The Project Gutenberg eBook of Der Klausenhof: Roman

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Title: Der Klausenhof: Roman

Author: Angela Langer

Release date: March 18, 2020 [eBook #61633]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER KLAUSENHOF: ROMAN ***


Der Klausenhof

Roman
von
Angela Langer

S. Fischer, Verlag, Berlin
1916

Alle Rechte, besonders die der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1916 S. Fischer, Verlag, Berlin


Der Klausenhof

Erstes Kapitel

Die Baukommission war wieder einmal den Berg heraufgekommen. Östlich vom Klausenhof, keine fünfzig Meter davon, gerade an der Stelle, wo der Wald mit tiefdunklen Tannen und hellgrünen Lärchen einsetzte, machte sie halt und begann den Boden zu prüfen und zu messen.

Unten auf der Wiese standen der Klausenbauer und sein Sohn. Sie hatten die Fremden den steilen Weg emporkommen sehen, hatten sie ihre rätselhaften Geräte auf dem grünen Waldboden ausbreiten sehen, und nun stockten sie in ihrer Arbeit und sahen sich schweigend an. Der Sohn hinab zu dem Vater, der Vater hinauf zu dem Sohn. Und respektvoll wartete der Junge, bis der Alte reden würde. Aber der Alte redete nicht. Er spuckte in seine ledernen Hände, griff nach der Hacke und führte gegen den fetten, lockeren Boden zähe, energische Streiche. Da nahm auch der Junge seine Arbeit wieder auf. Aber seine Finger zitterten nicht um den Schaft der Hacke, und in seinen Augen lag kein Zorn. – Was war auch so sehr Böses daran, daß sie hier oben bauten? Die Schuld lag beim Vater. Hätte er doch den Wald vor sechs Jahren erstanden. Damals fing es an. Erst das Haus am äußersten Bergrand. Breit, behäbig, als ob es ein uraltes Recht hätte dort zu stehen, erhob es sich aus dem Boden, und als es fertig war, erhielt es den Namen »Waldfriede«. Den Winter über merkten die Klausen kaum etwas davon, aber mit dem Sommer begannen sie es zu spüren. Die Eigentümer der Villa zogen herauf, und nun wehten bald im Wald, bald auf den Wiesen die Schleier der Frau Doktor. Noch im selben Jahre erbaute man zwei andere Villen, im nächsten Jahr noch eine. – Und der Klausenhof, der seit Jahrzehnten stolz und einsam auf dem Berg gestanden, stand nicht mehr allein.

Das kam den Klausenbauern vor wie ein Unglück.

Seit Generationen und Generationen war kein fremder Mensch auf den Berg gekommen, und nun traf man bald da, bald dort diese neuen Leute mit ihrem weichlichen Getue. Aber ihre Villen lagen doch tiefer unten, denn die weiten Wiesen, die den Klausenhof umgaben und zum Klausenhof gehörten, wehrten jede Ansiedelung in der Nähe. Nur der Wald war fremdes Gut. Das hatte den Klausenbauern längst Sorge gemacht, und sie hätten ihn gerne erstanden. An Geld hätte es auch nicht gefehlt, denn sie waren reiche Bauern. Aber der Alte war langsam, bedächtig und schwer von Entschluß. – Ja, schwer von Entschluß – und der Junge erschrak über seine Respektlosigkeit und schaute scheu auf den Alten. Der aber war ruhig geworden und arbeitete fort, als gäbe es nichts. Nur den Blick des Jungen vermied er geflissentlich, und als Stephan das merkte, fiel ihm ein, daß er zu den Knechten müsse. Darauf nickte der Alte, aber es war wie eine traurige Antwort auf eine traurige Frage. Das schnitt Stephan ins Herz, und er dachte: »Könnte ich ihn nicht trösten? Er meint, mir liegt etwas an dem Wald.« Aber die Worte, die er reden wollte, freundliche, begütigende Worte, überschlugen sich in seiner Kehle mit dumpfem Geräusch, und als sie endlich heraus waren, sagten sie etwas Gleichgültiges über eine der Wiesen weiter unten. Ganz beschämt nahm er seine Hacke und ging.

Das war die Art der Klausen. Vater und Sohn innerlich voll Liebe zueinander, aber im Verkehr herb und stolz wie Herr und Diener. Ja, es herrschte Zucht unter den Klausen.

Vor dem Bauernhaus stieß Stephan auf die Knechte. Sie brachten das erste Heu herein und schoberten es haushoch auf. Er sprach ein paar Worte mit ihnen, dann schritt er in den Hof und begegnete seiner älteren Schwester Therese. Sie kam aus den Ställen, die derben Lederschuhe bis zu den Knöcheln voll Kot. Mürrisch lief sie an ihm vorbei, hastete irgendwohin. Sie war immer dort, wo es am meisten zu tun gab, arbeitete mehr als zwei Dienstboten zusammen, und Stephan hatte große Achtung vor ihr. Aber keine besondere Liebe. Seine Zuneigung galt der jüngeren Schwester Maria. Sie war gleich ihm ein wenig aus der Art. Nicht überfleißig, verstohlen heiter und zu Kurzweil aufgelegt. Das hatte ihnen früher von den Eltern manches scharfe Wort eingebracht, so daß sie sich gewöhnten, ihre Freude zu verbergen und ihr Lächeln zu unterdrücken. Aber in den Ställen, in den Scheunen, im Wald, und wo immer sie allein waren, holten sie ihre Munterkeit hervor und spotteten oft genug über Therese, über ihre unschönen Züge und ihren schweren, raschen Gang. Später wurden sie ernster, unterschieden sich aber doch noch immer von den andern Klausen. Maria arbeitete im Küchengarten und winkte, als sie den Bruder kommen sah. Stephan wollte eigentlich in die Küche, doch nun ging er daran vorbei und trat zu Maria in den Garten. Als sie dann beisammen standen, merkte man erst, wie groß der junge Klausen war. Einen guten Kopf höher als das Mädchen, das auch nicht zu den Kleinen zählte. Im Antlitz aber Zug um Zug Abkömmlinge der Klausen. Hochgezogene Augenbrauen, schwere Lider und einen festen, schmalen Mund. Nur der strenge Strich um die Lippen fehlte bei den beiden, den man am Vater und der älteren Schwester so deutlich wahrnehmen konnte.

Maria zeigte Stephan die Pflanzen, die sie soeben gesetzt hatte, und als sie nach einer Weile den Weg in das Haus einschlugen, sagte er: »Weißt du es schon, daß im Wald gebaut wird?«

»Im Wald?« fragte sie schnell, »wo?«

»Gleich hinter uns.«

Da stieg eine feine Röte bis in ihre Schläfen auf, und sie wandte sich an den Bruder mit blitzenden Augen.

»Warum hast du Vater nicht längst dazu überredet, daß er den Wald kauft?«

Ihr Vorwurf ärgerte ihn, zugleich aber freute ihn ihr Eifer. Die Unnahbarkeit der Klausen sprach daraus.

»Du weißt,« sagte er, »Vater läßt schwer mit sich über Geschäfte reden.«

Sie aber war sehr zornig.

»Daß der Wald nicht längst uns gehört, ist deine Schuld. Die früheren Klausen hätten natürlich nie daran gedacht, daß Fremde heraufkommen könnten. Aber als sie vor sechs Jahren zu bauen anfingen, hättest du daran denken müssen. Vom Vater konnte man so etwas nicht verlangen. Er war immer so – du weißt wie ich meine – zäh am Hergekommenen – – aber du – –, wenn sie jetzt den Wald niederreißen und eine Stadt aufbauen, kannst du dir vorstellen, wie das hier oben aussehen wird?«

Es war der erste ernstliche Zwist, den die Geschwister miteinander hatten, und Stephan sann nach, wie er das erregte Mädchen begütigen könne.

»Den ganzen Wald niederreißen, aber Maria, davon kann keine Rede sein. Da müßten sie ja den ganzen Berg wegräumen. Ich glaube auch, daß sie weiter hinauf nicht mehr bauen, denn sie finden keinen Schutz gegen den Wind. – Und wenn sie auch den ganzen Berg wegräumten und eine Stadt hier oben erbauten, du und ich, Maria, würden das kaum mehr erleben.«

Da trat sie dicht an ihn heran und sagte leidenschaftlich: »Du bist ein schlechter Klausen.«

Dann ließ sie ihn stehen und ging in das Haus.

Obwohl es Mittag war und Stephan wußte, daß seine Mutter auf ihn wartete, folgte er doch nicht, sondern blieb bei der Mauer stehen, wo er gerade stand. Und die Luft wurde voll mit einem merkwürdigen Getöse, und von allen Seiten klang es zu ihm: »Du bist ein schlechter Klausen.«

Aber nein – das war nur die Glocke, die die Leute zu Mittag rief. Und Stephan starrte auf die Knechte, die über den Hof kamen. Derbe, tüchtige Leute, erfahren und erprobt. Bauern von oben bis unten und den Klausen zäh ergeben. – Und einmal würde er Herr sein über diese Leute – ein schlechter Herr – ein schlechter Klausen – ja, er hatte es längst gespürt.

Schweißtropfen traten auf seine Stirn, und er wischte sie ungeschickt hinweg. Dann schritt er langsam um den Hof. Ohne jede Zierlichkeit, ein breiter, massiver Kasten lag er da. Aber vornehm durch sein Alter und seine Weltgeschiedenheit. Das Stammhaus der Klausen, 1300 Meter hoch, mit rissigen, sturmfesten Mauern, der ragenden Windmühle dahinter, und über dem Tor in roter, verblichener Farbe den trotzigen Spruch:

»Wer baut an den Straßen,
Muß jeden reden lassen.
Der eine schaut vor,
Der eine schaut vor,
Der andere hinten,
So wird jeder einen Tadel finden.«  
Adalbert Klausen.

Stephan schaute noch immer auf den Namen unter dem Spruch. »Adalbert Klausen.« Der Name stand allein unter den anderen Namen – Adalbert. –

Niemand wußte etwas über sein Leben, nur daß er den Hof erbaut hatte, stand fest – und daß er ein Geschlecht hinterlassen hatte, das auf sich stolz sein konnte, bis – ja, bis auf den einen. –

Stephan straffte sich plötzlich in jähem Trotz.

Warum aber war er ein schlechter Klausen? Sah er etwa die neuen Ansiedelungen gern? Nein, gewiß nicht. Dann, warum war er schlechter als die andern Klausen? – Wie waren eigentlich die Klausen immer gewesen? Es gab eine Menge Geschichten darüber. Jeden Winter erzählten sie die Knechte aufs neue. Ein Klausen hatte einmal eine mittlere Eiche samt den Wurzeln aus dem Boden gerissen. Ein anderer hatte einen wütenden Stier ohne jede Waffe mit der Kraft seiner Arme gebändigt. Ein dritter hatte sich an einen Wagen, der schwer mit Steinen beladen war, gespannt und ihn den Berg heraufgezogen. – Also stark waren alle Klausen gewesen, stark und tapfer – aber war er das denn nicht auch? Stephan spreizte die Finger und sah hinab auf seine Hände. Große, braune Hände waren es, aber nicht breit und hart wie die des Vaters, sondern eher schlank und weich. Ja, er hatte zu lange in der Schule gesessen – und im plötzlichen Zorn drückte er die Rechte zur Faust. Die Nägel gruben sich in die Handfläche, und immer tiefer grub er sie. Erst zeigten sich vier rote Male, dann zeigten sich vier rote Tropfen, und schließlich zeigten sich vier rote Bächlein, die durch die Finger sickerten. –

Da erschien im Garteneingang, noch schmollend und gekränkt, aber doch Versöhnung wünschend nach echter Frauenart, abermals Maria. Zögernd blieb sie in der Türe stehen, da sie dachte, daß der Bruder ihr entgegenkommen werde. Weil er aber nicht kam, sich nicht rührte, trat sie zu ihm. Dann schrie sie laut auf. Stephan aber dachte an die Mutter, die erschrecken würde, und herrschte sie an: »Schweig.« Darauf spannte er die erstarrten Finger auseinander, hielt ihr die blutüberströmte Hand entgegen und fragte:

»Bin ich schlechter als die andern Klausen?«

Da begriff sie. Nun wollte sie aber nicht jammern, sondern zeigen, daß sie auch eine Klausen sei. Sie löste ihr Halstüchlein und wischte das Blut von seiner Hand. Dann küßte sie die Wundmale, küßte sie einzeln, leise und zärtlich, und dabei sagte sie:

»Du bist der beste Klausen.«

Zweites Kapitel

Der Sommer hatte in diesem Jahre besonders früh eingesetzt, und die Junitage kamen mit heißem Atem und Dunstmänteln. Erst lungerten sie im Tale herum, hatten nichts Schlechtes im Sinne und lachten nur unbändig über die Erde, die unter den Tritten ihrer ungestümen Gäste keuchte und an Blüten und Blumen brachte, was sie besaß. Nach einer Weile aber wurde ihnen ihr eigenes sanftes Spiel zuwider. Sie spien Staub, daß das Land rauchte, verbrannten Blüten und Blumen, soffen die Bächlein leer, hockten sich an die Landesflüsse und steckten ihre glühenden Mäuler hinein, daß das Wasser aufzischte und schwand. Und als im Tale kein Tropfen Feuchtigkeit mehr war, wurden sie matt vom eigenen Ungestüm und klommen auf die Höhen. Oben war es frisch und kühl. Da kamen sie wieder zu sich, rollten lachend über die Hänge, und wo sie einen Menschen trafen, sprangen sie ihm auf die Schultern und preßten ihre Finger um seine Kehle. Aber die Leute da oben waren zäh.

Am allerzähesten die Leute vom Klausenhof.

Die Knechte warfen ihre Joppen, die Mägde ihre Tüchlein weg, und unablässig arbeiteten sie weiter. Heute auch. Plötzlich aber hielten sie inne, stützten sich auf ihre Schaufeln und Rechen und horchten auf. – Durch die Hitze und den Dunst des Mittags klang vom Hof her die Alarmglocke. Schrill und schneidend, wie um Hilfe rufend, ertönte sie und zeigte an, daß etwas Entsetzliches geschehen sei. –

»Feuer!«

Dieses eine Wort fuhr durch die Köpfe der Leute, und nun kam Leben in die erstarrten Gruppen. Und noch etwas anderes kam. Etwas Merkwürdiges, bei diesem treuen, jahrelang erprobten Gesinde nie Dagewesenes: eine wilde Angst um die eigene Habe. Die Mägde dachten an ihren Sonntagsstaat, die Knechte an ihre silbernen Uhren. Aber keines unter ihnen dachte an den Bauer, an die Bäuerin oder an den alten Hof. Mit großen Schritten hasteten sie heimwärts, rochen Rauch in der Einbildung und sahen ihre geringen Schätze bereits verkohlt. –

Gerade als sie auf die Höhe kamen und den Klausenhof still und friedlich ohne Rauch und Flammen auf dem gewohnten Orte sahen, hörte die Glocke auf. Darauf herrschte eine so unheimliche Stille, daß sie sich fürchteten, obwohl es heller Tag war.

Unwillkürlich rückten sie zusammen, und der älteste Knecht sagte: »Es muß eine plötzliche Seuche unter das Vieh gekommen sein.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, faltete er die Hände und begann das Bittgebet, das sie bei Seuchen immer beteten. Die andern folgten Wort für Wort, und als sie damit fertig waren, langten sie bei der Haustüre an. Aber obwohl keines unter ihnen dachte, daß irgendetwas Schreckliches im Hause zu sehen sei, wagte sich doch niemand hinein. Scheu aneinandergedrückt blieben sie stehen und wunderten sich nur, daß alles so still blieb.

Plötzlich öffnete sich die Tür mit einem Ruck nach innen, und auf der Schwelle erschien eine Schar Männer und Frauen. Allen voran der junge Klausen, den rechten Arm um die Mutter geschlungen, die sich schwer auf ihn stützte und leise weinte. Als sie die fassungslosen Gesichter der Leute sah, schluchzte sie laut auf. Dann aber beherrschte sie sich und sagte:

»Der Bauer ist tot.«

Das traf wie ein Schlag. Alles hätten sie eher erwartet.

Der Bauer tot! Der Bauer, der nie eine Stunde krank gewesen, der bei keiner Arbeit fehlte und rüstiger war als mancher Junge. – Der Bauer tot! – Und nun fiel ihnen ein, wie gut er war. Wie reichlich er den Wein bemaß und jedes Jahr um einen halben Silbergulden ihre Löhne besserte. – Und voll Scham dachten sie an ihre Bänder und Uhren, die ihnen im Augenblick der Gefahr zuerst einfielen. – Dann stolperten sie in die Stube, worin der Tote war. Ein weißes Tüchlein lag auf seinem Gesicht, aber sein Anzug, das Bett und die Dielen waren voll Blut. Während die Leute ihre schweren Hände, die so viele Jahre für den Bauer gearbeitet hatten, steif und mühsam ineinanderfalteteten, suchten ihre stumpfen Gehirne nach einer Erklärung. Was war denn eigentlich geschehen? – Endlich sagte es ihnen jemand. Drüben beim neuen Bau hatten fremde Arbeiter mit dem Sprengen begonnen, und ein Felsstück traf den Bauer, als er auf der Wiese Heu einfuhr. Man könne aber niemand zur Verantwortung ziehen, denn die Tafel, die gegen das Betreten der nahen Gründe während der Sprengzeit warnte, war aufgepflanzt gewesen. Es wäre des Bauern eigene Schuld. –

Die ganze Nacht wurde gebetet, und Stephan, als der neue Herr, betete vor. Einmal aber gegen Mitternacht trat er hinaus. Er durchschritt den Hofraum und öffnete das Tor. Die Nacht war kühl und hell. Weiß und glatt wie ausgespannte Tücher lagen die Wiesen vor dem Haus. Aber östlich, wo der Wald begann, war der Grund zerrissen, und gestürzte Lärchen lagen links und rechts ... lagen steif und lang wie Tote ... Da hob Stephan die Arme wie in einer mächtigen Verzweiflung und sagte: »Du Unglückshaus!«

Drittes Kapitel

Im Klausenhof ging bald wieder alles den gewohnten Gang. Es wäre auch nicht anders möglich gewesen, denn es gab immer zu tun, und die Mühen halfen über vieles hinweg.

Anfangs spürte man allerdings stark, daß der Alte fehlte. Er hatte so wacker bei der Arbeit mitgeholfen und besaß so viel Einsicht und Erfahrung, daß der älteste Knecht wie ein Knabe war neben ihm. Er hatte auch die Fäden der ganzen Wirtschaft in der Hand gehalten und wußte allein Bescheid über alles. Oft hatten sie sich nach seinem Heimgang ratlos angeschaut und gewünscht, daß er nur noch einmal bei ihnen wäre, daß sie ihn um dies oder jenes fragen könnten. Am meisten aber fehlte der Vater dem Sohn.

Plötzlich zu Selbständigkeit und Verantwortung gelangt, merkte der Junge nun, wie weit weg er eigentlich von einem richtigen Bauer war. Und jedesmal, wenn er einen Fehler begangen hatte und ihm der älteste Knecht bescheiden seinen Rat antrug, schämte er sich und dachte, er sei am Ende doch ein schlechter Klausen. – Dann griff er tagsüber nach der schwersten Arbeit und stöberte des Nachts in landwirtschaftlichen Büchern. Aber trotz der schweren Arbeit und der landwirtschaftlichen Bücher wußte er doch nie richtig Bescheid, wenn es sich um etwas Wichtiges handelte. In einer solchen Not kam ihm einmal Therese zu Hilfe. Damals wunderte er sich, wie klug sie dachte und wie beherzt sie die Sache anpackte. Seitdem frug er sie öfters um ihre Meinung und entdeckte dabei immer mehr, wie sehr sie innerlich und äußerlich dem Vater glich. – Maria ging es wie ihm. Sie hatte manches nachzuholen und begann von der Schwester zu lernen. Aber trotzdem sie überall zugriff und hinter den andern nicht zurückstehen mochte, beschäftigte sie sich doch am liebsten in Garten und Küche und ging nur selten in die Ställe oder in das Feld. Auch ließ sie die Mutter nicht gern allein, die, trotzdem es nun schon Herbst wurde, noch immer um den Vater weinte. Allerdings nur heimlich, wenn sie niemand sah. Diesen Zug hatten sie übrigens alle. Jedes trauerte um den Verstorbenen, jedoch keines sprach davon. Nur Maria schluchzte manchmal plötzlich auf, wenn sie mit Stephan allein war. Dann strich er wortlos über ihr Haar, horchte aber dabei hinaus auf den Gang, ob auch niemand käme. –

Drüben im Walde aber wurde gebaut. Schwere Zugochsen brachten täglich große Ladungen von Sparren und Balken herauf, und geübte Hände fügten sie kunstvoll ineinander. Wie ein Feenschlößchen, so zauberschnell, so leicht und zierlich, mit Gesimsen, Erkern und Balkonen wuchs die Villa zwischen den Bäumen auf. Das Erdgeschoß war aus Stein, aber der ganze obere Teil bestand aus geschnitztem und gebranntem Holz. Vom Dache strebten drei schlanke Türme mit schönem Ebenmaß empor, und die vergoldeten Spitzen ihrer Blitzableiter ragten leuchtend, glückverheißend neben den höchsten Lärchen auf. – Und als die Handwerker ihre Arbeit getan hatten, kamen Künstler und schmückten das Haus innen wie außen mit Bildern und Sprüchen. Auf der Seite gegen den Wald war zu lesen:

»Auf hoher Warte rag' ich da,
Dem Tale fern, dem Himmel nah,
Blick' weit hinaus ins freie Land
Und stehe so in Gottes Hand.«

Über dem großen, geschnitzten Eingangstore aber stand:

»Grüß Gott, tritt ein,
Bring Glück herein.«

Und so oft einer von den Klausen die Aufschrift sah, dachte er an den toten Vater und lächelte bitter. Andere Leute aber, die des Weges kamen, blieben vor dem Bau bewundernd stehen, und die Träumer unter ihnen meinten, daß nur bevorzugte Menschenkinder mit heiterem Herzen und sorglosen Sinnen dieses Haus bewohnen würden. – Vorläufig aber wohnte niemand drinnen.

Der Winter stand hinter den Bergen und hatte seine ersten schweren Stürme bereits herübergeschickt. Nicht lange danach kam er selbst, hetzte seine Nebelschwaden wie Hunde auf die Sonne und pflanzte, als sie nach langem Kampfe ihre Königskrone dem Sieger vor die Füße legte, in den Feldern, in den Wäldern, auf den Wiesen, auf den Matten seine weiße Fahne auf.

Da wurde es still auf der Höhe und still im Klausenhof.

Die Knechte und Mägde arbeiteten zwar wie früher, aber über ihrem ganzen Tun und Gehaben lag eine ernste Bedächtigkeit, die gut übereinstimmte mit dem feierlichen Ebenmaß, das der Schnee ringsum geschaffen hatte. Alles Schroffe war verschwunden, alle Gegensätze waren fort. In langen, weichen Wellenlinien erstreckte sich der Berg bis zu den Wäldern, und der Klausenhof, der sonst so breit und stattlich auf seiner Höhe stand, sah aus wie ein verschneiter Vogel, der sich frierend niederduckt.

Drinnen aber war es warm und gemütlich. In dem mächtigen Kachelofen brannten Tag und Nacht große, duftende Scheite, und von morgens bis abends surrten die Spinnrocken der beiden Schwestern daneben. Therese sollte nächstes Frühjahr Hochzeit halten, da mochte wohl das Rädchen surren! Ein heimlicher Liebeszauber hatte nun endlich die stolze, nüchterne Klausin ergriffen, und sie spann die Träume aller Bräute in die groben Fäden ein. Maria, sanft und gut wie immer, sann auch viel über die Zukunft ihrer Schwester. Dabei ließ sie nun schon öfters die schlanken Hände von dem Rocken gleiten und ertappte sich auf fremden, drängenden Gedanken. Der vorwurfsvolle Blick Theresens, die Müßiggang nicht leiden konnte, brachte sie dann erst zurück, und hastig, mit doppeltem Eifer, nahm sie die Arbeit auf. – Die Mutter kränkelte seit dem Herbst und war nicht mehr so rüstig wie früher. Maria umgab sie mit zärtlichster Sorge, aber so dankbar auch die alte Frau für alle Liebe war, erhielten ihre Augen doch erst den rechten Glanz, wenn sie am Abend Stephans Schritt im Flur vernahm. Dann wurde sie gesund, wurde jung und bemühte sich um ihn mit rührender Geschäftigkeit. Das aber verdroß Maria aus geheimer Eifersucht. Sie sprang dann auch schnell vom Rocken, lief in die Küche und bemächtigte sich der Dinge, die sie zur Herstellung seines Abendbrotes brauchte. Stephan besänftigte mit einem raschen Lächeln den aufwallenden Groll der Mutter, zog aus seiner Jagdtasche einen seltenen Vogel oder ein schönes Stück Wild und erzählte, wie er dazu gekommen sei. Dabei aber sah er durch die offene Tür in die Küche nach Maria, die mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen, funkenumsprüht beim Herde stand. Dann wunderte und freute er sich über ihre Schönheit und dachte an die Zukunft. Dachte, wie er und Maria allein hier am Hofe bleiben würden, wenn Therese ging ... und später die Mutter auch ... Und bei dem letzten Gedanken drängte er sich näher an die alte Frau ... Während alledem Therese spann. Ihr Blick war hart wie immer, und schärfer als gewöhnlich lag um ihren Mund der strenge Zug der Klausen. Sie spürte den stummen Kampf der Liebe und der Eifersucht, den die drei miteinander führten, und sie konnte die Mutter, die Schwester und den Bruder nicht verstehen. –

Heute blieb Stephan ungewöhnlich lange aus. Die Bäuerin begann schon unruhig auf und ab zu wandern, und Maria horchte beständig nach der Türe. Endlich kam er. Sie hörten, wie er draußen den Schnee von den Stiefeln stampfte. Es mußte aber noch jemand mit ihm gekommen sein, denn es erklangen viele Tritte. Therese hielt einen Augenblick im Spinnen inne, und in Marias Wangen stieg ein feines Rot. Dann ging die Türe auf, und Stephan und zwei Männer traten ein. Der eine von den Besuchern war Theresens Bräutigam, ein wohlhabender Bauer aus der Nachbarschaft, und der zweite war ein junger Jäger. Therese begrüßte ihren Bräutigam mit einer schönen Wärme in den sonst wechsellosen Augen und ging dann in die Küche, um den Männern mit einer warmen Speise aufzuwarten.

Maria grüßte die Besucher mit zwangloser Freundlichkeit, zeigte sich aber ein wenig scheu dem Jäger gegenüber und vermied, soviel es ging, den Blick des Bruders. Dann begann sie der Schwester zu helfen. Geschäftig, aber ohne Hast ging sie hin und her, stellte die langen Bänke rings um das Feuer, deckte den Tisch, brachte Brot und Wein und beteiligte sich hier und da mit einigen Worten am Gespräch. Nach dem Essen ließen sich die drei Männer auf den Bänken um das Feuer nieder; die Bäuerin machte es sich in ihrem Großvaterstuhl bequem; die Mädchen setzten sich wieder an ihre Rocken, und nun wurde die Unterhaltung eine allgemeine.

Stephan erzählte von frischen Schlägen im Wald, Theresens Bräutigam berichtete von einer jungen Magd, der Geisler-Toni, die er wegen Diebereien fortgejagt hatte, und der Jäger sprach über sein Gewehr. Er streichelte den langen, glänzenden Lauf und sagte:

»Es ist das beste Gewehr im Land. Oft genug schon hätte ich es teuer verkaufen oder gegen ein feineres, neueres umtauschen können. Ihr solltet gehört haben, wie beim letzten Scheibenschießen der Oberförster aus Deutnofen darum feilschte. Zum Schluß versprach er mir sogar eine Försterei.«

»Welche?«

»Unten in Kampenn.«

»Und die hast du abgeschlagen!«

»Ja ...,« er stockte, sah hinüber zu Maria, deren Rocken plötzlich schwieg, errötete stark, und sagte:

»... sie war mir zu klein ...«

Dann war er wieder ganz unbefangen, und Marias Rocken setzte auch wieder ein. Stephan wollte das Gewehr näher beschauen und langte danach. Als er es in die Hand nahm, schlug im Hofe der Hund an.

Laut und zornig klang sein Gekläff in die Stube, und die Kette, woran er befestigt war, klirrte dazu. Aber weder Stephan noch sonst jemand kümmerte sich darum, da sie dachten, es handle sich um einen verspäteten oder wegmüden Wanderer, den die Knechte schon erquicken und für die Nacht unterbringen würden. Eine kleine Kammer in der Nähe der Scheunen war für solche Fälle da. Plötzlich aber wurde die Tür aufgestoßen, und wie hereingeschleudert von einem eisigen Windstoß, der für Augenblicke das Zimmer kalt machte, stand ein Mädchen da.

In tausend Rinnchen floß der Schnee von ihren dünnen Kleidern, nur auf dem unbedeckten Kopf lag er dicht und fest wie eine weiße, krause Mütze. Vielleicht aus Schmerz, vielleicht aus Kälte preßte sie die Hände an die Brust, und aus ihren Augen sprach es wie Zorn und Weinen. Alle sahen sie erstaunt an, ausgenommen Theresens Bräutigam. Unwillig sprang er auf und herrschte sie an:

»Was soll das, Toni? Wo kommst du her?«

Das Mädchen aber sah an ihm vorbei und blickte auf Therese.

»Ich komme zu Euch,« sagte es, »daß Ihr den Bauern bitten möget, mich zurückzunehmen. Ich habe eine alte Mutter zu Hause – erbarmet Euch, ich will nie wieder stehlen.«

Ohne Scham, ohne Zögern, sprach sie das letzte Wort, und alle wußten nun, wer sie war. Den Bauern schienen der flehende Ton und die bittenden Worte bereits milder gestimmt zu haben, denn die zornige Röte wich aus seinen Wangen, und fragend blickte er Therese an. Diese aber trat hastig vor und sagte:

»Ihr habt einen weiten Weg gemacht, aber Ihr habt ihn umsonst gemacht. Diebe kann man nicht auf ehrlichen Höfen brauchen.«

Da schämte sich ihr Verlobter seiner Schwäche, und während er Theresens Hand erfaßte, wie sich an ihrer Stärke zu erhärten, sagte er:

»Ja, sie hat recht. Diebe kann man nicht auf ehrlichen Höfen brauchen.« Da trat in Tonis Augen ein böses Licht, und während Schaum von ihren Lippen spritzte, schrie sie: »So seid verflucht!«

Dann war sie fort, und in das Zimmer drang wieder der eisige Wind, den sie zuerst gebracht hatte und unter dem die Zurückgebliebenen zu erstarren schienen, denn keines regte sich. Abergläubisch, wie alle Bergbewohner, hatten die Worte des Mädchens ihre Wirkung auf sie nicht verfehlt. Stumm, mit eingehaltenem Atem sahen sie einander an.

Die Bäuerin war die erste, die sich ermannte. Langsam, andächtig bekreuzte sie sich, und Maria tat das gleiche. Die Männer hoben die Hände, hielten sie unschlüssig in der Luft und ließen sie wieder sinken ... sie waren keine Feiglinge, aber so ein Fluch ist etwas Schreckliches ... und heimlich, voneinander abgewendet, machten sie das Kreuz. Nur Therese nicht. Ihre Wangen waren bleich bis an die Lippen, aber Blick und Gebärde ruhig, unerschüttert. Mit Fraueninstinkt fühlte sie, um was es jetzt ging. Um Herzensruhe. Um Herzensglück. Ohne ein Wort zu reden, setzte sie sich wieder an den Rocken und nahm die Arbeit auf. Aber ihre Hände zitterten, und der Faden riß hintereinander. Maria legte frische Scheite in den Herd, und die Männer versuchten es wieder mit dem Reden. Es kam jedoch nichts Rechtes mehr dabei heraus, und schließlich brachen die Besucher auf. Therese begleitete ihren Bräutigam über den verschneiten Hof bis an das Tor. Dort blieben sie trotz der Kälte stehen, und der Bauer nahm ihre Hände. Er spürte, daß sie eiskalt waren, und rieb sie sachte an den seinen. Dabei fragte er: »Fürchtest du dich?« Da sah sie ihn voll an und sagte fest »Nein«.

Darauf nickte er, und sie trennten sich. Als Therese dann aber allein in ihrer schmucklosen Kammer war, entzündete sie eine geweihte Kerze und stellte sie vor dem Bildnis des heiligen Benediktus auf. Dabei flüsterte sie: »Heiliger Benediktus, der du Vieh und Leute vor Zauberei beschützest, schirme und bewahre uns.«

Das tat sie jeden Abend den ganzen Winter durch bis zu ihrem Hochzeitstag. – Der kam mit dem Föhn und den Schneeglocken. Aber es waren unverläßliche Frühlingszeichen. Der Winter saß noch fest im Land. Therese hatte den ganzen Tag ein Gefühl von Glück und Beschämung. Sie war das Getue um sich nicht gewohnt, und nun drehte sich schon seit einer Woche alles um sie. Jedes zweite Wort hieß Therese, und all die neuen, hübschen Dinge, die überall herumlagen, gehörten ihr. Gestern, am Vorabend des großen Tages, kam Maria ganz spät in ihre Kammer, blieb eine Weile verlegen stehen, fing dann zu weinen an und bat Therese, ihr zu verzeihen. – Was? Therese konnte sich auf kein Unrecht der Schwester besinnen, und ihr wurde hilflos zu Mute. – Es gab doch nichts zu verzeihen. – Daß sie einander nie so recht verstanden hatten, dafür konnte niemand. Stephan und Maria waren eben anders als die andern Klausen. Sie dachte plötzlich an den Vater und wurde ernst im Gedanken, daß er diesen Tag nicht mehr erlebt hatte. Er hätte sich darüber gefreut ... heimlich zusammen hätten sie sich darüber gefreut, wie die andern zwei sich immer freuten ... Herb, hart, feindselig leuchtete es einen Moment in ihren Augen auf. Dann aber trieb sie die uneinigen Bilder fort, faßte Marias Hände und sagte freundlich:

»Du warst ja immer gut, Maria.«

Und heute! Heute wich Maria keinen Schritt von ihrer Seite, nahm ihr jede Arbeit aus der Hand und erinnerte sie tausendmal, daß sie in ein paar Stunden Hochzeit habe. Und gegen Mittag schritten sie Hand in Hand in Theresens Stübchen, wo auf dem schmalen Mädchenbett das Ehrenkleid aus schwarzer, starrer Seide lag. Da kam es wie eine Verwandlung über das steife, ältliche Mädchen. Ihre Wangen begannen sich zu färben, ihre rauhen Finger fuhren über den glänzenden Stoff, und plötzlich drückte sie das Gesicht tief in die knisternde Seide. Maria hatte Therese nie so weich, so haltlos gesehen und umschlang sie wie in Angst. Das brachte Therese zu sich. – »Weißt du, Maria,« sagte sie, mit den Augen fest auf dem Kleid, »manchmal glaube ich, ich verdiene es gar nicht!«

»Was?«

»All das Glück.«

»Aber Therese ...«

»Ich meine, Maria, es ist eigentlich eine Sünde gegen den Hof.«

»Daß du fortgehst?«

»Ja!«

»Aber warum gegen den Hof?«

»Ich meine ... schau, wenn man bedenkt, was für Freude so eine Wirtschaft macht. Und dann gar unsere Wirtschaft. Der Klausenhof ist kein gewöhnlicher Hof. Ich glaube, im ganzen Land gibt es keinen, den man damit vergleichen könnte ... Und wenn man daran denkt, wie er gehalten wurde; – vom Vater, vom Großvater und von den andern. Und jeder von uns tat sein Teil daran und ist ein Teil davon.«

Sie sorgt sich um den Hof, dachte Maria, sie sorgt sich darum, weil sie weiß, daß weder Stephan noch ich für die Wirtschaft taugen. Laut aber sagte sie: »Aber schau, Therese, du gehst ja so gern.«

»Das ist es ja eben.« Therese stockte verwirrt, »das ist es ja, was ich meine, daß ich imstande bin zu gehen und so gern.«

»Gehst du so gern?«

»Ja ...,« sie stockte abermals, und während sich ihre Wangen verdunkelten, schloß sie: »Du kannst ja nicht begreifen, wie das ist, wenn man einen Mann so lieb hat.... Alles täte man für ihn, immer möchte man bei ihm sein, und man ginge mit ihm bis ans Ende der Welt ...«

Maria errötete jetzt auch. So offen hatte Therese nie gesprochen. Mit zitternden Fingern hob sie das rauschende Kleid in die Höhe und hielt es gegen das Licht.

»Wie schön du aussehen wirst, Therese.«

Sie nickte verträumt ... »und einmal wirst du auch kommen, Maria.«

»Zu dir?«

»Ja, zu uns.«

Maria versprach es und half ihr in das Kleid. Als die Braut angezogen war, kam die Bäuerin in das Zimmer. Sie weinte, als sie Therese fertig sah, und machte ihr das Zeichen des Kreuzes auf Stirn und Brust. »O Therese ...« und alles andere, das sie sagen wollte, schwemmten neu hervorbrechende Tränen hinweg. Maria versuchte, sie heiter zu stimmen. »Aber, Mutter, Therese geht doch nicht aus der Welt.«

»Daran dachte ich auch gar nicht.«

»Woran denkst du dann?«

»Ich weiß es nicht ... aber wenn ich Therese wäre, würde ich ihn nicht heiraten.«

Dann wischte sie sich die Tränen aus den Augen und blickte auf die beiden Mädchen, um zu sehen, wie sie das aufnahmen. Therese stand still beim Bett, und Maria lehnte sich gegen einen Stuhl. Sie hatte einen Augenblick das Gefühl, als ob sie schwanke, hielt sich aber aufrecht und sagte fest: »Meinst du wegen dem Fluch?«

Endlich war es heraus. Den ganzen Winter hatte es zwischen ihnen gelegen, und keines hatte gewagt, darüber zu reden. Endlich heute ... Maria hatte es gut gemeint. Ohne Scheu, ohne Rücksicht, ohne Ängstlichkeit, glaubte sie, müsse man darüber reden ... es sich ausreden. Nun es aber gesagt war, erschrak sie aufs tiefste ... wollte alles ungesagt machen ... das gräßliche Wort zurückholen. Aber es hing schon in der Luft, flatterte schon durch die Stube. Die Mutter hatte es schon gehört, denn sie bejahte schluchzend, und Therese mußte es auch gehört haben. Langsam wandte Maria den Kopf nach ihr. Die stand noch immer beim Bett, ruhig wie vorher. Als aber die Bäuerin jetzt laut zu beten begann, Gebete gegen den Teufel und gegen die Zauberei, trat Therese vor. Im starren, schwarzen Seidenkleid, Gesicht und Hände blaß, sagte sie mit schweren, zwingenden Lauten: »Ich habe den ganzen Winter Kerzen geopfert.« Sie errötete vor Scham über das Geständnis, gleich aber nahm ihr Gesicht die vorige Ruhe und Blässe wieder an, und sie schritt ihrem Bräutigam entgegen, den sie durch das Fenster über den Hof kommen sah.

Als sie von der Trauung zurückkehrten, blieben sie nun aber nicht mehr lange, denn sie mußten zu Fuß in das neue Heim. Der Weg dorthin ging steil bergab und war nicht fahrbar. Die Bäuerin verabschiedete sich von den Neuvermählten im Zimmer, aber Stephan und Maria begleiteten sie bis an das Tor. Dort blieben sie dann noch stehen und schauten den zweien nach. Als sie so weit waren, daß man sie nicht mehr sehen konnte, blickte Stephan hinüber zu dem Berg, wo Therese fortan leben sollte. Düster und stolz, ein wenig wie Therese selbst, schied er sich von den andern Bergen und trug wie eine Krone den Hof an seiner Spitze. Maria lehnte indessen still beim Tor. Sie dachte an die Försterei in Kampenn und an Förstereien im allgemeinen und kam zu dem Entschluß, daß es auch in kleinen Förstereien schön zu leben sein müsse, wenn man nur das Zeug in sich hat, zufrieden zu sein ... Stephan merkte plötzlich ihre Versonnenheit, und mit einem Male war ihm, als ginge Maria denselben Weg, den Therese eben ging, mit einem Mann an ihrer Seite ...

Mißtrauen und Eifersucht quoll in seinem Herzen auf, aber er beherrschte sich, und zum erstenmal an diesen Gegenstand rührend, fragte er wie im Scherz: »Nun, und du, Maria?«

Darauf fuhr sie zusammen, wurde rot und verlegen, faßte sich aber rasch und sagte schlagfertig: »Nun, und du, Stephan?«

Da wurde sein Gesicht, das so lebhaft jede Regung seiner Seele spiegelte, noch ernster als vorher, und nach einem sinnenden Schweigen sprach er: »Du weißt ja, Maria, daß wir immer davon geredet haben, beisammen zu bleiben.« Nun drückte Maria, wie ihn zu besänftigen, ihre weichen Wangen an den rauhen Ärmel seines Gewandes und sagte, wie ihn auf andere Gedanken zu bringen, zögernd, einschmeichelnd und voll süßer Schelmerei: »Weißt du schon, Stephan, daß seit gestern Leute in der neuen Villa wohnen? ... Nicht? ... O, du hättest sehen sollen, was für prachtvolle Dinge man hineingeschafft hat. Feine, große Schränke, Spiegel mit breiten, goldenen Rahmen, Waschtische mit Marmorplatten, Stühle mit rotsamtenen Überzügen ... und dann an allen Fenstern ... hast du die Vorhänge nicht gesehen? ... sie sind aus himmelblauer Seide.«

Stephan, leicht getäuscht wie alle harmlosen Naturen, merkte ihre Absicht nicht und fragte interessiert: »Und Leute hast du auch gesehen, Maria?«

»Ja, Stephan. Eine alte Frau und einen alten Mann. Aber ich glaube, das sind nur Bedienstete. Wahrscheinlich aber kommt die Herrschaft schon diesen Sommer.«

»Wahrscheinlich.«

Dann befreite er sich aus der leichten Umarmung seiner Schwester und blickte nach der Villa. Das Gebäude lag im Dunkel; plötzlich aber flammte Licht hinter einem Fenster auf. Die Geschwister beobachteten es atemlos, und nach einer Weile sagte Maria: »Es ist weiß wie das Licht der Sonne.«

Darauf Stephan: »Ja, ich kenne es. Wir hatten es in Innsbruck in der Schule und bei der Kostfrau, wo ich zuerst wohnte.«

Sie nickte auf seine Worte und fragte nach einer Pause:

»Warum bist du eigentlich nicht Geistlicher geworden? Hattest du keine Freude am Lernen?«

»Erstens. Und zweitens, weil ich einmal einem Mitschüler ein paar Rippen brach. Ich hatte natürlich nichts Schlechtes im Sinne, sondern wollte ihn nur ein wenig drücken ... aus plötzlicher Freude, weißt du, weil nach langer Regenzeit auf einmal die Sonne durch die Fenster auf die Bänke schien. Das machte mich so froh, ich kann dir nicht sagen wie froh, und ich legte meinen Arm ein wenig um meinen Nachbar. Der aber wurde leichenblaß, schrie auf und sank zurück, als wäre er tot. Den Schreck, den ich damals erlebte, werde ich nie vergessen ... Seit diesem Tag grüßten mich die Lehrkörper immer zuerst, solche Angst hatten sie vor meiner Stärke ... Ich aber dachte dann viel an die heilige Hostie, die der Priester bei der Messe in die Höhe heben muß, und träumte oft, ich hätte den lieben Herrgott mitten entzweigebrochen. Es fing auch wieder zu regnen an, und wenn es regnete, fiel mir das Lernen immer schwerer als sonst ... Aber du mußt nicht denken, daß ich ein Faulenzer war. Es gab nur gewisse Dinge, die mir durchaus nicht in den Kopf wollten. Rechnen zum Beispiel. Am liebsten wäre ich Altertumsforscher geworden. Ja, dazu hätte ich Lust und vielleicht auch Talent gehabt. Aber unser Vater hätte so etwas nie erlaubt. Nach seinen Begriffen gab es nur zwei ehrenvolle Stände: Geistlicher oder Bauer.«

»Und was war dann weiter?«

»O, ich weiß es nimmer. Die Professoren tuschelten, so oft sie mich sahen, und einmal schrieben sie an Vater. Er kam nach Innsbruck, und sie hatten mit ihm lange, geheime Unterredungen. Darauf nahm er mich heim.«

»Und ich weiß noch genau den Tag, an dem du gekommen bist. Unsere Mutter weinte den ganzen Abend, weil sie dachte, du würdest sicher sterben, weil du gar so mager warst ... und weißt du noch, wieviel du damals gegessen hast?«

»Und weißt du noch, wieviel du damals gekocht hast? Es wäre schade gewesen um die guten Sachen.«

Sie lachten und schritten engumschlungen zurück über den Hof. Plötzlich erschien im Rahmen der offenen Küchentür die Bäuerin mit einem Licht in der Hand und hielt Ausschau nach ihren Kindern. Da lösten Stephan und Maria schnell die Arme voneinander, weil sie sich vor der Mutter schämten, daß sie sich so liebhatten, und schritten hintereinander in das Haus.

Viertes Kapitel

Es war wieder Juni geworden. Die breiten Wiesen vor dem Klausenhof lagen dunstend in der Sonne, und wer die Hand an ihre Erde drückte, konnte fühlen, daß sie bebte, wie eine Brust vielleicht, die unter einer Bürde atmet. Abwärts an die Wiesen schlossen sich die Felder und trugen an derselben Schwere. Dort, um das drängende Korn verteilt, arbeiteten die Knechte mit Stephan in ihrer Mitte, der sie alle um Kopfeslänge überragte. Es war keiner unter ihnen so sehnig, so licht und stark wie er. Nach der strengen Zucht, die von jeher am Hofe herrschte, wurde bei keiner Beschäftigung gesprochen. Gleichmäßig, in wortloser Übereinstimmung arbeiteten sie zusammen, bis der Westen brannte. Dann reckten sie ihre krummen Rückgrate, entzündeten ihre Pfeifen, nahmen ihre Werkzeuge auf ihre Schultern und stampften heim. Nur Stephan blieb. Langsam schritt er noch einmal die Wege ab, prüfte und ordnete, wo es noch etwas zu ordnen gab, und verfiel in Träumereien, die zuletzt in leisen Zwiegesprächen mit seinem toten Vater endeten ... »Schau,« sagte er, und beschrieb mit der Hand einen weiten Bogen gegen das blühende Land, »das erste Jahr, das du nicht da bist – ein schweres Jahr und doch voll wunderbarem Segen. Schau nur das Korn an, es ist noch ganz grün und kann sich doch schon nimmer halten vor lauter Schwere in den Ähren.«

»Ja, das Korn steht schön.«

»Und im Haus, Vater, geht auch alles viel besser, als wir dachten, daß es gehen würde. Maria ist viel tüchtiger, als wir alle glaubten, und seit Therese nimmer da ist, merkt man erst, was sie leisten kann. Freilich, sie war ja auch schon vierundzwanzig Jahre letzte Woche.«

»Vierundzwanzig ... ja, sie kommt in die Jahre ... sag, Stephan, wie wird denn dann das mit all der Arbeit werden, wenn sie auch einmal nicht mehr da ist?«

»Wie meinst du das, Vater?«

»Nun ja, du sagst doch selbst, sie war letzte Woche vierundzwanzig ...«

»Das schon, aber ...«

»Und du, Stephan, wie alt wirst du jetzt?«

»Dreißig, Vater, nächsten Herbst.«

»Dreißig ... Du bist eigentlich auch schon in den Jahren ... und der Müller hat drei Töchter. Die Älteste ist mager und bissig, die möchte ich dir nicht raten. Die zweite, glaube ich, ist schon versprochen. Aber die dritte ist lieb und gut und ging den weiten Weg, nur um dich zu sehen, als du damals kamst von Innsbruck ...«

»Das schon, Vater, aber ...«

»Darum meine ich, du sollst einmal hinübergehen und den Müller fragen, wieviel die große Wiese kostet, die er schon so lange feil hat ... und so im Gespräch, du weißt schon, wie ich meine ...«

»Ja, Vater, des Müllers Agnes ist lieb und gut, aber ich getraute mich doch nie um sie zu freien, denn die nimmt nur einen ganzen Mann.«

»So meinst du, Stephan, du seiest kein ganzer Mann?«

»Kein ganzer Bauer, Vater. Ich schäme mich immer, daß ich lesen und schreiben kann und die Berge ringsum beim Namen kenne. Kein richtiger Bauer kennt sie und kümmert sich darum.«

»Hm, hm, und trotzdem steht das Korn schöner als je ...«

»Das schon, Vater ... aber dafür verdiene ich kein Lob. Ich war nicht bei dem Säen ...«

»Da hast du recht ... aber denke nach, Stephan, hast du nicht heimlich in die Stadt um einen der neumodischen Samen geschrieben? Und in der Gartenecke, wo früher immer nur Brennesseln waren, ist jetzt ein ganzes Feld von großen, gelben Blumen ... die sind dort auch nicht aus freien Stücken gewachsen ...«

Da wurde Stephan rot, und als ob sein Vater wahrhaftig an seiner Seite schritte, wandte er den Kopf und sagte:

»O Vater, ich habe soviel Kummer deswegen gehabt, nicht der Blumen wegen. Die kosteten nicht viel, und ich dachte, wie sehr Maria sich freuen würde. Aber des Kornes wegen. Der Samen war nicht billig, und da dachte ich oft, ich sei ein schlechter Erbe, der das Geld der Klausen leichtsinnig vertut. Den ganzen Winter konnte ich nicht richtig essen und schlafen aus lauter Angst, daß das fremde Zeug nicht aufgehen könnte.«

»Und es ist doch so schön aufgegangen, Stephan.«

»Ja, Vater; und die Freude, die ich hatte, als ich die ersten, grünen Spitzen sah, kann ich nie beschreiben.«

»Aber vorsichtig mußt du doch sein mit neuen Dingen. Es könnte nicht immer so gut ausfallen ... die Klausen waren stets bedächtige Leute.«

»Das schon, Vater ...« Stephan dachte plötzlich an den Wald und an die neue Villa, »aber, wer nichts wagt, gewinnt nichts.«

»Hast du das in Innsbruck gelernt?«

»Ja.«

Darauf schwieg sein Vater, als ob er über die Antwort nachsänne, und Stephan schritt tüchtiger aus. Als er auf dem holprigen Fahrweg ankam, bemerkte er weiter unten eine Kutsche, die sich langsam näherte. Er blieb stehen, um sie vorbei fahren zu lassen, und sah, daß es ein fremdes Gespann war, das er nie gesehen hatte. Ein Mann mit hohem Hut und gelben Knöpfen lenkte die Pferde, und grünseidene Vorhänge verdeckten an den Fenstern das Innere des Wagens. Während der Wagen aber langsam an ihm vorbei fuhr, schob sich plötzlich eine Hand aus dem grünseidenen Vorhang und legte sich auf den schwarzlackierten Wagenrand. Nichts weiter kam zum Vorschein, nur diese weiße, müde Hand. Stephan aber konnte die Blicke nicht davon wenden und schritt dem Wagen nach. Der fuhr die Höhe hinauf, um die Wiesen herum, am Klausenhof vorbei, und noch immer schritt Stephan nach. Ohne es zu wissen, ohne es zu wollen, schritt er nach, bis die Kutsche vor der neuen Villa hielt und das helle, weiße Licht, das aus jedem Fenster drang, blendend seine Augen traf. Da schämte er sich und eilte heim.

Fünftes Kapitel

Frau von Kletten fror. Sie gab Befehl, sämtliche Zimmer zu heizen, und breitete sich überdies ein warmes Tuch um die Schultern. Dann legte sie sich auf den weichen Plüschdiwan, schloß ermüdet die Augen und dachte nach, warum in aller Welt sie eigentlich hergekommen war. Nach einer Weile fiel es ihr ein. Richtig, wegen Margarete. Sie war in den letzten Jahren so überzart geworden, irgendein Arzt hatte etwas von den Bergen gesagt, und der gute, ängstliche Papa hatte sofort eine Villa bauen lassen, eine Villa mitten im Wald, 1300 Meter hoch ... gräßlich!

Sie schüttelte sich, gähnte, rückte die seidenen Kissen bequemer und versuchte zu schlafen. Plötzlich aber kam ihr eine neue Sorge. Leichtsinnig wie alle jungen Mädchen saßen ihre Kinder sicher draußen auf dem Balkon, in dünnen Batistkleidern. Seufzend streckte sie die Hand nach der Klingel aus, besann sich aber auf halbem Weg und stand auf, um selbst nach ihnen zu sehen. Sie fand die Mädchen auf dem breiten Hauptbalkon und, wie sie vermutete, in dünnen, weißen Kleidern. Fröstelnd trat sie zu ihnen und sah prüfend auf die jungen, frischen Gesichter.

»Friert euch nicht, Kinder?«

»Aber Mama, wir sitzen die ganze Zeit in der Sonne.«

»Ohne Hut und Schirm, das sollt ihr eben nicht.«

Nun lachte Frida, die Älteste, und sagte:

»Dafür mußt du Hugo schelten. Er hat es uns erlaubt.«

Scherzhaft mit dem Finger drohend, wandte sich Frau von Kletten jetzt an den jungen, eleganten Mann, der lang und nachlässig im bequemsten Sessel lag.

»Sie bringen mich noch um meine Töchter, lieber Hugo.«

Ein feiner Doppelsinn lag in ihren Worten, und er machte eine komische Gebärde des Entsetzens.

»Doch nicht um beide, gnädige Frau.«

Margarete, zart und blond, erhob sich und legte ihre Arme schmeichelnd um die Mutter.

»Ist es nicht gottvoll hier oben, Mama?«

»Im Sommer, Kind, und bei schönem Wetter, aber im Winter muß es direkt gräßlich sein.«

»Im Winter wohnt ja auch niemand hier.«

Hugo von Rotenau lächelte spöttisch.

»Glauben Sie vielleicht, die Bauern ziehen mit ihren Kühen in die Stadt?«

»Aber es sind doch keine Bauern da.«

»Doch, dort drüben das große, weiße Haus ist ein Bauernhaus.«

»Sind noch mehr da?«

»Nein, das ist das einzige.«

»Wer wird soviel über Bauernhäuser reden,« sagte Frau von Kletten. »Wie finden Sie die Gegend, lieber Hugo?«

»Unvergleichlich schön.«

»Und wie lange werden Sie diese unvergleichliche Schönheit ertragen können?«

»Bis ich ihrer müde bin.«

»Dann dürfen wir mit Ihrer Gesellschaft nicht für lange rechnen.«

»Nein« ... und er zündete sich eine Zigarette an.

Frida reichte ihm jetzt ihr Fernglas.

»Wollen Sie uns nicht sagen, bitte, wo der Rosengarten liegt?«

Er wies das Glas zurück.

»Danke, ich habe gute Augen ... dort geradeaus, die drei Zinken.«

Margarete blickte ebenfalls nach der Richtung und sagte lebhaft:

»Ja, das wollte ich auch schon wissen. Aber woher rührt eigentlich dieser schöne, merkwürdige Name?«

Hugo von Rotenau zuckte gleichgültig mit den Achseln.

»Das weiß ich nicht.«

Dann wandte er sich Frau von Kletten zu, die sich inzwischen gesetzt hatte, und ohne sich weiter um die Mädchen zu kümmern, begann er, aus einer seiner blitzartigen, unergründlichen Launen heraus, über die Kunst zu reden. Er redete mit weicher, gedämpfter Stimme und sagte:

»Wie die Natur erst reizvoll wird, wenn der Mensch kommt und sein Menschenauge sie reizvoll findet, so wird das Kunstwerk erst lebendig, wenn der Beschauer kommt mit seiner Phantasie. So habe ich zum Beispiel vor einiger Zeit ein Bild gesehen, das mich interessierte, weil es ohne den Menschen – ich meine, ohne den richtigen Menschen – gänzlich belanglos wird. Bitte, stellen Sie sich es vor ... Ein ärmliches Zimmer, im Vordergrund ein paar Arbeitsleute in Sonntagskleidern. Weiter nach hinten eine offene Tür. Links und rechts davon Grabkränze. Im anderen Raum Kerzenlicht und die Ecke eines Sarges ... Nichts weiter ... Das ganze Bild wartet. Wartet auf jemand, der da kommt und sagt: ›Es ist die Mutter, die dort drinnen liegt.‹ Ja, sicher, es ist die Mutter. Man merkt, wie sie zu dem Raum gehört, noch da ist und doch schon fehlt. Verlassen steht der Rocken in der Ecke, aber ihre alten Hände schweben schattenhaft darüber. Die Blumen an den Fenstern atmen leise und trinken das letzte Wasser, das sie ihnen gab. Das ganze Stübchen ist voll Liebe. Ihr ganzes Leben hat sie hier zugebracht. Alles hat sie hier gelitten ... Ihre Kinder wurden da geboren, ihren Mann trug man von da hinaus ... Wie müde Vögel flattern ihre Schmerzen durch den Raum. Hinter der Türe hängt ihr Werkelkleid, das sie auszog für den Feiertag ... sie dachte nicht, daß er so lang sein würde ... Das starre Bild wird warm und regt sich unter dem Zauberkuß der Phantasie. Was aber wird daraus, wenn einer kommt, der vorbeigeht und sagt: ›Jemand ist gestorben.‹«

»Wie hübsch Sie reden,« sagte Frau von Kletten. Aber sie dachte: »Wie taktlos er ist. Er redet von Grabkränzen und Särgen, wo er weiß, daß ich die Toten fürchte. Nein, er ist kein Mann für meine Kinder.« Und um den Gegenstand des Gespräches zu wechseln, fragte sie: »Was war das für ein Flieger, der letzte Woche abstürzte?«

»Ich weiß es nicht.«

»Interessieren Sie sich denn nicht für Aviatik?«

»Sehr.«

»Dann? ...«

»Aber nicht für Unfälle.«

»Warum nicht?«

»Weil es nicht meine Gewohnheit ist.«

»Aber das eine gehört zum andern.«

»Ja.«

»Sie sind hartherzig,« sagte Frau von Kletten. Aber sie dachte: »Er ist nüchtern und praktisch, gerade wie es das Leben verlangt. Der einzig richtige Mann für meine Frida.«

Dann stand sie auf und sah sich nach den Mädchen um. Die waren fort.

»Also auf Wiedersehen,« sagte sie und reichte ihm die Hand, die er artig küßte. Als sie fort war, zündete er sich eine neue Zigarette an, und während er sie in langsamen Zügen rauchte, schaute er hinab auf die Wiesen, wo eine Schar Männer das erste Heu mähte. Sie boten ein schönes Bild, und der vornehme Müßiggänger auf dem Balkon betrachtete mit Künstlerblick und Künstlersinn, wie die nackten, braunen Arme in weichen, langen Linien die blitzenden Sensen führten und ein Strich Gras nach dem andern lautlos niedersank. Seine besondere Aufmerksamkeit aber galt einem jungen Mann. Er schied sich von den andern durch seine ungezwungene Haltung und seinen hohen, stolzen Wuchs ...

Und Hugo von Rotenau dachte: »Leicht wie ein Spielzeug handhabt er die Sense, und jede Gebärde verrät den Herrn. Wie stolz er sich trägt und wie vollkommen er ist. Ich habe nicht gewußt, daß es solche Geschöpfe gibt ... wenn ich einmal am Ende meines Ichs anlange und fühle, daß ich einen Menschen brauche, möchte ich diesen Knaben um seine Freundschaft bitten ...«

Und als hätte er plötzlich einen Gedanken bekommen, der ihm früher fremd war, sprach er laut und deutlich:

»Am Ende meines Ichs ... was da heißen soll, wenn das Herz leer wird und von dem Witz, der Weisheit und der Güte der andern leben will.«

Er warf die Zigarette weg und sprang auf. Sein Gesicht war gleichmütig wie immer, nur seine Lider lagen ein wenig schwer über den Augen. Kein Mensch hätte ihm angesehen, daß er erregt war, daß ihn eine tolle Furcht erfüllte, die Furcht des Einsamen, dem bangt um seine Einsamkeit ... Er verließ das Haus und wanderte durch den Wald. Kühl und feucht, mit hängenden Zweigen, standen die Lärchen links und rechts. Er griff in ihre langen, grünen Haare, und nun dachte er an Frauen, an die eine, die er geliebt hatte und doch auch gehen ließ wie all die andern, weil er allein sein wollte ... Ihr Name – einer von den wenigen Frauennamen, die er behalten hatte von all den Namen, die er schon kannte, lag plötzlich in der Luft, und dann kam sie selbst mit der Abendröte auf den Wimpern und den Wangen ... »Vera«, sagte er, obwohl er genau wußte, daß es unmöglich Vera sein konnte. Dann wartete er mit angehaltenem Atem und ließ sie vorübergehen. Ruhig und stolz, mit einer leisen Falte zwischen den Brauen, schritt das fremde Mädchen an ihm vorbei. Sie ging den Weg zum Bauernhaus, und als sie hinunter an die Wiese kam, trat der junge Mann zu ihr, den er vorhin bewundert hatte. Da merkte er an Gang und Haltung, daß sie Geschwister waren. Hugo von Rotenau blickte ihnen eine Weile nach, dann setzte er seinen Spaziergang fort. Auf dem Heimweg aber machte er einen weiten Bogen um die Villa, kam beim Bauernhaus vorbei und sah das Mädchen noch einmal. Sie stand im Garten unter einem Feld von großen, gelben Blumen. Da zog er tief den Hut und grüßte sie.

Sechstes Kapitel

Stephan und Maria verbargen sich etwas. Sie vermieden sogar, soviel es ging, allein miteinander zu sein, und wenn es einmal nicht anders möglich war, dann sprachen sie, in hastigem Eifer die gleichen Dinge wiederholend, über die Knechte, die Ernten, die Mutter und Therese. Aber kein Wort über die Villa und die neuen, fremden Menschen, deren Kommen sie mit Spannung und Groll erwartet hatten. Und nun waren diese Menschen schon so lange da, und beide wußten es, und keines sagte es dem andern ...

Maria nicht, weil sie einen Mann gesehen hatte mit dunklen, merkwürdigen Augen, der sie grüßte, als ob sie eine Gräfin wäre, und mit ihr über fremde, traumhafte Dinge redete, wenn er sie im Garten oder im Walde traf ... und Stephan nicht, weil er einmal in dämmeriger Abendstunde einem Wagen nachgegangen war, einem Wagen und einer Hand, zu der er sich seither Augen, Mund und Haare nach dem Bild der Gottesmutter, das er in Innsbruck sah, geschaffen hatte. Und wenn er vom Felde heimging, dachte er nicht mehr wie früher an Maria oder an den Vater, sondern an die Gottesmutter ... und doch wieder nicht an die Gottesmutter, sondern an ein Mägdlein mit langen, blonden Haaren und tiefen, scheuen Blicken ... Und eine Unruhe war über ihn gekommen wie über den Wald, wenn die ersten Frühlingsstürme auf dampfenden Rossen durch die alten Tannen reiten, und ein Getöse war in sein Blut gekommen, wie wenn ein starker, breiter Strom sich schwer auf starren Felsen bricht ... So kam es, daß er übersah, wie Marias Eifer abnahm. Daß sie nimmer aufsprang, wenn er abends heimkam, sondern sitzen blieb und auf den Weg hinausstarrte ... daß sie oft mitten in der Arbeit innehielt, die Hände noch in der Luft, den Kopf gesenkt, gerade als ob sie lauschte ... vielleicht nach einer Stimme, vielleicht nach einem Schritt, vielleicht nach Gedanken, die plötzlich aus dem Herzen steigen, ein rasches Licht ins Auge tragen und lautlos wieder gehen ... übersah, wie sie höher wurde, merkwürdig reifte und erblühte gleich einer Blume oder Frucht, die nach lauen Tagen plötzlich die Sommersonne spürt und alle ihre Blätter breitet ... übersah, wie sie edel wurde in Schritt und Gebärde, wie ein Zauber sie mit leuchtenden Fäden umspann, bis sie wie etwas Fremdes, Fernes in den niedren Stuben stand ... Das alles übersah Stephan. Er wurde schwer und verträumt, wie alle Klausen waren, wenn sie die Liebe packte, denn Stephan liebte, liebte in einer wundersamen, wesenlosen Weise, wie kein Klausen je geliebt hatte ...

Siebentes Kapitel

Im Tale reiften die Pfirsiche und Frühtrauben. Dick und saftig standen Bäume und Reben von der Erde, die in ihrem Innern noch den letzten Regen trug. Die Berge aber waren ausgetrocknet, und alles litt unter der Dürre. Verzweifelt blickten die Bergbewohner zum Himmel auf, aber kein Wölkchen zeigte sich, und die Hitze wuchs. Sie grub sich in den Wiesenboden, daß er hell und hart wurde wie Stein. Sie bohrte sich in den Fels, daß er sprang und zerstob wie Staub. Sie fraß sich in den Wald und brannte die Nadeln dürr, daß sie abfielen wie Spreu.

Da ließ die Klausenbäuerin eines Morgens das große Holzkreuz aus der Stube tragen, und ein Knecht stellte es mitten auf der Wiese auf. Dann schickte sie Boten in die entlegensten Höfe, und nun kamen jeden Abend Bauern und beteten vor dem Kreuze Rosenkranz und Litanei. Aber noch immer zeigte sich kein Wölkchen am Himmel, und die Hitze wuchs. Niemand hatte je auf den Bergen einen solchen Sommer erlebt. In der fünften Woche, da geschah etwas. Es war Sonntag und ein Uhr. Tiefblau und unbeweglich wie immer stand der Himmel, und die Sonne darin eine senkrechte Flamme. Sämtliche Bewohner des Klausenhofes standen vor dem Brunnen und blickten auf das Wasser, das dünn wie ein Seidenfaden floß. Sie dachten an die Hilfe der armen Seelen und sprachen über eine Messe, die sie lesen lassen wollten. Da kam ein Fetzen Rauch. Er war nicht viel größer als eine ausgespannte Hand, und als er an den Köpfen der Leute vorbeiflog, brachte er einen Geruch von Brand. Eine Weile schwankte er unentschlossen hin und her, dann drehte er sich gegen die Wiese und hockte sich auf das große Kreuz, gerade auf die Spitze. Gleich danach kam ein zweiter Fetzen. Niemand hatte ihn kommen sehen. Wie aus der Erde gewachsen war er da, und der Brandgeruch verstärkte sich. Der Himmel aber stand noch immer tiefblau und unbeweglich. Nun kam ein dritter Fetzen, lang und fein wie ein Schleier. Aber er wuchs wie eine Wolke und füllte das Tal mit unendlicher Schnelligkeit. Dann sprang ein weißes Licht nieder, aber kein Donner folgte, und der Himmel war noch immer blau.

Plötzlich schob sich ein Schatten vor die Sonne, und es entstand ein Getöse. Oben? Unten? in dem Wald, oder in den Wiesen? Man hätte es nicht sagen können, denn die Wipfel der Bäume waren unbeweglich, und kein Grashalm regte sich. Aber es war da, und man empfand die Gegenwart unheimlicher Kräfte. Dann begann es von unten auf zu dampfen und zu steigen. Überallhin warf der Nebel seine Riesenschleppen aus. Der ganze Himmel schien im Tale zu liegen. Das dauerte einen Augenblick, dann wurde es schwarz, und als ob das das Zeichen wäre, kam der Sturm. Das ganze Land zitterte unter seinen Tritten, und der Wald stöhnte wie ein Mensch. Aus einer Wolke im Westen sprang der Blitz. Eine Sekunde lang war alles blau, und der Donner, der folgte, übertönte den Sturm. Dann wurde es Nacht wie vorher, und prasselnd setzte der Regen ein. Da erwachten die Leute um den Brunnen aus ihrer Erstarrung und liefen in das Haus. Sie hatten nur ein paar Schritte bis zur Türe, aber als sie in die Stube kamen, lag auf den Hüten der Knechte ein Kranz von Eis. »Hagel«, sagten sie und fingen laut zu beten an. – Den nächsten Morgen stand Stephan allein im Hof und schaute mit verschränkten Armen in das Land. Die Luft war klar, der Himmel wunderbar blau, und die Wiesen und die Wälder leuchteten im doppelten Grün. Ringsum auf den hohen Bergen aber lag der Winter. Weiß und glänzend hoben sie ihre Spitzen in das blaue Firmament und trugen ihre Schneekronen leicht und froh wie junge Mädchen ihr Geschmeide. Da freute sich Stephan und sprach:

»Wie schön! wie schön!«

Dann fuhr er zusammen, denn jemand hatte plötzlich seinen Arm berührt. Er drehte sich um, und neben ihm stand der älteste Knecht. Sein Gesicht war blaß wie von einer großen Erregung, und seine Knie schlotterten. »Herr,« sagte er fassungslos, »Herr, das arme Vieh auf den Almen.« Darauf wandte Stephan den Blick und sprach lange nicht, so schämte er sich. Endlich aber faßte er sich und sagte: »Ja, das Vieh ... das arme Vieh ...« Und als er sah, daß der Knecht die Worte, die er vorhin aus einem großen Empfinden heraus gesagt hatte, nicht gehört hatte, wurde er ruhig und sprach mit sachlichem Eifer über die Almen und die Hütten darauf: daß die Dächer ausgebessert und mit schwereren Steinen beschwert werden müßten, daß er Fürsorge treffen würde mit dem Futter und dergleichen für den Fall eines Unwetters wie gestern, und daß er in den nächsten Tagen selbst hinaufgehen werde, um genau zu sehen wie alles stünde ... Über das und vieles andere redeten sie, und der Knecht erzählte noch über den Schaden, den der Hagel in den Tälern angerichtet hatte. Endlich ging er mit bekümmertem Gesicht. Stephan aber blieb im Hofe stehen. Seine Blicke waren finster, zwischen seinen Brauen stand eine senkrechte Falte, und als ob die schöne Villa, die östlich von ihm aus einer Gruppe grüner Lärchen grüßte, schuld an seinem Kummer wäre, schaute er starr hinüber. Dann schüttelte er sich, wie um etwas abzuschütteln, und dabei sagte er:

»Vielleicht ist es doch besser, daß ich einmal zum Müller gehe und ihn wegen der Wiese frage ...«

Achtes Kapitel

Seit dem Unwetter floß im Klausenhof das Wasser aus dem Brunnen gelb und schlammig. Es mußte daher mit der Quelle etwas nicht in Ordnung sein. Weil es Erntezeit war und die Knechte alle Hände voll Arbeit hatten, um den Segen des Jahres heimzubringen, zog Stephan seinen schlechtesten Rock an, nahm eine Picke auf die Schulter und ging selbst, nach dem Übel zu schauen. Die Quelle lag weit oben im Wald, und er mußte an der neuen Villa vorbei. Obwohl er alle Sprüche darauf kannte und sie oft genug gelesen hatte, blieb er doch stehen und las den Spruch, der sich dem Wald zukehrte:

»Auf hoher Warte rag' ich da,
Dem Tale fern, dem Himmel nah,
Blick' weit hinaus ins freie Land
Und stehe so in Gottes Hand.«

Gerade als er weiter gehen wollte, sah er im Garten etwas Weißes durch die Büsche schimmern. Es war ein Kleid, und nun blieb er noch einmal stehen, als ob er hoffte, noch mehr zu sehen als das Kleid. Aber dann dachte er an Agnes, dachte daran, wie lieb und gut sie sei und welch weiten Weg sie machte, nur um ihn zu sehen, als er damals kam von Innsbruck. Da ging er wieder und beschäftigte sich vorsätzlich weiter mit ihr. Er hatte sie jetzt schon längere Zeit nicht gesehen, aber ehe er nach Innsbruck ging, waren sie viel beisammen. Als Kinder jagten sie oft die Berge hinauf und hinunter, und er fing sie bei den Zöpfen, die mit roten Bändern geputzt hinter ihr flogen ... Ja, früher ging er nicht ungern hinab zur Mühle und verirrte sich auch oft, denn genau muß man den Weg dorthin kennen ... Über gefällte Bäume und wüstes Geröll muß man klettern, dann findet man sie versteckt zwischen Felsen und Fichten, und ein schwarzbrauner Waldbach treibt ihre großen, hölzernen Räder ... Und wenn man just Glück hat, kommt einem Agnes entgegen, im kurzen, kleidsamen Dirndlgewand. Und sie führt den Gast über holprige Dielen und knarrende Treppen in die gemütlichste Stube, plaudert dabei über lustige Dinge und lächelt schelmisch die ganze Zeit ... Ja, so ist des Müllers Jüngste, und ein liebes Kind ist sie ... Immer weiter spann Stephan seine Gedanken, und immer leichter und froher wurde er. Alles Schöne fiel ihm neben Agnes und der Mühle ein: daß im Stalle alles so gut stand, daß die Ernte so reich war, daß die Mutter nimmer kränkelte, und daß Maria so ein frohes Licht im Auge trug ... Ja, es ging gewiß alles gut auf seinem Hofe, und er war vielleicht doch kein allzu schlechter Bauer.

Oben bei der Quelle fand er Arbeit, und nun wurde er praktisch und hörte zu träumen auf. Der heftige Regen hatte die Felsen abgeschleift, Schutt und Schlamm herangeschwemmt und Felsblöcke auf den Mund der Quelle gelegt. Die Erde aber war fortgewaschen, und das Rohr lag stellenweise bloß. Stephan zog seinen Rock aus, rollte die Hemdärmel zurück, und bald zitterte der ganze Wald von den Schlägen seiner Picke. Weil er aber die schweren Felsstücke fortrollte, als wären sie nur Kieselsteine, und den Boden mit den dicken Baumwurzeln so leicht aufriß, als träge er nur Moos, verdroß ihn die Arbeit insgeheim, da er meinte, sie brauche keine Kraft. Trotzdem arbeitete er weiter und stand oft bis zu den Knien im Schlamm. Es dämmerte schon, als er endlich fertig war. Erst wollte er denselben Weg zurückgehen, den er gekommen war, dann aber änderte er seinen Sinn und schlug einen Pfad ein, der in die Felder führte. Er schlug diesen Pfad ein, vielleicht weil er sehen wollte, wie weit seine Leute mit dem Korn gekommen waren, vielleicht aber auch, weil er vermeiden wollte, daß er wieder an die Villa kam. Als er aus dem Walde trat, sah er schon von weitem in langen Reihen die Garben aufgestellt. Die Knechte aber waren nimmer da, und das ganze Feld lag einsam im Sonnenuntergang. Stephan faßte seine Picke fester und eilte rascher vorwärts. Eine feierliche Freude war über ihn gekommen, denn nun dachte er an die Winternächte, in denen er nicht schlafen konnte aus lauter Sorge um den Samen. Und weil sein Herz so voll war, sagte er: »Schau, Vater, schau ...!« Dann schritt er das ganze Feld entlang, blieb bei jedem Büschel stehen und streichelte es liebevoll ... Währenddem ging die Sonne unter. Stephan fiel jetzt die Mutter ein, die zu Hause wohl wartend an der Türe stand, und er wußte, daß es Zeit war heimzugehen. Darum schritt er aus dem Feld heraus, hinüber zu dem Fußpfad, der das Korn von den Wiesen trennte. Als er hinkam, sah er von unten eine weiße Gestalt herankommen ...

Vielleicht eine Frau ...

Vielleicht ein Mädchen ...

Stephan beschattete die Augen mit der Hand, denn die Abendröte lag blendend nach dieser Seite.

Ja, ein Mädchen ...

Leicht und sicher, ohne das lange Kleid zu raffen, schritt es durch das hohe, blühende Gras. Von seinem Kopfe wehte ein feiner weißer Schleier, in der Hand trug es einen Hut mit Mohnblüten. Da sie demselben Pfad zustrebte, auf dem Stephan stand, dachte er daran, sie vorangehen zu lassen. Nicht etwa aus Höflichkeit, sondern weil er nicht leiden konnte, wenn jemand hinter ihm ging. Weil die Fremde aber noch ein gutes Stück unten war und Stephan nicht auf dem Wege stehenbleiben wollte, schritt er in das Feld zurück und machte sich an den Garben zu schaffen. Dadurch verlor er sie aus den Augen, doch tauchte sie bald auf der Höhe des Weges auf. Als sie den einsamen Mann gewahrte, hemmte sie plötzlich ihre Schritte, zauderte einen Augenblick, bog dann vom Wege ab und trat zu ihm ...

Stephan lehnte sich ein wenig schwer an die Garben.

Das Mädchen, das plötzlich vor ihm stand, sah er heute zum erstenmal und kannte es doch schon lange. Das waren dieselben blonden Haare, dieselben scheuen Augen, dieselbe weiche Hand ... Unter tausend Händen hätte er diese Hand herausgekannt. Er wollte an Agnes denken, aber er konnte nicht. Dumm und verwirrt wie ein Knabe stand er vor ihr. Sie aber wußte nichts von seinen Gedanken und sagte mit einfacher Herzlichkeit:

»Wir haben erst vor ein paar Tagen erfahren, was für ein großes Unglück Euch traf, als man unsere Villa baute ... es tut mir ...« sie stockte und verbesserte sich, »ich meine uns allen so leid.« Nun kam er zu sich, und weil er sich schämte, daß ein ganz fremdes Mädchen ihn so erregen könne, nahm er alle Kraft zusammen, wandte den Kopf zur Seite, als ob sie gar nicht da wäre, und sagte leichthin: »O, das ist jetzt schon lange her, und wir haben es überwunden ... einmal hätte es doch kommen müssen, so oder so.« »Allerdings ...« Dann schwieg sie, blickte auf seinen beschmutzten Anzug und dachte: »Was nützt diesen Leuten Mitgefühl? Sie brauchen Geld.« Und während ihr Ton kühler und ihre Haltung stolzer wurde »... aber es wäre vielleicht nicht so plötzlich gekommen. Wenn Sie darum irgendeine Hilfe brauchen ... mein Papa ist sehr gut.« Da flammte eine heiße Röte in seine blassen Wangen, seine Augen blitzten, und er sagte verächtlich: »Sie irren sich vollkommen. Wir haben Geld genug, daß wir dreißig solche Villen bauen könnten, als die dort drüben ist ...« und nach einer Pause, während der sie erstaunt und verletzt dastand »... aber Sie verschwenden Ihre Zeit mit einem einfachen Bauer ... sehen Sie dort das Alpenglühn.« ... Und er wollte gehen und konnte nicht, weil ihn das Schauspiel selber bannte.

Geradeaus vor ihnen, jäh sich hebend vom dämmrigen Himmel wie Edelsteine auf dunklem Sammet, lohten eng aneinander gerückt die Königskinder der Dolomitenberge, und die weißen Mauern eines einsamen Bergkirchleins, das sich im äußersten Osten gegen den Himmel schob, brannten in einem tiefen, lilafarbenen Schein ...

Das dauerte einige Minuten, dann sprang am Fuße des mächtigen Schlern ein Schatten auf, der langsam höher kroch und Licht fraß. Es floh in die äußersten Spitzen und leuchtete dort noch intensiver als vorher, aber der Schatten warf sich darauf wie ein riesiger Mantel und löschte die Glut. Nun standen sie grau wie die andern Berge und zeigten ihre Furchen, ihre Schluchten und ihren Schnee ...

Da erwachten die beiden auf dem Feld aus ihrer Versunkenheit. Schweigend, atemlos, jedes die Gegenwart des andern vergessend, hatten sie sich in die ferne Pracht versenkt. Nun sahen sie sich in die Augen, schämten sich, daß sie noch da waren, und freuten sich doch darüber, denn sie fühlten, daß sie sich verstanden und versöhnt hatten. Sie schritten aus dem Feld heraus, hinüber zum Fußpfad, und als ob es selbstverständlich wäre, gingen sie nebeneinander her. Erst gingen sie ohne zu reden, aber dann sagte das Mädchen: »Sie sind hier aus der Gegend und wissen vielleicht besser Bescheid als wir Fremden. Warum trägt der Rosengarten diesen merkwürdigen Namen?«

Darauf lächelte Stephan im freudigen Eifer, denn die Berge waren ihm immer das Liebste, und mit gedämpfter Stimme erzählte er ihr das Märchen von König Laurin und dem tapfern Ritter Dietrich von Bern. Er erzählte dieses Märchen mit so viel Bewegung, mit so viel eigener Phantasie und Begeisterung, daß sie auch davon begeistert wurde. Aber zum Schluß schien sie das Märchen und den Zweck des Märchens vergessen zu haben, denn sie lächelte fein und sagte: »Ich habe nicht gewußt, daß die Bauern so gelehrte Leute sind.« Da schämte und ärgerte er sich, denn sie hatte, ohne es zu ahnen, seine wunde Stelle getroffen, und er antwortete: »O, ich bin ein schlechter Bauer.«

Und weil sie nicht mehr weit vom Hofe waren, grüßte er rauh und ging.

Aber er ging nicht direkt ins Haus, sondern lief um den Hof herum wie jemand, der etwas Heimliches mitbringt, das er gern verbergen möchte, ehe es die anderen sehen, und als er endlich in die Stube kam, freute er sich, daß die Lampe nimmer brannte. Er tastete nach den Streichhölzern, aber als das Licht aufflammte, sah er, daß Maria in der dunklen Stube saß. Zu einer andern Zeit wäre ihm das befremdend aufgefallen, aber heute fiel es ihm nicht weiter auf. Doch auch Maria schien es nicht zu wundern, daß Stephan so spät kam. Sie brachte sein Essen ohne ein Wort des Erstaunens, begann dann über die Ernte zu reden und erzählte, daß der Brunnen wieder in Ordnung sei. Aber unter all dem Gerede über die Ernte und den Brunnen fragte sie plötzlich: »Sag, Stephan, wann gehen denn gewöhnlich die Fremden fort?« Die Frage schien nichts bedeuten zu wollen, aber Marias Gesicht war totenblaß, und ihre Augen brannten dunkel. Und plötzlich wußte Stephan ihr Geheimnis, weil ihn die Frage mit demselben Schreck und derselben Wucht traf. Er schwieg lange, als ob er sänne, aber er dachte: »Mein Gott ... mein Gott.« ... Dann zwang er sich zum Gleichmut und sagte: »Das hängt vom Wetter ab.«

»Ja ... aber gewöhnlich, Stephan?«

»Anfang Oktober.«

»Und jetzt haben wir schon September ...«

»Ja, Maria.«

Danach griff sie nach einer Kerze, entzündete sie, und ihre Hand zitterte stark über der Flamme. Das preßte Stephan das Herz zusammen, und er dachte: »Könnten wir es nicht ausreden miteinander?« Gleich aber fühlte er deutlich, daß so etwas zwischen zwei Klausen unmöglich sei, und ohne aufzuschauen sagte er ihr gute Nacht.

Neuntes Kapitel

In der neuen Villa war Besuch angekommen. Herr von Kletten, Industrieller und Großgrundbesitzer, hatte seine geliebten Güter einige Tage dem Verwalter überlassen, um seine Familie in Tirol aufzusuchen, und brachte eine Schar Bekannte mit. Die ersten Tage blieb die Gesellschaft vollzählig beisammen. Sie tauschten untereinander ihre wechselseitigen Eindrücke über die Gegend, besprachen Tagesneuigkeiten und machten Pläne für den kommenden Winter. Aber schon gegen Ende der Woche teilten sie sich in mehrere Gruppen. Die Herren unternahmen Ausflüge in die Berge, die Damen blieben zu Haus. Die Jüngeren unter ihnen verfertigten feine Handarbeiten, und die Älteren spielten Schach. Dadurch kam Frau von Kletten etwas zu sich, kümmerte sich wieder mehr um ihre Töchter und entdeckte nun, daß ihre blonde Jüngste irgendein Geheimnis barg. Sie zeigte der Mutter gegenüber eine merkwürdige Scheu, und Frau von Kletten zweifelte keinen Augenblick, daß die Liebe mit im Spiele war ...

Wen aber liebte ihre Margarete? ... Hugo von Rotenau ... Das war eigentlich das Nächstliegende, denn er war, ob er schwieg oder redete, eine bestrickende Persönlichkeit, und von seinen dunklen Augen strömte eine Macht aus, der zu widerstehen beinahe unmöglich war. Aber daß gerade Margarete ihn liebte, schien der kleinen, nervösen Frau etwas Schreckliches. Seine Lebensauffassung ... Lebensbrutalität nannte sie es insgeheim ... stand im schlagenden Gegensatz zu der weichen, schwärmerischen Gemütsart ihrer Tochter. Für Margarete paßte zum Beispiel der junge Waldburg. Der war reich, vornehm, nicht allzu geistreich, gutherzig, nachgiebig und viel auf Reisen. Da hatte sie ihr Kind viel bei sich. Gerade, was sie wollte. Hugo von Rotenau dagegen hatte sie, so unsympathisch er ihr auch in vielen Dingen war, für Frida bestimmt. Die war mehr für das Praktische, Positive, fand sich ausgezeichnet in die Gesellschaft und würde einmal Lebensklugheit genug haben, um einzusehen, daß ein Mann wie Hugo unmöglich treu sein könne ... denn treu würde er niemals sein, und so ein Mann bräche der armen, kleinen Margarete das Herz.

Alles das und noch viel mehr erwägte Frau von Kletten, während sie in ihrem Schaukelstuhle lag, sich leise schaukelte und feine Schokolade naschte. Sie erwägte hin und sie erwägte her, aber es kam doch immer dasselbe dabei heraus: Ihre scheue, stolze Margarete liebte, und der Mann, den sie liebte, war ein grausamer, unverständlicher, übersinnlicher Egoist. Und als ob sie einen plötzlichen Einfall bekommen hätte, stand sie auf, zog aus einem kunstvoll gearbeiteten Schrank ihr Tagebuch und schrieb hinein: »Der schmerzlichste Undank der Kinder ist ihre Selbständigkeit.« Sie lächelte zufrieden über den eigenen, schönen Gedanken, legte das Büchlein wieder zurück und ging dann, sich für den Abend umzukleiden. Ehe sie sich aber in den gemeinsamen Speisesaal begab, suchte sie Margarete auf. Sie wollte sie wenn möglich warnen, sie ein klein wenig merken lassen, welch schrecklich gefährlicher, unmöglicher Mensch Hugo von Rotenau sei, ein Mensch, dem sie nie und nimmer Vertrauen schenken dürfe. Als sie aber in Margaretens reine Kinderaugen blickte, fehlte ihr doch der Mut dazu, und sie sagte nur: »Bist du auch ganz wohl, Liebling?«

Margarete bejahte lächelnd, hing sich dann an den Arm der Mutter und erzählte von einer Freundin, die ihr geschrieben hatte. Aber während sie plauderte, kam es Frau von Kletten vor, als ob das Mädchen ihre Gedanken wüßte und vorsätzlich so viele und so gleichgültige Dinge über die ferne Freundin brachte. Darum konnte sie sich doch nicht enthalten, ganz zu schweigen, und als sie auf der Schwelle zum Speisesaal standen, sagte sie: »Weißt du auch, daß du immer recht kühl sein mußt mit Hugo von Rotenau?«

»Warum, Mama?«

»Weil er ein böser Wildfang ist, der mein kleines Mädchen nie glücklich machen könnte.«

»Aber, Mama ...« und der große, erstaunte Blick, den ihr Margarete gab, beschämte Frau von Kletten so sehr, daß sie das Gespräch abbrach und hastig in den Saal schritt.

Die Mahlzeit verlief ruhig in leichter angenehmer Unterhaltung, ganz im Sinne der Hausfrau. Sie konnte geistreiche Dinge, wobei man denken, witzige Dinge, wobei man lachen, und schaurige Dinge, wobei man zittern mußte, durchaus nicht leiden. Anfangs hatte sie zwar befürchtet, daß man über die letzten Opfer der Schweizer Berge – alle Zeitungen waren voll davon – reden würde, aber niemand dachte daran. Sie machten dem Essen Ehre, lobten das Wetter, nahmen sich Dinge vor, die sie niemals zu tun gedachten, und Hugo von Rotenau, der einen oft ganz unerwartet mit außergewöhnlichen Dingen überfiel, war glücklicherweise in einer schweigsamen Laune ... Ja, glücklicherweise, trotzdem er Fridas Tischnachbar war und das arme Kind auffallend vernachlässigte. Zum Glück hatte sie Takt und Temperament und unterhielt sich mit dem Rittmeister nebenan. Der wieder war Feuer und Flamme ... O, sie waren Probleme, diese Männer ... Frau von Kletten seufzte und sah sich nach Margarete um. Die saß steif und korrekt neben dem jungen Waldburg, das feine Näschen leicht gebläht, wie in Hochmut, wie in Abwehr ... Der junge Waldburg erzählte ihr etwas über Pferde. Frau von Kletten hörte es deutlich durch das Geklirr der Gabeln und Messer. Er war ohne Zweifel ein wunderbarer Mann mit einem schönen Schloß und einem schönen Titel, devot und unverdorben, das Ideal von einem Schwiegersohn ...

»Verzeihung,« sagte ihr Nachbar, »haben Sie es gelesen?«

Sie dachte an die Schweizer Berge ... also doch ... und weil sie nicht wieder alle Einzelheiten des gräßlichen Unglücks hören wollte, sagte sie rasch: »Ja, es waren Berliner und ihrer sieben ... aber warum bleiben sie nicht zu Hause?«

»Sehr richtig ... aber ich meine die Frau mit den Fünflingen.«

»Wie interessant,« Frau von Kletten errötete wie ein junges Mädchen, »wahrscheinlich eine ... wie heißen sie nur? ... eine von den wilden Rassen.«

»Nein, eine Frau aus Südtirol, ganz in der Nähe.«

»Und sind die Babys alle am Leben?«

»Vorläufig, ja.«

»Entzückend!«

Aber sie fand es schauderhaft und im höchsten Grade unsittlich. Die Stimme ihres Mannes, die laut und vernehmlich durch das Zimmer klang, beruhigte sie wieder. Er gab harmlose Schilderungen landwirtschaftlicher Verhältnisse, und als er sich trocken geredet hatte, ergriff eine Dame das Wort und hielt einen Vortrag über japanische Seide. Das waren alles ganz ungefährliche Dinge, und Frau von Kletten erhoffte sich einen gemütlichen Abend. Plötzlich aber fuhr sie erschrocken zusammen. Am unteren Ende war ein erregtes Gespräch entstanden, und ein junger Mann sagte: »Ein Arzt, ein Freund von mir, sitzt seit acht Monaten im Zuchthaus, weil er einen Patienten, der an einer äußerst schmerzvollen und absolut unheilbaren Krankheit litt, vergiftet hat. Zu bemerken ist, daß der Kranke seinen Tod wünschte ... Nun frage ich: Ist der Mann schuldig oder nicht schuldig?«

»Schuldig!«

»Schuldig nach dem Gesetz, und das Gesetz ist das Oberste ...«

»Schuldig nach der Religion, und die Religion ist unfehlbar ...«

»Ja, schuldig, denn es ist ein Mord.«

»Und was sagen Sie, mein Herr?«

»Ja ... Nein ... das heißt ...« der Angeredete wickelte bedächtig an seiner großen Zigarre, »die Herrschaften sprechen von einem Mord. Ein Mord kann aber nur sein, wo Leben ist. Wohlverstanden, Leben. Ich habe vor dem Worte Leben einen hohen Respekt. Es bedeutet für mich vor allem die Fähigkeit zur Freude; dann alles, was stark ist, gesund ist und die Bürgschaft liefert, daß es diese Eigenschaften fortpflanzen kann und fortpflanzen wird ... Bringen Sie mir einen unheilbaren Kranken, der auch nur eine dieser Eigenschaften besitzt, und ich gebe Ihnen recht.«

»Und was ist Ihre Meinung in der Sache, Herr von Rotenau?«

»Einen Augenblick!« rief Frau von Kletten und riß nervös an ihrem kostbaren Halsband, »in der englischen Zeitung stand wieder ein so hübscher Artikel über die Frauenfrage. Hat ihn jemand gelesen?«

Aber niemand beachtete sie. Aller Augen waren auf Hugo von Rotenau gerichtet, der über die Köpfe der Anwesenden hinweg durch das offene Fenster auf die Berge blickte, die sich in schweren, schwarzen Linien vom Firmamente hoben. Dann sagte er: »Meine Meinung ist, daß nicht nur alle unheilbaren Kranken, alle Lahmen, alle Blinden, sondern auch alle Häßlichen vertilgt werden sollten.

Meine Meinung ist, daß eine schiefe Nase, ein dicker Hals, ein kurzes Bein Fehler der Natur sind und daß diese Fehler weggeschafft werden müßten, wie die Fehler der Menschen weggeschafft werden müßten.

Meine Meinung ist, daß nur vollkommen schöne und vollkommen gesunde Menschen lebensberechtigt sind, alle andern aber weggeräumt werden sollten, wie man etwa ein mißlungenes Bild aus einer guten Sammlung räumt, oder eine widerwärtige Raupe von einer schönen Blüte streift, denn,« und er hob sein Glas wie zu einem Trinkspruch, »schön ist das Leben. Aber tausendmal schöner würde es sein, wenn es von dem Menschen, den ich jetzt im Sinne habe, gelebt würde.

Dieser Mensch würde das Ideal der Denker und Philosophen sein. Dieser Mensch würde eine Gleichheit und eine Harmonie auf die Erde bringen, wie sie sich unsere Sinne, die an Krasses und Häßliches gewöhnt sind, nicht vorstellen können.

Dieser Mensch würde einen Jubel auf die Erde bringen, wie ihn bisher nur die Dichter in erlesenen Stunden kannten.

Dieser Mensch würde die wahre Liebe auf die Erde bringen, weil man ihn sofort, ohne Rückhalt und ohne Überwindung lieben müßte ...«

Als er schwieg, herrschte eine peinliche Stille. Es gab viele unter der Gesellschaft, die so strengen Gesetzen nicht hätten standhalten können und sich insgeheim wunderten, daß er so rücksichtslos sein konnte. Aber Hugo von Rotenau selbst hob den Eindruck, den seine Worte hervorgerufen hatten, indem er ganz zu vergessen schien, worüber soeben die Rede war, und fragte:

»Ist kein Wein mehr da?«

Und während Frau von Kletten dem Diener läutete, dachte sie:

»Ich habe nicht gewußt, daß er so entsetzlich ist. Wenn er nicht bald geht, reise ich mit den Kindern ab.«

Zehntes Kapitel

Hugo von Rotenau und Stephan sahen sich öfters, und so oft sie sich sahen, schoß ihnen durch den Sinn:

»Warum reden wir nicht miteinander?«

Und jeder von ihnen verlangsamte seine Schritte und wartete, daß der andere reden sollte. Aber keiner redete; Stephan nicht, weil er zu bescheiden war, Hugo nicht, weil er im letzten Moment wieder dachte: »Wozu?« ... Und er tat, als sähe er Stephan nicht, und sah auch nicht, daß Stephan stehen blieb und ihm nachschaute, bis er ihm aus den Augen schwand. Dann nahm Stephan seinen Weg in den Wald oder in die Wiese wieder auf und dachte: »Diesen Menschen liebt Maria und weiß Gott, wie das enden wird. Von Rechts wegen sollte ich ihn hassen und könnte ihm doch um nichts in der Welt böse sein.«

So war das auch heute wieder gewesen. Auf der großen Lärchenwiese hinter dem Wald hatten sie sich gesehen, hatten gewartet, wie sie immer warteten, und waren doch weitergegangen, als wäre niemand da. Und als Hugo von Rotenau ein gutes Stück fort war, blieb Stephan stehen, wie er immer stehen blieb, und dachte an die Dinge, an die er dann immer dachte. Er dachte an die merkwürdige Freundschaft, die er für diesen Fremden fühlte, an Marias dunkle Zukunft und dachte heute zum erstenmal auch noch an etwas anderes. Er dachte daran, daß dieser schöne, rätselhafte Mann, der auf jeden Menschen eine so zwingende Gewalt ausübte, Stunde um Stunde, Tag um Tag unter einem Dach mit Margarete weilte ... Seit jener Begegnung im Feld hatten sie oft miteinander geplaudert. Mit der Ungezwungenheit eines Kindes kam sie auf ihn zu, so oft sie ihn sah, und leitete mit der Selbstverständlichkeit eines guten Bekannten irgendeine Unterredung ein. Gewöhnlich war es eine Frage, die sie schon in Bereitschaft hielt und die entweder der Gegend oder den Bergen galt. Und weil Stephan seine Heimat liebte und jeden Stein und jeden Hügel kannte, und weil es etwas Wunderbares war, neben diesem Mädchen einherzugehen, oft so nahe, daß er ihr langes, weißes Kleid streifte, wich er nicht aus, wie er es anfänglich beschlossen hatte, sondern ging auf ihre Weise ein und erzählte ihr alles, was sie zu wissen wünschte. Er erzählte ihr von der Fruchtbarkeit des Föhns, wenn er im Frühling durch die Wälder braust und die alten Tannen biegt, als ob er sie vom Grunde fegen möchte ... von der Schönheit der Wiesen, wenn sie im ersten Schmuck des Jahres prangen ... von der Ruhe des Winters, vom lodernden Herdfeuer, vom surrenden Spinnrad, und einmal erzählte er ihr auch von seiner Schwester Maria. Wie lieb und gut sie sei, wie geschickt im Hauswesen und welch treue Stütze für die Mutter, die anfange alt zu werden ...

Das alles hatte er ihr erzählt und sich dabei insgeheim gewundert, daß einer aus dem schweigsamen Geschlecht der Klausen soviel zu erzählen wußte. Aber wenn sie nah war oder wenn er nur an sie dachte, verwandelte sich sein ganzes Wesen. Alles, worüber er früher träumte, alles worüber er früher sann, unbestimmte, unbewußte Dinge, die verworren sein Gehirn umwogten, wurden Farbe und Gesang. Der ganze Wald, das ganze Feld begann zu klingen, und alle seine Sinne klangen harmonisch mit ...

Das war es, woran Stephan dachte, als er jetzt auf der Wiese stand; und was die Sorge um die Schwester nicht vermocht, bewirkte plötzlich ein anderes Gefühl. Eifersüchtige, haßvolle Gedanken wallten in ihm gegen den schönen, vornehmen Fremden auf, und so vertieft war er darin, daß er die lichte Gestalt nicht sah, die zwischen den Bäumen auftauchte. Erst als sie dicht vor ihm stand, gewahrte er sie und fuhr zusammen und vergaß zu grüßen, so verwirrt war er. Sie aber lächelte und sagte:

»Haben Sie jetzt gedichtet, Herr Klausen?«

Und er: »Gedichtet? O nein, ich habe mich um Fallholz umgeschaut.«

Sie blickte auf die herrlichen Lärchen, deren Zweige bis auf den Wiesenboden niedertropften, und ihr Gesicht wurde betrübt.

»Es ist so schade um die schönen Bäume.«

Nun vergaß Stephan, daß er ein Bauer war, und sagte lebhaft:

»Ja, nicht wahr? ... ich denke es mir immer, wenn die Knechte fällen gehen.«

Sie nickte, ohne recht zu überlegen, was er sagte, und schritt neben ihm über die Wiese. Er lauschte auf ihr Kleid, das leise hinter ihr rauschte, und sie sah hinab in die Tiefe, wo nach drei Seiten hin sich drei fruchtbare Täler spannten, in denen heiß in der Sonne die Etsch und der Eisack brannten. Plötzlich aber blieb das Mädchen stehen und wies nach einem Berg, der, mit einer Burg gekrönt, weit unten lag.

»Ist das nicht ein Schloß?«

Er folgte der Richtung ihrer schlanken Hand und nickte.

»Ja, ein Schloß mit einer schönen Geschichte.«

»Mit einer Geschichte? ... O bitte!«

Sie verlangsamte ihre Schritte und sah auf ihn, erwartungsvoll. Stephan freute sich wie ein Kind und begann die Geschichte in der Redeart, wie er sie in Innsbruck gelernt hatte.

»Vor langer Zeit lebte dort unten ein sehr reicher Ritter mit seiner Frau und seinem einzigen Sohn. Plötzlich brach im Lande Krieg aus, und der Ritter mußte fort. Ehe er aber gegen den Feind auszog, ließ er zwei große, hohle Kugeln gießen und füllte sie heimlich mit den besten Kostbarkeiten, die er besaß. Viel Gold und Silbergeschirr wanderte da in den Leib der Kugeln, und so schwer wurden sie, daß nur ein vierpaariges Ochsengespann sie von der Stelle brachte. Als die beiden Kugeln geschlossen waren, gab der Ritter Befehl, sie zu Seiten des großen Tores aufzustellen. Nachdem er in dieser Weise seine Schätze geborgen hatte, nahm er Abschied von den Seinen und verließ die Burg. Viele Jahre vergingen nun, ohne daß er wiederkam. Seine Frau betrauerte ihn schon als tot und schenkte ihre ganze Liebe ihrem Sohn, der zum stattlichen Jüngling heranwuchs. Eines Tages erschienen im Schloß Abgesandte der Stadt Bozen und baten um Spenden für eine Glocke, die sie gießen lassen wollten. Als der Jüngling gehört hatte, worum es sich handle, sagte er schnell: ›Vor unserem Schloß liegen zwei große, schwere, metallene Kugeln, die ihr als Glockenspeise haben möget. Ob sie da draußen nutzlos liegen oder auf eurem Turm das Ave Maria läuten, ist wohl dasselbe.‹ Darauf ließ er die Kugeln ins Tal hinabschaffen, und bald tönte mit wunderbar reinem Klang allabendlich eine Glocke durch das Land.

Nun geschah es aber, daß eines Tages ein bestaubter Fremder in das Schloß kam, und die Burgfrau erkannte mit unendlicher Freude ihren Gemahl. Darob herrschte großer Jubel im Schloß, nur der Burgherr selbst blieb düster, und als er den nächsten Tag mit seinem Sohn allein war, fragte er plötzlich:

›Wo aber sind die beiden Kugeln, die ich vor dem Tore aufstellen ließ?‹ Darauf der Jüngling: ›Die Stadt unten brauchte so notwendig eine Glocke. Da gab ich ihnen die beiden Kugeln ... und o Vater, eine wunderbare Glocke wurde daraus.‹

Kaum aber hatte er ausgeredet, wurde sein Vater bleich vor Zorn, griff nach seinem Schwert, und schrie: ›Das sollst du mit dem Leben büßen, du wahnwitziger Knabe du!‹

Der Jüngling erschrak, faßte sich aber rasch und sagte:

›Tötet mich, Vater, wenn es sein muß. Aber erlaubt, daß ich vorher ein Vaterunser bete.‹

Und weil der Ritter schweigend nickte, begann er leise und inständig sein Gebet. Als er zu Ende war, entblößte er selbst die Brust und bog den Kopf. Aber gerade, als der Ritter das blitzende Schwert in die Höhe hob, ertönte plötzlich die Glocke, und so süß und mächtig war ihr Ton, daß dem Ritter das Schwert aus den Händen fiel und Tränen in die Augen traten. Er hob den dankbar staunenden Jüngling vom Boden auf, umarmte, küßte ihn und führte ihn der Mutter zu.

Der Ritter und sein Sohn sind längst tot; das Schloß ist auch schon arg verfallen, aber die Glocke besteht noch immer, und ihr Ton ist der reinste im Land.«

Als Stephan mit seiner Erzählung fertig war, schwieg Margarete noch lange, und endlich sagte sie wie aus weiter Ferne: »Wenn wir wieder in der Stadt sind, werde ich noch oft an all das Schöne denken, das Sie mir erzählt haben.«

Da schwand alle Freude aus seinem Herzen, denn nun wußte er, daß sie abreisen würde.

»Wenn Sie wieder in der Stadt sind, werden Sie nicht mehr an die Bauern denken.«

»An den Bauer« wollte er sagen, aber er wagte es nicht.

Darauf schaute sie ihm ernst in die Augen, und während sich ihre Wangen mit einer feinen Röte deckten, erwiderte sie:

»Ich werde Tirol nie vergessen.«

Sie schien noch etwas sagen zu wollen, noch auf etwas zu warten. Aber weil er nur fassungslos dastand, nichts redete und nicht begreifen konnte, daß sie wirklich gehen werde, schlug sie den Weg zur Villa ein. Aber sie winkte, während sie ging, sah zurück und winkte noch einmal. Dann schlossen sich die grünen, tropfenden Zweige, und er sah ihr weißes Kleid nur mehr hie und da wie eine ferne huschende Sonne gehen.

Elftes Kapitel

Vielleicht hatte es eine Magd der andern erzählt, vielleicht hatte sonst jemand ein zufälliges Wort geredet, vielleicht hatten es ihr die kahlen Felder und der brausende Herbststurm verraten ... es war nicht zu sagen, wie Maria es wußte, aber sie wußte es ... wußte, daß die Fremden morgen gehen würden ...

»Morgen!«

Den ganzen Tag hatte sie an dieses Wort gedacht wie an etwas Unmögliches. Hatte die Wege hinauf und hinab gesehen, in den brennenden Augen eine leidvolle Frage:

»Kommt er nicht?«

Und während sie in Zimmer und Küche die gewohnte Arbeit tat und dabei immer wieder durch das Fenster sah, dachte sie:

»Es kann doch nicht sein, daß er nicht kommt. Daß er fortgeht, ohne zu reden ...«

So wartete sie von früh bis Mittag, von Mittag bis Abend. Als aber die Schatten länger fielen, überkam sie eine lähmende Angst. Konnte es doch sein, daß er ihr nichts zu sagen hatte? Nichts? gar nichts? ... Doch schon im nächsten Augenblicke lächelte sie über ihre Furchtsamkeit. Nein, das konnte nicht sein. Er war immer so seltsam gut mit ihr gewesen. In seiner Stimme barg sich Innigkeit, in seinen Blicken ein Geheimnis. Tausend süße Kleinigkeiten hatten es ihr aufgedeckt ... Sie schloß die Augen im glücklichen Sinnen. Als sie sie wieder öffnete, schrak sie zusammen. Auf der Wiese vor dem Hofe schritt Hugo von Rotenau. Ohne Hut und Mantel im lichten Sommeranzug, den edlen Kopf zurückgebogen, als schaute er den Wolken nach, kam er langsam näher. Es fuhr Maria in den Sinn, ihm entgegenzugehen. Gleich aber schämte sie sich, richtete mit zitternder Hand das Band an ihrer Schürze, trat vom Fenster zurück und blieb im Dunkel des Zimmers stehen. Als der Mann auf der Wiese aber so nahe war, daß sie ihn hätte rufen können, schlug er plötzlich eine andere Richtung ein. Er drehte dem Hof den Rücken und entfernte sich mehr und mehr nach unten. Maria erblaßte, als sie das sah, dann aber dachte sie: »Er weiß nicht, daß ich im Hause bin. Er sucht mich draußen.« Und als ob unsichtbare Hände sie drängten, schritt sie hinaus. Sie schritt über den Hof, hinab auf die Wiese und blieb dann unschlüssig stehen. Sollte sie doch zurückgehen und im Hause warten, bis er kam? Aber noch während sie überlegte, drehte sich Hugo von Rotenau wieder um, erblickte sie, schwenkte grüßend seine Hand und blieb dann stehen, als ob er wartete und als ob es sicher und selbstverständlich wäre, daß sie zu ihm hinabkommen würde. Maria empfand das, empfand es wie eine Schmach und konnte doch nicht anders als hinuntergehen. Dann schritten sie mitsammen über die lautlose Wiese, und Hugo von Rotenau sagte nach einem langen, träumenden Schweigen: »Die wundervolle Ruhe dieser weiten, grünen Matten ... Sie wissen nicht, wie der Städter das genießt!«

Und weil er für seine Worte kein Verständnis in ihren Blicken las, gab er einer ruckweise auftauchenden Laune nach und erzählte ihr von der Stadt ..., von dem Staub, dem Lärm in den langen, breiten Straßen, von der Jagd, der Hast in den großen Plätzen, von den Zerstreuungen, den Vergnügungen, dem Wohlleben der Reichen, von dem Elend, der Zerfahrenheit, der Zerrissenheit der kleinen Leute, und zuletzt redete er über sich selbst. Erzählte, wie er ganz durch Zufall hergekommen sei, daß er anfangs nicht dachte, daß er so lange bleiben werde und dann doch geblieben sei, weil ihm die Gegend jeden Tag lieber und vertrauter wurde.

»Und die Leute?« fragte Maria bleich bis an die Lippen, »wie fanden Sie die Leute?«

Er fuhr mit der weißen Hand durch sein dunkles, dichtes Haar und lachte leise.

»Darauf kommt es bei mir nie an.«

»Auf die Leute?«

»Ja.«

Maria streckte die Hände aus, als suche sie eine Stütze, und fragte mühsam:

»Haben Sie denn nie einen Menschen geliebt?«

Er blickte gerade vor sich auf die Spitzen der Brixner Berge, die sich safranfarben in den Abendhimmel hoben, und während sein Mund weich und seine Augen versonnen wurden, sagte er:

»Ich habe einmal eine Polin gekannt. Sie war eine Tänzerin, und wenn sie tanzte, war es, als ob eine junge Taube in der Sonne flöge. So glatt und weich war sie. Aber das Wunderbarste und Seltsamste an ihr waren ihre Füße. Sie trug ihr Herz in den Füßen. Sie weinte mit den Füßen. Und ich schwöre, ich habe nie Augen gesehen, die so erschütternd weinen konnten wie ihre Füße. Ein Zittern, ein Kräuseln, von dem Knöchel angefangen bis zu den milchweißen Zehen, und man wußte, daß sich etwas in ihr krümmte ... Sie war auch nicht frivol wie viele Tänzerinnen, sondern tugendhaft, und zugleich mit der Schönheit achte ich die Tugend beim Weib.« Er schwieg einen Augenblick, und über sein Gesicht huschte eine verwirrte Röte. Gleich aber faßte er sich und schloß: »Später ... ein Jahr später, hörte ich, daß sie starb.«

Dann schwieg er ganz, und nun wurde es so still, daß man vermeinte, das Gleiten des Abendgoldes zu hören, wie es über die Berge rutschte und alle Helle des Himmels und der Erde mit sich nahm. Hier und da hing noch ein schimmernder Fetzen, aber auch der verblaßte, verschwand, und plötzlich lag das ganze Land dunkel, mit reckenhaften Gebilden dräuend ringsherum. Da zog Hugo von Rotenau den Blick von den fernen Bergen und wandte sich Maria zu. Sie hatte die Finger zusammengepreßt, und ihre Zähne schlugen leise aufeinander. Da erschrak er und sagte im Tone aufrichtigster Sorge: »Sind Sie krank, Maria?«

Zum erstenmal nannte er ihren Namen, und sie zuckte zusammen wie unter einem Schmerz. Dann bekämpfte sie ihre Erregung und wehrte seiner Angst:

»Es ist nichts ... nein, wirklich nichts. Aber ich glaube, wir verspäten uns.«

Er drehte sich sofort um, und schweigend legten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Hugo von Rotenaus Gedanken hatten sich verstrickt, verfangen in den Seidenfäden, in den Seidenfalten fraulicher Gewänder, und Maria dachte. Dachte an junge Tauben, deren Flügel in der Sonne schimmern, dachte an eine Einsamkeit ohne Worte, ohne Ende.

In der Nähe des Klausenhofes trennten sie sich, und diesen Abend verbeugte er sich vor ihr, als ob sie eine feine Dame wäre.

Beim Tor sah sie Stephan, und sie senkte ihren Kopf, als sie ihn sah, weil sie meinte, er müsse ihren Schmerz und ihre Schande sehen. Aber Stephan sah nichts davon. Stephan sah, wo er ging und stand, ein vornehmes Mädchen im langen, weißen Kleide, sah, wie es auf einer Lärchenwiese, die schlanke Hand zum Gruß erhoben, ein tiefes Leuchten in den Augen, einen schönen Frieden auf den Zügen, gleich einer fernen, huschenden Sonne, im tropfenden Grün verschwand.

Zwölftes Kapitel

Nach den neuen, großen Gefühlen, die Stephan und Maria seit Beginn des Sommers beherrschten, war die alte Liebe zueinander doch zu tief eingewurzelt, als daß sie tiefinnerst nicht gemerkt hätten, wie sie sich immer mehr und mehr entfremdeten.

Früher waren sie beinahe beständig beisammen. Sie arbeiteten gemeinsam, sie erholten sich gemeinsam. Wenn Stephan etwas unternehmen wollte, besprach er sich zuerst mit Maria und dann erst mit der Mutter. Mit Maria, und mit ihr allein, redete er auch manchmal über die Bücher und über seinen alten Jugendtraum, Gelehrter zu werden. Nun war das alles anders geworden.

Mit einem leisen Lächeln um die Lippen, als ob sie beständig ein gemeinsames Geheimnis trügen, hatten sie sich früher bei jeder Begegnung angeschaut. Jetzt gingen sie aneinander vorbei mit bleichen, ernsten Gesichtern, und wenn sich zufällig ihre Blicke trafen, starrten sie sich an wie Fremde, erinnerten sich dann, daß sie Geschwister waren, sich einmal so lieb gehabt hatten, schämten sich in hilfloser Qual über ihre Abtrünnigkeit und fingen in einer ungeschickten, holprigen Art über fernliegende Dinge zu reden an. Aber dabei dachten sie jedesmal:

»Es kann doch nicht immer so bleiben? Nein, es wird doch nicht immer so bleiben! Das wäre ja ärger, als alles sagen ... Nein, alles sagen, wäre noch ärger.« Und sie blieben auf halbem Wege zueinander stehen, voll Scham, voll Scheu, voll Mißtrauen, ängstlich wie Diebe und suchten mit Blicken und dringenden Gedanken zu ergründen, wieviel einer von dem andern wußte. Solange die Arbeit draußen dauerte, ging es noch. Da sahen sie sich nur ein paarmal des Tages, und dann auch nur flüchtig, in drängender Hast. Gott sei Dank! es gab soviel zu tun.

»Du weißt schon, Maria, ich muß gleich wieder weg.«

»Ja ... freilich, ja ...«

Und sie schluckten das Essen hinunter, hasteten gleich darauf nach verschiedenen Richtungen auseinander, und höchstens die Mutter klagte, daß Stephan jetzt nie mehr zu Hause sei ...

Als aber die Tage kürzer wurden und die langen Abende kamen, die langen Abende mit dem knisternden Feuer und dem surrenden Rocken ... dieselben Abende, die vor einem Sommer soviel heimliches Glück in Marias Seele schütteten, kein Glück wie es der Sommer brachte, nachlässig hingeworfen von eines Fremden weißer Hand, sondern ein Glück voll zager Hingabe, ebenbürtig ihrem schlichten Stand und Namen, wurde der Zustand unerträglich. Immer unerträglicher. Und zu dem schrecklichen Verschweigen, dem schrecklichen Verbergen, kam eine Sehnsucht, fremd und überwältigend, herrisch und unabweisbar, daß jeder Tropfen Blut in ihren Adern metallen aneinanderklang und jede Faser ihren Körper spannte in halbverstandenem Begehr. Stephan setzte dagegen zähneknirschend einen jahrhundertealten Bauerntrotz, und Maria flüchtete ohnmächtig, schamerfüllt zu ihrer Namensmutter, der Jungfrau unbefleckt.

»Du Reinste der Reinen, hilf!«

– – – »Warum kommt denn jetzt Josef nie mehr herauf?« fragte die Bäuerin einmal an einem solchen Abend in der klagenden, kindischen Weise, die sie sich seit dem Unglück mit ihrem Mann angewöhnt hatte, »seid ihr denn nimmer gut zusammen, Stephan?« Stephan, der gerade, wie nun schon so oft in allerletzter Zeit, in merkwürdig ausschauenden Büchern blätterte, schloß das Buch und blickte unsicher auf Maria.

»Wir haben nichts gegeneinander, Mutter.«

»Aber früher kam er doch so oft.«

»Ich glaube, diesen Winter sind die Wege so verschneit.«

»Für einen Mann wie Josef? Das ist zum Lachen!«

»Ei ja ...«

Stephan hielt das Buch geschlossen und sah sich nachdenklich im Zimmer um. Dann sagte er plötzlich und unvermittelt:

»Ich wollte dich schon längst etwas fragen, Mutter. Hängst du sehr an der Stube, so wie sie ist?«

»Was meinst du?«

»Ich meine, Mutter ... der ganze Hof ist so alt. Man könnte vielleicht vieles herrichten lassen, schöner machen lassen ...«

Er dachte an die Villa drüben mit ihren Erkern und Gesimsen, und daß es für ein Mädchen wie Margarete etwas Lächerliches wäre ... der Herr eines halbzerfallenen Hofes ...

»Du mußt verhext sein,« sagte die alte Frau in maßlosem Erstaunen, »der Hof, der allen Klausen gut genug war.«

Stephan errötete in Verwirrung und Ärger.

»So meinte ich es ja nicht, Mutter.«

»Wie meinst du es dann?«

»Ich meine, daß der Hof doch recht alt und hinfällig ausschaut und daß wir Geld und Grund genug hätten, um ihn ordentlich auszubauen.«

»Den Klausenhof?«

»Ja ... man muß sich ja schämen.«

»Mit dem Klausenhof?«

Tieferschrocken blickte sie Stephan an, und Stephan, dem plötzlich das Ungeheuerliche seiner Gedanken klar wurde, sagte hastig:

»Nein, nein ... so meinte ich es gewiß nicht. Der Klausenhof ist ein ehrsamer Hof ...« und dann noch hastiger, energischer, wie um ein für allemal mit solchen Gedanken Schluß zu machen, »aber so kann das nicht weitergehen, Mutter ... so mit der vielen Arbeit für dich und Maria ... Du weißt, daß der Vater gern gesehen hätte, wenn ich die Agnes herbrächte ...«

Nun schluchzte die Bäuerin in Schmerz und Freude.

»O, Stephan, wenn du wüßtest, wie oft ich schon daran gedacht habe.«

»So ist es dir recht, Mutter?«

»Ja ... sehr, sehr recht, Stephan.«

»Und dir, Maria?«

Er sah voll in ihre starren, weitoffenen Augen und hielt den tausend Fragen ihrer brennenden Blicke stand. Und weil keine Muskel seines Gesichtes zuckte und kein Härchen seiner Wimpern bebte, wurde sie an ihm irre und sagte wie erlöst:

»Ja ... es wäre gut, Stephan.«

Gott sei Dank! Es kam plötzlich wie eine Erschöpfung über ihn, und er fuhr sich mit zittrigen Händen über die Stirn.

»Dann geh ich nächsten Sonntag zum Müller, wenn es euch recht ist.«

»Ja, Stephan ...« Die alte Frau erhob sich, schluchzte und zögerte. »Und wenn du den Hof ein wenig auffrischen lassen willst ... ich meine, wenn ich gleich gewußt hätte, was du im Sinn hast ... ich hab natürlich nichts dagegen.«

Aber die Freude, die sie in seinen Augen erwartet hatte, blieb aus, und während er sich zur Tür wandte, sagte er müde:

»Wozu, Mutter ... das ist ja eigentlich wirklich nicht nötig.«

Dreizehntes Kapitel

Stephan hatte Mühe, sich zurechtzufinden.

Er war den Weg schon seit Jahren nicht mehr gegangen und hatte schon als Knabe seine Not damit ... als Knabe, wo er doch so oft und so gern zur Mühle ging.

Sie lag irgendwo auf der anderen Seite des Berges, eingesenkt in Steingeröll und Fichtenschlünden. Manchmal blieb er stehen, trocknete sich den Schweiß von der Stirne und säuberte mit einem großen Taschentuch an seinen Beinkleidern. Ein plötzlicher Südwind hatte den Schnee an den Hängen geweicht, daß er brockenweise heruntertaumelte und als schmutziges Wasser über die Pfade kroch. Und heiß war es. Erstickend heiß. Stephan hätte am liebsten das seidene Halstüchlein herabgenommen, aber seine Mutter hatte gesagt, es schicke sich nicht, ohne ein seidenes Halstüchlein zu freien ... und sie sollten nichts auszusetzen haben an ihm, der Müller und die Müllerin. Sollten nichts davon merken, daß er lesen und schreiben konnte und so viele Jahre in Innsbruck in der Schule saß. Ein Bauer wollte er sein, ein richtiger Bauer, der kein Anrecht hat auf ein Mädchen mit weißen Händen und goldenem Haar ... Zum Teufel auch! Er wäre ausgeglitten und erhaschte noch glücklich den Zipfel einer Tanne. Der Weg ging auch so steil ab, war so glitschrig, daß man förmlich schauen mußte, wohin man trat. Und ringsum senkten sich schwere Lüfte nieder, stauten sich graue Massen auf ... Regen ...

War das ein gutes Zeichen, wenn man freien ging?

Warum denn nicht? ... er würde gut sein gegen Agnes. Ihr nie ein böses Wort sagen und freie Hand lassen in allem was die Wirtschaft anbetraf. Das war ein Zug an allen Klausen, daß sie gut waren gegen Frauen ..., wenn auch einmal einer, irgendeiner, aber sicher nicht der Adalbert, die ganz alten Knechte erzählten es öfters, seine Mutter vor den Pflug spannte und hinter ihr mit der Peitsche schritt ... weiß Gott, wie das eigentlich war. Aber sein Vater war gut gegen seine Frau, hatte sie in Ehren gehalten, und er würde Agnes auch in Ehren halten. Ja, lebenslänglich in Ehren halten ... Etwas wie Stolz kam über ihn, und er eilte rascher vorwärts in plötzlicher Ungeduld. Dann blieb er wieder einmal stehen, zupfte an dem seidenen Halstuch und säuberte an seinen Beinkleidern. Vor ihm öffnete sich ein zerklüftetes Gesenke, tief unten, versteckt zwischen Felsen und Fichten, stand ein bemoostes Dach, und ein frischer, brauner Bach sprang um zwei große, hölzerne Räder. Aber die Räder standen still, denn es war Sonntag ... Freier-Sonntag.

Stephan wurde feierlich zumute, und mit dem Hute in der Hand strebte er der Tiefe zu. Manchmal blieb er stehen, um zu schauen, ob man ihn vielleicht gesehen habe und ihm entgegenkam. Aber es zeigte sich niemand. Der ganze Grund war wie verzaubert, so menschenlos, so seltsam still.

»In Ehren halten,« sagte Stephan leise, »lebenslänglich in Ehren halten.«

Dann schrak er plötzlich heftig zusammen.

Unten schlugen die Hunde an, kläfften und heulten und rissen wild an ihren Ketten. »Herrgott!« aber was gab es da zu erschrecken? Er war doch kein Dieb. Er war der Klausenbauer, der freien kam ... Kein Klausenbauer freite noch umsonst. Die Türen taten sich von selbst auf, wenn er kam. Ja, alle Türen ...!

Und Stephan kniff die Lippen ein und schaute starr nach einer Richtung. Nach einer Richtung, wo auf der anderen Seite des Berges unter Tannen und Lärchen eine Villa stand, eine Villa mit Erkern und Gesimsen, mit Bildern und mit Sprüchen und mit einer Tür, die sich ihm nie auftun würde ... nie ... nie ...

»Nein, so eine Freude,« sagte der alte Müller, der im säuberlichen Sonntagsanzug jetzt aus der Türe trat. »Ihr habt wohl Korn zum Mahlen, junger Klausen?«

»Ja ..., auch Korn zum Mahlen.«

»Also noch etwas. Das ist schön. Aber kommt herein, Ihr seid ja schon eine Ewigkeit nicht dagewesen.«

Und der Alte machte die Türe weit auf, stolz auf den Besuch, den er mitbrachte. Sie schritten an den kläffenden Hunden vorbei, über einen sauber gehaltenen Hof, in dem die Müllerin stand und beflissen grüßte. Und als sie in die traulich durchwärmte, wohlaufgeräumte Wohnstube traten, kamen höflich knixend die beiden älteren Töchter, kam, freudig erschrocken und schelmisch grüßend Agnes, das lieblichste Müllerkind.

Hei, wie groß sie geworden war!

Sie reichte ihm die runde, braune Hand, und während er sie einen Augenblick drückte, dachte er:

»In Ehren halten ...«

Dann setzte er sich neben den weißhaarigen Alten und ließ es sich gefallen, daß die vier Frauen hin und her liefen, um ihm Weißbrot und Kaffee zu richten. Das beste Tuch, die beste Schale, alles Beste aus dem Schrank, der Truhe ... und plötzlich kam er sich all der Sorge, all der Ehre unwert vor. Was wollte er denn hier? Rasch und gefällig lief Agnes hin und wieder, brachte Brot und Wein, brachte Fleisch und Butter, legte Scheite auf das Feuer, zündete die Lampe an, zog die Vorhänge zu und tat tausend liebe Dinge. Aber alles sacht und leise, kaum daß man es bemerkte. Und Stephan dachte:

»Wie geschickt sie ist ... wie flink sie ist. Wie die Mutter sich freuen wird ..., wie der Vater sich gefreut hätte ...«

Er wurde mit einem Male ernst.

»Rauchen Sie nicht?« fragte die Müllerin.

»Ja.«

Agnes reichte ihm Feuer mit leise zitternder Hand, und als er ihr im Scheine des aufflackernden Zündholzes in die Augen sah, scheuten ihre Blicke in den seinen. Das machte ihn stolz und traurig zugleich.

»Wenn es nur schon gesagt wäre ...«

Aber so oft er den Mund dazu aufmachen wollte, legte sich etwas auf seine Brust, setzte sich etwas auf seine Zunge, klammerte sich etwas um seine Kehle, und weit hinten tauchte eine Villa auf, mit Erkern und Gesimsen ...

»Was ist es denn?« fragte der Müller, als der Schmaus vorüber war und die vier Frauen gerade in der Küche waren, »das Ihr noch möchtet außer dem Korn?«

Und zu seinem allergrößten Schrecken sagte Stephan:

»Die große Wiese, Herr Müller, die Ihr schon so lange feil habt.«

Dann kam eine solche Beschämung über ihn, daß er nimmer wagte, Agnes anzuschauen, als sie wieder in die Stube trat. Der Müller aber freute sich über das Angebot und redete eindringlich über die schöne Wiese und den niederen Preis. Spät am Abend brach Stephan auf, und als er in den Hof kam, sah er, daß es schneite.

Gott sei Dank, kein Regen, sondern Schnee! Weicher, fester, flaumiger Schnee. Schnee ... in langen Streifen niederrieselnd ... in weißen Schleiern niederwehend. In weißen Schleiern, wie sie Mädchen tragen ... wie sie blonde Mädchen tragen ... Gott sei Dank! Und alle Beschämung von vorhin verlor sich in einem aufbrausenden Dankesgefühl, und als er gegen Mitternacht an die Villa kam, drückte er sein frostdurchglühtes Gesicht an die kalte, steinerne Wand ... Gott sei Dank! ...

Plötzlich stutzte er. Ihm gegenüber lag der Klausenhof, und aus einem Fenster drang Licht. Was war das? Sie warteten auf ihn ..., die Mutter ..., Maria ...

Er hatte die beiden vergessen. Was werden die jetzt sagen, wenn sie es erfahren ...? Jäh ernüchtert, widerwillig, unschlüssig ging er weiter ... Aber war das nicht seine eigene, seine eigenste Sache? ...

Halb trotzig, halb verlegen, trat er endlich in die Stube.

Die Mutter und Maria saßen in ihren schwarzen Sonntagskleidern, der Tisch war mit Blumen geschmückt, die einfachen Möbel machten einen festlichen Eindruck. Es war offenbar, sie hatten das alles für den Abend hergerichtet, um diesen Abend zu feiern ...

Maria trat ihm entgegen, blaß und gefaßt wie eine Braut, und die Mutter wollte schluchzen. Da nahm er die alte Frau fest um die Mitte und sagte:

»Laß gut sein, Mutter. Es wird nichts daraus.«

Sie dachte an einen Korb, aber das stand im Widerspruch zu seinen strahlenden Augen, und sie konnte ihn nicht begreifen.

»Aber Stephan?«

»Und es ist doch so, Mutter. Ich ... ich hab mich nicht getraut ...«

Nun schluchzte sie wirklich, aber aus Freude, daß sie ihren Jungen noch eine Weile behalten durfte, aus erlöster Mutterfreude, und noch immer schluchzend sagte sie:

»Du Bub, du lieber, dummer Bub.«

Nur Maria sagte nichts. Sie stand beim Fenster und blickte auf die Bäume, die im Schnee und Mondlicht drüben im Wald die Villa säumten. Die Villa, die das Schicksal der Klausen wurde, einmal, und dann noch einmal durch ein fremdes Mädchen, durch einen fremden Mann ... Und während sich ihr Gehirn abmühte, ein paar Worte für Stephan zu finden, dachte sie: »Es kann nimmer gut werden mit den Klausen.«

Vierzehntes Kapitel

Und es ward nimmer gut.

Das merkte nicht nur Maria, das merkte auch Stephan, merkte es am allerdeutlichsten, wenn er sich nach der Rückseite des Hauses unter die langen Fänge der Windmühle schlich und mit einem alten Fernrohr, das noch aus Innsbruck stammte, den Weg nach Bozen hinauf und hinunter sah. Den steilen, steinigen, fünf Stunden langen Weg, den der Postbote aus Bozen einige Male im Jahre heraufkroch, um den Steuerzettel oder einen anderen dienstlichen Wisch im Klausenhofe abzugeben. Ja, immer nur dienstliche Sachen! Die Verwandten und Bekannten der Klausen waren ja nicht eben gewandt im Lesen und Schreiben. Auch Therese nicht, die nur öfters einen Knecht zu der Mutter sandte mit der Botschaft, daß es ihr gut ginge und daß Maria doch einmal kommen möge.

Immer nur dienstliche Sachen! ... und doch schlich sich Stephan jeden Tag nach der Rückseite des Hauses unter die langen Fänge der Windmühle und schaute mit seinem alten Fernglas den Weg nach Bozen hinauf und hinab. Aber die Steuern waren wohl noch immer nicht fällig, denn der Postbote kam nicht, so eifrig Stephan auch schaute, so sehr er das Fernglas auch drehte ... Und voll tiefer Beschämung ging er jedesmal in das Haus zurück und nahm sich vor, nie wieder auszuschauen. Aber den nächsten Morgen stand er doch draußen, an der Rückseite des Hauses, unter den langen Fängen der Windmühle ...

Da geschah es jetzt aber schon ein paarmal, daß er einen tiefen Schreck erlebte. Maria stand auch dort. Genau an derselben Stelle, wo er immer zu stehen pflegte, wo man den Weg am besten überschauen konnte. Mit straffgespanntem, weit vorgeneigtem Oberkörper, die Augen mit den Händen gegen den blendenden Schnee geschützt, schaute sie den Weg hinab, schaute starr hinab und suchte ...

Stephan war jedesmal schnell zurückgetreten, noch ehe sie ihn bemerken konnte, und ging schließlich nur mehr auf Ausguck, wenn er Maria dringendst im Haus beschäftigt wußte. Aber es dünkte ihn eine lächerliche, wahnsinnige Sache, daß sie, ohne es einander zu verraten, auf ein und dasselbe warteten, von dem sie beide wußten, daß es nie kommen würde, auf eine Nachricht aus dem fernen, schönen, prachtumrauschten Wien ...

Und die Stadt, die sie früher manchmal nennen hörten, ohne sich etwas dabei zu denken, wurde ihren Herzen der Mittelpunkt brennendsten Verlangens, sehnsüchtigster Träume ...

Wien! Du wunderbares, märchenhaftes, weitentrücktes Wien! ...

Und nach und nach wurde ihnen die Heimat enge, die Heimat mit den Bergen ringsherum, die alle Aussicht wehrten in die Ferne. O du Ferne! du glänzende, glückliche Ferne! ...

Vergrämt, verdrossen, mit äußerster Anstrengung gingen sie ihrer Arbeit nach. Wie böse Geister versanken die Novembernächte, wie böse Fragen kamen die Dezembertage ... Wenn nur Weihnachten erst vorüber wäre ...! Weihnachten, das sie sonst so festlich in innigster Eintracht begangen hatten und das sie diesmal fürchten mußten, wegen der Klüfte, wegen der Fremde, die der Sommer, ein einziger kurzer Sommer, unter sie getragen hatte. Und je näher das Fest der Freude, das Fest der Liebe kam, desto mehr wurde der Wunsch in ihnen rege, sich einander anzuvertrauen, einander alles zu sagen, miteinander alles zu tragen ...

Aber so oft sie damit anfangen wollten, färbten sich ihre Wangen, stockte ihnen der Atem, versagten ihre Zungen ...

Nein! es geht nicht. Es geht nicht! ...

Und Maria beugte sich tiefer über ihren Rocken, und Stephan beugte sich tiefer über sein Buch ...

So war das auch am Vortag des 24. Dezember. Die ganze Woche hatten sie es auf diesen letzten Tag verschoben. Erst für den Morgen, dann für den Mittag, dann für den Abend, und jetzt saßen sie sich gegenüber, mühten sich zu reden und konnten nicht. Aber als Maria der Faden wieder riß, und er riß heute unzählige Male, dachte sie: »Es muß sein.«

Und ohne den Faden anzudrehen, lehnte sie sich in ihren Sessel zurück und sagte:

»Stephan ...«

Er hob unsicher den Kopf.

»... ich wollte dir sagen, Stephan ...« und nach einer blitzschnellen Vorstellung von kreisförmig sich drehenden Bildern, lächerlichen, unseligen, unmöglichen Bildern ... »daß ich morgen gerne zu Therese ginge ...«

Dankbar, befreit atmete Stephan auf.

»Ja ... warum denn nicht?«

Sie lächelte bitter. »Warum denn nicht?« fragte er ...

Weil Weihnachtstag ist, könnte sie sagen, und weil wir nie auseinander waren am Weihnachtstag, und weil ...

Aber sie war zu müde, zu gleichgültig, um etwas zu sagen.

Schweigend drehte sie den Faden an, und Stephan fiel plötzlich ein, daß er draußen etwas nachschauen müsse. Eilig erhob er sich. Draußen hatte sich ein scharfer, schneidender Wind erhoben, der von den Bergen niederfuhr und wütend gegen den Hof prallte. Aber rückwärts, an der Scheune, stand die Windmühle, kampflustig, kampfgerüstet, wartend wie ein Recke auf den andern, und gleich darauf wälzten sich Wind und Mühle in heulender Umarmung. Stephan stand neben dem kleinen, matterleuchteten Fenster, und unwillkürlich blickte er hinein. Da sah er, daß Maria weitvornüber gebeugt im Stuhle saß, die Arme auf dem Schoß, den Kopf auf den Armen, und manchmal ging ein Stoß durch ihren Körper, ein Stoß, als ob sie weinte ...

Da schaute er weg und schaute hinüber zu der Villa. Sie stand unter den schneegebeugten Fichten, weißbehangen, bläulichschimmernd, wie ein leibgewordnes Märchen ...

Aber Stephan dachte an den Vater, wie er blutüberströmt im Bette lag, an Maria, wie sie in der Stube saß und weinte, an sein eigenes grimmes Weh, und plötzlich hob er die Arme wie in einer mächtigen Verzweiflung und sagte:

»Du Unglückshaus!«

Fünfzehntes Kapitel

Ein Töpfchen allerfeinsten Honig, aufgespart und aufgehoben den ganzen Sommer für Therese. Und als Maria ihn jetzt sorgfältig verpackte, fragte sie:

»Irgendetwas auszurichten, Mutter?«

»Ja ... einen schönen Gruß ... und, warte, Maria ...,« die Bäuerin zögerte und wollte nicht heraus mit der Sprache, »... schau dich ein wenig um bei ihr ... Du weißt schon, was ich meine.«

»Ja.«

»... Hauptsächlich unter dem Vieh. Und frag sie auch über die Ernten.«

»Ja.«

»Aufrichtig gesagt, es würde mich groß wundern, wenn wirklich alles gut bei ihr ginge.«

Maria hüllte sich in ein warmes, dunkles Tuch.

»Also Gott befohlen, Mutter.«

»Gott befohlen ... und vergiß den Gruß nicht.«

»Werde ihn besorgen.«

Sie drückte die Tür ins Schloß und schritt leise fröstelnd über den Hof. Ob Stephan sich nicht zeigte? ... Aber nein, er war nirgends zu sehen ... Sie lächelte zornig, und eine trotzige Falte grub sich zwischen ihre Brauen. Ohne Gruß und ohne Wort ließ er sie fort am Weihnachtstag ...

Ohne umzuschauen eilte sie den schmalen Pfad hinab, der durch die Wiesen abwärts führte, und mäßigte erst ihren Lauf, als sie weit unten ein tannenstarrender Wald aufnahm. Gott sei Dank! Die weiten Wiesen zwischen ihr und dem Hof, zwischen ihr und Stephan, das gab ein wunderbares Gefühl der Freie ... Aber mitten in diesen Gedanken blieb sie stehen und drückte, jäh aufschluchzend, die Hände vors Gesicht. Daß es so weit kommen konnte ... so weit.

Und während sie wieder weiterschritt, begann sie plötzlich zu reden, als ob Stephan neben ihr ginge:

»Wir waren böse schon als Kinder. Ja böse, denn unsere Liebe war ein Unrecht. Weißt du noch, wie oft Therese weinte, weil wir sie nie mitspielen lassen wollten? Wir spielten immer Graf und Gräfin, und einmal sagten wir Therese, sie sei zu häßlich für ein so feines Spiel. Weißt du das noch? Seitdem hat sie uns nie wieder geplagt und lief dann immer mit dem Vater ins Feld. Und als wir größer wurden und den weiten Weg nach Kampenn in die Schule mußten, ließen wir Therese immer hinter uns laufen, weil sie damals arg stotterte und wir uns schämten, daß sie unsere Schwester war ... und jetzt sind wir zwei so elend geworden ...«

Es hatte zu schneien begonnen. Erst in feinen, weißen Pünktchen, dann immer dichter und dichter, bis große Flocken niedersanken und wie weiche Lippen Marias Wangen streiften. Und während sie das Tuch fester um die Schultern zog, sagte sie:

»Aber es ist auch ein Glück dabei, daß wir so gemeinsam leiden ...«

Plötzlich erschrak sie, und so heftig erschrak sie, daß sie mit den Händen nach dem Stamm eines Baumes griff, um nicht umzusinken. Gegen den Schnee und den Wind kämpfend, kam gebückt und schwerfällig, in einen groben Lodenrock gehüllt, ein alter Mann daher. Auf seinem Kragen leuchtete ein Stückchen rotes Tuch, um seinen Leib trug er eine breite, schwarze Ledertasche, und in den bepelzten Händen hielt er Briefe. Wirkliche Briefe, und er kam den Weg zum Klausenhof.

Maria mußte sich Gewalt antun, um nicht laut herauszuschluchzen in ungestümer Seligkeit. Und weil sie totsicher war, daß der Mann ihretwegen heraufgekommen war, blieb sie stehen und sagte:

»Ihr braucht nicht weiterzugehen. Ich kann es Euch abnehmen.«

Der Briefträger freute sich, daß er den Weg ersparen könnte, und suchte eilig unter den Briefen. Dann zog er ein weißes Kärtchen hervor und reichte es ihr mit zittrigen Händen. Hastig dankend nahm sie es in Empfang und ging rasch grüßend weiter. Als sie weit genug war, daß der Alte sie nicht mehr sehen konnte, blieb sie stehen und drehte das Kärtchen um. Dann aber fuhr ein Beben durch ihren Leib, und sie wurde blaß. Die Schrift auf der Karte war keine Männerschrift, wie sie erwartet hatte, sondern eine feine Mädchenschrift, und die Adresse war ganz deutlich: »Herrn Stephan Klausen.«

Also nicht für sie ... und sie blieb noch immer stehen und haderte mit dem Schicksal in wilder Verblendung. Soll sie ihm die Karte geben? ... soll sie sie ihm geben? ... wie kommt er dazu, daß er so glücklich wird? ... soll sie sie ihm geben? ...

Gleich aber erkannte sie ihr Unrecht und schämte sich ihrer neuen Bösartigkeit ... O, gewiß wird sie sie ihm geben ... als allerschönste Weihnachtsfreude wird sie sie ihm geben ...

Und mit zartester Behutsamkeit schob sie die Karte in die schweren Falten ihres Kleides.

– – – Therese hatte keine Ahnung gehabt, daß Maria kommen werde, und wurde purpurrot, als die Schwester plötzlich in die Stube trat.

»O, Maria!«

In echter Freude stieß sie die Worte hervor, nahm ihr das Tuch von den Schultern, schüttelte den Schnee daraus und zwang Maria in den weichsten Stuhl beim Feuer. Dann brachte sie wärmenden Tee, weiches, lockeres Brot und erkundigte sich mit überstürzenden Fragen nach der Mutter, nach Stephan und nach dem Gesinde.

Aber immer vermied sie Marias Augen, und eine feine, mädchenhafte Röte kam und ging auf ihren Wangen. Sie schämte sich vor Maria ihres Zustandes, und Maria, die nichts davon gewußt hatte, war freudig und peinlich überrascht. Und während sie beim Feuer saß, auf Theresens Reden lauschte und wohltuend die Behaglichkeit empfand, die aus jedem Ding und Winkel strömte, drängte sich ihr auf: »Therese ist glücklich.«

Ja, Therese war glücklich. Davon zeugten die traulich gerückten Möbel, die schützenden Decken und Deckchen, die schneeigen Spitzengardinen und die leuchtenden Blumen dahinter ... Blumen gedeihen nicht gern neben Sorgen.

Ja, Therese war glücklich. Das sang der Vogel im Bauer, das sang das Feuer im Herd, das sangen Theresens Augen, das klang aus jedem Wort. Und ein Triumph war dahinter, ein Triumph über das Böse, das ihr gedroht hatte ...

Gegen Mittag kam überschneit und durchgefroren ihr Mann nach Hause, und nun sah Maria erst, wie glücklich Therese war. Sah, wie süß die Sorge tat, die er um sie, die sie um ihn bezeigte, sah, wie die beiden sich verstanden, durchdrangen und ergänzten, sah, daß Therese im Herzen dieses schlichten Mannes eine Heimat hatte, einen Königinnensitz, und in ihrem abgemarterten Gehirn sprangen wirre, sehnsüchtige Gedanken auf.

»Zugehörigkeit! für den Mann zum Stamm ...

Für das Weib zum Mann ... Zugehörigkeit! ...«

Und plötzlich sprang sie vom Stuhle auf und wollte heim.

Aber dagegen wehrte sich Therese energisch.

»Was fällt dir ein? Du bist ja gerade gekommen.«

Sie goß ihr frischen Tee ein, und als ihr Mann hinausging, bog sie sich vertraulich über sie:

»Ich muß dich auch noch etwas ganz Besonderes fragen. Sag, wirst du denn nicht auch endlich daran denken?«

»Warum ich?«

»Ich meine wegen Stephan.«

Maria umschloß heimlich die Karte in ihrer Tasche.

»Was hat das mit Stephan zu tun?«

Nun wurde Therese sehr ernst.

»Alles. Weil er nicht heiraten kann, solange du zu Hause bist.«

»Warum nicht?«

»Weil das immer so war, die Mädchen heiraten, und dann erst bringt der Bauer die junge Frau, denn eine junge Frau und Schwestern, das täte nie gut.«

Maria umschloß die Karte fester.

»Du meinst, man könnte sich nicht vertragen?«

»Ja, eine neue Frau bringt neue Dinge, schafft manches ab und führt manches ein. Und sie hat das Recht dazu, denn der Hof ist jetzt ihr Hof. Dort ist ihr Heim, dort gehört sie hin.«

»So meinst du, ich gehöre nicht mehr hin?«

Darauf wurde die nüchterne, praktische Therese böse.

»Das ist ein Unsinn. Solange du dort bist, gehörst du hin, denn Stephan wird nicht heiraten, solange du zu Hause bist ... und jetzt komm mit in die Ställe, es ist eine Freude, wie das Viehzeug gedeiht.«

So gingen sie zusammen in die Ställe, wo sie auch Theresens Mann fanden. Er war mit einem jungen Stier beschäftigt, der seine Kette gelockert hatte und störrisch daran riß. Mit echtem Bauernstolz machte der Hausherr Maria auf die gutgehaltenen Tiere aufmerksam und erwähnte immer wieder, daß Therese und nur Therese alles Lob gehöre, denn es sei im ganzen Land keine Bäuerin umsichtiger und unermüdlicher als Therese. Das ganze Haus war ein Loblied auf Therese.

Maria aber gab jetzt nicht mehr nach und drängte heim.

»Es ist heute Weihnachtstag,« sagte sie, »und du wirst auch noch manches zu richten haben.«

Da blickte Therese auf ihren Mann und sagte:

»Dieses Jahr wollen wir nichts tun, aber nächstes ...«

Maria ergriff ihre Hand und drückte sie leise:

»Ich wünsche dir alles Glück, Therese ... und wenn du jemand brauchst, schicke hinauf zu uns.«

Therese nickte wortlos. Irgendwo weit hinten saß plötzlich ein Schatten, eine Sorge ... Irgendwo weit hinten ...

»Grüß die Mutter,« sagte sie endlich, »und Stephan, und die Leute.«

Sechzehntes Kapitel

Maria ging. Die linke Hand um das Tuch geklammert, die Rechte fest und schützend auf der Kleidertasche, so hastete sie heimwärts und achtete die Schönheit der schneeschweren Wälder nicht, deren Bäume sich wie weiße Kirchentürme mit unendlich feinen Schnörkeln in die reine Höhe bauten.

Einmal blieb sie stehen und sah prüfend um sich.

Ging sie denn recht? ... Aber ja. Dort oben begann ja schon der endlose Besitz der Klausen, und noch weiter oben, sie konnte ihn noch nicht sehen, aber sie wußte es, lag der Hof.

Und die Worte, die ihr seit dem Abschied mit Therese in den Ohren klangen, klangen noch stärker als vorher:

»Eine neue Frau bringt neue Dinge, schafft manches ab und führt manches ein. Und sie hat das Recht dazu, denn der Hof ist jetzt ihr Hof, ihr Heim, dort gehört sie hin.«

Wie arm war sie plötzlich geworden. Sie, die Tochter eines freien Bauern, die selten noch auf fremden Boden trat, groß und stolz geworden im Bewußtsein, daß der ganze Berg und noch ein gutes Stück darunter und hinüber Gut und Erbgut der Klausen sei, zusammen mit dem Hof da oben, der immer ihre Heimat war. Und jetzt plötzlich gehörte sie nimmer hin, hatte kein Recht auf den Stuhl beim Rocken, hatte kein Recht auf den Platz beim Herd ... und der Traum, der frohe Kindertraum, daß sie und Stephan einmal allein da oben walten würden ... und der andere Traum, der erste, süße Mädchentraum, daß sie einem Weidmann in sein grünes Häuschen folgt ... und der letzte Traum, so grausam bitter, und doch süßer als irgend etwas in der Welt, daß ein Fremder, ein namenloser Fremder, der ihr nichts gibt, nichts verspricht, sie einmal küssen wird ... wo waren diese Träume alle? ...

Wo waren sie ...?

Fort! ... wie er fort ist ... wie seine Augen, seine Hände fort sind ... Fort! alles fort, und nur sie ist da und geht einsam und heimkrank durch den öden Schnee ...

Und plötzlich blieb sie wieder stehen und drückte ihre zitternden Hände an die fiebernde Stirn ... Wie? wenn sie gar nicht da hinauf ginge ... wenn sie anderswo hinginge ... gleichviel wohin ... nur nicht da hinauf, wo sie doch keine Freude brachte, denn die Mutter hatte Stephan, und Stephan hatte ... sie dachte an ein blondes Mädchen, das sie im Sommer öfters neben Stephan über die Wiesen wandeln sah, und dachte an die Karte in ihrer Tasche ... Langsam, zögernd, nahm sie sie heraus und übersah sie noch einmal im rasch fallenden Licht des Abend. Schräg über das weiße Papier stand in Gold gedruckt der Weihnachtswunsch, und unten in der Ecke stand in zierlichen, zögernden Strichen der Name der Senderin ... Und etwas in Maria sagte:

»O ja, du bringst eine Freude, eine gewaltige, erschütternde Freude.« Dann verbarg sie das Kärtchen wieder sorgsam und eilte den letzten, steilen Pfad hinan. Als sie oben war, löste sich eine Gestalt von der Mauer und kam ihr entgegen. Es war Stephan, und Maria begann zu zittern aus Freude und Angst und Verwirrung und hundert anderen Dingen, die sie so schnell nicht zu deuten vermochte. Er hatte da auf sie gewartet, hatte vielleicht den ganzen Tag auf sie gewartet, und sie hatte gehadert, daß sie einsam war ... Die plötzliche Freude verschlug ihr die Rede. Ohne einen Laut gab sie ihm das Kärtchen, ging dann rasch in das Haus und ließ ihn stehen, betäubt wie er stand. In der Stube aber stürzten ihr jäh die Tränen aus den Augen, denn dort drinnen brannte ein Weihnachtsbäumchen, das Stephan und die alte Frau heimlich geputzt hatten. Und Gaben lagen darunter, von der Mutter, von Stephan, einfache süße Dinge, Gaben der Liebe ...

Und dann machte es die Mutter genau wie Therese. Sie nahm Maria das Tuch von den Schultern, drängte sie in den weichsten Stuhl beim Feuer und brachte ihr wärmenden Tee und weiches, lockeres Brot. Nur nicht so frisch und jung lief sie dabei herum wie Therese, sondern ein wenig mühsam, ein wenig atemlos, aber tausendmal so lieb darum ...

Und als alles auf dem Tische stand, Maria es sich wohl schmecken ließ, die Geschenke der Reihe nach streichelte und bewunderte und dabei ihre müden Füße gegen das knisternde Feuer hielt, daß sie die Heimatswärme wohlig durchfuhr, fragte die Bäuerin wie von ungefähr:

»Wo mag nur Stephan sein?«

Und Maria sagte voll heimlichem Stolz:

»Ich glaube, er ist draußen.«

... Ja, Stephan war draußen, war draußen, kühlte sein glühendes Gesicht mit Schnee und schaute hinüber zu der Villa, die unter den schneegebeugten Fichten stand, weißbehangen, bläulichschimmernd, wie ein leibgewordnes Märchen. Und Stephan schwenkte das weiße Weihnachtskärtchen dagegen, schwenkte es in tollem, brausendem Jubel und rief:

»Du leuchtendes Haus! du leuchtendes Glückshaus! du Haus voll Glück! ...«

Siebzehntes Kapitel

Nun konnte das aber nimmer so weitergehen mit dem alten Ratterkasten! Die ganze wackelige Bude mußte niedergerissen werden bis auf den letzten Stein; und ein Haus muß erstehen von solcher Ausdehnung und Schönheit, wie es kein Bauer in Tirol besitzt.

Und gleich mußte damit begonnen werden, daß es bis zum Sommer fertig ist ... bis zum Sommer ... und Stephan warf den Kopf zurück und blähte die Nasenwände wie ein heißblütiges Pferd.

Dann ging er mit großen Schritten um den Hof herum, prüfte mit Genugtuung die alten, rissigen Mauern, rüttelte an Pfählen, die schon lose staken, daß sie ganz einfielen, und richtete soviel Schaden an, als er ungesehen und unauffällig anrichten konnte.

Darauf ging er mit hochgezogenen Augenbrauen in die Stube und redete der Bäuerin zu, sich einmal den Hof anzusehen. Er sei so sehr schadhaft, daß er morgen oder übermorgen einstürzen werde, wenn man nicht schleunigst zum Maurermeister nach Bozen schicke ...

Die Bäuerin ließ ihn ruhig ausreden, aber als er fertig war, sagte sie: »Dich hat der Hochmut gepackt, Stephan. Du meinst, weil du lesen und schreiben kannst, ist der Hof für dich nicht mehr gut. Höre, Stephan ... es gibt Leute, die gescheit sind, und Leute, die gescheiter sind. Und es gibt Leute, die ehrsam sind, aber keine Leute, die ehrsamer sind, denn die Ehrsamkeit hat nur ein Kleid. Was ich also meine, ist: du bist gescheiter als dein Vater war, aber ehrsamer bist du nicht, und wenn der Hof gut war für deinen Vater, muß er auch gut sein für dich. Darum will ich es nicht haben, Stephan, und so lange ich lebe, kommt kein Stein von dem andern.«

Es nützte nichts. Stephan mochte reden und drängen, so viel er wollte, die sonst so weiche und nachgiebige Frau war unerbittlich. Trotzdem gab er seinen Vorsatz nicht auf und sandte heimlich einen Boten nach Bozen. Der brachte von dem Maurermeister ein Büchlein mit Ansichten und Plänen, und Stephan studierte hinter festverschlossenen Türen darin herum. Aber es dünkte ihm nichts gut genug. Er wollte etwas mit Erkern und Gesimsen, mit Bildern und mit Sprüchen, und so schrieb er ein paar Tage später direkt nach Innsbruck. Merkwürdigerweise aber sandte er den Brief nicht weg, sondern trug ihn Woche um Woche in der Tasche herum.

Jeden Abend nahm er sich vor, ihn morgen zu schicken, und wenn der Morgen kam, tat er es wieder nicht. Tat es nicht, vielleicht weil man ... und das war ihm erst später eingefallen ... ja doch nicht bauen konnte, solange der Boden nicht ausgetrocknet war, vielleicht auch, weil die Mutter zu husten begann und so merkwürdig spitz wurde. Und schließlich hatte sie recht. Es gibt Leute, die gescheit sind, und Leute, die gescheiter sind. Und Leute, die ehrsam sind, aber keine Leute, die ehrsamer sind ... die waren auch nicht besser da drüben, trotzdem sie ein feines Haus bewohnten ...

Wie Trotz und Wut überkam es ihn, und mit doppelter Zärtlichkeit umgab er die scheidende Mutter. Nein, er wollte nicht mehr daran denken. Eigentlich war es ja auch ein Wahnsinn, daran zu denken. Denn was berechtigte ihn dazu? Ein Kärtchen ... ein einziges weißes Weihnachtskärtchen ... geschickt aus Langeweile, aus Laune, aus Mitleid, oder sonst einem tollen Grund, wie sie nur die Weiber haben ... O, er war in Innsbruck nicht so ganz ohne Erfahrung geblieben ... zum Teufel auch, ihn sollte keine necken! ...

Gleich darauf aber schlug er erschüttert die Hände vors Gesicht. Daß er so etwas denken konnte ... von ihr, die süßer war als erste Sommerblüten, und keuscher war als frischer Firnenschnee ...

Nein! ihresgleichen hatte es in Innsbruck nicht gegeben, gab es nimmer in der Welt! ...

»Margarete.«

Er wollte es laut sagen, um sich das fremde, blonde Mädchen besser zu vergegenwärtigen. Aber der feine, ungewohnte Name brach auf seiner Zunge, und da sagte er halb erschrocken über die Kühnheit, halb glücklich über die Macht, die ihm doch niemand wehren konnte, »Grete«.

... und der frühe Föhn, der vorüberstrich, nahm das Wort von seinen Lippen, trug es in die Wälder, warf es in die Lüfte, daß es tausendfältig wiederklang. »Grete ... Grete.«

Und taumelnd vor Sehnsucht griff Stephan in die Tasche nach der Weihnachtskarte, die er immer bei sich trug. Da spürte er etwas Hartes, etwas Festes, einen Brief. Richtig!

Der mußte fort. Heute noch ... mochte die Mutter weinen.

... Aber die Mutter weinte nicht, denn noch ehe die Antwort kam, fand man sie eines Morgens kalt und steif in ihrem Bett. Da schien es, als ob alle Freude und alle Wärme im Klausenhof mit ihr gestorben sei, und Maria weinte zum erstenmal wieder an Stephans Schulter, und Stephan strich ihr leise übers Haar. Therese wurde verständigt, aber nur der Schwager kam.

Neben Theresens Bett stand seit ein paar Tagen eine sorgsam zugehüllte Wiege, und Therese war noch viel zu schwach, um den steilen Berg heraufzukommen.

Ernst und traurig trugen sie die Klausenbäuerin am dritten Tag zu Grabe. Die Bauern waren aus nah und fern erschienen und schritten im langen Zug hinter dem weinenden Gesinde.

Es war bitter, an einem so schönen Frühlingstag, wo tausend und abertausend grüne Spitzen aus eigenem Grund und Boden drängten, ins Grab gesenkt zu werden. Das empfanden sogar diejenigen, die die Klausenbäuerin vielleicht nur einmal, vielleicht nie gesehen hatten, und des Betens und des Weinens ward kein Ende. Beim Totenmahl, bei Wein und Brot, erholten sich die Gäste dann ein wenig. Aber die Knechte und die Mägde schluchzten weiter, und auch Maria weinte unaufhörlich.

Nur Stephan, jetzt der unumschränkte Herr am Klausenhof, zeigte sich ruhig und gefaßt. Umsichtig ging er von dem einen zum andern, fragte die Männer nach ihren Feldern, die Frauen nach ihren Kindern, und die Leute wunderten sich insgeheim, was für ein lieber, feiner Herr der junge Klausen geworden sei.

Ja fein, denn selbst diese einfachen Gemüter merkten den Abstand zwischen ihm und ihnen. Groß, fremd, blond, wie einer, der gar nicht zu ihnen gehört, sah er aus und war doch wieder so voll Verständnis für alle ihre Sorgen, daß die Scheu vor seiner Vornehmheit unwillkürlich schwand vor seiner Güte.

Ja, gut war er ... und ledig auch ... und in den Jahren auch ...

Und die Bäuerinnen, die schöne Anwesen und ältliche Töchter zu Hause hatten, zerbrachen sich auf dem Heimweg den Kopf, wie es anzustellen wäre ... denn der Klausenhof brauchte jetzt eine Bäuerin, das war klar ...

Achtzehntes Kapitel

Auch Stephan wurde das allmählich klar. Mit jedem neuen Tag spürte er deutlicher und deutlicher, daß das nicht, wie er immer glaubte, seine eigenste Sache, sondern auch Sache des Hofes sei. Allerdings, da war Maria. Tüchtig, pünktlich, umsichtig und fest hinter dem Gesinde wie die Mutter. Aber es war doch nicht dasselbe. Das merkte man da und dort und überall. Mit den Leuten hatte es auch schon einige Male Zwistigkeiten gegeben, und der älteste Knecht, der seit dreißig Jahren auf dem Hofe war, wollte gehen.

»Es sei keine Zucht mehr,« sagte er, »keine Zucht!«

Und nur Marias Zureden hatte ihn gehalten.

Bleich und verstört ging Stephan auf seinem Hof herum und dachte: »Wo fehlt es denn? wo fehlt es denn? ...«

Aber er konnte es nicht ergründen. Im Haus, im Hof, in den Ställen und Scheunen herrschte nach wie vor Segen und Ordnung.

Die Pferde und Zugochsen waren sauber gestriegelt, die Kühe trugen schweres Euter, die Hennen gackerten unverdrossen, und die Bütten beim Brunnen waren schneeweiß gescheuert.

»Wo fehlt es denn? wo fehlt es denn? ...«

Und weil Stephan der Sache auf den Grund kommen wollte, ging er in die Vorratsräume.

Aber auch dort war alles in Ordnung. In der Fruchtkammer standen schwergefüllte Säcke mit Mehl und Getreide. In der Fleischkammer hingen lange Reihen mit Fleisch und Speck. Im Keller drängte sich Faß an Faß mit Wein und Apfelwein.

»Nein, da fehlte nichts.«

Und Stephan ging in das Haus. Die Küche war frisch getüncht, die Geräte an der Wand vollzählig und sauber. Auf dem Herde dampfte es aus Pfannen und Kesseln, und zuoberst auf den warmen, grünen Kacheln lag die Katze und surrte leise. An dem großen Küchentisch aber stand Maria im frischgewaschenen Kattunkleid und richtete Gemüse. Die Uhr zeigte die Mittagsstunde, und der Tisch war gedeckt.

»Nein, da fehlte auch nichts.«

Und Stephan ging in das Zimmer, in das große eheliche Schlafzimmer, das jeder junge Klausen mit dem Hofe übernahm.

Er selbst wäre lieber in seinem Knabenstübchen geblieben, aber der Leute wegen hielt er sich an die Tradition.

Die Fenster waren weit offen, und der frische Frühlingswind fuhr in die Falten der großgeblümten Vorhänge, daß sie aufflatterten und sich wichtig blähten. Und der frische Frühlingswind strich über die uralte Kommode, über den uralten Schrank bis hinüber zu dem uralten Bett ... ja, dort fehlte etwas ... dort fehlte das andere uralte Bett. Es war auch zeitlebens dort gestanden, aber er hatte es gleich am Anfang seiner Herrschaft hinausräumen lassen ... und nun fehlte es ... fehlte ein Bett.

Aber Herrgott, weil ein Bett fehlt, das kann es doch nicht sein!

... Aber es war doch so, und Stephan kniff die Lippen ein, wie er es manchmal tat, wenn er scharf nachdachte, und schaute hinüber zu dem Wald, wo die Lärchen und Fichten den letzten Schnee abwarfen, wie Frauen, die das letzte Kleid abwerfen und frei und froh sich dehnen. Und er sagte:

»Frühling, Frühling, du toller, wahnsinniger Frühling, sei still, ich bin der Klausen. Der Klausen, der ein Bauer ist und ein Fürst sein möchte ... O Frühling, sei still ...!«

Aber der Frühling ward nicht still. Er tobte und schmeichelte, er drohte und streichelte, und in all die tausend Blumenkränze, die er aus dem Boden zog, zeichnete er Gesichter, blasse, feine Mädchengesichter.

Und Stephan haderte mit dem Frühling und haderte mit der Welt. Er wurde ungerecht gegen das Gesinde, scharf gegen Maria und sah und wußte nicht einmal mehr, daß sie auch mit dem Frühling stritt.

Neunzehntes Kapitel

In der Villa Waldfriede wurden eines Tages die grünen Fensterläden aufgestoßen, und ein sorgsam betüchelter Altweiberkopf zeigte sich hinter den Scheiben. Nach einer Weile öffneten sich auch die Fenster, und der Altweiberkopf hob sich vorsichtig heraus. »Herrgottl, war's da oben schön! So schön, nein, nicht zum Sagen. Das viele dürre Holz in den Wäldern, das man zusammenklauben durfte, ohne viel nach jemand zu fragen, und die vielen heilsamen Kräutlein in den Wiesen, die niemand gehörten als dem lieben Herrgott und dem, der sie gerade fand.

Wunderschöne Kräutlein, gegen Husten und Brustweh und Brust- und Kopfgeschwüre und Krampfadern. Ja, wegen den Kräutlein, die man da oben gleich zur Hand hat, ist es ein Gutes, da zu leben. Aber insonsten ...,« und der Altweiberkopf wackelte verdrossen hin und her, »ist das Leben da oben ein' Sünd' und ein Greuel ... Wie die Klausen das aushalten können, jahrein, jahraus ohne Kirchen und Ablässe, und nur alle Sonntag eine heilige Messe unten in Kampenn ... O, das arme Jesulein ...«

Noch immer verdrossen wackelnd zog sich der betüchelte Kopf zurück, und Stephan, der vom Felde aus den Vorgang gesehen hatte, starrte fassungslos auf den leeren, gähnenden Fensterschlund. Schreck und Freude malte sich auf seinem Gesicht, und eine Weile war es, als schwankten seine Knie.

Die alte Kathi, die jeden Sommer zuerst kam, um die Wohnung für die Doktorsleute zu säubern und zu richten, war da. Himmel! so nah war der Sommer ...

Am liebsten hätte er die Hacke fortgeworfen und wäre auf dem Felde auf und ab gestürmt, aber es war möglich, daß die alte Kathi ihn sah, und das war ein böses, klatschsüchtiges Frauenzimmer, vor der man sich in acht nehmen mußte. So arbeitete Stephan weiter und beruhigte sich allgemach. Was war es schließlich und endlich auch Großes? ... Die alte Kathi war da. So ein nichtsnutziges, ränkesüchtiges Frauenzimmer, das schon dreimal unter einen vollen Heuwagen zu liegen kam, ohne Schaden zu nehmen, und deren Maul man wird extra totschlagen müssen, wenn es vielleicht doch einmal mit ihr ans Sterben geht. Und der Anblick dieses zahnlosen Ungeheuers gab ihm diesen tollen, freudigen Schreck ... Ja, was anders war es, als vor ein paar Tagen der Kuckuck rief.

»Kuckuck ... Kuckuck ... Kuckuck.«

Da hatte er ein Gefühl gehabt, als müsse er den ganzen Berg aus den Fugen rücken, und als er spät abends nach Hause ging, hatte er ein übermütiges Lied geschmettert:

»Diandl, woas suachst denn doa,
Hoast woas valoarn?
Liegt eppa dei Jungfernkranz
Drinnen in Koarn?
Juchei! Juchei! Juchei!«

Das konnte man schon verstehen, daß man sich freute, wenn der Kuckuck rief. Aber wegen der Alten ...

Stephan drehte sich so, daß er Waldfriede im Rücken hatte ..., was ging ihn das alles an? Und sogar der Kuckuck! Er bedeutete den Sommer ... nun ja, aber was geht ihn der Sommer an? Er ist der Klausen, ein einfacher Bauer, der keine Zeit und keinen Sinn hat für den Sommer. So etwas ist für Stadtleute. Aber er ist ein Bauer und macht sich nichts aus dem Sommer, denn die heiße Jahreszeit bringt oft Viehseuchen und Waldbrände ... ganz abgesehen von Hagel und Gewittern. Nein, er macht sich nichts aus dem Sommer ...

Und als Stephan jetzt einen Augenblick ausruhte, kroch eine tiefe Röte unter sein blondes, lockiges Haar. Bedächtig nahm er dann die Arbeit wieder auf, und später als gewöhnlich ging er heim. Aber er ging mit strenggefalteten Brauen und geradeaus gerichteten Blicken, wie jemand, der in eine drohende Ferne schaut.

Und ihm voraus tanzten seine Gedanken mit Kuckucksgelächter und Altweibergesichtern. Gewaltsam riß er sich endlich los.

Was war es, das der Altknecht gestern gesagt hatte ...?

Richtig, Holzdiebereien waren vorgekommen, und letzten Sonntag hatten sie in der Almhütte eingebrochen. So etwas durfte nicht wieder geschehen. Aber wie sollte man es verhüten? Der Viehhüter war ein uralter Mann, erprobt und verläßlich, Fahrlässigkeiten gab es da nicht. Fenster oder Türen offen lassen, während er mit dem Vieh war, Gott behüte. Also das Ärgste an der Sache war, daß die Kerle eingedrungen sind, ohne den Riegel beim Fenster oder das Schloß an der Türe anzurühren. Teufelsmäßig sah es aus. Was sollte man dagegen tun? Er wußte es nicht, der Altknecht wußte es auch nicht. Der Vater hätte es wohl gewußt und hätte es ihm wohl auch irgendwie gesagt, wenn noch alles so wäre wie früher. Aber seit einiger Zeit spürte er die Nähe des Vaters nimmer, die er sonst in schweren, ratlosen Fällen immer empfand. Das war vielleicht auch eine Strafe ...

Voll schwerer Sorge sah Stephan in das frühlingsgrüne Land und voll schwerer Sorge auf die Höhe, wo der Klausenhof grau und ehrsam in der Abendsonne stand. Aber ein wenig müde stand er da, wie gedrückt von vielen Sorgen. Stephan dachte jetzt an die Antwort aus Innsbruck, an das Büchlein mit Bauplänen und Kostenüberschlag, das er schon so lange in der Tasche trug. Aber die Mutter hatte recht.

An den Hof durfte man nicht rühren. Alle Klausen, von Adalbert Klausen angefangen bis hinauf zu seinem Vater, würden dagegen sein. Mit erhobenen Händen würden sie dagegen sein, und der Adalbert würde sagen: »Das hab ich nicht gedacht, daß einer aus den Unseren einen Tadel finden könnt. Schaut, der Junge ...«

Und zum unzähligen Male las Stephan den Spruch:

»Wer baut an den Straßen,
Muß jeden reden lassen.
Der eine schaut vor, der andere hinten,
So wird jeder einen Tadel finden.«

Ja, der Hof mußte bleiben, wie er war. Schon des Spruches wegen. Es war ein seltener Spruch. Voll Kraft und Trotz und Verachtung für alles im Tale. Wie der Adalbert zürnen würde, wenn er plötzlich aus dem Grabe käme und den Jungen da sähe. Den Jungen, seinen Erben, den Herrn seines Hofes, und so voll wunderlicher Sehnsucht und aufrührerischer Gedanken ... Aber da kam er schon wieder in dieses fremde Zeug ... Woran hatte er nur gerade gedacht?

Ja, an die Holzdiebereien in den Wäldern und an die Räuberei auf der Alm ... feines Handwerk das! ... aber er, der Klausenbauer, wird es ihnen legen. Und weil der Altknecht gerade im Hof bei den Schweinen stand, rief ihn Stephan und sagte:

»Ich will morgen auf die Alm gehen. Es wäre eine ewige Schande, täten wir das Gesindel nicht aufspüren.«

Zwanzigstes Kapitel

Was war der Tag, was war die Heimat schön!

Mit leuchtenden Augen stieg Stephan aufwärts, immer aufwärts, und die schneebedeckten Berge stiegen mit. Alles versank, alles verschwand, nur die Berge blieben und wurden deutlicher und massiger, je höher er stieg.

»Ihr Schelme ... Ihr alten Schelme!«

Er drohte ihnen mit seinem derben Knotenstock, wie man Kindern droht, und weil er gerade einen schönen Ausblick erreicht hatte, blieb er stehen und sah dem bärenhaften Schlern ihm gegenüber ins trutzige Auge. Dann wanderten seine Blicke nach rechts, weiter und weiter entlang der herrlichen Kette der Dolomitenberge. Entlang dem zierlichen Rosengarten, dem wunderbaren Karersee, dem geheimnisvollen Latemar, und zu ihren Füßen, da und dort in Grün versenkt, klebten Burgen und Klöster und heilige Wallfahrtorte ...

Was war der Tag, was war die Welt so schön!

Voll Glück und Stolz sog er die Heimatluft. Sie roch da oben noch ein wenig nach Schnee, aber die Sonne und der Föhn hatten ihre Arbeit schon getan. Davon zeugten die Blumen. Stephan kniete nieder und strich mit den Händen darüber. Himmel, diese Blumen! Millionen weiße und blaue Blumen ... aber keine Alpenrosen? Nein, noch keine. Knospen? Ja, aber nicht viele. Das wird wieder ein Gesuche geben unter den Fremden, die aus Bozen heraufkommen und den Berg überschwemmen. Eine Million für eine Alpenrose! Und hatte man sie ihnen verraten – denn sie selbst fanden nie die richtigen Plätze –, ruinierten sie die Stöcke und vergaßen dann die schönen Blüten irgendwo. Oft genug hatte er schon so verdorrte Sträuße gefunden. Und Stephan träumte von einem großen Zaun, der um den ganzen Herrgottsgarten wachsen sollte, mit einem Tor in der Mitte, das sich nur öffnete für die Sorgsamen und Guten.

Nach einer Weile aber vergaß Stephan die Berge und die Blumen und besann sich seines Geschäftes. Also eingebrochen hatten sie ... so Spitzbuben, so Haderlumpen! Aber es war gut, daß er einmal heraufkam. Vorigen Sommer wollte er schon immer kommen ... damals nach dem Gewitter ...

Nach drei guten Wegstunden kam er auf die Alm, wo seine Ochsen weideten und das Häuschen stand. Der Viehhüter saß in der Sonne, und als er Stephan kommen sah, stand er auf und humpelte ihm entgegen. Er war ein uralter Mann und erzählte gleich von der Räuberei. Aber er redete so viel verwirrtes Zeug, daß Stephan nicht klug daraus werden konnte.

»Wann sagtest du, daß es eigentlich geschah?«

»Letzten Sonntag, Herr.«

»Vormittag?«

»Es muß schon Vormittag gewesen sein, weil ich noch genau weiß, daß die Pfanne fehlte.«

»Als du kochen wolltest?«

»Ja, Herr. Es war eine starke Pfanne, wir hatten sie bald an dreißig Jahre.«

»Und was hat noch gefehlt?«

»Alles, Herr. Der Löffel war auch fort.«

»Und was noch?«

»Und das Mehl und der Speck.«

»Davon, hast du gesagt, war nimmer viel da.«

»Nein, nimmer viel, aber ...«

»Und wen hast du in Verdacht?«

»Das soll einer wissen, Herr ...!«

Er begann zu weinen.

»Und wie steht's mit den Ochsen?«

Der Michl trocknete seine triefenden Augen.

»Keine Sorg', Herr.«

»Und die Ställe? Ist da alles in Ordnung?«

»Keine Sorg', Herr.«

Sie gingen in die Hütte, und Stephan mußte sich setzen, weil sein Kopf an die Decke stieß. Dann nahm er den Rucksack ab und packte sein Mittagessen aus.

»Du mußt auch mithalten, Michl!«

»Tät ich gern, Herr. Aber es geht nimmer.«

Und er riß mit den beiden Zeigefingern den Mund auseinander, daß man die zahnlosen Kiefern sehen konnte.

»Geht schon lang nimmer, Herr.«

Stephan nickte und kümmerte sich für die nächsten zehn Minuten nicht um den Alten. Herrgott, wie das schmeckte nach so einem Marsch! Und Maria hatte auch so eine Art, die Dinge herzurichten.

Ein kreischendes Geräusch, als drehe sich ein verrosteter Schlüssel in einem verrosteten Schlosse, ließ ihn aufschauen. Da stand der Alte vor einer großen, eisenbeschlagenen Truhe, dem einzig anständigen Möbel im Raume, und versuchte, sie aufzusperren.

»Geht es?« sagte Stephan und hielt einen Augenblick das Fleisch zwischen den blanken Zähnen.

»Ei freilich.«

Dann hob sich der uralte Deckel, und der Michl nahm aus der Truhe eine neue Pfanne, einen hölzernen Löffel und ein Töpfchen mit Ziegenmilch. Dabei erläuterte er:

»Seit der Luderei sperr' ich jetzt alles ein.«

»In die Truhe?«

»Ja, das ist eine feste Truhe.«

»Muß uralt sein.«

»Noch vom Adalbert.«

Stephan hörte plötzlich zu kauen auf.

»Von wem hast du gesagt?«

»Vom Adalbert.«

»Vom Adalbert Klausen?«

»Gewiß auch noch ... drinnen liegt ja noch das Zeug von ihm.«

»Was für ein Zeug?«

»Das weiß ich nicht, Herr ... es war schon drin bei mein' Vater selig.«

Darauf erhob sich Stephan und schaute in die Truhe. Am Boden derselben lagen ein paar weiße, vergilbte Fetzen Papier. Er nahm sie heraus und sah, daß sie beschrieben waren. Als er sie aber umdrehen und lesen wollte, bröckelten sie unter seinen Fingern. Behutsam legte er sie auf den Tisch, und nun sah er, daß es Gedichte waren. Der Schreiber mußte sich endlose Mühe genommen haben, denn die Titel und die einzelnen Strophen waren mit kunstvollen Schnörkeln verziert. Die Schrift selbst aber war einfach, kindlich und ohne Mühe lesbar:

Verwandlung
Was ist geschehen? Ich fass' es nicht.
Zu Tale dränget sich alles Licht,
Zu Tale dränget, was tausend Jahr
Da oben gewöhnt und zu Hause war.
Zu Tale dränget sich Wolk' und Wind,
Zu Tale neigt sich jed' Blumenkind,
Und, was das Wunderlichste von allen,
Selbst die Berge, die möchten fallen,
Möchten nicht mehr in den Himmel hinein,
Möchten nur unten, nur unten sein.
 
Zweite Verwandlung
Alles um mich ist so fremd, so neu,
Tut so seltsam, daß ich scheu
Am eigenen Haus vorübergeh,
Am eigenen Feld vorüberseh,
Weil die Mauern und die Schollen
Plötzlich reden, plötzlich wollen
Eine goldne Brücke sein
In ein goldnes Schloß hinein.
 
Sehnsucht
... und weil alles so seltsam tut,
Bin ich selber so seltsam geworden,
Träume von Kronen, träume von Orden,
Träume von Ketten, träume von Ringen,
Träume von lauter goldenen Dingen ...
Träume von einem weißen Kleide,
Halb aus Spitze und halb aus Seide,
Und von Federn, die wehend ragen,
Wie sie die vürnehmsten Frauen tragen ...

Und unter jedem Gedicht stand »Adalbert«.

Als Stephan alles noch einmal gelesen hatte, deckte er die weißen Fetzen mit den Händen zu und blickte auf den Alten, der beim Herd stand und sein Mus kochte.

»Michl!«

»Ja, Herr.«

»Kannst du lesen?«

Er machte das Zeichen des Kreuzes gegen diese sündhafte Zumutung.

»Herr, ich bin ein gottesfürchtiger Mensch.«

»Wie weißt du dann, daß die Sachen da vom Adalbert stammen?«

»Ganz leicht, Herr. Mein Vater selig hat es mir gesagt, so nebenbei mit der Geschichte.«

»Mit welcher Geschichte?«

»Mit der Geschichte vom Adalbert.«

»Und weißt du die Geschichte noch?«

»Ja, Herr, so etwas vergißt man nimmer. Es war eine sündige Sach'.«

»Was?«

»Das mit der Gräfin, Herr. Sie wohnte irgendwo unten, gegen das Sarntal zu, in einem schönen Schloß ... und jede Nacht ... und das ist gewiß wahr, Herr ... ging der Adalbert um das Schloß herum, und einmal, es war eine grausliche Nacht voll Donner und Blitz, kam sie zu ihm hinunter.«

»Du lügst, Michl!«

»So wahr mir Gott helfe, Herr, in meiner Sterbstund'.«

Stephan wischte sich den Schweiß von der Stirne.

»Weiter!«

»Mehr weiß ich nicht, Herr. Nur daß der Adalbert immer gesungen hat nachher ...«

Und mit grimmigen Blicken holte sich der Michl sein Mus vom Feuer und würgte es schmatzend hinab.

Stephan aber stand auf, hängte seinen Rucksack um, nahm kurzen Abschied und ging.

Aber er ging voll neuer Kraft, voll neuer Trotzäußerung und sah ohne Blinzeln in die Sonne.

»Was war der Tag, was war das Leben schön!«

Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und griff in seine Brusttasche. Dann knisterten die vergilbten Papierfetzen, und Stephan lächelte dazu. Einmal horchte er auf. Irgendwo aus dem Walde her klang das Glöcklein einer Leitkuh, und eine frische Stimme sang:

»Di-ri-da-ram,
Müller und Müllerin,
König und Königin,
So gehörts z'amm.
Di-ri-da-ram,
Di-ri-da-ram.«

Stephan aber dachte an Adalbert, an seine Gräfin, und sang trotzig zurück:

»Wenn der Müller fesch is',
Glei' trau' i' ma z'wetten,
Paßta wia a Prinz
In de zwo goldnan Betten.«

Darauf kicherte es im Walde, aber die Stimme erklang nicht mehr, und nur das Kuhgeläute hörte Stephan noch eine Weile.

Als er gegen Abend an die Villa kam, hatte er ein Gefühl, als wäre er lange fortgewesen, und sein erster Blick galt den Fensterläden. Aber die waren fest verschlossen.

Einundzwanzigstes Kapitel

Um Ostern herum kamen die ersten Turisten.

Einzeln, paarweise, haufenweise erklommen sie den Berg und bedrängten die Bewohner des Klausenhofes mit Fragen nach dem nächsten Gasthaus. Es gab aber auch Naturfreunde unter ihnen, Idealisten, die auf den Titschen, auf die Rotwand wollten oder sogar noch weiter.

Und jedesmal, wenn ein neuer Trupp kam, ruhte Stephan in seiner Arbeit, musterte scharf jeden einzelnen, und Maria tat hinter den weißen Gardinen verborgen dasselbe.

Aber die, die sie erwarteten, kamen nicht, und die Fensterläden an der schönen Villa öffneten sich nicht, den ganzen Sommer nicht. Da wich aller Frohsinn aus Stephans Augen und alle Hoffnung aus Marias Brust.

»Sie kamen nicht ...«

Das war es, woran sie unablässig dachten, was sie unablässig quälte. Aber sie sprachen sich nicht aus darüber und warteten auf den Herbst. Viele Leute kommen ja erst im Herbst. Ja viele ... Und jeden Tag schauten sie auf die Fensterläden. Aber die Fensterläden öffneten sich nicht, auch im Herbst nicht.

Da wurde Stephan wieder bitter und übellaunig, wie er es eine Zeitlang im Frühjahr war, und eines Tages ließ er alle Arbeit stehen, stopfte seinen Rucksack und ging auf die Alm.

Er blieb ein paar Tage oben, kam dann heim, ging aber gleich wieder. Die Knechte schüttelten die Köpfe, aber Maria freute sich, daß sie jetzt allein war mit ihren Gedanken. Und weil die Hoffnung sich in einem Frauenherzen nicht niederringen läßt, ging sie wieder jeden Tag hinaus unter die langen Fänge der Windmühle und schaute den Weg nach Bozen hinab und hinauf. Als sie aber nach einiger Zeit sah, daß der Altknecht sie beobachtete, gab sie das auf. Es fehlte ohnehin schon stark an Respekt, seit Stephan so wunderlich war. Es galt, sich zusammenzunehmen. Und sie nahm sich zusammen und ließ hier und da ein Wort fallen von neuen Gründen, die Stephan weiter oben erstehen wollte, und von einer neuen Almhütte, die er zu bauen gedächte. Ob die Leute das glaubten? ...

So wurde es Winter. Die Ochsen waren wie jedes Jahr seit Allerheiligen herunten, aber Stephan war noch oben, ganz allein auf der tiefverschneiten Alm.

Eines Tages brachte der Altknecht Maria einen Brief. Er gab ihn ihr zugleich mit ein paar anderen Dingen, die er auf seinem Wege über den Hof aufgelesen hatte: einen Blumentopf, der vom Fensterbrett gefallen war, ein Stück rote Schnur, und Maria nahm das alles sorgfältig und hielt noch überdies die kleine Kuhmagd, die zufällig daher kam, mit eingehenden Fragen über die Kühe auf, alles, nur damit der Alte nichts von ihrem Zittern und ihrer Erregung merken sollte. Als sie dann endlich allein war, wollte sie den Brief öffnen, besann sich aber ... nein, nicht jetzt, während der vielen Arbeit ...

Sie kochte das Essen fertig, beteilte die Leute, räumte fort und tat alles wie sonst. Nachmittag fand sie dann wieder keine Zeit, so wartete sie bis abends. Sie wartete, bis der letzte Knecht und die letzte Magd »Gute Nacht« gewünscht hatten, dann legte sie noch Scheite auf das Feuer, stellte die Lampe auf den Tisch und zog die Vorhänge mit doppelter Sorgfalt zu. Danach nahm sie den Brief aus ihrer Jacke, betrachtete ihn von allen Seiten und las die Adresse: »Fräulein Maria Klausen ...«

Ja, er gehörte ihr. Aber sie konnte ihn trotzdem nicht öffnen, und es dauerte lange, bis sie sich dazu überwand. Endlich riß sie den Umschlag auf. Ein paar engbeschriebene Seiten Papier, dazwischen welke Blumen. Mit zitternden Fingern strich sie darüber, und heiße Tränen stürzten in ihre Augen:

»Maria ...

Du wirst nicht böse sein, wenn ich Dich bei Deinem Namen nenne und Du zu Dir sage. Denn oft schon habe ich jetzt während meiner Krankheit Dich bei Deinem Namen genannt, und Du hast mich nur angesehen und leise genickt. Und so deutlich und greifbar bist Du mir vorgeschwebt dabei, daß ich manchmal dachte, es sei unnötig, Dir das zu sagen, was ich Dir nun doch sagen will, weil Du alles weißt. Und wäre es auch nur durch die Hoffnung, mit der Du auf mich wartest. Denn Du wartest auf mich, obgleich es eine tolle, undankbare Sache ist, auf einen, wie ich bin, zu warten ...

Erröte nicht. Du hast Dir nichts vergeben. Deine Liebe ist wie Deine Heimat rein und schön, und kein Mädchen wäre würdiger als Du, daß man es wiederliebte. Das sage ich mir nicht nur heute, das habe ich mir auch damals gesagt, gesagt, wenn ich Dich sah und wenn ich Dich nicht sah, und oft schon flossen mir die Worte auf die Zunge. Aber dann tatest Du mir immer leid, Maria, denn meine Liebe hätte Dich erschreckt ... Einmal hatte ich ein paar Blumen gepflückt, und die wollte ich Dir bringen. Ich traf Dich aber damals gerade nicht, und so schlich ich mich spätabends an Dein Fenster. Ich sah Dich auch. Du tatest noch dieses und jenes, kleine süße Hausfrauendinge, dann decktest Du Dein Bett ab und kämmtest Dein Haar. Ich seh Dich noch so deutlich im halben Schein der Kerze, im Hintergrund Dein aufgeschlagenes, schmales Mädchenbett. Erst wollte ich an Dein Fenster klopfen, dann noch warten ... dann tat ich weder das eine noch das andere, sondern ich ging heim. Und die Blumen nahm ich mit und gab sie Dir auch den nächsten Tag nicht ... gab sie Dir gar nicht. Und das war gut, Maria, denn nicht umsonst gibt ein wilder Mann einem keuschen Mädchen Blumen. Es war aber nicht allein Du und das Mitleid mit Dir, das mich abgehalten hat, es war etwas anderes noch, das damals heftig bei mir mitsprach, und das war Dein Bruder. Wie soll ich Dir jetzt das erklären? Schau, Maria, es gibt Männer, die wie Teufel sind und die einen auch zu Teufeln machen, und es gibt Männer, deren Art uns fortwährend beschämt, deren bloßer Anblick einen wünschen läßt, nie mehr eine Gemeinheit zu begehen ... So wirkte auf mich Dein Bruder. Wir begegneten uns sehr oft, und seine Augen sagten jedesmal:

»Was hast Du mit ihr vor?«

Und da hätte ich ihm jedesmal die Blumen zeigen mögen, die ich noch immer bei mir trug ... als Zeichen ...

Ja, so eingebildet und töricht war ich damals, Maria, daß ich glaubte, ich wäre gut ...

Das ist jetzt alles vorüber, und Du wirst es mir verzeihen.

Auch die Blumen darf ich Dir jetzt geben, und Du darfst sie nehmen, denn wenn Du sie hast, sind sie von einem Toten und fordern keine Gegengabe. Vergib mir das Leid, das ich über Dich gebracht habe, und vergiß nicht, daß Du bei mir warst bis ans Ende.

Hugo von Rotenau.«  

Wieder und wieder las Maria den Brief, und vieles darin konnte sie nicht verstehen. Aber allmählich wurde ihr klar, daß dieser fremde Mann, dessen Namen sie heute zum erstenmal erfuhr und der gestorben war, sie wußte nicht wann und wo, außergewöhnliche Lebensbedürfnisse mit erschütternder Größe verband, und daß er, von niemand verstanden, auch niemand geliebt haben konnte. Aber trotzdem er tot war, wie reich hatte er sie noch im Tode gemacht ... Sie lächelte leidvoll, raffte mit bebenden Händen seinen Brief, seine Blumen zusammen und trug alles in ihre Kammer.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Stephan tat das Unglaubliche und kam auch über die Weihnachtstage nicht herunter. Maria hatte ernste Sorge um ihn und dachte mehr als einmal daran, einen Knecht hinaufzuschicken. Aber dann fürchtete sie wieder, daß Stephan es als Spionage ansehen könnte und es übel nehmen würde. Sie hatte in der letzten Zeit Angst vor ihm bekommen, weil er oft bei ganz unbedeutenden Anlässen in der bittersten Weise aufgefahren war. Nein, man durfte ihn nicht reizen, er war der Herr ...

Der Altknecht aber war erbittert und ergrimmt über den jungen Klausen und machte ein Ende.

»Er wolle nicht mit ansehen, wie der alte Hof zugrunde ginge. Er nicht ...«

Das sagte er Maria frei heraus und ließ sich dieses Mal nicht halten. Sie versuchte es auch nicht. Mochte er in Gottes Namen gehen. Es gab andere Knechte. Dieses ewige Gezänke brachte das Ansehen des Hofes herab. Gott sei Dank, die Klausen bekommen Leute soviel sie wollen ... Freilich, der Vater täte sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, daß der Altknecht geht. So ein braver, fleißiger, treuer Mensch ...

Aber sie blieb doch fest während der ganzen Kündigungszeit und ließ ihn gehen. Um Neujahr herum kam der neue. Der machte große Augen, als er hörte, daß der Bauer auf der Alm sei.

Jetzt, um die Zeit ...? Aber er sagte nichts und arbeitete fleißig.

Maria fiel ein, daß sie nun einen Grund hätte, um Stephan einen Zettel zu schicken. Ungefähr so:

»Der Altknecht ist fort und der neue Knecht noch nicht eingearbeitet. Vielleicht wäre es gut, wenn Du kämest.«

Sie schrieb es sogar nieder, dann aber zerriß sie das Papier wieder. Nein, lieber nicht. Wenn er da war, fing der alte Zustand wieder an. Beisammen sitzen die ganzen Abende und nichts reden. Oder lügen ... Freilich war es mit ihr jetzt anders. Sie quälte nichts mehr. In ihrem Herzen war es still und licht. Aber es ihm sagen? Nein! ... oder ihm den Brief zeigen? Nie! ...

Sie war zu Ende gekommen, er wird auch zu Ende kommen.

So etwas muß jeder allein ausringen, helfen kann da niemand. Und vielleicht wird er eher fertig damit, da oben in der reinen Höhe. Währenddem half sie ihm da unten. Ja, sie konnte ihm ein wenig helfen. Den Hof konnte sie für ihn verwalten während der bösen Zeit, damit er ihn in alter Ordnung findet, wenn er wiederkommt. Denn er wird wiederkommen. Vielleicht früher, vielleicht später, aber er wird wiederkommen ...

Und Maria schob die brennende Sorge um die Zukunft weit zurück und versah ihr Amt mit doppeltem Eifer. Es galt, da zu sein, dort zu sein und überall zu sein. Das Gesinde hatte seit dem Abgang des alten Knechtes stark nachgelassen, und der neue Knecht war fleißig, aber er trank. Das war eine böse Sache.

Einmal stellte sie ihn zur Rede, aber anstatt grob zu werden, was sie als doppelten Anlaß zur Kündigung erwartet hatte, fing er zu weinen an und versicherte, es nie wieder zu tun. So behielt sie ihn weiter, aber sie lebte in beständiger Unruhe, daß irgend etwas passieren könnte. Ein Streit vielleicht. Wenn die Leute den Wein in sich haben, fahren sie herum wie Teufel und sind gleich zur Hand mit dem Messer.

Und Stephan kam nicht.

Dafür aber kam eines Tages Nachricht von Therese.

Auf schmutzigem Papier eigentümlich bedrückende Worte:

»Wenn möglich, komme. Es geht nicht gut.«

Maria war überrascht und erschrocken. Sie nahm den Boten in die Küche, setzte ihm Brot und Wein vor, wollte ihn nach dem Vieh ausfragen und getraute sich doch nicht. Endlich schämte sie sich ihrer Feigheit und sagte tapfer:

»Da hat's wohl im Stall ein Unglück gegeben ...?«

Aber der Bote aß und trank, schüttelte den struppigen Kopf und meinte, er wisse von nichts. Darauf fühlte sich Maria ein wenig erleichtert und schrieb an Therese, daß sie ja gerne kommen würde, aber Stephan sei nicht da, und sie könne den Hof unmöglich allein lassen. Wenn aber etwas Dringendes sei, wolle sie trotzdem kommen. Damit schickte sie den Boten zurück und wartete voll Bangigkeit auf die Antwort. Sie wartete drei Tage, und da kam derselbe Bote wieder. Er gab Maria einen Fetzen mit Bleistift beschmiert:

»Komme trotzdem!«

Da wußte Maria, daß irgend etwas geschehen sein mußte, und sie sandte Nachricht, daß sie kommen würde. Hastig traf sie ihre Vorbereitungen und dachte auch daran, um Stephan zu schicken. Aber sie tat es doch nicht. Bis jemand oben ist, dachte sie, und Stephan unten, vergeht beinahe ein Tag, und bis dahin bin ich auch wieder da. Aber gerade als sie in ihr großes, dunkles Tuch gehüllt über den Hof schritt, kam Stephan daher. Im ersten Augenblick konnte sie es nicht glauben, aber dann flog sie ihm mit einem erlösten Aufschrei entgegen.

»Stephan!«

Und weil der Hof leer war, schlang sie den Arm um ihn und schluchzte leise. Da nahm er sie wie ein Kind in die Arme und trug sie zurück in die Stube.

»Wo wolltest du denn hin, Maria?«

Sie fühlte sofort, daß er wieder der Alte war, und weil sie erst jetzt sah, wie müde und zerquält sein armes, liebes Antlitz war, quoll ein heißes Mitleid mit seinem Kummer in ihr auf. Sie drückte wie früher seine Hände an ihre Wangen und setzte sich zu ihm.

»Ich bin so froh, daß du da bist, Stephan. Es ist so viel Neues. Aber jetzt kann ich es dir nicht sagen ... nur die Hauptsache: Ich muß zu Therese.«

»Jetzt gleich?«

»Ja, jetzt gleich.«

Sie zeigte ihm den Zettel, und einen Augenblick sahen sie sich stumm in die Augen. Dann sagte er:

»Soll ich dir nicht jemand mitschicken, Maria?«

Er war voll Sorge, voll Zärtlichkeit. Aber Maria wollte niemand, und trotzdem es ihr schwer wurde, Stephan gerade jetzt zu verlassen, machte sie sich auf den Weg. Bei der Türe aber drehte sie sich wieder um und kam zu Stephan zurück. Es war offenbar, daß sie noch etwas sagen wollte, aber es dauerte lange, bis sie die richtigen Worte fand. Endlich aber wußte sie es, und schon wieder zur Türe gewendet, sagte sie:

»Zeig dich den Leuten, Stephan ...«

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der starke Schneefall hatte in den Wäldern großen Schaden angerichtet. Haufenweise lagen schwere Äste aufeinander, und selbst ausgewachsene Bäume waren hier und da entzweigebrochen. Was sich aber gehalten hatte, stand mit an den Leib gepreßten Zweigen, so schwer hing der beeiste Schnee an ihnen. Maria hatte Mühe, durchzukommen, doch sie beachtete die Hindernisse und Beschwerlichkeiten des Weges nicht. In ihrem Herzen war klare Freude.

Vor nicht viel länger als einem Jahr hatte sie denselben Weg gemacht, und sie dachte daran, wie bitter damals alles für sie schien. Wie sie, von Zorn und Weh verblendet, da an derselben Stelle stand, Stephans Kärtchen wägend in der Hand, ungewiß, ob sie ihm die arme Freude gönnen sollte ... denn eine arme Freude war es, dieses Zeichen einer Lebenden, jeder Laune, jedem Wechsel untertan. Eine arme Freude im Vergleich zu ihrem Glück, das von einem Toten kam, nicht zu deuteln, nicht zu ändern, und von keiner Macht der Welt zu widerrufen. Ja, sie war sehr glücklich ...

Plötzlich schämte sie sich, denn sie dachte an Therese.

Wie sie das auch vergessen konnte ... was mag nur geschehen sein? Hoffentlich kein Unglück ... aber es war schon möglich, jetzt mit den Schneebrüchen. Vielleicht war ihrem Mann etwas geschehen ... vielleicht hatte eine stürzende Lawine den Hof eingerissen ...

»Herrgott!«

Von einer tollen Angst erfüllt, lief sie vorwärts, und als sie endlich den Hof vor sich sah, der ganz und unversehrt auf seinem Platze stand, erfaßte sie eine solche Angst, daß ihr die Knie zitterten. Also doch ein Unglück mit Theresens Mann ...

Sie dachte an ihren Vater, den sie leblos und blutüberströmt gebracht hatten, und blieb vor dem Tore stehen, weil sie sich fürchtete einzutreten. Therese aber mußte sie vom Fenster aus gesehen haben, denn sie kam heraus und sagte:

»Gott sei Dank!«

Dann wollte sie die Schwester in die Stube ziehen, aber Maria blieb stehen und fragte:

»Ist etwas passiert mit deinem Mann?«

Therese wehrte schluchzend.

»Nicht mit meinem Mann ... O nein ... der ist auf der Wallfahrt schon seit drei Tagen.«

»Auf der Wallfahrt, sagst du?«

»Ja ... er meint, daß man ihn vielleicht doch gesund beten kann.«

»Wen?«

»Den Buben.«

An das Kind hatte Maria nicht gedacht. Etwas erleichtert folgte sie Therese in die Stube. Neben den zwei großen Betten stand ein kleines Bett, und Maria blickte traurig und neugierig auf das blasse, abgezehrte Kindergesicht. Dann versuchte sie, Therese zu trösten.

»Er sieht doch gar nicht so krank aus. Warum glaubst du, daß er stirbt?«

Aber Therese schüttelte weinend mit dem Kopfe.

»Du weißt nicht, was ich schon mitgemacht habe. Gleich am Anfang ... ich lag sechs Tage in Schmerzen, und als er dann endlich da war, glaubte kein Mensch, daß er am Leben bleiben wird. Wie ein alter Mann sah er aus und wollte nicht trinken. Aber ich habe ihn doch ganz langsam weitergebracht, und eine Zeitlang glaubte sogar der Doktor, daß er davonkommen wird. Aber dann kam der Husten ... schon über ein Vierteljahr jetzt ... Ein furchtbarer Husten. Er wird ganz blau dabei und bricht Blut. Und so oft der Anfall vorbei ist, wundert sich der Doktor, daß er noch lebt. Aber er sagt, es kann jeden Tag sein ...«

Sie schluchzte aufs neue. Maria hatte aufmerksam zugehört.

»Was ist das für ein Husten, Maria?«

»Das weiß niemand. Auch der Doktor nicht. Er sagt, er findet ihn nicht in seinem Buch, und es sieht beinahe aus ...«

Maria streichelte ihre Hand.

»Wie sieht es aus?«

Darauf nahm Therese einen Anlauf und sagte scheu:

»... als ob er verhext wäre ...«

Sie zitterten beide, als es ausgesprochen war, und schwiegen lange.

Plötzlich fuhr Therese auf. Der Kleine hatte sich gerührt, hatte seine knöchernen, wachsgelben Händchen in die Höhe gestreckt, zu Fäustchen geballt und an das Gesicht gedrückt. Dann begann die kleine Brust zu keuchen und zu würgen. Da riß ihn Therese aus dem Bettchen, und nun folgte ein so gräßlicher Hustenanfall, daß Maria ihre Hände in ihre Haare grub und sich abwandte, weil sie nicht mit ansehen konnte, wie der kleine Körper geschnellt wurde, und wie Schaum und Schleim und Blut aus dem Mündlein floß. Noch lange, nachdem es vorüber war, wagte Maria sich nicht umzudrehen, und als sie endlich wieder hinschaute, lag der Kleine im Bettchen, und die Mutter beugte sich qualvoll über ihn. Plötzlich schrie sie laut auf.

»Er stirbt! O heilige Jungfrau, er stirbt!«

Dann warf sie sich neben dem Bett auf den Boden, und Maria stand, von Grauen geschüttelt, daneben. Der Kleine schluckte und verdrehte die Augen.

»Die Kerzen!« wimmerte Therese, »... die geweihten Kerzen ...!«

Aufs Geratewohl stürzte Maria an den Schrank und wühlte unter den weißen, saubergefalteten Linnen. Endlich fand sie die Kerzen, entzündete sie mit stark zitternden Händen, und der gelbe Schein der Wachslichte leuchtete feierlich durch den Raum. Aber während Maria die Kerzen entzündete, hatte sie einen Gedanken.

»Mußte denn der Kleine sterben?«

Sie stand eine Weile mit gesenktem Kopf und dachte nach.

»Höre, Therese!« sie glitt auf den Boden neben die Weinende und rüttelte sie an den Schultern, »... steh auf und gib acht auf den Kleinen. Er darf nicht sterben ... hörst du, Therese? ... drei Stunden mußt du schaun, daß er lebt ...«

Therese hob verständnislos die tränengefüllten Augen.

»Was meinst du?«

Maria hüllte sich schon in ihr Umhangtuch.

»Ich geh zur Geisler Toni. O ... du weißt nicht, wie ich sie bitten werde. Auf den Knien werde ich sie bitten, daß sie den Fluch zurücknimmt ...«

Da senkte die stolze Therese tief gedemütigt den Kopf und flehte:

»Ja, bitte sie ... und sage ihr, der Hof und alles, was wir haben, gehört ihr, wenn sie es tut ...«

Maria nickte hastig, warf noch einen Blick auf den Kleinen, der noch immer so eigenartig schluckte, und stand dann draußen in der frostklaren Luft.

»Drei Stunden,« murmelte sie, »drei Stunden ...« und sie hob die Röcke hoch, um besser laufen zu können, denn laufen mußte sie, wenn sie in drei Stunden dort sein wollte. Die Geisler-Hütte stand irgendwo dort drüben ... als Kind war sie oft daran vorbeigekommen, wenn sie nach Kampenn in die Schule ging ... ja, irgendwo dort drüben mußte sie sein ...

Atemlos, immer nur das Kind vor Augen, hastete Maria talwärts. Sie glitt oft aus und versank bis zu den Knien im Schnee, aber sie war verschneite Wege gewohnt und lief unverdrossen weiter.

Nach einiger Zeit aber wurden ihr die Röcke schwer und begannen unter ihren Füßen zu klirren. Das waren die Ränder, die, vom Schnee feucht geworden, zu Eis erstarrten. Und weil sie nicht nur schwer waren, sondern auch bei jedem Schritt schmerzhaft um ihre Beine schlugen, blieb sie stehen, um einen Augenblick auszuruhen.

Da merkte sie nun, daß sie schon lange gelaufen sein mußte. Erstens, weil ihre Knie vor Frost und Müdigkeit zitterten, und zweitens, weil es schon dunkel war. Dunkel ... und sie hatte die Laterne vergessen.

»Barmherziger Gott!«

Sie krampfte die Finger ineinander und stand unschlüssig da. Zurückgehen ...? Unmöglich! Wer weiß, wie lange das Kind noch lebt ... Jede Minute war kostbar ... aber dann, was tun? In der Dunkelheit weitergehen? ... Ja, es war das einzige. Vielleicht kam sie bei einem Haus vorbei, oder vielleicht kam der Mond ...

Sie raffte die klirrenden Röcke zusammen, bog die beeisten Zweige zurück und drang weiter in den weglosen Wald. Dabei dachte sie:

»Nach dem Wald muß eine große Wiese kommen, und jenseits der Wiese muß es sein. Sie werden auch, trotzdem sie arme Leute sind, ein Lämpchen brennen, und das Licht muß man schon von weitem sehen.«

Mit neuer Kraft strebte sie vorwärts. Aber der Wald nahm kein Ende. Unaufhörlich schlugen ihr die beeisten Zweige ins Gesicht, und die eine Hand, die sie tastend von sich streckte, griff Bäume, immer Bäume. Dazu wurden ihr die Röcke unerträglich schwer.

Das Licht ...! Mein Gott! wo war das Licht ...?!

Sie riß die Augen weit auf und versuchte, durch das Dunkel zu dringen. Und da sprangen Lichter auf, rote, tanzende Lichter, und ein Schwindel fuhr in ihren Kopf, und wie kalte Hände griff etwas an ihr Herz ...

Da ließ sie ihre Röcke los und taumelte.

»Das Kind ... das Kind ... Herr, hilf ...!«

Und er half. Ein Licht, ein wirkliches Licht tauchte auf, kam näher und näher, und Maria sah, daß es eine Laterne war, die ein Mann trug. Sie sah nur immer auf das Licht, nicht auf den Mann, darum erkannte sie ihn erst, als er ganz nahe war. Da schluchzte sie auf, und der Mann stellte die Laterne erschrocken in den Schnee.

»Maria!« sagte er. Dann hob er sie behutsam in die Höhe, stützte sie mit seinen jungen, starken Armen, und die Wärme seines Leibes durchströmte sie. Eine Weile gab sie sich dem wohltuenden Gefühle hin, dann aber erinnerte sie sich an alles, was geschehen war, und sie löste sich aus seinen Armen. Er gab sie sofort frei, hielt sie aber noch an den Händen und sah ihr besorgt in das Gesicht.

Sie aber wandte die Augen fort und sagte hastig:

»Ich danke Euch, Josef ... aber ich muß noch weiter. Könntet Ihr mir wohl Eure Laterne borgen?«

Er hob sie augenblicklich aus dem Schnee und reichte sie ihr.

»Wohin wollt Ihr, Maria?«

»Zur Geisler Toni.«

»Da seid Ihr aber nicht recht. Gerade entgegengesetzt wohnt sie. Wenn Ihr wollt, werde ich mit Euch kommen. Ich kenne einen ganz kurzen Weg.«

Sie nickte, und weil er weiter nichts fragte, sagte sie auch nichts. Er trug die Laterne, und sie hielt sich dicht hinter ihm.

Nach ungefähr einer halben Stunde merkte sie, daß der Wald aufhörte und die Wiese begann. Von drüben leuchtete schwach und klein ein zittriges Licht. Er wies bezeichnend darnach, und sie sagte hastig, wie zuvor: »Es ist gut jetzt ... ich danke Euch, Josef.«

Dann eilte sie voran über die Wiese.

Aber es war doch keine Kleinigkeit, sich in der Dunkelheit mit dem fremden Haus zurechtzufinden. Sie mußte alle vier Wände entlangtasten, ehe sie die Türe fand. Endlich griff sie die kalte, eisumspannte Klinke. Das Licht, das ihr über die Wiese geleuchtet hatte, stand auf einem Tisch und beleuchtete in seinem nächsten Umkreis eine große, schwere Bibel und ein altes Mütterlein. Als Maria eintrat, hob das Mütterlein den Kopf und blickte auf den späten Gast mit großen, klugen Augen. Maria trat in den Lichtkreis des Lämpchens und sagte erregt:

»Verzeiht, Mutter Geisler, ich möchte mit der Toni reden.«

Da kreuzte die Alte ihre gefurchten Hände über die Bibel und antwortete ein wenig barsch und ein wenig spöttisch:

»Ihr habt einen weiten Weg gemacht, Maria Klausen, aber Ihr habt ihn umsonst gemacht.«

Maria verwand den Spott der wohlbekannten Worte und sagte flehend:

»Seid barmherzig, Mutter Geisler, ich muß mit der Toni reden.«

»Aber Ihr könnt nicht, ...« und dann voll heimlichem Stolz, »... sie dient in Innsbruck beim Rabenwirt.«

Maria schluchzte auf.

»Dann gibts ein Unglück ... meiner Schwester Kind liegt im Sterben, und nur die Toni kann es ändern, wenn sie den Fluch zurücknimmt ...«

Da stand die Alte auf und sagte zürnend:

»Schämt Ihr Euch nicht, Maria Klausen? ... Was Ihr da redet, ist eine schwere Sünde. Leichtfertig mag die Toni sein, aber mit dem Teufel hat sie nichts zu tun ...,« sie schlug das Kreuz ..., »verlaß uns nicht, o Herr ...! Wenn Eurer Schwester Kind krank ist, so ist das Gottes Wille, und jeder Mensch wird bezeugen können, daß es eine natürliche Krankheit ist.«

Maria war beschämt und eingeschüchtert, aber nun sagte sie rasch und weinend:

»Das ist es ja eben, Mutter Geisler. Es ist keine natürliche Krankheit. So ein furchtbarer Husten ist es, daß ihm das Blut bei Mund und Nase läuft. Der Doktor weiß auch nicht, was es ist. Er sagt, es steht in keinem Buch ...«

Die Alte lächelte verächtlich.

»Der Doktor ...! hört mir auf mit ihm. Das glaube ich gerne, daß er nicht weiß, was es ist, und daß vieles nicht in seinen Büchern steht, was der liebe Herrgott tut ... geht und schämt Euch ...! Aber nein! damit Ihr nicht etwa denkt, daß wir unfreundliche Leute sind, die nachtragen und Übles nicht vergessen können, will ich Euch eine Salbe mitgeben, die Ihr probieren sollt. Sie hat schon vielen geholfen. Reibt damit das Kind nach jedem Hustenanfall von oben bis unten ein und tragt ihn fleißig in der frischen Luft herum.«

Nach diesen Worten erhob sie sich, trat an einen arg zerfallenen Schrank, suchte unter den Dosen und Döschen und nahm endlich einen weißen Tiegel heraus, den sie Maria überreichte.

Maria aber überkam plötzlich ein mächtiges Zutrauen zu den klugen Augen der alten Frau. Sie nahm den Tiegel mit einem hastigen »Vergelt's Gott« und tastete sich hinaus.

Die Dunkelheit, die draußen herrschte, brachte ihr Josef in Erinnerung. Er stand jenseits der Wiese, genau an der Stelle, wo sie ihn stehen ließ, und das Licht seiner Laterne leuchtete zu ihr herüber. Ein tiefes, leidloses Glücksgefühl stieg plötzlich in ihr auf. »Wie gut der Josef war ...«

Aber sie sagte kein Wort zu ihm, als sie drüben war, und er trug schweigend die Laterne hinter ihr. Den ganzen Weg redeten sie kein einziges Wort, und Josef fragte nichts, selbst nicht an der Wegeswende, wo Maria statt nach rechts zum Klausenhof, nach links abbog. Gegen Mitternacht erreichten sie Theresens Anwesen. Er blieb beim Tor stehen und hob die Laterne hoch, um ihr in den Hof zu leuchten. Sie wollte stehen bleiben und ihm danken. Aber plötzlich trieb sie die Angst um das Kind oder sonst etwas ... So nickte sie nur und ging hinein. Kaum war sie drinnen, dachte sie mit heftigem Herzklopfen an das Bild, das sie in der Stube vorfinden würde. Der Kleine war vielleicht schon tot, Therese krank vor Gram und Kummer. Sie griff nach dem weißen Tiegel in ihrer Tasche und öffnete die Türe. An der Wand zwischen den Fenstern hing eine brennende, halbverdeckte Lampe, aber die geweihten Kerzen waren ausgelöscht, und Therese saß beim Bettchen. Sie legte, als Maria eintrat, zum Zeichen des Schweigens ihren Finger an den Mund, und Maria wußte sofort aus ihren Mienen, daß der Kleine noch nicht gestorben war, sondern schlief. Ohne ihre nassen Kleider abzulegen kauerte sie sich neben Therese, berichtete in Flüstertönen über ihren Besuch bei Mutter Geisler und zeigte endlich den weißen Tiegel. Therese schien anfangs enttäuscht zu sein, dann aber sagte sie:

»Der Kleine hat die vielen Stunden, die du fort warst, nicht gehustet. Das ist ein gutes Zeichen, und ich glaubte schon, die Toni hat's gemacht. Aber jetzt muß ich denken, daß es die Wallfahrt ist ... der heiligen Jungfrau sei gedankt ...!«

Sie schwieg und schaute sinnend auf den Kleinen.

Doch der Hustenanfall, den Therese so fürchtete, kam diese Nacht noch ein paarmal. Aber jedesmal, wenn er vorbei war, rieb Maria das kleine Körperchen mit der grünen Salbe aus dem weißen Tiegel, und den nächsten Morgen trug sie das Kind trotz der Kälte und dem ungläubigen Kopfschütteln Theresens hinaus in die klare Winterluft.

Über eine Woche blieb sie bei Therese und tat unverdrossen nach dem Rat der alten Mutter Geisler. Und als am Samstag ihr Schwager von der Wallfahrt kam, glaubte er und auch Therese, die Himmelsmutter habe den Jungen so frisch gemacht.

Maria aber hatte darüber ihre eigenen Gedanken.

Wo sie ging und wo sie stand, sah sie die klugen Augen der alten Frau, und manchmal meinte sie, alles Weh müsse gut werden unter ihr.

Dann fiel ihr immer Stephan ein und sein zerfahrenes, unglückliches Geschick. Gab es da einen Ausweg? ...

Er liebte ein Mädchen, das er schon seit Jahr und Tag nicht mehr gesehen hatte, das seit Jahr und Tag nicht mehr an ihn dachte. Und wenn auch ...! Würde so eine Feine, so eine Verwöhnte, wie es dieses Mädchen war, auf einen Bauernhof ziehen? Winter und Sommer da oben bleiben? Butter rühren? Eier zählen? und sich mit hartköpfigen Knechten und derben Mägden mischen? ...

Freilich, es gab verschiedene Dinge in der Welt. Unten in Bozen zum Beispiel hatte vor ungefähr sechs Jahren eine reiche Lehrerstochter auch einen Bauer geheiratet. Und war ein Übel daraus geworden? ... Nicht daß man wüßte. Der Hof stand noch an derselben Stelle, nur ein wenig ausgebaut und hergerichtet. Und drinnen, so hörte man, war es auch nur ein wenig anders geworden. So zum Beispiel stand die Bäuerin später auf als andere Bäuerinnen und nahm ihre Mahlzeiten nicht mit den Knechten, sondern allein mit dem Bauer. Und ging nicht in blaugefärbten Kleidern herum, sondern trug auch an Wochentagen eine lila Samtbluse. Das hatte Maria oft genug gehört, und es war sicher keine Verleumdung. Nun, und war der Bauer vielleicht unglücklich deswegen? Kaum. Denn ganz Bozen weiß, wie er an seinem Weibe hängt und daß er nie in die Lauben geht, ohne irgendetwas Hübsches für sie zu kaufen. Die Händler kennen ihn schon und reiben sich die Hände, wenn er kommt, denn er kauft, ohne zu feilschen, und nimmt nur das Teuerste: seidene Taschentücher, echte Schildpattnadeln und Glücksringe ...

Aber noch während sie an all das dachte, schüttelte Maria unwillig den Kopf. Mochte es auf dem Hof in Bozen zugehen, wie es wolle, im Klausenhof konnte man so etwas nicht brauchen. Was würde die Mutter zu so einer Wirtschaft sagen? Das ging also nicht.

Gab es aber einen anderen Ausweg? ... Allerdings, einen gab es noch ... Doch es gab ihr einen Ruck, und sie sträubte sich, daran zu denken. Den Hof hergeben ... Aber nein! das konnte Stephan nie tun. Den alten Klausenhof in andere Hände geben ... was würde der Vater dazu sagen? ... Da blieb nur eines: Stephan mußte die Städterin vergessen.

Aber dann dachte sie an ihr eigenes Geschick. An den fremden Mann – für sie, trotzdem sie nun seinen Namen wußte, noch immer der namenlose, märchenhafte Fremdling – und sah ein, daß weder sie noch Stephan je vergessen konnten.

Und wieder flogen ihre Gedanken zu Mutter Geisler, zu den klugen Augen und dem weißen Scheitel ... Mutter Geisler, die wußte vielleicht Rat. Immer mehr drängte sich dieser Glaube bei ihr auf, und als sie am Sonntag von Therese und ihrem Manne Abschied nahm, schlug sie nicht den Weg zum Klausenhof ein, sondern ging die entgegengesetzte Richtung hinunter nach Kampenn. Dieses Mal hatte sie keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, und früher als sie selbst dachte, stand sie vor der Hütte am Rand der breiten Wiese.

Die Alte war nicht im mindesten erstaunt, als sie den Besuch gewahrte, aber sie nickte freundlich und sagte:

»Das ist schön, daß Ihr kommt, Maria Klausen.«

Dann wischte sie mit ihrer großen, peinlich sauberen Schürze über einen Stuhl und stellte ihn ihr hin. Maria aber schämte sich plötzlich, daß sie, die Klausentochter, um Rat und Hilfe in die armselige Geislerhütte kam, und um ihre wahren Gefühle zu verbergen, übersah sie den Stuhl, den ihr die Alte hingestellt hatte, und sagte rasch und ein wenig hochmütig:

»Ich bin nur gekommen, um Euch zu fragen, wieviel die Salbe kostet.«

Die Alte schaute sie ruhig an.

»Meint Ihr denn, sie hat geholfen?«

»Ja ... ganz sicher. Der Kleine ist beinahe schon gesund.«

»Dann höret, Maria Klausen. Da gibt es jetzt zwei Dinge. Entweder der Herrgott hat das Kind gesund gemacht, und dann braucht Ihr mir nichts zu bezahlen. Oder meine Salbe hat geholfen, und da mögt Ihr mir ja ehrlich sagen, ob Ihr trotz Eurer schönen Höfe und Eurer endlosen Wiesen Geld genug habt, für den Buben zu zahlen, was er Euch wert dünket.«

Und nachdem sie das gesagt hatte, machte sie sich beim Herde zu schaffen, als ob niemand da wäre. Maria aber gingen diese Worte wie scharfe Messer ins Gewissen. Sie schämte sich nun ihres falschen Hochmutes, der sie zu der häßlichen Frage verleitet hatte, und zerknirscht wollte sie aus der Stube gehen.

Da aber wandte sich die Alte um, senkte ihre großen, wunderbaren Augen voll in Marias Augen und sagte ernst und freundlich:

»Und sonst wolltet Ihr nichts fragen?«

Da errötete Maria über und über, setzte sich in den Stuhl, haschte nach der alten, runzeligen Hand, die an der sauberen Schürze niederhing, und sagte:

»Doch ... doch ... ich wollte Euch fragen, Mutter Geisler, was Ihr von einer Bäuerin haltet, die nach den Leuten aufsteht, nicht mit ihnen ißt und ihre Sonntagskleider an Wochentagen trägt?«

Atemlos, verwirrt hatte sie geredet, und als sie jetzt schwieg, empfand sie das Gefühl, als wäre ein großer Lärm gewesen, den sie verursacht hatte. Mutter Geisler aber sagte:

»Das ist eine leichte Frage und braucht nur eine leichte Antwort. Aber ich will Euch eine kleine Geschichte erzählen:

Zu einem Einsiedel kam einmal eine Bäuerin und klagte ihm, daß seit dem Tode ihres Mannes alles abwärts gehe. Da gab er ihr ein kleines Kästchen und sagte, sie müsse dieses Kästchen ein ganzes Jahr lang zwölfmal bei Tage und zwölfmal bei Nacht in alle Winkel des Hauses tragen, darauf werde es sicher besser gehen. Die Bäuerin glaubte dem frommen Mann und trug richtig das Kästchen zwölfmal bei Tage und zwölfmal bei Nacht im ganzen Haus herum. Da fand sie schon in der ersten Nacht die Knechte im Keller beim Wein, und in der Küche schmorten sich die Mägde gelbe Eierkuchen ... fangt Ihr an, etwas zu merken? ...«

»Ja, Mutter Geisler ... der Einsiedel meinte, sie müsse sich kümmern ... Tag und Nacht um die Leute und die Wirtschaft kümmern.«

Die Alte nickte, und Maria dachte an den zweiten Ausweg.

»Seid nicht böse, Mutter Geisler ... ich möchte Euch noch etwas fragen, was würdet Ihr tun, wenn Ihr einen Hof hättet ... ich meine schon von altersher ... einen Hof, den Eure Väter gehabt haben, den sie Euch übergeben haben, daß Ihr ihn betreuet und die Namen und die Art der Väter weiter zwischen seine Wände pflanzet ... und wenn es Euch plötzlich einfiele, daß Ihr etwas anderes möchtet ... ich weiß nicht was ... aber etwas anderes ... vielleicht sogar den Hof hergeben ... was würdet Ihr da tun, Mutter Geisler ...?«

Jetzt antwortete die Alte nicht so rasch wie vorhin, sondern redete langsam und mit Bedacht.

»Das ist keine leichte Frage. Vieles müßte geprüft und erwogen werden. Aber eines deucht mir ganz klar: Wo ein Hof ist, muß ein Bauer sein. Der Bauer gehört zum Hof ... und da gibt's noch ein Sprichwort, das heißt: Schuster bleib bei deinem Leisten ...«

Sie schwieg, und Maria fielen plötzlich auch die Worte ein, die Therese an ihrem Hochzeitstag gesagt hatte:

»Der Klausenhof ist kein gewöhnlicher Hof. Ich glaube, im ganzen Lande gibt es keinen, den man damit vergleichen könnte. Und wenn man denkt, wie er gehalten wurde ... vom Vater, vom Großvater und von den andern ... Und jedes von uns tat sein Teil daran und ist ein Teil davon ...«

Nein! es gab keinen Ausweg. Armer Stephan ...

Sie stand auf und drückte der alten Frau fest beide Hände.

»Ihr seid so stolz und wollt kein Geld. Aber wenn Ihr doch einmal etwas brauchen solltet, so vergeßt nicht, daß Ihr im Klausenhof immer willkommen seid ... und dann noch etwas,« sie zögerte, und es dauerte lange, »... sagt der Toni, wenn Ihr sie wiederseht, ich und Therese, und wir alle schicken ihr einen Gruß.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten eilte sie hinaus.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Im Klausenhof herrschte, seit Stephan wieder da war, musterhafte Ordnung. Die alte Zucht, die sich in den letzten Monaten stark gelockert hatte, kam wieder zum Vorschein, und das war nicht zu wundern, denn Stephan ging an Unachtsamkeiten nimmer mit verträumtem Blick vorbei, sondern sah das kleinste Vergehen und verfiel selbst über unbedeutende Dinge in eine sinnlose Wut. Das Gesinde duckte sich scheu zusammen, wenn es den jungen Bauer nur von weitem sah, und der neue Knecht fürchtete ihn, daß er zu zittern begann wie ein grausam geprügelter Hund.

Das hatte seinen guten Grund.

Stephan hatte ihn einmal bei der Flasche ertappt.

Das war ein furchtbarer Auftritt gewesen, und einen Augenblick sah es aus, als wollte er den Säufer erwürgen. Dann aber ließ er ihn los, wie von Ekel geschüttelt, und gab ihm nur einen Stoß. Aber der sandte ihn sausend bis zu den Schweineställen, und seither trug er den Kopf verbunden und rührte selbst den halben Liter Wein nicht an, der ihm von Rechts wegen jeden Tag zukam.

»Herrgott! die Kraft, die dieser junge Riese in seinen Fäusten trug ... Nein, mit dem war nicht zu spaßen ...!«

Auch Maria zitterte, wenn sie seine Stimme im Hof oder in den Ställen donnern hörte, und dachte immer:

»Der Vater war auch streng ... aber so ... so nicht ... Freilich hatte er recht, denn das waren Schädel, die man suchen mußte ...«

Aber sie empfand doch geheime Angst vor ihm und kam sich manchmal vor wie eine von den Mägden. Ja, sie begann zu beben, so oft er in die Küche kam, selbst wenn er gut und sanft redete, denn immer war etwas in seinen Augen, das früher nicht da war, etwas Böses, Wehes.

Das alles wurde viel ärger mit den ersten Frühlingstagen, und Maria kam aus der Angst und dem Herzklopfen nicht mehr heraus. »Es gibt ein Unglück,« dachte sie hundertmal. »Es gibt ein Unglück.« Und sie erinnerte sich an Geschichten, die sie gehört und gelesen hatte von Leuten, die andere im Jähzorn erschlugen.

Eines Morgens aber war Stephan fort. Ohne Gruß, ohne Weisung war er wieder gegangen, und Maria glaubte zu wissen, wohin. Hinauf zur Alm, woher die vielen Schneebäche kamen, daß das ganze Land rauschte. Hinauf zur Alm, wo man besser atmen konnte, wenn einem Zorn und Weh in der Kehle stak. O! es war leicht, so etwas zu tun. Einfach davonzugehen und Pflicht und Arbeit dazulassen ...

Aber bald dachte sie wieder weicher und versöhnlicher.

Hatte er nicht recht ...? Warum sich quälen ...? Wenn ihm leichter wird da oben, so mag er in Gottes Namen oben bleiben. Immer konnte es doch nicht dauern. Einmal wird es vorübergehen, und dann wird er ihr dankbar sein, daß sie seinen verlassenen Hof durchgehalten hatte ...

Und sie fand den Leuten gegenüber neue Ausreden für Stephans Verschwinden und war noch einmal so unermüdlich, so umsichtig als vorher. Aber müde wurde sie jetzt manchesmal. So müde. Dann umspannte sie den alten Hof mit leidvoll-mütterlichen Blicken und streichelte die grauen, rissigen Mauern. Ja, er war ein wunderbarer Hof ... aber so eine Bürde ... O so eine Bürde ...!

Bald nach Ostern erlebte Maria einen neuen großen Schreck. Drüben in der schönen Villa wurden eines Morgens die Fensterläden geöffnet. Da verlor sie plötzlich allen Mut. Wenn die Fremden wiederkamen ... die Fremde wiederkam ... konnte es da jemals gut werden ...?

Und eine Woche später kam über die schlechte steinige Bergstraße eine vornehme Kutsche gefahren. Ein Mann mit hohem Hut und gelben Knöpfen lenkte die Pferde, und grünseidene Vorhänge verhüllten das Innere des Wagens. Da aber weinte Maria, denn nun dachte sie an des eigenen Herzens unerfülltes Harren ...

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Mit langen, hallenden Schritten kam einer herab vom Titschen. Er trug ein Hemd mit weit zurückgelegtem Kragen, eine rauhe Joppe und eine kurze Lederhose. Den Hut hatte er vor ein paar Tagen bei einer tollen Kletterei verloren. So wanderte er barhaupt mit der Sonne auf den wilden blonden Locken, auf den schmerzdurchbebten Zügen, auf dem weißen Hals, auf den bloßen Knien, mit der Sonne auf dem ganzen prächtigen edlen Wuchs und sah aus wie ein verirrter oder verjagter Königssohn.

Ohne Ruhe, ohne Aufenthalt, blind für die tausendfache Schönheit der erwachenden Wälder, hastete er abwärts, schalt sich einen »Hund« und schämte sich sogar vor Adalbert.

Denn Adalbert hatte ihm heute nacht bei den heimlichen Zwiegesprächen, die er dort oben beständig mit ihm führte, gesagt: »Und wenn ich sieben Gräfinnen geliebt hätte, und sieben Gräfinnen hätten mich geliebt, so hätte ich doch nicht meinen Hof in den schwachen Händen eines Weibes gelassen.«

Da hatte er sich noch im Finstern auf den Weg gemacht.

Ja, Adalbert hatte recht. Herrgott! ... die ganze Wirtschaft, den ganzen Hof mit den störrischen Leuten einem Mädchen überlassen! Wie leicht etwas geschehen konnte. Dann war sie allein mit dem fremden Volk, ohne Rat und Hilfe. Arme, kleine Maria ... soviel fremde Bürde zu der eigenen Bürde. Weiß der Himmel, wie sie es trug, aber sie trug es und war nur ein schwaches Mädchen.

»O die Schande ...!«

Er knirschte mit den Zähnen und machte in seinem Herzen feierliche Gelübde. Nie ... nie wird er sie wieder allein lassen. Und ein Bauer wird er fortab sein, wie sich's gehört. Ein musterhafter Bauer. Und beginnen wird er damit, daß er den besoffenen Knecht entläßt, denn solche Leute gehören nicht auf einen ordentlichen Hof ... und der Mensch war ihm von jeher zuwider ...

Darauf fühlte er sich etwas erleichtert, und während er die erregten Schritte mäßigte, verlor er sich in Sinnen, wie es künftighin auf seinem Hofe gehen würde. Nichts und niemand störte ihn darin. Als er aber auf die große Lärchenwiese kam, von der man schon die Türme der schönen Villa ragen sah und von der es nimmer weit zum Klausenhofe war, sagte jemand unendlich süß und unendlich schelmisch:

»Nun haben Sie wieder gedichtet, Herr Klausen.«

Wie einfach immer die großen, die wahrhaft großen Dinge sind! Er staunte nicht darüber, daß sie plötzlich da war, daß sie vor ihm stand in ihrer ganzen jungen wunderbaren Holdseligkeit, sondern er staunte nur darüber, daß etwas so Großes, etwas so Schönes so einfach sein konnte. Und mitten in diesem Staunen dachte er daran, daß er ohne Hut, mit freiem Hals und bloßen Knien war. Da schämte er sich und wurde rot bis hinauf zu den blonden Büscheln. Gleich aber ärgerte er sich dieser Scham.

»Herrgott! ... er war doch in Innsbruck gewesen und wußte mit Frauen umzugehen ...« Und sein Blut sprang auf wie eine Woge im Sturm.

»Ja,« sagte er, »ich habe gedichtet. Ich habe etwas gedichtet von einem alten Bären, der um eine junge Prinzessin freit.«

Darauf errötete sie ganz leicht, sagte aber rasch und sicher:

»Das könnte nie wahr sein.«

Er nickte.

»... und dann habe ich noch etwas gedichtet. Etwas von einem Bauer, den eine schöne Gräfin liebt.«

Nun errötete sie tief und sagte langsam und leise:

»Das könnte schon eher wahr sein.«

Dann schwiegen sie, aber es war ein merkwürdiges Schweigen. Ein Schweigen voll widerredenden Stimmen und trunkenen Lauten. Das tat vielleicht der Wind. Er strich durch die Lärchen und wickelte um seine Finger ihre langen grünen Haare, daß sie knisterten wie die Haare einer Frau, und dazwischen klang manchmal ein Aufschrei, wie ihn Mädchen an sich haben, nicht laut und schmerzhaft, nur erschrocken ...

Stephan lächelte voll grausamer Genugtuung. Aber als er sah, daß ihre feinen Hände zitterten, fühlte er sich plötzlich als der Stärkere und sah in ihr die Schwache, die Bedrängte. Da sank sein wilder Sinn zusammen, und er wurde kühl und gut.

Für die Karte müsse er ihr danken ... für die schöne Weihnachtskarte.

Sie neigte das blonde Haupt und sagte zögernd:

»Ich dachte, wie einsam Sie es haben da oben während des Winters.«

Er war jetzt ganz Herr seiner selbst.

»Einsam? O ja ... aber wir Bergler sind daran gewöhnt.«

»Dann haben Sie uns wohl auch gar nicht vermißt letzten Sommer?«

»Letzten Sommer?« Stephan tat, als ob er sänne. »... es gab soviel zu tun.«

Sie nickte.

»Das habe ich mir auch gedacht. Aber es hat mir doch sehr leid getan, daß wir nicht kommen konnten.«

»Nicht konnten?«

»Es war ein außergewöhnliches Jahr. Erst das Unglück mit Hugo von Rotenau. Erinnern Sie sich an ihn? Ich glaube, Sie haben ihn gut gekannt, denn er sprach oft über Sie und fing auch noch in der Stadt manchmal ganz plötzlich von Ihnen an.«

Stephans Mienen umdüsterten sich.

»Ja ... ich habe ihn öfters gesehen.«

»Er stürzte vom Pferde und lag lange krank. Er wäre auch nie wieder gesund geworden. Ich glaube, er wäre sogar ein Krüppel geblieben. Aber eines Tages fand man ihn tot. Der Arzt sagte, er habe zuviel Morphium genommen. Absicht oder Zufall, man weiß es nicht.«

»Das ist sehr traurig,« sagte Stephan. Aber er sagte es nur und empfand es nicht, denn er hatte in diesem Mann nur den Nebenbuhler gesehen ... und an Maria dachte er nicht.

»Ja, sehr traurig. Mama wurde krank von dem Vorfall, und es war ein Glück, daß Fridas Hochzeit kam. Das gab viel zu denken und zu sorgen. Als aber alles vorbei war, fühlte sich Mama doch sehr schwach und wollte an das Meer.«

»Wie schön das Meer sein muß!«

Sie vergaß Hugo von Rotenau und sagte rasch:

»Aber die Berge sind tausendmal schöner. Ich habe so oft an die Gegend hier gedacht und konnte besonders den Rosengarten nicht aus dem Sinn bringen. Er war auch so wunderbar schön, als wir unten am Bahnhof standen. Ganz rot wie richtige Rosen sah er aus.«

Nun lächelte Stephan und sagte:

»Das hat wahrscheinlich der Schelm, der Laurin, getan ... und richtig! Habe ich Ihnen schon gezeigt, wie es der tapfere Dietrich machte, als er dort oben die edle Kühnhilde fand?«

»Nein. Wie machte er es?«

Da bog Stephan ein Knie nach Ritterart, ergriff ihre weiße Hand und küßte sie und sagte:

»So machte er es ...«

Schalk und Liebe hatten ihn getrieben. Hatten ihn getrieben, kühn zu sein und alles zu wagen. Aber nun es geschehen, war er doch tiefernst und tödlich blaß. Zürnte sie ...?

Nein! sie zürnte nicht. Das merkte er an ihren Augen, die sich zaghaft in die seinen senkten. Darum nahm er ihre Hand wieder und küßte sie noch einmal. Zürnte sie ...?

Nein! sie zürnte nicht. Das merkte er an ihren Wangen, die sich vertrauend an seine Finger legten. Nun hätte er sie auch auf den Mund küssen können, aber er tat es nicht. Ganz leise richtete er ihren blonden Kopf in die Höhe, blickte ihr tief in die bangen Augen und sagte beschämt und bekümmert:

»Ich bin nur ein Bauer.«

Darauf wandte sie den Blick, um seinen Augen auszuweichen, und erwiderte halb scherzhaft, halb scheu:

»Und ich bin nicht einmal eine Gräfin.«

Nun wurde Stephan wieder blaß, aber nicht aus Angst und Traurigkeit, sondern aus einem Jubel, der ihm tödlich schien mit seiner erschütternden Seligkeit. Margarete aber machte sich plötzlich frei und fragte:

»Wie war denn das Ende der Geschichte?«

»Von Dietrich und Kühnhilde?«

»Nein ... von dem Bauer und der schönen Gräfin.«

Stephan errötete stark.

»Oh, ich weiß es nicht. Nur, daß sie ihn geliebt hat, weiß ich, denn sie kam einmal zu ihm herunter in einer grauslichen Nacht voll Donner und Blitz.«

Margarete machte große gedankenvolle Augen.

»Und das Ende wissen Sie nicht?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

Er schämte sich jetzt, daß er das Ende nicht wußte, und sinnend gingen sie über die Wiese. Den ganzen Weg redeten sie nichts, und als sie bei der Villa standen und sich trennen mußten, sah sie ihn ohne Worte an. Er wartete, bis ihr weißes Kleid zwischen den Büschen verschwunden war, dann setzte er den Weg zum Klausenhof mit versonnenen Augen fort. Als er durch das Tor trat, glaubte er erst, der Hof sei leer. Dann sah er neben dem großen Leiterwagen eine Gestalt, die zu beben und zu schlottern begann. Unter dem Leiterwagen aber stand eine Flasche, deutlich sichtbar und halb geleert. Stephans Mienen aber veränderten sich nicht. Mit dem versonnenen Ausdruck noch immer in den Augen, ging er auf den zitternden Knecht zu und sagte:

»Ich sehe, du trinkst den Wein gerne. Du sollst jeden Tag einen Liter haben statt einen halben.«

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Im Klausenhof begann diesen Sommer eine so nachsichtige Wirtschaft, wie sie der stramme Hof noch nie erlebt hatte, denn gleich der Natur, die Wald und Feld für den bösen Winter mit dem schönen Frühling lohnt, zeigte sich Stephan voll überströmender Güte gegen jede Kreatur. Die Leute arbeiteten darum auch nicht minder fleißig und gewissenhaft. Sie schätzten seine neue Art, dachten nur ungern an die Angst, die sie noch letzten Winter vor ihm hatten, und liebten ihren jungen blonden Bauer, wie ihn jeder lieben mußte, der ihn sah. Und wenn er gar zu ihnen trat, mit gedämpfter Stimme redete und dabei wohl gar die Hand auf den Arm des einen oder des andern Knechtes legte, daß er neben ihnen stand wie ein Freund und Bruder, nicht wie ein Herr, quoll in ihre rauhgewohnten Seelen zitternde Dankbarkeit, und sie hätten für ihn mit Drachen gekämpft, hätte er es gewollt. Aber er wollte beileibe solche Sachen nicht von ihnen, ließ ihnen im Gegenteil in allen Dingen freie Hand und begutachtete alles, was sie für gut hielten. Nur mit der Ernte wollte er nicht beginnen lassen, und die Knechte wunderten sich baß darüber, denn die Zeit dafür war da, und das Korn lag schwer vornüber. Aber so oft sie davon redeten, schüttelte er den Kopf und sagte:

»Nein! nein, solange das Korn steht ist Sommer. Es ist ein so schöner Sommer heuer ...«

Und er lächelte geheimnisvoll.

Wagten sie es dann aber, ihm vorzustellen, wie wichtig es sei, endlich zu schneiden, sprang in seine Augen ein Flackern, daß sie scheu zurückwichen und betroffen an ihre Arbeit gingen.

Was hatte er denn diesmal mit dem Sommer? Sie schüttelten ihre struppigen Köpfe und konnten ihn nicht verstehen. Was hatte er denn diesmal mit dem Sommer? Es war doch ein Sommer wie jeder andere Sommer, ein bißchen heißer vielleicht und ein wenig mehr Alpenrosen als gewöhnlich.

Nur Maria wußte, was es an sich hatte mit diesem Sommer.

Sie wußte, warum Stephan diesen Sommer so störrisch, so töricht halten wollte. Ja, Maria wußte noch mehr. Sie wußte, daß Stephan mit den ersten Wintertagen wieder ungerecht und grausam werden, und daß er schließlich wieder davongehen und den Hof verlassen würde, wie ein ungetreuer Fähnrich seine Fahne.

Und voll schwerer Sorge dachte sie an das Ende. Aber auch Stephan sann über das Ende. Nicht über das Ende, das Maria meinte, sondern über das Ende der Geschichte von Adalbert und der Gräfin.

»Wie war denn das Ende?«

Aber niemand, selbst die ältesten Leute, die er heimlich ausholte, wußten etwas von der Geschichte. Und der alte Michl oben auf der Alm, der einzige, der vielleicht hätte Auskunft geben können, behauptete starrsinnig, er wisse kein Sterbenswörtlein weiter. Da nahm Stephan sich vor, den Adalbert selbst zu fragen, und weil er meinte, daß man mit Toten nur um Mitternacht reden könne, blieb er eines Abends auf seinem einschichtigen Bett sitzen, und als es zwölf Uhr schlug, fragte er laut in die leere monddurchleuchtete Stube:

»Wie war denn das Ende, Adalbert?«

Und jemand sagte:

»Ich bin schon so lange tot und habe es vergessen. Nur den Anfang weiß ich noch.«

»Wie war denn der Anfang?«

»O, den werde ich nie vergessen ... Ich pflügte das Feld und freute mich, daß die Erde so fett und locker war, so schwarz aussah, so gut roch und der Pflug so blitzeblank dazwischen fuhr.

Da flog auf einmal ein feines weißes Tuch daher und blieb vor mir liegen. Gerade vor meinem blitzeblanken Pflug. Ich reiß' ihn noch schnell zurück, sonst hätte er das feine Tüchlein in die schwarze Erde gegraben. Und wie ich es aufhebe und mich wundere, wie zart und fein es ist, kommt ein Zug Reiter dahergesprengt, und ganz vorne auf einem schneeweißen Pferd sitzt die Gräfin. Sie sah, daß ich das Tüchlein hatte und trieb ihr Pferd dicht an meinen Pflug. Ich wollte ihr das Tüchlein aufs Pferd reichen, aber in dem Augenblick sah sie mich an, und da zitterte ich so heftig, daß es mir aus der Hand fiel. Ich wollte es aufheben, aber da hatte sich schon einer ihrer vornehmen Begleiter von seinem Roß geschwungen, das Tüchlein rasch genommen und es ihr gegeben. Da schämte ich mich und stand beiseite, bis sie alle vorbei waren. Aber am nächsten Tag kam die Gräfin allein an meinem Acker vorbei und warf mir im Vorüberreiten eine Blume zu ...

Von dem Tag an ging ich jede Nacht um ihr Schloß herum, bis sie dann in der grauslichen Nacht voll Donner und Blitz zu mir herunterkam ...«

»Und dann ...?« sagte Stephan mit gespanntestem Lauschen.

Aber es blieb still, und plötzlich lachte er laut auf.

Diesen Anfang hatte ihm sicher nicht Adalbert erzählt, sondern den hatte er selbst gedichtet ... und wenn er einen Anfang dichten konnte, konnte er wohl auch ein Ende dichten ...

Es wurde ihm gar feierlich zumute, und er sagte, während er sann: »... dann haben wir uns geküßt, und ich habe sie fest in ihren seidenen Mantel gehüllt und durch den Blitz und Donner auf den Berg getragen. Mitten am Wege aber sagte sie:

›Wohin trägst du mich, Adalbert?‹

Und ich sagte:

›Zum Klausenhof. Er ist der schönste Hof im Land und wird dir auch gefallen.‹

Aber sie sagte:

›Du vergißt, daß ich eine Gräfin bin. Der schönste Bauernhof wäre zu schlecht für mich. Hast du kein Schloß?‹

Da wurde ich erst traurig, denn ich hielt viel auf den Klausenhof, aber weil sie nicht hinein wollte, sagte ich:

›Ein wenig weiter unten steht ein Schloß. Es ist schon ganz zerfallen, aber ein paar Mauern stehen noch. Es wird uns auch niemand hinausjagen, denn es gehört Leuten, die schon lange, lange tot sind. Willst du?‹

Darauf nickte sie, und nun trug ich sie hinab in das Schloß. Dort wuchsen Bäume in den Zimmern, und wir richteten uns unter den Bäumen ein. Aber wir wohnten doch in einem Schloß, und ich weiß, daß sie dort glücklicher war, als sie in dem schönsten Bauernhof hätte sein können. Und trotzdem ich den Klausenhof sehr gern hatte, denn er war damals ganz neu, ließ ich ihn doch stehen, wo er stand, und kümmerte mich nicht mehr darum ...«

Stephan stieß jetzt trotz der tiefen Nachtstunde einen kletternden Juchzer aus ...

Nun mochten sie seinetwegen auch das Korn schneiden.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Als Stephan aber den nächsten Abend die stattlichen Garben überschaute, die die fleißigen Hände seiner Knechte freudig und eilfertig auf dem untersten Felde, wo sie zuerst begannen, aufgerichtet hatten, verschwand in ihm die stille Freude, die er den ganzen Tag mit sich herumgetragen hatte. Ein wenig barsch mahnte er die Leute daran, daß längst Feierabend sei, und schritt, nachdem sie endlich fort waren, ruhelos zwischen den Garben hin und her. Er dachte wieder an das Ende, an das Ende wie er es in der Nacht gedichtet hatte, und es kam ihm jetzt im Angesicht des goldstrotzenden Bauernsegens lächerlich und unmöglich vor. Den Hof stehen lassen, wo er stand, und sich nicht mehr darum kümmern, das hätte der Adalbert bestimmt nicht getan. Es war auch gegen alle Wirklichkeit, denn wäre Adalbert mit seiner Gräfin unten im Schloß geblieben, wie wären dann die späteren Klausen zum Klausenhof gekommen? Nein, das Ende war anders. Vielleicht war es so:

»... dann habe ich sie fest in ihren seidenen Mantel gehüllt und durch den Blitz und den Donner auf den Berg getragen. Mitten am Wege aber sagte sie:

›Wohin trägst du mich, Adalbert?‹

Und ich sagte:

›Zum Klausenhof. Er ist der schönste Hof im Land und wird dir auch gefallen.‹

Aber sie sagte:

›Meinst du den Kasten da? Er hat keine Zugbrücken und keinen Graben, keine Anlagen und keinen Teich, keine Erker und kein Wappen. Ich habe nie ein so häßliches Haus gesehen, und es ist ein Glück, daß es so hoch oben und so verborgen steht. Mich aber trage in mein Schloß zurück.‹

Da trug ich sie zurück und eilte mich sehr, denn sie befürchtete nun, daß ihre Frauen sie vermissen könnten. Als ich sie dann sicher im Schlosse wußte, ging ich nach Bozen und kaufte mir eine schöne rote Farbe. Damit schrieb ich auf den Klausenhof den Spruch, den du ja kennst und der dir auch so gut gefällt. Danach fand ich den Klausenhof noch schöner als vorher. Ich arbeitete fleißig und dachte auch nicht mehr so oft an die Gräfin. Als ich sie aber ganz vergessen hatte, heiratete ich eine brave Müllerstochter ...«

Leise stöhnend lehnte sich Stephan an ein Büschel Garben.

Ja sicher, so war das Ende. Denn den Hof stehen lassen, wo er stand, und sich nicht mehr darum kümmern, brachte kein Klausen zuwege. Und was hatte auch Maria gesagt, als er ihr vor ein paar Tagen beiläufig erzählte, daß der Staffler Bauer vom Ritten drüben anstatt zu pflügen und zu säen, in Bozen unten herumsitze und Weinhandel treibe ...?

»Wo ein Hof ist, muß ein Bauer sein. Der Bauer gehört zu seinem Hof ... und Schuster bleib bei deinem Leisten ...« hatte sie gesagt. Und sie hatte recht. Eine Gräfin kann keine Bäuerin, und ein Bauer kann kein Graf werden. Bei der einen stand das Schloß und bei dem andern stand der Hof im Wege ...

Und während Stephan noch so sann und gar nicht merkte, daß es längst finster war, stand plötzlich Margarete vor ihm.

Nicht fest und greifbar, wie sie damals auf der Wiese vor ihm gestanden hatte, sondern ein wenig verschwommen und beinahe unkenntlich unter einem feinen silbernen Nebel.

Aber er kannte sie an ihrem Haar und an ihrer Stimme.

»Du bist so dumm, Stephan,« sagte sie, »was geht uns der Adalbert und seine Gräfin an? Das ist eine alte Geschichte und kann für dich und für mich nicht passen. Erstens bist du kein gewöhnlicher Bauer, wie der Adalbert war, und zweitens bin ich keine Gräfin, wie es die Gräfin von Adalbert war. Wir sind ganz andere Menschen. Du bist im Gegensatz zu Adalbert ein Studierter ... nein, sage nichts ... du bist doch in Innsbruck gewesen, und ich bin im Gegensatz zu der Gräfin ein einfaches Mädchen, das einen Landmann zum Vater hat. Denn mein Vater ist, wie du schon gesehen haben wirst, ein schlichter Mann, der dich lieb haben wird ... Nur meine Mutter ist ein wenig stolz, und es wird einen kleinen Kampf mit ihr geben. Aber ich fürchte mich nicht, wenn du dich nicht fürchtest ...«

Auf diese Rede hin fuhr Stephan freudig zusammen und sagte:

»So meinst du, Margarete, daß dir der Klausenhof gut genug wäre, so wie er ist, ohne Graben und Zugbrücken, ohne Anlagen und Teich, ohne Erker und Wappen ...?«

Darauf senkte sie den Kopf ein wenig verwirrt, ein wenig beschämt.

»So meinte ich es gerade nicht, Stephan. Ich meine ... du bist eigentlich kein Bauer und brauchtest darum keinen Hof.«

Stephan erbleichte.

»Du meinst den Hof verkaufen?«

»Oder verschenken ...« und sie sah ihm fest in die Augen und faßte nach seiner Hand. Es dauerte lange, bis Stephan zu sich kam, und endlich sagte er:

»Du redest, wie du es verstehst, Margarete. Der Klausenhof und die Klausen, davon läßt sich nichts trennen. Den Hof verkaufen täte mir vorkommen wie eine Sünde, und den Hof verschenken täte mir vorkommen wie ein Undank. Stelle dir das einmal vor.

Ich verkaufe den Klausenhof, oder ich verschenke ihn, ganz wie du willst, und ich ziehe fort mit dir. Irgendwohin. Aber der Klausenhof bleibt da, immer noch der Klausenhof, trotzdem kein Klausen mehr drinnen ist, denn die Treuen liegen unten im Kirchhof, und der Untreue ist ... ich weiß nicht wo. Das weiß ich, und das wissen viele andere, aber der Klausenhof weiß nichts davon. Er kann es sich nicht vorstellen, daß ihm einer von den Klausen untreu sein könnte ... daß er einem Klausen nicht genug sein könnte, wo er ihnen durch so viele Jahre den Sturm von ihrem Feuer abgehalten hat und Segen und Sorgen und alles mit ihnen teilte. Nein ... der Klausenhof würde so etwas nicht glauben. Er würde es nicht glauben, denn ich war schon einmal fort ... damals in Innsbruck ... und als ich kam, da weinte ich in meinem Knabenstübchen vor Heimweh und Seligkeit und tausend Dingen, die niemand verstand. Nur der Hof verstand mich, denn er redete zu mir in seiner alten wunderlichen Weise, und ich wurde still und froh unter seinen ernsten Augen.

Und wenn ich jetzt wieder fortginge, der Hof würde auf mich warten. Und ich würde es spüren, Margarete. Immer würde ich ihn vor mir sehen, wie er wartet. Wie er da oben steht im rauschenden Regen, im peitschenden Sturm oder im lautlosen Schnee. Tag und Nacht würde ich ihn vor mir sehen, wie er wartet, daß ich wiederkomme.

... und, o Margarete! ich würde wiederkommen, denn der Hof gibt mich nicht frei ...«

Darauf wußte Margarete offenbar nichts zu erwidern, denn es entstand ein langes Schweigen, und Stephan hatte einen Moment lang das Empfinden, als ob der feine silberne Nebel zerrinne. Er hielt den Atem an, um sie nicht zu verscheuchen, und endlich redete sie wieder, aber diesmal langsam und zögernd, als hinge ein schweres Gewicht an jedem Wort:

»Du bist nicht frei ... und weil du nicht frei bist, so mußt du dich frei machen. Was aber heißt frei sein? ... Frei sein heißt froh sein; froh sein heißt stark sein; stark sein aber heißt Herr sein. Nicht Herr über einen Hof und über ein paar Knechte, sondern Herr sein über die Dinge, die man liebt. Das ist nicht leicht, Stephan. Aber wenn der Feind ein Land bedrängt, was tut das Volk? ... Es reißt seine Brücken, seine Dörfer, seine Wälder ein, um die Hauptstadt zu sichern ... denn es gibt immer noch eine größere Liebe ...

Bei dir handelt es sich auch um einen Feind. Allerdings um einen unsichtbaren. Nenne ihn Pflicht oder Angst oder wie du willst. Aber der Weg, auf dem er herankommt, ist etwas Sichtbares, etwas Äußerliches ... der Hof. Aber etwas Äußerlichem kann man an den Leib, und etwas Sichtbares kann man unsichtbar machen ... dann bist du frei ...«

Nun erschrak Stephan so heftig, daß er wie in Abwehr beide Hände von sich streckte und dabei unversehens den silbernen Nebel zerriß. Da sah er, daß er allein auf dem mondbeschienenen Felde stand. Ein unbekanntes Grauen schüttelte ihn, und seine Zähne schlugen fröstelnd aufeinander trotz der warmen, schwülen Nacht. Wie gehetzt lief er an den schweren, blinkenden Garben vorbei und hielt erst inne, als er auf die Höhe kam.

Dort oben stand sein Hof alt und grau, ernst und feierlich wie eine Kirche. Stephan aber wagte nicht, ihn anzuschauen. Mit gesenktem Blick, als hätte er Verrat im Sinne, ging er durch das Tor.

Achtundzwanzigstes Kapitel

»... weil ich frei sein will,« sagte Stephan, »und weil der Freiheit nichts im Wege stehen darf ... nichts ... selbst du nicht, du alter ehrwürdiger, du heiliger Hof ...«

Und er streichelte die alten Mauern scheu und zärtlich, als wären sie Grabsteine, und trat leise und behutsam auf, als träte er geweihten Grund.

Und allen im Hause, besonders aber Maria, hätte er gerne gesagt, sich den Hof noch einmal anzuschauen, sich jede Wand und jeden Winkel einzuprägen, damit sie ihn zeitlebens in Erinnerung behalten. Aber er konnte das niemand sagen, denn es hätte ihn keiner verstanden. Und weil er also schweigen mußte und genau wußte, daß es gerade Maria am schwersten treffen werde, war er ihr gegenüber so voll Zartheit und Liebe, ungefähr wie jemand, der eine große Schuld zu tilgen hat.

Lange, lange saßen sie diesen letzten Abend beisammen und redeten wieder einmal vom Vater, der nun schon so lange tot war. Und weil der Tod des Vaters so innig mit der neuen Villa zusammenhing und das ein Boden war, den sie noch immer nicht zu betreten wagten, sprang das Gespräch auf Therese über, auf ihren Mann und den Kleinen, der als ein echter Bauernsohn rund und rotbäckig gedieh. Zum Schluß aber redeten sie über die Ernte. Über den Segen, der von den Feldern in die Scheunen strömte, ein Segen, so ausgiebig, wie sie sich auf keinen zweiten besinnen konnten. Endlich aber stand Maria auf, richtete noch Kleinigkeiten da und dort und wünschte Stephan gute Nacht. Da hielt er ihre Hand länger als gewöhnlich, und es schien, als ob er ihr noch etwas sagen wollte. Aber er sagte nichts und ließ sie gehen.

Eine Weile blieb er noch in der Stube vor der brennenden Lampe sitzen, dann löschte er sie aus und ging ebenfalls in seine Kammer. Dort machte er aber kein Licht wie gewöhnlich, sondern setzte sich an sein Bett und wartete.

Eine Stunde mochte er so gewartet haben, dann erhob er sich und schritt hinaus. Voll und weiß stand der Mond am Himmel, und der ganze Hof sah aus, wie aus einer silbernen Flut gezogen.

Stephan aber gab sich jetzt nicht mehr ab mit schwärmerischen Gedanken. Abschied hatte er von dem Hof schon genommen.

Vorhin schon ...

Ohne jede Hast oder Überstürzung, mit klarem Kopf und ruhiger Hand ging er ans Werk. Und während er über den Hof nach der Scheune schritt, dachte er: »Ich bin nicht wahnsinnig, o nein! Ich will frei sein, und frei sein heißt Herr sein über die Dinge, die man liebt ...«

Das Tor knarrte leise, als er es öffnete; und der Hund an der Kette hob den Kopf und spitzte die Ohren. Stephan nickte ihm beschwichtigend zu. Dann drängte er sich in die Scheune und konnte beinahe nicht hinein, so voll stak sie von oben bis unten mit schwerem ungedroschenem Korn. Wie eine Mauer erhob es sich links und rechts und knisterte dürr, als Stephan daran streifte ...

»... Weil ich frei sein will ...« sagte er noch einmal. Dann flackerte das Zündholz auf, und er hielt es unter die hängenden Halme. Eine Weile wartete er noch, um sich zu vergewissern, daß die Flamme faßte; dann ging er in das Haus zurück und läutete mit weitausholenden Schwingen die Alarmglocke. Und gleich darauf mischte sich in das Kreischen der Alarmglocke das langgezogene, wimmernde Heulen des Hundes. Da hörte Stephan zu läuten auf und befreite den Hund. Währenddem erschienen notdürftig angezogen Knechte und Mägde, die kopflos durcheinander fuhren und mit mächtigen Eimern zum Brunnen liefen. Aber Stephan schickte sie mit donnernder Stimme hinein in das Haus, ihre eigenen Sachen zu retten. Dann ging er in den Rinderstall und löste die eisernen Ringe von den Mauern, woran die Tiere gehalten waren. Mit gereiztem Gebrüll strömten sie ins Freie und rasten schweifschlagend aus dem Bereich der rauchgebeizten Luft. Beim Schweinestall entstand Verwirrung. An zwanzig bis dreißig kegelten, kugelten sie heraus, und einen Augenblick schien es, als liefen sie direkt in die Flammen. Dann aber erkannten sie die Gefahr und schossen nach unten. Die Hühner flogen kreischend in die Höhe, wußten nicht wo aus und ein und flatterten endlich mit den Funken in den Flügeln dem Walde zu.

Unterdessen hatte das Gesinde seine Habe gerettet.

Bündel um Bündel trugen sie hinunter auf die Wiese und legten sie zu Füßen des Kreuzes, das die Klausenbäuerin in jenem heißen Sommer hatte hinausschaffen lassen. Es war auch die höchste Zeit, denn klingend und krachend sank die Scheune zusammen und sandte aus ihrem geborstnen Leib einen riesigen, glühenden, schaumigen Strahl hinüber zum Hof. Und noch einen ... und noch einen ...

Stephan wußte jetzt, daß der Hof verloren war. Darum ließ er die Leute mit ihren Eimern gewähren und sah sich nach Maria um.

Sie stand beim Kreuz vollkommen untätig, die Augen auf die spritzenden Flammen gerichtet, die Finger ineinander, den Mund hilflos verzogen. Aber es rührte ihn nicht, und er empfand keine Scham über seine Tat. Erst als sie wild aufschluchzte und ihr Körper krampfhaft in seinen Armen zuckte, dachte er:

»Mein Gott ... es war ja ihr Heim.«

Er ließ sie ausweinen, und als sie endlich ruhiger wurde, sagte er so sanft und gut wie er nie geredet hatte:

»Höre, Maria, ... ich glaube nicht, daß etwas Lebendiges umgekommen ist, aber die Katze ... sag, hast du die Katze gesehen ...?«

Was er wollte, gelang ihm, denn Maria zwang ihre Gedanken und dachte an die Katze, die sie als braves Hausmütterchen immer gut gehalten hatte. Verstört und verweint, aber doch gefaßt, schaute sie suchend umher. Die Katze war aber nirgends zu sehen. Da fiel ihr denn ein, daß die Katze umgekommen sein müsse, weil sie ja immer in der Küche oben auf den Kacheln schlief und die Küchentüre sicher kein Mensch geöffnet hatte. Nun weinte sie abermals, doch jetzt weinte sie um die Katze; und Stephan fühlte, daß dieser neue Kummer, der sanft und harmlos war, den Schmerz von vorhin leise und unmerklich verdrängte. Da wurde er wieder froh und zuversichtlich, blieb aber voll Ernst und Schonung Maria gegenüber. Gerne hätte er ihr alles gesagt, aber er spürte, daß sie ihn jetzt im Angesichte des brennenden Hofes, der ihnen so lange Welt und Heimat war, nicht verstanden und ihm nicht verziehen hätte. Aber er ließ ihre Hände nicht los und führte sie herum, wie man Kinder führt. Aber immer so, daß sie den Hof im Rücken hatte ...

Und abseits von ihnen stand das Gesinde, müßig und erregt, und schaute zu, wie der Wind in die Windmühle griff und ihre feurigen Räder herumriß, bis sie knisternd zerstoben.

Neunundzwanzigstes Kapitel

Frau Therese hatte Einquartierung bekommen.

Alle seine Leute und alle seine Tiere – die Katze ausgenommen – hatte ihr Stephan gebracht. Da gab es Arbeit in dreifacher Fülle. Maria stand Therese treulich bei, und auch Stephans Gesinde tat das seine. Aber es war nicht sehr viel, denn Stephan kundschaftete nach Bauernhäusern, die Knechte und Mägde brauchten, und schickte bald den einen, bald den andern, um sein Büchel zu zeigen.

Und als der letzte Knecht und die letzte Magd versorgt war, führte Stephan lange Reden mit Therese, wobei sie oft zornig und unwirsch wurde; und zum Schluß doch immer nachgeben mußte, weil Stephan kein Strichelchen von dem Gesagten änderte, was da war, daß er den Klausenhof nicht mehr aufbauen lassen werde und daß er überhaupt aus der Gegend gehe ... nach Wien vielleicht.

Und eines Tages kam ein alter Advokat aus Bozen, der das Vermögen der Klausen in drei gleiche Teile teilte. Da erwarb Therese alle Wiesen, Felder und Hänge, die nah und fern zum Klausenhof gehörten, und Stephan und Maria erhielten viel bares Geld.

Nun war alles geordnet, und nur eines blieb Stephan noch zu ordnen. Und es war höchste Zeit dazu, denn die grünen Fensterläden an den Villen auf den Höhen schlossen sich einer nach dem andern. Aber noch mußte er warten, bis die Anzüge aus Innsbruck kamen. Allerfeinste Anzüge, die er sich bestellt hatte, denn in dem lümmelhaften Bauerngewand – kurze Joppe, kurze Hose – konnte er um kein Mädchen freien. So vergingen die Tage, und es ereignete sich nichts Besonderes. Nur einmal wurde die Gleichmäßigkeit der Woche unterbrochen, und das war, als eines Nachmittags ganz unerwartet der Josef kam. Vor einiger Zeit war ihm seine Mutter gestorben, und da mochte ihn wohl Trauer und Einsamkeit zu den alten Freunden getrieben haben. Vielleicht! denn noch hatte er kein Wort über die Mutter oder über die Einsamkeit gesagt und nur über den Wald und sein Gewehr und die früheren Zeiten geredet. Aber voll Vorsicht und Schonung, damit niemand wehmütig zumute würde. Und dabei sah er manches Mal auf Maria, die es aber gar nicht merkte, denn sie nähte an einem Höschen für Theresens kleinen Schatz. Aber trotzdem sie sehr eifrig nähte, wurde das Höschen doch so schnell nicht fertig, denn sie nähte ganz verkehrt und merkte es auch nicht. Und nach einer Weile saßen sie gar allein, da Therese anderswo zu tun hatte und Stephan auch plötzlich verschwunden war. Nun hätte Josef eigentlich sagen können, warum er gekommen sei, denn vielleicht war es nur etwas für Maria. Aber ein feiner Instinkt hielt ihn davor zurück. War es die Blässe ihrer Züge? war es das Zittern ihrer Hände? Er wußte es nicht.

Nur daß Wunden in Frauenherzen wie Wunden in Blüten sind ... so verheerend und so schwer heilbar, wußte er. Darum verschwieg er, warum er eigentlich gekommen war, und redete weiter über den Wald und über die früheren Zeiten. Aber etwas in Marias scheu gesenkten Augen gab ihm Glauben und Gewähr für die Zukunft ...

– – Endlich kamen auch Stephans Kleider aus Innsbruck.

Keuchend und schwitzend brachte sie der alte Briefträger herauf, und Stephan gab ihm selig ein reichliches Trinkgeld. Dann ging er mit dem schweren Pack in die Kammer, die ihm Therese eingeräumt hatte, und probierte. Er suchte den feinsten und schönsten Anzug heraus. Darin wollte er bei ihrer stolzen Mutter um sie bitten. Aber der Anzug paßte nicht. Er war ihm zu kurz und zu eng, und als er sich in dem kleinen Spiegel besah, gefiel er sich nicht. Mißmutig zog er ihn wieder aus und probierte den nächsten. Dann den nächsten ... dann den nächsten ...

Aber es paßte keiner, und er warf sie endlich zornig auf den Tisch. Dann schlüpfte er wieder in sein Bauerngewand – kurze Joppe, kurze Hose – und machte sich mit einer trotzigen Falte zwischen den Brauen auf den Weg. Er war halt ein Bauer, und das wird sich nicht leugnen lassen, auch in Wien nicht. Aber wer weiß ...?

Fröhlich und sicher, immer nur des Augenblicks gedenkend, da Margarete ihre Wangen an seine Finger legte, ging er zwischen den steilaufsteigenden Wäldern dahin. Plötzlich aber blieb er stehen und spürte einen heftigen Schreck und konnte doch die Blicke nicht wenden von dem, was ihn so erschreckte.

Es waren unter Fichten und Lärchen drei ragende Türme mit leuchtenden goldenen Spitzen. Eine unendliche Bangigkeit überfiel ihn, und wie ein Wahnsinn erschien ihm, was er schon getan hatte und was er noch tun wollte. Seinen Hof hatte er angezündet, und ein feines Mädchen ging er freien ... er ein Bauer, im Bauerngewand ...

Zerknirscht und verzweifelt hockte er sich auf einen Stein und dachte an die Anzüge aus Innsbruck. Bald aber merkte er, daß es eine schmähliche Schwäche war, die ihn da im Angesicht der Villa überfallen hatte, und um sich Mut zu machen, langte er mit den Armen nach links und rechts und rupfte alle Blümlein aus der Erde, deren er habhaft werden konnte. Und weil das noch immer nichts half, er merkte es an dem Zittern seiner Knie, fing er zu singen an und sang:

»Wenn der Müller fesch is'
Glei' trau' i' ma z'wetten
Paßta wia a Prinz
In de zwo goldnan Betten.«

Das sang er drei- viermal hintereinander, und weil er glaubte, nun sei es genug, stand er auf. Aber seine Knie zitterten noch stärker als vorher. Da hockte er sich wieder auf den Stein und dachte nun wieder an die Anzüge aus Innsbruck. Und wie er noch so dachte, rauschte es plötzlich hinter ihm, und als er aufblickte, stand Margarete neben dem Stein. Aber nicht wie an jenem Abend im Feld, weich und verschwommen, beinahe unkenntlich unter einem Nebel, sondern deutlich und greifbar und untrüglich wahr. Nur der Schalk, der früher in ihren Augen spielte, war nicht da. Blaß und tiefernst war ihr liebes Gesicht, und in sein Herz quoll plötzliche Sorge. Er stand rasch auf, aber nun stand er sicher und fest, und der Mut, der ihm vorhin nicht kommen wollte, kam jetzt mit tausendfacher, todesverachtender Stärke ...

Und während er den Weg nach der Villa einschlug und Margarete sich gehorsam neben ihm hielt, sagte er:

»Ich weiß jetzt das Ende, Margarete. Soll ich es dir erzählen?«

Aber sie wurde nur noch blässer und schüttelte hastig den Kopf. »Nein ... nein ... ich weiß es ja schon ... nur von selbst hätte es kommen sollen ...« und weil sie sah, daß er jäh erblaßte, faßte sie schnell seine Hand ... »aber ich bin nicht böse ... nur stolz, daß du mich so liebst ...«

Darauf schwiegen sie.

Als sie aber vor dem Tor der Villa standen, sagte Margarete ganz wie damals ihr Scheinbild auf dem Felde:

»Mein Vater ist ein schlichter Mann, der dich lieb haben wird. Nur meine Mutter ist ein wenig stolz, und es wird einen kleinen Kampf mit ihr geben. Aber ich fürchte mich nicht, wenn du dich nicht fürchtest.«

Stephan aber fürchtete sich nicht.

Stephan war bereit ... bereit zum Bösesten und Besten, und gemeinsam stiegen sie über die breite teppichbelegte Treppe.

Ende

Im gleichen Verlag ist erschienen:

Stromaufwärts

Aus einem Frauenleben
von
Angela Langer

Zweite Auflage. Geheftet 3 Mark, in Leinen 4 Mark.

Aus kümmerlichster Existenz, ohne fremde Hilfe, mit eigener Kraft, die durch alle Hemmungen sich sieghaft bewährt, ringt sich eine Frau zu eigener geistiger Freiheit und zu selbständigem Menschentum. Nur wenige Schimmer zagen Glücks mischen sich in dies unsäglich schwere Werden, aus dem wie ein Triumph weiblicher Hoheit das Ende aufstrahlt: da in dieser einfachen Frau von selbst die Religion des Lebens aufdämmert, das sie bis in die letzten Tiefen gütig versteht. Aus schmerzlichem, wehem Erleben wächst hier eine innere Klarheit, die das Leben überwand, um es sich neu zu schaffen. Dies Buch redet in seiner Schlichtheit die ergreifendste Sprache, die seit langer langer Zeit eine Frau für das gefunden hat, was sie erlebte, was sie litt.

(Badische Neueste Nachrichten, Mannheim)

Die ganze Geschichte ist eingetaucht in die Kraft des vollen Erlebnisses. Man liest mit großer Bewegung ein schweres und an Zartheiten und Schönheiten reiches Stück Frauenleben, das nicht am Schreibtisch erfunden sein kann, sondern zum mindesten auf genauer Kenntnis nicht einfacher Lebensgänge beruht. Es ist ein edel empfundenes, schönes Buch, eben deshalb, weil es beweist, daß der Realismus durchaus nicht den Hochsinn seelischer Empfindungen verhindert.

(Kölnische Zeitung)

Dies Buch ist gewiß nicht typisch. Ein Mensch mit so starker künstlerischer Anlage, so reicher Phantasie und solchem Drang nach Erkenntnis des Lebens dürfte sich unter den einfachen Dienstmädchen, wie es die Verfasserin war, nicht allzu häufig finden, so wenig häufig wie irgendeine andere ausgeprägte geistige Besonderheit. Aber mit ergreifender Gewalt packt uns dabei doch wieder der Gedanke, wie unendliche seelische Kräfte, welche Fülle heißen Lebensverlangens in der stumpfen Einförmigkeit des Daseins für die Mehrzahl der Menschen ungenutzt verdorren mögen.

(Sozialistische Monatshefte, Berlin)

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig


Hinweise zur Transkription

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Auslassungen mit zwei Punkten wurden auf drei Punkte erweitert

Seite 32:
"«," geändert in ",«"
(»Weißt du, Maria,« sagte sie)

Seite 38:
"natürich" geändert in "natürlich"
(Ich hatte natürlich nichts Schlechtes im Sinne)

Seite 48:
"." geändert in "?"
(»Interessieren Sie sich denn nicht für Aviatik?«)

Seite 72:
"«," geändert in ",«"
(von einer schönen Blüte streift, denn,« und)

Seite 100:
"unseli-ligen" geändert in "unseligen"
(lächerlichen, unseligen, unmöglichen Bildern)

Seite 102:
"«," geändert in ",«"
(warte, Maria ...,« die Bäuerin zögerte)

Seite 121:
"«," geändert in ",«"
(Aber insonsten ...,« und der Altweiberkopf wackelte)

Seite 143:
"«" hinter "Stube." entfernt
(und trug sie zurück in die Stube.)

Seite 145:
"«" hinter "Mann ..." entfernt
(Also doch ein Unglück mit Theresens Mann ...)

Seite 145:
"«" eingefügt
(»Ist etwas passiert mit deinem Mann?«)

Seite 153:
"«," geändert in ",«"
(mit dem Teufel hat sie nichts zu tun ...,« sie schlug)

Seite 176:
"«" hinter "getragen." entfernt
(durch den Blitz und Donner auf den Berg getragen.)

Seite 176:
"‹" eingefügt
(schon lange, lange tot sind. Willst du?‹)