hab ich schon ein Recht, mit dir ein paar ernste Worte zu sprechen. Die Juden stellten Klageweiber an und zerrissen ihr Gewand und streuten Asche auf ihre Häupter. Wir Christen müssen und sollen den Tod anders anschauen. Er darf keinen Schrecken für uns haben. Uns ist er ja nichts als der Übergang aus der Weltlichkeit in die Ewigkeit. Und was könnten wir Schöneres wissen von einem geliebten Toten, denn: ihm ist wohl.“
Sie schritt neben ihm, mit tief gesenktem Kopf.
„Ich kenne dich ja, Helene“, sprach er weiter. „So warst du von klein auf: immer kochte es bei dir über, in der Freude und im Schmerz. Das Leben aber fordert ein Maßhalten. Du mußt dich beherrschen, auch grade jetzt. Denk’ nur daran, Kind, daß dein guter Vater nun nicht mehr ist. Denk’ mehr daran, wie lieb er dich gehabt hat. Ich kann’s dir sagen: du warst sein besonderer[S. 241] Liebling. Noch in den letzten Tagen hat er mit mir so manches über dich gesprochen, in Zärtlichkeit und auch in Sorgen. Aber die Sorgen hab ich ihm ausgeredet, und dann leuchteten seine schönen blauen Augen: ‚Mein Spätling!‘ sagte er.“
Ihre Hand bebte auf seinem Arm. „Onkel Pastor“, sagte sie ganz leise. „Ich hab Vater ja so sehr, so sehr liebgehabt. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr. Aber nun quält mich der Vorwurf: ich bin nicht gut genug gegen ihn gewesen, ich bin nicht dankbar genug gewesen, ich — ich hab auch nicht das volle rechte Vertrauen zu ihm gehabt.“
„Kind, so mußt du nicht denken. Denk’ nur daran, daß du ihn liebgehabt hast. Das ist genug und ist alles. Das andere: liebes Kind, es ist wohl aller Eltern Los, daß ihnen ihre Liebe nie ganz vergolten wird. Ein Kind kann vielleicht Elternliebe und Elternsorgen nicht ganz vergelten, denn beide sind zu groß und zu unendlich. Aber danach fragen Elternherzen gar nicht. Die wollen nur wissen und fühlen, daß die Kinder sie liebhaben und gut tun in ihrem Sinn.“
Wieder sagte sie: „Ich hätte doch mehr Vertrauen zu Vater haben sollen.“
„Wenn Kinder groß werden, Helene, so gehen sie ihre eigenen Wege. Das ist nicht anders in der Welt und so vom lieben Gott gefügt. Es ist nicht nötig, daß sie dann jedesmal zu den Eltern kommen und fragen: bin ich auf dem rechten Pfad. Die Hauptsache ist, daß es vor ihrem eigenen Gewissen der rechte Weg ist.“
Schweigend gingen sie ein Stück weiter, wandten sich und schritten langsam zurück. Da begann Heckstein wieder: „Der Rackower war gestern bei mir, Helene. Deinetwegen. Du weißt schon, weshalb?“
„Ja, Onkel Pastor“, gab sie leise zurück.
„Es ist jetzt eigentlich nicht die Stunde, um dir Glück zu wünschen, mein Töchterchen. Aber ich denke, ich kann’s doch. Gerade in Vaters Sinn, denn er hat sich nichts[S. 242] sehnlicher für dich ersehnt, als einen guten braven Mann. Daß er’s erlebt hätte! Du hast ihn gewiß sehr lieb, deinen Neuchateller!“
Da blieb Helene stehen. Sie sah zu Boden. Zwischen ihren Brauen grub sich die kleine schmale Falte ein.
„Onkel Heckstein —“ sagte sie dann zögernd. „Ich weiß es nicht —“
„Aber, liebe Helene!“
In diesen letzten zwei Tagen war die Erinnerung an Merivaux, die Erinnerung an jene flüchtigen Minuten im Rackower Park wohl bisweilen durch ihren Sinn geglitten. Aber sie hatte das abgewehrt, wie sie sich ihm selber entzogen hatte. Nicht einmal abgewehrt vielleicht; es war aufgetaucht und untergegangen in ihrem leidenschaftlichen Schmerz, wie einzelne Regentropfen in einem Seespiegel verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen.
„Aber, Helene!“ wiederholte Heckstein.
Da richtete sie den Kopf hoch und sah ihn an. Ganz tief eingeschnitten stand die Falte zwischen den Brauen in dem gequälten, übernächtigten Gesicht. Aber in ihrer müden Stimme lag doch etwas wie Trotz.
„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte sie noch einmal. „Laßt mir Zeit.“ Und sie schluchzte kurz auf. Nur einmal. Dann kämpfte sie es herunter, griff nach den beiden Händen Hecksteins, drückte sie krampfhaft: „Dank, Onkel Pastor. Du hast mir doch wohlgetan! Dank!“
*
Das märkische Kirchlein, der kleine Friedhof hatte eine solche Trauerversammlung noch nicht aufgenommen. Nun erst erwies es sich, wieviel Liebe der alte Rittmeister, der schlichte Mann, im ganzen Kreise und darüber hinaus besessen hatte. Heckstein hatte recht, wenn er in seiner einfachen Rede betonte: er ist heimgegangen zum ewigen Frieden und hinterläßt auf Erden keinen Feind.
Von weit her kam der Landadel. Aber es kamen auch die Bauern und Kossäten aus den nächsten Dörfern mit Weib und Kind. An diesem Tage ließen sie die Arbeit[S. 243] allenthalben ruhen, um dem Herrn auf Rohlbeck die letzte Ehre zu erweisen. Und aus den kleinen Städten kam von den Beamten und den Gewerbetreibenden, wer immer mit den Hackentins in Verbindung gestanden hatte.
In der Mitte der Kirche stand, von dem reichen Segen der sommerlichen Gärten verhüllt, der schwarze Sarg. Obenauf lagen die wenigen Orden. Die kostbarsten obenan: das Eiserne Kreuz und das russische St. Georgskreuz, das Hackentin sich bei Kulm Anno dreizehn erkämpft hatte.
Kurz und kernig sprach der Pfarrer, die eigene Ergriffenheit niederringend, vom Altar aus. Er zeichnete das Charakterbild des Verewigten: ein rechter und echter märkischer Edelmann, getreu seinem König, treu der Scholle, die ihn trug; herzensgut und hilfsbereit, ein guter Gatte, ein guter Vater, ein guter Patron, seinen Leuten allezeit ein guter Herr; tapfer im Kriege, bescheiden im Frieden. Gott vor Augen und im Herzen. „Manche werden vielleicht sagen und sprechen: es war kein reiches Leben. Die Toren! Gewiß, es war kein Leben, erfüllt mit äußeren Ehren. Es war kein Leben, emporgetragen durch großes Streben. Es war kein Leben voll Prunk und Glanz. Klein war der Kreis, in dem er wirkte, er, den ich durch nun fünfunddreißig Jahre meinen liebsten Freund nennen durfte. Aber er füllte diesen engen kleinen Kreis durch die Liebe seines großen, grundgütigen Herzens. Darum trauern wir alle so tief um ihn, darum will uns die Lücke, die Gottes unerforschlicher Ratschluß riß, als nimmer ausfüllbar erscheinen. Ich sage euch: es war ein reiches, gesegnetes Leben, und in reichem Segen bleibt uns sein Gedächtnis. Unser Herr und Gott, der dem lieben Verewigten dies Leben schenkte bis in das Greisenalter hinein, ohne daß des Alters Beschwerden an ihn herantraten, gab ihm auch einen gnädigen schnellen Tod sonder Schmerzen, und er hat ihn in Gnaden aufgenommen in sein himmlisches Reich. Amen.“
Die Orgel setzte ein. Und über den heut hundertstimmigen[S. 244] Chor hinaus sang die Tochter dem Vater das Lied von Ernst Moritz Arndt, das er sich schon vor Jahren von seinem Freunde Heckstein für diesen Tag erbeten hatte:
Dann segnete der Pfarrer den Sarg ein. Sechs alte Soldaten, märkische Bauern, trugen ihn hinaus unter den breitästigen Maulbeerbaum, der einst auf Befehl Friedrichs des Einzigen gepflanzt worden war, hinaus zu der langen Reihe der Gräber, die sich um das kleine uralte Erbbegräbnis scharten.
Nur wenige Worte konnte Heckstein hier sprechen. Dann brach ihm, der sich so tapfer gehalten, die Stimme. Langsam sank der Sarg in die Gruft.
Wie eine schwarze Mauer stand dichtgedrängt die Masse der Leidtragenden. Ein kurzes Schluchzen, ein verhaltenes Weinen und wieder tiefe, tiefe, ehrfurchtsvolle Stille.
Als Erste dann wankte die gebeugte Greisin am Arm des ältesten Sohnes an das offene Grab, warf drei Hände Heimaterde in die Gruft. Und sie folgten alle — alle — zum letzten Abschiedsgruß.
Bis dann die Landwehrmänner, einer noch mit dem Kreuz von Eisen, drei mit dem Düppelkreuz auf den langen schwarzen Bauernröcken, herantraten, die Jagdflinte in der Hand, und dem Kameraden die drei Ehrensalven über das Grab schossen.
Als die letzte Salve verhallt war, sprach Graf Grucker, der neben dem Pfarrer stand und ihm liebevoll die Hand gereicht hatte: „Mir ist’s, als hätten wir mit unserem guten Hackentin die alte Zeit begraben. Nun kommt wohl eine neue herauf. Daß sie nur gut wird — meine Hochachtung — die neue Zeit!“
[S. 245]
Heckstein sah zu ihm empor mit schimmernden Augen: „Das walte Gott!“
*
Helene hatte ihre eigene Schwäche gefürchtet und die Leidenschaft ihres Schmerzes. Daß sie zusammenbrechen würde oder aufschreien, mitten im Gotteshause, an der offenen Gruft. Und doch war sie ganz gefaßt, ganz ruhig gewesen unter der Heiligkeit von Ort und Stunde. Der wehe Schmerz war zur sanften Trauer gewandelt, und als sie in das kleine Kirchlein trat, hob sie die Weihe des Augenblicks über alles Irdische empor. Die Orgel klang, und fest setzte ihre Stimme ein, dem geliebten Vater zur letzten Ehre.
Es tat ihr wohl, daß sie alle gekommen waren, unendlich wohl die Liebe und Verehrung, die ihm galt. Eine stille wehmutsvolle Freude war in ihr, daß durch die Kirchenfenster die strahlend helle Sonne leuchtete. Als ob Gott es mit Vater noch heut besonders gut meinte.
Ganz ruhig, ganz gefaßt war sie in all ihrer Ergriffenheit.
Einmal nur wollte ihre Kraft schwinden. Als der Sarg langsam in die Gruft glitt. Vielleicht sah man’s ihr an, vielleicht schwankte sie. In dem Augenblick suchte eine feste Hand die ihre, und sie war wie eine gute Stütze. Nur ganz dunkel empfand sie, daß Merivaux neben ihr stand, mitten unter ihren Nächsten, daß er es war, der ihre Hand ergriffen wie mit wortlosem Zuspruch. Aber sie ließ sie ihm, trat mit ihm an die Gruft, und so gaben sie gemeinschaftlich dem Vater den letzten Erdengruß.
Während sie langsam, inmitten der Trauerversammlung, über den Dorfanger schritten, drückte er noch einmal innig ihre Hand, und dankbar empfand sie, daß er nicht zu ihr sprach. Daß er nicht unter denen blieb, die von weit her gekommen waren und nun nach ländlichem Brauch mit hinübergingen in das Elternhaus.
Weit denen voraus floh sie in ihr kleines Zimmer unter dem Dach — —
[S. 246]
Und nun war alles vorüber, das Leben pochte wieder an die Tür mit seinen alltäglichen Forderungen und seinen Rechten.
Es gab vielerlei zu ordnen und zu besprechen, wie immer, wenn der Tod das Haupt einer Familie abberufen hat. Die beiden Brüder saßen zusammen über Büchern und Papieren, rechneten und rechneten mit heißen Köpfen. Dann wurden Martha und Helene hinzugezogen. Das Resultat war bedrückend. Von Jahr zu Jahr waren die Erträge von Rohlbeck geringer geworden; wenn man die Hypothekenschuld abzog, blieb nur ein kleiner Überschuß. Der sollte, dafür hatte vor allem Fritz gesorgt, für Helene gesichert werden. Nicht viel mehr war’s, als einmal eine knappe Ausstattung.
Rohlbeck war kein Lehngut. Deshalb hatte Wilhelm dafür gesprochen, den Besitz zu verkaufen. Aber da war es wieder Fritz, der sich dagegen ereiferte. Merkwürdigerweise.
In all den Tagen seit Vaters Tod war der Kreisrichter sehr still und in sich gekehrt gewesen. Er mochte nicht loskommen können von der schmerzlichen Empfindung, daß sein politisches Auftreten Vater in dessen letzten Stunden zum mindesten sehr stark erregt hatte. Zwar sprach niemand mit ihm, und auch er sprach mit niemand darüber. Aber in seinem Herzen lebte wohl die starke Empfindung, daß er gegen die Geschwister doppelt gut sein müßte.
So verzichtete er sofort auf jedes Erbteil und auch auf die kleine Zulage, die er bisher von Vater erhalten hatte. Als Wilhelm dann die Frage des Verkaufs aufs Tapet brachte, erklärte er sich dagegen: „Ich weiß ja, ihr werdet erstaunt sein. Ich weiß ja, wie ihr über meine politische Richtung denkt, daß ihr mich bisweilen vielleicht als einen Renegaten, als ein verlorenes Glied der Familie Hackentin angesehen habt. Still — Wilhelm, wir wollen daran nicht weiter rühren. Aber das sage ich euch: in mir lebt ein starker Familiensinn, und in mir lebt auch die Treue zur Heimaterde. Mit meiner Zustimmung[S. 247] wird Rohlbeck nicht verkauft, sondern für euren Ältesten erhalten.“
Martha war zu Tränen gerührt. Ganz in ihrem Sinne hatte Fritz gesprochen. Sie streckte dem Schwager die Hand hin: „Dank, Fritz, vielen, vielen Dank!“
Also nicht verkaufen, aber verpachten: das allein blieb schließlich übrig. Und Omama sollte mit Wilhelms nach Berlin ziehen.
Die alte Gnädige saß nun längst wieder auf ihrem Traumplatz am Fenster der großen Stube. Man merkte ihr vielleicht am wenigsten an, welches Leid über dies Haus gekommen war. Manchmal schien sie ganz interesselos, murmelte undeutlich vor sich hin; dann schien es, als ob sie nur Sinn für Äußerliches hätte: „Also Adolf Grucker war da? Und der Landrat? Artenaus auch — so — haben sie denn auch alle ordentlich zu essen bekommen, liebe Martha?“ Oder: „Heckstein wird recht alt. Er hätte wirklich mehr von Papachens Kriegstaten einflechten sollen, Anno dreizehn und so.“ Oder: „Helene steht die Trauer recht gut. Hatte Mariechen eigentlich Crêpe de Chine an?“ Manchmal aber rief sie plötzlich Diana zu sich ans Fenster und sprach mit dem Hunde fast wie mit einem Menschen. „Ja, Diana, das Herrchen! Ich weiß ja, manchmal war er hart zu dir. Zu mir auch. Aber geliebt haben wir ihn beide. Nicht wahr?“ Dann saß Diana dicht am Nähtisch, hatte den klugen Kopf weit vorgestreckt und winselte leise.
Sie hatten sich alle davor gefürchtet, Omama das Resultat ihrer Beratungen mitzuteilen; kam es ihnen doch wie ein Wagnis vor, dies Verpflanzen der Greisin nach Berlin. Merkwürdigerweise nahm sie alles ganz gelassen auf. „Tut nur, was notwendig ist. Auf mich nehmt keine Rücksicht“, sagte sie zuerst. Aber ein paar Stunden später winkte sie Martha zu sich und begann von Berlin zu sprechen. Von dem Berlin vor vierzig Jahren freilich: von König Friedrich Wilhelm dem Dritten und von seiner schönen Schwester Charlotte, der Kaiserin von Rußland.[S. 248] Ob man mit der Post bis zur Königstraße führe? Ob Jagor noch das erste Restaurant sei? Damals hätten sie immer im „Roten Adler“ in der Kurstraße gewohnt. Und ob Spontini noch lebte — das müßte Helene doch wissen. Den hätte sie einmal seinen „Nurmahal“ dirigieren sehen ... Helene mußte wirklich kommen, und Mutter redete von Iffland und von der Stich und dann von der Henriette Sonntag — immer fast, als ob sie gestern die gesehen hätte, und ob Kotzebues „Johanna von Montfaucon“ noch gegeben würde? Fast, als wäre die Gegenwart ausgelöscht in ihrem Gedächtnis, und als lebte sie nur noch der Erinnerung an längst vergangene Tage.
Wilhelm fühlte sich jetzt ein wenig als Haupt der Familie.
Als solcher sprach er auch mit der Schwester über Merivaux.
Zum ersten Male bei der Erörterung über ihr Erbteil. Ganz nebenbei: „Gottlob, daß dein Bräutigam in einer so guten Assiette ist, Helene.“ Da war sie hochgefahren, das Blut schoß ihr in das Gesicht, und sie sagte nur, scharf und knapp: „Das, bitte, laßt jetzt!“
Aber ein paar Stunden darauf kam Wilhelm auf ihr Zimmer. Etwas feierlich, etwas väterlich und ein wenig verlegen: „Ich muß doch mit dir reden, liebe Helene. Möchte dir vor allem, ganz im stillen, herzlich gratulieren. Merivaux ist ein Prachtmensch, ich hab ihn immer sehr gern gehabt. Nun — und ich kann’s ja wohl sagen — früher hatten wir auch so manchmal heimlich gedacht — ja! — die Rackower hatten uns so Andeutungen gemacht. Wir hatten’s dann aufgegeben. Desto besser, daß es nun doch wahr geworden ist. Es ist ja ein trauriges Zusammentreffen mit Papas Tod — zu traurig für euch beide. Aber überlegt muß das doch nun werden, ob eure Verlobung jetzt offiziell werden soll.“
Sie stand am Fenster und sah auf den Wirtschaftshof hinaus und das Winkelchen Garten, das sich rechts anschloß. Wandte dem Bruder das Gesicht nicht zu —[S. 249] wozu sollte er sehen, wie das Blut darin kam und ging! — und antwortete nicht.
Er sprach auch gleich weiter: „Ich weiß selber nicht recht, ob es nicht taktvoller wäre, wenn ihr damit mindestens ein paar Wochen wartet? Ist es dir recht, wenn ich mit Merivaux darüber spreche? Er hat sich zu heut nachmittag bei mir ansagen lassen.“
Da schrak sie zusammen und entgegnete fast heftig: „Bitte — nein! Ich muß selber mit — mit ihm sprechen.“
Wilhelm lachte leise: „Wie aufgeregt du bist! Natürlich sollst du selber mit ihm sprechen. Wer sollte dir denn das wehren?“ Und nach einer Weile: „Du bist doch ein wunderliches Menschenkind, Lene. Läßt mich hier stehen und reden und siehst mich nicht an. Ich könnte fast glauben, du hast etwas gegen mich.“
Nun endlich wandte sie sich langsam um, immer noch wortlos. Und da trat er dicht zu ihr, legte seine Hände auf ihre Schultern: „Aber wie siehst du denn aus, Lene? Sieht so eine glückliche Braut aus!“
„Glücklich —“, sagte sie schwer.
Er verstand es falsch. „Ja, freilich! Armes Kind! Sei nicht böse. Man vergißt manchmal auf Momente ...“
Dann war er gegangen.
Und Helene begann wieder ihre stumme Wanderung durch das kleine Zimmer, von einer Wand zur anderen. Immer tiefer grub sich dabei die Falte zwischen ihre Brauen ein. Immer trüber und schmerzlicher wurde der Ausdruck ihres Gesichts. Aber auch immer entschlossener.
Bis sie hinunter ging, um Merivaux zu empfangen.
Sie bat Martha, es so einzurichten, daß sie ihn gleich allein sprechen könnte. Die Schwägerin sah ihr erschrocken ins Gesicht. „Aber ... Helene ...“ Da sagte sie: „Bitte, liebe Martha, quäle mich nicht. Ich habe schwer genug zu leiden.“ Und der Ton ihrer Worte war wohl so bestimmt, daß Martha nur leise aufseufzte: „Ich meinte es gut. Geh in Vaters Zimmer. Ich werde Merivaux zu dir führen.“
[S. 250]
Wohl eine Viertelstunde mußte sie in dem kleinen Raum warten, den Vater als sein eigentliches Heiligtum betrachtet hatte. Die Kinder, die Enkel hatten ihn selten betreten dürfen. In ihrer Stimmung aber empfand Helene doppelt eindringlich das Persönliche in diesem Zimmer. Die fast spartanische Einfachheit seiner Ausstattung, die vom Dorftischler gefertigten birkenen Stühle, das steife Roßhaarsofa, der gewaltige Schreibtisch, den Vater seiner Größe halber immer die „Kossätenscheune“ genannt hatte: das alles erinnerte sie an ihn, stimmte sie wehmütig. An der Wand hingen ein paar Familienbilder. Einmal, als sie noch ein Kind war, hatte er ihr die erklärt: „Das da war mein Herr Vater, Helene — das heißt, wir mußten ja damals zu unseren Eltern Sie sagen und Herr Vater und Frau Mutter. War auch ein gestrenger Herr, gegen uns Kinder, gegen alle Leute. Ich hab’s noch mitansehen müssen, daß er einen Knecht peitschen ließ, bis der ganze Rücken blutig war, und uns hat er auch oft genug mit der Karbatsche gezüchtigt. Ein gestrenger, ein harter Herr — das heißt, mit allem Respekt zu sagen. Aber es ist doch besser, wenn der Mensch ein weiches Herz hat. Man soll seinem Mitmenschen nichts zuleide tun, wenn man es vermeiden kann. Man soll auch mal ein Opfer bringen können deshalb. Merke dir das, mein Kind.“ Und da hing auch die Silhouette der schönen Tante Charlotte, die sie in der Familie das Bild ohne Gnade hießen — Tante Charlotte Hackentin, die um die Wende des Jahrhunderts Hofdame bei der Prinzessin Wilhelm gewesen war und von der die Sage ging, daß sich ihrethalben der Graf Hoym erschossen hätte.
Eine Weile stand Helene vor den Bildern.
Dann wandte sie sich ab und schüttelte den Kopf. Nein — es war töricht, Vergleiche und Folgerungen ziehen zu wollen. Töricht, kindisch war’s. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich. Das war es, nichts anderes.
Und da trat auch schon Merivaux ins Zimmer, kam auf sie zu, faßte ihre beiden Hände, sah ihr tief in die[S. 251] Augen: „Liebe ’elene, liebe Helene,“ sagte er, „wie schwer hast du gelitten! Ich hab immerzu — immerzu nur an dich gedacht. Liebe Helene —“
Er küßte ihre Hände. Er wollte sie an sich ziehen.
Da bog sie sich weit zurück.
„Helene“, rief er. Erstaunt, erschrocken. Aber dann kam ein Lächeln auf sein Gesicht, ein kleines, zärtliches, schmerzliches Lächeln. Er küßte ihr noch einmal die Hand. „Arme, liebe ’elene“, sagte er wieder. „Oh, ich weiß, wenn ich meinen alten Papa hätte begraben müssen, ich würde auch nicht zu trösten gewesen sein ...“
Er suchte ihren Blick. Sie wandte das Gesicht zur Seite.
„... aber wenn dein Papa auf uns herabsieht ... ganz gewiß, Helene ... er würde uns segnen.“ Und nach einer Weile: „Sieh mich doch nur einmal an. Ich hab solch eine große Sehnsucht gehabt nach dir ... solch eine Sehnsucht. Ich hab dich ja so lieb!“
Immer noch hielt er ihre beiden Hände.
Zuerst hatte er Deutsch gesprochen. Nun strömten ihm, unbewußt wohl, die Laute seiner Muttersprache über die Lippen. „Manchmal denk ich, wie ich nur hab leben können ohne dich? All die Zeit, diese langen zwei Jahre! Lange, schwere Jahre, Helene! Und dann, endlich, endlich, neulich das Glück. Kaum getraut hab ich mich noch zu hoffen. Aber da war es mit einem Male, ein Geschenk des Himmels, dein Geschenk, Helene. Das Glück, das Glück, — deine Liebe!“
Und mit einem Male sprach er wieder Deutsch. „Sag’ einmal, einmal nur: ich hab dich lieb, Gaston ... Gaston ... hörst du ... Gaston, ich hab dich lieb ...“
Was hatte sie ihm nicht alles sagen wollen?! Wie hatte sie sich das alles überlegt! Ruhig, verständig: ‚Es war ein Rausch, Herr von Merivaux, der Rausch eines Augenblicks. So sehr ich mich schäme, ich muß es Ihnen gestehen. Um Ihretwillen; ich bin es Ihnen schuldig. Ich habe eine aufrichtige Zuneigung zu Ihnen, aber nicht mehr. Das langt nicht für das Leben. Wenn Sie mir[S. 252] zürnen, muß ich es tragen als die Schuldige. Nur verachten Sie mich nicht.‘ Das alles hatte sie ihm sagen wollen, und noch viel mehr. Ruhig, verständig, gewissenhaft. Ganz scharf hatte sie es sich überlegt und erwogen.
Und nun brachte sie kein Wort über die Lippen.
Seine zartfühlende Art lähmte sie. Die innige Liebe, die aus seinen Worten, aus seinem Wesen sprach, lähmte sie. Ihr Wille schmolz dahin. Und sie dachte nur das eine: ‚Mein Gott, wie soll das werden?‘ Dachte in tiefster Herzensangst: ‚Du kannst ja nicht nein sagen! Du hast ja nicht die Kraft, ihm diesen Schmerz zuzufügen.‘
Dann hörte sie wieder: „Ansehen sollst du mich, liebe Helene. Nur einmal ansehen!“
‚... Du hast nicht die Kraft, du hast wohl auch nicht das Recht! Was kommt es denn auf dich an? Denke nicht an dich, denke an ihn! An seine große Liebe!‘
„Sag’ einmal: Gaston, ich ’ab dich lieb ...“
Es klang so rührend, es klang so gut! Und sie war doch nun einmal die Schuldige, die Schuldige geworden vor fünf Tagen, oben im Rackower Park, im Mondenschein. Damals hätte sie sich wehren müssen, fliehen, flüchten. Nun war es zu spät. Nein sagen, jetzt: es wäre eine Unbarmherzigkeit gewesen und ein Unrecht. Er hätte sie verachten müssen — oder es hätte ihn in die Verzweiflung gestürzt. Aus Mitleid mit ihm schon durfte sie nicht nein sagen ...
„Einmal nur: Gaston, ich ’ab dich lieb ...“
Ganz langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu.
Und stammelnd, wie ein Kind, sprach sie: „Ich, ich hab dich lieb ...“
„Sag’: Gaston!“
„... Gaston ...“
Da nahm er sie in die Arme und küßte ihr die Tränen aus den Augen.
Acht Wochen später gingen die Verlobungsanzeigen ins Land.
[S. 253]
Wilhelms waren nun längst wieder in Berlin, Omama und Helene mit ihnen.
Man hatte sich etwas stark einschachteln müssen in der Wohnung. Helene mußte mit der Mutter ein Zimmer teilen; der Flügel war in Wilhelms Arbeitszimmer untergebracht worden. Eng war es, aber Martha wußte für alles Rat. Sie freute sich der Omama wie eines lieben Vermächtnisses, betreute und verhätschelte sie und wurde nur, dann und wann, ein wenig ungnädig, wenn sie die Jungens gar zu sehr verzog, ihnen zur unrechten Stunde eines ihrer unzähligen Hausmittelchen eindoktern wollte, oder wenn Omama sich an ihrer Nähmaschine zu tun machte. Denn diese Nähmaschine, die ihr Wilhelm kürzlich geschenkt hatte, war ihr etwas wie ein Heiligtum. Sie kostete freilich auch fast genau hundert Taler, und alle bekannten Damen kamen, um das neue Wunder anzustaunen, das die Singer-Kompanie gerade erst in Preußen einzuführen begonnen hatte. Omama konnte wohl ein Viertelstündchen dem Spiel des blanken Schiffchens zusehen; dann aber ging sie meist, kopfschüttelnd, zu ihrem Sorgenstuhl an das andere Fenster und schaute auf den Platz vor der Halleschen Brücke hinaus; wenn dort zwei Omnibusse hielten, drei Torwagen ihres Wegs zogen und ein halbes Dutzend Menschlein hasteten, dann sagte sie: „Liebes Kind, welch eine Cohue! Welch eine Cohue!“ Und sie schüttelte dabei die ewig kohlschwarzen, an jedem Morgen mit dem Tolleisen gebrannten Locken, die zu zwei und zwei rechts und links an ihren Schläfen wie Perpendikel hin und her schwangen.
**
*
Einige Tage nach der Ankunft in Berlin war der alte Herr von Merivaux gekommen, um die Braut seines Sohnes zu begrüßen. Ein stattlicher, vornehmer Herr, mit einem rosigen Gesicht, langem, weißem Schnurrbart und weißem Henriquatre; im Knopfloch seines schwarzen Gehrocks[S. 254] trug er ostentativ das Bändchen des Roten Adlerordens.
Er war herzlich zu Helene, ein wenig zurückhaltend Wilhelms gegenüber. Helene hatte die Empfindung, als ob er bisweilen seine Augen etwas erstaunt, etwas enttäuscht über die einfache Einrichtung schweifen ließe, und sie straffte sofort den Nacken: sollte ich ihm vielleicht nicht gut genug sein, hat er eine reiche Schwiegertochter erwartet? Aber sie mußte bald erkennen, daß sie sich getäuscht hatte. Der alte Herr entwickelte eine herzgewinnende natürliche Liebenswürdigkeit. Er sagte ihr die reizendsten Artigkeiten, erklärte, daß er sehr erfreut wäre, eine preußische Aristokratin, eine Tochter aus so alter märkischer Familie, zur Schwiegertochter zu erhalten — fügte lächelnd hinzu: „Daß mein neues Töchterchen so schön ist, konnte ich freilich trotz Gastons Enthusiasmus nicht ahnen.“ Und dann kam die Frage, die sie gefürchtet hatte. Wieder mit einem leichten Lächeln: „Junge Leute haben es immer eilig, und sie haben recht. Man kann nicht früh genug ganz glücklich werden. So darf ich gewiß fragen, ob Sie schon den Termin der Hochzeit festgesetzt haben?“
Sie schöpfte tief Atem. „Keinesfalls — vor Ablauf des Trauerjahres“, sprach sie dann rasch und entschieden. Im gleichen Augenblick sah sie, wie Gaston errötete, daß Wilhelm, der der französisch geführten Unterhaltung nur mühsam folgen konnte, wie abwehrend die Hand hob.
Aber da verbeugte der alte Herr sich schon gegen sie: „Pardon ... ich muß wirklich sehr um Verzeihung bitten. Ihr Entschluß ehrt Ihre Gesinnung, liebe Tochter. Eine gute Tochter wird stets auch eine gute Frau. Sie haben durchaus recht. Gaston wird sich bescheiden müssen, so schwer das seiner Liebe gewiß ist.“
Gaston mußte sich bescheiden —
Er mußte sich überhaupt bescheiden: Helene war eine sehr spröde, eine herbe Braut. Sie war zu verständig, seiner Zärtlichkeit zu wehren, aber sie erwiderte sie nicht.[S. 255] Ein Dulden war’s, nie ein Geben. Und dann und wann kamen Stunden, in denen sie sich ihm ganz zu entziehen suchte, wo ihre Herbheit zur Härte wurde, ihre Kühle zur eisigen Kälte.
Einmal sagte ihr Martha: „Nimm mir’s nicht übel, Lene, aber ich muß dir die Leviten lesen. Du bist eine merkwürdige Braut! Hast du denn Fischblut in den Adern? Oder ist es ein kokettes Spiel, das du mit Gaston treibst? Ich an seiner Stelle ... ich ließe mir das einfach nicht gefallen.“
Merivaux hatte den Abend bei Wilhelm zugebracht. Als er aufbrach, geleitete Helene ihn gerade bis an die Zimmertür. Er stand wartend, ihre Hand in der seinen, mit einem bittenden Lächeln: „Nun ... du kommst doch noch einen Moment mit hinaus, ’elene?“ Da hatte sie den Kopf geschüttelt: „Geh nur! Gute Nacht!“
Jetzt saß sie in dem alten Ohrenwangenstuhl, der von Rohlbeck aus mitgewandert war, den Kopf ganz in die eine Ecke gedrückt, und Martha stand vor ihr, im sonst so ruhigen Gesicht den ehrlichen Zorn.
„Nein, ich ließe es mir wahrhaftig nicht gefallen! Ein so lieber Mensch ist Gaston. Immer gleich artig, immer aufmerksam. Und immer aufs neue sieht man, wie er dich liebt. Und du — wenn ich’s nicht besser wüßte, möchte ich sagen: ein Eisblock bist du. Wenn er nur mal ordentlich aufbrausen wollte! Dir deinen Kopf zurechtsetzen! Ich gönnte es dir!“
Ganz fest drückte Helene den Kopf gegen das harte Polster. Die Augen hatte sie geschlossen.
„Manchmal möchte man wahrhaftig glauben, du hättest Gaston nicht lieb!“
Die beiden Hände preßte Helene auf die Armlehne. Die schmale Falte zwischen ihren Brauen grub sich tief ein.
Und dann stand sie plötzlich auf, legte ihre Hände auf Marthas Schultern: „Quäle mich nicht! Ich bin so müde!“ sagte sie. „Schlaf wohl — wenn du kannst!“ und ging hinaus. Ging in ihr Zimmer, das sie mit Omama teilen[S. 256] mußte. Die lag schon im Bett, konnte aber nie einschlafen, ehe die Tochter kam, und redete dann immer noch allerlei. Halb waren’s Monologe, halb war’s an Helene gerichtet.
„Dein Gaston ... ja ... dein Gaston! Anno dreißig oder einunddreißig war ich in Karlsbad. Da lernte ich einen jungen Grafen Meerwedt kennen. Auch so chevaleresk wie dein lieber Gaston. Da haben wir einmal eine Partie in den Wald gemacht. Der Herr von Auerswald hatte die entrepreniert ...“ Dann kam ein halblautes Lachen ... „und da war eine junge Komteß Adelau, und mit einem Male war der Meerwedt und sie verschwunden, und dann fanden wir sie, gerade als er sie embrassierte ... Ja, die Jugend!“
Nun hatte sie schon Mutter gute Nacht gesagt und das Licht gelöscht. Da fing Omama noch einmal an, kicherte ein wenig und sagte: „Hörst du noch, Lenchen? Ich wollt nur sagen: vor dem guten Papa durft ich ja nie davon reden. Der war ja immer so komisch, wenn ich von Körner erzählte. Ja, wie war das doch nur? Ich find’s wohl nicht mehr recht zusammen. Wie war das doch nur?“
Ein Weilchen schwieg Omama. „Richtig, Lene, jetzt hab ich’s. Hörst du? Es ist so hübsch, was der Theodor sagt: Drum leb’, wer das Küssen und Lieben erdacht ... ja ... wer das Küssen erdacht ... Ich war auch einmal jung ... Küßt du ihn gern, deinen lieben Gaston?“
Ein leises Kichern wieder, ein halblautes: „Ja ... die Jugend ...“ Bald kamen die tiefen, ruhigen Atemzüge. Omama schlief. Gewiß lag auf ihrem guten Antlitz zwischen all den Runzeln und Fältchen ein Lächeln der Erinnerung.
Aber Helene fand und fand keinen Schlaf, bis der Morgen graute. Auf ihr lastete die Gegenwart, und sie fürchtete sich vor der Zukunft.
Wie sie alles jetzt hinausschob, hinauszögerte, als erwartete sie, daß irgendein kommender Tag ihr eine Befreiung bringen könnte, so hatte sie auch die nötigsten Besuche[S. 257] hinausgeschoben. Schließlich sah sie selber ein, es mußte der Pflicht genügt werden.
Es waren der Besuche ja auch nicht viel zu erledigen. Von den Kameraden Merivaux’ waren nur wenige verheiratet.
Aber auch Tante Marianne Oschitz stand auf der kleinen Liste. Es herbstete schon stark, als das Brautpaar vor der einsamen Insel vorfuhr; und als Helene am Arm Merivaux’ durch den Vorgarten schritt, dachte sie unwillkürlich: ‚nun sind es drei Jahre, seit du hier einzogst. Erst drei Jahre — schon drei Jahre! Die dir mehr Erleben gebracht haben, mehr als alle anderen. Und kein Glück ...‘
Sie dachte noch daran, als sie vor Tante Marianne stand. Es mochte wohl nicht so glücküberströmend klingen, wie das gleiche Wort aus anderem Mädchenmunde: „Mein Bräutigam, liebe Tante.“
Die kleine alte Frau machte einen hinfälligen Eindruck. Sie hatte sich bei dem Eintritt der beiden mühsam erhoben, kam ihnen auf dem Stock mit schwerer Elfenbeinkrücke gestützt entgegen, sagte freundlich mit ihrer leisen, sanften Stimme: „Ich freue mich herzlich. Der Segen Gottes möge mit eurem Bunde sein —“, und dann stutzte sie plötzlich.
Es war nur auf einen Moment, sie nötigte gleich zum Sitzen. Immerhin war es so auffallend, daß es Helene nicht entging. Sie sah auf Merivaux, wie eine Erklärung suchend. Aber der stand gerade aufgerichtet, nach seiner Gewohnheit Tante Marianne mit seinen großen, blauen Augen hell ansehend. Immer sah er allen Leuten so ins Gesicht, so offen und zuversichtlich.
Tante Marianne war heut sehr weich und gütig, zeigte ein lebhafteres Interesse, als sonst ihre Art war, erkundigte sich nach Merivaux’ Heimat, nach seinen Plänen für die Zukunft; schien sich zu freuen, als er frisch und fröhlich antwortete: „Ich ’ab nur einen Plan für die Zukunft, meine Frau recht glücklich zu machen.“ Sie[S. 258] lächelte, nickte und hatte gleich eines ihrer alten Sprüchlein: „Wer glücklich ist, kann immer glücklich machen! ... Sie haben so zuversichtlich glückliche Augen, lieber Herr von Merivaux.“
„Ich ... glückliche Augen, gnädige Frau?“
„Jawohl, glückliche Augen. Sorge nur, Helene, daß ihnen jeder trübe Schatten erspart bleibt.“
Sie sprachen noch dies und das. Dann war es Zeit, aufzubrechen. Aber als sie sich schon empfohlen hatten, hielt Tante Marianne Helene noch einmal zurück. Ihre Stimme bebte ein wenig, und in ihrem kleinen, blassen Gesicht lag ein Zug des Ergriffenseins. „Ist dir das auch schon aufgefallen,“ flüsterte sie hastig, „daß dein lieber Gaston die Augen von meinem Harro hat? Ganz Harros Augen.“ Und sie hob sich plötzlich auf den Zehenspitzen und küßte die Nichte zärtlich: „Lang mögen sie dir leuchten ... lang ...“
Draußen, im Vorgarten, fragte Merivaux: „Was hatte deine Frau Tante dir noch anzuvertrauen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nichts Besonderes, Gaston —“ und ging mit gesenktem Kopf neben ihm weiter bis zum Wagen. ‚Ja, Harros Augen‘, dachte sie. ‚Seine Augen, Harros Augen ... die haben es mir damals angetan, im Rackower Park ... —‘
Eine verhaltene Bitterkeit, fast etwas wie ein Vorwurf, lag in dem Gedanken. Sie fühlte es selber, empfand es als ein Unrecht. Fühlte sich ihm gegenüber ja so oft im Unrecht. Als sie im Wagen saßen, war es ihr, als müßte sie etwas gutmachen ihm gegenüber. Sie zwang sich, auf seine lebhafte Unterhaltung einzugehen, mit ihm zu plaudern. Und sie fand plötzlich, daß das gar nicht so schwer war. Er erzählte so anregend, er hatte so viele Interessen.
Einmal sagte sie, ein wenig nachdenklich: „Ich finde eigentlich, Gaston, daß du dich in den letzten Jahren recht verändert hast.“
[S. 259]
„Mon Dieu ...“ gab er halb im Scherz, halb wirklich erschrocken zurück ... „Zu meinem Nachteil?“
„Nein, Gaston. Als ich dich kennen lernte, konnte ich in dir nicht mehr sehen als einen flotten, jungen Offizier.“
„Und nun?“
„Jetzt bin ich bisweilen erstaunt, wieviel du weißt. Daß dich Literatur und Kunst so stark interessieren.“
Er scherzte wieder: „Also gewiß ... du hast mich damals unterschätzt.“ Dann wurde er ernst: „Es liegen drei Jahre dazwischen, Helene. Drei Jahre bedeuten viel im Menschenleben. Oder richtiger, sie können viel bedeuten. Mir haben sie jedenfalls manch innere Wandlung gebracht. Aber ich könnte dir zurückgeben, was du mir sagst. Als ich dich kennen lernte, warst du auch nur ein wunderschönes charmantes Mädchen, dem eine gütige Fee die herrliche Stimme geschenkt hatte — eine Zufallsgabe schließlich. In den drei Jahren bist du eine andere geworden —“
Da hielt der Wagen. Sie mußten aussteigen, um bei Frau von Gélieu die Karten abzugeben und zu erfahren, daß die gnädige Frau ausgegangen wäre.
Als sie dann wieder im Wagen saßen, war Helene es, die den abgerissenen Faden der Unterhaltung neu aufnahm.
„Du sagtest, ich wäre eine andere geworden. Ich wünschte dir, ich wäre das junge Mädchen geblieben, das ich damals war.“
„Helene!“ rief er.
„Du würdest glücklicher sein.“
Es war ein Zwang in ihr, ihn anzusehen, als sie das sagte. Aber sie sah in so leuchtende Augen, daß sie den Blick senken mußte.
„Ich kann nur noch glücklicher werden!“ sagte er dann heiß. Schwieg einen Moment, schöpfte tief Atem und fuhr fort, nun sehr ernst. „Es ist wirklich nicht anders, liebe Helene: ich kann nur noch glücklicher werden. Ich weiß, daß wir es beide werden. Da du davon angefangen hast, will ich es dir gestehen: ich leide gewiß oft unter[S. 260] deinem harten Wesen. Wie könnte es anders sein! Aber sieh: mein Vater ist ein sehr kluger Mann. Als wir drei neulich zum letztenmal beisammen waren, ging ich mit ihm den weiten Weg bis zu seinem Hotel. Wir sprachen natürlich von dir — nur von dir. Er ist sehr empfänglich für Frauenschönheit. So war er bezaubert von deiner Erscheinung. Dann schwieg er eine ganze Weile und sagte endlich: ‚Weißt du auch, Gaston, daß du dir deine Braut erst erobern mußt? Ihre Seele ist noch nicht bei dir.‘ Die Hand hab ich ihm gegeben: ‚Ich weiß es, Papa. Aber ich werde um sie werben, nimmer müde, bis sie ganz mein ist. Denn ich habe sie lieb über alles in der Welt.‘“
Sie saß wieder mit gesenktem Kopf, sprach kein Wort.
Mit einem Male hörte sie neben sich sein frisches, fröhliches Lachen, das so seltsam klang nach seinen ernsten Worten und doch in diesem Augenblick so wohltuend und befreiend war.
Er deutete zum Fenster hinaus: „Hier wohnte einst mein Landsmann Merveilleux. Kennst du seine Geschichte mit dem Droschkenkutscher? Also wir Schützen sind doch nun mal lebenslustige Leutchen. Zwei von uns, Merveilleux und Pfuel, waren es ganz besonders. Abend für Abend tollten sie in Berlin herum, und oft graute der Morgen, ehe sie daran dachten, in unser Quartier, hier weit draußen, an der Köpenicker Landstraße, zurückzukehren. So waren sie der Schrecken der biederen Droschkenkutscher geworden. Die fürchteten die Fahrt nach der Kaserne wie das höllische Feuer. Geht eines Abends Pfuel allein aus. Es wird wieder peinlich spät oder früh, ist außerdem ein schreckliches Wetter — gressillement, wie wir’s nennen. Mein Pfuel will also fahren, erwischt auch eine voiture. Kaum aber sieht ihn der Droschkenkutscher — sie kannten ihn alle — so haut er auf sein Pferd ein und ruft nur noch: ‚Adieu, Pfuel, ... grüßen Sie Murmeljahn!‘ Fort war er. Und jetzt sind wir bei unserer Kommandeuse —“
[S. 261]
Seine ernsten Worte — sein frohes Lachen tönten in ihr nach. Sie fühlte sich frischer und freier. ‚Man muß ihn gern haben‘, dachte sie. ‚Ich müßte ihn liebhaben.‘ Und sie dachte weiter: ‚Vielleicht — vielleicht werde ich ihn liebhaben.‘
In dieser Stimmung ging sie auch endlich zu Frau Harriers-Wippern. Nicht zuletzt auch auf seinen Wunsch. Er hatte schon so oft gebeten, daß sie den Unterricht wieder aufnehmen sollte.
Die Lehrerin kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. „Ich hab ja schon gratuliert, aber ich möchte meinen Glückwunsch gern noch einmal mündlich und recht innig wiederholen. Ich habe mich so sehr gefreut, liebes Fräulein Helene! Nicht zuletzt, weil unser Merivaux der Glückliche ist.“
‚Unser Merivaux‘ ... es klang Helene Hackentin ganz eigen.
Sie saßen wieder beieinander in dem kleinen Gartenzimmer der Sängerin, und Helene hörte, doch mit einiger Verwunderung, wie beliebt und geschätzt ihr Bräutigam in den engeren musikalischen Kreisen war. „Es ist merkwürdig, wie viele Offiziere gerade in Berlin wirklich verständnisvolle Musikfreunde sind. Aber unser Merivaux steht da in erster Reihe. Ich meine natürlich nicht als ausübender Künstler — darauf kommt es ja auch gar nicht an. Aber er hat die rechte Liebe, hat Verständnis, hat Urteil ... und hat seine besondere, so unendlich liebenswürdige Gabe, das alles zum Ausdruck zu bringen.“ Frau Harriers hielt immer noch Helenes Hand und drückte sie herzlich: „Mein erster Gedanke, als ich die Anzeige las, war ein Gedanke der Freude: sie beide passen so trefflich zueinander. Eine kleine Spur Selbstsucht war auch dabei, daß ich’s nur gestehe: so geht Helenens Kunst doch nicht verloren!“
Helene war wortkarg, war in tiefem Sinnen. Sie hatte in den letzten drei Monaten so wenig an ihren Gesang gedacht. Manchmal, wenn Merivaux bat, wenn er sie zum[S. 262] Flügel führen wollte, hatte sie abgewehrt — wie sie immer abwehrte. Ein-, zweimal hatte er seine Geige mitgebracht: sie hatte auch ihn nicht gebeten, zu musizieren. Nun fühlte sie auch hier ein Unrecht. Und empfand seinen Zartsinn, der nie ungeduldig wurde, nie drängte, nie einen Vorwurf hatte, als besondere Güte.
„Ich hoffe, Fräulein Helene, Sie bringen mir ihn bald. Vielleicht musizieren wir dann einmal zusammen. Wie aber steht’s mit uns beiden? Sie nehmen doch die Stunden wieder auf?“ Frau Harriers schrak ein wenig zusammen, sie bemerkte wohl erst jetzt, daß die Braut ganz in Schwarz gekleidet war. „Ja so, Sie armes Kind! Aber ich meine, Musik, gute edle Musik eint sich auch mit der tiefsten Trauer. Sie trägt uns ja himmelan, über alles Irdische hinweg.“
„Die ‚Elsa‘ möchte ich jetzt ruhen lassen ...“ sagte Helene gepreßt. „Ich kann nicht ...“
„Das verstehe ich. Lassen Sie mich nur sorgen. Wir halten unsere alte Zeiteinteilung fest — nicht wahr? Und grüßen Sie mir Ihren lieben Gardeschützen, der so gut in Ihr Herz zu treffen wußte.“
Daß er nur besser in das Herz getroffen hätte ...
Daß dies herbe spröde Herz sich gar nicht regen wollte ...
Überall, wo Helene hinkam, hörte sie Merivaux rühmen, hörte sie sein Lob. In den verschiedensten Schattierungen. Wilhelms liebten ihn schon jetzt wie einen Bruder; er hatte Tante Mariannens so schwer zu erringendes Wohlgefallen gewonnen; die Frauen der verheirateten Kameraden hatten sie ein wenig geneckt, daß sie den charmantesten aller Junggesellen im Bataillon in Amors Fesseln geschlagen; der Kommandeur hatte Wilhelm gegenüber Merivaux einen der begabtesten Offiziere genannt und einen unübertrefflichen Kameraden.
Manchmal hatte sie gedacht, sich zum schwachen Troste: ja doch ... er ist ein liebenswürdiger Charmeur! Nun hörte und erkannte sie selber alle Tage mehr, daß das doch nur die Außenseite seines Wesens war. Daß die glänzende[S. 263] Hülle auch einen schönen edlen Kern barg. Daß er gut, vornehm denkend, daran hatte sie nie gezweifelt. Jetzt aber wußte sie, daß er auch ein grundgescheiter, ein vielseitig gebildeter Mann war. Und vor allem sah und fühlte sie immer tiefer, wie innig und heiß er sie liebte.
Immer wieder sagte sie sich: man muß ihn gern haben ... ich müßte ihn liebhaben ...
Nur: ihr Herz wußte nichts von ihm.
Es kamen Augenblicke, Stunden, in denen es in ihr schrie: wenn er dich doch einmal recht schlecht behandeln wollte! Wenn er dich doch einmal fühlen lassen wollte, wie kalt und schlecht du gegen ihn bist! Vielleicht verlangt die Hackentinsche Brut die Peitsche, anstatt des Zuckerbrots!
Aber er blieb immer der Geduldige, Nachsichtige, Rücksichtvolle; dankbar für die geringste Freundlichkeit, für das kleinste Entgegenkommen, für ein gutes Wort, für ein Lächeln.
Dabei fühlte sie hinter all der Geduld und Nachsicht sein heißes Blut, sein starkes Temperament, sein Begehren, fühlte, wie er sich zwang und wie er litt. Sie fühlte es, sie sah es. Es war ihr eine eigene Qual, wenn er manchmal, auf kurze Momente, die Lider sinken ließ, verstummte. Nur um sie gleich wieder mit hellen, guten Augen anzusehen, wie ein Bittender. Wie einer, der da weiß: ich werde um sie werben, nimmer müde, bis sie mein ist.
Und dann empörte sie wieder diese Zuversicht, dies Vertrauen und Selbstvertrauen. Empörte sie gleich einem Zwang: als ob er ihren Willen beugen, sie knechten wollte in alle Zukunft hinein. Scharf wurde sie dann und bitter. Bis sie sich doch wieder sagte, es ist ja nur seine große, große Liebe, die auf Gegenliebe hofft und wartet.
Wenn er litt, ohne zu klagen, so litt sie nicht minder, und auch sie hatte niemand, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Ganz genau wußte sie: es würde sie niemand verstehen.
Es gab Tage, in denen eine wehrlose, wohltuende Müdigkeit über ihr lag. Dann war sie sanft, nachgiebig auch zu ihm; duldete seine Zärtlichkeit, hatte sogar eine leise[S. 264] Freude, einen stillen Genuß manchmal an einem guten Gespräch mit ihm; hörte ihn spielen, ging vielleicht selbst an den Flügel, sang irgendein schwermütiges Lied. Aber gerade der Moment war meist der Gipfelpunkt. Wenn sie ihn dann hinter sich stehend wußte, seinen Atem fühlte, seine Hand sah, wie sie sich nach dem Notenblatt ausstreckte, um es zu wenden, kam der Rückschlag. Sie brach jäh ab, sprang auf — und es kamen Augenblicke, in denen es ihr eine boshafte Freude war, ihm wehe zu tun. Eine Freude, die sie tiefste Qualen und schmerzhafteste Scham kostete.
Das waren die Augenblicke, in denen sie darauf wartete: jetzt muß er doch gehen, um nie wiederzukommen. Und doch erschauerte: wenn er aber nie wiederkäme? Das waren dieselben Augenblicke, in denen sie vom wehsten Mitleid erfüllt war für ihn und in denen sie sich selber ganz als Schuldige fühlte. Frau Harriers war wenig zufrieden mit ihrer Schülerin in diesem Winter.
Wilhelm kümmerte sich fast gar nicht um das Brautpaar; Martha sah schließlich doch nur die Oberfläche, dachte höchstens, sagte es vielleicht: „Du bist eine recht unausstehliche Braut.“ Mutter führte ihr Traumleben weiter, verschmolz sich Gegenwart und Vergangenheit, verwechselte Merivaux gelegentlich mit einem ihrer Söhne und legte neuerdings Rouge auf. Wohl Berlin zu Ehren. Wobei es vorkam, daß nur die eine Wange rosig leuchtete, die andere vergaß sie.
Ganz verlassen und vereinsamt fühlte sich Helene oft. Grenzenlos unnütz dabei. Den Haushalt in der Stadtwohnung hielt Martha allein wie am Schnürchen. So war sie zur Untätigkeit verurteilt, spürte auch so wenig Neigung, sich wirtschaftlich zu betätigen. Und selbst ihre Kunst dünkte sie oft ein Zwang.
Nur mit den Jungens beschäftigte sie sich mehr als früher.
Den äußeren Anlaß gab, daß Hans ein paar Male mit einem französischen exercice hilfesuchend zu ihr kam: „Hilf, Tante Helene. Du hast ja einen Bräutigam, der solch halber[S. 265] Gallier ist.“ Da sie in der Tat fertig Französisch sprach und schrieb, konnte sie helfen. Und sie half so gern — es war ihr eine wahre Wohltat, irgend jemand helfen zu können. Bald kam auch Thede mit dem einen oder dem anderen Anliegen. Richtiger: wenn der Ältere bat, forderte der Jüngere. Aber er tat’s mit einer so drollig unverschämten Miene, daß man ihm nicht böse sein konnte.
Manchmal war es ihr, als lernte sie die beiden Neffen erst jetzt recht kennen. Und auch dann hatte sie wieder ihre stille Freude. Hans war nun fast sechzehn Jahre, ein langaufgeschossener, ein wenig ungelenker Jüngling, der seine junge Sekundanerwürde mit einigem Selbstbewußtsein trug; ein Bücherwurm und Grundtoffel, fleißig und hübsch besinnlich. Thede war viel lebhafter, renommierte gern einmal ein wenig, lernte spielend, was der Ältere sich mühsamer erobern mußte. Bisweilen malte Helene sich im stillen den Lebenslauf der beiden aus, horchte sie wohl auch daraufhin aus. Hans wollte Architekt werden oder Techniker, Eisenbahningenieur, Maschinenkonstrukteur; Thede schwärmte für den bunten Rock, den ja alle Hackentins getragen hatten. Aber er hatte auch seine besonderen Gedanken dabei: die junge preußische Flotte reizte ihn, Kapitän Jachmann von der „Arcona“, der den Dänen bei Jasmund so wacker die Zähne gezeigt, war sein Held und Vorbild.
Das war sicher: die Jungens gingen einmal andere Wege, als die Hackentins bisher, Generation auf Generation, gegangen waren. In ihnen war noch genug von dem feurigen guten Blut des alten Geschlechts, aber das Blut der Mutter hatte sich eingemischt, drang kräftig durch; mehr noch bei dem Älteren, aber doch auch bei Thede. Sie fanden sich gewiß einmal gut mit dem Leben ab und in ihm zurecht. Wurden vielleicht endlich einmal wieder Mehrer, nicht Verzehrer.
Helene dachte oft: die Hackentins können es brauchen! Gerade in diesem Winter kam ihr das recht klar zum Bewußtsein.
[S. 266]
Daß es in Rackow kriselte, hatte sie schon im Sommer erkannt. Einmal erzählte Wilhelm, Ernst sei nur mit vieler List an der Schuldhaft vorbeigekommen. Nun erfuhr man, daß die Gläubiger das Sequester eingeleitet hatten. Dann kam Onkel Ernst nach Berlin. Aber wenn Helene gemeint hätte, daß er niedergeschlagen sein müsse, so hatte sie sich getäuscht. „Ja, ja, meine liebe Martha,“ meinte er mit seinem leisen behaglichen Lachen, „wir wären also glücklich pleite. Klingt sehr häßlich, nicht wahr? Ist aber gar nicht so schlimm. Ein paar Jahre, und wir sind wieder obenauf. Außerdem aber — wozu hat man seine hübschen kleinen Konnexionen — außerdem hab ich für die Karenzzeit ein Pöstchen als Kurdirektor in Ems erobert. Man kann auch so leben, meine Lieben.“ Dabei sah er unter seinem Einglas um die Ecke auf Tante Marie hin. Deren kleines Gamingesichtchen war freilich ein wenig spitzer geworden, aber sie trug den Nacken noch steifer als sonst. „Enfin, ich freue mich auf Ems. In der Saison haben wir da die Creme der ganzen europäischen Gesellschaft. Lauer hat gesagt, Majestät müßten im Sommer unbedingt hin. Mignonne, ich lade dich ein, wir wollen ein bissel Staat mit dir machen. Aber dann bist du wohl schon ein glückliches kleines Frauchen, und Merivaux wird sich nicht von dir trennen wollen.“
Als sie gegangen waren, lachte Wilhelm hinter ihnen her: „Ernst ist wie eine Katze, er fällt schließlich immer wieder auf die Füße. Vielleicht haben wir Hackentins alle etwas von der glücklichen Eigenschaft. Manchmal denk ich, unser Leichtsinn ist wie ein Schwimmgürtel, der in der Gefahr die besten Dienste tut ... Martha, ich bitt’ dich, mach’ nicht solch mechantes Gesicht. Und du, Lene ... na, du siehst ja jetzt oft aus wie eine betrübte Lohgerberswitwe, der alle Felle fortgeschwommen sind ... komisches Mädel ... nur daß dir auch das gut steht!“
Ja, es mußte ihr wohl gut stehen, daß ihr Gesicht so viel schmaler, daß sein Ausdruck so viel ernster geworden war.
Sie war nicht eitel, aber sie war doch ein junges Mädchen[S. 267] und ging dem Spiegel nicht aus dem Wege. Und wenn er es ihr nicht gesagt hätte, würden es ihr die Männeraugen verraten haben, die ihr überall folgten, bis zur Peinlichkeit.
Einmal sagte sie zu Merivaux: „Ich hab heute nacht geträumt, daß ich die Pocken bekommen hätte. Furchtbar häßlich war ich geworden, und als du kamst, hast du dich mit Abscheu von mir gewendet.“
„Aber, Helene, wie kann man nur solch törichtes Zeug träumen?“
„Es ist gar nicht so töricht. Im Gegenteil, es beschäftigt mich sehr. Nimm einmal an, der Traum wäre Wahrheit, ich wäre plötzlich sehr häßlich geworden. Dann würde deine Liebe zu mir sehr schnell zerstieben. Das ist mir ganz sicher. Gib’s nur ehrlich zu — ich nehme es dir nicht übel.“
Sie sah ihm scharf in die Augen, wartete ungeduldig. Denn das wußte sie, er sprach immer die Wahrheit.
Da wurde er ernst. „Es tut mir weh, daß du so klein von mir denkst.“
„Ich denke gar nicht klein von dir. Es wäre ja nur natürlich, wenn du mich dann nicht mehr liebtest.“
„Nein: es wäre sehr unnatürlich, Helene. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: vielleicht würde ich mich in Helene Hackentin nicht verliebt haben, wenn sie nicht so wunderschön wäre. Aber verliebt sein und lieben ist doch zweierlei. Jetzt liebe ich dich! Und wahrhaftig: ich liebe doch nicht nur deine Schönheit, ich liebe dich um all deiner Eigenschaften willen. Ich lieb deine Stimme, ich lieb dein Herz und deine Seele, ich lieb dich, wenn du sonnig dreinschaust, und ich lieb dich, wenn die Schatten über deinen schönen Augen liegen. Glaub’ es mir nur: und wenn du heut häßlich würdest wie die Nacht, ich würde dich lieben, lieben — lieben!“
Er hatte seinen Arm um sie gelegt, er zog sie sanft an sich, enger dann, immer fester. Ihren Kopf bog er sacht zu sich, bis ihr Widerstand nachgab: „Ich liebe dich! Deine[S. 268] Seele liebe ich!“ Und er küßte sie auf die geschlossenen Lider, er küßte die geschlossenen Lippen. — —
Das waren wieder Augenblicke, in denen es in ihr Herz einzog, wie träumendes Glücksempfinden: „Ich werde ihn lieben ... ich liebe ihn schon ... vielleicht ... vielleicht lieb ich ihn wirklich ...“
Dann folgten Stunden, Tage, in denen sie ruhiger wurde, glauben lernte, sich zurecht fand, sich zwang und besiegte. Um das Weihnachtsfest spann sich solche Zeit freieren, froheren Aufatmens für sie. Ein wohliges Gefühl des Zusammengehörens überkam sie, eigentlich zum ersten Male. Sie gingen miteinander durch die menschenüberfüllten Straßen, ihre kleinen Einkäufe zu besorgen. Mit den frohlockenden Jungens zogen sie im rieselnden Schnee auf den Weihnachtsmarkt, der rund um das alte Zollernschloß an der Spree aufgebaut war, traktierten sie bei Josty an der Stechbahn, dem großen Süßigkeitsmann, mit Schokolade und Pfannkuchen; Helene erzählte von Onkel Grucker und Tante Hufnagel, und Gaston erzählte, wie er in Berlin erst den Christbaum kennen gelernt und deutsches Weihnachten. Gemeinsam mit Martha schmückten sie die Tanne. Dann kam der heilige Abend selber mit seinem heimeligen Zauber, mit Fichtennadelduft und Kerzenweihrauch. So liebevoll hatte Gaston an sie und an alle gedacht, so herzlich freute er sich über ihre kleinen Gaben. Von einem zum andern ging er, küßte der Omama die Hand, ließ sich von ihr streicheln, wie ein Kind; stand dann mit der Braut unter dem leuchtenden Christbaum, sah sie mit seinen blauen zärtlichen Augen an, fragte leise, bittend: „Hast du mich lieb?“ Da drückte sie ihm die Hand und sagte hochaufatmend: „Ich hab dich lieb, Gaston.“ Sagte es, wie befreit, und war gewiß, daß sie die Wahrheit sprach.
Durch die ganze frohe Festzeit hielt die schöne Stimmung an. Am Silvesterabend hatte Wilhelm nach den polnischen Karpfen einen Punsch gebraut. Rechte Fröhlichkeit wollte freilich nicht aufkommen; eine leise Wehmut lag auf dem kleinen Kreise, die Erinnerung an Vater, der am letzten[S. 269] Abend des Jahres immer seine kleinen Scherze getrieben hatte mit Schiffchenschwimmen und Bleigießen und groß gewesen war im Ausdeuten mit seinem „das heißt“. Unwillkürlich knüpfte sich manch anderer Rückblick auf das schwindende Jahr an. Wilhelm stöhnte ein wenig: es war geschäftlich ein schlechtes Jahr gewesen; der Zwist zwischen Regierung und Abgeordnetenhaus wollte nicht enden, und haarscharf nur war Preußen am Zerwürfnis mit seinem Bundesgenossen von Schleswig-Holstein her, mit Österreich, vorübergekommen. „Wie Blei lastet die Politik auf jeder Unternehmungslust“, meinte er. „Wer mag denn sein Geld riskieren, wenn vielleicht schon die nächsten Monate Krieg bringen können. Krieg mit Österreich — es ist gar nicht auszudenken. Wenn Vater das erlebt hätte, der immer auf Österreich geschworen hat!“
„Wir Soldaten — wir sehnen natürlich solch frischen fröhlichen Krieg herbei“, warf Gaston dazwischen.
Da schrak Helene zusammen: „Sag’ das nicht!“ bat sie leise. „Sag’ das nicht!“
„Ich wär ein schlechter Soldat, wollt’ ich’s nicht sagen. Als Offizier Seiner Majestät ... nun ja, und es regt sich wohl auch das Landsknechtsblut meiner Ahnen. Damit mußt du dich schon abfinden, Helene.“
„Krieg — es ist etwas Schreckliches um den Krieg.“
Omama saß am anderen Ende des Tisches, hatte ein kleines Nickerchen gemacht, aber die letzten Worte doch verstanden: „Kind,“ sagte sie, „es kann auch etwas Heiliges sein. Anno achtzehnhundertdreizehn ... ja ... und da haben die armen Frauen, die nichts anderes hatten, ihre goldenen Trauringe gegen eiserne vertauscht ...“
„Leicht würde unser allergnädigster Herr gewiß den Mobilmachungsbefehl nicht unterschreiben“, meinte Wilhelm. „Krieg gegen Österreich — und mit Österreich vielleicht ganz Deutschland gegen uns ... es bleibt ein Wagnis. Ich hoffe immer noch, Bismarck findet einen anderen Ausweg, obwohl oft behauptet wird, er triebe uns dem Kriege zu.“
[S. 270]
„... ja ... und Fräulein von Schmettau ließ sich ihr schönes Haar abschneiden ... hat’s an den Coiffeur verkauft und das Geld fürs Vaterland hingegeben ...“
„Daß der Herr von Bismarck den Krieg will, glaube ich nicht. Aber er weiß wohl, daß der Krieg oft eine Notwendigkeit ist, um aus verrotteten Zuständen herauszukommen, und er kennt keine Furcht. Solche Politik treibt er sicher nicht, wie die, die uns arme treue Neuchateller elend im Stich ließ.“
„... ja ... und da hielt ich das kleine Bändchen von Körner in der Hand ... ‚Leyer und Schwert‘ stand darauf ...“
Ganz still saß Helene.
Sie dachte eigentlich nicht an Gaston, daß der mit hinausziehen müßte ins Feld. Es war nur eine unklare, unheimliche Angst in ihr. Harro tauchte vor ihr auf, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte: die Primanermütze keck auf dem lockigen Blondhaar. Und Tante Marianne in den schwarzen Trauerkleidern, mit dem blassen Gesicht, das kleiner und immer kleiner zu werden schien. Wie unzählige trauerten gleich ihr, und wie kurz war der Feldzug gegen Dänemark gewesen, wie gewaltig mußte ein Krieg gegen das mächtige Österreich werden. Wie gewaltig, wie blutig.
Plötzlich brausten von der Straße her die lauten Neujahrsrufe. Die Glocken klangen.
„Auf ein glückliches neues Jahr!“ rief Wilhelm. Merivaux stand vor seiner Braut, sah ihr in die Augen. „Ein glückliches neues Jahr, ’elene,“ sagte auch er, und sie wußte, wie er das meinte und verstand. Beide Hände streckte sie ihm hin: „Viel Glück wünsch ich dir, Gaston — all das reiche Glück, das du verdienst!“
Da kamen auch schon die Jungens hereingesprungen, halb angezogen nur, trotz des Verbots. Thede brüllte sein „Prosit Neujahr!“, Hans ging reihherum, seinen Glückwunsch zu sagen. Ganz zuletzt kam er zu Helene und Merivaux,[S. 271] machte ein etwas verlegenes Gesicht und einen etwas linkischen Kratzfuß und begann:
„Hallo!“ rief Wilhelm lachend. „Das sind ja Verse — es reimt sich wenigstens.“
Hans wurde rot wie ein Puter, aber er fuhr tapfer fort:
„Der Junge, der Junge!“ Wilhelm hatte sich in einen Sessel fallen lassen und klatschte in die Hände: „Was sagst du dazu, Martha? Na, Mamachen, das hat er sicher von dir!“
Gaston hatte Hans rechts und links einen festen Kuß auf die roten Wangen gedrückt. Er war gerührt und wiederholte immer aufs neue: „Scharmant — scharmant! Nicht wahr, Helene? Scharmant: ‚Daß ihr seid übers Jahr — ein glückumstrahltes Ehepaar.‘“
„Ja, Gaston“, sagte Helene leise. Und nahm Hansens Kopf zwischen ihre beiden Hände: „Du guter Junge ... ich danke dir ...“
Omama hatte, während Hans sein Poem deklamierte, aufgemerkt, und, die Lippen bewegend, still mitskandiert; einmal den Kopf geschüttelt, dann so lebhaft zustimmend genickt, daß die schwarzen Schläfenlocken weit vornüberfielen. Nun wollte sie aufstehen. Martha sprang hinzu,[S. 272] stützte sie. So ging sie langsam um den Tisch herum, legte dem Enkel ihre Hand auf den Scheitel, machte vor dem Brautpaar einen kleinen graziösen Knix, und es schien, als wollte auch sie irgendein eigenes Verslein sprechen. Aber sie fand wohl die Worte nicht, murmelte ein Weniges, was niemand recht verstehen konnte, und sagte dann endlich: „Ja ... ja ... ihr Kinder ... übers Jahr ... ein glückumstrahltes Ehepaar ...“ — —
Am Neujahrstag war Helene in der Garnisonkirche gewesen, auf Merivaux’ besonderen Wunsch, denn sonst ging sie meist mit Martha zu Büchsel in die Matthäikirche. Aber Gaston wollte, daß sie einmal Strauß predigen hören sollte — und Gaston selber war heut in die Garnisonkirche kommandiert. Sie hatten sich freilich nur flüchtig begrüßen können. Aber er hatte ihr doch nach dem Gottesdienst vor der Tür die Hand geküßt, und sie hatte ihm dann noch nachgeschaut, während er seine Gardeschützen die Alte Friedrichstraße heraufführte, zurück zur Kaserne.
So herrlich hatte Strauß gesprochen. Über die Unruhe der Zeit und den Frieden im eigenen Herzen. Der alte König hatte in der Loge gesessen, mitten unter seinen Kriegern, ehrwürdig und sichtlich ergriffen.
An die Predigt dachte Helene und an den königlichen Greis, während sie langsam über die Spreebrücke schritt, am Museum vorbei, durch den Lustgarten. An die Unruhe der Zeit und den inneren Frieden, den Frieden des Herzens. Auch ihre Zeit war voll Unruhe gewesen, aber nun zog allmählich der Friede in ihr Herz. „Wir müssen um ihn kämpfen, auf daß er uns gegeben werde!“ hatte der Prediger gesagt. Auch sie hatte um ihn gerungen, nach ihren Kräften, und nun fühlte sie ihn in ihrer Brust. Nicht freilich als ein berauschendes Glück. Aber der Friede nach dem Kampf war wohl nimmer solch ein ganzes, volles Glück, denn das Weh der Kämpfe mußte noch lange, lange nachklingen. Und doch ein Glück! Eine wohlige Ruhe, ein friedvoller Ausblick aus der Gegenwart in die Zukunft — das war es!
[S. 273]
Über die Schloßbrücke ging Helene, am Kronprinzenpalais und dem Opernhaus vorüber; blieb ein paar Augenblicke am Denkmal des Großen Friedrich stehen, sah zu dem Eckfenster des Palais empor, an dem sich, wie sie gehört hatte, der König häufig zeigte, wenn die Wache aufzog. Aber es war wohl noch zu früh. Langsam ging sie weiter, die Linden entlang.
Gerade wollte sie die Charlottenstraße überschreiten, da erschrak sie heftig. Es war wie ein Schlag. Das Herzblut stand ihr still ...
Drüben, vom Gendarmenmarkt her, kam ein Paar.
Eine elegante, nein — eine aufgeputzte Dame, sehr groß, sehr robust, mit flatternden Hutbändern um das volle Gesicht, das gewiß einst schön gewesen war —
Und neben ihr — neben ihr — Alfred Schwarz —
Fliehen wollte Helene, fliehen. Aber ihr Fuß stand wie gebannt.
Mühsam trat sie endlich ein paar Schritte zurück, trat in einen Hauseingang. Er sollte sie nicht sehen, durfte sie nicht erkennen.
Doch dann fühlte sie: er erkannte sie nimmer.
Alles sah sie, nichts entging ihr, während sie tief in den Hauseingang gedrückt stand und das ungleiche Paar drüben vorüberging, so nah, daß sie die laute Stimme der Frau hören konnte. Nicht die einzelnen Worte, aber den unfreundlichen, schneidenden Ton.
Alles sah sie. Er war noch immer sehr elegant angezogen, aber die Kleider schlotterten um seine Glieder. Die Frau — seine Frau sprach auf ihn ein. Da kam ein spöttisches Lächeln in seine Züge. Dann schlich er weiter. Sein Stock stieß schwer auf die Steine. Jetzt bogen sie in die Linden ein — — —
Helene stand noch immer in der Flurnische und rührte sich nicht. Sie starrte auf die Stelle, wo er soeben drüben Halt gemacht hatte, um Atem zu schöpfen, wo er spöttisch gelächelt hatte, wie jemand lächelt, der da denkt:[S. 274] was verschlägt’s?! Der Vorhang fällt, die Komödie ist aus — —
Das Herz krampfte sich ihr zusammen.
Das also war die Frau, um derentwillen er sie betrogen hatte und gedemütigt! Kaum zweihundert Schritte von hier, damals, als sie in der Winternacht vor seinen Fenstern stand, als hinter den blauen Vorhängen die Lichter aufflammten und die Silhouetten sich scharf abzeichneten: er und sie —
Wie die Erinnerungen kamen! Da hatte man geglaubt, sie seien eingesargt für immer. Und nun stiegen sie empor, lebten ein neues Leben, bohrten sich ins Herz.
Die Erinnerungen kamen und der Zorn und die Scham. Und dann über alles hinweg das große, große Mitleid.
Es war nicht mehr Liebe. Aber es war doch das Mitleid, das aus der Liebe geboren war. Die war tot, war tot — und lebte doch weiter in diesem alles durchdringenden Mitleid. Sie lebte weiter in den Erinnerungen, die längst eingesargt waren, und die doch wieder auferstanden, wühlten und schmerzten. Die immer wieder auferstehen würden, über die nichts hinwegtrug — nichts —
Und alles andere war Betrug und Selbstbetrug. Betrug war und Einbildung der erkämpfte Frieden. Betrug war, daß dies Herz je, jemals einen anderen lieben könnte. Betrug war jeder Kuß, den diese Lippen gaben, Betrug jedes Wort der Zärtlichkeit, Betrug jede Hoffnung auf ein zukünftiges Glück. — —
Zu Hause waren sie im Festtagskleide und in Festtagsstimmung. „Schade nur, schade, daß der gute Gaston heut nicht kommen konnte, daß er Kasernendienst hatte. Gerade heute, armes Bräutchen ...“ meinte Wilhelm. „Bissel elend sieht die Helene aus. Hat wohl ein kleines Silvesterkäterchen.“
Sie scherzten und lachten. Sie konnten scherzen und lachen und das neue Jahr in Gedanken und Wünschen mit Rosengirlanden umwinden — — —
[S. 275]
Dann saß Helene in der Enge ihres Zimmers und schrieb, während Omama dicht neben ihr auf dem Kanapee träumte, Bogen auf Bogen an Gaston; zerriß Bogen auf Bogen, kämpfte ihre Tränen und ihr Schluchzen herunter, daß Omama nichts merke, setzte wieder an, fand nicht Anfang und nicht Ende.
Was sollte sie schreiben?!
Bis sie dann endlich, in angstvoller Verzweiflung, ein paar Worte fand:
„Ich flehe Dich an, Gaston, gib mich frei. Wenn Du mich lieb hast, und ich weiß, Du hast mich sehr lieb, so gib mich frei. Ich bin sehr schlecht. Ich habe Dich betrogen und belogen. Ich kann nicht vergessen, und von Dir weiß mein Herz nichts. Sei Du barmherzig zu mir, wie Du immer gütig warst: gib mich frei. Deine unglückliche Helene.“
Sie überlas gar nicht, was sie geschrieben hatte, kuvertierte, schrieb die Adresse, huschte die Treppe hinunter zum nächsten Briefkasten, warf den Brief ein. Und wäre fast zusammengebrochen, als der kleine Deckel mit leisem Rascheln zuschlug — hinter dem Briefe, der ihr Schicksal barg.
In fliegender Hast, wie gepeitscht, war sie auf die Straße geeilt. Schwer und langsam stieg sie die Treppe hinauf. Und suchte sich einen stillen Winkel, um sich auszuweinen. Zu weinen um den einen und um den anderen. — —
In all ihrer Verzweiflung stand ihr eins klar vor der Seele: daß Gaston sie nicht ohne Kampf aufgeben würde. Sie wußte, er kam gewiß. Sie wartete darauf mit angstvollem Herzen, suchte ihre armen schwachen Waffen der Abwehr zu schmieden. Rechnete sich aus: in aller Frühe hat er deinen Brief; der Dienst wird ihn noch ein paar Stunden festhalten, aber dann — dann kommt er — und er wird vor dir stehen und Rechenschaft fordern.
Er kam. Noch früher, als sie erwartet, schon gegen zehn Uhr.
[S. 276]
Sie hörte die Flurschelle, hörte seine Stimme. Er sprach mit Martha: „Wo ist Helene?“ — „Guten Morgen, lieber Gaston. Entschuldige meine Toilette. Helene? Drinnen bei Omama —“ Dann kamen seine festen Tritte durch das Wohnzimmer, dann ging die Tür —
Helene saß neben ihrer Mutter am Fenster, zum erstenmal wohl im Leben wie bei Omama Schutz suchend. Saß mit dem Rücken gegen die Tür, wagte nicht aufzustehen, nicht aufzusehen.
Er kam gerade auf beide los, küßte Omama die Hand, sagte: „Ich muß Helene allein sprechen. Du erlaubst wohl.“ Nahm Helene an der Hand, zwang sie mit sanftem Druck. Willenlos folgte sie. In das Nebenzimmer führte er sie, bis zum Sofa. Und als sie dann saß, faßte er wieder ihre Hand und sagte: „Meine liebe arme Helene!“
Sie bebte, und die Tränen kamen ihr, als sie seine warme Stimme hörte, den zärtlichen Druck seiner Hände fühlte.
„Wollen wir deinen Brief nicht als ungeschrieben betrachten?“ fragte er. „Du hast das in der Erregung geschrieben, unter irgendeinem fremden Einfluß. Es ist am besten, Helene, wir vergessen es beide.“
Sie schüttelte nur langsam den Kopf.
„Liebe Helene, du bist sehr sensibel, läßt dich von Stimmungen beeinflussen. So war es sicher auch gestern. Ich glaube nicht, daß du mit Überlegung geschrieben hast. Vielleicht weißt du heut gar nicht mehr, was du schriebst. Sag’ mir, daß es dir leid tut. Ein Wort von dir, und es ist alles wieder gut.“
Er sprach ganz ruhig. Aber sie fühlte aus dem Unterton seiner Stimme, wie traurig er war.
Wieder konnte sie nur den Kopf schütteln. Doch dann machte sie plötzlich ihre Hand frei, hob sie vor die Brust und bat mit einer letzten starken Willensanspannung: „Ich bitte dich ... laß mich frei!“
Es war ein Schweigen zwischen ihnen.
„Wenn ich dich nicht so heiß liebte, Helene,“ sagte er[S. 277] dann, „würde ich nun gehen. Wenn ich dich nicht so sehr liebte, wäre ich gar nicht gekommen. So aber ... Du mußt mich hören. Gerade in der letzten Zeit fühlte ich deutlich, daß alles anders, besser zwischen uns wurde. Ich war so beglückt darüber. Und nun ... nun dein jäher Entschluß.“
Er wartete. Aber sie schwieg, hatte immer noch beide Hände vor die Brust gedrückt, sah starr zu Boden.
„Helene, das weißt du: du hast in mir den treusten Freund.“
Sie nickte ein paar Male, schluchzte leise auf.
„Würde es dein armes wundes Herz nicht erleichtern, wenn du dem treuen Freunde Vertrauen schenktest? Vielleicht kann er dich trösten, vielleicht könnte er dir raten und helfen.“
Da sah sie auf und ihn an. Wie durch einen Flor von Tränen sah sie sein trauriges Gesicht und seine gütigen Augen.
Er nahm wieder ihre eiskalten Hände in die seinen.
„Sprich dich aus, Helene“, bat er. „Du wirst Verständnis bei mir finden. Denn das, was du schreibst: ich mag es gar nicht wiederholen — das ist ja alles nur Traum und Selbstquälerei. Sprich nur, Helene, sag’ mir alles ...“
Da begann sie.
Aber sie stockte gleich wieder. Hub wieder an —, sagte ganz leise: „Ich kann nicht, Gaston ...“
„Versuche es nur. Nicht um meinetwillen ... denk’ nur immer daran: hier sitzt dein bester Freund, der dir gern beistehen möchte in deiner Not.“
So sagte sie ihm alles. Ihr jubelndes Glück und ihr tiefstes Leid und wie sie sich langsam aufgerichtet hätte und gestern, gestern noch froh und glücklich gewesen wäre, bis sie ihm begegnet war. Ihm! Wie da alles wieder in ihr aufgelebt wäre, plötzlich, in tausend Schmerzen —
In kleinen Bruchstücken nur kam es über ihre Lippen. Sie mußte sich oft zwingen. Sie weinte leise. Fand wieder[S. 278] ein paar Worte, mühsam, hastete dann in ihrer Rede wie im Fieber. Ihre Hände zitterten in den seinen, krampften sich zusammen, streckten sich wieder —
Und endlich schloß sie: „Ich bin sehr schlecht gewesen zu dir. Ich hab dich belogen und betrogen, damals im Park ... und immer ... immer. Ich kann ja nicht vergessen ... es ist ja gar nicht aus in mir ... es wird ewig leben ... und nun geh, lieber Gaston, geh ... vergiß du mich ... wenn du kannst, verachte mich nicht ...“
Sie konnte nicht weiter. Tief sank der Kopf auf die Brust. Schluchzen erstickte die letzten Worte und ward zum stillen Weinen.
Aber in diesem Weinen keimte allmählich ein Verwundern in ihr auf: warum hält er immer noch meine Hände? Und warum tut mir das so wohl ...
Dazwischen hörte sie seine Stimme: „Weine dich nur aus, Helene“, und nach einer Weile: „Kannst du mich jetzt hören?“
„Ich danke dir viel, vielmal für dein Vertrauen, Helene“, begann er dann. „Nichts ist, als daß deine Nerven dir einen bösen Streich gespielt haben. Still, Helene, höre nur weiter. Niemand von uns vergißt wohl je ganz eine große Freude, ein großes Leid. Das mag tief untertauchen im Gedächtnis, aber plötzlich ist es wieder auf der Oberfläche. Vergessen können wir alle nicht, wir können nur überwinden. Darauf kommt es an. Du aber hast ja längst überwunden.“
Sie schüttelte wieder schwer den Kopf.
„Du hast es, glaub’ es mir. Die Erschütterung riß nur den Schmerz wieder auf. Laß einige Tage dahingehen, und auch das ist überwunden. Seh ich aus wie einer, der sich betrogen und belogen fühlt. Sieh doch: ich lächele schon wieder.“
Sie sah immer noch wie durch einen Schleier von Tränen. Aber sie sah, daß er wirklich lächelte, ihr wie ermutigend zulächelte aus seinen guten Augen. Und lächelnd fuhr er fort:
[S. 279]
„Ja, Helene, sieh mich nur an! Mit deinen lieben, zagen, zweifelnden Augen. Es wird nicht in Trümmer gehen, ich halte es, mein Glück! Ich lasse dich nicht, Helene! Ich halte dich, ich zwinge dich. Man zwingt nicht nur mit Gewalt: Liebe und Geduld, Geduld und Liebe sind meine Waffen. Und ich werde siegen!“
Martha und Merivaux saßen im Wohnzimmer sich gegenüber.
Es war Ende März, und draußen meldete sich der erste Frühling. Zag noch, wie verschämt, aber ausnahmsweise kalendermäßig. Auch die Truppen hatten bereits Frühling gemacht, zogen fleißig auf den Kreuzberg, früher als sonst; es lag ja außer dem milden Frühlingswehen auch allerlei Unruhe in der Luft. Österreich, hieß es, mobilisierte insgeheim. Man erzählte wieder einmal von scharfen diplomatischen Noten über die Regelung der Verhältnisse in Schleswig-Holstein, über die Erbansprüche des Augustenburgers, denen Bismarck im Interesse Preußens widerstrebte; man erzählte, wie hinter diesen Noten das Verlangen nach einer neuen Ordnung des deutschen Bundes stehe.
Darüber sprachen auch Martha und Gaston.
Er war von einer Truppenübung gekommen, hatte am Halleschen Tor sein Pferd dem Burschen übergeben und war heraufgesprungen, um Helene guten Morgen zu sagen. Aber sie war ausgegangen. Martha meinte, sie müsse bald heimkehren. Da bat er um ein Butterbrot.
Und so saßen sie sich gegenüber; er frühstückte und erzählte allerlei, was die Zeitungen in den letzten Tagen gebracht und was er sonst erfahren hatte. Er sprach sehr lebhaft und war sehr entrüstet über die laue Stimmung in Berlin.
Martha hörte lächelnd zu, bis er plötzlich schwieg und, nun auch lächelnd, meinte: „Ich glaube, beste aller Schwägerinnen, du lachst ganz veritabel über deinen untertänigsten Diener.“
[S. 280]
„Das nun gerade nicht, Gaston. Eigentlich freu ich mich nur über dich. Aber, weißt du, merkwürdig kommt’s mir schon vor, wie du dich verändert hast.“
„Ich? Wieso denn?“
„Ja, so leicht ist das nicht zu sagen. Einmal rein äußerlich. Wenn ich so denke, wie du radebrechtest, fast radebrechtest, als ich dich kennen lernte, und wie gut du jetzt unsre swere Sprak’ sprichst — das ist doch schon erstaunlich. Sogar über das H kommst du ganz glatt hinweg.“
„Das macht die Übung, Martha. Gerade des H! Denk’ doch nur, wenn man alle Augenblicke Helene sagen möchte, wenn man sogar Helene laut denkt, alle Tage, alle Stunden, alle Minuten —“
„Sei so gut und laß wenigstens die Sekunden aus. Obwohl ich dir das auch zutrauen würde. Die Sprache ist doch nur ein Äußerliches. Du hast dich aber in den letzten Jahren auch zum Preußen umgedacht.“
„Umgedacht — das ist ein neues Wort, das ich mir merken werde. — Ich bin doch Offizier Seiner Majestät des Königs von Preußen.“
Sie schob ihm den Teller mit den Brötchen näher und schenkte ihm sein Glas wieder voll.
„Das warst du früher auch. Aber du warst es, sozusagen, als Neuchateller. Jetzt aber merke ich, daß du ganz Preuße geworden bist. Fast möchte ich sagen: Märker. Wie du vorhin auf die Demokraten geschimpft hast, mußte ich an meinen guten seligen Schwiegerpapa denken. Viel besser konnte das der alte Rittmeister auch nicht.“
Martha hatte bisweilen im Gesicht einen Ausdruck von Schelmerei, der ihr allerliebst stand. So auch jetzt. Gaston machte ihr eine kleine Verbeugung: „Ich muß dich öfter zum Lächeln bringen,“ meinte er, „du hast dann zwei Grübchen in der Wange, die ganz reizend sind. Pardon für die Abschweifung. Ja ... du hast recht,“ fuhr er fort, „als ich eintrat, war mir Preußen eigentlich völlig Nebensache. Aber es ist wohl so: wenn man mit Leib und Seele Soldat ist, schließt man sich eben an das große Ganze immer[S. 281] enger an. Und dies Preußen hat überhaupt eine merkwürdige Assimilationskraft. Eure Mark noch besonders. Erst hab ich riesengroße Sehnsucht nach meinen Bergen gehabt und euren Sand fast gehaßt. Nun lieb ich ihn.“
„Es blüht freilich ein gewisses schönes Röslein auf diesem Sande — ein schönes Röslein, wenn es auch Dornen hat.“
„Laß nur die Dornen, ma belle-sœur — Die sind gar nicht so bös mehr ... Aber es scheint, da kommt Helene —“
Er war, als die Flurglocke klang, sofort aufgesprungen und ging seiner Braut entgegen. Die Tür blieb offen. Martha konnte von ihrem Platz aus gerade sehen, wie sie sich begrüßten. Sie lächelte wieder, aber diesmal fehlte die Schelmerei in ihrem Gesicht. Sie wunderte sich nur, sie ärgerte sich ein wenig, und sie dachte daran, wie sie einst ihrem Wilhelm bei jedem Wiedersehen, und wenn es nach einer Trennung von wenigen Stunden gewesen, an den Hals geflogen war.
Diese beiden da blieben ewig und immer zeremoniös. Gaston küßte Helene die Hand, sie hielt ihm, wenn es hoch kam, die Wange hin; dann schüttelten sie sich die Hände wie zwei gute Freunde; er nahm ihr den Mantel ab, und sie sprachen miteinander wieder wie gute Kameraden. Sie hörte es: „Du hier, Gaston!“ — „Ja, Helene, auf einen Sprung, gerade vom Kreuzberg. Verzeih den Dienstanzug.“ — „Aber ich bitt dich.“ — „Wo warst du denn, wenn ich fragen darf?“ — „Bei Frau Harriers.“ — „Das freut mich —“
Früher, vor zwei, drei Monaten noch, war zwischen den beiden dort häufig etwas wie ein Kampfzustand gewesen, ein heimliches Ringen, das auch dem Unbeteiligten nicht verborgen bleiben konnte. Jetzt schienen sie sich in einem schönen Gleichmaß gefunden zu haben. Schön? War dies Gleichmaß wirklich schön? Ja ... wenn man nicht beiden doch immer angemerkt hätte, daß es nur auf ein Beherrschen herauskam. Wenn man nicht das starke Temperament gekannt hätte, das in den beiden steckte. Auch in der Lene. Gerade in der Lene! Man brauchte ja nur zurückzudenken —
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Sie kamen herein. Helene nickte der Schwägerin zu. „Kann ich von Gastons Frühstück mit profitieren?“
„Du wirst dem hungrigen Kriegsmann doch nicht seine paar kümmerlichen Brötchen fortessen. Wart’, ich hol’ dir was.“
Hinaus war sie. Aber hinter der Tür blieb sie stehen. ‚Die Welt wird nicht umstürzen, wenn ich einmal lausche. Ob sie sich jetzt wenigstens einen ordentlichen Kuß gaben?‘
Sie horchte vergeblich. Die da drinnen sprachen wie zwei gute Freunde. Von Musik natürlich wieder. Musik ist ja eine schöne Sache — ohne Zweifel. Aber ein Brautpaar hat doch eigentlich etwas Besseres zu tun. „Wir haben die Elsa wieder aufgenommen ...“ „Ich hätte mir den Schritt vom belcanto zu Wagner doch nicht so schwer gedacht ...“ „Alles kommt darauf an, den Charakter herauszuarbeiten, der Persönlichkeit gerecht zu werden.“ ‚Du mein Gott, werdet euch doch selber gerecht, ihr beiden lieben Narren. Wenn ihr wüßtet, wie kurz selbst eine lange Brautzeit ist und daß sie so nie wiederkehrt. Ihr Narren — ihr Narren!‘
Ärgerlich gab sie den Lauscherposten auf, ging in die Küche, machte eigenhändig eine Schrippe zurecht, benutzte die Gelegenheit, ihrer Minna nach bewährtem Rohlbecker Rezept gründlich den Kopf zu waschen, weil gestern abend ein baumlanger Grenadier vor der Küchentür gestanden hatte — „anständige Mädchen sind nicht so verliebt wie du dumme Trine!“ — und ging ins Wohnzimmer zurück.
Da saßen die beiden immer noch in ansehnlicher Distanz und sprachen immer noch kluge Worte. Diesmal hatten sie die Literatur beim Wickel. Natürlich — Lene schmökerte ja neuerdings in jeder freien Stunde, anstatt mal in der Küche nach dem Rechten zu sehen, was für eine angehende Hausfrau jedenfalls wichtiger wäre. Und wovon schnackten sie? Von dem neuen Roman, von dem jetzt alle Welt redete, der „Ägyptischen Königstochter“. Hilf, Himmel ... wann spielte die Geschichte? Im sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt? Wenn es noch der herrliche Roman gewesen wäre,[S. 283] der jetzt gerade in der „Gartenlaube“ erschien: „Goldelse“ hieß er ja wohl. Aber das alte Ägypten!
Da saßen sie und redeten Bücher, und die Schrippe rührte Helene auch nicht an. Redeten und redeten — und machten sich selber nur was vor. Man brauchte sie ja nur anzusehen: Gaston sprach ganz ruhig, in seinem allerschönsten Deutsch, aber in seinen Augen lohte das verhaltene Feuer. Die Marlitt, oder wie die Verfasserin des Romans in der „Gartenlaube“ hieß, hätte leidenschaftliche Augen nicht besser beschreiben können, als man sie hier sah. Und Lene saß da, sprach ebenso ruhig, sah aber gar nicht auf. Nun, man kannte ja ihre Augen. In denen lag jetzt immer ein eigner feuchter Schimmer. Man kannte sie — aber klug wurde man aus ihnen nicht und aus Helene überhaupt nicht. Nur daß das Gesicht immer blasser und immer schmaler wurde, das sah man, aber dabei wurde das Mädel auch immer hübscher. Zum Verwundern war’s.
Endlich schien sich Gaston an Marthas Anwesenheit zu erinnern.
„Wo ist Wilhelm eigentlich, liebe Martha?“
„In Warschau. Es schwebt da ein Projekt wegen der Verlängerung der Bahn über die russische Grenze hinaus.“
„Der gute Wilhelm muß viel auf der Eisenbahn liegen.“
„Ja — leider —“
Dann sprachen die beiden schon wieder miteinander. „Wir müssen nächstens in die Ausstellung am Kantianplatz, Helene. Es ist ein wunderschöner Richter dort.“
‚Wofür die sich auch alles interessierten? Musik — Literatur — Malerei — und waren Braut und Bräutigam und saßen da wie die Ölgötzen.
Mochten sie! Was hatte Gaston gesagt? Der gute Wilhelm! Ja ... leicht hatte er’s ja nicht. Aber man hatte es auch nicht leicht, so viel allein mit den großen Jungens, die Vaters Hand noch so sehr bedurften. So viel allein! Beinahe so viel allein, wie früher in Rohlbeck. Aber es ging wohl nicht anders. Zuerst war der Verdienst an der Bahnkonzession wie unerschöpflich erschienen. Du mein[S. 284] Gott! Nachher war er zum größten Teil vorgegessenes Brot gewesen. Als Tante Marianne bezahlt war und die vielen Wechsel eingelöst waren, da blieb nicht arg viel. Sparen konnte Wilhelm ja nicht — leider —‘
‚Leider —‘
Und da ging die Tür, und Omama kam herein, auf ihren Stock gestützt. Die schwarzen Locken pendelten rechts und links von den Schläfen, und sie hatte wieder nur auf einer Wange Rouge aufgelegt. Aber sie lachte vergnügt: „Ich muß doch einmal nach unserem lieben Brautpärchen sehen ... Was das Lenchen heut wieder für verliebte Augen macht ...“ — —
Gaston hätte wohl vor Glück gejauchzt, wenn aus Helenes Augen ihm einmal die Liebe entgegengeleuchtet haben würde. Aber sie blieb gemessen und kühl. Sie wehrte sich nicht mehr, sie trotzte nicht mehr, sie weinte nicht mehr. Sie schien ganz ruhig geworden nach dem einen letzten großen Sturm um die Jahreswende.
Er wartete.
Es gab wohl Stunden, in denen er verzweifeln wollte, in denen er meinte: es geht so nicht weiter, du trägst es nicht mehr! Du pochst gegen einen Stein, der nie Funken sprühen wird.
Aber er zwang sich immer wieder.
Sie waren wirklich gute Freunde geworden. Martha sah ganz recht.
Manchmal dachte Helene: es ist ja nicht anders als früher, wir waren ja immer gute Kameraden. Manchmal dachte sie: wir werden immer gute Freunde bleiben, ohne Streit und Zwist; was könnte ich mir Besseres wünschen; wie viele Ehen mögen selbst dieser Freundschaft entbehren. Aber oft, oft, in einsamen Stunden schrie es auch in ihr: soll es nun immer, immer so weitergehen! Und wenn du’s erträgst, kann er es denn ertragen, soll er darben ein ganzes langes Leben hindurch! Denn sie fühlte, daß hinter seinem beherrschten Wesen die Leidenschaft wachte, daß er wartete[S. 285] von Tag zu Tag. Und je vertrauter sie miteinander wurden, desto mehr litt sie um ihn, und konnte ihm doch nicht helfen.
‚Gib mich frei!‘ hatte sie ihn noch einmal gebeten. Er hatte nur den Kopf geschüttelt. In seinem Gesicht aber stand dabei ein fast fanatischer Ausdruck, wie sie ihn einst auf alten Märtyrerbildern gesehen hatte: ein Ausdruck des Leidens und des Glücks im Leiden. Dann war das Gesicht weich geworden. ‚Niemals!‘ hatte er gesagt. ‚Du kannst mir verbieten, dich zu sehen. Dich zu lieben kannst du mir nicht verbieten.‘
Oft dachte sie an seine Worte: ‚Wir alle können nicht vergessen, aber wir können überwinden. Und du hast längst überwunden.‘
Sie hatte nicht daran geglaubt, damals, als die Begegnung mit Schwarz ihr das Herz zerrissen. Nun wußte sie, daß er doch recht gehabt.
Wenige Tage später sprach Frau Harriers-Wippern plötzlich von Schwarz. Achselzuckend, mitleidig: „Sie kannten ihn ja. Er war immer ein Bruder Leichtsinn, der seine Gaben verschleuderte wie sein Geld. Jetzt war er hier, ohne Engagement. Zu mir ist er nicht gekommen, er schämte sich wohl. Aber ich hörte, daß es ihm schlecht geht, und daß er sehr unglücklich mit seiner Frau lebt. Röder hat ihnen beiden schließlich ein Engagement nach Odessa besorgt, aber mit einer Gage, die wohl gerade nur das Leben fristet.“ Sie seufzte leise. „Einer von vielen. Wer in unserem Beruf nicht Charakter hat und starken Willen, der leidet leicht Schiffbruch.“
Sie hatte es geahnt, und das Mitleid preßte ihre Seele, als sie es nun hörte. Die heiße Erregung jedoch, welche die Begegnung in ihr jäh wachgerufen, zitterte nicht mehr in ihr. Es war so, wie Gaston gesagt: überwunden hatte sie. Nur das Mitleid blieb. Und vielleicht nur ein dumpfes Weh: Die Leidenschaft für ihn hat all deine Kraft zur Liebe so ausgeschöpft, daß dein Herz arm geworden ist und arm bleiben wird für immer.
Gaston sprach zu ihr nie von dem Termin der Hochzeit.
[S. 286]
Aber sie hörte, daß er mit den Geschwistern davon gesprochen, daß er den Frühherbst in Aussicht genommen hatte. Dann und wann kam auch die praktische Martha mit einer Anfrage wegen der Aussteuer. Sie hatte schon Leinen eingekauft und die Näherin im Hause, als könnte es gar nicht anders sein. Als ganz selbstverständlich, als Pflicht nahm sie es an, daß sie für Mutter eintrat.
Zuerst war Helene zusammengezuckt, als Martha von all dem sprach. Aber dann hatte sie lächeln können. „Du ordnest das gewiß am besten — ich danke dir.“ Und sie wunderte sich selber: ihr graute nicht vor der Entscheidung, ganz ruhig nahm sie sie hin. Wieder mit dem Empfinden: wie wenigen Mädchen mag die Erfüllung der höchsten Wünsche vergönnt sein, wie unendlich viele müssen sich bescheiden. Du hast es immer noch gut: Du hast Gaston sehr gern, du schätzt ihn, ihr seid eins in so vielem, so vielem. Unglücklich mit ihm kannst du nie werden. Nur ob du ihn glücklich machen wirst ...?
Sie war ruhig und gefaßt.
„Meine liebe Hackentin“, sagte einmal Frau Harriers etwas unzufrieden. „Sie sind ein wunderliches Menschenkind. Ich habe bei meinen Schülerinnen doch schon so manches erlebt, aber solche Wandlungen noch nie wie bei Ihnen.“
Helene wurde rot. Sie hatte immer noch diesen jähen Farbenwechsel, ja er war wohl noch auffallender, seit ihr Gesicht blaß und durchsichtig geworden war. „Was hab ich denn verbrochen?“ fragte sie etwas kleinlaut.
„Gar nichts. Sie schreiten in der Technik unaufhaltsam fort, ich werde Ihnen bald nichts mehr zu geben wissen. Aber die Technik ist doch nicht alles. Du lieber Gott! Das Organ gab Ihnen die gütige Natur, und wer die Stimme hat, kann schließlich bei dem nötigen Fleiß all das dazu lernen, was die Kunst zu lehren vermag. An Fleiß fehlt’s bei Ihnen auch nicht. Aber ich habe mit Ihnen Zeiten von so schwankender Stimmung durchgemacht, daß ich manchmal vor Rätseln stehe. Wie oft hab ich zügeln[S. 287] müssen, wenn das Temperament mit Ihnen durchgehen wollte —“
Sie standen vor dem Flügel. Die Stunde war beendet, im Vorzimmer wartete wohl schon eine andere Schülerin, oder der Herr Baumeister, der Gatte der Sängerin, wartete gar mit dem Mittagessen. Frau Harriers war ein wenig ungeduldig. Sie schloß den Flügel.
„Ja ... und soll ich Ihnen sagen, wie jetzt Ihre Stimme klingt? Apathisch klingt sie. Nach Resignation klingt sie! Alles schön, rund, tadellos, ein wahrer Genuß, diese Atemökonomie! Aber manchmal singen Sie ... wie drück’ ich’s nur aus? ... nun, wie aus Pflichtgefühl, aus einem müden Pflichtgefühl heraus. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie ein glückliches Bräutchen sind und einen der besten Männer bekommen, würde ich mir allerlei Gedanken machen. So — nun ist’s heraus, und nun machen Sie, daß Sie fort kommen. Merivaux steht doch schon drüben und wartet auf Sie.“
... aus Pflichtgefühl ...
So also sang sie? Handelte sie auch so? Nur aus Pflichtgefühl? Und würde sie, nur aus Pflichtgefühl, Gaston eine gute Gattin werden? Alles nur aus armseligem Pflichtgefühl! Als ob sie sich treiben ließ auf einem der großen Bettelsuppenströme des Lebens!
Der Gedanke empörte sie. Denn sie hatte Gaston doch gern! Sehr gern sogar!
Ihr war es, als müßte sie sich selber aufrütteln. Sich herausreißen aus dem Sich-gehen-lassen, aus dem stumpfen Gleichmaß. Kämpfen gegen sich selber.
Unten, drüben auf dem Trottoir, ging wirklich Gaston auf und ab.
Ein paar Augenblicke blieb sie im Hausflur stehen, sah zu ihm hinüber. Die schmale Falte zwischen ihren Brauen grub sich tief ein.
Dann schritt sie schnell über die Straße, nickte, lächelte, hing sich in seinen Arm.
„Guten Morgen, lieber Gaston. Ich freue mich, daß du[S. 288] kommen konntest. Hast du Zeit? Können wir einen kleinen Bummel durch den Tiergarten machen?“
Er bejahte eifrig, sichtlich erfreut. Und sie gingen die Querallee hinauf, bogen zum Goldfischteich ein.
In den ersten Maitagen war es. Der Tiergarten stand im duftigen jungen Grün. Die Lenzsonne lag warm auf Weg und Steg. In den dichten Büschen zwitscherten die Amseln. Die Welt war schön geworden, fast über Nacht, denn plötzlich war der Frühling in die Mark gekommen.
Um diese Stunde war der Tiergarten wenig belebt. Am Rande der Wege ein paar Kinderwagen, aus denen rosige Babygesichter zur Sonne lachten; einige Spreewälderinnen in ihren bunten Röcken, dann und wann eine Matrone, die einsam Luft schöpfen ging, ein pensionierter alter Herr, der seinen Gesundheitsmarsch machte. Es verlor sich in der Weite.
Sie plauderten dies und das, wie gute Freunde plaudern, bunt durcheinander: von Marthas Wirtschaftlichkeit, von Wilhelms nie rastenden Plänen, von der Omama; von der Charlotte Wolter, der großen jungen Tragödin, von der Erhardt, der schönen Künstlerin des Schauspielhauses, und von der Lucca, die jüngst als Julia unerhört gefeiert worden war; und daß der Krollsche Garten nächstens wieder eröffnet werden würde, in noch feenhafterer Beleuchtung als je zuvor.
Es war wie immer zwischen ihnen. Und doch anders. Er empfand es, wie lebhafter heute Helene war, angeregter, daß ihr Ton wärmer war. Manchmal fühlte er den leichten Druck ihrer Hand auf seinem Arm. Federnden Schrittes ging sie an seiner Seite, und einmal sagte sie: „Ist das schön heut! Ich möchte stundenlang so gehen. Womöglich ganz allein mit dir durch einen weiten, weiten Wald.“
Er sah sie an, und auf ihrem Gesicht war ein Lächeln.
Sie nickte ihm zu, ganz leise nur. „Der Frühling —“
Da sagte er schnell: „Und bald kommt der Sommer, und dann — dann reisen wir beide nach meiner Heimat.“
Nebeneinander standen sie am Teich. Lustig huschten die[S. 289] goldschuppigen Fische, die grünen Wipfel spiegelten sich im Wasser. Weit und breit war kein Mensch außer ihnen.
Immer noch sah er ihr in das liebe schöne Gesicht, in dem langsam ein feines Rot emporstieg. Seine Hand hatte er um ihren Gürtel gelegt. „Ich freue mich ja so darauf, dir meine Heimat zu zeigen, unseren herrlichen See, unsere Berge. Anfang August, denk ich, reisen wir — gleich nach unserer Hochzeit.“
Ein leichtes Beben ging durch ihre Glieder. Aber sie nickte wieder.
„Es ist dir recht so?“
„Ja, Gaston.“
Dann gingen sie langsam weiter und um das Wasser herum. Mit dem leichten Plaudern war’s freilich vorbei. Er hatte ihre Hand wieder in seinen Arm gezogen, sprach von seinem alten Vater, sprach dann davon, daß er nun eine Wohnung mieten wollte. „Ich hab immer noch gezögert, denn man hat mir angedeutet, daß ich Adjutant bei der Inspektion werden soll. Dann brauchten wir nicht so weit hinaus zu ziehen, in die häßlichste Gegend Berlins. Ich möchte dich so gern in ein recht, recht hübsches Heim führen, Helene.“
Plötzlich blieb sie wieder stehen, sah zu Boden, sah dann auf: „Du bist ein rechter Wagehals?“
„Wieso denn?“
„Daß du es mit mir wirklich versuchen willst. So unliebenswürdig wie ich bin, so apathisch oft ...“
Er lachte. „Ach geh doch! Was sind denn das für Dummheiten. Laß nur den Sommer kommen. Laß uns nur erst auf meiner lieben kleinen Terrasse am See sitzen, wir beide ganz allein. Oder im Boot auf der blauen Flut. Oder in die Berge fahren, höher, immer höher! Wenn ich dich nur erst ganz für mich habe! Ich will dir schon die Falte da aus der Stirn küssen — die da!“
Und mit einem Male hatte er sie umfaßt, die Hutkrempe weit zurückgebogen und küßte sie wirklich gerade zwischen die Brauen. Ganz wenig nur wehrte sie sich, gar nicht[S. 290] fast. Da küßte er sie auch auf die Lippen, und heut hielt sie still. „Der Frühling —“, sagte er und lachte ihr in die Augen.
Wieder gingen sie weiter, den schmalen Fußweg zur Rousseauinsel.
„Also Anfang August!“ meinte er froh. „Dann müssen wir in den ersten Septembertagen zurück sein. Das Manöver schenkt der König von Preußen auch den glücklichsten Leuten nicht. Alles freilich nur, wenn es nicht Krieg gibt.“
„Krieg ... was ihr alle immer von Krieg redet. Wilhelm hat auch weiter nichts im Sinn.“
„Bedenklich genug sieht’s aus, Helene. Gestern hieß es bei uns schon, die Reserven sollten eingezogen werden. Nachher war’s nur ein Gerücht.“
„Krieg mit Österreich —“
„Vielleicht nicht nur das. In der „Kreuzzeitung“ stand, daß Sachsen und Hannover auch schon rüsten.“
„Sind wir Preußen denn so böse, daß man uns durchaus an den Kragen will?“
„Du Kind! Aber ich bin nicht viel besser als du, höchstens daß ich weiß: die Preußinnen können reizend sein! Ist mir auch wichtiger als die ganze Politik. Und nun laß gut sein. Ich bin so froh heut, so froh — —“
Als Helene daheim die Treppe hinaufstieg, tönte es in ihr, wie ferner, ferner Glockenklang: Du hast heut einen lieben Menschen sehr, sehr glücklich gemacht! Und sie war froh darüber.
Sie war so froh, daß sie oben Martha umarmte, dann zur alten Mutter lief, die am geöffneten Fenster in den Frühling hinausträumte, sie leise umfaßte: „Ich muß es dir doch sagen, Mama, Anfang August ist unsere Hochzeit.“
Omama sah auf, schüttelte verwundert den Kopf, nickte dann: „So ... so! Ja! Ja! Anfang August. Wir haben auch im August geheiratet. Ja ... warte einmal, Lenchen ... und Grucker auch. Damals ... also den lieben Gaston ... ich weiß ja ... ich weiß alles. Aber so blaß darfst[S. 291] du zur Hochzeit nicht aussehen, Lenchen ... und wir trugen damals den Brautschleier hinten fest in die Coiffüre gesteckt und par devant ein ganz schmales Myrtenkränzchen ...“ Sie kicherte leise und sang mit ihrer matten Stimme vor sich hin: „Wir winden dir den Jungfernkranz — mit veilchenblauer Seide! Ja, ja, mein Lenchen ... wir winden dir den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide ...“
Da kamen die Jungens hereingestürmt, erregt, mit roten Gesichtern. Sie schrien durcheinander, wollten sich nicht zu Worte kommen lassen. „Wißt ihr’s schon? Wie wir aus der Schule kamen, wurden die Extrablätter ausgerufen. Auf Bismarck ist geschossen worden! Unter den Linden. Er soll tot sein. Nein, schwer verwundet. Den Mörder haben sie gleich aufgeknüpft. Nein, Bismarck hat ihm selber noch die Pistole aus der Hand geschlagen —“
Es ging wirr durcheinander. Und dann war plötzlich Wilhelm da, auch er mit rotem Kopf. Er wußte alles ganz genau, hatte gerade bei Hiller gefrühstückt, nicht weit vom Schauplatz des Attentats. Nein, gottlob, Bismarck war nicht einmal verwundet, trotzdem der Mörder — Blind sollte er heißen und ein fanatischer Demokrat sein — aus nächster Nähe fünf Schüsse auf ihn abgefeuert hatte. Auf dem Wege zum König war Bismarck gewesen, zum Vortrag bei Seiner Majestät.
Wilhelm lief kreuz und quer durch die Stube, fast wie Vater es getan hatte, wenn er sehr erregt war. „Was für Zeiten, Martha, was für Zeiten! Heut morgen erst die Nachrichten aus Österreich und Italien. Überall Rüstungen, Mobilmachung. Dann die Börse — reine Kriegspanik. Was für Zeiten! Man mag es gar nicht ausdenken: wir dicht vor einem Kriege mit Österreich. Stellt euch das nur vor: mit Österreich, unserem Bundesgenossen seit achtzehnhundertdreizehn! Womöglich noch Krieg mit Sachsen, Hannover, Bayern, mit all den anderen deutschen Staaten! Wir allein! Dabei den Hader im Innern. Die Demokraten auf Bismarck spinnefeind — weg mit Bismarck, heißt’s[S. 292] hier, diesem Ministerium keinen Groschen! heißt’s da. Und unsere guten Konservativen — nun, weiß Gott, zum Verwundern ist’s nicht, daß sie den Bruch mit der österreichischen Freundschaft bitter beklagen. Wenn wir wirklich Krieg bekommen, ist’s ein schrecklicher Bruderkrieg. Wenn das Vater erlebt hätte! Unser armes Preußen!“
Nun stand er in der Mitte des Zimmers: „Jungens, glotzt mich nicht so dumm an. Wenn ihr älter seid, werdet ihr’s begreifen, was das heißt, Deutsche gegen Deutsche! Das Herz könnte sich einem im Leibe umdrehen. Und dabei geht’s um die Existenz, einfach um Sein oder Nichtsein. Wenn wir geschlagen werden — und wer kann im voraus wissen, wie die Würfel fallen — wenn wir geschlagen werden, hat Preußen aufgehört, eine Großmacht zu sein. Sie wollen uns ja längst den Großmachtkitzel austreiben. Lieber Gott, wie mag unserem König zumute sein vor der Entscheidung!“
Helene war noch immer bei der Mutter am geöffneten Fenster, durch das die milde Frühlingsluft hereinströmte.
Sie verstand das alles nur halb, was der Bruder in seiner Erregung heraussprudelte. Verstand es so wenig, wie sie früher Vaters politische Erörterungen verstanden hatte. Nur das eine verstand sie: Krieg — Deutsche gegen Deutsche! Und sie schauerte leise zusammen. Krieg — da zog dann auch Gaston hinaus —
„Aber Wilhelm, du sprichst ja, als ob das schon so gewiß wäre — das mit dem Krieg“, sagte Martha zag dazwischen.
„Sicher? Wer weiß das. Man hofft ja immer noch auf Frieden. Hofft? Heut war der Prinz Hohenlohe bei Hiller. Der hat Verwandte in der österreichischen Armee — die brennen alle auf unsere Demütigung. Freunde haben wir nirgendwo. Was heißt da hoffen? Zu Kreuze kriechen wir Preußen nicht. Wenn’s nicht anders sein kann, muß eben das Schwert entscheiden!“
Mit einem Male hob Omama wieder an: „Ja ... ja. Das Schwert ...“ Und sie sang leise vor sich hin: „Nun[S. 293] laßt das Liebchen singen — daß helle Funken springen — Der Hochzeitsmorgen graut —“
Da fielen die Jungens ein, wie auf Kommando: „Der Hochzeitsmorgen graut — Hurra, du Eisenbraut!“
Wenn in den nächsten Tagen Wilhelm nach Haus kam, war’s jedesmal mit umwölkter Stirn. Immer wieder stöhnte er: „Die Zeiten! Die Zeiten!“ Immer neue Nachrichten brachte er mit: Der König hatte nach langem Zögern die Mobilmachung von vier Armeekorps befohlen; Napoleon mischte sich in den Streit ein, bot seine Vermittlung an — natürlich um im Trüben zu fischen. Dann wußte er von Friedenspetitionen zu erzählen, die aus einzelnen Provinzen an Seine Majestät abgegangen wären, von schmachvollen Äußerungen einzelner demokratischer Führer: ‚Lieber die Kroaten in Berlin, als Bismarck noch länger am Staatsruder!‘ Dann wieder von patriotischen Regungen, wie wacker sich die zunächst bedrohten Schlesier hielten: ‚Wir wollen keinen schlechten Frieden!‘ hieß es gerade in ihrer Adresse. Aber immer waren seine letzten Worte: „Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“
Merivaux konnte nicht so viel kommen wie bisher. Der Dienst nahm ihn stark in Anspruch. Aber jedesmal, wenn er kam, war’s, als ob ein paar Sonnenstrahlen ins Haus glitten. Die Jungens, in denen eine gewaltige romantische Kriegslust erwacht war, jubelten ihm entgegen, Omama wachte, sobald er ins Zimmer trat, aus ihrem Traumleben auf, mit Martha und Wilhelm tauschte er Neuigkeiten. Und immer war er selber froh, heiter, zuversichtlich. Es lag etwas eigen Beruhigendes in seiner männlichen Frische, das auch auf Helene wirkte. Solange er bei ihr war, blieb sie ruhig. Sobald er gegangen, klang immer wieder in ihr auf: der Krieg — der Krieg! Einst hatte sie nur an Harros Tod gedacht, wenn vom Kriege die Rede war: nun bebte sie in Sorge um den lieben Freund, dessen Ring sie am Finger trug.
„Unruhige Zeiten! Schlechte Zeiten!“ Heut der Schimmer einer Friedenshoffnung. Morgen die sichere Erwartung:[S. 294] der Krieg ist unvermeidlich. Auf den Straßen die eingezogenen Rekruten und Landwehrleute in langen Zügen. An jedem Morgen endlose Kolonnen, die mit schmetternder Musik die Bellealliancestraße hinaufzogen zum Kreuzberg. Dann regelmäßig der König, der hinausfuhr, seine Garden noch einmal zu besichtigen.
Es war doch merkwürdig, es fiel auch Helene auf, wenn sie vom Eckfenster aus den schlichten Wagen des greisen Kriegsherrn schon von weitem sah: von Tag zu Tag fast steigerte sich der Jubel, der ihn umrauschte. Manchmal ging ihr durch den Sinn, wie sie ihn zuerst gesehen hatte, am Brandenburger Tor, vor nun drei Jahren, daß ihn damals nur wenige grüßten. Und heut standen die Bürgersteige voll wartender Menschen, vom Belleallianceplatz her hob es an und pflanzte sich fort, das dröhnende Hurra! Es war, als ob die Preußenherzen erwachten. Wenn das Vater erlebt hätte!
Dann war eines Tages Fritz da, der rote Kreisrichter. Ganz plötzlich und unerwartet, in aller Morgenfrühe, als unten gerade die Alexandriner mit klingendem Spiel vorüberzogen.
„Wilhelm, ich trag’s nicht länger. Ich habe aus lauterer Überzeugung gehandelt. Ich kann auch jetzt noch nicht mit Bismarck gehen, ich verurteile seine Stellung gegen den Augustenburger. Aber ich fühl’s, daß nun der innere Zwist schweigen muß. Wenn Preußen in Gefahr ist, müssen wir alle einig sein. Daß du’s nur weißt: ich bin gestern auf dem Generalkommando gewesen und hab mich zum Diensteintritt gemeldet.“
Wenn das Vater erlebt hätte! Wenn das Vater erlebt hätte!
Unruhige Zeiten! Das Abgeordnetenhaus, das jede Kriegsanleihe verweigert hätte, aufgelöst; Darlehnskassenscheine mußten ausgegeben werden, um die nötigsten Millionen zu schaffen, und konnten oft nur schwer untergebracht werden. Heut hieß es: die Österreicher rücken unter Benedeck in Schlesien ein. Morgen verlautete, Preußen[S. 295] hätte mit Italien einen Bündnisvertrag geschlossen, und in Venetien seien schon die ersten Kanonenschüsse gefallen. Noch nie seit fünfzig Jahren war der Kurs der preußischen Staatspapiere so tief gesunken wie in diesen Tagen.
Nun hatte auch Wilhelm die Uniform wieder angezogen, führte eine Ersatzkompagnie beim Franz-Regiment und war nicht wenig stolz im Schmuck der Waffen, war wieder ganz Soldat. Jetzt sprach er plötzlich nicht mehr von den „Schlechten Zeiten!“ Er sprach nur noch von seiner Kompagnie, von seinen Offizieren, von seinem Feldwebel. Und wenn er in den Dienst ging, bürstete Martha an ihm herum und sah ihm verliebt nach.
Eines Morgens hatte Helene eine kleine Besorgung am Belleallianceplatz gemacht. Als sie zurückkam, stand auf der Halleschen Brücke ein baumlanger Bauer, zog seine graue Kappe und greinte über das ganze braune Gesicht.
„Metschke! Metschke, wie kommen Sie denn hierher?“
„Jo, gnä’ Frölen, mei Willem steht doch bei de Franzer. Un ik wollt ihm doch noch mal sehn tun, e’ er ’n Krieg muß. Von wegen, deß ich ihm sag: tu du deine Schuldigkeit, mein Sohn, daß werr keene Schande an der ha’n. Na, gnä’ Frölen, er hätt’s jo och so getan, der Willem.“
„Das glaub ich, Metschke. Wollen Sie nicht mit heraufkommen? Da drüben an der Ecke wohnen wir.“
„Nee, gnä’ Frölen, ich wart hier, bis der oll König ’rückkommt. ’s isch man jutt, daß der oll klug König die Suldaten nich abgeschafft hätt. Un denn muß ick widder zur Kaserne. Morjen rücken se aus, die Franzer. Aberscht scheen Gruß soll ick vertellen vom Herrn Kantohr und von Herrn Pastohr. Min Jott, sein dis Zeiten! Aberscht passen Se uff, gnä’ Frölen, wie wer se vertobacken wer’n, wir Preußen! Wenn dat der gnä’je Herr Rittmeister erlebt hätt!“
Die blauen Märkeraugen glänzten, wie der Metschke das sagte.
Oben saß Gaston schon am Fenster und wartete.
Sie sah’s ihm gleich an, heut war auch er erregt.
[S. 296]
„Helene, morgen rücken wir aus. Erschrick nicht: zunächst nur in Kantonnements bei Kottbus.“
Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. „Morgen —“ sagte sie tonlos. Aber er nahm ihre beiden Hände: „Ich habe mit dir zu sprechen. Eine große, große Bitte hab ich.“ Sie sah ihn an, sah ihm in die Augen, und wußte nur ein: ‚um was er auch bitten mag, ich werde nicht nein sagen‘.
„Immer wieder ist mir in diesen unruhigen Tagen durch die Seele gegangen, wie du nun allein zurückbleibst. Ich denke nicht an den Tod. Gott bewahr’ mich. Aber niemand kann wissen, was der Krieg bringt. Helene, der Gedanke quält mich, daß ich nicht für dich sorgen kann — auf alle Fälle. Ich würde keinen Moment Ruhe haben — draußen. Und dann ... ich habe Sehnsucht, dich mein zu wissen. Ich bitte dich: laß übermorgen unseren Hochzeitstag sein.“
Sie bebte. Immer größer waren ihre Augen geworden. Das Herzblut stockte, dann pulste es aufwärts, daß ihr die Sinne schwinden wollten.
Sie fühlte den Druck seiner Hände, und sie sah die fiebrige Erregung in seinem Gesicht, die heiße, sehnsuchtsvolle Erwartung.
So sagte sie: „Ja ... Gaston ... ja!“
Dann kam ihr jäh, irgendwoher aus dem Untergrund der Seele, der Gedanke eines Ausweichens noch in letzter Minute. „Gaston, der Konsens ... so schnell kannst du den Konsens des Königs doch nicht erhalten.“ Indem sie es aussprach, überflutete sie die Scham: ‚Wünscht du denn wirklich eine Verzögerung? Kannst du ihm das antun?‘
Er aber fand den Einwand nur begreiflich: „Für solche Zeiten gelten Ausnahmebestimmungen. Laß das nur meine Sorge sein.“ Sein Gesicht strahlte vor Freude und Dankbarkeit. „In drei Tagen, Helene! In drei Tagen! Ich kann’s noch gar nicht fassen. In drei Tagen bist du mein!“ Etwas wie toller Übermut packte ihn. Er legte den Arm um Helene, er wirbelte mit ihr, eh sie sich’s versah, im Walzertakt durch das Zimmer: „In drei Tagen, Helene, in drei Tagen —“
[S. 297]
Es war wohl gut, daß die drängenden Vorbereitungen Helene so wenig Zeit zur Besinnung ließen. Daß in die Unruhe der Zeit sich die Unruhe im Hause mischte. Martha schlug die Hände über dem Kopf zusammen: „Wie soll denn das gemacht werden? Wo willst du denn ein Brautkleid herbekommen? Wie denkt sich Merivaux das alles!“ Und dann war sie es doch, die für alles Rat schaffte, zu allem Rat wußte. Die freilich auch Helene in einen großen Trubel des Überlegens, der Besorgungen mit hineinriß.
Es war gut so. Die Stunden gingen im Fluge. Helene kam kaum zu klarem Überlegen. Am späten Abend, abgehetzt, todmüde, dachte sie nur: es muß wohl eine Fügung sein. Und es war dann wie erlösender Friede in ihr.
In der Nacht zum Mittwoch, ihrem Hochzeitstage, aber fuhr sie aus dem Schlafe auf. Der Junimorgen dämmerte schon durch die Fenster. Sie konnte sich in den ersten Augenblicken gar nicht zurechtfinden. Das Herz pochte jäh, sie richtete sich empor, eine rätselhafte Angst schüttelte sie. Ja so ... da schlief Mutter und atmete ruhig ... und das dort war die Tür zum Nebenzimmer ... und da lag ausgebreitet ihr Brautstaat. Geträumt mußte sie haben, irgend etwas Furchtbares, Unfaßbares. Was war es nur gewesen? Gaston hatte vor ihr gestanden, mit einem Gesicht wie von Stein, und hatte sie an den Schultern gepackt: „Du liebst mich ja nicht! Du liebst mich ja nicht!“
Jetzt sah sie das Traumbild wieder deutlich vor sich, sah sein schmerzverzerrtes Gesicht, hörte seinen gellenden Ruf. Wußte, es war nur ein Traum gewesen, und durchlebte ihn noch einmal wie Wirklichkeit. Frostschauer überrann sie und dann glühende Hitze, eine beklemmende Angst, als ob sie aufspringen müßte, drüben an Mutters Bett hinknien, flehen: ‚Hilf mir doch! Hilf mir doch! Ich kann nicht mit einer Lüge vor den Altar treten!‘
Aber ihr konnte ja niemand helfen. Mutter nicht. Und wenn sie sich vor Wilhelm und Martha hinwerfen wollte, sie würden nur den Kopf schütteln und sie nicht verstehen.
[S. 298]
Gaston — —
Wenn sie jetzt noch seine Füße umklammerte: ‚Ich kann nicht! Erbarme dich meiner!‘
Aber Gaston war bei seiner Truppe, kam erst morgen, eine Stunde vor der Trauung, aus dem Kantonnement zurück. Kam glückstrahlend, mit seiner hoffenden Liebe, mit jubelnder Seele, in seiner glaubensstarken festen Zuversicht — kam, um sie zum Altar zu führen, und dann hinauszugehen in den Krieg — — —
Nein! Nein! Und wenn sie es heute beschloß und stünde morgen vor ihm ... sie würde es nicht über die Lippen bringen.
Fröstelnd hüllte sie sich in ihre Decke und starrte durch das Fenster auf den grauen Morgen.
Noch einmal zogen in dieser schweren Stunde die inneren Erlebnisse der letzten Jahre durch ihre Seele. Wie ein Phantom tauchte Alfred auf, tauchte empor und verschwand. Harro kam mit seinen jungen leuchtenden Augen. Sie sah sich noch einmal im Park von Rackow beim Mondenlicht, fühlte noch einmal den ersten Kuß von Gastons heißen Lippen: Da hatte die Lüge angefangen! Die Lüge! Lieber Gott im Himmel ... war es denn eine Lüge gewesen, eine Lüge, die so harte Strafe verdiente! Und wie hatte sie gekämpft und war doch nicht freigekommen! Aus Schwäche .... ja, aus feiger Schwäche. Und aus Mitleid ... ja, aus Mitleid. Aus dem Empfinden heraus, ihm nicht den einen großen Schmerz antun zu wollen. Und dann, weil sie ihn gern hatte ... weil ein unnennbares Gefühl sie immer wieder zu ihm zog ...
Aber aus all dem Schwankenden, Unklaren ließ sich doch keine Brücke bauen.
Und nun gab es keine Flucht mehr und kein Entrinnen —
... als den Tod ...
Ihr Tod — was hätte er ihm genützt! Ihr Tod hätte ihm den größten Schmerz des Lebens zugefügt, und nie würde er ihn überwinden können.
[S. 299]
Aufrecht saß Helene, mit pochenden Pulsen, die Augen starr auf das Fenster gerichtet. Langsam aus der Dämmerung erhob sich der Tag. Ihr Hochzeitstag.
Der Tod! Nein — dagegen schrie doch auch ihre blühende Jugend, ihr gesundes Blut empörte sich. Wenn du eine Schuld auf dich geladen hast, so trage sie bis zum Ende!
Und sie sah ihn wieder im Geiste vor sich, wie sie ihn morgen sehen würde. Mit den glücklichen Augen, aus denen die Liebe lachte. Sie hörte seine Stimme, die so männlich und so zärtlich klang: ‚Meine Helene! Meine Helene!‘
Es war eine Fügung. Alles ist Fügung, muß als Fügung genommen werden.
Das Herz wurde ruhiger. Eine stille Ergebung kam über sie. Leise sprach sie vor sich hin: ‚Ich hab ihn gern ... ich möchte ihn recht liebhaben. Ich will immer gut zu ihm sein. Immer gut und dankbar für seine große Liebe ...‘
Sie sah geradeaus zum Fenster, hinter dem es nun hell geworden war. Ein einzelner Sonnenstrahl kam. Schmal nur, aber goldig leuchtend glitt er ins Zimmer, bis zu ihr hin, wie der erste Gruß des jungen Tages. Ihres Hochzeitstages.
Nur ein kleiner Kreis war bei der Feier zugegen. Gastons Vater war durch die Sperrung der süddeutschen Bahnen am Kommen verhindert. Er war nur bis Basel gelangt und konnte nur von dort aus telegraphisch seine Glück- und Segenswünsche senden. Aber daß ein anderer sich unter den wenigen Gästen befand, rührte Helene tief. Der alte Heckstein war von Frankfurt aus mit der Extrapost gekommen. Sie sah ihn erst, als sie am Arm ihres Mannes aus der Kirche schritt. Unter Tränen lächelte er ihr zu: „Leneken, ich mußte dir doch für unser ganzes Rohlbeck die Glückwünsche bringen. Gottes Segen sei mit dir und mit deinem Mann.“
Eine stille blasse Braut war sie. Doch laut und fest hatte ihr Ja durch das Gotteshaus geklungen.
[S. 300]
Als sie aus der Kirche traten, sah Gaston sie glücklich an: „Meine Helene! Wie danke ich dir.“
Und als der kleine Kreis dann bei dem einfachen Festmahl saß, das Martha gerüstet hatte, sagte Tante Oschitz leise zu Wilhelm: „Daß Helene schön ist, hab ich immer gewußt. Daß sie so schön aussehen könnte wie heut mit dem Myrtenkranz — das hätt’ ich doch nicht geglaubt. Wenn mein armer lieber Harro sie so gesehen hätte.“
Ruhig und rührend sanft erschien Helene.
Nur als Gaston ihr ein leises Zeichen gab, zuckte sie ein wenig zusammen. Aber sie erhob sich sofort.
Gaston hatte das mit Wilhelms besprochen: „Ich muß heut abend in das Kantonnement zurück. Laßt sie mir ein paar kurze Stunden und macht kein Aufhebens, wenn wir aufbrechen.“
So nahmen sich alle zusammen. Selbst die Jungens. Die lauschten freilich gerade auf den lebhaften Disput, der sich zwischen Tante Marianne und dem Onkel Pastor angeknüpft hatte über die Gottlosigkeit des Krieges. Onkel Pastor war doch ein streitbarer Mann.
Martha ging mit dem jungen Paar hinaus, half Helene beim Umkleiden. Und dann kam Omama noch auf einen Augenblick auf den Flur, küßte die Tochter, tätschelte mit ihrer welken Hand Gastons Wange: „Seid gut miteinander ... und kommt recht gesund von der Hochzeitsreise zurück, ihr Kinder.“ Sie hatte längst vergessen, daß Merivaux in den Krieg ging, hatte es wohl nie recht begriffen. —
Es war spät am Abend, als Helene heimkam.
Bis vor die Tür hatte sie Gaston gebracht. Im Hausflur umarmte er sie noch einmal, küßte sie leidenschaftlich. „Meine geliebte Frau!“ Ein paar Augenblicke ruhte sie weinend an seiner Brust. „Gott schütze dich, Gaston!“
Dann riß er sich los.
Langsam stieg sie die Treppe hinauf; schloß die Tür auf.
Martha, die an alles dachte, alles überlegte, hatte auch das so gewollt: es sollte niemand auf die junge Frau[S. 301] warten. Sie hatte es auch eingerichtet, daß Helene nun ihr Zimmer für sich bewohnte.
Auf dem Flur brannte die Lampe. Sie nahm sie, ging in ihr Zimmer, stellte sie beiseite.
Da lag noch ihr Brautkleid und all der bräutliche Schmuck.
Lange stand sie davor, in tiefem Sinnen, mit gefalteten Händen. Es war ihr alles wie ein Traum.
Sie nahm den Myrtenkranz, ließ ihn langsam, zärtlich durch die Finger gleiten. Leise sprach sie ihren Hochzeitsspruch vor sich hin: „... und hättet der Liebe nicht.“ — „Gott schütze dich, Gaston.“
Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen!
Der Conte war in Berlin, Graf Grucker. Kam auch zu Wilhelms oder eigentlich zu der jungen Frau, die immer sein Liebling gewesen war. In Johanniteruniform, gestiefelt und gespornt, feldzugsgemäß, aber mit einem Riesenstrauß in der Rechten und einer massigen silbernen Bowle unter dem linken Arm. „Meine Hochachtung, Leneken. Da, nimm mal erst. Und nu’n Schmatz. Hast du brav gemacht. Na, wer war nur der Prophete? Wer hat dir gesagt: Leneken, der Neuchateller! Besinn dich man: zwischen der Schnapstheke und Madame Hufnagel. Da ... die Blumen vor’s Herz un den Kübel für’n Hausstand. Der Artenau, der Stickereimajor, die Dusche, kann euch die Rezepte dazu geben.“
Schwer ließ er sich in den nächsten Stuhl fallen. „Sind das Zeiten! Was, Wilhelm? Da ist der Manteuffel in Holstein eingerückt, und der Gablentz hat mit seinen Österreichern das Feld geräumt. Na, schön ... aber weißt du’s Neueste? Österreich hat gestern die Bundesexekution gegen Preußen beantragt. Scheußliche Geschichte! Wenn man so denkt, der janze deutsche Bund gegen Preußen! Bruderkrieg! Bruderkrieg!“
Weit streckte er die Riesenstiefel von sich: „Und, Wilhelm, unsre Alliance mit den italienischen Revolutionären von Mazzinis Gnaden ... brrr ... ’s geht einem doch[S. 302] höllisch contre cœur. Da hat man nu fünfzig Jahre und so die Fahne hochgehalten gegen den Umsturz ... ja ... und nu soll man sich mit ’n Male umkrempeln. Immer hat man’s mit Österreich gehalten, auch wenn se uns mal schlecht behandelt haben — das haben se manchmal — und nu heißt’s: linksum kehrt! Wenn das der alte Rittmeister erlebt hätte!“
Mit einem Male stand er wieder auf den Beinen, straff, zog den Uniformrock herunter. „Der König hat’s befohlen. Wird wohl nicht anders gegangen sein. Und gut ist’s schon, daß die Schwadronneure ’mal ’s Maul halten müssen. Ich sage euch, draußen in der Mark gilt wieder der alte Preußenruf: Mit Gott, für König und Vaterland! Na, Leneken, Mädel ... pardon! ... junge Frau, was machst du denn für’n ernstes Gesicht?“
„Ach — Onkel Grucker —“
„Paperlapapp! Warst doch immer ’n tapferes Frauenzimmerchen. Jede Kugel, die trifft ja nicht. Un was so’n richtiges märkisches Mädel ist, das beißt die Zähne zusammen, wenn der Herzallerliebste in’n Krieg muß. Pflicht — einfach Pflicht! Ich muß ja auch auf’n Kriegsschauplatz. Na wart ’mal, wenn ich deinem Mann begegne, werd’ ich ’n grüßen. Weißt du, was ich ’m sage: Monsieur de Merivaux. Sie sein ein janz verfluchtigter Schwerenöter. Aber Sie haben einen janz exzellenten Geschmack! Hol mich dieser und jener — meine Hochachtung!“ — —
Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen!
‚Was geht mich die Politik an? Was geht mich die Zeitung an?‘ hatte Helene sonst gedacht. Nun harrte und wartete sie, mit den Jungens, die ganz rabiat geworden waren, um die Wette auf die alte verhuzelte Zeitungsfrau, kämpfte mit Hans und Thede jedesmal einen kleinen Kampf um das erste Blatt.
Die Preußen in Hannover. Die Preußen in Dresden. Der alte deutsche Bund nach Preußens Erklärung aufgelöst. Und dann der herrliche Aufruf des Königs „An mein Volk“[S. 303] — ganz wie Vater so oft von Anno dreizehn erzählt hatte — mit den verheißungsvollen Schlußworten: „Verleiht uns Gott den Sieg, dann werden wir auch stark genug sein, das lose Band, welches die deutschen Lande mehr dem Namen als der Tat nach zusammenhielt, in anderer Gestalt fester und heilvoller zu erneuern!“
Spärlich kamen die Nachrichten von Gaston. Er hatte es vorausgesagt: „Ich werde so oft schreiben, wie ich kann. Aber sorge dich nicht, wenn einmal die Briefe ausbleiben.“
Spärlich kamen die Briefe, und sie waren kurz. Aber immer wieder stand es in ihnen: „Meine geliebte Frau!“
Als sie das zum ersten Male las, war ihr das Blut jäh in die Wangen gestiegen. Und jedesmal, wenn wieder ein Brief kam, flüchtete sie in irgendeine stille Ecke der Wohnung, daß niemand sie beobachten konnte. Und jedesmal sann und sann sie, lange, über dem Brief — und über sich selber.
Zum Altar war sie geschritten mit mühsam errungener Selbstbeherrschung; aufrecht gehalten durch den Gedanken an seine große, geduldige, nachsichtige Liebe, und doch mit quälendem Vorwurf im Herzen.
Nun war das alles ganz anders —
Der Sturmesrausch, den sie einst erträumt, der freilich war nicht gekommen. Nicht das Gefühl höchster Seligkeit, nicht die Wonne und Glut der Leidenschaft. Aber eine sanfte dankbare Zärtlichkeit füllte ihr Herz.
Hans und Thede hatten eine große Karte des Kriegsschauplatzes mitgebracht. Da verfolgten sie zu dritt nach den Zeitungsnachrichten und auch nach Gastons Briefen die Stellung der Truppen, so gut es eben ging, und nicht zuletzt suchten die Jungens nach jedem Quartier der Gardeschützen.
Sein letzter Brief kam aus Haindorf, dicht an der böhmischen Grenze: „Heut ritt der Kronprinz an uns vorüber. Die Schützen jubelten ihm zu. Übermorgen geht’s, hoffen wir, nach Österreich hinein. Sorge Dich nicht, meine geliebte Frau. Gott wird mich schützen. Vive le roi!“
[S. 304]
Mit der Morgenpost war der Brief gekommen. Gegen Mittag stürzte Wilhelm die Treppe hinauf. Er hatte die Wache aufziehen lassen, war in Paradeuniform. Kaum im Zimmer, riß er die Schärpe herunter: „Martha, wir haben eine große Schlacht verloren!“ Die hellen Tränen liefen ihm über die Wangen. „Man weiß noch nichts Näheres. Aber es ist Tatsache. Eine große Schlacht! Die arme Armee! Der arme König!“
Er war in völliger Verzweiflung, aufgelöst, fast besinnungslos. Rannte im Zimmer auf und ab. „Eine große Schlacht verloren! Wie wird das nun werden! Wenn das Vater erlebt hätte.“ Vergeblich suchte Martha ihn zu beruhigen. „Gut, daß die Jungens noch nicht größer sind. Daß sie noch nicht ganz verstehen können, was wir verspielt haben.“
Auf Helene achteten sie nicht.
Sie stand an der Wand, mußte sich fest anlehnen, hatte die Hände vor die Brust gepreßt, und alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen.
Sie dachte nicht an die verlorene Schlacht, sie hörte nicht mehr, was der Bruder in seiner maßlosen Erregung sagte. Nur an Gaston dachte sie. Und plötzlich kam aus Angst und Sorge die Sehnsucht über sie.
Sie sah ihn vor sich in Not und Gefahr. Sie meinte ihn stürzen zu sehen, von Blut überströmt — die Feinde brachen über ihn herein, er lag unter Rossehufen —
Da schrie sie jäh auf: „Gaston!“ — —
Es war ein böser Abend, der Abend des 28. Juni. Wilhelm ging noch einmal in die Stadt, um Nachrichten einzuholen. Aber niemand wußte etwas Bestimmtes. Nur unklare Gerüchte schwirrten. Vergeblich umlagerte die Masse die Zeitungsredaktionen. Im Kriegsministerium zuckte man die Achseln. Ein höherer Offizier, den Wilhelm traf, lachte ihn aus: „Unsinn! Wir haben die besten Nachrichten. Der Kronprinz hat die böhmischen Pässe schon überschritten.“ Ein anderer sprach von einem unentschiedenen[S. 305] Gefecht gegen die hannöversche Armee, die sich nach dem Süden durchschlagen wollte.
Als er endlich heimkam, war Helene ruhiger geworden. Aber ihre Augen schienen von seinen Lippen ablesen zu wollen, was er für Nachricht brächte. Er hatte sich nun schon selber bezwungen, ärgerte sich über sein hitziges Temperament, das ihn immer alles pechschwarz oder rosenrot sehen ließ, versuchte zu scherzen. Aber da bat sie, mit erhobenen Händen: „Bitte — bitte — nein!“
**
*
Am nächsten Vormittag lachte die Siegessonne über Berlin. Die Glocken läuteten. Die Jungens kamen glückstrahlend heim: die Schule war geschlossen worden auf die Siegeskunde von allen Seiten: von Nachod und Soor und Alt-Rognitz und Königinhof. Genug des Triumphes, um die übertriebenen Gerüchte von gestern, die die Schläge von Trautenau und Langensalza zu schweren Niederlagen gestempelt, vergessen zu machen.
Die Siegessonne lachte über Berlin.
Helene stand am Fenster und sah, wie auf allen Häusern die schwarzweißen Fahnen aufstiegen. Drüben am Rotherschen Stift vor der Anschlagsäule drängte sich das Volk um die Depeschen. An der Brücke stand ein langer Tisch, ein paar Bürger dahinter, mit großen schwarzweißen Kokarden an den Zylinderhüten und Sammelbüchsen in den Händen: „Für unsere tapferen Krieger.“
Die Siegessonne leuchtete über Berlin. Wie Jauchzen und Jubeln klang es von fern her. Und dann und wann, wenn wieder ein Packen Extrablätter unter die Masse vor der Litfaßsäule flog, brach dort ein brausendes Hurrarufen aus.
Die Siegessonne lachte über ganz Preußen. Auch über die Hunderttausende, die sich um Vater, Mann oder Kind härmten.
An Vater dachte Helene, an den alten Rittmeister, und was der ihr wohl gesagt hätte: ‚... das heißt, mein Lenchen, in solchen Stunden kann die Frau erst zeigen, was sie[S. 306] wert ist. Fünf Brüder gingen wir Anno dreizehn ins Feld, zwei kamen wir nur zurück. Aber meine Mutter hat nicht gejammert und geflennt. Wenn sie von den Brüdern sprach, hat sie immer nur gesagt: Sie starben für König und Vaterland den Heldentod.‘ — —
Unruhige Zeiten! Glückliche Zeiten!
Wieder klangen die Glocken. Die hannöversche Armee war zur Kapitulation gezwungen, und während der König auf den Kriegsschauplatz eilte, brach Prinz Friedrich Karl den heldenmütigen Widerstand der Österreicher und Sachsen bei Gitschin.
Wieder jubelte Berlin. Und wieder harrten und härmten sich Hunderttausende um Väter, Gatten, Brüder, Söhne.
Eine kurze Zeile nur hatte Helene erhalten, mit Bleistift beim Biwakfeuer geschrieben: „Bin gesund und denke Dein in Liebe und Sehnsucht. Gaston.“ In unaussprechlichem Dankgefühl schlossen sich ihre Hände um das kleine Blatt. — — —
„Der Gouverneur soll Viktoria schießen.“
Die Schlacht bei Königgrätz war geschlagen. Das tapfere österreichische Heer im vollen Rückzug.
Und fast zugleich trafen die ersten Verlustlisten ein. Vereinzelte Zeitungsnachrichten zuerst, vereinzelte Anzeigen der Regimenter, und dann, dann die große Liste, Truppenteil an Truppenteil, Name an Name gereiht. Lang, endlos lang war sie und trug die Trauer über das jubelnde Land.
Auf den Bahnhöfen kamen die ersten Verwundeten an. In die hellen Sommerkleider auf den Straßen mischte sich das Schwarz. Neben die siegesfrohen Gesichter traten die tränendurchfurchten.
Wieder wie achtzehnhundertvierundsechzig ging Martha an den Leinenschrank, saß und zupfte Scharpie, Fädchen auf Fädchen. Und Helene saß dabei, die Linnenstreifen in der untätigen Hand, zwang sich, geduldig zu scheinen und ruhig, und bebte doch in harrender Erregung. Dann brachten die Jungens Zeitungsblätter, und sie durchflog Spalte um Spalte mit fiebrigen Augen. Wilhelm kam von vergeblichen[S. 307] Erkundigungsgängen heim, war selber beunruhigt; auch um Fritz, der bei den Fünfunddreißigern mitgekämpft hatte. Schlecht und ungeschickt verbarg er die eigene Sorge.
Es konnte ja nur ein gutes Anzeichen sein, daß keine Nachricht da war. Ja, doch! Ja, doch! Es konnte —
Man muß Geduld haben. Es geht Zehntausenden nicht anders als uns. Ja, doch! Ja, doch! Aber sie härmen sich auch wie wir —
„Du mußt bedenken, liebe Helene, wie schlecht die Verbindungen in solchen Tagen sind.“ — „Ja, doch — ja, doch —“
Dann schellte es draußen im Flur. Der Briefträger —
Und wieder, wieder brachte er keine Nachricht. Drucksachen, Umschläge mit gleichgültigen Geschäftsadressen — keinen Feldpostbrief!
Der dritte, der vierte Tag, nachdem die Geschütze mit donnerndem Salut den großen Sieg gekündet — und keine Nachricht!
‚Ich will eine tapfere Soldatenfrau sein!‘ rief Helene sich immer wieder zu. Aber dann versagte plötzlich die Kraft, der Kopf sank vornüber, sie schluchzte auf.
Martha legte den Leinwandstreifen zur Seite, beugte sich zärtlich über sie, strich sanft über das rostbraune Haar: „Mein Schwesterchen! Morgen! Morgen gewiß! Nur Gottvertrauen und Mut! ... Siehst du, wie lieb du deinen Gaston hast!“
Mit todtraurigen Augen schaute Helene auf: „Vielleicht liegt er hilflos irgendwo ... in einer elenden Hütte ... und ich kann nicht bei ihm sein ... kann ihm nichts sein! Die erbarmungslose Untätigkeit! Martha, ich ertrag’s nicht!“
Und Martha nahm ihre Hände, sprach ihr gut zu, fühlte, wie vergeblich Worte waren, und dachte doch immer: ‚wie lieb sie ihn nun hat ... wie lieb sie ihn nun hat ...‘
Am Abend saß Omama an ihrem Traumfenster, sah auf den mondüberströmten Rotherschen Garten hinaus und sprach sich mit ihrer zittrigen Stimme ein Lied von Anno[S. 308] dreizehn vor, wie sie nun eins nach dem andern in diesen Tagen in ihr aufstiegen: „... wie glühen dann die Herzen — so froh und stark und weich! Wer fällt, der kann’s verschmerzen — Der hat das Himmelreich!“
Plötzlich kniete Helene neben ihr, umklammerte ihre Knie, bat: „Hör auf, Mutter, hör’ auf!“
Die Greisin schüttelte verwundert den Kopf. „Aber Kind ... es ist doch ein sehr schönes, gutes Gedicht ... ‚Der hat das Himmelreich!‘“
„Ach, Mutter —“ und Helene warf den Kopf in Omamas Schoß. „Ich kann’s nicht hören!“
Endlos die bangen Nächte.
Helene lag und rang die Hände: „Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn mir!“ Übersann, wieder und wieder, jede Stunde des Zusammenseins mit ihm: wie gut, wie geduldig er immer gewesen, wie er nimmer ermüdend um ihre Liebe geworben. Sie sah seine traurigen Augen, sah seine Augen im Glück, fühlte seine Lippen auf ihrem Munde.
„Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn mir!“
An jene Nacht vor der Hochzeit dachte sie zurück, an ihre Kämpfe, an ihre Verzweiflung. Und nun stand das alles vor ihr, als ob sie schlecht gewesen wäre. Undankbar gegen ihn und ungerecht! Gefallsüchtig heut — kalt und herzlos morgen! Gespielt hatte sie mit ihm! Nicht Vertrauen mit Vertrauen vergolten!
„Allmächtiger Gott, erbarm dich, laß ihn mir! Daß ich gut machen kann!“ — — —
Wieder kam der Tag.
Da stürmte plötzlich Hans herauf, jubelte, schwenkte einen Brief in der Hand: „Tante Helene! Tante Helene!“
Das Herz wollte ihr stillstehen. Ein einziger Laut rang sich von ihren Lippen.
Und sie riß den Brief an sich, barg ihn zwischen den Händen, küßte ihn unter heißen Glückstränen.
Der große Junge stand daneben, wischte sich die Augen, wartete eine lange Weile, wehrte sich gegen die eigene Rührung, ließ dann die Tränen kullern, wie sie wollten,[S. 309] räusperte sich. Bis er endlich doch bat: „So lies doch, Tante Helene.“
Da sah sie ihn an mit feuchten Augen, schlang den Arm um ihn, küßte ihn zärtlich —
... und dann las sie.
Wie ein Kind fast, zusammengekauert, saß sie auf dem Sessel, hielt den einen Briefbogen zwischen den Händen, die noch immer bebten, hatte den zweiten auf dem Schoß. Las mit fliegender Hast und überlas dann jede Seite gleich noch einmal. Das Blut kam und ging in dem schönen Gesicht.
Einmal gleich im Anfang sagte sie, hochaufatmend, aber ohne aufzusehen, sehr eilig: „Gesund, Hans —“ Las wieder ein paar der eng mit Bleistift beschriebenen Seiten weiter, blätterte zurück: „Am 3. abends — Herr Gott, wie langsam der Brief ging!“ Sah auf einen kurzen Moment auf, nickte Hans mit glückstrahlenden Augen zu, nahm den zweiten Bogen auf.
„Das muß ich dir aber doch vorlesen, Hans —“
„... wir wollten — so gegen vier Uhr — die jenseits Leipa eroberte Batterie verlassen, da kam der König mit seiner Suite angeritten, Bismarck und Moltke waren auch dabei. Alles brach in lauten Jubel aus, unsere Schützen waren gar nicht mehr zu halten. Wir stürzten auf den König los, wer zunächst war, faßte seine Hand und küßte sie. Stell Dir das vor, ma chérie, noch mitten im Kanonendonner, unter Hurrarufen, das gar nicht enden wollte. Seine Majestät sahen sehr ernst aus, aber so mild, so gütig. Und denk’ Dir, plötzlich erkannte er mich. Er winkte mir zu und grüßte: „Bonjour, Merivaux.“ Da hab ich in den Kanonendonner hinein, recht aus voller Brust, gejubelt: „Vive le roi! Vive le roi!“ Wie ich’s als Kind von meinem Vater gelernt hatte. Da lächelte der König ...“
Weiter las sie, blätterte zurück, las wieder.
Las dann noch einmal halblaut: „Jetzt liegen wir im bivouac. Ich schreib dies schon in der Dämmerung. Gerade klang die Retraite über das Schlachtfeld und der Choral ‚Nun danket alle Gott‘. Wir alle haben mitgesungen.“
[S. 310]
Und dann verstummte sie. Das brauchte der Junge doch nicht zu hören, all die Zärtlichkeit, die Liebesworte der letzten Zeilen, all die Sehnsucht, die ihr entgegenklang — — —
Aber sie sprang auf, lief durch die ganze Wohnung. Nun sollten es alle wissen. Von einem lief sie zum andern, küßte Omama, umhalste Martha. Immer wie ein jubelndes Kind und immer mit Glückstränen in den Wimpern.
Am Nachmittag ließ sich Frau Harriers-Wippern melden.
Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf Helene zu: „Ich brauch’ ja nicht zu fragen! Das Glück steht Ihnen auf dem Gesicht geschrieben, Frau von Merivaux. Aber gratulieren will ich — recht von Herzen! Sie haben sicher die besten Nachrichten.“ Und sie küßte Helene auf beide Wangen.
Dann wurde sie rot: „Übrigens muß ich gestehen, ich komme eigentlich nicht nur, um zu gratulieren. Ich komme mit einer Bitte ... Was Sie immer für sonderbare Augen machen können, Frau von Merivaux! Ganz andere Augen als andere Menschen. Ja, also, um mit der Tür ins Haus zu fallen: Sie sollen mit mir in einem Konzert singen.“
Helene erschrak. Aber Frau Harriers ließ sie gar nicht zu Worte kommen: „In einem Konzert zum Besten unserer Tapfern, unserer Verwundeten! Da können Sie doch gar nicht nein sagen! ... Aber da stehen in Ihren Augen schon wieder alle möglichen Fragen — immer kann man’s in Ihren Augen lesen, was Sie denken. Warum ich gerade zu Ihnen komme? Erstens weil ich so ziemlich die einzige Sängerin von einigem Renommee bin, die in Berlin geblieben ist, die sogenannten ersten Kräfte also mangeln. Hauptsächlich aber — werden Sie nur ganz nach Belieben rot! — weil ich Sie wenigstens einmal herausbringen möchte. Also aus reiner elender Lehrerinneneitelkeit.“ Sie lachte fröhlich. „Nun?“
„Es ist ... es kommt so plötzlich ...“
„Das Gute kommt meist plötzlich. Übrigens hab ich alles[S. 311] vorbedacht. Wir haben acht Tage Zeit. Ihre Hand, liebe Helene, was zögern Sie? Nicht wahr, Sie wollen?“
Da sagte Helene rasch: „Ja, ich will!“
Nachher gereute es sie ein wenig. Hatte sie nicht zu schnell zugesagt? Ob es Gaston auch recht sein würde? Es war ja für die Verwundeten! Ob sie’s auch gut machen würde?
Aber all die Bedenken gingen unter in dem großen Glücksempfinden, das sie heut erfüllte.
Das Konzert — nun dachte sie kaum noch an das Konzert und an ihre Zusage. Sie saß und schrieb einen langen Brief an Gaston. Ganz anders, als sie bisher an ihn geschrieben. Ohne die Worte zu überlegen, ohne zu wägen. Nur wissen sollte er, wie selig sie war, wissen, wie sie sich nach ihm sehnte, wissen — wissen, daß sie ihn liebte!
Selbst trug sie den Brief zur Post. ‚Nein! Ich trag ihn lieber zum Anhalter Bahnhof — dann kommt er schneller in Gastons Hände.‘ Und sie ging zum ersten Male seit Tagen durch die Straßen, die noch im Siegesschmuck lagen. Immer hatte sie ja zu Haus gesessen — gewartet — gewartet —
Alles sah sie erst jetzt. Die Fahnen und die Girlanden. An der altersgrauen Stadtmauer ging sie entlang und mußte lachen. Da hatten die Berliner Rangen winzig kleine Löcher durch die zermürbten Steine gestoßen, und darum stand: „Hier zieht Benedeck in Berlin ein!!!“ Stand in Kreideschrift im Halbkreis herum mit drei Ausrufungszeichen dahinter.
Plötzlich fiel ihr ein: ‚Tante Oschitz! Jetzt gehst du noch zu Tante Marianne. Die muß doch Nachricht haben.‘ Aller Welt hätte sie zujubeln mögen, wie glücklich sie war.
Und sie ging weiter, über den Potsdamer Platz, durch die Bellevuestraße, am Tiergartensaum entlang. Dachte: da drüben am Goldfischteich hat Gaston zum erstenmal von unserem Hochzeitstag gesprochen. Lachte in sich hinein, wie hilflos sie damals gewesen. Lief wie ein Kind durch den Vorgarten der Stillen Insel, fiel Tante Marianne um den Hals: „Ich hab einen Brief. Mein Gaston ist gesund!“ War[S. 312] glücklich, daß die Greisin sich mit ihr freute. Weinte wie Kinder weinen, als Tante Marianne sie vor das große Bild Harros führte, das sie von Professor Richter hatte malen lassen. „Ach, Harro — unser guter lieber Harro!“ Und hatte, als sie die Stille Insel verlassen, doch nur wieder das eine Glücksgefühl im Herzen und nur den einen Gedanken an Gaston.
**
*
Das Konzert fand in der Singakademie statt. Frau Harriers-Wippern hatte nachträglich noch zwei, trotz der Ferien zufällig in Berlin anwesende Mitglieder des Königlichen Opernhauses gewonnen, den Bassisten Salomon und Fräulein Horina. Für Helene waren drei Nummern reserviert.
Ein wenig befangen war Helene doch.
Als am Morgen die Jungens jubelten: „Tante Helene steht an den Litfaßsäulen! Tante Helene steht in der ‚Kreuzzeitung‘!“ war sie rot wie ein Schulmädchen geworden. Und als sie mit Martha zur Singakademie fuhr, hatte sie eine unheimliche Empfindung im Kehlkopf: ‚Du wirst ja keinen Ton herausbringen können.‘ Auch der Zuspruch von Frau Harriers half nicht viel. Einmal lugte sie in den überfüllten Zuschauerraum: sie sah nur eine Masse Menschen die wie ins Dunkle getaucht schien.
Schon klang die Ouvertüre zu „Struensee“ auf.
Im Konversationszimmer stand der Baumeister Harriers neben Helene, hatte eine halbe Flasche Champagner in der Hand und sagte gutmütig lächelnd: „Ich kenn’ das von meiner Frau. Die hat heut noch manchmal Lampenfieber. Dann hilft nur ein Glas Champagner.“ Sie wehrte wortlos ab — und dann stürzte sie doch ein Glas herunter.
Draußen sang gerade Fräulein Horina ...
Dann hieß es: „Die vierte Nummer! Frau von Merivaux — bitte!“
Helene stand auf dem Podium. Im hellen Licht.
Sie mußte überraschend schön wirken in ihrem Brautkleid,[S. 313] zu dem sie ein paar mattblaue Schleifen genommen hatte und einen Kranz von weißen Rosen in das rostbraune Haar. Vielleicht hatte es sich herumgesprochen, daß die neue Erscheinung, die Schülerin der gefeierten Frau Harriers, die jungvermählte Gattin eines Offiziers sei, der im Felde stand. Vielleicht war’s auch nur Neugier. Es ging ein leises Rauschen durch den Zuschauerraum.
Einen Moment stand sie noch in Verwirrung. Verneigte sich tief.
Nun klangen die ersten Akkorde —
Da war ihre Befangenheit plötzlich verschwunden, mit einem Male. Sie setzte ein.
Das Uhlandsche Lied sang sie, nach der Komposition von Franz Schubert:
Es war merkwürdig, sie staunte selbst. Noch nie vielleicht war sie so gut disponiert gewesen wie im diesen Augenblicken. Sie fühlte, wie sie ihr Organ meisterte, wie es sich ihrem Willen fügte gleich einem gehorsamen Instrument. Fühlte, wie sie von Atemzug zu Atemzug freier wurde, wie ihre Stimme sich immer weiter entfaltete —
Rauschender Beifall tönte herauf, als sie geendet. Und plötzlich, während sie sich verneigte, kam wieder die große Verwirrung über sie. Keine Angst, aber etwas Beschämung.
Noch immer wollte der Beifall nicht aufhören. Noch einmal mußte sie sich verneigen.
Aber als sie sich nun wieder aufrichtete und sich zurückziehen wollte, unterschied sie zum ersten Male in der vordersten Reihe ein paar bekannte Gesichter. Omama neben Wilhelm — Martha —
Aber wer war denn das? Zwischen Mutter und der Schwägerin?
[S. 314]
Kantor Flehr saß da mit den gefalteten Händen im Schoß, die blauen Augen leuchteten aus dem lederfarbenen Gesicht wie in Entzückung zu ihr hinüber —
Das war sicher Marthas Werk! Keine größere Freude hätte sie ihr an diesem Abend bereiten können! Und sie neigte sich zum drittenmal und nickte ihm zu, nur ihm unter all den Hunderten.
„Das haben Sie brav gemacht, Helene“, meinte dann Frau Harriers. „Brav ist eigentlich zu wenig. Es soll auch nur den Zoll für Ihre Tapferkeit ausdrücken. Wenn ich so an mein erstes Debüt zurückdenke — wie eine Heldin haben Sie sich benommen! Aber sagen Sie, wer ist denn der alte wunderliche Mann neben Ihrer Frau Schwägerin, der Sie angestaunt hat wie ein Wunder —“
„Mein erster Lehrer —“
„Der alte Kantor, von dem Sie mir so oft erzählt haben? Den muß ich kennen lernen. Den bringen Sie mir morgen, und ich will ihm ganz allein alles aus seinem geliebten Mozart vorsingen, was er nur hören mag.“
Es war eine seltsam frohe Stimmung über Helene gekommen, seit sie den Alten gesehen und erkannt hatte. Wie ein lieber Grußbringer aus der märkischen Heimat erschien er ihr. Sie dachte zurück an ihre ersten Versuche bei ihm, dachte dankbar zurück an die entscheidende Stunde, in der er, der Schüchterne, so tapfer vor Vater um ihre Kunst gestritten hatte.
Und dann flogen ihre Gedanken wieder weit weg, nach dem Kriegsschauplatz, zu Gaston. Daß der heut hier fehlte! Wenn er unten gesessen hätte, sie gehört und den Beifall! Sie gehört und gesehen in dem weißen Kleide, das sie nun zum zweiten Male trug, mit so ganz, ganz anderen Empfindungen im Herzen, als damals — als damals —
„Frau von Merivaux!“
Sie sang das Lied der Prascovia aus Meyerbeers „Feldlager“. Wieder tönte der Beifall. Und ein großes Blumenarrangement stand plötzlich vor ihr auf dem Podium, ein mächtiger Korb mit Rosen, den die Kameraden von der[S. 315] Ersatzkompagnie der Gardeschützen geschickt hatten. Nun sah sie auch die wohlbekannten Uniformen unter den Zuschauern, und wieder dachte sie an den fernen Geliebten.
Noch einmal mußte sie auf das Podium.
Frau Harriers hatte darauf bestanden, daß sie das Mignonlied singen sollte. Sie hatte sich ein wenig gesträubt.
Jetzt, während sie das Lied sang, kam ihr die beseligende Empfindung: ‚Du singst es ja für Gaston‘ —
Ihr war’s, als zöge sie mit ihm in sein Heimatland. Und ihre Stimme gewann, ihr ganz unbewußt, noch einen besonderen Klang, einen schwermutsvollen süßen Zauber.
Sie mußte das Lied wiederholen —
Dann stand draußen, während im Saal die Eroica-Sinfonie aufklang, die kleine Künstlerschar und umringte Helene. Frau Harriers schloß sie in die Arme: „Ich habe eben Taubert gesprochen. Er ist ganz hingerissen. Liebe Helene — vergessen Sie die Kunst nicht in Ihrem Glück.“
Fast dasselbe aber sagte nachher in seiner schüchternen, schlichten und doch ein wenig überschwenglichen Art der alte Kantor. Er faßte beide Hände Helenens, hielt sie andächtig in den seinen: „Daß ich das erlebe! Liebe, liebe gnädige Frau ... Wenn Sie so recht glücklich sind, dann denken Sie immer daran, daß Ihre Kunst das schönste Glück erhöhen und krönen kann ...“
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[S. 316]
Eine Woche noch, und es tauchten Gerüchte auf, daß im Hauptquartier des Königs, in Nikolsburg, über den Frieden verhandelt würde.
Gerade an dem Tage, an dem Helene die erste Zeitungsnotiz darüber las, schrieb Gaston aus Holleschin: „Auf dem Marsch gegen Wien.“ Es war die Antwort auf Helenes Brief. Er rechnete noch fest auf die Fortsetzung des Feldzuges, aber er schrieb kaum von Gefahren und Strapazen: immer wieder nur schrieb er von der Seligkeit, die Helenes Brief in ihm erweckt: „Das ist mein schönster Siegespreis!“
Friede!
Helene hatte bis zur letzten Minute nicht fest an ihn zu glauben gewagt. Sie hatte ihn erhofft, jede Nachricht mit zitternder Spannung verfolgt und doch immer wieder gezagt. Nun jauchzte ihr Herz.
Manchmal in diesen Tagen kam sie sich als recht schlechte Patriotin vor —
Bruder Fritz war bei Königgrätz leicht verwundet und als Rekonvaleszent zurückgekehrt, mußte noch liegen, hatte sich bei Wilhelms einquartiert, um seine völlige Herstellung abzuwarten. Denn dem groben Doktor Tiburtius in Stellberg traute er keine besonderen chirurgischen Künste zu.
Die Brüder saßen viel zusammen. Wilhelm war ein wenig stolz auf den verwundeten Bruder, klagte, daß er selbst beim Ersatz geblieben war, tat sich etwas darauf zugute, Fritz bei sich zu pflegen und zu hegen; ihm das Beste vorzusetzen, was der Keller hergab, und für seine Unterhaltung zu sorgen. Bis zur Stunde, wo Wilhelm aus dem Dienst kam, las Fritz sämtliche Berliner Zeitungen und war dann vollgesogen wie ein Schwamm. Sein sonnengebräuntes Gesicht lachte, wenn er Wilhelm und möglichst die ganze Familie an seinem Schmerzenslager versammelt sah.
Da hörte denn auch Helene, was Großes geschehen, welch Größeres in Aussicht stand für Preußen, für das deutsche Vaterland.
[S. 317]
Fritz war noch immer der Mann der Politik. Aber der ‚rote Kreisrichter‘ war er nicht mehr. „Wir haben uns geirrt. Die besten von uns gestehen es offen ein. Wir haben vor allem Bismarck unrecht getan — und dem König. Wir haben uns geirrt — im ehrlichen Glauben. Aber nun heißt’s für uns, auch ehrlich die dargebotene Hand zu ergreifen. Der Konflikt muß begraben sein. Gottlob!“
Und er sprach weiter vom neuen Norddeutschen Bunde, und wie der nur die Vorstufe sei zu einem einigen Deutschland. Er sprach wehmütig vom Ausscheiden Österreichs aus dem Kreise der deutschen Staaten und von Bismarcks politischer Weisheit, die dem Donaustaat allzu schwere Opfer erspare; wohl in der Hoffnung, daß es dereinst auch mit ihm zu einer Versöhnung kommen möge. „Denn wir sind und bleiben deutsche Brüder!“ Und er sprach stolz von Preußens Machtzuwachs, daß nun die beiden Hälften der Monarchie verbunden seien, das Preußen mit Schleswig-Holstein den besten deutschen Kriegshafen gewonnen habe.
Helene hörte das alles: Sie freute sich auch darüber. Zumal, wenn es immer wieder hieß: „Wenn doch unser guter Vater das erlebt hätte!“
Aber sie schämte sich auch. Nein, eine gute Patriotin war sie nicht! Ihr Herz war so voll von dem einen, daß sich für alles andere nur wenig Raum fand. Beim besten Willen: der Norddeutsche Bund und die deutsche Einheit, die ließen sie im letzten Grunde gleichgültig. Sie hörte das alles, und sie dachte doch nur an Gaston.
Dann legte wohl Martha den Arm um den Nacken der jungen Frau und küßte sie wortlos auf die Stirn. Oder die alte Omama kam auf ihren Krückstock gestützt vom Fensterplatz herüber, schüttelte den Kopf, daß die schwarzen Schläfenlocken pendelten, und meinte: „Unsre Lene war eben immer ein kurioses Menschenkind ... ja ... aber ihr müßt wissen ... C’est l’amour! C’est l’amour! Ja, der Flehr ... übrigens etwas deplaciert kam ich mir doch neben ihm vor, neulich im Konzert ... ja, der[S. 318] Kantor hat auch gesagt: gelernt hätt’ die Lene wohl unglaublich viel, aber das allein tät’s doch nicht.“ Ganz leise kicherte sie noch einmal vor sich hin: „C’est l’amour! C’est l’amour.“ Und Helene wurde rot wie ein junges Mädchen. — — —
Wilhelm schmiedete schon neue Geschäftspläne. Er wollte mit einem Konsortium die Waffen der früheren hannöverschen und hessischen Truppen kaufen. „Ich stehe in Unterhandlung mit chilenischen und argentinischen Emissären — für Südamerika sind die alten Flinten noch wunderbar schön.“ Dabei rechnete er auf Heller und Pfennig heraus, daß er den Seinen ein riesiges Vermögen bei dem Geschäft gewinnen müsse. „Sobald ich entlassen bin, geh ich nach London, um abzuschließen!“
‚Arme Martha! Er ist und bleibt der unverbesserliche Phantast und Optimist.‘ Aber wenn Helene ihm in sein schönes, immer heiteres Gesicht sah, sein liebenswürdiges Lachen hörte, sagte sie sich wieder: ‚Bös kann man ihm doch nicht sein. Auch Martha nicht, wenn sie auch manchmal nicht leicht trägt. Im Grunde: die beiden passen trefflich zueinander.‘
Dann träumte sie weiter: ‚Wie werden wir beide wohl miteinander sein?‘ Und sie preßte die Hände aneinander, als ob sie etwas recht, recht fest halten wollte.
Oft dachte sie zurück an ihr innerstes Erleben. Nichts hätte sie missen mögen. Sie wußte nun: Durch Schmerz und Leid führte mein Weg zum Glück! Und sie wußte auch: ein Schößling, der schnell aufschießt, hält der Zeit selten stand; der langsam wachsende Baum aber wird stark und kräftig. So war ihre Liebe — — —
Berlin rüstete sich zum Empfang der Sieger.
Die Einzugsstraße Unter den Linden schmückten als schönste Zier die zweihundertneun eroberten Geschütze, von Viktorien unterbrochen, die auf goldenen Schildern die Namen der Schlachten und Gefechte trugen. Viktorien leiteten zur Schloßbrücke. Auf dem Lustgarten erhob sich der Altar mit der riesenhaften Borussia dahinter, umgeben[S. 319] von den Statuen der Hohenzollernherrscher. Flatternde Fahnen, Girlanden, Blumenschmuck allerorten —
Wilhelm hatte einige Fensterplätze im Zeughaus erhalten.
Hier stand Helene und sah über die wogenden Massen hinüber, auf die breite freie Straße, die die Sieger vom Brandenburger Tor her kommen mußten.
Von fernher klang der Jubel der Hunderttausende, kam näher, schwoll, wie Sturmesbrausen.
Der Zug nahte. Vorn die Generale, Bismarck und Moltke.
Der König dann, mit ihm der Kronprinz, Prinz Friedrich Karl, die Heerführer.
Drüben am Palais nahm der König Aufstellung, um seine Tapferen an sich vorüberziehen zu lassen.
Hochaufgerichtet saß der Kriegsherr im Sattel.
Und wie Helene ihn so sah, umbraust von Jubel, der sich immer und immer erneute, der nicht enden wollte und nicht enden konnte, da tauchte noch einmal ein seltsames Erinnerungsbild vor ihrer Seele auf.
Vor vier Jahren hatte sie ihn zum ersten Male gesehen, den greisen König, im Wagen, am Brandenburger Tor. Fast die einzige war sie damals gewesen, die sich vor ihm zum Gruß beugte. Als ob er die Liebe seines Volkes verloren hätte. Ernst hatte sein gütiges Auge über alle hinweggesehen, ernst und milde. Ja, auch er hatte sich die Liebe erobern müssen, in schwerem Ringen! Aber nun hielt er dort drüben, bei seinem großen Ahn, Friedrich dem Einzigen, und ein dankbares Volk jubelte ihm zu. Nun hatte er dieses Volkes Liebe für alle Zeiten —
Das Herz pochte, und in ihr war der große Jubel: Heil, König dir!
Mit einem Male, plötzlich, war sie wieder ganz die Tochter des alten Rittmeisters, die echte Märkerin, die leidenschaftliche Patriotin: ‚Heil, König dir!‘
Unten zogen die eroberten Fahnen durch die Ruhmesstraße.
Dann folgten, im endlos langen Zuge, die siegreichen Truppen. Die Musikchöre spielten. Immer aufs neue[S. 320] setzte der Jubel ein. Im Feldanzug kamen die Regimenter, mit Blumen bekränzt die Gewehre, die zerschossenen Helme. Im festen Tritt marschierten sie an dem Kriegsherrn vorüber —
Und nun spähte Helene mit Falkenblick. Schon von weitem sah sie die schwarzen Käppis der Schützen. Sah dann vor seinem Zuge ihn, Gaston. Sah ihn vor dem Könige salutierend den Degen senken, sah, wie sein Blick sich wandte, suchend, forschend, bis er sie fand. Und da erst dachte sie daran, daß neben ihr ein alter Herr stand, mit dem Roten Adlerorden im Aufschlag des schwarzen Rockes, ein alter Herr, der von weither gekommen war, den Sohn an diesem Tage zu grüßen und dem König sein „Vive le roi!“ zuzujubeln. Sie faßte seine Hand und sagte: „Vater — sieh — Gaston —“
Unten zogen die Truppen weiter. Regiment auf Regiment, Schwadron auf Schwadron, Batterie auf Batterie. Zogen über die Schloßbrücke zum Altar, der zu Füßen der Borussia errichtet war.
„Ein anderer wird morgen die Kompagnie zur Kaserne führen“, hatte Gaston gestern geschrieben. Aus dem letzten Quartier.
So wußte Helene, daß er kommen und sie finden würde.
Sie trat zurück vom Fenster, aus der Enge der Zuschauer, in den Saal. Niemand achtete auf sie. Unten zogen noch immer die Regimenter vorüber. Triumphmusik klang herauf und der brausende Jubel der Menge.
Sie wartete —
Und ihr Herz wurde weit. In ihr tönte der Text ihres Brautspruches wieder, und es war wie ein glückseliger Sphärenklang ... „Und hättet der Liebe nicht ...“
Am Eingang des Saales stand er, seine Augen suchten sie.
Da ging sie ihm entgegen — — —