The Project Gutenberg eBook of Die Kinder auf dem Abendberg: Eine Weihnachtsgabe

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Title: Die Kinder auf dem Abendberg: Eine Weihnachtsgabe

Author: Gräfin Ida Hahn-Hahn

Release date: December 29, 2019 [eBook #61042]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KINDER AUF DEM ABENDBERG: EINE WEIHNACHTSGABE ***

Die Kinder
auf
dem Abendberg.

Von
Ida Gräfin Hahn-Hahn.

Eine Weihnachtsgabe.

Berlin.
Verlag von Alexander Duncker,
Königl. Hofbuchhändler.
1843.

Allen Müttern.

Nachdem ich halb Europa von Gibraltar bis Danemora durchstreift habe, reiste ich in diesem Spätsommer nach der Schweiz, nicht sowol um das Land, als hauptsächlich um liebe Freunde wiederzusehen. Doch kaum hatte ich den Jura überschritten, als das Land selbst, diese großartige, mächtige, reiche Natur, ihren alten unzerstörbaren Zauber über mich übten, so daß mir die Schweiz schöner erschien, als irgend ein Land, das ich je gesehen. Der Eine mag Tyrol vorziehen, der Andere die Pyrenäen; dennoch glaube ich, daß Alle eingestehen werden: eine solche Vereinigung aller Contraste, aller Bedingungen zu einem vielseitigen Leben findet man dort nicht; findet nicht so viel Städte so nah beisammen und in so eigenthümlichem Character ausgeprägt; nicht so viel Punkte auf denen man allen Comfort der Civilisation neben allen Schönheiten der Natur genießt. Wer sich für den Gewerbfleiß und die industrielle Thätigkeit interessirt, gehe nach dem hellen Zürch, dem ernsthaften Basel, dem eleganten Genf; wer für die Cultur des Bodens, nach dem Canton Bern, der ein üppiger Garten ist, oder an den Leman, dessen nördliches Ufer, der Höhenzug des nackten, felsigen Jorat, durch unglaubliche Mühe in ein Rebgelände verwandelt ist. Wen das rastlose Ringen und Treiben der Civilisation, die keine Ruhe kennt, ermattet, der gehe in die milden Felsenthale des Canton Uri oder zu den grünen Wiesen von Unterwalden, oder in das stille Schwytz. Wer die Fremden, die Reisenden beobachten und sich mit ihnen unterhalten und zerstreuen will, suche die Orte auf, wo sie sich vorzugsweise drängen: Luzern, Thun, Interlachen, den Genfer See. Wer die Geschichte liebt, kann durch die Schweiz wandelnd einen lehrreichen Cursus über die Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit menschlicher Institutionen machen, bei Realta in Graubündten beginnend, und wenn ihm die gegenwärtigen nicht gefallen, so kann er aus jener Betrachtung den Trost schöpfen, daß auch sie nicht dauern werden: die Römermacht ist verschwunden, die Obergewalt des deutschen Kaisers gebrochen, die Aristokratie gestürzt; – die moderne Demokratie wird auch fallen. Wer am materiellen Wohlbehagen seine Freude hat, etablire sich in irgend einem guten Gasthof, der in der Schweiz eben so leicht, als in Deutschland schwer zu finden ist, und er wird haben, was der Leib nur begehrt. Er wird auch nicht durch den Anblick fremden Elends aus seinem Behagen aufgescheucht werden, z. B. nicht in Genf, wo die Armenanstalten so vortrefflich sind, daß es keine Bettler giebt. So haben Sachkundige mir versichert, und allerdings bin ich dort nie, auch bei wochenlanger Anwesenheit, einem Bettler begegnet. Genf ist eine sehr wohlhabende Stadt, die über 80 Millionärs zählt. Basel soll deren über noch einmal so viel haben. Herr Christoph Merian, Handelsherr zu Basel, besitzt ein Vermögen von 37 Millionen Fl. rhein. Doch nicht auf den Handelstand beschränkt sich diese Wohlhabenheit. Es giebt Bauern im Simmenthal und Emmenthal (Canton Bern), deren Vermögen 100,000 Schweizerfranken übersteigt, und man sieht es diesen unglaublich netten, tüchtigen, wohlgehaltenen Dorfschaften auch an. Solch ein Bauer – der könnte glücklich sein, glücklicher als jeder andere Mensch! Sein Grundstück gehört ihm, und ist frei von jeder Abgabe, wie sie auch heißen möge. Er kennt weder directe, noch indirecte Steuer. Ungezählt, unüberwacht kann er seine Producte verkaufen; kein Zoll beschränkt Handel und Wandel. Sein Haus, sein Garten, sein Vieh, sein Feld – Alles ist von der besten Qualität, das Erdreich wie die Race und wie die Bestellung, so daß seine Mühe und Aufmerksamkeit durch Gedeihen belohnt wird. Er selbst mit den Seinen betreibt die Geschäfte des Landbauern, bestellt die Wiesen und Aecker, besorgt Haus und Heerde. In dieser gesunden Thätigkeit, welche seine Kräfte nicht übersteigt, findet er zweckmäßige Beschäftigung, die wohlthätige, die ihn schützt vor den Selbstqualen der Phantasie und vor dem unbefriedigenden Streben des Geistes. Aber unsre Zeit ist nicht die der Zufriedenheit noch der Befriedigbarkeit; es sind allzuviel Schranken weggerissen. Völker, Stände, Einzelne fühlen das; dumpf die Einen, die Andern klar. Es geht ein großes Suchen durch die Welt, aber das Was, das Wo, das Wie – darüber ist man nicht einig, wird es auch nicht werden, kaum daß die Parteien sich untereinander darüber verständigen werden. Was in der antiken Welt der Menschheit einen Halt und Zusammenhang gab: die Vaterlandsliebe; – und was in der alten: der Glaube; – das ist in unsrer Welt gebrochen und am Boden, und Jeder arbeitet sich ab, auf seine eigne Hand, für seine eigne Rechnung, ohne Vaterlandsliebe, ohne Glauben, ja, ohne Ueberzeugung, nur für seine kahle Meinung – die unerquicklichste Danaidenarbeit! So ist denn auch das allgemeine, schwüle, unruhige Unbehagen bis zu den Bauern der Schweiz gedrungen, und sie mögten gern etwas Andres sein, als sie sind, und mehr noch haben, als sie schon besitzen. Wenn Alle – Alles wollen, so ist es sehr natürlich, daß Niemand zufrieden sein kann. Dennoch – wie sie auch sein möge, die Schweiz, so ist sie schön; denn Gott hat sie schön gemacht, hat ihr die Herrlichkeit ihrer Natur gegeben, eine unvergängliche Glorie. O, man sieht sich müde auf der Welt, todtmüde an all den räthselhaften und herben Geschicken, und das Auge wird so namenlos traurig und das Herz so namenlos schwer, wenn sie dazwischen haften bleiben. Das ist so herrlich in der Schweiz, daß der Blick nicht untergehen kann im Menschenwerk, daß die wundervolle Schöpfung Gottes ihn immer und immer wieder anzieht. Von all dem bangen, schmerzlichen, wüsten Treiben auf der Erde gleitet er empor zu den Bergen, welche die Jahrtausende und ihre Kämpfe gesehen haben und in unvergänglichem Frieden, schneeweiß und rosenroth, stralen; und von den Bergen steigt er zum Himmel, und vom Himmel zu Gott. Dann wird der Blick wieder hell, und das Herz wieder freudig; denn die ewige Zuversicht, die in der Seele wohnt, schüttelt die Entmuthigung ab, und liebend und hoffend kehrt man zu den Menschen zurück, weil man daran erinnert worden ist, daß Gott über ihnen waltet.

Für mich giebt es einen goldnen Faden, der lichtend durch das Wirrsal der Gegenwart läuft: es ist das große Erbarmen mit fremdem Leid. Den Armen, den Kranken, den Gefangenen, den Verbrechern, Allen auf denen sonst außer ihrem jammervollen Loos noch der Druck der allgemeinen Vernachlässigung, gar Verachtung lag, Allen wendet man einen Blick der Theilnahme zu. Man denkt daran, daß sie Menschen sind, und trotz Versunkenheit oder Strafwürdigkeit doch Menschen bleiben; in diesem Sinn behandelt man sie, gönnt den Armen Unterstützung, den Kranken Zuflucht, den Gefangenen menschliche Behandlung; sammelt man die Verlornen, bewacht man die Kinder. Es könnte in dieser Richtung wol noch Manches geschehen, und vor Allem: es könnte besser geschehen, anspruchloser, schlichter. Jetzt nehmen sich Einige der Sache an, weil etwa ein König sich dafür interessirt; Andere machen eine Modesache daraus, und haben ihren Wohlthätigkeitsverein so gut wie ihre Loge im Theater oder ihre Soiree; noch Andere, besonders Frauen mit einem gewissen unruhigen Geschäftigkeitstrieb, füllen damit ihre Zeit aus. Es ist also gar nicht so beschaffen, daß wir uns damit trösten dürften. Wir fühlen uns nur so elend, daß wir bereit sind, fremdem Elend abzuhelfen; das ist’s! weiter nichts! aber ihnen, den Elenden, den Unglücklichen, den Verabsäumten, wird etwas dadurch geholfen. Bei der Menge werden sich immer verschiedene kleinliche Triebfedern finden, welche sie dem Impuls folgen lassen, den Einer gegeben, Einer, der keine andere hatte, als Liebe zu den Menschen um Gottes Willen. So war im 17ten Jahrhundert Vincent de Paule in Frankreich, der die Findelhäuser gründete, und alle Hospitäler und Gefängnisse zu verbessern strebte. So war im vorigen Jahrhundert der Abbé de l’Epée, der zuerst die geistige und moralische Erziehung der Taubstummen unternahm. Was sie thaten, scheint uns jetzt ein Kleines, weil die Sache so großen und glücklichen Erfolg gehabt, und die ganze civilisirte Welt zur Nachfolge angeeifert hat. Welche Kämpfe jene Männer zu bestehen, welche Ausdauer sie zu beweisen, welche Vorurtheile sie zu überwinden, welche tausend bittere und niederschlagende Erfahrungen sie zu machen hatten: das ist in ihren starken und muthigen Herzen begraben worden, so daß wir nichts von ihnen sehen, als ihre heilbringende, segenvolle, lichte Erscheinung. Die Reihe solcher Menschen ist nicht geschlossen, kann es nicht sein. So lange es Leid giebt, wird es Helfende geben, und es giebt noch viel, sehr viel hartes, heißes Leid auf der Welt, und in der schönen Schweiz vorzugsweise eins der herbsten – den Cretinismus, diese traurig geheimnißvolle Krankheit, die sich freilich überall, und in verschiedenen Abstufungen und Graden zeigt, aber doch grade dort wuchert. Wer in der Schweiz gewesen ist, im Berner Oberland wie in Chamouny, im Canton Uri wie im Wallis, überall wo es hohe Berge und tiefe schattige Thäler giebt, wird einen Blick des Erbarmens oder des Entsetzens für die Jammerbilder gehabt haben, die er dort gewahrt – für die durch den Cretinismus zum Stumpfsinn, ja zur Thierheit herabgesunkenen Menschen.

Es mögen jetzt ungefähr zehn Jahr sein, daß ein junger Mensch aus Zürch bei einer Wanderung durch den Canton Uri einen alten Cretin zu einem Muttergottesbilde wanken sah vor dem er ein halbvergessenes Gebet stammelte. Der Anblick ging dem Jüngling durch die Seele, und er dachte: wenn diese Jammervollen nur dahin zu bringen wären, daß der Gedanke an Gott in ihrem Bewußtsein aufdämmere, so sei keine Mühe die man an sie wende verloren. Der Gedanke verließ ihn nicht mehr, und gab seinem Leben die Richtung. Er studirte die Arzneiwissenschaften, und besonders Alles was den Cretinismus betraf, mit dem sich theoretisch schon manche gelehrte Männer beschäftigt, und der Praxis durch Beobachtung und Studium vorgearbeitet hatten. Er durchwanderte die Schweiz um Forschungen an Ort und Stelle über den Einfluß der Erd- und Luftbeschaffenheit auf die Krankheit zu machen. Er widmete all seine Zeit, seine Gedanken, seine Bestrebungen dem Zweck, den er sich vorgesetzt. Darauf ward er practischer Arzt. Er war ein einsamer Mensch, ohne Eltern, ohne Geschwister, ohne die Bande, welche unsere äußern Verhältnisse zu bestimmen pflegen, indem sie uns an und in einen gewissen Kreis weisen. Er war ganz unabhängig. Da nahm er sein kleines Vermögen, und kaufte auf dem Abendberg im Berner Oberland, einige tausend Fuß über dem Meeresspiegel, ein Stück Land, das groß genug war um ihm Wiesen zum Weideplatz für eine kleine Heerde, Wald zum Holzbedarf, und Raum für einen Garten und für ein Paar hölzerne Häuser zu geben, die er bauen ließ. Als seine kleinen Anstalten fertig waren, zog er hinauf mit einigen kranken Kindern. Jetzt hat er ihnen nichts weiter zu geben – als sein ganzes Leben. Seit zwei Jahren sind sie auf dem Abendberg.

Gott hat gewollt, daß ich an diesen umdämmerten und verschleierten Seelen einen Antheil nehme – für den es keine Worte giebt. Als ich diesen Sommer nach meiner Rückkehr aus Schweden in einer Zeitung einen kurzen Bericht über die Anstalt des Doktor Guggenbühl las, beschloß ich gleich sie sobald wie möglich zu besuchen, und am 12ten September that ich es von Interlachen aus. Es war ein trüber Tag, und kaum auf der Hälfte des Weges fing es an zu regnen, und regnete bis ich wieder am Nachmittage herabkam, so daß ich nicht die wundervolle Aussicht auf die Schneeberge, nicht die kleine Kapelle, nicht die ganze Umgebung des Hauses gesehen habe – was auch freilich nur Nebensachen sind. Ich fand den Doktor Guggenbühl mit seinen eilf Kindern in einem großen Zimmer versammelt, wo die meisten an einem Tisch saßen und theils Lectionen nahmen, theils spielten. Die Lectionen bestehen darin, daß sie sehr große Buchstaben kennen und nachsprechen lernen, nachsprechen, indem man ihren Mund in die Stellung bringt, die er beim Aussprechen jedes Buchstaben annimmt, und indem man diesen sehr laut und unablässig wiederholt. Das Spiel besteht in einer Zusammenfügung kleiner Holzstücke zu allerlei willkürlichen Figuren, oder im Bilderbesehen. Aber man muß Beides mit ihnen treiben, sonst verfallen sie in ein stupides unbewegliches Anstarren der Bilder, oder sie machen nur einen wüsten Lärm, indem sie mit dem Holz auf den Tisch schlagen. Eins saß in einer kleinen Schaukel, ein andres auf einem Wiegenpferd. Ein drittes, drei Jahr alt und vor Kurzem herausgekommen, lag da, ohne Bewegung, ohne Willen, ohne Kraft. Man hob es auf: Kopf und Glieder hingen schlaff herab. Ob es bequem liegt oder unbequem, gleichviel! es verändert nicht selbst seine Lage. Es fordert keine Speise; es ißt auch nicht allein; es würde umkommen, wenn man ihm nicht Nahrung einflößte. Das schauerliche Zeichen des Cretinismus: die Stirn, welche über den Augenbraunen eingedrückt ist, hatte es in einem so hohen Grade, daß man den Finger in die Grube legen konnte. Doctor Guggenbühl hat die Ueberzeugung, daß wenn man diese Kinder in den allerersten Jahren, oder noch besser Monaten ihres Lebens in die frische, klare, reine Bergluft bringt, ihnen angemessene leichte Nahrung giebt, die Glieder stärkt durch Bäder und Frictionen, die höchste Reinlichkeit und auch innere Mittel anwendet, und sich unablässig bemüht ihre Sinne zu wecken, Auge, Ohr, Tastsinn, welche immer geneigt sind einzuschlafen: so dürfe man hoffen sie zum Bewußtsein zu bringen. Sehr kluge und gelehrte Leute dürften sie wol nimmer werden; aber doch geschickt genug zu einem Handwerk, oder zu häuslichen und mechanischen Geschäften; und auf jeden Fall: Herr ihrer Körper würden sie werden, und nicht ein menschlich geformtes Stück Fleisch bleiben, dem alle und jede Fähigkeit zur Aeußerung einer bewußten Lebensthätigkeit fehlt. Beginnt man aber diese Behandlung bei einem solchen Kinde erst nach dem siebenten Jahr, so hält er dafür, daß sie wol den körperlichen Zustand verbessern, Krämpfe, Convulsionen lindern und heben könne, welche sich mit den Jahren einstellen und oft eine fürchterliche Höhe erreichen; doch für die geistige Entwickelung hofft er deshalb wenig mehr, weil das Gehirn bis zum siebenten Jahr die Größe und Consistenz und Beschaffenheit erlangt hat, welche es für die ganze Lebenszeit des Menschen beibehalten wird. Der ganze Organismus leidet durch das Leiden oder die Krankhaftigkeit des Gehirns, weil dies im engsten Zusammenhange mit dem Rückenmark und dessen Nerven steht, und es war mir sehr interessant, daß ich dadurch an die Ansichten über Schädelbildung des Doctor Carus erinnert wurde, von denen Doktor Guggenbühl mit lebhafter Beistimmung sprach. Doch hat er mehre Kinder, über sieben Jahr alt, aufgenommen, eben um ihren elenden körperlichen Zustand zu verbessern. Er machte eine Aeußerung, die mir hohes Vertrauen zu ihm gegeben, weil sie mir gezeigt hat, daß er das Wohl Anderer, aber nicht eine sogenannte Berühmtheit für sich selbst bezwecke. Er sagte: „Große Erfolge habe ich nicht aufzuweisen und ich strebe nicht danach.“ In Bern hatte ich ihn gleichgültig und kurzabfertigend Charlatan nennen hören. Ich nenne denjenigen Arzt Charlatan, der seine Mittel und Behandlungsweise als unfehlbar darzustellen sucht und für jede Kur den glänzendsten Erfolg gleichsam auf der Hand trägt. Wer sich aus der Wissenschaft eine Glorie zu machen strebt, kann sehr leicht ein Charlatan werden; wer die Menschheit liebt, und ihr mit seinen besten Kräften bis zur größten Selbstaufopferung zu dienen und zu nützen sucht – unmöglich! Ebensowenig gehört der Doctor Guggenbühl zu jenen unerfreulichen Sectirern, die leider überall heftig grassiren, und am heftigsten vielleicht in der Schweiz, und die statt Religion – Pietismus haben. Ohne einen tiefen Glauben an göttliche Führung, ohne demüthige Bereitwilligkeit sich der Hand unterzuordnen, welche sie lenkt, ohne die herzstärkende Zuversicht ein Werkzeug dieser Hand zu sein – kann Niemand der Menschheit Heil und Segen bringen. Er mag ohne sie wohl die Kraft haben, die Alles unternimmt, doch die Ausdauer, die Alles durchführt und die Liebe, die Alles überwindet, hat er nicht; diese Blüten gedeihen nur auf dem Grund und Boden der Religion, und wie wäre es möglich ein solches Werk der Barmherzigkeit zu beginnen ohne sie zu pflegen? Dies nenne ich fromm sein, und so halte ich den Doctor Guggenbühl für einen sehr frommen Mann. Wie er es ist, wie hoch und frei und weit die Religion ihm das Herz gemacht, geht daraus hervor, daß er in der Verschiedenheit der Confession kein Hinderniß zu einem gemeinsamen wohlthätigen Wirken sieht. Er nahm als Pflegerinnen für seine Kinder zwei barmherzige Schwestern aus dem katholischen Canton Freiburg. Die liberalen Herrn von Bern, die ihm für seine Anstalt eine kleine Beihülfe von 600 Schweizerfranken gegeben, nahmen ihm nach dem Beschluß einer Synode die frommen Frauen, aus Furcht vor deren Proselytenmacherei. Voll so heiligen Eifers ist die reformirte Kirche zu Bern! die unsäglich wohlthätige Wirksamkeit der Soeur Rose ist nicht ersetzt, obgleich er zwei Frauenzimmer gefunden hat, die sich mit Geduld und Liebe ihrer schweren Pflicht bei den Kindern widmen. Er glaubt wie ich: daß ein solcher Beruf besser durch Frauen ausgeführt werde, die sich ganz von allen irdischen Banden abgelöst haben, und bei ihrem Wirken nur an die himmlische Zukunft denken. Darum will er es mit den reformirten Soeurs grises versuchen, welche jetzt ein methodistischer Pfarrer zu Lausanne heranbildet, sobald sie ihre öffentliche Thätigkeit beginnen. Die Katholikinnen sind ihm so willkommen wie die Methodistinnen, sobald derselbe, der alleinige göttliche Geist – die Liebe! sie beseelt. Außer jenen Frauenzimmern hat er in einem jungen Menschen, den er dazu herangebildet, einen geduldigen und treuen Helfer gefunden, der mit unglaublicher Sanftmuth den Lectionen und Spielen der Kinder vorsteht. Zwei Mägde, welche die Küche und das Haus, – zwei Knechte, welche Garten und Heerde besorgen, gehören mit in diesen Kreis. Die Heerde besteht aus einem Dutzend Ziegen, vier Kühen, zwei Eseln, als Lastthieren, und einem Pferd. Wiesen und Garten sind ergiebig und die Kirschbäume gedeihen vortrefflich. Die Einrichtung des Hauses ist einfach bis zur Aermlichkeit; hölzerne Wände, Bänke, Stühle; arme kleine Betten. Die beiden engen Zimmerlein des Doctor Guggenbühl sind wahre Zellen! ein Schreibtisch, ein Bücher- und ein Apothekerschrank in dem einen – in dem andern sein Bett, und ein großer Tisch vor einem Sopha, der für Fremde bestimmt ist – das füllt sie; und an so wenig Bedürfnisse kann man sich gewöhnen, wenn man die eigene Person einer höheren Idee unterordnet.

Die meisten Kinder haben blutarme Eltern, die nichts zahlen können. Hauptsächlich lebt und zehrt die kleine Anstalt von ihrem Eigenthum, ihrem Grund und Boden; Gemüse, Milch, Brennholz giebt es da oben. Ferner ist der Doctor Guggenbühl practischer Arzt, freilich nur in den Dörfern des Thals von Interlachen; das mag ihm einiges Einkommen verschaffen. Milde Seelen giebt es denn doch auch in der Nähe und Ferne, die sich für ein so menschenfreundliches Unternehmen durch Unterstützung theilnehmend erweisen, und ein Gotteskasten steht in dem großen Zimmer, wo der Fremde die Kinder beisammen findet. So existirt die kleine Anstalt. Gott segne und behüte sie! Hat einst die heilige Theresie gesagt als sie die Reformation des Carmeliterordens unternahm: „Theresie und 9 Dukaten, das ist sehr wenig, aber Gott, Theresie und 9 Dukaten ist genug;“ hat einst der Abbé de l’Epée mit seinem geringen Einkommen von 2000 Franken zehn Jahr lang seine geliebten taubstummen Zöglinge erhalten: so wird Gott denn auch wol sorgen für die Kinder auf dem Abendberg. Ich aber habe mir das Wort gegeben die Herzen für sie zu erwärmen und zu gewinnen so sehr ich kann; denn dies ist eine große und heilige Angelegenheit der ganzen Menschheit! denn diese Armen, diese Elenden, diese Versunkenen sind unsers Geschlechts! Ja, ja! sind ebensogut unsers Geschlechts als die hohen und großen Geister, mit denen die Verwandtschaft unserm stolzen Geiste so wohl thut, sind auch mit Schmerzen von ihren Müttern geboren, sind auch mit Freuden von ihren Vätern begrüßt, sind auch bestimmt der Segnungen theilhaft zu werden, die Gott den Menschen während ihres irdischen Lebensabschnittes ertheilt, sind auch begnadet mit einer unsterblichen Seele, welche nur nicht der krankhaft irdischen Stoffe Herr werden kann, die sich um sie ballen, und für welche der Tod, mehr noch als für uns Alle, eine selige Befreiung sein wird. Keines dieser Kinder war boshaft oder hämisch; das werden sie nur da draußen, wenn man sie neckt und plagt. Im Gegentheil! die, welchen das Bewußtsein aufdämmerte waren freundlichen Gemüths, reichten ihren Pflegern die Hand, suchten sich an sie zu schmiegen, suchten sie anzulächeln, was freilich auf den armen mißbildeten Gesichtern sehr unlieblich aussah. Ein kleines Mädchen wurde gar nicht müde uns, den Fremden, die Hand zu geben, und ein siebenjähriger Knabe, kaum ellenhoch, kam mühselig an seinem Stock daher gewankt, und sah mich an so freundlich er nur konnte. Ach, sie haben ja kein andres Mittel um ihr Wohlwollen auszudrücken; denn sprechen konnte Keines. Die Buchstaben und den eignen Namen nennen konnten Einige, und das hatten sie erst da oben gelernt. Aber weil sie doch wenigstens das gelernt haben, so giebt das Muth um an die Möglichkeit der Erweiterung ihrer Begriffe und Vorstellungen zu glauben. Die ersten Jahre sind für die Entwickelung des Cretinismus die gefährlichsten, die entscheidenden. Sind die Kinder in gesunder Luft und Pflege erwachsen oder auch nur herangewachsen, so dürfen sie in ihre Thäler zurückkehren ohne Furcht der Krankheit zu verfallen, doch freilich nicht mit der Gewißheit dereinst ihren Kindern ihre Gesundheit zu übertragen, denn es ist nichts Seltenes, daß die Kinder ganz starker, gesunder Eltern mit dem räthselhaften Uebel geboren werden. Fährt man aber fort sich nicht blos theoretisch, sondern auch practisch mit dessen Bekämpfung zu beschäftigen, so ist nicht vorauszusehen wie weit man in der Erkenntniß und Beherrschung des Cretinismus noch kommen, und zu welchen trostreichen Resultaten man gelangen könne.

Mir war es eine unsägliche Erquickung inmitten unserer Zeit einen Menschen zu finden, der sich in Ruhe und Stille der Wohlfahrt seiner Mitmenschen annimmt, keine Verse und Phrasen über ihr Heil macht, weder eine prunkende Wissenschaft noch eine starre Religiosität zum blendenden Aushängeschild für die Menge braucht, und nicht philanthropisch, sondern barmherzig ist, d. h. nicht menschenfreundlich mit einem Rückblick auf das eitle Ich, sondern menschenfreundlich mit dem Aufblick zu Gott.

Als wir nach ein Paar Stunden fortgehen wollten hing ein dichter Nebel, der als feiner Regen herabfiel, um den Berg, und verhüllte den schmalen steilen Fußpfad, indem er ihn zugleich sehr schlüpfrig machte. Der Doctor Guggenbühl gab mir zur Stütze einen Knecht mit, an dessen Arm ich wohlbehalten herabkam. Dieser Mann – ebenfalls ein Zürcher, wie auch der junge Lehrer der Kinder – hatte ohne im geringsten ein Geßnerscher Schäfer zu sein, ein so gutes verständiges treuherziges Wesen, daß es mir sehr angenehm war ihn sprechen zu hören von dem Leben und den Einrichtungen da oben. Jedes Wort drückte herzliche Verehrung für seinen Herrn, und herzliche Theilnahme für die Kinder ganz unbefangen aus, und dazwischen lobte er das Gedeihen seiner Heerde und seiner Gartenfrüchte eben so herzlich. „Der Berg giebts gern“ – antwortete er auf meine Frage ob der Boden fruchtbar sei. Als wir durch das große Dorf Matten am Fuß des Abendbergs gingen, riefen ihn die Leute unter ihren Hausthüren an: „Wie gehts auf dem Berg? was machen die Kinder?“ und er mußte ihnen Rede stehen. Wie diese Theilnahme mich freute! Und wer von uns könnte sie versagen? Lob, Ehrenzeichen, Beifall, Auszeichnungen, sind tausendmal durch Mißbrauch entweiht, und können Keinen freuen, der für eine Idee lebt. Aber ein Wort des Danks, ein Händedruck, ein Zeichen der Theilnahme an seinem Werk: das freut ihn, weil es ihm zeigt, daß es eine Gemeinschaft der Guten auf Erden giebt.

Dresden, im November 1842.

Gedruckt bei A. W. Schade, Grünstraße 18.

Berlin.
Verlag von Alexander Duncker,
Königl. Hofbuchhändler.
1843.

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert.