The Project Gutenberg eBook of Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3)

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Title: Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3)

Author: Richard Dehmel

Release date: July 16, 2020 [eBook #62673]

Language: German

Credits: Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN DREI BÄNDEN (3/3) ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert. Der Autor verwendet Elisionen, die vom nächsten Wort nicht durch ein Leerzeichen getrennt sind (z. B. ‚werd’ich‘, statt ‚werd’ ich‘).

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Verlagssignet

Richard Dehmel

Gesammelte Werke
in drei Bänden

Dritter Band


S. Fischer, Verlag, Berlin

22. bis 24. Tausend

Alle Rechte vorbehalten, auch das der Übersetzung
Copyright 1913 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin

Übersicht

(Die mit * bezeichneten Stücke sind neu aufgenommen)

Seite
Die Rute
Der Werwolf
Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht
Das Gesicht
*Das hölzerne Bein
Die gelbe Katze
Die Gottesnacht
Kunst und Volk
*Nationale Kulturpolitik
Kunst und Persönlichkeit
*Das Buch und der Leser
*Philosophische und poetische Weltanschauung
*Der Olympier Goethe
*Grabrede auf Liliencron
Naivität und Genie
Kultur und Rasse
Die Menschenfreunde
*Michel Michael

Lebensblätter
Novellen in Prosa
Auswahl

[S. 7]

Die Rute

Eine bedenkliche Geschichte

Er mußte selber lachen. Wenn ihn einer so sähe: jetzt, mitten in der Julihitze, die Ofentür aufschraubend. Und nun hinein mit der Rute in das offene Loch! Er bückte sich noch tiefer und freute sich, wie die harten Birkenreiser die dünne Schicht Asche zerritzten. Die war noch vom Winter her; das kühle Ockergelb der sanften Fläche tat ihm ordentlich wohl. Da lieg du!

Er machte langsam wieder zu. Ja, das fehlte noch grade: dieser Popanz im Hause. „Gott sieht, Gott hört, Gott straft“ — er richtete sich auf — das hatte er glücklich abgeschafft; nun sollte wohl die Rute hinterm Spiegel Jehovah spielen.

Diese Mütter! eine wie die andere. Es mußte doch noch immer etwas unbewußte Judenseele in ihr stecken: du sollst, mein Kind, weil deine Eltern das so wollen. Na warte, Schatz!

Er setzte sich an seine Arbeit zurück. Ein unverschämter Sonnenstrahl stach blendend von der Wand her über den Schreibtisch weg; grade von dem Bild der Beiden her. Er rückte zur Seite und ließ den Eindruck auf sich wirken. Hm: ruppig genug sah sein Töchterchen aus, da unter der grellen Glasplatte auf der schwülen Kupfertapete: so den Finger im Mäulchen, neben der mild zuredenden Mutter. Köstlich, dieser eigensinnige Moment.

Und nun sollten dem heißen Herzchen diese Momente wohl mit der Rute ausgetrieben werden: ein artig Kindchen, eine Puppe aus ihr werden. Heilige Mutterliebe!

Als ob sie nicht Zeit genug hätte, die Einsicht der Kleinen zu üben! den ganzen Tag über! während Er sich um das bißchen Leben placken mußte. Und sie hatte doch zur Genüge an sich selbst erlebt, und auch an ihm, daß nur die Einsicht, die wirklich bewußte Selbstanschauung, den Menschen ein bißchen[S. 8] menschlicher macht. Aber natürlich: „Kinder, die wissen nichts von sich“ — und da ist es für die liebe Mutter viel bequemer, sie mit der Rute zu traktieren. Als wenn Eltern wüßten, was solch Kind für seine Zukunft darf und nicht darf.

Ja, das würde wohl nun wieder einen zähen Kampf der Seelen geben. Wie sie neulich reizend fein gelächelt hatte, als sein polnischer Freund ihn im Scherz den Hahnrei seines Bewußtseins nannte. Ja, das war Wasser auf die Mühle ihrer weiblichen Unwillkürlichkeit.

Er mußte wieder lachen. Das Gesicht: wenn sie nun im Oktober zum ersten Mal wieder heizen würde und ihr dann die Rute aus dem gelben Loch entgegenstarrte, die langvermißte. Vielleicht grade an seinem Geburtstag. Wie sie sich dann nach ihm umdrehn würde, mit ihren goldnen Augen, ihren dunkeln, da beim Ofen knieend. Und das rechte Auge, ihr Wesensauge, würde groß und ruhig von Verständnis leuchten, und von Einverständnis; aber in dem kleineren, linken, dem Gattungsauge, durch die Wimperschatten des zu schwachen Lides, würde dieser frauenhafte Vorwurf zittern, daß sein vorbedachtes Schweigen sie wohl habe beschämen sollen. Still um ihre schmalen Lippen würde ein neuer Wille dämmern, bis in die zärtlichen Mundwinkel hin; und dann würde er zu ihr treten und sie küssen wie damals, als sie sich noch lieben mußten, als sie noch nicht Freunde waren.

Er stand auf. Blos fünf kleine Schritte bis zum Ofen. Wie das schmale Zimmer ihn getäuscht hatte! Oder das lange Mittelfeld des persischen Teppichs? — Er sah die wunderlichen Ranken des bunten Bortenmusters in der Mittagssonne glühen. Er fühlte die Freude wieder, wie sie ihm zum vorigen Geburtstag das schöne alte Ding von ihrem Spargeld geschenkt hatte. Er sah hinüber auf sein Arbeitsfleckchen und lächelte.

Aber grausig öde war sie wirklich, diese ewige juristische Begriffsstoppelei! Noch dazu jetzt, mitten im blühenden Sommer.

[S. 9]

Er trat ans Fenster und sah das dunkelblanke Blättergrün der magern Pappel drüben vor der grauen Straßenfront im heißen Himmelslicht blitzen; wie allein sie stand, so mitten in der Großstadt. Die Kupfertapete des Zimmers kam ihm immer schwüler vor. Ja, er mußte mal wieder hinaus in den Wald! zum Vater Förster! Richtig: morgen, zu Mutters Geburtstag! Den hätt er beinah wieder vergessen.

Gott ja, das Elternhaus —: am Eichenhain, am Pappelbach, rings weit am Waldrand hin das freie Feld, die hellen Wiesen, und fern am andern Horizont die kleine Ackerbürgerstadt mit dem kümmerlichen alten Kirchturm, dem gelbgetünchten Schulhaus —: Kindheit.

Er setzte sich. Der Alte, der natürlich würde wieder tun wie Rübezahl: als ob der unverhoffte Eintritt seines Ältesten ihm höchstens seinen grimmigen Bart verwirren könne. Blos die stahlblauen Augen würden plötzlich etwas dunkler schimmern unter den silbrigen Brauen, die kleinen scharfen Pupillen eine Sekunde lang größer sein, die Backenfurchen um die mächtige Nase ein bißchen tiefer werden: „Na, Junge?“

Er hatte doch wahrhaftig noch immer etwas wie Gewissensangst vor diesem wetterroten Gesicht mit dem dichten, fast schon weißen Bart und Kopfhaar, dieser Hakennase und dem strengen, forschenden Blick, der zuweilen doch so herzlustig blitzen konnte. So hatte er als Kind sich immer den lieben Gott gedacht; geträumt. Damals wohl aber noch dunkelbärtig.

Die dicken Falten um die Nasenwurzel, ja und die schroff geschwungene Stirn, die hatte er vom Vater; nur die Augen, die waren wohl mehr nach der Mutter geschnitten, auch mehr grau als blau, mehr Stimmung als Wille. „Du bist wohl wunderlich, Jung?“ das war von je ihr herbster Tadel gewesen; sie verstand jeden Menschen mit ihrer Nachsicht. Du liebes Mutterherz: morgen! —

O, wie würde ihre ganze schlanke Gestalt von warmer[S. 10] Liebe zittern, von fast ängstlicher Freude, bis hinauf ins wellenkrause Schläfenhaar, die grauen Augen, die vielen Runzeln der feinen Züge, all die kleinen Sorgenfältchen um den hagern Mund, die Runen der Mutterschaft. Ja, sie war immer noch schön, die alte Mutter; aber ihr Schönstes doch die gütigen Lippen, so umstrahlt von Runzel an Runzel. Das war ihm immer wie der Ausdruck ihres ganzen zärtlichen Lebens; als zuckte in diesen vielen Fältchen tiefrot ihr verschwiegenes Herz, wie um den feinen Purpursaum am Stempelkrönchen der Narzissenblüte der keusche Geruch der gelblichen Narbenfalten.

Denn Narzissen, ja, das waren ihre Lieblingsblumen. O, wie sie die zu pflanzen wußte! Nur einzeln durften sie stehen, hin und wieder, die reinen, weißen, ruhigen Sterne über dem grünen Gartenrasen, daß die zarte bräunliche Kelchblatthülle oben um den schlanken Stengel deutlich sichtbar war an jeder, wie ein langer dänischer Handschuh um den Arm einer adligen Dame. Ja, sie verstand die ganze Welt.

Und morgen würde er sie küssen, und sie würde ihren wunderlichen Jungen auch verstehen, wenn er dann allein hinaus ins Freie ginge, irgendwo an eine Wald-Ecke hin, wo der schattenschaukelnde Wind durch ein Lupinenfeld herüberstriche. Wie er ihn schon roch, den süßen Geruch der tausend goldgelben Blütenkerzen, so am Rand des sammtgrüngrauen Fingerblättermeeres liegend, mit der heißblauen Himmelsglocke drüber; — warum war er blos Jurist geworden?!

Dieser Dummejungentick. Blos um dem Alten zu zeigen, daß er seine paar Groschen nicht nötig habe, auch zum teuersten Studium nicht. Und nun — nun war er Rechtsanwalt: Er mit seinem Achselzucken über alles sogenannte Recht. Er würde doch noch Schriftsteller werden. Hol der Teufel die Kundschaft!

Aber Weib und Kind? Und dann würde der Alte von neuem über verrückte Projekte reden und die Mutter wieder[S. 11] Gram auf ihre alten Tage haben; sie sah ihn ohnehin schon immer mit der stillen Scheu des Mitgefühls bei seinen Besuchen an.

Nun, morgen würde er die Kleine mitnehmen. Sie war jetzt Mensch genug, ihn zu begleiten; und dann würde eitel Innigkeit und Einigkeit im Forsthaus herrschen, wie neulich zu Ostern, als seine Frau ihn mit der Kleinen begleitet hatte. Dann würden die Eltern sich mehr als Großeltern fühlen und an den Sohn nicht soviel Fragen stellen, soviel verfängliche Lebensfragen.

Er erhob sich und öffnete die Tür. „Recha!“ rief er über den Flur. Dann setzte er sich zurück an den Schreibtisch und nahm ein Aktenstück zur Hand.

„Erich?“ trat sie fragend ein, die Finger auf der Klinke lassend.

Er blickte auf. „Wo ist die Kleine?“

„Spielen gegangen; sie muß bald wiederkommen.“ Sie drückte die Klinke fest; es klang, als ob sie etwas von ihm wollte.

Er schob sich wieder vor den Aktenstoß. Wie schön es ihm noch immer war, dies edelsemitische Nasenprofil, zu dem die braune Flechtenkrone um die Stirn so königlich paßte, daß die kleine Gestalt dadurch größer schien. Er liebte sie doch wohl noch. Also Vorsicht! Jetzt trat sie hinter seinen Stuhl.

„Du! Erich!“

„Hm?“

„Ich muß dir etwas sagen. Ich habe gestern eine Rute gekauft.“

„So?“

„Ja. Es ging nicht mehr anders. Wirklich: sie wird mir gar zu unnütz.“

„Detta oder die Rute?“

„Nein du, wirklich, es ist mir ernst.“

[S. 12]

„Mir auch!“ Er drehte sich um nach ihr. „Übrigens möchte ich morgen zu den Eltern fahren und die Kleine mal allein mitnehmen; mach mir, bitte, den Rucksack zurecht.“ Sie nickte. „Aber bitte, nur das Nötigste; auf zwei Tage blos.“ Sie nickte wieder. „Und — na aber, was hast du denn?“ Sie kämpfte mit Tränen.

„Erich!“ Sie bezwang sich. Nur das linke Auge kämpfte noch. Er zog sie an sich.

„Sieh mal, Herze, verzeih! Aber wirklich: was sollt ich wohl erwidern? Du kennst doch meine Ansicht! Kinder sind doch keine jungen Affen; wenigstens dann nicht mehr, wenn die beliebte Prügeldressur beginnen soll. Du nennst die Detta bockig, und wer weiß was alles, weil —: blos weil sie jetzt im dritten Jahr ist. Wenn sie im zwanzigsten sein wird, wirst du das Charakter an ihr nennen.“

„Aber —“

„Nein; genug jetzt, bitte. Ich wäre heute auch was Bessers, hätte mich der Hundekantschu meines Alten nicht immer eigensinniger gemacht. Bring ihr Pflichtgefühle bei, soviel du willst; aber nicht mit Schlägen, muß ich bitten.“ Er wies auf seinen Bücherschrank: „Da! lies was über Suggestion! Du hast doch deinen bewußten Willen.“ Um ihre Mundwinkel huschte etwas wie ein feines Lächeln. Aha! sie dachte an den Hahnrei des Bewußtseins; dieser verdammte Pole! — „Die Rute jedenfalls verbitt ich mir.“ Beinahe hätte er nach dem Ofen gezeigt.

„Du scheinst auf meinen bewußten Willen grade nicht viel Wert zu legen.“

Er ließ sie los. „Schockschwerenot! nun werde gar noch empfindlich!“

„Nun, nun“ — begütigte sie sogleich; und wieder dies huschende Lächeln.

„Na, was lachst du denn in einem fort!“

[S. 13]

„Ich?“ Sie sah ihn groß und ruhig an.

Da flog die Tür auf. „Hater! ich habe beide Hände voll Sonne!“ kam das Ungestümchen hereingewirbelt. Wie ihr die blonden Lockenfäden um die heißdunkeln Augen hingen! und um das merkwürdige Trotznäschen! „Sieh mal, Mutter!“ öffnete sie die Fäustchen.

„Willst du morgen mit Hater zu Ovater fahren?“ fragte die Mutter.

„Nein!“ fuhr das Näschen in die Höh.

„Aber Ovater wird sich so freuen, und die liebe Omama!“

„Großmutter!“ betonte er.

„Nein!“ stampfte das Beinchen.

„Na, dann bleib nur hier“ — er nahm sacht ihre Händchen und strich langsam jeden Finger gerade. „Dann wird Vater ganz allein die große schwarze Juno bellen hören — wau-wau-wau“ — er fixierte sie — „und die bunten Tuckehühnchen spielen sehen“ — er ließ die Händchen plötzlich frei — „tuck-tuck-tuck, ücke-rü-üh! — Und —“

„Große Muhkuh! Detta doch mit!“ hob sie hüpfend die Ärmchen aus einander. „Tuck-tuck-tuck, sehr lieb“ — jubilierte sie und umschlang die Kniee der Mutter.

Die nickte ihm zu, verständniswillig. Blos: schon wieder dies unbewußte Mundwinkelzucken! —

*

Der schwerfällige Post-Omnibus rumpelte aber wirklich etwas sehr vorsintflutlich. Und die holprige Landstraße hätte auch wohl längst eine neue Schüttung vertragen können. So konnte man ja seekrank werden auf den zersessenen Sprungfedern.

Er reckte sich und wollte den Hut aus der Stirn schieben. Aber die heiße Vormittagssonne stach grad an dem schlafenden Kutscher vorbei prall in den offenen Vordersitz; das Braunrot des verschossenen Polsterplüsches schweelte schon beinah wie[S. 14] versengt. „Schweiß und Staub — Schweiß und Staub“ — hörte er die beiden Gäule ihren gewohnten Klappertrab traben. Die jungen Rüstern an der sandigen Straßenkante sahen aus, als bedürften sie vor Hitze selbst des Schattens.

„Hater“ — und sinnend zeigte die Kleine auf den nickenden Fuhrmann vor sich — „ßpielt die Feitße mit dem Wind?“ Die Peitsche wippte in der Hand des Schlafenden im Takt der Gäule hin und her; die Zügel in der andern Hand mußten wohl die Bewegung vermitteln.

„Nein, mein Kind, der Wind ist weggegangen von der Peitsche.“

„Wo ist denn der Wind?“

„Schlafen gegangen.“

„— ßlafen gangen?“

„Ja“ —

„Wo ßläft er denn?“ Herrgott, dies ewige Gefrage!

„Er schläft!“ Sie war doch wirklich ein unglaublicher Quirl.

„Er ßläft?“

„Ja!“

„Wo denn?“

„Auf den Wolken.“

„Wolken?“ fragte sie zögernder.

„Ja“ — sagte er kleinlaut und blickte weg; kein einziges Wölkchen stand am Himmel.

„Wo denn aber?“ fragte sie ebenso kleinlaut.

Er schwieg.

Wie sie ihn schon in der Eisenbahn mit ihrer Neugier fortwährend gepeinigt hatte! Na, Gott sei Dank: jetzt schien sie auch mit einzuschlafen. „Schwarzer, Brauner“ — „Schwarzer, Brauner“ — hörte er wieder den Trott der Gäule. Jetzt war sie schon im Nicken. Die Peitsche hatte sie wohl eingewiegt.

Er dachte an gestern. Es mochte doch wohl nicht ganz[S. 15] leicht sein, sie immer und immer um sich zu haben. Wie seine Mutter wohl mit ihr auskommen würde? „Du wunderlicher Jung’!“

Eigentlich könnte er den Sonnenschirm aufspannen, den ihm Recha gestern als Geburtstagsgeschenk schon in Bereitschaft gehalten hatte; in manchem war sie doch sehr vorbedacht. Er langte nach dem sorgsam eingehüllten Ding. Aber der Staub, der würde es unsauber machen. Es war doch schließlich ein Geschenk für die Mutter! Das nimmt man doch nicht in Gebrauch vorher. Ach Torheit: kindische Rührgefühle! Nein, Ehrfurcht: der Geburtstag der Mutter! —

Ob seine Geschwister das heute wohl auch so fühlten? verstreut in der Fremde, geboren aus Einem Schooß, der heute vor Jahren und Jahrzehnten in andrer Fremde geboren worden. Schooß aus Schooß — er blickte sein Kind an —: und Schößling neben Schößling. Er sah die nahen jungen Bäumchen an der Straßenkante vorüberschwinden, jedes ewig den andern fern. Er sah sie in der Ferne der Alleeflucht eng zusammenrücken, immer enger; sie führten in die Heimat — von ihr her — fort, fort von ihr — o Elternhaus! —

Ja, so von ferne, jetzt: wie dehnte sich sein Herz den alten Eltern entgegen! Und dann, wie hob’s ihm die Arme hoch, hin um ihren Hals, im ersten Augenblick des Wiedersehens; immer noch. Dann war er ganz ihr Kind, ihr Blut, Leben von ihrem Leben, hingegeben, unbewußt, wie ans Herz der Natur. Er sah sich schon kopfbückend in die kleine Stube treten, durch die niedrige Tür, sah Lindenzweige an die Fensterscheiben tippen, sah die zwei blanken Schränke aus Birkenholz, die Gewehre und Rehgehörne, das wohlig grüne Schattenlicht.

Doch dann — dann trat auch schon das andre Leben mit ihm ein und zwischen sie: das mit den Zweckfragen, die der Mensch sich stellt, der Mensch im Gegensatz zur Natur und also auch zum Mitgeschöpf, zu jedem Allernächsten grade: das Leben des[S. 16] umgestaltenden Geistes, der bewußt gewordene Wille zur Zukunft, der ewige Kampf um neue Kultur.

Dann war er nicht mehr Kind, sie nicht mehr Eltern; dann war er ein Junger, sie noch die Alten. Dann war die liebe Muttersprache — o heiliges Wort dem Fühlenden — kein Verständigungswerkzeug mehr: dasselbe wohlgemeinte Wort, es hatte ihnen anderen Sinn als ihm, so sehr er in kindlicher Scheu sich mühte, den steten Zwiespalt zu verhehlen. Dann war die schattenkühle stille Stube schon manchmal recht schwül und drückend gewesen.

Ob ihm das wohl mit seinem Kinde auch einmal so gehen würde? — Fernliebe?! — Entzückend, wie sie da ahnungslos schlief, im Schatten des schlafenden Kutschers; und heute würde sicherlich sie jedweden Zwiespalt überbrücken. Einst aber? — Ach was! wenns ihr mal paßte, seinethalben mochte sie Seiltänzerin werden!

Er sah die Zügelleinen in der Hand des Fahrenden schaukelnd auf den Schenkeln der trabenden Klepper hüpfen. Auf ihren Rücken, um die schwitzenden Flanken, tanzte das Sonnenlicht hin und her, in großen spiegelblanken Flecken; es war doch unerträglich heiß. Die drei Messingringe aus den Kumten wippten blitzend auf und nieder mit dem Schulterriemzeug — auf und nieder — in Schweiß und Staub; — er sah nach der Uhr. Halbzwölf erst; noch eine Stunde so.

Er horchte wieder auf den Takt der Hufe: Schwarzer, Brauner — auf und nieder — auf und nieder, Schweiß und Staub. Ah, jetzt: vorn vor den müden Pferdehälsen kam wenigstens das Dorf schon hoch, wo immer angehalten wurde. Da gab es was zu trinken. Und zu rauchen. Zigarren vergessen! Er gähnte und lehnte sich zurück; noch fünf Minuten.

Das Geschaukel der Pferdeschenkel wurde immer sonderbarer; förmlich arabeskenhaft schwankten die Spiegelwellen der Flanken. Er schloß halb die Augen; das tat ihm wohl. Wie[S. 17] er alldas bewußt genoß! — Am Kumt die Ringe zuckten glitzernd auf und nieder zu ihm her, wie drei große blendende Sterne; auf und nieder — Schwarzer, Brauner — Schwarzer, Brauner, Weiß und Staub.

Er schloß die Augen etwas fester. Die Sterne blitzten immer weißer. Auf und nieder; weiß und taub.

Nein, das war wohl nicht das rechte Wort; es war wohl Gelb. Ja, Gelb. Süßer gelber Lupinengeruch; so wohlig kühl. Es mußte wohl ein Feld wo sein; Lupinenfeld. Das hatte er wohl übersehen vorhin.

Nein, es war wohl doch nicht gelb. Denn es waren ja Narzissen. Ja, Narzissen. Nein, er träumte wohl; nein, nicht! Denn es waren ja drei große, deutliche Narzissensterne — blendend weiß — nein fünf — nein sieben; sieben weiße Strahlenblüten.

Sieben nickende Narzissen; mit purpurgoldnem Krönchen jede. Sieben schlanke Edeldamen, mit wellenkrausen Schläfenhaaren. O, wie schön! Jede mit so grauen Augen; Mutteraugen. Jede hatte um die zarten Arme lange dänische Handschuh’ an; gelbe.

Und verbeugten sich vor ihm, eine nach der andern, mit den weißen Strahlenhüten. Jede bis zur siebenten. Die hielt einen Spiegel; hatte dunkle Augen, dunkelbraune.

Trat die erste vor; sagte ihm ein Wort. Und das war ihr Name, und den hatte er schon gehört; nur besinnen konnt er sich nicht drauf. Sagte auch die zweite ihren Namen; auch die dritte. Schlossen alle mit der Silbe „sinn“, nein „sein“ — Sinn, Sein — auch die vierte, fünfte, sechste; und die purpurgoldnen Krönchen nickten. Nur die siebente war stumm; war blaß; hielt ihm nur den Spiegel hin. Der war blind. Und sie schüttelte den Kopf; und ihr linkes Auge blickte traurig.

Nein, das war doch gar zu lustig: wie ihr Purpurkrönchen wackelte. Denn das war ja gar kein Krönchen: war ein dicker[S. 18] roter Hahnenkamm, wippte in der Sonne. War ein ganzer Hahnenkopf — dicker bunter Hahnenhals — der blähte sich. Schlug mit beiden Flügeln funkelnd durch die Luft — rief ganz laut und deutlich: ücke-rüh-ü-üh! —

Er riß die Augen auf. Wahrhaftig: eben stieß der Omnibus mit härterem Gerumpel auf die ersten Pflastersteine der Dorfstraße, und drüben auf dem einen Hofzaun reckte sich der Hahn und krähte zum zweiten Mal. Der alte Fuhrknecht hob das Stoppelkinn: „jüh, Rackers!“ mit den Zügeln auf die schweißbeglänzten Pferdeschenkel klatschend. Auch die Kleine wurde langsam munter.

Was der Traum wohl zu bedeuten hatte? Ach, bedeuten: Unsinn! Aber wie er wohl entstanden war?

Sollte —: Hahnrei des Bewußtseins? — Hm...

Das Wort des Polen war ihm doch wohl tiefer gegangen, als er damals dachte.

*

Die Abendsonne schien sich heute förmlich zu krümmen, wie vor Durst. Immer dicker wurde der kupferrote Ball, da hinter den Wasserdünsten des sumpfigen Sees am Horizont. Grade zwischen den zwei dicksten alten Pappelstämmen bei der kleinen Straßenbrücke drüben hing das dunkelrote Ungetüm im fernen Grau, dicht unter dem Zittersaum des schwarzgrünen Laubdaches.

So groß und glanzlos hatte er sie niemals sinken sehen. Nur die breiten drei Brechungskeile, mit denen sie Wasser zog, wie die Leute hier sagten, standen stromhell wie aus Goldtopas geschliffen unter der purpurnen Kugel, zeigend daß sie noch Licht gab. Der Mittelkeil war nur ganz kurz noch; wie ein mächtiger Strahlensockel. Vor dem schwellenden Gelb der Seitenschrägen hoben sich die beiden Pappelstämme tiefschwarz ab mit ihren Borkenrändern. Das Laubdach wurde immer dunkelgrüner.

[S. 19]

„Wird morgen wieder schwere Hitze geben“, sagte der Alte und trat aus der Haustür zu ihm an den Gartenzaun. „Meine ganzen jungen Kiefern werden noch vertrocknen; schlimmes Jahr!“ Er zeigte mit der Pfeife in das Astwerk der Akazienkrone über ihnen: „Läßt schon Blätter fallen.“ Der Tabaksrauch berührte wirbelnd grade eine der verwelkten Blütentrauben.

„Hast du neue Bienenstöcke, Vater?“

„Einen blos“ — erwiderte der Alte und setzte sich auf die Bank am Zaun. Nun wies er schmunzelnd auf die Kleine, die an der hohen Haustürschwelle neben „Lotte Goldsnut“ hockte. Die Teckelhündin lag, platt alle Viere von sich, wie tot im warmen Sande, und die Kleine war eifrig bestrebt, zwischen die vier Zehen der krummen Vorderpfoten immer drei der abgefallenen Akazienblätter festzuklemmen. Immer wenn sie fertig war mit einer Pfote, streifte sich die Dachsmadam mit der andern die Blätter wieder ab, und das Spiel begann mit Ernst von neuem. Was die Recha nur wollte! die Kleine war ja unglaublich artig.

Jetzt trat die Mutter aus der Tür, in jedem Arm behutsam eine flache Satte voll Dickmilch tragend. Er sprang ihr zur Hand. Wie sich all ihre Runzeln freuten, bis in die liebreichen Augen hinein, als er die eine Schüssel ihr abnahm und sie auf den Gartentisch setzte; richtige Geburtstagsaugen! Und zugleich wars wohl auch die Freude, wie ihrem Ältesten nachher die kühle Labung schmecken würde, so mit Streuzucker drüber und Schwarzbrotkrümeln. Wie die fette Sahne nach dem Eiskeller duftete! Orndtlich winterlich sah die weiche Pelzschicht aus.

„Na, Alterchen?“ ließ sich Mutter hören, Vaters Schneehaar glattstreichend — „soll ich hier decken oder unter der Linde?“

„Lieber hier, Mutting,“ kam er dem Alten zuvor; „hier[S. 20] sieht man die Abendsonne so schön.“ Die rote Scheibe stieß jetzt grade auf den Horizont der Landschaft; der Strahlenfächer war verschwunden.

Der Alte griff sich in den Bart. Sicherlich knurrte er im stillen wieder: „Sentimentaler Krempel!“ Das war ein Lieblingstrumpf von ihm.

„Die Lindenblüte riecht auch zu stark“, meinte mit rascher Abwehr die Mutter; „Abends manchmal ganz betäubend.“ Dann beugte sie sich zu der Kleinen nieder: „na, mein Lämmechen?“ strich ihr die Locken sanft aus der Stirn, sorglich nach dem Alten blickend, und ging wieder ins Haus. Lotte Goldsnut erhob sich.

„Hat ’ne zarte Nase, unser Muttel“, brummte der Alte und griff gemächlich an sein eigenes Vorgebirge, eine dicke Wolke von sich paffend; „krigt’s schon mit den Nerven.“

„Ovater“ — kam auf einmal die Kleine hinter der Teckelhündin herangependelt — „bist du der Weihnachtsmann?“

„Woll, mein Mäuschen!“ und er nickte belustigt. Tief nachdenklich sah sie ein Weilchen auf die eine Schüssel hin, durch deren dunkelgrüne Glaswand der weiße Inhalt schimmerte. Dann ging sie wieder an die Schwelle, wo die verblichenen Akazienblätter auf dem sandigen Boden lagen.

„Muß doch mal im Hofe nachsehn“ — sagte der Alte und stand auf — „ob die Juno etwa los ist; das Schindluder hat mir neulich einen von den jungen Hähnen abgewürgt.“ Er reckte sich. „Kann das Volk auch gleich in den Stall bringen.“ Er schritt ins Haus. Lotte Goldsnut wackelte ihm nach.

Die Sonnenkugel war jetzt nur noch mit dem oberen Drittel sichtbar, wie das rote nackte Augenschild eines riesigen Birkhahns. Nun wurde sie verdunkelt, fast verdeckt, von dem strotzenden Euter der grauen Leitkuh, die eben mit der Heerde drüben von der nahen Weide kam. Um die schweren Bäuche stieg der Staub der Landstraße auf. Der lahme Spittelhirt des Städt[S. 21]chens hinkte barfuß hinterdrein. Durch das hohlere Getön der Brückenbohlen klang die Kupferglocke am Hals der Vorderkuh. Zum Brüllen war die Heerde wohl zu satt. Die Mäuler kauten noch.

Nun war die Sonne blos noch ein fasriger Rand, wie ein glühender Wimpernbogen; das machten wohl die Binsen und das Röhricht in der Ferne. Man konnte fast mit den Augen verfolgen, wie sie Strich für Strich untertauchte. Er warf die ausgegangene Zigarre weg und stützte sich fester auf den Zaun. Jetzt verglomm der letzte Strich, grade oberhalb der einen Pappelsohle, wie hineingeschrumpft. Es wurde plötzlich etwas heller. Die fahle Dunstwand schien sich abzukühlen. Das dumpfe Rotgrau lockerte sich zart ins Grünliche. Durch die stummen Pappeln, von Haupt zu Haupt das Fließ entlang, wagte sich ein Lüftchen; noch beklommen. Jetzt: die trägen Blätter fingen an zu munkeln.

Er fuhr auf: eine verspätete Biene, von der Linde her, vorbei zu Korbe. Ob sein Vater die Feierstunde der Natur auch so ins Einzelne mitfühlte? Mit so sinnlicher Andacht? Nein. Das war wohl Neugehirn. Neue Sinnlichkeit. Auch neue Wissenschaft.

Aber doch: er hatte ihn einmal sagen hören: „Der Kiefernhochwald, aber Schnee muß liegen, das ist meine Kirche!“ Aber eben: Kirche: Unnatur! — Da, da drüben die Pappelblätter, oben an der höchsten Spitze, wie sie schwärzlich im blassen Luftblau hingen, jeder Rand von einem zarten, zitternden Flimmerschein umwirkt: wars nicht tief feierlich zu wissen, daß sich da jetzt von unten her die letzten scheidenden Sonnenstrahlen durch den Atemduft des warmen Laubes in der Abendkühle goldhell brachen.

„Hater —“ fragte plötzlich die Kleine und schob sich bedächtig auf die Bank, ihr Schürzchen von sich haltend, das sie mit Akazienblättern vollgesammelt hatte — „sind die Bäume müde, Vater?“ Ihre Augen blickten, weit und träumerisch[S. 22] geöffnet, über den Tisch weg nach den Pappeln. „Wie die Menßen ’tehn sie da.“

Er mußte nicken; wortlos. Wie die Menschen! O Kindermund.

Das mußte er der Mutter sagen; das war ein Wort aus ihrem Geist. Die Kleine saß immer noch träumerisch; leise trat er in den Hausflur. Und auch den Narzissentraum ihr sagen! Ja, und dem Alten helfen seine Hähne einsperren; das nahm er immer sehr hoch auf.

Die Küche war offen. Die Mutter stand am Herd, eben einen Eierkuchen in der zischenden Pfanne wendend. Nein, das war nicht die rechte Stimmung; lieber morgen Vormittag im Garten. „Ah —“ sog er unwillkürlich den Geruch des brutzelnden Gebäckes ein.

„Mein großer Junge!“ lachte sie und griff ihm liebkosend durch den Kinnbart. „Hast wohl schönen Hunger von dem langen Spaziergang?“

„Wo die Juno blos stecken mag!“ wetterte der Alte, aus dem Hühnerhof in die Küche tretend; mit dem Helfen wars also auch nix. „Fängt auf ihre alten Tage zu jagen an; muß ihr mal ’ne Ladung Schrot aufsengen, Kantschu scheint nicht mehr zu ziehen.“ Er war ganz rot vor Ärger; wie seine Hähne. „Hast du sie nicht bemerkt Nachmittag?“

„Nein, Vater.“

„Konnt mirs denken“, ging das Sticheln los; „liegst ja immer gleich im Grase fest.“ Schwerenot, was ihn das wohl anging!

„Fertig, Kinderchen“ — rief die Mutter und nahm das Gedeck zur Hand, ihm die Teller reichend.

Gottseidank! atmete er auf, wieder hinaus ins Freie tretend; der Alte hinterdrein mit den Eierkuchen. Aber was war das? das war ja ’ne nette Bescherung! Auf dem Gartentisch, mitten drauf, saß sein Töchterlein, eifrig bestrebt, die sandigen Akazienblätter in verschiedenen schönen Kringeln auf dem[S. 23] weißen Sahnenpelz der dicken Milch zurechtzulegen; eben wollte sie die zweite Satte in Angriff nehmen.

„I du Balg!“ Er besann sich; nur keinen Wutausbruch! Weswegen auch? eigentlich wars doch zum Lachen! Er nahm sich zusammen und sprach mit Nachdruck: „Das war aber unartig von dir!“

Sie sah ihn groß von der Seite an. „Das war darnicht una’tig von mir!“

„Kiek!“ machte der Alte in der Haustür, und der Kobold stach aus den stahlblauen Augen.

Wollte er ihn vielleicht gar foppen? Na warte! Er stellte die Teller hin. „Komm mal runter!“ sprach er und trat vor sein Kind.

„Nein!“ stemmte sie die Arme auf. I zum Donner, da sollte doch gleich —

„Kiek!“ kams abermals von der Haustür her; „Respekt scheint sie nicht viel zu haben.“

„Braucht sie auch nicht! Verlange ich nicht! Ich schlage meine Kinder nicht!“ Verdammt: wie war das aus ihm herausgeplatzt? Hätt er das Balg blos nicht mitgebracht!

„Nna“, knurrte der Alte mit Seelenruhe: „die Köter fressen ja dicke Milch auch ganz gern. Komm, Lotte“ — pfiff er der Dachshündin, die sich eben durch den Zaun schlängelte. Was war der Jöhre blos aus einmal so hinterrücks in den Kopf gekrochen?!

„Komm mal her, mein Schäfchen,“ legte sich jetzt die Mutter ins Mittel und lächelte. Der Alte streichelte die Hündin, die bereits in der fetten Sahne schleckte. „Komm, mein Schäfchen; komm her zu mir.“

„Will aber nich!“ bockte sie erst recht, die Finger um den Tischrand klammernd. Jetzt riß ihm aber bald die Geduld!

„Na, Herzchen,“ lockte die Mutter wieder: „wirst doch nicht wieder wunderlich sein?“

Ah: am Nachmittag also auch schon?! Was sollte der Alte denn von ihm denken!

[S. 24]

„Vater haut nich“ — stemmte sie sich noch fester.

Teufel, das war denn doch zu bunt! „Willst du jetzt gleich herunterkommen?!“

„Nein!“

„Detta?!“

„Nein!“

Wie sie festhielt! Warte, Kröte! Strampelst noch? Und mit den Beinen stoßen? — „Laß, Mutter! laß mich!“ schrie er wütend. Und wie das blanke Fleisch sich wand! Wie’s klatschte! Wie die Hand ihm brannte! Wie der Racker brüllte! Warte, Satan! —

„Na, na! so grob gleich?“ hörte er plötzlich den Alten; wie aus einem Nebel her.

„Kanalje!“ keuchte er — „marsch!“ und besann sich. Ganz knallrot, ja, war das Fleisch gewesen; knallrot wie ein Hahnenkamm. Und — Hahnrei des Bewußtseins! schoß ihm das Blut in die Schläfen; verdammt ja, wie eine Ohrfeige.

Hatte sie’s verdient? fragte etwas in ihm. Sie stand muckstill, mit den Tränen kämpfend. Was würde Recha sagen? Er schämte sich.

„Hab sie Nachmittag auch schon mal striegeln müssen,“ kams wieder von der Haustür her. Kreuzdonner — „Na, entschuldige nur! Blos mit der Rute ein bißchen auf die Finger.“

So —: deswegen also „Weihnachtsmann“?! und darum war sie vorhin so sonderbar artig?! — Er konnte nicht anders, er mußte lachen. Und auf einmal lachten sie alle zusammen.

Der Werwolf

Erzählung

An einem sehr nebligen Oktober-Abend sprach sich in dem entlegensten Vorort einer norddeutschen großen Handelsstadt die unheimliche Kunde herum, der Apotheker des Ortes sei auf[S. 25] der Eisenbahn während der Rückfahrt aus der Stadt von einem Raubmörder erschossen worden. Es war das ungefähr um dieselbe Zeit, als in einem Vorort der deutschen Reichshauptstadt Berlin ein aus dem Zuchthaus entlassener Schustergeselle die ganze zeitunglesende Menschheit zu unvergeßlichem Gelächter bewegte, indem er kraft einer abgetragenen preußischen Offiziersuniform nebst dazu passender Körperhaltung den versammelten Magistratspersonen die hirnberückende Vorstellung eingab — oder, wie die gebildeten Deutschen sich damals ausdrückten, suggerierte — er solle auf allerhöchsteignen Befehl Seiner Majestät des Kaisers den obrigkeitlichen Geldschrank ausräumen. Auch in jener norddeutschen Villenkolonie war über den musterhaften Gaunerstreich dieses sogenannten Hauptmanns von Köpenick, bei aller damals üblichen Ehrfurcht vor der Würde und Weisheit der Staatsvertreter, noch am Tage des Mordes reichlich gelacht worden; nun aber geriet die Einwohnerschaft, die größtenteils aus begüterten Kaufleuten und gutgestellten Beamten bestand, in eine zunehmende Ernsthaftigkeit. Fast alle mußten sie täglich zur Stadt fahren, um ihren Geschäften nachzugehen; jeder von ihnen sagte sich also, es hätte ihm nach erfüllter Berufspflicht, während er als gebildeter Bürger eines gesitteten Staatswesens auf dem besteuerten Bahnwagenpolster in den wohlverdienten Genuß einer Zeitung oder eines kleinen Schlummers versunken saß, genau desgleichen ergehen können wie dem bemitleidenswerten Apotheker, ja es könnte vielleicht sogar noch geschehen. Denn der Gemordete wurde begraben, ohne daß von dem Raubmörder auch nur die geringste Spur entdeckt war; und wochenlang setzten die städtischen Waffenhändler erstaunliche Mengen von Taschenrevolvern, Stockdegen, Schlagringen und andern Verteidigungswerkzeugen an die erregte Bevölkerung der sämtlichen umliegenden Ortschaften ab, während zugleich bei der Bahnverwaltung die verschiedensten dringlichen Sicherheitsvorschläge[S. 26] zum Umbau des ganzen Wagenparks einliefen, und bei der Polizeidirektion die mannigfachsten Verdachtsanzeigen, die immer weniger zur Ergreifung des Mörders und immer mehr zur Erregung der Bürgerschaft beitrugen.

Es ließ sich einstweilen nur ermitteln, daß auf der Böschung der Vorortbahn unweit der letzten Haltestelle ein alter Kavallerie-Revolver mit zwei abgeschossenen, zwei noch geladenen und zwei ungeladenen Patronenkammern die Mordtat sowohl wie die Flucht des Täters hinlänglich bezeichnete; auch fanden die Untersuchungsbeamten in nächster Nähe des Mordwerkzeuges die goldene Uhr und Kette des Apothekers, und in dem Bahnwagen hatte bei dem Gemordeten seine entleerte Banknotentasche blutbefleckt auf dem Polster gelegen. Augenscheinlich also war der Verbrecher nach der planvoll durchgeführten Beraubung während der Fahrt aus dem Wagen gesprungen, hatte die Tür wieder zugeschlagen, den Revolver im Sprunge fallen gelassen und dabei in der Hast auch die Uhr verloren; oder er hatte Uhr wie Revolver, um sich nicht später dadurch zu verraten, absichtlich sofort aus der Hand geworfen. Eine Fußspur war aus dem Graswuchs der Böschung nirgends zu erkennen gewesen, und in dem dichten Nebel konnte der Täter sehr leicht noch an demselben Abend nach dem Hafen der Handelsstadt auf offener Straße entkommen sein, hatte sich erst wohl unterwegs an irgend einem Feldteich gesäubert und war dann vermutlich mit falschen Papieren auf einem der vielen Auslandschiffe als Kohlenschipper oder dergleichen schon nächster Tage in See gegangen. Die meisten Umwohner wollten freilich aus allerlei Meldungen entnehmen, er streife noch heimlich im Lande herum; und da der massenhafte Vertrieb von Taschenwaffen jeder Art natürlich etliche freche Burschen zu neuen Gewalttaten anreizte, so schob sie der allgemeine Argwohn immer wieder auf den entschlüpften Raubmörder, obgleich diese ungeübten Gelegenheitsräuber stets bald der Polizei in die Hände fielen.[S. 27] Im übrigen blieben alle Nachforschungen, auch Zeitungsaufrufe und Säulenanschläge, ob irgendwer im deutschen Reich einen alten Kavallerie-Revolver kürzlich an irgendwen verkauft habe, trotz ausgesetzter Belohnung erfolglos; man mußte leider den Schluß ziehen, daß der Verbrecher die Waffe wohl schon in seiner militärischen Dienstzeit irgendwie beiseite gebracht und für seine spätere Laufbahn aufbewahrt hatte.

Was die Bevölkerung ganz besonders erregte, war der sehr viel Gesprächsstoff bietende Umstand, daß der erschossene Apotheker, trotzdem ihm der eine Schuß die Schläfe durchbohrt, der andre die Schädeldecke zerschlagen hatte, noch lebend, wenn auch bereits bewußtlos in dem Bahnwagen aufgefunden ward. Die ärztliche Leichenschau ergab, daß die Bewußtlosigkeit wahrscheinlich erst einige Minuten nach der Verwundung unter heftigen Schmerzen eingetreten war; und jedermann suchte sich nun zu vergegenwärtigen, was für Gedanken dem Unglückseligen in seinen letzten Augenblicken durch das zerfetzte Gehirn gestürmt sein mochten. Dies umso angelegentlicher, als der Entseelte bei Lebzeiten in der Ausübung seines Berufes fast jedem einzigen Ortsinsassen mehr oder minder nahe gekommen und auch als Persönlichkeit weit beliebt war: ein sanfter, schmiegsamer, schlanker Herr mit einem blonden Christuskopf und — was bei seiner Aufgeklärtheit manchem verwunderlich erschien — von förmlich gottgläubiger Frömmigkeit. So legten denn alle Nachdenklichen sich selbst und Andern die Frage vor, wie wohl das Gottvertrauen des Apothekers die letzte kurze Bewußtseinsfrist nach dieser gräßlichen Lebenserfahrung innerst bestanden haben möge, zumal da bekannt geworden war, daß die Witwe beim ersten Anblick des Toten nur die verzweifelten Worte herausgebracht hatte: „es gibt keinen Gott, es gibt keinen Gott!“ Auch daß sie den ziemlich hohen Betrag von 150000 Mark, auf den der knapp vierzigjährige Mann erst unlängst sein Leben versichert hatte, und welchen ihr die Versicherungsgesellschaft[S. 28] unverzüglich überwies, mit keinerlei Regung des Trostes entgegennahm, sondern vor Schluchzen kaum zu quittieren vermochte, gab der gemütvollen Bürgerschaft zu vielen teilnehmenden Reden Anlaß. Das menschliche Mitgefühl der Bevölkerung erstreckte sich so weit in die Runde, daß der Friedhofsgärtner nach der Beerdigung reichliche vierzehn Tage brauchte, um die Gräber und Beete wieder zurecht zu machen, die unter dem nicht zu hemmenden Andrang von Leidtragenden jeden Alters und Standes, einheimischen und auswärtigen, zertreten oder zerrauft worden waren. Und noch mehrere Wochen nach dem Ereignis konnte man in der ganzen Gegend keiner gebildeten Unterhaltung beiwohnen, die nicht schließlich zu der Erörterung führte, ob dem verewigten Apotheker, falls es ein Fortleben über das Grab hinaus gäbe, die Nichtentdeckung seines irdischen Mörders als ein völlig sachgemäßes Verfahren der himmlischen Gerechtigkeit einleuchten würde.

Da geschah es an einem schönen Nachmittag, daß ein Gemüsehändler des Ortes, der seine Mistbeete für den Winter herrichtete, durch eine Gartenhecke hindurch ein sonderbares Gespräch mit anhörte, das zwischen dem Eigentümer des Nachbarhäuschens und dessen einzigem Freunde stattfand. Dieser Nachbar war allen Leuten ein Rätsel. Als früherer Eisenbahnschaffner hatte er infolge einer Zugentgleisung eine leichte Kopfverletzung erlitten, von der ihm, wenn sein Gebaren nicht trog, eine dauernde Geistesstörung verblieben war, zwar keine richtig irrsinnige, aber die ihn nach Meinung der Ärzte doch dienstunfähig erscheinen ließ; und so hatte er vor Gericht erlangt, daß ihm die Bahnverwaltung den Abschied nebst angemessenem Sühnegeld und — bis sein Geist vielleicht wieder dienstfähig würde — auch Ruhegehalt bewilligen mußte. Nun tat er von Morgens bis Abends nichts weiter, als daß er vor seinem dürftigen Häuschen, für dessen Erwerbung das Sühnegeld draufgegangen war, in verbiesterter Weise hin und her[S. 29] schritt. Zu jeder Tages- und Jahreszeit, bei schlechter wie guter Witterung, marschierte er da in dem schmalen Raum zwischen Hauswand und Straßenhecke wie ein Wolf im Käfig auf und ab, mit verwildertem buschigem rotbraunem Bart, beide Fäuste in die Taschen vergraben, die Mütze tief ins Gesicht gedrückt und scheu die Vorübergehenden musternd, manchmal mit mißtrauisch zugekniffenen, manchmal mit feindselig aufgerissenen Augen; sodaß die Leute im Ort schließlich sagten, wenn er nicht wirklich geisteskrank sei, müsse er es bei dieser Art Übung allmählich bis zur Vollkommenheit lernen. Außer zu seinen Mahlzeiten und sonstigen häuslichen Geschäften, die seine Frau nicht für ihn verrichten konnte, wies sein öffentlicher Lebenswandel nur dann eine Unterbrechung auf, wenn in der Nachbarschaft irgend ein Todesfall vorkam oder auch blos zu erwarten stand. Dann verschwand er sofort aus dem Straßengärtchen, schloß sich Tagelang in seine Schlafkammer ein oder trollte während der Leichenzeit, wie ein von bösen Geistern Verfolgter, in den dichten Haidegehölzen herum, die an den Friedhof angrenzten. Deswegen hatte ein Lehrer der Ortsschule, der sich in seinen Mußestunden mit Abhandlungen über Gespenstersagen und Schauermärchen beschäftigte, einmal am Biertisch im Scherz geäußert, der rätselhafte rotbärtige Kerl werde sich noch als Werwolf entpuppen; und dieses hingeworfene Wort war als Spitzname an ihm hängen geblieben und dermaßen gang und gäbe geworden, daß kein Kind sich allein in die Haide wagte, aus Furcht, vielleicht von dem wilden Mann überfallen und abgewürgt zu werden.

Ob der Werwolf selbst merkte oder ahnte, was über ihn gemunkelt wurde, das wußte wohl nicht einmal seine Frau; denn zu Gesprächen neigte er nicht, sondern gab auf Anreden entweder garnichts oder höchstens ein unwirsches Knurren zurück. Nur ein kleiner krötiger buckliger Flickschneider, mit dem sich sonst niemand recht einlassen mochte, hatte sich an ihn an[S. 30]genistet und verstand ihm zuweilen ein paar Worte oder gar ein Schmunzeln abzugewinnen. Das passierte allerdings selten genug, und blos an besonders schönen Tagen; denn des Flickschneiders elenden Knochenbau flog beim leichtesten Lüftchen das Zipperlein an, und außerdem war er so schwach auf den Beinen, daß er dem unermüdlichen Werwolf kaum ein halbes Stündchen lang Schritt halten konnte. Geschah es aber, dann schien sich dieser voll tiefen Behagens daran zu weiden, wie das kleine klägliche Klümpchen Unglück mit seinem bartlosen Unkengesicht und seiner keuchenden Kläfferstimme da neben ihm hin und her hampelte, und wie die Leute das seltsame Freundespaar verstohlen von ferne besichtigten. An einem solchen schönen Nachmittag also — es war ein ungewöhnlich milder November — vernahm der erwähnte Gemüsehändler, hinter der Gartenhecke knieend, wie der Flickschneider plötzlich den Werwolf fragte, ob er nicht früher, vor seinem Eisenbahndienst, Sergeant oder so’was gewesen sei. Und als der mißtrauisch antwortete, er könne sich nicht mehr an alles erinnern, zog der Andre ein Zeitungsblatt aus dem Rock, das den berüchtigten Kavallerie-Revolver in größengetreuer Abbildung zeigte, und fragte mit pfiffiger Miene weiter, ob er sich hieran vielleicht erinnern könne; worauf der Werwolf erst wie entgeistert stillstand, dann in ein schreckliches Toben und Schluchzen ausbrach und den Krüppel wahrscheinlich entzweigemacht hätte, wäre nicht die Frau aus dem Hause dazwischengestürzt und auch der Gemüsehändler zu Hilfe geeilt. Natürlich meldete dieser den Vorgang ohne Aufschub der Polizei, und am andern Morgen wurde der Unhold von zwei Gendarmen zur Stadt befördert und ins Untersuchungsgefängnis gesteckt.

Beim Verhör erklärte zunächst der Flickschneider mit untertänigstem Selbstgefühl, daß er sich feierlich dagegen verwahren müsse, als Freund des Verhafteten zu gelten. Er sei ein unbescholtener Staatsbürger und habe sich mit dem verdächtigen[S. 31] Menschen lediglich deshalb abgegeben, um heimlich dabei herauszustudieren, ob derselbe in Wirklichkeit verrückt sei oder blos immerfort so tue. Die verfängliche Frage nach dem Revolver habe er eigentlich nur gestellt, weil einem solchen heimtückischen Müßiggänger doch alles zuzutrauen sei. Er wolle keineswegs die Behauptung aufstellen, daß der Werwolf den Apotheker umgebracht habe; es bleibe ja immerhin die Möglichkeit, daß derselbe den greulichen Wutanfall aus reinem Ärger über die Frage gekrigt oder auch blos geheuchelt habe. Aber er möchte doch nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit der hohen Behörde auf den bedenklichen Umstand hinzulenken, daß der Verhaftete am Tage des Mordes schon seit dem Mittag verschwunden gewesen und erst wieder am Tage nach dem Begräbnis vor seiner Haustür erschienen sei. Wenn sich also derselbe nach alledem vor dem hohen Gerichtshof als schuldig erweisen sollte, so möchte er — und bei diesen Worten blies sich des Flickschneiders Busenwölbung wie ein Truthahn vor dem ebenfalls verhörten Gemüsehändler auf — ganz ergebenst befürworten, daß er allein den vollen Anspruch auf die für die Entdeckung des Mörders ausgesetzte Belohnung erheben dürfe. Der Beschuldigte saß währenddem mit gänzlich verstocktem Gesichtsausdruck da; nur als sein Verschwinden zur Rede kam, geriet er in merkliche Unruhe, und sein zusammengebissener Mund schien wieder mit inneren Tränen zu kämpfen. Doch bewirkte seine Vernehmung nichts weiter, als daß er hartnäckig leugnete oder zumeist blos den Kopf schüttelte, beständig die Augenbrauen runzelnd, wie wenn er die Sache nicht recht begriffe. Und da seine Frau nur in einem fort aussagte, sie könne sich hoch und teuer verschwören, daß sie nie einen solchen oder andern Revolver an ihrem Mann beobachtet habe, so mußte das lebhafte Rechtsbedürfnis der aufs stärkste gespannten Zeitungsleser einstweilen damit zufrieden sein, sich in neue entrüstete Leitartikel über die öffentliche Unsicherheit im[S. 32] allgemeinen, wie über den unheimlichen Werwolf und sein jahrelang freies Herumgerenne im besonderen zu vertiefen.

Indessen ergab der Fortgang der Nachforschungen, daß der Beschuldigte um die Zeit, als Revolver des vielgenannten Systems in der Armee geführt wurden, tatsächlich Sergeant gewesen war, und zwar bei der reitenden Artillerie; auch daß er sich wirklich zur Stunde des Mordes nicht in seiner Behausung befunden hatte. Vor allem aber gelang es dem Flickschneider, der inzwischen zusehends in der Achtung der teilnahmvollen Bürgerschaft stieg und von Tag zu Tag mehr Zuspruch gewann, durch eifrige Umfragen festzustellen, daß die Frau des Verhafteten schon seit Jahren bei sämtlichen Krämern und Händlern des Ortes, bei Schlachtern, Bäckern und Handwerksleuten, beträchtliche kleine Schulden gemacht und ihren Mann für sein lumpiges Ruhegehalt und seine schuftige Faullenzerei — das waren ihre eigenen Worte — einmal laut vor den Nachbarn ausgeschimpft hatte; und außerdem war sie am Tag vor dem Raubmord in der Familie des Apothekers beim Aufscheuern mitbeschäftigt gewesen, sodaß sie von dessen Bahnfahrt zur Stadt wohl irgend etwas vorausgehört und dem Werwolf hinterbracht haben konnte. Es zweifelte demnach niemand mehr, daß dieser sein kärgliches Gnadenbrot, sei es mit, sei es ohne Wissen der Frau, durch den blutigen Handstreich hatte aufbessern wollen und die geraubten Banknoten noch irgendwo verborgen hielt; geteilter Meinung war man einzig darüber, ob er den ruchlosen Entschluß aus echtem Irrsinn gefaßt haben mochte oder immer nur wieder in der Berechnung, daß sich bei standhaft geheuchelter Geistesstörung jede Schandtat ungestraft ausführen lasse.

Zur großen Befriedigung sämtlicher Wohlgesinnten schien durch die nächste Gerichtsverhandlung, die eine öffentliche war, die letztbesagte Meinung bestätigt zu werden; denn als dem Verhafteten all jene Einzelheiten seiner verdächtigen Lebensführung[S. 33] der Reihe nach vorgehalten wurden, war deutlich zu sehn, wie der handfeste Mann aus seiner gewohnten Halsstarrigkeit allmählich gleichsam herausstrauchelte und schließlich einen hilflosen Blick auf den freundlich lächelnden Staatsanwalt warf. Und als dieser den Blick — was in damaliger Zeit ganz erstaunlich an einem Staatsanwalt war — ohne Strenge erwiderte, vielmehr den erschütterten Angeklagten mit herzgewinnender Stimme fragte, ob er nicht endlich sein Gewissen erleichtern und durch ein mutiges Geständnis vor Gott und den Menschen reinigen wolle, da übermannte den Werwolf ein solches Weinen, daß die meisten Damen im Zuschauerraum, sogar auch die Witwe des Apothekers, nicht anders konnten und laut mitweinten. Das alles aber machte ihn dermaßen wirr, daß er vor fassungslosem Stammeln kein klares Wort zu entgegnen wußte, sondern nur krampfhaft, während die Tränen ihm in den zitternden Bart niederrollten, bald Ja und bald Nein aus der Kehle würgte, bald mit zerknirschten Geberden nickte, bald widerspenstig den Kopf schüttelte. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen; und also mußte er, bis sein Gewissen zum vollen Geständnis gereift sein würde, oder bis andere sichere Anzeichen für seine Schuld zutage kämen, in die Untersuchungshaft zurückgeführt werden.

Während sich nun die Bevölkerung zwar im Grunde bereits beruhigt fühlte, aber sich umso gründlicher der immer noch schwebenden Sorge annahm, ob der Gerichtshof den Verbrecher füglich zum Tode verurteilen dürfe oder blos lebenslänglich ins Irrenhaus sperren, ward der sittlichen Spannung der Gemüter durch zwei fast unglaublich widerspruchsvolle, jedoch polizeilich verbürgte Zeitungsberichte ein wahrhaft erschreckliches Ziel gesetzt. Der erste Bericht verkündigte nämlich, daß sich der Werwolf frühmorgens nach jener Verhandlung an einem abgerissenen Hemdärmelstreifen in seiner Haftzelle erhängt und auf die Kalkwand der Zelle die Worte gekritzelt[S. 34] hatte: „Ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht mehr. Gerechter Himmel, es gibt einen Gott.“ Wohingegen der zweite Bericht besagte, daß der Staatsanwalt am selben Vormittag von dem Anwalt der Apothekerswitwe einen langen Eilbrief empfangen hatte, demzufolge der Werwolf nicht der Mörder, sondern ihr Gatte ein Selbstmörder war. Und zwar wußte die schwergeprüfte Dame dies schon seit dem ersten Anblick der Leiche, da ihr zugleich von den Untersuchungsbeamten der Kavallerie-Revolver gezeigt und von ihr als Eigentum des Toten, aus seinem — wie man es damals nannte — freiwilligen Militärjahr her, an einem Rostfleck erkannt worden war. Um indessen — so legte ihr Anwalt dar — den guten Ruf des Dahingegangenen, sowohl den moralischen wie besonders den christlichen, ihrer ehelichen Pflicht gemäß nach Kräften aufrecht zu erhalten, habe sie voller Selbstverleugnung so lange wie möglich zu schweigen versucht und deshalb auch die Versicherungssumme ohne Widerspruch hingenommen, zumal ihr Anrecht nach dem Vertragswortlaut als unanfechtbar gelten könne. Da aber nunmehr ein Unschuldiger für die blutige Tat scheine büßen zu sollen, und da inzwischen auch durch die Versicherungsgesellschaft bedauerlicherweise ermittelt worden, daß der Dahingegangene sein Vermögen in Börsenspekulationen verspielt und demnach vermutlich die Ermordung nur zu dem Zweck veranstaltet habe, seine Familie vor dem Bankrott zu retten, so glaube Klientin die traurige Wahrheit nicht länger unterdrücken zu dürfen. Dieselbe gebe der Hoffnung Raum, daß, möge ihr Gatte auch schwer gefehlt haben, das allgemein menschliche Mitgefühl doch seinen furchtbaren Opfertod als genügende Sühne anerkennen und nicht noch seine Namenserben denselben entgelten lassen werde. Welcher Hoffnung dann in der Tat sowohl der freundliche Staatsanwalt wie die gemütvolle Bürgerschaft aufs offenherzigste entsprach, besonders als man noch erfuhr, daß sich die wohlgesinnte Witwe mit der Versicherungsgesellschaft[S. 35] gütlich geeinigt und ein Drittel der empfangenen Summe in aller Stille zurückgezahlt hatte.

Für den erhängten Werwolf freilich war ihr Bekenntnis leider Gottes einige Poststunden zu spät gekommen. Aber zum Glück war vorauszusehen, daß sich die Witwen der beiden Selbstmörder, da die zweite die erste gerechterweise auf Entschädigung verklagen konnte, im stillen ebenfalls gütlich einigen mußten. Auch blieb ja immerhin unentschieden, ob sich der Werwolf nicht doch vielleicht, als er an jenem Tag seine Wohnung verließ, mit der sträflichen Absicht getragen hatte, den Andern meuchlings auszurauben; und jedenfalls ließ sich gewissermaßen eine Art höherer Gerechtigkeit in dem sonst peinlichen Umstand entdecken, daß dieser auf Staatskosten lebende Heuchler, dessen schlechtes Gewissen ihm nicht einmal den ruhigen Genuß seiner Rente erlaubte, sich kurzerhand selbst gerichtet hatte. Viel erschrecklicher war dem gebildeten Teil der überraschten Bevölkerung die ungeheure Verstellungskraft, die den sanften gottgläubigen Apotheker bis zur letzten Minute befähigt hatte, den Schein des Raubmordes herzustellen und Revolver nebst Uhr noch im Todeskampf aus dem Bahnwagenfenster herauszuschleudern. Doch am allerbedenklichsten war die Ungewißheit und bot jedem gründlichen Zeitungsleser noch auf lange Zeit reichlichen Gesprächsstoff, ob der Werwolf nun doch zuguterletzt, laut seiner rätselhaften Wandinschrift, in wirklichen Irrsinn verfallen sei und sich, dem freundlichen Staatsanwalt folgend, für den Mörder gehalten habe. Den Feinden der bürgerlichen Ordnung natürlich erschien das als ausgemachte Gewißheit; ja, ein ruchloser Schriftsteller jener Zeit nannte es gradezu einen Staatsfall und ein fast noch musterhafteres Beispiel von hirnberückender Eingebung — oder, wie die gebildeten Deutschen sich damals ausdrückten, Suggestion — als das des berühmten Hauptmanns von Köpenick.

[S. 36]

Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht

Novelle aus dem Innern eines Misanthropen

Jan Goderath war sein Name; und er war stolz auf den Namen. Er hatte ihn wieder zu Ehren gebracht, als kein Mensch mehr dem alten Handelshaus traute. Und nun ging er hier durch die fremde Stadt, die ihn plötzlich an jene Leidenszeit mahnte, und konnte sich seinen Trübsinn nicht deuten; die ganze Stadt schien in Trauer versunken.

Freilich: ein Volksmann war gestorben: ein ehrlicher Mann, selbst seine Feinde mußten das zugeben. Und standhaft war er gestorben, nach qualvoller Kehlkopfkrankheit, vor der Zeit: ein Opfer seiner Beredsamkeit. Aber was ging denn ihn, den reichen Weltmann Jan Goderath, den unabhängigen Handelsherrn, der ausgediente Volksfreund an! und noch dazu ein Italiäner! Dies Volk war ihm doch eigentlich ein Greuel. Was hatte er mit einem Narren gemein, den seine Schmerzen begeistert hatten, wie andere Narren auch! Wie konnten ihn, den Menschenkenner aus Hamburg, die Trauermienen des Pöbels in dieser fremden Stadt ergreifen?

Und erst dies Genua selbst, la superba, wie diese Söhnchen glorreicher Väter ihr Marmornest noch immer nannten: was war in die bankrotten Wichte auf einmal für ein Geist gefahren? Er besah sich die Vorübergehenden; das stechende Vormittagslicht behagte ihm plötzlich. War das dieselbe träge, schamlos geschwätzige Menge, die ihn noch gestern verdrossen hatte? Alle gingen sie schleichend wie sonst, fast noch schleichender, ohne ihr zweckloses Gliedergefuchtel, und Keiner kam ihm träge vor. Der enge Corso wimmelte wie immer dicht von Menschenköpfen, durch die sich nur selten ein Fuhrwerk schob; aber die Kutscher schrieen heut nicht, jede Stimme klang verhalten, wie durch die grauen Paläste gedämpft, und die Gesichter schienen sich den stolzen Mauern anzupassen, die düster in[S. 37] den blauen Himmel grenzten. Selbst wenn ein schönes Weib vorüberkam, lief ihr kein hündischer Blick aus lüstern schwarzen Augen nach; in allen diesen Augen glomm ein traumhafter Ernst — was war das nur?!

Schon unten am Hafen war ihm aufgefallen, daß heut die Arbeit ohne Lärm und Flüche und Gelächter vor sich ging; sogar die Maultiertreiber in den Steinbrüchen schlugen weniger roh auf ihr bepacktes Viehzeug los. Doch das, nun ja, das waren Arbeitsleute; denen mochte der gestorbene Gleichheitsmensch wohl wirklich etwas bedeutet haben. Aber hier, im Innern der Stadt, was hatten diese flunkernden Kaufleute, diese Tagediebe und Weiberknechte, mit dem Mann des Volkes zu tun! Und was erst all die Fremden hier! Was gab dem dürren Franzosen dort, mit der Orangenblüte im Knopfloch, solchen feierlichen Ausdruck, daß die beiden Säulen des alten Portals, vor dem er zufällig wartete, wie sein natürlicher Rahmen wirkten, trotz seines modischen Reisehutes. Tat das der Tod?

Nein; dazu war dies Volk von Beichtkindern zu leichtherzig. Erst vorige Woche hatte er in Pisa einen hohen, weit beliebten Beamten zu Grabe bringen sehen: die ganze Stadt war auf den Beinen gewesen, sämtliche Glocken läuteten, acht Barfüßermönche trugen den Katafalk, all ihre Ordensbrüder schritten voraus und goldverbrämte violette Priester, dazwischen Jungfraun in weißen Kleidern und Kinder mit grünen Kränzen im Haar, alle mit großen brennenden Kerzen, Chorknaben sangen Litaneien, zwei Väter Jesu führten die gebrochene Witwe, die Frauen des Gefolges weinten laut — und eine Stunde später war von dem ganzen Straßenschauspiel auch nicht ein Hauch mehr zu spüren gewesen. Und die Pisaner standen doch im Ruf der Gründlichkeit, er selber hatte sich bei ihnen wohlgefühlt, es mußte da wohl vor Jahrhunderten germanisches Erobererblut in die Bevölkerung gedrungen sein.

[S. 38]

Und heut nun, hier in Genua, wo jedes wälsche Unkraut sich sonst brüstete, schon seit dem frühen Morgen diese Stille. Ihm war, als ginge er in einem Strom von Wallfahrern. Was hatte all die Menschen so seltsam in sich gekehrt? Der tote Volksmensch war doch nicht einmal mit Pomp bestattet worden. Kein Mönch noch Priester war dem schmucklosen Holzsarg vorausgezogen; sechs barhäuptige Arbeiter hatten ihn getragen, keine Träne war geflossen, und keine Glocke läutete. Oder wars etwa grade Das? War dieser ungewohnte stumme Eindruck den Schwätzern auf die Seelen gefallen? Dieser farblose Eindruck: der Zug der hundert schwarzgekleideten Männer, wie sie paarweis, alle mit bloßen Köpfen, die Hüte in der Faust, finster und wortlos hinter der Bahre hergeschritten waren, unter dem schwülblauen Himmel. Selbst einen Offizier der Kriegsmarine hatte er da die Mütze lüften sehn.

Und hatte nicht er selber, Jan Goderath, sich da sagen müssen, daß es doch Ahnen dieser Männer waren, die hier die schlichte Straße von Palästen, mit dieser strengen Wucht der Außenwände, dieser ruhigen Kühnheit innen, einst hatten bauen können! Er trat hinein in eines der machtvollen Treppenhäuser. Wenn jetzt durch diesen Säulenhof, in dem die starre Hitze brütete, ein Mann im Arbeitskittel käme, er würde den Hut vor ihm abnehmen. Was war ihm nur?! Ihn konnte doch der Eindruck von ein paar Dutzend Leidtragenden nicht aus dem Gleichgewicht bringen! Die Zeit lag doch wohl hinter ihm; er war doch über die Dreißig hinaus. Gewiß: der Eindruck war schön gewesen, schön und ernst, vielleicht auch edel. Das brauchte ihn doch aber nicht in seiner Ruhe zu stören; er hatte sie sich schwer genug verdient. Was ging denn ihn das wälsche Elend an! dem war ja doch nicht zu steuern. Was ging ihn überhaupt das Leid der Menschen an? Als ob es ohne Leid Glück geben könnte. Das blieb doch in alle Ewigkeit so.

Er trat wieder auf die Straße. Und wieder fühlte er aus[S. 39] allen Augen das stille Flimmern auf sich wirken. Oder störte ihn etwa nur das Licht, das von dem heißen Marmorpflaster prallte? Er ging hinüber in den schmalen Schattenstreifen; es war, als ginge er durch ein Gespinnst, das all die dunkeln Köpfe verband. Und keiner sah doch traurig aus. Es schwebte nur wie eine Andacht zwischen ihnen; als horchten sie auf etwas Fernes, Klares. Das konnte doch der Tod nicht machen? Das konnte doch nicht Ehrfurcht sein? Was galt denn dort dem Fuchsgesicht, was dort den beiden Professoren der Gestorbene mit seinem unklaren Zukunftstraum! Was war das für ein Zwangsgefühl, das diese ganze Stadt erfüllte? und ihn mit! Er war doch schon ganz anderer Stimmungen Herr geworden, die ihn viel näher betroffen hatten: damals, als sich sein Bruder vergiftete — der hatte auch so rührende Augen wie diese braunen Halunken hier. Ja, damals war ihm der Vater am Herzschlag gestorben, und Er allein hatte alles gerettet.

Er bog in den Platz vor dem Postgebäude; hier staute sich die Menschenmasse. Die Stimmung war noch seltsamer hier. Die grelle Hitze machte alle Mienen noch gespannter; bis unter die Arkaden des Gebäudes schien diese hohe Spannung zu schweben. Selbst der verkleidete Messerhändler, dem sonst sein kriechendes Lächeln so feil wie seine Dolche war, ging heut in seinem blaugestickten Dalmatinermantel wie ein verbannter Fürst umher. Man hörte kaum ein deutliches Wort. Jeder schien sich, wenn er sprach, auf etwas Anderes zu besinnen, etwas Vergessenes, Heimliches. Was war das nur? Hier all die Müßiggänger hatten doch den Toten nicht geliebt! Und Er, Jan Goderath senior: Liebe — fast hätte er laut losgelacht — mit dem Gefühl war er doch gründlich fertig! das hatte sein Bruder ihm abgewöhnt. Er atmete schwer auf; was lag ihm an dem kehlkopfkranken Zukunftsapostel! was an dem ganzen Gemurmel hier! Wenn er die Augen etwas schlösse, würde die Stimmung vorüber sein. Nein, selbstverständlich:[S. 40] nur noch beklemmender kam sie dadurch zu Gefühl: ihm war, als stünde er in seiner Vaterstadt, verloren wie ein Blinder, inmitten einer großen Kirchgängerschaar. Er mochte das nicht länger ausstehn. Ein Glück, daß ihn der deutsche Maler erwartete! Das Brustbild sollte heut fertig werden; so beim Modellstehn würde er sein Gleichgewicht schon wiederfinden. Er nahm die Richtung in die obere Stadt.

Denn ja, das Gleichgewicht: das war das Höchste: die starke Vernunft. Die hatte ihn gemäßigt damals, in seinem Wutanfall, als er fast seinen Bruder erschlagen hätte, den toten Schuft, der ihn mit zum Betrüger machen wollte, der Lüderjan! Ja, er war stärker als seine Liebe; er hatte die Probe bestanden. Wie kam er nur darauf, heut sein Gefühl zu befragen? War etwa das Gefühl zu schwach gewesen, wenn die Vernunft so stark war damals? Das war doch dann kein Gleichgewicht! sonst wäre doch Eintracht in seiner Seele. Ein Jahr lang war er nun gereist und glaubte alles verwunden zu haben, und ein paar hundert flüsternde Menschen konnten ihn aus der Fassung bringen? eine Heerde, die sich selbst nicht begriff! Er fuhr sich heftig über die Stirn. Nun: dank der Kunst — er mußte lächeln — jetzt war er bald heraus aus dem Geräusch. Hier schlichen nur noch Vereinzelte; wie bloße Schatten sahen sie aus; es schien sie alle etwas nach unten zu rufen.

Er stieg die breite Treppenstraße zu dem oberen Corso hinauf. Er spürte die Apenninenluft schon, trotz der sengenden Sonne. Es war doch ein Wunderwerk von Stadt, schier ebenbürtig der reichen Natur. Welche ungeheure Arbeit sprach allein aus den Grundmauern, auf denen sie rings die Bergterrassen emporklomm, aus den Hunderten von steinernen Stufen hier, den Quadern der Umwallung dort im Zickzack um den Corso, aus all den Brücken über die Felsenspalten, und oben aus dem Zug der Festungsblockwerke, der altersgrau den kahlen Höhenkamm krönte: Das war Alles Menschenwerk! — Ihm fiel die[S. 41] Inschrift ein, die er heut Morgen am Hafen unten gelesen hatte, an dem Palaste, den einst das genuesische Volk dem greisen Doria schenkte: „ut, maximo labore jam fesso corde, otio digno quiesceret.“ Er übersetzte sich das schlechte Latein: „damit er, nun sein Herz von der gewaltigen Arbeit ermüdet ist, in würdiger Muße ausruhen könne.“ Ein Schauer überlief ihn: hier rings auf all den Bergabhängen, die ihn im Halbkreis umarmten, ragte die Arbeit von Hunderttausenden.

Er wandte sich und sah hinunter auf die Stadt. Wie sich da Hohes und Niederes einte — Paläste und Straßenfluchten, die flachen Dächer und die Türme, Gärten und riesige Wohnhäusermassen — im wogenden Weißglanz des Mittags. Dort lag die Villa Negro, mit ihrem Park von Lorbeern und Myrten, Zypressen, Palmen, Zitronenbäumen, mit allen Blumen des Orients und jedem Laubholz des Nordens — so lieblich hatte sie ihm nie gedeucht. Er glaubte das Geplätscher ihrer Springbrunnen, die kleinen Wasserstürze der Grotten zu vernehmen, und ihr zu Füßen das Gewirr der Gassenschluchten, in Zirkellinien um sie her, dies Spinnennetz, dem er soeben entronnen war. Wie sich das nun zusammenschloß, Altes und Neues, unter der glutblauen Himmelsglocke! Jeder dunkle Fleck, selbst die verwitterten Kirchenkuppeln, schien ihm verklärt, bis ins Gewimmel des Hafens hinab. Wie Alles zu ihm herzustreben schien, tief her, fern her: die Menschheit unten, Leuchtturm und Schiffe, das silberweiße blendende Meer — er mußte die Augen schließen.

Ein heulender Pfiff riß sie ihm auf. Im Tal zur Linken kam ein Bahnzug aus dem Tunnel herausgedampft, der hier im Bogen unter der Stadt herumlief; er schätzte, daß er grad drüber stand. Wenn jetzt die Erde sich öffnete, würde er in den Schienenschacht stürzen, die Mauern des Corsos über ihn her. Auch unsichtbar die Arbeit von Tausenden! Vielleicht mit von den Männern, die heute den Toten getragen hatten. Wenn[S. 42] nun die Männer ihr Werk zerstören wollten? Was hinderte die Tausende? — Ein paar Dutzend Fäßchen Dynamit, planvoll den Tunnel entlang verteilt, würden die Stadt in den Hafen schleudern, samt Festung, Zuchthaus, Irrenhaus. Er hörte die wankenden Felsen schon donnern, die See auftosen und Orkane heulen. Die Dächer der Paläste bäumten sich, Kirchtürme flogen durch die Luft, die Kuppeln platzten, und die Gärten tanzten. In brandgelben Kurven schossen Marmorstatuen ins kochende Meer, Gemäldegalerieen flammten auf, Schiffstrümmer, Bibliotheken. Durch den verfinsterten Himmel, durch Qualm und Feuer und Wolken von Schutt, scholl das Geschrei zerberstender Bürgerbäuche; und oben über dem Rachegericht, auf den umrauchten Höhen des Apennins, standen die Tausende, mit heißen Augen der Märtyrer denkend, die sich da mitgeopfert hatten — standen zu neuer Zukunft bereit.

Er wischte sich den Schweiß von den Backen. Was war ihm nur! Sah er bei hellem Tag schon Gespenster, wie die Dorfschäfer hinter Hamburg? Was war das für ein Zwangsgefühl? Die Männer unten hatten doch nicht drohend ausgesehen; eher bittend; als ob sie etwas zu erringen suchten. Was hatte Er damit zu tun! er reckte sich. Ja, diese seltsam suchenden Augen; er nickte und schritt weiter, jetzt war er bald am Ziel. Merkwürdig: auch der Maler hatte manchmal diese Augen: halb bettelnd, halb fordernd, der arme Teufel. Nur daß sie grau waren, nordseegrau, wie seine eigenen Augen grau; und doch wie Hundeaugen. Ja: wie ein Schweißhund vor der Jagd: heißhungrig, scheu. Und diese schräge Verbrecherstirn! der filzbraune Spitzbart! die kurzen Beine! Der Mensch war ihm doch eigentlich widerlich. Der paßte unter dies wälsche Gesindel: halb Lazzarone, halb Genie.

Warum hatte er ihn blos ausgesucht? warum sich von ihm malen lassen? von diesem Schächer der Kunst! Wie er ihn immer anstarrte: als wollt er die Seele ihm aus dem Leibe pinseln[S. 43] — und dann wars nichts als Stückwerk. Was hatte ihn hingeführt zu dem Menschen?! Etwa daß er aus Hamburg war? aus seiner Vaterstadt? — Pah: Heimweh! lächerlich! Kinderkrankheit! — Oder daß er mit seinem Bruder befreundet gewesen? Nun, das vielleicht; er wollte sich wohl absichtlich prüfen. Denn vor zwei Jahren hatten sie Drei da oben hinter Hamburg gestanden, auf den Elbhöhen draußen, bei Sonnenuntergang, die Aussicht über den Strom zu Füßen. Der strömte so breit, als wenn das Meer schon anfinge dort. Und der Maler hatte sich abgewandt, die rauchenden Dörfer jenseits anstarrend, die in der Abendglut zu brennen schienen; denn Er, er machte in Bruderliebe, Jan Goderath senior Nachfolger — er hatte dem Schwächling noch einmal geglaubt, sie waren ja doch Ein Fleisch und Blut — zwei Tage bevor er es kennen lernte, verachten lernte, dies Fleisch und Blut, die ganze menschliche Sippschaft. Was ging ihn jetzt der Mensch noch an! Der hatte wohl gar um alles gewußt, vielleicht die Wechsel gar fälschen helfen. Nun: morgen würde er weiterreisen, ob nun das Bild heut fertig wurde oder nicht.

So trat er in das Haus hinein. Hier war es kühl, die steinerne Stiege frisch gespült; jetzt würde er gleich Ruhe haben. Wenn der Mensch ahnen könnte, wie ihn der Pöbel entzwei gemacht hatte. Ja: Gleichgewicht! die Eintracht zwischen Vernunft und Gefühl, wie zwischen zwei gleich starken Herrschern: wenn Das zu malen wäre, wenn es das gäbe, in einem einzigen Menschengesicht, in Einer Seele von Mann auf Erden: der sollte sein Freund sein! — Da stand der Spitzbart schon in der Türe; Bedientenseele! — Und der also duzte ihn — dem gab er die Hand — — sie gingen vor die Staffelei. Er trocknete sich die Stirn. „Hast du das Kinn nicht zu massig gezeichnet? Ich sehe ja aus wie Bonaparte vor Moskau.“ Der Spitzbart, grinsend: „Mit dem hast du auch manchmal Ähnlichkeit.“ Ach so! das sollte ihm wohl schmeicheln. „Ich habe mit Niemandem[S. 44] Ähnlichkeit; der korsische Dickbauch ist nicht mein Mann.“ Der Andre, kleinlaut: „Das Kinn ist gut. Laß nur die Augen erst fertig sein; es liegt tatsächlich nur an den Augen.“ — „So? Nun, dann kann man wohl anfangen.“ — „Ja.“

Er stieg auf das Trittbrett und lehnte sich an das Pfostengerüst. Der dürftige Raum war drückend warm. Vom Apennin her tönte ein Hornsignal. Sie sahen sich schweigend in die Augen; nur das Geräusch des Malens war noch hörbar. Wie ihn der Mensch wieder anstarrte jetzt! Wie er sich quälte für sein bißchen Brot! So quälten Hunderttausende sich! — Hatte er etwa Mitleid mit ihm? der Reiche mit dem Armen? Er, Goderath Nachfolger — lächerlich! — Er hatte doch damals kein Mitleid gehabt, mit seinem eigenen Bruder nicht, als der um Geld nach Amerika bettelte. Nun gar mit diesem wildfremden Stümper? — „Habt ihr euch eigentlich lieb gehabt?“ hörte er plötzlich wie fernher fragen. Was fiel dem Menschen da drüben denn ein! „Ich spei auf die Liebe!“ er schrie es fast. Warum denn nur? fragte etwas in ihm. — „Entschuldige!“ hörte er. Schweigen.

Und wieder starrten die Augen ihn an. Und wieder starrten sie nordseegrau. Und in dem Grau war etwas Flackerndes. Was war das nur? Das war ja unheimlich. Das war ja viele Meilen fern; wie ein Gespinnst zwischen ihnen, ein flimmernder Strom, und jenseits brennende Dörfer. Und über den Strom her kamen Tausende, barhäuptig, paarweis, auf ihn zu: die trugen einen Toten. Und starrten ihn an mit Menschenaugen, heißhungrig, scheu, halb bettelnd, halb fordernd. Als wäre etwas in ihm, das sie suchten: etwas Vergessenes, Fernes, Klares. Und plötzlich strahlte es auf in ihm, und strömte über, hin zu ihnen: ein Licht, ein Meer, ein Nebelglanz. „Was ist dir, Mensch?“ rief eine Stimme — er wankte, taumelte, verlor das Gleichgewicht. Und heiße Tränen machten ihn blind, und blindlings wankte er in zwei Arme, und küßte den Bart, der ihm[S. 45] soeben noch widerlich erschienen war; küßte ihn weinend wie ein Kind, und lachte, und ermannte sich. O, das war mehr als Vernunft und Gefühl! Das war doch Liebe, nicht Mitleid, nein! Das war die Liebe, leidlos ob Fleisch und Blut! die Eintracht und das Gleichgewicht! Das war die Alles beseelende Liebe.

Die Kniee zitterten ihm, er mußte sich setzen. Er fühlte den kranken Volksmann sterben, der Zukunft zu Liebe, vor der Zeit; er fühlte die Sehnsucht der Tausende leben, wie Brüder zu werden, der Freiheit zu Liebe; er fühlte die Opfer der Arbeit alle, dem Leben Aller, Aller zu Liebe. Und Er? er hatte die Menschen verachtet; er, Goderath, der Menschenkenner! — Er reichte dem Maler die Hände hin: „Ich hab mich versündigt an meinem Bruder“...

Das Gesicht

Eine halbe Stunde Seelenleben

Er saß und konnte nicht los aus diesem lastenden Bann. Immer wieder sank der über ihn, wie ein magnetischer Ring um die Stirn, und lähmte seine Hand. Seit Wochen nun schon: seitdem er wieder gesund war. Immer, wenn er malen wollte. Immer die eine, große, unerfüllte Lust: das Ziel der hundert frohen Mühen und Entwürfe: das Bild, das Bild: ihr Gesicht! — was er auch Neues vornehmen mochte.

Er hörte sie im Nebenraum hantieren, durch den Teppich hindurch. So verhalten klang es, so fremd. Und die Brandflecken auf dem Teppich: wie sie ihn quälend erinnerten! — Er fühlte seine starken Schultern zucken, ohne daß ers wehren konnte. Er sah müde und verächtlich in die Landschaft auf der Staffelei, und warf den Pinsel weg, und sah scheu nach der Wand drüben, nach dem Menschenbild da.

Da hing es und wartete, das letzte von den vielen; das sie noch gerettet hatte aus dem Brande, im letzten Augenblick,[S. 46] aus den fliegenden Flammen. Es war wie ein Alb: diese ungelöste Aufgabe, dies Gesicht.

O gewiß, es war ja fertig: war ja ein Bild: ein Bild, wie nur Er es malen konnte: dies Weib da, mit der Narzisse in den streng gefalteten Händen. Sie duftete fast, die vorgebeugte, makellose, leuchtende Blüte, mit dem purpurgelben Krönchen auf dem weißen Stern; die berauschende Blüte vor den jungen, nackten, vollen Brüsten. Und darüber ihr stumm gewährender Mund. Und darüber die blauen drohenden Augen, groß und dunkel ins Weite gerichtet. Und darüber all ihre Haarglut, schwer und goldrot wie Kupfergold, schwarzgrün umschattet vom dichten Laubwerk des alten wilden Myrtenbaumes, mit den kleinen, schimmerweiß schwellenden Knospen. Ja, seine Freunde hatten gescholten, daß er’s der Welt nicht zeigen wollte; damals.

Aber das war es ja: auch jetzt nicht! Und nie, niemals, bis er das Eine gefunden, das noch drin fehlte, Ihm nur sichtbar: das nur Er vermißte in diesen Bildern: das letzte Rätsel ihres Gesichtes: Das, warum er sie liebte.

O, und nun wars unmöglich: war es zerstört, dies stille lebendige Rätsel: von den Flammen gefressen das Geheimnis ihrer Züge, von Narben zerrissen dieser stolze Hals, diese schmiegsamen Lippen — und um seinetwillen! — Und er hatte doch gewußt, mit seiner ganzen Kraft gewußt, daß es endlich ihm glücken würde, daß er’s ihr ablauschen würde und auf die Leinwand zwingen, dies lockende Wunder. Nicht aus den Augen; nicht aus den Mundwinkeln. Da saß es nicht; in keiner Einzelheit. Auch in der Stimmung nicht; das hatte er alles versucht und getroffen. Es war ein Ausdruck, ein Ausdruck! und er war ihm so nahe gewesen: in seinem letzten Bilde, dem an der Wand da drüben, dem einzigen übrig gebliebenen. Und jetzt, jetzt —? er preßte die Finger ineinander; er hätte sie blutig drücken mögen.

[S. 47]

Und all das, weil er sie liebte; grade weil. Und weil er so stark war. Ob es wohl Strafen gab? Strafen der Kraft? aus sich selbst? — Hatte er deshalb den Fuß gebrochen? —

Ob Liebe Sünde war? Nicht überhaupt, aber für Ihn: Sünde gegen die Kunst! Übermannung! — Denn es war ja nicht gleich so gewesen; was ging ihn ihre Seele an. Aber allmählich — o aber das wars ja: das Heilige, auch für den Künstler: Das, was ihm die Augen geöffnet hatte: das Allerheiligste der Form: die bannende Seele, die Gegenseitigkeit alles Lebendigen!

Und so wars denn geworden: das Modell zum Weibe, der Leib zum Wesen, und immer gegenseitiger dem Künstler ihre Schönheit, und immer gegenseitiger dem Menschen ihr Geschlecht. Nein, er wollte es nicht. Nur mit den Augen wollt er sie haben: ihre Augen, die nachtblau dunklen, schwimmenden Blumen, ihr klares waldseestilles Gesicht — Alles! — Und doch: wie er sie dann erkannte, diese Gestalt, Blick für Blick, und Ahnung um Ahnung sicherer wurde, fester im Bilde, und alles sich ihr entgegenspannte in seinen Sinnen, und ihre Innigkeit mit seiner Sehnsucht wuchs: es war ja Natur, Natur! war das Ohnmacht?

Jener Augenblick, nach jenem letzten Bilde, als er sie am Handgelenk heranriß, noch zitternd vor schaffendem Entzücken, und ihr den neuen Ausdruck zeigte, der sie fast enträtselte: diese verlangende Keuschheit — und dann sie ansah, heiß und durstig, das Eine Letzte suchend, daß sie’s nicht aushielt länger und an ihm niederwankte, so warm und schwer, und er an ihr: o Versunkenheit! — Und dann, dann: es war zu hart, zu widersinnig hart vom Schicksal: wie er sie hochgerissen hatte mit tollen Armen, schreiend vor Lust und doppeltem Glücksgefühl, und mit ihr über den Schemel sprang: dieser tückische Knöchelbruch — über den er damals noch lachen konnte — in seiner schwelgenden Liebe — damals.

[S. 48]

Er lauschte. Was sie wohl dachte jetzt. An ihn nur. Das fühlte er. Das war das Schwere; der magnetische Ring.

Wie still sie wieder saß. Daß er sie nur nicht merken möchte, da in der kleinen Kammer, hinter dem Teppich; nichts rührte sich; so wars nun Tag für Tag. Und Abends die Angst, die heimliche Angst, mit der sie sich im Dunkeln hielt, im Halblicht, oder ihr Gesicht verhüllte, daß er es nur nicht sehen möchte; daß er sie nur vergessen möchte, ihre tote Schönheit, das Bild ihrer Seele, diese quälende Unmöglichkeit. Ja, die Angst in der Luft, das wars; das machte ihn zunichte, diese Art Liebe.

Ja, und war denn das noch Liebe? dieser lähmende Zwang! War nicht alles blos Erinnerung?!

Nicht einmal Nachts: nicht anrühren konnt er sie mehr, ohne daß es wieder vor ihm stand, das ganze furchtbar rote Schauspiel, und ihm heiß und kalt die Sinne benahm. Wie sie ihn geweckt, ihn herausgehoben hatte mit seinem kranken, dick verschienten Fuß aus dem qualmenden Bett, hinter ihr her schon die leckenden Flammen, durch die Tür und hinab die zwölf dunkeln Treppenstufen — o, sie war stark, fast so stark wie er! — und dann zurückgestürzt war und sich nicht halten ließ, wieder hinauf, um das Bild noch zu retten, das eine wenigstens, hinein in das glühende Viereck oben, mit den langen offenen Flechten, die im Feuerschein flossen wie rollende Wellen — dies Flimmern! — Und auf einmal der Schrei, dieser schrille zerreißende Schrei, und das polternde Bild, herunter zu ihm; und oben sie, groß, in entsetzlicher Pracht, mit den greifenden Armen, die roten Haare zu bläulichen Funken zerflatternd, eine sprühende Glorie! züngelnde Flügel um den keuchenden Busen! und die grauenhaft flackernden Augen! — Und Er, hilflos da unten sich krümmend! Und noch Einmal der Schrei, der heiße, tierische Schrei! und sein eigener Schrei: wie sie wieder sich dreht, eine brennende Garbe, noch Einmal hinein — daß ihn die Sinne verlassen — bis die[S. 49] Leute ihn wecken und sie neben ihm liegt, in den Teppich gewickelt, nach dem sie zurückgerannt in letzter gräßlicher Besonnenheit, um den lodernden Schmerz zu ersticken, das tapfere starke Geschöpf — seine Retterin! —

Ob sich das wohl malen ließe: feurige Flügel? Nein, Narrheit; so wenig wie der Sonnenstrahl, der da auf der Palette blitzte. Ach, das Sonnenlicht! Wie ihr Haar drin schillerte früher, so glatt und wogend; ob es wohl wiederwachsen würde? — Aber was nützte das! Ihr Gesicht, das war das Unersetzliche! die Erinnerung, die ihn zu ihr zog — nein: von ihr stieß.

Er stierte zu Boden. Wenn sie doch gestorben wäre; wirklich gestorben, nicht blos in ihm. Dann würde er zu ihr beten können, sein ganzes Leben lang; ruhig, traurig, wie als Kind zur Jungfrau Maria. Nein, Maria Magdalena wars immer gewesen; die hatte er immer im stillen gemeint, seitdem er sich heimlich die Bibel gekauft, wenn er zur Strafe hinknien und beten mußte. Magdalena, die liebreiche Sünderin.

Ach, was sollte dies Grübeln. Sie lebte ja, lebte und liebte ihn; und war gesund, gesund wie Er. O, das schöne, blühende Wort! O, ihre quälende Häßlichkeit! ihre mahnende Nähe! die Lust und der Abscheu! Ohnmacht! —

Er sah wieder auf; nach dem Teppich, nach dem Narzissenbild. Wenn er’s verkaufen würde. Ob er dann vielleicht Ruhe hätte. Wozu auch diese Versessenheit, ohne Sinn und Verstand, auf das eine einzige bißchen Seele. Wozu denn überhaupt der ganze pedantische Tiefsinn. Warum wars ihm nicht genug an dem farbigen Witz, wie den Andern; an der Lichtflunkerei, über die er sonst spottete. Es war doch so einfach: was Neues probieren! — Aber sie, sie blieb ja. Und wenn er das Bild in Stücke zerschnitte, die Erinnerung blieb, solange sie selbst blieb; und mit ihr der Zwang. Und die Erinnerung ließ sich nicht malen.

Freiheit! — Ja —: das war das Ungesunde: das war[S. 50] unsittlich: diese widernatürliche dumpfe Gemeinschaft! Knechtschaft! Leibeigenschaft!

Er starrte auf die Palette; ein Wolkenschatten wischte den Lichtstrahl aus. Wenn er ihr Schminke gäbe? — Ihn ekelte! — Und die Form bliebe ja dennoch zerstört, die Seele im Gesicht. Und ihre Scham! ihr Stolz! Dann würde sie gehen! —

Aber das wollte er doch? — Dann das Bild auf die Ausstellung; weg damit! Eine Reise; Gletschersonne! Ein, zwei Jahre würde es schon reichen, das Geld für das Bild und der Rest seiner Erbschaft; er würde blos arbeiten. Und er hatte ja genug gelernt an ihr! Er wollt es den Andern schon zeigen, warum er so lange im Stillen gesessen.

Und sie? — Sie war ja klug genug, die Professorstochter. Sie könnte ja Unterricht geben, oder Buchhalterin werden; oder er würde ihr selber was schicken. Nein, schändlich: das würde sie nicht nehmen. Und —: und wenn nun die Leute sie nicht wollten? mit ihrem entstellten Gesicht?!

O, dies Gewissen! Warum hatte er dies Gewissen! — Ja, für die Kunst, da war’s gut. Aber fürs Leben? fürs Leben brauchte man doch kein Gewissen! — Nicht weil er sie verführt hatte; nein! eher sie ihn. Oder weil sie von den Ihren geächtet war? eine Verstoßene?! und um seinetwillen! — Nein: das war ja aus ihr selbst so gekommen. Warum war sie denn wiedergekommen, noch eh er von Liebe was ahnte; und immer wieder, bis sie bleiben mußte. Das war ihr Verhängnis! Ja, ihr eignes Verhängnis: ihr Wille!

Weil sein Ernst sie lockte; was die Eltern auch sagen mochten. Weil sie seinen reinen Willen fühlte. Aber: aber war er denn rein? — Ja! bis er ihn verlor, in jenem Augenblick, den Willen zur Form. Nein, schon vorher: bis er die Seele sah. Aber das war ja die Form, die bannende Seele; was er gesucht hatte, was sie gespürt hatte, warum sie ihm vertraute, ihm, dem Künstler. Nein, auch dem Menschen! dem Menschen, der über sich stand,[S. 51] über Sich und Natur, über Seele und Leben, kraft seines formbeherrschenden Geistes! — Und doch nicht! Wars doch dieselbe Natur, die selben Sinne, der selbe Geist: die Kraft des Künstlers, des Menschen.

Ja: da hing’s: jener Augenblick, jenes Bild: seine Kunst, sein Leben: sein Wille, ihr Wille: das war alles das Selbe, das folternde, drohende Selbe! Denn sein Leben, ja, das war er ihr schuldig: ihr, seiner Retterin! Sein Leben, seine Kunst, seine Seele; seinen ganzen Beruf und Zweck in der Welt.

Er fuhr zusammen: ein neuer Wolkenschatten schlich durch die Stille. Er preßte die Augen zu. Er wollt es schon garnicht mehr sehen, das fordernde drohende Bild; er haßte es schon. Er drückte die Fäuste in die Augen; daß sie flimmerten. Er sah es nur mächtiger, in sprühendem Glanz; und sah sie, sie, wie sie jetzt war, mit dem starren gestaltlosen Mund, mit dem haarlosen Kopf, mit den Narben um Wangen und Kinn, dem blanken, striemenroten Hals. Er stöhnte laut auf, daß ihn graute: vor der hohlen, einsamen Stimme.

Da: das war doch nicht seine Stimme? Zagend, suchend kam es durch den großen Raum: „riefest du?“ weich und schwer, wie der Teppich, den er schwanken hörte.

Er sah nicht auf. Er fühlte, wie sie fragend stand. Nur nicht jetzt ihr Gesicht! Er wollte sprechen. Da kam sie.

Er wollte den Kopf schütteln; aber ihre Hand auf seiner Schulter, ihr Warten! Es war nicht möglich, es zwang ihn hoch. Er mußte sie ansehn, ansehn: das graue Morgenkleid hinauf: ihren Hals! — und — — Rot! und ein brausendes Schwarz! Seele! der Blick! ihr Gesicht! das war Übergewalt —: da stand sie, hoch, starr, erhebend: „Ich werde gehen“ — und wollte sich wenden.

Und Er — sah sie an — an — und seine Augen wurden immer weiter, daß sie nicht loskonnte — immer sehender — und seine Finger tasteten und griffen: es zu fassen, zu halten:[S. 52] das Unerkannte, Letzte, Eine: das heilige Wunder: Das, was ihn zu ihr in die Kniee riß, warum er sie umklammerte — weinend — „Offenbarung“ stammelnd —: ihre große Sittlichkeit! die Schönheit ihrer Erschütterung!

Und nun: weich — weich, schwer und leise — sank auch sie herab an ihm: Knie an Knie, kinderfromm, anders wie damals. Und er küßte die gestaltlosen Lippen, und schlang die Hände um den haarlosen Kopf, und hielt sie von sich, schauend, schauend —: Nein, das lag nicht in den Augen, nicht in den Mundwinkeln, in keiner Einzelheit: Das würde ihn zur Andacht zwingen, und wenn sie ganz verschleiert vor ihm läge: diese herrliche Hoheit, diese selige, siegende Demut.

Und er mußte es sagen, lachend, das Überflüssige: „ich liebe dich.“

Und als sie sich erhoben von den Knieen, in ihrer Klarheit, und der breite Sonnenstrahl auf der Palette blitzte, nach der Wand hinüber, nach dem Myrtenbilde: da stieg es vor ihm auf, neu und mächtig: „Weißt du, wie ich dich malen werde? — Sturm und Nacht — Fackelbrand — nur Auge und Bewegung —: Magdalena, beglückt den Gekreuzigten tragend!“

„Vom Kreuz wegtragend“ — sprach ihre Seele.

Das hölzerne Bein

Humoreske

An einem sehr warmen Frühlingsabend saßen in einem japanischen Hotel vier europäische Gäste beisammen: ein Konsul mit seiner jungen Gattin, ein ihm vom Klub her befreundeter Baron, und ein zu Studienzwecken hergereister Doktor der Naturwissenschaften, der sich über diese Freundschaft allerlei stille Gedanken machte und daher laut über etwas Anderes sprach.

„Mein verehrter Herr Doktor,“ entgegnete nun der Baron[S. 53] und schlug mit seinem Stock an sein rechtes Bein, so daß es einen harten Klang von sich gab, „ich möchte Ihre Philosophie, mit der Sie uns soeben erbaut haben, nicht auf die Feuerprobe stellen. Den Lohn, den die edle Tat in sich selbst tragen soll, den trägt doch wohl höchstens der Täter in sich selbst. Und wenn er sich keines Spiegels bedient: woraus sieht er, daß seine Tat edel war? Vielleicht war sie eitel Narretei. Der Spiegel aber mag noch so heimlich hängen, er bedeutet immer das Auge der Welt.“

Der Angeredete blickte absichtsvoll unter den Sonnenschirm seiner Nachbarin und fragte angelegentlichst: „Sind Sie auch so unfrei, gnädige Frau? Brauchen Sie immer ein fremdes Auge, um selbst zu fühlen, wie schön Sie sind?“

Die junge Frau errötete langsam, während der Baron sein schwarzgerändertes Einglas unter seine sandelholzrote Braue klemmte und mit seinen onyxschwarzen Pupillen schamlos auf ihren Gatten starrte, der statt ihrer lachend erwiderte: „Aber Doktor, Sie sind ja der reine Buddhist. Es wird Zeit, daß Sie nach Europa zurückgehn. Wenn Sie erst glücklicher Ehemann sind, werden Sie anders über die Damen denken.“

Der junge Naturforscher sagte „Nie!“ mit einer beteuernden Handbewegung. Die schöne Frau ließ ein schüchternes „Bravo“ hören.

Der Baron klopfte wieder an sein Bein, hob die juwelengeschmückte Linke, tupfte an seinen schwarzgefärbten, amerikanisch gestutzten Schnurrbart, um ein Gähnen zu unterdrücken, betastete noch sein rotes Haupthaar und versetzte kameradschaftlich: „Lieber Konsul, wozu den Doktor bekehren. Lassen wir ihm seine Lebensweisheit; wir sind beide wenig älter als er. Vielleicht ist sein männliches Selbstgefühl die naturnotwendige Vorbedingung zur Verübung edler Taten; ebenso wie das weibliche zur Begehung einer glücklichen Ehe. Ganz im Ernst, meine Gnädigste!“ Er zeigte seine weißen Zähne, die[S. 54] zu blank und zu regelmäßig waren, als daß sie hätten echt sein können.

Die Dame äußerte unbefangen: „Sie sind ein schlimmer Schmeichler, mein Freund“ — konnte aber doch nicht verhindern, daß ihr wieder eine Röte aufstieg. Ihr Gatte gab dem Baron sein Lächeln zurück: „Es kommt immer drauf an, wer den Spiegel hält!“ Und der junge Gelehrte sprach mit Selbstüberwindung: „Auch sind wir ja nicht hierhergekommen, um moralische Disputationen zu pflegen. Der Buddha dort drüben belächelt uns alle.“

Die vier so zusammen Plaudernden saßen auf der freien Terrasse des erst vor kurzem gebauten Hotels; es lag in der Nähe des Tempeldörfchens Mijama. Andere Gruppen von Reisenden saßen an den Nebentischen, unter den großen bunten Papierschirmen, die man noch immer aufgespannt hielt, obgleich die Sonne schon hinter den Bergen war. Vor der Terrasse standen in weitem Bogen die leeren Rikscha-Wägelchen, zwischen deren zwei Rädern die halbnackten Kulis lagen, als ob sie am Boden Kühlung suchten vor dem ungewöhnlich schwülen Aprilabend.

Man war von Kioto herkarriolt, um das Fest der Kirschblüte anzusehen, das am nächsten Tage hier stattfinden sollte, und zugleich den berühmten Daibutsu zu betrachten, eine riesige alte Buddha-Statue aus ehemals vergoldeter Bronce, die auf dem Tempelhügel des Dörfchens ragte. Über der Waldung von blühenden Kirschbaumhainen, die sich rings um den heiligen Ort hochbauschte, thronte der göttliche Koloß an dem bleigrauen Horizont wie aus einem schimmernden Wolkenkissen.

„Vorzüglich gelegenes Hotel“, bemerkte der Konsul mit Kennermiene; „wird sicher bald in Mode kommen.“

„Auch für Staffage ist schon gesorgt“, warf der Baron nachlässig hin und wies auf eine Schaar einheimische Pilger,[S. 55] die mit ihren großen Strohtellerhüten und schilfgeflochtenen Wettermänteln hinter den Rikschas kauerten; augenscheinlich durften sie dort übernachten.

Der Konsul lachte weltkundig, während der Doktor nicht umhin konnte, seine Nachbarin stirnrunzelnd anzuschauen. Er hatte den Ausflug vorgeschlagen, hoffte endlich diesem holden Geschöpf, das für den spaßhaft lauten Gatten offenbar viel zu zartfühlend war, im Freien etwas vertrauter zu werden, und nun ließ der Baron mit seiner Spitzfindigkeit keinen herzlichen Ton aufkommen.

Sie schob jetzt ihren Schirm beiseite, und er wollte ihr behilflich sein. Aber der Baron hatte schon einem Diener gewinkt, und der klappte hurtig das bunte Ding zusammen, ehe ein Andrer den Arm danach ausstrecken konnte. „Die Luft ist so drückend,“ erklärte sie, „wie unter einer Taucherglocke. Hoffentlich gibt es kein Gewitter morgen.“

„Gnädige lieben doch sonst den Aufruhr der Elemente“, sagte der Baron mit starren Pupillen. Sie schien etwas entgegnen zu wollen, blickte aber unsicher weg, errötete wieder und erhob sich. Der Doktor, ebenfalls aufstehend, suchte nach einem Beruhigungswort, brachte aber zu seiner Verwunderung nur heraus: „Vielleicht liegt ein Erdbeben in der Luft.“

Während der Konsul ihn lachend belehrte, daß Erdbeben in dieser Jahreszeit, was er natürlich selbst schon wußte, so selten seien wie glückliche Ehen, machte auch der Baron Anstalten, sich aus seinem Korbstuhl zu erheben. Das geschah, indem er zuerst sein rechtes Bein in einen rechten Winkel rückte, dann das linke dicht daneben setzte, den schwarzen Stock fest auf den Boden stemmte und mit einem Ruck sich emporschnellte; dabei zuckte flüchtig ein verbissener Schmerz durch sein schönes bleiches Gesicht, aber zugleich verzog er die knappen, himbeerrot geschminkten Lippen zu einem überlegenen Lächeln, das gleichsam Leidlosigkeit atmete.

[S. 56]

Es war auffällig, wie er durch dies Lächeln dem großen Buddha ähnelte, der über der ganzen Landschaft thronte. Auch hatte der Doktor verlauten hören, die Mutter des sonderbaren Herrn sei ein vornehmes Hindufräulein gewesen, eine Radschah-Tochter oder dergleichen. Doch wurde ihm dadurch nicht eben klarer, was diesen Krüppel so anziehend machte, der seine notgedrungene Künstlichkeit noch künstlicher aufzustutzen beliebte. Man wußte nicht recht, ob nur sein eines Bein oder beide nachgemacht waren; er bewegte sie gleicherweise wie ein paar feine Ersatzstücke. Und da er die rechte Hand stets behandschuht trug, selbst beim Essen und Billardspielen, mußte wohl irgend etwas auch daran nicht natürlich beschaffen sein.

Es liefen allerlei Gerüchte um, woher er so verunstaltet wäre. Manche erzählten, er habe als Jüngling ein auf der Straße spielendes Kind vor einem durchgegangenen Pferd gerettet und sei dabei selbst überfahren worden; vielleicht deshalb vorhin sein leiser Spott über den Lohn der edlen Tat. Andere sprachen von einer Tigerjagd und einem wütend gewordenen Elefanten. Seine Freunde scherzten wie er selber über diese wilden Geschichten, und der Konsul hatte einmal, wenn auch nicht in seiner Gegenwart, die schnurrige Frage aufgeworfen, was für echte Glieder wohl an ihm blieben, wenn er abends ins Bett stiege.

Zur Zeit trug er wiegesagt tiefrotes Haar und einen kurzen schwarzen Schnurrbart; vor etwa einem halben Jahr, als der Doktor ihn kennen lernte, hatte er die Farben umgekehrt getragen. Man munkelte, daß er sich wie ein Perser den Schädel kahl rasieren ließe und zwölf verschiedene Perücken benutzte, vom harten Gelbrot bis zum weichsten Schwarzrot, für jeden Monat eine andre. Sicher echt war, außer seinen Juwelen, nur der steinige Glanz seiner schwarzen Augen, der jedes Mitleid weit von sich wies, und der metallische Klang seiner Stimme, der an die schwere Verhaltenheit des deutschen Waldhorns erinnerte.

[S. 57]

„Der Buddha macht schon Nachttoilette“, sagte er plötzlich zu der Frau Konsul, nach dem Koloß am Horizont hindeutend. Der hockte auf seiner weißen Blütenwolke, wie mit einem golddurchwirkten dunklen Florhemd angetan, und sein verwittert lächelndes Antlitz schien von himmlischen Ahnungen umschimmert. „Wir wollen auch bald zur Ruhe gehn“, antwortete die schöne Frau, nur halb einen Seufzer unterdrückend, der den Doktor ebenso sehr entzückte, wie der Witz des Barons ihn verdroß.

Sie traten in die Hotelhalle und begaben sich an den Fahrstuhl, der sie ins erste Stockwerk befördern sollte. Der Baron mit der Dame nahm den Vortritt; vier hatten nicht Platz in dem schmalen Kasten. Als der Doktor neben dem Konsul nachfuhr, bemerkte dieser mit seinem üblichen Lachen: „Famoser Knabe, der Herr von Hinkebein! Gewöhnt meiner Frau die Romantik ab!“

Oben stand der Baron bereits im Begriff, sich von ihr zu verabschieden; in dem elektrischen Licht des Korridors sahen seine Augen noch verhärteter aus, und die ihren noch schmelzender. „Gute Nacht! Auf schönes Wiedersehn!“ sagte er mit der verhaltenen Stimme und zog ihre Hand an seine Lippen; sie nickte, wie schon halb im Traum.

Der Doktor wollte auch etwas Zartes sagen; aber der Baron kam ihm wieder dazwischen. „Gute Nacht, Doktor!“ intonierte er schärfer, ihm die behandschuhte Rechte hinstreckend; „und träumen Sie von edlen Taten!“ Der junge Gelehrte konnte nur spöttisch erwidern: „Leider bin ich kein Joseph, Baron!“ Und unter dem Lachen des Konsuls suchte er, etwas verstimmt, sein Zimmer auf.

Mitten in der Nacht erwachte er schreckhaft, trotzdem er sonst ein gesunder Schläfer war. Ihm hatte geträumt, die schöne Frau habe von fern um Hilfe gerufen, sodaß er aus dem Bett springen wollte; aber am Fußende stand der Baron und[S. 58] hielt ihn an beiden Beinen gepackt, um sie ihm aus dem Leibe zu ziehen.

Während er noch darüber nachsann und seine Glieder erleichtert dehnte, fühlte er unversehens ein Schwanken, als läge er in einer Kajüte. Er hielt es noch immer für Traumnachwirkung, aber da knackte und knarrte es in den Wänden, als wollte das Haus aus den Fugen gehen, und zugleich kam von der Terrasse her ein verworrenes Geschrei vieler Stimmen, sodaß er nun wirklich vom Bett aufsprang.

Also doch ein Erdbeben! dachte er mit einer gewissen Genugtuung, indem er die Beleuchtung andrehte. Er hatte noch keinem beigewohnt und war jetzt einigermaßen erstaunt, daß er von seinem Schreck nichts mehr spürte, auch nichts von der fiebrigen Unruhe, die nach den meisten Beschreibungen mit einem solchen Erlebnis verbunden sein sollte. Freilich wußte er, daß bei Neulingen die Angst am gelindesten auftreten sollte, und daß das Hotel bebensicher gebaut war; aber immerhin, er konnte zufrieden sein mit seinem wissenschaftlich gestählten Gemüt.

Er warf sich rasch in die Kleider, nahm seine Reisetasche und eilte die nächste Treppe hinab; sämtliche Korridore waren erleuchtet, und in den Dielen knackte es wieder. Die Terrasse lag jetzt menschenleer; aber im Halbdunkel bei den Rikschas schob sich ein zappliges Getümmel, Gäste und Kulis durcheinander. Nur die Pilger knieten oder kauerten abseits, laut ihre Rosenkränze abbetend und nach dem Buddha hinüberstarrend, dessen lächelndes Antlitz wie trunken glühte. In dem Tempeldorf schien ein Brand ausgebrochen; eine riesige rauchige Flammengarbe stand hellrot über den Kirschblütenwipfeln, und dumpfe Gongtöne dröhnten her.

Unberührt von alldem saß bei dem vordersten Wagen, nur mit Hut und Hemdchen bekleidet, ein kleines amerikanisches Mädchen, das mehrmals die Hand auf die Erde legte, als ob es etwas fühlen wollte. „Doesn’t move“, rief es schließlich ent[S. 59]täuscht seiner aufgeregten Mutter zu, die sich mit einem Kuli zankte. Dem Doktor fiel ein, daß er in der Eile seine Uhr oben hatte liegen lassen; zugleich aber schüttelte ihn ein Erdstoß, von dem die ganze Terrasse wankte, und durch die Hausmauer fuhr ein knirschender Riß.

Er stand noch prüfend und überlegend, ob er trotzdem zurücklaufen sollte, als zwischen mehreren flüchtenden Gästen der Konsul aus der Halle gerannt kam und ihn mit verstörtem Lachen begrüßte. Dem Doktor fiel ein, daß er in der Eile auch noch garnicht an die Andern gedacht, sie auch nirgends gesehen hatte, und aufgebracht schrie er den Lachenden an: „Aber wo ist denn Ihre Frau?!“

„Ja! Wo?“ schrie dieser, noch sinnloser lachend. „Ich habe genug an ihr Zimmer geklopft, und da sie keine Antwort gab, meint’ich natürlich, sie sei schon unten.“

„Also zurück!“ schrie der Doktor nun, warf seine Reisetasche weg und stürmte zur Treppe, wieder hinauf. Die Vorstellung, daß dies entzückende Weib, das sich gestern Abend in rührender Müdigkeit kaum noch aufrecht zu halten vermochte, vielleicht von einem plumpen Stück Wand im Schlaf verstümmelt werden könnte, empörte ihn gegen den lauen Gatten und gab seinen Schritten wilde Flügel. Atemlos stand er vor ihrem verriegelten Zimmer, klopfte, horchte — und klopfte stärker; eine tolle Freude durchzuckte ihn, daß sie den Konsul ausgesperrt hatte.

Jetzt kam auch der herangekeucht, und sie klopften Beide an der Tür, horchten, klopften und trommelten — horchten nochmals: nichts rührte sich drinnen. Auf einmal ruckte, krachte es allenthalben, und sie hörten einen erstickten Angstruf. Der Doktor packte taumelnd den Türgriff, der Konsul desgleichen: das Schloß sprang auf. Es war also garnicht verriegelt gewesen; doch Bett und Zimmer waren — leer.

Sie starrten einander verdutzt ins Gesicht, da kam eine neue Stoßwelle nach, und wieder ein unterdrückter Angstschrei. Kein[S. 60] Zweifel, das war ihre Stimme; nur kam sie von jenseits des Korridors. In diesem Augenblick fühlte der Doktor, wie sich vor Schreck seine Haare sträubten: er sah die Gesichtshaut des Konsuls lakenweiß werden, während er selbst bis über die Schlafen wie ein Junge errötete: die Stimme kam aus dem Zimmer des Barons.

Der Konsul machte eine Grimasse, blickte plötzlich wie ein Rasender um sich und stürzte nach dessen Tür hinüber; es schien, er wollte sie einschlagen. Aber sie öffnete sich bereits, und er prallte mit offenem Munde zurück. Auf der Schwelle erschien der Baron, prangend in seinem vollen Schmuck, blos das rechte Bein fehlte in der Hose; hinter ihm stand die schöne Frau, in ihrem langen Nachtgewand, die Augen von reinstem Mitleid verklärt, und hielt mit zärtlichem Entsetzen zwischen den aufgelösten Flechten sein Holzbein an ihrem verhüllten Busen.

Kerzengrad auf den Krückstock gestützt, trat er in den Korridor, ohne mit einer Miene zu zucken. „Es wimmelt ja heute von edlen Taten!“ sagte er und begann zu lächeln; „die Gnädige wollte mich auch schon retten.“

So sprechend reichte er mit starren Pupillen, während sie in schwärmerischer Verschämtheit das Bein mit ihrem Haar zudeckte, dem endlich wieder lachenden Konsul seine juwelenblitzende Linke. Und der Doktor sah im Hintergrund durch das weitgeöffnete Zimmerfenster den feuertrunken lächelnden Buddha über der Blütenwolke thronen.

Die gelbe Katze

Burleske

Nichts wirkt bestimmender als das Unbestimmte. Mit dieser Nutzanwendung pflegte mein Bruder Ernst mir seine Erlebnisse zu berichten. Jetzt ist er tot. Kurz vor seinem Ende schrieb er mir Folgendes.

[S. 61]

Wenn die Frau, für die ich meine eigne verlassen wollte, mit mir von ihrem Manne sprach, kam sie mir immer häßlich vor. Ihre bräunliche Haut wurde dann gelblich, das wilde Haar schien schwarzer und tiefer in die Stirn gewachsen, der Pechglanz ihrer Augen wurde siechend und der Ausdruck des schwungvollen Mundes hilflos. Ich nannte das ihr Dienstmädchengesicht; aber es war mir unerklärlich.

Sie beherrschte den Mann; aber das konnte sie doch nicht mehr fesseln. Sein Körper war ihr unerträglich geworden, sein spöttischer Witz nicht minder. Seine Rachsucht fürchtete sie nicht, und seine Gutmütigkeit verachtete sie. Für Freiheit schwärmte sie wie eine russische Fürstin. Warum also blieb sie noch bei ihm? —

Freilich hatte sie ein Kind von ihm. Aber das faßte sie nicht gern an, trotzdem sie es sehr lieb zu haben glaubte. Mit meinem Töchterchen spielte sie lieber und sehnte sich nach einem Sohn von mir.

Auch auf sein Geld war sie nicht angewiesen; er hätte ihr das ihre nicht vorenthalten, er war ein Ehrenmann. Daß er mich im Duell erschießen könnte, befürchtete sie ebenso wenig; ich hätte ihm zu Ehren mein Leben nicht aufs Spiel gesetzt — (hier log mein Bruder Ernst) — und ihr zu Liebe brauchte ich’s nicht, mein Dasein war ihr werter als das Urteil der Leute.

„Ist es, weil du dich vor deinen Eltern schämst?“ fragte ich sie eines Tages, während wir auf einem Ausflug waren.

„Ja, vielleicht“ — sie lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen schillerten. Dann machte sie ihr Schlangengesicht, als wollte sie das Wort verschlucken; und gleich drauf lachte sie wie eine Bachantin.

Wir gingen durch mein Lieblingsdorf, ein Krondorf aus der Zeit des großen Friedrich. Es war an einem Karfreitag. Zu Ostern wollte sie in ihre Heimat reisen; der Frühling am[S. 62] Rhein war ihr das Paradies. Wenn sie davon sprach, erschien sie mir wie die leibhaftige Jungfrau Maria; ihre nachtbraunen Augen verklärten sich.

Die Kastanienknospen standen schon ganz dick und grün; manche machten schon die Finger auf. Die Ahornblüten glänzten goldgelb durch den blauen Abend. „Daraus mach ich mir ein Feeenszepter“, sagte sie, „wenn ich mit meinem Vater durch die Berge reite.“

Ich sah sie an — „Es gibt auch böse Feeen, du“ — und wollte sie küssen. Zwischen ihre schwarzen Brauen trat ein queres zuckendes Fältchen; wie immer, wenn sie sich mir überlegen fühlte. Die üppige Nase zuckte mit. Ich küßte nicht.

Plötzlich wurden ihre Pupillen lüstern groß. „Sieh, wie unheimlich!“ flüsterte sie und zeigte über die Straße. Alle ihre Sommersprossen, selbst auf den Lippen, schienen verschwunden. Der schwellende Mund wurde dunkler. Das war ihr Hexengesicht; das sechste, das ich an ihr unterschied.

Ich ging mit ihr hinüber. Auf einem künstlichen Hügel stand ein seltsames Häuschen hinter dem Zaun. Es war stets unbewohnt, ich kannte es schon. In der hellen Dämmerung sah es noch spukhafter aus.

Zwei riesige Platanen streckten ihre noch kahlen Äste wie Leichenknochen über das flache Dach. Die Wände waren fahl und fleckig. Links wiegte ein verkrümmter Lebensbaum sein finstres Laub. Mitten aus der Vorderwand schob sich ein rundes Spitztürmchen vor, das an chinesische Hüte erinnerte; die Tür war verschlossen. Um die kleinen Bogenfenster krochen Borten aus gotischem Schnörkelwerk; die Scheiben waren so schwarz wie die Pupillen meiner Begleiterin. Zwischen der rechten Ecke des Hauses und dem Stamm der einen Platane ging die gelbrote Sonne unter.

„Hier möcht ich manchmal wohnen“, sagte die schöne Frau. In diesem Augenblick kam langsam über den Hügelrücken,[S. 63] grade wie aus der Sonne heraus, eine große gelbrote Katze und setzte sich vor die verschlossene Tür.

Das Bild verstimmte mich, so tief voll Stimmung es war. Die schwarzbraunen Augen des Viehes erinnerten mich unbestimmt an eine Kindesmörderin aus einem Wachsfigurenkabinett. Die Sonne war verschwunden; das Fell sah nun noch gelber aus, fast seidig. Sie starrte blinzelnd herunter auf uns; mich fröstelte. Ich klatschte in die Hände; sie lief weg.

Die schöne Frau war zusammengefahren und sah mich etwas unwillig an. „Ich liebe Hauskatzen nicht“, sagte ich rauh. Sie nickte stumm und nahm hingebend meinen Arm. Wir wandten uns zur Heimkehr, aber der böse Eindruck verließ mich nicht. Je zärtlicher sie mit mir sprach, umso verstimmter wurde ich. Ich schob es auf den Karfreitag. Immerfort durch unser Geflüster hörte ich Jesu Trostwort an den gekreuzigten Mörder: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.

Fast verlegen küßte ich sie zum Abschied, und sagte lachend: „Auf Wiedersehen, Magdalena.“ Sie machte ihr Jungfraungesicht.

Die Nacht drauf träumte mir — (mein Bruder Ernst hielt nämlich Träume ebenfalls für Erlebnisse) — ich sähe aus dem Fenster und schräg mir gegenüber stünde das seltsame Häuschen. In den schwarzen Scheiben glomm das Sternlicht. Plötzlich wurden sie blendend hell. Das ganze Haus stand erleuchtet bis in den löchrigen Schornstein hinauf. Fenster und Türflügel klappten auf; und aus Allem, was offen war, Luken und Löchern, vom Dach herab und von den Wänden, sprangen unzählige schwarze Katzen und stoben lautlos in die vier Winde. Zuletzt kam langsam eine große rötlich-gelbe aus der Tür, starrte blinzelnd nach mir her, und verlor sich gleichfalls in die Finsternis. Dann schloß das Haus sich ebenso lautlos und war mit Einem Schlag wieder dunkel.

Der Morgen kam. Ich saß mit meiner Frau beim Kaffee;[S. 64] wir besprachen unsre Trennung. „Wenn du mit Bestimmtheit fühlst“, sagte sie mit ihrer treuen Stimme, „daß die Andre für dein Glück geschaffener ist als ich, darf ich dich nicht halten“ — da ging die Flurglocke.

Das Dienstmädchen meldete, ein fremdes Fräulein wünsche mich zu sprechen; ich ging ins Nebenzimmer. Eine große junge Dame trat mir entgegen; ich erschrak. Sie war ganz in gelbrote Seide gekleidet, ihr schwarzes Haar bedeckte ein Strohhut mit einem Zweig von künstlichen Ahornblüten; sie hatte alle Züge der schönen Frau, nur nicht so sarazenisch, gleichsam zahmer. Ich stand sprachlos.

War sie’s doch vielleicht? Nein! Gestern war sie verreist. Und jeder Gesichtszug war mir doch fremd. Und eine Schwester hatte sie nicht.

Die Dame lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen schillerten. „Sie kennen mich wohl nicht“, fragte sie leise; ich verneinte beklommen. „Ich bin die gelbe Katze“, sagte sie schnurrig; mich fröstelte. Dann fiel mir ein: vielleicht ein Vexierscherz der schönen Frau — sie hatte Bekanntschaft in Bühnenkreisen. Die Dame blinzelte, und zwischen ihre Brauen trat ein queres Fältchen; „ich soll Sie abholen“, flüsterte sie.

Aus ihren Augen sah ein schlangenhafter Glanz, der mich bestrickte. Gleich? fragte ich. „Gleich!“ Wir gingen.

Wir gingen schweigsam die Treppen hinunter; vor der Tür stand ein Wagen. Wir fuhren durch zahllose Straßen, ebenso schweigsam; sie schien mich garnicht zu beachten. Die Straßen wurden enger, die Häuser immer höher, die Gegend mir unbekannt. Einmal nickte sie flüchtig; da sah ich eine schwarze Katze durch einen Torweg haschen. Einmal strich sie sich ihr wirres Haar mit ihrem gelben Handschuh glatt. Endlich hielt der Wagen; ich folgte ihr willenlos.

Wir gingen durch einen dumpfigen Hof, dann mehrere eiserne Stiegen empor, und durch viele halbdunkle Gänge.[S. 65] Ein wahres Labyrinth von Haus; die Luft roch modrig. Vor einer pechschwarzen Flurtür machte sie Halt und drückte auf etwas Unsichtbares. Die Tür sprang auf, ich stand geblendet. Eine stechende Lichtpracht schlug mir entgegen, wie von tausend Kronleuchtern her.

Als ich zu mir kam, stand ich in einem Saal, der unabsehbar schien; vor mir, hinter mir, nach allen Seiten Spiegelwände. Und mitten durch den Saal, der Länge nach, von allen Seiten widergespiegelt, stand eine endlose Reihe von lautlos sich drehenden schwarzgekleideten Damen und lautlos hopsenden mausegrauen Herren, wie nach dem Rhythmus einer übersinnlichen Tanzmusik.

Keine der Damen — (hieraus entnahm ich, daß mein Bruder Ernst noch immer träumte) — hatte blos Einen Herrn, die meisten zwei, manche auch drei; einige schienen ein Dutzend zu haben, falls mich die Spiegel nicht täuschten. Alle trugen sie, so lustbar sie sich drehten, einen sonderbar hilflosen Trübsinn zur Schau, fast wie Automaten; die mittelste hielt ein weinendes Kind im Arm.

Immer wenn sich eine der Damen dem einen ihrer Herren etwas tiefer hinbog, tat dieser einen besonders hohen Hops, sodaß die mausegrauen Frackschöße, die sonst bis auf den Boden schlappten, die Luft durchschwänzelten. Dann warfen ihm die andern Herren, zumal die dicken, wütende Blicke zu; aber die Dame lächelte kindlich, dann wurden selbst die dicksten wieder sanft.

Mir fing an schwindlig zu werden; ich sah mich um nach meiner gelben Führerin. Ein Schauder beschlich mich: alle ihre Sommersprossen waren verschwunden. Die Pupillen hexenhaft groß, stand sie wie die Fürstin dieses Tanzspiels da und schüttelte die bachantischen Locken. Ihr Haar war aufgegangen, der Strohhut lag am Boden. In der Rechten hatte sie den falschen Ahornblütenzweig und schwang ihn wie ein[S. 66] Szepter. Das Gesicht war dunkelbraun, die schwungvolle Nase schien verbogen. Sie nickte mir zu.

In diesem Augenblick sprang hinter ihr die Spiegeltür von neuem auf; und stumm herein, in mausegrauem Frack, die Schöße zwischen den Fingerspitzen, grad auf mich los, kam der Gatte der schönen Frau gehopst. Ich wollte schon laut herauslachen, da seh ich in der Spiegeltür, die langsam wieder zugeht, entsetzt mich selbst im mausegrauen Frack, und plötzlich fang ich auch mit zu hopsen an.

Ich ringe verzweifelt nach Stillstand. Ich werfe der schönen Frau die ernstesten Blicke zu. Vergebens. Je tiefer sie mir in die Augen blinzelt, umso höher hopse ich.

Ich suche dem Gatten näher zu kommen. Ich will ihn aufreizen, mich zu packen. Er sieht mich spöttisch an und hopst.

Ich will ihm beweisen — ich hopse. Ich will ihm zeigen — er hopst. Ich will ihn zu Boden schlagen — wir hopsen.

Ich will der schönen Frau zu Füßen stürzen. Ich will sie beschwören, gnädig zu sein. Ich will und will, und kann es nicht —: ihre braune Haut wird häßlich gelb, ihr Haar scheint mähnenhaft gesträubt und tiefer in die Stirn gewachsen, ihr Blick wird stechend, der Ausdruck des üppigen Mundes hilflos: sie hat ihr Dienstmädchengesicht.

Ich schreie schmerzhaft auf — und bin wach.

Neben mir am Bett stand meine Frau mit unserm Töchterchen und strich mir durchs Haar. „Vater“, sagte die Kleine bedächtig: „du hast so furchtbar komisch im Schlaf ausgesehn.“ Ich küßte beiden die Hände.

Seit diesem Morgen — so schloß mein Bruder Ernst sein seltsames Schreiben — ist mir die gelbe Katze nicht mehr gefährlich. Bald darauf starb er in einem Duell; er hatte der Dame Lebwohl sagen wollen, und die Wände hatten Ohren gehabt. Er starb durch die zitternde Hand des Herrn Gemahls; er, der vortreffliche Schütze. Nichts wirkt bestimmender als das Unbestimmte.

[S. 67]

Die Gottesnacht

Ein Erlebnis in Träumen

Erster Traum

Ich spürte, ich würde gleich einschlafen. Und ich wünschte es sehr nach den tristen Gedanken, die wegen der abends empfangenen Todesnachricht seit Stunden in mir rumorten. Ich sann noch über den Eigensinn nach, mit dem sich die junge Selbstmörderin die langsamste Todesart ausgesucht hatte; doch ich war schon erlöst von dem Sinn in den Worten, die durch mein müdes Gehirn schossen. Ich hörte beseligt den Drosselgesang, der aus dem Wort Erdrosselung klang, und wunderte mich über die Bilder, die sich aus jedem Satzglied entpuppten. Da stand sie auf einmal deutlich vor mir: die rätselhafte Gliederpuppe.

Wie war sie nur in mein Zimmer gekommen? Da stand sie zwischen Tür und Schrank mit ihrem wachsbleichen Gesicht wie eine Auferstandene. Die großen gläsernen goldbraunen Augen starrten mir so bekannt ins Herz, als hätten sie schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht. Und ein Schmelz war darin, als ob sie lebten; als ob sie mich liebten; fast mütterlich. Aber natürlich, das schien nur so; ich mußte mich nur recht erinnern. Denn ja, meine Mutter hatte sie ja meinen Kindern zu Weihnachten geschenkt, diese lebensgroße Gliederpuppe; und das Lächeln um die schmalen Lippen blieb immerfort so unbeweglich, wie die Falten des steifen brokatenen Mantels um ihre sanftgeschwungenen Achseln. Ja, sie war tot; tot wie die schönen phantastischen Blumen dieses alten indischen Tempelmantels, der sie bis zu den Füßen hinab verhüllte. Zwischen solchen Blumen spielte ich einst und pflückte einen Strauß davon; für ihre bleichen gefalteten Finger. Damals hatte ich sie noch angebetet. Denn sie thronte auf einem vergoldetem mit Rubinen und Perlen geschmückten[S. 68] Altar und war die Göttin der Barmherzigkeit; das war wohl viele hundert Jahre her. Warum sah sie mir nun so starr ins Herz, als ob ich sie getötet hätte? Sie hatte sich doch selbst entleibt! Ich träumte wohl?

Nein, sie hielt ja noch immer die Finger gefaltet und stand groß zwischen Tür und Schrank. Wenn ich nun mit ihr betete, ob sie sich dann vielleicht rühren würde? Denn sie war doch früher beweglich gewesen; wenn ich an ihre Gelenke rührte, dann klirrten noch die zersprungenen Drähte, bis in den hohlen Brustkorb hinein. Ich seufzte auf, da klirrten sie wieder; und ihre Arme zuckten ein wenig. Ob sie mich niemals mehr anrühren würde? mich immer blos so unverwandt ansehn? Ich spürte ein Stechen in meiner Brust, als ob aus den Drähten elektrische Funken herzuckten. Ich hörte wieder das leise Klirren; oder klang noch immer der Drosselgesang? Ich wollte beschwörend die Hände ausstrecken, aber das Stechen in meiner Brust drang mir bis in die Fingerspitzen. Ich wollte wegblicken — da blickt sie mir nach.

Ich träume ja nur! will ich mir einreden; aber sie blickt auf meine Hände. Auf den Rubinring an meiner Linken; der beginnt zu glühn wie ein Altarlämpchen. Auf den Trauring an meiner Rechten; der beginnt zu glänzen wie Tränenperlen. Und auf den Ring, den mein Vater mir schenkte, als ich noch keinem Weibe gehörte. Warum quälst du mich, Mutter? will ich stöhnen; aber ihr Blick verschließt mir den Mund. Ich will mich aufrichten; ich liege gebannt.

Ihre Augen beginnen zärtlich zu leuchten, und der Glanz der Ringe wird funkelnder. Ihre Augen funkeln begehrlich mit; der Glanz der Ringe erlischt auf einmal. Das sind nicht meiner Mutter Augen! meine Mutter blickt sanft, meine Mutter ist fromm! Das sind auch nicht mehr die goldklaren Augen, die ich einst angebetet habe, weil die Mutter meiner Kinder so blickt. Diese Augen sind schwarz, nein dunkelgrau, und kennen[S. 69] nicht Treue noch Gottesfurcht; es sind die Augen der Selbstmörderin. Warum hast du dich aber töten müssen? will ich sie fragen und höre entsetzt: du hast es doch gewollt, mein Geliebter! —

Ich will es leugnen und sehe ihr Lächeln. Vielleicht hat sie garnicht die Worte gesprochen. Oder vielleicht verstand ich den Sinn nicht; sie sprach von jeher so doppelsinnig. Doch sie läßt den Kopf so sonderbar hängen. Ach ja: ich wollte sie ja erdrosseln. Ich höre wieder den Drosselgesang; aus dem Wald meiner Heimat kommt er her. Gleich wird mein Vater zwischen den Bäumen erscheinen. Nein, es ist ferner Flötenklang. Nein, eine Geige jubelt bang. So hat mein toter Freund einst gespielt, als wir noch kindisch durchs Haidekraut liefen und hinter den Birken die Waldfee suchten. Ach, ein König der Geiger wollte er werden, und kommt jetzt gramvoll dahergeschritten im Gefolge der Königin. Am Waldrand macht der Jagdzug Halt; und wir beugen alle das Knie vor ihr.

Warum blickt sie uns so prüfend an mit ihren silbergrauen Augen? Das ist mein Freund nicht, das bin ich selbst — und die Königin Elisabeth winkt mir. Erhebe dich, Shakespear! flüstert sie; und ich fühle, wie wir uns aufrichten. Er trägt noch die schwarze Scholarentracht, worin er der Schule entlaufen ist, und einen verrückten alten Brokathut mit gelben Papageienflügeln. Denn ich weiß, wir müssen uns wahnsinnig stellen vor der treulosen Königin. Denn sie hat ihn begehrlich angeblickt, als ich gestern „Venus und Adonis“ beim Bankett der Jagdgäste deklamierte; er aber liebt ihre Kammerdame, die Augen wie eine Göttin hat, wie eine Waldfee, wie ein Reh. Das äugt in Todesangst durch die Büsche, und ich stehe und stiere es an wie ein Bluthund. O, wie gut wir uns wahnsinnig stellen können, wenn wir nichts als eine Göttin lieben und solchen verrückten Hut aufhaben! Und nun ahnt sie, wieso er Schauspieler wurde und den armen Hamlet gedichtet hat;[S. 70] und wir schwenken den Hut vor der treulosen Königin, und sie lächelt in Barmherzigkeit.

Sie lächelt immer barmherziger; es dringt uns stechend durch Brust und Gehirn. Ich will ihr den Hut vor die Füße werfen, und tue es, und stehe erstarrt: der Hut hat schwarze Drosselflügel und fliegt zurück auf meinen Kopf. Ihr Lächeln wird so grausam barmherzig, daß ich sie dafür umbringen möchte. Du hast es ja schon getan, mein Geliebter! raunt sie mir unbeweglich zu. Es ist nicht wahr! will ich aufstöhnen; doch sie läßt den Kopf so sonderbar hängen. Ist das die englische Königin noch, oder blos die indische Gliederpuppe? Wenn sie noch lange da bei der Tür steht, wird sie mich wirklich wahnsinnig machen. Warum quält sie den armen Hamlet so? sie ist doch seine leibliche Mutter! Sie hat doch Augen wie eine Gottheit und blickt mir stechend in mein Gehirn. Ob Gott überhaupt nur ein grausames Weib ist? in steter Verpuppung?! die Allmutter! — Aber sie hat ja zersprungene Drähte und läßt den Kopf so sonderbar hängen! — Ich glaube nicht mehr an Gottheiten! knirscht mein erstarrter Mund ihr entgegen. Und mit ungeheurem Triumphgefühl weiß meine Seele: ich träume nur! —

Wenn nur die Drähte nicht immerfort klirrten! das ist doch wirklich verwunderlich. Sie klirren lauter, und immer lauter; so laut wie die kleine alte Orgel in der Kirche meiner Vaterstadt. Ich lese die goldene Jahreszahl 1693 auf dem schwarzlackierten Täfelchen zwischen den elf Apostelbildern. Denn der treulose Judas fehlt natürlich; das habe ich schon als Kind begriffen. „Salvator Mundi“ steht unter dem zwölften Bild, auf klarem, himmelblauem Grund; und neben der eisenbeschlagenen Tür thront lächelnd die Mutter mit dem Kinde. Ich höre die Orgel ihr Lob anstimmen und weine vor Weihnachtsseligkeit. Die silbernen Fransen der Altardecke schwimmen in meinen perlenden Tränen. Ich spiele mit diesen schönen[S. 71] Perlen, und lächelnd sieht mir die Mutter zu. Ich bin wieder Kind auf ihrem Schooß, und wundre mich nun garnicht mehr. Ich bin blos im stillen ein bißchen erstaunt: der Apostel Thomas hat drei Hände. Zwei kleinere, die sind wohlgepflegt; aber aus seinem braunroten Mantel langt eine dritte, große, aussätzige. Die umklammert ein Buch und ist mir entsetzlich. Ich darf mich aber kein bißchen rühren, sonst würde sie nach mir herlangen. Ich starre das Buch an: ob Bücher krank werden können —

und atme plötzlich erleichtert auf: ich erkenne, es ist ja gar keine Hand: es ist nur eine Falte des Mantels, die über das Buch geschoben liegt. Ich möchte sie wegtun, ich darf aber nicht; sonst kommt der Küster und schlägt mir das Buch um die Ohren. Sie dröhnen mir schon; er schlägt immer dröhnender. Er schlägt mich wohl mit Glockenschlägen? Sie schallen mir donnernd ins Gehirn. Nein, Blitze schlagen wohl um mich ein; o Himmel, Hilfe, sie werden mich treffen! Ich will mich verstecken; o Mutter, wo bist du?! Ein blendender Strahl schließt mir die Augen; ich bin getroffen; der Strahl zerreißt mich. Ein unabsehbarer Farbenstrudel spritzt himmelansprühend aus meinem Kopf. Ich schreie vor Wonne: mein herrlich Gehirn! Und eine Stimme erwidert von oben: es ist bis über die Sterne gespritzt. Ich will ihm nach: o himmlisches Licht! Es scheint mir ins Auge; ich erwache.

Auf meinem Nachttisch brannte die Kerze noch, bei der ich, um meine Gedanken zu stillen, in Shakespears Sonetten geblättert hatte; und an der Wand zwischen Tür und Schrank blitzte der Rand des Spiegelglases über dem Bildnis meiner Mutter. Ich schlug das Buch zu und löschte die Kerze.

Ich möchte keiner Flamme bekennen,
was für Blicke in uns Menschen brennen.
Kein Spiegel wird uns je klar machen,
welche Augen in unserm Schlaf erwachen.
[S. 72]
Zwischen dunkeln Wänden ahn’ich mit Beben,
wieviel Geister hinter jedem Geist leben.
Denen kann ich nichts vorscheinen;
denen wird mich das Licht einst einen,
wo wir Alle in Schweigen schweben,
Alle im Reinen ...

Zweiter Traum

Wir gingen die Wurzeltreppe des Hügels hinab, zehn zwölf Mann; oben lag die Försterei in tiefem Schnee. Die klare Kälte machte alle stumm; der Schnee verschluckte das Geräusch der Schritte. Die Teckel hielten sich, vor Frost humpelnd, sorgsam hinter uns im festgetretenen Wege. In dem rauhen Reif der Birkenreiser fingerte die Morgensonne; die starren Nadelbärte der Kiefernschonung sträubten sich aus ihren weißen Pelzen. Es sollte ein Dachs gegraben werden. Ich weiß nicht, wieso dabei schon wieder: mir kam der liebe Gott in Sinn.

Die Hunde gaben plötzlich Laut; Rädergeklapper kam. Um die Ecke aus einem Schleifweg bog die alte Semmelfrau vom Dorf drüben her, auf ihrem Köterkarren hockend; ein schußscheuer Jagdhund zog ihn, der einem Nachbarförster aus der Art geschlagen war. Unsre Teckel, keifend, auf ihn los. Der Hochbeinige weiß nicht, was er dazu sagen soll; den Schwanz eingeklemmt, setzt er sich in Trab. Die Kleinen blaffen lustiger. Er begreift; und hussa, alle Schwänze hoch, stiebt die wilde Jagd, schneeumspritzt, bellend und belfernd den Weg hinunter, die falsche Richtung für die gute alte Frau, die schimpfend und jammernd auf dem stuckernden Wagen sitzt, mit beiden Armen ihre Semmelkiepe umklammernd. Wir, lachend, hinterdrein mit langen Sätzen; am Bahndamm unten holen wir sie endlich ein. Die Teckel drücken sich beschämt zu ihren Herren; wir lohnen die Alte ab. Und ich denke wieder an den lieben Gott.

[S. 73]

Schwitzend schreiten wir weiter. Der Schnee fängt an zu blenden und den Augen weh zu tun; die Bahnschienen flimmern. Von der andern Seite her taucht funkelnd ein Flintenlauf über den Damm, eine wohlbekannte Mütze aus Otterfell. „Der Nachbarförster“, sagt jemand scheu; Einer wird bleich wie der Schnee. Jetzt steht der Alte oben, straff, im grünen Galastaat, die nackte rote Faust auf der Krone des Hirschfängers. Sein grauer Kinnbart perlt von Eis, die große Hakennase wirft einen Schatten über die Backenfurchen bis zum Ohr; suchend brennen seine stahlblauen Augen. „Komm her!“ ruft er heiser. Der Bleichgewordene gehorcht. Nun stehn sie mitten auf dem Damm, im stechenden Licht. „Zieh den Handschuh ab!“ hör ich mit Grauen, fühlend, wie sich der Alte beherrscht. „Wo hast du den Ring?“ fragt er drohend. Keine Antwort. Der Alte zittert. Seine Finger spannen sich um den Hirschfängergriff. Ein Ruck: die Schneide blitzt. Bis zur Hälfte; hohnlachend stößt er sie zurück. Mit unsäglicher Verachtung speit er in den Schnee, zum Gehn gewendet. „Vater!“ schreie ich auf, in die Kniee stürzend. Er geht.

Ein Krampf schüttelt mich. Meine starren Augäpfel sehen mich zucken; in weiter Ferne. Sausend peitschen schwere spitze Büschel, Kiefernzacken, gegen meine Stirne. Sie verwandeln sich. Stecheichenzweige rauschen um mich her; ich sehe, wie die roten Beeren lange Kurven durch mein graues Atemnetz reißen. Aber eine weiche Hand legt mir immer wieder, schmeichelnd, ihre Finger durch die Haare. Die gepreßten Zähne lösen sich; ich glaube, ich werde ein Anderer. Der liegt zu ihren Füßen, den Kopf in ihren Schooß gedrückt. „Lebst du denn noch?“ fragt er verwundert. Sie läßt sich in den Lehnstuhl gleiten; das ferne Rot des Frühlingsabends vergoldet ihre hellbraunen Flechten. Neben ihr, auf meinem Schreibtisch, steht ein zartes venezianisches Kelchglas, purpurzart, ein Lilienkelch, golddurchrieselt, und ein meergrün schillerndes Schlänglein ringelt sich darum[S. 74] empor. Ein Stecheichenblatt starrt aus dem Kelch, und eine wachsbleiche Hyazinthe. Die hat sie mir eben gebracht; die üppige Blüte berauscht mich.

„Gieb mir den Ring!“ schmeichelt sie. „Ich kann nicht“, fleht er mühsam; und ich höre ihn mit beklommener Stimme die Geschichte des Ringes erzählen. Den hat der Urgroßvater seines Vaters, der Husarenwachtmeister, nach der Schlacht bei Torgau, für seine Tapferkeit und lange Treue, aus des alten Ziethens eigner Hand empfangen; vielleicht sogar vom großen Friedrich selbst. Er betrachtet das eingepreßte Eisenbild des Königs in dem dünnen goldenen Reifen: „und immer der Älteste erbt ihn.“ Ich höre seine Worte wie im Traum; es ist, als ob ich sie in einem Buche lese. „Gieb mir den Ring!“ schmeichelt sie. Er kämpft mit sich. „Hast du Gewissensbisse?“ flüstert sie; „Du —?“

Was! Will sie mich verspotten? Ich presse drohend meine Zähne an die Knöchel ihrer Hand. Sie nimmt sie lächelnd vom Knie, hält mir die Hyazinthe an die Lippen. Ich schlürfe den Geruch und erinnere mich; „du hast ihn ja schon“, entgegne ich und blicke auf ihre Finger nieder. „Den andern noch“, schmeichelt sie; „den Ring der Andren!“ Ihre grauen Augen werden immer bestrickender.

Ich fühle ein heftiges Zittern; am liebsten möcht ich sie wieder erwürgen. Dann könnte ich wieder der Andren treu sein, die meine Kinder geboren hat. Meine Blicke heften sich herzverwirrt auf den Rubin an meiner Linken; er perlt wie Blut aus einer frischen Wunde. „Gewissen ist der Spuk des toten Gottes“, spricht sie auf einmal meine Gedanken aus, mir ins Ohr. Ich weiß nicht, ob sie es höhnisch meint. Ich wills ihr erklären; sie erhebt sich. „Du bist zu gut,“ haucht sie gespenstisch — „nur gute Menschen haben ein schlechtes Gewissen; — ich hatte nie eins“ — und streift mir den Ring ab. Ich will es ihr wehren; sie entschwebt. Ich will ihr[S. 75] nachstürzen, vergebens; meine Kniee winden sich gebannt am Boden. Ich suche das Wort, das mich frei macht.

Ich stammle Verse, lange flehende Zeilen; sie verliert sich immer ferner in die Nacht. Ich sehe sie geisterbleich verschwinden; nur der Rubin glüht noch wie Blut im Mondlicht. Nein, wie ein Wundmal; der tote Freund! mit seiner Geige schwebt er herbei. Zu meinen Versen beginnt er zu spielen: ferne flehende Töne: von einer Seele, die ihm untreu ward. Die runde Wunde seiner Stirne tut sich auf; Blutstropfen perlen aus der kleinen Öffnung, bei jedem Bogenstrich, die bleiche Schläfe nieder, in den Schnee. Immer näher schwebt die rote Spur; die geschlossenen Augenlider zucken, bleicher als sein Sterbehemd, und ich suche das Wort, das Wort — in unsrer Kindheit wußten wir’s.

Er schlägt die Augen auf, der Geigenbogen stockt, ein Schrecken schlägt mich: das sind nicht seine Augen! das ist die „Andre“! — Meine Blicke erlahmen, mein Mund versagt; meine Finger krümmen sich, ihr Gewand zu betasten — hilf mir! das Wort! — Sie weist auf meinen starren Körper: lange Ketten Verse, wie Spruchbänder, umschnüren meine gezerrte Kehle. Ich lese und lese, mir graut:

Schwere Ringe ... wirb ... ich werbe ...
leere Schlinge ... deine Meinung —
dunkle Kammer ... uralt Erbe ...
Irrtum ... Jammer ... wird Erscheinung —

Wer sprengt die Ketten?! Die Tür springt auf. Lichtschein wie Nadelstiche prallt mir entgegen. Auf der Schwelle steht meine Mutter; mit unsäglichem Kummer blickt sie mich an. Meine Arme mühn sich nach ihr; vergebens. „Sünde an der Mutter deiner Kinder?!“ ringt es sich von ihren Lippen. Mutter! will ich sie anflehn; sie wehrt mir. „Das ist Sünde an Gott!“ flüstert sie weiter. Gott! ringt sich’s von meinen Lippen, laut, das Wort... ich bin wach.

[S. 76]

Durch die dunkle Stube lag ein schmaler Streifen Mondlicht grell bis auf mein Bett; er zuckte. Ich sah zum Fenster; da war kein Spalt. Ich wandte den Blick ab; der Streifen glitt mit. Ich weiß nicht, was für ein Licht so zuckte.

Wenn dich zwischen Schlaf und Schlaf
um Mitternacht
dein rasend klopfendes Herz
aus deinen Träumen jagt
— furchtsam stockt dein Atem —
und sich durch dein finstres Zimmer
weiße Schatten vor dir flüchten:
kennst du dieses Grauen? —
Wenn dann aus dem toten Raum
mit starren Augen
ein geliebtes Gesicht
lautlos dir entgegenscheint
und leben möchte:
kennst du dieses Grauen? —
Mit eignen Händen
willst du nach dir greifen
und dich erwürgen
für eine Schuld ...

Dritter Traum

Ich habe sie doch vielleicht umgebracht. Warum sollte es auch unmöglich sein? Ich habe doch einst sogar ein Kind umgebracht, ein kleines, hübsches, unschuldiges Kind. Und damals glaubte ich doch sogar noch an Gott, an die Hölle und ans Jüngste Gericht. Damals war ich ein schwedischer Kürassier, bei den sakrischen deutschen Protestanten, und wir brandschatzten ein katholisches Pfarrdorf. Ah, ich fühle wieder die himmlische Mordlust, wie sich die Bauernweiber wehrten, die[S. 77] wir ins Spinnhaus eingesperrt hatten. Und da spießte ich einfach der Ungeberdigsten das schreiende Kind aus den Armen weg und schmiß es im Bogen in den Dorfteich. Ich sehe noch deutlich die kleine Hand, die aus dem sumpfigen Wasser herausstak, als wir nachher von den Weibern kamen; ganz mit geronnenem Blut bedeckt, so stak sie zwischen den Binsen heraus, wie eine dicke rote Tulpe. Ich habe aber kein Grauen davor; es weiß ja keiner mehr, daß ich es tat. Ich darf mich nur nicht selber verraten, wenn sie mich doch vielleicht vor Gericht stellen.

Wenn ich mich blos erinnern könnte, welche von Beiden ich umgebracht habe. Doch nicht die Mutter meiner Kinder? Die hat mir ja immer alles verziehen. Aber die Andre hat sich ja selbst umgebracht; deren Hand kann doch nicht gegen mich zeugen. Jedenfalls muß ich zu der Beerdigung gehen; sonst könnten die Leute Verdacht auf mich werfen. Und ich muß ihr einen Strauß auf den Sarg legen, einen großen schweren Tulpenstrauß, damit sie die Hand nicht herausstecken kann. Aber weiße Tulpen müssen es sein; die roten riechen auf einmal so stark, es ist der reine Leichengeruch. Warum sieht mich der Blumenhändler so an? mit richtigen Totengräberaugen! — Ich will auch weiße Tulpen nicht! die sehen noch leichenhafter aus! — Er lacht; ich verlasse eilig den Laden.

Auf der Straße ist so bleiches Licht, wie ich noch niemals erlebt habe. Ich kann mich kaum schleppen in diesem Licht, so weltschwer hängt es um meinen Kopf. Es geht auch kein Mensch auf der bleichen Straße, und die Häuser sind wie aus Schatten gebaut. Wenn ich nicht wüßte, wo ich bin, könnte ich an ein Geisterland glauben. Aber es macht mich schwach, dieses Licht; es ist, als ob es mich auspressen möchte. Und ich will und will mich nicht schwach machen lassen; keine Seele der Welt darf in meine Seele. Dann muß ich mich aber bei Kräften halten, mein Körper ist schon wie ausgehöhlt. Ach ja, ich werde wohl Hunger haben; ich habe ja heute noch nichts gegessen.

[S. 78]

Ich mache ein harmloses Gesicht und trete in einen Schlachterladen. Die Schlachtersfrau blickt mich fragend an — ganz still und fragend — was blickt sie nur! — „Geben Sie mir dies kleine Stück Fleischwurst!“ sage ich langsam mit ruhiger Stimme, als ob ich gar keinen Hunger hätte. Sie blickt mich wieder wortlos an und legt das Stück Wurst auf ein weißes Papier, reicht es mir über den Ladentisch. Ich will es nehmen und kann mich nicht rühren: ich erkenne auf einmal, es ist keine Wurst: es ist eine kleine Kinderhand, ganz mit geronnenem Blut überzogen. Ich starre der Frau verstört in die Augen: es sind die Augen des Bauernweibes, dem ich vor Zeiten Gewalt antat. Ich fasse mich endlich und tappe hinaus; hinter mir her tönt ein dumpfes Lachen.

Ich tappe mich wie durch Nebel weiter und komme an eine Frühstückshalle. Da sitzen wohl hundert essende Menschen hinter der großen Fensterscheibe; da wird mich wohl keiner beobachten. Ich setze mich ganz in den Schatten hinten und bestelle irgend ein rasches Gericht. Es ist so laut in dem halbdunkeln Raum, daß ich kaum meine eignen Worte verstehe. Das Schenkmädchen bringt mir frischen Hummer und wünscht mir freundlich guten Appetit. Es freut mich auch wirklich, wie gut er riecht; aber was steht sie und wartet noch! Ich darf mir aber nichts anmerken lassen; vielleicht will sie blos ihr Geld bald haben. Ich bezahle; sie bleibt noch immer stehen. Es wird mir schwer, sie nicht anzuschreien; aber ich nicke ihr ruhig zu und greife rasch nach dem Hummerteller. Ich will mir sacht eine Schere abbrechen; aber was ist das, was ist das nur?! Ich fühle mich bis in die Lippen erbleichen: es ist eine kleine rote Hand, und ein Leichengeruch schlägt mir entgegen. Und alle Menschen blicken mich an, wohl hundert menschliche Augenpaare blicken mich unabwendbar an. Und alle sitzen so still wie Geister; kein Laut ist mehr in dem halbdunkeln Raum. Ich taste mich mühsam zur Tür und ins Freie; ein brausendes Lachen schallt mir nach.

[S. 79]

Wo kann ich nur etwas zu essen bekommen! Wenn ich noch lange so schweigsam herumgehe, werde ich ohnmächtig vor Hunger. Es ist nicht, weil mein Geheimnis mich würgt; nur, es stachelt mich immer stärker, mir die herrlichsten Speisen auszumalen. Halt, ich werde mal wieder den Maler besuchen, der immer so köstliche Späße macht; der wird mich auf andre Gedanken bringen. Ich sehe, er malt an einem Fruchtstück; eine große goldgelbe Ananas steht auf der malachitgrünen Schüssel, ein paar rote Tomaten liegen daneben. „Darf ich mir eine Tomate nehmen?“ frage ich ihn ganz unbefangen; „Tomaten sind mein Leibgericht.“ Er malt schweigend weiter; was schweigt er nur? — „Machen Sie doch nicht solche Späße!“ stammle ich plötzlich und sehe entsetzt: er malt eine rote Kinderhand. „Lachen Sie nicht!“ beherrsche ich mich; „Tomaten sind wirklich mein Leibgericht!“ — Er lacht aber garnicht, er lächelt nur — er blickt mir nur sonderbar in die Augen und sagt mit teilnahmvoller Stimme: „Sie haben sich wohl in der Tür geirrt, die Tür zum Gerichtssaal ist nebenan.“

Ich bin einen Augenblick wie im Traum; ich fühle nur wieder wie durch Nebel, daß der Maler sanft den Arm um mich legt und meine tappenden Schritte leitet und die Tür des Saales hinter mir schließt. Ich möchte aufwachen aus diesem Traum; ich glaube mich doch genau zu erinnern, daß ich in Wirklichkeit Niemand umgebracht habe, weder die Eine noch die Andre; aber ist das auch wirklich die Wirklichkeit? Ich bin ja schon öfters im Traum erwacht, und dann wars trotzdem nur wieder geträumt. Ich will mich lieber zusammennehmen, daß ich nichts von meinem Geheimnis verrate; mit keinem Wörtchen, mit keiner Miene. Ich sehe mir meine Richter an.

Ob ich vor einem Vehmgericht stehe? Regungslos sitzen sie mir gegenüber, elf schwarzvermummte stille Gestalten, mit Augenlöchern in den Kapuzen. Es funkeln aber nicht Augen[S. 80] darin; es schauen mich aus den schwarzen Masken nur lauter noch schwärzere Löcher an. Ob es vielleicht lauter Schatten sind, die in den hohlen Gewändern sitzen? Ob es vielleicht doch Geister gibt? Denn in der Mitte sitzt Einer ohne Maske, mit geschlossenen Augen wie ein Toter, mit silberweißem Haupthaar und Bart, und mit ewig gebieterischer Stirn; vor dieser Stirn hat mir oftmals gebangt. Ich weiß nicht, ists meines Vaters Stirn? Ich weiß nicht, ists eines Gottes Stirn? Wenn lauter Geister da vor mir sind, muß dann nicht auch ein Obergeist sein?! Könnte ich nur seine Augen sehn! Vielleicht sind es doch meines Vaters Augen; meines Vaters herrliche stahlblaue Augen, die mich oftmals so hart und zornig anstrahlten, und doch so glutweich im hellsten Zorn, und dann so spöttisch verzeihungswarm. Aber er sitzt da so starr und kalt jetzt, als werde er die geschlossenen Augen nie wieder zu seinem Sohn hin öffnen; es sei denn, ich öffne ihm mein Gewissen. Sie sitzen alle so starr und kalt, als wollten sie ewig darauf warten. Ich fühle, ich muß wohl endlich sprechen.

Meine Herren Richter! beginne ich unverzagt: ich habe wirklich ein reines Gewissen. Denn gesetzt auch, ich hätte sie umgebracht, so hatten doch beide sich selbst umgebracht. Denn die Eine, die wirklich sich selbst umgebracht hat, die hat sich auch selbst dazu gebracht. Denn da sie kein Gewissen gehabt hat, so hat sie mir mein Gewissen genommen und hat es dann nicht ertragen können. Denn die Andre, der mein Gewissen gehörte, und die mir drum immer alles verzieh — denn sonst hätte ich mir’s nicht wegnehmen lassen —: die hat das nicht länger verzeihen können. Denn da ich kein Gewissen mehr hatte, und wenn sie deswegen — was ich nicht weiß — vor Gram zu Grunde gegangen ist, so ist auch sie im Grunde von selbst und an sich selbst zu Grunde gegangen. Denn wenn ich es auch gewollt haben sollte, so hat es, meine Herren Richter, doch im Grunde ein Anderer gewollt. Denn wenn ich jetzt hier vor Ihnen stehe[S. 81] — und wenn, wie ich sehe, mein Vater jetzt Gott ist — so bin ich im Grunde der Sohn meines Vaters, und mein Wille ist Gottes Wille gewesen. Wenn also ich, meine Herren Richter — nein, nicht ich, wenn ich Gottes Sohn bin —: wenn also Gott, meine Herren Richter, Eine von Beiden umgebracht hat — nein, die Andre — nein, Beide — nein, alle Andern — —

Ich stocke plötzlich und kann nur noch stottern; ich merke, ich habe mich verwirrt. Ich suche im Blick meiner Richter zu lesen und sehe nur lauter schwarze Löcher. Ich blicke hilflos den Einen an, der herrlich in ihrer Mitte sitzt, und erbange vor seiner klaren Stirn; mich befällt auf einmal dumpf ein Erinnern, als ob ich seit unvordenklichen Zeiten unzählige Seelen umgebracht habe. Und da endlich tut Gott mir die Augen auf: meines Vaters strahlende blaue Augen tut er aus ewiger Ruhe auf und fragt meine Seele: „bekennst du dich schuldig?“ — Ich höre mein Herz in seiner Stimme und sehe mein Leben in seinen Augen. Ich weiß, ich brauche nur Nein zu sagen, dann bin ich auf ewig freigesprochen. Ich fühle das Nein schon auf den Lippen; ich brauche nur den Mund aufzutun, dann bin ich von all der Mühsal erlöst. Und ich tue ihn auf und — sage „ja“.

Ein Schrecken befällt mich wie ein Schlag. Ich fühle betäubt mein Bewußtsein schwinden; mir ist, ich stürze endlos hinab, durch dunkle, bodenlose Räume. Oder stürze ich endlos empor? Ich höre von oben her singende Stimmen; sind’s Menschenstimmen? sind’s Geisterstimmen? Sie singen mich wieder zur Besinnung — von fern her singen zwei Frauenstimmen —: Von wannen, von wannen? — von wannen dein Träumen! — befreie dich, Seele — von Zeiten, von Räumen! — sie verklingen. Ich schlage mühsam die Augen auf; ich sehe mich durch ein Bogentor schreiten.

Es ist noch immer so weltschweres Licht, wie ich noch niemals erlebt habe; ein totengelbes Abendlicht. Nur vor mir[S. 82] her, da schreitet ein Mann in richterlichem schwarzem Talar, auf dessen Schritte ich horchen muß, dann wird das schwere Licht mir leichter. Sie tönen mir seltsam vertraut, diese Schritte; ich muß sie schon öfters vernommen haben und ihnen so Schritt für Schritt gefolgt sein, wie ich jetzt ihnen Schritt zu halten suche unter der dröhnenden Bogenhalle. Ist es mein Vater? mein Herz sagt nein. Und da höre ich hinter mir noch solche Schritte; nur ungewissere, haltlosere. Ich wende mich und stehe erstaunt; und auch der Mann vor mir wendet sich. Ich sehe, hinter mir geht der Jüngling, der ich vor Jahren gewesen bin; ich sehe, vor mir steht der Mann, der ich in Zukunft sein werde. Er winkt mir kurz, und es weht sein Talar, und wir schreiten im Gleichschritt zum Tor hinaus. Und es weht sein Talar, und mit lautlosem Schritt schreitet der Mann aus sich selbst heraus und entschwindet meinem gebannten Blick. Denn mein Blick hängt an einem väterlichen, ewig gebieterischen Greis, der an Stelle Jenes verblieben ist, und der mir weiterzufolgen winkt. So kommen wir an ein Hafenwasser.

Wohl unabsehbar dehnt sich das Wasser unter dem totengelben Himmel. Viele große Schiffe lagern darauf, mit hohen reichbewimpelten Masten; aber das Gelbe lastet so nachtschwer, daß keine Farben mehr dämmern können. Alles, die Schiffe, die Wimpel, das Wasser, scheint alles so schwarz aus Schatten geschaffen wie der Talar meines greisen Führers; nur sein weißes Haar schimmert silbern im Zwielicht. Was sind das für Schiffe? frage ich zweifelnd. „Wirkliche Schiffe“ — entgegnet er tonlos und weist auf ein Dock am westlichen Himmel. Kein Laut von Arbeit kommt aus den Werften her; der ganze Hafen scheint ausgestorben. Die schwarzen Stützpfosten um die Hellingen ragen starr am Horizont entlang wie ein auferstandener kahler Hain von ursintflutlichen Riesenstauden. Nur aus dem westlichen Saum des Haines taucht klumpenhaft etwas Graues hoch und regt sich in der[S. 83] schweren Stille; es regt sich wie das felsengraue, urschwere Haupt eines Elefanten. Ists eines spukhaften Götzen Haupt? ists eines Gottes heiliger Scheitel? Mein Führer aber winkt mir zu schauen.

Und was wie ein Haupt war, beginnt zu erglänzen, und entsteigt dem schwarz aufstarrenden Hain, und ist ein großer glanzvoller Mond. Er glänzt nicht so fahl wie ein nächtlicher Mond, er glänzt nicht so grell wie die tägliche Sonne; er glänzt wie ein Tautropfen in der Frühe, und alle Farben klären sich auf. Und nun wendet mein Führer sein greises Antlitz blauäugig nach dem östlichen Himmel, und mit langsam gebieterischer Hand entwinkt er der verklärten Nacht einen zweiten solchen glanzvollen Mond. „Wisse, du sollst an Geistermacht glauben“ — haucht er mir in mein schauerndes Herz und entschwebt dem einen der Monde zu. Bin ich erblindet von seinem Anhauch? ich sehe auf einmal nur lauter Licht. Ich fühle nur blindlings ein leuchtendes Schweben ins grenzenlose Blaue hinein. Ich ahne dunkel, ich selbst bin der Greis; er ist wohl dem andern Mond zugeschwebt? Ich schwebe mit ausgebreiteten Armen und raumentrückten Augen gleich ihm.

Das Leuchten wird immer feuriger; ich atme entzückt die zarte Glut. Ich höre von oben her singende Stimmen, zweistimmig aus unsichtbarer Ferne. Sind’s wieder die Seelen der Geistinnen beide? erwarten sie mich auf den strahlenden Monden? Sie singen mich weiter und weiter hinauf: Ins Weite, Seele — von wannen dein Träumen! — erwache ins Freie — von Zeiten, von Räumen! — sie nahen mir. Sie nahen wie schüchterne Lüfte so lind; sie küssen mir meine entbreiteten Hände. In meinen Handflächen ruhn ihre Lippen, mein Herzblut strömt ihren Küssen zu. Sie küssen immer herzinniger, und andere Geistinnen singen von oben. Wollen Sie mir mein Leben ausküssen? „befreie dich, Seele“, singen sie. Leben sie nur, wenn Ich sie belebe? „erwache, Seele“, ver[S. 84]klingen sie. Ich raffe all meine Herzkraft zusammen; ein leeres Grausen stöhnt aus mir auf. Ich will mich den tötlichen Küssen entwinden; wie ein Gekreuzigter schwebe ich machtlos. Ich krümme mit letzter Gewalt meine Finger, und während ein herzzerreißender Klageschrei mir die glanzgebadeten Augen aufreißt, höre ich, daß es mein eigener Schrei ist, von dem ich unter Tränen erwacht bin.

Ich lag wirklich wie ein Gekreuzigter da, mit ausgebreiteten Armen im Dunkeln, die Handflächen über den Bettrand gestreckt, rechts und links in die schwarze Luft. Ich schob meine halb erstarrten Glieder langsam in eine andere Lage und machte die Augen wieder zu; die ruhige Finsternis tat mir wohl nach der tollen Seelenfeuersbrunst. Ich nahm mir vor: wenn ich wieder so träumte, sofort an meinen Körper zu denken.

Befreie dich, Seele,
von Zeiten, von Räumen,
erwache ins Weite,
von wannen dein Träumen;
von wannen, von wannen? —
Von Räumen, von Zeiten,
die ewig bleiben,
erwache, Seele,
du kannst sie vertreiben,
von dannen, von dannen,
ins Weite all dein Träumen bannen! —

Vierter Traum

Aber ich muß doch zu ihrer Beerdigung gehen. Oder wenigstens ihre Gräber besuchen. Denn beerdigt sind sie wohl nun schon lange; ich war ja bei ihrer Feuerbestattung. Könnte ich nur die richtige Grabkammer finden! ich muß mich hier unten[S. 85] verlaufen haben. Wo mag das Urnengewölbe denn sein! hier sind ja nur lauter Schädelkammern. Und die Gänge dazwischen so schlecht beleuchtet, daß man jeden Sinn für Richtung verliert. Wenn ich zurück auf den oberen Friedhof komme, werde ich den Verwaltungsrat anregen, bessere Wegweiser einzurichten. Aber wie komme ich endlich hinauf! Ich erinnere mich, gelesen zu haben, es sollen schon Leute umgekommen sein in diesen verwirrenden Katakomben.

Woher nur das Licht in den Schädelkammern kommt? Es ist nicht elektrisch angelegt; es wird wohl eine Art Oberlicht sein. Darum flimmern wohl auch die Gänge dazwischen so unterirdisch dumpf und trüb. Ich werde jetzt nicht mehr nach rechts noch links blicken, sondern immer den Gang gradaus verfolgen, nach der sonderbar hellen Öffnung da vorn. Sie steht wie ein weißes Rechteck im Düstern; da muß eine Tür ins Freie sein. Sie scheint auch allmählich noch heller zu werden; beinahe blendet sie mich schon. Das Weiße kann aber kein Luftweiß sein; es steht wie aus Stein so unbewegt. Es grenzt sich so grell ab, ich muß meine Augen schließen. Ich gehe aber doch grad drauflos; ich spüre, wie ich hindurchschreite. Es atmet sich auf einmal viel leichter; es muß also doch eine Luftöffnung sein. Ich schlage die Augen auf und sehe: hoch über mir blaut der freie Himmel.

Ich seh es und seh es: hoch über mir — und über vier hohen weißblanken Mauern, die senkrecht um mich emporsteigen. Soll ich denn wirklich nie wieder herausfinden aus diesem sinnlosen Labyrinth? Ich will aber nicht die Fassung verlieren. Ich weiß ja seit lange aus Erfahrung: ich muß nur an meinen Körper denken, dann kommt auch die Seele wieder zu Sinnen. Ich werde mir also den Raum erst betrachten, ob er nicht doch eine Auffahrt hat. Er hat vier glatte kristallblanke Wände, aus lauter quadratischen Feldern gebildet. In der Mitte jedes Feldes ein Goldstern, entzückend in den Kristall eingeschliffen;[S. 86] aber nirgends ein Halt, um hinaufzukommen. Es ist ein weiter leerer Saal; es scheint nichts als eine Art Luftschacht zu sein. Aber sieh, er hat ja noch eine Tür: grad gegenüber der andern Tür, durch die ich hereingekommen bin. Und da ist ja ein Handgriff an der Kante, in den eine Schnur aus den Gängen her mündet; das soll gewiß eine Richtschnur sein. Ich fasse die Schnur, um weiterzugehen, mit einem letzten Blick zurück.

Aber was ist das? bin ich denn wirklich von Sinnen? Auch an der andern Tür drüben ist solch ein Handgriff, in den eine solche Richtschnur mündet. Die muß ich vorhin in den halbdunkeln Gängen beim Suchen übersehen haben. Aber die Türen sind völlig gleichgeformt, und ich habe mich in dem leeren Saal fortwährend um mich selbst gedreht; durch welche Tür bin ich nun gekommen? — Ich betaste die Schnur und betaste mich selbst; es ist alles vollkommen körperlich. Ich kann also ruhig weitergehn; wenn ich vorsichtig suche, wird sich schon zeigen, ob es die richtige Richtung ist. Ich taste mich immer die Schnur entlang, von Zeit zu Zeit einen Handgriff streifend; ich komme wieder an lauter Schädelkammern. Hier sieht das Licht aber bleicher aus; und der Gang scheint allmählich tiefer zu sinken. Dies Licht kann nicht von oben her kommen; es scheint aus dem Erdinnern aufgefangen. Die Schädel gleißen alle so weißblank wie die Kristallquadrate des leeren Saales vorhin, und doch ist ringsherum tiefer Schatten. Und in all diesen Schädeln haben einst Welten gespukt — mit Goldsternen drin und blauen Himmeln — und vielleicht auch mit einem ewigen Gott; ich fühle eine irrsinnige Lust, in diesen Schädeln nach Gott zu suchen. Ich lasse aber die Schnur nicht los; ich will nicht wieder die Richtung verlieren.

Jetzt kommen auch Kammern mit Tierschädeln; sie schimmern ebenso erdinnerlich. Was regt sich da auf einmal im Schatten? Ist es denn möglich, mein alter Getreuer?! Komm her, mein Teckel, was suchst du denn! Was blickst du mich so[S. 87] innerlich an? Jawohl, ich habe dich umgebracht; aber was hast du auch immer geknurrt, wenn die tote Dame mich küssen wollte! Da hab ich dich doch vergiften müssen! — Er blickt mich nur immer seelenvoll an, mit demselben Blick noch, den er mir zuwarf, als er im Todeskampf vor mir lag; ganz ohne Vorwurf, ganz treu ergeben. Aber was will er denn noch, er lebt doch noch! Er will mich wohl in die Kammern locken? Ich nehme die Richtschnur fester zur Hand und erinnere mich an meinen Körper; ich werde einfach weiterschreiten, der Hund ist gewiß nichts als ein Spuk.

Nein, er folgt mir; ich höre ihn hinter mir. Ich bleibe stehen; da steht er auch still. Ich drehe mich um; da legt er sich. Ich locke ihn nochmals; er rührt sich nicht. Er blickt mich nur immer inständig an mit seinen unendlich treuen Augen; und, kaum beginne ich wieder zu schreiten, folgt er mir wieder Schritt für Schritt. Ich höre seine leisen Zehen; ich spüre, wie sein Blick an mir hängt. Ganz ohne Rachsucht, ganz voller Liebe; als ob der liebe Gott mir folgt. Wie dieser Gottblick mich hinterrücks martert! Wenn er noch lange so anhänglich bleibt, bringe ich ihn zum zweiten Mal um! Aber ich darf doch die Richtschnur nicht loslassen; ich komme sonst schließlich selbst noch um, in diesem wahnwitzigen Labyrinth. Halt: schimmert da vorn nicht wieder ein Lichtloch? das ist wohl endlich die Urnenhalle. Jawohl, das Viereck wird immer heller; und die Schnur scheint grad draufhin zu leiten. Wenn ich nur rascher vorwärts käme; wie Grabeslast ist der Blick hinter mir! Ich zwinge meine Füße zu rennen. Ich keuche der leuchtenden Halle entgegen. Ich achte nicht den Schmerz meiner Augen. Ich taumle fast in dem blendenden Viereck; hindurch! und pralle entsetzt zurück: ich stehe abermals in dem Kristallsaal, den offenen Himmel über mir —: ich bin im Kreise herumgeirrt.

Und was stöhnt da, was rührt sich neben mir? Durch die Tür kommt der Teckel mir nachgeschlichen! Ich sehe jetzt deut[S. 88]lich, es ist nur ein Schatten; ein Schatten mit gottergebenen Augen. Ich stürze in rasendem Haß auf ihn los; ich werde den Spuk nun endlich zerreißen! Mit beiden Händen packe ich ihn, am Genick, am Kreuz, und zerre und zerre. Er windet sich unter meinem Griff; wie Kautschuk spannt er sich hin und her. Ich spüre verzweifelt, wie er mich lähmt: wie er nachgiebig meine Arme entmannt. Ich fühle bis innerst in Leib und Seele: wenn ich dies Gespenst nicht bewältigen kann, bin ich machtlos für Zeit und Ewigkeit. Ich spanne all meine Nervenkraft an; und wenn mir Gehirn und Adern zerbersten! Und ein Ruck, ein leises ersterbendes Winseln: o Wonne, ich habe den Schemen zerrissen! Mit einem letzten hingebenden Blick zerfließt er in die leere Luft.

Ich stehe und zittre am ganzen Körper, vor Glück und Ermattung und neuer Verzweiflung. Ich starre hinauf in den blauen Himmel: ist kein Entrinnen aus diesem kristallenen Grab? — Ich betaste meine erschöpften Glieder — warum muß ich nur immer an meinen Körper denken! — Es ist doch garnicht mehr nötig jetzt; wer hat mir das eigentlich eingeredet? — Wie schön könnt ich schlafen in diesem lautlosen Schacht. Ich bin so müde, ich höre mein Seelenspiel klingen. Es rauschen wohl Flügel oben im Blauen? Nein, ich glaube nicht; es ist nichts zu sehen. Doch: eine weiße Feder schwebt nieder. Wie eine Schneeflocke kommt sie gewirbelt. Noch eine, noch eine, Flaum auf Flaum; grad in die Mitte des Saals herab. Immer mehr, immer mehr, weiße Flaumfederflocken; der ganze Boden liegt schon bedeckt. Ich muß zurück an die Wandfläche treten; es ist schon ein Hügel, es wird ein Berg. O Seligkeit, das ist ja die Rettung: der Berg wächst immer höher hinauf! Schon steht er fast so hoch wie der Schachtrand, und immer dichter häuft sich das Flockengewimmel. Ich springe mit beiden Füßen hinein; ich versinke in dem bettweichen Schwall. Aber er ballt sich unter mir; ich stampfe und stampfe, und es glückt. Ich stampfe mich[S. 89] höher und höher hinan; es ist, als federn mich Bälle empor. Ich kann kaum sehen, so stiebt es um mich; und brennender Schweiß verschließt mir die Augen.

Da: ein frischer Lufthauch kühlt mir die Stirn: ich fühle entzückt, ich bin oben, oben! Meine Augen wagen wieder zu blinzeln, durch die feuchten, flaumverschleierten Wimpern. Kein Federchen stiebt mehr, der Himmel blaut; es ist eine überirdische Stille. Ich stehe auf steilem, schwankendem Gipfel; tief unter mir klafft der weiße Abgrund des labyrinthischen Schachtes herauf. O Seele, Seele, wie komm ich hinüber?! Sieh: rings um den Schacht, wie ein Garten Eden, liegt der blühende frühlingsgrüne Friedhof! — Und die Seele erklingt: Ich seh es, o Geist! Ich seh es durch Tränen, o göttlicher Geist, durch regenbogenfarbene Tränen! Ja, dein Gipfel schwankt, und ein Wind kommt gebraust, und du Schwankender weinst und ich breite die Arme: wenn du jetzt, o Gottgeist, mich Seele erhörst, will ich deiner Kraft trauen ewiglich! —

Horch: braust nicht der Wind beflügelnd, o Seele? und der Gipfel löst sich und schwebt und wird Wolke! Sieh, mit beiden Armen umspanne ich sie und schwebe über den Abgrund dahin. O, wie weich sichs fliegt in dem leichten Flaum: ich fühle nicht Höhen, nicht Tiefen mehr. Ich fühle nur, wie mich die Windwolke schaukelt und mir süß alle Kräfte stachelt und kitzelt. Will sie mir etwa mein Leben wegschaukeln? Dann wisse, Seele: mein Körper lacht! Ich kann sie loslassen, wenn ich will; ich bin ja befiedert über und über! Ich kann mit dir fliegen, wohin ich will; ich brauche ja nur den Flaum wegzublasen! Ich blase und blase; was ist denn das? ich blase mir ja in die eigne Nase! Ich mache wohl selbst den Wind, der so kitzelt? Ich niese, ich lache — lache — erwache.

Ich lag noch immer im dunkeln Bett, und ich hielt mein Kopfkissen in den Armen. Ich fühlte, daß eine kleine Feder aus dem zerknüllten Kissen herausstak; sie berührte noch meine[S. 90] Nasenspitze. Ich entfernte die Feder und legte das Kissen glatt; ein Stündchen hoffte ich doch noch zu schlafen. Der Morgen schien zwar bereits zu grauen; aber ich war noch müde genug.

Wenn über unsern tiefsten Verzweiflungen,
wo wir vor lauter geöffneten Not-Türen
nicht aus noch ein zu finden wissen,
stets eines Gottes Blick wachte —
Wenn unter unsern höchsten Entzückungen,
wo wir verstummend vor Triumph
mit zitterndem Fußtritt
jede Gefahr zerstampft zu haben meinen,
stets eines Gottes Ohr weilte —
Wenn zwischen unsern erhabensten Gleichgiltigkeiten,
wo wir mit Adlerruhe
alle Verfolgung
Todes wie Lebens
in leere Luft verflogen wähnen,
stets eines Gottes herzliche Teilnahme schwebte —
ich glaube, er würde vor Lachen sterben ...

Fünfter Traum

Ja, meine Verfolger, ich lache euer! Denn ich kann fliegen, wenn ich will; ich kann aus eigener Willenskraft fliegen! Sie rasen hinter mir her wie gehetzt, eine Meute tobsüchtiger Jäger und Hunde. Aber hier, ich spanne nur meinen Mantel, dann bin ich ihrem Wahnsinn entrückt. Schon schwebe ich über den Eichenwipfeln und lache Halalî auf sie nieder. Ich höre sie brüllen: du Mörder, Mörder! und würden mich alle doch selbst gern morden. Nackt sind sie auf die Jagd ausgezogen, aber dennoch war ich schneller als sie. Wie sie rachekeuchend mir nachstarren, durch die kahlen Eichen die fahlen Gesichter, während ich höher und höher entschwinde! Halalî Hallelûja lache ich nieder[S. 91] und werfe ihnen Handgrüße zu: Ja, ihr seid auferstanden zum jüngsten Gericht, ich aber fliege ins ewige Leben! —

Wie sie kleiner und kleiner schrumpfen, die schreckbefallenen bleichen Leiber: wie Würmer wimmeln sie durcheinander zwischen dem welkbraunen Laubwerk unten, wie ausgegrabene Engerlinge. Ich lasse breit meinen Mantel fallen, um ihre klägliche Blöße zu decken. Schwer schwebt er hinab, denn ich schwebe hinan; mit schwimmenden Armen zerteil ich die Wolken. Was glänzt da her aus dem stahlblauen Äther? ist es ein unbekannter Stern? — Halalî Hallelûja jauchzt mein erkennendes Herz: es ist eine weltbestrahlende Stirn! Sei mir gegrüßt, pfadkundiger Wildrer, du Jagdherr der Frevler, Shakespear, Erhabener! — Er schlägt die entschlafenen Augen nicht auf; traumselig lächelt sein Geisthaupt nur und grüßt mich stumm und bestrahlt meine Bahn. Es grüßen noch manche entschlafene Geister mit sternengleich aufstrahlenden Stirnen und beleuchten meine erhabene Bahn. Es grüßen Rembrandt und Lionardo, und Dante und Goethe, Beethoven, Bach. Es grüßt auch mein Vater und meine Mutter; und fern strahlt ein dornenkranztragendes Haupt.

Wo hab ich dies rührende Haupt schon gesehen? dies schmerzverklärend verzeihende Antlitz? in meiner Kindheit war es wohl. Ich möchte vorüber an diesem Antlitz jetzt; aber dahinter ist alles schwarz. Ich möchte dennoch vorüberschweben; aber es zieht mich näher und näher. Es zieht mich mit seinem Dornenkranz an, der noch heller strahlt als die träumende Stirn. Er strahlt wie ein großes verzweigtes Nest; das Gezweig wächst immer größer ins Weite. Ich möchte dies wachsende Lichtnest umkreisen; aber es weitet sich kreisend um mich. Es wirbelt mich hoch wie einen Funken ins schwarze Unermeßliche. Ich blicke hinab, ich will’s überschauen: ich sehe ein unermeßliches Helles. Ich sehe ein grenzenlos schwebendes Lichtreich: ein tiefes, ringshin ruhendes Nest von unzähligen kreisenden[S. 92] Sternenreihen, endlos verzweigt durch den schwarzen Raum. Mich weht ein Grausen an, ich erkenne: ich bin in einer anderen Welt.

Das Grausen weht inniger, es beseligt; ich fühle, es will mich zur Ruhe wehen. Es weht mich hinab auf das träumende Haupt; wer bist du, wer bist du, entschlafener Geist, auf dessen Haupt mich ein Lichtreich wiegt? — Ich lasse mich willig niederbewegen zu dem leuchtenden Scheitelpunkt in der Mitte; ich sinke mit heller Heimatswonne immer tiefer hinein in das weltweite Nest. Und was wie ein Punkt schien, ist eine Wölbung, eine milchweiß gestirnte unendliche Kuppel, auf deren Scheitelfläche der Nestkranz ruht. Ich staune hinab in den traumstillen Kuppelraum, hinab durch das schimmernde Scheitelgewölbe: das ist wohl Das, du erhabenes Haupt, was wir auf Erden die Milchstraße nannten? Ja, ich sehe sie kreisen in deinem Innern, die Sterne, die Sonnen und jene Erde, wie Blutzellkörperchen deiner Adern, du strahlendes, dornenkranztragendes Haupt! Wie sie zittern, die kleinen Seelchen alle, die sich Welten dünken in ihrem Dunstkreis: ich sehe sie deutlich erbeben im Nebel, vor Deiner weltbegrenzenden Stirn. Und sind meinem Blick doch alle so fern, so grenzenlos fern wie jener Erdball, dem ich durch Wolken entronnen bin in diese verklärte andere Welt. Die Augen fallen mir zu vor Bangen: wer bist du, wer bist du, verklärender Geist? —

Ein silberhell klingendes Lachen weckt mich; hab ich’s geträumt oder leben hier Menschen? Nein, eine Lichtgestalt weilt vor mir; ich schnelle auf, eine Geistin umschwebt mich. Hab ich sie schon auf Erden gekannt? Ihre Augen ermuntern mein Herz so vertraut, als hätten sie schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht. Ihr Blick ist so innig silbergrau, nein lichtschwarz, nein tief von Herzen goldklar, ganz silber-und-gold-herzinnig klar; ist es die Göttin Barmherzigkeit? — Sie lächelt, sie läßt den Kopf etwas hängen; o süße Schelmin Barmherzig[S. 93]keit! Sie nickt mir nochmals von Herzen zu; ich lausche, ich höre ihr Seelenspiel klingen.

Die Erde schläft in Nebelschleierschein;
doch kann ihr Atem nicht ihr Leid verdecken.
Ihr träumt, sie würde wach viel freier sein;
es ist wohl Zeit, daß wir sie wecken?!

Ich starre hinab, mir bangt aufs neue. Nein, steht mein Blick, laß die Erdseele ruhn! sie ist voll Rachsucht, sie will nur morden; laß uns den Geist dieses Lichtreiches wecken! — Die Geistin lächelt; weshalb nur wieder? aber ihr Lächeln ermutigt mich. Laß uns ihn wecken! verlangt mein Blick; Ihn, dessen Haupt diese andre Welt trägt, doch unter dessen träumender Stirn jene Erde uns noch immer bannt! Laß seine Augensterne erst leuchten, das wird uns erheben aus diesem Bann! —

Sie lächelt und nickt, ist nickend verschwunden; ich greife verdutzt in leeren Glanz. Ich schwebe wieder allein in den Weiten; nur ihr silberhelles Gelächter klingt noch. Nein, auch ihr Blick ist zurückgeblieben; wie ein goldenes Sternchen schwebt er vor mir, inmitten des silberweiß kreisenden Nestes. Oder nein, es ist ja ein Doppelsternchen! Ja, ein goldklar flimmerndes Zwillingssternchen! ein kleines wirbelndes Sternseelenpärchen! zwei kleine glitzernde Seelensternzellchen, die in eins zusammenzusprießen streben. Ich greife danach, ich schrecke zurück: das eine spiegelt deutlich mein Bild. Ich seh mich hinauf in den Nestkranz greifen, in das kreisende Spiel des Sternengezweiges; — und spielt nicht im andern das Bild der Geistin? — Nein, schon sind beide zusammengesprossen; ich weiß nicht, spielt da mein oder ihr Bild? Es spielt mit den kreisenden Neststernbällen, mit unzähligen, reihenweis wirbelnden, unendlich zellkleinen Zweigsternbällchen; und in jedem Zellstern spielt wieder solch Bildchen. Ich will es fassen; ich greife ins Unfaßbare. Ich merke, es schwebt weit über mir, unermeßlich[S. 94] weit, und sprießt weiter im Schweben, immer weiter in wirbelnden Sternbilderspielen; es scheint nur so klein, weil’s so grenzenlos fern ist. Es wirbelt mich hoch, schon entwirbelt’s dem Nestkranz; und sprießt immer wirbelnder über mir fort, und ein silberhelles Gelächter umstürmt mich.

Ich muß mitlachen, ich blicke hinab; ganz zusammengeschnurrt in schwarzer Tiefe schwebt das weltweite Dornennest unter mir, nur wie ein flaches Korbflechtwerk noch, eine tellerförmige milchweiße Scheibe, auf der sich ein riesenhaft sprudelnder, goldklar von Sternzellen strudelnder, fort und fort wachsender Kreisel dreht. Er schleudert mich mit im sausenden Umschwung, immer höher den schwellenden Rand hinan; ich kann kaum noch das winzige Urzellbild ahnen, das in der Kreiselspitze da unten mit andern solchen Urbildern Ball spielt. Ich ahne nur, wie sich aus jedem Bildstrahl, den es hochsprudelt in den silbrigen Nebel, eine neue Schaar Goldstrahlenbilder entpuppt, aus jedem Weltsternchen eine Sternenwelt, immer riesenhafter emporgegliedert, ein unendlicher Springbrunn von Lichtpuppengliedern, und jedes Glied schon ein ganzes Wesen, ein ganzes Weltpuppengliederspiel, das andere spielende Weltgliederpuppen nach allen Seiten entspringen läßt. Ich möchte eins dieser Wesen betrachten; ich schwebe so nahe an seiner Seite, ich kann seinen Atemkreis brausen fühlen. Ich möchte erkennen, ob’s Mann ist, ob Weib; aber es dehnt seinen riesigen Lichtnebelkörper, den Sterne um Sterne wie Flugsaat durchwirbeln, so stürmisch ins Unermeßliche, daß ich wieder nichts weiter wahrnehmen kann als ein seelenvoll brausendes Gelächter. Und wieder muß ich voll Bangen mitlachen, denn in all meinem Bangen ahne ich jetzt: vielleicht ist dies unabsehbare Glanzspiel, dieser ganze erhabene Sternpuppenkreisel auch wieder nur ein kleines Glied, vielleicht nur die unterste Zehenspitze von einer noch größeren Spielgestalt, die wieder noch größere ausspielen kann — o laß dich erkennen, erhabenstes Wesen! —

[S. 95]

Ich starre hinauf zu dem äußersten Lichtsaum: könnt ich nur Einmal ein einziges Leuchten seiner Augensterne aufschimmern sehn! Ich mühe mich, jäher emporzukreisen, dem Bannkreis des Strudels noch näher zu steuern; mir ist, ich tu’s schon seit Ewigkeiten. Ich blicke zurück auf meine Flugbahn; das Sternennest unten ist garnicht mehr sichtbar, es scheint nur die allerunterste Spitze dieses schwebenden Weltenkreisels zu sein. Mir wird so hinschwindend seelenweit, ich kann kaum mehr meine Bewegungen fühlen. Ich kann in dem wachsenden Lichtseelennebel auch nichts mehr von meinem Körper sehen; ich bin wohl selbst eine Lichtwelt geworden. O könnt ich nur endlich das Augenlicht sehen, dem all diese seligen Weltspielpuppen aus ihren Kreisen entgegenlachen! — Ich muß auf einmal auch selig lachen: ich sehe urplötzlich im Innern des Kreisels, rings unter mir, überallher aus den Nebeln, ganze Schwärme von Augenlichtern aufschimmern: alle die hohen entschlafenen Geister, die meine Bahn einst beleuchtet haben, sie erwachen aus ihren träumenden Tiefen und folgen mir höher mit lachenden Blicken. Es erwachen und lachen Rembrandt und Shakespear, Cervantes und Swift, Aristophanes, Nietzsche. Es lacht auch mein Vater, auch unsre Mütter, und jenes dornenumspielte Haupt. Ich will es begrüßen, mein Gruß erstarrt: aus seinem Blick lacht die Göttin Barmherzigkeit. Ich starre hinab von Blick zu Blick: in allen den schwärmenden Augensternen, selbst in Euern Gestirnen, Nietzsche, Rabelais, Shakespear, ihr wildesten Schwärmer, ihr Freunde der Frevler, spielt das Bild der Göttin Barmherzigkeit. Mir schwindelt; ich muß wieder aufwärts blicken! O erwache auch Du, erhabenstes Wesen, erwache aus deiner Gleichgiltigkeit! Erhebe mich endlich zu Deinem Blick! Entreiß mich all diesen wachsamen Augen: sie mahnen noch immer an jene Erde, die doch seit Ewigkeiten dahin ist! Entpuppe dich endlich: wer bist du, Du —

Ich horche erschrocken: was lacht da „Du!“? Und ein Echo[S. 96] lacht stürmisch abermals „Du!“ Will das erhabenste Wesen mich höhnen? O, nur höher! mir bangt nicht mehr! nur zu! — Ich steure noch jäher hinein in den Kreisel, ich lache stürmisch mit „Du, du, du!“ Ich lasse mich ganz in den Lachstrudel reißen: vielleicht kann selbst das erhabenste Wesen mich nur in seinem Innern erhören, da in der innersten Achse da! — Ja, ich höre, nun lacht es „Da, da, da“ —: und siehe, das ganze Weltpuppenspiel beginnt zu nicken, wild, fern und nah. Und immer wilder, mir stockt das Herz: will es mich aus dem Gleichgewicht nicken? Nein, in ganz gleichwilden Weltkreisen nickt es, kreisunter kreisüber mir — da, da, da — mit sternklar barmherzigen Geisteraugen — und lacht ganz gleichgiltig „Ha-ha-hah.“ Es will mich gewiß nur in Sicherheit lachen; ja, die Achse des Kreisels ist schon ganz nah. Ob sich’s da endlich entpuppen wird? Ja! All die Geister da lachen „Ja“ und nicken. Aber was ist das? Ah —: die Achse! — Sie dreht uns immer noch höher! aber mir stockt das Herz immer jäher: verliert sie nicht doch jetzt das Gleichgewicht? — Nein, sie verdreht wohl ihr Seelenlicht? Hahahah, sie verdreht uns die Übersicht! Sie beginnt zu wackeln! o all ihr Geister: das erhabenste Wesen scheint kopfstehn zu wollen! —

Ich höre entsetzt: Alles lacht wieder „Ja!“ — Ha-ha-halt! Barmherzigkeit! Wenn wir fallen: wir fallen ins Bodenlose da! — Da, was seh ich: allmächtiger Himmel, ja: es steht ja schon kopf! — es entpuppt sich! — Ah — —: himmelhoch über mir steht etwas da: mittenauf aus den wackelnden Seelenwelten steht die Kreiselkrone in Gloria — und ist eine — was? — eine Sohle?? — ja: eine riesige wacklige Weltseelensohle, von unzähligen Zehenspitzen umzappelt. Ich erkenne, sie will uns noch höher zappeln: sie beschirmt unsre Welt wie ein maßloser Fallhut: wir zappeln in einer ungeheuren, allweltenhütenden Urweltpuppe, die auf ihrer Hutspitze bodenlos kopfsteht, und deren Bauch sich vor Lachen schüttelt. Er schüttelt uns mit, im[S. 97]mer mit, hahahah! Macht Halt, ihr Geister, sonst platzt er! Da —: er platzt — ich muß mich vor Lachen umdrehn. Hahahah, all die Weltgeister drehn sich mit um! Hahahah, sie verdrehn mir Hören und Sehen! Hahahah, das erhabenste Wesen rächt sich! Hahahah, es läßt mich vor Lachen sterben — mir gehn alle Augen über, nein auf! — ja auf! endlich auf! — Was? — bin ich denn wach? —

Ja, ich saß mit offenen Augen im Bett; und mittenher durch mein halbdunkles Zimmer langte ein goldheller Morgenstrahl, voll unzähliger wirbelnder Sonnenstäubchen. Es war also doch ein Spalt in dem Fenstervorhang. Ich stand auf, machte vollends hell und besann mich; dann warf ich die abends empfangene Todesnachricht aus meinem Shakespear in den Papierkorb. Ich wußte nicht: sollte ich wie ein Kind ein dankbares Morgengebet verrichten? oder Gott, Welt und Leben zum Teufel wünschen? Ich weiß es noch heut nicht, du himmlischer Quälgeist, o allbarmherzige Phantasie!

Wer bist du? „Wer du willst!“
Wo wohnst du? „Wo du’s fühlst!“
Lebst wohl im Lichtstrahl still?
„Wohl auch im Staubgewühl!
Bürst mein Hütlein,
klopf dein Kittlein,
so kannst du merken, wer ich bin,
wieviel goldne Wunderwelten in uns glühn!“

[S. 99]

Betrachtungen
über Kunst, Gott und die Welt
Auswahl

[S. 101]

Kunst und Volk

Neun Selbstverständlichkeiten, die aber doch der Erklärung bedürfen

1. Die Kunst besteht in den Kunstwerken, die nicht fürs Volk geschaffen sind, sondern für Gott und die Welt, für die Seele der Menschheit oder auch der Blumen auf dem Felde, für Alle und Keinen, fürs ewige Leben oder für sonst eine grenzenlose Größe.

Das soll heißen:

Es werden sehr viele Kunstwerke gemacht, aber recht wenige machen die Kunst aus. Kein Kunstwerk mehrt den Kunstbestand, durch das der Urheber irgend ein begrenztes Volk zu irgend einer bestimmten Zeit für irgend ein bekanntes Ziel ausbilden will oder wollte. Die Volksbeglücker, die Volksveredler, die Volkserzieher und -verzieher mögen ein solches Werk mit Fug und Recht zu ihrer Zeit den Leuten anpreisen; aber sobald jenes Ziel erreicht oder aber als irrig erkannt ist, verfällt solch Werk der Vergessenheit oder bestenfalls der Kunstgeschichte, ist überflüssig und leer geworden, hat keinen belebenden Inhalt mehr. Freilich befaßt sich alle Kunst mit dem umgebenden Volks- und Zeitgeist als einem Teil ihres Stoffbestandes; aber nicht Das ist ihr Lebensbestand, sie geht nur aus von dieser Umgebung, und ihr Ziel schwebt grade im Unfaßbaren. Beständiges Leben enthält nur die Kunst, die jederzeit und immerfort hinaus ins Unbekannte weist, wie die Blumen blühen ins Blaue hinein. Und solche Kunst schafft nur der Künstler, der fürs Volk ein ewiges Rätsel bleibt. Er kennt nur Eine Bestimmung des Schaffenden: die Gesetzgebung für das Unbestimmte. Er sieht nur Eine Grenze des Schaffens: die Formlegung für das Unbegrenzte. Denn er ahnt nur Ein Ziel der menschlichen Bildung: die Gestaltung eines vollkommenen Wesens.

2. Der Kunst gegenüber gibt es nur zwei Arten Volk: das menschenwürdige und das hundsgemeine.

[S. 102]

Das heißt:

Vollkommene Kunst wirkt nicht auf Jedermann als vollkommen, sondern höchstens auf solche Seelen, die selbst den Trieb zur Vollkommenheit haben und fremde Seelenkraft mitfühlen können. Hierzu aber verhilft kein besonderer Bildungsgrad, kein Wohlstand oder sonstiger Vorrang, der einzelnen Ständen und Klassen des Volkes — je nach dem Lauf der Zeiten — vergönnt ist, mag auch durch alldas die Freiheit und Freude des menschlichen Mitgefühls leichter erblühen. Dies Mitgefühl eignet vollkommen nur solchen Seelen, denen das menschliche Dasein unendlich mehr ist als eine Laufbahn zum Wohlbefinden, zum Vornehmtun oder Neunmalklugsein, nämlich ein steter gründlicher Antrieb zur Steigerung aller schaffenden Kräfte, ob für, ob gegen, ob durch einander. Das sind die menschenwürdigen Seelen, die auch die Kunst von Grund auf zu würdigen wissen. Sie pflanzen den Willen zur Menschheit fort, sie bilden in Wahrheit den Volksgeist und Zeitgeist und begeistern allmählich sogar die Halbwilligen; sie sind in jeder Volksschicht zu finden, wenn auch am meisten wahrscheinlich in jenen Schichten, die am eifrigsten für die Zukunft kämpfen. Wo sich der Sinn auf Vollkommenes richtet, ist „Volk“ stets nur der Inbegriff der menschlich strebsamsten Volksgenossen, d. h. ein Unterbegriff der Menschheit; wer ein vollkommener Mensch sein könnte, der wäre natürlich auch im Besitz von jeder Vollkommenheit seines Volkes. Der Rest aber, der ewig rückständige, der wohlbestallte wie übelbestellte, der Bildungspöbel wie rohe Mob: je nun, der hält sich an die Art Kunst, die das Volk übers menschliche Dasein täuscht, mehr oder weniger hundsgemein. Doch ist auch diese Art Volk und Kunst im geistigen Haushalt der Menschheit vonnöten, denn eben ihr Widerstand reizt die andere Art zur beständigen Steigerung ihres Willens.

3. Keine Art Volk schafft jemals Kunst; jede Art Volk reizt die Künstler zum Schaffen.

[S. 103]

Das will besagen:

Die Kunst, soweit sie nicht Handwerk und Machwerk ist, stellt eine unwillkürliche, unerklärliche Einsicht ins Leben vor, die stets nur Wenigen innewohnt und sich nur durch eigentümlich geheimnisvolle, zwar den Sinnen vollkommen deutliche, doch dem Sinn vielfältig deutsame Bilder Anderen mitzuteilen vermag. Auch was man gewöhnlich Volkskunst nennt, ist niemals durch die gemeinsame Macht irgend eines Volkswillens entstanden, sondern immer ursprünglich von Einzelnen aus reinem Eigensinn ersonnen und dann erst zu Gemeingut geworden. Aus einem natürlichen Mitteilungstrieb, der schon im Licht der Gestirne waltet, gibt der Einzelne sein einsames Sinnbild dem willigsten Empfängerkreis hin, oder dem mächtigsten Abnehmerkreis; der gibt es weiter und immer weiter, und dadurch schleifen sich unter Umständen — zumal bei mündlicher Weitergabe — die eigensinnigsten Züge des Bildes ins Allgemeinverständliche ab. In den kleinen Volksgemeinden der Urzeit besorgten wohl meist die Priesterkasten und Herrengeschlechter die erste Verbreitung; nachher vermittelten fahrende Leute zwischen der Künstlerschaft und dem Volk, oder die Künstlerschaft wurde Beruf und ging also selbst auf die Fahrt nach Brot. So zog einst der Barde mit seinen Heldengesängen von Herrenhof zu Herrenhof, der Troubadour mit seinen Balladen von Ritterschloß zu Ritterschloß; und allerlei anderes fahrendes Volk machte die vornehmen Gebilde fürs seßhafte schlichte Volk zurecht, und aus der erhabenen Heldensage wurde ein Volkslied, ein Bänkelsang. So sind auch die Märchen der Urgroßmütter nicht von den Urgroßmüttern erfunden; sondern die alten Göttersagen, Naturmythen und Geistergeschichten einer von Priestern gelenkten Kultur sind später von sinnigen Landstreichern, entlaufenen Mönchen, Scholaren und Schreibern, für das Verständnis der Spinnstuben-Insassen verweltlicht und vereinfacht worden, auch wohl versimpelt und verballhornt.[S. 104] So ist auch die sogenannte Bauernkunst, wie sie in Hausrat und Volkstracht sich fristet, nirgends dem Heimatboden entsprungen, ist aus höfischen oder städtischen Kreisen von reichen Dörflern aufs Land verpflanzt, und da erstarrt sie durch Handwerksbrauch zu wunderlich verwucherten Formen, bis wieder eine neue Stadtkunst kräftig und reif genug geworden ist, die entartete alte zu verdrängen. So ging auch die Kunst der wilden Völker seit jeher den Ermächtigungsweg über den Festplatz des Zauberpriesters, das Zelt des Häuptlings oder der Obmänner, um in alle Hütten des Stammes zu dringen. Denn der Künstler, der kein Strumpfwirker ist, will sein Werk nicht im Engen verkommen lassen; er will wie das Leben ins Leben wirken, ins unendlich weite belebende Leben, und heute wendet sich seine Kunst nur deshalb gleich ans breitere Volk, weil es mächtiger als die Machthaber dem schaffenden Willen des Lebens dient.

4. Das Volk versteht nichts von der Kunst; das ist auch nicht nötig zum Kunstgenuß.

Das besagt:

Es gibt überall nur Wenige, die vollkommen fähig zum Kunstgenuß sind; die volle Genußkraft ist ebenso selten wie die vollkommene Schaffenskraft. Aber auch diese Wenigen, Jeder für sich allein genommen, verstehen nur wenig von den vielfältigen Reizen, die das geheimnisvolle Leben in dem bewunderten Werk bewirken. Selbst von den Handwerksgriffen des Künstlers versteht zuweilen sogar der Künstler nicht jeden einzelnen Wirkungswert, geschweige den ganzen Zusammenhang; und mancher nüchterne Kunstgelehrte sieht da schärfer als der scharfsinnigste Meister. Nur sind die äußerst klugen Leute, die blos mit Verstand zu genießen verstehen, gewöhnlich die innerst seelendummen und begreifen oft weniger als ein Nigger von der begeisternden Gefühlswelt, die hinter den sinnlichen Reizen des Kunstwerkes lebt. Diese Kunstverständigen zwar entschei[S. 105]den, ob ein Werk den besten Kennern des Handwerks auf absehbare Zeit zu genügen vermag, und schätzen seinen Sachwert ein; aber unabsehbar ist das Leben, und ein vollkommenes Kunstwerk enthält die Lebenshinterlassenschaft von hunderttausend Millionen anderer Werke und das unschätzbare Vorvermächtnis für aber-und-abermals andre Millionen. Ein solches Werk kann Jahrhunderte lang — nach den Maßstäben aller Sachverständigen, nach dem Urteil der Künstler wie Kunstgelehrten, nach der Meinung der eignen wie fremder Volksart — ein wertloses totes Unding sein: und auf einmal ist es nur scheintot gewesen und belebt tausend Geister zu neuem Gefühl, zu neuem Schaffen und neuem Genuß. Vor der unbekannten seelischen Macht, der das vollkommene Kunstwerk entstammt, ist eben auch der Kenner „nur Volk“. Über diese beständige Machtvollkommenheit, diesen eigensten Lebenswert der Kunst, entscheidet keinerlei Kunstverstand, auch kein Kunstgeschmack und kein Kunstgefühl, weder des Einzelnen noch einer Volksmasse; denn es gibt und gab kein einziges Kunstwerk, an dem der Verstand nicht zu mäkeln fände, und Geschmack und Gefühl sind unbeständig, ob aus Verstand oder Unverstand. Über den Lebenswert der Kunst entscheidet stets nur das Leben selbst, das wandelbare Leben der Menschheit, wandelbar von Volk zu Volk, ob durch Zufall, Notwendigkeit oder Gott-weiß-was, doch beständig zum Weiterleben gewillt. Mit dem Genuß aber hat das wenig zu tun; den rohesten Kerl kann das scheußlichste Machwerk unvergleichlich stärker und inniger freuen, als die reinste Schönheit den feinsten Kenner. Wer Anderes lehrt, ist ein Faselhans, ob nun ein Schwarmgeist oder ein Nüchterling.

5. Der Kunstgenuß jeder Art Volkes besteht in der Begeisterung durch das Unbegreifliche, in der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, in der Lust und Liebe zum Abenteuerlichen: in Glauben, Traum und Übermut.

[S. 106]

Das bedeutet:

Wie das Wesen des Kunstschaffens unerklärlich ist, so auch das Wesen des Kunstgenießens; erklärlich ist nur der bewirkte Zustand. Er ist, und sei er noch so vergeistigt, ein Zustand der sinnlich befriedigten Liebe, im weitesten und engsten Sinn, in der höchsten, tiefsten, flachsten Bedeutung: Liebe, Verliebtheit, Liebhaberei. Er gibt also nicht die geringste Gewähr für den Wertbestand des geliebten Dinges, für Schönheit, Naturwahrheit und dergleichen. Wie dem liebenden Jüngling ein Gesicht, das er gestern noch für abschreckend hielt, heute ein Ausbund aller Liebreize ist, ihm vielleicht sein ganzes Leben lang sein wird, vielleicht auch nur für etliche Wochen, so liebt und lebt auch der Kunstliebhaber; und nun erst gar ein Gemisch von Volk! Sogar das griechische Volk war kein Kunstvolk, wie manche Leute es gerne träumen; denn ein griechisches Volk hat es nie gegeben, es gab nur einige Stadtgemeinden mit wenigen, sehr machtvollen, kunstliebenden Patrizierfamilien und einem Haufen machtsüchtiger, vergnügungslustiger Spießbürger nebst einer bäurischen Sklavenheerde. Aber die Lust und Liebe zur Kunst ist selbst ein gewaltiger Lebenswert: sie legt den geliebten Dingen Vollkommenheit bei, auch wenn sie noch unvollkommen sind, und hebt alle Kräfte der liebenden Seele, auch wenn es nur schwache Kräfte sind. Das gilt für Männlein wie für Weiblein; denn in den höchsten Bezirken der Liebe hört der Geschlechtsunterschied glücklich auf. Sie treibt den Geist in einen Traum, der ihm die stärksten Sehnsüchte seines Lebens durch das angebetete Bild erfüllt zeigt; und je weniger Wissen den Geist beschwert, je weniger Kenntnis von Kunstmaßstäben, umso leichter glaubt er seinem Traum. Dann braucht er keine Erklärungen mehr: dann wird ihm das Unbegreifliche klar, daß er Eins ist mit dem einsamen Künstler: dann erlebt er wie dieser das Grenzenlose, ist mit ihm die Blume auf dem Felde, mit ihm der Held seiner Abenteuer, mit ihm ein ganzes mächtiges Volk und jauchzt im Stillen[S. 107] vor Übermut. Und wenn er aufwacht aus diesem Traum, der ihm das Winzigste riesengroß, das Furchtbarste herrlich und lieblich machte, dann verehrt er die unerforschliche Kraft, die frei mit den eigenen Grenzen spielt; und seine Abenteuerlust, die einen Augenblick staunend gestillt war, gibt sich ermutigt dem unstillbaren, wandelbaren Leben hin. Ein ganzes Volk aber, das so träumt und nur kraft höchster Kunst so träumt, das ist ein — schöner Zukunftstraum.

6. Die höchste Kunst wirkt nicht unmittelbar, sondern mittelbar als Sage ins Volk.

Nämlich:

Nicht blos die Kunst der vorgeschichtlichen oder späterer ungeschichtlicher Zeiten, wie sie uns in heroischen Fabeln, humanen Idyllen, religiösen Parabeln vom „Volksmund“ überliefert ist, sondern auch alle geschichtliche Kunst, die ein vollkommenes Sinnbild sinnlichen Lebens und zugleich des höchsten geistigen ist, dringt ins ganze Volk nur durch Hörensagen und lebt nur durch freie Erinnerung fort; auch der Buchdruck hat daran nichts geändert. Wer liest heute noch Cervantes und Swift, wie sie vollständig im Buche stehen, oder gar Dante und Homer? Ein zählbares Häuflein Gebildeter; und viele von ihnen nur aus Zwang. Wer sieht heute noch ein Bildwerk von Phidias oder hört die zärtliche Sappho singen? Wer hat die Pyramiden besucht, wer den Petersdom, wer den Park von Versailles? Wer kennt wirklich Lionardo vollkommen, wer Goethe, wer Mozart und Gluck, wer Bach? — Aber man spreche von Gullivers Reisen, von Don Quijote, Don Juan, Helena, Faust, man nenne die Namen Prometheus und Orpheus, Michelangelo, Shakespear, Rembrandt, Beethoven: und ein Schauer gläubiger Einbildungskraft wird auch den Geist des geistig Armen mit Bildern schicksalreichsten Lebens, Gestalten vollkommener Menschlichkeit füllen. Unter hundert Kunstkennern sind nicht zwei in der Deutung von Dantes Beatrice,[S. 108] der Erklärung von Shakespears Hamlet einig, aber jeder einzige fühlt sich im Klaren, sobald er im Leben sagen hört: jenes Mädchen scheint eine Beatrice, dieser junge Mann ist der reine Hamlet. Das eben ist das Kennzeichen höchster Kunst, daß sie Keinem ganz begreiflich wird, daß der Eine dies, der Andere jenes als ihr bedeutsamstes Merkmal herausgreift, daß sie die unbegrenzte Macht hat, über die eigene Bildwirkung weg durch fremde Vermittelung weiterzuwirken, bis sich aus all den begeisterten Meinungen ein allgemeines Erinnerungsbild formt, oft nur ein Teilchen des Ursprungsbildes, aus dem der Volksgeist aber das Ganze — und mehr als das — zu begreifen glaubt. So genügt dem Liebenden eine Locke, um ihm die ganze Gestalt der Geliebten, den Duft ihres Haars, ihren Blick, ihr Lächeln, ihre ganze Seele heraufzubeschwören; ja, es genügt ihr bloßer Name.

7. Nie ist Kunst volkstümlich von Anbeginn; sie wird es kraft ihrer ursprünglichen, neubelebenden Freiheitslust, und sie bleibt es kraft ihrer notwendigen, althergebrachten Ordnungsliebe.

Denn:

Volkstümlichkeit ist das Endergebnis einer langen freiwilligen Gewöhnung aller einzelnen Volksmitglieder, oder doch der meisten und menschlich besten, unter Anleitung der geistig regsten. Man will sich aber an nichts erst gewöhnen, was von Hause aus schon gewöhnlich ist; und man gewöhnt sich auch an nichts, was durchaus blos ungewöhnlich sein will. Nur solche Kunst wird und bleibt volkstümlich, die den Willen zum geistigen Miterleben, diesen allgemeinsten menschlichen Willen, gleichermaßen bewegt und beruhigt, löst und fesselt, antreibt und bändigt. Sie muß Reize enthalten, die immer wieder das schrankenlose Naturgefühl selbst des Eigensinnigsten erregen; und sie muß andere Reize enthalten, die immerfort die beschränkte Kulturvernunft auch des Freimütigsten beschwichtigen.[S. 109] Sie muß alle diese zwiefachen Reize in einer so einfachen Form vereinen, daß sie zwingend wirkt wie ein neues Gesetz, zu dem die alten hingedrängt haben; und es macht das innerste Schicksal des Künstlers aus, ob er die äußere Geschicklichkeit hat, sich mit seiner ursprünglichen Schaffenskraft in die Beschaffenheit der Welt, die notwendige Ordnung der Kräfte, zu fügen. Dann ist sein Werk ein vollkommenes: ein Sinnbild des ziellos schaffenden Lebens, ein Abbild des freiesten Willens zum Dasein, ein Vorbild der willigsten Schickung ins Ewige. Solche Kunst mag man anfangs für willkürlich halten, mag sie mißachten und mißdeuten, verlästern oder verlobhudeln: grade Das wird die Neugier der Menge reizen, grade Das selbst die ältesten Schlafmützen wecken, und endlich nimmt auch der Gleichgiltige die ernste Giltigkeit ihres Wesens hinter dem scheinbaren Gaukelwerk wahr. Dagegen die Kunst, die nach Volksgunst fahndet, indem sie sich in das Maskengewand volkstümlich gewordener Ahnenkunst kleidet: sie mag von den vornehmsten Autoritäten, von Obrigkeit, Schule und Zeitungen, mit aller Gewalt „populär“ gemacht werden, eine Zeit lang „ungeheuer beliebt“ sein, schließlich wird sie als eitel Blendwerk erkannt und dient bestenfalls zur Vermittelung einiger Kunstkenntnis ans Volk.

8. Alle Kunst, die nicht volkstümlich wird, ist Unkunst, Tand und Spreu im Wind.

Das ist so zu verstehen:

Kein Kunstwerk, und sei es noch so schlecht, ist von Anfang an ohne Lebenswert; es finden sich immer die vielen Dummen und manchmal auch nicht wenige Kluge, die ein schlechtes Werk für gut genug halten, die Langeweile auszufüllen. Erst allmählich merkt man, was Unkunst ist. Jeder Einzelne weiß das aus eigner Erfahrung, und die Erfahrungen der Völker wachsen noch viel allmählicher, dafür freilich auch dauerhafter. Es lassen sich mancherlei Kunstwerke herzählen, die Jahrhunderte lang im Volk wie bei Kennern die höchste Wertschätzung be[S. 110]saßen und heute für mittelmäßig gelten, vielleicht immer tiefer an Wert sinken werden, vielleicht auch wieder zum höchsten steigen. Eine vollkommene Gewähr für die Richtigkeit eines Kunstwerkes bietet allein der Tatbestand, daß es als Stoffding untergegangen ist, ohne in irgend einer Form — in Sage, Denkmal, anderen Werken — als seelisches Wesen weiterzuwirken. Das mag sich von den besten Kennern für die ungeheure Mehrzahl der Kunstdinge mit aller Gewißheit voraussagen lassen; aber die Kenner vollstrecken ihr Urteil nicht. Nur die Menschheit selbst ist das Jüngste Gericht und sondert langsam die Spreu vom Weizen; und das Volkstum ist das große Sieb, durch das sie ihre Lebensfrucht worfelt. Da werden auch viele Dinge durchfallen, die vielen Kennern Kleinodien waren; und der ordinärste Hintertreppenroman wird dann nicht tiefer im Kehricht liegen als manche exquisite Salonnovelle. Dann wird der namenlose Dichter, der dem Volk den Aberwitz der Romantik durch das Bild des „geschundenen Raubritters“ zeigte, in der menschlichen Sprache lebendiger leben als mancher romantische Schulpoet mit literarhistorischem Ruhm. Über die Geistesgebilde der Machtvollsten aber lebt noch ihr eigenes Bildnis hinaus. Es werden Zeiten kommen, wo unsre Kultur begrabener als die ägyptische daliegt; dann wird vielleicht kein Buch von heute, kein Notenblatt mehr in Ansehen stehn, aber das Seelenbild Dante, das Paradiese und Höllen umarmt, der Geist Beethoven, den die Verzweiflung zum Freudenschrei trieb, wird dann der Menschheit noch ebenso heilig sein wie Orpheus oder Prometheus.

9. Die Kunst geht ihren eigenen Weg; wohl ihr, wenn das Volk ihr zu folgen vermag.

Das ist so selbstverständlich —

daß es selbst für die eingebildetsten Dickköpfe nicht der Erklärung bedürfen würde, wenn nicht manche Künstler von Zukunftswert einen wohlfeilen Afterstolz darein setzten, bei Leb[S. 111]zeiten nicht ins Volk zu dringen. Angewidert vom Afterruhm meinen sie, ihr Selbstgefühl sei die ganze Welt, die Menschheit ein Märchen der Volksverführer. Wie lange wird dieser Irrsinn dauern? Bis sie der Welt zum Opfer gefallen und dem Volk wie der Menschheit ein Leichenschmaus sind! Denn wir leben alle nicht für uns selbst, mag es auch manchem Scheinweltweisen bei seiner Schreibtischlampe so scheinen; selbst der selbstsüchtigste Geizhals muß ins Grab und hat seine Schätze für Erben gesammelt.

Nationale Kulturpolitik

Eine fragwürdige Angelegenheit

Die Möglichkeit einer Kulturpolitik wird wohl niemand in Abrede stellen. Man pflegt sich nur darüber zu streiten, ob die sogenannte wahre Kultur — wie die philosophastrischen Schlagwörter lauten — „bewußt“ oder „unbewußt“ zustande komme, besser gesagt: absichtlich oder unwillkürlich. Aber es gibt keine geistige Tätigkeit, die nicht zugleich aus unwillkürlichem Antrieb und mit absichtlicher Zwecksetzung vor sich geht. Politik ohne bewußte Absicht ist ein Widerspruch in sich selbst; und die Geschichte der Völker und Staaten zeigt, daß Kulturpolitik zu allen Zeiten und in allen Ländern getrieben wurde. Man braucht nur Namen wie Perikles und die Medici, Augustus und Louis XIV, William Cecil und Friedrich den Großen zu nennen, und wir erinnern uns an Epochen planvollster Zusammenfassung der produktiven Einzelkräfte um der organischen Volksbildung willen, auf kleineren wie größeren wie ganz großen Staatsgebieten. Und nicht blos persönliche Oberhäupter, auch regierende Körperschaften haben solche Politik getrieben; Beweis die Republik Venedig, die Niederlande, die Hansestädte. Allerdings waren diese Körperschaften noch durchweg Aristokratieen und beherrschten nur kleine Volksgebilde; auch die so[S. 112]genannten Demokratieen der altgriechischen Stadtgemeinden hatten tatsächlich patrizischen oder sonstwie oligarchischen Zuschnitt. Es fehlt daher an historischen Parallelen zu den Herrschaftsformen der Gegenwart, die in den großen Staaten Europas aus alten aristokratischen und neuen demokratischen Machtzuständen unklar gemischt sind. Das aber ist ausschlaggebend für die Entscheidung der Frage, ob sich heute die Kristallisation der nationalen Kulturtendenzen erfolgreich beschleunigen läßt oder nicht. Denn erstens muß die Nation schon reif sein für solche höchst raffinierte Politik, sonst tut der naive Volksgeist nicht mit oder wird in Grund und Boden verdorben; und zweitens ist Politik nur erfolgreich durch eine starke Machthaberschaft, wie immer geartet diese sei. An sich ist freilich die Unklarheit der Machtverhältnisse kein Grund, daß es nicht Zeit zur Klärung sein könnte; kein Mensch weiß im voraus, wie reif ein Volk ist. Also braucht man sich blos noch den Kopf zu zerbrechen, ob die verschiedenen mächtigen Leute, die sich heute als Volksvertreter fühlen, hinlänglich einig darüber sind, woraufhin kultiviert werden soll.

Kulturpolitik irgend welcher Art wird ja allenthalben genug getrieben, in Deutschland eher zu viel als zu wenig. Potentaten, Finanzbarone, Minister, Parlamente, Parteien und Kongresse, Demagogen beiderlei Geschlechts, Universitätsprofessoren und Volksschullehrer, Literatenkliquen und Zeitungsredaktionen, alle schwingen das Wort „Kultur“ im Munde und greifen sogar in die Tasche dafür, teils in die eigene, teils in fremde, und natürlich immer für „wahre“ Kultur. Aber mit welcher Sorte wahrer Kultur man das ganze Volk zu beglücken gedenkt, davon ist wohlweislich nie die Rede; sie könnte doch gar zu leicht unwahr tönen. Trotzdem ist einzig dies der Rede wert. Nationale Kultur bleibt ja leere Phrase, wenn sie nicht ein humanes Programm bedeutet: bestimmte Veredlungswerte der Menschheit, die das Volk selbstbewußt in sich ausbilden soll. Allgemeine Bildung ist nur ein Ziel für hochbegabte Persön[S. 113]lichkeiten; im Durchschnitt des Volkes läuft sie leider auf allgemeine Verbildung hinaus. Gar eine schöngeistige Bildungspflege ist fürs gesamte Volk ein Unding, war stets nur gewissen bevorrechteten Gesellschaftsklassen wirklich erreichbar, deren leibliche Wirtschaftsbedürfnisse von anderen Klassen besorgt wurden. Alle organische Kulturpolitik muß zunächst natürlich darauf bedacht sein, besonders leistungsfähige Berufsstände zu begünstigen, an die sich die übrigen angliedern können, je nach den hauptsächlichen Volksanlagen und den zeitlichen wie örtlichen Entwickelungsbedingungen. Selbst in den kleinsten Gemeinwesen hat die Kultur nie von Anfang an harmonische Tendenz gehabt, war überall um spezifische Interessengruppen konsolidiert: agrarische oder kommerzielle, militärische oder juridische, religiöse oder philosophische, erotische oder soziologische, je nachdem die Oberschicht mehr sensuell oder mehr intellektuell begabt war, mehr energisch oder mehr spekulativ. Für all das lassen sich reinliche Beispiele bei räumlich beschränkten Kulturen finden, von dem spartanischen Kriegerstaat bis hin zum Friedensreich der Inka, von den indischen Weisheitsfürstentümern bis zu den Minnehöfen der Provence.

Heute aber, in unseren großen Staaten mit ihren vielerlei Machthabergruppen, wo herrscht da wahre Einmütigkeit über solche Meistbegünstigung? Wie kann eine Harmonie der Interessen entstehen, wenn fast jeder Stand nur die Politik verfolgt, sich möglichst „notleidend“ zu stellen! In Deutschland wird man sich höchstens vielleicht auf das Zugeständnis einigen: wir scheinen eine industrielle Kultur ziemlich hohen Ranges zu schaffen. Aber die Folgerung lautet dann meistens: folglich braucht sie nicht mehr begünstigt zu werden. Und gewisse Idealisten zetern sofort: das ist ja „blos materielle“ Kultur, ist also „überhaupt keine“, ist „nichts als“ Zivilisation! Nun, ich bin selber ein Idealist, allerdings keiner mit fixen Ideen, und eine Grenze zwischen jenen beiden Begriffen läßt sich meines Er[S. 114]achtens durchaus nicht fixieren. Eine Industrie von materiellem Höchstwert ist notwendigerweise zugleich ideell, oder zum mindesten intellektuell, nämlich angewandte Naturwissenschaft; da ist also schon ein Punkt aufgedeckt, wo Zivilisation in Kultur übergeht. Die Industrie ist ferner genötigt, sich wegen ihrer technischen Qualitäten ästhetische Werte anzuzüchten; und die teilen sich dann natürlich dem Volk mit, das ihre Produkte herstellen, vertreiben und verbrauchen hilft. Und daß durch ein gründliches Industrie-System auch allerlei sonstige Disziplin, ökonomische, juristische, hygienische, moralische, in der Volksmasse ausgebildet wird, ist ohne weiteres selbstverständlich; Bernard Shaw hat darüber im letzten Akt seiner Komödie „Major Barbara“ sehr räsonnabel phantasiert.

Bleibt somit lediglich auszuprobieren, ob in der Tat unsre Industrie — in Arbeitgebern wie Arbeitnehmern — schon so starke Kulturpotenzen umspannt, daß sie die übrigen Machthabergruppen von ihrem Vorzugsrecht überzeugt, z. B. die Herren Agrarier und den nicht minder herrlichen Klerus. Sobald die geistig bedeutendsten Machtgruppen eine dauernde Hebung ihrer Wohlfahrt, sei es direkt oder indirekt, von einer materiellen Tendenz erwarten, schlägt diese bereits ins Ideelle um, in eine sozialpolitische Sympathie aller Stände, die sich bis zu religiöser Ekstase und poetischem Enthusiasmus steigern kann; siehe die Zeit der Kreuzzüge, die aus agrarischen Interessen emporkam. Dergleichen geht meist viel rascher vor sich, als die fixen Idealisten glauben; aber ehe es wieder möglich wird, müssen freilich erst die führenden Geister der einzelnen Berufskreise mehr Fühlung miteinander erlangen, als zur Zeit bei uns vorhanden ist, mehr Achtsamkeit und mehr Verständnis für die gegenseitigen Ergänzungswerte. Inzwischen hat jedermann im Volk, erst recht aber jeder leitende Mann, das Eine zu tun, das immer nottut: seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Bildung predigen kann der nichtsnutzigste Nörg[S. 115]ler; gute Lehren sind gut, gute Vorbilder besser. Im eignen Beruf etwas Tüchtiges leisten und fremde Tüchtigkeit anerkennen, das ist schließlich die beste Kulturpolitik. Kurz: möglichst wenig davon reden im Allgemeinen, möglichst viel im Besonderen dazu tun! In diesem Sinne könnte die Großmacht „Presse“ aufs besonderste vorbildlich wirken; notabene wenn sie endlich wollte.

Statt dessen wird geschwatzt und geschwatzt, und das hält man womöglich noch für ein Zeichen allgemeinen geistigen Fortschritts. Wenn jemand alldas lesen müßte, was bei uns über Bildung und Bildungszwecke, Kultur und Kulturprobleme geschrieben wird: ob er dann nicht reif fürs Irrenhaus würde? Wir sind besessen vom Fortbildungsdrehwurm, deshalb besitzen wir keine ruhige Bildung. Ich habe einmal einen Jungen gekannt, der so viel übers Leimrutenstellen nachdachte, daß er nie dazu kam, einen Vogel zu fangen. Und ich kenne viele erwachsene Leute, nicht etwa blos Privatdozenten, die lange Vorträge über Schönheit und Freiheit halten und weder verstehen eine Blume zu pflücken noch sie in ein Knopfloch zu stecken. Wenn so ein Schöngeist dann plötzlich errötet über seine Ungeschicktheit, dann ist vielleicht noch Hoffnung vorhanden, daß er endlich aufhört, für Bildung zu schwärmen, und wirklich anfängt, sich zu bilden. Darum war es ein Zeichen heilsamer Reue, daß unlängst unter den vielen Rundfragen, mit denen jeder irgendworin Gebildete von unsern Zeitungen und Zeitschriften aus vorzüglicher Hochachtung überschwemmt wird, plötzlich auch die Frage auftauchte, ob wir nicht heute „an einer Überwertung der Bildungsfragen kranken“. Ich weiß freilich nicht, ob der Verfasser dieser Überbildungsfrage über ihren Stil errötet ist; über ihre Motive aber sollten wir allesamt erröten.

Was ist Bildung? Nur die Unbildung fragt so. Der Gebildete redet nicht darüber, er hat allemal Besseres zu tun; gebildet ist, wer vorbildlich wirkt durch irgendeine Tüchtigkeit.[S. 116] Unsre Zeit ist nicht so untüchtig, an „Überwertung“ der Bildungsfragen zu „kranken“; ich glaube sogar, daß jeder wertvolle Mensch über solche Doktorfragen die Achseln zuckt. Aber worunter wir allerdings leiden, und grade die Tüchtigsten am meisten, das ist die Überschätzung der Bildungsmittel, der praktischen wie der ideellen; das Werkzeug steht höher im Wert als das Werk! — Wir bauen großartige Fabriken, die kleinliche Fabrikate erzeugen. Wir erfinden hochfliegende Verkehrsmaschinen, die den Verkehr immer flacher, weil flüchtiger machen. Wir konstruieren geistreiche Schwebebrücken, Bahnhofshallen und Kabelanlagen, die keiner andern Güterbeförderung als nur der leiblichen Wohlfahrt dienen. Wir überspinnen unsre Städte und Dörfer mit baumwuchsverstümmelnden Drahtnetzen, die unser Alltagsgeschwätz so bequem verbreiten, daß es selbst dem Geduldigsten unbequem wird. Wir pflegen ästhetische Techniken und intellektuelle Methoden, deren absonderliche Feinsinnigkeit die Wirkung der Künste wie Wissenschaften auf unsre ganze Gesinnung vereitelt. Wir organisieren einen Religionsunterricht, der so überaus vernünftig ist, daß die ehrwürdigen Worte des Glaubens zum Gespött der Kinder werden. Wir entwickeln tiefdurchdachte Erziehungssysteme, die prinzipiell auf Zöglinge von oberflächlichster Durchschnittlichkeit des Denkens und Fühlens angelegt sind. Wir betreiben eine Politik, die vor lauter Interessendiplomatie das solidarste Intresse der Nation, das soziale Vertrauen, in den Wind schlägt. Wir gründen sehr sittliche Einrichtungen zum Schutz der menschlichen Arbeitskräfte, und das Vollkommenste, was mit all dem Aufwand für Volk und Menschheit geschaffen wird, sind Instrumente der Zerstörung: Kanonen, Kriegsschiffe und dergleichen.

Wie dieser Wahnwitz kuriert werden kann? Weder durch Lehranstalten noch durch Kasernen noch durch die sogenannte Schule des Lebens, durch kein Hilfsmittel von außen her. Autosuggestionstherapie nennt es heute die innere Medizin;[S. 117] auf gut Deutsch heißt es immer noch Selbstzucht, soll den Geist vom Narrsinn der Selbstsucht befreien und kann von den werten Lehrmeistern, Eltern und andern Vorgesetzten nur durchs eigne Beispiel erläutert werden. Das Wort „Bildungszweck“ ist dabei überflüssig, denn hier deckt sich das Mittel mit dem Zweck. Aber freilich: man lernt dies Mittel erst anwenden, wenn der Geist schon — von selbst zu genesen beginnt.

Kunst und Persönlichkeit

Perspektiven ins Unpersönliche

Wir leben seit der Betriebsamkeit der Lokomotive und des elektrischen Drahtes in einer Wiedergeburt der Künste, die der humanen Tendenz nach tiefer zu wirken und weiter um sich zu greifen bemüht ist, als irgend eine der früheren Renaissancen; nicht blos bemüht, auch berufen. Die moderne Kultur ist international geworden, und als gebildete Menschheit sieht man nicht mehr eine kleine Klasse von Bevorrechteten an, wie einst in Indien und Attika oder in den Adelsländchen und Patrizierrepubliken der Reformationszeit, sondern insgesamt all die Nationen, in denen die Leibeigenschaft für unrecht gilt. Aus einem so viel weitern Intressenkreis nimmt der Künstler unsrer Zeit seinen Rohstoff und hat für die Verarbeitung den soviel weiteren Kreis von Intressenten. Tiefer als jemals fühlt sich das moderne Individuum im Gegensatz zur breiten Masse, die immer mächtiger wird, die freier als jemals konkurrierende Individuen aus sich emporwerfen kann. Um soviel tiefer, mächtiger und freier muß jede Persönlichkeit, die sich zur Geltung bringen will, auch ihre wesentlichen Eigentümlichkeiten zum Ausdruck bringen. Sie muß, sie kann nicht anders; das ist das Schöpferische, das Gesunde, Urnatürliche, auch wenn es sich an einer Szene aus dem Krankenhaus oder an den verdrehten Gesten einer Salonpuppe ausläßt.

[S. 118]

Und denselben Eigenwillen bekundet, oft bis zum verrannten Eigensinn, einstweilen auch noch unser Kunsturteil, d. h. die Einsicht in die Ursachen der jeweils empfundenen Wirkung. Denn zu diesen Ursachen gehört zunächst der persönliche Geschmack des Genießenden, der sich aus allerlei Temperamentsqualitäten zusammensetzt, die mit dem Gefühl für den bleibenden Kunstwert nichts oder wenig zu tun haben. Insofern freilich wird kein Kunsturteil seinen laienhaft subjektiven Charakter verleugnen können; selbst der Künstler dem Kunstgenossen gegenüber wird immer darin befangen bleiben. Aber aus dieser natürlichen Befangenheit grade entspringt das Gefühl der Unbefangenheit. Wer sich ganz dagegen sperren wollte, würde überhaupt nicht zum Genuß gelangen; und das hieße dem Künstler, solange er lebt, der Dienste schlechtesten erweisen. Eben das instinktive Geschmacksurteil, sobald es nur offen als solches bekannt wird, ist dem Künstler mindestens ebenso wertvoll wie das sogenannte rein kritische, das in Wahrheit niemals rein sein kann. Denn es wird ihn am klarsten über die Wirkung seiner persönlichsten Ausdrucksmittel auf fremde Naturen unterrichten, sei es durch Zustimmung, sei es durch Widerspruch; wird also seine Eigenart schärfen und seine Schaffenslust kräftigen. Reine Objektivität des Urteils ist ja nichts als Bewußtsein der letzten Grenzen zwischen den Eindrücken von Außen her und ihrer Verarbeitung von Uns aus, also ein idealer Begriff wie Schönheit, Wahrheit, Vollkommenheit, ebenso relativ und variabel. Denn wirklich erkennen und begründen lassen sich diese Grenzen erst, wenn und nachdem wir den fraglichen Eindruck subjektiv empfunden haben.

Es gibt nun freilich merkwürdige Leute, die zu keiner Zeit zufrieden sind, und heutzutage besonders viele, denn seit Lasalle ist Unzufriedenheit bekanntlich eine Tugend. Seit Nietzsche aber darf man zum Glück gegen die bekannten Tugenden mißtrauisch sein; und wenn sich der weise Zarathustra nicht gar so[S. 119] tief in seine Höhle verkrochen hätte, würde ihn wohl allmählich nicht blos das „erbärmliche Behagen“, sondern mehr noch das viel erbärmlichere Unbehagen gewisser Idealisten geekelt haben. In der Tat: merkwürdige Leute das! Da gibt es welche, die jammern über Gott und die Welt; und wenn nun Einer sich untersteht, ihren Jammer schön in Verse zu bringen, dann fallen sie eilends über ihn her und schimpfen ihn einen Entarteten. Da gibt es Andre, die haben fortwährend eine laute Sehnsucht nach der inneren Ruhe; wenn aber einmal Einer auftritt, der sich diese Ruhe errungen hat, dann finden sie ihn fad und müd und werfen ihm noch Steine in seinen stillen Hafen. Wieder Andre regen sich drüber auf, daß die Eigentümlichen gar so unverständlich seien; gibt dann ein solcher Sonderling auch mal was Gemeinverständliches von sich, schelten sie ihn einen geistigen Schwindler. Und nochmals Andre lassen sich den Unverstand der Menge verdrießen, weil sie neugierig mit den Wenigen laufen, die den Vielen nicht gleich offne Briefe sind; läuft aber Einem dieser Wenigen dann auch sein Volk bei Zeiten zu, so ist er natürlich ein Überläufer. Und so weiter: was so alles zum Vorschein kommt, wenn sich die Leute, die das liebe „man“ ausmachen, mit einem Manne abzufinden haben.

Indessen diese merkwürdigen Leute haben trotzalledem nie ganz Unrecht: mit der bloßen Selbstherrlichkeit kann kein Mensch etwas Großes fordern, nicht einmal ein Staat oder Volk. Jede Wiedergeburt der Künste beginnt mit krampfhaften Wachstumsregungen, deren Eigenleben die neue wie alte Kultur von Natur aus gefährden würde, wenn nicht irgend ein gemeinschaftliches Lebensbedürfnis sie zugleich doch bändigte. Auch die Renaissance vor 500 Jahren hat ihre Kulturmacht und Stilvollendung nur durch den weitverzweigten Zusammenhang der lokalen Schulen und Meister erlangt, der erst zerfiel, als sie reif genug war für den universelleren Barockstil und für so umfassende Einzelgeister wie Michelangelo, Shakespear, Bach;[S. 120] und Hellas ist gleichfalls erst durch den Verkehr mit Asien und Ägypten gewachsen. Dies Bedürfnis schöpferischer Kräfte, einander möglichst zu durchdringen, ist auch jetzt wieder mächtig in der Kunst, eben weil wieder selbstbewußt genug geschaffen wird, daß die Eigenart des Einzelnen nichts mehr daraus zu befürchten braucht. Kunst wie Dichtung dürfen wieder dran denken, sich dem Volk in ihrem allgemein menschlichen Lebenswert bemerkbar zu machen, nicht nur den eigenwillig persönlichen und nationalen Geschmackswerten nach. Denn es gibt eine Art der Kunstwirkung, die über jegliche Grenze selbstsüchtigen Schaffens und also auch Genießens hinausgeht, die überhaupt erst die höchste Kunstwirkung ist, und deren Mächtigkeit bei dem einzelnen Kunstwerk den Grad der bleibenden Schätzung bestimmt: das ist das befreiende Gefühl der Selbstvergessenheit, dasselbe Gefühl, das auch den Künstler im schöpferisch entrückten Augenblick packt, also die Wirkung grade der Unpersönlichkeit.

Dies scheint nun fast im Widerspruch zu aller so erbittert verteidigten Eigentümlichkeit des Künstlers zu stehen und jede Schätzung persönlichen Willens in Form wie Stoffwahl auszuschließen. Aber wie allenthalben im Leben bedingen auch hier die Gegensätze gegenseitig ihr Dasein. Ein Kunstwerk, das sich nicht vor andern durch irgendwelche Besonderheit auszeichnet, kann uns auch selbstverständlich nicht zu besonderer Beachtung reizen. Aber was uns diesem Anreiz erst nachzugeben drängt und zwingt, das eben ist jenes Unpersönlichkeitsbedürfnis, das uns hinter der fremden Besonderheit etwas uns Allen Teilhaftiges vermuten läßt, jenes unwillkürliche Allgemeingefühl, das uns mit jeder Kreatur, mit jedem Tier und Baum und Stein verbindet, das uns an jedem irdischen wie überirdischen Gegenstand nach immer neuen Eigenschaften, d. h. Beziehungen zu uns selbst, suchen läßt, das eigentlich Schöpferische, Unerschöpfliche, ob wir’s nun Leben oder Natur, Gott oder Weltgeist,[S. 121] Allseele oder Seele der Menschheit, Ur-Ich oder sonstwie nennen mögen —: wir wenden uns enttäuscht ab von dem Kunstwerk, sobald wir jene Vermutung des Allgemeinen hinter dem Besonderen nicht darin bestätigt finden. Und auch im Künstler selbst ist es so: erst dieses Allgemeine, Unfaßbare, Grenzenlose, wie es sich im Prisma seines persönlich beschränkten Bewußtseins bricht, sei es durch sinnliche oder durch geistige oder durch Gemüts-Wahrnehmung — gleichsam die drei Flächen dieses Prismas —: erst Das erzeugt den persönlichen Stil mit all seinen Zu- und Unzulänglichkeiten, und einzig deswegen fühlt sich der Künstler niemals vollkommen selbstbefriedigt durch irgend eins seiner fertigen Werke.

Demgemäß ist es auch ganz verkehrt, wenn eine supermoderne Ästhetik sich dagegen auflehnen will, nach allgemeinen Maßstäben für künstlerischen Wert und Unwert zu suchen. Die kritische Methode, wie Lessing und Schiller sie für Deutschland begründet haben, nämlich die klar begrenzte Feststellung gewisser höchster Wertbegriffe auf Grund stets wiederkehrender Gefühlserfahrungen bei allen stärksten Kunstgenüssen, ist etwas, dessen sich die Menschheit niemals wird entschlagen können. Wenn eine neuere Ästhetik dies zu ersetzen, nicht etwa blos zu ergänzen hofft, dadurch daß sie das Kunstwerk rein beschreibend als eigen reizvolle Erscheinung, womöglich gar als pathologische, bis ins Feinste zergliedern will, so ist sie schlechterdings in einer fortwährenden Selbsttäuschung befangen. Denn damit legt sie nicht das Geringste über die Kunstwirkung als solche dar, setzt vielmehr jene normative Methode im stillen immerfort voraus, indem sie eben nachprüferisch nur solche Werke untersucht, die nach Maßgabe irgendwelcher Allgemeingefühle schon als irgendwie wertvoll anerkannt sind. Daß solche allgemeinen Maßstäbe immer auf allerlei Querstriche von anderem Standpunkt aus stoßen werden, liegt nicht an einem Fehler der Methode, sondern ist im Wesen der Kunstwirkung[S. 122] einerseits, des menschlichen Verstandes anderseits begründet; denn jenes letzte unpersönliche Grundgefühl, auf dem der Kunstgenuß beruht, reicht eben immer weit hinaus über die Grenzen klarer Wahrnehmung, und von dieser ist ja unser Verstand obendrein nur ein Bestandteil. Daher ist der Künstler auch stets der Meinung, daß sein Werk am wirksamsten durch sich selbst spricht. Nicht blos am unwiderleglichsten, sondern sogar am gründlichsten; denn schließlich sind ja in dem Gefühl, das durch die Einwirkung des Kunstwerks — ob für oder wider — in uns erregt wird, alle Gedanken schon mit enthalten, die man sich über die Wirkung machen kann. So ist es nun einmal von Natur: das Gefühl erstreckt sich ins Grenzenlose, der Verstand ist stets auf Standpunkte beschränkt.

Um jenes entrückenden Grundgefühls so gründlich wie möglich teilhaftig zu werden, muß man sich also immer wieder an die Kunstform selbst halten, nicht etwa an die Erinnerung blos; und wer es unter dem Bann seiner Eigenart hinter der fremden Art des Künstlers nicht von selbst zu erlangen vermag, dem wird es kein Verstand der Kunstverständigen jemals zu Gemüte führen. Denn alle Kunstwirkung läuft schließlich auf das Wunder der Liebe hinaus, das sich begrifflich nur umschreiben läßt als Ausgleichung des Widerspruches zwischen Ichgefühl und Allgefühl, Selbstbewußtsein und Selbstvergessenheit. Ja, man kann gradezu sagen: je mächtiger ein Kunstwerk in uns dieses allumfassende Gefühl erregt, umso ausdrücklicher darf und muß sich — schon um des technischen Gleichgewichts willen — auch die persönliche Art des Künstlers zeigen, während sich ohne jenes Unpersönliche die menschliche Selbstentblößung der Schaffenden, diese völlig grundlose Offenherzigkeit in seelischen oder leiblichen Dingen, die jedem ursprünglichen Kunstwerk eignet, nur als die mehr oder weniger unverschämte Aufdringlichkeit von Marktschreiern auswiese.

Es hat schon manchen Sittenprediger, auch manchen Schön[S. 123]geist kopfscheu gemacht, daß oft grade Kunstwerke, die am stärksten auf Umfassung der Lebensgewalten, auf Beherrschung der Naturkräfte ausgehn, obenhin fast den Eindruck machen, als handle sichs um Verherrlichung brutaler persönlicher Instinkte. Das wäre freilich das Gegenteil von einer Kunst der Naturbeherrschung. Aber man wird nicht leugnen können: wo geherrscht werden soll, muß etwas da sein, das der Beherrschung wert und bedürftig ist. Der lenkende Geist ohne starke Triebe, wäre ein Reiter ohne Pferd; wie hinwider selbst das edelste Vollblut nichtsnutzig wird und niederträchtig, wenn nicht ein ebenbürtiger Herr es mit Geschick zu bändigen weiß. Als oberste Aufgabe der Menschheit wird auch dem Künstler ewig vorschweben: die Erringung jenes geistigen Allgemeingefühls, das den vom Schicksal getriebenen Einzelmenschen über sein Schicksal erhaben macht, über inneres wie äußeres Schicksal. Jede Überschätzung der Persönlichkeit ist also gleichbedeutend mit Unterschätzung ihrer höchsten Schaffenskraft, wie auch des Kunstschaffens überhaupt.

Und demzufolge: je stärker sich in einer Zeit dies Unpersönlichkeitsbedürfnis regt, ob nun als soziale oder erotische oder sonstwie altruistische Hingebung, umso mehr wächst auch die Lust der Schaffenden, sich über die technischen Spezialitäten, die wiegesagt immer blos der Ausdruck des beschränkten Selbstbewußtseins sind, hinauszuheben zu überschauenden Zeit- und Welt- und Lebens-Sinnbildern, nicht mehr nur der sinnlichen Anschauung zu dienen durch eigentümlich stimmungsvolle „Naturausschnitte“ und „Seelenzustände“, die selbst den Eingeweihten anmuten wie Tempelwände voll Hieroglyphen, sondern wieder einmal Pyramiden zu bauen, von denen aus Jeder, der notabene die Mühe des Ersteigens nicht scheut, beseligt in den freien Himmel und über weites Land schauen kann. Ich will mit dieser bildlichen Floskel nicht etwa einer bodenlosen Himmelstürmerei das Wort reden, die sich auf Erden nicht zurecht zu[S. 124] finden weiß. Im Gegenteil: es ist ein Zeichen der Unreife, wenn man noch glaubt, den Himmel erst erobern zu müssen. Wir sind ja jeden Augenblick — ich meine das ganz wirklich und wahr — mitten in allen Himmeln drin; die Erde ist im Unendlichen genau so hoch oder tief zuhause, wie etwa die Sonne oder ein anderer Stern.

Das wissen freilich heute schon Viele; aber fühlen, als etwas Selbstverständliches mitfühlen, mit Fleisch und Blut und allen Nerven, tun es erst recht Wenige. Und grade dieses selbstverständliche, genau so irdische wie überirdische Allgefühl, das jede andere Lebensempfindung, jede Einzelwahrnehmung, jeden Gedanken des Schaffenden stützt und trägt, das eben ist die magische Basis, auf der sich die großen Werke der Kunst, die im bildsamsten Sinne vorbildlichen, immer wieder aufbauen. Das hat nichts zu tun mit dem Idealismus gewisser humaner Tendenzpoeten, der nur temporärer Kritizismus und meistens ein sehr barbarischer ist. Der künstlerisch bestrebte Dichter benutzt die humanen Ideen seines Zeitalters nur, um seine Gefühlskraft daran zu erproben, nämlich als seelische Dissonanzen zwischen Menschheit und Gottnatur, die er harmonisch zu lösen hat. Er kann und will nichts weiter tun als eine bildliche Fühlung zum Leben schaffen, die alle kritischen Widersprüche gegen die Schönheit und Herrlichkeit des ganzen Daseins ganz und gar ausschließt, also auch alle speziellen Tendenzen. Das ist der Idealismus des Künstlers; und der liegt jeglichem echten Kunstwerk zugrunde, auch wenn sein Rohstoff dem oberflächlichen Blick häßlich oder schrecklich erscheint. Wer sich dann durch dies bildliche Werk in der Tat vollkommen befriedigt fühlt, den hindert freilich nichts und niemand, darin nach einem besonderen Richtziel für seine eigne Gefühlswelt zu fahnden. Und in diesem Sinne — doch nur in diesem — kann allerdings jede Kunstgestalt, vom ganzen Opus bis zur geringsten Teilfigur, als Vorbild der Lebensführung aufgefaßt[S. 125] werden, selbst wider Absicht und Meinung des Schöpfers; Falstaff genau so gut wie Achilleus.

Wenn das erst wieder vollkommen begriffen ist, von den Genießenden wie Schaffenden, dann wird auch der Schauer vor dem Unergründlichen, den jede gründliche Beschäftigung mit fremder Geistesarbeit in uns weckt, die Kunstwelt wieder allgemein durchdringen; dann wird sich dies Gefühl, als eine neue Ehrfurcht vor der ewigen Schöpferkraft, auch bald durch die Alltagswelt verbreiten, und dann wird diese Welt wohl endlich merken, daß sich wieder eine religiöse, auf deutsch allverbindliche Kunst bei uns anbahnt. Die braucht nicht wie ein Sturm daherzufahren; auch im Säuseln des Windes kann man Erhabenes hören. Dürers Gottvater auf dem Regenbogen über den sieben Leuchtern und dem knieenden Johannes enthüllt in seinen bescheidenen Formgrenzen die Allmacht ebenso strahlend, wie Michelangelos Apotheose der geschlechtlichen Zuchtwahl, die den Himmel der Sixtinischen Kapelle zu sprengen droht und in dem heilandsherrlichen Menschenpaar des Jüngsten Gerichtes gipfelt. Der ehemalige Sinn dieser Bilder mag heute schon halber Unsinn sein; aber ihr Geist wird weiterwirken, solange die Sterne uns unerreichbar sind.

Es ist dem eindringlichen Kunstgefühl auch völlig gleich und einerlei, ob jenes Tiefste und Höchste ihm durch naturale Anschauungsfreude oder symbolische Vorstellungslust vermittelt wird; das Eine ist so mittelbar und unmittelbar wie das Andre. Der formgewaltige Phantast zeigt im Symbol Natürliches, der Realist in der Natur Symbolisches. Die rhythmische Flut des Sonnenlichtes, die durch den scheinbar wüsten Tanzknäuel der Rubensschen Kirmeßbauern braust, erhebt den andächtig Schauenden in eine nicht minder unendliche Seligkeit, wie der entschwebende Puttenreigen in dem Dämmerungsglanz und Fackelschimmer von Watteaus Abfahrt nach Cythere. Und das will doch wohl der machtvolle Künstler: als ein Seher des all[S. 126]mächtigen Lebens betrachtet werden, nicht als Spezialartist einer Technik. Es gibt eben auch in der Kunstgeschichte Apokalyptiker und Evangelisten, und Mancher ist gar Beides zugleich. Wer sich bei einer künftigen Menschheit kanonisches Ansehn erringen wird, das zu entscheiden geht freilich zu allen Zeiten über die zeitgenössische Urteilskraft. Eins aber ist sicher: die Eigenart tut’s nicht. Denn nur das Eine bleibt übrig von uns, wenn selbst unsre Werke längst verwest sind: Das, was den Andern Vorbild ward für ihre stete Fühlung zur Welt: die Tat unsrer Liebe.

Das Buch und der Leser

Eine Untersuchung des Verständnisses

Bücher sind wie spiritistische Medien; wer sie nicht richtig zu fragen versteht, dem antworten sie falsch oder garnicht, und die meisten Leute halten deswegen den ganzen Spiritismus für Schwindel, bestenfalls für Selbsttäuschung. Jener afrikanische Wilde, der einen Missionar aus der Bibel vorlesen hörte, sich dann das Buch an die Ohren hielt und es ungläubig wegwarf, weil es ihm nichts sagte: der steckt noch in jedem gebildetsten Leser.

Ich will zum Beweis ein Erlebnis erzählen. Als ich Hofmannsthals „Ödipus und die Sphinx“ das erste Mal las oder lesen wollte, kam ich nicht über den ersten Aufzug hinweg. Diktion und Rhythmus stachen auffallend von seinen früheren Dichtungen ab, erinnerten mich hin und wieder an Dauthendeys schwungvolle Üppigkeit, hin und wieder an die drangvolle Knappheit meiner eigenen Verstechnik, dazwischen doch immer an Hofmannsthals einstige haltungsvolle Gewundenheit, und das empfand ich als ein so tolles Stilgemengsel, daß ich mich einer heftigen, mehrfach wiederkehrenden Zwerchfellerschütterung schlechterdings nicht erwehren konnte; ich legte schließlich[S. 127] das Buch beiseite, weil ich mich einigermaßen schämte, einen ernsthaften Dichter auszulachen. Bald nachher traf ich mit ihm zusammen, in einem Kreis erfahrener Kunstfreunde, und gestand ihm meine Verlegenheit gegenüber seiner neuesten Dichtung. Er war daraufhin so liebenswürdig, uns die zweite Hälfte des ersten Aufzugs, die ich als besonders unharmonisch empfunden hatte, vorzulesen. Und merkwürdig: trotzdem Hofmannsthal mit seiner etwas brüchigen Stimme kein bestechender Vorleser ist, auf einmal hörte ich den harmonischen Grundakkord. Ich habe später die Dichtung nochmals, und diesmal vollständig, gelesen und verspürte nichts mehr von jener Mißwirkung. Ich merkte, daß ich beim ersten Mal mit allzu dramatischem Gehör auf die momentan metrischen Dissonanzen der sensuellen Affekte geachtet und so die lyrisch perpetuelle Rhythmik der sentimentellen Motive überhört hatte. Nun, wenn das einem Fachmann passieren kann, wie mag sich dann erst der unzünftige Leser gegen manches Buch benehmen, in dem ein neuer Geist rumort?

Absichtlich spreche ich darüber mit fachmännischer Gemütsruhe; denn mit der menschlichen Leidenschaft, die auch Künstler gegen einander einnimmt, hat der Unverstand des Lesers zunächst nichts zu tun. Ein Buch zu lesen, ist allererst eine bare Verstandestätigkeit, gleichviel ob wir ein dichterisches oder wissenschaftliches oder sonstwie schriftstellerisches Werk in uns aufnehmen. Immer handelt sichs vorbedinglich um das Verständnis der Fachsprache, und hierfür bringt der einschlägige Handwerksmann doch mehr Geschultheit mit als andre Leute. Wer das A-B-C noch nicht zu lesen versteht, dem ist ein Fibelvers nicht verständlicher als eine mathematische Formel; doch je mehr er es verstehen lernt, desto umfänglicher wird das A-B-C, desto umständlicher die Verstandesarbeit. Denn wie geht jeder Leser zu Werke? Sein mehr oder minder bewußter Verstand, je nach dem Grad eben seiner Schulung, übersetzt gewohnheits[S. 128]gemäß den optischen Eindruck der Schriftzeichen in akustische Ausdrucksmittel, diese wiederum teils in Gehörswahrnehmungen, teils in Gesichts- und andere Tastvorstellungen, diese aus der blos sinnlichen Einzelempfindung in vernünftige Gefühlszusammenhänge, und dann erst entsteht die rätselhafte Gemütsbewegung, die den ganzen angesammelten Schwarm von dreifach zwiespältigen Gedankenbeziehungen zu geistiger Bedeutung vereint und uns mit ungewohnter Leidenschaft für oder wider den fremden Geist erfüllt. Noch verwickelter wird der Vorgang dadurch, daß er von Satz zu Satz neu einsetzt und doch die Erinnerungsbilder der Vordersätze immer mit veranschlagen muß; so befindet sich der Leser fortwährend in einem Wirbelwind kalter Verstandesluft, der unwillkürliche Gefühlsgluten anfacht.

Auch dem wissenschaftlichen Leser ergeht es so, wenn er sich über den Wahrheitswert irgend einer Schlußfolgerung entscheidet; immer springt schließlich ein Gemütsfunke aus der Reibung der Verstandeskräfte. Nein, wird man einwenden: in der Wissenschaft sind die Gefühle Nebenumstände, in der Dichtung dagegen der Hauptbestand. Aber ist dem wirklich so? Gipfelt die geistige Schönheit nicht ebenso hoch über jeder Gefühlserregung wie die Wahrheit und die Gerechtigkeit? Und wurzeln nicht alle drei dennoch tief in Gründen des Gemütslebens? Ja, es kommt überall gleichermaßen auf Erkenntnis seelischen Lebens an; nur die Erkennungszeichen stehn in verschiednem Verhältnis der sinnlichen und vernünftigen Darstellungsmittel. Welche Vorarbeit muß der Verstand schon leisten, um sich blos erst in das besondre Verhältnis der originalen zu den traditionellen Bestandteilen eines Sprachwerks hineinzuversetzen! In der sogenannten reinen Wissenschaft ist dies Verhältnis am leichtesten zu erhorchen, weil deren lautliche Darstellungsmittel überwiegend auf generelle Logik hin abgestimmt sind, sodaß die individuelle Intuition des Verfassers dem Leser sehr deut[S. 129]lich ins Gefühl schlägt, wenn auch nur dem genügend geschulten Leser. Aber bereits die populäre Wissenschaft ist in ihrer formalen Technik so mit persönlich sensuellen und sentimentellen Elementen durchsetzt, daß sich die intellektuellen Faktoren kaum noch scharf davon sondern lassen. Und je mehr sich die rednerische Darstellung der eigentlich dichterischen nähert, um so schwieriger wird die Sonderung wie die Zusammenfassung der Lautbilder, und der Leser läuft immerfort Gefahr, daß der Funke der Erkenntnis zu früh aufflammt und in dem Schwarm der Gefühle entweder erlischt oder aber Brandschaden stiftet, wie bei mir in Ansehung Hofmannsthals.

Denn gerade die Technik der reinsten Dichtung, die Verskunst, nein die lyrische Verskunst, denn auch Epos und Drama fußen auf lyrischer Rhythmik: grade die verflicht allgemeinste Denkbegriffe der Sprache so eng mit eigentümlichsten Empfindungsbegriffen, daß man nirgends unmittelbar den Vorstellungswert, geschweige den Erregungswert der Lautwahrnehmungen abschätzen kann, sondern nur durch vielfältigste Rückschlüsse. Man vergleicht zwar die Lyrik gern mit der Musik, weil auch die nur indirekt durch Gefühlserregungen zur Erkenntnis geistiger Lebensverhältnisse führt; aber der lyrische Divinationsprozeß ist noch um vieles indirekter. Nur zu Anfang geht die Verstandesarbeit in annähernd ähnlicher Weise vor sich: ob ich ein Notenblatt lese oder einen poetischen Text, ich übersetze einen äußerlichen Gesichtseindruck in einen innerlichen Gehörsreiz, wenngleich es schon einen Unterschied macht, ob ich mir einen gesprochenen Laut oder einen gesungenen Klang vorstelle, oder gar einen klaren Instrumentalton. Dann jedoch wird der Unterschied klaffend: das Klangbild der Tonsprache übersetzen wir unmittelbar in eine Vorstellung von Gefühlszusammenhängen, das Lautbild der Wortsprache großenteils erst auf dem Umwege über mannigfache Gesichts- und Tast[S. 130]empfindungen nebst allerlei Hilfsbegriffsgedanken, nur zum kleineren Teil direkt akustisch. Und dabei meint jeder Leser einer Dichtung, er sei genügend vorgebildet durch seine gewohnte Sprachkennerschaft, und traut sich in seinem lieben Gemüt ein unfehlbares Gesamtverständnis zu, wo doch schon die einzelnen Darstellungsmittel x-mal mittelbarer wirken als bei jeder anderen Kunst und durch eine viel ungewohntere Sinnbilderfülle die schließliche Erkenntnis vermitteln als bei irgend einer Wissenschaft.

Wieviel Fallgruben für das Verständnis öffnen sich schon bei der ersten Erweckung der scheintoten Schriftzeichen zu lebendigen Lautbildern! Es ist nicht gleichgiltig, mit welcher Stimme, ja nur mit welchem Zeitmaß der Stimme, man sich einen Vers oder gar ein Buch Verse im stillen laut vorgelesen denkt. Unwillkürlich legen wir da zunächst unsre eigene Stimme unter; aber der Dichter meint Seine Stimme, oder vielmehr die verschiedenen Stimmen seiner imaginären Personen, denn auch das Ich des Lyrikers ist wechselnde Phantasiefigur, vielleicht noch wechselnder als die Charaktermasken, die der Dramatiker seiner Seele vorheftet. Keine Orthographie und Interpunktion reicht aus, um auch nur die gewichtigsten Betonungsverhältnisse zwischen den Satzgliedern einer einzigen Strophe unzweideutig durchs Auge ins Ohr zu bugsieren. Was wird nicht alles versucht, um das flüchtige Auge ruhsamer an das Schriftwort zu fesseln und so das Ohr des Lesers aufmerksamer für die Bewegtheit der Sprache zu stimmen. Der eine Dichter ordnet die Zeilen nach der Mittelaxe des Druckspiegels, um seine irreguläre Rhythmik durch den Kontrast der optischen Symmetrie noch sinnfälliger hervorzuheben; der andre markiert seine reguläre Metrik, um die akustische Harmonie seiner rhythmodynamischen Dissonanzen vonvornherein außer Zweifel zu stellen. Manch einer kann sich garnicht genugtun mit Gedankenstrichen, Stimmungspunkten, Ausrufzeichen und Sperrfingerzeigen, und möchte[S. 131] womöglich auch noch die Beiwörter mit Großen Anfangsbuchstaben schreiben; einige andre schreiben fast alles klein und würden am liebsten gar keine interpunktionen setzen damit der leser noch länger zwischen den zeilen rätselt und ein möglichst eindringlicher hörer wird. Hilft uns aber alles nichts; wir bleiben doch immer auf den Glücksfall des uns annähernd gleichgestimmten Gehörs angewiesen, so sehr wir mit ganzem Gemüt danach trachten, jede Menschenseele in unsern Bannkreis zu zwingen. Muß schließlich noch der Herr Buchverleger, Buchdrucker und Buchbinder helfen, durch ungewöhnlich gutes Papier, außerordentlich schöne Lettern und sonstige „selten gediegene“ Ausstattung den Gewohnheitsleser zu verlocken, daß er sich ausnahmsweise andachtsvoll mit unserm wertvollen Werk befasse.

Aber ach: je mehr das Buch selbst Kunstwert erlangt, je mehr es durch äußeren Augenreiz den Leser sinnig und willig stimmt, umso mehr gerade verführt es ihn, ein Leser des stillen Wortes zu bleiben, statt ein Hörer des lauten Satzes zu werden, und umso mehr zugleich verführt es die Dichtkunst zur inneren Augendienerei. Der Dichter ist ja auch selber Leser; und je mehr ihn die Buchdruckerpresse gewöhnt hat, als Leser statt als Hörer zu dichten, umso stumpfer hat sich die Wahrnehmungskraft für die Gehörsreize der Sprache verflacht, umso schärfer haben sich die Darstellungsmittel auf Gesichtsvorstellungen zugespitzt, d. h. umso schwatzhafter ist die Dichtung geworden. Sehr selten wird jetzt noch ein Lied erfunden, das seine organische Melodie so einfach vernehmlich in sich trägt, wie die Muschel in ihren Windungen summt. Viele Gedichte unsrer echtesten Dichter sind schon dermaßen überladen mit pittoreskem Brimborium, daß sie an Feuilleton-Prosa streifen. Oder wo doch noch mit Klanganspielungen unmittelbar aufs Gefühl gezielt wird, da paukt man meist so faustdick drauflos, als solle die Predigt Johannis des Täufers vor den taubstummen Steinen Ereig[S. 132]nis werden. Und wer die beiden extremen Elemente gar noch ins Gleichgewicht setzen will, der verübt ein solches Panoptikumkonzert hypersymbolischer Metaphern, daß die verzwicktesten Rätsel der Turandot wahre Kinderspiele dagegen sind. Alldas bereichert natürlich ungeheuer die sinnlichen Wirkungsmittel der Dichtkunst, blos leider auf Kosten der geistigen Wirkung. Denn je empfindlicher die Umwege vom Verständnis der einzelnen Sinnbilder zur Erkenntnis des ganzen Bildsinnes auffallen, desto zerstückelter, also unvollkommener tritt die Gemütsbewegung ein, die den lebendigen Bildungswert des schönen Phantasiephänomens erst wirklich fortpflanzt von Geist zu Geist. Und es bleibt ewig ein dürftiger Trost, daß noch niemals ein Mensch den andern durchaus vollkommen begriffen hat.

Welcher Dichter blickt nicht zuweilen mit Grauen und Abscheu auf seine eigenen Bücher, diese Mumien seiner Phantasie, denen immer erst eine fremde Seele den Auferstehungsodem einblasen muß, und die doch stets vom gespenstischen Dunst des stummen Sarges umschleiert bleiben. Ja, könnten wir jedem, der uns hören will, wenigstens selber das Buch vorlesen! Dann würde wohl mancher dasselbe Wunder erleben, das meine Taubheit vor Hofmannsthal linderte. Denn in der körperlich warmen Menschenstimme beben von Anfang an alle Zauberkräfte der schöpferischen Seele in eins, alle die heimlichen Verwandlungskünste und redlichen Naturanwandlungen, die sich der Leser erst nach und nach zwischen den Zeilen zusammendeuten muß. Einst, als die Dichter noch fahrende Sänger waren, gehörte es mit zu ihrem Beruf, den Menschen das Wort recht vernehmlich zu machen; und es ist keine Imitation einer reproduktiven Virtuosenmode, sondern Symptom einer produktiven Epoche, daß auch heute wieder die Künstler des Wortes selber als Vortragskünstler auftreten. Freilich, es ist ziemlich zeitraubend, verstockte Ohren zu erweichen; und in[S. 133] unsrer Zeit der Arbeitsteilung wird es dem Dichter womöglich übelgenommen, wenn er als Anwalt des mündlichen Mitteilungstriebes ein paar Gedichtbücher weniger schreibt. Aber ob er der Mit- und Nachwelt dann wirklich etwas vorenthält? Was einer an Schöpferkraft in sich hat, das setzt er allemal in die Welt, ob nun durch hundert Pfropfreiser oder zehn Wurzelschößlinge. Die paar kurzen Lieder, die uns die fahrenden Leute der Vorzeit hinterlassen haben, sind sicherlich unsterblicher, als die tausend bandwurmlangen Prosa-Romane, mit denen unsre Schreibtischhocker jahraus jahrein die Welt beglücken. Und vielleicht genest der gebildete Europäer dermaleinst von der närrischen Lesewut, die seine Augen immer gieriger, seinen Verstand immer spitzfindiger, seinen Geist immer kurzsichtiger und sein Gemüt immer schwerhöriger gemacht hat.

Das Buch wird drum doch seinen Wunderwert als spiritistisches Medium behalten und dann sogar erst recht offenbaren. Auch jener afrikanische Wilde hat die Bibel ja schließlich vors Auge genommen; aber er würde es niemals gelernt haben, hätte sein christlicher Mitmensch ihm das Wort Gottes nicht immer wieder durchs Ohr zu Gemüte geführt.

Philosophische und poetische Weltanschauung

Ansprache im Monistenbund

Werte Zuhörer! Der Vorstand Ihres Vereins hat mich ersucht, die heutige Vorlesung meiner Dichtungen mit einer kurzen Darlegung meiner Weltanschauung einzuleiten, indem er mir zugleich erklärte, ich sei ein besonders origineller Repräsentant des „esoterischen Monismus“. Ich habe den Wunsch des Vorstandes abgelehnt, kann auch die schmeichelhafte Liebeserklärung nur mit Glaßeehandschuhen annehmen, und möchte Sie eindringlichst davor warnen, aus den Werken lebender[S. 134] Dichter und überhaupt zeitgenössischer Künstler das herausfinden zu wollen, was man heute unter Weltanschauung versteht, nämlich einen begrifflichen Leitfaden, mit dem sich der zweiflerische, aber glaubensbedürftige Verstand im Labyrinth der Ursachen und Wirkungen einigermaßen zu orientieren sucht.

Der Künstler denkt nicht in Verstandesbegriffen, wenn er bei seiner Arbeit ist; er denkt in Gefühlsvorstellungen. Er will nicht erst zum Glauben gelangen, sondern er geht vom Glauben aus. Er glaubt an alles, was da ist in der Welt; er glaubt auch an die verschiedenen Weltanschauungen, die in seiner Zeit miteinander kämpfen. Ich habe einmal einem Politiker, einem Konservativen echten Schlages, der mich fragte, was ich nun eigentlich sei, Sozialdemokrat oder Anarchist, nationalsozial oder liberal — dem habe ich geantwortet: „unter anderm auch konservativ!“ Und so könnte ich auch Ihnen sagen: ich bin unter anderm auch Monist, d. h. unter Umständen auch Dualist, oder Trialist oder Milliardist, oder sagen wir mal Polymonist.

Der Künstler umfaßt alle Welt mit Liebe. Selbst was er persönlich haßt und verachtet im Leben: sobald es ihn reizt, es in Kunst umzusetzen, ergreift ihn unwillkürlich die Liebe zur Sache. Es kann also jeder Genießer aus jedem Kunstwerk die Philosophie, Moral, Religion herausdeuten, die grade ihm die liebste ist. Das schließt schon aus, daß der Dichter als Dichter eine originelle Philosophie oder Theosophie darbieten kann; denn die ist immer unduldsam gegen anders gesinnte Originale, also im ernstesten Sinne unliebenswürdig. Er kann bestenfalls ein Echo sein all der weltbedeutenden Ideen, um die in seiner Zeit gekämpft wird.

Sehen wir uns einmal den Dichter an, der heute in Deutschland vorzugsweise als Weltanschauungsdichter gerühmt wird: Goethe. Wir finden keine solche Idee bei ihm, die wir nicht[S. 135] auch bei anderen Wortführern seiner Zeit und Vorzeit finden können, bei den Humboldt, Schlegel, Schleiermacher, Schelling, Kant, Lamarck, Spinoza usw.; und wir finden viele Ideen bei ihm, die einander durchaus widerstreiten. Nur weil er sie bei der Aneignung mit stärkerer Leidenschaft erfaßte, mit tieferer Liebe und höherem Glauben im Augenblick der Wortschöpfung, nur deshalb gilt er uns als der typische Repräsentant seiner Zeitgenossen; und nur weil wir die verschiednen Ideen, denen jene Männer ihr Lebenlang getrennt und einzeln nachhingen, in diesem Einen zusammengefaßt sehn, nur deshalb entnehmen wir daraus ein gemeinsames Gedankenband, die sogenannte einheitliche Weltanschauung jener sehr mannigfach denkerischen Zeit.

Denn eine einheitliche Weltanschauung hat es in Wirklichkeit niemals gegeben, zu keiner Zeit und in keinem Volke; es gibt auch heute keine zwei Menschen, die unter „Monismus“ genau dasselbe verstehen. Nur wenn wir zurückblicken auf vergangene Zeiten, dünkt uns diese oder jene Gedankenverbindung die sieghaft überwiegende. Aber wenn sich die bei einigen Dichtern, wie z. B. auch bei Dante, Äschylos, Kalidasa, Rumi, Litaipe mit besonders originellem Pathos ausspricht, dann wollen wir doch ja beachten, daß die Originalität nicht in den Gedanken steckt, sondern eben in dem Pathos, in dem mächtigen Aufruhr der Gefühle, der mit den Gedanken sein bildhaftes Spiel treibt.

Nehmen wir sogar einmal an, es könnte ein Allerweltsgenie geben, in dessen Schädel ein gleichermaßen origineller Philosoph und Poet beisammen hausten. Ich meine nicht jene Zwitterbegabung, bei der (wie z. B. in Nietzsche und Schiller) ein starkes Talent der einen Gattung mit einem schwächern der andren verkoppelt ist; sondern eben ein pures Genie, in dem beide Talente gleich kräftig wären. Wie ja manche Leute behaupten, daß Shakespear und Bacon in der Tat dieselbe Per[S. 136]son gewesen seien; worüber freilich jeder lächeln wird, der Bacons Novum Organon und Shakespears Dramen gründlich kennt. Aber nehmen wir an, sie waren wirklich ein und dasselbe Wundertier: ja, dann hat eben dieses Wundertier, um seine originelle Philosophie, seine neue Gedankenwelt darzustellen, seine drei philosophischen Werke geschrieben —: in seinen poetischen Werken dagegen, das wird wohl selbst der abstrakteste Kommentator zugeben, da kam es ihm eben auf Poesie an, also durchaus nicht auf eine Gedankenwelt, sondern auf eine Welt von Gefühlsgestalten, in der die Gedanken nur dazu dienen, sich gegenseitig ins Bockshorn zu jagen, oder (tragisch betrachtet) einander den Hals umzudrehen.

Man braucht drum noch lange nicht zu folgern, der Dichter sei nur ein Rohr im Winde, jedem phantastischen Stimmungshauch unterworfen, und daher fürs wirkliche Menschenleben eigentlich unzurechnungsfähig. Wenn dem so wäre, dann bliebe wohl alle Dichtung außer Rechnung fürs Leben der Menschheit; und das bleibt sie doch keineswegs. Der Dichter hat freilich keine Gedankenkette, an der er sich selbst und andere Leute auf dem wilden Weltmeer verankern kann; aber er trägt einen Gefühlskompaß in sich, der ihm und andern die Richtung weist, wo in der Windrose der Augenblicksleidenschaften seine stärksten und liebsten Empfindungen zum dauernden Pol zusammenschießen, zum sichern Gesichtspunkt gegenüber der Welt. Das sittliche Wort dafür ist Selbstzucht.

Das ist der ideale Punkt, dem jeder Künstler in seinen Gebilden zustrebt, und zu dem er schließlich auch die hinbildet, die er bezaubert durch dies Streben, durch diese liebreiche Anziehungskraft. Das ist es auch, was Goethe meinte, als er seinen Prometheus sagen ließ: „Hier sitz ich, forme Menschen! ein Geschlecht, das mir gleich sei!“ Und nach diesem weltumformenden Lebenszweck, ob er nun göttlich oder übermenschlich oder allgemein-menschlich genannt wird, mögen alle die unter[S. 137] meinen Hörern, denen der sogenannte rein künstlerische Genuß keine genügende Belohnung für die Anstrengung des Zuhörens ist, auch in meinen Dichtungen fahnden.

Der Olympier Goethe

Ein Protest

Eine öffentliche Gesellschaft von allerlei strebsamen Bürgersleuten hatte mich einmal eingeladen, Gedichte von Goethe zu deklamieren. Seit langer Zeit zum ersten Mal wieder las ich nun seine lyrischen Werke von A bis Z und der Reihe nach durch, um die heute noch lebensvollsten, menschlich wirksamsten Gedichte für den Vortrag auszuwählen, also absehend von artistischer und literarhistorischer Feinschmeckerei, und da erlebte ich eine Überraschung. Ich fand einen wesentlich anderen Goethe, als ich ihn in der Vorstellung trug, und als er wahrscheinlich vielen Deutschen von der Schulbank her vorschweben wird.

Das Bild des weisen Herrn Geheimrats, des harmonischen Olympiers, das der pädagogische Biedersinn unsrer meisten Literaturprofessoren von ihm hergerichtet hat, versank vor mir in einem chaotischen Nebelbrodem von Schmerzen, Leidenschaften und Zweifeln, aus denen nicht ein olympischer, sondern — um im antiken Gleichnis zu bleiben — ein titanischer Genius einen Kosmos herauszuläutern sucht; oder im Geist unserer Zeit geredet, nicht der Wille eines Ober-Regierungsrates, sondern etwa eines Mienen-Ingenieurs, der sich hinabarbeitet in die Wetterschächte grauenvoller Naturgewalten, hinab zu den unterirdischen „Müttern“, um ihre Kräfte heraufzufördern an das verklärende Tageslicht des väterlichen Heimatbodens, zu den „Gefilden hoher Ahnen.“ Also eine fortwährende Klärungsarbeit der Seele, keine jemals vollkommen erreichte oder gar von Hause aus mitgebrachte sogenannte Abgeklärtheit.

Was jene oberflächliche Meinung über den Vielumfassenden[S. 138] aufkommen ließ, das war sein allzeit schlagfertiger Verstand, der auch das Alltäglichste in Beziehung zur allgemeinen Wohlfahrt zu setzen wußte, seine gesellige Vernunft, die im Leben die Maske des Gleichmuts vor die einsam grübelnde Seele nahm und in der Kunst das ernste Spiel mit heiteren Tändeleien mischte. Das aber hat nicht den großen Dichter gemacht, der alles Menschliche in uns aufschürt und in ein Göttliches umzuschmelzen strebt; ja, es ist fraglich, ob man nicht einst über den artigen und verständigen Goethe, der für jede Gelegenheit ein gescheites Sprüchlein oder zierliches Reimlein in Bereitschaft hatte, ziemlich achselzuckend urteilen wird, sobald wir nämlich endlich einmal der neunmalklugen Redseligkeit unsrer Dreiviertelsbildung entwachsen sind.

Er verstand freilich auch das kleine Veilchen mit allen Würzelchen zu erfassen, und manchmal tut er gar wie der Schmetterling, der unbekümmert von Blume zu Blume gaukelt; aber wo sich sein ganzes Inneres auftut, da quillt die bodenlose Verzweiflung hoch, die mit dem Leben nicht fertig werden kann. Da entstehen die schwankenden Gestalten alle, durch die er sich die dämonische Qual der „zwei Seelen ach in der Brust“ immer wieder vom Herzen zu schaffen sucht, die Werther, Clavigo, Weislingen, Egmont, Tasso, Orest, Wilhelm Meister und Eduard; da entsteht Faust mit seinem Schatten Mephisto, und da auch entstehen als die unmittelbarsten Zeugnisse dieser furchtbaren Zwiespältigkeit seine ergreifendsten Gedichte. Denn, wie er selber es ausgesprochen hat:

Alles geben die Götter, die unendlichen,
ihren Lieblingen ganz:
alle Freuden, die unendlichen,
alle Schmerzen, die unendlichen, ganz! —

Erst wenn man sich das zu Gemüte führt, erst dann lernt man auch die gewaltige Kunst in diesen Gedichten ganz würdi[S. 139]gen, die bindende Kraft, die den wirbelnden Stoff einer so widerspruchsvollen Gefühlswelt so knapp zusammenzuordnen vermochte. Es ist manchmal, als müßte all diese Wortschönheit sich selbst von innen heraus zersprengen, wenn man nur erst die erschütternde Fülle ihres geheimsten Sinnes begriffen hat, so z. B. den grausigen Todesschauder in Mignons scheinbar seliger Sehnsucht nach dem „Land, wo die Zitronen blühn“ (letzte Strophe) — oder den wilden Galgenhumor in dem lehrhaft tuenden Trinklied „Vanitatum Vanitas“; wer ein solches Gedicht noch mit fast 60 Jahren schreibt, der ist weit entfernt vom olympischen Ruhekissen.

Kurz gesagt: es heißt Goethe verkleinern, wenn man ihn als Olympier anspricht. Soweit er wirklich olympische Anlagen hatte, war er weder ein Zeus noch ein Apoll; dazu mangelte ihm vor allem andern die unerschütterliche Hartherzigkeit dieser antiken Ideale. Nicht einmal ein Dionysos war er in seinen unbekümmerten Stimmungsstunden, sondern höchstens ein Ganymed oder Hermes, ein Spender der Anmut und Lebensklugheit, und mehr im römischen als im griechischen Sinne, wie er selbst einmal zu Herrn Eckermann sagte.

Aber wodurch er uns groß erscheint, so groß, daß wir ihn mehr bewundern oder doch sicherlich mehr lieben als seine vielfachen Vorbilder, das sind nicht diese Eigenschaften. Das ist sein ruhelos ringendes Doppelwesen, kraft dessen er selber ein Vorbild wurde, ein Vorbild für jede Übergangszeit, d. h. für jede ursprüngliche, neue Werte entdeckende Zeit: seine unerschöpfliche „Werdelust“, die sich mit prometheischer Inbrunst und paracelsischer Phantasie in alle leidvollen Anfangsgründe einer neu aufstrebenden Menschheit versenkte, weil sie herstammte aus dem Überdruß einer vollkommen vollendeten, abgetanen Freudenzeit.

Das altersmüde Rokoko hatte mit letzter mildester Grazie seine Jugendtage umspielt; und nun sucht er sein ganzes Leben[S. 140] lang einen Abglanz dieser verrauschten Schönheit über den brodelnden Aufbegehr der jungen Zukunft auszubreiten. Sie war ihm kein spielerischer Selbstzweck mehr, diese Klangschönheit seiner stärksten Gedichte; sie war eine zuchtvolle Notwendigkeit, um der verwirrend neuen Gefühlsgewalten überhaupt Herr werden zu können.

Und das auch wars, was ihn zur Antike zog, obwohl es ihm damals schon und mehr noch heute von manchem ehrlichen Deutschtümler nicht ohne Grund verdacht ward und wird. Auch die Griechen hatten die Schönheit nötig; ihre ganze höchste Kunst und Dichtung, bis zu den alten Mythen zurück, ist fort und fort auf das Eine bedacht, die dämonischen Kräfte zu bändigen, die im Blut dieses seltsamen Volkes spukten, die lapithischen und kentaurischen, mänadischen und hekatischen Triebe, die von Natur aus in ihnen staken und mit barbarischer Brutalität die mühsam errungene Kultur immer wieder gefährdeten.

Keiner aber der vielen Gräkomanen, die seit Winckelmann Deutschland überschwemmten, hat mit so schmerzlicher Klarheit wie Goethe erkannt, daß jede Heraufführung neuer Kultur, weil sie alte Kultur untergraben muß, zugleich auch wieder und immer wieder barbarische Instinkte mit aufrührt, und daß grade der deutsche Volkscharakter zu dieser rohen Kehrseite der menschlichen Entwicklungskraft neigt.

Es ist sein höchster und reinster Ruhm, daß er unablässig gegen diese Gefahr, die auch in seinem Charakter lauerte, seinen besten Kunstwillen aufgeboten hat, nicht wie ein ausgelernter Altmeister blos, dem die mancherlei Spiegelfechtereien der poetischen Technik glatt von der Hand gehen, sondern als ein steter Lehrling des Lebens, in oft sehr verzweifelter, manchmal vergeblicher, immer aber „strebend bemühter“ und eben dadurch „erlösender“, für uns alle vorbildlicher Notwehr.

Und deshalb wollen wir ihn nicht länger auf den hin[S. 141]fälligen Götzenthron verstorbener sorgloser Götter setzen, sondern uns der Grabschrift erinnern, die er selbst sich geschrieben hat:

Denn ich bin ein Mensch gewesen,
und das heißt ein Kämpfer sein.

Grabrede auf Liliencron

22. Juli 1909

Liebe Freunde und ihr Mitfühlenden alle! Wir müssen nun Abschied nehmen von diesem Toten, dessen Leben uns unsäglich beglückt hat. Es würde nicht in seinem Geist sein, hier viele Worte darüber zu machen, was wir an ihm verloren haben. Es würde erst recht nicht in seinem Geist sein, hier unsern Schmerz in die Welt zu rufen und einander das Herz noch schwerer zu machen. Wenn er jetzt unter uns treten könnte, er würde sagen: „Kopf hoch, Leute!“ Er würde es sagen, laut oder leise, mit seinem hellen trotzigen Lachen oder mit stillem gütigen Lächeln. Wir Wenigen, die ihm die Nächsten waren, und die wir es anfangs kaum fassen konnten, als er so jäh uns entrissen wurde, Er, dessen Jugendkraft unverwüstlich schien, plötzlich vernichtet durch einen Hauch, durch nichts als einen tückischen Windhauch — nein, wir können es immer noch nicht fassen. Aber nicht wir Nächsten allein stehen hier um die Grube versammelt, in die seine sichtbare Gestalt jetzt versenkt wird; wir stehen hier mitten in einer Gemeinde, die weit über diesen Friedhof hinausreicht, grenzenlos weit ins Leben hinaus, vereint durch sein unsichtbares Bild, das uns der Tod nicht entreißen kann. An solchem Grab wollen wir nicht trauern, wir wollen unsre Herzen erheben! Wenn wir weinen müssen, ist es nicht blos aus Schmerz; es ist aus überströmender Dankbarkeit, daß wir so Unendliches mitfühlen können. Des Dichters[S. 142] unvergängliches Werk, des Menschen unvergeßliches Wesen: ich weiß nicht, wodurch er uns mehr erhebt. Er war einer von den herrlich Gefügten, deren Leben und Dichten gleich kühn emporsteigt aus ihrer unverbrüchlichen Seele, so vollkommen gleich in freier Schwebe wie der herrliche doppelte Regenbogen, der sich gestern, nachdem wir in seinem Hause den Sarg über ihm geschlossen hatten, über den ganzen Himmel Hamburgs spannte, eine überirdische Ehrenpforte. Der Freiherr von Poggfred, so steht er vor uns, hoch über allem Standes- und Sittenzwang, aber treu jeder selbstgewählten Pflicht bis tiefst hinab ins Selbstlose, in das wir Alle verkettet sind. Helm und Degen liegen auf seinem Sarg; so hat ers verdient, der alte Soldat, der mit Leib wie Seele für uns gekämpft hat, für uns Deutsche und für uns Menschen. Helm und Degen wird er nun immer tragen, und einen unverwelklichen Blumenkranz, wenn er im Geist vor uns aufersteht, nicht mehr nun der alte Soldat, sondern der immer junge Held, der uns entzückt von Kampfplatz zu Kampfplatz führt wie zu einem hinreißenden Tanz. Denn so ist er in Wahrheit durchs Dasein getanzt, noch bis zu seiner letzten Reise, die er mit Weib und Kind unternahm, um den liebsten Menschen, die er hatte, seine geliebten Schlachtfelder zu zeigen. Dort hat ihn der feindliche Lufthauch getroffen, der die tödliche Entzündung entfachte; und dann ist er dem Wink des Todes gefolgt, wie er den Winken des Lebens zu folgen pflegte, rasch dahin, ohne langes Gefackel. Ganz geschlossen ist das Spiel seines Lebens, wunderbar ganz in sich geschlossen, trotz aller Kreuz-und-Querzügigkeit; vollkommen vollendet auch noch sein letztes Gedichtbuch, auf das er den Titel „Gute Nacht“ gesetzt hat, als ob er den Schlaf schon nahen fühlte, auf den er gefaßt war wie Wenige, ohne Furcht vor der ewigen Nacht, ohne Hoffnung auf einen jüngsten Tag, sondern mit reiner ruhiger Ehrfurcht vor der unerfaßlich unerschöpflichen Macht, die uns leben und sterben läßt. Nein, er war nicht blos der[S. 143] kindhafte Spielmann, nicht der harmlose Junker Übermut, der liebenswürdig leichtsinnige, für den ihn Viele gehalten haben, die sich nur an der bunten Oberfläche seiner reichen Einbildungskraft vergnügten, oder die sich ärgerten an der allzeit offenen, zum Geben wie Nehmen offenen Hand des armen Schuldenmachers der Wirklichkeit. Er war auch der Mann der schweren Stunden, der einsamen Fragen und Gedanken, der auf Jesus mit den Worten wies: „Nach Innen sah ich seine Schmerzen weinen.“ Er hat nur deshalb das menschliche Leben in ein launisches Spiel der Natur umgedichtet, weil er den furchtbaren Ernst unsres Lebens aus innerster Erfahrung begriff, weil er sich frei davon machen wollte, frei von der grausigen Notwendigkeit und notwendigen Grausamkeit, vor der sein empfindliches Gewissen immerfort in Entsetzen geriet. Er hat sich ja nicht als Jüngling zum Dichter geschult, sondern als Mann erst, der vom Schicksal geprüft war, der auf Schlachtfeldern und in fremden Ländern die Menschen hatte ringen sehen. Das ist das Wunder an seinem gereiften Geist, daß beides innigst in ihm vereint blieb: der trotzige Jüngling, der unbedenkliche, und der gütige Mann, der nachdenkliche. Daher sein starkes, herzbefreiendes Lachen, das niemals zerrissen geklungen hat, und zu dem sein feines huschendes Lächeln wie ein gedämpftes Echo stimmte. Daher das herzgewinnende Plaudern des mitteilsamen Menschenfreundes, aber zugleich auch der lauschend verschleierte Blick des tief verschwiegenen Menschenkenners. Daher der edelmütige Zauber seiner ganzen Haltung und Zurückhaltung, diese seltsame Liebenswürdigkeit, der niemand sich entziehen konnte, diese unwillkürliche Umgänglichkeit, selbst wo er haßte oder verachtete, diese wohlbedachte Leutseligkeit, der nur seine nächsten Freunde anmerkten, wieviel zarte und harte Menschenscheu sich darunter in einsamer Tiefe verbarg. Und daher auch die Zauberkraft des Dichters, durch die er selbst seine trübsten und leidvollsten Einsamkeiten in helle Lust für uns Alle verwandelt hat, dieser große Unverkümmerte, der[S. 144] uns nun mit seiner verklärten Stirn auch über den Abschiedsschmerz noch hinweghilft, auf seinem Regenbogen dahintanzend über dem irdischen Getümmel. Habe Dank, du wundervolle Seele! Ich höre deine eigenen Worte: „Der Himmel lächelt seinem Sonntagskinde.“ Ruhe nun aus vom Menschenelend, du tapferes, mildes, adliges Herz! —

Naivität und Genie

Spiritistischer Dialog

„Das ist naiv“... Wenn wir das hören, wissen wir nicht ohne weiteres, soll das ein Lob, ein Tadel oder einfach eine Aussage sein. Besonders Künstlern passiert das oft; da ist irgend etwas in ihren Werken, das hält der eine Betrachter für „recht naiv“, der andre für „vollkommen naiv“, wieder ein andrer für „gar zu naiv“, und ein abermals andrer für „nicht naiv genug“. Wenn man dann jeden von ihnen fragt, was er mit diesem beliebten Fremdwort eigentlich habe sagen wollen, erhält man regelmäßig eine Belehrung über das unbewußte Gemüt. Und wenn man hierauf zaghaft bemerkt, daß nach menschlichem Wissen noch kein Gemüt in bewußtlosem Zustand ein Kunstwerk verfertigt habe, auch daß sich über das Unbewußte füglich doch wohl nichts wissen lasse, dann wird man mit neuen Fremdwörtern heimgeschickt. Vornehmlich die Wörter „Instinkt“ und „Genie“ spielen da eine kräftige Rolle; und wenn der Deutsche mit wuchtigster Schlagkraft auf die Tiefe seines Gemüts pochen will, dann spricht er das Wort „Naturgenie“ aus. Bleibt dem Instinkt des erschütterten, teils ganz naiven, teils mehr als naiven, teils nicht ganz naiven Fragestellers anheimgestellt, ob er sich für ein schlechtweg natürliches oder ein etwas übernatürliches oder ein ziemlich unnatürliches Naturgenie ästimieren soll. Denn sein bißchen Talent steht ja außer[S. 145] Zweifel; nur scheint es ein wenig zu kultiviert, sonst würden jene wohlmeinenden Leute doch wohl nicht um seine Natürlichkeit hadern.

Merkwürdigerweise kann aber kein Künstler umhin, sein Talent nach Kräften zu kultivieren; und manches Genie, das mancher Kunstfreund für nicht ganz stark genug erklärt, weil es leider nicht naiv genug sei, ist manchem ebenso klugen Gönner blos leider nicht kultiviert genug. Also kam ich eines Tages auf die Vermutung, daß jenes rätselhafte Fremdwort wohl etwas Andres besagen müsse als den sogenannten genialen Instinkt, diesen angeblich unbewußten Naturtrieb, der doch so sonderbar selbstbewußt auftritt, so eigensinnig in sich befangen; und ich suchte mir auf gut Deutsch zu sagen, was denn „naiv“ klipp und klar bedeute.

Da fiel mir zunächst ein: unbefangen. Dann: unwillkürlich, triebhaft, ursprünglich, urwüchsig, freimütig, unverstellt, ungezwungen. Dann ungekünstelt, ungelehrt, unberechnet, unverdorben, unschuldig, treuherzig, harmlos, bieder, gesund, frisch, lauter, wahrhaftig, schlicht, gemeinverständlich, einfach, einfältig; aber da kam ich schon in die Brüche. Einfältig: das konnte ganz nach Belieben „tumb“ im guten altdeutschen Sinne oder „dumm“ im neudeutschen schlechten bedeuten, konnte kindisch sowohl wie kindlich heißen, unvernünftig wie unvernünftelt. Und freimütig, unverstellt, wahrhaftig: kann das nicht unverschämt und frech, ungeschlacht, grob und plump erscheinen? Unwillkürlich: ist das nicht unter Umständen richtiger unfreiwillig zu nennen, in einem recht lächerlichen Sinne? Unberechnet richtiger unüberlegt, unbesonnen, unbedacht, unverständig? Hat nicht jegliches Tun etwas Triebhaftes, auch die durchtriebenste Künstelei?! Wird nicht gemeinverständlich und schlicht genannt, was oft schlechterdings nur gemeinplätzig ist! Kann das Ungekünstelte nicht das Kunstlose sein, und das Kunstlose das Unkünstlerische! Und der Unverbildete: ist er[S. 146] nicht meistens — oder der Biedermann wohl stets — auch ungebildet, ungesittet, ungeschickt, unfein, täppisch, verlegen, also durchaus nicht ungezwungen, sondern eher verbohrt, beschränkt, befangen! etwa was die Franzosen bête titulieren.

Das alles also, sagte ich mir, kann hinter dem Naiven stecken. Ich war ausgegangen von unbefangen und war bei befangen angelangt; das grenzte doch arg ans bewußte Unbewußte. Ich war naiv genug gewesen, meinen gesunden Menschenverstand zu befragen, und war anscheinend auch noch naiv genug, mich nun von ihm genarrt zu fühlen; ich kam mir ein bißchen als deutscher Michel vor. Natürlich begann mein Instinkt nun erst recht nach der Erkenntnis zu begehren, bis zu welchem Grad ein Genie sich erlauben darf, naiv zu sein oder aber zu bleiben; denn es könnte ihm ja der Kulturberuf obliegen, oder vielleicht sogar der Naturberuf, sich selber gewisse Naivitäten um des menschlichen Selbstbewußtseins willen vernünftigerweise abzugewöhnen. Und da ich mich trotzdem, wie gesagt, von meiner bewußten Vernunft genasführt fühlte, so mußte ich wohl oder übel nun doch versuchen, das Unbewußte zu Rate zu ziehen.

Also beschloß ich, auf spiritistischem Wege ein von der kultivierten Menschheit offiziell als naiv anerkanntes Genie aus der Geisterwelt herbei zu zitieren, sei es nun aus der Unterwelt oder aus einer Überwelt. Am liebsten hätte ich selbstverständlich den Vater Homer heraufbeschworen; aber der war schon so lange tot, daß womöglich auch sein Geist nicht mehr lebte oder sich schon in irgendeine unerreichbare Welt verflüchtigt hatte. Wer blieb da übrig als der Altmeister Goethe, der von sämtlichen deutschen Professoren als das Non-plus-ultra moderner Naivität wie klassischer Kultur deklariert war, überhaupt als ein Muster an Harmonie; bei Shakespear war die schon zweifelhaft. Also ließ ich mir den Geist Goethe kommen.

Es ist das bei weitem nicht so schwierig, wie man gemein[S. 147]hin zu meinen geneigt ist. Man braucht nur ein gewisses Wissen von einem solchen Geist zu besitzen, wenigstens dem Namen nach, dann ist man bereits besessen von ihm; man braucht dann dies Wissen nur zu vergessen, d. h. das Bewußtsein dieses Wissens, sodaß nur das Unterbewußtsein noch weiß, von welchem geistigen Überbewußtsein man selbstvergessen besessen ist, und dann läßt man sozusagen im Schlaf diesen überbewußten Geist aus sich reden, der dadurch natürlich vollkommen erwacht. Die Wissenschaft nennt das Somnambulismus oder autosuggestive Hypnose und läßt es gewöhnlich durch ein Medium hysterischen Charakters besorgen. Das ist aber erstens sehr umständlich, denn man muß dem Medium immer erst die zweckentsprechende Suggestion zur Autosuggestion beibringen; zweitens auch sehr unzuverlässig, denn das Medium — naiv wie es ist — verwechselt leicht sein hysterisches Unterbewußtsein mit dem genialen Überbewußtsein und schwindelt dann dummes Zeug zusammen; drittens auch noch recht kostspielig, von wegen der Nervenheilanstalten. Man kommt bequemer, besser und billiger weg, wenn man sich selber auf einige Zeit seines Selbstbewußtseins im Geiste entäußert; nötigenfalls durch etwas Weingeist. Man darf dabei nur nicht unterlassen, die Autosuggestion darauf einzurichten, daß man sich an die Äußerungen seiner geistvollen Selbstentäußerung nachträglich noch zu erinnern vermag.

Das tat ich denn auch und merkte alsbald, wie sich Goethens Geist auf mich niederließ. Oder vielmehr: zu mir herabließ. Denn er schwebte vor mir in einem solennen, bis an die Kravatte zugeknöpften, goldgestickten Ministerfrack, mit einem großen Stern auf der Brust, und ließ ein höchst unwirsches Räuspern vernehmen. Ich, tief benommen, räuspre mich gleichfalls. Darauf Er, mit gänzlich lautloser Stimme: Ich bin zur Stelle, was wünschen Sie?

Ich, mit ganz ebenso lautloser Stimme: Euer Excellenz wollen gütigst verzeihen, daß ich mir so im Geist unterstehe,[S. 148] Ihre erhabene Ruhe zu stören. Aber es handelt sich um die Entscheidung einer ungemein bedeutenden Frage, nämlich ob die geniale Natur eine im Sinne Euer Excellenz wie der übrigen Wirklichen Geheimen Räte der ewig bildungsbeflissenen Menschheit harmonische Kultur zu erlangen vermag, sobald sie nur ihren produktiven Instinkt, speziell das poetische Talent, völlig naiv gewähren läßt.

Er, merklich seinen Unmut bezähmend: Da müssen Sie unsern höchst schätzbaren Freund, den Herrn Hofrat Professor v. Schiller befragen.

Ich: Euer Excellenz wollen gütigst glauben, daß ich des Herrn v. Schiller unsterbliche Werke, insbesondere seinen berühmten Traktat über naive und sentimentalische Dichtung, mit meinen bewußten Geisteskräften fast ebenso sorgfältig durchstudiert habe wie Euer Excellenz eigene Schriften. Allein ich hoffe mir unbewußt eine klarere Aufklärung zu erwirken, als ich aus diesen Erzeugnissen eines weiland vernünftigen Seelenlebens zeitweilig zu gewinnen vermochte. Denn es werden in gegenwärtiger Zeit, was Euer Excellenz verewigtem Geist vermutlich nicht bewußt sein wird, die Begriffe „naiv“ und „sentimental“ nicht mehr so gegensätzlich empfunden, wie Herr Professor Schiller sie nahm. Vielmehr erscheint den Geistern von heute diese heftige Gegeneinanderstellung als triebhafter Ausdruck einer Zeit, die ungleich gefühlvoller war als die jetzige und deshalb auf eine heilsame Selbstzucht wider ihre Empfindsamkeit überaus scharf bedacht sein mußte. Jetzt ist als Gegensatz zum Naiven eher das Raffinierte verrufen, das Problematische, Mystische, Kapriziöse, Preziöse, Bizarre, Ironische; und wo der Herr Hofrat v. Schiller beinahe geneigt war, das Graziöse für das Naive zu nehmen, wird heute von manchem höchst trefflichen Volkserzieher das Brutale an dessen Statt geschätzt.

Er, etwas weniger an sich haltend: Es scheint, die Begriffsverwirrung in Deutschland ist bis zur trübesten Gärung gediehen.

[S. 149]

Ich: In der Tat befinden sich seit Jahrzehnten alle Begriffe in solcher Gärung, daß gemäß den natürlichen Bildungsgesetzen wohl endlich die Klärung eintreten wird. Euer Excellenz dürfen überzeugt sein, daß dieser gedeihliche Prozeß, der nach Meinung der vorgeschrittensten Geister von Excellenz selber inauguriert ist, zugleich auch den unterbewußten Beweggrund meines überbewußten Anliegens bildet. Es kann sich wohl Niemand mehr verhehlen, daß Herrn v. Schillers gestrenge Begriffsscheidung, so sehr sie auf wirklichen Unterschieden zwischen gewissen Kunstwerken ruht, ihre ausschließende Geltung einbüßt, sobald sie auf die volle Natur eines ganzen Künstlers bezogen wird. Wie Excellenz selbst schon in den Gesprächen mit dem jungen Herrn Eckermann bemerkten, daß keinerlei sentimentale Dichtung irgendwelchen Bestand haben kann, die nicht aus einem naiven Gefühlsgrund gleichsam hervorgewachsen ist, so dürfte auch kein im Sinne Schillers naiver Dichter zu finden sein, der ohne sentimentalische Mitgift ein menschliches Herz zu erobern vermöchte. Weswegen denn Schillers sentimentalstes Gedicht — „seid umschlungen, Millionen“ — heute für sein naivstes gilt, manchem Kenner sogar für allzu naiv. Und daß bei Homer die Pferde weinen, gar aus Trauer um den Tod eines Menschen, das ist eine solche Naivität, wie kein moderner Poet verlautbaren dürfte, ohne von sämtlichen Rezensenten als ein lächerlich hypersentimentaler Naturverfälscher gebrandmarkt zu werden.

Er, immer mehr aus seiner Zurückhaltung tretend: Also erfrecht der gemeine Verstand sich bereits, den griechischen Edelmut zu bekritteln?

Ich: Der kritische Disput um die Griechen ist allerdings im letzten Jahrhundert dermaßen gemeinverständlich geworden, daß ihre überaus edle Gemütsart nun den weitesten Kreisen zur Kenntnis liegt und mehr denn jemals gepriesen wird. Aber zugleich ist bekannt geworden, daß die Antike zu keiner Zeit so[S. 150] idealiter naiv war, wie Herr Professor Schiller noch mutmaßen durfte, daß insbesondere neben Homer der Dichter Archilochos gleich hochgeschätzt war, den man nach aller Forschung durchaus für einen Sentimentaliker ansprechen muß, einen elegischen Ironiker vom dämonischen Schlage des Lords Byron, des erlauchten Freundes Euer Excellenz. Auch hat sich bestätigt, was Excellenz ahnten, daß nämlich der Dichter, der die Balladen der prähomerischen Tradition in die zwei großen Epen organisierte, kein plötzlich emporgeschossener Sprößling eines kindlich urwüchsigen Zeitalters war, sondern der langsam gereifte Früchtling einer freilich noch patriarchalen, aber schon äußerst regulierten Kultur. Und wer den Homer einmal daraufhin lesen will, wie deutlich in seinem epischen Kosmos menschliche Ordnung und göttliche Willkür allenthalben kontrastiert sind, der wird auch bei diesem beschaulichen Ahnherrn ein gut Teil Ironie entdecken und denselben merkwürdigen Hintersinn gegen eine verblühte Naturreligion zu Gunsten neu keimender Humanität, der einige Jahrhunderte später in den Tragödien des Äschylos mit sentimentalster Leidenschaft auftrotzt. Ist das nun blos naiver Instinkt, oder ist es intelligente Tendenz? Spricht nicht aus allen Konflikten der Griechen ein problematischer Aufklärungskampf um Freiheit und Gerechtigkeit, der sich schließlich bei Euripides zum raffiniertesten Pathos zuspitzt und zugleich bei Aristophanes zur kapriziösesten Persifflage?

Er, sichtlich zur Erwägung geneigt: Im Ernst eine ungemeine Frage. Und da denn alles Ungemeine auch allgemeine Bedeutung hat, verlohnt sich wohl eine ernste Betrachtung.

Ich: Haben Euer Excellenz annehmen können, ich wollte mir zum Spaß unterstehen, Ihren verewigten Geist zu zitieren?

Er, mit gelassener Laune lächelnd: Ich habe den Mephisto geschrieben —

Ich: Und wenn ich Excellenz recht verstehe, haben Sie[S. 151] dennoch auch den Faust schreiben können, samt Gretchen und dem Famulus Wagner, und die Einen so naiv wie die Andern —

Er, von unendlicher Heiterkeit leuchtend: Wie bereits unser höchst vortrefflicher Schiller zu seiner naivsten Verwunderung wahrnahm.

Ich: Aber was ist alsdann das Naive, wenn es weder das Sentimentalische noch auch das Problematische ausschließt? Und wie verträgt sich das Raffinierte damit?

Er, von erhabenstem Wohlwollen strahlend: Wie sich Alles in der Natur verträgt, was mit reinem Willen ein Ganzes fördert. Wie denn auch Einfalt gern die Berechnung heranzieht, sobald sich der natürliche Sinn in Hinsicht auf sein Gesamtbefinden nur irgend Vorteil davon verspricht, ob das der kultivierte Geist nun Bauernschlauheit oder Indianerlist schilt. Und wenn in objektivem Betracht das Naive das durchaus Klare ist, in subjektivem das Lautere, wie sollte es dann mit dem Raffinierten, das doch auf deutsch sowohl das Geläuterte wie auch das Abgeklärte heißt, nicht rein und willig zusammenwirken!

Ich: Inzwischen hat freilich das Raffinierte einen übeln Nebensinn angenommen und heißt jetzt eher das Abgefeimte, Durchtriebene, Geriebene.

Er, mit erheblicher Ungeduld: So mag es denn auch noch ausgefeimt heißen, sofern es nur nicht betrüglich ist.

Ich: Doch scheint mir dies alles zwar unzweideutig das Naive der Natur zu bezeichnen, aber noch nicht das Naive der Kunst; während doch die geniale Natur, wenn anders mein unterbewußter Verstand meine überbewußte Vernunft nicht betrügt, Beides in sich vereinigen und irgendwodurch bemessen muß, um harmonisch und kulturell zu wirken. Denn etwa zu sagen, daß jeder Künstler auf seine besondere Art naiv sei, das würde doch fast schon nichtssagend sein.

[S. 152]

Er, den obersten Knopf seines Frackes lüftend: Da dürfte denn wohl das Problema stecken. Indessen war es nie meine Art, mich mit abstrakten Spekulationen um widerspruchsvolle Begriffe zu plagen; wir wollen lieber ein Beispiel betrachten, das auf das Naive ein zwiefaches Licht wirft. Es ist da unlängst in der Geisterwelt ein Herr Professor Nietzsche erschienen, der mir mit überaus gütigem Eifer eine Aufmerksamkeit erweisen wollte, indem er zuvörderst auf die Autoren des Neuen Testamentes schmähte, dann über Martin Luther herzog und zuletzt auch meinen Freund Schiller angriff, und dies in einem höchst würdigen Stil, der sich teils an dem Evangelisten Johannes, teils an dem Apokalyptiker, mehr noch vielleicht am Apostel Paulus, doch zumeist an Luther gebildet hatte, und mit einem äußerst gewaltigen Pathos, das mich stark an den jüngeren Schiller gemahnte. Das, mein werter Herr Doktor, sehen Sie wohl: das war in beidem Betracht naiv, von Natur aus wie auch von Kunst wegen, und war zugleich doch raffiniert.

Ich: Wenn es nicht etwa allzu naiv war. Denn es dünkt mich eine Art Selbstbetrug, war also vielleicht nicht genug raffiniert.

Er, die rechte Hand in den Busen steckend: Ich sehe, Herr Doktor, mein werter Freund Nietzsche hat mich außerdem auch noch vortrefflich berichtet, indem er mir von der Eindringlichkeit gewisser neuester Dichter sprach. Indessen muß wohl alles Naive in einer Art Selbstbetrug beruhen, ohne welche der Anschein entstehen würde, als wolle der welterfahrene Künstler mit seiner Einbildung Andre betrügen. Wie denn auch schon dem kindlichen Spiel eine Lust zur Verstellung innewohnt, die jeder Erwachsene leicht durchschaut, doch welche ihn umso reizender anmutet, je inniger sich die kindliche Seele über diese ihre Schauspielerei in eine artige Täuschung wiegt. Nur ist freilich das Reizende nicht das Bedeutende.

Ich: So müßte denn wohl das höchste Genie, insofern es[S. 153] die klarste Erfahrung bedeutet, über solchen naiven Selbstbetrug in jedem Betracht erhaben sein, ob nun geläutert durch Kultur, ob aus natürlicher Lauterkeit.

Er, mit entschiedener Ablehnung: Ich weiß von keinem höchsten Genie! Ich weiß nur von einigen würdigen Geistern, die jeder in seiner Art sich bestrebten, irgend ein Hohes heranzubilden. Wer aber vollkommen erhaben wäre, der dürfte sich wohl erst recht so gefallen, wie die Natur ihn gebildet hat, und sogar auch seine Verblendungen mit ähnlichem Gleichmut in Vogelschau nehmen wie Napoleon auf St. Helena.

Ich: Doch ist mir an Kunstwerken aufgefallen, daß gerade die bedeutendsten Künstler diese Art Selbstanschauung nicht pflegten, vielmehr nach einer freien Klarheit über das menschliche Innere strebten, die den blinden Trieb der naiven Natur zum mindesten einschränkt, wenn nicht ausschließt.

Er, mit gemessener Zustimmung: Es könnte sein, daß der blinde Naturtrieb durch Künstlergeist sehend werden möchte.

Ich: Jedenfalls kann alsdann das Naive nicht den Wert der genialen Natur ausmachen. Sonst müßte, scheint mir, ein Burns einen Byron, ein Claudius einen Goethe aufwiegen.

Er, die Hand aus dem Busen nehmend: Ich muß bitten, mein sehr werter Herr Dehmel, das Persönliche aus dem Spiel zu lassen.

Ich: Doch wird ein erhabener Geist mir nicht wehren, nur des Beispiels halber noch zu bemerken, daß auch bei den anderen hohen Persönlichkeiten der vornehmsten Kulturnationen — bei Sophokles wie bei Kalidasa, bei Dante wie Calderon, Shakespear wie Rabelais, Cervantes wie Swift, Lionardo wie Dürer, Michelangelo wie Rubens wie Rembrandt, Palestrina wie Bach wie Mozart wie Beethoven — das Naive überall höchstens die Rolle des rührigen Mägdleins im Königsschloß spielt, wo nicht blos des handlichen Prügelknaben, und meistens zu gar keinem Vorschein tritt; wohingegen es sich bei[S. 154] vielen sehr reizenden, jedoch nicht eben bedeutenden Künstlern mit breitestem Behagen ergeht und oft ihr ganzes Gedinge beherrscht. Allein den einzigen Vater Homer nennt man immer wieder als Gegenbeispiel, indessen wohl lediglich aus dem Grunde, weil die patriarchalen Kulturprobleme, um die sich die naiven Konflikte seiner merkwürdig sinnreichen Helden drehen, der heutigen Menschheit nichts mehr bedeuten und deshalb gern übersehen werden. Es müßte auch, deucht mir, um die Menschheit unglaublich widersinnig bestellt sein, wenn grade die stärksten Künstlerseelen, die doch von dem ewig währenden Kampf zwischen Menschenvernunft und blindem Naturtrieb am allerheftigsten mitbewegt werden, ihre Kraft an ein kindlich einfältiges Spiel der trüglichen Sinne verschwenden sollten, anstatt mit männlichem Eigenwillen einen redlichen Ausgleich jener Zwiespältigkeit wenigstens zeitweilig zu erwirken. Oder denkt ein hoher Geist anders darüber?

Er, das zweite Knopfloch des Frackes öffnend: Sie sind sich offenbar nicht bewußt, daß aller zeitweilige Wert eines Kunstwerkes dessen dauernde Fortwirkung nicht erklärt, daß folglich nach vernünftiger Schätzung sein löblicher Inhalt an Kultur dem natürlichen Gehalt wohl beigeordnet, jedoch nicht übergeordnet werden kann.

Ich: Ich befinde mich allerdings zur Zeit in einer Art unbewußtem Zustand; und ich weiß nicht, ist es unterbewußte oder überbewußte Sinnentäuschung, daß ein deutscher Klassiker hier so romantisch redet?!

Er, befremdet: Was für ein Klassiker?

Ich: Dessen Geist mir soeben erst gebot, das Persönliche aus dem Spiele zu lassen; wohl weil es das vollauf Natürliche ist.

Er, aufs höchste erstaunt: Ich ein Klassiker??

Ich: Von der ganzen Nation heute so genannt! Sollte das in der Geisterwelt unbekannt sein?

[S. 155]

Er, mit Mühe seinen Verdruß beherrschend: Da habe ich nun den deutschen Barbaren zeit meines Lebens ins Ohr geblasen, daß klassische Nationalautoren in Deutschland ein Ding der Unmöglichkeit sind, solange sich dieses unglückselig zerstreute und zerfahrene Volk nicht in allen Stücken zu einer soliden nationalen Kultur gesammelt hat; habe wieder und wieder nachgewiesen, daß inzwischen das originale Talent nur auf internationaler Basis eine sichere Haltung gewinnen könne, daß überhaupt die Epoche der Weltliteratur die einzige übrige Möglichkeit für eine glückliche Bildung sei. Und nun kommt diese widerspruchsvolle Horde literarischer Sanskülotten, die mich ehemals an den Schandpfahl wünschte, und will mich zu ihrem Klassiker stempeln! Als ob durch solchen armseligen Selbstbetrug nur irgend ein Wahres gefördert würde!

Ich: Das ist freilich naiv; doch hat sich Deutschland —

Er, ohne Achtsamkeit weiterwetternd: Da habe ich mich von Jugend auf durch tausend ungereimte Begriffe und widrig abstrakte Meditationen zu einiger Klarheit hindurchplagen müssen; und statt wahrhafte Anerkennung zu finden, muß ich hier die reizende Botschaft vernehmen, daß ich eitler Prahlhansigkeit zum Deckschild diene! Das ist äußerst unerfreulich, Herr Doktor!

Ich: Euer Excellenz haben zwar vorhin beliebt, ein Gegenteiliges auszusprechen; indessen könnte das Widerspruchsvolle, obwohl es gewiß nicht das Wahre ist, doch grade das eigentlich Wahrhafte sein.

Er, merklich betroffen: Wie meinen Sie das?

Ich: Wenn Excellenz sich nicht leider verbeten hätten, Ihr Persönliches zu berühren —

Er, an dem untersten Frackknopf nestelnd: Es hat mich von jeher nur wohl berührt, wenn mir Jemand gehörig die Wahrheit sagte; das will heißen, mit dem gehörigen Anstand.

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Ich: Nun, der Name Goethe gilt eben heute als Inbegriff deutschen Strebens nach Bildung, nach innerer Sammlung zu äußerer Einheit, nach einer persönlichen Harmonie mit dem sozialen Kulturinstinkt.

Er, mit vollständig aufgeknöpftem Frack: Man rede mir nur nicht von Harmonie, bevor man nicht alle Dissonanzen vernommen und begriffen hat!

Ich: Man hat sie alle so fleißig begriffen, daß heute im neuen Deutschen Reich kein Skribifax zu finden sein dürfte, der seinen absurdesten Feuilletonwitz wie seine banalste Kathederweisheit nicht mit irgend einem beiläufigen Satz aus Goethes widerspruchsvollen Schriften belegt und sich feierlich auf das Genie beruft.

Er, mit einer Miene leidvoller Dumpfheit: So hat man mich eben schlecht begriffen.

Ich: Oder vielleicht nur gar zu gut, nämlich ein wenig zu naiv.

Er, erleichtert, mit einem belustigten Lächeln: Sie scheinen mir recht raffiniert, mein wertester Freund.

Ich: Oh, mein teuerster Gönner, auch ich bin ein Deutscher. Denn inzwischen hat sich unser Volk immerhin doch auf einen gewissen Grad politischer Einheit zusammengerafft; und wenn dennoch seine soziale Kultur so zerstückelt wie jemals geblieben ist, so blickt drum jeder Gebildete, und mehr noch der Bildungsbedürftige, mit naivster Ehrfurcht auf eine Persönlichkeit, die — ob sie im Einzelnen noch so triebhaft von natürlichen Dissonanzen bewegt war — doch im Ganzen als ein beharrliches Vorbild für den nicht minder natürlichen Trieb nach harmonischer Kultur vor der Welt steht. Das aber, scheint mir, ist eben die Wirkung, die von jedem erhabenen Künstler ausgeht und allen erhebenden Kunstwerken beiwohnt. Mag der Bildungsstand, den sie enthalten, ein überall zeitlich bedingter sein, so ist doch der ewige Ausbildungstrieb, der diesen Inhalt zusammenhält, ein unbedingt Natürliches, ein allge[S. 157]mein menschlich Notwendiges, von innerstem Grund aus Wirksames, über Zeit und Volk hinaus Wertvolles. Und ein solcher Wert, so mysteriös und problematisch er immer ist, wird denn doch wohl selbst dem löblichst naiven Spieltriebe überzuordnen sein, der sich an seinem jeweiligen Zustand trüglich-vergnüglich genügen läßt. Was den Zeitgenossen wie bloßes Stückwerk eines widerspruchsvollen Geistes deuchte, wird der strebsamen Nachwelt den vollen Gehalt einer wahrhaftigen Seele bedeuten, zumal da noch niemals eine Nation ihre jeweils erreichte eigne Kultur für vollkommen harmonisch befunden hat und wohl auch niemals befinden wird, so wenig wie der einzelne Mensch, am wenigsten aber der geniale. Sollte das nicht, so wahrhaft menschlich es ist, doch vielleicht auch ein göttlich Wahres sein?

Er, mit hellstem Lächeln: So sei es denn! — Nur gebe man auch dem Teufel sein Recht; und der war von jeher ein dummer Teufel.

Ich: In welchem Sinne soll ich das nehmen?

Er, schalkhaft nickend: In keinem Sinne! Wohl aber in einem gewissen Verstande, der sich verteufelt betriebsam zeigt und den edelsten Bildungstrieb ausarten macht, sofern er nicht im Naiven wurzelt. Man hüte sich vor der Reflexion, die den Wurzelboden zerwühlt wie ein Maulwurf!

Ich: So sollte es wirklich das Nachdenken sein, wodurch das ursprüngliche Gefühl, das jeden Künstler zum Werke treibt, zuweilen so unhold befangen wird, daß ein Unwirksames daraus entsteht?

Er, immer noch schalkhaft: So könnte es sein.

Ich: Indessen ist mir von einem Dichter, der heute für den naivsten gilt, weil erst Wenige seine originellere, höchst ironische Bedeutung hinlänglich schätzen, von meinem Freunde dem Freiherrn von Liliencron, zu öfteren Malen anvertraut worden, daß er gründlichst über sein Dichten nachdenkt. Ja, ich weiß von einem seiner Gedichte, worin das gewiß recht[S. 158] naive Gefühl einer starken Betrunkenheit dargestellt ist, daß er es sieben Jahre lang in Gedanken herumgetragen hat, bevor es ihm reif zur Abfassung war.

Er, ernsthaft: Dergleichen geschah auch mir oft genug, und wird wohl jedem Dichter geschehen. Nur verkenne man nicht, daß es Zweierlei ist, über Gefühle nachzudenken oder über die Darstellung von Gefühlen! Das Eine ist die Reflexion des ästhetisierenden Philosophen, das Andre die technische Logik des Künstlers. Die mag und soll er nach Kräften üben; nur behüte ihn eine fromme Scheu, jene Kraft holdseliger Dumpfheit zu stören, womit sich die Seele den Sinnen hingibt, und wodurch zuweilen ein klares Gebilde so rasch aus dem willigen Geiste hervorspringt wie die Pallas aus dem Haupte des Zeus. Er verharre in seinem bewußtlosen Drange, bis sich das klügelnde Bewußtsein dem sinnreichen Willen unterwirft.

Ich: Also sollte wirklich der Dichter des Faust, des Tasso und der Iphigenie, des Werthers und des Wilhelm Meisters, von den Wahlverwandtschaften nicht zu reden, nie über Wesen und Art der Gefühle, ihren Wert und Unwert nachgedacht haben? Und wo hängt die Wage zwischen Sinn und Verstand, zwischen Klugheit und Klügelei, zwischen künstlerischer und menschlicher Weisheit, zwischen Geist und Vernunft, zwischen Dichtung und Wahrheit?

Er, scheu, wie vor sich selbst erschauernd: Bei den Müttern! —

Ich: Noch aber ragen leuchtend in den Äther die Marmorhäupter der verklärten Väter! —

Er, frostig wehrend: Dies Licht ist kalt.

Ich: Und sollte allein die dunkle Wärme dem Wachstum des Geistes gedeihlich sein?

Er, das unterste Knopfloch wieder schließend: Doch wird kein Geist die Grenze entdecken, wo Licht und Dunkel einander durchdringen.

[S. 159]

Ich: Sollte nicht eben des Künstlers Geist diese Grenze wieder und wieder entdecken? Sollte jenes geisterhaft kalte Licht, das wie ein unfaßbarer Eishauch jedem bedeutenden Kunstwerk entstrahlt, nicht grade das Offenbarende sein, das den dumpfen Stoff erst zum klaren Gebilde, die drangvolle Glut erst zur schaffenden Wärme läutert? Und mag immerhin das Unbewußte der unergründliche Mutterboden aller schöpferischen Fülle sein, was tut das über den Künstler dar, über Art und Wert seiner Fähigkeit? Entspringt nicht jegliches menschliche Schaffen, ja die alltäglich gewöhnlichste Arbeit, aus solchem geheimnisvollen Antrieb, trotz allem ästhetischen Abergeschwätz?! Klopft doch sogar der geringste Schuster das Leder mit einer bewußtlosen Kraft; nur wird eben ein schlechter Schuh daraus, sobald er es nicht zugleich recht bewußt über den passenden Leisten schlägt.

Er, mit gleichgiltigem Achselzucken: Es würde wohl auch kein guter Schuh werden, wenn der schlechte Schuster bewußter drauflos schlüge.

Ich: Wenn er besser Bescheid ums Zuschlagen wüßte, wäre er dann nicht ein besserer Schuster?! Und um wieviel mehr erst der sinnreiche Künstler, der unzählige einzelne Schlagfertigkeiten auf ein bedeutendes Ganzes veranschlagt! Mag er durch Übung so sicher geworden sein, daß er in rascher Entschiedenheit kaum noch um all seine Kunstgriffe weiß; aber was lenkte ihn bei der Übung, was sichert seinem Griff die Bestimmtheit, wenn nicht der herrschende Gedanke, der all die beliebigen Bildgefühle auf irgend ein sinnvoll Notwendiges richtet! Liegt da nicht einfach die Folgerung nahe, daß sich jeder Künstler und sonstige Schöpfer vor andern Menschen nur dadurch auszeichnet, in welcher Art und in welchem Umfang das bisher Unbewußte bei ihm bewußt wird! Warum gelingt keinem unreifen Künstler ein Werk von wahrhaft voller Bedeutung, wohl aber manchem Wunderkind manch allerliebstes[S. 160] reizendes Ding von wirklicher Vollkommenheit? Ich glaube, weil sein Geist noch nicht ausgebildet, sein Gemüt aber schon durch geistige Erbschaft für klare Gefühle vorgebildet ist. Da mag ihm denn in holdseliger Dumpfheit auch wohl einmal etwas Sinniges glücken, das er höchst naiv seinem eigensten, blos sogenannten Mutterwitz zuschreibt; ist aber in Wahrheit Väterweisheit, tiefst raffiniert im Liebeskampf mit der gern empfänglichen Mutter Natur.

Er, halb gelangweilt, halb gereizt: In diesem Verstande könnte es hingehen. Nur erspare alsdann die brave Vernunft sich erst recht die überflüssige Mühe, dem Gemüt in sein Tiefstes dreinzureden! Mag der Gedanke sich hinter das Sinnliche stecken, damit jedes scheinhaft Einzelne planvoll aufs ganze Wesen deutet; aber er macht sich unerträglich, sobald er die Gefühle belästigt, die dieses Ganze tragen und halten.

Ich: Doch scheint es mir schwach um Gefühle bestellt, die keinen starken Gedanken aushalten. Bei Shakespear strotzt selbst der Narr von Gedanken.

Er, ganz gereizt: In der Tat, er strotzt! Das dürfte denn wohl das Närrische sein!

Ich: Und der weise Hamlet, der doch nur halb ein Narr ist? hängt nicht sein ganzes Gefühl von Gedanken ab? Ja, ich getraue mich nachzuweisen, daß das gesamte Kunstwerk „Hamlet“ auf einem bestimmten Gedankengrund steht, um den der Dichter gewußt haben muß.

Er, stutzig: Da wäre ich aber wahrlich gespannt. Sie sind überaus eigensinnig, Herr Doktor!

Ich: Nur in Euer Excellenz eigenem Sinne. Denn wie Excellenz selbst einmal kommentierten, wollte Shakespear hier eine Seele schildern, die eine große notwendige Tat pflichtbewußt auf sich nehmen will, ohne der Tat gewachsen zu sein; kurz, einen edelmütigen Menschen, der nur leider Gottes durchaus kein Held ist. Nun liegt es jedoch, wie Excellenz gleichfalls[S. 161] und mehr als einmal dargelegt haben, nicht im Wesen des bedeutenden Dichters, ein lediglich Negatives zu zeigen; wenn sich also das Positive hier nicht in dem sogenannten Helden des Dramas findet, muß man es wohl in dem Drama selbst, d. h. in dem Ausgleich der andern Personen mit dem unheldischen Helden suchen. Und in der Tat sehen wir jeden Charakter, der neben Hamlet die Handlung fördert, auf diese Ergänzung hin angelegt: zu Anfang den Geist des heldischen Vaters, zum Schluß den lebendigen Helden Fortinbras, in der Mitte den verbrecherischen Dreiviertelshelden Claudius, den echten Mann Horatio, das unreife Übermännlein Laertes, und als den Nullpunkt für diese ganze Skala positiver Energie den wohlweisen Schwächling Polonius, gegen welchen selbst der passive Hamlet zu einem gewissen Grade aktiv wirkt. Da muß sich denn wohl der Gedanke aufdrängen, der Dichter habe in dieser Tragödie das dem vornehmen Sinn seiner Zeit gemäße Problem der heroischen Tendenz vom Grunde aus behandeln wollen, nach Art wie Abart, Wert wie Unwert, zumal wenn wir auch seine anderen Werke auf solche seinen Zeitgenossen erbauliche Grundgedanken gestellt sehen, auf die Probleme des Aristokratismus, Nationalismus und Humanismus, von den psychologischen ganz zu schweigen. Nur war er freilich raffinierter Künstler genug, uns derlei interessante Tendenzen nicht mit solchem naiven Pathos ins urteilslose Gemüt zu schleudern, wie dem populären Genie unsers Schillers beliebte; sondern als feinerer Menschenkenner — sehr oft bis zum Cynismus fein — blieb er sich überall bewußt, daß diese geistigen Rätselfragen die Seele umso nachhaltiger fesseln, je unlöslicher sie dem Verstande scheinen, verfädelt unter ein buntes Gewebe von dunkeln und hellen, dumpfen und klaren Gefühls- und Sinnestäuschungen. Mag es schon halbwegs echte Verrücktheit sein, wenn man wie Hamlet Wahnsinn heuchelt, so wäre es sicherlich ganzer Irrsinn, wollten wir drum auch dem Dichter zutrauen,[S. 162] er habe sich ebenso selbst betrogen und nicht vielmehr genau gewußt, warum er uns über diesen Zustand seines problematischen Prinzen in deutungsvollem Dunkel läßt. Sollte er das nicht einfach gewollt haben, um uns recht sinnfällig anzudeuten, wie durch einen launenhaft unklaren Willen selbst die klarste Vernunft der edelsten Seele in grausige Unvernunft zu entarten droht?!

Er, wieder die Hand in den Busen steckend: Ich sehe, mein Freund, Sie verstehen es, eine Sache von vielen Seiten zu nehmen. Und freilich tut es, wie im Leben, so auch in der Kunst unter Umständen gut, wenn man Andere über sein Innerstes täuscht. Doch was einem Geist wie Shakespear bewußt war, ohne daß es ihm Schaden tat, könnte minder kräftige Geister behindern, ihre Gefühle wirksam von sich zu geben.

Ich: Es wäre wohl kein sehr schlimmer Schaden, wenigstens nicht für andere Leute, wenn solche Geister ihre Gefühle ganz und gar für sich behielten.

Er, mit ergetztestem Behagen: Das war äußerst naiv geurteilt, mein Teurer!

Ich: Wenn man sieht, wie sogar der simple Homer gegen den naiv brutalen Achilleus den raffiniert dolosen Odysseus ausspielt, wie er diesen Kontrast zwischen Intelligenz und Instinkt noch mit allerlei Parallelpersonen durch beide Epen hindurch unterstreicht, vom rasenden Ajax und weisen Nestor bis zum ochsenhaft rohen Polyphem und hündisch verschlagenen Thersites, von den tolldreisten Lustweibern Helena und Circe bis zu den sittig klugen Frauen Andromache und Penelope: kann da irgend ein geistvoller Kopf noch glauben, das sei alles blos aus bewußtlosem Drange so auf gut Glück zusammengedichtet?

Er, sichtlich des trockenen Tones satt: Credo quia absurdum est.

Ich: In der Tat, dieses mystische Mäntelchen um den Busen des gottbegnadeten Sängers rührt wohl noch aus den[S. 163] dunkeln Zeiten her, wo sich der Dichter in Einer Person mit dem Priester oder König zusammenbefand. Da mußte der Volksredner, der er war, wohl nolens volens darauf bedacht sein, die Menge durch einiges Zauberwesen in ein dumpfes Staunen vor seiner Kunst zu versetzen; war wohl auch selber noch dumpf genug, sich abergläubisch darob zu bewundern.

Er, den Stern auf seiner Brust zart berührend: Wie denn auch dieser Orden, Freund, nur eitel Tand und Blendwerk ist, und bedeutet doch ein höchst Würdiges. Ein barbarischer Putz aus rohester Zeit her, und hängt nun als Mahnzeichen zuchtvollen Strebens auf dem Gewande der feinsten Gesittung.

Ich: Und wenn denn die löblich gläubige Menschheit nicht ohne etlichen Hokuspokus auf ihrer Würde bestehen kann, warum dann die seelische Dumpfheit vergöttern, warum nicht die geistige Erleuchtung? Als ob unser hochbestrebtes Bewußtsein nicht zum mindesten ebenso rätselhaft, geheimnisvoll und wunderbar wäre, wie das tiefste drangvollste Unbewußte, das uns mit jedem Kohlkopf gemein ist! Als ob nicht dieses erst durch jenes in seiner besonderen Fülle erfaßt, ins Eigentümliche durchgebildet, ins allgemein Wertvolle ausgestaltet, ins menschlich Bedeutsame umgeformt würde! Was hat denn dem Menschen seine Bedeutung vor Tier und Pflanze und Stein erschlossen, wenn nicht die Entwickelung des Bewußtseins, mag sich das nun Vernunft oder Geist, Verstand oder Sinn, Gedanke, Witz, Intellekt, Idee, Reflexion oder Logik taufen! Und zeigt nicht die ganze mannigfache Formenfolge der Lebewesen ein stetes Stufenstreben der Geisteskraft, sich immer wahrnehmbarer auszugestalten?!

Er, bedächtig den untersten Frackknopf drehend: So meinen Sie denn, der naive Impuls sei nur etwa der Pulverkraft vergleichbar, die hinter einem Feuerwerk steckt?

Ich: Allerdings, ohne Pulver kein Feuerwerk; aber in unverständiger Hand verpufft das Pulver und blendet blos.

[S. 164]

Er, in Gedanken den Knopf abdrehend: Hm — unter solcher Beleuchtung betrachtet, läuft freilich das löbliche Gerede über den dunkeln Drang des Künstlers am Ende auf den Gemeinplatz hinaus, daß eine Schöpferkraft dasein muß, wenn eine Schöpfung werden soll.

Ich: Auch scheint mir dieser dunkle Drang, wenn anders mich die Erfahrungen aus meinem bewußten Dasein nicht täuschen, in seinem jeweiligen Denkzustand durchaus nicht so holdselig zu sein, wie er sich später in unserm Gedächtnis ausnimmt, das jeden vergangenen Zustand geistig verklärt; sonst würde der Künstler wohl kaum geneigt sein, sich diese Dumpfheit jedesmal so rasch wie möglich vom Halse zu schaffen. Ich wenigstens fühle mich in der Regel durch solche holde Gedankendrangsal so unausstehlich bedrückt und befangen, wie der Homunkulus in der Retorte oder Helena im Hochzeitsgewand.

Er, wieder vollständig aufgeknöpft, steckt lächelnd den Knopf in die Westentasche: Es freut mich, Teuerster, wie Sie das sagen, mit solchem holden Eigensinn. Indessen ist mir doch aufgefallen, daß Sie fortwährend in überaus freundlicher, jedoch nicht eben ganz glücklicher Weise bei unserm Gespräch darauf bedacht sind, nach Art meiner späteren Schriften zu sprechen; und es war mir von jeher das höchste Vergnügen, wenn sich ein eigenwilliger Geist auch einer eigenen Sprache bediente.

Ich: Und darf ich dann fragen: Heinrich v. Kleist??

Er, augenblicks heftigst die Stirn runzelnd: Ich sprach vom beherrschten Eigenwillen!

Ich: Sein Leben mag haltlos gewesen sein; aber wohl nur, weil er alle Kraft an die Selbstbeherrschung als Künstler setzte.

Er, voller Zorn auf den Fußboden stampfend: Dieser junge Mann war unbedenklich genug, sich dem Dämon in die Arme zu werfen, dem ich selber zeitlebens behutsam auswich!

[S. 165]

Ich: Das hat der Lord Byron auch getan! und Goethe hat ihn dafür bewundert!

Er, herrisch auf meine Tischplatte klopfend: In Byron wars Kraft, ihn riß Heldenmut fort; der Andre erlag seinem mystischen Drang wie ein ungesund schwächliches Frauenzimmer.

Ich: Er hat uns als Dichter Helden enthüllt, an die keine Heldentat Byrons heranreicht.

Er, mit noch stärkeren Klopftönen: Er hätte euch wohl noch mehr enthüllt, wenn man ihm Mannszucht hätte eintreiben können. Er hatte das Zeug zu einem Shakespear, wenn er kein Hamlet gewesen wäre. Er strebte nur heldisch, sobald man sein Selbstbewußtsein mit härtestem Stachel zum Trotz aufreizte; er war nicht über sein Schicksal erhaben.

Ich: Er war es immerhin bis zu dem Grade, daß er das alles im Prinzen von Homburg mit klarster Erkenntnis dargestellt hat.

Er, immer noch mit umwölkter Stirn: Und da hatte der Dämon sich erschöpft! —

Ich: So wäre denn dieser bedeutende Künstler seinen Instinkten allzu naiv gefolgt?!

Er, mit verteufelter Anerkennung: Sie sind wirklich gründlichst raffiniert, werter Freund!

Ich: Ich bin in der Tat über derlei Dämonen ein wenig durch eigne Erfahrung gewitzigt. Ich wurde in meinen unreifen Jahren von allerlei krampfhaftem Spuk heimgesucht, wie man das fast jedem kraftvollen Geist mit biederem Gruseln als krankhaft nachsagt, und wie ja auch Sie, verehrtester Genius, mehrfach von sich selbst berichtet haben. Ich entdeckte jedoch, daß sich diese Visionen, Somnambulismen und Katalepsieen immer nur einzustellen pflegten, wenn meine Vernunft nicht bei vollen Kräften war, infolge von Geldnöten, Katzenjammer, Liebesgram und dergleichen mehr, oder weil ich als naiver Fant[S. 166] meine poetische Phantasie leider oft zu holdselig faullenzen ließ; also gleichsam wie mahnhaft anpochende Boten aus einer ratlosen Unterwelt, die über ihr Bestes bewußt werden wollte. Ich habe mir dann durch Selbstbeobachtung, Willensgewöhnung und Kunstausübung all das gespenstisch aufdringliche Wesen nach und nach vom Leibe geschafft, ohne jede medizinische Quacksalberei; und jetzt besuchen mich solche Klopfgeister nur noch, wenn ich sie eigens herbeizitiere.

Er, aufgeräumt: Zu Befehl, Euer Liebden; ich danke für die lange Audienz.

Ich: Während ich aber in jenen Jahren ein dumpf verdüsterter Jüngling war, dessen Haar sich dunkler und dunkler färbte, und der zumeist nichts weiter tat als sich und Andre gefühlvoll betrügen, seine Geliebte obenan, bin ich nun, wo ich grau zu werden beginne, wieder so emsig und wohlgemut wie in meiner hellblondlockigen Kindheit.

Er, wunderlich durch mein Zimmer blickend: Da mache ich Ihrer jetzo Frau Liebsten mein allerartigstes Kompliment.

Ich: Ich habe durchaus nicht im Spaß gesprochen!

Er, von reinster Beschaulichkeit verklärt: Auch ich nicht, Verehrter; ganz und gar nicht. Es muß wohl ein jeder kräftige Künstler zu einer zweiten Naivität erwachsen, die sich zu seiner ersten verhält wie das aufmerksam hingebungsvolle Weib zur unbequemlich kopfscheuen Jungfrau. Wie nun freilich die gewöhnliche Frau nie von ihrer beschränkten Eitelkeit läßt, so verharren auch die meisten Künstler bei ihrer ersten Naivität und verflachen in eine triviale Manier. Noch um vieles halsstarriger aber benimmt sich die dämonisch okkupierte Natur, die denn auch besser dem Helden ansteht, dem Abenteurer und Volksführer, dem politischen oder religiösen Redner, als dem künstlerisch aufwärts strebenden Dichter, dem freien Eroberer des Lebens, der dem Wandel der Welt wie der eigenen Seele unbefangen willfahren muß, mit einer überlegenen Ruhe. Da[S. 167] wird denn natürlich, um diese Ruhe bis ins drangvolle Innerste auszudehnen, auch die Vernunft je tiefer je stärker manch tüchtiges Wort mit dreinreden müssen; und wenn da dem männlich ringenden Geiste noch ein vernünftiges Weib beispringt und ihm gleichsam als ein artiges Vorbild willfähriger Herrschaft zu dienen weiß, da darf man ihm wohl im Ernst gratulieren.

Ich: Und er darf sich mit heiterem Dank bewußt sein, daß dieser Glückwunsch ins Centrum des Lebens trifft, und somit auch unseres Kunstgespräches.

Er, immer verklärter um sich blickend: Wir sprechen wohl einst noch gewisser darüber —

Ich: Doch ist uns schon jetzt zu Bewußtsein gekommen, daß zwar das naive Gemüt die Axe ist, an die auch die genialste Natur mit allen Trieben gebunden bleibt, und deren einer Pol ins Dämonische, der andre ins Triviale verläuft; daß aber die geistige Reflexion die formbestimmende Triebkraft ist und umso harmonischer auf die Kulturwelt einwirkt, je energischer der gestaltende Sinn das Tiefste der Persönlichkeit auf ein centrales Gleichgewicht ordnet —

Er, geisterhaft in die Höhe wachsend: Und rings um ihn kreisen die Himmelsbilder und die Planetensysteme des Äthers samt allen Meeren und Inseln des Erdballs —

Ich: Und die Menschheit wird endlich jeglichen Genius so natürlich dankbar entgegennehmen, wie er aus voller Natur sich gibt, auch wenn er nicht erst ein Alter wie Goethe erreicht, sondern jung wie Kleist zu den Vätern dahinmuß —

Er, spukhaft aus weiter Ferne lachend: Sie sind in der Tat höchst naiv, lieber Dehmel —

Und mit diesen Worten versetzte er mir einen väterlich derben Nasenstüber, der mich aus meiner hypnotischen Situation in jenen bewußteren Zustand zurückbugsierte, worin die Dichter zu arbeiten pflegen. Seitdem aber bin ich von allen Skrupeln über das wahrhaft Naive kuriert.

[S. 168]

Kultur und Rasse

Ein Gespräch zwischen Künstlern

Ein deutscher Dichter und ein jüdischer Maler waren einander in Verehrung zugetan, trotz oder wegen ihrer sehr verschiedenen Begabung. Den Maler reizten simple Motive, die er mit räumlich packender Rhythmik in verwickeltem Lichtspiel zu zeigen verstand; der Dichter ließ sich umgekehrt meistens von komplizierten Impulsen anregen, die er bei rhythmisch lebhaftestem Tempo in unvermutet einfachen Zusammenklang zu setzen wußte. Gemeinsam war ihnen also nur, was allen vollkommenen Künstlern gemeinsam ist: ein stark beweglicher Scharfsinn bei gründlicher Gemütsruhe. Das gab dem persönlichen Charakter des Juden eine sprunghafte Schlagfertigkeit, die sich mit Vorliebe hinter der Maske berlinischer Fopperei versteckte; an dem Deutschen dagegen prägte es sich in einer hartnäckigen Spannkraft aus, die sich nach Art des märkischen Landvolkes gern etwas nückeboldig stellte.

Als Leute, deren Zeit kostbar war, sahen sie einander nur selten; aber jeder verfolgte des Andern Arbeiten mit angelegentlicher Aufmerksamkeit. Nun hatte der Maler ein Bild ausgestellt, dessen dramatisches Pathos beträchtlich von seiner sonst mehr lyrischen Verve abstach und infolgedessen viel Kopfschütteln erregte; da konnte der Dichter nicht unterlassen, ihn doch einmal wieder zu besuchen, um ihm für diesen neuen Beweis seiner rastlosen Entwicklungskraft ein respektvolles Kompliment zu sagen.

Das Gemälde zeigte ein nacktes Weib von mänadischer Gelenkigkeit, wie es sich auf verwühltem Lager über einem stiernackigen, wollustgeschwächten Kerl hochreckt, in der Rechten irgend etwas Blankes wie eine sieghafte Waffe hebend, bis zu den Hüften vom Zwielicht des Morgens und einer Kerzenflamme beglänzt, während sich der schlaftrunkene Mann an[S. 169] ihrem Schooß im Halbschatten wälzt. So nahm sich die Geberde des Weibes wie ein geschmeidiger Hohn auf die rohe Kraft aus, wie ein Sieg wachsamer Geistesgegenwart über plump verschlafene Sinnlichkeit, ein fleischgewordener Triumph der raffinierten Intelligenz über den brutalen Instinkt, mit einfachster Wucht in feinste Beleuchtung gerückt. Der Maler hatte das große Werk „Judith und Holofernes“ getauft, obwohl es lediglich durch die Idee auf die biblische Legende zurückwies. Kein orientalischer Teppich verliebreizte das Lager, und die Mänade konnte nach ihrem Typus irgendeine zigeunernde russische Fürstin oder deutsche Prinzessin sein, der Mann ein x-beliebiger braver Zirkusathlet. Der deutsche Dichter wollte jedoch von diesem Gesichtspunkt nichts merken lassen, sondern sprach vor allem seine Bewunderung über die schwungvolle Raumwirkung aus; worauf sich folgende Unterhaltung entspann.

Der Jüdische Maler: Na ja, sehr schön. Aber nicht wahr, die Hauptsache ist doch: das Ding hat Rasse von oben bis unten!

Der Deutsche Dichter: Wenn Sie also doch davon sprechen wollen, dann muß ich Ihnen offen gestehen, ich sehe eher etwas allgemein Menschliches.

D. J. M. Sie sind wohl allgemein übergeschnappt? So’was kann doch blos einer, der Jude ist, machen!

D. D. D. In der Tat blos Einer, nämlich Sie.

D. J. M. Na ja, weil ich eben noch Vollblut bin; die Andern sind meistenteils schon alle so ins allgemein Menschliche vermanscht.

D. D. D. Ich glaube nicht mehr an das Rassendogma; wenigstens nicht, soweit es seelische Werte und geistige Leistungen begründen soll. Bei den künstlichen Tierrassen ist das von selbst ausgeschlossen, denn die züchtet ja erst der menschliche Geist. Aber auch die natürliche Rasse kann höchstens für körper[S. 170]bauliche Eigenschaften eine Grundbedingung sein, eine neben mancherlei andern; vielleicht aber gar keine Grundbedingung, sondern immer nur ein Endergebnis aus langen seelischen Sonderbestrebungen einer Gemeinschaft beliebiger Einzelkörper gegen die gefährliche Umwelt, eine Art Schutzmarke auf Gegenseitigkeit, die dann wieder neue Arten herbeiführen kann, durch neue Anlässe zur Gemeinschaftsbildung. Wie soll denn durch Rasse, dies allerallgemeinste Merkmal oberflächlicher Unterscheidung, die künstlerische Begabung erklärt werden, die allereigentümlichste Sonderlichkeit, die nur von den gründlichsten Kennern geistiger Werte vollkommen erkannt und gewürdigt wird, gleichviel von welchem Rassekörper!

D. J. M. Sie haben sich da ’ne lange Strippe von Geist und Seele zusammengedreht. Aber ich will Ihnen mal was sagen, ganz einfach, ohne Textilapparat: Dumm muß der Künstler sein, dumm und geil! und das kann blos ein Rassekerl! Ich meine, so richtig dumm und geil; cum grano salis, wissen Sie.

D. D. D. Und wahnsinnig! Gleichfalls cum grano salis.

D. J. M. Und ein Frechdachs! Sie wollen mich wohl uzen, Verehrter?

D. D. D. Ich wollte Ihrer gesalzenen Weisheit blos einen rassepsychologischen Wink geben, aus welchem Pökelfaß sie stammt. Dumm, geil und verrückt — das ist der Künstler, wie er heute bei allen Professoren der höheren Zoologie im Buch steht.

D. J. M. Na, ich meinte natürlich nur: während er Kunst macht! Im Leben kann er der klügste Geschäftsmann und bravste Familienvater sein; je klüger und braver, umso besser für ihn.

D. D. D. Also während er Kunst macht, soll er gewissermaßen seine besseren menschlichen Qualitäten an den Nagel der Theoretik hängen. Ich fürchte nur, daß er dann zugleich seine besseren Rassequalitäten mit weghängt.

[S. 171]

D. J. M. Nanu, so plötzlich? Sie haben doch eben ganz deutlich gesagt, Sie glauben an solche Qualitäten nicht!

D. D. D. Ich nicht; aber Rassetheoretiker glauben, daß Familiensinn und Lebensklugheit die besonderen jüdischen Tugenden sind.

D. J. M. Ja natürlich! Was blieb uns denn auch weiter übrig, solange wir im Ghetto hockten —

D. D. D. und nachdem in aller Herren Ländern aus einigen tollkühnen Nomadenstämmen, die wahrscheinlich auch bereits nur zur Hälfte echte Semiten gewesen sind, allmählich eine brave Sippschaft von allerlei Krethi und Plethi geworden war.

D. J. M. Also Karnickel- und Hasen-Hecke. Na ja, das stimmt, da haben die Antisemiten ganz Recht: das ist heute genau solche jüdische Spezialität, wie’s auch deutsches Vettermichelpack gibt. Aber was hat das speziell mit Kunst zu tun? Die verdolmetscht doch eben das Generelle! Da entpuppt sich das ursemitisch Rassige wieder.

D. D. D. Merkwürdig nur, daß das alte Volk Israel, solange sein Hauptstamm wirklich noch reinrassig war, d. h. längstens bis etwa zur Zeit Samuelis, fast gar keine Kunst hervorgebracht hat; die spärlichen religiösen Psalmen, die vielleicht in die Zeit vor David zurückreichen, sind doch wohl erst embryonische Dichtkunst.

D. J. M. Nebbich! Das war ihnen doch verboten! Siehe Moses: Ihr sollt euch kein Bildnis noch Gleichnis machen.

D. D. D. Mir deucht, in einem kunstfähigen Volk hätte solch Verbot garnicht erst laut werden können. Was meinen Sie wohl, was die Griechen gesagt hätten, wäre Solon ihnen mit so’was gekommen! Das haben sich nicht mal die Deutschen bieten lassen, die doch, solange sie reine Germanen waren, gleichfalls kein nennenswertes Kunstvolk gewesen sind; und[S. 172] dasselbe gilt von den alten Römern. Überhaupt: betrachten Sie’s mal historisch! Die sogenannte reine Kunst entsteht überall erst in Mischvölkern, also wo mehrere Rassen einander kreuzen und — mag man das nun einen günstigen Zufall oder „Ergänzung passender Anlagen“ nennen — eine neue zu bilden beginnen. Da tritt dann die Kunst gleichsam vorbildnerisch auf, aus Verlangen nach neuem Menschentum.

D. J. M. Meschugge ist Trumpf! Oder sind Sie wirklich verrückt?

D. D. D. Ja, ich will wirklich einmal so verrückt sein, die physische Rasse als Element für psychische Phänomene gelten zu lassen. Dann wüßte ich nicht, wodurch aus so einfacher Ursache ein so mannigfach lebensvolles Ding, wie es jedes starke Kunstwerk doch ist, auf natürliche Weise entspringen sollte, es müßten denn mehrere solche Elemente in dem Künstler verbunden sein. Der machtvollste Künstler wäre dann der, in dessen Familie sich nach und nach alle Kulturrassen abgelagert hätten. Aber Sie sehn mich ja weiß-Gott an, als ob Sie mich für irrsinnig hielten.

D. J. M. Nein, dichten Sie nur ruhig so weiter! Ich habe mir blos Ihr Gesicht angesehn. Ich werde mal fix ’ne Skizze von machen; Sie sehn ganz apart aus, wenn Sie so dichten. Und das mit der Rassenablagerung, das kann ja auf Ihr Gesicht ganz gut stimmen.

D. D. D. Ahah, Sie meinen, ich rede pro domo?

D. J. M. Na, ich habe neulich mal wo gelesen, Sie sollen ja so’ne Art Slawe sein, aus Wendisch-Buchholz oder so her.

D. D. D. Da könnte ich Ihnen nun leicht beweisen, daß ich ein waschechter Deutscher bin, bis ins 17. Jahrhundert zurück. Meine väterlichen Vorfahren waren niederschlesische Handwerker, ein paar Schmiede, ein Zimmermeister, ein Seiler, ein Tierarzt und ein Laborant; meine mütterlichen teils märkische Bauern, teils thüringische Beamten und Fabrikanten, mit[S. 173] einem rheinischen Nebenzweig. Die Familiennamen haben in allen Linien den sogenannten reinen Klang: außer meinem eignen deutschdämligen Namen noch Fließschmidt, Hillmann, Weidner, Zahn, Oehme, Eule und Eyle. Nur in dritter Linie, von Vaters Seite, kommt der slawisch klingende Name Tschorsch vor; doch ist er wahrscheinlich aus deutschem Georg oder Jörge vertschechisiert, oder vielleicht aus französischem George verdeutscht. Ich könnte mich also vor jedem Teutobold mindestens ebenso gut als Germanen aufspielen, wie man Luthers böhmakisches Gesicht oder Bismarcks wendischen Rundschädel ins Germanische umdichten will; bin aber trotzdem überzeugt, daß ich — wie mehr oder weniger jeder Deutsche seit der Völkerwanderung — nicht blos slawisches und keltisches, sondern wahrscheinlich auch romanisches und vielleicht sogar mongolisches Blut in meinen werten Adern beherberge.

D. J. M. Da säße ich also da „mit’s Talent“, als so’n kümmerliches semitisches Inzuchtgewächs.

D. D. D. Ja, wenn Sie wirklich ein echter Hebräer wären?

D. J. M. Na, hören Sie mal, erlauben Sie mal, ich soll Sie wohl wegen Verleumdung verklagen?! Wollen Sie etwa meine leiblichen Urgroßmütter für lauter Herodiäser erklären?

D. D. D. Oh, zwei bis dreie genügen wohl schon; und wenn ihre Gatten Herodesse waren, werden Sie’s ihnen wohl nicht verdenken.

D. J. M. Na, Spaß beiseite! Ihr Schädel wirkt propper; Sie sitzen faktisch briljant Modell. Sitzen Sie jetzt mal ein bißchen stille! Sehn Sie sich mal derweil meine Augenbrauen und Nasenwurzel und Stirnbogen an! Sehn Sie: so’was, das gibts nicht bei allgemeinem Menschmansch, das ist ganz apartes Rasseprodukt.

D. D. D. Mag schon sein; die Oberstirn scheint mir vlämische Rasse, die Augenknochen spanische. Ihre Familie ist ja[S. 174] wohl zum Teil aus Spanien über Holland gekommen; und der belgische Architekt Van de Velde hat einen ganz ähnlichen Gesichtsschnitt, obgleich er wahrhaftig kein Jude ist.

D. J. M. Nein, wahrhaftig nicht. Aber apart ist er auch. Faktisch ’n ganz famoses Kerlchen; rassig bis in die Fingerspitzen. Wer weiß, vielleicht ist er doch ’n Jude!

D. D. D. Sagen Sie mal, Sie Rassemensch: Sie haben doch englische Vollblutpferde gemalt. Halten Sie die etwa nicht für rassig?

D. J. M. Na, und ob! Ach so, Sie möchten mich wieder döppen?! Na aber, das hab ich doch gleich blos gemeint: da hat sich eben die angelsächsische mit arabisch-türkischer Zucht gekreuzt und schließlich ’ne neue Rasse gebildet. Aber sein Sie mal jetzt ’ne Sekunde lang stille; mir stimmt was nicht an Ihrer Stirn. Einen Moment blos, ich werds gleich haben. Faktisch ’ne ganz verflixte Stirne; von vorne breit wie’n heraldischer Bulle, und im Profil schlank retour wie’n Lämmergeier — Sie wollen gewiß auch ’ne neue Rasse gründen! — Bitte, blos’n Moment noch, dann bin ich so weit! — So: jetzt los auf die Weltgeschichte! Dichten Sie bitte ungeniert weiter!

D. D. D. Also — Tatsache ist doch Folgendes: Ob nun im alten Ägypten und Hellas, oder im mittelalterlichen China und Indien, oder im späteren Japan und Persien, oder in der europäischen Renaissance — eingerechnet die Vorstufen, byzantinische wie maurische, romanische wie gotische — überall sind die kurzen Epochen höchster künstlerischer Kultur erst dann reinlich hervorgetreten, wenn sich durch Kriegs- oder Handelszüge verschiedene Volksstämme oder Nationen innig miteinander befaßt und neue Staats- oder Standesformen, Herrschafts- oder Gesellschaftsklassen durch Mischheiraten angebahnt hatten. Sogar bei den verschollenen amerikanischen Kulturen ist von der Forschung festgestellt, daß die großen Tempel der Azteken und Inka erst nach langwierigen Eroberungskämpfen zwischen[S. 175] diversen indianischen Rassen entstanden. Und heute, wo sich in Nordamerika aus dem allgemeinen Menschmansch, wie Sie zu sagen belieben, eine neue weiße Rasse langsam herausschält: erst heute zeigen sich dort auch die Anfänge einer spezifischen Yankeekunst, recht respektabel bereits in der Poesie und in der profanen Architektur, passabel auch in der Malerei. Nun aber gar das moderne Europa! Woher denn auf einmal seit etwa 50 Jahren die Hochflut aller möglichen neuen oder doch neu-sein-wollenden Kunstrichtungen, von Skandinavien und Rußland bis Frankreich und Spanien?! Sollte es blos ein Zufall sein, was auch hier wieder unverkennbar vorausging: die Durcheinanderwürfelung aller Nationen durch die Napoleonischen Kriege, die Entfesselung internationaler Tendenzen durch Handel, Industrie und Technik, die enorme Steigerung des Völkerverkehrs durch die Eisenbahnen und andre Transportreformen, und zu alledem noch als wahrer Rassenextrakt eine Fülle nie dagewesener Mischungsversuche durch die Emanzipation der Juden!

D. J. M. Sieht ja ungeheuer verführerisch aus, Ihre Destille von Menschenblut. Aber wissen Sie: Kunstrichtungen, unter uns gesagt, das sind doch wohl eigentlich immer die Künstler. Na, und die Künstler, die Richtung machen, das sind eben die paar urigen Kerls, die sozusagen noch koscheres Blut genug haben. Sehn Sie sich doch mal selber im Spiegel! Haben ’ne richtige deutsche „Schusterneese“. Brauchen mir garkeine Flappe zu machen; Goethe hatte auch solchen Zinken.

D. D. D. Und hatte außerdem Augen und Lippen, wie man sie sonst nur an italiänischen Frauen sieht.

D. J. M. Sie, sagen Sie das blos nicht zu laut! Sonst steigen Ihnen die Deutschen aufs Dach.

D. D. D. Wie kommt es denn aber, daß die Deutschen, solange sie „sozusagen noch koscheres Blut genug“ hatten, also längstens bis etwa zur Zeit Karls des Großen, keinen einzigen[S. 176] namhaften Dichter gezeitigt haben, von anderen Künsten garnicht zu reden! Wo doch die Griechen schon vor der geschichtlichen Zeit mit Amphion, Eumolpos und Musäos, Orpheus, Homer und Hesiod paradieren. Sind das auch nur fingierte Namen, so beweisen sie doch das Volksbedürfnis nach vorbildlichen Kulturpersonen; nämlich die Griechen hatten sich damals schon mit allerhand fremdem Volk gemischt, von Illyrien bis Asien und Ägypten. Und wie kommt es, daß all die winzigen Rassen, die wir heute noch wirklich rein nennen dürfen, entweder weil sie von Hause aus keine Anlage zur Vermischung hatten, vielleicht auch blos keine Gelegenheit, oder weil sie erstarrte Mischrassen sind, also die sogenannten wilden Völker — vom Pescheräh bis zum Eskimo, vom Australneger bis zum kapländischen Buschmann, vom indischen Paria bis zum Sioux-Indianer — gar kein Kulturgenie im Leibe haben, geschweige hohe Kunstbegabung?

D. J. M. Na, Sie! das liegt doch klar auf der Hand. Wo alles die reine Unzucht ist, kann keine reine Zucht draus werden. Natürlich muß mal erst Mischung kommen, damit sich die bessere Rasse selbst auskennen lernt —

D. D. D. und dann dieselbe reine Unzucht weiter treibt?

D. J. M. Nein, Sie müssen mich nicht für’n Bählamm halten. Natürlich kapert sie dann allmählich auch die besseren Elemente der andern Rasse.

D. D. D. Sehr richtig! Was ich vorhin schon sagte.

D. J. M. Nanu? Das ist doch nichts allgemein Menschliches! Allgemein menschlich ist leider Gottes, daß sich auch schlechte Elemente mit einmischen.

D. D. D. Das würde ich lieber allgemein hündisch nennen.

D. J. M. Auch recht! Meinethalben! Sie müssen’s ja wissen. Sie sind ja wohl auf Erotik geaicht.

D. D. D. Ja; von den Rasseschweinen nämlich. Eigentlich kommt mirs auf bessere Leser an.

[S. 177]

D. J. M. Na, sein Sie nur friedlich! Ich meinte ja grade: wenn der viehische Kuddelmuddel zu doll wird, dann gibts eben so’n paar bessere Menschen, wie die richtigen Künstler doch wohl sind, und in denen muckt was dagegen „uff“. Was muckt denn da uff, Sie Mann mit’s Talent? Doch wohl das Tröpfchen stärkere Rasse, das Sie noch irgendwo im Gemächte haben! Das nenne ich Reaktion der Persönlichkeit gegen das allgemein Menschliche! Da zeigt sich eben die reine Natur!

D. D. D. Schön; immerhin sind wir schon einig darüber, daß man mehrere Rassen im Blut haben muß, damit sich eine davon als die stärkere fühlen und mit ihrer „reinen Natur“ hervortun kann. Aber nun bitte, sagen Sie mal: es ist doch eine sehr seltsame „Reaktion“, daß z. B. Sie enragierter Jude die norddeutsche Landschaft samt ihrem Volksschlag, von Hamburg bis hinter Amsterdam, mit solcher natürlichen Kraft gemalt haben, wie bis jetzt noch kein holsteinscher oder friesischer Künstler. Warum hat denn Ihre Persönlichkeit, will sagen Ihre reine Natur, nicht lieber semitisch reagiert? Und warum hat z. B. der Holländer Rembrandt so wenig germanisch reagiert, daß er seine Motive und Modelle mit Vorliebe aus dem Judenviertel nahm?

D. J. M. Ja wissen Sie, wenn ich ehrlich sein soll: das hab ich mich auch schon manchmal gefragt. Auch warum ich blos blonde Weiber liebe.

D. D. D. Das ist nicht so sonderbar, wie es scheint; grade die sogenannten Kulturrassen sind seit jeher auf Weiberraub ausgegangen, offenbar weil eben nur durch Blutmischung Kultur entwickelt und fortgepflanzt werden kann. Übrigens ist Ihre Judith doch dunkelhaarig, wenn auch keineswegs von semitischem Typ.

D. J. M. Na, solch Biest, das soll man doch eben nicht lieben! das kann man meinthalben vor Haß bewundern!

D. D. D. Ja, und sehn Sie, mir gehts grade umgekehrt:[S. 178] Ich stamme aus durchweg blauäugigen und überwiegend blonden Familien und liebe die dunkeln jüdischen Frauen. Ich finde bei keiner andern Art Weib so viel hellen Geist mit seelischer Glut verbunden. Es gibt ja freilich auch da böse Kreuzottern und allerhand gute Gänse und Schäflein; aber die besseren sind doch geborene Heldinnen, Richterinnen und Priesterinnen, um nicht zu sagen Göttinnen.

D. J. M. Sie, jetzt schwärmen Sie aber, weiß der Herrgott, wie’n erotischer Muselmann!

D. D. D. Oder vielleicht, von christlichem Standpunkt betrachtet, wie ein heroischer Jesuit — blos daß ich keine himmlische Jungfrau, sondern möglichst viel irdische Musterweiber züchten möchte. Und da dürfte ein bißchen Menschenliebe doch vielleicht etwas fruchtbarer sein als der beliebte Rasseninstinkt, der sich meistens doch recht zuchtlos geberdet und in der Regel nur als Vorwand dient, um den gemeinen Menschlichkeiten des Hasses und Neides nach Willkür zu frönen.

D. J. M. Nun, bei Licht besehn, wird wohl jeder Künstler auf die Art Modelle versessen sein, die seinen Instinkt am kräftigsten auf sein Talent hindirigiert, also aufs rein Persönliche.

D. D. D. Und seine Phantasie aufs allgemein Menschliche; um nicht zu sagen Göttliche.

D. J. M. Ach was, Phantasie ist doch keine Kunst! Phantasie ist immer blos Notbehelf.

D. D. D. Sie wollen wohl sagen: noch keine Kunst, und auch blos immer ein Notbehelf! wie jeder naturelle Impuls bloßer Notbehelf zur Kunstschöpfung ist, z. B. auch der Rasseninstinkt. Kunst ist eben nur als Kulturprodukt schätzbar; und als solches will sie uns seelische Reize, die von Natur stets sehr mannichfaltig und herz-und-sinneverwirrend sind, in geistig beherrschter Einheit zeigen.

D. J. M. Na ja, das ist ja wohl selbstverständlich. Aber sein Sie mal wieder ’n Moment lang stille; Sie nickköppen im[S. 179]mer, wenn Sie reden. Ihre Nase ist doch nicht ganz so einfach, wie sie von vorne besehen aussieht. Von links, das ist ja freilich wahr, ists ’ne richtige brave Schusterneese; aber von rechts, da könnte sie ebensogut einen spanischen Torero zieren, oder ’nen polnischen Insurgenten, oder sonst so’was Mannichfaltiges ..... So, bitte: phantasieren Sie weiter!

D. D. D. Mit der Nase, das wird wohl daran liegen, daß sie nicht mehr ihre natürliche Form hat; sie ist mir mehrmals in meiner Studentenzeit auf der Mensur zerhauen worden. Aber das soll ja wohl ebenfalls ein germanisches Rassemerkmal sein.

D. J. M. Sie, nun ulken Sie mal gefälligst nicht! Ich bin wirklich gespannt, ob Sie leugnen wollen, daß jedes Volk einen eignen Stil produziert; und den machen doch wohl die einzelnen Künstler, wenn auch jeder daneben noch seine aparte persönliche Manier kultiviert. Übrigens, unter uns gesagt, imponiert mir die primitive Kultur von irgend so’nem Kaffernstamm verhältnismäßig millionenmal mehr als unser europäischer Knaatsch; so’n Maori oder Botokude hat im kleinen Finger mehr Stilgefühl, als der ganze Michelangelo mitsamt der Sixtinischen Kapelle.

D. D. D. Verhältnismäßig ist das auch meine Meinung; nur taxiere ich, scheint’s, die Verhältnisse anders. Zunächst ist Volk und Rasse doch wohl Zweierlei. Jene Volkshorden, die noch reinrassig sind, haben’s leicht, einen reinen Stil zu bewahren, nicht wegen ihrer reinen Rasse, sondern bei ihren beschränkten Bedürfnissen, und weil wiegesagt in rein bleibenden Rassen die Nötigung zur Entwickelung ausbleibt. Lassen Sie solch ein simples Völkchen mit irgend einer Kulturnation in nähere Berührung kommen: was geschieht? Sofort entsagt es seinem natürlichen Stilgefühl und behängt sich mit importiertem Tand, genau wie der Bauer bei uns mit Stadtkram. Warum denn, trotz allem reinen Instinkt? Doch wohl nur aus der[S. 180] dumpfen Empfindung heraus, daß ihm da, im großen Ganzen genommen, etwas wesentlich Wertvolleres zuteil wird; blos vermag seine Unbildung nicht zu erkennen, daß es an ihm ein wertloses Einzelnes wird, zu seinem Wesen Unpassendes. Sehr Ähnliches aber vollzieht sich auch in den gebildeten Schichten der großen Völker, die wiegesagt durch Rassenmischung und andre natürliche Nötigungen in einer fortwährenden Entwickelung ihrer kulturellen Bedürfnisse leben. Da wird grade selbst das genialste Talent, weil es den geistigen Bedarf seiner Zeit bis in alle Seelengründe begreift, immerfort zwischen überlieferten und erst entstehenden Formtrieben pendeln, wird also wohl niemals im einzelnen Werk ein ganz vollkommenes Gleichgewicht zwischen traditionellem Stil und individueller Manier herstellen. Was soll uns da noch der Aberglaube, daß irgend ein besonderer Volksgeist diese fort und fort wechselnden Stile erzeugt, oder gar eine Extra-Rassenseele? Grade die Ornamentik der wilden Rassen zeigt ja sogar in getrennten Erdteilen eine oft auch Kenner täuschende Gleichförmigkeit; und die Stile der Kulturnationen sind nirgends blos in Einem Land, sondern jedesmal zu gleicher Zeit bei mehreren Völkern Brauch gewesen. Daraus folgt einerseits: Stil entsteht aus einem allgemein menschlichen Anpassungstrieb an bestimmte neue Lebensbedingungen, der sich am schnellsten, stärksten und deutlichsten eben immer in den Künstlern regt. Und andrerseits, mein verehrter Mitmensch: die stilistische Mißgeburt eines Michelangelo ist millionenmal wertvoller für die künftige Menschheit, d. h. geistvoller, seelenvoller, formvoller, als selbst die vollkommenste Tätowierung eines melanesischen Malermeisters.

D. J. M. Na ja selbstverständlich; alles was recht ist. Aber sagen Sie mal: hab ich Ihnen schon mal meine kleine Sammlung Nanking-Porzellan gezeigt?

D. D. D. Ja; es sind kostbare Stücke darunter.

[S. 181]

D. J. M. Wunder! Hat auch ein kostbar Stück Geld gekostet. Aber was ich eigentlich sagen wollte: kennen Sie auch alte Delfter Fayencen?

D. D. D. Einigermaßen; und nun soll ich wohl eingestehen, der Holländer hab’s dem Chinesen nachmachen wollen und wegen seiner Rasse nicht fertig gekrigt?

D. J. M. Ach was, Blech! Fayence ist natürlich kein Porzellan. Aber daß er bei der Nachmacherei ganz was Anderes aus den Mustern gemacht hat, was in seiner Art ebenso kostbar ist, und daß nachher, als die Delfter Muster dann in Japan weiter nachgemacht wurden, ditto was Anderes draus geworden ist — was sagen Sie dazu, Sie deutscher Dichter?!

D. D. D. Darauf könnte ich erstens erwidern, daß es japanische Ornamente genug gibt, die man für holländische oder chinesische ansprechen würde, wenn man ihren örtlichen Ursprung nicht wüßte oder aus Nebenumständen erriete. Wie man z. B. auch das Buch Ruth, wenn es nicht in der Bibel stünde und hebräische Nomenklatur an sich trüge, für ein wahres Schatzkästlein altdeutscher Treuherzigkeit, Rechtschaffenheit und Innigkeit ausgeben dürfte. Und der im Schädelbau sehr germanische Schiller könnte nach seinem gesamten Sprachbau viel eher ein Landsmann von Racine, Rousseau und Victor Hugo sein, als von Hans Sachs, Grimmelshausen und Heinrich v. Kleist. Überhaupt: wenn man ohne Vorurteil nachprüft, beruht die ganze Beweismethode der rassendogmatischen Kunstgeschichte auf dem bekannten Fehlschluß post propter, oder sogar blos auf Tautologie. Eine konstant gewordene Verbindung gewisser Eigenschaften benamst man „Rasse“, und im Handumdrehn wird dann die Benamsung zur innersten Ursache dieser Konstanz und womöglich auch noch der Eigenschaften; also etwa wie nach Onkel Bräsig die große Armut der kleinen Leute von der großen Povertee herkommt.

D. J. M. Dadurch wird aber die Konstanz doch bestätigt,[S. 182] die Tatsache des Rassencharakters. Freilich gibts überall Ausnahmen; die beweisen aber bekanntlich die Regel.

D. D. D. Wenn sie nicht etwa auf anderweite, minder bekannte Regeln hinweisen! — Und deswegen möchte ich zweitens einwenden: weil Fayence „natürlich kein Porzellan“ ist, und weil der menschliche Kunstsinn aus zweierlei Stoff natürlich auch zweierlei Formen entwickelt, deswegen hat sich den Delfter Töpfermeistern trotz ihrer asiatischen Vorbilder schließlich von selbst ein neuer Stil aufgedrängt. Aber nicht blos deswegen allein, sondern jetzt will ich drittens gern zugeben: wenn ich auch nicht an einen beständigen Volksgeist auf Grund einer Rassenseele glaube, so doch an bestimmte zeitweilige Volksbedürfnisse, die sich auf die verschiedensten Ursachen, ideelle wie materielle, zurückführen lassen, z. B. moralische, religiöse, politische, ökonomische, klimatische, territoriale. Es wird noch viel zu wenig beachtet, und selbst Taine hat es nicht bis zu Ende gedacht, was Himmel und Erde, Luft und Licht, Landschaft und Witterung, Arbeit und Müßiggang, Reichtum und Armut, Freiheit und Knechtschaft aus der Menschenseele machen. Man verpflanze ein paar Millionen Britten nach Spanien und pferche sie in die katholische Kirche, und in 100 Jahren schon wird ihr Rassecharakter bis zur Unkenntlichkeit verwandelt sein; die Assyrer, Babylonier und Römer haben ja diese Art Politik an den Juden recht gründlich praktiziert. Aber auch im Gebiet seiner Heimat verändert der Mensch fortwährend den Erdboden, und der Boden rückwirkend ihn; wo einst Urwald war, ist heut Gartenland, oder wo Gärten waren, Wüste. Das geht freilich beträchtlich langsamer vor sich, als die seltene plötzliche Volksübersiedlung in ein ganz neues Wohngebiet; und da auf beständigem Heimatsboden auch die kulturelle Tradition beständiger bleibt, daher scheint das jeweilige Volksbedürfnis den Zeitgenossen so wunderbar urwüchsig, als stamme es von einem besondern, durchs Blut vererbten Rasseninstinkt. So mag[S. 183] denn mancher Stil in der Tat, obgleich auch er nur dem menschlichen Anpassungstrieb einiger weniger Künstler entsprang, einem alten Volksbedürfnis entsprechen. Ich sage absichtlich: mancher Stil, d. h. durchaus nicht all und jeder, der nachträglich eine populäre oder nationale Geltung erlangt. Denn in dem Kunstbedarf der Kulturnationen sind zwei sehr verschiedene Arten Kunst begehrt; da ist einerseits die große Masse — aber ich glaube, ich langweile Sie!

D. J. M. O bitte, wieso denn! Ich male ja. Und Ihr Mund sieht allemal sehr forsch aus, wenn Sie sich so für die Menschheit aufregen. Sie sollen mal sehn, Ihr Porträt wird gut.

D. D. D. Also einerseits, wollte ich sagen, die große Masse der allgemeinen Gebrauchsgegenstände, vom kleinsten Topf bis zum ganzen Wohnhaus: deren Formung unterliegt in der Tat mit ziemlicher Dauerhaftigkeit der populären Tradition. Und weil hier die Form ganz überwiegend von körperlichen Bedürfnissen abhängt, so mag dabei auch die physische Rasse einigermaßen merklich mitwirken, wenigstens in reinrassigen Völkern, oder wo vielleicht eine ältere Mischrasse noch die Oberhand hat über jüngeres Mischvolk, wie z. B. in Rußland und in Teilen von China. Ich freilich möchte auch das bezweifeln; denn wenn wirklich irgend eine Art Formtrieb auf spezifischem Rassetalent beruhte, dann wäre völlig unbegreiflich, wieso dieser Trieb in manchem Volk abstirbt, trotzdem die Rasse im Volke noch fortlebt. Wie kurzlebig war die Kultur der Hellenen, und doch gibt es heute noch griechische Bauern genug, deren Körperbau ganz den antiken Typ hat!

D. J. M. Blos leider mit türkischem Blut verkleistert! Und schließlich wird Jeder mal altersschwach.

D. D. D. Das sagt man ja freilich auch Völkern nach, und es würde vielleicht sogar ganz vernünftig sein, wenn wirklich jeder Grieche von heute schon als Greis aus dem Mutterleib[S. 184] käme. Aber dem Rassenelement soll doch seelische Urkraft innewohnen; und seit wann werden Urkräfte altersschwach? Der Kunsttrieb in einem Tizian ist erst zugleich mit ihm selber gestorben! Er hat mit 99 Jahren gewiß nicht mehr wie als Jüngling gemalt, aber gemalt hat er bis zuletzt.

D. J. M. Ja gewiß! Sehn Sie wohl! Was hab ich gesagt? Der war eben nicht vermuselmanscht!

D. D. D. Na, wer weiß! Venedig lag nicht so weit von den Harems. Und er soll ja, unter uns gesagt, ein halb Dutzend Gattinnen totgeliebt haben; mehr dürfte wohl auch kein Türke leisten! — Doch Spaß beiseite, und Schutt auf die Griechen! Aber die Araber und die Perser, die noch bis in die Renaissance hinein selbständige Kulturformen schufen und sich seitdem nicht mehr so reichlich wie früher mit anderen Rassen gekreuzt haben, sind heute gleichfalls barbarisiert. Es sind wirtschaftlich verlotterte Völker, infolge der Unzulänglichkeit ihrer humanen Ideale, denn die rächt sich stets auch sozialpolitisch. Solche Völker vermögen dann nicht einmal in den gewöhnlichsten Kunstgewerben ihre stilistische Tradition auf alter Höhe zu erhalten, geschweige daß sie die andre Art Kunst, die aus rein seelischen Bedürfnissen stammt, noch irgendwie schöpferisch betreiben. Und nun die Hauptsache: diese andre Art Kunst weist wiederum zwei durchaus verschiedene, zwar sinnlich vielfach verbundene, aber geistig ganz gesonderte Spielarten auf: die der Unterhaltung und die der Erhebung. Mag sein, daß die unterhaltenden Künste, die ja die eigentlich populären sind, noch Rückschlüsse auf die Rasse erlauben, zwar kaum des Künstlers, doch vielleicht seiner Kundschaft. Denn auch diese Künste wurzeln noch halb im Gewerbe, vom Volkslied der alten Bänkelsänger bis zum modernen Familienroman, vom Nationaltanz bis zur Salon-Akrobatik, vom Rüpelspiel bis zum ehrsamen Rührstück, vom ungeschlachten Jahrmarktsbild bis zum allerleckersten Eßzimmer-Stillleben. Sie hängen[S. 185] direkt vom Bedürfnis des Alltags ab, sie betreiben den Zeitvertreib als Geschäft, sie behandeln das sinnliche Leben als Selbstzweck, sie müssen gemeinverständlich sein, sie zielen mit einfachsten geistigen Reizen auf körperliche Erregungen, auf Augenweide und Ohrenschmaus, auf Zwerchfell- und Tränendrüsenkitzel, auf Herz- und Nieren- und Rückenmarksgruseln; also wird ihre Form wohl auch zum Teil von denselben Naturkräften mitbestimmt, die dem menschlichen Körper den groben Stempel einer beständigen Rasse aufdrücken.

D. J. M. Na, was Andres hab ich doch niemals behauptet!

D. D. D. Nun aber die freieren, reineren Künste, die ich vorhin die erhebenden nannte, weil sie höher hinauswollen als das sinnliche Dasein: was hat der Volkskörper damit zu schaffen? Er dient ihnen höchstens als Mittel zum Zweck; hier herrscht ganz und gar nur die Schöpfermacht der begeisterten und begeisternden Seele. Diese Künstler bewerben sich nicht um Volksgunst, sie betreiben das innere Wachstum der Menschheit. Da will der Geist die Nerven des Leibes nicht blos mit flüchtigen Reizen liebkosen, sondern innigst mit seinem Liebreiz befruchten, bis in die feinsten Gehirnzellenfasern, die kein Vivisektor je auskennen wird, weil immer noch welche nachwachsen werden. Da empfängt die Form kaum noch indirekt von der populären Tradition ihren Stil; denn das durch und durch Maßgebende ist da eben die befreiende Leidenschaft, die neues Menschentum schaffen will, dieselbe göttliche Leidenschaft, aus der auch die religiösen Visionen, die sozialen und nationalen Phantome, kurz alle Ideale entspringen. Sie tritt immer zuerst nur im Einzelgeist auf, ist nie und nirgends dem Volk gleich willkommen, muß überall erst im Kampf mit der Welt ihre rätselhafte Kraft erweisen, die an jedem Widerstand wächst und reift. Ja, sie stammt sogar aus dem Widerstand: aus dem Zwiespalt zwischen Mensch und Natur, den die Kultur über[S. 186]brücken möchte, und der sich im schaffenden Einzelgeist als Konflikt mit den Masseninstinkten auftut. Oder meinen Sie etwa, daß Ihre Judith, an der Sie sich Jahrelang abgequält haben, sofort begeisterten Zuspruch fände, wenn Ihr verehrliches Publikum aus lauter koscheren Juden bestünde?

D. J. M. Gott der Gerechte! Dann doch schon lieber aus lauter gemischten ollen Hellenen.

D. D. D. Ja, die hättens Ihnen erst recht gesteckt; den Phidias wenigstens haben sie wegen Gottlosigkeit aus Athen weggegrault, und der Äschylos wurde so kujoniert, daß er ebenfalls ausgewandert ist. Die deutschen Schulmeister sind zwar der gütigen Meinung, daß jeder Spießbürger von Athen ein Zeitgenosse des Perikles war und begeistert in die Tragödie ging; er ging aber hin, weil’s Staatspflicht war, weil ihm das Eintrittsgeld ausgezahlt wurde, weil er den berühmten Obolus krigte, durch den ein paar raffinierte Patrizier die primitive Kirmeßbühne zur sozialpolitischen Anstalt entwickelten. Begeistert war man vielleicht für den Chortanz, für die bachantische Satyrposse, für die religiösen Prozessionen, und was sonst noch an festlichem Schaugepränge mit dem Drama seit Alters zusammenhing. Begeistert war man für alle Gymnastik, wie mans heute für Zirkus und Variété ist, oder in Spanien fürs Stiergefecht. Das Volk begeistert sich immer blos für panis et circenses von selbst; das war im antiken Athen und Rom ganz wie im modernen Paris und Madrid. Die Plebs will sich einfach delektieren; zwar möglichst variabel, doch immer simpel. Das Erhabene, wenn es nicht altersgrau war, beschmiß der athenische Bildungspöbel mit genau solchem kritischen Schnodderwitz, wie heute der berlinische; Beweis die Aristophanische Posse, die diesen Witz mit genialer Selbstironie in die poetische Sphäre erhob. Die Kunst des geläuterten Menschengeistes, die sich aus instinktiven Konflikten zu ästhetischen Harmonieen hinaufringt, liegt ursprünglich stets nur im Bedürfnis kompli[S. 187]zierter Persönlichkeiten, schon dem Wesen der Motive nach; sie wird überall erst durch die Liebhaber dem Volksgeschmack allmählich vermittelt, und mit gründlichem Erfolg nur dann, wenn die Vermittler zur herrschenden Klasse gehören oder sonstwie in Amt und Würden sitzen, z. B. auf dem Schulmeisterthron. An Ihrer Judith hat sichs ja deutlich gezeigt; wer sieht denn da heute das geistige Pathos hinter der sinnlichen Attitüde? Selbst der gebildete Durchschnittskenner hat einstweilen noch keine leise Ahnung von dem allgemein menschlichen Wert dieser Geste; er besieht sich den naturalistischen Akt.

D. J. M. Ist mir ja ungemein schmeichelhaft alles; aber eigentlich muß ich ehrlich bekennen, ich hatte selber noch keine Ahnung davon. Ich denke beim Malen an nichts Allgemeines, ich will immer was ganz Besonderes machen. Sie sehn doch, ich zeichne hier Ihre Visage, und Sie reden das Blaue vom Himmel herunter. Kommt mir ja alles sehr gottvoll vor, und mein sogenannter Menschengeist denkt sich ja auch allerlei dabei; aber bilden Sie sich nun faktisch ein, davon soll was auf Ihr Porträt abfärben? Ich sage Ihnen, die Sorte Geist hat mir noch keinen Bleistiftstrich machen helfen!

D. D. D. Sie scheinen das sehr genau zu wissen. Aber Ihre Kohlenskizze da würde doch vielleicht etwas anders ausfallen, wenn ich hier stumm wie ein Fakir säße oder tragische Verse deklamierte.

D. J. M. Alles was recht ist: Sie döppen mich wirklich gut.

D. D. D. Man weiß nämlich nachträglich nie so genau, was man bei jedem Bleistiftstrich denkt. Ich habe Sie übrigens im Verdacht, Sie legen’s drauf an, sich döppen zu lassen; dann wäre also Ich der Gedöppte.

D. J. M. Ja, eigentlich gehts ja auf keine Kuhhaut, was einem beim Malen so durch den Grips geht. Ich hab’s auch[S. 188] wahrhaftig schon immer gesagt: ich pfeiff aufs Geschäft, ich bin Idealist!

D. D. D. Das ist wohl schließlich jeder Künstler, und sogar jeder echte Kunsthandwerker, auch wenn er nicht so laut pfeifen kann. Und das allein schon beweist zur Genüge, wie wenig im Grunde das Talent mit einer bestimmten Rasse zu tun hat. Der Rasseninstinkt, wenn er ehrlich ist, hat ja nicht das mindeste Interesse an irgend einem Ideal, das über die Reinrassigkeit hinausgeht; das ist ihm ja gradezu gefährlich. Selbst schon das nationale Ideal, das sich vielleicht noch am ehesten auf primitive Instinkte stützt, muß seinem politischen Wesen nach von Hause aus darauf bedacht sein, sich mit mehreren Rassen abzufinden; denn es gibt kein einziges Staatsgebilde, dessen Volkskörper nicht aus wenigstens zwei verschiedenen Stammvölkern aufgebaut ist, aus Eroberern und Unterworfenen. Und nun gar die humaneren Ideale; die entstehen doch eben aus der Sehnsucht, uns über die rohen Zwangsgewalten der Naturinstinkte hinwegzusetzen, und diese Sehnsucht stak schon im simpelsten Schnörkel, mit dem der Urmensch an seinem Beilgriff oder am Rand seines Trinkgefäßes den Zweck der Notdurft verkleidete. Wenn man also unsern höchsten Kulturprodukten wirklich noch Rassenelemente als Formkräfte unterlegen wollte, dann könnten es immer nur Mischungsverhältnisse sein, die grade den harmonischen Stil in die originale Manier hineinbrächten. Denn nur aus vielfachen Blutmischungen ließe sich allenfalls die Zeugung jener komplizierten Temperamente erklären, die überhaupt das Bedürfnis empfinden, die Dissonanzen, Kontraste und Konflikte ihres persönlichen Seelenlebens um der Menschheit willen zu harmonisieren. Das gilt sogar von dem populärsten, dem ökonomischen Idealismus, den man heute speziell den sozialen nennt; auch dessen Formen und Reformen sind ursprünglich immer nur Hirngespinnste von einigen wenigen Menschenfreunden, die das Volk bekannt[S. 189]lich zu kreuzigen pflegt, bevor es sie vergöttern lernt. Und wer hat denn die nationale Idee, die von Bismarcks Gnaden realisiert und dann von seinen Kreaturen zur patriotischen Phrase verpöbelt wurde, dem deutschen Michel eingetrichtert? Etliche edle Brauseköpfe des europäischen Völkerfrühlings, ein paar Poeten, Philosophen und Legislatoren, durch den Tyrannen Bonaparte zu glühender Freiheitsliebe erregt, die von den hohen Obrigkeiten so rasch wie möglich abgekühlt wurde, während der sogenannte Volksgeist von selber kalte Füße krigte! Lesen Sie nur nach, wie die Kleist und Arndt, die Fichte und Schleiermacher, die Jahn und Görres ihre Hoffnungen auf Deutschland zu Grabe trugen, wie die Scharnhorst und Gneisenau Undank ernteten, wie selbst der Freiherr vom Stein und Blücher um den Sinn ihrer Taten betrogen wurden! Oder wenn Sie noch mehr Beweise wünschen —

D. J. M. Nein, Gott soll schützen, ich schwitze schon! — Und überhaupt: ich bin nämlich fertig. Die Skizze ist wirklich gut geworden. Wenn Sie erlauben, möcht ich jetzt einpacken.

D. D. D. Na, darf man sie denn nicht erst mal sehen?

D. J. M. Ja, wenn sie fertig ist, wissen Sie! Ich wollte blos sagen: für heut bin ich fertig. Wenn Sie wieder mal herkommen, mach ich sie weiter. Sie ist wirklich nicht schlecht; Sie können mirs glauben! — Na, wenns sein muß: bitte, treten Sie näher! —

D. D. D..... Da scheint unsre Disputation aber doch etwas heftig abgefärbt zu haben. Ich sehe ja aus wie’n Federvieh, das Ihr Teckel zwischen den Zähnen gehabt hat. Aber ich sag’s ja: schließlich bin Ich der Gedöppte.

D. J. M. Ja, nicht wahr? da merkt selbst ’n Kaffer die Rassenmischung! — Man kann’s auch von weiter weg besehn. „Is ’ne Nummer“, wie sie im Zirkus sagen; der reine „Kraftmélange-Akt“!

[S. 190]

D. D. D. Mir deucht aber: mehr Mélange als Kraft. Sie wollen’s wohl in den Papierkorb packen?

D. J. M. Was? Wieso denn? Sie sind wohl nicht von hier, mein Herr?! Das verkauf ich an irgend ein Museum! Sie sollen mal sehn, Sie deutscher Dichter: wenn Sie erst in der Nationalgalerie hängen!

D. D. D. Nein, im Ernst: die Skizze scheint mir wirklich mißglückt. Sie haben zuviel an mein Geschwätz gedacht.

D. J. M. Ach ja richtig, Sie sind ja nicht fürs Nationale. Und nun denken Sie einfach, ich mache Spaß, weil Sie meinen, ich sei ein Franzosenschüler!

D. D. D. So einfach pflege ich nicht zu denken.

D. J. M. Na, oder ein allgemein menschlicher Jude! Ich habe doch ziemlich deutlich gehört, daß Sie aufs Nationale pfeifen.

D. D. D. Da haben Sie ziemlich vorbeigehört.

D. J. M. Nanu? Sie haben doch deutlich gesagt —

D. D. D. daß die Nation keine Kunst erzeugt. Damit ist doch aber durchaus nicht geleugnet, daß die Kunst nationalen Charakter annehmen kann. Selbst der weiseste Künstler bleibt der Narr seines Mitgefühls.

D. J. M. Die Logik ist mir etwas zu kringlig.

D. D. D. Nun, es ist doch dieselbe Leidenschaft, dieselbe schöpferische Begierde, derselbe göttliche Sinn oder Wahnsinn, woher die Menschennatur kulturelle Ideen und die Volksmasse nationale Tendenzen empfängt, überhaupt alle irgendwie universalen Illusionen und Phantasmen. Es ist immer wieder die ewig gleiche, Ungleiches einende Einbildungskraft, die auch im Kunstwerk dem Einzelwesen harmonischen Allgemeinwert verleiht; nur die Intressensphären liegen verschieden. Warum sollten sich die aber nicht berühren können und unter Umständen miteinander verbinden? Vielleicht ist sogar zu gewissen Zeiten die eine der andern Nothelferin. Wenigstens zeigt die Ge[S. 191]schichte der Menschheit, daß immer, wenn in den rührigsten Völkern neue humane Ideale entstehen, daß dann zugleich auch die nationalen am ungestümsten aufbegehren; womit ich natürlich nicht sagen will, daß das nun ewig so bleiben muß.

D. J. M. Und da denken Sie also, die beiden Aale verwickeln sich so mit den Schwänzen zusammen, daß der Mensch die göttliche Sehnsucht krigt, einen einzigen Aal draus zu phantasieren?

D. D. D. Nein, so verwickelt denken wahrscheinlich blos Bandwürmer.

D. J. M. Na, wovon krigt man denn aber den dollen Gieper auf so’was allgemein Göttliches? Irgendwovon muß der doch kommen!

D. D. D. Ja, da müßten Sie mir schon wirklich erlauben „das Blaue vom Himmel herunter zu reden“. Von der Rasse kann doch wohl lediglich der Gieper auf allgemein Tierisches kommen; und von irgend sonstwelchen Formationen der irdischen Materie, ob’s nun klimatische Ortsumstände oder soziale Zeitumstände sind, werden Sie diese ewige Sehnsucht nach harmonischer Umformung der Natur erst recht nicht hinreichend ableiten können. Wenn sich die überhaupt noch logisch ergründen und mechanisch begreifen läßt, dann müssen wir schon den mystischen Äther der Herren Physiker psychisch ausdeuten: unsre Abstammung von der Sonnenmaterie, die rhythmodynamische Struktur der kosmischen Centralsysteme, die sogenannte Harmonie der Sphären, den Einfluß der schwingenden Sternenwelten auf unser eigenes kleines Gestirn, all die bewegten siderischen und planetarischen Konstellationen, die bis in den Erdball hinein vibrieren und sich als wechselnde Innervationspotenzen, als beseelende und begeisternde Kräfte, den Erdbewohnern einverleiben. Oder halten Sie’s etwa für Aberglauben, daß immer, wenn sich die Menschenwelt zu erhabenen Kraftanstrengungen aufrafft, zu Völkerwanderungen, Staats[S. 192]umwälzungen, Befreiungskriegen, Entdeckungsfahrten, Glaubenskämpfen und andern Kulturekstasen, daß dann immer zugleich auch in der Naturwelt gewaltige Katastrophen ausbrechen, Erdbeben, Springfluten, Wirbelstürme, Heuschreckenschwärme, mikrobische Epidemieen, vulkanische Eruptionen und dergleichen, begleitet von seltsamen Himmelserscheinungen, ungewöhnlichen Meteoren, Kometen, Nordlichtern, Sonnenfinsternissen?!

D. J. M. Da’s faktisch so ist, wird’s wohl so sein. Es rumort ja auch jetzt wieder allenthalben.

D. D. D. Und also wird sich wohl auch kein Künstler, selbst wenn er’s mit stärkstem Eigensinn wollte, den jeweils zeitbewegenden Kräften, die sich als Ideale äußern, entziehen oder verschließen können. Und wenn in unserer ebenso stark nationalen wie internationalen Epoche ein schöpferischer Geist auf dem norddeutschen Weltteil mit seiner reichsdeutschen Staatsbürgerhand allgemein-menschliche Werte malt, und zwar aus rein malerischer Lust zur Sache: dann ist er nicht blos ein wertvoller Maler, sondern zugleich, auch wenn er ein Jude ist und in Paris auf die Schule ging, einer der reinsten deutschen Künstler, die sich je in der Nationalgalerie aufhängen ließen.

Der Jüdische Maler: Na sehn Sie, das freut mich! Und offen gesagt: das hab ich von Ihnen blos hören wollen!

Der Deutsche Dichter: Oh meine Ahnung! Ich Michel! Sie Schurke! — Das soll wohl heißen, der Mohr kann gehen?!

Der Maler: Blos, er muß versprechen wiederzukommen! Und das nächste Mal, da mal’ich ihn besser.

Der Dichter: Und ich singe ein Loblied aufs Rassige...

[S. 193]

Die Menschenfreunde
Drama in drei Akten
Zweite Ausgabe

Copyright 1917 S. Fischer, Verlag.

[S. 194]

Personen:

Christian Wach, ein Multimillionär.
Justus Wach, sein Vetter, Kriminalkommissar.
Die alte Anne, Wirtschafterin bei Christian.
Ein Geheimer Sanitätsrat.
Ein Oberbürgermeister.
Ein Oberregierungsrat.
Ein Regierungspräsident.
Ein Minister.

Alle männlichen Personen treten in schwarzem Gehrock auf, die Wirtschafterin in schwarz-und-weißer Schwesterntracht. Der Dialog hat langsames Tempo.

Zeit:

Sommer, Herbst, Winter 1913,
alle drei Akte vormittags.

Ort:

Empfangszimmer bei Christian Wach.

Sehr einfach ausgestattet, fast dürftig, mit altmodischen Möbeln. Nirgends Spiegel noch Bilder; nur in der Mitte der Hintergrundswand, über einem halbhohen Bücherbord, hängt das Porträt einer älteren Dame mit hageren Zügen und auffälligen Augen, lebensgroße verblaßte Photographie. Links im Hintergrund Eingangstür, vorn ein schlichter Kamin mit Standuhr. In der Seitenwand rechts ein Fenster mit verschossenen Vorhängen; daneben ein Lehnstuhl aus dunklem Korbgeflecht und ein kleiner Lesetisch. In der Mitte des Zimmers ein größerer runder Tisch mit drei Stühlen aus dunklem Holz. Rechts und links immer vom Zuschauer aus.

[S. 195]

Erster Akt

Christian Wach

(sitzt lesend am Fenster, von der Vormittagssonne beglänzt)

— — Also auch der Galneggy hat seine Milliarde mit Menschenschinderei erworben — eh er Millionen verschenken konnte — (nickt vor sich hin und klappt das Buch zu) — schauerlich! — —

Die alte Anne

(tritt ins Zimmer, einen hellroten Rosenstrauß in der einen Hand, in der andern eine weiße Serviette und schlichte blaue Glasvase)

So, Herr Christian, wenn Sie auch schelten, ich gratuliere zum fünfzigsten Geburtstag. Kostet nur dreißig Penning bitte; der ganze Markt war voll Bauernrosen, ich konnt der Sommerfreude nit widerstehn, und dem erquickenden Geruch. (Sie legt die Serviette auf den Tisch, setzt die Vase mit dem Strauß darauf.) Nun machen Sie mal ein helles Gesicht, wie sich’s gehört zu den schönen Blumen und dem Geburtstagssonnenschein!

Christian

(ist aufgestanden und hat das Buch in den Wandbord gestellt)

Ich danke dir, Anne, du meinst es gut; aber du weißt, mich peinigt solche Verschwendung. Für die dreißig Pfennige hättest du besser einem Bettelkind etwas zu essen gekauft.

Anne

Ja, das hätt sich wohl mehr gefreut als Sie. Ach, Herr Christian, geb Ihnen Gott ein bißchen Kindersinn zurück! Dann würden Sie bald auch wieder gesund werden.

Christian

(unruhig hin und her, Kopf gesenkt, Hände auf dem Rücken, in der Erregtheit zuweilen stotternd, aber stets mit Zurückhaltung)

Lala-laß das Gerede, ich bin nicht krank; ich spüre blos, daß ich alt werde.

Anne

Weil Sie nicht auf mich hören, Sie junger Mann. Mich drücken meine Jahre nicht; und könnt doch fast Ihre Mutter[S. 196] sein, mit meinen beinah sechsundsechzig. Nehmen Sie sich ein Kind ins Haus, wenn Sie durchaus keine Frau nehmen wollen!

Christian

Bist doch auch ledig geblieben, alte Anne.

Anne

Ich — was wissen denn Sie davon? Blos daß mich leider keiner heiraten wollt, mit meinem Huckepack auf’m Rücken; da hab ich halt Kinder und Kranke gepflegt.

Christian

Dein Rücken ist nicht viel krummer als meiner. Was siehst du mich wieder so auffällig an?!

Anne

Ja, nehm Ihnen Gott Ihren Huckepack von der Seele —

Christian

(heftig)

Lala-laß mich in Ruhe mit deinem Gott! (sich bezwingend) sein Reich ist nicht von dieser Welt. — (Nach dem Porträt hinüberdeutend) Geh, stell den Strauß da auf den Sims.

Anne

Was! meine Rosen da unter das Bild?

Christian

Geh, tu mir die Liebe, ich bitte dich.

Anne

Neun Jahre liegt sie nun unter der Erde, und immer noch spukt sie Ihnen im Hirn, als hätten Sie Angst vor ihrem geizigen Blick. Das ist ja Narrheit, Herr Christian!

Christian

Nein, das ist Dankbarkeit, Anne, versteh doch! Du weißt, ich habe seit Tante Brigittens T-Tod über das menschliche Elend nachdenken lernen; und wenn ich nun die v-vielen Millionen, die sie mir hinterlassen hat, nicht grade in ihrem sparsamen Sinne verwende.

[S. 197]

Anne

Gott sei Dank —

Christian

dann muß ich ihr doch tatsächlich im stillen gewissermaßen Abbitte leisten; sozusagen als ihr Scha-Schuldiger, wie’s im Vahaha-haterunser heißt.

Anne

Spotten Sie nicht, Herr Christian! Und meinen Rosenstrauß stell ich nicht da hinüber. Hab ihn auch garnit blos Ihnen zulieb gekauft. Wenn nachher die Herrn gratulieren kommen

Christian

Was soll das heißen! ich hab dir ausdrücklich gesagt, daß du niemand vorlassen sollst!

Anne

Doch nur die Herren von der Regierung; die kann man doch nit vor den Kopf stoßen. Und dann muß es hier doch ein bißchen freundlich aussehn. Auch ein Fläschchen Tokayer hab ich noch mitgebracht; man muß doch ein Gläschen Wein anbieten.

Christian

(mit dem Fuß aufstampfend)

Du wirst mich w-wirklich noch krank machen, Anne! Du trägst die Faffa-Falasche zum Krämer zurück! (Da Anne Miene zum Widerspruch macht) Du trägst sie zurück! ich will’s, sag ich dir!

Anne

Wenn ich Sie damit beruhigen kann —?

Christian

(wieder durchs Zimmer wandernd)

Wenn ich mir selber keinen W-Wein spendiere, bin ich dem Bürgermeister auch keinen schuldig! — Kannst die Flasche aber für Dich dabehalten. Hast wenig genug vom Leben bei mir.

[S. 198]

Anne

Ihr gutes Herz in Ehren, Herr Christian; ich hab noch nichts entbehrt bei Ihnen. Aber trotz all Ihrer Wohltätigkeit: manchmal scheint’s fast, die selige Tante hat Ihnen auch was von ihrem Geiz vererbt.

Christian

Scheint’s fast? Ha-hat sie? Was scheint dir denn sonst noch?

Anne

Wenn ich denk, wie Sie früher mitteilsam waren! Der Herr Sanitätsrat ist auch der Meinung: wenn Sie ab und zu ein Gläschen sich gönnen wollten, das würd Sie wieder umgänglich machen. (Auf die Bibliothek weisend) Ihre Bücher machen Sie blos immer menschenscheuer; Sie sprechen ja manchmal Tagelang kein überflüssiges Wörtchen mehr.

Christian

Also meine einzige Freude gönnst du mir nicht; die l-letzte, die ich mir noch erlaube!

Anne

Aber nein, wie Sie reden — ich mein doch blos: Sie holen sich keine Freude draus. Über Büchern läßt man den Kopf hängen; man holt sich blos seine eignen Grillen draus.

Christian

(wieder aufstampfend)

Schweig! — Schweig, sag’ ich dir, ich hab genug! — Ich hab mir das l-l-längst schon selber gesagt; ich werde morgen die Bücher verkaufen.

Anne

Aber liebster bester Herr Christian!

Christian

Ich werd’s, sag ich dir!

[S. 199]

Anne

Jaja doch, gewiß doch. Aber bitte, lieber Herr Christian, quälen Sie nicht mich dumme Person; nehmen Sie mir zuliebe Ruh an! Kommen Sie, setzen Sie sich in den Lehnstuhl; rennen Sie nicht so herum immerfort. Glauben Sie mir, ich kenn Ihre Nerven; wozu war ich denn Krankenschwester.

Christian

Du sollst mich nicht so a-ansehn, Anne!

Anne

Kommen Sie, sein Sie nit so verbiestert — der Herr Sanitätsrat hält’s auch nit für gut — (nötigt ihn währenddem in den Korbstuhl). So, jetzt hole ich Ihnen ein Buch — (draußen elektrisches Klingelzeichen). O schad, da sind die Herren wohl schon — nehmen Sie Ruh an, Herr Christian — (ab nach links) —

Christian

(allein)

— — Schauerliche Komödie — —

Anne

(läßt zwei Herren eintreten)

Bitte, Herr Oberbürgermeister — bitte, Herr Oberregierungsrat — (dann wieder ab.)

Christian Wach

(hat sich erhoben, weist auf die Stühle am Mitteltisch)

Willkommen, meine Herren, nehmen Sie Platz; was verschafft mir die ungewöhnliche Ehre?

Bürgermeister

(stehen bleibend)

Die Ehre liegt ganz auf unserer Seite, verehrter Herr Kommerzienrat.

Regierungsrat

(ebenso)

Heute tatsächlich auf unsrer Seite; tatsächlich, Herr Kommerzienrat.

[S. 200]

Bürgermeister

Ich habe den angenehmen Auftrag, Ihnen im Namen der Bürgerschaft und der übergeordneten Ratspersonen die ergebensten aufrichtigsten Glückwünsche zu Ihrem fünfzigsten Jahrestag auszusprechen. In der festen Hoffnung, daß es Ihnen, hochzuverehrender Herr Kommerzienrat, noch Jahrzehnte lang beschieden sein werde, Ihre gemeinnützige Gesinnung mit unverminderter Kraft zu betätigen, und um die Dankbarkeit öffentlich kundzutun, mit der wir zu dem selbstlosen Menschenfreund aufblicken (Christian Wach zuckt merklich zusammen, stützt sich auf die Stuhllehne rechts des Tisches) — zu dem Stifter sovieler Wohlfahrts- und Bildungs-Anstalten —: haben wir einstimmig beschlossen, Sie am heutigen Tage zum Ehrenbürger unserer Haupt- und Residenzstadt zu ernennen. In Rücksicht aber auf Ihre bekannte Abneigung gegen persönliche Celebrationen, glaubten wir Abstand nehmen zu sollen von den üblichen Förmlichkeiten, und ich erlaube mir deshalb, die Ernennungsurkunde hiermit in denkbar einfachster Form zu Ihren Händen gelangen zu lassen. (Er überreicht ihm eine Rolle und schüttelt ihm gewichtig die Rechte.)

Regierungsrat

Im Namen nicht nur der Regierungsorgane, sondern auch Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs, darf ich Sie, Herr Kommerzienrat, als Erster zu dieser Ernennung beglückwünschen. Seine Königliche Hoheit haben zugleich geruht, Ihnen in Anerkennung Ihrer Verdienste um das allgemeine Wohl den Kronenorden der obersten Klasse mit der Kette zu verleihen. Sie wissen, wieviel Aufmerksamkeit unser gnädiger Herr den sozialen Bestrebungen widmet, und daß es mehr als eine Förmlichkeit ist, wenn jemand in unserem Staatswesen einen solchen Ansporn zu weiterer Betätigung seiner Menschenfreundlichkeit empfängt. (Er überreicht ihm ein Kästchen und verneigt sich.)

[S. 201]

Christian Wach

Meine Herren, ich danke untertänigst. Ich fühle mich in Wahrheit beschämt und b-bitte es als einen Beweis meiner Ergriffenheit anzusehen, wenn ich diese hu-hu-huldvollen Ehrenzeichen vor dem Bilde derjenigen Person niederlege, auf deren wirtschaftliche Tüchtigkeit ich meine sogenannten Verdienste zurückführen muß — (er legt beides auf den Bücherbord unter das Porträt). M-M-Menschenfreunde sind wir wohl alle nur, soweit es unsre Selbstsucht zuläßt; und was bedeutet ein bißchen Wohltäterei in der ungeheuren W-Wüste des menschlichen Elends! Sie hat höchstens den Wert eines Grashälmchens, an das sich die Hoffnung klammern kann, daß mehr Haha-Halme nachwachsen werden.

Regierungsrat

Also ein vorbildlicher Wert, der immer weiter und höher zunehmen kann, und somit der höchsten Beachtung aller Strebsamen würdig.

Christian Wach

(sich wieder auf die Stuhllehne stützend)

Ich verstehe, Herr Oberregierungsrat — und das wird mir ein Ansporn, wie Sie gütigst sagten, zu weiterer Betä-tä-tätigung sein; obgleich die unverminderte Kraft, von der Sie, Herr Oberbürgermeister, mit Ihrer bekannten Freundlichkeit sprachen, leider an die selbstsüchtigen Schranken meiner angegriffenen N-N-Nerven gebunden ist. Bitte, wollen wir uns nicht setzen?

Bürgermeister

In Rücksicht auf Ihre werte Gesundheit möchte ich meinerseits vorziehen, mich jetzt ergebenst zu empfehlen; nicht ohne dem herzlichen Wunsche Ausdruck zu geben, daß es Ihnen bald wieder vergönnt sein möge, an den geselligen Freuden Ihrer Mitbürger einigermaßen teilzunehmen. Ich habe im Anschluß an die Sitzung, in der wir Ihre Ehrung beschlossen, die Ge[S. 202]legenheit wahrgenommen, einen neuen Verein zu gründen, der alle wohlgesinnten Elemente unserer strebsamen Landeshauptstadt allmählich konsolidieren soll: die Gesellschaft der Menschenfreunde! Ich gebe mich der Hoffnung hin, auch Sie, verehrter Herr Ehrenbürger, demnächst als Mitglied begrüßen zu dürfen.

Christian Wach

Außerordentlich schmeichelhaft. Aber verzeihen Herr Oberbürgermeister: meine N-Nerven erlauben mir wirklich nicht, an solchen m-menschenfreundlichen Sitzungen mit der nötigen Ausdauer teilzunehmen.

Bürgermeister

Nun, wenn auch nicht im Augenblick, es wird uns jederzeit aufrichtig freuen, einen so würdigen Mitbürger in unserem Bunde willkommen zu heißen. Und deshalb bleibt es mein inniger Wunsch, der allseits mitempfunden wird, Ihre baldige Wiederherstellung im engeren Kreise feiern zu können. (Er schüttelt ihm abermals die Hand.)

Regierungsrat

Ich schließe mich diesem Wunsche an, unbeschadet der hohen Achtung, die Ihre stoischen Lebensgrundsätze jedem eifrigen Staatsbürger abnötigen. (Er verneigt sich.)

Christian Wach

(die Herren zur Tür geleitend)

Ich danke ebenso aufrichtig, meine Herren, und wiederhole die ehrer-b-bietige Bitte, auch bei den zuständigen Stellen meinen Dank auszurichten. Ich werde wiegesagt bestrebt sein, mich in der „allseits“ gewünschten Weise nach wie vor zu betä-hä-hä-hätigen. (Er verneigt sich gleichfalls und schließt die Tür hinter ihnen, setzt sich dann matt an den Mitteltisch) — — Grauenhaft — — (Er nickt vor sich hin, blickt zu dem Porträt empor) Du rächst dich gut — — (Es klopft, er schrickt auf) —

Die alte Anne

(behutsam näher tretend)

Es ist noch jemand draußen, Herr Christian.

[S. 203]

Christian

Was soll das! Untersteh dich nicht —

Anne

(verhalten)

Der Herr Justus! Er wollt sich nicht abweisen lassen.

Christian

Was! Vetter Justus? der Leu-te-tenant?

Anne

(wie vorher)

Ja. Das heißt: er ist doch jetzt Polizeikommissar — (sie drehn sich beide prall um, da die Tür aufgeht) —

Justus Wach

(tritt gelassen ein, mit einer Aktenmappe unterm Arm)

Du mußt mir schon einmal erlauben —

Christian Wach

(während Anne beklommen hinausgeht und die noch offene Tür wieder schließt)

Du bist mir natürlich durchaus willkommen —

Justus

(lächelnd)

So? — Ich erhebe nicht den Anspruch.

Christian

Nun, dann ist deine Aufrichtigkeit mir willkommen. Offne Arme kannst du wohl nicht erwarten, nachdem du damals unsern Verkehr, unser verwandtschaftliches Band, um Geldes willen zerschnitten hast.

Justus

Meinst du? — Aber du erlaubst wohl, daß ich mich setze. (Er nimmt Platz auf dem linken Stuhl, legt die Mappe auf den Tisch.)

Christian

Aber natürlich; b-bitte höflichst. (Sich gleichfalls setzend) Fühle mich heute auch etwas matt; ein außerordentlich warmer Tag.

Justus

Und obendrein deine Ehrenlast. Alle Zeitungen sind ja wieder des Lobes voll. Wird dir allmählich wohl doch etwas drückend?

[S. 204]

Christian

Darf ich lieber fragen, w-was dich zu mir führt?

Justus

O, traust du mir also garnicht zu, daß ich blos die uneigennützige Absicht habe, dir auch mal wieder zu gratulieren, dem musterhaften Menschenfreund, der mich Schuldenmacher dazu gebracht hat, den schrecklichen bunten Rock auszuziehen und ein nützlicher Mitmensch in Schwarzgrau zu werden? — (Seine Hand auf die Mappe legend) Wirklich, ich habe jetzt allen Grund, der rühmlichen Betätigung deiner Nächstenliebe dankbar zu sein.

Christian

Bitte, laß das; mir sind diese Phrasen peinlich.

Justus

Mein Lieber, ich kenne deine Art Ehrgeiz. Du hast schon als Schuljunge Äpfel gestohlen, obgleich du dir aus Äpfeln nichts machtest, blos um uns Freunde damit zu begönnern und dich an deiner Großmut zu weiden; vielleicht auch an deiner Kühnheit und Schlauheit, denn erwischen ließest du dich ja nie. Ich habe dich schon damals durchschaut.

Christian

So? — Meinst du? (Lächelnd) Nun, vielleicht hast du Recht. Aber inzwischen wirst du wohl auch ein A-A-Andrer geworden sein.

Justus

Ja, seit neun Jahren ungefähr; dank deiner Betätigung wiegesagt.

Christian

Und hast du dich wirklich nun ausgesöhnt mit deinem b-bürgerlichen Beruf?

Justus

(legt lächelnd wieder die Hand auf die Mappe)

Ja, seit einem Monat etwa vollkommen. Und einigermaßen auch früher schon. Was blieb mir schließlich denn[S. 205] andres übrig; Schulden konnt ich doch keine mehr machen, nachdem du die ganze Erbschaft mir weggefischt hattest, kurz bevor ich zum Hauptmann aufrücken sollte.

Christian

Nun, ich habe a-auch nicht das werden können, wonach ich als Jüngling Verlangen trug; Geld hatte ich ja von Hause aus noch weniger zu erwarten als du. (Auf seine Bücher hinüberweisend) Du weißt sehr gut, wie ich drauf brannte, die Sta-taatswissenschaften zu studieren, Sozialpolitik, Nationalökonomie, und es sogar ein paar Semester lang durchhielt; bis Tante Brigittens harter Kopf mich zwang, mir als B-Bankbeamter mein Brot zu verdienen.

Justus

Ja, du warst ihrer Begönnerung würdig. Ich hab ihr die Faust unters Kinn gehalten, als sie ihren Mann zu Tode gepeinigt hatte und ihn dann einscharren ließ wie einen Bettler, den reichsten Grubenbesitzer des Landes; du zogst es vor, ihr die Krallen zu streicheln.

Christian

Sie hat sich selbst noch viel mehr gepeinigt; du solltest nicht über Handlungen urteilen, für die dir jedes M-Mitgefühl mangelt. Und notabene: auf ihr Testament konntest du doch im Ernst wohl nicht rechnen, nach deiner Gleichgiltigkeit — ge-l-linde gesagt — bei ihrem lalala-langen Krankenlager.

Justus

Nein, zum Erbschleicher war ich mir allerdings zu schade. Seit wann stotterst du übrigens?

Christian

(ist vom Stuhl aufgefahren)

Ich ver-b-bitte mir deine Brutalitäten! — (Sich bezwingend) Denkst du, es war mir ein Vergnügen, die Launen der alten[S. 206] ge-l-lähmten Person zu ertragen? ihre Heftigkeit, ihre Wutanfälle? dreizehn Jahre lang, Tag für Tag!

Justus

(lächelnd)

Nein, das denke ich keineswegs — bei deiner Art Menschenfreundlichkeit.

Christian

(fängt wieder an durchs Zimmer zu wandern)

Und deine Schulden hätt ich dir gern bezahlt, wärst du damit zufrieden gewesen, statt mir Millionen abpressen zu wollen, für die ich b-bessere Anwendung wußte. Bin auch jetzt noch bereit dazu, falls du nicht blos gekommen bist, um mir aufs B-Butterbrot zu streichen, daß du dich selber seit einem Monat von deinen Gläubigern befreit hast; (lächelnd) das wolltest du doch wohl andeuten.

Justus

Nein. Aber ich danke für Gnadenbrocken von deinem Butterbrot, werter Vetter.

Christian

Ja, wozu reibst du dich dann an mir? Und worauf bist du eigentlich neidisch? — Was ha-habe ich denn von all meinem Reichtum? Hat er mich etwa davor bewahrt, v-vorzeitig graue Haare zu kriegen? Ich lebe wie ein Mönch in der Wüste, und trotzdem ist mein M-Magen krank, meine Milz beklommen, mein H-Herzschlag verhaspelt, meine Nerven von Schlaflosigkeit zerrüttet —

Justus

Dein Gehirn von Gewissensbissen zerfressen —

Christian

Deinetwegen? — (Stehen bleibend) Du dauerst mich —

Justus

(steht nun gleichfalls auf, tritt dicht an Christian heran)

Solltest du nie befürchtet haben, daß ein gewisser Brief entdeckt werden könnte? —

[S. 207]

Christian

(weicht unwillkürlich etwas zurück — dann spottkalt)

Ah, Herr Polizeikommissar —

Justus

In der Tat — das ist mein Beruf — mit dem ich mich jetzt vollkommen ausgesöhnt habe — seit einem Monat wiegesagt, als ich in einer auswärtigen Chemikalienfabrik — (er unterbricht sich, greift nach der Mappe) — aber wollen wir uns nicht wieder setzen? an diesem „außerordentlich warmen Tag“? — (er nimmt Platz, während Christian stehen bleibt und sich fest auf eine Stuhllehne stützt, die er bei dem Wort „Chemikalienfabrik“ umklammert hat) — also als ich in einer Chemikalienfabrik einen ungetreuen Buchhalter festnehmen sollte und bei Durchsicht der Bureaupapiere zufällig einen Geschäftsbrief fand, worin ein gewisser Christian Wach, laut seiner aufgedruckten Adresse angeblich Apothekenbesitzer, eine Partie Medikamente bestellt hat, darunter auch einige heftige Gifte, etwa fünf Wochen vor dem Tode (auf das Porträt weisend) seiner teuren Erbtante Brigitte. (Wieder die Hand auf die Mappe legend) Hier hab ich das menschenfreundliche Schriftstück.

Christian

(lächelnd)

Sehr verbunden für dieses Geburtstagsvergnügen, auf das du dich also vier Wochen lang in aller Stille prä-pa-pariert hast.

Justus

Ja, zufällig ungefähr ebenso lange, wie du dich vor genau neun Jahren auf Dein Geburtstagsvergnügen „präpapariert“ hast.

Christian

Ja, es gibt spaßhafte Zufälle — (es klopft) —

Die alte Anne

(tritt ein und meldet)

Der Herr Geheime Sanitätsrat —

[S. 208]

Sanitätsrat

(ihr ohne Umstände folgend)

Ja, Ihrem alten Hausfreund dürfen Sie nicht verwehren, Ihnen heute die Glückshand zu schütteln, verehrter Ehrenbürger und Ritter vom Kronenorden! — (Überrascht) Aber was seh ich? ist’s möglich? Herr Justus! — Pardon, Herr Leutnant, die alte Gewohnheit. Haben sich also zur Feier des Tages endlich ausgesöhnt mit dem reichen Herrn Vetter?

(Anne blickt forschend von einem zum andern.)

Justus

(ist aufgestanden, immer eine Hand auf der Mappe)

Schon möglich, Herr Geheimrat; zur Feier des Tages.

Sanitätsrat

(ihm die Rechte schüttelnd)

Na, das freut mich, freut mich; edel sei der Mensch! Haben schließlich doch wohl Respekt gekrigt (mit Verneigung zu Christian hin) vor der segensreichen Betätigung.

Christian

(aufstampfend)

Kommen Sie auch noch angequäkt mit dieser verfluchten (absichtlich) Be-täterä-tätigung? Das ist ja wirklich zum Krämpfekriegen! Wie kann ein Mensch mit etwas Geschmack dies Schandwort auf die Zunge nehmen! diesen A-Anschmierer-Ausdruck für alles Getue, das den Namen Tat nicht verdient!

Sanitätsrat

Aber mein lieber Kommerzienrat, was haben Sie denn, was erregen Sie sich? Denken Sie bitte an Ihre Nerven! Kommen Sie, setzen wir uns gemütlich, und geben Sie mir mal endlich die Hand! (Es geschieht, und auch Justus setzt sich.) So — ja aber, Sie zittern ja, als ständen Sie im Staatsexamen. Und was ist denn los mit Ihren Pupillen? Da muß ich doch gleich mal Reflexprobe machen. Schwester Anne, holen Sie mal einen Spiegel.

[S. 209]

Anne

(hat inzwischen die Vase mit dem Rosenstrauß unter das Porträt gestellt)

Aber nein, Herr Geheimrat wissen doch: der Herr Kommerzienrat will keine Spiegel um sich.

Sanitätsrat

(sich an die Stirn tippend)

Ja so — jawohl — Moralpsychose; hypochondria stoica sozusagen. Na, werde mal morgen genauer vorsprechen, bringe dann meine Lupe mit; die wird Ihrem strengen Gewissen nicht wehtun, Sie geschworener Feind aller Eitelkeit! — Was sagen Sie denn zu der neuen Gesellschaft, die der Bürgermeister zusammentrommelt? Mich hat er natürlich auch breit geschlagen; na, ein bißchen Menschenfreund ist ja Jeder.

Christian

Ich meinesteils bin nicht für Trommelreklame.

Sanitätsrat

Ja, Sie können sich’s leisten, drauf zu pfeifen. (Aufstehend) Dann also bis morgen, werter Freund; muß jetzt weiter zu meinen andern Patienten. Bitte Platz zu behalten, Herr Leutnant; wünsche allerseits Frieden auf Erden — (winkt heiter mit beiden Händen Abschied, und Anne begleitet ihn hinaus, während die Vettern sitzen bleiben, Justus links am Tisch, Christian rechts) — —

Justus

Du scheinst dein Gesicht nicht gern zu betrachten —

Christian

(die Arme verschränkend)

Ich habe in der Tat Bessers zu tun.

Justus

Du kannst ja niemand mehr grad in die Augen sehn.

Christian

Glaubst du, Herr Untersuchungsbeamter? (Er fixiert ihn, bis Justus beiseite blickt) — — Durchschaust du die Menschen immer so?

[S. 210]

Justus

Ja, deine Selbstbeherrschungskunst — man könnte auch sagen: Verstellungskunst — war von jeher bewundernswert.

Christian

Und einer besseren Sache würdig.

Justus

Der Spott wird dir bald vergehn, teurer Vetter.

Christian

Es scheint, du legst enormen Wert auf dein pa-papierenes Dokument. Das hältst du wohl für einen Indicienbeweis?

Justus

Nein, das allein würde nur beinahe genügen. Aber (auf seine Mappe tippend) ich habe hier noch ein andres Papier; nämlich deinen Empfangsschein, Herr Apotheker, über die eingetroffene Giftsendung —

Christian

Du hast dich tatsächlich gut präpariert —

Justus

Es freut mich, daß du nicht länger heuchelst. Du darfst die Maske ungeniert lüften.

Christian

(immer sehr gemessen)

Du freust dich etwas vorschnell, mein Lieber. Du scheinst meine „Schlauheit“ trotz aller Anerkennung noch immer für recht kindlich zu halten. Vor neun Jahren, werter Herr M-Menschenkenner, war ich wohl doch nicht mehr Schulbub genug, mich dem Spiel des Zufalls so plump auszusetzen, wenn ich kein reines Gewissen hatte.

Justus

O, das Spiel des Zufalls ist allemal plump. Damals konntest du ja nicht ahnen, also auch noch nicht damit rechnen, daß dein[S. 211] Edelmut mich veranlassen würde, (spitzig) Detektivoffizier zu werden, geschweige (an seine Mappe tippend) daß dies für jeden andern Finder unscheinbare Wertpapier gerade mir in die Hand fallen könnte. Nur Das trieb dein feines Spiel in den Plumpsack der sogenannten Schicksalshand.

Christian

Nenn’s lieber gleich den Finger Gottes, dann kommst du dir noch wichtiger vor. Hähähä-hältst du mich im Ernst für so närrisch, daß ich mir solche Tat auf die Seele geladen hätte, blos um die Millionen unsrer alten Tante etwas früher unter die Leute zu streuen? Denn ihr Testament lag ja schon da für mich.

Justus

Blos: sie hätte es doch vielleicht ändern können. Und am Krankenbett warten, wer weiß wie lange, vielleicht nochmals „dreizehn Jahre lang“, ist in der Tat kein vergnügliches Geschäft, selbst für die edelsten Wohltäter nicht. Tante Brigitte war damals nur fünf Jahre älter, als du heute geworden bist, und hatte trotz ihrer Lähmung recht zähe Nerven.

Christian

Und deshalb soll ich so sinnlos gewesen sein, so sinnlos und so ruchlos zugleich, mir einen M-Mord aufs Gewissen zu wälzen? Und das, denkst du, wird dir irgendwer glauben?

Justus

O, das Gewissen beißt immer erst nachträglich; deine Frage klang ziemlich wund. Auch glauben die Schwurgerichte gern, daß ein Bankbeamter sich nicht ohne Zweck falsche Briefbogen drucken läßt und Apothekerwaaren bestellt.

Christian

Du hast dich wohl nie mit — Selbstmordgedanken getragen?

[S. 212]

Justus

(scharf)

Vor meiner Enterbung nicht, lieber Vetter! — Übrigens kannst du dir deine verblüffenden Fragen für die Gerichtsverhandlung aufsparen; für das Zeugenverhör zum Beispiel.

Christian

Du denkst dir also, ich habe es fertig gebracht, den Sanitätsrat sowohl wie die alte Anne über die Todesursache zu täuschen, meinem Opfer kaltblütig die Augen zuzudrücken, die L-Leiche hohnlächelnd einzusargen, und dann hier in dem Haus, wo sie aufgebahrt lag, mich triumphierend festzusetzen — (er steht auf, mit Erregtheit um sich weisend) hier! sieh dich um! zwischen diesen öden Wänden, wo sie einst geatmet hat! hier seit neun Jahren es auszuhalten! immer von ihren Möbeln umgeben! immer ihr B-Bild vor meinem Blick! ihre Pflegerin mir zur Seite, eigens dabehalten zur steten Erinnrung! — Das, meinst du, habe ich auf mich genommen, ich maskierter Schurke, um einer Erbschaft willen, von der ich mir keinen Genuß vergönne, keine Annehmlichkeit, nicht die kleinste Erholung, blos Nahrung für meinen Großmutsdünkel! — Du traust mir wirklich merkwürdige Kunststücke zu. (Er ist hinter seinen Stuhl getreten und stützt sich wieder auf die Lehne.)

Justus

Ja, die Verbrecher halten sich gern für Helden, die ihrer Tat überlegen sind, und liebäugeln mit dem Erinnerungswurm. Manche brüsten sich so lange im stillen, bis sie sich schließlich laut verraten; fromme Leute nennen das Gottes Stimme. (Merkend, daß Christian nach dem Porträt starrt) Du redest wohl öfters mit dem Bild da? —

Christian

Du stellst starke Ansprüche an meine Geduld.

[S. 213]

Justus

Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Immerhin scheinst du so geneigt zum Verhandeln, daß du darüber das Stottern verlernt hast.

Christian

(lächelnd)

Nun, vielleicht war auch das nur Maske; man lernt dabei seine Zunge hüten. — Wie hoch taxierst du denn deine Entdeckung? —

Justus

(lächelt ebenso)

Möchtest du nicht etwas deutlicher fragen? —

Christian

Nun, mein gesamter Vermögensrest beträgt noch etwa zwanzig Millionen, nach Abzug der Reservedepots für meine letzten Stiftungen. Um mir die Plackerei vom Ha-Halse zu halten, die du als A-A-A-Amtsperson (er stampft auf, dann wieder gemessen) mit dem Plunder da anzetteln könntest, und um meine innerste Menschlichkeit nicht vor dem Pöbel entblößen zu müssen, biete ich dir den vierten Teil; das sind also rund zwei Millionen mehr, als du mir damals abverlangtest.

Justus

Deine Menschlichkeit ist seitdem — beträchtlich großmütiger geworden; ich erkenne das an, obgleich ich’s erwartet habe. Aber du mußt mir schon erlauben, deine bekannte Opferwilligkeit

Christian

Gut, ich lege noch eine Million zu. Sechs Millionen — das ist mein letztes Wort! —

Justus

Du hast mich mißverstanden, mein Teurer; du mußt nicht denken, ich sei deinesgleichen, weil ich jetzt im schwarzen Rock[S. 214] vor dir sitze. Du hast mich aus meiner Bahn gestoßen, du opferwilliger Ehrenbürger! Du erntest den Lohn deiner Heldentaten, wenn ich dir nun dazu verhelfe, in der Sträflingsjacke vor mir zu stehn! Jawohl, edler Vetter: Gerechtigkeit will ich! die Welt von deinesgleichen säubern! das ist meine Art Menschenfreundlichkeit!

Christian

Deine Gerechtigkeit braucht sich nicht zu ereifern; ich begreife, daß du dich rächen willst.

Justus

Sehr scharfsinnig, dein Begriffsvermögen.

Christian

Willst du mich trotzdem noch ruhig anhören? Nur eine kleine Weile noch?

Justus

Bitte; ich habe warten gelernt. Außerdem zappelst du sehr ergötzlich im Netz.

Christian

Ich könnte sagen, mein Anerbieten sei nur eine Maske gewesen, um dein Pflichtgefühl auf die Probe zu stellen. Aber gesetzt, ich hätte w-wirklich die ungewöhnliche Tat vollbracht, deren du mich für fähig hältst: ich hätte eine bejahrte Person, die nichts mehr konnte als sich und andere quälen, mit ihrer Krankheit, mit ihrer Ha-Hartherzigkeit, mit ihrer hähähä-hämischen Habgier (er ballt die Fäuste, dann wieder ruhig) — die hätte ich aus dem Wege geräumt nach jahrelangem Gewissenskampf — hä-hätte dann wie ein Asket versucht, meine heimliche Gewalttat zu sühnen — hätte sie hier in meiner Einsamkeit, in der Nacht meines Schweigens schwerer gebüßt, als sich’s ein Schuldloser träumen läßt, — hätte immer weiter diese Erblast geschleppt, die ich nur für ein Hirngespinnst verwalte — für eine M-Menschheit, die ich zu spät durchschaute, die nichts[S. 215] ist als ein marternder Schemen —: verlangst du noch mehr Gerechtigkeit?

Justus

Du vergißt, ich bin nicht mehr Leutnant genug, um deiner heroischen Märtyrer-Pose einiges Verständnis zu widmen.

Christian

Aber vielleicht verstehst du, daß ich inzwischen manches anders ansehen lernte. Vielleicht war mein Abscheu gegen dein früheres Handwerk — deinen Beruf, wenn du das lieber hörst — nur Verbohrtheit eines B-Büchermenschen. Vielleicht ist mir die Erkenntnis gekommen, daß auch Nächstenliebe zur Hartherzigkeit führt, wenn sie die Allernächsten vergißt über ihrem fernen Ziel. Ich bin dein Schuldner, ich weiß es lange; deshalb empört mich deine Beschuldigung nicht. Und deshalb — nur deshalb, Justus! hörst du? — wiederhole ich mein Anerbieten.

Justus

Zu spät, Euer Gnaden; einen Monat zu spät.

Christian

Du irrst. Ich habe schon letzte Weihnacht — denn dies (auf sein Herz deutend) W-Wrack wird nicht lange mehr Stand halten — mein Testament beim Notar hinterlegt; darin stehst du mit dem Betrag verzeichnet, den du einst von mir gefordert hast. Ich biete dir jetzt das Doppelte, weil ich dir mehr verdarb, als ich ahnte.

Justus

(auf seine Mappe schlagend)

Zum Teufel, alles verdarbst du mir! Willst du mich jetzt noch mit Großmut beschwindeln? Dein Testament, wenn’s wahr ist, ist mir ein Wisch! Ein Verbrecher wie du hat sein Erbrecht verwirkt! Kein Pfennig von deinem Mammon gehört dir! Wo nimmst du die Stirn her, mich beschwatzen zu wollen; du verrätst dich ja selber mit jedem Wort!

[S. 216]

Christian

(tritt ihm langsam näher)

Ah — du hoffst auf den ganzen Rest meiner Erbschaft. Verrechne dich nicht; nimm Vernunft an, Justus! Vergiß nicht, ich sprach nur bedingungsweise! Es hat sich schon m-mancher die Hand verstaucht, der zu sehr auf die Gerechtigkeit pochte.

Justus

Ich poche nur auf die Mappe hier. (Er nimmt sie unter den Arm und steht auf.)

Christian

Du kannst dir also garnicht die Möglichkeit denken, daß ich jene Giftsendung für mich selbst kommen ließ? daß ich mich wand vor Scham und Verzweiflung unter den frevelhaften Wünschen, die ich — jawohl, ich bekenn es dir — unablässig in mir w-wuchern fühlte am Krankenbett meiner Quälerin?

Justus

Eine Möglichkeit zieht die andere nach.

Christian

Und wenn nun die Zeugen für mich aussagen? — Willst du nicht wenigstens die Anne erst hören?

Justus

Der kannst du viel vorgemunkelt haben. Aber wenn dir’s Vergnügen macht, dich in ihrem Beisein verhaften zu lassen —

Christian

(nähert sich der Tür)

Ich tu’s um Deinetwillen, Justus —

Justus

Ich warne nur vor Fluchtversuch! Das Haus ist auf beiden Seiten umstellt —

[S. 217]

Christian

(ruft zur Tür hinaus)

Anne — (tritt dann neben den Bücherbord, lehnt sich an und verschränkt die Arme) —

Anne

(kommt, macht die Tür zu, beklommen)

Was ist, Herr Christian?

Justus

Der Herr Kommerzienrat will verreisen.

Christian

Ich bitte dich nochmals: nimm Vernunft an.

Anne

(beide Hände hebend)

Oh, Herr Justus, wie schauen Sie drein! — (Ihm näher tretend) Ich beschwör Sie, was wollen Sie tun! — (Von ihm wegweichend) Einen Blutsverwandten ins Elend stoßen?

Justus

Ah, Sie wissen, worum es sich handelt?!

Anne

(noch weiter wegtretend, bis vor den Tisch)

Ich? was soll ich wissen? ich seh nur Ihr Auge drohn. Ich kenn Sie ja beide von Jugend auf. Ich weiß nur, was ich als Kind gelernt hab: Mein ist die Rache, spricht der Herr!

Justus

Verzeihung, Schwester Anne, der Herr ist mir fremd. Und dem grauen Sünder da wohl erst recht. Mein Herr ist der Staat! mit seinen Gesetzen!

Anne

Einen Leidenden wollen Sie quälen? Spüren Sie’s nicht, wie er bebt bis ins Herz?!

[S. 218]

Christian

Laß gut sein, Anne; es ist genug. Zum letzten Mal, Vetter: ich biet dir die Hand.

Justus

Ich verbitte mir deine — bestechenden Gesten!

Christian

(sich reckend)

Nun, dann Kampf! Hüt dich! Ich bin bereit.

Justus

Sehr gnädig. Im Namen des Gesetzes: ich verhafte dich, Christian Wach. (Die Tür öffnend) Wenn’s gefällig, du hast den Vortritt — (sie schreiten beide langsam hinaus) — —

Anne

(die Hände faltend, leise)

Herr, erbarme dich seiner Seele — —

(Vorhang)

Zweiter Akt

Christian Wach

(an die Stuhllehne rechts des Tisches gestützt, zu dem Porträt hinaufstarrend)

— — Jawohl, du hast dich in mir verrechnet — von jeher, du Vampyr — du zwingst mich nicht. (Sich die Hand auf den Kopf legend, schwer lächelnd) Hier diesen Geheimschrank öffnet keiner; jetzt weiß ich’s endlich, kein Mensch bezwingt mich. (Es klopft an die Tür, und Anne tritt ein, bringt einen bunten Asternstrauß) — — Also soll’s wieder losgehn mit der Verschwendung, du unverbesserliche Person?

Anne

(die Vase mit dem Strauß auf den Tisch stellend)

Ja, das hab ich mir gestern Abend schon vorgenommen, als Sie heimkamen aus der — der —

[S. 219]

Christian

Untersuchungshaft meinst du; sag’s nur getrost.

Anne

Nein, solch häßlich Wort, das paßt heut nit; aus der Prüfungszeit wollt ich sagen.

Christian

Und siehst mich dabei schon wieder an, als müßt ich dem Himmel dafür auf den Knieen danken.

Anne

War’s nicht auch eine Segenszeit? Als Sie hinein mußten, blühten die Rosen; mögen die Herbstblumen noch mehr Segen bringen!

Christian

Du sollst mich nicht so ansehn, Anne. (Sich an den Tisch setzend, wie erschöpft) Aber lieb ist dein Strauß; und diesmal ohne Dornen.

Anne

Geb’s Gott, Herr Christian, geb’s Gott! Aber Sie schauen nit dornlos drein; Sie müssen jetzt wieder zu Kräften kommen. Gelt, ich darf Ihnen etwas Stärkendes bringen; ein Gläschen Wein! das macht Appetit!

Christian

Wein —? Kein Tropfen kommt mir ins Haus!

Anne

Nur ein Gläschen Tokayer; ich hab die Flasch noch.

Christian

So — also für mich — — (nimmt plötzlich ihre Hand) o Anne, Anne (und preßt seine Stirn hinein) —

Anne

Ja, sollt ich denn schwelgen, während Sie fasten mußten? (Behutsam über sein Haar streichend) Sie müssen Ihr Herz erleichtern, Herr Christian.

[S. 220]

Christian

(schiebt sie sanft weg, steht auf)

Nein, mach mich nicht weich; es war nur ein Augenblick. Nichts wird an meinem Leben geändert! Wenn du dir etwa einbildest, die Haft habe mich mürbe gemacht —

Anne

O hätt sie nur! — Nein, ich bild mir nix ein.

Christian

Sie hat mich im Gegenteil ruhig gemacht — (er wendet sich ab, geht nach dem Fenster) innerst ruhig; das mußt du doch merken (läßt sich in den Korbstuhl nieder) —

Anne

(ihm folgend)

Das würd’ mich ja freuen, innerst freuen —

Christian

Warum hast du denn so geweint im Gerichtssaal, als ich das Geständnis ablegte, ich wollte (an das Porträt weisend) die da wirklich vergiften, wenn mich das Schicksal — du weißt, der Schlaganfall, der sie in ihrer Erregtheit hinraffte — nicht gnädig davor bewahrt hätte?

Anne

Ja, wie sollt ich denn da nit weinen, als Sie das so gewaltig aussagten, mit solchem Entsetzen vor sich selber! Sogar von den Herren Geschwornen und Richtern schneuzten sich welche vor großer Rührung. Und ich hab doch alles einst miterlebt; ich kenn doch Ihr Herz, Herr Christian!

Christian

(abermals aufstehend)

Nun, der Sanitätsrat war garnicht gerührt; der hat einfach den Schlaganfall bezeugt.

[S. 221]

Anne

(ihm wieder durchs Zimmer folgend)

Ja freilich, natürlich; das tat ich ja auch!

Christian

Und konntest vor Schluchzen nicht weiter reden. (Plötzlich sich umdrehend, Auge in Auge) Du glaubst wohl nicht, daß es ein Schlaganfall war?

Anne

(zurückweichend)

O — wie fragen Sie frevelhaft! — Was ich beschworen hab, glaube ich auch. Und was ich außerdem glaube, o möchten Sie’s fühlen —: wir sind allesamt Werkzeuge Gottes — der eine so, der andre so —

Christian

(ist an den Kamin getreten)

Mich friert, Anne; im Gefängnis war’s wärmer. Von morgen an bitte mußt du heizen.

Anne

Aber ich kann doch natürlich gleich!

Christian

Nein, ich sagte: von morgen an. (Sich wieder an den Mitteltisch setzend) Ich bekomme Besuch heut, für den ich Kälte brauche.

Anne

Aber gelt, doch ein Gläschen Tokayer! Wirklich, Herr Christian, es wird Ihnen gut tun.

Christian

Ich bitte dich ernstlich, mach mich nicht wild! W-Wein macht schwatzhaft, ich hasse das! — Aber damit du deinen Willen krigst: Vetter Justus hat mich gestern nach der Freisprechung fragen lassen, ob er heute Vormittag herkommen dürfe — dann kannst du deine Flasche kredenzen.

[S. 222]

Anne

O welche Fügung — sehn Sie, auch dem hat Ihre Prüfungsstunde das Herz gerührt! — O, und ich hab’s ja noch garnit bestellt: der Herr Regierungspräsident, der hat sich auch vorhin anmelden lassen. Sehn Sie, wie alle Menschen sich beugen, wenn sie den Finger Gottes spüren!

Christian

Du beurteilst die Menschen nach Dir, gute Anne. Sie kriechen zu Kreuz vor meinem Geld; und sind gerührt davon, wie’s mich drückt.

Anne

Nein, nein, das sagt nur Ihr Groll auf Herrn Justus. Man hat Sie doch einstimmig freigesprochen.

Christian

Ja, weil man keine Beweise hatte. Weil man auf Staatsunkosten mal gnädig sein konnte. Weil man dem berühmten Menschenfreund zeigen wollte: wir kennen zwar jetzt deine giftige Seele, aber wir sind keine Unmenschen deinesgleichen, wir zahlen dir deine Wohltaten heim. Ein Geächteter bin ich ihnen! Meinst du, ich habe das nicht gemerkt?

Anne

O, wenn Sie nicht alles so schwarz ansehn möchten! Die Menschen sind lieber gut als schlecht; will jeder nur abwälzen, was ihn drückt.

Christian

Mein Geld drückt mich; begreifst du das nicht? — Übrigens: vorgestern ist da eine Witwe wegen Diebstahls verurteilt worden, die kleine Kinder zu Hause hat. Du wirst dir ihre Adresse verschaffen, und wenn sie aus dem Gefängnis kommt, richtest du ihr einen Laden ein; irgend ein Geschäft, das ihr paßt. Inzwischen nimm dich der Kinder an, daß man sie nicht ins Armenhaus sperrt.

[S. 223]

Anne

Gern, Herr Christian! O, wie gut Sie

Christian

Schwatz nicht, Anne; die Frau scheint mir tüchtig! Sie hat den Diebstahl ziemlich fein eingefädelt, erzählte mir mein Rechtsanwalt. Es macht mir Spaß, ihr Vertrauen zu schenken.

Anne

(sich zu ihm neigend)

Warum verhehlen Sie Ihr Herz? Warum schenken Sie nicht auch mir Vertrauen?

Christian

(abermals aufstehend)

Ich kann mich noch garnicht wieder hier eingewöhnen; bitte, hilf mir den Lehnstuhl herüber setzen. — (Während sie den Stuhl an den Mitteltisch tragen) Es scheint, du bist jetzt stärker als ich. — (Platz anweisend) Nein hierhin, den Rücken gegen die Wand; ich mag das Bild heut nicht immerfort sehn.

Anne

(den überschüssigen Holzstuhl ans Fenster stellend)

Ja, das hätt längst schon hinaus gemußt. Darf ich’s nicht endlich weghängen jetzt?

Christian

Was soll das wieder! l-laß dies Gepurre! Ich weiß besser, was ich ihr schuldig bin. (Sich setzend) Wenn sie auch unleidlich war, das ist vorbei. Daß du’s ihr immer noch nachträgst, ich versteh nicht, wie sich das mit deinem Christentum reimt; du hast sie doch früher bemitleidet.

Anne

Die Toten haben das nicht mehr nötig; mir ist nur um die Lebendigen bang.

Christian

Du sollst mich nicht so ansehn, Anne! — Wahrhaftig, manchmal machst du Augen, grad wie die Tante in ihrer[S. 224] Sterbestunde; so merkwürdig in die Ferne fragend. — (Wiederum aufstehend) Ich will mich doch lieber dorthin setzen; sonst denkst du wohl wirklich, ich fürcht mich vor ihr. (Er schiebt den Lehnstuhl rechts neben den Tisch, Anne stellt einen andern Stuhl nach hinten.) Nicht wahr, das hast du doch eben gedacht?

Anne

Ich glaub an keine Gespenstermärchen. Es hat sich jeder genug vor sich selber zu fürchten —

Christian

(sich setzend)

Ja, du hast Recht: Gespenstermärchen — —

Anne

Nun fangen Sie wieder zu grübeln an. Ach, wenn Sie doch dahinter kämen, daß alle Selbstbespiegelung eitel ist, nit blos im Spiegel an der Wand.

Christian

Laß, Anne; das verstehst du nicht. Ich muß mich erst wieder zurecht finden hier.

Anne

Ich fühl doch aber, wie Ihnen das schwer fällt; und möcht die Last doch tragen helfen.

Christian

Nein, geh jetzt; ich muß das allein überlegen. Ich habe schon selbst daran gedacht, du warst vielleicht die rechte Person, mir den Rest des Vermögens ver-p-pulvern zu helfen; ich werde das nächstens mit dir besprechen.

Anne

O, nicht das Geld, Herr Christian; fassen Sie doch Vertrauen zu mir! Erleichtern Sie Ihre bedrückte Seele! Wie eine Mutter bitt ich zu Gott darum; das wird Sie auch wieder gesund machen.

[S. 225]

Christian

(aufstampfend)

Ich sag dir, l-laß das — geh — bring mich nicht auf! — (Ruhiger) Stell die Flasche für den Justus bereit; aber bring sie erst, wenn ich’s dir sage! — (Während Anne langsam zur Tür geht) Und ich dank dir für deinen Asternstrauß; ich dank dir für alles, alles — hörst du? (Da Anne an der Türschwelle zögert) Nun, laß gut sein, geh jetzt; was stehst du noch —

Anne

(mit feierlichem Ausdruck, gedämpft)

Und nähmest du Flügel der Morgenröte und flüchtetest übers äußerste Meer, so würde dich meine Hand doch erreichen, spricht der Herr, dein Erbarmer — (sie geht hinaus) — —

Christian

(sich erhebend, mit abwehrender Handbewegung)

Gespenstermärchen — — (Er nimmt den Strauß und stellt ihn unter das Bild.) Ihr zwingt mich nicht — ihr kennt mich nicht — niemand! — (Draußen elektrisches Klingelzeichen; er gibt sich Haltung, tritt neben den Lehnstuhl. Dann geht die Tür auf, und es erscheinen: der Regierungspräsident und der Oberbürgermeister) — —

Präsident

(nach gegenseitiger leichter Verbeugung)

Verzeihung, wenn ich stören sollte, und bitte doch Platz zu behalten, Herr Rat; Sie werden sich leider noch etwas erschöpft fühlen.

Christian Wach

Nicht sonderlich, Herr Regierungspräsident; ich müßte lügen, wenn ich Ja sagen wollte. In unsern Gefängnissen lebt sich’s bequemer, als es mancher bei sich zu Hause hat.

Präsident

(lächelnd)

Ich möchte es lieber doch nicht versuchen. Aber um zur Sache zu kommen: ich stehe vor Ihnen auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit unsers gnädigsten Herrn, zugleich im Auf[S. 226]trag des Ministeriums, um Ihnen unverzüglich Ihre Ernennung zum Geheimen Kommerzienrat anzuzeigen. Die Regierung will damit ausdrücken und vor der Öffentlichkeit bekunden: erstens ihre Teilnahme an dem glücklichen Ausgang eines Prozesses, der soviel peinliches Aufsehn erregt hat, zweitens ihr unverkürztes Vertrauen in den gemeinnützigen Charakter eines Mannes, der für die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit seinen persönlichen Ruf gewagt hat. Nach der erschütternden Seelenbeichte, die Sie vor dem Gerichtshof abgelegt haben, soll Ihnen diese Anerkennung eine dauernde Aufrichtung geben (er verbeugt sich mit Gemessenheit) —

Christian Wach

(lächelnd)

Sie soll mir wohl auch, Herr Präsident, eine dauernde Richtung geben. Ich danke Ihnen ehrerbietigst und bitte diesen (sich verneigend) untertänigen Dank auch höheren Ortes zu vermelden, erstens für die Teilnahme, zweitens für das — „unverkürzte Vertrauen“. Ich werde mich, soweit es noch in meinen kurzen Kräften steht, dieses Vertrauens würdig zu machen versuchen.

Bürgermeister

Davon ist jedermann überzeugt, Herr Geheimrat. Ich habe mich nicht blos mit eingefunden, um Ihnen zu der neuen Würde meinen Glückwunsch darzubringen (er verbeugt sich gleichfalls gemessen) — ich komme zuvörderst in Vertretung des Ausschusses der Bürgerschaft, sodann noch besonders als erster Vorsitzender der Gesellschaft der Menschenfreunde, um Ihnen das allgemeine Bedauern über diese Anklage auszusprechen, die zwar amtlich genügend begründet war, aber deren augenscheinliche Unhaltbarkeit schließlich sogar der Herr Staatsanwalt zugab. Sie dürfen davon durchdrungen sein, daß niemand in den maßgebenden Kreisen bei Ihrer stets betätig[S. 227]ten Menschenliebe einen anderen Ausgang erwartet hatte, und daß die Untersuchung der Leichenreste Ihrer verewigten Frau Tante lediglich als Formalität, wie sie die Rechtspflege unvermeidlich erfordert, vorgenommen werden mußte. Es stand wohl jedem von vornherein fest, wenigstens jedem Wohlgesinnten, daß das Gift nicht mehr entdeckt werden konnte — das heißt, ich wollte natürlich sagen: überhaupt nicht entdeckt werden konnte

Präsident

(sehr rasch)

Überhaupt natürlich —

Christian Wach

(sehr langsam)

Überhaupt — — Ich danke verbindlichst, Herr Oberbürgermeister. Darf ich nicht bitten, Platz zu nehmen?

Präsident

Es tut mir außerordentlich leid, aber meine Zeit ist heute gemessen. (Sich verbeugend) Ich empfehle mich, Herr Geheimer Rat.

Christian Wach

(ebenso)

Ich empfehle mich, Herr Präsident.

Präsident

Begleiten Sie mich, Herr Oberbürgermeister?

Bürgermeister

Ich habe noch eine Kleinigkeit mit dem Herrn Geheimrat zu erörtern.

Präsident

Also auf Wiedersehn, meine Herrn — (er verbeugt sich nochmals, geht ab) — —

Bürgermeister

Ich möchte mich nur in aller Kürze — doch ich bitte zunächst um Entschuldigung: Sie werden sich hoffentlich nicht verletzt[S. 228] gefühlt haben, weil ich vorhin ein wenig im Ausdruck fehlgriff —

Christian Wach

(lächelnd)

O, wie dürfte ich mich verletzt fühlen — nach allem, was geschehen ist — da Sie es doch so aufrichtig meinten —

Bürgermeister

Ja, dessen dürfen Sie sich versichert halten; aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! Und deshalb — (da Christian Wach auf die Stühle weist) nein danke, ich will mich wiegesagt nur in aller Kürze erkundigen —: Wenn es Ihnen etwa erwünscht sein sollte, daß Ihr mißliebiger Verwandter, der zwar in amtlicher Eigenschaft, aber offensichtlich nur aus Feindseligkeit gegen Sie vorgegangen ist, aus seinem Amte entfernt werde, dann will ich Ihnen diese Genugtuung gern bei dem Herrn Polizeidirektor erwirken.

Christian Wach

Sehr freundlich, Herr Oberbürgermeister. Aber ich bitte Sie „sich versichert zu halten“: mein Vetter handelte nur aus dem Pflichtgefühl, das eine Eigentümlichkeit unsrer (lächelnd) etwas starrköpfigen Familie ist.

Bürgermeister

Nun, ich meinte blos: wenn sein Aufenthalt hier, in unserer traulichen Residenzstadt, Ihnen jetzt vielleicht unliebsam aufstoßen sollte: eine zeitweilige Strafversetzung würde ihm ohnehin wohl gebühren für seinen fruchtlosen Übereifer.

Christian Wach

(lächelnd)

Also hätte er doch vielleicht fruchten können? — Nein, im Ernst, ich bitte sogar inständig, meinem Vetter jegliche Gunst zuzuwenden, die seine Vorgesetzten ihm zollen würden, wenn er nicht zufällig mich beamtseifert hätte. Es wäre mir[S. 229] wirklich sehr unliebsam, wenn man ihn grade mir zuliebe für eine Verdächtigung strafen wollte, die sein Beruf ihm aufnötigte, und die anfangs — nicht wahr, ich irre wohl nicht — auch andern eifrigen Amtspersonen und Menschenfreunden begründet erschien. Er ist gestraft genug durch den Mißerfolg; nicht zu reden von dem Erbschaftsverlust, den er einst durch mich erlitten hat, wenn auch nur wegen seines eigenen Starrsinns.

Bürgermeister

Ich bewundre die Selbstlosigkeit, Herr Geheimrat, mit der Sie nach dieser herben Erprobung Ihrer mitmenschlichen Gefühle die Angelegenheit ins Auge fassen. Und ich darf mich also der Hoffnung hingeben, Sie werden auch unserm Gemeinwesen gegenüber Ihre rühmlichst bekannte Gesinnung nach wie vor betätigen?

Christian Wach

In der Tat, ich werde nach Kräften versuchen, mich auch fernerhin zu betä-hähähätigen — (sich an die Kehle fassend) Verzeihung, mein Nervenübel meldet sich wieder. — Aber wollen wir uns nicht doch lieber setzen? Vielleicht ein Gläschen Wein gefällig? Denn Sie lieben doch die geselligen Freuden.

Bürgermeister

O danke, danke, bedaure aufrichtig; muß mich heute leider besonders beeilen. Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! — Also wiegesagt, um mich kurz zu fassen: ich wünsche allseitige Wiederherstellung unseres guten Einvernehmens und Ihrer so wertvollen Gesundheit. (Er verbeugt sich würdevollst.)

Christian Wach

Ich werde wiegesagt bestrebt sein — (er verbeugt sich etwas weniger und läßt den Bürgermeister hinausgehn, ohne ihm das Geleit zu geben; sinkt dann in den Lehnstuhl und nickt vor sich hin) — — „Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat“ — — (es klopft, die alte Anne erscheint) —

[S. 230]

Anne

Kann der Herr Justus jetzt eintreten?

Christian

Natürlich. Weshalb fragst du erst?

Anne

Soll ich den Wein gleich mitbringen?

Christian

Du sollst tun bitte, was ich dir sagte. Ich werde schon rufen, wenn’s an der Zeit ist. (Anne geht — Justus erscheint; tritt zögernd näher, bleibt halbwegs stehen) — — Nun? diesmal ohne Aktenmappe? — Sehr liebenswürdig; bitte setz dich. (Während Justus an den Tisch tritt) Willst dich wohl teilnehmend erkundigen, wie mir der Spaß bekommen ist?

Justus

Ich muß deinen Spott leider hinnehmen, Vetter; oder vielmehr, ich nehme ihn gern hin. Ich habe das ehrliche Bedürfnis, dich um Verzeihung zu bitten für die Kränkung, die ich dir leider antat in meinem blinden Haß. Die alte Anne hatte ganz Recht: schließlich sind wir doch Blutsverwandte.

Christian

Ich habe schon soviel Ehrlichkeit heut genossen, daß ich dir auch die deine verzeihe. Also nochmals: nimm endlich Platz.

Justus

(setzt sich links des Tisches)

Ich begreife deine mißtrauische Laune. Aber sie kann mich nicht hindern, dir zu bekennen, daß sich meine Meinung über deinen Charakter von innerstem Grund aus geändert hat. Du hast mich entwaffnet — ganz und gar — bis unter die nackte Haut sozusagen — sodaß ich mich vor mir selber schämte —

[S. 231]

Christian

Armer Vetter, wie stockend du redest; du hast dich wieder mal gut präpariert. Beruhige dich: ich werde dir’s nicht vergessen, wenn ich nächstens mein Testament neu verfasse. Oder brauchst du gleich einen Vorschuß drauf?

Justus

Ich muß mir’s gefallen lassen, wenn du mich demütigst; aber du brauchst es nicht noch mehr zu tun, als ich es wahrlich selbst schon tat. Es ist mir nicht leicht geworden, Christian, mich dermaßen zu überwinden, daß ich einem Menschen Abbitte leiste, den ich glaubte verachten zu dürfen. Ich hab’s mir natürlich überlegt, und weiß alles, was du mir einwenden kannst; aber mir deucht, auch du könntest wissen, nach meinem ganzen Verhalten bei dieser Erbschaftsgeschichte, daß ich es nicht aus Berechnung tue.

Christian

Nein, du bist ja Justus, auf deutsch der Gerechte. Nun, es freut mich ehrlich, wenn du erkannt hast, daß die Rachsucht ein schlechtes Geschäft ist; man verrechnet sich leicht, wenn man gar zu eifrig ist.

Justus

Ich gebe zu, ich wollte mich rächen. Aber ich glaube, ein Mensch wie du wird es menschlich verstehen können, daß ich mich einigermaßen gereizt dazu fühlte. Und jedenfalls: ich bereue es jetzt.

Christian

Ja, das Lebensgeschäft macht uns alle mürbe, selbst den schneidigsten Rechenmeister.

Justus

Du legst mir wirklich falsche Beweggründe unter.

[S. 232]

Christian

O, jeder rechnet auf seine Weise, auch wer die Erbschleicher glaubt „verachten zu dürfen“. Du stößt wohl jetzt auf allerlei Schwierigkeiten in deiner amtlichen Regeldetri?

Justus

Es schmerzt mich um Deinetwillen, Christian, daß du dich boshafter stellst, als du bist. Oder fühlst du mir’s in der Tat nicht an, daß auch ich aus reiner Wahrheitsliebe meine menschliche Schwachheit bekenne? Ich kann dich nicht für so fühllos halten; jetzt nicht mehr, du hast mich überwältigt. Dein letztes Bekenntnis vor Gericht hat mich ergriffen wie noch nichts im Leben.

Christian

Aber dann gönne mir doch den reinen Triumph, den meine Selbstbeherrschungskunst — „man könnte auch sagen: Verstellungskunst“ — über deine Schwachheit errungen hat. Nicht wahr, auf diesen ehrlichen Kunstgriff war deine Menschenkenntnis nicht vorbereitet? Ja ja, lieber Vetter, sie ist nicht so einfach, die Algebra der Verbrecherseele.

Justus

Du wirst mich nicht irre machen mit deinen Scherzen. Ich werde nicht aufstehn von diesem Stuhl, bis du mir die Hand zur Verzeihung reichst, meinethalben auf Nimmerwiedersehn. Ich traue dir nicht die kleinliche Rachsucht zu, daß du die einzige Genugtuung ablehnen wirst, die ich dir in meiner erbärmlichen Lage, der Besiegte dem Sieger, noch bieten kann.

Christian

O, du kannst noch allerlei von mir lernen, sogar im Satisfaktions-Comment. Ich gebe dir zum Beispiel den guten Rat, deine Rache nicht auf die lange Bank zu schieben; es ist dir schon einmal schlecht bekommen. Hättest du im Sommer[S. 233] nicht vier Wochen gewartet, um mir die scherzhafte Überraschung zu meinem Geburtstag zu bereiten: wer weiß, ob du jetzt der Besiegte wärest. Einem simpeln Kommerzienrat hätte man eher die Maske des Menschenfreunds abgerissen, als einem Ehrenbürger und Kronordensritter; die Behörden konnten es doch nicht wünschen, durch meine Verurteilung mit-ba-blamiert zu werden. Also lieber Justus, ich rate dir nochmals, deine geheimpolizeilichen Gerechtigkeitspläne nicht aus gar zu langer Hand weiter zu spinnen; du verwickelst dich sonst im eigenen Netz.

Justus

(aufstehend)

Wenn du mich durchaus wegjagen willst: nun gut, du kannst es, dann sind wir quitt! Dann bist du nicht der hochherzige Dulder, vor dem ich mich endlich beugen wollte! Dann bist du wirklich vom Fluch des Reichtums so bis ins Mark zuschanden gequält, daß du überall nur noch Schmarotzer witterst!

Christian

Dann bin ich der ehrlose Knecht meines Geldes, der nicht geduldig zum Pranger geschleift sein wollte! (Gleichfalls aufstehend) Dann bin ich der verworfene Heuchler, der nicht die gnädige Hand drücken will, die ihn dem Schandmaul des Pöbels p-preisgab! Dann bin ich der Schurke, der argwöhnische, der aus all die w-wohlfeilen Worte höhnt, womit wir unsre Untat beschönigen! Dann — ah: (taumelnd) hahahalt mich, Justus: das Herz!

Justus

(ihm beispringend)

Verdammt ja, was ist —?

Christian

Laß — es geht schon vorüber. — (Sich setzend) Es war nur ein kleines Erinnerungszeichen — (lächelnd) an meine Selbst[S. 234]beherrschung, weißt du. Laß dich’s nicht kümmern, setz dich wieder. — (Da Justus zögert) Was äffst du uns beide mit Großmutsgrimassen. Du mußt doch merken, wie gern ich mich aussprechen möchte; du bist doch sonst ein witziger Mensch. Also setz dich; hier hast du meine Hand.

Justus

Ich dank dir — (gibt ihm die Rechte)

Christian

(ihn fixierend)

Ich trau dir! — Nun? Was zuckst du zurück? —

Justus

Du bist mir unheimlich, Christian —

Christian

Hahaherrlich! Siehst du, wie ich mich freue! das war doch endlich ein ehrliches Wort! — Aber im Ernst: hast du wirklich nicht gemerkt, wie ich brenne auf eine Aussprache, eine wirklich vertrauliche Aussprache, nach meiner unfreiwilligen Einsamkeit? Mit der alten Anne, so redlich sie ist, kann man doch blos das Einfachste reden; und andre Freunde hab ich ja nicht. — (Es klopft, und Anne tritt mit dem Sanitätsrat ein) — Ah, lieber Geheimrat, alter Freund, nett daß Sie auch auf den Busch klopfen kommen; ich fühle mich recht behaglich heute (er weist auf die Stühle neben sich).

Sanitätsrat

(hinter dem Tisch Platz nehmend)

Kann mir’s denken, verehrtester Herr Kollege von der finanziellen Fakultät; traf eben den Bürgermeister, gratuliere — (sich verneigend) zu der neuen Würde und Würdigung. Ist ja ein wahrer Triumph der Gerechtigkeit; schade, daß Sie keine Zeitungen lesen. Die ganze Presse singt Ihnen Ho[S. 235]sianna; selbst die Sozi blasen ins Jubelhorn. (Zu Justus, der stehen geblieben ist) Ich genier Sie doch nicht, Herr (gedehnt) Polizeikommissar —?

Justus

Keineswegs, Herr Geheimer Sanitätsrat; ich wollte mich ohnehin empfehlen. Ich kam nur her, um meinem Vetter die gebührende Abbitte zu leisten.

Christian

Nein, Justus, das darfst du mir jetzt nicht antun; ich muß dich tatsächlich noch etwas fragen.

Sanitätsrat

Dann nichts für ungut, Herr Leutnant, Sie kennen mich ja; (ihm mit komischer Würde die Hand hinstreckend) es irrt der Mensch, solang es geht —

Christian

Also bitte, im Ernst: Versöhnungsfeier — (Justus gibt lässig dem Sanitätsrat die Hand und setzt sich wieder links des Tisches). Bitte, Anne, du weißt ja (sie nickt, geht hinaus) — ich danke dir, Justus.

Sanitätsrat

Aber Sie haben’s zu kalt hier im Zimmer; für Ihren Körper ist Kälte jetzt Gift! (Christian zuckt ein wenig zusammen.) Ah Pardon, das verflixte Prozeßwort; man wird es garnicht mehr los aus den Ohren, alle Zeitungen wimmeln von Vergiftungs-Wortspielen. Für einen Medizinmann recht amüsant; ich darf doch ruhig davon reden?

Christian

O bitte — (lächelnd) seh ich denn unruhig aus?

Sanitätsrat

Na, Verehrter, nur keine Fisimatenten; Ihre Ruhe ist mir nicht ganz geheuer. (Inzwischen ist Anne zurückgekommen, setzt eine Platte mit Gläsern und Weinflasche auf den Tisch.)

[S. 236]

Christian

Nun, dann wollen wir heizen, meine Herrn. Bitte, Anne, schänk ein

Sanitätsrat und Justus

Nein danke — danke — (strecken gleichzeitig rasch die Hand zur Abwehr) —

Christian

So enthaltsam auf einmal? Nun, Anne, dann mir nur. (Lächelnd) Es ist wirklich kein Gift drin, meine Herrn.

Sanitätsrat

Aber Bester, empfindlich —? Na, Schwester Anne, dann sein Sie mal auch zu mir barmherzig (er läßt sich gleichfalls einschänken) —

Christian

Justus —?

Justus

Ich bin’s zwar nicht mehr gewohnt vormittags. Aber —

Anne

(nachdem sie auch ihm eingeschänkt)

Ist gern geschehen, Herr Justus.

Sanitätsrat

(während Anne hinausgeht)

Also dann, mein teuerster Herr Patient: wie gesagt, es lebe die Herzensbewegung! — (Sie stoßen gemessen an und trinken) — Denn wie gesagt: Ihre Ruhe gefällt mir nicht, kommt mir nach all dem Traraa etwas unheimlich vor. Hatte eigentlich von der vertrackten Affäre eine Art Nervenbelebung für Sie erwartet. Drückt Sie vielleicht ein geheimer Schmerz? Das heißt, verstehen Sie recht, ich meine: irgend ein Groll, ein verbissener Kummer? Nur nichts in sich fressen, Verehrter! Trinken Sie öfters ein Gläschen Champagner und sprechen Sie sich mit jemand aus, wenn die Geschichte Sie immer noch wurmt.

[S. 237]

Christian

Ha-hörst du’s, Justus: ich soll mich gesund beichten! Vor Gericht, das genügte noch nicht! Also klopf mir mal gründlich aufs Gewissen!

Sanitätsrat

Spotten Sie nur, das ist gut gegen Blutstockung; der Herr Vetter wird’s Ihnen nicht verargen. Wir müssen uns hüten, Verehrter, vor Apoplexie! Und bei Neurosen, so rätselhaft wie die Ihre, kann Herzenserleichterung Wunder tun. War mir schon im Prozeß höchst intressant, daß Sie plötzlich nicht mehr zu stottern brauchten. Also nochmals: nur keine Mördergrube!

Christian

(Justus zutrinkend)

Haha-Heil dir also, du Wundertäter! — Aber, mein lieber Geheimrat, was reizt Sie blos, daß Sie mich durchaus gesund machen wollen? Meine Krankheit ist doch viel intressanter.

Sanitätsrat

Na, erlauben Sie, Bester, bedenken Sie: ich bin doch immerhin Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Menschenfreunde! Jahresbeitrag fufzig M, ungerechnet die Liebesmähler! — (Er trinkt aus und steht eilfertig auf) Also wohl bekomm’s, meine Herrn; mehr als guten Rat kann ich leider nicht geben — (verbeugt sich lächelnd, geht händereibend ab) — —

Christian

Nun, so nachdenklich, Herr Gewissensrat? Trink doch, du sollst mich doch animieren!

Justus

Auf den neuen Charakter denn, Herr Geheimrat — (blickt ihn forschend an und trinkt aus) —

[S. 238]

Christian

(ihm das Glas wieder füllend)

in der alten Mördergrube, nicht wahr? — Du dachtest wohl wirklich im ersten Augenblick, ich wollte uns alle zusammen vergiften?

Justus

Offen gesagt, Vetter, ich würde dir dankbar sein, wenn du einen andern Ton zu mir anschlagen könntest. Ich bin vielleicht doch nicht „witzig“ genug, um über derlei Scherze zu lachen.

Christian

Und wenn’s nun keine Scherze wären? Wenn ich nun doch vielleicht gemordet hätte, noch viel planmäßiger, als du dachtest? Wenn (nach dem Porträt weisend) der Schlaganfall meines Opfers kein Zufall war, sondern von mir herbeigeführt, um auf alle Fälle sicher zu gehn? Bist du noch garnicht auf den Einfall gekommen, daß man Wutanfälle künstlich bewirken kann?

Justus

Es scheint, du gefällst dir in der Rolle des skrupellosen Übermenschen. Du solltest mit solchen Gedanken nicht spielen in deinem überreizten Zustand. Du kannst dich doch unmöglich wohl dabei fühlen.

Christian

Meinst du, die menschenfreundlichen Milliardäre, die in Amerika Kirchen und Schulen stiften und Krankenhäuser und Volksküchen, die zögen ihre Gefühle zu Rate, wenn sie mit ihren Börsenmanövern andere Menschen zu Grunde richten? Oder um ein Beispiel zu wählen, das deinem Opfersinn näher liegt: hat sich etwa der General Bonaparte, oder irgend ein andrer Schlachtenlenker, jemals mit Gewissensskrupeln über M-Massenmord abgegeben? Und doch bewundert ihn die christliche Menschheit; genau wie den großen Kaiser Karl, der zum höheren Ruhm seines Hahaha-Heilands ein ganzes Heer Heiden abschlachtete, oder den edlen Bürger Robespierre,[S. 239] der zu Ehren der Freiheit Tausende Mitbürger in den Kerker und aufs Schaffott spedierte. Ja, die menschliche Bestie ist sehr beflissen, heilige Zwecke zu erfinden, unter deren Nimbus sie sich austoben kann. (Sein Glas hebend) Trink, lieber Justus, und lerne l-lachen! —

Justus

(während Christian trinkt und sich hastig das Glas wieder füllt)

Du könntest dich auch auf Nero berufen, an dessen irrsinnigen Greueltaten sich der Pöbel im Kino noch heute entzückt. Trotzdem hält jeder anständige Mensch solchen großspurigen Bösewicht im Grunde für einen armen Teufel, der in die Besserungsanstalt gehörte.

Christian

(auflachend)

Hahahimmlisch! du bist ja ungemein witzig! Wahrhaftig, das Alleranständigste wäre, wir gingen alle in die Besserungsanstalt; es ist für Hans Jedermann immer noch leichter, ein Engel in Menschengestalt zu werden als ein Teufel von Übermenschengröße. Aber du trinkst ja garnicht, du M-Menschheitsretter; zum Wohl, mein gütiger Beichtvater! (Er trinkt mit sichtlicher Erregtheit.)

Justus

(nur kurz Bescheid tuend)

Zum Wohl — wenn dich die Beichte nicht reut. Vielleicht ist es dir in Wahrheit lieber, dich nicht weiter auszusprechen.

Christian

Was weißt du von meiner Wahrheit, Mensch! (Sich mäßigend, starr vor sich hin) Was weiß ich schließlich selber davon.

Justus

Beruhige dich; ich will sie nicht wissen.

Christian

Wer kann denn die Wahrheit über sich sagen? Das Wahre ist immer nur, was man tut!

[S. 240]

Justus

Ich will auch von deinen Taten nichts wissen. Ich bin durchaus nicht darauf versessen, mich in dein Vertrauen zu drängen.

Christian

(lächelnd)

Aber du bleibst mit Vergnügen sitzen, weil meine Worte dein M-Mißtrauen ködern. Vergiß nicht, es sind blos — „Gedankenspiele“. (Er trinkt wieder mit merklicher Hast.)

Justus

Ich bin geblieben, Christian, weil du mich etwas fragen wolltest. Wenn’s dir leid geworden ist, gehe ich gern.

Christian

Aber nein, das wirst du mir doch nicht antun, du reuevoller Blutsverwandter! Du mußt doch anstandshalber ein bißchen Mitleid haben mit meinem „überreizten Zustand“! Natürlich will ich dich etwas fragen, sehr viel sogar, du wirst dich wundern! Du mußt doch auch von Berufswegen einigen Anteil daran nehmen, wie der verfolgten Unschuld zumute ist! Nicht wahr, lieber Vetter, das mußt du doch?

Justus

Also —?

Christian

Du scheinst es ja garnicht erwarten zu können — (er will wieder trinken, beherrscht sich aber). Also: gesetzt zum Beispiel den Fall, dir kämen jetzt, nachdem sich dein Urteil über meinen Charakter geändert hat — von Grund aus geändert hat, wie du sagtest, — da käme dir nun ein D-Dokument in die Hand, womit du dem ho-hohohohen Gerichtshof den vollen Beweis erbringen könntest, daß ich mich in der Tat vor Jahren als Unmensch (absichtlich) betäterätätigt habe: was würdest du da tun, lieber Justus?

[S. 241]

Justus

Du wirst doch nicht im Ernst erwarten, daß ich auf solche wahnwitzige Frage eine vernünftige Antwort geben soll.

Christian

Du meinst, ich würde jetzt nicht mehr ins Zuchthaus, sondern ins Irrenhaus gehören? Sehr freundlich, aber das scheint mir falsch; ich halte meine Vernunft für recht klar. Doch gesetzt, ich war wirklich so irrsinnig, aus allgemeiner M-Menschenliebe einen einzelnen Menschen zu morden, dann ist doch Irrsinn noch kein triftiger Grund, einen M-Mörder freizusprechen. Das wäre wohl höchstens dann vernünftig, wenn alle Irren Mörder wären. Du bist doch jedenfalls der Ansicht, mindestens doch von Amtswegen, daß man verbrecherische Gelüste aus der Menschheit ausrotten müsse, und daß sich das nur durchsetzen läßt, wenn man die Verbrecher bestraft. Warum also einen M-Mörder schonen, der zufällig auch noch irrsinnig ist; den müßte man doch erst recht bestrafen, damit sich nicht etwa andre Irre ein reizendes Beispiel an ihm nehmen. Ja, wär’s noch ein Mammama-Massenmörder, vor dem sich die vernünftige Menschheit mit Staunen und Grauen verkriechen könnte! Aber ein ganz gewöhnlicher Gelegenheitsmörder: wozu denn den unter die Glasglocke setzen? — Ich glaube, du wirst mir zugeben müssen, daß meine überreizten Gedankenspiele ziemlich folgerichtig sind.

Justus

Unheimlich richtig — wie ich gleichfalls schon sagte.

Christian

(lächelnd)

Ja, es ist schwer, sich verstehen zu lernen. (Das Glas hebend) Zum Wohl! so trink doch endlich aus!

[S. 242]

Justus

(sein Glas mit der Hand bedeckend)

Nein, danke; keinen Tropfen mehr.

Christian

Du fürchtest wohl, du lernst mich zu gut verstehen? — (Das Glas hinsetzend, ohne getrunken zu haben) Soll ich dich lieber nicht weiter fragen?

Justus

(lächelnd)

Ich fürchte, du wirst es nicht lassen können.

Christian

Sehr wahr! Du fängst wirklich an zu verstehen! — Also gesetzt, du fändest irgend ein Schriftstück, das mein Verbrechen unwiderleglich bewiese — zum Beispiel ein Tagebuch von mir, das ich damals geschrieben hätte — in das ich alles verzeichnet hätte, was mich zu der Untat verführte — in dem ich mir Rechenschaft ablegte, über meine Gedanken und Gefühle, vor der Tat und nach der Tat — wie ich mit meinem Gewissen kämpfte, jahraus jahrein, von W-Woche zu Woche — wie ich mich prüfte und mich quälte mit meiner scha-hauderhaft klaren Vernunft — wie ich l-langsam die Feigheit überwand, die in unsern sittlichen Grundsätzen nistet — wie ich in allen Gründen und Abgründen meiner Seele herumstocherte, um die Gewürme der Angst und Reue, des E-Ekels und Dünkels zu zerquetschen — (er hat sich krampfig ans Herz gegriffen) —: würdest du jetzt noch w-willens sein, mich auf Grund eines solchen Bekenntnisses öffentlich zu brandmarken? —

Justus

Aber lieber Christian, nimm’s nicht übel, verzeih mir meine Offenheit: das sind ja leere Hirngespinnste. Solch Tagebuch ist doch nicht vorhanden, also kann ich es auch nicht finden, also auch zu der Frage nicht Stellung nehmen.

[S. 243]

Christian

Du meinst, weil du’s nicht gefunden hast bei deiner amtlichen Haussuchung hier? (Lächelnd) Hast wohl gründlichst an den Wänden geklopft? zum Beispiel (nach dem Porträt weisend) hinter dem Erbstück da! — Nun, vielleicht gibt es doch Verstecke, die selbst einem Detektivoffizier ein Buch mit sieben Siegeln sind.

Justus

(lachend)

Da kann ich dich gründlichst beruhigen! In der alten Bude, die wir von Kindheit an kennen, ist mir kein Blättchen verborgen geblieben, geschweige ein ganzes Tagebuch.

Christian

Nun, die Mühe hättest du sparen können. Es wäre doch gar zu gewöhnlich gewesen, ein solches Beweisstück hier aufzubewahren, wo jeder Schnüffler es finden konnte; für einen so harmlosen Bösewicht wirst du mich jetzt wohl nicht mehr halten. Aber gesetzt, ich hätte es anderswo, an ganz sicherer Stelle, hinterlegt, unter unantastbarem Siegel — zum Beispiel bei irgend einem Notar, oder in der Stahlkammer einer Bank, etwa als Anhang zu meinem T-Testament, das erst nach meinem seligen Tod gerichtlich geöffnet werden darf —: gesetzt, ich hätte meine Erben, zum Beispiel einen gewissen Justus, oder vielleicht auch die alte Anne, mit der Erlaubnis betrauen wollen, die Menschheit darüber aufzuklären, welch Scheusal dieser M-Menschenfreund war — mit welcher kaltblütigen Hihihi-Hinterlist er ein gebrechliches Weib umgarnte, wie er ihre Krankheit mit langsamen Reizmitteln nährte, ihren zügellos gewordenen Jähzorn bis zur Selbstzerrüttung aufpäppelte — wie er ihr schließlich seinen M-Mordplan enthüllte, daß sie vor ohn-m-m-mächtiger Wut

[S. 244]

Justus

(brüsk aufstehend und sich reckend)

Genug! jetzt hab ich genug gehört! — Ich bedauere meine Gutgläubigkeit, ich speie auf deinen frechen Hohn. Du denkst, du bist jetzt sicher vor mir; du wirst dich irren, du kennst mich noch nicht! Ich werde nicht ruhen, bis du entlarvt bist; keinen Schritt mehr sollst du im Leben tun, hinter dem du nicht meine Augen spürst! Bei Tag und Nacht, ich werde dir nah sein: dein Doppelgänger, dein Alb, dein Gespenst —

Christian

(hat sich gleichfalls erhoben, ihm fiebrig in die Augen starrend)

Du wirst mir „von Grund aus“ willkommen sein. Du wirst mir das höchste Vergnügen bereiten, nach dem ich im Leben getrachtet habe. Du wirst mir tagtäglich den vollen Genuß meiner M-Menschenwürde verschaffen! Du wirst mir der Hund sein, der bis zum Irrsinn nach meiner Gewissenspfeife tanzt! Du wirst

Justus

Ich werde dein Spiegel sein! Du bist ja der bodenloseste Teufel, der sich jemals vor sich selber versteckt hat! Ich werde dir endlich einmal zeigen

Christian

dein wahres Antlitz! nicht wahr? ha-ha-hah! — Ist das deine Reue, du „anständiger Mensch“?! Kenn ich dich jetzt, du ehrlicher Vetter?! Ich kann dir noch mehr Verbrechen vorlügen, um dein M-Mitgefühl zu befriedigen! Ich sollte wohl gleich vor Rührung zerschmelzen ob deiner edlen „Gutgläubigkeit“? Hahahimmlisch, du entlarvter Engel, du Cherub der Gerechtigkeit! Hab ich dir „endlich einmal“ ins Herz geleuchtet? in die M-Mördergrube — hha-ha-ha — ah — (sein Gelächter schlägt um in einen Wehlaut, er greift in die Luft und bricht zusammen) —

[S. 245]

Justus

(beugt sich über den Tisch vor, mit beiden Fäusten aufgestemmt, betrachtet kalt den Ohnmächtigen)

— Diesmal scheint’s echt; — du traust dir zuviel zu, Bursche. — (Er geht langsam zur Tür, öffnet, ruft) Schwester Anne! — (Er zieht seine Taschenuhr, überlegt) —

Anne

Was ist? (Erschreckend) Um Gottes willen — (sie eilt an den Lehnstuhl, nimmt Christians Kopf in den Arm, lockert ihm Kragen und Halsbinde)

Justus

(an der Tür bleibend)

Dem Herrn ist der Wein wohl zu stark gewesen; ich werde den Sanitätsrat holen. Und den Notar; wie heißt er doch gleich?

Anne

Welcher Notar? Ich weiß ihn nicht. Der Herr sagt mir nichts von seinen Geschäften.

Justus

Nun, dann nachher; auf bald, Schwester Anne. Wir müssen dem Herrn jetzt ein bißchen beistehn; wir wollen nachher darüber sprechen.

Anne

Gewiß, Herr Justus, das wollen wir.

Justus

Also auf bald!

Anne

Auf bald, Herr Justus. — (Nachdem Justus gegangen ist, leise) Vater, hilf deinen schwachen Kindern — —

(Vorhang)

[S. 246]

Dritter Akt

Christian Wach

(sitzt im Lehnstuhl hinter dem Mitteltisch, den Unterkörper in schwarze Decken gehüllt. Vor ihm liegen Geschäftspapiere, in denen er blättert und Zahlen nachrechnet, in der linken Hand einen Bleistift haltend. Man sieht, sein rechter Arm ist gelähmt, hängt in einer schwarzen Binde. Seine Stimme klingt untergraben.)

— — Also noch knappe neun Millionen — (den Bleistift hinlegend) es geht zu Ende, Christian Wach. — (Sich mühsam nach dem Porträt umwendend) Deine Schatzgrube ist bald leer, alter Drachen! — (Hand aufs Herz legend, schwer vor sich hin) Und die Mördergrube wird immer voller — —

Die alte Anne

(tritt in die Tür, ein winziges, aber sorgsam geschmücktes Weihnachtsbäumchen auftragend)

So, Herr Christian, damit Sie doch merken, daß uns heute der Heiland geboren ist — (vor ihn hintretend) der Erlöser, lieber Herr Christian! — (Das Bäumchen auf den Tisch stellend) Gelt, ich darf es heut Abend uns anzünden; zu Heilig-Abend ist das keine Verschwendung.

Christian

Das hast du doch früher nicht getan. (Lächelnd) Du denkst wohl, jetzt bin ich hilflos genug, daß du mir neue Lichter aufstecken kannst?

Anne

Ja, ich hätt mir schon eher ein Herz fassen solln. Wir sind allesamt hilflos genug.

Christian

Besonders wenn wir’s uns einreden lassen. Ich halte mich lieber an das Sprichwort: hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Das ist auch für die Gottlosen brauchbar.

Anne

Es gibt noch ein ander Sprichwort, Herr Christian: Gott verläßt die Seinen nicht. Und mancher ist sein, der’s nicht wahr haben will.

[S. 247]

Christian

Wenn ich nicht wüßte, wie gut du’s meinst, könnt ich glauben, du dankst deinem Gott im stillen, daß er mich damals nach meiner Freisprechung (auf seinen rechten Arm deutend) mit dem Schlaganfall begnadet hat.

Anne

Seine Wege sind nicht die unsern.

Christian

Schon recht, schon recht; ich kenn deine Standreden. (Auf den Stuhl zu seiner Linken weisend) Komm, setz dich lieber, ich muß dir was sagen. Aber stell erst das Bäumchen einstweilen beiseite, sonst vergeht mir bis Abend die Freude daran. (Während Anne es auf den Bücherbord trägt) Ich habe gestern mit dem Notar mein Testament ins Reine gebracht (er berührt die Papiere, schüttelt sich unwillkürlich) — aber leg noch bitte etwas Holz aufs Feuer. Und wenn nachher der Minister kommt, legst du nochmals ein bißchen nach. Hat er nicht m-melden lassen, worum sich’s handelt?

Anne

(ein paar Scheite in den Kamin legend)

Es wird halt wegen der neuen Stiftung sein; die Grundsteinlegung der Radioklinik.

Christian

Nein, das hab ich mir schon verbeten, daß sie auf meinen Namen getauft wird. Also komm jetzt, wir wollen uns aussprechen.

Anne

(sich setzend, ihm in die Augen blickend)

Ja, wenn Sie das wollten, Herr Christian —

Christian

Willst du mich wieder aufregen, Anne? Das kannst du dem Justus überlassen! — Er hat sich wohl jetzt mit dir ver[S. 248]schworen, meine werte S-Seele zu retten? Seitdem er hier mit im Hause wohnt, wird er von Tag zu Tag christlicher.

Anne

Auch der Herr Justus meint’s gut auf seine Weise.

Christian

Gewiß, versteht sich; und ich lohn’s ihm auf meine. Das eben will ich mit dir besprechen.

Anne

Wenn Sie’s aber doch aufregt! grad immer das! Immer wieder diese unselige Erbschaft, diese Sorge um den morgigen Tag. Und grad zum Christfest; es hat doch Zeit.

Christian

Nein, Anne, mit meiner Zeit ist’s bald aus; kannst ruhig darüber reden mit mir. Meinst du, ich fürchte mich vor dem T-Tod? Was tut’s denn, ein bißchen früher zu sterben, als es ohne die Sorge vielleicht geschähe. Was heißt denn sterben? keine Sorgen mehr haben! Kann man sich davor fürchten im Leben? Kann man das überhaupt begreifen? Ich kann meinen Tod mir nicht vorstellen.

Anne

Ja: sie will nit sterben, die ewige Seel —

Christian

Kommst du schon wieder mit deiner Gottesfurcht? Versteh doch, ich habe andere Sorgen!

Anne

(seine Linke streichelnd)

Nicht Furcht, nicht Furcht: Gott will Vertrauen. Furchtbar ist blos die menschliche Selbstsucht.

[S. 249]

Christian

(lächelnd)

Dann sei also selbstlos und hör mir zu. (Ein Schriftstück aus den Papieren nehmend) Hier ist mein Vermögen drin verzeichnet. Es sind, nach Abzug aller Unterhaltsgelder für die bestehenden Stiftungen, noch etwa neun Millionen Mark. Davon habe ich drei dem Justus vermacht; den Rest, wenn du nichts dagegen hast, Dir.

Anne

Aber —

Christian

Laß mich erst ausreden, bitte. Du kannst damit machen, was du willst; kannst den Plunder verschenken, an wen du willst, meinethalben an den verkommensten Strolch. Nur die eine Bedingung ist dir gestellt: keinen Pfennig mehr darfst du für irgend eine dieser öffentlichen A-Anstalten stiften, die unter der Maske des Samariterdienstes eine Gesellschaft von Pharisäern züchten. Denn daß du’s nur weißt, liebe alte Anne: ich will dich nicht in Versuchung führen, ob deine Barmherzigkeit auch am Ende in die allgemeine Herzlosigkeit umschlägt, die sich M-Menschenfreundlichkeit nennt. Selbst das größte Gefühl wird klein, wenn es sich aufputzt mit großen Begriffen; ein bißchen Güte von Mensch zu Mensch ist besser als alle Liebe zur Menschheit.

Anne

Das sagen Sie blos wieder, um sich zu quälen. Der gute Wille ist allzeit heilig.

Christian

Wenn du also einverstanden bist, dann liegt es auch in deiner Hand, das Vermächtnis an Justus größer zu machen. Ich möchte mit ihm nicht darüber sprechen, und ich bitte auch dich inständig, es nicht vor meinem T-Tode zu tun; er denkt[S. 250] sonst, ich wolle ihn bestechen, und das würde die Versöhnung erschweren, die ich noch von ihm zu erlangen hoffe. Also nicht wahr, du schweigst darüber!

Anne

Ja gewiß, Herr Christian, gern.

Christian

Du kannst dir ja immer überlegen, ob es vielleicht ein christliches Werk ist, ihm mehr als die drei Millionen zu geben, die er vor Jahren von mir verlangt hat; meinethalben das Doppelte.

Anne

Was ist da groß zu überlegen? Was braucht ein einzelner Mensch soviel Geld? Es lädt ihm blos Ängste auf die Seele. Sie, Herr Christian, hätten’s auch leichter gehabt, wär nit die große Erbschaft gewesen.

Christian

(lächelnd)

Du fühlst dich wohl nicht als „einzelner Mensch“?

Anne

(lachend)

O, ich leichte Person! bei mir bleibt’s nit lang! Hier in der Näh gibts ’ne ganze Straße, da konnt man in einer Nacht die Millionen los werden, damit das geschminkte Elend mal ein rechtschaffen Christfest feiern kann.

Christian

Du hast’s ja gut vor; gib nur Acht, daß dir die Lichter nicht den Baum verbrennen. Glaub mir: was der Mensch auch tun mag aus Mitleid, es ist nie genug und immer zuviel. Du wirst vielleicht noch zufrieden sein, daß du dem Justus die Sorge aufpacken kannst, wie man das Geld am besten los wird.

[S. 251]

Anne

Davor ist mir nit bang, dafür sorgt unser Herrgott; ist eitel Dunst um jegliche Guttat, die seine Welt verbessern will. Einfach wohltun, soviel man kann, aus Freud am Wohltun, mehr kann man nit. Was würd denn der stolze Herr Justus sagen, wollt ich vor ihn hintreten und ihm was schenken? Nein, das geht nit; dem kann ich das nicht antun.

Christian

(langsam nach ihrer Hand tastend)

Verzeih mir, Anne — ich hab dich zu spät erkannt — —

Anne

Und wenn’s noch Zeit wär, Herr Christian — die andere Sorge auch los zu werden —?

Christian

(sich aufraffend, rauh)

Was soll das! Laß das! Ich sagte: zu spät!

Anne

(seine Linke mit beiden Händen ergreifend)

Ich hab geschwiegen so viele Jahr lang, ich werd schweigen darüber bis ans Grab: sprechen Sie aus, was Ihnen das Herz abdrückt!

Christian

Sei vernünftig, Anne, reg mich nicht auf! (Lächelnd) Du weißt, das verträgt der Geheimrat nicht.

Anne

Ich bitt Sie, Herr Christian, liebster Herr: spotten Sie nicht, ich fleh Sie an! (Zu ihm hinknieend) Ich hab noch nie vor einem Menschen gekniet — ich beschwör Sie bei Ihrer Qual — (mit beiden Händen nach dem Porträt weisend) bei den Augen, die Sie verfolgen —: nehmen Sie nicht das Geheimnis mit hinüber!

Christian

Steh auf! du beschämst mich! Ich d-dulde das nicht! Der Justus hat dich ganz wirr gemacht! Steh auf, sag ich dir,[S. 252] du machst mich zuschanden! Willst du mir noch einen Schlaganfall einjagen?

Anne

Ich will Ihrer armen Seele beistehn! Die macht’s ja nur, daß der Körper büßt!

Christian

(wild seine Linke gen Himmel spreizend)

Ist denn selbst die Barmherzigkeit eine Furie?! — (Die Hand auf Annens Kopf senkend, sanft) Was weißt du von meiner Buße, du Engel. Steh auf, du überhebst dich vor Demut. (Die Hand an seine Stirn legend) In dies Geheimfach dringt nur der Tod. (Draußen elektrisches Klingelzeichen, während Anne sich erhebt) — Geh, öffne; (matt ihre Hand ergreifend) du hast mir wohlgetan —

Anne

(küßt seine Stirn, dann mit traumhaftem Ausdruck)

Denn uns ist heute der Heiland erschienen — (legt beglückt ihre Hände vor die Brust und geht so leise nickend hinaus) — —

Christian

(wendet sich langsam nach dem Porträt um)

Verfolgst du mich wirklich noch?! — (Wendet sich langsam zurück, schließt die Augen; dann mit verklärtem Gesicht) Bald nicht mehr — — (Die Tür geht auf, Anne läßt den Minister und den Oberbürgermeister eintreten) —

Der Minister

(mit einer Verbeugung, der sich der Bürgermeister anschließt, während Anne Holz in den Kamin legt)

Guten Tag, Herr Geheimer Rat; es tut mir leid, Sie stören zu müssen.

Christian Wach

Nicht im geringsten, Euer Excellenz. Wollen Sie nur entschuldigen, daß mein Zustand mir nicht erlaubt, den Herren geziemend entgegenzukommen. Darf ich bitten, Platz zu nehmen.

[S. 253]

Minister

(während Anne hinausgeht)

Die Ehrerbietung erfordert zunächst, meinen Auftrag stehend zu erstatten. Auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit, unsers gnädigsten Landesherrn, habe ich Ihnen, Herr Geheimer Rat, die persönliche Eröffnung zu machen: So sehr die Gesinnung zu würdigen ist, aus der Sie Ihre Namensverknüpfung mit dem von Ihnen gestifteten radioklinischen Institut ablehnen, kann doch des guten Beispiels wegen ein solches Geschenk nicht angenommen werden, ohne es durch ein rühmliches Zeichen der allgemeinen Erkenntlichkeit zu erwidern. Seine Königliche Hoheit haben daher geruht, in der Annahme, daß es Ihnen eine Weihnachtsfreude bereiten wird, Sie in den Adelsstand zu erheben; die Urkunde folgt heute Nachmittag. (Sich auf den Stuhl links des Tisches setzend, mit lächelnder Unamtlichkeit) Ich erlaube mir, Herr von Wach, Ihnen ohne Phrase zu sagen, daß ich Ihren Dank richtig ausrichten werde.

Christian von Wach

Es liegt meinem Selbstgefühl fern, Excellenz, mich gegen ein gütiges Wort zu wehren — (sie reichen einander unwillkürlich die Hand).

Der Bürgermeister

(ist stehen geblieben, räuspert sich)

Ich bin nicht blos erschienen, Herr Geheimrat von Wach, um Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu der soeben vernommenen hohen Auszeichnung darzubringen; ich stehe hier zugleich in Vertretung der behördlichen Körperschaften unserer Haupt- und Residenzstadt, die auf mein sachliches Betreiben, trotz der persönlichen Widerstände gewisser starrköpfiger Mitbürger, den weitherzigen Beschluß gefaßt haben, zur dauernden Erinnerung an die gemeinnützige Betätigung Ihrer unentwegten Menschenliebe ein bedeutsames Merkmal zu errichten, sowohl um Ihnen selbst im Gedächtnis künftiger Zeiten und Geschlechter[S. 254] Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als auch um andere Menschenfreunde zu gleicher Betätigung anzuleiten. In diesem überpersönlichen Sinne, hochzuverehrender Herr Geheimrat, soll Ihr in Öl gemaltes Porträt, und zwar von der Hand des bewährten Direktors unserer Kunstakademie, in unserem Rathause aufgehängt werden; und in Rücksicht auf Ihre so werte Gesundheit, deren baldige Wiederherstellung jeder Wohlgesinnte wünschen muß, bitte ich Sie, ihm mitzuteilen, zu welchen Stunden Sie ihm in der Festwoche die leider aus künstlerischen Gründen unumgänglich erforderlichen Modellsitzungen gewähren wollen.

Christian von Wach

Sie dürfen überzeugt sein, Herr Oberbürgermeister, daß ich Ihren „weitherzigen Beschluß“ im vollen Umfang zu schätzen weiß, sowohl die überpersönliche Gerechtigkeit wie die persönlichen Widerstände. Ich meinesteils würde zwar am liebsten ebenso starrköpfigen Widerstand leisten; aber da ich nicht mehr kräftig genug zu dieser (absichtlich) Betäterätätigung bin, so bitte ich dem Herrn Akademiedirektor mit einem verbindlichen Gruß zu bestellen, daß er seine Staffelei wohl bald vor meiner L-Leiche wird aufschlagen können.

Bürgermeister

Ich hoffe, verehrter Herr Geheimrat, Sie werden damit nicht sagen wollen

Christian von Wach

(erregt)

Ich will damit sagen, verehrter Herr Ober-b-bürgermeister, daß ich nach meinem Tod nicht verhindern kann, der M-Menschheit in Öl serviert zu werden; zu meinen L-Lebzeiten bin ich lalala-leider — (sich zusammennehmend) für diese „sachliche“ Behandlung meiner nebensächlichen Person nicht ganz menschenfreundlich genug.

[S. 255]

Bürgermeister

(sich in die Brust werfend)

Ich hätte es kaum für möglich gehalten, daß eine so wohlerwogene Ehrung auf solche Verkennung stoßen würde. Zu meinem tiefsten Bedauern bleibt mir nur übrig, dies der Bürgerschaft zur Kenntnis zu bringen; und wenn ich mich jetzt hier verabschieden muß, so geschieht es mit dem Bewußtsein, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß ich des Beifalls der weitesten Kreise in diesem Falle gewiß sein darf. Ich empfehle mich Euer Excellenz — (der Minister steht auf) oder falls Sie mich zu begleiten gedenken

Christian von Wach

Darf ich wohl bitten, Excellenz, noch einen Augenblick zu verweilen?

Minister

Gern, Herr Geheimrat. Verzeihung, Herr Oberbürgermeister.

Bürgermeister

So empfehle ich mich denn wiegesagt — (man verbeugt sich gemessen — er geht gewichtig ab) — —

Minister

(indem er sich wieder setzt)

Ich bin zu jeder Vermittlung bereit.

Christian von Wach

Es tut keine mehr not, (lächelnd) ich bin erledigt. (Ernsthaft) Ich wollte nur fragen, Excellenz: würden Sie wohl einem Sterbenden eine unumwundene Antwort geben?

Minister

Soweit das menschenmöglich ist —

Christian von Wach

Warum häuft man Ehren auf eine Person, die man doch für schändlich hält? Warum p-peinigt man mich mit Gnadenmienen, hinter denen der Abscheu grinst?

[S. 256]

Minister

Die Ehre gilt niemals der Person, stets nur der Sache, der man dient. (Lächelnd) Das entschuldigt auch die Person, die uns soeben verlassen hat.

Christian von Wach

Also wir sind alle dazu verdammt, einander Böses zu tun im Kampf um das Gute?!

Minister

Wenn’s die Sache verlangt — jeder Sieg kostet Opfer —

Christian von Wach

Wo bleibt dann die Grenze zwischen Tat und Untat, Heldentum und Verbrechertum? Was berechtigt uns, Andre zu opfern?

Minister

(diskret ihm huldigend)

Wohl was uns verpflichtet, uns selbst zu opfern. (Aufstehend) Wem es die innere Stimme sagt, der fragt wohl nicht nach dem Urteil der Welt.

Christian von Wach

Ich danke Euer Excellenz.

Minister

(ihm die Hand hinstreckend)

Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest!

Christian von Wach

Ihnen noch viele, Excellenz! — — (Minister ab, an der Tür sich nochmals verneigend; Christian erwidert den Gruß, schließt dann die Augen und raunt vor sich hin) Wem es die innere Stimme sagt —? — (Es klopft, und Justus Wach tritt ein) — — Nun, Justus, mein Spiegel, bist du schön blank heut?

Justus

(sich rechts des Tisches setzend)

Macht es dir wirklich noch immer Vergnügen, mir das unbedachte Wort nachzutragen, das ich damals in der Erregtheit hinwarf?

[S. 257]

Christian

Wie sollte es nicht? Du bist doch noch immer bestrebt, mir mein wahres Gesicht zu zeigen. Das macht mir wirklich ein ungemeines Vergnügen; das einzige, das mir die Welt noch bietet. Ich bin dir auch wirklich dankbar dafür.

Justus

Also dazu hast du mich in dein Haus gelockt: dem Herrn Geheimrat als Hofnarr zu dienen. Und ich war einfältig genug, mir von der guten Anne aufschwatzen zu lassen, es sei dir ernstlich um eine Versöhnung zu tun.

Christian

Außerordentlich rührend bei deinem Beruf, dies Selbstbekenntnis deiner Einfalt. Seit wann bist du denn so versöhnlich gestimmt?

Justus

Du weißt sehr gut, daß es mich reut, deinen Schlaganfall veranlaßt zu haben; wenn es auch ohne Absicht geschah.

Christian

Ja, das hast du mir schon mehrmals gesagt. Aber nicht wahr: mein Tagebuch, das hast du noch immer nicht aufgespürt —

Justus

Hältst du es denn in der Tat für möglich, ich hätte bei einiger Überlegung nur eine Minute lang geglaubt, daß ein solches Geständnis vorhanden sei? Wenn du es je geschrieben hättest, wär es doch längst von dir vernichtet.

Christian

(wie zufällig die Hand auf seine Papiere legend)

Und wenn es nun doch noch irgendwo läge?

Justus

Ich lasse mich nicht mehr zum Narren halten!

[S. 258]

Christian

Wenn es mir nun eine Wollust wäre, mit der Entdeckungsgefahr zu spielen? Wenn mich immerfort die L-Lust stachelte, die unersättlich marternde Lust, mein Geheimnis der Welt ins Gesicht zu schreien? und dabei die W-Wonne der Selbstbeherrschung, der Welt nicht den Gefallen zu tun! mich nicht knechten zu lassen von dieser B-Beichtsucht! diesem schamlosen Mitteilungstrieb, der uns alle zu armen Sündern macht! — Hast du dir das noch nie überlegt? —

Justus

Wenn du mich etwa nötigen willst, Weihnachten anderswo zu feiern, dann bitte sage es mir doch offen! Die Anspielungen auf meinen Beruf werden mir nachgerade lästig.

Christian

Du kannst dir also garnicht denken, daß ein M-Mörder ein ehrlicher Mensch sein kann?

Justus

Ich denke mir, daß du durch deinen Reichtum, weil du keine andre Beschäftigung hattest, zum Grillenfänger geworden bist. Nun tüftelst du dir aus allerlei Zufällen ein neunmalkluges Verbrechen zusammen, blos um dir nicht einzugestehen, daß dir glücklicherweise der Mut dazu fehlte.

Christian

Deine Menschenkenntnis ist fast so gründlich wie deine gute Meinung von mir. In der Tat, Vetter: es ist tief beschämend, so als elender Mitmensch dazusitzen, wo man Teufel und Engel zugleich sein wollte.

Justus

Nun, die Märtyrer-Rolle hat auch ihre Glorie. Sonst hättest du wohl die Selbstquälerei nicht so lange ausgehalten.

[S. 259]

Christian

Und wenn ich nun all die Jahre lang gegen die Versuchung angekämpft hätte, diese Qual mit eigner Hand abzu-b-brechen? (Krampfhaft die Hand aufs Herz drückend) Wenn’s mir nun zu erbärmlich gewesen wäre, so vor mir selbst in die B-Binsen zu gehn? Wenn ich lieber die Buße ertragen hätte, vor jedem unbe-bedachten Wörtchen zu beben, als diese B-Babbala — (sich bezwingend, da Justus ihm Hilfe leisten will) laß — ich danke — — ich wollte sagen: Blamage des Selbstmords.

Justus

Ich muß es wohl aufgeben, Christian, dein Gewissen zu beruhigen.

Christian

(lächelnd)

Ja, wir haben beide unsern Beruf verfehlt; du als Mitmensch, und ich als Unmensch.

Justus

Ich will dich wahrhaftig nicht aufregen, aber du zwingst mich ja dazu. Warum bringst du das Unrecht, das ich dir antat, trotz meiner Abbitte immer wieder zur Sprache?

Christian

Vielleicht weil es mein „Gewissen beruhigt“, deine Gerechtigkeit wanken zu sehen. Wenn du sicher wüßtest, ich hatte gemordet, würdest du dann wohl noch geneigt sein, mir die Hand zur Versöhnung zu bieten? —

Justus

Es gibt doch Morde, die sogar das Gericht verzeiht.

Christian

In der Tat; du bist sehr entgegenkommend. Und die M-Massenmorde fürs Vaterland, daß heißt für Thron und Altar und Kapital, oder für Freiheit, Gleichheit, L-Lüderlichkeit oder son[S. 260]stige große Rosinen: die verherrlicht sogar die W-Weltgeschichte. Blos, das sind alles Morde aus Leidenschaft, aus Eifersucht, Rachsucht, Ehrgefühl, Pflichtgefühl; die freilich entschuldigt man edelmütig.

Justus

Nun, wenn auch nicht grade vor Gericht, aber unter vier Augen betrachtet, ist wohl auch deine Art Menschenliebe eine entschuldbare Leidenschaft.

Christian

(lächelnd)

Aber Justus, ich werde irre an dir! Sollte ich endlich dein Herz erweicht haben?

Justus

(schroff)

Wenn du mir keinen Glauben schenkst, beweisen läßt sich dergleichen nicht.

Christian

(die Hand auf seine Papiere legend)

Wer weiß; ich könnte mich doch vielleicht „unter vier Augen“ überzeugen, wie weit du mein Vertrauen ehrst.

Justus

So? Könntest du das?

Christian

Wenn ich wüßte, Justus, wie weit du dir selber trauen darfst? (Da Justus Miene macht aufzufahren) Bitte bleib sitzen, ich will dich nicht kränken. An deinen guten Willen glaube ich gern. Ich wollte dich sogar zum Christfest um einen kleinen L-Liebesdienst bitten.

Justus

Wenn es dir wirklich ernst darum ist —?

Christian

(nimmt aus seinen Papieren ein mit fünf roten Siegeln verschlossenes Heft)

Ich habe gestern mein Testament neu verfaßt; ich wollte[S. 261] dich bitten, hier das alte — (draußen elektrisches Klingelzeichen) ah, der Sanitätsrat; nun, dann nachher. — (Das Heft wieder unter die Schriftstücke schiebend) Ich bin sein besuchtester Patient, seitdem er mich nicht mehr retten kann. (Anne läßt den Sanitätsrat eintreten) — Willkommen, mein werter L-Lebensretter!

Sanitätsrat

(während Anne an den Kamin geht und wieder Holz aufs Feuer legt)

Danke, danke, mein teuerster Todeskandidat. (Zu Justus, der aufgestanden ist) Aber bitte doch Platz zu behalten. (Sich gleichfalls setzend, links des Tisches) Und bitte mich nicht mißzuverstehen. Todeskandidaten sind wir ja alle; Sie können mich noch gut überleben! — (Christians linkes Handgelenk nehmend, sich nach Anne umdrehend) Gelt, Schwester: der reine Methusalems-Puls! Sie messen den Blutdruck doch noch regelmäßig?

Anne

Gewiß, Herr Geheimrat; er ist etwas niedriger.

Sanitätsrat

(während Anne hinausgeht)

Natürlich! Blos Aufregung vermeiden! Bei Ihrer zähen Konstitution: wir werden schon wieder Lebensmut fassen! In der letzten Sitzung der Menschenfreunde hat man sogar darauf gewettet, Sie würden doch noch Mitglied werden.

Christian

Sehr gütig; aber einstweilen scheint mir, der ehrlichste Menschenfreund ist der T-Tod.

Sanitätsrat

Ja, der Mensch bleibt ewig ein Grillenfänger.

Christian

Haha-hörst du’s, Vetter? Jetzt muß ich’s wohl glauben.

Justus

(lachend)

Die Diagnose stellt dir Jeder!

[S. 262]

Sanitätsrat

„Jeder Wohlgesinnte!“ sagt der Herr Bürgermeister. (Zu Christian) Aber was hat denn der Biedermann? Begegnete mir bei der neuen Klinik und machte ein Gesicht wie ein Truthahn, als ich Ihren Namen nannte.

Christian

Ist Ihnen vielleicht auch der Akademie-D-Direktor bei der neuen Klinik begegnet?

Sanitätsrat

Aber Verehrtester, ruhig Blut! Sie werden sich doch nicht einbilden, ich hätte den Kitsch mit ausgeheckt?

Christian

Nein; aber jeder P-Pinsel bildet sich ein, er dürfe mich mit Berühmtheit beschmaddern, weil ich das selber schon reichlich besorgt habe.

Sanitätsrat

Ja, der Mensch ist von Natur größenwahnsinnig. Aber wiegesagt: nur nichts tragisch nehmen! (Zu Justus) Nicht wahr, Herr Leutnant, Sie werden das Ihre tun, uns die Grillen vertreiben zu helfen.

Justus

Ja selbstverständlich! nach Kräften! mein Möglichstes!

Sanitätsrat

(aufstehend)

Also dann: gesundes Fest allerseits! Und nicht wahr: wenn das Herzchen doch wieder muckt: sind ja nur drei Schritte zu mir hinüber.

Christian

(lächelnd, die Hand ins Leere schwenkend)

Mancher geht auch ohne Schritte hinüber —

Sanitätsrat

Ohoh! solche Witze darf ich blos machen. (Beiden Herren[S. 263] die Hand schüttelnd) Na wiegesagt: gesegnete Mahlzeit — (geht händereibend eilends ab) — —

Christian

Es scheint, die M-Menschenfreunde wollen mich jetzt zum eingebildeten Kranken stempeln.

Justus

Das könnte dir doch nur angenehm sein.

Christian

Und wenn es mir nun — entsetzlich wäre?

Justus

Über diese Annahme darf ich wohl lächeln.

Christian

Wenn ich dir aber nun eingestände, wie es mich manchmal ekelt und reut, daß ich mich nicht verurteilen ließ? wie es mich damals b-bohrend drängte, öffentlich für die Tat einzutreten, zu der mir, wie du jetzt gütigst meinst, g-glücklicherweise der Mut gefehlt hat?

Justus

Dann müßtest du mir schon erlauben, auch diese Einbildung zu belächeln.

Christian

Auch wenn ich w-wirklich gemordet hätte?

Justus

Dann doch erst recht, bei deiner Gemütsart.

Christian

Bei meiner Feigheit, willst du wohl sagen.

Justus

Nein, in diesem Falle: bei deiner Verstocktheit.

Christian

Sehr schmeichelhaft, daß du die für so stark hältst. Aber die Reue kann ebenso stark sein, selbst im verstocktesten Misse[S. 264]täter. Dein bewunderter Bonaparte zum Beispiel: Haha-Hunderttausende hat er skrupellos auf seinen Schlachtfeldern umgebracht, aber der eine Duc d’Enghien, den er hi-hinterlistig hinrichten ließ, der wurmte ihn noch auf Sankt-Helena, trotz aller staatsklugen Entschuldigungsgründe. Die Vernunft mag noch so zielbewußt über das Gewissen hinwegschreiten, das Gemüt l-läßt sich nicht hintergehen.

Justus

Nun, du merkst wohl, ich sprach dir blos zu Munde. Da es dir Spaß macht, dich selbst zu narren, will ich kein Spielverderber sein.

Christian

Also du hältst mich nicht für verstockt?

Justus

Sonst hättest du doch wohl kaum die Absicht, grade mir einen Liebesdienst anzuvertrauen.

Christian

(lächelnd)

Sehr freundlich, daß du mich erinnerst. (Das versiegelte Heft wieder vorholend) Aber darf ich dich erst noch bitten, mir mit deiner m-möglichsten Offenheit eine Frage zu beantworten?

Justus

Und —?

Christian

Gesetzt, ich hä-hätte den Mut gehabt, den du mir ehrlicherweise absprichst, — gesetzt, ich hätte t-trotzdem die Reue, die du mir anstandshalber nicht zutraust, — (schwer die Hand auf das Heft legend) gesetzt, ich würde es dir beweisen — unter vier Augen, lieber Vetter — nicht vor Zeugen, Herr Ki-Kriminalkommissar —: wärest du dann noch bereit zu dem Liebesdienst?

Justus

Wie kann ich das wissen — ohne Beweis —

[S. 265]

Christian

Ist mein Anblick dir nicht Beweis genug?! —

Justus

Ich muß wohl verstummen, wenn du so fragst.

Christian

Du meinst, ein Verbrecher verdient kein Vertrauen?

Justus

Wenn er bereut, vertraut ihm sogar der Richter.

Christian

Und wenn dich nun ein solcher Verbrecher, dem die Reue aus jeder Grimasse stiert, den sie t-tausendfältig härter gestraft hat, als irgend ein Richter strafen kann — wenn dich der nun unter vier Augen bäte: (wieder die Hand auf das Heft legend) hier ist mein Geständnis, vernichte es! du hältst meine Seele in der Hand! du kannst sie aus der Verzweiflung retten! du siehst, es foltert mich stückweis zu T-Tode, daß ich ein einzig Mal unmenschlich war! du gibst mir den Glauben ans L-Leben zurück, ans Ewige Leben, an Gott und die Menschheit, wenn du m-menschlicher handelst als ich —

Justus

(die Hand nach dem Heft ausstreckend)

Ich soll es also — ins Feuer werfen —

Christian

(überläßt es ihm lächelnd)

Ja, Justus — zum Christfest wiegesagt — —

Justus

(steht auf, macht einige Schritte nach dem Kamin hin, wendet sich plötzlich ruckhaft um)

Und du denkst, so lasse ich mich begimpeln? Du bildest dir ein, ich durchschau nicht dein Lächeln? Du glaubst, du kannst mich (nach dem Porträt weisend) beschwatzen wie die da und dann mich auslachen wie noch nie? Du Narr, der Andre zu narren meint! — (Den Umschlag von den Heftblättern reißend und ihn vor Christians Füße schleudernd)[S. 266] Hier: so behandle ich dein Geständnis! kraft meines Amtes, du Auswurf der Menschheit! — (Hastig die Blätter musternd) Was? — wa — (steht in sprachloser Verblüfftheit da) —

Christian

Nun? Was sagt dir das leere Papier? —

Justus

(die Blätter zerfetzend und wegschmeißend)

Ah, du Jammergestalt, du schandschnäuzige! (Mit geballten Fäusten auf Christian los) Du bist ja die raffinierteste Viper, die je den Erdball begeifert hat! (Vor Christians Blick zurückzuckend) Wenn mir nicht graute, dich anzurühren, ich schlüg dir die Zähne aus dem Giftmaul! (Die Fäuste in die Hüften stemmend) Ist denn kein Funken Scham in dir, so mein heiligstes Pflichtgefühl zu verhöhnen?

Christian

(endlich gell loslachend)

Ha-ha-ha-hei — dein hei — hahahei — (plötzlich krampfhaft nach Luft ringend, lallend) heili — ha-heili — ha-hilf — hilf!

Justus

Dir —?

Christian

(röchelnd)

Hilf, Justus! ich dank dir’s! ich sterbe! ich fühl’s!

Justus

Dann stirb, Giftmischer!

Christian

(mit brechender Stimme, unsäglich lächelnd)

Hab Dank, du — M-Mörder! (er sinkt zusammen) —

Justus

(sich an die Brust fassend)

Ich —? — (Hart, mit abwälzender Handbewegung) Lächerlich! — (Er geht erhobenen Hauptes zur Tür; öffnet, ruft) Anne! Schwester Anne! — (Sie kommt, er zeigt auf Christian) Sehen Sie nach, ob noch zu helfen ist; ich möchte den Arzt nicht unnütz bemühen.

[S. 267]

Anne

(auf die Papierfetzen deutend)

Was ist geschehen? War das die Versöhnung?

Justus

Rasch! helfen Sie lieber! Mir scheint, er regt sich —

Anne

(rechts des Tisches sich über Christian beugend, während Justus sich links auf die Stuhllehne stützt)

Das Herz, das klopft noch — —

Christian

(traumhaft)

Anne, bist Du’s —?

Anne

Ja, Herr Christian, ich; — nur still — nur nit bang —

Christian

Sie sollen mich nicht so ansehn alle!

Anne

Nein, Herr Christian, niemand — nur ich! — (Sich aufrichtend, mit unabweisbarer Frage) Herr Justus —?

Justus

(von ihrem Blick bezwungen)

Ja, dann ist’s meine Pflicht, den Arzt zu rufen — (geht gesenkten Hauptes hinaus) — —

Christian

Sind wir allein, Anne?

Anne

Ganz allein — (sie legt ihren Arm um seine Schultern) —

Christian

Ich seh noch immer die Augen alle — — nicht M-Menschenaugen —

Anne

Engelaugen — —

[S. 268]

Christian

Sie wollen alle, ich soll es s-sagen — — nur einmal sagen —

Anne

Dann ist’s gesühnt — —

Christian

Ich — hörst du, Anne?

Anne

Gott will es hören — —

Christian

Ich — hilf doch, Anne!

Anne

Nur Gott kann helfen — —

Christian

Ich — ich — haha-habe — — (jäh sich aufbäumend, schreiend) Nein, Gott — (sich ans Herz greifend, selig lächelnd) ich nicht! — (er stürzt mit dem Gesicht auf den Tisch) — —

Anne

(faßt ihn bang bei der Schulter)

Herr Christian — lieber Herr Christian — — (neigt ihr Ohr an seine linke Seite, kniet dann ehrfürchtig neben ihm nieder, faltet die Hände zu stillem Gebet) — —

Justus

(öffnet horchend die Tür, läßt sie offen, tritt leise ein, nähert sich verhalten dem Tisch, wartet bis Anne sich erhebt; dann mit heiser drängender Stimme)

Hat er gebeichtet? was hat er gesagt? — (Da Anne zurückweicht, barsch auf sie los) Was hat er gesagt? ich treib Sie zum Zeugeneid!

Anne

(noch einen Schritt zurücktretend, hoheitsvoll nach der Tür weisend)

Gehen Sie endlich, Sie armer Mensch! — (Justus, langsam sich an die Brust fassend, starrt auf den Toten) —

(Vorhang)

[S. 269]

Michel Michael
Komödie in Versen
Zweite Ausgabe

[S. 270]

Personen:

Michel Michael, ein deutscher Bergarbeiter.
Lise Lied, sein Mündel.
Die Frau Venus.
Tyll Eulenspiegel.
Der getreue Eckart.
Der Kaiser Rotbart.
Der rote Karl, ein Sozialdemokrat.
Der schwarze Karl, ein Ultramontaner.
Der Bergrat.
Der Landrat.
Der Bürgermeister.
Die Frau Bürgermeisterin.
Ein Kaplan.
Ein Pastor.
Drei Maschinenheizer.
Polizisten. Kobolde. Leute in Masken.

Zeit und Ort:

Eine Johannisnacht in einer mitteldeutschen Kreisstadt.

(Rechts und links immer vom Zuschauer aus.)

[S. 271]

Eulenspiegel als Vorredner
(von rechts kommend, in roter Gugeltracht mit Pritsche):
Meine allergnädigsten Damen und sehr verehrlichen Herrn!
Sie werden mirs wohl glauben: ich gefiele Ihnen gern.
Aber mein Herr, der Dichter, hat mich leider ausersehn,
Jedem eine Nase zu drehn.
Wer weiß, vielleicht dreh ich ihm selber auch eine;
indessen diese Nase hat — lange Beine.
Zunächst nämlich soll ich mich erfrechen,
über den Gang der Handlung im Voraus mit Ihnen zu sprechen.
Sie sehn’s schon an mir, und merken mit Gruseln: huh,
hier gehts offenbar geheimnisvoll zu.
Meine Maske hat weder Haut noch Haar,
blos ein unverschämtes Allerweltsspiegellöcherpaar
(er weist auf seine Augen)
und einen Schlitz für diese meine Zunge
(er streckt sie heraus) —
und darunter, ganz im Dunkeln, hängt mein Herz und meine Lunge.
Damit mach ich meistens nichts weiter als den Wind,
in den meine Worte gesprochen sind.
Denn mit Worten, da die Worte im Kopf entstehn,
kann der Mensch zwar herrlich andern Menschen den Kopf verdrehn;
aber da es in der Welt, die sich um uns dreht,
dennoch nicht nach unserm Kopf zugeht,
so verläuft der Gang der Handlung auf den 2 mal 5 Beinen
der Hauptpersonen, ausschließlich der meinen.
Ich bin also kein großschnäuziger Tugendschweinigel,
sondern heiße Tyll — mit Ypsilon bitte — Eulenspiegel;
das heißt, ich husche als närrischer Kauz durch die Welt,
der sich und andre närrische Käuze mit seinem Doppelspiegel prellt —
(er weist wieder auf seine Augen).
[S. 272]
Was für Nebenpersonen noch drin herumlaufen,
das ist ein kaum zu zählender Haufen;
denn zu den Nebenpersonen um jede Menschenseele herum
gehört bekanntlich das ganze p. p. Publikum —
(er verbeugt sich).
Manche Person ist übrigens eigentlich keine;
und zwei der Hauptpersonen sind im Grunde nur eine.
Manche andre zählt mindestens fürn paar Schock;
und die hauptpersönlichste natürlich steckt in Jedermanns Rock.
Kurz, jegliche Seele tut alles, was sie kann;
aha! es scheint, sie fangen schon an.
Vierstimmiger Gesang mit Lautenspiel
(hinterm Vorhang):
Wir tragen alle ein Licht durch die Nacht,
unter Tag.
Eulenspiegel
(horcht und spricht parodierend nach):
Sie tragen alle ein Licht durch die Nacht.
Gesang:
Wir träumen von unerschöpflicher Pracht,
über Tag.
Eulenspiegel
(wie vorher):
Sie träumen von unerschöpflicher Pracht.
Gesang:
Wir helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich;
Glückauf!
Eulenspiegel:
Sie helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich.
Gesang:
Wir machen das Erdreich zum Himmelreich;
Glückauf!
Eulenspiegel:
Sie machen das Erdreich zum Himmelreich.
[S. 273]
Da verkriech ich mich schleunigst, ich armer Schuft;
sonst sprengen sie mich am End in die Luft.
(Er dreht eine Nase, wickelt sich in den Vorhang, und diesen mit wegziehend verschwindet er rechts).

Erster Aufzug

(Bild: Altes kleines Landhaus mit Obstgärtchen. Rechts Wald und Gartenzaun. Links hinten das Haus. Vorn entlang Landstraße. An der Hauswand links ein Wegweiser, dessen drei Arme folgende Aufschriften tragen: Zur Stadt, Zur Grube, Feldweg. Am Gartentisch sitzen Michel Michael, der rote Karl und der schwarze Karl; daneben steht Lise Lied mit der Laute, in hellgrünem Sommerkleid und weißer Schürze.)

Lise Lied
(singt bei offener Bühne weiter, während die Andern nur den Kehrreim mitsummen):
Einst fiel alles Leben vom Himmel herab,
über Tag.
Wir Bergleute schürfen’s aus dem Grab,
unter Tag.
Wir fördern’s herauf, das tote Gestein;
Glückauf!
Wir machen’s wieder zu Sonnenschein;
Glückauf!
(Die Männer stoßen mit ihren großen Schnapsgläsern an und trinken sie leer).
Michel Michael
(in schwarzer Gamaschenhose und weißem Hemd mit offenem Halskragen):
So, Lise, nun hol uns noch jedem so ein Glas;
denn die Bergmannskehle
Lise:
Weiß schon: ist mehr trocken als naß.
O Michel! —
Michel:
Blos heut mal so’n kleinen Seelenwärmer;
morgen fließt wieder Milch und Sauerbrunn durch die Därmer.
Man muß sich doch für das nächtliche Fest vorbereiten.
[S. 274] Lise:
Ja, und dann stöhnt ihr über die schweren Zeiten.
(Sie geht mit den Gläsern und der Laute ins Haus.)
Der rote Karl
(trägt gewöhnlichen schwarzen Jackettanzug, schwarzen Schlapphut und rote Krawatte):
Also willst du wirklich nachher aufs Johannisfest?
Michel:
Warum nicht?
Der rote Karl:
O blos: weil der Michel sonst sich zehnmal bitten läßt,
eh er einmal kommt. Aber ja: der Herr Bergrat hat’s gewunschen,
da ists freilich ratsam, sich untertänigst mitzubepunschen.
Sicher wittert man’s da oben so gut wie ich:
manche Stimme in der Knappschaft schwört auf dich.
Hast ein eigen Haus, bist bald Vorhäuer, kannst Leute dingen,
möchtest dich gewiß gar zum Steiger aufschwingen;
wirst morgen für ’ne Stütze von Thron und Altar gelten,
und der Bergrat
Michel:
Hör mal, roter Karl: den lass ich nicht schelten.
Er meint’s leutselig mit uns Arbeitern allzumal.
Er bezahlt auch heute Nacht wieder Musik und Saal.
Der rote Karl:
Sehr wahr! und in vier Wochen ist Reichstagswahl.
Du Schäfersohn läßt dir leicht was vormusizieren.
Der schwarze Karl
(trägt gleichfalls schwarzen Jackettanzug, aber steifen Hut, schwarze Krawatte und eine auffällig große Hornbrille mit dunkelblauen Gläsern):
Ja, ich meine auch: man muß sich doch wohl etwas salvieren.
Ich sage nichts gegen den Regierungskandidaten,
aber der Herr Bergrat privatim ist doch sozusagen ein Teufelsbraten.
[S. 275]
Nicht etwa weil er — obzwar: auch das ist bedeutungsvoll —
’ne jüdische Urgroßmutter gehabt haben soll.
Aber was man so im stillen von seinem Lebenswandel hört —
Der rote Karl:
Du, hörst du’s, Michel? der Schwarze ist christlich empört!
Fraglos ist er einzig drum aus der Stadt gekommen,
um hier dem Heil deiner armen Seele zu frommen.
(Lise kommt mit den gefüllten Schnapsgläsern wieder.)
Der schwarze Karl:
Hoffte allerdings, Sie, Herr Namensvetter, nicht anzutreffen.
Der rote Karl
(sein Glas nehmend):
Ja, gottvoll, wie sich die Menschen äffen.
Der schwarze Karl
(ebenso):
Nun, Gevatter Michael weiß, welche Tiere am lautesten kläffen.
Michel
(mit ihnen anstoßend):
Holla! Frieden, ihr Karle! Gäste solln sich vertragen!
Muß ich junger Kerl das euch beiden alten sagen?
Hie Knappschaft! Glückauf! Jeder Knappe im Schacht
nehm sich vor falschen Wettern in Acht!
Der schwarze Karl:
Glückauf, Jungfer Lise! auf das schöne Lied vom Himmel.
Lise
(während die Männer trinken):
O, das ist am schönsten ohne euer Kümmelgebimmel.
Michel:
Sieh mal, roter Karl: deine Zukunftsrepublik,
das ist doch auch ’ne Art Rattenfängermusik.
Und sehn Sie, schwarzer Karl: Ihr Ewigkeitsparadies
lockt wohl erst recht die liebe Maus zur Mies.
Und derweil ihr Pfiffikusse so die Gegenwart vexiert,
hat der dumme Michel sie längst sehre anderst kapiert.
[S. 276]
Denkt ihr, ich will blos drum heut aufs Maskenfest,
weil der Bergrat da ein paar Sektproppen tanzen läßt?
dann tät ich mich lieber mit euch hier draußen besaufen.
Nein, ich will mein Haus an die Grubengesellschaft verkaufen
und in die Stadt ziehn, werte Zeitgenossen!
Lise:
Michel, nein!
Michel:
Ja, Lise; das ist nun mal beschlossen.
(Er langt ein paar Schriftstücke aus der Brusttasche.)
Hier, ich hab schon alles mit dem Rechtsanwalt aufgesetzt,
und der Bergrat ist kein Knicker; besonders jetzt,
wo sie doch die Vorstadtzeche weiter austeufen wollen
und Platz brauchen für den neuen Wetterstollen,
da wird er heut Nacht bei’ner Buddel Wein
gern zu sprechen sein
und mir die werte Unterschrift geben.
Potz Taler, Lise! sollst sehn, das wird ein Leben!
Na, was machst du denn fürn Sechsdreiergesicht?
Lise:
Mir ist bang um dich, Michel. O bitte, tu’s nicht!
Michel:
Achgottedoch! daß dir’s Herzchen nur nicht bricht!
Brennst doch sonst drauf, mit in die Stadt zu fluttschen.
Lise:
Aber für immer?
Michel:
Für immer tut kein Weibsbild muckschen.
(Er nimmt ihre Hand.)
Weißt du: wenn wir Abends hier manchmal so einsam sitzen
und ich seh da drüben im Tal den großen Lichterknäul blitzen,
die Bahnkörperlampen, die Schaufenster, die Straßenlaternen,
wie sie wetteifern mit den Sternen,
[S. 277]
und was hinter den erleuchteten Scheiben
all die tausend Menschenköpfe wohl sinnen und treiben,
was für Strahlen hin-und-herzucken zwischen ihnen
aus den wunderlichen Instrumenten, Apparaten, Maschinen,
elektrischen Drähten — (er erhebt sich)
ich kann’s garnicht ganz sagen,
wie das strahlt — und mittendurch rollen funkelnd die Wagen,
wodrin Hoch und Niedrig zusammen übers Pflaster jagen,
zu Festsälen, Theatern, Bibliotheken, Klubs, Volkshallen,
kann sich jedermann immer höher bilden mit Allen —
ja, dann fühl ichs wild: da bewegt sich die Welt!
so wild, du, daß mirs manchmal die Stirnadern schwellt!
(Er setzt sich und nimmt einen großen Schluck.)
Der rote Karl:
Ja, Fräulein Lise: Sie können’s noch nicht ermessen:
in der Stadt, da erwacht der Mensch zu edlern Interessen.
(Er nimmt gleichfalls einen großen Schluck.)
Der schwarze Karl:
Ja —! Nämlich auch die Kirchen nicht zu vergessen!
(Er trinkt sein Glas leer.)
Michel
(auf die Schriftstücke hauend):
Kurzum, ich will mehr, als mein väterlich Erbteil begaffen,
ich will mir auf eigne Faust meinen Fußboden schaffen;
das ist mein Intresse! Jawohl! Wirst es auch noch kapieren;
wirst vielleicht dereinst noch in seidnen Kleidern stolzieren,
in Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen,
und an Einer Tafel mit dem Bergrat sitzen.
Also Kopf hoch, Lise! maul nicht! du übertreibst es.
Lise:
O Michel, du bist ein Träumer — und bleibst es.
Michel:
Hat noch niemand unter meinen Träumen gelitten.
(Er trinkt Rest mit dem roten Karl.)
[S. 278]
Komm, bring uns lieber noch solchen lütten dritten
und sing eins!
Der schwarze Karl:
Darum allerdings möcht ich gleichfalls schön bitten.
Das heißt, ums Singen mein’ich.
Lise:
Meinen Sie! ums Singen!
O, euch sollt alle miteinander der Hörselberg verschlingen! —
(Sie stampft mit dem Fuß auf und rennt ins Haus.)
Der rote Karl:
Hast sie doch wohl ein bißchen gar zu herrisch überrascht.
Mich auch, muß ich sagen. Wer erst am Kapitalismus nascht —
Michel
(nochmals auf die Schriftstücke hauend):
Ach was, Redensarten! Ich tue, was sich verintressiert.
Ihr lauert blos immer und lamentiert.
(Er steckt die Papiere wieder in die Tasche.)
Der rote Karl:
Michel, Michel —: jeder Knappe im Schacht
nehm sich vor falschen Wettern in Acht!
Der schwarze Karl:
Deren gibts allerdings manche auch über Tag.
Michel:
Ja, wenns eure Trinksprüche täten, dann ging’s Schlag auf Schlag.
Schwerenot! ihr macht einem wirklich den Feiertag schwül;
und dabei ists ein Abend, wie feucht Moos so schön kühl.
Hee, Lise! Racker! gleich kommst du! auf der Stelle!
Der schwarze Karl:
Ich hol sie —
(er begibt sich durch die Gartenpforte vors Haus zur Tür) —
Lise
(mit einer sehr großen Schnapsflasche ihm entgegen):
Da habt ihr eure Intressenquelle!
(Sie drückt ihm die Flasche in den Arm.)
[S. 279]
Der schwarze Karl
(heimlich, während der rote mit Michel gestikuliert):
Pst, Jungfer Lise, im Vertrauen! ich mein’s wirklich gut.
Wenn der Michel nun, und sein Sie froh, daß ers tut,
in die Stadt zieht: dann drängen sie ihn so Schritt für Schritt,
daß er in das Kränzchen zur heiligen Elisabeth tritt!
und Sie, Jungfer Lise, natürlich mit!
Es ist vergnüglich, und lohnt sich, wie jede Christenpflicht.
Lise:
Ja, wenn Sie Eins mir versprechen als Christ; sonst nicht.
Der schwarze Karl:
Gern! Und?
Lise:
Daß er nicht in die Stadt zieht, Sie Kirchenlicht!
(Sie macht ihm einen Knix und verschwindet.)
Der schwarze Karl:
Verflixte Hexe! —
Michel:
Also wirklich, Roter: gib dich endlich zufrieden:
die hohen Herrn, die dienen mir blos, um vorerst mein Eisen zu schmieden.
Nachher — — Was! die ganze Flasche schickt sie uns her?
Der schwarze Karl
(die Flasche auf den Tisch stellend):
Ja, die Jungfer scheint sehr entgegenkommend; sehr.
Michel:
Aha! sie will ihren Vormund mal wieder im stillen beschämen.
Jetzt soll sie’s aber merken: ich kann mich bezähmen!
Kein Schluck jetzt wird getrunken!
Der schwarze Karl:
Hm —
Der rote Karl:
Nu ja —
[S. 280]
Der schwarze Karl:
Ja, im Grunde
soll der Mensch sich beherrschen —
Der rote Karl:
Besonders mit dem Munde.
Michel:
Sie denkt gewiß, weil ich manchmal Händel anfange;
und da ist ihr vor den fremden Stadtmenschen bange.
Der schwarze Karl:
Oder vielleicht auch — hm — vor den Menschern.
Michel:
Wie?
Ach so! Nein, Schwarzer: ich bin kein solches Vieh.
Und sie kennt mich; wie Bruder und Schwester sich kennen.
Der rote Karl:
Könnt drum doch wohl so’n Fünkchen Eifersucht brennen.
Woher hast du sie eigentlich so als Mündel genommen?
Michel:
Ja, woher? — Aus fernem Süden wohl ist sie gekommen.
Es war ein Abend wie heute. Da im Wald.
Ich suchte Vogelnester, war so zwölf dreizehn Jahre alt,
da hör ich auf einmal ein fremdländisch Lied erklingen;
rein als wollt mich ein Bergquell tief aus der Erde durchdringen.
Und wie ich mich leise im Moose näher stehle,
sitzt da ein klein braun Mädel in einer Höhle,
so klein noch, und barfuß, gewiß kaum sechs Jahr,
einen Kranz wilde Efeuranken im Haar,
und mit Augen, wie der Kuckuck fürwahr —
ja, so saß sie unter dem Felsenhang
und sang — und sang — —
Konnte anfangs kein deutsches Wörtchen sagen,
ließ sich nur ihren Namen, der hieß Lilith, abfragen,
[S. 281]
aber weil sie sang, wo sie ging und stand,
haben wir sie Lise Lied genannt;
bis sie schließlich ganz unsre Sprache angenommen
und vergessen hat, woher sie gekommen.
Und da mein Vater starb, eh daß sie großjährig war,
bin eben Ich jetzt ihr Vormund; bis zum neuen Jahr.
Der schwarze Karl:
Wird wahrscheinlich irgend ein verlaufen Zigeunerkind sein.
Ward sie denn getauft?
Michel:
O! reichlich! mit Wasser und mit Wein.
Der rote Karl:
Da sollt man doch eigentlich eins drauf trinken.
Der schwarze Karl:
Hm. Ist Alles Gottesgabe.
Michel:
Jawoll! pros’t Schinken:
jetzt wird gefastet! und wenn ihr noch so druckst!
(Leise:)
Sie steht nämlich hinter der Gardine und luchst;
ich kenn sie.
Der schwarze Karl:
Scheint ja indertat recht schwesterlich aufzupassen.
Michel:
Je nun, ich muß sie doch im Haus schalten lassen;
hütet auch heute Nacht wieder allein das Nest.
Der rote Karl:
So — sie geht nicht mit aufs Johannisfest?
Michel:
Nein; sonst würd sie mir doch vielleicht das Geschäft verleiden.
Der rote Karl:
So, so —

[S. 282]

Der schwarze Karl
(an der Flasche fingernd):
jo, jo —
Der rote Karl:
Und wie willst denn Du dich verkleiden?
Michel:
Ich geh einfach in Vaters Schäferhut-und-rock
und mit seinem langen Hirtenstock.
Hat nun manch Jahr schon still in der Ecke gestanden,
und strich früher wie’n Feldherrnstab hier herum in den Landen.
Ja: kannst mirs glauben: gern zieh ich auch nicht heraus
aus dem lieben alten Haus,
wo ich von Kind auf jeden Holzpflock drin kenne.
Aber wenn ich Morgen für Morgen zur Schicht auf die Zeche renne
und ich denk mir, wir solln hier ewig so hocken,
uns immer wieder denselben Alltagsbrei einbrocken —
denn ihr, was wollt ihr denn? blos lüstern aufmucken
und euch dann untern öffentlichen Suppenlöffel ducken,
zu dem schon jetzt alle Ja und Amen nicken,
bis selbst die Bettelleute schließlich im Fett mitersticken —
hrr, dann fühl ich’s heiß mir durch jede Pore toben:
Luft!!! schenkt uns einen Krieg, ihr Herrn da oben!
(Er greift nach der Flasche, gießt sich das Glas voll und trinkt.)
Der schwarze Karl
(sich bekreuzend):
Josef-Maria, Krieg! Gevatter, das heißt Gott versuchen!
Mit Verlaub — (er gießt sich gleichfalls ein) —
Der rote Karl:
Ja, erlaube, Michel: du hast leicht fluchen.
Du bist noch jung, und kennst den Krieg nicht, und meinst voll Feuer,
er sei ’ne Art Welteroberungsabenteuer.
Ist er auch; und tät heute die Sturmtrommel schlagen
ich würd meine Knochen wieder mit auf die Schanze tragen;
[S. 283]
das steckt uns im Blut, uns Bestien. Ja, ’ne Wollust ist der Krieg,
verhilft unsern Raubtiergelüsten zum Sieg;
aber Glück, Michel, menschlich Glück schafft er keins.
Michel:
Papperlapapp, Karl; ist dein Glück etwa meins?
Halt keine Volksreden, Roter! trink lieber eins!
(Ihm einschänkend und dann mit Beiden anstoßend:)
Glück, das ist ein Wort wie’ne Fliegenfalle;
Glückauf! es lebe der Sirup für Alle!
(Sie trinken.)
Lise
(tritt lachend aus der Tür an die Hausecke):
Wohl bekomm’s! — Ihr beherrscht euch aber lustig.
Michel:
O, du Kobold du! Seht ihr’s, da habt ihr’s, das wußt’ich.
Lise
(tritt an den Gartentisch und nimmt die Flasche):
Will sie aber doch vor euch Selbstbeherrschern lieber verstecken.
Gute Nacht, ihr Herrn! und laßt’s euch schön langsam schmecken!
(Sie geht wieder ins Haus.)
Der schwarze Karl:
Potz Kuckuck —
Der rote Karl:
Glaub mirs, Michel: du kennst die Kriegswut schlecht.
Höchstens aus Notwehr ist sie ein Menschenrecht;
das sollte man nicht als ein Glücksspiel verkündigen.
Der schwarze Karl:
Nein, bei den heiligen Nothelfern allen: das heißt sich versündigen.
Der rote Karl:
Verspielst blos deine Kraft, wenn du immer so überschäumst
Michel:
und dabei den Zukunftsstaat versäumst —
[S. 284]
Der rote Karl:
Auch die Gegenwart, Michel. Glaub mirs: du träumst! —
Der schwarze Karl:
Das kommt, wenn man sich dem ewigen Heil verschließt
und zuviel in den neuen Büchern liest.
(Er nippt behutsam an seinem Glas.)
Michel:
O, auch in den alten. Ich könnt euch manche Historie sagen,
wie sichs hier in Wahrheit einstmals hat zugetragen,
als unsre Väter im Herzgau von allen deutschen Landen
hier zwischen der Wartburg und dem Blocksberg ihr Seelenheil fanden,
zwischen dem Kyffhäuser und dem Hörselberg.
Damals ging’s Handeln noch nicht so überzwerch
mit Flausen und Klauseln und Staatsrücksichten wie heute;
damals vermochten noch stracks die aufstrebsamen Leute,
mit der Faust oder Stirn ihren Hochsinn durchzudrücken,
sich selbst und allen Nachkommen zum Entzücken.
O, ich sag euch: hier so lesen von den glorreichen Zeiten,
und die Dämmrung beginnt aus den Schatten der Zweige zu gleiten,
daß die Buchstaben flimmern auf den vergilbten Seiten:
schier leibhaftig seh ich sie dann Gestalt annehmen
und einherschreiten, die gewaltigen Schemen,
die gewappneten Herren aus trutzigem Bauerngeschlechte,
die frommen Einsiedler, die klugen Schalksknechte,
mit ihren blinkenden Schwertern, Kruzifixen, Helmzierden, Drommeten,
gleich als wollten sie da aus dem Wald zu mir treten
und mit mir beten — —
Der schwarze Karl:
Was! Hier? Gestalten? hier unter diesen Bäumen?
Nein, Gevatter Michael: es scheint wirklich, Sie träumen.
(Er nippt wieder ein Schlückchen.)
[S. 285]
Michel:
Na! dann seid ihr Beiden ja endlich einmal einig.
Und könnt austrinken! Es wird dunkel, mein’ich.
Der rote Karl:
Ist freilich Mondschein. Erstes Viertel, wie du siehst.
Aber wenn du meinst — und dich unsre Gesellschaft verdrießt —
(Er trinkt aus.)
Der schwarze Karl:
Ja, dann wollen wir wahrlich keine Zeit verlieren.
(Er trinkt ebenfalls aus.)
Michel:
Na, ich mein blos: ich muß mich doch zum Fest ausstaffieren.
Lise Lied
(singt im Innern des Hauses, durchs Dachfenster sichtbar):
Willkommen, weißer Mond im Blauen,
allein!
Laß mich in Deine Heimat schauen,
sei mein!
Ich sitz im Dunkeln voll Geduld,
du scheinst!
O leuchte Jedem heim voll Huld,
dereinst!
(Sie schließt das Fenster.)
Der schwarze Karl:
Meiner Seel! wenn sie singt, dann ist sie der reine Engel.
Der rote Karl
(aufstehend):
Ja, und winkt uns heim mit dem Tulpenstengel.
(Im Haus wird Licht angesteckt, hinterm Dachfenster.)
Also, Michel, Glückauf; vielleicht siehst du mich noch um Mitternacht.
Michel
(gleichfalls aufstehend):
Wie?
[S. 286]
Der rote Karl:
Nu, es ist doch Maskenfreiheit angesagt
und jeder wahlberechtigte Bürger nebst Familie eingeladen;
da wirds ’nem alten Kriegsveteranen, denk ich, wohl auch nicht schaden.
Michel:
Siehst du, Roter: das ist wacker! Wahrhaftig, das freut mich.
Der rote Karl:
Trotz dem Bergrat? — Na! ich will nicht hoffen, es reut dich.
(Er schüttelt ihm die Hand und geht langsam links ab.)
Der schwarze Karl:
Ich denk, ich komm auch.
Michel:
So.
Der schwarze Karl:
Ja. Ich denk, es bringt Segen,
unsre alte ehrwürdige Knappentracht wieder mal anzulegen.
Michel:
Schön; stolper nur niemand nicht übern Degen!
Glückauf, Gevatter! —
(Er winkt ihm Abschied und geht ins Haus; der schwarze Karl folgt verdutzt dem roten.)
Tyll Eulenspiegel
(kommt von rechts aus dem Wald geschlichen, steigt über den Zaun auf die Gartenbank und ruft gedämpft):
Immer vorwärts, gnädiger Herr! die Luft ist jetzt rein.
Nur das Jungfräulein wäscht sich im Kämmerlein.
(Auch unten im Haus wird ein Fenster hell.)
Der Kaiser Rotbart
(tritt aus dem Wald, in goldner Rüstung, mit geschlossnem Visier, sodaß nur sein langer Bart sichtbar ist):
Hüt dich, Schalk: sie hat Augen, hurtig wie Eidechsen.
Der getreue Eckart
(in schwarzer Kutte mit hohem Kreuzstab, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodaß nur sein weißer Bart hervorguckt):
Und könnt dich leicht wie den braven Michael behexen.
[S. 287]
Eulenspiegel:
O, der Michel, der ist gänzlich in sich selber versunken.
Seht: er hat nicht mal sein Glas ausgetrunken.
Der Rotbart
(zu Eckart):
Wie stellen wirs an, Getreuer, ihm zu erscheinen?
Eulenspiegel
(von der Bank springend):
Hopp! wir erscheinen eben. Das genügt, sollt ich meinen.
Eckart:
Mir deucht, gnädiger Herr, der Schalk rät gut.
Eulenspiegel
(nach dem unteren Fenster deutend):
Seht: er ist ganz behext von — dem alten Schäferhut.
Ach, er küßt ihn — (ahmt den Kuß ulkig nach) —
Eckart:
Darüber soll man nicht lachen!
Eulenspiegel:
Nun, dann werd ich uns mal ernstlich bemerkbar machen.
(Er klappt mit der Pritsche an die Scheibe und klingelt dazu mit einer Schelle, die am linken Zipfel seiner Gugelkappe hängt; dieser Zipfel ist so lang, daß Eulenspiegel die Schelle in die Gürteltasche stecken kann, damit sie nicht von selbst klingelt, sondern nur wenn er sie herausnimmt.)
Michel Michael
(tritt in Schäfertracht auf die Schwelle, in blauem Rock und grauem Mantel, eine brennende Kerze in der Hand, sodaß die Scheibe nun dunkel ist):
Wer klopft so spät und dringlich an meinem Fenster?
Wer sind die Herren —
Der Rotbart
(wie ein Standbild aufs Schwert gestemmt):
Gestalten —
Eckart:
Gestalten —
Eulenspiegel
(mit Verbeugung): sozusagen Gespenster.
[S. 288]
Michel:
Die Herren scheinen sehr spaßhaft gelaunt. Ich vermute,
Sie wollen in die Stadt
Eulenspiegel:
mit dir auf die Maskenredute;
wenn du uns den Weg zeigen willst. Denn merke dir:
mit Gespenstern spricht man per Du und Ihr.
Eckart:
Wir kommen, Michel Michael, um dich aus deinem Unmut zu reißen;
ich vom Hörselberg, der getreue Eckart geheißen.
Der Rotbart:
Ich habe bislang im Kyffhäuser meinen Rotbart beglotzt;
nun hat mich dein Wagmut endlich heraufgetrotzt.
Eulenspiegel:
Ich brauch mich, Vetter Michel, wohl nicht vorzustelln.
Ich bin überallher und starb bekanntlich in Mölln.
(Das Dachfenster wird plötzlich dunkel.)
Weiß also nirgends mehr auf dieser Erde Bescheid,
aber desto gründlicher in der Ewigkeit.
(Lise kommt die Flurtreppe herab, wie früher gekleidet, doch ohne Schürze; tritt unbemerkt hinter Michel.)
Eckart:
Willst du uns nun, hier wo sich die Wege verzweigen,
die rechte Richtung durchs nächtliche Vaterland zeigen —
Der Rotbart:
so wollen wir’s lohnen und dir zum guten Gelingen
deines gewagten Geschäftes beispringen —
Eulenspiegel:
zum Verkauf deines Hauses —
Michel:
Wie?? Ihr wißt??
Eulenspiegel:
Daß der Herr Michael heute durchaus kein Träumer mehr ist.

[S. 289]

Eckart:
Brauchst nicht starrstehn, als stünd hier der Antichrist;
wir haben nur im Wald da vorhin ein wenig gelauscht.
Lise:
Michel, tu’s nicht! Stehst ja jetzt schon wie ausgetauscht!
Michel:
Was! du bist noch auf, Lise?
Lise:
Soll wohl mit dir um die Wette träumen?
Ich muß doch noch euer Teufelsgeschirr da beiseite räumen.
(Sie will an ihm vorbei in den Garten.)
Eulenspiegel
(ihr zuvorkommend):
Auf Ihr Wohl, mein frommes Fräulein, den teuflischen Rest!
(Er spritzt ihn hoch in die Luft und überreicht ihr die Gläser.)
Dürfen wir hoffen, Sie wallfahrten auch mit aufs Fest?
Lise:
Danke. Hab keine Lust. (Leise) Ich bitt dich, Michel, tu’s nicht!
Was sind das für Leute?
Eulenspiegel
(durch die hohle Hand):
Lockspitzel fürs Jüngste Gericht!
Michel
(noch leiser):
Sind wohl Grubenbesitzer aus dem Nachbarkreis.
Sei friedlich, Lise!
Lise
(ihm den Leuchter abnehmend):
Ist mancher friedloser, als er weiß — —
(Sie geht mit den Gläsern und dem Licht ins Haus; ein andres Fenster als vorher wird hell.)
Michel:
Entschuldigen die Herrn: sie kommt wenig unter Leute,
mein Mündel. Und ist voller Unruh heute.
[S. 290]
Der Rotbart
(nach links zeigend):
Das dort unten, der Lichterhaufen, das ist wohl die Stadt?
Michel:
Ja, Herr. Nicht wahr: was das einen Andrang nach oben hat!
Wie die Glanzpunkte einander immer übersteigen,
überflügeln, und doch sich zusammentun zum Reigen;
rein als möcht sich der Erdkreis da selber von Grund aus beschwingen,
immer heller hinauf in den dunkeln Weltkreis zu dringen
Eulenspiegel
(pathetisch):
und nachher kopfüber wieder herunter zu springen.
Michel:
Wie?
Eckart:
Der Eulenspiegel hat dir nur andeuten wollen —
Der Rotbart:
daß es nun wohl Zeit sei, uns langsam hinunter zu trollen.
Michel:
Ja so! Ja. (Ins Haus rufend) Lise! bring mir mal Vaters Stock,
den langen! — Ich hoffe, mein schlichter alter Rock
paßt zu den Herren Gespenstern nicht schlecht amende?
Eulenspiegel:
Vortrefflich, Vetter! Besonders (leise) zu meinem nagelneuen Hemde.
Lise:
Hier, Michel.
Michel
(den Stock nehmend):
So! — Jetzt, ihr Herrn, sollt ihr sehn,
ob der Michel versteht, durchs nächtliche Deutschland zu gehn
und bis Tagesanbruch sein festlich Geschäft zu vollbringen
und auch ohne euern Beistand
[S. 291]
Lise:
einen Rausch zu erringen.
Der Rotbart:
Ei, gestrenges Fräulein, im Rausch wird die Herzenslust rege.
Gute Nacht! Ich gönn euch ein rauschend Herz allerwege.
(Er verneigt sich und schreitet linkshin davon.)
Eulenspiegel
(ihm folgend):
Ich schenk euch alles Rauschgold droben im Blauen.
Eckart
(ebenso):
Ich wünsch euch, allen himmlischen Festrausch zu schauen.
Lise
(ihnen nachrufend):
Und ich euch ein höllisches Morgengrauen! —
Ach, Michel!
Michel:
Gute Nacht, du ewige Unruh du.
Geh schön schlafen. Und schließ die Haustür hübsch zu.
Wirst schon sehn, ich sorge für dich aufs väterlich beste;
und übers Jahr kannst du auch mit auf solche Feste.
Lise:
Wirklich?
Michel:
Ja wirklich, du. Aber jetzt laß mich gehn;
horch, man hört schon Musik herüberwehn —
(eine ferne leise Walzermusik tönt bis zum Schluß des Aktes fort) —
und die Herren da warten, es ist höchste Zeit.
Also leg dich aufs Ohr und träum dir ein fein neu Kleid.
(Indem er den Andern nacheilt):
Und schick deine Mucken heim, du! da auf die Mondsichel,
du dumme Lise — (er verschwindet) —
[S. 292]
Lise
(ihm mit beiden Händen einen Kuß nachwerfend):
Du dummer Michel! —
(Sie huscht ins Haus, löscht das Licht, kommt gleich darauf wieder, in einen langen schwarzen Schleier gehüllt, ein silbernes Diadem mit flimmerndem Stern auf dem Haar, einen langen silbernen Stab in der Hand, der oben wie eine Wünschelrute gespalten ist, und verschließt die vom Mond beglänzte Tür. Dann sich reckend:)
O ja, ich schließ zu. Und den Schlüssel, (ihn hebend) den sollst du erst finden,
(ihn ins Mieder steckend)
wenn dir die Sinne vor Unruh um mich schwinden,
du Väterlicher! — Ja: berausch dich nur gut,
du Lieber! Ich fühl’s, was dir braust im Blut.
Ich folg dir, ich halt dich im Heimatland —
O, er weiß noch, wie er sein Findelkind fand!
wie’s ihn durchdrang, durchdrang, Herz, als er mich sah:
wie ein Bergquell tief aus der Erde —
(in Gesang ausbrechend) ja —:
so saß ich unter dem Felsenhang —
(linkshin davonschreitend, während der Vorhang sich schließt)
und sang — und sang — —
*
Eulenspiegel als Zwischenredner
(tritt aus dem Mittelspalt des Vorhangs, klingelt mit seinem Schellenzipfel):
Meine Herrschaften, das Fest ist in vollem Schwung;
selbstverständlich mit polizeilicher Genehmigung.
Die ganze Stadt schwebt auf dem Gipfel der Seligkeit;
einschließlich der beiderseitigen Geistlichkeit.
Jeder darf sich also, ohne irgend eine Pflicht zu entheiligen,
an der allgemeinen Begeisterung voll-und-ganz beteiligen.
Das soll nicht etwa heißen, ich buhle um Ihre Gunst;
sondern blos mein Herr, der Dichter, betreibt diese schändliche Kunst.
[S. 293]
Er betreibt sie leider mit höchst wohlgeziemenden Mitteln
(das Gestampf einer Maschine wird hörbar)
und ist fest überzeugt, Sie finden nichts dran zu kritteln;
wie Sie hören, sogar mit Dampfkraft und Elektrizität,
weils ohne diese Errungenschaften heut nicht mehr geht.
Dennoch muß ich sagen
(eine laut schnarrende Stimme hinterm Vorhang wird hörbar)
— na aber! das wird denn doch zu kräftig;
ich bitte um Ruhe dadrinne! Hee! Sie begeistern sich zu heftig!
Heda, Ruhe! oder ich ruf die Regie!
Ich bin ein Gespenst, ich kann nicht so schrein wie Sie,
(er schreit immer stärker)
Sie rattern ja lauter als die Dynamomaschine;
bitte schließen Sie gefälligst Ihre Phrasenterrine! —
Sie! hören Sie nicht? jetzt habe Ich das Wort! —
Er hört nicht. Er rattert ruhig fort.
Ich fürchte, über solchen voll-und-ganzen Begeisterungston
verfügt nur eine wirkliche neuhochdeutsche Regierungsperson;
jeder andre Geist krigte davon den Schlucken.
Da muß ich braves altdeutsches Gespenst mich wohl ducken
(er tut es)
und ehrerbietigst das Mundwerk der hohen Behörde enthüllen,
damit Sie auch lernen, so begeistert zu brüllen.
(Er schiebt geduckt den Vorhang linkshin auf und verkriecht sich im Vordergrund der Bühne.)

Zweiter Aufzug

(Bild: Eine Gartenwirtschaft mit elektrischen Ampeln, bunt voller Leute in Maskenkostümen, doch herrscht die schwarze Farbe vor. Im Hintergrund ein erleuchteter Tanzsaal. Rechts ein Laubengang mit Tischen und Stühlen, die grün und weiß gestrichen sind; auf dem vordersten Tisch ein weißes Tischtuch und ein Schild mit der Aufschrift „Reserviert!“ Links unter Bäumen ein langer Tisch, an dessen hinterem Ende der schnarrende Landrat steht, mit aufgedrehten Schnauzbartspitzen, in schwarzer Halbmaske, Frack und Domino. An den Seiten dieses Tisches sitzen der Bergrat und der Bürgermeister, ähnlich maskiert, nur mit anderen Bärten, der Bergrat mit dunkelm spanischen Spitzbart, der Bürgermeister mit grauem Tintenwischer-Schnurrbart; dann die Frau Bürgermeisterin und andre Damen in farbigen[S. 294] Masken, ein Kaplan und ein Pastor unmaskiert, der schwarze Karl in Bergknappentracht mit Hornbrille, ihm gegenüber Michel Michael ohne Maske, an der linken Ecke vorn. Die Honoratioren tragen Zylinderhüte; nur der Kaplan hat flachen Seidenhut. Hinter Michel stehen wie Wachtposten der Kaiser Rotbart und der getreue Eckart, immer mit geschlossnem Visier und Kapuze; und Eulenspiegel hat sich zu seinen Füßen unter die Tischplatte gehockt. In der Mitte der Bühne ein Lindenbaum, hinter dessen Stamm Lise Lied verborgen steht; davor eine grün und weiß gestrichene grade Bank ohne Lehne. Ringsherum maskiertes Volk; darunter auch Kinder.)

Der Landrat
(immer lauter schnarrend, um das Gestampf der Maschine zu übertönen):
Und demnach, da Sie merken -ä- bin zwar in Maske erschienen,
aber -ä- unverkennbar: Ihr Landrat redet zu Ihnen —
demnach, sag’ich, will ich hier -ä- in Ihrer festlichen Mitte,
wo uns Alle nach guter, echter, alter Sitte
sozusagen die brüderlichsten -äh- Gefühle beseelen,
will ich, sag’ich, Jedem väterlichst anempfehlen,
trotz allen, wie Schiller sagt, feindlichen Gewalten
unentwegt unsre heiligsten Güter -ä- hochzuhalten.
Und diese -ä- Gefühle — Gefühle, sag’ich — sollen uns auch geleiten,
wenn wir in diesen unverzeihlich vaterlandslosen Zeiten
demnächst, meine Herrn, wie Sie wissen, zur Wahlurne schreiten.
Also, meine Herrn -äh- und Damen, wolln wir uns jetzt von den Stühlen
zum Zeichen von unsern -ä- unsern -äh-
Eulenspiegel
(über den Tischrand weg):
Hochgefühlen —
Der Landrat:
jawohl: von unsern vaterländischen Hochgefühlen —
wollen wir uns, sag’ich, jetzt mit unsern Gläsern erheben:
unser allverehrter Reichstagskandidat, der Herr Bergrat, er soll leben! hoch!
[S. 295]
Chorgesang mit Musik
(während der Landrat dem Bergrat die Hand schüttelt und Alle anstoßen):
Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!
(Dann noch immer das Geräusch der Maschine.)
Der Landrat:
Himmelkreizrudiment! da muß ja’s Trommelfell reißen!
(Nach hinten schreiend:)
Die Kerls, die Heizer, sollen die Tür zuschmeißen!
Heda!!! Tür zu, sag’ ich! Sofort den Kesselraum schließen! —
(Man hört eine eiserne Tür zuklappen; das stampfende Geräusch verstummt.)
Bande! Frechheit! Da soll man nu Volksfest genießen.
Unerhört! verstand kaum mein eigen Wort.
Tun’s selbstredend extra, diese Sozi, uns hier zum Tort.
Mußte schrein, daß mir jetzt noch’s Trommelfell klirrt.
Der Bergrat:
Ach bitte, Herr Bürgermeister, Sie sorgen wohl gütigst beim Wirt,
daß uns die Lichtmaschine, bitte, nicht wieder stört.
Der Bürgermeister:
Mit Vergnügen, Herr Bergrat.
Der Landrat:
Ja! bin wirklich empört!
Der Bergrat:
Er soll den Heizern ein Achtel Pilsner auflegen.
Der Bürgermeister:
Gern, Herr Bergrat.
(Er entfernt sich mit der Volksmenge nach dem Tanzsaal.)
Der Landrat:
Pros’t, Herr Corpsbruder! meinen volksfreundlichsten Segen!
(Er trinkt dem Bergrat zu.)
Diese Rasselbande! diese roten Radaugesellen!
Michel
(hat wieder Platz genommen, stampft seine Weinflasche auf den Tisch):
Mit Verlaub! Indessen: von wegen den Trommelfellen —
[S. 296]
Der Landrat
(etwas schwerhörig):
Äh —?
Eulenspiegel
(unterm Tisch hervor):
Trommelfellen —
Michel:
so im Kesselraum schuften, ist auch kein Volksvergnügen.
Der Rotbart:
Volksvergnügen.
Eckart:
Volksvergnügen.
Der Bergrat:
Bravo, Michel!
Die Frau Bürgermeisterin
(auffällig bunt kostümiert, lorgnettierend):
Entzückende Gruppe!
Der Landrat:
Gottvoll!
Michel:
Verfluchtige Lügen!!!
Eulenspiegel (Fistel) und Eckart (Baß):
Lügen! Lügen!
Der Rotbart
(Baryton):
Man soll nicht meinen, ihr Leute, man könne den Michel betrügen.
Die Bürgermeisterin
(während die Andern lachen):
Nein, wie reizend!
Der Landrat:
Köstlich!
[S. 297]
Die Bürgermeisterin:
Wie echt gemacht! So natürlich!
so romantisch! so richtig sagenfigürlich!
nicht wahr, Herr Pastor?
Der Pastor
(in schwarzem Gehrock, zugeknöpft, wohlbeleibt):
In der Tat, Frau Bürgermeisterin;
ein Maskenscherz mit tiefem evangelischen Sinn.
Der Kaplan
(in schwarzer Sutane, noch beleibter):
Man könnte, Herr Amtsbruder, eher wohl katholischen sagen.
Der Bergrat:
Also, meine Damen und Herrn, erlaub’ich mir vorzuschlagen,
weil der biedre Zecher da Michel Michael heißt
und offenbar erfüllt ist von wahrhaft volkstümlichem Geist:
wir erteilen nachher dem deutschen Michel nebst Geisterbegleitung
den Maskenpreis!
Alle:
Bravo!
Eulenspiegel
(aufstehend und klingelnd):
Und setzen’s in die Zeitung!
Der Landrat:
Selbstredend!
Eulenspiegel
(sich vor ihm verbeugend und weiterklingelnd):
Es lebe die hochwohlweisliche Volksfestleitung! —
(Im Saal fängt gedämpfte Tanzmusik an.)
Michel
(ist gleichfalls aufgestanden):
Herr Bergrat spaßen sehr gütig; ja; und ich danke auch sehr.
Aber, wie Herr Bergrat wissen, kam ich eigentlich her,
um mein Haus —
[S. 298]
Der Rotbart und Eckart:
(während Lise Lied hinter dem Baum hervorschaut)
Haus — Haus —
Michel:
(die Vertragspapiere aus der Brusttasche holend)
Hier — ich bin so frei —
Der Bergrat:
Schon gut, lieber Michel; gewiß, kommt auch an die Reih.
Jetzt muß ich erst tanzen gehn.
(Zur Bürgermeisterin:)
Gnädige Frau, darf ich bitten! —
(Verschiedene Paare, auch der Landrat mit einer Dame, ab nach dem Saal.)
Michel
(die Papiere einsteckend und sich wieder setzend):
Verdammte, verquere, katzenfreundliche Sitten!
(Er stürzt ein Glas Wein hinunter.)
Eulenspiegel:
Ja, Sitten!
Der Rotbart und Eckart:
Sitten! —
Der schwarze Karl
(hat bis dahin mit dem Kaplan getuschelt):
Gratuliere, Freund Gevatter; scheinst hier recht wohlgelitten.
Michel:
Halt’s Maul!!!
Lise Lied
(ganz hervortretend, dicht verschleiert, mit verstellter Stimme):
Michel Michael, laß dich zum ersten Mal warnen!
schon beginnt der Stadtrausch deinen Geist zu umgarnen.
Ich bin deine Glücksfee; bang von fern komm ich her,
von den Sternen, durch die Nacht, übers gründunkle Meer,
meinen Wünschelstab in bebender Hand,
flüchtigen Fußes von Land zu Land,
durch den Wald deiner Kindheit bin ich gegangen,
in den Schooß der Berge trieb mich dein Glückverlangen,
[S. 299]
bis zum Hörselgrund tief, wo Frau Venus wacht
und den feurigen Quell der Jugendträume entfacht —
Michel Michael, jetzt durch meinen Mund
tut dir die ewige Göttin kund:
du sollst deiner lieben Heimat nicht untreu werden,
damit du kein Flüchtling wirst auf Erden.
Lebe wohl!
Der Rotbart:
Halt, Flüchtling!
Eulenspiegel:
Halt, edle Fee! Nicht so schnell!
(Er läuft ihr nach; sie verschwinden im Hintergrund rechts.)
Der Rotbart:
Du scheinst wahrlich kein Flüchtling, Glücksvogel Michael!
Michel:
Ach was, Maskenschnack! Lachhaft! Lauter Alfanzerein!
Hee, Bedienung!
(Ein altdeutsch gekleideter Kellner erscheint und bringt auf seinen Wink eine neue Flasche.)
Der schwarze Karl:
Wer mag’s wohl gewesen sein?
Die Jungfer Lise?
Michel:
Schnack, sag’ich! Die liegt zu Hause im Bett!
Verstanden?! — Höchstens etwa, daß sie ’ne Freundin hätt
und läßt ihrem Vormund heimlich so’n kleinen Stupps aufschwenken;
braucht drum Niemand nichts Schlechtes von ihr zu denken!
Eckart:
Michel Michael, hüt dich vor des Hörselbergs Ränken!
Der schwarze Karl:
Ja, ich meine auch —
Michel:
wie??
[S. 300]
Der schwarze Karl:
das heißt, natürlich nur so im Allgemeinen;
die bösesten Weibsbilder sind, die die besten scheinen.
So zum Beispiel der Bergrat und die Frau Bürgermeistern.
Da hilft kein Vertuschen mehr, kein Verkleistern;
rein schon öffentlich tut sie’s ja mit ihm treiben.
Michel:
Meinethalben! Man soll mir mit Stadtklatsch vom Halse bleiben!
Der Kaplan:
Wohlgesprochen, mein Sohn. Jedoch, in dem städtischen Sündenschwarm
braucht der Mensch eines Schutzpatrons starken Arm;
du hast ihn schon lange nicht mehr im Beichtstuhl erprobt.
Wirst hoffentlich trotzdem, wenn nun die Wahlschlacht tobt,
wissen den rechten Schild hochzuhalten.
Michel
(aufstehend):
Zu Gnaden, Ehrwürden; ich lass den alten Gott walten.
Obgleich ich, verzeihn Sie, in meinem einfältigen Sinn
eigentlich mehr für die Protestanten bin.
Der Pastor
(gleichfalls aufstehend):
Ein männliches Wort, lieber Freund! Und ich darf wohl hoffen,
Sie wissen, auch unser Arm steht der christlichen Einfalt offen.
Michel:
Viel Ehre, Herr Pfarrer. Indeß, um Sie nicht zu vexieren:
ich bin überhaupt fürs Protestieren.
Wenn ich wählen müßt zwischen Pastor und Kaplan,
wär ich doch wohl lieber dem — Stärkeren untertan.
(Er verbeugt sich schwerfällig, dreht ihnen den Rücken und setzt sich ans andre Ende des Tisches; der Rotbart und Eckart folgen ihm, seine Flasche und sein Glas nachtragend.)
[S. 301]
Der Pastor
(zum Kaplan, der ebenfalls aufgestanden ist):
Hm. Wer ist nun der Stärkere von uns Beiden?
Der Kaplan
(die Hände über den Bauch faltend):
Ich schätze, Herr Collega, wir lassen’s vom Publiko entscheiden.
(Die Tanzmusik im Saal hört auf.)
Eulenspiegel
(zurückkommend):
Vetter Michel, ich habe den ganzen Stadtpark durch-und-durchgekuckt:
deine Glücksfee scheint von der Hölle verschluckt.
Michel:
Glückauf!
Der Rotbart:
Wahr dich, Schalk! daß der Michel nicht Flammen spuckt! —
(Währenddem kommt Maskengewühl aus dem Saal. Voran der Bergrat und der Landrat, hinter ihnen her der Kellner mit Sektkübel und Würfelbecher, zu dem reservierten Tisch hin im Vordergrund rechts.)
Der Landrat
(sich mit dem Taschentuch fächelnd):
Himmelkreiz! Doller Fez! Bewundre Sie. Ohne zu schmeicheln.
Der Bergrat:
Ja, man lernt allmählich die Volkstatze streicheln.
Der Landrat:
Na, ich danke!
Michel
(hat sich durch die Leute nach vorn gedrängt):
Herr Bergrat — wenn Sie jetzt — ich will nicht behelligen —
aber solche Unterschrift ist doch leicht zu bewerkstelligen —
da Sie doch geneigt —
Der Bergrat:
Aber bester Michael,
Sie benehmen sich wirklich etwas auffällig schnell.
Hat doch Zeit bis morgen.
[S. 302]
Michel:
Morgen muß ich arbeiten gehn!
Der Bergrat
(den Würfelbecher nehmend):
Na, dann nachher! Jetzt bin ich beschäftigt, wie Sie sehn.
Michel:
Ich — seh — —
Lise Lied
(erscheint im Hintergrund):
Michel Michael, ich warn dich zum zweiten Mal —
horch: schon singen die Bergleut ein Spottlied im Saal —
Sprechgesang
(auch Kinderstimmen):
Der deutsche Michel, der hat sich verlaufen;
Glückauf!
Er will sein Haus an die Stadtleut verkaufen;
Glückauf!
Ein Zug maskierter Bergknappen
(kommt weitersingend aus dem Saal, geführt vom roten Karl, der als Militär-Invalide maskiert ist, und begleitet von Kindern in blaugrauen Koboldtrachten mit Zippelmützen und weißen Bärten):
O Michel, die Stadt hat ein Herz von Stein,
bald wirst du ein steinreiches Schindluder sein;
Glückauf!
Lise Lied:
Drum, aus der Berge feurigem Herzensgrund,
tut die Herrin der Zukunftsträume dir kund:
Du sollst deine herzwarmen Augen heller aufmachen,
dann wirst du zum goldensten Traum erwachen.
Glückauf!
(Sie verschwindet.)
Der rote Karl
(seine Mütze abziehend):
Ein alter Kriegsveteran, der um ein Almosen bettelt —
[S. 303]
Michel:
Ah, roter Karl! Du hast das angezettelt?!
Ich sag dir: hüt dich! ich kenn dich! scher dich um Deine Sachen!
der Michel läßt sich von niemand zum Popanz machen!
Merk dirs! Sonst: hier: bei meines Vaters Stock —
(Die Maschine stampft plötzlich wieder los)
Der Landrat
(den Würfelbecher aufstampfend und sich die Ohren zuhaltend):
Kreizrudiment —
Der rote Karl:
man stopp —
Dumpfe Stimmen im Hintergrund:
man stopp! man stopp! man stopp!
Eulenspiegel:
Platz da, Michel!
Der rote Karl:
Platz! sonst gibts Flecke am Rock!
(Drei Maschinenheizer, rußgeschwärzt, kommen mit geschulterten Schaufeln im Marschtritt nach vorn; Eulenspiegel klappt mit der Pritsche den Takt dazu.)
Der Oberheizer:
Stopp! — (Zum Bergrat:) Euer Hochwohlgeboren haben die Gnade gehabt
und uns mit einer Erfrischung
Der rote Karl
(soufflierend): kleinen Erfrischung
Der Oberheizer:
kleinen Erfrischung gelabt.
Euer Hochwohlgeboren, wir danken Ihnen sehr
und melden
Der rote Karl
(wie vorher): gehorsamst
Der Oberheizer:
gehorsamst: das Achtel ist bald leer.
Euer Hochwohlgeboren wissen, die Nacht ist noch lang,
und wir halten
[S. 304]
Der rote Karl:
ergebenst
Der Oberheizer:
ergebenst die Beleuchtung in Gang.
Euer Hochwohlgeboren, wir möchten
Der rote Karl:
mit unter
Der Oberheizer:
mit untertänigstem Respekt
Der rote Karl:
mal probieren
Alle drei Heizer:
mal probieren, ob auch Sekt uns schmeckt!!!
Der Landrat
(vor sich hin):
Kreuzschwerebrett —
Der Bergrat
(aufstehend, räuspernd):
Leute! Hört mal —
Eulenspiegel
(steigt hinten auf einen Stuhl und klingelt):
Hört, hört!
Der Bergrat:
Ich bitte doch dringend, daß man den Geist des Festes nicht stört!
Eulenspiegel
(nochmals klingelnd):
Ich schließe mich dringend dem verehrten Herrn Vorredner an
und verordne somit strengstens, so geisterhaft ich kann,
auf Geheiß Seiner Allerhöchstgeistigen Majestät
des weiland Kaisers Rotbart, weil er hier auf Gebet
des annoch deutschen Michels auferstanden steht
im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität,
und weils ohne diese Errungenschaften nicht geht
[S. 305]
Eckart
(mit Grabesstimme):
in euerm erleuchteten Jahrhundert —
Der Rotbart
(mit Donnerstimme):
über das er sich ungeheuer wundert —
Eulenspiegel:
so verordnet er hiermit den Anstiftern der Beleuchtung
zur weiteren nächtlichen Kesselraumbefeuchtung
aus seiner johannisfestlichen Kellerei
unter Aufsicht der hochwohlwürdigen Geisterpolizei
einen Korb Henkell-trocken —
Die Heizer und Bergknappen:
Ha! Hurra! Bravo! Hei!
Eulenspiegel:
Wir werden unverzüglich die nötigen Amtsbefehle geben.
(Er springt vom Stuhl und läuft nach dem Saal.)
Die Heizer und Bergknappen
(während Michel sich auf den leeren Stuhl setzt):
Hurra! hoch! der deutsche Michel soll leben!
leben! leben! und Kaiser Rotbart daneben! —
Der Landrat
(während die Heizer und Knappen mit dem roten Karl nach links abmarschieren):
Schwerebrett, Herr Corpsbruder! war ja ’ne nette Bescherung.
Na, pros’t! Immerhin sozusagen ’ne soziale Belehrung.
(Sie stoßen an und trinken Rest; zugleich klappt wieder die eiserne Tür, und das Geräusch der Maschine hört auf.)
Wird der Michelspaß nicht amende bedenklich?
Der Bergrat:
Unbesorgt. Der Mann ist absolut unverfänglich;
hat sicher mit dem kleinen Putsch nichts zu tun.
Etwas Dickkopf, aber sonst ein gemütliches Huhn;
will mir blos partout sein bißchen Grundstück beibiegen.
Ist auch preiswert; und wie die Chancen liegen,
[S. 306]
müßt ich ihn sowieso bald aus seiner Waldbude schassen.
Wollt ihn blos noch ’ne Zeitlang zappeln lassen;
Sie verstehn.
Der Landrat:
Vollkommen. Blos diese -ä- Geistergestalten,
die uns da eben die noble -ä- Abfuhr aufknallten —
Der Bergrat:
Ja, sonderbarer Scherz.
Der Landrat:
Schon mehr Impertinenz.
Der Bergrat
(während die Tanzmusik wieder anfängt):
Vermutlich Herren von der linksseitigen Konkurrenz;
scheint mir ratsam, hier niemand zur Entlarvung zu zwingen: —
(Sie stehen auf, um sich nach dem Saal zu begeben.)
Eulenspiegel
(vom Maschinenhaus zurückkommend):
Gnädiger Herr, ich habe zu hinterbringen:
(mit Trinkgeberde)
der kaiserliche Geist beginnt schon ins Volk zu dringen.
Held Michel, halt dich zum Hurraschrein bereit!
Michel
(steht brüsk auf, ein wenig schwankend, und steuert zu dem Bergrat hin):
Um Verzeihung, Herr Rat — in aller Bescheidenheit —
aber es könnt sonst sein, Herr Rat, das Geschäft wird mir leid; —
den Bittsteller machen, fällt mir von Hause aus schwer —
Der Rotbart und Eckart
(sind ihm nachgeschritten):
schwer — schwer —
Der Bergrat:
So! Seh einer! — Na! Dann geben Sie mal her.
Pardon, Herr Corpsbruder.
Der Landrat:
Bitte. (Ab zum Saal.)
[S. 307]
Michel
(die Vertragspapiere überreichend):
Hier — zu dienen, Herr Rat —
Lise Lied
(aus dem Laubengang tretend):
Michel Michael, hör mich! Zum dritten Mal naht
Michel:
Ruhe!!!
Eulenspiegel:
Holla, die Glücksfee! Halt, Göttin, halt!
(Er setzt ihr nach; sie verschwinden beide.)
Michel:
Verzeihung, Herr Bergrat; sie drängt sich mit Gewalt
Der Bergrat:
Wohl ein Schatz?
Michel:
Gott bewahre, Herr Bergrat; nein, keine Spur.
Der Bergrat
(sich wieder an den reservierten Tisch setzend):
Wär doch keine Schande, Mann; delikate Figur! —
Na, nehmen Sie Platz —
(die Papiere aufmachend und seinen Füllfederhalter herauslangend)
aber Eins, mein Lieber, schick ich voraus:
Sie müssen nicht denken, Sie wären der Herr im Haus.
Ihre Scholle ist uns auf alle Fälle verfallen.
Michel:
Wie??
Der Bergrat:
Nun: wenn wir den Luftschacht etwas mehr seitwärts verstallen
und legen ’ne Schutthalde vor Ihre Tür,
dann gibt kein Mensch mehr ’ne Schippe Kooks dafür.
Michel:
Ja, aber —
[S. 308]
Der Rotbart und Eckart
(wieder hinter ihm Wache stehend):
aber! — aber! —
Der Bergrat:
Da gibt’s nichts zu abern leider.
Im Übrigen bin ich kein Halsabschneider.
Kellner, noch’n Glas! — Wollte blos meinen Standpunkt klarmachen — —
(Den Vertrag durchsehend:)
Nein — aber — Bester — das ist ja rein zum Lachen:
ich nannte Ihnen fünfzehntausend als unsern äußersten Preis,
und hier stehn achtzehn?!
Michel:
Ja, Herr Bergrat, weil —: ich weiß nicht, ob der Herr Bergrat weiß:
mein Großahn war Grobschmied — und — und —
Der Bergrat
(während der Kellner das Glas bringt): Na? Und?
Michel:
Es geht eine alte Sage von Mund zu Mund —:
Der Rotbart:
Des Michel Michaels Haus steht auf eisernem Grund —
Eckart:
könnte mancheiner Silber und Gold draus schlagen — —
Michel:
Ja! — Das heißt, Herr Rat, ich wollte damit nur sagen —
(da der Bergrat ihm einschänkt)
sehr gütig, Herr Rat —
Der Bergrat:
Na, Michel: viel ist nicht zu profitieren.
Aber — na gut: Lufthalber wollen wir’s mal riskieren.
Also (ihm zutrinkend) Glückauf!
Michel:
Glückauf! (er leert sein Glas.)
[S. 309]
Der Bergrat
(unterschreibt): So. Abgemacht. Hier:
nun Sie! Nein, hier: auf dem andern Papier.
Michel
(nachdem er das Duplikat unterschrieben hat):
Uff. Heiß!
Der Bergrat
(hat das erste Schriftstück gefaltet und gibt es ihm zurück):
So; bitte. Nun? sind Sie nun zufrieden?
Michel
(während jeder sein Schriftstück sorgfältig einsteckt):
Hoh, Herr Bergrat, schon? Jetzt geht’s doch erst los, das Schmieden!
das Glückschmieden mein’ ich. Hier die paar tausend Mark Geldeswert,
die sind doch blos erst das erste Roheisen auf dem Herd;
hoffe dereinst die Welt noch als Feinschmied untern Hammer zu kriegen.
Der Rotbart:
Michel Michael, laß nur das Feuer nicht verfliegen!
Eckart:
Ist schon manche Glut zu Asche zerstoben auf Erden.
Der Bergrat
(Michels Glas wieder füllend):
Ja, ich rate auch, lieber Michel: nicht übermütig werden!
Michel:
Oh, Herr Rat — das sind blos so Volksfestgeberden.
(Sein Glas abermals leerend)
Auf Ihr Wohl, Herr Rat! — Ich muß schon den ganzen Abend denken:
wie wir hier so sitzen auf den schönen Stühlen und Bänken,
Hoch und Niedrig zusammen bei den guten Getränken,
und fühlt sich jeder so recht mitbeglückt im Gewühl —
das ist doch ein sehr erhebendes Gefühl!
nicht wahr?
[S. 310]
Der Bergrat
(aufstehend):
Hm. Ja. Sehr erhebend. Ja. Aber jetzt —
Eulenspiegel
(kommt mit Lise Lied Arm in Arm angetanzt):
Hurra, Vetter Michel, hier kommt dein Glück angesetzt!
Hat sich endlich von mir am Schlafittchen kriegen lassen.
(Die Tanzmusik hört auf.)
Eckart:
Schalk, Schalk! des Michels Glück, das kann nur er selber fassen.
Michel
(seine Brusttasche befühlend):
Ja, wahrhaftig! —
Lise Lied:
Michel —! —
Michel
(unwillkürlich): Lise —! — (Sich besinnend) Ach nein; dumm Zeuch;
was rührt dich, Michel?! — (Auffahrend) Schockschwerenot, ihr: was kümmert’s euch?
schert euch zum Teufel! (setzt sich wieder und stiert ins Glas.)
Eulenspiegel:
Ha! Hörst du’s, Göttin? Verschmäht!
Das fordert Rache! Rache! (Den Würfelbecher nehmend:)
Soll ich mit diesem Gerät,
kraft meiner spiritistischen Wupptizität,
hehre Fee, ihn zerschmettern? — Nein? — Ach! das ist bitter.
Der Bergrat:
O: eine Fee, die findet wohl zartere Ritter.
Aber eine Glücksfee, die sollte sich eigentlich entschleiern;
darf ich’s wagen?
[S. 311]
Lise Lied
(während die Tanzpaare aus dem Saal kommen):
Vielleicht, Herr Ritter — doch müssen wir ihn erst feiern,
der da selig in seiner Selbstherrlichkeit thront
und die Dienste der Geister mit eitel Nichtachtung lohnt.
Versteht Ihr, Ritter?
Der Bergrat:
Stolze Fee, ich beuge in Demut das Knie (er tut es)
und verstehe.
Die Bürgermeisterin
(dazwischentretend): Aber Bergrat, was treiben Sie!
Man ist sehr erstaunt —
Der Bergrat
(knieen bleibend): Oh, gnädigste Frau, ich desgleichen!
In der Johannisnacht
Eulenspiegel:
erlebt man Wunder und Zeichen!
Der Rotbart und Eckart:
Wunder und Zeichen!
Der Bergrat:
Eine holde Fee stieg die Himmelsleiter herab
Die Bürgermeisterin:
shocking!
Der Bergrat
(sich erhebend): und gebeut uns mit ihrem Zauberstab,
damit wir die Geister der Vor- und Nachwelt versöhnen,
den deutschen Michel zum Weltherrn von ihren Gnaden zu krönen.
Die Bürgermeisterin:
Empörend!
Der Landrat:
Gottvoll, Bergrat!
[S. 312]
Eulenspiegel:
Hurra, Michel! Jetzt heißt es erscheinen!
Kopf hoch, Brust raus!
Der Rotbart:
Stehst du auch fest auf den Beinen?
Michel
(aufstehend):
Hoh! Ich? (er stolpert.)
Die Bürgermeisterin:
Huch!
Michel
(brüllend): Bombenfest, sollt ich meinen!!!
(Er stellt sich breitbeinig vor die Bank in der Mitte, während der Rotbart und Eckart hinter sie treten.)
Der Bergrat:
Also — vielwerte Gäste!
Etliche Bengel in Koboldtracht:
hurrra!
Der Bergrat:
und Zaungäste!
Die Kobolde:
hurrra!
Eulenspiegel:
und Geister, bitte!
Der Bergrat:
Bitte!
Eulenspiegel:
Danke.
Der Bergrat:
Hier steht er —
Kobolde:
steht er —
Der Bergrat:
in unsrer beglückten Mitte —
[S. 313]
Kobolde:
Mitte —
Eulenspiegel:
leibhaftig —
Kobolde:
leibhaftig —
Der Bergrat:
unter dem Lindenbaum —
Kobolde:
Lindenbaum —
Der Bergrat:
unser teurer deutscher Michel —
Kobolde:
hurrra —
Eulenspiegel:
es ist kein Traum!
Der Rotbart und Eckart:
Kein Traum.
Der Landrat:
Himmelkreizrudiment zum Donner! Silenzium jetzt!!!
Ruhe, Bengels! sonst werdt ihr rausgesetzt!
(Er nimmt einem der Kobolde seine Zippelmütze weg und treibt die Schreihälse nach hinten.)
Weiter, Bergrat!
Der Bergrat
(Lisens Arm nehmend):
Also — bezaubert von dieser Himmelserscheinung
Die Bürgermeisterin:
unglaublich!
Der Landrat:
pßt —!
Eulenspiegel:
und nach der offenbar völlig einstimmigen Meinung
[S. 314]
Der Bergrat:
aller Freunde und Freundinnen der höheren Sphären
Lise Lied:
wollen wir ihn jetzt zum Beherrscher der — Lüfte erklären!
Der Bergrat:
zum Alleinherrscher sämtlicher Zukunftsflugmaschinen!
Eulenspiegel:
Glücksgondeln, Traumschiffe und sonstiger Zeppelinen!
Der Bergrat:
Möge er immer flügger, lenkbarer
Eulenspiegel:
und bombenfester werden!
Lise Lied:
und selig enden als Luftschloßbesitzer auf Erden! —
Der Landrat
(die Zippelmütze schwenkend):
Hurrra, deutscher Michel!
Alle durcheinander
(während Michel auf die Bank gehoben wird und ein Glas Wein in die Hand bekommt):
Hurra! Hurra!
Michel
(an den Baumstamm gelehnt):
Halt!!! Jetzt komm Ich an die Reih!
Der Bergrat:
Glückauf, Michel! (trinkt ihm zu.)
Michel:
Schön Dank, Herr Bergrat! (trinkt.) Ja! Schön Dank fürs Geschrei!
Denn der Michel nämlich — ja — kann viel Spaß vertragen.
Der Landrat:
Bravo, Michel! (trinkt ihm zu.)
[S. 315]
Michel
(immer wieder Bescheid trinkend, worauf ihm unter Gelächter immer wieder das Glas gefüllt wird, bald mit weißem, bald mit rotem Wein):
Schön Dank, Herr Landrat! — Ja! — Aber — wollt ich sagen:
kann auch Ernst machen! kann — kann sich lange ducken —
Der Kaplan:
Wohl ihm, Michel!
Michel:
Schön Dank, Ehrwürden (trinkt) — Kann seine dummen Mucken
— ja — vor euch Stadtleuten — ja — auch sein Heimweh verschlucken —
Der Bürgermeister:
Hoch, Michel!
Michel:
Schön Dank, Herr Bürgermeister (trinkt) — Ja —: kann sich recken —
kann auf einmal — ja: kann er — seine Hand ausstrecken —
kann vielleicht dereinst noch — hupp — die ganze Welt in die Tasche stecken —
Der Pastor:
Heil, Michel!
Michel:
Schön Dank, Herr Pfarrer (trinkt) — Jawohl —: Luft — Erde — hupp — Meer —
den ganzen Himmel — hupp — (er fällt von der Bank herunter)
Lise Lied
(wirft sich aufschreiend über ihn):
Michel!!!
Eulenspiegel
(sehr laut): Kellner! den Eiskübel her! —
Der Bergrat
(während der Kellner Eiskübel und Tischtuch bringt):
Aber teuerste Göttin, er hat sich ja nichts zerbrochen!
[S. 316]
Der Landrat
(während man Michel auf die Bank setzt und an den Baum lehnt):
Kein Bein! Der fällt einfach auf seine gesunden Knochen!
Eulenspiegel:
aus der Zippel- der Zappel- der Zeppeline!
Der Bergrat:
Da! er macht eine ganz majestätische Miene!
Der Landrat:
Na, dann kann man ja endlich sozusagen die Krönung vollziehn!
(Er setzt Micheln die Zippelmütze auf, sodaß die Troddel ihm über die Nase herabbaumelt.)
Hoch lebe unser Michel!
Alle:
(während man ihm das Tischtuch wie einen Mantel umhängt)
Hoch! Hoch! Hoch!
Eckart
(ernst): Der Himmel erhalte ihn!
Der Rotbart:
Er mache ihm jede Bank zum Throne —
Die Kobolde:
Throne —
Eulenspiegel:
jede deutsche Zippelmütze zur Siegeskrone —
Kobolde:
Siegeskrone —
Eckart:
jedes deutsche Stück Leinwand zum Hermelin —
Kobolde:
Hermelin —
Der Rotbart:
jeder deutsche Baum sei ein Baldachin —
Kobolde:
Baldachin —
[S. 317]
Eulenspiegel
(während man Michel lang auf die Bank streckt und das Tischtuch über ihn breitet):
für den allerhöchsten, allerstärksten, allerlängsten, allergrößten
Die Bürgermeisterin
(hinter dem Bergrat her, der die halb lachende halb schluchzende Lise nach rechts beiseite führt):
Nein, Sie Wüstling, Sie sollen das arme Kind nicht trösten!
Der Landrat:
Pßßt!
Eulenspiegel:
und allerreichsten unter den Potentaten
Michel
(halb erwachend):
wie —?
Eulenspiegel:
still, Michel — mit und ohne Staaten.
Seht, hier ruht er —
Der Rotbart:
daheim im Weltgebrause; —
Eulenspiegel:
jetzt kann er selig —
Michel
(wie vorher): Lise —
Eulenspiegel:
ja, Michel —
Michel:
ich — will — nach Hause —
Eulenspiegel:
ja, Michel —
Eckart:
daheim im unendlichen Hafen —
Eulenspiegel:
zwischen Himmel und Erde und Hölle schlafen —
[S. 318]
Der Rotbart:
jenseits von euern Zeiten und Räumen —
Eulenspiegel
(mit wild phantastischer Geste):
und träumen —
Eckart
(ruhig, während der Vorhang sich schließt):
träumen — —
*
Eulenspiegel als Zwischenredner
(von links kommend, anfangs mit verhaltener Stimme):
Ssst —: er träumt! — Eine Menschenseele im Traum
ist ein schaurig Ding, ist ein Unding, ist verflochtner als ein Baum
in alle Wurzelwirren und Wipfelwehen aus Staub und aus Licht,
ist Feuer, Wasser, Luft, was sie will, und — ists nicht:
verschlafnes Tier, wacher Gott, urweltvoller Stern, hohler Ball,
allmächtig bis zur Ohnmacht, spielt sich auf als All.
Wahrlich: einen Menschen im Traum belauschen, das heißt
mitspielen mit einem höllisch lebenslustigen Geist.
Ich und wir andern längst verstorbenen Geistergestalten,
wir würden uns gern solcher spukhaften Tätigkeit enthalten —
(allmählich lauter)
aber wir müssen uns, ach, noch immer zum Dienst der Menschheit hergeben;
denn unser Herr, der Dichter, dieser Auchmensch, will davon leben.
Dieser Teufel! Nicht genug, daß wir wirklich leibhaftig erschienen,
[S. 319]
er läßt uns sogar noch als Hirngespinste nun dienen;
oh, wär ich ein Mensch, ich glaube, mir graute vor mir.
Aber da ich ganz Geist bin, und jetzt ein Doppelgeist schier,
so kann ich Sie nicht mit derlei Halbgottsgefühlen beglücken,
sondern drehe ihnen — den Gefühlen nämlich — im Geiste den Rücken.
(Er dreht sich mit hoch erhobenen Armen um und teilt mit beiden Händen den Vorhang.)

Dritter Aufzug

(Bild: Große Höhle aus Bergkristall in weiß-und-grüner Flackerbeleuchtung. Rechts und links durcheinandergetürmte Pfeiler. In der Mitte des Hintergrundes, auf einer phantastischen Pyramide, thront Frau Venus, ebenso vermummt wie Lise Lied; nur trägt sie lange weiße Glaßeehandschuhe, und ihr grünes Kleid ist aus funkelnder Seide, ihr schwarzer Schleier mit Diamanten besetzt. Zu Füßen des Throns, in Gesteinspalten, hocken schlafende Kobolde, wieder blaugrau mit Zippelmützen und weißen Bärten. Zu beiden Seiten des Throns zerklüftete Grotten, mit Schnüren aus Bruchkristallen verhängt, hinter denen ein rotgelb glühender Glanz bald aufwärts bald abwärts quillt und strudelt, sodaß sie wie feuriges Netzgeflecht aussehn; hin und wieder zieht rötlicher Rauch durch die Höhle.)
Eulenspiegel
(sofort, noch während der Vorhang sich öffnet, ins Knie sinkend):
Verzeiht, Göttin Venus: ich weiß zwar, Ihr glaubt es kaum:
aber wirklich, wir sind Beide jetzt nichts als Traum —
also entschuldigt den frechen Possenreißerstreich!
Frau Venus
(zögernd):
Wer dringt hier ein in mein heimlich Reich?
Eulenspiegel:
Nur ein armer Schalk namens Tyll, aber abgesandt
(er erhebt sich)
von Euerm mächtigsten Nachbarn im ganzen deutschen Land,
von des Kaiser Rotbarts verewigter Majestät,
der voll Unruh, Schönste, hinab in den Hörselberg späht,
denn auch ihn treibt des Michels Traumblick her.
Frau Venus:
So vermelde des hohen Herrn Begehr,
[S. 320]
der so mächtig ist, daß ein stiller schlaftrunkner Mann
seinen ewig wachen Willen verunruhen kann.
Eulenspiegel:
Oh, Frau Venus, Zaubrin, sehr gewaltig ist dein Bann,
aber nimm in Gnaden die zarte Gewissensfrage hin:
Traumschöpferin,
warst du niemals von deinen Geschöpfen gebannt?
Frau Venus:
O Schalk! —
Eulenspiegel:
So erfahre: des Michels Seele ist unauslöschlich entbrannt
von all und jeder Machtsehnsucht Himmels und der Erden,
heute Nacht soll sein Hauptwunsch entschieden werden.
Du hast eine Flamme in seinem Blut angefacht,
die hat all sein junges Hirn in Rausch und Aufruhr gebracht;
nun kennt er sich selbst kaum vor lauter hochfliegenden Brünsten.
Drum, erlauchte Göttin, dank deinen Zauberkünsten,
sind die andern unsterblichen Hauptpersonen,
die seit Alters in seiner Geisterwelt wohnen,
aus ihrer gottseligen Ruhe (klappt mit der Pritsche) jählings mitaufgeschreckt ——
und als der stärkste von seinen Schutzgeistern streckt
der Kyffhäuserherr die gepanzerte Faust dir entgegen:
Wenn du ebenso mächtig bist wie verwegen,
mögest du ehrlichen Wettstreit mit ihm pflegen
um des Michel Michaels wahres Seelenheil.
Desgleichen mit mir für mein bescheiden Teil;
du wirst es nicht weigern, erlauben wir uns zu hoffen.
Frau Venus:
Mein Reich steht allen Geistern, starken und schwachen, offen.
Eulenspiegel:
Ja, Gnädigste: offen wie ein Grab.
Und dein zauberkräftiger Wünschelstab
[S. 321]
glänzt empor über deine dunkeln Schleierfalten
wie ein Irrsternschweif nach zwei Seiten gespalten,
indessen die Weltküglein an den beiden Spitzen
gar nach jeglicher Windrichtung drehbar blitzen.
Ich seh’s, Vielgewandte, trotz unsern verhüllten Mienen;
denn auch ich verstehe, Herrin, zweeen Welten zu dienen.
Frau Venus:
So schwör ich bei diesem einen unlöslichen Ringe,
kraft dessen mein Szepter die zwiegespaltene Schwinge
der immer wieder sich verjüngenden Welt
in der Schwebe hält:
du nahst ungefährdet meinen vulkanischen Quellen.
Eulenspiegel:
Und meine Begleitung?
Frau Venus:
Ist gefeit wie du vor den feuerbrünstigen Wellen.
Eulenspiegel
(tritt dem Thron etwas näher und klappt mit der Pritsche):
Wohlan, edle Hexe! du siehst, wie stracks wir uns stellen.
(Zugleich sind der Rotbart von links und Eckart von rechts aus den Pfeilergängen getreten, Beide noch immer mit vermummten Gesichtern.)
Frau Venus
(auffahrend):
Ah, Schalk! du verkündetest mir der Wettkämpen zwei!
jetzt seid ihr drei? — (Wieder ruhig sich setzend:)
Nun, Eckart: du warst von jeher ein Schleichwegverfechter.
Eckart:
Ich war von jeher, Frau Venus, dein treuster Torwächter.
Ich tue nichts wider dich, als am Eingang des Hörselbergs warnen;
wer der Warnung trotzt, den magst du getrost umgarnen.
Eulenspiegel:
Und selbst für Göttinnen bleibt’s doch ein Akt der Huldigung immer,
[S. 322]
wenn sich drei Mannsleute mühn um ein Frauenzimmer.
Sieh da, du lächelst! dein ganzer Schleier lacht!
Frau Venus:
Vor Dir, Eulenspiegel, hat wohl mein Ernst keine Macht.
Und auch den Rotbart wird schwerlich ein trauerndes Weibsbild rühren.
Der Rotbart:
Hoh, Huldin, wir hoffen noch innigst Eure Trauer zu spüren,
wenn erst der Michel von uns Selbstbeherrschung annimmt.
Inzwischen freilich sind wir herzlich wenig gestimmt,
christliche Stufen zu Euerm heidnischen Thronsitz zu hobeln.
Eulenspiegel:
Also kurz und gut: ich schlage vor, sein Seelenheil auszuknobeln.
(Er holt den Würfelbecher aus der Tasche und schüttelt ihn.)
Bester Wurf: Alles Eins! —
(Er stülpt die Würfel auf einen Kristallblock.)
Hier —: dreimal der nackte Spatz!
Frau Venus:
In der Tat: ein unwiderleglicher Satz.
Gib her!
Eckart:
Halt, Hexe! leg erst den Zauberstab nieder!
Frau Venus:
Das versprach ich nie wem.
Eckart:
Dann, Schalk, nimm den Becher wieder!
Rasch! nimm ihn! rasch! —
Die Unholdin wirft dir Pasch auf Pasch;
so bliebe das Wettspiel in alle Ewigkeit gleich.
Frau Venus:
Ich hätt ihn heimzahlen können, den schnöden Gauklerstreich;
aber, Tyll, des Michels Seele gilt mir zu viel
[S. 323]
für ein Würfelspiel!
Ich sehe, Rotbart, zu meiner Freude: du nickst.
Der Rotbart:
Ich fühle, Feindin, wie ehrlich du um dich blickst.
Frau Venus:
So hört meinen rückhaltlosen Bescheid:
der Michel Michael selber löse im Traum unsern Streit!
Wenn du Herrscher in seinem dir zugeweihten Land,
du Wächter an deinem ihm geheiligten Stand,
du Landstreicher da aus vogelfreien Bezirken,
wenn ihr vermögt seiner Sehnsucht ein habhaftes Ziel zu erwirken,
das ihm wettmacht den einen einzigen unruhvollen Bann,
den meine Inbrunst, die verwunschne, ihm antun kann:
so sei er hinfort, in Zeit und Ewigkeit,
von mir befreit! —
Seid ihrs zufrieden?
Der Rotbart und Eulenspiegel:
Zufrieden! Zufrieden!
Eckart:
Nur unter der Sicherheit,
daß dein Szepter, solange der Streit dich drängt,
sein träumendes Haupt nicht berührt noch umkreist noch sonstwie lenkt.
Frau Venus:
Die Sicherheit geb ich.
Eckart:
Dann ruf ihn! die Wette hängt.
Frau Venus
(berührt die Kobolde mit dem Szepter):
Aufgewacht, Klopfgeister, aufgewacht!
der Wunschquell sprudelt; öffnet den Schacht!
Feuerfluß werde kristallene Flut!
[S. 324]
Erde, enthölle dein Himmelsblut!
verschlinge das Trübe, beschwinge das Reine!
Erscheine, Michael, erscheine! —
(Die Kobolde haben die Kristallschnurgeflechte der rechten Grotte inzwischen geöffnet und eine ferne langsame Tanzmusik ertönt. Aus rötlichem Qualm auftauchend erscheint ein Zug schwarzgekleideter Gestalten. Voran fünf Kaplane, im Gänsemarsch mit Polkaschritt. Dann je fünf Landräte und Bürgermeister, die den schlafenden Michel Michael auf seiner Bank einhertragen; er hat noch immer die Zippelmütze auf dem Kopf und ist mit dem Tischtuch an die Bank festgebunden, mit dickem Knoten auf der Brust, doch so, daß seine Arme frei sind. Hinterdrein fünf Pastoren, wieder im Polkaschritt. Jeder Kaplan, Landrat, Bürgermeister, Pastor ist den vier übrigen zum Verwechseln ähnlich, in den gleichen Kostümen und Masken wie früher.)
Chor der Landräte und Bürgermeister:
Hier naht er, hier naht er,
der Weltpotentater.
Chor der Kaplane und Pastoren:
Da liegt er im Wickel,
das Hochmutskarnickel.
Die Landräte und Bürgermeister:
Du Großmaul! du Saufsack! du Raufbold! du Strolch!
Die Kaplane und Pastoren:
Jetzt kommt die Vergeltung, du Sündenmolch!
Rache! —
(Der Zug macht ruckhaft in vier Kolonnen Halt und stellt die Bank in der Mitte der Höhle nieder, Michels Füße dem Venusthron zugekehrt; zugleich wird die Grotte wieder verhängt, sodaß die Tanzmusik verstummt, und die Kobolde eilen auf ihre Sitze zurück. Michel liegt immerfort regungslos.)
Frau Venus:
Erhebt ihn!
Die Landräte:
Äh —?
Der Rotbart:
Erhebt ihn!!!
Eulenspiegel:
Ja ja! hier pariert man aufs Wort!
Immer artig, werte Herrn! hübsch kusch und apport!
[S. 325]
(Halblaut:)
Held Michel, hier braucht dich blos das geheimste Lüstchen zu jucken,
und wir sind allesamt deine tiefst leibeignen Haiducken.
(Die Amtspersonen haben inzwischen, unter schreckhaften Bücklingen, die Bank mit Michel hochgekippt, sodaß sein ganzer Körper verdeckt steht; so dem Venusthron zugewandt, an die aufgerichtete Bank gebunden, bleibt er stehen, bis sich der Vorhang schließt, und nur ab und zu wird Arm oder Hand von ihm sichtbar.)
Der Rotbart:
Hier schützt dich mein Schwert, es ist allzeit unbestechlich.
Eckart:
Hier stützt dich mein Kreuz, es ist unzerbrechlich.
Eulenspiegel:
Hier nützt dir meine Pritsche, sie ist unüberwindlich;
und deine Schlafmütze, sie ist unergründlich.
Michel
(immer mit schlafbefangener Stimme):
Wo — bin — ich?
Frau Venus:
Im Reich deiner reinsten Kräfte.
Hier siehst du im Glanz kristallklarer Säulenschäfte
deine stärksten Schutzgeister tausendfältig sich spiegeln
und dir ihre innerste Strahlenfülle entriegeln.
Hier hast du für immer die Wahl zwischen ihnen und mir;
hier bist du Alleinherr. (Zu den Amtspersonen:) Kniet nieder, ihr!
Die Kaplane
(gehorchend):
Herr, erbarme!
Die Pastoren und Bürgermeister
(ebenso):
dich unser!
Die Landräte
(aufmuckend):
Himmelkreizrudiment!
Eulenspiegel
(sie einzeln rasch mit der Pritsche duckend):
Nieder! nieder! nieder! nieder! nieder! Blitzelement!
[S. 326]
Der Rotbart
(Michels Kopf mit dem Schwert berührend):
Ich, Michel, kröne dein Haupt mit dem herrlichsten Mut,
dem zu dir selbst; bewahre ihn gut!
Eckart
(desgleichen mit dem Kreuzstab):
Ich, Michael, mit der heiligsten Macht,
der über dich selbst; nimm sie wohl in Acht!
Eulenspiegel:
Ich verhalte mich selbstverständlich ergebenst stille,
denn die Hauptsache bleibt: es geschehe dein Wille!
(Ihm ins Ohr:)
Wenn du willst, ist der ganze Weltrummel nichts als ’ne Flause.
Michel:
Ich — will — nach Hause!
Der Rotbart:
Hier bist du’s!
Eckart:
Ewig!
Frau Venus:
Dies Haus kannst du nie verkaufen.
Michel Michael, bald ist die Zeit abgelaufen,
in der du den Raum der Geister heimlich erleuchtet siehst;
wenn du willst, daß dein innerstes Heim sich erschließt,
ich zeig dir’s!
Michel:
Wer — bist — du?
Frau Venus
(von feurigem Rauch verhüllt):
Ich weiß nicht mehr.
Wohl aus tiefem Süden kam ich einst her,
wohl aus höchstem Norden: aus allen Zonen,
wo Urvater Schmerz und Allmutter Wonne wohnen.
[S. 327]
Wohl der einsamen Glut seines Geistes bin ich entsprossen,
wohl vom willigen Feuer ihrer Seele durchflossen
in des Erdgrunds kreisenden Leib getropft,
aus dem nun mein Himmelsblut flammt und flackert und drängt und klopft,
aufbegehrlich durch deine, auch deine irdischen Adern hin —
Eckart:
Hüt dich, hüt dich, Michael, vor der Teufelin!
Die Kaplane
(sich bekreuzend): Teufelin!
Der Rotbart:
Schweigt, ihr Winsler!
Frau Venus:
Hab Dank! Ja, Gebieter, ich bin
nur die Stimme, die aus dir selber lacht,
wenn dein Mutwille hochlodert aus dem Kyffhäuserschacht.
Ich, Eckart, brauche des Michels Haupt nicht mit wirren
Machtsprüchen ewigen Heils zu kirren,
nicht wie du, Freund Tyll, mit gleißenden Freiheitsblicken
sein Hirn bestricken:
ich rühre nur leise an sein Herz —
(sie senkt ihren Stab auf Michels Brust)
seht, wie er aufzuckt! — Sag, Michel: Ist’s Schmerz?
Michel:
Schmerz —
Frau Venus:
Ist’s Wonne?
Michel:
Wonne —
Frau Venus:
Ist’s Heimweh nach dem Licht?
Michel:
Licht!
[S. 328]
Frau Venus
(ihren Stab wieder hebend):
Fühlst du nun des Blutes selige Unruhpflicht?
Oder willst du leben — sprich — wie diese Machtstreber hier,
ein Ruhestifter voll furchtsamer Gier?
Michel
(die Arme breitend):
O Göttin! —
Die Pastoren:
Gnade!
Eulenspiegel
(mit der Pritsche klappend): Ruhe!
Die Bürgermeister
(während sich die Kaplane bekreuzen):
Gnade, Göttin!
Eulenspiegel:
Ruhe!!!
Die Landräte:
Göttlichste Göttin!!
Frau Venus:
Ihr??
Ihr meint eine Andre! Ihr meint die teuflische Fratze,
die jene Diener des Heils da (auf die Kaplane weisend) mit plump geiler Tatze
an die Wand euch malten; drum sitz ich im Trauerschleier.
Aber auch euch treibt heimlich — wißt es! — mein mißgunstfreier
Hauch, eure Ängste auszurasen
und euren unreinen Atem irgendwie von euch zu blasen;
drum habt ihr den Erdball zum Höllenkessel gemacht.
(Die Kobolde mit dem Szepter streifend:)
Auf, Klopfgeister! öffnet den Wetterschacht,
durch den der Qualm ihrer Süchte zur Läuterung niederquillt!
Jetzt, ihr Herrn, beseht, beseht euch das Ebenbild
[S. 329]
eurer knechtischen Notdurft und krampfhaften Mühseligkeit,
eurer zielbewußten Wohlfahrtsbeflissenheit,
eurer mammonstollen Stoffwechselpracherei,
eurer jammervollen Naturgesetzschacherei,
des zivilisierten Barbaren würdigste Konkubine:
da steht eure Göttin: die Maschine! —
(Die Kobolde haben währenddem das kristallene Flechtwerk der linken Grotte geöffnet, und schwarzgrauer Dampf ist herausgequollen. Nun wird ein feuriges Ofenloch sichtbar, neben dem der rote Karl in seiner militärischen Maske zwischen maskierten Bergleuten und rußschwarzen Heizern hockt, und darüber eine Schwungradmaschine; zugleich hört man wieder das dumpfe Kolbengestampf, aber weniger laut als früher.)
Die Landräte
(sich die Ohren zuhaltend):
Himmelkreizru —
Der rote Karl
(tritt drohend vor): man stopp!
Chor der Heizer und Bergleute
(dumpf): man stopp, man stopp, man stopp!
Der rote Karl:
Jetzt kommt die Vergeltung! los, Genossen! hopp hopp!
Rache!
Die Heizer und Bergleute
(Schaufeln und Spitzhacken schwingend, bilden mit hoppsenden Tanzschritten einen Halbkreis um die Amtspersonen, die sich mit flehenden Geberden knierutschend um Michel zusammendrängen):
Wir sind nicht mehr Menschen; wir dienen, wir dienen,
lebend’ge Maschinen, den toten Maschinen.
Jetzt wolln wir mal herrschen, mit Gewalt, mit Gewalt,
wir armen Teufel in Menschengestalt.
Rache!
Die Kaplane und Landräte:
Wir flehn ehrerbietigst um Gnade, um Gnade.
Die Pastoren und Bürgermeister:
Es wäre doch schade, jammerschade, jammerschade
Die Kaplane und Landräte:
um unsre christlich-germanische Staatskultur, Staatskultur.
[S. 330]
Die Pastoren und Bürgermeister:
O Michel, o Michel, besinne dich nur! —
Eulenspiegel
(klopft laut mit dem Finger an die Rückseite von Michels Bank):
Michel, hörst du??
Michel:
Ich höre.
Der Rotbart:
So verschließ dir einstweilen die Ohren!
Eckart:
Und verwechsle nicht Uns mit diesen vom Zeitgeist besessenen Toren!
Frau Venus:
Nein, hör sie nur betteln, die dich mit städtischer Hoffahrt benebeln,
um hinterrücks deinen bäurischen Waghals zu knebeln;
seht, ihr Kriecher, jetzt schlägt sie über die Schnur,
die tückische Glut eurer Unnatur!
(Eine grelle Flamme pufft aus dem Ofenloch; die Amtspersonen fahren entsetzt in die Höhe und taumeln geblendet durcheinander.)
Sie macht alles so hell,
sie macht alles so schnell,
daß eure lichtscheuen Sinne sich dran verbrennen,
bis ihr nichts mehr könnt als blindwütig hasten und rennen:
nun, ich will euch erlösen, ihr armen Irrlichtschürer.
Los, ihr Hetzteufel alle, packt eure Verführer!
Die Heizer und Bergleute
(hinter den flüchtenden Amtspersonen her):
Hetz hetz, ins Feuer!
Die Kaplane und Landräte:
Erbarmen, Erbarmen!
Die Heizer und Bergleute:
Ihr Fettungeheuer!
Die Pastoren und Bürgermeister:
Wir Armen, wir Armen!
[S. 331]
Die Heizer und Bergleute
(nehmen einen Landrat und einen Kaplan am Kragen, während die übrigen in den Pfeilergängen verschwinden):
Ihr Schweinepriester, ihr Rindviehmagnaten,
jetzt singt Halleluja, jetzt werdt ihr gebraten!
marsch!
Der Kaplan:
O Sankt Michael, hilf uns!
Der Landrat:
Inhibieren Sie diesen Radau!
Der Kaplan:
O Sankt Eckart, bitt für uns bei der gnädigen Frau!
Eckart:
Fahr zur Hölle, Memme!
Der rote Karl:
Höllaluja! marsch, marsch!
Die Heizer:
Ins Feuer!
Der Kaplan
(wird ins Ofenloch geschoben): Au! au!! —
Der Landrat:
Sackerment — (plötzlich sich losreißend) Herr Corpsbruder!!!
Der Bergrat
(kommt sofort durch das Flechtwerk der rechten Grotte gehopst, maskiert wie früher):
— wünschen? —
Der Landrat
(während er wieder gepackt wird): Na Hilfe, kreuzsackerment!
Der Bergrat
(nach der linken Grotte hinübergaloppierend):
Bedaure! bin beschäftigt! im Dienst der Herrin! es brennt!
Die Bürgermeisterin
(kommt plötzlich aus der rechten Grotte ihm nachgaloppiert):
Ach bitte, bitte, bitte! Na warte, ich werd dich schon kriegen!
[S. 332]
Der rote Karl:
Jawollja! marsch marsch! immer ran, verehrliche Fliegen!
Die Heizer
(den Bergrat gleichfalls ins Feuer schiebend und die Bürgermeisterin hinterdrein):
Immer rin, immer rin, immer rin ins Vergniegen! —
Der rote Karl
(zum Landrat):
Marsch marsch! immer schneidig!
Der Landrat:
Na, wenn’s sein muß, dann los!
Platz da — (er stürzt sich selbst in das Ofenloch) —
Der rote Karl:
Allerhand Achtung!
Die Heizer und Bergleute:
So’n Schubbiak! so’n Gernegroß!
Der rote Karl:
Still, Genossen!
Die Bergleute:
Ohoh!
Der rote Karl:
Ich sag euch: der Kerl hatte Schneid für drei!
Die drei Heizer:
Hoh!!!
Eulenspiegel
(ihm mit der Pritsche auf die Schulter klopfend):
Nimm dir’n Beispiel dran, Roter! jetzt kommst Du an die Reih!
Der rote Karl:
Wa —?
Eulenspiegel:
Zu dienen, Herr Volksbefreier! jetzt ist man so frei.
Der rote Karl:
Zu Hilfe, Genossen!
Die Heizer und Bergleute:
Hoh! ohoh!
[S. 333]
Eulenspiegel:
Die Zeit ist vorbei!
Der Oberheizer:
Vorbei, du Schreihals! jetzt wird nicht mehr schwadroniert.
Der rote Karl:
Aber Kameraden!
Ein Bergmann:
Jawollja! hast uns lange genug kommandiert!
Marsch ins Feuer!
Die ganze Bande:
Marsch marsch, du Freiheitsverräter!
du Rädelsführer! du Erzschuft! du Hauptattentäter!
Der rote Karl:
Zu Hilfe, Michel!
Eulenspiegel:
Der läßt sich erst recht nicht drillen.
Der Rotbart
(mit besonders wuchtigem Tonfall):
Hier ist Jeder nur Bruchstück von Seinem Willen.
Frau Venus:
Und sein Wille ist, ihr Schächer: ich soll euch ein bißchen läutern!
euch Alle!
Eulenspiegel:
Nachher könnt ihr säuberlich weitermeutern —
Eckart:
und einer den andern mit reinem Gewissen regieren —
Eulenspiegel:
und euch gegenseitig immer reiner kuli-kultivieren.
Was meinst Du, Michel?
Michel
(die Hand nach dem Feuerloch hebend):
Marsch, marsch!
[S. 334]
Frau Venus:
Hinein, ihr Teufel, hinweg!
Klopfgeister, schließt den Sündenversteck!
Erde, enthölle dein Himmelsblut!
Feuerfluß werde kristallene Flut,
beschwinge die Zeiten, durchdringe die Räume,
bringe Klarheit ins Reich der Träume!
(Der rote Karl wird inzwischen samt seinen Genossen von den Kobolden an das Ofenloch gedrängt, und das Flechtwerk der Grotte schließt sich hinter ihnen, auch die Kobolde mitverbergend; zugleich verstummt das Geräusch der Maschine.)
Sag, Kyffhäuserherr, ist nun zur Genüge gestritten?
Der Rotbart:
Frag den Michel, edle Feindin! du kennst die Geistersitten.
Frau Venus:
Ja, du Herrlicher du, werd’s endlich inne:
ich bin nur den Armsünderseelen die Teufelinne.
Aus dem Samen, den ich Verschwenderin streue,
keimt alles Künftige, alles Junge und Neue,
jeder Traum von Schönheit und Kühnheit, von Freude und Ruhm,
jeder Glaube an wahrhaftes Heiligtum.
Wahrlich, Eckart, unser Wettstreit bleibt ewig gleich;
denn dein wie mein ist das Erd- wie das Himmelreich.
Also, Eulenspiegel, schür sie nur immer fort,
die Hölle der Freiheit zwischen hier und dort!
und sorge dafür, daß deine Schelle
selbst in die verschlafensten Ohren gelle!
Eulenspiegel:
Zu Befehl, gnädige Frau!
(Er hockt sich ans Fußende von Michels Bank.)
Frau Venus:
Ich nehm dich beim Wort auf der Stelle.
Sprich, Michel: glaubst du an unsre Schutz- und Trutz-Einigkeit?
und willst du ihr treu sein, treu sein in Lust und Leid?
[S. 335]
Michel:
Lust — und — Leid!
Frau Venus:
Und willst du mir, was dein Mund so im Traum verspricht,
auch beschwören von Augen- zu Augenlicht?
Michel:
Augenlicht!
Frau Venus:
O, erkenne mich erst, du! — Weißt du nicht mehr:
Fremd aus fernem Süden wohl kam ich einst her,
so fremd, daß ein Schreck dein nordisches Blut durchlief,
wie ein Bergquell wohl aus der Erde tief,
eines Abends im Wald, war kaum sechs Jahr,
einen Kranz wilde Efeuranken im Haar —
(sie lüftet lächelnd ihren Schleier)
und mit Augen, wie der Kuckuk fürwahr —
Michel
(jäh emporgreifend):
Lise!! —
Frau Venus:
Ja, so saß ich unter dem Felsenhang
und sang —
Michel:
und sang — —
Frau Venus
(nickt und verhüllt sich wieder):
Und nun siehst du mich hier, wie du wünschtest, in seidnen Kleidern sitzen,
mit Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen;
und gilt dir doch alldas in Wahrheit nicht einen Niet
gegen ein einziges kleines heimatliches Lied
von Herzensgrund
aus meinem Mund —
[S. 336]
Michel:
deinem Mund —
Frau Venus
(sich erhebend):
Hört’s, Geister, hört’s! schlingt den Zauberreigen!
(Die Kobolde eilen von rechts wie links durch das Flechtwerk aus den Grotten herbei; eine leise Walzermusik beginnt von fern.)
Raunt mein Gebet ihm ein in sein innigstes Eigen:
in Fleisch und Blut,
in Mark und Mut:  
Körperrausch werde Seelenglut!
(Sie senkt ihr Szepter wieder auf Michels Brust, während der Rotbart mit dem Schwert und Eckart mit dem Kreuzstab sein Haupt berühren; zugleich beginnen die Kobolde ringelreih um die Bank zu schreiten, während Eulenspiegel am Fußende kauern bleibt.)
Frau Venus:
Michel Michael! Mehr kann kein menschlicher Geist erwerben
Die Kobolde
(gedämpft): Geist erwerben
Frau Venus:
als ein Haus, das er heiligt für seine Erben!
Die Kobolde
(wie vorher): seine Erben!
Frau Venus:
als einen Hof, wo er spielt mit Weib und Kind!
Die Kobolde:
Weib und Kind!
Eckart:
als einen Herd, an dem er Frieden findt!
Die Kobolde:
Frieden findt!
Der Rotbart:
eine Schwelle zum Himmel, wenn er den Kampf bestand
für seine Muttererde, sein Vaterland!
[S. 337]
Die Kobolde
(allmählich lauter):
seine Muttererde, sein Vaterland.
Eulenspiegel
(alle zehn Finger hochspreizend):
Dieser Traum der Menschheit, Michel, hat vielerlei Enden!
Die Kobolde:
vielerlei Enden!
Frau Venus:
laß dich nicht von Träumen, die eitel sind, blenden!
Die Kobolde
(plötzlich niederknieend, Hände vors Gesicht): blenden!
(Die ferne Tanzmusik hört auf.)
Eckart:
Bei dem Gott, dem der Geist deiner Väter entsprang —
Der Rotbart:
bei deines Namens hellem Erzengelklang —
Eulenspiegel
(den Schellenzipfel gen Himmel hebend, doch noch nicht klingelnd):
bei der dunkeln Macht, über die ich weine und lache —
Frau Venus:
erwache, Michael —
Die Kobolde und Eulenspiegel
(aufspringend, Zippelmützen und Schellenzipfel schwenkend,
während der Vorhang sich schließt): erwache! — —
*
Eulenspiegel als Zwischenredner
(aus dem Mittelspalt des Vorhangs tretend, mit verlegenem Achselzucken):
Er schläft immer noch. Was tun? — (Aufhorchend) Jetzt schnarcht er sogar.
Das ist höchst bedenklich; denn wir laufen alle miteinander Gefahr,
[S. 338]
noch geisterhafter von ihm geträumt zu werden,
und das könnte doch vielleicht unsern leiblichen Zustand gefährden.
Ich würde ihn wecken; aber wer weiß, was passiert,
wenn er unversehens seine Zippelmütze verliert
und ernstlich nachdenkt über dies nächtliche Abenteuer.
Auch unserm Herrn Dichter übrigens scheint das durchaus nicht geheuer;
ich glaube, er fragt sich lieber schon garnicht mehr,
wer jetzt wirklich Herr ist, wir oder er.
(Hinterm Vorhang beginnt leise Tanzmusik.)
Aha! da läßt er gleich wieder den Fidelbogen schwingen;
vermutlich, um den Gang der Handlung besser in Trab zu bringen.
Seit wir dem Michel klarmachen mußten, was er im Grunde will,
steht dem Herrn sein Wille ebenso gründlich still
vor den unberechenbaren Folgen dieser Geisterstunde.
Ich hör ihn bereits mit sperrangelweitem Munde
um unsern Beistand gegen seinen schnarchenden Helden flehn;
ja, so dreht sich der Weltlauf im Handumdrehn.
Wenn nun der Michel träumen will bis zum Jüngsten Tage,
was wird dann aus der ganzen tatsächlichen Lage?
Sein Haus fällt der Grubengesellschaft in die Hände,
und seine Glücksfee nimmt womöglich als alte Jungfer ein Ende;
ich muß doch mal nachsehn, was sich da machen läßt.
(Er steckt einen Augenblick den Kopf in den Vorhangspalt.)
Halt! er schnarcht nicht mehr. Er liegt bombenfest;
nicht einmal seine Krone ist verschoben,
und man hat ihn inzwischen sogar auf den Thron gehoben.
Da heißt’s doppelt Vorsicht. Ich warne nochmals Jeden vor Schaden;
denn Sie wissen, er ist reichlich mit allerlei Sprengstoff geladen,
[S. 339]
und wie leicht kann der plötzlich ganz von selber loskrachen!
Also werd ich ihm mal Platz für den Explosionsfall machen.
(Er schiebt den Vorhang nach rechts beiseite.)

Vierter Aufzug

(Bild: wie beim zweiten Aufzug. Doch ist jetzt die Bank mit dem angebundenen Michel quer auf zwei zusammengerückte Tische gesetzt, die rechts unter dem Laubengang stehn; und überhaupt sieht alles ziemlich verrattert aus. Hinter Michel, auf Stühlen zu ebner Erde, sitzen der Rotbart und Eckart, ebenfalls schlafend; und an dem langen Tisch links schläft der schwarze Karl, mit einer leeren Flasche im Arm. Vorn, unten vor Michel, sitzt und wacht Lise Lied, noch immer als verschleierte Glücksfee; neben ihr steht der maskierte Bergrat, mit zwei Sektgläsern in der Hand. Die leise Musik im Saal dauert fort; man sieht, es wird eine Cotillontour getanzt, und ab und zu huscht ein Pärchen heraus in die Büsche.)

Eulenspiegel
(prallt mit dem Vorhang an den Bergrat, sodaß dieser die Sektgläser fallen läßt):
Oh Pardon, Herr Rat!
Der Bergrat:
O zum Teufel, Sie Tr —
Eulenspiegel:
Tr —?
Der Bergrat:
Sie — Traumspuk mein’ ich!
Eulenspiegel:
Ah, danke höflichst, Sie Rr —
Sie Raumspuk mein’ich — und werde sofort das Glas neu erscheinen lassen;
unterdeß dürften Scherben nicht schlecht zu dem Fräulein Glücksfee passen.
Der Bergrat:
Also zwei Gläser, bitte.
Lise Lied:
Nein, danke! Nichts mehr! nicht einen Tropfen!
(Halblaut zum Bergrat, etwas kokett):
Ach, ich fühle mein Herz schon rasch genug klopfen.
[S. 340]
Eulenspiegel:
Also eins, Herr Glücksrat?
Der Bergrat:
Nein, danke gleichfalls! danke!
Eulenspiegel:
Also keins. Glückauf, Spuk! (Ab nach dem Saal.)
Der Bergrat
(Lisens Schleier fassend): O diese schwarze Schranke,
wann wird sie endlich von dem klopfenden Herzchen weichen?!
O wüßt ich den Preis, spröde Fee, für dies Glück ohnegleichen!
Lise:
Nicht so stürmisch, Herr Ritter; Ihr werdet sogleich erschrecken.
Ihr habt den Preis nämlich in der Tasche stecken.
Ja ja! Und er ist nur ein Blatt Papier.
Der Bergrat
(seine Brieftasche herauslangend):
Aber Herz, natürlich! Wie hoch soll der Check sein? Hier!
Lise:
Check? was ist das? — Ach so! Hahahah! Nein, danke recht sehr;
ich meinte — (zupft an dem Vertragspapier; — plötzlich schreckhaft) ogott! er hat sich gerührt!
Der Bergrat
(den Vertrag rasch wieder einsteckend): Was! Wer!
Lise:
Na, Er! Wenn er aufwacht! Ach bitte, Herr Bergrat: schnell:
bringen Sie mich heim!
Der Bergrat:
Ja natürlich, Schatz! In welches Hotel?
Lise:
Hotel? Nein, nach Hause!
Der Bergrat:
Hause?
[S. 341]
Lise:
Ja bitte! geschwind!
Der Bergrat:
Hm — wer bist du denn?
Lise:
Ach, Herr Rat — blos dem Michel sein Pflegekind.
(Die Tanzmusik setzt ab.)
Der Bergrat:
Ach so —! Hahahah! — Süßer Racker!
Lise:
Er darf mich hier nicht finden!
Will ihn blos noch rasch von der Bank losbinden.
(Sie tut es.)
Eulenspiegel
(erscheint im Hintergrund mit der noch immer maskierten Bürgermeisterin):
Bitte dort, schöne Frau; Sie sehn, man will schon verschwinden.
Der Bergrat
(Lisens Arm nehmend):
Also los!
Die Bürgermeisterin
(nach vorn eilend, während Eulenspiegel zurück in den Saal geht):
Ah, monsieur, Sie treiben’s ja rein schon zum Skandal!
Der Bergrat:
Oui, madame! drum verlass ich auch das Lokal.
Ihr Diener!
Lise:
Empfehl mich, Madam!
Die Bürgermeisterin
(während die Beiden nach rechts verschwinden):
Sie Dirne! Sie freches Stück!
O, meine Nerven! — O Theodor, komm zurück!!! —
(Sie ist dabei auf den Stuhl gesunken, auf dem vorher Lise gesessen hat. Die Tanzmusik setzt wieder ein.)
[S. 342]
Eulenspiegel
(erscheint mit dem etwas schwankenden Bürgermeister):
Bitte dort, Herr Bürgermeister — (entfernt sich wieder) —
Der Bürgermeister
(gleichfalls noch immer maskiert, mit einigen Cotillon-Orden am Domino):
Aber Wally, was sollen die Leute denken!
so mitten aus dem Cotillon abzuschwenken!
ich bitt dich!
Die Bürgermeisterin
(schluchzend): Ach, Männe!
Der Bürgermeister:
Ach, laß das Getu!
Die Bürgermeisterin:
Was?! — (Kreischend:) Pfui, du Flaps! du elender Fatzke du!
Geh!!!
Der Bürgermeister:
Aber Frauchen!
Die Bürgermeisterin:
Geh, sag ich! oder ich schrei!!!
Der Bürgermeister:
Um Gottes willen — (er schlägt sich nach rechts in die Büsche) —
Die Bürgermeisterin
(schluchzend): So’n Stiesel! Und riecht noch nach Bier dabei! —
Eulenspiegel
(erscheint im Hintergrund mit dem Kaplan):
Bitte dort, Ehrwürden — (dann wieder ab in den Saal) —
Der Kaplan
(auch schon ein bißchen schwankend, zur Bürgermeisterin):
Ei, teuerstes Beichtkind, ei:
so vereinsamt inmitten der Fröhlichkeit?
(Er nimmt einen Stuhl und setzt sich dicht neben sie.)
Die Bürgermeisterin:
Ach, Ehrwürden, es gibt soviel Herzeleid!
[S. 343]
Der Kaplan
(ihre Hand nehmend):
Ei, ei —
Die Bürgermeisterin:
O fühlen Sie, wie ich zittre und bebe —
(sie drückt seine Hand an ihren Busen, während Michel oben hinter ihnen erwacht und unbemerkt sich allmählich auf seiner Bank zurechtsetzt)
Ach —
Der Kaplan:
Ach —
Die Bürgermeisterin:
O hätt ich etwas, wofür ich lebe!
mir ist manchmal so schwach, so unbeschreiblich schwach!
Der Kaplan:
Ja, ich fühl es —
Die Bürgermeisterin:
Ach, wie das wohltut — ach —
wie das wonnig klang, als Sie sagten: Ei, ei —
Der Kaplan
(weiterfühlend):
Ei, ei —
Die Bürgermeisterin:
Ach, mir wird auf einmal so anders, so frei!
wie das himmlisch ist, so getröstet zu werden!
Der Kaplan:
Ja, da fühlt man das Paradies auf Erden —
Die Bürgermeisterin:
Ach — wenn ich auch etwas abgehärmt scheine —
Der Kaplan:
O — das sind ja gottgesegnete Beine —
Eulenspiegel
(erscheint im Hintergrund mit dem Pastor):
Bitte dort, Herr Pastor —
[S. 344]
Michel
(breit von oben herab zu dem Pärchen):
Ihr Schweine —
Die Bürgermeisterin:
Huch — (läuft nach rechts davon) —
Der Kaplan
(ruhig aufstehend):
Was! Er Säufer erfrecht sich, hier fromme Gespräche zu stören?
Michel
(über die Stühle vom Tisch niedersteigend):
Platz da, Pfaff!
Der Rotbart und Eckart
(von Eulenspiegel wachgemacht, treten aus dem Laubengang):
Platz! Platz!
Der Kaplan
(vor Michel zurückprallend): Ah! Er soll von mir hören!
Wart, Bursch! (Ab in den Saal mit dem Pastor zusammen, der im Hintergrund gewartet hat.)
Eulenspiegel:
Nun, hehrer Helde? zurück aus dem Geisterland?
wie steht’s?
Michel
(ganz mit sich beschäftigt, schlägt nach der Troddel der Zippelmütze):
Verdammtes Gebammel! (und reißt sie sich vom Kopf.)
Eulenspiegel:
O aber! Solch Ehrenpfand,
das schlägt man doch nicht!
Michel
(die Mütze anstarrend): Was ist das? was soll das? — Hee:
wer tat das, Schwarzer?!
Der schwarze Karl
(von Michel gerüttelt): Hilfe! mein Portepee!
Josef-Maria — (ist aufstehend über seinen Degen gestolpert, fällt unter den Tisch und schläft weiter) —
[S. 345]
Michel:
Viehklumpen! — Und Ich?? — O Vieh, Vieh, Vieh!!!
(Die Mütze zerfetzend und zu Boden schleudernd:)
Schandlappen verfluchter! da lieg, du Infamie!
O, ich Narr! ich Stadtnarr!!! (Er faßt seinen Kopf mit beiden Händen;
die Tanzmusik setzt wieder ab) Halt, Michel, halt!
besinn dich, Mensch! — (Er blickt scheu nach dem Rotbart und Eckart hinüber, tastet an seiner Brust herum, holt das Vertragspapier aus der Tasche, entfaltet es, starrt es kopfschüttelnd an.)
Eulenspiegel
(nimmt unterdessen Eckart beiseite):
Excellenz —
(und da dieser ihm rasch den Mund zuhält)
ah, Pardon — aber gehn wir nicht bald?
wir könnten leicht den rechten Moment verpassen.
Der Rotbart
(ist zu ihnen getreten):
Nein, wir dürfen den Mann nicht in seinem Zorn verlassen.
Eulenspiegel:
Wie’s beliebt, gnädiger Herr — —
Michel:
Wo ist er? Er soll mir heraus!
Der Rotbart:
Wer, Michel, wer?!
Michel:
Dem ich hier mein Haus
vorhin verschrieb ohne Sinn und Verstand!
(Er zerknautscht das Papier, will es wegwerfen, hält plötzlich inne und steckt’s in die Brusttasche.)
Eulenspiegel:
Der, Herr Vetter, ist leider inzwischen kurzerhand
mit deiner Glücksfee durchgebrannt.
(Die Tanzmusik setzt wieder ein.)
[S. 346]
Michel
(nimmt seinen Hut und Stock von dem Tisch unter der Bank):
Ihr Herren! Ich bin nur ein Mann in geringem Kleid
und mit Ehrfurcht im Leibe; aber was ihr auch seid,
ich schätz mich zu wert, euern Schabernack einzustecken!
Ich bin kein Hanswurst für naseweise Gecken,
und im Wirtshaus ist jedermann nichts als Zechkumpan!
(Auf die zerrissene Mütze deutend:)
Wer hat mir den Schimpf da angetan?!
Eulenspiegel:
Da mußt du den dort fragen, Freund Grobian.
(Er zeigt nach hinten, wo eben der maskierte Landrat erscheint, ganz mit Cotillon-Orden bepflastert, begleitet vom Kaplan und vom Pastor, alle drei den Hut auf dem Kopf und nicht mehr vollkommen fest auf den Beinen.)
Michel
(sich gleichfalls den Hut aufstülpend):
Ahh, Herr!
Der Landrat
(sich mit dem Taschentuch fächelnd):
Ä —: Ah —? was Ah?!
Michel:
Ich fordre Aufklärung, Herr!
Der Landrat:
Pahahäh! Ist ja gottvoll! — Na also, Sie Aufklärererr:
erst mal Hut ab, wenn Sie hier um was bitten!
Michel:
Mit Verlaub: mein Hut kehrt sich ganz nach Anderleuts Sitten!
Eulenspiegel
(mit Fistelton): ja Sitten!
Der Rotbart und Eckart
(tief und schwer): Sitten!
Der Landrat:
Himmelkreiz, Ruhe! — Das ist ja -äh- unerhört!
Der Kaplan und der Pastor:
Unerhört! Unerhört!
[S. 347]
Der Landrat:
Er besoffner Flegel, merk er sich: Wenn er das Fest weiterstört
Michel
(den Hut kurz lüftend):
Um Verzeihung, Herr Landrat: Wer ist hier besoffen?
Ich für mein Teil hab meinen Rausch ausgeschloffen.
Der Landrat
(immer heftiger fächelnd):
Ruhe!!!
Michel
(wie vorher): Sehr gern, Herr Landrat. Nur bitt ich noch diese Nacht
um Antwort: Wer hat mich besoffen gemacht?!
Und im Übrigen bitte: hier leg ich hin,
was ich etwa irgendwem dafür schuldig bin!
(Er langt eine Handvoll Geld aus der Hosentasche und wirft sie dem Landrat vor die Füße.)
Der Landrat
(etwas zurückweichend):
Aber das ist ja ein ganz -ä- ganz unglaubliches Vieh!
Der Kaplan:
Ja, ein Vieh!
Michel:
Ahh!!! (hebt in heller Wut seinen Stock.)
Der Rotbart und Eckart:
Halt, Michel! Halt!
Michel
(bezwingt sich): Ja, wahrhaftig: für die,
die Biester da, ist mein Stock zu gut.
Aber eh ich ihn heimtrag, ihr Kröten-und-Unkenbrut,
soll euch doch mal erst, und müßt ich den Hals drum wagen,
eine Menschenstimme ans Trommelfell schlagen!
(Der Landrat holt Notizbuch und Bleistift heraus.)
Ja, notieren Sie’s nur! ich stell’s gerne auch noch unter Eid!
[S. 348]
O, mit welchem Brustkorb voll Feiertagsgläubigkeit
kam ich heut auf dies Fest, dies Volksfest, her in die Stadt!
Wie hatt ich mein einsames altes Waldnest satt!
wie sah ich die Welt hier von neuen Lichtern leuchten,
die mir alles Leben weiter und größer zu entfalten deuchten!
(halb zum Rotbart und Eckart hingewendet:)
wie war ich willens — die Herren da sind mir Zeugen —
jedem überlegnen Geist mich mit Kopf und Kragen zu beugen!
wie glaubt ich, daß hier, wo Männer zum Wahlkampf rüsten,
die rechten, aufrechten Vorbilder ragen müßten,
einen Kerl wie mich zu vornehmer Art anzuleiten!
Und was fand ich? (Zornschluchzend:) Lauter Gemeinheiten!
Eckart
(dumpf): Gemeinheiten.
Eulenspiegel:
Na heul nicht, Michel!
Der Rotbart:
hast höhere Obrigkeiten!
Der Landrat:
Was?! Schwerebrett ja, was unterstehn Sie sich!
Ich verbitt mir, meine Herrn da — wer sind Sie eigentlich?!
wie heißen Sie?! (Inzwischen hat sich im Hintergrund ein Haufen maskierter Leute versammelt, darunter das Bürgermeisterpaar Arm in Arm, und ein lärmender Wirrwarr drängt gegen den Rücken des Landrats.)
Drei Bengelstimmen
(plärren aus dem Gedränge):
(weinerlich) Fritze! (dreist) Peter Paul! (ruppig) Ludewich! —
Der Landrat:
Himmelkreizrudiment, Herr Kaplan, da soll man nicht fluchen?!
(Drei Kobolde kommen plötzlich zum Vorschein, der erste ohne Mütze und mit flennender Miene.)
Michel (für sich):
Träum ich?
[S. 349]
Der Landrat:
Verflixte Bengels, was habt ihr hier noch zu suchen!
Ehrwürden hat euch doch extra vorhin zu Bett gejagt!
Der Pastor:
Ich auch, Herr Landrat!
Erster Kobold
(weinerlich): Ich will meine Mütze!
Der Landrat:
Waas?
Zweiter und dritter Kobold:
Mütze!
Erster:
Ja —! Mutter hat gesagt:
Fritze, hat sie gesagt —
Zweiter und dritter:
Dusselfritze!
Erster
(weinerlich): Dusselfritze —
Zweiter:
erst gehst du und holst deine Zippelmütze!
Erster:
Zippelmütze —
Dritter:
Da liegt sie!
Der Landrat
(verlegen sich wegdrehend): Ä — bitte, Herr Bürgermeister!
(Er nimmt ihn beiseite, gestikuliert mit ihm.)
Erster Kobold
(hat die Mütze vom Boden genommen):
Kaputt — (und läßt sie wieder fallen) —
Michel:
Na heul nicht, Fritze. Kuckt, kleine Geister,
was hier liegt!
[S. 350]
Die Kobolde:
Geld! richt’ges Geld!
Michel:
und’n ganzer Haufen!
Da grappscht! da könnt ihr zehn neue für kaufen.
(Während sie aufsammeln)
Und sagt eurer Mutter: der deutsche Michel läßt grüßen,
und die alte Schlafmütz, die hat er heut Nacht zerrissen.
So; nu geht zu Bette!
Erster Kobold:
Dank schön.
Zweiter:
Hurrra!
Dritter:
der deutsche Michel soll leben!
Erster und zweiter:
leben! leben!
Eulenspiegel
(während die Kobolde verschwinden):
So, Herr Vetter; nun könnten wir uns auch wohl ins Nest begeben!
(Die Tanzmusik macht wieder Pause.)
Michel:
Wir? — Ich hab meine Rechnung hier noch nicht klapp!
Der Landrat:
Ist geschenkt! Er kann jetzt abschwirren. Ab!
Man kennt ihn!
Michel:
Man soll ihn noch mehr kennen lernen!
Der Pastor:
Ein Diener des Friedens rät Ihnen, sich zu entfernen,
Herr Michael. Wahrlich, Sie mißbrauchen
[S. 351]
Der Landrat:
Schon gut, Herr Pastor; den muß man anders anhauchen.
Marsch nach Hause, Bursche! (Michel zuckt auf.)
Und sollt er sich weiter erfrechen,
dann — (er gibt dem Bürgermeister ein Zeichen) —
Der Bürgermeister:
Sofort, Herr Landrat! (geht eilends ab.)
Michel
(den Hut lüftend):
Herr Pastor, ich will den Herrn Bergrat sprechen;
wo ist er?
Der Landrat:
Er hat hier garnichts zu wollen!
Michel:
Wo ist er?!
Der Landrat
(zurückweichend, etwas torkelnd):
Kreuzschwerebrettnochmal, er soll sich nach Hause trollen!
verstanden?!
Der Rotbart:
Michel Michael, halt deine Hand im Zaum!
Eckart:
Bleib deiner mächtig, Mann; alles Andre ist Traum.
Michel:
Wo ist der Bergrat?! Er wird mir Rede stehn;
er versteht mit uns Volk menschlich umzugehn.
(Die Tanzmusik setzt wieder ein.)
Der Landrat:
Meine Herren und Damen! ich rufe Sie sämtlich zu Zeugen:
ich habe -ä- Alles getan, um Exzessen vorzubeugen.
Hab ich, meine Herren?
[S. 352]
Chor der Herren:
Jawohl, Herr Landrat! Alles!
Der Kaplan:
fast übergebührlich!
Der Landrat:
Meine Damen?
Chor der Damen:
Jawohl, Herr Landrat!
Die Bürgermeisterin:
schon beinah unnatürlich!
Der Landrat:
Demnach -ä- warn’ich den Delinquenten zum letzten Mal:
derselbe hüte sich hierorts, in diesem -ä- städtischen Festlokal,
vor Widerstand gegen die Staatsgewalt!
Michel:
Wie? — Ich seh hier nur Leute in allerhand Maskengestalt.
Der Landrat:
Ruhe!!!
Der Kaplan:
Wenn Sie wünschen, Herr Landrat, bin ich im Amtskleid erbötig
Michel:
Ja: Euresgleichen hat keine Maske erst nötig!
Eine Dame:
Hihihi —
Einige Herren:
hähähä — hahahah —
Der Kaplan:
Un-er-hört!!
Der Pastor:
Es scheint, Herr Collega, der Ärmste ist geistig gestört.
[S. 353]
Der Landrat:
Ja! Sag er mal, Wertster: ihm brennt’s wohl im Kopp, das Stroh?!
Michel:
Darauf, Allerwertster, darauf antwort ich so — —
(er kehrt ihm den Rücken und schlägt sich aufs Hinterteil; die Tanzmusik bricht quietschend ab, und ein langer starker Baßton erfolgt) — —
Die Herren:
Hă!!
Die Damen:
Ohh — — (man fährt mit den Taschentüchern zur Nase und wendet sich ruckhaft von Michel weg.)
Der Landrat:
Aber das schreit ja zum Himmel mit dem Rüpel da!
Ist denn kein Gummiknüppel da?!
Herr Bürgermeister!!!
Der Bürgermeister
(vom Hintergrund her): Sofort, Herr Landrat!
Der Landrat:
Ja bitte, fix!!
Platz da, meine Damen!
Der Bürgermeister:
Vorwärts, Leute! da steht der Taugenix.
(Drei Polizisten marschieren auf.)
Eulenspiegel
(mit der Pritsche klappend):
Halt! Vorsicht! hier riecht’s nach Dynamit!
Der Landrat:
Ruhe!!! Vorwärts, Kerls! Losungswort: Moabit!
Los!
Der Bürgermeister:
Los, Leute!
[S. 354]
Michel
(mit beiden Händen seinen Stock aufstemmend):
Halt!! Noch steh ich Gewehr bei Fuß;
aber wer den Michel anrührt, den haut er zu Mus!
Der Landrat:
Also Achtung! Plempen raus! Hoch das Bein! Immer druff!
Die Polizisten
(blank ziehend und vorrückend):
Immer druff! immer druff! immer druff —
Michel:
druff! knuff!!
(rennt sie mit quergenommenem Stock übern Haufen.)
Die Damen:
Huch — (flüchten samt den Herren nach hinten; zugleich aber kommen drei andre Polizisten von rechts aus dem Laubengang gestürzt, fallen Michel in den Rücken und nehmen ihn fest) —
Die Polizisten:
Du Luder! du Mistvieh! du Aas! Lumpenhund!
Uff, Kanalje! Uff jetzt! Na warte: wir drehn dir die Knochen schon rund!
(Sie zerren Michel vom Boden und drücken ihn in die Kniee; zwei Mann halten seine Füße gepackt, je zwei seinen rechten und linken Arm.)
Der Landrat
(wieder nähertretend):
Stillgestanden! — So, Bursche: jetzt wird er wohl kirre sein.
Legt ihm Handschellen an!
Michel
(aufbrüllend): Nein!!! Nein, schrei ich! Nein!
Beim ewigen Gott: lieber hackt mir die Arme vom Rumpf!
Der Landrat:
Ruhe!!!
Michel:
Ich will Alles, was ich habe, mein Haus, Stiel und Stumpf,
der Staatskasse schenken!
[S. 355]
Der Landrat:
Schluß jetzt! (Zu den Polizisten) Tut eure Pflicht!
Der Rotbart:
Halt! Das wird nicht geschehen! dem Mann da nicht!
Eckart:
Trage Jeder, der richtet, Scheu vor höherm Gericht!
Der Landrat:
Waas! — Ja zum Teufel, da soll doch — das ist ja wahrhaftigen Gott
das reine Anarchistenkomplott!
Herr Bürgermeister!!
Der Bürgermeister:
Herr Landrat? —
Eulenspiegel
(während die Beiden erregt zusammen tuscheln und der knieende Michel stumm mit den Polizisten ringt, zum Rotbart):
Gnädiger Herr, ists erlaubt,
die Narrheit loszulassen gegen ein närrisches Haupt?
Der Rotbart:
Tu, Schalk, was dein Witz und — dein Herz dir erlaubt!
Eulenspiegel:
Dank, Herr — (er verneigt sich und eilt nach links davon) —
Der Bürgermeister
(vor Michel und seine Häscher tretend):
Halt, Leute! — Arrestant Michel Michael,
wir wollen Rücksicht nehmen auf Ihren submissen Gnaden-Apell
und Sie einfach abführen lassen, ohne Verwendung von Handschellen,
unter der Bedingung: Sie nennen Ihre Spießgesellen.
Michel:
Wie —?
Der Bürgermeister
(auf den Rotbart und Eckart hinüberweisend):
Wer sind diese Herren, mit denen Sie sich nicht scheuten,
unsre vaterländische Feststimmung unziemlich auszubeuten?
[S. 356]
Michel
(immer noch knieend, stier vor sich hin):
O Deutschland — —
Der Landrat:
Na wirds bald?!
Stimme des roten Karls:
man stopp!!!
Immer mehr Stimmen von draußen her:
man stopp! man stopp! man stopp!
(Zugleich wird wieder das dumpfe Geräusch der stampfenden Maschine hörbar.)
Der Landrat
(sich die Ohren zuhaltend):
Himmelkreizsackerment, tanzt denn heute der Deibel Galopp?!
(Von links erscheinen Eulenspiegel, der rote Karl in seiner Militär-Uniform, jetzt aber mit Schlapphut und ohne Gesichtsmaske, und die maskierten Bergknappen; die meisten etwas angezecht, alle mit leeren Sektflaschen, die sie bedrohlich wie Keulen schwingen.)
Der rote Karl
(während Eulenspiegel mit der Pritsche den Takt dazu klopft):
Stopp! Hie Knappschaft!
Die Bergknappen:
Knappschaft!
Der rote Karl:
Glückauf!
Die Bergknappen:
Glückauf!
Der rote Karl:
Jeder Knappe im Schacht
nehm sich vor falschen Wettern in Acht!
Licht aus!!! (Er haut seine beiden Flaschen aneinander zu Scherben; sofort erlöschen die elektrischen Ampeln. In der Dunkelheit geben jetzt nur die Laternchen an den Tschackos der Bergknappen spärliches Licht. Man sieht, wie sich Michel von seinen Häschern losreißt, seinen Stock ergreift und um sich schlägt. Dazu Gerassel von Säbeln und zerschmissenen Flaschen, Geschrei der flüchtenden Damen und Herren, und Eulenspiegels Pritschengeknalle.)
[S. 357]
Die Bergknappen
(durch den Tumult hin und her trottend):
Aus das Licht! Aus das Licht!
Irrwischfunken zünden nicht!
(Michel stimmt ein):
Sumpfgesindel! Unkenbrut!
fang mal Feuer, faules Blut!
Der Rotbart:
Aber Michel! Kerl! du verbläust ja mein Schwert!
Michel:
Immer druff! Meines Vaters Stock ist zehn Schwerter wert!!!
Die Bergknappen:
Wert oder nicht, wert oder nicht,
schlagt in Stücken, was zerbricht!
Michel:
Sind zerbrochen alle Klingen,
kann man noch den Knüppel schwingen!
Sieg!!!
(Man sieht im Hintergrund durch den Saal die letzten fliehenden Amtspersonen mit flüchtig aufflammenden Zündhölzchen rennen.)
Die Bergknappen:
Sieg! Hurra, Sieg!!!
Der rote Karl:
Glückauf, Genossen!
Die Bergknappen:
Glückauf!!!
Eulenspiegel
(mit Schellengebimmel):
Es lebe der ganze, allbeglückende Volksfestverlauf! —
Nun, Held Michel, wie steht’s? vollständig heil und gesund?
Laßt mal sehn! (Die Bergknappen nehmen die Tschackos ab und beleuchten ihn mit den Grubenlichtern.)
Michel:
Mir fehlt blos ein guter Trunk zur Stund.
[S. 358]
Eulenspiegel:
Ih! — Na, dann mal her den Rest von der Kesselbefeuchtung!
Michel:
Nein, Wasser!
Eulenspiegel:
Ah, Wasser!
Die Bergknappen:
Hahahah! Pros’t!
Eulenspiegel
(nochmals bimmelnd und nach draußen gewendet):
Heeda! Beleuchtung!
wo gibts hier Wasser?! Licht an!!! (Die elektrischen Ampeln flammen zum Teil wieder auf; man sieht am Boden zerbrochene Flaschen, zertrampelte Zylinderhüte und zerrissene Maskenstücke liegen.)
Michel:
Aber erst sag ich Dank!
Roter Karl, ich werd’s dir mein Lebenlang
nicht vergessen! (er schüttelt ihm die Hand.)
Der rote Karl:
Genossen, seht ihr?! was hab ich gesagt!
jetzt ist er Unser! (klopft ihm gnädig die Schulter.)
Die Bergknappen:
Hurrra!
Michel
(zurücktretend): Wie??
Der rote Karl:
Na, man unverzagt!
Hurra schrein wir blos noch so aus alter Gewöhnung.
Michel:
So —: Das also ist eure Menschenbrüderversöhnung:
(draußen klappt plötzlich die eiserne Tür zu, und das Geräusch der Maschine verstummt)
einen Mann aus den Klauen der Überzahl glücklich rauszukloppen,
[S. 359]
um ihn dann in euern Mehrheitsrachen zu stoppen —:
die Sorte Brüderlichkeit, die ist mir zu gleich und frei!
(Ein Maschinenheizer, unmaskiert, bringt ein Bierglas voll Wasser; Michel schiebt ihn unsanft beiseite.)
Weg da! Bleibt mir vom Leibe mit eurer Nothelferei!
die könnt ich besser bei der Bergratsgesellschaft finden.
Die Bergknappen:
Hoh! Frechheit! Haut ihn!
Michel:
Ja, haut ihn, den Plumpsackblinden!
Ihr habt viel gelernt von denen, die euch schinden,
aber eins, darin sind sie euch doch noch voran:
sie sehn blanke Pfennige nicht für Goldstücke an,
sie wissen Bescheid über ihre eigne erbärmliche Kleinheit —
(zu Boden starrend, halb für sich:)
O Menschheit, dein Erbteil heißt Gemeinheit! —
Die Bergknappen
(zumteil vom Leder ziehend):
Was?! Lyncht ihn! spießt ihn! Du Scheißkerl! Schuft! Lausejunge!
Der Rotbart
(sein Schwert aus der Scheide reißend):
Zurück!!!
Eckart
(einen großen Revolver aus der Kutte langend):
Sonst ertönt hier eine noch lautere Zunge!
Eulenspiegel:
Und, meine Herren, Sektproppen knallen doch angenehmer.
Auch läßt sich der Rest der Ladung viel sicherer und bequemer
ohne Bratspießgefuchtel fürs Allgemeinwohl verwenden,
zumal da sich Spieße leicht umdrehn unter Geisterhänden.
Einige Bergknappen:
Hahahah!
[S. 360]
Eulenspiegel:
Ja, die Welt ist seit Alters voll scharfer Plempen;
und wie bald, wie bald kann das Häuflein Gemeinheitskämpen,
das vor Unserm Gemeinsinn ausriß mit Hasenbeinen,
verstärkt als Werwolfshaufen wieder erscheinen!
Also, meine Herren, verzeihn Sie: ich möchte meinen —
Die Bergknappen:
Hm — ja — verdammt ja — sehr wahr! — Weg!! Kommt, Kinder! Weg!
Nach Hause!!
Der rote Karl:
Still, Genossen!
Die Bergknappen:
Hoh! ohoh!
Der rote Karl:
Aber Schwerenotdonnerblech,
so hört doch!
Die Bergknappen
(ihre Degen einsteckend und torkelbeinig nach links abziehend):
Blech! marsch! halt die Schnauze! sonst gibts’n Tritt!
komm unsern Sekt aussaufen! marsch! nach Hause! komm mit!
Der rote Karl:
Dann sauft, Viecher — (lauter) Michel, wir sind noch nicht quitt! — —
(Er schreitet langsam den Andern nach.)
Eulenspiegel
(da Michel mit seinem Stock am Boden herumbohrt):
Nun, Gevatter Helde? du schaust ja so tiefsinnig nieder.
Es scheint, deine Zippelmütze bezaubert dich wieder.
(Indem er sie auflangt:)
Sie ist zwar ein bißchen stark ramponiert;
aber vielleicht hast du jemand, der sie dir repariert? —
Bitte — (er überreicht sie ihm) —
[S. 361]
Michel
(in sich gekehrt):
Ja —: zur Erinnrung an diese Geisternacht —
und zum Zeichen: der Michel ist aufgewacht! —
Eulenspiegel:
Ist er? —
Der Rotbart und Eckart
(während der Vorhang sich schließt):
aufgewacht — —
*
Eulenspiegel als Zwischenredner
(von links kommend, klappt mit der Pritsche):
Hochgesinnte Gönner! (bimmelt mit der Schelle) sinnige Gönnerinnen!
der Akt der Rache kann jetzt beginnen.
Sie suchen wahrscheinlich bereits mit dem Opernglase
nach der wohlverdienten, gespenstisch langen Nase,
die ich unserm Dichter untertänigst in Aussicht stellte.
Jedoch ich frage Sie: wäre er dann der Geprellte?
Nein, diesen Kopfverdreher müssen wir noch verdrehter anfassen.
Er hat sich ohnehin zu Anfang gewiß nicht träumen lassen,
hier als Nachtmützenhüter für Michels Haushalt zu enden;
ich bitte ihm also Ihren wärmsten staatsbürgerlichen Beifall zu spenden,
das wird seinen Weltbürger-Größenwahn gründlich vernichten.
Er wollte drum — im Vertrauen gesagt — garnicht weiterdichten,
aber da kennt er die Traumweltgesetzgebung schlecht:
unser Herr und Meister, jetzt ist er unser Knecht!
Soll uns etwa, ihm zu Gefallen, der Weltgeist spurlos verschlingen
[S. 362]
und die deutsche Geheimpolizei immer mehr in Mißkredit bringen?
Noch ahnt ja keine Seele, was wir in Wirklichkeit sind;
an Geistererscheinungen glaubt doch kaum noch ein Kind.
Vor allem sind wir — auf den Ausgang der Handlung gespannt;
denn es ist doch für den Fortbestand
der christlich-germanischen Menschheit die unumgänglichste Pflicht,
daß der Michel seine Lise krigt.
(Hinterm Vorhang rhythmisches Händegeklatsch.)
Da! man klatscht schon! — Heiliger Pritschenschall,
das klappt ja, als wär bereits Hochzeitsball.
Lise Lied
(singt hinterm Vorhang, und Eulenspiegel spricht horchend Zeile auf Zeile nach):
Tapp tapp, wer kommt da querfeldein?
Nur rasch, nur rasch, Herr Morgenschein,
Trab Trab!
Die Jungfer Tauduft putzt sich hier;
sie schlägt den Schleier auf vor dir,
klapp klapp!
Eulenspiegel
(nachdem er die letzte Zeile wiederholt hat):
Sie schlägt vielleicht noch mehr auf, klapp;
da geh ich diskreterweise ab.
(Er verschwindet nach links, den Vorhang mit wegziehend.)

Fünfter Aufzug

(Bild: wie beim ersten Aufzug. Am Gartentisch sitzt Lise mit dem noch immer maskierten Bergrat; Beide klatschen mit den Händen den Takt des Liedes. Sie hat den Schleier zurückgeschlagen, und ihr Wünschelstab steht an die Haustür gelehnt. Es ist noch erstes Morgengrauen; später wird der Himmel hinter den Bäumen heller und färbt sich schließlich mit goldner Röte.)

[S. 363]
Lise
(singt weiter):
Klapp klapp, sie lädt dich ein zum Tanz;
nur hol erst deinen goldnen Kranz,
Trab Trab!
Wer zu ihr will, muß früh aufstehn;
wer’s tut, dem patscht sie auf die Zehn,
schwapp!
Der Bergrat
(ihre Hände fassend):
Schwapp, gefangen! Jetzt fordr’ich Lösegeld.
Lise:
Das kann doch keiner zahlen, dem man die Hand festhält?
Der Bergrat
(sie freigebend):
Ach, Fräulein Lise: wirklich: Sie machen mich rein zum Kind.
Sie tun ja viel stachliger, als Sie sind.
Lise:
So? Wie bin ich denn?
Der Bergrat:
Sie sind so zum küssen nett,
so wie Dornröschen in ihrem moosgrünen Bett,
als endlich der Ritter kam und sie nannten sich Du —
Lise:
Halt, Herr Ritter: so spornstreichs gehts nur im Märchen zu.
Der Bergrat:
Aber ich bitte doch schon die ganze Nacht so heiß
wie ein Glühwurm, Schatz!
Lise:
Herr Glühwurm, erst für den Schatz den Preis!
Der Bergrat:
Aber Kind, du liegst ja wie’n Füchslein danach auf der Lauer.
Lise:
Ja, Herr Fuchs; sonst bleiben die Trauben sauer.
[S. 364]
Der Bergrat:
Liebes Fräulein Lise: hier, bitte, sehn Sie mein ehrlich Gesicht!
(Er will sich die Maske abnehmen.)
Lise
(ihn nasenstübernd):
Nein, lieber nicht.
Ich finde die meisten Herren maskiert viel netter.
Der Bergrat:
Alle Wetter! —
Ja aber, du Satansmädel:
was spukt dir im Schädel!
solch Grundstück ist doch kein Puppenlappen!
Lise:
Ja aber, Herr Satan, ich bin doch auch ein recht schmucker Happen.
Der Bergrat:
Und blos, weil der — Vormund das Haus behalten soll?
Lise:
Was dachten Sie denn?
Der Bergrat:
Mädel, mach mich nicht toll!
Sag, wo hast du den Schlüssel?!
Lise:
Nein wahrhaftig, den haben die Raben;
ich muß ihn im Stadtpark verloren haben.
Der Bergrat:
Liebes goldnes Mädel, ich hüll dich in Sammt und Seide!
Lise:
Lieber toller Herr Bergrat: bitte, drei Schritt vom Kleide!
Sonst zieh ich gleich wieder den schwarzen Schleier vor
und stopf mir moosgrüne Watte ins Ohr.
[S. 365]
Der Bergrat
(das Vertragspapier aus der Brusttasche nehmend und entfaltend):
Nun — dann hier, Fräulein Lise. Der Fuchs ist zwar manchmal ein Dieb,
aber immer ein Ritter.
Lise:
O, das — nein, ist das aber lieb!
Nein wirklich: das ist einfach lieb von Ihnen!
Der Bergrat:
Und die Trauben?
Lise:
Oh — die werden vielleicht noch Rosinen.
Hier schenk ich Ihnen meinen aller-aller-unsauersten Kuß.
(Sie küßt ihm die Hand und springt rasch weg; steckt das Vertragspapier dann ins Mieder.)
Der Bergrat:
Das war aber ein sehr, sehr vormundhafter Genuß.
(Auf ihr Mieder deutend):
Darf ich nicht wenigstens beim Verschluß der Schatzkammer helfen?
Lise:
Nein, das dürfen vorläufig nur im Mondschein die Elfen.
Der Bergrat:
Ach, liebstes Fräulein Lise, sein Sie doch gut zu mir!
Lise:
Ach, liebstes Herrlein Bergrat —
Der Bergrat:
Racker, ich sage dir:
mach mich nicht wild, ich hau dich!
Lise:
Erst kriegen! erst kriegen!
Der Bergrat
(ihr nachsetzend):
Na wart du! ich werd dir die Hexenbeinchen schon biegen!
[S. 366]
(Zugleich erscheint von links Michel Michael; hinter ihm Eulenspiegel, der Rotbart und Eckart. Lise sieht es und läßt sich vom Bergrat fangen.)
Michel
(kraß auflachend):
Hahahah, ich — heut lern ich noch blocksberghoch fliegen — —
(Dumpf) O Lise — (Zum Bergrat, wild:) Weg jetzt!!! Marsch aus dem Garten, Sie —
Der Bergrat
(ihm ruhig nähertretend):
Sie —?
Michel:
Scheren Sie sich! Hier bin Ich Herr!!
Der Bergrat:
Wie —?
Michel
(zusammenzuckend, sich abwendend):
Ja so! — Verflucht ja —
Der Bergrat:
Ja — jetzt bin Ich es —
Lise
(spöttisch, halblaut): So —?
Der Bergrat:
Ach so; verdammt ja — (wendet sich gleichfalls ab) —
Michel
(reckt sich wieder): Ich sag Ihnen, Mensch, sein Sie froh,
daß mein Stock schon Arbeit gehabt hat heut Nacht!
Aber nehmen Sie trotzdem, rat’ich, Ihr Corpus juris in Acht:
bis zum Räumungstermin ist das Haus noch Mein!
Also Marsch jetzt!!
Lise:
Aber Michel!
Michel:
Schweig jetzt! Pack dich hinein!
Wo ist der Schlüssel?!
[S. 367]
Lise:
Futsch.
Michel:
Quatsch nicht!!
Lise:
Verloren.
Michel:
Lüg nicht noch obendrein!!
Lise:
Wie werd ich denn das dem Herrn Vormund zu bieten wagen?
Michel
(an der Türklinke rüttelnd):
Himmelkreuz — (will Lisens Stab zerschmeißen) —
Lise:
Nicht, Michel! nicht meinen Glücksstab zerschlagen!
o bitte, nicht wüst sein — (entwindet ihm den Stab) —
Der Bergrat
(den Hut lüftend): Fräulein Lise, ich will jetzt gehn;
aber ich hoffe
Michel:
auf Nimmerwiedersehn!!!
Der Bergrat:
Das dürfte wohl nicht von Ihnen abhängen, denke ich.
Lise
(halblaut):
Wer weiß, Herr Traubenräuber —
Der Bergrat:
Ah! — Hüten Sie sich!
Der Ritter Fuchs könnte leicht seine Zähne demaskieren.
Eulenspiegel
(kitzelt ihn hinterrücks mit dem Gugelzipfel am Ohr):
Dürft ich bitten, Herr Ritter, das mal dort drüben zu probieren?!
(Er weist höflichst zum Rotbart und Eckart hinüber, die sich nach rechts begeben haben.)
[S. 368]
Inzwischen, schönste Glücksfee, gratulier ich zum Luftschloßbefund;
vielleicht, Herr Vetter, paßt mein Geheimschlüsselbund.
(Sie machen vergebliche Versuche, die Tür aufzuschließen; Lise schneidet dem wütenden Michel Gesichter dabei.)
Der Bergrat
(hat seinen Spazierstock vom Gartentisch geholt, tritt nun sehr förmlich vor die beiden Vermummten):
Die Herren wünschen? Und mit wem hab ich die Ehre?
Der Rotbart
(gedämpft, aber wuchtig):
Wir wünschen, daß Niemand des Michel Michaels Hausstand versehre.
Der Bergrat:
Aber ich muß doch sehr bitten —
Eckart:
Wir wünschen zum zweiten,
daß Niemand uns nötige, unverhüllt einzuschreiten.
Hier bitte — zur steten Erinnerung —
(er überreicht ihm zwei Visitenkarten und hebt einen Augenblick die Kapuze) —
Der Bergrat
(jetzt gleichfalls die Stimme dämpfend und vollkommen seine Haltung ändernd):
O bitte tausendmal um Entschuldigung! —
(Mit tiefer Verbeugung, erst vorm Rotbart, dann etwas knapper auch vor Eckart):
Hätten Hoheit ahnen lassen, oder Excellenz,
dies bescheidne Volksfest werde Sie aus der Residenz
an unsern aufblühenden Industrieplatz locken —
Der Rotbart:
Nein, wir wünschen wiegesagt keine großen Glocken.
Der Bergrat:
Zu Befehl, Hoheit.
Eckart:
Und wünschen, daß aus dem Wetterschacht
dieser spaßhaften Nacht
[S. 369]
keinerlei ernsthafte Schläge übertag entstehn;
Sie lassen, Herr Bergrat, mir darüber Bericht zugehn!
Der Bergrat:
Zu dienen, Excellenz.
Eckart:
Dann auf glückhaftes Wiedersehn — —
(Er gibt dem Bergrat gemessen die Hand; dieser verneigt sich zweimal zum Abschied, zieht dann auch vor der Haustürgruppe den Hut, wofür Lise ihm eine Kußhand zuwirft, und verschwindet mit saurem Lächeln nach links.)
Eulenspiegel
(seinen Schlüsselbund einsteckend):
Ja, Gevatter, es scheint, du mußt bis zum Räumungstermin
in dein Luftschloß entweder durch den Rauchfang ziehn,
oder du nimmst hier den Garten als Himmelbett.
Lise:
Oder
Michel:
Still, du Maulaff!
Lise:
Gern, Herr Vormund; mein Maul ist nämlich sehr nett.
(Sie geht und setzt sich an den Gartentisch, während Michel dem Bergrat nachstarrt.)
Der Rotbart
(hat sich mit Eckart wieder dem Haus genähert):
Oder, Michel, stimmt dich die Stadt da so tief beschaulich?
Eulenspiegel:
Sie deucht dir heute wohl ziemlich morgengraulich?
Eckart
(über den Garten zum Himmel hinweisend, eindringlich):
Schau lieber dorthin, wo sich aus höhern Gründen
reinere Lichter aufs neue entzünden!
Michel:
Ja, ihr Herren! Und Nein! Euch will ichs gerne verkünden.
Ihr habt mir beigestanden in dieser Sommerwendnacht,
und die hat mein Grünjungengetreide reifer gemacht.
[S. 370]
Ja, ich sehe ein neues Frührot entbrennen;
aber drum, grad drum will ich nicht mehr ins Blaue rennen.
(Sein zerknautschtes Vertragspapier einen Augenblick herauslangend):
Ich will mich mit meiner papiernen Habe aufmachen
und nicht ruhn, bis auch Andre aus ihrem Papiertraum erwachen.
Ich werde uns erdwüchsig Volk zusammenraffen,
wir werden uns jeder Haus und Hof wieder schaffen,
Erde, auf der wir mit Lust arbeiten
und unsern Kindern ein greifbar Stück Vaterland bereiten;
bis in die Städte hinein wird Garten an Garten einst prangen,
wird aller Schöpfergeist edleren Boden empfangen,
Frucht gegen Frucht tauschen, Saat gegen Saat,
Tat für Tat.
Und will er dazu sein Handlangervolk befrein,
dann soll auch der rote Karl mir willkommen sein:
jeder, der ankommt mit einer lichtfrohen Kraft,
bis wir das ganze Erdreich erleuchten, wir Neubauernschaft!
Eulenspiegel:
die den alten Dunst aus der Pfeife pafft!
Michel:
Wie??
Eulenspiegel:
O Vetter! dein Luftschloß wird immer — hm — allgemeiner.
Du redst ja wie’n Buch von Hertzka oder Oppenheimer.
Lise
(vom Gartentisch her):
Ja — solch Mundwerk wie der Herr Vormund hat Keiner.
Der Rotbart:
Michel Michael! willst du plötzlich auf Andre bauen?
Eckart:
Wo blieb heut um Mitternacht dein Menschenvertrauen?
Es war so zerfetzt wie dein Mützenflaus.
[S. 371]
Michel:
O, ihr Herren, ihr kennt mich noch lange nicht aus!
Hab ich nicht Euch, ihr Unbekannten, vertraut?
Ich sag euch: Hundert Menschheiten stecken in jeder Haut! —
Seht dort: noch deutet der Himmel erst schüchtern mit Funken an,
daß da eine Sonne auflodern will und kann!
Horcht hier: noch rührt sich kein Vogelruf im Wald:
in einer Stunde schmettert alles und schallt!
So wird, wenn Einer erst wagt, Haupt und Herz zu erheben,
dieser Eine viel Andre mitbeleben,
bis Alle aufglühn zu immer hellerem Geist,
wie’s im Liede heißt:
Auf Erden ist immerfort jüngstes Gericht —
Lise
(singt halblaut, in derselben Melodie wie zu Anfang des Spiels):
jüngstes Gericht —
unter Tag.
Michel:
Aus Schutt wird Feuer, wird Wärme, wird Licht —
Lise
(etwas lauter):
wird Wärme, wird Licht —
über Tag.
Michel:
Weiter!!!
Lise
(mit immer vollerer Stimme):
Wir schlagen aus jeglicher Schlacke noch Glut;
Glückauf!
Wir ruhn erst, wenn Gottes Tagwerk ruht;
Glückauf! —
Michel:
Ja, Herren! —
[S. 372]
Eulenspiegel:
Ja, laß dir nur gründlich die Ohren vollsingen!
Das wird dich auf immer gottvollere Sprünge bringen;
(durch die hohle Hand)
man opfert fürn Nachthäubchen schließlich den rosigsten Morgen.
Michel:
Dafür, Herr Haubenmatz, laß mich nur selber sorgen!
Ich weiß jetzt mein Tag- und Nacht-Gebet,
das keine Lichtmaschine mir mehr verdreht.
So wird’s auch manch ander Manns- und Weibs-Herze wissen,
das heut emporbegehrt aus den Zwielicht-Dämmernissen.
(Nach der Stadt weisend):
Und wenn da unten die Herrschaften etwa dagegenfackeln,
dann solln schließlich ihnen die Zippelmützen wackeln!
Eulenspiegel:
Dann wirds wohl Zeit, edler Helde, dir endlich Lebwohl zu sagen;
sonst gehts womöglich erst mal Uns an den Kragen.
Lise:
O, der Herr Vormund kann sich manchmal auch artig betragen.
Michel
(nach einer Drohgeberde zu ihr hinüber):
Freilich wüßt ich gerne: wem bin ich zu Dank verpflichtet?
Ihr Herren habt mich aus schwerer Schmach aufgerichtet.
Der Rotbart:
Dann mag deine Glücksfee dich weiter so dankbereit halten.
Eckart:
Schutzgeister müssen geheimnisvoll walten.
(Von rechts her ein Schnurr-und-Knattergeräusch.)
Eulenspiegel:
Auch lockt uns plötzlich ein Zaubermaschinenduft:
unser Kraftwagen verdirbt deine Morgenluft.
Also, hehre Fee, bitte segne den Schicksalslauf!
[S. 373]
Lise:
Glückauf, ihr Geister!
Die Drei
(sind inzwischen nach rechts geschritten):
Glückauf! Glückauf! Glückauf!
(Sie verschwinden nacheinander im Wald.)
Stimme Eulenspiegels:
Ich wünsch dir, Michel, noch manche erbauliche Luftschloßbestrebung!
Stimme Eckarts:
Nur zerstör nicht den Himmel mit deiner Erdreichbelebung!
Stimme des Rotbarts:
Denn, Michel: das Erbgut der Menschheit heißt Erhebung! — —
(Nochmals das Kraftwagen-Geräusch.)
Michel
(ist an der Gartenpforte stehen geblieben, nähert sich nun dem Gartentisch):
Na, du Grasaff?
Lise:
Na, Herr Vormund?
Michel:
Dir fällt wohl’s Stehn heute schwer?
Lise:
Nein, Herr Vormund — (erhebt sich) —
Michel:
So — (Aufstampfend) Schockwetter, laß das Gesperr,
du dumme Lise! — Was hast du dir denn gedacht
mit deinem Gejachter, so in der Nacht?!
Lise:
Ich hab mir gedacht, so in der Nacht,
ob der dumme Michel wohl endlich einmal aufwacht
und alldas still mit nach Hause bringt,
wovon die dumme Lise Lied immer singt.
[S. 374]
Und weil er so lange ist wer-weiß-wo geblieben,
hab ich mir eben derweil ein bißchen die Zeit vertrieben.
Michel:
Mit solchem unstatthaften Patron!
Lise:
Ist doch eine ganz stattliche Mannsperson.
Michel:
Der — getaufte Jud!
Lise:
Ist doch ein sehr altmächtig, erdstark, auserwählt Blut.
(Mit bebender Frage:)
Weißt du nicht mehr:
ich kam ja auch wohl aus fernem Süden einst her —
Michel
(indem sein Stock ihm entfällt):
Lise!!!
Lise:
Michel — — (unsägliche Umarmung) — —
Michel
(stammelnd): O, du all mein einziges, ewiges Herzbegehr —
O, wie lange hast du mich nach dir suchen lassen —
Lise:
O, wie lange konnt ichs selber nicht fassen —
Michel:
Und nun stehn wir, wie’s einst am Anfang war:
im Garten Eden, das erste Menschenpaar.
Du meine Welt, du liebe Unruh du!
Lise:
Du meine Heimat — meine Ruh — —
Michel:
Ach, Lise, ich hab so wundervoll heute von dir geträumt!
Lise
(sich halb aus seinen Armen lösend):
Und hast beinahe dabei dein wirkliches Wunder versäumt.
[S. 375]
(Sie schreiten allmählich aus dem Garten vors Haus.)
Aber vielleicht ist’s wahr, das Sprichwort —
Michel:
ach, sei kein Schaf —
Lise
(küßt ihn):
ja: den Schafen gibt’s der Himmel im Schlaf.
Weißt du, wo jetzt die Schwelle zu unserm Luftschloß steckt?
Michel:
Na sag’s mal!
Lise
(auf ihre Brust tippend): Hier!
Michel:
Ja, Herze! das hab ich eben entdeckt.
Lise:
Nein, wirklich!
Michel:
Wirklich?
Lise
(am mittelsten Miederknopf drehend):
Ja, hier!
Michel:
Da? — (scheu) in deinem Mieder?
Lise:
Ja —! Vielleicht findst du da — auch den Schlüssel wieder.
Such mal!
Michel:
Ach, Lise —
Lise:
Sieh mal, das macht man so —:
(sie nimmt seine Finger und öffnet damit zwei Knöpfe) —
Siehst du, da ist er — ganz warm —
(sie drückt ihm den Schlüssel in die Hand)
[S. 376]
Michel
(an ihr niedersinkend): O Lise! — Oh! —
Lise:
Na, darum fällt man doch nicht gleich um in der Welt?!
(Auf das Vertragspapier deuten, das zu Boden geflogen ist:)
Sieh: das Beste hast du noch garnicht gesehn, du Held!
Komm, steh auf! (Sie bückt sich und gibt ihm das aufgeschlagene Papier.)
Michel
(sich erhebend): Was?! Wie?! Ja, wie hast denn Du das erfuchst?!
Lise:
Ja, das hat der Grasaff dem Traubenfuchs abgeluchst.
Michel:
Du, Du —!
Lise
(fast streng): Nein, Michel; gut sein! (küßt ihn) —
Michel:
Du unbezahlbarer Racker!
Lise:
Nicht wahr: mein „Maul“ versteht sich aufs Gold-im-Munde-Gegacker?!
Michel:
Dann wolln wir aber das Teufelspapier gleich in tausend Stücke zerreißen
und die Fetzen allen guten Geistern zuschmeißen!
(Er tut es; sie klatscht in die Hände dazu.)
Und meins hier auch! (Er holt sein zerknautschtes Papier aus der Tasche und reißt die Zippelmütze dabei mir heraus.)
Lise
(nimmt sie vom Boden auf, während Michel das Papier zerreißt):
Nanu, du: was ist denn daas?
Michel:
O — das ist blos so’n kleiner Traumgeisterspaß —
[S. 377]
Lise:
Na, dann schließ mal auf, du; ich werd sie dir flicken!
Michel
(den Schlüssel ans Türschloß setzend):
In Unserm Haus, Du —
Lise:
Du —! nicht wieder gleich in die Kniee knicken!
Michel
(die Tür breit aufsperrend):
Aber den Trauerschleier erst ab!
(Er tritt von der Schwelle zurück zu ihr, nimmt ihr hastig Diadem und Schleier vom Haar, will beides auf die Erde werfen)
Der soll heute Morgen für immer ins Grab!
Lise:
Aber der Stern, der muß in mein Kämmerlein!
(Sie wirft lachend das Diadem in den Hausflur.)
Und mein Glücksstab, Michel, hinterdrein!
(Sie schleudert den Stab, den sie bis jetzt immer festhielt, in hohem Bogen durch die Tür; man hört ihn auf der Treppe poltern.)
So! — (Sie hebt winkend die Zippelmütze —: läßt plötzlich schreckhaft den Arm wieder sinken, da Michel wie entgeistert zurückweicht, die eine Hand aufs Herz pressend, die andre vor die Stirn schlagend.)
Aber was denn, Michel?! Was träumt dir?!
Michel:
Nein —
Nein! — Sehr wirklich! — Dieses Haus ist nicht mein!
Du sollst mich nicht zu Unehr mit deinem Gewinke verführen;
lieber will ich nie wieder ein Glied von dir berühren!
Ich habe mein Wort, du, meinen Handschlag dem Mann da verpfändet;
das wird nicht durch Weiberfingerspiel umgewendet!
(Auf die Papierfetzen weisend):
Da, die Schrift da, die kann der Wind verwehn;
hier das Wort in mir, das bleibt ewig stehn!
Und will mich der Bergrat noch heute aufs Straßenpflaster jagen,
[S. 378]
ich werde gehn, und müßt ich den ganzen Kram drin zerschlagen!
Das ist einfach meine verfluchte Pflicht,
schlicht und richt;
ich hab sie mir selber zuzuschreiben.
Lise:
Aber
Michel:
Nichts „aber“! Willst du ’nen Hundsfott beweiben??
Und gesetzt selbst, wir wollten’s so hündisch treiben:
ich sag dir: macht sich der Mensch mal gemein,
die Welt wird noch x-mal gemeiner dann sein.
Heute Nacht der Bergrat gab mirs sehr dürr zu kauen:
die Grubengesellschaft hat Alles hier sowieso in den Klauen.
Lise
(für sich):
O Fuchs —
Michel
(sich reckend):
Also bleibts dabei: Neu Land wird beschafft,
wo keine Maulwurfshand uns die Wurzeln wegrafft!
wo wir Kraft haben dürfen wie unsre Erdschollen
und Luft und Licht schöpfen, soviel wir wollen!
Und gibt die Heimat kein solches Land mehr her,
(wild und weh:)
dann, Lise, dann tragen wir Deutschland übers Meer!
Verstanden?!
Lise:
Dann, Michel, dann will ich nur beten,
daß unsre Schutzgeister gnädigst dazwischentreten,
du lieber, einziger, grenzenloser Mann!
Denn wenn sie’s nichttun: (beklommen) wo soll denn dann
unsre — Hochzeitsfeier sein? und wann?
[S. 379]
Michel:
Wann? — Wann?? —
(nimmt sie stürmisch auf beide Arme hoch)
Lise:
Nein, Michel, nicht!!!
Michel:
Nein?? —
(macht grimmig Miene, sie niederzusetzen)
Lise
(ihn bang umhalsend): Ja, Michel, schnell — —
(Er trägt sie über den schwarzen Schleier hinweg ins Haus; auf seinem Rücken baumelt in ihrer Hand die zerrissene Zippelmütze.)
Eulenspiegel
(taucht aus dem Souffleurkasten auf, seinen Schellenzipfel schwingend):
Es lebe dein Stammhalter, Michel Michael!!!
(Vorhang)

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Druck der
Spamerschen Buchdruckerei
in Leipzig

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