The Project Gutenberg eBook of Die Medizin

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Title: Die Medizin

Author: B. Traven

Release date: January 1, 2022 [eBook #67068]

Language: German

Original publication: Germany: Buechergilde Gutenberg, 1926

Credits: Jens Sadowski

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DIE MEDIZIN

VON B. TRAVEN (TAMAULIPAS, MEXIKO)

In: Die Büchergilde. Berlin, 1926, H. 3, S. 40-45.

Es war in einem kleinen Indianerdorfe. In seinem Bezirke hatte ich eine kleine Farm gepachtet, auf der ich Baumwolle pflanzte. Das Haus auf jener Farm war bei der letzten Revolution eingeäschert worden. Ich wohnte deshalb in einer schlichten Hütte im Dorfe. Da ich in der ganzen weiten Gegend der einzige Weiße war, kannten mich alle Indianer auf dreißig Meilen im Umkreise. Die Indianer dort können weder lesen noch schreiben, und alles, was über zwanzig ist (alle Finger und alle Zehen), das ist »Mil« oder Tausend. Aber was Tausend ist, wieviel es ist und wie es sich in die Welt der Begriffe einordnet, dafür fehlt dem Indianer jedes Verständnis.

Aber ich konnte eine Zeitung lesen, hatte ein paar alte Schmöker, einige amerikanische Zeitschriften, konnte Briefe schreiben und lesen, und ich bekam sogar Briefe aus einem Lande, das sicher auf der andern Seite des Mondes liegen mußte. Kein Wunder, daß ich als ein gelehrter Mann angesehen wurde, dem kein Geheimnis der Welt verborgen ist. Manchmal hat das seine guten Seiten. Ebensooft aber auch hat es Nachteile, die keineswegs angenehm sind. Von den zahlreichen Abenteuern, in die ich dadurch, daß die Eingeborenen an meine unfehlbare Weisheit glaubten, verwickelt wurde, möchte ich hier eines erzählen. Ich kam eines Nachmittags auf meinem treuen Esel heimgeritten, als ich vor dem Stacheldrahtzaun, der den Platz um meine Hütte einfriedigte, einen Indianer hocken sah. Ich kannte ihn nicht, weil er aus einem andern Dorfe war. Wie die Mehrzahl der Indianer war er bitterarm und völlig zerlumpt. Er begrüßte mich sehr höflich und wartete, bis ich abgestiegen war. Dann begann er sofort zu erzählen. In einem wirren Durcheinander redete er auf mich ein. Je weiter er in seiner Geschichte kam, desto mehr ging sie ihm selbst zu Herzen, bis er endlich zu weinen anfing und seine Erzählung vor lautem Schluchzen abgebrochen werden mußte. Im Verlaufe seiner Rede hatte er mir das, was er mir sagen wollte, etwa zwanzigmal wiederholt. Immer mit den gleichen wenigen Worten, die in schreiendem Weinkrampf endeten.

»Das ist so, Senjor, verdad, wahrhaftig. Ich komme in mein Haus. Ich habe Holz gefällt. Ich komme in mein Haus. Ich habe Hunger. Keine Tortillas stehen da und keine Frijoles. Ich rufe mein Weib. Meine Mujer. Keine Antwort. Sie ist nicht in meinem Hause. Ihr Sack mit ihrem Kleid und den Strümpfen und den Schuhen hängt nicht am Sprossen. Die Decke ist auch fort. Meine Mujer ist mir fortgelaufen. Kommt nicht wieder. Ich habe keine Tortillas, und ich habe keine Frijoles, und ich habe Hunger. Sie ist fort. Mit dem Sohn einer Hure, mit einem stinkenden Coyote, dessen verfluchte Mutter eine Hure ist. Die Rattenpest und die Blattern auf den Hurensohn der Hölle.«

Nachdem ich dieselbe Geschichte nun wohl zwanzigmal mit angehört hatte, sagte ich: »Oiga, Hombre, hören sie, lieber Mann, bei mir ist Ihre Mujer nicht.«

»Das weiß ich,« sagte er, »so ein kluger Mann wie sie, Senjor, würde diese dreckige alte Hexe nicht ins Bett nehmen.«

Nun begann er dieselbe Geschichte von neuem zu erzählen. Aber da es anfing, langweilig zu werden, immer dasselbe zu hören und tiefere Ausbrüche seiner inneren Erregung, die die Geschichte hätten verschönern können, nicht zu erwarten waren, sagte ich: »Warum erzählen sie mir denn das alles? Gehen sie zum Alkalden, dem Ortsschulzen, und lassen sie Ihre Frau einfangen.«

»Der Alkalde ist ein Dummkopf. Aber Sie wissen alles. Sie wissen auch, wo meine Mujer ist. Das sollen Sie mir jetzt sagen. Sie muß mir Tortillas machen und Frijoles kochen. Ich habe Hunger.« »Hören Sie zu, Compadre, lieber Nachbar, ich habe Ihre Frau nicht fortgehen sehen. Und wenn ich nicht habe sehen können, in welche Richtung sie ging, so kann ich auch nicht wissen, wo sie jetzt ist.«

Er sah mich erstaunt an. Sein Glaube an die Unfehlbarkeit und an die Vollkommenheit der weißen Rasse erlitt die erste Erschütterung. Zugleich aber kam die Erinnerung an etwas andres, das mit der weißen Rasse innig verknüpft ist.

»Ich bin nicht reich, Senjor«, sagte er. »Ich kann Ihnen nicht viel bezahlen. Ich habe nur zwei Pesos und fünfzig Centavos. Das ist mein ganzes Vermögen. Und das gebe ich Ihnen für Ihre Arbeit.« »Ihr Geld will ich nicht haben. Aber wenn sie mir auch ‚Mil‘ Gold-Pesos geben würden, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich weiß nicht, wo Ihre Esposa ist.«

Wieder sah er mich mißtrauisch an, ob es die geringe Summe sei, die er besitze, oder ob es wirklich wahr sei, daß ich, der weiße Medizinmann nicht wisse, wo seine entlaufene Frau in diesem Augenblick sich aufhalte.

Voller Zweifel ging er fort, nachdem ich ihm gesagt hatte, daß ich mir Kaffee kochen wolle und zu diesem Zwecke dann in meine Hütte ging.

Er lief nun in die Hütten der Dorfbewohner, wo er offenbar seine Geschichte auftischte und gleichzeitig berichtete, daß der weiße Medizinmann ein armer Tropf sei, weniger wisse als ein Indiano. Die Dorfbewohner fühlten sich dadurch persönlich beleidigt, denn ich war der Stolz und der Ruhm des Dorfes. Was in den Hütten alles über mich geprahlt wurde und was dem Manne alles angeraten wurde, was er tun solle, um meine geheimen Kräfte zu seinen Gunsten wirken zu machen, weiß ich nicht. Jedenfalls kam der Mann vor Sonnenuntergang wieder, blieb am Zaun geduldig stehen, bis ich gelegentlich aus der Hütte trat, um dem Esel Mais zu geben. Sofort rief mich der Indianer an: »Un momento, Senjor, favor!«

Ich kam zum Zaun. Ich sah, daß der Mann jetzt ein Machete, ein langes, schwertartiges, scharfes Buschmesser in der Hand trug. »Sie wissen nicht, wo meine Mujer ist?« fragte er.

»Nein.«

»Aber Sie können sie finden. Ich kann Ihnen keine ‚Mil‘ Gold-Pesos geben. Die habe ich nicht. Aber wenn Sie mir nicht sagen, wo sie ist, schlage ich Ihnen den Kopf ab.« Er hob dabei die furchtbare Waffe hoch.

Nun saß ich fest. Die Drohung mit dem Kopfabschlagen ist ernst. Was schiert sich der Indianer darum, wenn er mich umbringt. Er verkriecht sich im Dschungel. Wird er gefangen und ohne Gerichtsverhandlung vor die Gewehre der Soldaten gestellt, so nimmt er das mit Gleichmut hin. Dann hat er eben Pech gehabt. Augenblicklich ist er verzweifelt und macht sich keine Gedanken über die Folgen.

Ich versuche dieselbe Ausrede wie vorher: »Ich habe nicht gesehen, in welche Richtung Ihre Frau gegangen ist.«

Darauf hat er von den andern Eingeborenen inzwischen die Antwort gelernt: »Wenn ich die Richtung gesehen hätte, finde ich meine Mujer allein. Da brauche ich keinen Medizinmann. Die Männer haben mir alle gesagt, Sie sind ein Weitseher. Sie haben zwei zusammengenähte Rohre. Wenn Sie hindurchsehen, dann können Sie da weit hinten auf dem Berge einen Mann gehen sehen. Sie haben gesagt, daß auf den Sternen am Himmel Leute leben. Sie können das sehen mit Ihren Rohren. Sie sehen oft in der Nacht mit den Rohren zu den Sternen und sehen sich die Leute an. Sie haben auch gesagt, daß die weißen Männer mit Rohren alles sehen können, was inwendig von einem Menschen ist, ohne ihn aufzuschneiden. Sie haben auch gesagt, daß die weißen Männer mit Leuten sprechen können, die ‚Mil‘ Kilometros weit fort sind. Ich will jetzt, daß Sie mit meiner Mujer sprechen und ihr sagen, daß ich keine Tortillas habe und keine Frijoles und daß sie gleich sofort in mein Haus kommen soll mit dem Luftwagen, den die weißen Männer haben.«

Er schwang sein Machete deutlich genug, um zu zeigen, daß er wisse, wie er seinen Willen durchzusetzen habe. Ich kann hier nicht breit klarlegen, warum ich gegen eine solche ernsthafte Drohung machtlos war. Erschießen konnte ich ihn nicht, dann wären mir alle Indianer und auch die Soldaten auf den Hals gekommen. Was soll man vor Gericht sagen, wie seine Zwangslage beweisen? Fliehen? Wohin? Der Indianer kennt die Wege besser als ich, folgt mir und lauert mir auf. – Ich konnte mich also nur durch Medizin retten. Ich holte mein bescheidenes Feldglas und guckte lange nach allen Richtungen. Endlich tat ich einen Aufschrei: »Ich sehe sie. Ich sehe sie. Der Hurensohn hat einen schwarzen Bart und schlägt sie. Sie schreit: Mein Mann, mein lieber Mann hilf mir! Hole mich!«

In höchster Aufregung hatte der Indianer meine Handlungen verfolgt.

Dann rief er: »Das habe ich mir doch gleich gedacht, daß es der Hund Gonzales sein muß. Der hat einen schwarzen Bart. Nun will ich aber laufen und sie holen. Dem werde ich aber eins über den Kopf geben. Wo ist sie? Fragen Sie sie gleich, Senjor.« »Sie ist ‚Mil‘ Kilometros weit. Der Mann mit dem schwarzen Bart hat sie mit einem Luftwagen fortgeschleppt. Sie ist jetzt in dem Dorfe Chicolco. Das liegt bei Iguala in Guerrero. ‚Mil‘ Kilometros weit.«

»Da will ich aber gleich gehen und sie holen«, sagte der Indianer eifrig noch einmal.

»Gehen Sie sofort. Es sind ‚Mil‘ Tage zu laufen. Halten Sie sich auf dem Wege nicht auf, sonst schleppt der Indiano mit dem schwarzen Barte sie noch weiter.«

»Ich gehe noch jetzt«, sagte er, im heftigsten Reisefieber zitternd. »Vielen, vielen Dank, Senjor. ‚Mil‘ Dank. Sie sind ein Weiser, verdad, wahrhaftig. Sie haben sie so schnell gefunden. Aber die zwei Pesos und fünfzig Centavos kann ich Ihnen nicht geben. Die brauche ich für die Reise. Adios, Senjor, leben Sie wohl.« Und fort ging er, ohne mir die »Medizin« zu bezahlen. Ich brauche nicht sehr besorgt zu sein, daß er mir so rasch wieder auf den Hals rückt. Es sind sechshundert Meilen, die er zu machen hat. Und da ihm das Reisegeld fehlt, muß er zu Fuß gehen.

Aber die Medizin, die ich ihm gab, ist wirklich gut. Er ist ein starker und gesunder Bursche. Er wird keine fünfzig Meilen gehen und wird dann irgendeine Arbeit gefunden haben, oder er stiehlt einem Farmer eine Kuh. Inzwischen hat er Tortillas gegessen und Frijoles. Und wenn er Arbeit hat, hängt ihm am nächsten Tage eine neue Mujer ihren Sack mit dem Sonntagskleide, den Strümpfen und den Schuhen in seine Hütte.

Anmerkungen zur Transkription

Quelle: Die Büchergilde. Berlin, 1926, H. 3, S. 40-45. Dies ist die Erstveröffentlichung dieser Erzählung. Sie wurde später in den Erzählungsband Im Busch aufgenommen.

Die ursprüngliche Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden beibehalten. Korrekturen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):