The Project Gutenberg eBook of Wilhelm Hauffs sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 1

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Wilhelm Hauffs sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 1

Author: Wilhelm Hauff

Annotator: Alfred Weile

Release date: November 8, 2019 [eBook #60647]

Language: German

Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK WILHELM HAUFFS SÄMTLICHE WERKE IN SECHS BÄNDEN. BD. 1 ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert.

Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches.

W. Hauff.

Wilhelm Hauffs
sämtliche Werke in sechs Bänden

Mit einer biographischen Einleitung von Alfred Weile

Neu durchgesehene Ausgabe
:: :: in neuester Rechtschreibung :: ::

Erster Band.

A. Weichert, Verlagsbuchhandlung und Buchdruckerei Berlin NO.43 Neue Königstr. 9


Erster Band.

Hauffs Leben von Alfred Weile.

Gedichte. – Novellen I.


Inhaltsverzeichnis.

Seite
Biographische Einleitung 5
Gedichte 17
Novellen. Erster Teil 57

[5]

Nachdruck verboten.

Hauffs Leben.

(Nach G. Schwab.)

Wilhelm Hauff ward zu Stuttgart, wo sein Vater als Regierungssekretär lebte, am 29. November 1802 geboren. Er war erst sechs Jahre alt, als sein Vater, der als »Anhänger des guten alten Rechts« (1799) acht Monat schuldlos im Gefängnis auf Hohenasperg saß, nach Tübingen an das Oberappellationstribunal versetzt wurde, 1808 als Ministerialsekretär wiederum nach Stuttgart berufen, dort im darauffolgenden Jahre starb. Seinen Großvater, der Landschaftskonsulent war, hat Hauff trefflich in dem alten, ehrenfesten, am Rechte haltenden Lanbek im »Jud Süß« gezeichnet. Die Witwe Hauff, Tochter des Obertribunalrats Elsäßer in Tübingen zog nach dem Tode ihres Gatten mit ihren Kindern nach ihrer Vaterstadt zurück. Diese vortreffliche Frau hatte durch ihre sittliche, veredelnde Erziehung einen wohltätigen Einfluß auf das weiche, empfängliche Gemüt des Knaben; sein Talent zu erzählen, bildete sich im häuslichen Kreise unter der Mutter, die selbst eine vorzügliche Erzählerin war, und der Schwester früh aus.

Er besuchte mit seinem älteren Bruder Hermann, der ein großes Sprachentalent und Gedächtnis vor ihm voraus hatte, die Schola anatolica – nach dem Mons anatolicus, einem Vorhügel des Oesterberges bei Tübingen benannt.

Eine rege Aufmerksamkeit auf alles und ein glückliches Auffassungsvermögen führten ihn zur selbständigen Ausbildung seines Geistes; auffallend war schon im zehnten und elften Jahre sein Hang zu den Gebilden der Phantasie und er schwärmte für leichte Historien und Romane; mit sehr viel Laune hat er später in seinem ersten Bande der »Memoiren des Satan« diese Neigung dargestellt und uns ein komisches Bild von seinem eigenen poetischen Treiben in der Schule gegeben.[6] Wenig geneigt zu den lärmenden Spielen der Knaben im Freien, war den Brüdern der große Büchersaal des alten Großvaters der liebste Tummelplatz, wo die Knaben in mannigfaltigen Spielen darstellten, was sie in den Bildern der Folianten gesehen hatten; namentlich prägte sich ihnen das Mittelalter und die Zeit des Uebergangs in die neuere Geschichte lebhaft ein; auch die neueste Geschichte ging nicht leer aus, und hier waren es die Gespräche des Großvaters mit seinen Freunden, denen die Knaben unbemerkt hinter dem Ofen lauschten; in seinen Novellen finden sich oft Eindrücke aus der napoleonischen Epoche wieder.

Auf diesem Wege schuf sich der jugendliche Geist aus den mannigfachen Bildern ein Bild der Natur und des Menschen, dessen Umrisse immer bestimmter und fester wurden; er gewöhnte sich früh daran, jene Bilder mit Sicherheit im Gespräche zu handhaben, und legte dadurch den Grund zu der Darstellungsgabe, die später sein Hauptverdienst war.

Sein überraschendes Deklamationstalent gab die Veranlassung, ihn zum künftigen Prediger zu bestimmen und er wurde mit ziemlich mittelmäßigen Kenntnissen 1817 in die Klosterschule zu Blaubeuren aufgenommen. Viel hatten zur Vernachlässigung der klassischen Studien eine zarte Konstitution und periodische Krankheit beigetragen und erst in dem prächtigen gesunden Albtale bei Blaubeuren fing seine Gesundheit an zu erstarken.

Mit mehr Sinn für Literatur und Kunst als für Theologie und Philologie bezog er 1820 die Universität Tübingen. – Wenn er auch wenig Geschick zu den ritterlichen Fertigkeiten des Burschenlebens zeigte, so nahm er doch an allem lebendigen Anteil, was jugendliche Gemüter in jener Periode begeisterte und er tat sich unter den Dichtern und Rednern der damals, wenigstens noch in Tübingen und anderen kleineren Universitäten, blühenden Burschenschaften hervor. Die Stimmung der Zeit, die wehmutsvolle Sehnsucht nach Freiheit, die Erinnerung an die zahlreichen Siege und Opfer spricht sich in vielen seiner Gedichte aus; auch wurden einige seiner Lieder bei dem Wartburgfeste vorgetragen.

Den engern Kreis seiner Freunde ergötzte er durch seine glücklichen Einfälle, seine Gesprächigkeit und Munterkeit, seine Extravaganz. Doch selbst im Zustande burschikoser und geselliger Exaltation ließ er nie Besonnenheit vermissen. Obgleich jugendlich-eitel, reizbar und empfindlich, hörte er doch mit seinem[7] Humor nicht, wie so viele Humoristen, an sich selbst auf, sondern er war der erste, der seine eigenen kleinen Schwachheiten zu bespötteln und in ihrer Beharrlichkeit als Karikatur an sich selbst darzustellen kein Bedenken trug. Zuweilen warf er seine Einfälle aufs Papier mit seltener Leichtigkeit und Gewandtheit, weder eigene noch fremde Schwäche scheuend.

1824 machte er das Doktorexamen und sah sich als Kandidat der Theologie nach einer geeigneten Stelle um. Durch die Vermittlung eines älteren Freundes fand er in dem Hause des Kriegsrat-Präsidenten General Freiherr von Hügel in Stuttgart eine Stellung als Hauslehrer und bekleidete diese Stelle bis zum Frühjahr 1826. In dieser liebenswürdigen, feingebildeten Familie lernte er die Formen des höheren geselligen Lebens in der Nähe kennen; der heitere, natürliche Ton des Hauses erlaubte ihm, manches schöne, frische Bild aus dem Leben aufzufassen, und solche lebendige Eindrücke blühten unmittelbar, nachdem er sie empfangen, als irgend eine anmutige Schilderung in seinen Dichtungen wieder auf. Seine Stellung ließ ihm Zeit zu Studien und Arbeiten; auch bestand er 1825 das zweite theologische Examen.

Das erste kleine Werk, mit dem er 1825 öffentlich auftrat, ist der »Märchenalmanach auf das Jahr 1826 für Söhne und Töchter gebildeter Stände«. Zunächst für seine Zöglinge niedergeschrieben, beweist diese kleine Sammlung Hauffs eigentliches Dichtertalent; diese Märchen, deren ursprünglicher Stoff zwar nicht ihm selbst angehört, die jedoch mit freiem Phantasiespiel behandelt und schön abgerundet sind, gehören mit zu den besten seiner Werke; im Almanach für 1827 folgte eine weitere Reihe prächtiger Märchen. Die besten davon, die nicht allein jugendliche Gemüter fesseln, sondern auch von dem gereiften Manne mit immer neuer Freude gelesen werden können, gehören nicht rein dem Gebiete des Märchenhaften an – nein! diese sagenhaften Geschichten aus dem Spessart ergreifen das Herz und eine lebendige unvergängliche Jugendfrische steigt aus diesen Gebilden hervor.

Unmittelbar auf diesen ersten Märchenalmanach folgt der erste Teil der »Mitteilungen aus den Memoiren des Satan«, die reich an heller Phantasie und glücklicher Darstellungsgabe sind und in denen ein kecker Humor und treffende Satire walten. Die barocke Studentenwelt, von deren Anschauung der junge Mann eben erst herkam, gab ihm hier vielfache Gelegenheit, sein Talent zu üben; diese Satansmemoiren[8] erregten Aufsehen und verschafften dem Verfasser einen ausgebreiteten Ruf, erzeugten aber auch seiner Zeit durch ihre satirischen Ausfälle manchen Aerger, manche Empfindlichkeit und besonders wurde ihm der Angriff auf Goethe und seinen Faust sehr verübelt. Manche dieser Skizzen, in denen er Figuren aus seinen Bekanntenkreisen gezeichnet hat, sind von zwingendem Humor und reicher Satire, in denen Hauff eine Meisterschaft besaß. Die Novelle »Der Fluch« scheint Hauff eingeflochten zu haben, weil er vielleicht die eigentliche Lust zur Fortsetzung dieser Mitteilungen verlor.

Da Hauff merkte, wie leicht ihm die Darstellung wurde und daß ihn seine Beobachtungsgabe auch für moderne Stoffe befähigte, entschloß er sich aus der idealen Märchen- und Phantasienwelt in die realere des Konversationslebens überzugehen. Im Winter 1825 bis 1826 schrieb er den »Mann im Mond«, einen kleinen Roman aus dem modernen Leben. Nach Andeutungen von G. Schwab und nach den Erinnerungen von Wolfgang Menzel scheint Hauff zuerst lediglich die Absicht gehabt zu haben, das große Publikum zu interessieren. Wolfgang Menzel, der das Manuskript gelesen hatte, machte ihm die größten Vorwürfe, ein Machwerk à la Clauren (Hofrat Heun in Berlin) geschrieben zu haben, und daß sein Flug nicht höher ginge als der des Berliner Hofrats. Er gab ihm den Rat, die Farben noch viel stärker aufzutragen und dann das Buch unter Claurens Namen erscheinen zu lassen. Hauff befolgte den Rat. Es steht jedoch noch in Frage, ob Menzels Darstellung eine richtige ist; sie wird von vielen neuerdings bestritten. Jedenfalls schaffte Hauff somit eine köstliche Satire auf Clauren, eine verkehrte und verwerfliche Manier mehr durch Uebertreibung, als durch Spott und Verhöhnung derselben bekämpfend.

Wilhelm Hauff fühlte jedoch später, was er sich denjenigen gegenüber schuldig war, die ernstere Rechenschaft von dem Schriftsteller fordern; er griff den Gegner in seiner durch Gesinnung und Ausdruck nicht minder als durch beißenden Witz und echten Humor ausgezeichnete »Kontroverspredigt« auf eine gründlichere und entschiedenere Weise an. Seine Kontroverspredigt ist eine von sittlicher Entrüstung getragene vernichtende Kritik der Claurenschen Manier.

Der Ruhm, den Hauff bei dem großen Publikum durch seinen »Mann im Mond« gefunden und die Lust, sich mit modernen Schriftstellern zu messen, führte ihn immer mehr den[9] Darstellungen der modernen Welt und dem eigentlichen Konversationstone in der Novelle zu. So entstand eine Reihe von Erzählungen, die in belletristischen Zeitschriften und Taschenbüchern erschienen – nur »Jud Süß« schrieb er später – und der zweite Teil der Satansmemoiren.

Der Erfolg, den Walter Scott mit seinen historischen Romanen auch in Deutschland hatte, veranlaßte ihn, einen deutsch-historischen Roman zu schreiben, und er begann seinen »Lichtenstein,« den er in sehr kurzer Zeit beendete. Diese romantische Sage fand großen Beifall in ganz Deutschland. Der anmutige Stoff ist keine Sage, sondern reine Erfindung des Verfassers, die sich wie Efeu hinaufrankt an das alte Felsenschlößchen Lichtenstein. Trotz mancher Mängel der Anlage und Charakterzeichnung sind doch große Schönheiten im einzelnen und Hauff würde bei einem zweiten Romane dieser Art gewiß etwas Vollkommenes erreicht haben. Hauff ist in der Charakterisierung des Herzogs Ulerich von Württemberg bedeutend von der historischen Wahrheit abgewichen und hat ihn viel zu ideal geschildert, sich auch im ganzen große geschichtliche Licenzen erlaubt, doch spricht aus diesem Roman ein so edler, hoher Sinn, er ist so getragen von des Autors liebevoller Vertiefung in die Vergangenheit seines Heimatlandes, so viele erschütternde, poetische und auch komische Szenen schmücken das Werk, daß »Lichtenstein« stets eine Perle unseres Sagenschatzes bleiben und zu den Lieblingsbüchern unseres Volkes gehören wird.

Nach Vollendung seines Lichtensteins verließ Hauff seine bisherigen Verhältnisse. Der Ertrag seiner literarischen Arbeiten erlaubte ihm eine Reise zunächst über Frankfurt und Mainz nach Paris und dann durch Belgien und Norddeutschland. Seine Liebenswürdigkeit erwarb ihm auf diesen Wanderungen allenthalben, besonders in Dresden, Berlin und den Hansestädten persönliche Freunde unter allen Klassen der Gesellschaft.

Durch den Kriminaldirektor Hitzig in Berlin, den er in Hamburg kennen gelernt hatte, wurde dem jungen Württemberger der Aufenthalt in der preußischen Hauptstadt so angenehm wie möglich gemacht, namentlich dadurch, daß er ihn mit den literarischen Kreisen vorzüglich mit der berühmten Mittwochs-Gesellschaft und ausgezeichneten Männern in Verbindung brachte. Im Spätherbst 1826 kehrte er nach Stuttgart zurück, durch Eindrücke gestärkt und Erfahrungen bereichert. Für die Poesie trugen Hauffs Reisen nur eine zur vollen Reife gekommene[10] Frucht, die prächtigen »Phantasien im Bremer Ratskeller«, womit er im Herbst 1827 den Freunden des Weines ein Geschenk machte. Diese glückliche Mischung von übermütigem Humor und poetischem Ernst, diese lebendige Charakterisierung der köstlichen Figuren sichern den Phantasien durch ihre echte, feurige Poesie einen dauernden Wert. Kurz vorher hatte er die Erzählung »Das Bild des Kaisers« geschrieben, in der historische und poetische Wahrheit zugleich enthalten ist; er hat hierin dem obengenannten Baron von Hügel ein Denkmal gesetzt, der seiner Zeit Adjutant von Napoleon war.

Nach der Heimat zurückgekehrt, übernahm Hauff am 1. Januar 1827 die Redaktion des im Cottaschen Verlage erscheinenden »Morgenblatts für gebildete Stände,« dem er einen neuen Aufschwung verlieh; er brachte in demselben einige Abhandlungen und Skizzen. Im Februar desselben Jahres verheiratete er sich mit einer Cousine seines Namens, mit der ihn längst eine zarte Neigung verbunden hatte. Seine Freunde erzählen heitere Geschichten von dem Bestreben des jungen Mannes, diese Liebe, die den Verhältnissen gemäß den allergeradesten Gang hätte nehmen müssen, ins Gebiet des Phantastischen und selbst der Intrige hinüberzuziehen, so sehr war ihm romantische Verwicklung auch im täglichen Leben Bedürfnis. Dieser Bund schien übrigens sein Lebensglück dauerhaft zu begründen und gab ihm neue Lust zur Arbeit. Er trug sich mit dem Gedanken, einen historischen Roman zu schreiben, dem die Kämpfe in Tirol im Jahre 1809 zugrunde liegen sollten, und zu diesem Zwecke machte er im Juli eine Reise nach Tirol. –

Leider nahte ihm im neuen, jungen Glücke ein früher Tod.

Die Freude über die Geburt eines Töchterchens fand ihn schon durch Unpäßlichkeit gedrückt, die durch angestrengte Dienste am Kranken- und Sterbebette eines durch einen Sturz verunglückten teueren Freundes verursacht war. Bei der Beerdigung eines andern lieben Freundes zog er sich eine heftige Erkältung zu, und ein tückisches Nervenfieber beschlich den Widerstrebenden, der gewaltsam zur gewohnten und ihm so lieben Arbeit zurückkehren wollte.

Wenige Stunden, so erzählt sein Bruder, bevor das Fieber seine Sinne in wilden Taumel riß, belebte die Freude zum letztenmal seine Züge bei der Kunde von der Seeschlacht bei Navarin; das Ereignis, das so viele Dichter zu politisch-poetischen Erzeugnissen begeisterte und Freude in der ganzen gebildeten[11] Welt erregte, konnte er nicht mehr besingen, er konnte sich nur darüber freuen; er nahm die Freude hinüber in des Fiebers Wahnsinn, und es war rührend zu hören, wie er, sich für den Schlachtboten nach dem Jenseits haltend, mehr als einmal rief: »Laßt mich, ich muß hin, ich muß es Müller sagen!« denn kaum vor zwei Monaten hatte er in Stuttgart Wilhelm Müller, den Sänger der Griechenlieder, persönlich kennen gelernt und seit wenigen Wochen seinen jähen Tod betrauert.

Wilhelm Hauff entschlief sanft, indem er von den Seinigen Abschied nahm und Gott »seinen unsterblichen Geist« empfahl, am 18. November 1827. Die Teilnahme an seinem frühen Tode war allgemein und sie sprach sich in Stuttgart durch eine sehr zahlreiche Begleitung zum Grabe laut und rührend aus. Seine geistigen Mitarbeiter wetteiferten, ihn in Nachrufen zu feiern.

Den schönsten Nachruf widmete Wilhelm Hauffs frühem Hinscheiden Ludwig Uhland:

Dem jungen, frischen, farbenhellen Leben,
Dem reichen Frühling, dem kein Herbst gegeben,
Ihm lasset uns zum Totenopfer zollen
Den abgeknickten Zweig – den blütenvollen!
Noch eben war von dieses Frühlings Scheine
Das Vaterland beglänzt. – Auf schroffem Steine,
Dem man die Burg gebrochen, hob sich neu
Ein Wolkenschloß, ein zauberhaft Gebäu.
Doch in der Höhle, wo die stille Kraft
Des Erdgeists – rätselhafte Formen schafft:
Am Fackellicht der Phantasie entfaltet,
Sah'n wir zu Heldenbildern sie gestaltet;
Und jeder Hall, in Spalt und Kluft versteckt,
Ward zum beseelten Menschenwort erweckt.
Mit Heldenfahrten und mit Festestänzen,
Mit Satirlarven und mit Blumenkränzen
Umkleidete das Altertum den Sarg,
Der heiter die verglühte Asche barg:
So hat auch er, dem uns're Träne taut,
Aus Lebensbildern sich den Sarg erbaut.
Die Asche ruht – der Geist entfleucht auf Bahnen
Des Lebens, dessen Fülle wir nur ahnen,
Wo auch die Kunst ihr himmlisch Ziel erreicht
Und vor dem Urbild jedes Bild erbleicht.

[12]

Hauffs literarischer Nachlaß war gering; die erste Ausgabe seiner sämtlichen Werke wurde durch Gustav Schwab veranstaltet, der mit ihm im persönlichen Verkehr gestanden hatte. Hauffs heiterer, phantasievoller Geist, sein sinnendes Gemüt, sein jugendfrisches, liebenswürdiges Wesen spricht lebendig aus allen seinen Werken, die hierdurch und durch das gewandte Erzählertalent ihren Wert erhielten und zu Schätzen deutscher Literatur wurden.

Alfred Weile.


[13]

Gedichte.


[15]

Gedichte.

Seite
Der Schwester Traum 17
Mutterliebe 19
An die Freiheit 20
1. Zur Feier des 18. Junius 1824 21
2. Zur Feier des 18. Junius 1823 23
3. Zur Feier des 18. Junius 1824 23
4. Zur Feier des 18. Junius 1824 24
Turnerlust 25
Das Burschentum 26
Trinklied 27
Reiters Morgengesang 28
Soldatenmut 29
Prinz Wilhelm 30
Soldatentreue 32
Soldatenliebe 33
Hans Huttens Ende 33
Entschuldigung 35
Jesuitenbeichte 37
Regel für Kranke 38
Schriftsteller 39
Lehre aus Erfahrung 40
Amor der Räuber 40
Stille Liebe 41
Hoffe 41
Trost 43
Sehnsucht 44
Ihr Auge[16] 45
Serenade 46
Lied aus der Ferne 46
Die Freundinnen an der Freundin Hochzeittage 47
An Emilie 48
Der Kranke 49
Grabgesang 50
Aus dem Stammbuche eines Freundes 51
Logogryph 51
Rätsel, drei 52
Scharade 53

[17]

Der Schwester Traum.

Sie schläft. – Es ist die letzte Nacht des Jahres,
Und wenn die Morgenglocken wieder tönen,
Grüßt eine neue Zeit das holde Kind.
Man sagt, in dieser letzten Mitternacht
Entsteigen ihren Gräbern manche Schatten,
Die Seelen schweben von dem Himmel nieder,
Die Heimat und die Freunde zu besuchen.
Auch sie gedachte dieser alten Sage,
Als sie im stillen, einsamen Gemach
Die Ruhe suchte, und den schönen Augen
Entströmten Tränen. Doch, nicht kind'sche Angst
Vor der geheimnisvollen Wiederkehr
Geschiedner Geister trübte ihre Blicke;
Nein, die Erinnrung an geliebte Schatten,
Die Wehmut um so manches teure Grab
Senkte sich nieder in die stille Seele;
Sie hat für sie gebetet und geweint.
Sie schlummert, und es nahen die Verlornen,
Die schönen Toten, ihrem stillen Lager;
Die Schwestern ihrer Jugend stehen auf
Von einer Welt, wo keine Blüte stirbt.
Erkennst du sie? Du siehst sie nimmer wieder
Als blühende, als irdische Gestalten;
Nicht wie sie Blumen pflückten, Kränze banden,
Nicht wie sie um den trauten Winterherd
Die schaurig schönen Märchen dir erzählten,
Nicht wie du ihnen unter Lust und Scherz
Zum Maientag die schönen Haare flochtest: –
Dies alles blieb in ihrem frühen Grab.
Sie nahen dir mit geisterhaftem Schimmer,
Umstrahlt von heil'gem, überird'schem Glanz.
Doch, sind die Blütenkränze abgestreift,
Ist ihrer Jugend Schmuck im Sarg zerfallen,
[18] Sie bringen doch die alte Liebe mit,
Und sanfter, als in ihrer Erdenschöne,
Und weich und zärtlich wie der Lampe Licht,
Das deine milden Züge still umschwebt,
Sind sie genaht, und deinem geist'gen Blick
Begegnen grüßend ihre lichten Augen,
Von Strahlen der Unsterblichkeit gefüllt.
Sie segnen dich; von ihren heil'gen Lippen
Ertönt es wie der Aeolsharfe Ton,
Wenn lieblich flüsternd durch die feinen Saiten
Der Hauch des Abends weht: »Geliebte Schwester,
Wir denken deiner und wir sind dir nah,
Und segnend schweben wir um deine Tritte;
So oft dein Aug' im schönen Morgenrot,
Im heitern Blau des Mittags sich ergeht,
Trifft uns dein Blick; siehst du den Wölkchen nach,
Die in dem Meer der Abendröte segeln,
Dort schiffen wir; und auf des Mondes Strahl,
Der mild und freundlich in dein Fenster fällt,
Entschweben wir von deinem stillen Lager
Mit deinen Tränen nach den sel'gen Höhn.«
So flüstern sie und neigen sich herab,
Die Stirn der teuern Schlafenden zu küssen
Und dann beflügelt, eh' sie schnell erwacht,
Eh' ihre Augen die Erscheinung haschen,
Im milden Strahl des Mondes aufzuschweben
Nach sel'gen Höhn. Ja dort, wo anders fände
Die Schwesterliebe ihre ew'ge Heimat?
So stürmisch nicht, nicht so voll hoher Worte
Wie Bruderliebe, doch nicht minder tief,
Gleicht sie dem Bergsee, der in heil'ger Stille
Den Himmel und die friedlichen Gestade
Getreuer widerspiegelt als der Bergstrom,
Der Bild und Ufer in sein Bett begräbt.
Ja, tief und selig ist die Schwesterliebe,
Und zarter, rührender erscheint sie kaum,
Als wenn sie über Gräbern noch sich findet
Und Tote leben in der Schwester Traum.

[19]

Mutterliebe.

Mutterliebe!
Allerheiligstes der Liebe!
Ach! die Erdensprache ist so arm,
O, vernähm' ich jener Engel Chöre,
Hört' ich ihrer Töne heilig Klingen,
Worte der Begeistrung wollt' ich singen:
»Heilig, heilig ist die Mutterliebe!«
Wie die Sonne geht sie lieblich auf,
Blickt herab, den Blick voll süßen Frieden,
Lächelt freundlich ihrer jungen Blüten –
Und die Pflanze sproßt zum Licht hinauf.
Rauhe Stürme ziehen durch die Flur,
Und die junge Pflanze bebet,
Doch die Sonne blickt durch die Natur,
Und die junge Pflanze lebet,
Neu erwärmt von ihrem Blick, und strebet
Höher noch zu ihrer Sonne auf.
Mutterliebe! du, du bist die Sonne!
O wie leuchtest du der Blüte doch so warm!
O wie heilig ist die Mutterwonne,
Wenn das Kind umschlingt der treue Arm!
So am Abend, so am Morgen,
Nie ermattet sie,
Wacht in Freuden, wacht in Sorgen
Spät und früh.
Sie begießt mit Muttertränen
Ihrer Augen Lust,
Wärmet sie mit stillem Sehnen
An der treuen Brust.
Süße Hoffnung schwellt die Mutterbrust,
Daß die Blüte werd' zur Knospe keimen,
Früchte sieht sie in den süßen Träumen.
Heil'ge, reine Mutterliebe,
Daß sich nie dein stiller Himmel trübe!
[20]
Mutterliebe!
Allerheiligstes der Liebe!
Dir ertönten jener Engel Chöre;
Als der Herr zur Erde niederstieg,
Wollt' er an der Mutterlieb' erwarmen
Und erwachte in der Mutter Armen.
Sinket nieder,
Schwestern, Brüder,
Fleht zu dem, der Mutterlieb' gekannt,
Der sie schuf, sein reinstes Seelenband.
Fleht mit uns, ihr Geister unsrer Lieben,
Tragt es aufwärts, unser kindlich Flehn,
Tragt's hinauf zu jenen Sternenhöh'n,
Werft euch nieder vor des Vaters Thron,
Fallet nieder vor der Mutter Sohn,
Daß auf uns er seine Gnade senke
Und den süßen Trost uns immer schenke –
Das segensvolle Heiligtum der Liebe,
Der Mutterliebe!

An die Freiheit.

Was mir so leise einst die Brust durchbebte,
Als ich zuerst zum Jüngling war erwacht,
Was sich so hold in meine Träume webte,
Ein lieblich Bild aus mancher Frühlingsnacht;
Und was am Morgen klar noch in mir lebte,
Was dann, zur lichten Flamme angefacht,
Mit kühner Ahnung meine Seele füllte –
Es wären nur der Täuschung Luftgebilde?
Was ich geschaut im großen Buch der Zeiten,
Wenn ich der Völker Schicksal überlas,
Was ich erkannt, wenn ich die Sternenweiten
Der Schöpfung mit dem trunknen Auge maß,
Was ich gefühlt bei meines Volkes Leiden,
Wenn sinnend ich am stillen Hügel saß –
Ich fühle es an meines Herzens Glühen,
Es war kein Traumbild eitler Phantasieen!
[21]
Du, stille Nacht, und du, o meine Laute!
Nur euch, ihr Trauten, hab ich es gesagt;
Ertönt's noch einmal, was ich euch vertraute,
Erzählt's dem Abendhauch, was ich geklagt,
O sagt's ihm, was ich fühlte, was ich schaute,
Und was mein ahnend Herz zu hoffen wagt;
O Freiheit, Freiheit, dich hab' ich gesungen,
Und meiner Ahnung Lied hat dir geklungen!
Die müde Sonne ist hinabgegangen,
Der Abendschein am Horizont zerrinnt,
Doch du, o Freiheit, spielst um meine Wangen,
Stiegst du hernieder mit dem Abendwind?
Nach dir, nach dir ringt heißer mein Verlangen,
Ich fühl's, du schwebst um mich, so mild, so lind.
O weile hier, wirf ab die Adlerflügel!
Du schweigst? Du meidest ewig Deutschlands Hügel?
Wohl lange ist's, seit du so gerne wohntest
Bei unsern Ahnen in dem düstern Hain:
Dünkt dir, wie gern du auf den Bergen throntest
Vom eis'gen Belt bis an den alten Rhein?
Mit Eichenkränzen deine Söhne lohntest?
Das schöne Land soll ganz vergessen sein?
Noch denkst du sein; es wird dich wiedersehen,
Wird auch dein Geist dann längst mein Grab umwehen.

Zur Feier des 18. Junius 1824.

I.

Seid mir gegrüßt im grünen Lindenhain,
Seid mir gegrüßt, ihr meine deutschen Brüder;
Auf! sammelt euch in festlich frohen Reihn,
Stimmt fröhlich an des Sieges Jubellieder;
Daß heut der stolze Adler niedersank,
Daß sich mein Volk einlöste mit dem Schwerte
Sein Heldentum, der Freiheit Ruhm, die deutsche Erde,
Trag's zu den Wolken, donnernder Gesang!
[22]
Trübt auch die Wolke unsres Festes Glanz,
Sind auch zerschlagen schon des Siegs Altäre,
Die jüngst noch, in dem jungen Siegerkranz,
Der Deutsche weihte seines Volkes Ehre:
Mög' Arglist auch und Trug mit finstrem Bann
Dem Siegervolke noch die Zunge binden, –
Begeisterung, des Jünglings Dank, soll's laut verkünden:
»Wer dort gekämpft, fiel nicht für einen Wahn!«
Denn auferstehen soll ein neu Geschlecht,
Wir fühlen Kraft in uns, uns dran zu wagen,
Zu kämpfen für die Freiheit und das Recht,
Um deutsch zu sein wie in der Vorzeit Tagen!
Ein hoher Sinn stieg auf aus blut'gem Streit,
Es kehrt der biedre Geist der Väter wieder,
Und stolzer stehn, in deutscher Kraft und frei, o Brüder,
Wir auf den Trümmern der vergangnen Zeit!
Drum tretet mutig in die Kämpferbahn,
Noch gilt es ja, das Ziel uns zu erringen!
Fürs liebe Vaterland hinan, hinan!
Doch nur von innen kann das Werk gelingen,
Und nicht durch Völkerzwist, durch Waffenruhm,
Nein, unser Weg geht durch Minervas Hallen;
Laßt uns vereint zum Ideal, zum Höchsten wallen,
Erschaffen uns ein echtes Bürgertum!
Ja, so ersteht ein freies Vaterland;
O Bruderbund, dies hast du dir erkoren!
Hebt in die Lüfte auf die treue Hand,
Dem Vaterlande sei es fest geschworen!
O schöne Saat! Der junge Stamm erblüht,
Und schützend ragt er auf wie Deutschlands Eichen;
Blüh', schöner Stamm, die Sonne kommt, die Schatten weichen,
Und fern dahin die dunkle Wolke zieht.

[23]

II.
1823.

Ferne in der fremden Erde
Ruhet ihr bei euerm Schwerte
In des Todes sichrer Hut;
Heil'ger Frieden
Lohnt euch Müden,
Nach des Tages heißer Glut.
Frankreichs Adler saht ihr fallen,
Hörtet Siegesdonner schallen,
Als der Tod das Auge brach.
Heil euch Lieben,
Träumet drüben
Von der Freiheit goldnem Tag.
Selig preis' ich eure Lose
In der Erde kühlem Schoße.
Ach, ihr saht der Freiheit Licht,
Saht sie steigen
Ueber Leichen –
Doch sie sinken saht ihr nicht.
Fern von eurem Siegestale
Denken wir beim Todesmahle
Innig eurer Siegerschar,
Und wir gießen,
Euch zu grüßen,
Tränen auf den Festaltar.

III.
1824.

So nahst du wieder, holde Siegesfeier,
Die unsre Brust mit süßen Träumen füllt,
Die mit der Freude dichtgewebtem Schleier
Das trübe Bild der Gegenwart verhüllt:
Du nahst – und alle Herzen schlagen freier,
Gesang und Jubel tönet durchs Gefild,
Und meiner Brüder frohe Blicke sagen:
»Es war mein Volk, das diese Schlacht geschlagen!«
[24]
Es war mein Volk, und nicht die frohen Binden
Von Eichlaub sollten schmücken das Gelag;
Wohl sollten wir Zypressenkränze winden
Um mancher Hoffnung frühen Sarkophag;
Doch – den Gefallnen laßt uns Kränze winden,
Und einmal noch am frohen Siegestag,
Weil rings um uns des Sieges Früchte welken,
Laßt uns in der Erinnrung Träumen schwelgen.
Drum grüß' ich dich, du Feld, wo sie gefallen,
Wo froh ihr Aug' im Siegesdonner brach!
Drum grüß' ich euch in euern Wolkenhallen,
Ihr Tapfern, die ihr tilgtet unsre Schmach!
Euch, tapfern Sängern, euch, ihr Helden, allen,
Euch tönen unsre Liebesgrüße nach,
Und euch, die ihr dem Auge schnell entschwunden,
Der jungen Freiheit kurze Frühlingsstunden!
Und hätte man den Denkstein euch zerschlagen
Und eure Kränze in den Staub gedrückt:
Die Blumen haben in des Frühlings Tagen
Der Helden Grab mit neuem Grün geschmückt.
So keimt auch unsre Hoffnung unter Klagen;
Denn ob der Sturm sie Blatt für Blatt zerpflückt,
Neu sproßt sie aus dem Hügel eurer Leichen,
Und Gott wird wachen über ihren Zweigen.

IV.
1824.

Wo eine Glut die Herzen bindet,
Wo Aug' dem Auge nur verkündet,
Was Sehnsucht in dem Herzen spricht;
Wo, wenn der Sturm die Form zerspaltet,
Die Gottheit in den Trümmern waltet,
Kennt man der Liebe Trennung nicht.
Heran, ihr Brüder! Nord und Süden,
Ob euch des Herrschers Wink geschieden,
Laßt uns ein Volk von Brüdern sein;
[25] Schließt ja in Schönbunds weiten Auen
Von allen Strömen, allen Gauen
Ein Rasen unsre Brüder ein.
Wohl ist der Siegsgesang verklungen,
Ganz anders wird jetzt vorgesungen,
Ganz andre Weisen spielt man vor;
Doch tönt, von Wehmut fortgetragen,
Ein Ton noch aus den bessern Tagen
Und schlägt an manch empfänglich Ohr.
Hört ihr auf Frühlings leichten Schwingen
Den alten Ton herüberklingen
Von unsrer Brüder Schlachtgefild?
Der Einklang ist's von tausend Tönen,
Der mächtig in Germanias Söhnen
Zu der Begeistrung Wogen schwillt.

Turnerlust.

Was zieht dort unten das Tal entlang?
Eine Schar im weißen Gewand; –
Wie mutig brauset der volle Gesang!
Die Töne sind mir bekannt.
Sie singen von Freiheit und Vaterland,
Ich kenne die Scharen im weißen Gewand.
Hurra! Hurra! Hurra!
Die Turner ziehen aus.
Die Turner ziehen ins grünende Feld
Hinaus zur männlichen Lust;
Daß Uebung kräftig die Glieder stählt,
Mit Mut sich füllet die Brust:
Drum schreiten die Turner das Tal entlang,
Drum tönet ihr mutiger froher Gesang:
Hurra! Hurra! Hurra!
Du fröhliche Turnerlust!
O sieh, wie kühn sich der Blick erhebt,
Wenn der Arm den Gegner umfaßt!
Und frei, wie der Aar durch die Lüfte schwebt,
[26] Fliegt auf der Turner am Mast;
Dort schaut er weit in die Täler hinaus,
Dort ruft er's froh in die Lüfte hinaus:
Hurra! Hurra! Hurra!
Du fröhliche Turnerlust!
Es ist kein Graben zu tief, zu breit,
Hinüber mit flüchtigem Fuß!
Und trennt die Ufer der Strom so weit,
Hinein in den tosenden Fluß!
Er teilt mit dem Arm der Fluten Gewalt,
Und aus den Wogen sein Ruf noch schallt:
Hurra! Hurra! Hurra!
Du fröhliche Turnerlust!
Er schwingt das Schwert in der starken Hand,
Zum Kampfe stählt er den Arm;
O dürft' er's ziehen fürs Vaterland!
Es wallt das Herz ihm so warm.
Und sollte sie kommen, die herrliche Zeit,
Sie fände den tapfern Turner bereit.
Hurra! Hurra! Hurra!
Wie ging's dann mutig in Feind!
So wirbt der Turner um Kraft und Mut
Mit Frührots freundlichem Strahl,
Bis spät sich senket der Sonne Glut
Und die Nacht sich bettet im Tal;
Und klingt der Abendglockenklang,
Dann ziehn wir nach Haus mit fröhlichem Sang
Hurra! Hurra! Hurra!
Du fröhliche Turnerlust!

Das Burschentum.

Wenn die Becher fröhlich kreisen,
Wenn in vollen Sangesweisen
Tönt so manches Helden Ruhm,
Ja, da muß man dich auch singen,
Muß auch dir die Becher schwingen,
Dir, du altes Burschentum!
[27]
Fragt ihr, wo die Freiheit wohne?
Auf Europas weiter Zone
Habt ihr nimmer sie gesehn;
Nur bei alter, treuer Sitte,
In der Burschen froher Mitte
Mag ihr Tempel noch bestehn.
Froh und frei, wie's unsre Alten
Einst zu ihrer Zeit gehalten,
Leben wir, so lang es gilt;
Freuen uns – mit leerer Tasche,
Wenn uns nur aus voller Flasche
Klar der braune Nektar quillt.
Nicht in marmornen Trophäen
Kann die späte Nachwelt sehen,
Was wir Brüder hier getan!
Doch zum Denkstein unsern Siegen
Häufen wir aus leeren Krügen
Hohe Pyramiden an.
Mit dem Humpen in der Linken
Wollen wir dein Wohlsein trinken,
Altes, frohes Burschentum!
Mit dem Hieber in der Rechten
Wollen wir dich kühn verfechten,
Freies, tapfres Burschentum!

Trinklied.

Wer seines Leibes Alter zählet
Nach Nächten, die er froh durchwacht,
Wer, ob ihm auch der Taler fehlet,
Sich um den Groschen lustig macht,
Der findet in uns seine Leute,
Der sei uns brüderlich gegrüßt,
Weil ihn, wie uns, der Gott der Freude
In seine sanften Arme schließt.
Wenn von dem Tanze sanft gewieget,
Von Flötentönen sanft berauscht,
Fein Liebchen sich im Arme schmieget,
[28] Und Blick um Liebesblick sich tauscht,
Da haben wir im Flug genossen
Und schnell den Augenblick erhascht,
Und Herz an Herzen festgeschlossen,
Der Lippen süßen Gruß genascht.
Den Wein kannst du mit Gold bezahlen,
Doch ist sein Feuer bald verraucht,
Wenn nicht der Gott in seine Strahlen,
In seine Geisterglut dich taucht;
Uns, die wir seine Hymnen singen,
Uns leuchtet seine Flamme vor,
Und auf der Töne freien Schwingen
Steigt unser Geist zum Geist empor.
Drum, die ihr frohe Freundesworte
Zum würdigen Gesang erhebt,
Euch grüß' ich, wogende Akkorde,
Daß ihr zu uns herniederschwebt!
Sie tauchen auf – sie schweben nieder,
Im Vollton rauschet der Gesang,
Und lieblich hallt in unsre Lieder
Der vollen Gläser Feierklang.
So haben's immer wir gehalten
Und bleiben fürder auch dabei,
Und mag die Welt um uns veralten,
Wir bleiben ewig jung und neu.
Denn, wird einmal der Geist uns trübe,
Wir baden ihn im alten Wein
Und ziehen mit Gesang und Liebe
In unsern Freudenhimmel ein.

Reiters Morgengesang.

(Nach einem schwäbischen Volkslied.)

Morgenrot,
Leuchtest mir zum frühen Tod?
Bald wird die Trompete blasen,
Dann muß ich mein Leben lassen,
Ich und mancher Kamerad!
[29]
Kaum gedacht,
War der Lust ein End' gemacht.
Gestern noch auf stolzen Rossen,
Heute durch die Brust geschossen,
Morgen in das kühle Grab!
Ach, wie bald
Schwindet Schönheit und Gestalt!
Tust du stolz mit deinen Wangen,
Die mit Milch und Purpur prangen?
Ach! die Rosen welken all!
Darum still
Füg' ich mich, wie Gott es will.
Nun, so will ich wacker streiten,
Und sollt' ich den Tod erleiden,
Stirbt ein braver Reitersmann.

Soldatenmut.

Soldatenmut siegt überall,
Im Frieden und im Krieg,
Bei Flöten- und Kanonenschall
Erkämpft er sich den Sieg;
Sei's um ein Küßchen mit der Maid,
Sei's mit dem Feind um Blut,
Da ist er schnell zum Kampf bereit,
Da siegt Soldatenmut!
Hurra!
Da siegt Soldatenmut!
Wenn sich der Tanz im Wirbel schwingt
Und Aug' in Auge blickt,
Der Arm sich um die Hüfte schlingt
Und Hand in Hand sich drückt,
Da ist die Maid in kurzer Frist
Dem schlanken Burschen gut;
Wer lange fragt, hat nie geküßt,
Da siegt Soldatenmut,
Hurra!
Da siegt Soldatenmut!
[30]
Und wenn am heißen Sommertag
Den Marsch die Hitze drückt,
Und wenn das rasche Roß erlag
Und müd' zur Erd' sich bückt,
Hat der Soldat sich aufgerafft,
Er singet wohlgemut,
Wirbt durch Gesang sich neue Kraft;
So siegt Soldatenmut!
Hurra!
So siegt Soldatenmut!
Und wenn im Tal die Banner wehn
Und Heer an Heer sich schließt,
Und uns von den Batt'rieen Höhn
Kanonendonner grüßt:
Da reißt uns durch den Waffenplan
Des Kampfes wilde Glut,
Da mit dem Schwert, Mann gegen Mann,
Da siegt Soldatenmut:
Hurra!
Da siegt Soldatenmut!
Und wenn mein Stündlein kommen sollt',
So bin ich frisch zur Hand;
Ich sterb' ja nicht für eitles Gold,
Ich fall' fürs Vaterland.
Was ich gesollt, hab' ich getan,
Und hab's gelöst mit Blut:
So lebt, so stirbt für seine Fahn',
So siegt Soldatenmut!
Hurra!
So siegt Soldatenmut!

Prinz Wilhelm.

Prinz Wilhelm, der edle Ritter,
Ritt hinaus ins Schlachtgewitter,
Ritt mit aus in blut'gen Strauß;
Denn als man die Trommel rührte
Und nach Frankreich abmarschierte,
Blieb der Kronprinz nicht zu Haus.
[31]
Durch des Rheines wilde Wogen
Ist er schnell hindurchgezogen,
Ziehet weiter ohne Ruh'.
Auf die Feinde durch die Wälder,
Durch die eisbedeckten Felder,
Auf die Feinde eilt er zu.
Bei Brienne, im dunkeln Walde
Unser Jägerhorn erschallte,
Unsre Trommeln wirbeln drein;
In den Feind durch Sumpf und Graben
Stürmt der Prinz mit seinen Schwaben,
Daß der Sieg muß unser sein.
Und bei Montereaus blut'ger Brücken,
Als der Feind wollt' schier erdrücken
Unsre kleine, treue Schar,
Hat er gegen Sturmsgewalten
Ritterlich den Paß gehalten,
Bis sein Volk gerettet war.
An der Aube, am Marnestrande,
An der Seine weitem Lande
Kennt man Wilhelm und sein Schwert;
Epinal auf blut'gen Wegen,
Troyes' heißer Kugelregen
Haben seinen Stamm bewährt.
Ja, wo treue Schwaben stritten,
War auch in des Kampfes Mitten
Unser Kronprinz stets dabei;
Ja, so stritt im Schlachtgewitter
Prinz Wilhelm, der edle Ritter,
Furchtlos, wie sein Wort, und treu.
Schlaget ein, ihr Kameraden!
Wenn zum Krieg die Trommeln laden,
Strömen freudig wir herbei:
Denn als König zieht der Ritter
Nun voraus im Schlachtgewitter,
Furchtlos, wie sein Wort, und treu.

[32]

Soldatentreue.

Wohl dem, der geschworen
Zur Fahne den Eid,
Der sich zum Schmuck erkoren
Des Königs Waffenkleid!
Sei Treue verraten,
Sei Ehre verbannt,
Doch gehn mit dem Soldaten
Sie beide Hand in Hand.
Es grüßt ja zur Seite
Sein Säbel ihm zu
Und ruft ihm aus der Scheide:
»So treu wie Stahl seist du
Die Büchse, sie winket
So freundlich und rein;
So rein als wie sie blinket,
Soll seine Ehre sein.
Das tönt ihm so süße,
Das schwellt ihm den Arm,
Das macht, wie Liebchens Küsse,
Soldatenherz so warm!
Drum auf! Es ertönen
Trompeten voll Mut!
In Vaterlandessöhnen
Wallt treues Heldenblut!
Die Welt mag zerreißen
Die Schwüre wie Spreu;
Ich weiß ein Wort wie Eisen,
Es heißt: Soldatentreu'.

[33]

Soldatenliebe.

Steh' ich in finstrer Mitternacht
So einsam auf der fernen Wacht,
So denk' ich an mein fernes Lieb,
Ob mir's auch treu und hold verblieb?
Als ich zur Fahne fort gemüßt,
Hat sie so herzlich mich geküßt,
Mit Bändern meinen Hut geschmückt
Und weinend mich ans Herz gedrückt!
Sie liebt mich noch, sie ist mir gut,
Drum bin ich froh und wohlgemut!
Mein Herz schlägt warm in kalter Nacht,
Wenn es ans treue Lieb gedacht.
Jetzt bei der Lampe mildem Schein
Gehst du wohl in dein Kämmerlein
Und schickst dein Nachtgebet zum Herrn
Auch für den Liebsten in der Fern'!
Doch wenn du traurig bist und weinst,
Mich von Gefahr umrungen meinst! –
Sei ruhig, bin in Gottes Hut,
Er liebt ein treu Soldatenblut.
Die Glocke schlägt, bald naht die Rund'
Und löst mich ab zu dieser Stund';
Schlaf wohl im stillen Kämmerlein
Und denk' in deinen Träumen mein.

Hans Huttens Ende.

Laut rufet Herr Ulrich, der Herzog, und sagt:
»Hans Hutten, reite mit auf die Jagd,
Im Schönbuch weiß ich ein Mutterschwein,
Wir schießen es für die Liebste mein.«
[34]
Und im Forst sich der Herzog zum Junker wandt':
»Hans Hutten, was flimmert an deiner Hand?«
»Herr Herzog, es ist halt ein Ringelein,
Ich hab' es von meiner Herzliebsten fein.«
»Herr Hans, du bist ja ein stattlicher Mann,
Hast gar auch ein güldenes Kettlein an?« –
»Das hat mir mein herziger Schatz geschenkt
Zum Zeichen, daß sie noch meiner gedenkt.«
Und der Herzog blicket ihn schrecklich an:
»So? Das hat alles dein Schatz getan?
Der Trauring ist es von meinem Weib,
Das Kettlein hing ich ihr selbst um den Leib.«
O Hutten, gib deinem Rappen den Sporn,
Schon rollet des Herzogs Auge im Zorn!
Flieh, Hutten! es ist die höchste Zeit,
Schon reißt er das blinkende Schwert aus der Scheid'!
»Dein Schwert raus, Buhler, mich dürstet sehr,
Zu sühnen mit Blut meines Bettes Ehr'!«
Flugs, Junker, ein Stoßgebetlein sprich,
Wenn Ulrich haut, haut er fürchterlich.
Es krachen die Rippen, es bricht das Herz;
Ruhig wischet Ulrich das blutige Erz,
Ruhig nimmt er des ledigen Pferdes Zaum
Und hänget die Leich' an den nächsten Baum.
Es steht eine Eiche im Schönbuchwald
Gar breit in den Aesten und hochgestalt;
Zum Zeichen wird sie Jahrhunderte stahn,
Hier hing der Herzog den Junker dran.
Und wenn man den Herzog vom Lande jagt,
Sein Nam' bleibt ihm, sein Schwert; er sagt:
»Mein Nam', er verdorret ja nimmermehr,
Und gerächet hab' ich des Hauses Ehr'.«

[35]

Entschuldigung.

Kam einst ein englischer Kapitan
Zu Stambul in dem Hafen an,
Der wollte nach der langen Fahrt
Sich gütlich tun nach seiner Art
Und in Stambuls krummen Gassen
Vor den Leuten sich sehen lassen.
Hatte auch weit und breit gehört,
Wie die Türken so schöne Pferd',
Reiche Geschirr' und Sättel haben;
Wollte auch wie ein Türke traben,
Und bestellt auf abends um vier
Ein recht feurig arabisch Tier.
Ziehet sich an im höchsten Staat,
Rotem Rock, mit Gold auf der Naht,
Schwärzt den Bart um Wange und Maul
Und steigt Punkt vier Uhr auf den Gaul.
Drauf, als er reitet durch das Tor,
Kam es den Türken komisch vor,
Hatten noch keinen Reiter gesehn
Wie den englischen Kapitän;
Die Knie' hatt' er hinaufgezogen
Und seinen Rücken krumm gebogen,
Die Brust mit den Tressen eingedrückt,
Auch den Kopf tief herabgebückt;
Saß zu Pferde wie ein armer Schneider.
Doch der Schiffskapitän ritt weiter,
Glaubte getrost, die Türken lachen
Aus lauter Bewundrung in ihrer Sprachen.
So ritt er bis zum großen Platz,
Da macht der Araber einen Satz
Und steigt; der englische Kapitän
Ergreift des Arabers lange Mähn',
Gibt ihm verzweiflungsvoll die Sporen
Und schreit ihm auf englisch in die Ohren;
Das Roß den Reiter nicht verstand,
Setzt wieder und wirft ihn in den Sand.
Die Türken den Rotrock sehr beklagen,
Haben ihn auch zu Schiff getragen,
Und seinem Dragoman, einem Scioten,
[36] Haben sie hoch und streng verboten,
Er dürf's nimmer wieder leiden,
Daß der Herr den Araber tät reiten.
Als sie verlassen den Kapitan,
Befiehlt er gleich dem Dragoman,
Ihm auf englisch auszudeuten,
Was er gehört von diesen Leuten.
Der Grieche spricht: »Es ist nichts weiter,
Sie glauben, Ihr seid ein schlechter Reiter,
Wollen, Ihr sollt in Stambuls Gassen
Nimmer zu Pferd Euch sehen lassen.«
Des hat sich der Kapitän gegrämt
Und vor den Türken sehr geschämt.
Spricht zum Dragoman: »Geh hinein
Und sage den Türken: es kommt vom Wein;
Der Herr ist sonst ein guter Reiter,
Aber heut an der Tafel, leider,
Hat er sich ziemlich in Sekt betrunken,
Da ist er im Rausche vom Pferd gesunken.«
Der Grieche ging zum Hafentor
Und trug den Türken die Sache vor.
Doch diese hörten ihn schaudernd an:
»Wir glaubten Gutes vom roten Mann
Und dachten, er sitze schlecht zu Pferd,
Weil's ihn sein Vater nicht besser gelehrt;
Aber wie, von Wein betrunken,
Ist er im Rausche vom Pferd gesunken?
Pfui dem Giaur und seinem Glas,
Allah tue ihm dies und das!«
Da sprach ein alter Muselmann:
»Glaubt's nicht, Leute, höret mich an!
Nicht, weil der Frank' zu viel getrunken,
Ist er schmählich vom Roß gesunken.
Hab' gleich gedacht, es wird so gehn,
Als ich ihn habe reiten sehn,
Die Knie' hoch hinaufgezogen,
Den Rücken krumm und schief gebogen,
Die Brust mit Tressen eingedrückt,
Kopf und Nacken niedergebückt.
Denk' ich, wenn sein Rößlein scheut,
Ihn sein Reiten gewiß gereut.
Aber nein, ich will euch sagen,
[37] Warum er wollte den Wein verklagen
Und stellte sich lieber als Säufer gar,
Denn als ein schlechter Reiter dar:
Das macht des Menschen Eitelkeit,
Die ihn zu Trug und Lug verleit't.
Will mancher lieber ein Laster haben,
Hätt' er nur andere glänzende Gaben;
Und mancher lieber eine Sünd' gesteht,
Eh' er eine Lächerlichkeit verrät;
Ein dritter will gar zur Hölle fahren,
Um sich ein falsch Erröten zu sparen.
So auch der fränkische Kapitan,
Schämt sich und lügt uns lieber an,
Will lieber Säufer sich lassen schelten,
Als für einen schlechten Reiter gelten.«

Jesuitenbeichte.

(Nach dem Französischen.)

Ich liebte zwanzig Mädchen nach der Reihe,
Und jeder war mein ganzes Herz geweiht,
Und jede schwur mir heute ew'ge Treue
Und brach schon morgen ihren heil'gen Eid.
Da schwur und flucht' ich, keinem Weib zu trauen.
»Mein Sohn, wer flucht, der sündiget. Allein
Die Schuld liegt diesmal wirklich an den Frauen;
Du sollst versöhnet und entschuldigt sein.«
Weil ich Bestechung haßte wie die Hölle,
Fand mein Minister mich zu ungeschickt,
Und einem feilen Kerl gab er die Stelle,
Der sich vor seinem Kammerdiener bückt;
Da wünschte ich Herrn C… zum Teufel.
»Mein Sohn, welch rohe Leidenschaft! Allein
Bei kaltem Blut bereust du ohne Zweifel;
Du sollst entschuldigt und versöhnet sein.«
Mit schönen Worten, blendendem Versprechen
Hat ein bekannter Herr mich arm gemacht,
Und um mich für die Tausende zu rächen,
[38] Um die mich der Verräter hat gebracht,
Schalt ich Herrn V… einen Beutelschneider.
»Mein Sohn, das Wort war freilich grob. Allein
Die Welt nennt ihn mit diesem Namen, leider;
Du sollst entschuldigt und versöhnet sein.«
Das Sakrileg, ich will's gestehen, nannte
Ich ein Gesetz für Sklaven nur gemacht;
Der Menschheit Schmach und des Jahrhunderts Schande,
Und P…, ihn, der es ausgedacht,
Schalt ich den Mörder aller freien Seelen.
»Mein Sohn, das war ein derber Schimpf. Allein
Du irrtest menschlich, irren heißt nicht fehlen;
Du sollst entschuldigt und versöhnet sein.«
Und als ich diese arme Welt bedachte
Und sah, wie alles schief und irrig geht,
Wie man die Tugend und das Recht verlachte,
Und wie jetzt Trug und Laster oben steht,
Da – hielt ich Gott für einen leeren Namen!
»Mein Sohn, du hast dich schwer verfehlt. Allein
Gott ist barmherzig gegen Sünder, Amen;
Du sollst entschuldigt und versöhnet sein.«
Ich liebte Eintracht in Palast und Hütten;
Doch als ich schleichend wiederkehren sah
Die Zwietracht an der Hand der Jesuiten,
Da schwur ich ew'gen Haß Sankt Loyola,
Und ew'gen Haß und Rache seinen Söhnen!
»Mein Sohn, ich bin die Langmut selbst! Allein
Das heißt fürwahr das Heiligste verhöhnen!
Vor uns und Gott kannst du nicht schuldlos sein!«

Regel für Kranke.

Hast du mit dem Apotheker Streit,
Es dem Arzt zu klagen vermeid';
Hast du über den Arzt zu klagen,
Sollst du's nicht dem Apotheker sagen;
Denn sind sie auch Feinde immerdar,
[39]
So werden sie Freund' am neuen Jahr,
Verkünden: der hat dies gesagt,
Und mir hat er von dir geklagt.
Wirst du nun krank in den ersten Wochen,
Die Arznei sie zusammenkochen:
»Recipe: Was er uns getan,
Rühren wir ihm jetzt doppelt an;
Zwanzig Drachmen von seinen Klagen
Mit Asa foetida für den Magen.
Misceatur, detur, nebst unsrem Groll,
Alle zwei Stunden zwei Löffel voll.«
Und stirbst du nicht in der Blütezeit
Ihrer neuen Herzinnigkeit,
Lassen sie dich so lange liegen,
Bis sie selbst wieder Händel kriegen.
***
Merke: zweier Gegner Klagen
Mußt du nicht hin und wieder tragen;
Weißt nicht, ob, die geschieden scheinen,
Sich nachmals gegen dich vereinen.

Schriftsteller.

Es ist kein Autor so gering und klein,
Der nicht dächt', etwas Recht's zu sein;
Und wär' er noch so ein armer Wicht,
Geht er doch stolz und aufgericht't,
Daß man glaubt, der leere Hut
Noch zu dem Kleinen gehören tut.
Auch kein Autor auf den andern baut;
Denn sei ein Paar noch so vertraut,
Darfst heut den einen heruntersetzen,
Willst du den andern höher schätzen,
Und morgen, auf des zweiten Kösten,
Läßt sich der erste nennen den Besten.

[40]

Lehre aus Erfahrung.

Hat dir ein Autor Geld geliehn
Und kommt und will den Wechsel ziehn,
Und kannst doch nicht sogleich bezahlen,
Ihm auch keinen andern Trug vormalen,
So sprich getrost: »Jetzt weiß ich schon,
's war, als die treffliche Rezension,
Wie Euer letztes Werk gelungen,
Stund in den Literaturzeitungen;
Waret gelobt übern Schellenkönig,
Und dennoch, deucht es mir, zu wenig.
Aber könntet Ihr nicht noch borgen
Einige Zeit?« – »Seid ohne Sorgen,«
Der Autor darauf ganz freundlich spricht,
»Nach meinem Geld verlangt mich nicht,
Bleibet mein Freund; 's hat kein' Gefahr
Könnt mich bezahlen bis übers Jahr.«

Amor der Räuber.

(Nach dem Italienischen.)

Die Unschuld saß in grüner Laube,
Sie hielt ein Täubchen in dem Schoß;
Und Amor kam: Gib mir die Taube,
Ein Weilchen nur gib deine Taube!
Die Unschuld ließ sie lächelnd los,
Doch hielt sie Täubchen an dem Band,
Das sich um Täubchens Flügel wand.
Doch kaum hat er die weiße Taube,
So schneidet er den Faden ab;
Und höhnisch lachend, mit dem Raube
Entflieht der Räuber aus der Laube,
Und nimmer kehrt der lose Knab';
Und als ihr Täubchen nimmer kam,
Ward sie dem Räuber ewig gram.

[41]

Stille Liebe.

O dürft' ich fragen, was aus ihrem Auge
Oft so entzückend mir entgegenstrahlt,
Was, wenn ich schnell mich ihrer Seite nahe,
Die Wangen ihr mit hoher Röte malt!
Ahnt sie, was meine Lippen ihr verschweigen,
Was meine Brust mit stiller Sehnsucht füllt?
Hofft' ich zu kühn? Ist es der Strahl der Liebe,
Der so entzückend ihrem Blick entquillt?
Warum hat doch ihr Händchen so gezittert,
Als ich ihr gestern guten Abend bot,
Und als ich ihr recht tief ins Auge schaute,
Was machte sie auf einmal doch so rot?
Sie hat die Rose, die ich ihr gegeben,
So sorgsam ins Gebetbuch eingelegt;
Warum wohl? da sie sonst so gerne Rosen
Am Busen und am Sommerhütchen trägt.
Warum schwieg sie auf einmal heute stille
Und wußte nicht mehr, was ich sie gefragt?
Hat sie gemerkt, was ich ihr gerne sagte?
Ich hab' ihr's doch mit keinem Wort gesagt.
O hätt' ich Mut! dürft' ich Luisen sagen,
Was mich so still, was mich so tief beglückt!
O dürft' ich fragen, was aus ihrem Auge
Oft so entzückend mir entgegenblickt!

Hoffe!

Stimme von dem braunen Hügel,
Die du oft ins stille Tal
Widertönst die lauten Worte,
Lieben trauten Widerhall,
Stimme, die du meine Lieder,
Die Akkorde meiner Zither
Widertönst, erschalle,
Gib nicht neckend meine Frage wieder,
Gib mir Antwort, Stimm' im stillen Tale.
[42]
Stiller Strom im grauen Bette,
Eile nicht so schnell davon,
Daß mein Ohr einmal verstände
Deiner Wellen leisen Ton;
Deine schönen Silberquellen
Sollen traulich mir erzählen,
Rausche lauter, rausche,
Sprich zu meinem Ohr aus deinen Wellen,
Daß ich deine Sagen mir erlausche.
Die ihr an dem alten Turme
Oft im Mondesschimmer webt
Und in nächtlich-stiller Stunde
Durch den blassen Hain entschwebt,
Nebelschatten alter Helden,
Ach, daß sie mir doch erzählten,
Steht mir Red', ich frage,
Wollt ihr nichts aus euren Tagen melden,
O wie gerne lauscht' ich eurer Sage.
Von den alten, öden Zinnen
Schauen düster sie herab,
Ach, sie blicken von den Türmen
Schweigend in ein ödes Grab;
Alles Edle ist verklungen,
Alles hat die Zeit verschlungen,
Dem Geschlecht hienieden,
Das so tief in seinem Fluch gesunken,
Haben keine Antwort sie beschieden!
Auch des Stromes stille Wellen
Haben schönre Zeit gesehen.
Als noch edlere Geschlechter
Bauten auf der Berge Höhen,
Stolz verachtet er die Frage,
Uebertönet meine Klage,
Seine blauen Wogen
Denken schweigend jener schönen Tage,
Schweigend sind durchs Tal sie hingezogen.
[43]
Und so steh' ich denn alleine
In der stillen Mondesnacht,
Weine um die trüben Zeiten,
Ob kein neu Geschlecht erwacht?
Ach, daß sich mein Volk ermannte,
Daß es sprengte seine Bande!
Ob ich wohl noch hoffe?
Lautlos fließt der Strom vom grauen Strande,
Nur das leise Echo ruft mir: Hoffe!

Trost.

Die Mißgunst lauscht auf allen Wegen,
Daß sie der Liebe Glück verrät,
Doch treue, zarte Liebe geht
Auf tausend unbewachten Stegen;
Ein Druck der Hand, ein flücht'ger Blick
Sagt mir der Liebe süßes Glück.
Und zog ich auch in weite Ferne,
Es zog mit mir mein stilles Glück,
Denn schau' ich nicht der Liebe Blick,
So blick' ich auf zum Abendsterne;
Wie ihres Auges stille Glut
Strahlt er ins Herz getrosten Mut.
Und wallen meine Tage trüber,
Und dringt kein Trost von ihr zu mir,
Und dringt mein Sehnen nicht zu ihr,
Kein Wort von ihr zu mir herüber; –
Mein stilles Glück ist nicht getrübt,
Ich weiß ja doch, daß sie mich liebt.
Drum klag' ich nicht in weiter Ferne,
Weil Neid der Liebe Weg belauscht,
Wenn auch nicht Wort mit Wort sich tauscht,
Mir strahlt ein Trost im Abendsterne:
Aus seinen milden Strahlen quillt
Mir meiner Liebe trautes Bild.

[44]

Sehnsucht.

Die Sonne grüßt Tubingas Höhn,
Der Berge Morgennebel fallen,
Und leichte Frühlingslüfte wehn,
Im Tal die Herdenglocken schallen,
Des Neckars sanfte Welle quillt
An der Gestade Rebenhügel,
Es taucht die alte Burg ihr Bild
In seinen silberreinen Spiegel.
Wie wär' der Morgen doch so schön,
Könnt' ich mit dir mich da ergehn!
Und reger wogt's am Ufer hin,
Wenn Mittag zu den Schatten ladet,
Wenn sich durch frisches Blättergrün
Die Sonne in dem Strome badet;
Der Hirte zieht den Linden zu,
Der Winzer steigt vom Berge nieder,
Und in des kühlen Strandes Ruh'
Erwachen ihre Kräfte wieder;
Am Neckarstrand ruht' ich so gerne,
Wär' nicht Luise in der Ferne.
Der Abend senket seinen Strahl,
Die Herden ziehen von den Weiden,
Und fernhin durch das holde Tal
Die Dörfer zu der Ruhe läuten;
Da kommen Mädchen Hand in Hand
Den Wiesenplan heraufgezogen;
Es wölbt für sie am grünen Strand
Der Lindengang die hohen Bogen;
Doch jenen Linden fehlt das eine,
Ich wandle ohne sie – alleine!
Auf geht des Mondes Silberstrahl,
Er malt den Berg mit falbem Glanze,
Er ruft die Geister in das Tal,
Er leuchtet ihrem Reigentanze;
Ihr Berge all von Duft umhüllt,
Du Tal am Strome auf und nieder,
[45] Du wärst so hold, du wärst so mild,
Dir weiht' ich meine frohsten Lieder –
Du wärst so schön im Abendscheine,
Schlüg' sie ihr Aug' hier in das meine.

Ihr Auge.

Ich weiß wo einen Bronnen
Voll hellem Himmelstau,
Es glänzt der Strahl der Sonnen
Aus seines Spiegels Blau;
Er ladet klar und helle
Zu süßer Wonne ein,
Es winkt aus seiner Quelle
Der Sonne milder Schein.
Mir war, als sollte drunten
In seiner klaren Flut
Das arme Herz gesunden
Von seinem bangen Mut.
Ich tauchte freudig nieder
Ins klare Blaue hinab,
Mein Herz, das kam nicht wieder,
Fand in dem Quell sein Grab.
Kennst du den süßen Bronnen,
So klar und silberhell?
Kennst du den Strahl der Sonnen
Aus seinem blauen Quell?
Das ist des Liebchens Auge,
Ihr süßer Silberblick, –
Aus seiner Tiefe tauche
Ich nie zum Licht zurück.

[46]

Serenade.

Wenn vom Berg mit leisem Tritte
Luna wandelt durch die Nacht,
Eil' ich zu des Liebchens Hütte,
Lausche, ob die Holde wacht.
Seh' ich dort die Lampe glühen
In dem stillen Kämmerlein,
Möcht' ich, wie der Lampe milder Schein,
Spielend um die zarten Wangen ziehen.
Mit des Lichtes schönsten Strahlen
Zög' ich um mein liebes Kind,
Farben wollt' ich um sie malen,
Wie sie nur am Himmel sind;
Sänke Schlummer ihr aufs Auge,
Löschte sie des Lämpchens Schein,
Wär' ihr letzter, süßer Blick noch mein,
Und ich stürbe sanft in ihrem Hauche.
Nimmer darf ich um sie weben
Wie der Lampe milder Schein,
Doch mein Lied darf zu ihr schweben,
Darf der Liebe Bote sein.
Schwebt denn, Töne meiner Laute,
Zu des Liebchens Kämmerlein,
Wieget sie in süße Träume ein
Und dann flüstert: »Denke mein, du Traute!«

Lied aus der Ferne.

Ihr Töne meiner Saiten,
Ihr tönt so sanft, so mild,
Mit Träumen ferner Freuden
Habt ihr mein Herz erfüllt.
Des Liebchens Kuß, des Liebchens Blick,
Führt mir der sanfte Ton zurück,
Der eurem Hauch entquillt!
O lispelt leise, leise!
Dann träum' ich schönre Zeiten
Und meiner Liebe Bild.
[47]
Wenn auf der Berge Höhen
Der Strahl des Morgens fällt,
Möcht' ich mit Windeswehen
Zu meiner Jugendwelt,
Möcht' eilen mit des Morgens Strahl
Zum blauen Berg, zum fernen Tal,
Das sie umfangen hält.
Vergebens, ach, vergebens!
Mir blüht kein Wiedersehen
In meiner Jugendwelt.

Die Freundinnen an der Freundin Hochzeittage.

In deines Festes fröhliche Gesänge
Mischt sich ein trauter Ton aus alter Zeit,
Es lockt dich aus dem jubelnden Gedränge
Zurück noch einmal zur Vergangenheit;
Die Freundschaft ist's, es sind der Schwestern Tritte,
Sie pochen schüchtern an der Pforte an,
Sie nahen dir, sie flüstern ihre Bitte
Und fragen freundlich: Denkst du noch daran?
Denkst du daran, wie wir uns einst gefunden
In unsrer Kindheit holder Blumenwelt?
Es waren unsres Lebens Morgenstunden,
Vom Frührot reiner Freuden schön erhellt;
Der Schule Mühen, alle frohen Spiele
Und aller Jubel von der Kindheit Bahn,
Sie steigen auf in freudigem Gewühle
Und fragen mit uns: Denkst du noch daran?
Denkst du daran, wie an der Kindheit Grenzen
Uns eine schönre Freudenwelt empfing?
Wie uns ein Leben, voll Gesang und Tänzen,
Gefaßt in seinen wundervollen Ring?
Und wie auch ernste deutungsvolle Tage
Des Lebens Ernst und Züge zeigten an?
Es war der Jugend Frühlingstag; o sage,
Die Schwestern bitten: Denkst du noch daran?
[48]
Wohl trittst du jetzt in ernster Frauen Kreise,
Die Myrte schmückt zum letztenmal dein Haar,
Du tändelst nicht mehr nach der Mädchen Weise,
Du nimmst jetzt Abschied von der Jungfraun Schar.
Doch blickst du künftig ernst in unsern Reigen,
Schilt unsre Freuden dann nicht leeren Wahn;
Denn die Erinn'rung wird dir Bilder zeigen
Und lächelnd sagen: Denkst du noch daran?
Du denkst daran – und zum Gedächtnismale,
Als eine reine, jungfräuliche Zier,
Nimm von den Schwestern die kristallne Schale,
Wir reichen sie mit frommen Wünschen dir.
So werden wir in deinem Herzen leben,
Denn siehst du einmal diese Schale an,
Dann wird dich die Erinnerung umschweben,
Und freundlich sagst du: »Ja, ich denk' daran.«

An Emilie.

Zum Garten ging ich früh hinaus,
Ob ich vielleicht ein Sträußchen finde?
Nach manchem Blümchen schaut' ich aus,
Ich wollt's für dich zum Angebinde;
Umsonst hatt' ich mich hinbemüht,
Vergebens war mein freudig Hoffen;
Das Veilchen war schon abgeblüht,
Von andern Blümchen keines offen.
Und trauernd späht' ich her und hin,
Da tönte zu mir leise, leise
Ein Flüstern aus der Zweige Grün,
Gesang nach sel'ger Geister Weise;
Und lieblich, wie des Morgens Licht
Des Tales Nebelhüllen scheidet,
Ein Röschen aus der Knospe bricht,
Das seine Blätter schnell verbreitet.
[49]
»Du suchst ein Blümchen?« spricht's zu mir,
»So nimm mich hin mit meinen Zweigen,
Bring mich zum Angebinde ihr!
Ich bin der wahren Freude Zeichen.
Ob auch mein Glanz vergänglich sei,
Es treibt aus ihrem treuen Schoße
Die Erde meine Knospen neu,
Drum unvergänglich ist die Rose.
Und wie mein Leben ewig quillt
Und Knosp' um Knospe sich erschließet,
Wenn mich die Sonne sanft und mild
Mit ihrem Feuerkuß begrüßet,
So deine Freundin ewig blüht,
Beseelt vom Geiste ihrer Lieben,
Denn ob der Rose Schmelz verglüht –
Der Rose Leben ist geblieben.«

Der Kranke.

Zitternd auf der Berge Säume
Fällt der Sonne letzter Strahl,
Eingewiegt in düstre Träume
Blickt der Kranke in das Tal,
Sieht der Wolken schnelles Jagen
Durch das trübe Dämmerlicht –
Ach, des Busens stille Klagen
Tragen ihn zur Heimat nicht!
Und mit glänzendem Gefieder
Zog die Schwalbe durch die Luft,
Nach der Heimat zog sie wieder,
Wo ein milder Himmel ruft;
Und er hört ihr fröhlich Singen,
Sehnsucht füllt des Armen Blick,
Ach, er sah sie auf sich schwingen,
Und sein Kummer bleibt zurück.
Schöner Fluß mit blauem Spiegel,
Hörst du seine Klagen nicht?
Sag' es seiner Heimat Hügel,
Daß des Kranken Busen bricht.
[50] Aber kalt rauscht er vom Strande
Und entrollt ins stille Tal,
Schweiget in der Heimat Lande
Von des Kranken stiller Qual.
Und der Arme stützt die Hände
An das müde, trübe Haupt;
Eins ist noch, wohin sich wende
Der, dem aller Trost geraubt;
Schlägt das blaue Auge wieder
Mutig auf zum Horizont,
Immer stieg ja Trost hernieder
Dorther, wo die Liebe wohnt.
Und es netzt die blassen Wangen
Heil'ger Sehnsucht stiller Quell,
Und es schweigt das Erdverlangen,
Und das Auge wird ihm hell:
Nach der ew'gen Heimat Lande
Strebt sein Sehnen kühn hinauf,
Sehnsucht sprengt der Erde Bande,
Psyche schwingt zum Licht sich auf.

Grabgesang.

Vor des Friedhofs dunkler Pforte
Bleiben Leid und Schmerzen stehn,
Dringen nicht zum heil'gen Orte,
Wo die sel'gen Geister gehn,
Wo nach heißer Tage Glut
Unser Freund in Frieden ruht.
Zu des Himmels Wolkentoren
Schwang die Seele sich hinan,
Fern von Schmerzen, neu geboren,
Geht sie auf – die Sternenbahn;
Auch vor jenen heil'gen Höhn
Bleiben Leid und Schmerzen stehn.
Sehnsucht gießet ihre Zähren
Auf den Hügel, wo er ruht;
Doch ein Hauch aus jenen Sphären
[51] Füllt das Herz mit neuem Mut;
Nicht zur Gruft hinab – hinan,
Aufwärts ging des Freundes Bahn.
Drum auf des Gesanges Schwingen
Steigen wir zu ihm empor,
Unsre Trauertöne dringen
Aufwärts zu der Sel'gen Chor,
Tragen ihm in stille Ruh'
Unsre letzten Grüße zu.

Aus dem Stammbuche eines Freundes.

Und wird dir einst die Nachricht zugesandt,
Daß zu den Vätern ich versammelt wäre,
So trink und sprich: »Ich hab' ihn auch gekannt!«
Mach hier ein Kreuz – und gib mir eine Zähre.

Logogryph.

Kennst du das Wort, das Herzen mächtig bindet?
Kennst du der Liebe trauliches Symbol?
Das feste Band, das sich um Freunde windet,
Des Fürsten Heil, des Vaterlandes Wohl?
An Stärke muß ihm Stahl und Eisen weichen;
Doch hat es einen mächt'gen stillen Feind;
Streichst du des hohen Wortes erstes Zeichen,
Hast du die finstre Macht, die ich gemeint.
So lang die Welt steht, liegen diese beiden
Im Kampf um höchstes Leid und höchste Lust;
Halt fest am Ganzen, laß sie nimmer streiten
In deiner stillen und zufriednen Brust.

[52]

Drei Rätsel.

1.

Es ist ein Wort, dreideutig dem Germanen;
Einst war das Erste furchtbar seinen Ahnen;
Der schwere Zeiger der Geschichte rückt,
Der Deutsche erbt das Zepter; ihr erblickt,
Wie dem erwählten deutschen Sohne
Im Zweiten die gewicht'ge Krone
Der Bischof auf die Stirne drückt.
Es kreist im hochgewölbten Saale
Das Dritte bei dem Krönungsmahle.

2.

Noch sitzt auf halbzerfallnem Throne,
Noch hält die längst bestrittne Krone
Die alte Königin der Welt.
Ob sie wohl je vom Throne fällt?
Vielleicht; doch liest du sie von hinten,
So wirst du einen König finden,
Der herrscht, seitdem die Welt besteht,
Des Reich nur mit der Welt vergeht;
Sie schießt nicht ew'ge Donnerkeile,
Doch ewig treffen seine Pfeile.

3.

Einst hieß man mich die schönste aller Frauen,
Selbst Könige entzweite meine Macht.
Zehntausend Krieger aus Europas Gauen,
Von Asiens Landen schlugen manche Schlacht,
Und eher nicht war ihres Kampfes Ziel,
Als bis erschlagen alle Heldensöhne
Und bis ein stolzes Königshaus zerfiel;
Und dennoch pries man die unsel'ge Schöne.
[53]
Und wieder tönte jüngst mein alter Namen,
Doch bin ich häßlich und verlassen nun,
Von allen, die des Weges zu mir kamen,
Will keiner lang an meiner Seite ruhn;
Nur einer kam, der erste, dem nicht graut,
An meinem Herd für immer still zu liegen,
Der lange mir ins blasse Antlitz schaut
Und bitter lacht ob meinen düstern Zügen.
»Ach, darum also,« sprach er, »läßt du feiern
Dein unheilvoll Gedächtnis bis auf heut,
Damit du reihtest zu den alten Freiern
Auch einen Heros aus der neuen Zeit?
Doch lockst du mich mit keinem Erdentand,
Denn Zeus zerschlug dein Ilium in Scherben;
Wohlan! auch meine Trojer deckt der Sand,
So laß mich denn in deinen Armen sterben.«

Scharade.

Der ersten Silb' entströmen Wein und Lieder,
Und was du einsam denkst, macht sie bekannt,
Oft geht sie mit dem Zwang auch Hand in Hand,
Schlägt selbst in Fesseln deine freien Glieder!
Doch gibt das zweite Paar dir Hoffnung wieder;
Sein Feueratem weht von Land zu Land,
Sprengt deines Kerkers festgetürmte Wand,
Wirft deine Häscher, deine Fesseln nieder.
Scheint Zwei mit Eins sich nimmer zu vertragen.
So ist das Ganze doch ein hohes Wort,
Woran man nur den Widerspruch getadelt;
Doch hat sein Widerspruch manch großen Geist geadelt!
Fürwahr! es starb des Letzten letzter Hort,
Wär' es gestorben jüngst in unsern Tagen.

[55]

Novellen.

Erster Teil.


[56]

Inhaltsverzeichnis.

Seite
Vertrauliches Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich 57
Othello 63
Die Bettlerin vom Pont des Arts 104
Jud Süß 200

[57]

Vertrauliches Schreiben
an
Herrn W. A. Spöttlich,

Vizebataillonschirurgen a. D. und Mautbeamten in Tempelhof bei Berlin.

Sie werden mich verbinden, verehrter Herr, wenn Sie diese Vorrede lesen, welche ich einer kleinen Sammlung von Novellen vordrucken lasse. Ich ergreife nämlich diesen Weg, einiges mit Ihnen zu besprechen, teils weil mir nach sechs unbeantwortet gebliebenen Briefen das Porto bis Tempelhof zu teuer deuchte, teils aber auch, weil Sie vielleicht nicht begreifen, warum ich diese Novellen gerade so geschrieben habe und nicht anders.

Sie werden nämlich nach Ihrer bekannten Weise, wenn Sie »Novellen« auf dem Titel lesen, die kleinen Augen noch ein wenig zudrücken, auf geheimnisvolle Weise lächeln und, sollte er gerade zugegen sein, Herrn Amtmann Kohlhaupt versichern: »Ich kenne den Mann, es ist alles erlogen, was er schreibt;« und doch würden Sie sich gerade bei diesen Novellen sehr irren. Die besten und berühmtesten Novellendichter Lopez de Vega, Boccaz, Goethe, Calderon, Tieck, Scott, Cervantes und auch ein Tempelhofer haben freilich aus einem unerschöpflichen Schatz der Phantasie ihre Dichtungen hervorgebracht, und die unverwelklichen Blumensträuße, die sie gebunden, waren nicht in Nachbars Garten gepflückt, sondern sie stammten aus dem ewig grünenden Paradies der Poesie, wozu, nach der Sage, Feen ihren Lieblingen den unsichtbaren Schlüssel in die Wiege legen. Daher kommt es auch, daß durch eine geheimnisvolle Kraft alles, was sie gelogen haben, zur schönsten Wahrheit geworden ist.

[58]

Geringere Sterbliche, welchen jene magische Springwurzel, die nicht nur die unsichtbaren Wege der Phantasie erschließt, sondern auch die festen und undurchdringlichen Pforten der menschlichen Brust aufreißt, nicht zu teil wurde, müssen zu allerlei Notbehelf ihre Zuflucht nehmen, wenn sie – Novellen schreiben wollen. Denn das eben ist das Aergerliche an der Sache, daß oft ihre Wahrheit als schlecht erfundene Lüge erscheint; während die Dichtung jener Feenkinder für treue, unverfälschte Wahrheit gilt.

So bleibt oft uns geringen Burschen nichts übrig, als nach einer Novelle zu spionieren. Kaffeehäuser, Restaurationen, italienische Keller und dergleichen sind für diesen Zweck nicht sehr zu empfehlen. Gewöhnlich trifft man dort nur Männer, und Sie wissen selbst, wie schlecht die Restaurationsmenschen erzählen. Da wird nur dieses oder jenes Faktum schnell und flüchtig hingeworfen; reine Nebenbemerkungen, nichts Malerisches; ich möchte sagen, sie geben ihren Geschichten kein Fleisch, und wie oft habe ich mich geärgert, wenn man von einer Hinrichtung sprach, und dieser oder jener nur hinwarf »geköpft«, »hingerichtet«, statt daß man, wie bei ordentlichen Erzählungen gebräuchlich, den armen Sünder, seinen Beichtvater, den roten Mantel des Scharfrichters, sein blinkendes Schwert sieht, ja selbst die Luft pfeifen hört, wenn sein nerviger Arm den Streich führt.

Es gibt gewisse Weinstuben, wo sich ältere Herren versammeln und nicht gerne einen »Jungen«, einen »Fremden« unter sich sehen. Diese pflegen schon besser zu erzählen; dadurch, daß sie diesen oder jenen Straßenraub, die geheimnisvolle, unerklärliche Flucht eines vornehmen Herrn, einen plötzlichen Sterbefall, wobei man »allerlei gemunkelt« habe, schon fünfzigmal erzählten, haben ihre Geschichten einen Schmuck, ein stattliches Kleid bekommen, und schreiten ehrbar fürder, während die Geschichten der Restaurationsmenschen wie Schatten hingleiten. Solche Herren haben auch eine Art von historischer Gründlichkeit, und es gereicht mir immer zu hoher Freude, wenn einer spricht: »Da bringen Sie mich auf einen sonderbaren Vorfall,« sich noch eine halbe Flasche geben läßt und dann anhebt: »In den siebziger Jahrgängen lebte in meiner Vaterstadt ein Kavalier von geheimnisvollem Wesen.« – Solche Herren trifft man allenthalben, und sie werden von mehreren unserer neueren Novellisten stark benützt. Der bekannte **[59] versicherte mir, daß er einen ganzen Band seiner Novellen solchen alten Nachtfaltern verdanke, und erst aus diesem Geständnis konnte ich mir erklären, warum seine Novellen so steif und trocken waren; sie kamen mir nachher allesamt vor wie alte, verwelkte Junggesellen, die sich ihre Liebesabenteuer erzählen, welche sämtlich anfangen: »Zu meiner Zeit.«

Die ergiebigste Quelle aber für Novellisten unserer Art sind Frauen, die das fünfundsechzigste hinter sich haben. Die Welt nennt Medisance, was eigentlich nur eine treffliche Weise zu erzählen ist; junge Mädchen von sechzehn, achtzehn pflegen mit solchen Frauen gut zu stehen und sich wohl in acht zu nehmen, daß sie ihnen keine Blöße geben, die sie in den Mund der alten Novellistinnen bringen könnte; Frauen von dreißig und ihre Hausfreunde gehen lieber eine Ecke weiter, um nicht ihren Gesichtskreis zu passieren, oder wenn sie der Zufall mit der Jugendfreundin ihrer seligen Großmutter zusammenführt, pflegen sie das gute Aussehen der Alten zu preisen und hören geduldig ein beißendes Lob der alten Zeiten an, das regelmäßig ein sanftes Exordium, drei Teile über Hauswesen, Kleidung und Kinderzucht, eine Nutzanwendung nebst einem frommen Amen enthält. Solche ältere Frauen pflegen gegen jüngere Männer, die ihnen einige Aufmerksamkeit schenken, einen gewissen geheimnisvoll-zutraulichen Ton anzunehmen. Sie haben für junge Mädchen und schöne Frauen, die jetzt dieselbe Stufe in der Gesellschaft bekleiden, welche sie einst selbst behauptet hatten, feine und bezeichnende Spitznamen, und erzählen den Herren, die ihnen ein Ohr leihen, allerlei »kuriose« Sachen von dem »Eichhörnlein und seiner Mutter«, auch »wie es in diesem oder jenem Hause zugeht«, »galante Abenteuer von jenem ältlichen, gesetzten Herrn, der nicht immer so gewesen«, und sind sie nur erst in dem abenteuerlichen Gebiet geheimer Hofgeschichten und schlechter Ehen, so spinnen sie mit zitternder Stimme, feinem Lächeln und den teuersten Versicherungen Geschichten aus, die man (natürlich mit veränderten Namen) sogleich in jeden Almanach könnte drucken lassen.

Niemand weiß so trefflich wie sie das Kostüm, das Gespräch, die Sitten »vor fünfzig Jahren« wiederzugeben; ich glaubte einst bei einer solchen Unterhaltung die Reifröcke rauschen, die hohen Stelzschuhe klappern, die französischen Brocken schnurren zu hören, die ganze Erzählung roch nach Ambra und Puder wie die alten Damen selbst. Und so frisch und lebhaft[60] ist ihr Gedächtnis und Mienenspiel, daß ich einmal, als mir eine dieser Damen von einer längst verstorbenen Frau Ministerin erzählte und ihren Gang und ihren schnarrenden Ton nachahmte, unwillkürlich mich erinnerte, daß ich diese Frau als Kind gekannt, daß sie mir mit derselben schnarrenden Stimme ein Zuckerbrot geschenkt habe. Mehrere Novellen, die ich aufgeschrieben, beziehen sich auf geheime Familiengeschichten oder sonderbare, abenteuerliche Vorfälle, deren wahre Ursachen wenig ins Publikum kamen, und ich kann versichern, daß ich sie alle, teils in Berlin, teils in Hannover, Kassel, Karlsruhe, selbst in Dresden eben von solchen alten Frauen, den Chroniken ihrer Umgebung, gehört und oft wörtlich wiedererzählt habe.

Nur so ist es möglich, daß wir, auch ohne jenen Schlüssel zum Feenreich, gegenwärtig in Deutschland eine so bedeutende Menge Novellen zu Tage fördern. Die wundervolle Märchenwelt findet kein empfängliches Publikum mehr, die lyrische Poesie scheint nur noch von wenigen geheiligten Lippen tönen zu wollen, und vom alten Drama sind uns, sagt man, nur die Dramaturgen geblieben. In einer solchen miserablen Zeit, Verehrter, ist die Novelle ein ganz bequemes Ding. Den Titel haben wir, wie eine Maske, von den großen Novellisten entlehnt, und Gott und seine lieben Kritiker mögen wissen, ob die nachstehenden Geschichten wirkliche und gerechte Novellen sind.

Ich habe, mein werter Herr, dies alles gesagt, um Ihnen darzutun, wie ich eigentlich dazu kam, Novellen zu schreiben, wie man beim Novellenschreiben zu Werke gehe, und – daß alles getreue Wahrheit sei, wenn auch keine poetische, was ich niedergeschrieben. Sie werden sich noch der guten Frau von Welkerlohn erinnern, die immer ein Kleid von verblichenem gelben Samt trug, das nur eine weiche Fortsetzung ihrer harten, gelben Züge schien? Von ihr habe ich die Geschichte, »Othello« betitelt. Sie war viel zu diskret, um Namen und die Residenz zu nennen, wo diese sonderbaren Szenen vorfielen, aber wenn ich bedenke, daß sie zur selben Zeit Hofdame in Scherau war, als Jean Paul dort lebte, so kann ich nicht anders glauben, als die Geschichte sei an jenem Hofe vorgefallen. Die zweite Novelle habe ich aus dem Mund der alten Gräfin Nelkenroth; man hält sie allgemein für eine böse Frau, aber ich kann versichern, daß ich sie über Josephens Schicksal Tränen vergießen sah. Man will zwar behaupten, daß sie oft in Gesellschaften weinerliche Geschichten erzähle, weil ihr vor zwanzig Jahren ein[61] Maler versicherte, sie habe etwas von einer Mater dolorosa; aber soviel ist gewiß, daß sie mehrere Personen des Stücks gekannt haben will, und die Frau, bei welcher Herr von Fröben in S. gewohnt hat, erzählte mir manche Sonderbarkeiten von ihm. Ich und viele Leute in S., welchen ich die Geschichte wiedererzählte, gaben sich vergebliche Mühe über Herrn von Fröben und die Personen, mit welchen er in Berührung kam, etwas Näheres zu erfragen. Wir erfuhren nur, daß das Bild der Dame nach dem Gemälde in der Boisseréeschen Galerie von Strixner lithographiert worden sei. In Ostende, wo ich durch mehrere Briefe nachforschte, konnte ich nichts erfahren, als daß allerdings ein englisches Schiff, die »Luna«, Kapitän Wardwood, im August Passagiere nach Portugal an Bord genommen habe, und daß sich im Register des Hafendirektors ein Don Petro de Montanjo nebst Nichte und Dienerschaft befinde. Am Rhein, wo ich mich nach Herrn von Faldner und seiner Familie erkundigte, und erzählte, warum ich nachfrage, erklärte man mir alles für Erfindung, denn es gäbe am ganzen Rhein hinab nur gesittete Landwirte, die mit ihren Frauen wie die Engel im Himmel leben.

Sie sehen, ich habe keine Mühe gescheut, die Geschichten, die ich erzähle, so glaubwürdig als möglich zu machen. Es gibt freilich Leute, die mir dieser historischen Wahrheit wegen gram sind und behaupten, der echte Dichter müsse keine Straße, keine Stadt, keine bekannten Namen und Gegenstände nennen; alles und jedes müsse rein erdichtet sein, nicht durch äußern Schmuck, sondern von innen Wahrheit gewinnen, und wie Mohammeds Sarg müsse es in der schönen lieben, blauen Luft zwischen Himmel und Erde schweben. Andere halten es vielleicht auch für »eine rechtswidrige Täuschung des Publikums« und können mich darüber belangen wollen, daß ich behaupte, dies und jenes habe sich da und dort zugetragen, und ich könne doch keine stadtgerichtlichen Zeugnisse beibringen. Aber ist denn hier von echter Poesie, von echten Dichtern die Rede? Man lege doch nicht an die Erzählungen einiger alten Damen diesen erhabenen Maßstab! Goethe erzählte in Dichtung und Wahrheit, er habe in der Frankfurter Stadtmauer eine Türe und einen wunderschönen Garten gesehen. Noch heute laufen alle Fremden hin (ich selbst war dort) und beschauen die Mauer und wundern sich, daß man nicht wenigstens die Reparatur schauen könne, wenngleich das Loch nur geträumt und nie in der Mauer war. Solchen poetischen[62] Frevel gegen ein gesetztes Publikum mag man einem Goethe vorrücken; armen Menschen, ohne den Kammerherrnschlüssel der Poesie, der die Mauern aufschließt, wenn sie auch keine Türen haben, muß man solche Freiheiten zugute halten.

Darum lesen Sie, verehrter Herr, diese Geschichten, so abenteuerlich sie sein mögen, als reine, treue Wahrheit; es wird Sie weniger ärgern, als wenn Sie Dichtungen vor sich zu haben meinten, und Ihr scharfes Auge ein wirres Gewebe unwahrscheinlicher Lügen fände.

W. H.


[63]

Othello.

1.

Das Theater war gedrängt voll, ein neuangeworbener Sänger gab den Don Juan. Das Parterre wogte, von oben gesehen, wie die unruhige See, und die Federn und Schleier der Damen tauchten wie schimmernde Fische aus den dunkeln Massen. Die Ranglogen waren reicher als je, denn mit dem Anfang der Wintersaison war eine kleine Trauer eingefallen und heute zum erstenmal drangen wieder die schimmernden Farben der reichen Turbans, der wehenden Büsche, der bunten Schals an das Licht hervor. Wie glänzend sich aber auch der reiche Kranz von Damen um das Amphitheater zog, das Diadem dieses Kreises schien ein herrliches, liebliches Bild zu sein, das aus der fürstlichen Loge freundlich und hold die Welt um und unter sich überschaute. Man war versucht, zu wünschen, dieses schöne Kind möchte nicht so hoch geboren sein, denn diese frische Farbe, diese heitere Stirne, diese kindlich-reinen, milden Augen, dieser holde Mund war zur Liebe, nicht zur Verehrung aus der Ferne geschaffen. Und wunderbar, wie wenn Prinzessin Sophie diesen frevelhaften Gedanken geahnet hätte – auch ihr Anzug entsprach diesem Bilde einfacher natürlicher Schönheit; sie schien jeden Schmuck, den die Kunst verleiht, dem stolzen Damenkreis überlassen zu haben.

»Sehen Sie, wie lebendig, wie heiter sie ist,« sprach in einer der ersten Ranglogen ein fremder Herr zu dem russischen Gesandten, der neben ihm stand, und beschaute die Prinzessin durch das Opernglas; »wenn sie lächelt, wenn sie das sprechende Auge ein klein wenig zudrückt, und dann mit unbeschreiblichem Reiz wieder aufschlägt, wenn sie mit der kleinen, niedlichen Hand dazu agiert – man sollte glauben, aus so weiter Ferne ihre witzigen Reden, ihre naiven Fragen vernehmen zu können.«

»Es ist erstaunlich!« entgegnete der Gesandte.

»Und dennoch sollte dieser Himmel von Freudigkeit nur Maske sein? Sie sollte fühlen, schmerzlich fühlen, sie sollte[64] unglücklich lieben, und doch so blühend, so heiter sein? Gnädige Frau,« wandte sich der Fremde zu der Gemahlin des Gesandten, »gestehen Sie, Sie wollen mich mystifizieren, weil ich einiges Interesse an diesem Götterkinde genommen habe.«

»Mon Dieu! Baron,« sagte diese mit dem Kopfe wackelnd, »Sie glauben noch immer nicht? Auf Ehre, es ist wahr, wie ich Ihnen sagte; sie liebt, sie liebt unter ihrem Stande, ich weiß es von einer Dame, der nichts dergleichen entgeht. Und wie, meinen Sie, eine Prinzessin, die von Jugend auf zur Repräsentation erzogen ist, werde nicht Tournüre genug haben, um ein so unschickliches Verhältnis den Augen der Welt zu verbergen?«

»Ich kann es nicht begreifen,« flüsterte der Fremde, indem er wieder sinnend nach ihr hinsah; »ich kann es nicht fassen; diese Heiterkeit, dieser beinahe mutwillige Scherz – und stille, unglückliche Liebe? Gnädige Frau, ich kann es nicht begreifen!«

»Ja, warum soll sie denn nicht munter sein, Baron? Sie ahnet wohl nicht, daß jemand etwas von ihrer meschanten Aufführung weiß; der Amoroso ist in der Nähe –«

»Ist in der Nähe? O bitte, Madame! Zeigen Sie mir den Glücklichen, wer ist er?«

»Was verlangen Sie! Das wäre ja gegen alle Diskretion, die ich der Oberhofmarschallin schuldig bin; mein Freund, daraus wird nichts. Sie können zwar in Warschau wiedererzählen, was Sie hier gesehen und gehört haben, aber Namen? nein, Namen zu nennen in solchen Affären ist sehr unschicklich; mein Mann kann dergleichen nicht leiden.«

Die Ouverture war ihrem Ende nahe, die Töne brausten stärker aus dem Orchester herauf, die Blicke der Zuschauer waren fest auf den Vorhang gerichtet, um den neuen Don Juan bald zu sehen; doch der Fremde in der Loge der russischen Gesandtschaft hatte kein Ohr für Mozarts Töne, kein Auge für das Stück, er sah nur das liebliche, herrliche Kind, das ihm um so interessanter war, als diese schönen Augen, diese süßen, freundlichen Lippen heimliche Liebe kennen sollten. Ihre Umgebungen, einige ältere und jüngere Damen, hatten zu sprechen aufgehört; sie lauschten auf die Musik; Sophiens Augen gleiteten durch das gefüllte Haus, sie schienen etwas zu vermissen, zu suchen. »Ob sie wohl nach dem Geliebten ihre Blicke aussendet?« dachte der Fremde; »ob sie die Reihen mustert, ihn zu sehen, ihn mit einem verstohlenen Lächeln, mit einem leisen Beugen des Hauptes, mit einem jener tausend Zeichen zu begrüßen, welche[65] stille Liebe erfindet, womit sie ihre Lieblinge beglückt, bezaubert?« Eine schnelle, leichte Röte flog jetzt über Sophiens Züge, sie rückte den Stuhl mehr seitwärts, sie sah einigemal nach der Türe ihrer Loge: die Türe ging auf, ein großer, schöner junger Mann trat ein und näherte sich einer der älteren Damen, es war die Herzogin F., die Mutter der Prinzessin. Sophie spielte gleichgültig mit der Brille, die sie in der Hand hielt, aber der Fremde war Kenner genug, um in ihrem Auge zu lesen, daß dieser und kein anderer der Glückliche sei.

Noch konnte er sein Gesicht nicht sehen; aber die Gestalt, die Bewegungen des jungen Mannes hatten etwas Bekanntes für ihn; die Fürstin zog ihre Tochter ins Gespräch, sie blickte freundlich auf, sie schien etwas Pikantes erwidert zu haben, denn die Mutter lächelte, der junge Mann wandte sich um, und – »Mein Gott! Graf Zronievsky!« rief der Fremde so laut, so ängstlich, daß der Gesandte an seiner Seite heftig erschrak, und seine Gemahlin den Gast krampfhaft an der Hand faßte, und neben sich auf den Stuhl niederriß.

»Ums Himmels willen, was machen Sie für Skandal!« rief die erzürnte Dame; »die Leute schauen rechts und links nach uns her; wer wird denn so mörderlich schreien? Es ist nur gut, daß sie da unten gerade ebenso mörderlich gegeigt und trompetet haben, sonst hätte jedermann Ihren »Zronievsky« hören müssen. Was wollen Sie nur von dem Grafen? Sie wissen ja doch, daß wir vermeiden, ihn zu kennen!«

»Kein Wort weiß ich,« erwiderte der Fremde; »wie kann ich auch wissen, wen Sie kennen und wen nicht, da ich erst seit drei Stunden hier bin? Warum vermeiden Sie es, ihn zu sehen?«

»Nun, seine Verhältnisse zu unserer Regierung können Ihnen nicht unbekannt sein,« sprach der Gesandte; »er ist verwiesen, und es ist mir höchst fatal, daß er gerade hier, und immer nur hier sein will. Er hat sich unverschämterweise bei Hofe präsentieren lassen, und so sehe ich ihn auf jedem Schritt und Tritt, und doch wollen es die Verhältnisse, daß ich ihn ignoriere. Ueberdies macht mir der fatale Mensch sonst noch genug zu schaffen; man will höheren Orts wissen, wovon er lebe, und so glänzend lebe, da doch seine Güter konfisziert sind; und ich weiß es nicht herauszubringen. Sie kennen ihn, Baron?«

Der Fremde hatte diese Reden nur halb gehört; er sah unverwandt nach der fürstlichen Loge, er sah, wie Zronievsky[66] mit der Fürstin und den andern Damen sprach, wie nur sein feuriges Auge hin und wieder nach Sophien hingleitete, wie sie begierig diesen Strahl auffing und zurückgab. Der Vorhang flog auf; der Graf trat zurück und verschwand aus der Loge; Leporello hub seine Klagen an.

»Sie kennen ihn, Baron?« flüsterte der Gesandte. »Wissen Sie mir Näheres über seine Verhältnisse –«

»Ich habe mit ihm unter den polnischen Lanciers gedient.«

»Ist wahr; er hat in der französischen Armee gedient; sahen Sie sich oft? kennen Sie seine Ressourcen?«

»Ich habe ihn nur gesehen,« warf der Fremde leicht hin, »wenn es der Dienst mit sich brachte; ich weiß nichts von ihm, als daß er ein braver Soldat und ein sehr unterrichteter Offizier ist.«

Der Gesandte schwieg; sei es, daß er diesen Worten glaubte, sei es, daß er zu vorsichtig war, seinem Gast durch weitere Fragen Mißtrauen zu zeigen. Auch der Fremde bezeigte keine Lust, das Gespräch weiter fortzusetzen; die Oper schien ihn ganz in Anspruch zu nehmen; und dennoch war es ein ganz anderer Gegenstand, der seine Seele unablässig beschäftigte. »Also hierher hat dich dein unglückliches Geschick endlich getrieben?« sagte er zu sich, »armer Zronievsky! Als Knabe wolltest du dem Kosciuszko helfen, und dein Vaterland befreien; Freiheit und Kosciuszko sind verklungen und verschwunden! Als Jüngling warst du für den Ruhm der Waffen, für die Ehre der Adler, denen du folgtest, begeistert, man hat sie zerschlagen; du hattest dein Herz so lange vor Liebe bewahrt, sie findet dich endlich als Mann, und siehe – die Geliebte steht so furchtbar hoch, daß du vergessen oder untergehen mußt!«

Das Geschick seines Freundes, denn dies war ihm Graf Zronievsky gewesen, stimmte den Fremden ernst und trübe, er versank in jenes Hinbrüten, das die Welt und alle ihre Verhältnisse vergißt, und der Gesandte mußte ihn, als der erste Akt der Oper zu Ende war, durch mehrere Fragen aus seinem Sinnen aufwecken, das nicht einmal durch das Klatschen und Bravorufen des Parterres unterbrochen worden war.

»Die Herzogin hat nach Ihnen gefragt,« sagte der Gesandte; »sie behauptet, Ihre Familie zu kennen; kommen Sie, wischen Sie diesen Ernst, diese Melancholie von Ihrer Stirne; ich will Sie in die Loge führen und präsentieren.«

Der Fremde errötete; sein Herz pochte, er wußte selbst nicht warum; erst als er den Korridor mit dem Gesandten hinging,[67] als er sich der fürstlichen Loge näherte, fühlte er, daß es die Freude sei, was sein Blut in Bewegung brachte, die Freude, jenem lieblichen Wesen nahe zu sein, dessen stille Liebe ihn so sehr anzog.


2.

Die Herzogin empfing den Fremden mit ausgezeichneter Güte. Sie selbst präsentierte ihn der Prinzessin Sophie, und der Name Larun schien in den Ohren des schönen Kindes bekannt zu klingen; sie errötete flüchtig und sagte, sie glaube gehört zu haben, daß er früher in der französischen Armee diente. Es war dem Baron nur zu gewiß, daß ihr niemand anders als Zronievsky dies gesagt haben konnte, es war ihm um so gewisser, als ihr Auge mit einer gewissen Teilnahme auf ihm wie auf einem Bekannten ruhte, als sie gerne die Rede an ihn zu richten schien.

»Sie sind fremd hier,« sagte die Herzogin, »Sie sind keinen Tag in diesen Mauern, Sie können also noch von niemand bestochen sein; ich fordere Sie auf, sein Sie Schiedsrichter; kann es nicht in der Natur geheimnisvolle Kräfte geben, die – die, wie soll ich mich nur ausdrücken, die, wenn wir sie frevelhaft hervorrufen, uns Unheil bringen können?«

»Sie sind nicht unparteiisch, Mutter;« rief die Prinzessin lebhaft, »Sie haben schon durch Ihre Frage, wie Sie sie stellten, die Sinne des Barons gefangen genommen. Sagen Sie einmal, wenn zufällig im Zwischenraum von vielen Jahren von einem Hause nach und nach sechs Dachziegel gefallen wären und einige Leute getötet hätten, würden Sie nicht mehr an diesem Hause vorübergehen?«

»Warum nicht? es müßten nur in diesen Ziegeln geheimnisvolle Kräfte liegen, welche –«

»Wie mutwillig,« unterbrach ihn die Herzogin, »Sie wollen mich mit meinen geheimnisvollen Kräften nach Hause schicken, aber nur Geduld; das Gleichnis, das Sophie vorbrachte, paßt doch nicht ganz –«

»Nun, wir wollen gleich sehen, wem der Baron recht gibt,« rief jene; »die Sache ist so, wir haben hier eine sehr hübsche Oper, man gibt alles mögliche, Altes und Neues durcheinander, nur eines nicht, die schönste, herrlichste Oper, die ich kenne; auf fremdem Boden mußte ich sie zum erstenmal hören, das erste, was ich tat, als ich hierher kam, war, daß ich bat, man möchte sie hier geben, und nie wird mir mein Wunsch erfüllt! Und[68] nicht etwa, weil sie zu schwer ist – sie geben schwerere Stücke – nein, der Grund ist eigentlich lächerlich.«

»Und wie heißt die Oper?« fragte der Fremde.

»Es ist Othello!«

»Othello? gewiß, ein herrliches Kunstwerk; auch mich spricht selten eine Musik so an wie diese, und ich fühle mich auf lange Tage feierlich, ich möchte sagen heilig bewegt, wenn ich Desdemonas Schwanengesang zur Harfe singen gehört habe.«

»Hören Sie es? Er kommt von Petersburg, von Warschau, von Berlin, Gott weiß woher – ich habe ihn nie gesehen, und dennoch schätzt er Othello so hoch. Wir müssen ihn einmal wieder sehen. Und warum soll er nicht wieder gegeben werden? Wegen eines Märchens, das heutzutage niemand mehr glaubt.«

»Freveln Sie nicht!« rief die Fürstin; »es sind mir Tatsachen bekannt, die mich schaudern machen, wenn ich nur daran denke; doch wir sprechen unserm Schiedsrichter in Rätseln; stellen Sie sich einmal vor, ob es nicht schrecklich wäre, wenn es jedesmal, so oft Othello gegeben würde, brennte.«

»Auch wieder ein Gleichnis,« fiel Sophie ein, »doch es ist noch viel toller, das Märchen selbst!«

»Nein, es soll einmal brennen,« fuhr die Mutter fort. »Othello wurde zuerst als Drama nach Shakespeare gegeben, schon vor fünfzig Jahren; die Sage ging, man weiß nicht woher und warum, daß, so oft Othello gegeben wurde, ein gewisses Evenement erfolgte; nun also unser Brennen; es brannte jedesmal nach Othello. Man machte den Versuch, man gab lange Zeit Othello nicht; es kam eine neue geistreiche Uebersetzung auf, er wird gegeben – jener unglückliche Fall ereignet sich wieder. Ich weiß noch wie heute, als Othello, zur Oper verwandelt, zum erstenmal gegeben wurde; wir lachten lange vorher, daß wir den unglücklichen Mohren um sein Opfer gebracht haben, indem er jetzt musikalisch geworden – Desdemona war gefallen, wenige Tage nachher hatte der Schwarze auch ein weiteres Opfer. Der Fall trat nachher noch einmal ein, und darum hat man Othello nie wieder gegeben; es ist töricht, aber wahr. Was sagen Sie dazu, Baron, aber aufrichtig, was halten Sie von unserem Streit?«

»Durchlaucht haben vollkommen recht,« antwortete Larun in einem Ton, der zwischen Ernst und Ironie die Mitte hielt; »wenn Sie erlauben, werde ich durch ein Beispiel aus meinem eigenen Leben Ihre Behauptung bestätigen. Ich hatte eine unverheiratete Tante, eine unangenehme, mystische Person; wir[69] Kinder hießen sie nur die Federntante, weil sie große schwarze Federn auf dem Hut zu tragen pflegte. Wie bei Ihrem Othello, so ging auch in unserer Familie eine Sage, so oft die Federntante kam, mußte nachher eins oder das andere krank werden. Es wurde darüber gescherzt und gelacht, aber die Krankheit stellte sich immer ein, und wir waren den Spuk schon so gewöhnt, daß, so oft die Federntante zum Besuch in den Hof fuhr, alle Zurüstungen für die kommende Krankheit gemacht und selbst der Doktor geholt wurde.«

»Eine köstliche Figur, Ihre Federntante!« rief die Prinzessin lachend; »ich kann mir sie denken, wie sie den Kopf mit dem Federhut aus dem Wagen streckt, wie die Kinder laufen, als käme die Pest, weil keines krank werden will, und wie ein Reitknecht zur Stadt sprengen muß, um den Doktor zu holen, weil die Federntante erschienen sei. Da hatten Sie ja wahrhaftig eine lebendige weiße Frau in Ihrer Familie!«

»Still von diesen Dingen,« unterbrach sie die Fürstin ernst, beinahe unmutig; »man sollte nicht von Dingen so leichthin reden, die man nicht leugnen kann, und deren Natur dennoch nie erklärt werden wird. So ist nun einmal auch mein Othello,« setzte sie freundlich hinzu. »Und Sie werden ihn nicht zu sehen bekommen, Baron, und müssen Ihr Lieblingsstück schon wo anders aufsuchen.«

»Und Sie sollen ihn dennoch sehen,« flüsterte Sophie zu ihm hin, »ich muß mein Desdemonalied noch einmal hören, so recht sehen und hören auf der Bühne, und sollte ich selbst darüber zum Opfer werden!«

»Sie selbst?« fragte der Fremde betroffen; »ich höre ja, der gespenstige Mohr soll nur brennen, nicht töten

»Ach, das war ja nur das Gleichnis der Mutter!« flüsterte sie noch viel leiser, »die Sage ist noch viel schauriger und viel gefährlicher.«

Der Kapellmeister pochte, die Introduktion des zweiten Akts begann, und der Fremde stand auf, die fürstliche Loge zu verlassen. Die Herzogin hatte ihn gütig entlassen, aber vergebens sah er sich nach dem Gesandten um, er war wohl längst in seine Loge zurückgekehrt. Unschlüssig, ob er rechts oder links gehen müsse, stand er im Korridor, als eine warme Hand sich in die seinige legte; er blickte auf, es war der Graf Zronievsky.

[70]


3.

»So habe ich doch recht gesehen?« rief der Graf, »mein Major, mein tapferer Major! Wie lebt alles wieder in mir auf! Ich werfe diese unglücklichen dreizehn Jahre von mir; ich bin der frohe Lancier wie sonst! Vive Poniatowsky, vive l'emp–«

»Um Gottes willen, Graf!« fiel ihm der Fremde in das Wort; »bedenken Sie, wo Sie sind! Und warum diese Schatten heraufbeschwören? Sie sind hinab mit ihrer Zeit; lasset die Toten ruhen!«

»Ruhen?« entgegnete jener; »das ist ja gerade, was ich nicht kann; o daß ich unter jenen Toten wäre! Wie sanft, wie geduldig wollte ich ruhen! Sie schlafen, meine tapfern Polen, und keine Stimme, wie mächtig sie auch rufe, schreckt sie auf. Warum darf ich allein nicht rasten?«

Ein düsteres, unstätes Feuer brannte in den Augen des schönen Mannes, seine Lippen schlossen sich schmerzlich; sein Freund betrachtete ihn mit besorgter Teilnahme, er sah hier nicht mehr den fröhlichen, heldenmütigen Jüngling, wie er ihn an der Spitze des Regiments in den Tagen des Glückes gesehen; das zutrauliche, gewinnende Lächeln, das ihn sonst so angezogen, war einem grämlichen, bittern Zuge gewichen, das Auge, das sonst voll stolzer Zuversicht, voll freudigen Mutes, frei und offen um sich blickte, schien mißtrauisch jeden Gegenstand zu prüfen, durchbohren zu wollen, das matte Rot, das seine Wangen bedeckte, war nur der Abglanz jener Jugendblüte, die ihm in den Salons von Paris den Namen des schönen Polen erworben hatte, und dennoch, auch nach dieser großen Veränderung, welche Zeit und Unglück hervorgebracht hatten, mußte man gestehen, daß Prinzessin Sophie sehr zu entschuldigen sei.

»Sie sehen mich an, Major?« sagte jener nach einigem Stillschweigen, »Sie betrachten mich, als wollten Sie die alten Zeiten aus meinen Zügen herausfinden? Geben Sie sich nicht vergebliche Mühe; es ist so manches anders geworden, sollte nicht der Mensch mit dem Geschick sich ändern?«

»Ich finde Sie nicht sehr verändert,« erwiderte der Fremde, »ich erkannte Sie bei dem ersten Anblick wieder. Aber eines finde ich nicht mehr wie früher, aus diesen Augen ist ein gewisses Zutrauen verschwunden, das mich sonst so oft beglückte. Alexander Zronievsky scheint mir nicht mehr zu trauen. Und[71] doch,« setzte er lächelnd hinzu, »und dennoch war mein Geist immer bei ihm, ich weiß sogar die tiefsten Gedanken seines Herzens.«

»Meines armen Herzens!« entgegnete der Graf wehmütig; »ich wüßte kaum, ob ich noch ein Herz habe, wenn es nicht manchmal vor Unmut pochte! Welche Gedanken wollen Sie aufgespürt haben, als die unwandelbare Freundschaft für Sie, Major? Schelten Sie nicht mein Auge, weil es nicht mehr fröhlich ist; ich habe mich in mich selbst zurückgezogen, ich habe mein Vertrauen in meine Rechte gelegt, ihr Druck wird Ihnen sagen, daß ich noch immer der alte bin.«

»Ich danke; aber wie, ich sollte mich nicht auf die Gedanken Ihres Herzens verstehen? Sie sagen, es pocht nur vor Unmut; was hat denn ein gewisses Fürstenkind getan, daß Ihr Herz so gar unmutig pocht?«

Der Graf erblaßte; er preßte des Freundes Hand fest in der seinigen: »Um Gottes willen, schweigen Sie; nie mehr eine Silbe über diesen Punkt! Ich weiß, ich verstehe, was Sie meinen, ich will sogar zugeben, daß Sie recht gesehen haben; der Teufel hat Ihre Augen gemacht, Major! Doch warum bitte ich einen Ehrenmann wie Sie, zu schweigen? Es hat ja noch keiner vom achten Regiment seinen Kameraden verraten.«

»Sie haben recht, und kein Wort mehr darüber; doch nur dies eine noch: vom achten verratet keiner den Kameraden, ob aber der gute Kamerad sich selber nicht verrät?«

»Kommen Sie hier in diese Treppe,« flüsterte der Graf, denn es nahten sich mehrere Personen; »Jesus Maria, sollte außer Ihnen jemand etwas ahnen?«

»Wenn Sie Vertrauen um Vertrauen geben werden, wohlan, so will ich beichten.«

»O, foltern Sie mich nicht, Major! Ich will nachher sagen, was Sie haben wollen, nur geschwind, ob jemand außer Ihnen –«

Der Major von Larun erzählte, er sei heute in dieser Stadt angekommen, seine Depeschen seien bei dem Gesandten bald in Richtigkeit gewesen, man habe ihn in die Oper mitgenommen, und dort, wie er entzückt die Prinzessin aus der Ferne betrachtet, habe ihm die Gesandtin gesagt, daß Sophie in ein Verhältnis unter ihrem Stande verwickelt sei. »Sie traten ein in die fürstliche Loge, ein Blick überzeugte mich, daß niemand als Sie der Geliebte sein könne.«

[72]

»Und die Gesandtin?« rief der Graf mit zitternder Stimme.

»Sie hat es bestätigt. Wenn ich nicht irre, sprach sie auch von einer Oberhofmarschallin, von welcher sie die Nachricht habe.«

Der Graf schwieg, einige Minuten vor sich hinstarrend; er schien mit sich zu ringen, er blickte einigemal den Fremden scheu von der Seite an – »Major,« sprach er endlich mit klangloser, matter Stimme, »können Sie mir hundert Napoleon leihen?«

Der Major war überrascht von dieser Frage; er hatte erwartet, sein Freund werde etwas weniges über sein Unglück jammern, wie bei dergleichen Szenen gebräuchlich, er konnte sich daher nicht gleich in diese Frage finden, und sah den Grafen staunend an.

»Ich bin ein Flüchtling,« fuhr dieser fort; »ich glaubte endlich eine stille Stätte gefunden zu haben, wo ich ein klein wenig rasten könnte, da muß ich lieben – muß geliebt werden, Major, wie geliebt werden!« Er hatte Tränen in den Augen, doch er bezwang sich und fuhr mit fester Stimme fort: »Es ist eine sonderbare Bitte, die ich hier nach so langem Wiedersehen an Sie tue, doch ich erröte nicht, zu bitten; Kamerad, gedenken Sie des letzten ruhmvollen Tages im Norden, gedenken Sie des Tages von Mosaisk?«

»Ich gedenke!« sagte der Fremde, indem sein Auge glänzte und seine Wangen sich höher färbten.

»Und gedenken Sie, wie die russische Batterie an der Redoute auffuhr, wie ihre Kartätschen in unsere Reihen sausten und der Verräter Piolsky zum Rückzug blasen ließ?«

»Ha!« fiel der Fremde mit dröhnender Stimme ein, »und wie Sie ihn herabschossen, Oberst, daß er keine Ader mehr zuckte, wie die Husaren rechts abschwenkten, wie Sie ›vorwärts!‹ riefen, ›vorwärts, Lanciers vom achten!‹ und die Kanonen in fünf Minuten unser waren!« –

»Gedenken Sie?« flüsterte der Graf mit Wehmut; »wohlan! ich kommandiere wieder vor der Front. Es gilt, einen Kameraden herauszuhauen, werdet Ihr ihn retten? En avant, Major! vorwärts, tapferer Lancier! wirst du ihn retten, Kamerad?«

»Ich will ihn retten!« rief der Freund, und der Graf Zronievsky schlug seinen Arm um ihn, preßte ihn heftig an seine Brust und eilte dann von ihm weg, den Korridor entlang.

[73]


4.

»Gut, daß ich Sie treffe,« rief der Graf Zronievsky, als er am nächsten Morgen dem Major auf der Straße begegnete, »ich wollte eben zu Ihnen und Sie um eine kleine Gefälligkeit ansprechen –«

»Die ich Ihnen schon gestern zusagte,« erwiderte jener; »wollen Sie mich in mein Hotel begleiten? es liegt längst für Sie bereit.« –

»Um Gottes willen! jetzt nichts von Geld,« fiel der Graf ein, »Sie töten mich durch diese Prosa; ich bin göttlich gelaunt, selig, überirdisch gestimmt. O Freund, ich habe es dem Engel gesagt, daß man uns bemerkt, ich habe ihr gesagt, daß ich fliehen werde, denn in ihrer Nähe zu sein, sie nicht zu sprechen, nicht anzubeten, ist mir unmöglich.«

»Und darf ich wissen, was sie sagte?«

»Sie ist ruhig darüber, sie ist größer als diese schlechten Menschen. ›Was ist es auch?‹ sagte sie, ›man kann uns gewiß nichts Böses nachsagen, und wenn man auch unser Verhältnis entdeckte, so will ich mir gerne einmal einen dummen Streich vergeben lassen; wo lebt ein Mensch, der nicht einmal einen beginge?‹«

»Eine gesunde Philosophie,« bemerkte der Major; »man kann nicht vernünftiger über solche Verhältnisse denken; denn gerade die sind meist am schlechtesten beraten, die glauben, sie können alle Menschen blenden. Doch ist mir noch eine Frage erlaubt? Wie es scheint, so sehen Sie Ihre Dame allein? denn was Sie mir erzählten, wurde schwerlich gestern im Don Juan verhandelt.«

»Wir sehen uns,« flüsterte jener, »ja, wir sehen uns, aber wo, darf ich nicht sagen, und so wahr ich lebe, das sollen auch jene Menschen nicht ausspähen. Aber lange, ich sehe es selbst ein, lange Zeit kann es nicht mehr dauern. Drum bin ich immer auf dem Sprung, Kamerad, und Ihre Hilfe soll mich retten, wenn indes meine Gelder nicht flüssig werden. ›Doch gilt es morgen, so laß uns heut noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit;‹ ich will noch glücklich, selig sein, weil es ja doch bald ein Ende haben muß.«

»Und wozu kann ich Ihnen dienen?« fragte der Major, »wenn ich nicht irre, wollten Sie mich aufsuchen.«

[74]

»Richtig, das war es, warum ich kommen wollte,« entgegnete jener nach einigem Nachsinnen. »Sophie weiß, daß Sie mein Freund sind, ich habe ihr schon früher von Ihnen erzählt, hauptsächlich die Geschichte von der Beresinabrücke, wo Sie mich zu sich auf den Rappen nahmen. Sie hat gestern mit Ihnen gesprochen und von Othello, nicht wahr? Die Fürstin will nicht zugeben, daß er aufgeführt werde, wegen irgend eines Märchens, das ich nicht mehr weiß.« –

»Sie waren sehr geheimnisvoll damit,« unterbrach ihn der Freund, »und wie mir schien, wird es die Fürstin auch nicht zugeben.«

»Und doch; ich habe sie durch ein Wort dahin gebracht. Die Prinzessin bat und flehte, und das kann ich nun einmal nicht sehen, ohne daß ich ihr zu Hilfe komme; ich nahm also eine etwas ernste Miene an und sagte: ›Sonderbar ist es doch, wenn so etwas ins Publikum kommt, ist es wie der Wind in den Gesandtschaften, und kam es einmal so weit, so darf man nicht dafür sorgen, daß es in acht Tagen als Chronique scandaleuse an allen Höfen erzählt wird.‹ Die Fürstin gab mir recht; sie sagte, wiewohl mit sehr bekümmerter und verlegener Miene zu, daß das Stück gegeben werden sollte; doch als sie wegging, rief sie mir noch zu: sie gebe das Spiel dennoch nicht verloren, denn wenn auch Othello schon auf dem Zettel stehe, lasse sie die Desdemona krank werden.«

»Das haben Sie gut gemacht!« rief der Major lachend, »also die Furcht vor der Chronique scandaleuse hat die Gespensterfurcht und das Grauen vor den Geheimnissen der Natur überwunden?«

»Jawohl, Sophie ist außer sich vor Freuden, daß sie ihren Willen hat. Ich bin gerade auf dem Weg zum Regisseur der Oper; ich soll ihm vierhundert Taler bringen, daß die Aufführung auch in pekuniärer Hinsicht keiner Schwierigkeit unterworfen sein möchte, und Sie müssen mich zu ihm begleiten.«

»Aber wird es nicht auffallen, wenn Sie im Namen der Prinzessin diese Summe überbringen?«

»Dafür ist gesorgt; wir bringen es als Kollekte von einigen Kunstfreunden; stellen Sie einen Dilettanten oder Enthusiasten vor oder was in unseren Kram paßt. Der Regisseur wohnt nicht weit von hier und ist ein alter, ehrlicher Kauz, den wir schon gewinnen wollen. Nur hier um die Ecke, Freund; sehen Sie dort das kleine grüne Haus mit dem Erker?«

[75]


5.

Der Regisseur der Oper war ein kleiner, hagerer Mann, er war früher als Sänger berühmt gewesen und ruhte jetzt im Alter auf seinen Lorbeeren. Er empfing die Freunde mit einer gewissen künstlerischen Hoheit und Würde, welche nur durch seine sonderbare Kleidung etwas gestört wurde; er trug nämlich eine schwarze Florentiner Mütze, welche er nur ablegte, wenn er zum Ausgehen die Perücke auf die Glatze setzte. Auffallend stachen gegen diese bequeme Hauskleidung des Alten ein moderner, enge anliegender Frack und weite, faltenreiche Beinkleider ab; sie zeigten, daß der Herr Regisseur trotz der sechzig Jährchen, die er haben mochte, dennoch für die Eitelkeit der Welt nicht abgestorben sei; an den Füßen trug er weite, ausgetretene Pelzschuhe, auf denen er künstlich im Zimmer herumfuhr, ohne sichtbar die Beine aufzuheben; es kam den Freunden vor, als fahre er auf Schlittschuhen.

»Ist mir bereits angezeigt worden, der allerhöchste Wunsch,« sagte der Regisseur, als ihn der Graf mit dem Zweck ihres Besuches bekannt machte, »weiß bereits um die Sache; an mir soll es nicht fehlen, mein einziger Zweck ist ja, die allerhöchsten Ohren auf ergötzliche Weise zu delektieren, aber – aber ich werde denn doch submissest wagen müssen, einige Gegenvorstellungen zu exhibitieren.«

»Wie? Sie wollen diese Oper nicht geben?« rief der Graf.

»Gott soll mich behüten, das wäre ja ein offenbares Mordattentat auf die allerhöchste Familie! Nein! nein! wenn mein Wort in der Sache noch etwas gilt, wird dieses unglückliche Stück nie gegeben.«

»Hätte ich doch nie gedacht,« entgegnete der Graf, »daß ein Mann wie Sie von Pöbelwahn befangen wäre. Mit Staunen und Bewunderung vernahm ich schon in meiner frühesten Jugend in fernen Landen Ihren gefeierten Namen; Sie wurden die Krone der Sänger genannt, ich brannte vor Begierde, diesen Mann einmal zu sehen. Ich bitte, verkleinern Sie dieses ehrwürdige Bild nicht durch solchen Aberwitz.«

Der Alte schien sich geschmeichelt zu fühlen, ein anmutiges Lächeln zog über seine verwitterten Züge, er steckte die Hände in die Taschen und fuhr auf seinen Pelzschuhen einigemal im Zimmer auf und ab. »Allzugütig, allzuviel Ehre!« rief er; »ja, wir waren unserer Zeit etwas, wir waren ein tüchtiger Tenor![76] jetzt hat es freilich ein Ende. Aberglaube, belieben Sie zu sagen? ich würde mich schämen, irgend einem Aberglauben nachzuhängen; aber wo Tatsachen sind, kann von Aberglauben nicht die Rede sein.«

»Tatsachen?« riefen die Freunde mit einer Stimme.

»O ja, verehrte messieurs, Tatsachen. Sie scheinen nicht aus hiesiger Stadt und Gegend zu sein, da Sie solche nicht wissen?«

»Ich habe allerdings von einem solchen Märchen gehört,« sagte der Major; »es soll, wenn ich nicht irre, jedesmal nach Othello brennen, und –«

»Brennen? daß mir Gott verzeih'; ich wollte lieber, daß es allemal brennte; Feuer kann man doch löschen, man hat Brandassekuranzen, man kann endlich noch solch einen Brandschaden zur Not ertragen; aber sterben? nein, das ist ein weit gefährlicherer Casus.«

»Sterben? sagen Sie, wer soll sterben?«

»Nun, das ist kein Geheimnis!« erwiderte der Regisseur; »so oft Othello gegeben wird, muß acht Tage nachher jemand aus der fürstlichen Familie sterben.«

Die Freunde fuhren erschrocken von ihren Sitzen auf, denn der prophetische, richtende Ton, womit der Alte dies sagte, hatte etwas Greuliches an sich; doch sogleich setzten sie sich wieder und brachen über ihren eigenen Schrecken in ein lustiges Gelächter aus, das übrigens den Sänger nicht aus der Fassung brachte.

»Sie lachen?« sprach er; »ich muß es mir gefallen lassen; wenn es Sie übrigens nicht geniert, will ich Sie die Theaterchronik inspizieren lassen, die seit hundertundzwanzig Jahren der jedesmalige Souffleur schreibt.«

»Die Theaterchronik her, Alter, lassen Sie uns inspizieren,« rief der Graf, dem die Sache Spaß zu machen schien; und der Regisseur rutschte mit außerordentlicher Schnelligkeit in seine Kammer und brachte einen in Leder und Messing gebundenen Folianten hervor.

Er setzte eine große in Bein gefaßte Brille auf und blätterte in der Chronik. »Bemerken Sie,« sagte er, »wegen des Nachfolgenden, erstlich: hier steht: ›Anno 1740 den 8. Dezember ist die Actrice Charlotte Fandauerin in hiesigem Theater erstickt worden. Man führte das Trauerspiel Othello, der Mohr von Venedig, von Shakespeare auf.‹«

»Wie?« unterbrach ihn der Major, »Anno 1740 sollte man hier Shakespeares Othello gegeben haben? und doch war[77] es, wenn ich nicht irre, Schröder, der zuerst und viel später das erste Shakespearsche Stück in Deutschland aufführen ließ?«

»Bitte um Vergebung,« erwiderte der Alte. »Der Herzog sah auf einer Reise durch England in London diesen Othello geben, ließ ihn, weil er ihm außerordentlich gefiel, übersetzen und nachher hier öfter aufführen. Meine Chronik fährt aber also fort: ›Obgedachte Charlotte Fandauerin hat die Desdemona gegeben und ist durch die Bettdecke, womit sie in dem Stücke selbst getötet werden soll, elendiglich umgekommen. Gott sei ihrer armen Seele gnädig!‹ Diesen Mord erzählt man sich hier folgendermaßen: die Fandauer soll sehr schön gewesen sein; bei Hof ging es damals unter dem Herzog Nepomuk sehr lasciv zu; die Fandauer wurde des Herzogs Geliebte. Sie aber soll sich nicht blindlings und unvorsichtig ihm übergeben haben; sie war abgeschreckt durch das Beispiel so vieler, die er nach einigen Monaten oder Jährchen verstieß und elendiglich herumlaufen ließ. Sie soll also ein schreckliches Bündnis mit ihm gemacht und erst, nachdem er es beschworen, sich ihm ergeben haben. Aber wie bei den andern, so war es auch bei der Fandauer. Er hatte sie bald satt und wollte sie auf gelinde Art entfernen. Sie aber drohte ihm, das Bündnis, das er mit ihr gemacht, drucken und in ganz Europa verbreiten zu lassen, sie zeigte ihm auch, daß sie diese Schrift schon in vielen fremden Städten niedergelegt habe, wo sie auf ihren ersten Wink verbreitet würde.

Der Herzog war ein grausamer Herr und sein Zorn kannte keine Grenzen. Er soll ihr auf verschiedenen Wegen durch Gift haben beikommen wollen, aber sie aß nichts, als was sie selbst gekocht hatte. Er gab daher einem Schauspieler eine große Summe Geld und ließ den Othello aufführen. Sie werden sich erinnern, daß in dem Shakespeareschen Trauerspiel die Desdemona von dem Mohren im Bette erstickt wird. Der Akteur machte seine Sache nur allzunatürlich, denn die Fandauerin ist nicht mehr erwacht.«

Der Graf schauderte. »Und dies soll wahr sein?« rief er aus.

»Fragen Sie von älteren Personen in der Stadt, wen Sie wollen, Sie werden es überall so erzählen hören. Es wurde nachher von den Gerichten eine Untersuchung gegen den Mörder anhängig gemacht, aber der Herzog schlug sie nieder, nahm den Akteur vom Theater in seine Dienste und erklärte, die Fandauerin habe durch Zufall der Schlag gerührt. Aber acht Tage darauf starb ihm sein einziges Söhnlein, ein Prinz von zwölf Jahren.«

[78]

»Zufall!« sagte der Major.

»Nennen Sie es immerhin so,« versetzte der Alte und blätterte weiter; »doch hören Sie, Othello wurde zwei Jahre lang nicht mehr gegeben, denn wegen der Erinnerung an jenen Mord mochte der Herzog dieses Trauerspiel nicht leiden. Aber nach zwei Jahren – in diesem Buch steht jedes Lustspiel aufgezeichnet – nach zwei Jahren war er so ruchlos, es wieder aufführen zu lassen. Hier steht's: ›Den 28. September 1742 Othello, der Mohr von Venedig‹; und hier am Rande ist bemerkt: ›Sonderbarlich! am 5. Oktober ist Prinzessin Auguste verstorben, gerade auch acht Tage nach Othello, wie vor zwei Jahren der höchstselige Prinz Friedrich.‹ Zufall, meine werten Herren?«

»Allerdings Zufall!« riefen jene.

»Weiter! ›Den 6. Februar 1748 Othello, der Mohr von Venedig.‹ Ob es wohl wieder eintrifft? Sehen Sie her, meine Herren! Das hat der Souffleur hingeschrieben, bemerken Sie gefälligst, es ist dieselbe Hand, die hier in margine bemerkt: ›Entsetzlich! die Fandauerin spukt wieder, Prinz Alexander den 14. plötzlich gestorben, acht Tage nach Othello.‹« Der Alte hielt inne und sah seine Gäste fragend an; sie schwiegen, er blätterte weiter und las: »›Den 16. Januar 1775, zum Benefiz der Mlle. Koller: Othello, der Mohr von Venedig.‹ Richtig wieder! ›Arme Prinzessin Elisabeth, hast du müssen so schnell versterben! † 24. Januar 1775.‹«

»Possen!« unterbrach ihn der Major; »ich gebe zu, es ist so; es soll einigemal der Eigensinn des Zufalls es wirklich so gefügt haben; geben Sie mir aber nur einen vernünftigen Grund an zwischen Ursache und Wirkung, wenn Sie diese Höchstseligen am Othello versterben lassen wollen!«

»Herr!« antwortete der alte Mann mit tiefem Ernst, »das kann ich nicht; aber ich erinnere an die Worte jenes großen Geistes, von dem auch dieser unglückselige Othello abstammt: ›Es gibt viele Dinge zwischen Himmel und Erde, wovon sich die Philosophen nichts träumen lassen!‹«

»Ich kenne das,« sagte der Graf; »aber ich wette, Shakespeare hätte nie diesen Spruch von sich gegeben, hätte er gewußt, wie viel Lächerlichkeit sich hinter ihm verbirgt!«

»Es ist möglich,« erwiderte der Sänger; »hören Sie aber weiter. Ich komme jetzt an ein etwas neueres Beispiel, dessen ich mich erinnern kann, an den Herzog selbst

»Wie,« unterbrach ihn der Major; »eben jener, der die Actrice ermorden ließ?«

[79]

»Derselbe; Othello war vielleicht zwanzig Jahre nicht mehr gegeben worden, da kamen, ich weiß es noch wie heute, fremde Herrschaften zum Besuch. Unser Schauspiel gefiel ihnen, und sonderbarerweise wünschte eine der fremden fürstlichen Damen, Othello zu sehen. Der Herzog ging ungern daran, nicht aus Angst vor den greulichen Umständen, die diesem Stück zu folgen pflegten, denn er war ein Freigeist und glaubte an nichts dergleichen; aber er war jetzt alt; die Sünden und Frevel seiner Jugend fielen ihm schwer aufs Herz, und er hatte Abscheu vor diesem Trauerspiel. Aber sei es, daß er der Dame nichts abschlagen mochte, sei es, daß er sich vor dem Publikum schämte, das Stück mußte über Hals und Kopf einstudiert werden, es wurde auf seinem Lustschloß gegeben. Sehen Sie, hier steht es: ›Othello, den 16. Oktober 1793 auf dem Lustschloß H… aufgeführt.‹«

»Nun, Alter, und was folgte? geschwind!« riefen die Freunde ungeduldig.

»Acht Tage nachher, den 24. Oktober 1793, ist der Herzog gestorben.«

»Nicht möglich,« sagte der Major nach einigem Stillschweigen; »lassen Sie Ihre Chronik sehen; wo steht denn etwas vom Herzog? Hier ist nichts in margine bemerkt.«

»Nein,« sagte der Alte und brachte zwei Bücher herbei; »aber hier seine Lebensgeschichte, hier seine Trauerrede, wollen Sie gefälligst nachsehen?«

Der Graf nahm ein kleines schwarzes Buch in die Hand und las: »Beschreibung der solennen Beisetzung des am 24. Oktober 1793 höchstselig verstorbenen Herzogs und Herrn – Dummes Zeug,« rief er und sprang auf: »das könnte mich um den Verstand bringen! Zufall! Zufall! und nichts anders! Nun – und wissen Sie noch ein solches Histörchen?«

»Ich könnte Ihnen noch einige anführen,« erwiderte der Alte mit Ruhe, »doch Sie langweilen sich bei dieser sonderbaren Unterhaltung; nur aus der neuesten Zeit noch einen Fall. Rossini schrieb seine herrliche Oper Othello, worin er, was man bezweifelt hatte, zeigte, daß er es verstehe, auch die tieferen, tragischen Saiten der menschlichen Brust anzuschlagen. Er wurde hier höheren Orts nicht verlangt, daher wurde er auch nicht fürs Theater einstudiert. Die Kapelle aber unternahm es, diese Oper für sich zu studieren, es wurden einige Szenen in Konzerten aufgeführt, und diese wenigen Proben entzündeten im Publikum einen so raschen Eifer für die Oper, daß man allgemein[80] in Zeitungen, an Wirtstafeln, in Singtees und dergleichen von nichts als Othello sprach, nichts als Othello verlangte. Von den grauenvollen Begebenheiten, die das Schauspiel Othello begleitet hatten, war gar nicht die Rede; es schien, man denke sich unter der Oper einen ganz andern Othello. Endlich bekam der damalige Regisseur (ich war noch auf dem Theater und sang den Othello), er bekam den Auftrag, sage ich, die Oper in die Szene zu setzen. Das Haus war zum Ersticken voll, Hof und Adel war da, das Orchester strengte sich übermenschlich an, die Sängerinnen ließen nichts zu wünschen übrig, aber ich weiß nicht – uns alle wehte ein unheimlicher Geist an, als Desdemona ihr Lied zur Harfe spielte, als sie sich zum Schlafengehen rüstete, als der Mörder, der abscheuliche Mohr, sich nahte. Es war dasselbe Haus, es waren dieselben Bretter, es war dieselbe Szene wie damals, wo ein liebliches Geschöpf in derselben Rolle so greulich ihr Leben endete. Ich muß gestehen, trotz der Teufelsnatur meines Othello befiel mich ein leichtes Zittern, als der Mord geschah, ich blickte ängstlich nach der fürstlichen Loge, wo so viele blühende, kräftige Gestalten auf unser Spiel herübersahen. ›Wirst du wohl durch die Töne, die deinen Tod begleiten, dich besänftigen lassen, blutdürstiges Gespenst der Gemordeten?‹ dachte ich. Es war so; fünf, sechs Tage hörte man nichts von einer Krankheit im Schlosse; man lachte, daß es nur der Einkleidung in eine Oper bedurfte, um jenen Geist gleichsam irre zu machen; der siebente Tag verging ruhig, am achten wurde Prinz Ferdinand auf der Jagd erschossen.«

»Ich habe davon gehört,« sagte der Major, »aber es war Zufall; die Büchse seines Nachbars ging los, und –«

»Sage ich denn, das Gespenst bringe die Höchstseligen selbst um, drücke ihnen eigenhändig die Kehle zu? Ich spreche ja nur von einem unerklärlichen, geheimnisvollen Zusammenhang.«

»Und haben Sie uns nicht noch zu guter Letzt ein Märchen erzählt? Wo steht denn geschrieben, daß acht Tage vor jener Jagd Othello gegeben wurde?«

»Hier,« erwiderte der Regisseur kaltblütig, indem er auf eine Stelle in seiner Chronik wies; der Graf las: »Othello, Oper von Rossini, den 12. März;« und auf dem Rande stand dreimal unterstrichen: »den 20. fiel Prinz Ferdinand auf der Jagd

Die Männer sahen einander schweigend einige Augenblicke[81] an; sie schienen lächeln zu wollen, und doch hatte sie der Ernst des alten Mannes, das sonderbare Zusammentreffen jener furchtbaren Ereignisse tiefer ergriffen, als sie sich selbst gestehen mochten. Der Major blätterte in der Chronik und pfiff vor sich hin, der Graf schien über etwas nachzusinnen, er hatte Stirne und Augen fest in die Hand gestützt. Endlich sprang er auf. »Und dies alles kann Ihnen dennoch nicht helfen!« rief er, »die Oper muß gegeben werden. Der Hof, die Gesandten wissen es schon, man würde sich blamieren, wollte man durch diese Zufälle sich stören lassen. Hier sind vierhundert Taler, mein Herr! Es sind einige Freunde und Liebhaber der Kunst, welche sie Ihnen zustellen, um Ihren Othello recht glänzend auftreten zu lassen. Kaufen Sie davon, was Sie wollen,« setzte er lächelnd hinzu, »lassen Sie Geisterbanner, Beschwörer kommen, kaufen Sie einen ganzen Hexenapparat, kurz, was nur immer nötig ist, um das Gespenst zu vertreiben – nur geben Sie uns Othello.«

»Meine Herren,« sagte der Alte, »es ist möglich, daß ich in meiner Jugend selbst über dergleichen gelacht und gescherzt hätte; das Alter hat mich ruhiger gemacht, ich habe gelernt, daß es Dinge gibt, die man nicht geradehin verwerfen muß. Ich danke für Ihr Geschenk, ich werde es auf eine würdige Weise anzuwenden wissen. Aber nur auf den strengsten Befehl werde ich Othello geben lassen. Ach Gott und Herr!« rief er kläglich, »wenn ja der Fall wieder einträte, wenn das liebe, herzige Kind, Prinzessin Sophie, des Teufels wäre!«

»Sein Sie still,« rief der Graf erblassend, »wahrhaftig, Ihre wahnsinnigen Geschichten sind ansteckend, man könnte sich am hellen Tage fürchten! Adieu! Vergessen Sie nicht, daß Othello auf jeden Fall gegeben wird; machen Sie mir keine Kunstgriffe mit Katarrh und Fieber, mit Krankwerdenlassen und eingetretenen Hindernissen. Beim Teufel, wenn Sie keine Desdemona hergeben, werde ich das Gespenst der Erwürgten heraufrufen, daß es diesmal selbst eine Gastrolle übernimmt.«

Der Alte kreuzigte sich und fuhr ungeduldig auf seinen Schuhen umher. »Welche Ruchlosigkeit,« jammerte er, »wenn sie nun erschiene wie der steinerne Gast? Lassen Sie solche Reden, ich bitte Sie; wer weiß, wie nahe jedem sein eigenes Verderben ist!«

Lachend stiegen die beiden die Treppe hinab und noch lange diente der musikalische Prophet mit der Florentiner Mütze und den Pelzschlittschuhen ihrem Witz zur Zielscheibe.

[82]


6.

Es gab Stunden, worin der Major sich durchaus nicht in den Grafen, seinen alten Waffenbruder, finden konnte. War er sonst fröhlich, lebhaft, von Witz und Laune strahlend, konnte er sonst die Gesellschaft durch treffende Anekdoten, durch Erzählungen aus seinem Leben unterhalten, wußte er sonst jeden, mochte er noch so gering sein, auf eine sinnige feine Weise zu verbinden, so daß er der Liebling aller, von vielen angebetet wurde, so war er in andern Momenten gerade das Gegenteil. Er fing an, trocken und stumm zu werden, seine Augen senkten sich, sein Mund preßte sich ein. Nach und nach ward er finster, spielte mit seinen Fingern, antwortete mürrisch und ungestüm. Der Major hatte ihm schon abgemerkt, daß dies die Zeit war, wo er aus der Gesellschaft entfernt werden müsse, denn jetzt fehlten noch wenige Minuten, so zog er mit leicht aufgeregter Empfindlichkeit jedes unschuldige Wort auf sich, und fing an zu wüten und zu rasen.

Der Major war viel um ihn, er hatte aus früherer Zeit eine gewisse Gewalt und Herrschaft über ihn, die er jetzt geltend machte, um ihn vor diesen Ausbrüchen der Leidenschaft in Gesellschaft zu bewahren, desto greulicher brachen sie in seinen Zimmern aus; er tobte, er fluchte in allen Sprachen, er klagte sich an, er weinte. »Bin ich nicht ein elender, verworfener Mensch?« sprach er einst in einem solchen Anfall; »meine Pflichten mit Füßen zu treten, die treueste Liebe von mir zu stoßen, ein Herz zu martern, das mir so innig anhängt! Leichtsinnig schweife ich in der Welt umher, habe mein Glück verscherzt, weil ich in meinem Unsinn glaubte, ein Kosciuszko zu sein, und bin nichts als ein Schwachkopf, den man wegwarf. Und so viele Liebe, diese Aufopferung, diese Treue so zu vergelten!«

Der Major nahm zu allerlei Trostmitteln seine Zuflucht. »Sie sagen ja selbst, daß die Prinzessin Sie zuerst geliebt hat; konnte sie je eine andere Liebe, eine andere Treue von Ihnen erwarten als die, welche die Verhältnisse erlauben?«

»Ha, woran mahnen Sie mich!« rief der Unglückliche, »wie klagen mich Ihre Entschuldigungen selbst an! Auch sie, auch sie betört! Wie kindlich, wie unschuldig war sie, als ich Verruchter kam, als ich sie sah mit dem lieblichen Schmelz der Unschuld in den Augen, da fing mein Leichtsinn wieder an; ich vergaß alle guten Vorsätze, ich vergaß, wem ich allein gehören[83] dürfte; ich stürzte mich in einen Strudel von Lust, ich begrub mein Gewissen in Vergessenheit!« Er fing an zu weinen, die Erinnerung schien seine Wut zu besänftigen. »Und konnte ich,« flüsterte er, »konnte ich so von ihr gehen? Ich fühlte, ich sah es an jeder ihrer Bewegungen, ich las es in ihrem Auge, daß sie mich liebte; sollte ich fliehen, als ich sah, wie diese Morgenröte der Liebe in ihren Wangen aufging, wie der erste leuchtende Strahl des Verständnisses aus ihrem Auge brach, auf mich niederfiel, mich aufzufordern schien, ihn zu erwidern?«

»Ich beklage Sie,« sprach der Freund und drückte seine Hand; »wo lebt ein Mann, der so süßer Versuchung widerstanden wäre?«

»Und als ich ihr sagen durfte, wie ich sie verehre, als sie mir mit stolzer Freude gestand, wie sie mich liebe, als jenes traute, entzückende Spiel der Liebe begann, wo ein Blick, ein flüchtiger Druck der Hand mehr sagt, als Worte auszudrücken vermögen, wo man tagelang nur in der freudigen Erwartung eines Abends, einer Stunde, einer einsamen Minute lebte, wo man in der Erinnerung dieses seligen Augenblicks schwelgte, bis der Abend wieder erschien, bis ich aus dem Taumelkelch ihrer süßen Augen aufs neue Vergessenheit trank; wie reich wußte sie zu geben, wieviel Liebe wußte sie in ein Wort, in einen Blick zu legen; und ich sollte fliehen?«

»Und wer verlangt dies?« sagte der Freund gerührt. »Es wäre grausam gewesen, eine so schöne Liebe, die alle Verhältnisse zum Opfer brachte, zurückzustoßen. Nur Vorsicht hätte ich gewünscht; ich denke, noch ist nicht alles verloren!«

Er schien nicht darauf zu hören; seine Tränen strömten heftiger, sein glänzendes Auge schien tiefer in die Vergangenheit zu tauchen. »Und als sie mit holdem Erröten sagte, wie ich zu ihr gelangen könne, als sie erlaubte, ihre fürstliche Stirne zu küssen, als der süße Mund, dessen Wünsche einem Volk Befehle waren, mein gehörte, und die Hoheit einer Fürstin unterging im traulichen Flüstern der Liebe – da, da sollte ich sie lassen?«

»Wie glücklich sind Sie! Gerade in dem Geheimnis dieses Verhältnisses muß ein eigener Reiz liegen; und warum wollen Sie diese Liebe so tief verdammen? Fassen Sie sich! Das Urteil der Welt kann Ihnen gleichgültig sein, wenn Sie glücklich sind; denn im ganzen trägt ja wahrhaftig dies Verhältnis nichts so Schwarzes, Schuldiges an sich, wie Sie es selbst sich vorstellen!«

[84]

Der Graf hatte ihm zugehört; seine Augen rollten, seine Wangen färbten sich dunkler, er knirschte mit den Zähnen. »Nicht so mild müssen Sie mich beurteilen,« sagte er mit dumpfer Stimme, »ich verdiene es nicht. Ich bin ein Frevler, vor dem Sie zurückschaudern sollten. O – daß ich Vergessenheit erkaufen könnte, daß ich Jahre auslöschen könnte aus meinem Gedächtnis! – Ich will vergessen, ich muß vergessen, ich werde wahnsinnig, wenn ich nicht vergesse: schaffen Sie Wein, Kamerad; ich will trinken, mich dürstet, es wütet eine Flamme in mir, ich will mein Gedächtnis, meine Schuld versäufen!«

Der Major war ein besonnener Mann; er dachte ziemlich ruhig über diese verzweiflungsvollen Ausbrüche der Reue und Selbstanklage. »Er ist leichtsinnig, so habe ich ihn von jeher gekannt,« sagte er zu sich; »solche Menschen kommen leicht aus einem Extrem in das andere. Er sieht jetzt große Schuld in seiner Liebe, weil sie der Geliebten in ihren Verhältnissen schaden kann, und im nächsten Augenblick berauscht ihn wieder die Wonne der Erinnerung.« Der Wein kam, der Major goß ein; der Graf stürzte schnell einige Gläser hinunter; er ging mit schnellen Schritten schweigend im Zimmer auf und nieder, blieb vor dem Freunde stehen, trank und ging wieder. Dieser mochte seine stillen Empfindungen nicht unterbrechen, er trank und beobachtete über das Glas hin aufmerksam die Mienen, die Bewegungen seines Freundes.

»Major!« rief dieser endlich und warf sich auf den Stuhl nieder; »welches Gefühl halten Sie für das schrecklichste?«

Dieser schlürfte bedächtig den Wein in kleinen Zügen, er schien nachzusinnen, und sagte dann: »Ohne Zweifel, das, was das freudigste Gefühl gibt, muß auch das traurigste werden – Ehre, gekränkte Ehre.«

Der Graf lachte grimmig. »Lassen Sie sich die Taler wiedergeben, Kamerad, die Sie einem schlechten Psychologen für seinen Unterricht gaben. Gekränkte Ehre! Also tiefer steigt Ihre Kunst nicht hinab in die Seele? Die gekränkte Ehre fühlt sich doch selbst noch; es lebt doch ein Gefühl in des Gekränkten Brust, das ihn hoch erhebt über die Kränkung, er kann die Scharte auswetzen am Beleidiger; er hat noch die Möglichkeit, seine Ehre wieder fleckenlos und rein zu waschen, aber tiefer, Herr Bruder,« rief er, indem er die Hand des Majors krampfhaft faßte, »tiefer hinab in die Seele! welches Gefühl ist noch schrecklicher?«

[85]

»Von einem habe ich gehört,« erwiderte jener, »das aber Männer wie wir nicht kennen – es heißt Selbstverachtung.«

Der Graf erbleichte und zitterte, er stand schweigend auf und sah den Freund lange an. »Getroffen, Kamerad!« sagte er, »das sitzt noch tiefer. Männer wie wir pflegen es nicht zu kennen, es heißt Selbstverachtung. Aber der Teufel legt auch gar feine Schlingen auf die Erde; ehe man sich versieht, ist man gefangen. Kennen Sie die Qual des Wankelmutes, Major?«

»Gottlob, ich habe sie nie erfahren; mein Weg ging immer geradeaus aufs Ziel!«

»Geradeaus aufs Ziel? Wer auch so glücklich wäre! Erinnern Sie sich noch des Morgens, als wir aus den Toren von Warschau ritten? Unsere Gefühle, unsere Sinne gehörten jenem großen Geiste, der sie gefangen hielt; aber wem gehörten die Herzen der polnischen Lanciers? Unsere Trompeten ließen jene Arien aus den Krakauern ertönen, jene Gesänge, die uns als Knaben bis zur Wut für das Vaterland begeistert hatten; diese wohlbekannten Klänge pochten wieder an die Pforte unserer Brust; Kamerad, wem gehörten unsere Herzen?«

»Dem Vaterland!« sagte der Major gerührt; »ja, damals, damals war ich freilich wankelmütig!«

»Wohl Ihnen, daß Sie es sonst nie waren, der Teufel weiß das recht hübsch zu machen; er läßt uns hier empfinden, glücklich werden, und dort spiegelt er noch höhere Wonne, noch größeres Glück uns vor!«

»Möglich; aber der Mann hat Kraft, dem treu zu bleiben, was er gewählt hat.«

»Das ist es,« rief der Graf, wie niedergedonnert durch dies eine Wort, »das ist es, und daraus – die Selbstverachtung; und warum besser scheinen, als ich bin? Kamerad, Sie sind ein Mann von Ehre, fliehen Sie mich wie die Pest, ich bin ein Ehrloser, ein Ehrvergessener, Sie sind ein Mann von Kraft, verachten Sie mich, ich muß mich selbst verachten, wissen Sie, ich bin –«

»Halt, ruhig!« unterbrach ihn der Freund, »es pochte an der Türe – herein!«

[86]


7.

»Bedaure, bedaure unendlich,« sprach der Regisseur der Oper und rutschte mit tiefen Verbeugungen ins Zimmer, »ich unterbreche Hochdieselben?«

»Was bringen Sie uns?« erwiderte der Major, schneller gefaßt als der unglückliche Freund. »Setzen Sie sich und verschmähen Sie nicht unsern Wein; was führt Sie zu uns!«

»Die traurige Gewißheit, daß Othello doch gegeben wird. Es hilft nichts; alles Bitten ist umsonst. Ich will Ihnen nur gestehen, ich ließ die Oper einüben, hatte aber unsere Primadonna schon dahin gebracht, daß sie mir feierlich gelobte, heiser zu werden; da führt der Satan gestern abend die Sängerin Fanutti in die Stadt; sie kommt vom …ner Theater, bittet die allerhöchste Theaterdirektion um Gastrollen, und stellen Sie sich vor, man sagt ihr auf nächsten Sonntag Othello zu. Ich habe beinahe geweint, wie es mir angezeigt wurde; jetzt hilft kein Gott mehr dagegen, und doch habe ich schreckliche Ahnungen!«

»Alter Herr!« rief der Graf, der indessen Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln. »Geben Sie doch einmal Ihren Köhlerglauben auf; ich kann Sie versichern, es soll keiner der allerhöchsten Personen ein Haar gekrümmt werden; ich gehe hinaus auf den Kirchhof, lasse mir das Grab der erwürgten Desdemona zeigen, mache ihr meine Aufwartung und bitte sie, diesmal ein Auge zuzudrücken und mich zu erwürgen. Freilich hat sie dann nur einen Grafen und kein fürstliches Blut; doch einer meiner Vorfahren hat auch eine Krone getragen!«

»Freveln Sie nicht so erschrecklich,« entgegnete der Alte, »wie leicht kann Sie das Unglück mit hinabziehen! Mit solchen Dingen ist nicht zu scherzen. Ueberdies habe ich heute nacht im Traum einen großen Trauerzug mit Fackeln gesehen, wie man Fürsten zu begraben pflegt.«

»Schreckliche Visionen, guter Herr!« lachte der Major. »Haben Sie vielleicht vorher ein Gläschen zuviel getrunken? Und was ist natürlicher, als daß Sie solches Zeug träumen, da Sie den ganzen Tag mit Todesgedanken umgehen!«

Der Alte ließ sich nicht aus seinem Ernst herausschwatzen. »Gerade Sie, verehrter Herr, sollten nicht Spott damit treiben,« sagte er. »Ich habe Sie nie gesehen bis zu jener Stunde, wo Sie mich mit dem Herrn Grafen besuchten, und doch gingen[87] wir beide heute nacht miteinander dem Sarge nach, Sie weinten heftig.«

»Immer köstlicher! wie lebhaft Sie träumen; darum mußte ich hierher kommen, um mit Ihnen, lieber Mann, im Traume spazieren zu gehen!«

»Brechen wir ab,« erwiderte jener, »was kommen muß, wird kommen, und wir würden vielleicht viel darum geben, hätten wir alles nur geträumt. Ich komme aber hauptsächlich zu Ihnen, um Sie zur Probe einzuladen, Sie haben sich so generös gegen uns bewiesen, daß ich mir ein Vergnügen daraus mache, Ihnen unser Personal, namentlich die neue Sängerin zu zeigen.«

Die Freunde nahmen freudig den Vorschlag an. Der Graf schien wie immer seine Heftigkeit zu bereuen und diese Zerstreuung kam ihm erwünscht; auf dem Major hatten jene Ausbrüche einer Selbstanklage schwer und drückend gelegen; auch er nahm daher mit Dank diesen Ausweg an, um einer näheren Erklärung seines Freundes, die er eher fürchtete, als wünschte, zu entfliehen.


8.

Und wirklich schien auch seit jener Stunde der Graf diese Saite nicht mehr berühren zu wollen; er schien wohl hin und wieder düster, ja die Augenblicke des tiefen Grames kehrten wieder, aber nicht mit ihnen das Geständnis einer großen Schuld, das damals schon auf seinen Lippen schwebte; er war verschlossener als sonst. Der Major sah ihn sogar einige Tage beinahe gar nicht; die Geschäfte, die ihn in diese Stadt gerufen hatten, ließen ihm wenige Stunden übrig, und diese pflegte gerade der Graf dem Theater zu widmen; denn sei es aus Lust an der Sache selbst oder um im Sinne der Geliebten zu handeln und ihre Lieblingsoper recht glänzend erscheinen zu lassen, er war in jeder Probe gegenwärtig; sein richtiger Takt, seine ausgebreiteten Reisen, sein feiner, in der Welt gebildeter Geschmack verbesserten unmerklich manches, was dem Auge und Ohr selbst eines so scharfen Kritikers, wie der Regisseur war, entgangen wäre; und der alte Mann vergaß oft stundenlang die schwarzen Ahnungen, die seine Seele quälten, so sehr wußte Graf Zronievsky sein Interesse zu fesseln.

So war Othello zu einer Vollkommenheit fortgeschritten, die man anfangs nicht für möglich gehalten hätte; die Oper war durch die sonderbaren Umstände, welche ihre Aufführung bisher[88] verhindert hatten, nicht nur dem Publikum, sondern selbst den Sängern neu geworden; kein Wunder, daß sie ihr möglichstes taten, um so großen Erwartungen zu entsprechen; kein Wunder, daß man mit freudiger Erwartung dem Tag entgegensah, der den Mohren von Venedig auf die Bretter rufen sollte.

Es kam aber noch zweierlei hinzu, das Interesse des Publikums zu fesseln. Der Sängerin Fanutti war ein großer Ruf vorausgegangen, man war neugierig, wie sie sich vom Theater ausnehme, wie sie Desdemona geben werde, eine Rolle, zu der man außer schönem Gesang auch ein höheres tragisches Spiel verlangte. Hierzu kam das leise Gerücht von den sonderbaren Vorfällen, die jedesmal Othello begleitet hatten; die älteren Leute erzählten, die jüngeren sprachen es nach, zweifelten, vergrößerten, so daß ein großer Teil des Publikums glaubte, der Teufel selbst werde eine Gastrolle im Othello übernehmen.

Der Major von Larun hatte Gelegenheit, an manchen Orten über diese Dinge sprechen zu hören; am auffallendsten war ihm, daß man bei Hof, wo er noch einige Abende zubrachte, kein Wort mehr über Othello sprach; nur Prinzessin Sophie sagte einmal flüchtig und lächelnd zu ihm: »Othello hätten wir denn doch herausgeschlagen, Ihrer Krankheitstante, Baron, und der diplomatischen Drohung des Grafen haben wir es zu danken. Wie freue ich mich auf Sonntag, auf mein Desdemonaliedchen; wahrlich, wenn ich einmal sterbe, es soll mein Schwanengesang werden.«

»Gibt es Ahnungen?« dachte der Major bei diesen flüchtig hingeworfenen Worten, die ihm unwillkürlich schwer und bedeutungsvoll klangen; »die Sage von der gespenstigen Desdemona, die Furcht des alten Regisseurs, seine Träume vom Trauergeleite und dieser Schwanengesang!« Er sah der holden, lieblichen Erscheinung nach, wie sie froh und freundlich durch die Säle gleitete, wie sie, gleich dem Mädchen aus der Fremde, jedem eine schöne Gabe, ein Lächeln oder ein freundliches Wort darreichte – wenn der Zufall es wieder wollte, dachte er, wenn sie stürbe! Er verlachte sich im nächsten Augenblicke selbst, er konnte nicht begreifen, wie ein solcher Gedanke in seine vorurteilsfreie Seele kommen könne – er suchte mit Gewalt dieses lächerliche Phantom aus seiner Erinnerung zu verdrängen – umsonst! dieser Gedanke kehrte immer wieder, überraschte ihn mitten unter den fremdartigsten Reden und Gegenständen, und immer noch glaubte er, eine süße Stimme flüstern zu hören; »Wenn ich sterbe – sei es mein Schwanengesang.«

[89]

Der Sonntag kam und mit ihm ein sonderbarer Vorfall. Der Major war nachmittags mit dem Grafen und mehreren Offizieren ausgeritten. Auf dem Heimweg überfiel sie ein Regen, der sie bis auf die Haut durchnäßte. Die Wohnung des Grafen lag dem Tore zunächst, er bat daher den Major, sich bei ihm umzukleiden; einen Hut des Freundes auf dem Kopf, in einen seiner Ueberröcke gehüllt, trat der Major aus dem Hause, um in seine eigene Wohnung zu eilen. Er mochte einige Straßen gegangen sein, und immer war es ihm, als schleiche jemand allen seinen Tritten nach. Er blieb stehen, sah sich um, und dicht hinter ihm stand ein hagerer, großer Mann in einem abgetragenen Rock. »Dies an Sie Herr!« sagte er mit dumpfer Stimme und durchdringendem Blick, drückte dem Erstaunten ein kleines Billett in die Hand und sprang um die nächste Ecke. Der Major konnte nicht begreifen, woher ihm, in der völlig fremden Stadt, solche geheimnisvolle Botschaft kommen sollte? Er betrachtete das Billett von allen Seiten, es war feines, glänzendes Papier, in eine Schleife künstlich zusammengeschlungen, mit einer schönen Kamee gesiegelt. Keine Aufschrift. »Vielleicht will man sich einen Scherz mit dir machen,« dachte er und öffnete es sorglos auf der Straße, er las und wurde aufmerksam, er las weiter und erblaßte, er steckte das Papier in die Tasche und eilte seiner Wohnung, seinem Zimmer zu.

Es war schon Dämmerung gewesen auf der Straße, er glaubte nicht recht gelesen zu haben, er rief nach Licht. Aber auch beim hellen Schein der Kerzen blieben die unseligen Worte fest und drohend stehen.

»Elender! Du kannst dein Weib, deine kleinen Würmer im Elende schmachten lassen, während du vor der Welt in Glanz und Pracht auftrittst? Was willst du in dieser Stadt? Willst du ein ehrwürdiges Fürstenhaus beschimpfen, seine Tochter so unglücklich machen, als du dein Weib gemacht hast? Fliehe, in der Stunde, wo du dieses liest, weiß Pr. Sph. das schändliche Geheimnis deines Betrugs.«

Der Major war keinen Augenblick im Zweifel, daß diese Zeilen an den Grafen gerichtet, daß sie durch Zufall, vielleicht weil er in des Freundes Kleidern über die Straße gegangen, in seine Hände geraten seien. Jetzt wurden ihm auf einmal jene Ausbrüche der Verzweiflung klar; es war Reue, Selbstverachtung, die in einzelnen Momenten die glänzende Hülle durchbrachen, womit er sein trügerisches Spiel bedeckt hatte.[90] Laruns Blicke fielen auf die Zeilen, die er noch immer in der Hand hielt, jene Chiffern Pr. Sph. konnten nichts anders bedeuten als den Namen des holden, jetzt so unglückseligen Geschöpfes, das jener gewissenlose Verräter in sein Netz gezogen hatte. Der Major war ein Mann von kaltem, berechnendem Blick, von starkem, konsequentem Geiste; er hatte sich selten oder nie von einem Gegenstand überraschen oder außer Fassung setzen lassen, aber in diesem Augenblick war er nicht mehr Herr über sich; Wut, Grimm, Verachtung kämpften wechselweise in seiner Seele. Er suchte sich zu bezwingen, die Sache von einem milderen Gesichtspunkt anzusehen, den Grafen durch seinen Charakter, seinen grenzenlosen Leichtsinn zu entschuldigen; aber der Gedanke an Sophie, der Blick auf »das Weib und die armen kleinen Würmer« des Elenden verjagten jede mildernde Gesinnung, brausten wie ein Sturm durch seine Seele, ja, es gab Augenblicke, wo seine Hand krampfhaft nach der Wand hinzuckte, um die Pistolen herunterzureißen und den schlechten Mann noch in dieser Stunde zu züchtigen. Doch die Verachtung gegen ihn bewirkte, was mildere Stimmen in seiner Brust nicht bewirken konnten. »Er muß fort, noch diese Stunde,« rief er; »die Unglückliche, die er betörte, darf um keinen Preis erfahren, welchem Elenden sie ihre erste Liebe schenkte. Sie soll ihn beweinen, vergessen; ihn verachten zu müssen, könnte sie töten.« Er warf diese Gedanken schnell aufs Papier, raffte eine große Summe, mehr als er entbehren konnte, zusammen, legte den unglücklichen Brief bei und schickte alles durch seinen Diener an den Grafen.

Es war die Stunde, in die Oper zu fahren; wie gerne hätte der Major heute keinen Menschen mehr gesehen, und doch glaubte er es der Prinzessin schuldig zu sein, sie vor der gedrohten Warnung zu bewahren. Er sann hin und her, wie er dies möglich machen könne, es blieb ihm nichts übrig, als sie zu beschwören, keinen Brief von fremden Händen anzunehmen. Er warf den Mantel um und wollte eben das Zimmer verlassen, als sein Diener zurückkam, er hatte das Paket an den Grafen noch in der Hand. »Seine Exzellenz sind soeben abgereist,« sagte er und legte das Paket auf den Tisch.

»Abgereist?« rief der Major. »Nicht möglich!«

»Vor der Türe ist sein Jäger, er hat einen Brief an Sie; soll ich ihn hereinbringen?«

Der Major winkte, der Diener führte den Jäger herein, der ihm weinend einen Brief übergab. Er riß ihn auf. »Leben[91] Sie wohl auf ewig! Der Brief, der, wie ich soeben erfahre, vor einer Stunde in Ihre Hände kam, wird meine Abreise sans adieu entschuldigen. Wird mein Kamerad von sechs Feldzügen einer geliebten Dame den Schmerz ersparen, meinen Namen in allen Blättern aufrufen zu hören? Wird er die wenigen Posten decken, die ich nicht mehr bezahlen kann?«

»Wann ist Euer Herr abgereist?«

»Vor einer Viertelstunde, Herr Major!«

»Wußtet Ihr um seine Reise?«

»Nein, Herr Major! Ich glaube, seine Exzellenz wußten es heute nachmittag selbst noch nicht; denn sie wollten heute abend ins Theater fahren. Um fünf Uhr ging der Herr Graf zu Fuß aus und ließ mich folgen. Da begegnete ihm an der reformierten Kirche ein großer hagerer Mann, der bei seinem Anblick sehr erschrak. Er ging auf meinen Herrn zu und fragte, ob er der Graf Zronievsky sei? Mein Herr bejahte es; darauf fragte er, ob er vor einer Viertelstunde ein Billett empfangen? der Herr Graf verneinte es. Nun sprach der fremde Mann eine Weile heimlich mit meinem Herrn; er muß ihm keine gute Nachrichten gegeben haben, denn der Herr Graf wurde blaß und zitterte; er kehrte um nach Hause, schickte den Kutscher nach Postpferden, ich mußte schnell zwei Koffer packen; der Reisewagen mußte vorfahren. Der Herr Graf verwies mich mit den Rechnungen und allem an Sie und fuhr die Straße hinab zum Südertor hinaus. Er nahm vorher noch Abschied von mir, ich glaube für immer.«

Der Major hatte schweigend den Bericht des Jägers angehört; er befahl ihm, den nächsten Morgen wiederzukommen, und fuhr ins Theater. Die Ouvertüre hatte schon begonnen, als er in die Loge trat, er warf sich auf einen Stuhl nieder, von wo er die fürstliche Loge beobachten konnte. In allem Schmuck ihrer natürlichen Schönheit und Anmut saß Prinzessin Sophie neben ihrer Mutter. Ihr Auge schien vor Freude zu strahlen, eine heitere Ruhe lag auf ihrer Stirne, um den feingeschnittenen Mund wehte ein holdes Lächeln, vielleicht der Nachklang eines heiteren Scherzes – sie hatte ja jetzt ihren Willen durchgesetzt, Othello war es, der den Saal und die Logen des Hauses gefüllt hatte. Jetzt nahm sie die Lorgnette vor das Auge, wie letzthin schien sie eifrig im Hause noch etwas zu suchen – argloses Herz, du schlägst vergebens dem Geliebten entgegen; deine liebevollen Blicke werden ihn nicht mehr finden, dein Ohr lauscht vergebens, ob nicht sein Schritt im Korridor erschallt, du beugst umsonst[92] den schönen Nacken zurück, die Türe will sich nicht öffnen, seine hohe, gebietende Gestalt wird sich dir nicht mehr nahen.

Sie senkte das Glas; ein Wölkchen von getäuschter Erwartung und Trauer lagerte sich unter den blonden Locken, die schönen Bogen der Brauen zogen sich zusammen und ließen ein kaum merkliches Fältchen des Unmuts sehen. Die feinen, seidenen Wimpern senkten sich wie eine durchsichtige Gardine herab, sie schien zu sinnen, sie zeichnete mit der Lorgnette auf die Brüstung der Loge. – Sind es vielleicht seine Chiffern, die sie in Gedanken versunken vor sich hinschreibt? Wie bald wird sie vielleicht dem Namen fluchen, der jetzt ihre Seele füllt!

Dem Major traten unwillkürlich Tränen in die Augen, als er Sophie betrachtete. »Noch ahnet sie nicht, was ihrer wartet,« dachte er, »aber nie, nie soll sie erfahren, wie elend der war, den sie liebte.« Der Gedanke an diesen Elenden bemächtigte sich seiner aufs neue; er drückte die Augen zu, verfluchte die menschliche Natur, die durch Leichtsinn und Schwäche aus einem erhabenen Geist, aus einem tapfern Mann einen ehrvergessenen, treulosen Betrüger machen könne.

Der Major hat oft gestanden, daß einer der schrecklichsten Augenblicke in seinem Leben der gewesen sei, wo er im ersten Zwischenakt Othellos in die fürstliche Loge trat. Es war ihm zu Mut, als habe er selbst an Sophien gefrevelt, als sei er es, der ihr Herz brechen müsse. Der Gedanke war ihm unerträglich, sie arglos, glücklich, erwartungsvoll vor sich zu sehen und doch zu wissen, welch namenloses Unglück ihrer warte. Er trat ein; ihre Blicke begegneten ihm sogleich, sie hatte wohl oft nach der Türe gesehen. Mit hastiger Ungeduld übersah sie einen Prinzen und zwei Generale, die sich ihr nahen wollten, sie winkte den Major heran. »Haben wir jetzt unsern Othello!« sagte sie, »sind Sie nicht auch glücklich, erwartungsvoll? – doch einen unserer Othelloverschworenen sehe ich nicht,« flüsterte sie leiser, indem sie leicht errötete; »der Graf ist sicherlich hinter den Kulissen, um recht warmen Dank zu verdienen, wenn er alles recht schön machen läßt?«

»Verzeihen Euer Durchlaucht,« erwiderte der Major, mühsam nach Fassung ringend, »der Graf läßt sich entschuldigen, er ist schnell auf einige Tage verreist.«

Sophie erbleichte. »Verreist, also nicht in der Oper? Wohin riefen ihn denn so schnell seine Geschäfte? O, das ist gewiß ein Scherz, den Sie beide zusammen machen,« rief sie; »glauben Sie denn, er werde nur so schnell weggehen, ohne sich[93] zu beurlauben? Nein, nein, das gibt irgend einen hübschen Spaß. Jetzt weiß ich auch, woher mir ein gewisses Briefchen zukam.«

Der Major erschrak, daß er sich an dem nächsten Stuhl halten mußte. »Ein Briefchen?« fragte er mit bebender Stimme, eine schreckliche Ahnung stieg in ihm auf.

»Ja, ein zierliches Billettchen,« sagte sie und ließ neckend das Ende eines Papiers unter dem breiten Brasselett hervorsehen, das ihren schönen Arm umschloß. »Ein Briefchen, das man recht geheimnisvoll mir zugesteckt hat. Ich sehe es Ihnen an den Augen an, Sie sind im Komplott. Ich habe noch keine Gelegenheit gefunden, es zu öffnen, denn einen solchen Scherz muß man nicht öffentlich machen, aber sobald ich in mein Boudoir komme –«

»Durchlaucht! ich bitte um Gottes willen, geben Sie mir das Billett,« sagte der Major, von den schrecklichsten Qualen gefoltert, »es ist gar nicht einmal an Sie, es ist in ganz unrechte Hände gekommen.«

»So? um so besser; das gebe ich um keine Welt heraus, das soll mir Aufschluß geben über die Geheimnisse gewisser Leute! An eine Dame war es also auf jeden Fall; es ist wirklich hübsch, daß es gerade in meine Hände kam.«

Der Major wollte noch einmal bitten, beschwören, aber der Prinz fuhr mit seinem Kopf dazwischen, die beiden Generale fielen mit Fragen und Neuigkeiten herein, er mußte sich zurückziehen. Verfolgt von schrecklichen Qualen, ging er zu seiner Loge zurück, er preßte seine Augen in die Hand, um die Unglückliche nicht zu sehen, und immer wieder mußte er von neuem hinschauen, mußte von neuem die Qualen der Angst, die Gewißheit des nahenden Unglücks mit seinen Blicken einsaugen.

Die Diamanten am Schlosse ihres Armbandes spielten in tausend Lichtern, ihre Strahlen zuckten zu ihm herüber, sie drangen wie tausend Pfeile in sein Herz. »Welchen Jammer verschließen jene Diamanten! Wenn sie im einsamen Gemach diese Bänder öffnet, öffnet sie nicht zugleich die Pforte eines grauenvollen Frevels? Ihr Puls schlägt an diese unseligen Zeilen, wie ihr Herz für den Geliebten pocht; wird es nicht stillestehen, wenn das Siegel springt, und das ahnungslose Auge auf eine furchtbare Kunde fällt?«

Desdemona stimmte ihre Harfe; ihre wehmütigen Akkorde zogen flüsternd durch das Haus, sie erhob ihre Stimme, sie sang – ihren Schwanengesang. Wie wunderbar, wie mächtig ergriffen[94] diese melancholischen Klänge jedes Herz; so einfach, so kindlich dieses Lied, und doch von so hohem, tragischem Effekt! Man fühlt sich bange und beengt, man ahnt, welch grauenvolles Schicksal ihrer warte, man glaubt den Mörder in der Ferne schleichen zu hören, man fühlt die unabwendbare Macht des Schicksals näher und näher kommen, es umrauscht sie wie die Fittiche des Todes. Sie ahnet es nicht; sanft, arglos wie ein süßes Kind sitzt sie an der Harfe, nur die Schwermut zittert in weichen Klängen aus ihrer Brust hervor, aus diesem vollen, liebewarmen Herzen, für das der Stahl schon gezückt ist. Sie flüstert Liebesgrüße in die Ferne nach ihm, der sie zermalmen wird; ihre Sehnsucht scheint ihn in ihre Arme zu rufen, er wird kommen – sie zu morden; sie betet für ihn, Desdemona segnet ihn – der ihr den Tod gibt.

Der Major teilte seine Blicke zwischen der Sängerin und Sophien. Sie lauschte, in Wehmut versunken, auf das Lieblingslied, eine Träne hing in ihren Wimpern, sie weinte unbewußt über ihr eigenes Geschick, die Akkorde der Harfe verschwebten, Sophie sah sinnend, träumend vor sich hin. »Wenn ich einst sterbe, soll es mein Schwanengesang sein,« klang es in der Erinnerung des Majors. »Wahrlich, sie hat wahr gesagt,« sprach er zu sich, »es war der Schwanengesang ihres Glückes.« Othello trat auf. Sophiens Aufmerksamkeit war jetzt nicht mehr auf die Oper gerichtet, sie sah herab auf ihr Armband, sie spielte mit dem Schloß; ein heiteres Lächeln verdrängte ihre Wehmut, ihre Blicke streiften nach der Loge des Majors herüber, er strengte angstvoll seine Blicke an – Gott im Himmel, sie schiebt das unglückselige Papier hervor und verbirgt es in ihr Tuch – er glaubt zu sehen, wie sie heimlich das Siegel bricht – verzweiflungsvoll stürzt er aus seiner Loge den Korridor entlang. Er weiß nicht warum, es treibt ihn mit unsichtbarer Gewalt der fürstlichen Loge zu, er ist nur noch einige Schritte entfernt – da hört er ein Geräusch in dem Haus, man kommt aus der Loge, Bediente und Kammerfrauen eilen ängstlich an ihm vorüber, eine schreckliche Ahnung sagt ihm schon vorher, was es bedeute, er fragt, er erhält die Antwort: »Prinzessin Sophie ist plötzlich in Ohnmacht gesunken!«

[95]


9.

Düster, zerrissen in seinem Innern, saß einige Tage nach diesem Vorfall der Major Larun in seinem Zimmer. Seine Stirne ruhte in der Hand, sein Gesicht war bleich, seine Augen halb geschlossen, der sonst so starke Mann zerdrückte manche Träne, die sich über seine Wimpern stehlen wollte. Er dachte an das schreckliche Geschick, in dessen innerstes Gewebe ihn der Zufall geworfen; er sah alle diese feinen Fäden, die, wenigen Augen außer ihm sichtbar, so lose sich anknüpften; er sah, wie sie weiter gesponnen, wie sie verknüpft und gedoppelt zu einem nur zu festen Netz um ein zartes, unglückliches Herz sich schlangen. Unbesiegbare Bitterkeit mischte sich in diese trüben Erinnerungen; sein alter Waffenfreund, ein so glänzendes Meteor am Horizont der Ehre, ein so braver Soldat, und jetzt ein Elender, Ehrvergessener, der, ohne nur entfernt einen andern Ausgang erwarten zu können, mit allen Künsten der Liebe die unbewachten Sinne eines kaum zur Jungfrau erblühten Kindes betörte! In diese Gedanken mischte sich das Bild dieses so unendlich leidenden Engels, mischte sich die Angst vor einer Szene, welcher er in der nächsten Stunde entgegengehen sollte. Eine angesehene Dame, die Oberhofmeisterin der Prinzessin Sophie, hatte ihn diesen Nachmittag zu sich rufen lassen. Sie entdeckte ihm ohne Hehl, daß Sophie von einer schweren Krankheit befallen sei, daß die Aerzte wenig Hoffnung geben, denn sie nennen ihre Krankheit einen Nervenschlag. Sie sagte ihm weiter, die Prinzessin habe ihr alles gesagt, sie habe ihr kein Wort dieses strafbaren Verhältnisses verschwiegen. Sie wisse, daß in der Residenz nur ein Mensch lebe, der jenen Grafen Zronievsky näher gekannt habe, dies sei der Baron von Larun. Mit einer Angst, einem Verlangen, das an Verzweiflung grenze, dringe die Unglückliche darauf, mit ihm ohne Zeugen zu sprechen. Die Oberhofmeisterin wußte wohl, wie sehr dies gegen die Vorschriften laufe, welche die Etikette ihr auferlegen, aber der Anblick des jammernden Kindes, das nur noch dies eine Geschäft auf der Erde abmachen zu wollen schien, erhob sie über die Schranken ihrer Verhältnisse, sie wagte es, dem Major den Vorschlag zu machen, diesen Abend unter ihrer Begleitung heimlich zu der Kranken zu gehen.

Der Major hatte nicht nein gesagt. Er wußte, daß er ihr nichts Tröstliches sagen könne, er fühlte aber, wie in einem so[96] tiefen Gram das Verlangen nach Mitteilung unüberwindlich werden müsse.

Aber was sollte er ihr sagen? Mußte er nicht befürchten, von ihrem Anblick, von den trüben Erinnerungen der letzten Tage so bestürmt zu werden, daß sein lauter Schmerz sie noch unglücklicher machte? Er war noch in diese Gedanken versunken, als ihm gemeldet wurde, daß man ihn erwarte; die alte Oberhofmeisterin hielt in ihrem Wagen vor dem Hause; er setzte sich schweigend an ihre Seite.

»Sie werden die Prinzessin sehr schlecht finden,« sagte diese Dame mit Tränen, »ich gebe alle Hoffnung auf. Ich kann mir nicht denken, daß in der Unterredung mit Ihnen, Herr Baron, noch etwas Rettendes liegen könne. Werden Sie ihr keinen Trost geben können, so verlischt sie uns wie eine Lampe, die kein Oel mehr hat, um ihre Flamme zu nähren; und wollten Sie ihr Trost, Hoffnung geben, so sind diese Gefühle in ihren Verhältnissen von so unnatürlicher Art, daß ich beinahe wünschen müßte, sie möge eher sterben, als ihrem Hause Schande machen.«

»Also werde ich ihr den Tod bringen müssen,« sagte der Major bitter lächelnd; – – »weiß man in der Familie um diese Geschichten? Was denkt man von der Krankheit?«

»Wie ich Ihnen sagte, Herr Baron; die Familie, der Hof und die Stadt weiß nichts anders, als daß sie sich erkältet haben muß; die törichten Leute bringen auch noch die fatale Oper ins Spiel und lassen sie am Othello sterben. Was wir beide wissen, ist sonst niemand bekannt; es gibt einige Damen, die dieses Verhältnis früher ahneten, aber nicht genau wußten.«

»Und doch fürchte ich,« entgegnete der Major, indem er seinen durchdringenden Blick auf die Dame an seiner Seite heftete, »ich fürchte, sie stirbt an einem sehr gewagten Bubenstück. Man hat dieses Verhältnis geahnet, demselben nachgespürt, es wurde zur Gewißheit; man suchte eine Trennung herbeizuführen, man spürte die Verhältnisse des Grafen aus –«

»Glauben Sie?« sagte die Oberhofmeisterin blaß und mit bebenden Lippen, indem sie umsonst versuchte, den Blick des Majors auszuhalten.

»Man forschte diese Verhältnisse aus,« fuhr der Major fort; »man suchte ihn von hier wegzuschrecken, indem man ihm drohte, der Prinzessin zu sagen, daß er verheiratet sei. Bis hierher war der Plan nicht übel; es gehörte einem solchen Elenden, daß man nicht gelinder mit ihm verfuhr. Aber man ging weiter: man wollte auch die unglückliche Dame schnell von[97] ihrer Liebe heilen, man machte sie mit dem Geheimnis des Grafen bekannt, man glaubte, sie werde alles über Nacht vergessen. Und hier war der Plan auf die Nerven eines Dragoners berechnet, aber nicht auf das Herz dieses zarten Kindes.«

»Ich muß bitten, zu bedenken,« entgegnete die Oberhofmeisterin mit ihrer früheren Kälte, aber mit stechenden Blicken, »daß dieses zarte Kind eine Prinzessin des fürstlichen Hauses ist, daß sie erzogen wurde, um mit Anstand über solche Mißverhältnisse wegzusehen. Sollte wirklich irgend ein solcher Plan vorhanden gewesen sein, so kann ich die Handelnden nicht tadeln, sie haben wahrhaft geschickt operiert –«

»Sie haben ihren Zweck erreicht, sie wird sterben;« unterbrach sie der Major.

»Ich hätte meinen Zweck erreicht? mein Herr, ich muß bitten –«

»Sie?« sagte Larun mit gleichgültiger Stimme; »von Ihnen, gnädige Frau, sprach ich nicht, ich sagte: sie, die Handelnden, die Operierenden.«

Die alte Dame biß sich in die Lippen und schwieg. Wenige Augenblicke nachher waren sie an einer Seitenpforte des Palais angelangt. Ein alter Diener führte sie durch ein Labyrinth von Korridors und Treppen. Endlich waren die Gänge breiter, die Beleuchtung auf elegantere Art angebracht, der Major bemerkte, daß sie in den bewohnteren Flügel des Schlosses gelangt seien. Der Alte winkte in eine Seitentür. Der Weg ging jetzt durch mehrere Gemächer bis in einen Salon, der wohl zu den Appartements der Prinzessin gehören mochte, wo die Oberhofmeisterin dem Major zuflüsterte, er möchte einstweilen in einem Fauteuil sich gedulden, bis sie ihn rufen lasse.

Nach einer tödlich langen Viertelstunde erschien sie wieder. Sie sagte ihm, daß nach dem ausdrücklichen Willen der Kranken er allein mit ihr sein werde; sie selbst wolle sich als dame d'honneur an die Türe setzen, wo sie gewiß nichts hören könne, wenn man nicht gar zu laut spreche. Uebrigens dürfe er nicht länger als eine Viertelstunde bleiben. Der Major trat ein. Das prachtvolle Gemach mit seinen schimmernden Tapeten und goldenen Leisten, die reiche Draperie der Gardinen, die bunten Farben des türkischen Fußteppichs taten seinem Auge wehe, denn das Gemüt will ein leidendes Herz, einen kranken Körper nicht mit den Flittern der Hoheit umgeben sehen. Und wie groß war der Kontrast zwischen diesem Glanz der Umgebung[98] und diesem zarten, lieblichen Kind, das in einem einfachen, weißen Gewand auf einer prachtvollen Ottomane lag.

Der Eindruck, den ihre Züge, ihre Gestalt, ihr ganzes Wesen zum erstenmal auf ihn gemacht hatten, kehrte auch jetzt wieder in die Seele des Majors. Es war ihre einfache, ungeschmückte Schönheit, ihre stille Größe, verborgen hinter dem Zauber kindlicher Liebenswürdigkeit, was ihn angezogen hatte. Wohl blendete ihn damals der Glanz der frischen, jugendlichen Farben, die lebhaft strahlenden Augen, jenes gewinnende, huldvolle Lächeln, das ihre feinen, rosigen Lippen umschwebte. Ein Nachtfrost hatte diese Blüten abgestreift; aber gab ihr nicht diese durchsichtige Blässe, diese stille Trauer in dem sinnigen Auge, dieser wehmütige Zug um den Mund, der nie mehr scherzte, eine noch erhabenere Schönheit, einen noch gefährlicheren Zauber? Der Major stand einige Schritte von ihr stille und betrachtete sie mit tiefer Rührung. Sie winkte ihm nach einem Taburett, das zu ihren Füßen stand; sie sprach; ihre Stimme hatte zwar jenes helle Metall verloren, das sonst ihre heiteren Scherze, ihr fröhliches Lachen ertönen ließ, aber diese weichen, rührenden Töne drangen tiefer. – »Es wäre töricht von mir, Herr Baron,« sprach sie, »wollte ich Sie lange in Ungewißheit lassen, warum ich Sie rufen ließ. Ich weiß, daß der Graf Sie, als seinen besten Freund, von einem Verhältnis unterrichtet hat, das nie hätte bestehen sollen. – Erinnern Sie sich noch des Abends in Othello? Ich sagte Ihnen von einem Billett, das ich bekommen habe; ich erinnere mich, daß Sie mir es wiederholt abforderten; warum haben Sie das getan?«

»Warum? fragen Euer Durchlaucht, weil ich den Inhalt ahnete, zu wissen glaubte.«

»Also doch!« rief sie und eine Träne drang aus ihrem schönen Auge; »also doch! Ich hielt Sie, seit dem ersten Augenblick, wo ich Sie sah, für einen Mann von Ehre; wenn Sie die Verhältnisse des Grafen wußten, warum haben Sie ihn nicht bälder entfernt, warum mir nicht den Schmerz erspart, ihn verachten zu müssen?«

»Ich kann bei allem, was mir heilig ist, bei meiner Ehre schwören,« entgegnete der Major, »daß ich kaum eine Stunde, bevor ich zu Euer Durchlaucht in die Loge trat, diese Verhältnisse durch ein Papier erfahren habe, das durch Zufall statt in des Grafen Hände in die meinigen kam. Als ich den Grafen darüber zur Rede stellen wollte, hatte er schon Nachricht davon[99] bekommen und war abgereist. Ich ahnete aus gewissen Winken, die jenes Briefchen enthielt, daß auch Sie nicht verschont bleiben werden; umsonst versuchte ich das unglückliche Blättchen Euer Durchlaucht abzuschwätzen.«

»Sie glauben also an diese Erfindung?« sagte Sophie, indem ihre Tränen heftiger strömten; »ach, es ist ja nur ein Kunstgriff gewisser Leute, die ihn von uns entfernen wollten. Lesen Sie dieses Billett, es ist dasselbe, das ich erhielt; gestehen Sie selbst, es ist Verleumdung!«

Der Major las:

»Der Graf von Z. ist verheiratet; seine Gemahlin lebt in Avignon; drei kleine Kinder weinen um ihren Vater. – Sollte eine erlauchte Dame so wenig Ehrgefühl, so wenig Mitleid besitzen, ihn diesen Banden noch länger zu entziehen?«

Es war dieselbe Handschrift, dasselbe Siegel wie jenes Billett, das er selbst bekommen hatte. Er sah noch immer in diese Zeilen; er wagte nicht aufzuschauen, er wußte nicht zu antworten; denn seine strengen Begriffe von Wahrheit erlaubten ihm nicht, gegen seine Ueberzeugung zu sprechen, das tiefe Mitleid mit ihrem Schmerz ließ ihn ihre Hoffnung nicht so grausam niederschlagen.

»Sehen Sie,« fuhr sie fort, als er noch immer schwieg, »wie ich dieses Briefchen arglos, neugierig erbrach, so überraschten mich jene schrecklichen Worte Gemahlin, Vater wie eine Stimme des Gerichtes. Die Sinne schwanden mir; ich wurde recht krank und elend; aber so oft ich nur eine Stunde mich leichter fühle, steigt meine Hoffnung wieder; ich glaube, Zronievsky kann doch nicht so gar schlecht gewesen sein, er kann mich nicht so schrecklich betrogen haben. Lächeln Sie doch, Major, seien Sie freundlich! – Ich erlaube Ihnen, Sie dürfen mich verspotten, weil ich mich durch diese Zeilen so ganz außer Fassung bringen ließ, – aber nicht wahr, Sie meinen selbst, es ist eine Lüge, es ist Verleumdung?«

Der Major war außer sich; was sollte er ihr sagen? Sie hing so erwartungsvoll an seinen Lippen, es war, als sollte ein Wort von ihm sie ins Leben rufen – ihr Auge strahlte wieder, jenes holde Lächeln erschien wieder auf ihren lieblichen Zügen – sie lauschte wie auf die Botschaft eines guten Engels.

Er antwortete nicht, er sah finster auf den Boden; da verschwand allmählich die frohe Hoffnung aus ihren Zügen, das Auge senkte sich, der kleine Mund preßte sich schmerzlich zusammen, das zarte Rot, das noch einmal ihre Wangen gefärbt[100] hatte, floh; sie senkte ihre Stirne in die schöne Hand, sie verbarg ihre weinenden Augen.

»Ich sehe,« sagte sie, »Sie sind zu edel, mir mit Hoffnungen zu schmeicheln, die nach wenigen Tagen wieder verschwinden müßten. Ich danke Ihnen auch für diese schreckliche Gewißheit. Sie ist immer besser als das ungewisse Schweben zwischen Schmerz und Freude; und nun, mein Freund, nehmen Sie dort das Kästchen, suchen Sie es ihm zuzustellen, es enthält manches, was mir teuer war – doch nein, lassen Sie es mir noch einige Tage, ich schicke es Ihnen, wenn ich es nicht mehr brauche.

Es ist mir, als werde ich nicht mehr lange leben,« fuhr sie nach einigen Augenblicken fort; »ich bin gewiß nicht abergläubisch, aber warum muß ich gerade nach diesem fatalen Othello krank werden?«

»Ich hätte nicht gedacht, daß dieser Gedanke nur einen Augenblick Euer Durchlaucht Sorge machen könnte!« sagte der Major.

»Sie haben recht, es ist töricht von mir; aber in der Nacht, als man mich krank aus der Oper brachte, träumte mir, ich werde sterben. Eine ernste, finstere junge Dame kam mit einem Plumeau von roter Seide auf mich zu, deckte ihn über mich her und preßte ihn immer stärker auf mich, daß ich beinahe erstickte. Dann kam plötzlich mein Großoheim, der Herzog Nepomuk, gerade so wie er gemalt in der Galerie hängt, und befreite mich von dem beengenden Druck, und das sonderbarste ist –«

»Nun?« fragte der Baron lächelnd, »was fing denn der gemalte Herzog mit Desdemona an?«

Die Prinzessin staunte: »Woher wissen Sie denn, daß die Dame Desdemona ist? Ich beschwöre Sie, woher wissen Sie dies?«

Der Major schwieg einen Augenblick verlegen. »Was ist natürlicher,« antwortete er dann, »als daß Sie von Desdemona träumten? Sie hatten sie ja am Abende zuvor in einem roten Bette verscheiden sehen.«

»Sonderbar, daß Sie auch gleich auf den Gedanken kamen! Das sonderbarste aber ist, ich wachte auf, als der Herzog mich befreite, ich wachte in der Tat auf und sah – wie jene Dame mit dem Plumeau unter dem Arm langsam zur Türe hinausging. Seit dieser Nacht träumte ich immer dasselbe, immer beengender ward ihr Druck, immer später kommt mir der Herzog zu Hilfe, aber immer sehe ich sie deutlich aus dem Zimmer[101] schweben! Und als ich gestern abend mir die Harfe bringen ließ und mein liebes Desdemonaliedchen spielte, da – spotten Sie immer über mich! – da ging die Türe auf und jene Dame sah ins Zimmer und nickte mir zu.«

Sie hatte dieses halb scherzend, halb im Ernst erzählt; sie wurde ernster. »Nicht wahr, Major,« sagte sie, »wenn ich sterbe, gedenken Sie auch meiner? Das Andenken eines solchen Mannes ist mir wert.« – »Prinzessin!« rief der Major, indem er vergebens seine Wehmut zu bezwingen suchte, »entfernen Sie doch diese Gedanken, die unmöglich zu Ihrer Genesung heilsam sein können!«

Die Oberhofmeisterin erschien in der Tür und gab ein Zeichen, daß die Audienz zu Ende sein müsse. Sophie reichte dem Major die Hand zum Kusse, er hat nie mit tieferen Empfindungen von Schmerz, Liebe und Ehrfurcht die Hand eines Mädchens geküßt. Er hob sein Auge noch einmal zu ihr auf, er begegnete ihren Blicken, die voll Wehmut auf ihm ruhten. Die Oberhofmeisterin trat mit einer Amtsmiene näher; der Major stand auf; wie schwer wurde es ihm, mit kalten gesellschaftlichen Formen sich von einem Wesen zu trennen, das ihm in wenigen Minuten so teuer geworden war.

»Ich hoffe,« sagte er, »Euer Durchlaucht bei der nächsten Cour ganz wiederhergestellt zu sehen.«

»Sie hoffen, Major?« antwortete sie schmerzlich lächelnd; »leben Sie wohl, ich habe zu hoffen aufgehört.«


10.

Die Residenz war einige Tage mit nichts anderem als der Krankheit der geliebten Prinzessin beschäftigt; man sagte sie bald sehr krank, bald gab man wieder Hoffnung; ein Schwanken, das für alle, die sie näher kannten, schrecklich war. An einem Morgen, sehr frühe, brachte ein Diener dem Major ein Kästchen. Ein Blick auf dieses wohlbekannte Behältnis und auf die Trauerkleider des Dieners überzeugte ihn, daß die Prinzessin nicht mehr sei. Es war ihm, als sei dieses liebliche Wesen ihm, ihm allein gestorben. Er hatte viel verloren auf der Erde, und doch hatte kein Verlust so empfindlich, so tief seine Seele berührt als dieser. Es war ihm, als habe er nur noch ein Geschäft auf der Erde, das Vermächtnis der Verstorbenen an[102] seinen Ort zu befördern; er würde diese Stadt, die so drückende Erinnerungen für ihn hatte, sogleich verlassen haben, hätte ihn nicht das Verlangen zurückgehalten, ihre sterblichen Reste beisetzen zu sehen. Als die feierlichen Klänge aller Glocken, als die Trauertöne der Musik und die langen Reihen der Fackelträger verkündeten, daß Sophie zur Gruft ihrer Ahnen geführt werde, da verließ er zum erstenmal wieder sein Haus und schloß sich dem Zuge an. Er hörte nicht auf das Geflüster der Menschen, die sich über die Ursachen ihrer Krankheit, ihres Todes besprachen; er hatte nur einen Gedanken, nur jener Augenblick, wo ihr Auge noch einmal auf ihm geruht, wo seine Lippen ihre Hand berührt hatten, stand vor seiner Seele. Man nahm die Insignien ihrer hohen Geburt von dem Sarge, man senkte sie langsam hinab zum Staube ihrer Ahnen. Die Menge verlor sich, die Begleiter löschten ihre Fackeln aus und verließen die Halle. Der Major warf noch einen Blick nach der Stelle, wo sie verschwunden war, und ging.

Vor ihm ging mit unsicheren, schleppenden Schritten ein alter Mann, der heftig weinte. Als der Major an seiner Seite war, sah jener sich um, es war der Regisseur der Oper. Der Alte trat näher zu ihm, sah ihn lange an, schien sich auf etwas zu besinnen und sprach dann: »Möchten Sie nicht, Herr Baron, wir hätten nur geträumt, und jenes liebliche Kind, das man begraben hat, wäre noch am Leben?«

»Woran mahnen Sie mich!« rief der Major mit unwillkürlichem Grauen; »ja, bei Gott, es ist so, wie Sie träumten; sie ist begraben, und wir beide gehen nebeneinander von ihrem Grab.«

»Drum soll der Mensch nie mit dem Schicksal scherzen,« sagte der Alte mit trübem Ernst. »Ist es heute nicht elf Tage, daß wir Othello gaben? Am achten ist sie gestorben.«

»Zufall, Zufall!« rief der Major. »Wollen Sie Ihren Wahnsinn auch jetzt noch fortsetzen? Weiß ich doch nur zu gut, an was sie starb? Wohl hat ein Dolch ihre Seele wie Desdemonas Brust durchstoßen; ein Elender, schwärzer als Ihr Othello, hat ihr Herz gebrochen; aber dennoch ist es Aberglaube, Wahnsinn, wenn Sie diesen Tod und Ihre Oper zusammenreimen!«

»Unser Streit macht sie nicht wieder lebendig,« sagte der Alte mit Tränen. »Glauben Sie, was Sie wollen, Verehrter![103] ich werde es, wie ich es weiß, in meiner Opernchronik notieren. Es hat so kommen müssen!«

»Nein!« erwiderte der Major beinahe wütend, »nein, es hat nicht so kommen müssen; ein Wort von mir hätte sie vielleicht gerettet. Bringen Sie mir um Gottes willen Ihren Othello nicht ins Spiel; es ist Zufall, Alter; ich will es haben, es ist Zufall!«

»Es gibt, mit Ihrer Erlaubnis, keinen Zufall; es gibt nur Schickung. Doch ich habe die Ehre, mich zu empfehlen, denn hier ist meine Behausung. Glauben Sie übrigens, was Sie wollen;« setzte der Alte hinzu, indem er die kalte Hand des Majors in der seinigen preßte, »das Faktum ist da, sie starb – acht Tage nach Othello


[104]

Die Bettlerin vom Pont des Arts.

1.

Wer im Jahre 1824 abends hie und da in den Gasthof zum König von England in Stuttgart kam oder nachmittags zwischen zwei und drei in den Anlagen auf dem breiten Wege promenierte, muß sich, wenn anders sein Gedächtnis nicht zu kurz ist, noch einiger Gestalten erinnern, die damals jedes Auge auf sich zogen. Es waren nämlich zwei Männer, die ganz und gar nicht unter die gewöhnlichen Stuttgarter Trinkgäste oder Anlagenspaziergänger paßten, sondern eher auf den Prado zu Madrid oder in ein Café zu Lissabon oder Sevilla zu gehören schienen. Denket euch einen ältlichen, großen, hageren Mann mit schwärzlichgrauen Haaren, tiefen, brennenden Augen von dunkelbrauner Farbe, mit einer kühn gebogenen Nase und feinem eingepreßten Mund. Er geht langsam, stolz und aufrecht. Zu seinen schwarzseidenen Beinkleidern und Strümpfen, zu den großen Rosen auf den Schuhen und den breiten Schnallen am Kniegürtel, zu dem langen, dünnen Degen an der Seite, zu dem hohen, etwas zugespitzten Hut mit breitem Rande, schief an die Stirne gedrückt, wünschet ihr, wenn euch nur einigermaßen Phantasie innewohnt, ein kurzes, geschlitztes Wams und einen spanischen Mantel statt des schwarzen Frackes, den der Alte umgelegt hat.

Und der Diener, der ihm ebenso stolzen Schrittes folgt, erinnert er nicht durch das spitzbübische, dummdreiste Gesicht, durch die fremdartige, grelle Kleidung, durch das ungenierte Wesen, womit er um sich schaut, alles angafft und doch nichts bewundert, an jene Diener im spanischen Lustspiel, die ihrem Herrn wie ein Schatten treu, an Bildung tief unter ihm, an Stolz neben ihm, an List und Schlauheit über ihm stehen? Unter dem Arm trägt er seines Gebieters Sonnenschirm und Regenmantel, in der Hand eine silberne Büchse mit Zigarren und eine Lunte.

[105]

Wer blieb nicht stehen, wenn diese beiden langsam durch die Promenade wandelten, um ihnen nachzusehen? Es war aber bekanntlich niemand anders, als Don Pedro di San Montanjo Ligez, der Haushofmeister des Prinzen von P., der sich zu jener Zeit in Stuttgart aufhielt, und Diego, sein Diener.

Wie es oft zu geschehen pflegt, daß nur ein kleines, geringes Ereignis dazu gehört, einen Menschen berühmt und auffallend zu machen, so geschah dies auch mit dem jungen Fröben, der schon seit einem halben Jahr (so lange mochte er sich wohl in Stuttgart aufhalten) alle Tage Schlag zwei Uhr durch das Schloßportal in die Anlagen trat, dreimal um den See und fünfmal den breiten Weg auf und nieder ging, an allen den glänzenden Equipagen, schönen Fräulein, an einer Masse von Direktoren, Räten und Leutnants vorüberkam und von niemand beachtet wurde, denn er sah ja aus wie ein ganz gewöhnlicher Mensch von etwa achtundzwanzig bis dreißig Jahren. Seitdem er aber eines Nachmittags im breiten Weg auf Don Pedro gestoßen, solcher ihn gar freundlich gegrüßt, seinen Arm traulich in den seinigen geschoben hatte und mit ihm einigemal, eifrig sprechend, auf und ab spaziert war, seitdem betrachtete man ihn neugierig, sogar mit einer gewissen Achtung; denn der stolze Spanier, der sonst mit niemand sprach, hatte ihn mit auffallender Aestimation behandelt.

Die schönsten Fräulein fanden jetzt, daß er gar kein übles Gesicht habe, ja es liege sogar etwas Interessantes, überaus Anziehendes darin, was man in den Anlagen eben nicht häufig sehe; die Direktoren und allerlei Räte fragten: »Wer der junge Mann wohl sein könnte?« und nur einige Leutnants konnten Auskunft geben, daß er hie und da im Museum Beefsteaks speise, seit einem halben Jahre in der Schloßstraße wohne und einen schönen Mecklenburger reite, so ihm eigen angehörig. Sie setzten noch vieles über die Vortrefflichkeit dieses Pferdes hinzu, wie es gebaut, von welcher Farbe, wie alt es sei, was es wohl kosten könnte, und kamen so auf die Pferde überhaupt zu sprechen, was sehr lehrreich zu hören gewesen sein soll.

Den jungen Fröben aber sah man seit dieser Zeit öfter in Gesellschaft Don Pedros, und gewöhnlich fand er sich abends im König von England ein, wo er, etwas entfernt von andern Gästen, bei dem Sennor saß und mit ihm sprach. Diego aber stand hinter dem Stuhl seines Herrn und bediente beide fleißig mit Xeres und Zigarren. Niemand konnte eigentlich begreifen,[106] wie die beiden Herren zusammengekommen oder welches Interesse sie aneinander fanden. Man riet hin und her, machte Konjekturen, und am Ende hätte doch der junge Mann selbst den besten Aufschluß darüber geben können, wenn ihn nur einer gefragt hätte.


2.

Und war es denn nicht die schöne Galerie der Brüder Boisserée und Bertram, wo sie sich zuerst fanden und erkannten? Diese gastfreien Männer hatten dem jungen Manne erlaubt, ihre Bilder so oft zu besuchen, als er immer wollte; und er tat dies, wenn er nur immer in der Mittagstunde, wo die Galerie geöffnet wurde, kommen konnte. Es mochte regnen oder schneien, das Wetter mochte zu den herrlichsten Ausflügen in die Gegend locken, er kam; er sah oft recht krank aus und kam dennoch. Man würde aber unbilligerweise den Kunstsinn des Herrn von Fröben zu hoch anschlagen, wenn man etwa glaubte, er habe die herrlichen Bilder der alten Niederländer studiert oder nachgezeichnet. Nein, er kam leise in die Türe, grüßte schweigend und ging in ein entferntes Zimmer, vor ein Bild, das er lange betrachtete; und ebenso still verließ er wieder die Galerie. Die Eigentümer dachten zu zart, als daß sie ihn über seine wunderliche Vorliebe für das Bild befragt hätten; aber auch ihnen mußte es natürlich aufgefallen sein, denn oft, wenn er herausging, konnte er nur schlecht die Tränen verbergen, die ihm im Auge quollen.

Großen historischen oder bedeutenden Kunstwert hatte das Bildchen nicht. Es stellte eine Dame in halb spanischer, halb altdeutscher Tracht vor. Ein freundliches, blühendes Gesicht mit klaren, liebevollen Augen, mit feinem, zierlichem Mund und zartem, rundem Kinn trat sehr lebendig aus dem Hintergrund hervor. Die schöne Stirne umzog reiches Haar und ein kleiner Hut, mit weißen buschigen Federn geschmückt, der etwas schalkhaft zur Seite saß. Das Gewand, das nur den schönen zierlichen Hals frei ließ, war mit schweren goldenen Ketten umhängt und zeugte ebensosehr von der Sittsamkeit als dem hohen Stand der Dame.

»Am Ende ist er wohl in das Bild verliebt,« dachte man, »wie Kalaf in das der Prinzessin Turandot, obschon mit ungleich geringerer Hoffnung, denn das Bild ist wohl dreihundert Jahre alt und das Original nicht mehr unter den Lebenden.«

[107]

Nach einiger Zeit schien aber Fröben nicht mehr der einzige Anbeter des Bildes zu sein. Der Prinz von P. hatte eines Tages mit seinem Gefolge die Galerie besucht. Don Pedro, der Haushofmeister, hatte die umherschreitende Schar der Zuschauer verlassen und besah sich die Gemälde, einsam von Zimmer zu Zimmer wandelnd; doch wie vom Blitz gerührt, mit einem Ausruf des Erstaunens, war er vor dem Bild jener Dame stehen geblieben. Als der Prinz die Galerie verließ, suchte man den Haushofmeister lange vergebens. Endlich fand man ihn, mit übergeschlagenen Armen, die feurigen Augen halb zugedrückt, den Mund eingepreßt, in tiefer Betrachtung vor dem Bilde.

Man erinnerte ihn, daß der Prinz bereits die Treppe hinabsteige, doch der alte Mann schien in diesem Augenblicke nur für eines Sinn zu haben. Er fragte, wie dies Bild hierher gekommen sei. Man sagte ihm, daß es von einem berühmten Meister vor mehreren hundert Jahren gefertigt und durch Zufall in die Hände der jetzigen Eigentümer gekommen sei.

»O Gott, nein!« antwortete er, »das Bild ist neu, nicht hundert Jahre alt; woher, sagen Sie, woher? O, ich beschwöre Sie, wo kann ich sie finden?«

Der Mann war alt und sah zu ehrwürdig aus, als daß man diesen Ausbruch des Gefühls hätte lächerlich finden können; doch als er dieselbe Behauptung wieder hörte, daß das Bild alt und wahrscheinlich von Lukas Cranach selbst gemalt sei, da schüttelte er bedenklich den Kopf.

»Meine Herren,« sprach er und legte beteuernd die Hand aufs Herz, »meine Herren, Don Pedro di San Montanjo Ligez hält Sie für ehrenwerte Leute. Sie sind nicht Gemäldeverkäufer und wollen mir dies Bild nicht als alt verkaufen; ich darf durch Ihre Güte diese Bilder sehen, und Sie genießen die Achtung dieser Provinz. Aber es müßte mich alles täuschen oder – ich kenne die Dame, die jenes Bild vorstellt.«

Mit diesen Worten schritt er, ehrerbietig grüßend, aus dem Zimmer.

»Wahrhaftig!« sagte einer der Eigentümer der Galerie, »wenn wir nicht so genau wüßten, von wem dieses Bild gemalt ist, wann und wie es in unsern Besitz kam, und welche lange Reihe von Jahren es vorher in K. hing, man wäre versucht, an dieser Dame irre zu werden. Scheint nicht selbst den jungen Fröben irgend eine Erinnerung beinahe täglich vor dieses Bild[108] zu treiben, und dieser alte Don, blitzte nicht ein jugendliches Feuer aus seinen Augen, als er gestand, daß er die Dame kenne, die hier gemalt ist? Sonderbar, wie oft die Einbildung ganz vernünftigen Menschen mitspielt; und mich müßte alles täuschen, wenn der Spanier zum letztenmal hier gewesen wäre.«


3.

Und es traf ein; kaum war die Galerie am folgenden Vormittag geöffnet worden, trat auch schon Don Pedro di San Montanjo Ligez festen, erhabenen Schrittes ein und strich an der langen Bilderreihe vorüber nach jenem Zimmer hin, wo die Dame mit dem Federhute aufgestellt war. Es verdroß ihn, daß der Platz vor dem Bilde schon besetzt war, daß er es nicht allein und einsam Zug für Zug mustern konnte, wie er so gerne getan hätte. Ein junger Mann stand davor, blickte es lange an, trat an ein Fenster, sah hinaus nach dem Fluge der Wolken und trat dann wieder zu dem Bilde. Es verdroß den alten Herrn etwas; doch – er mußte sich gedulden.

Er machte sich an andern Bildern zu schaffen, aber erfüllt von dem Gedanken an die Dame drehte er alle Augenblicke den Kopf um, um zu sehen, ob der junge Herr noch immer nicht gewichen sei, aber er stand wie eine Mauer, er schien in Betrachtung versunken. Der Spanier hustete, um ihn aus den langen Träumen zu wecken, jener träumte fort; er scharrte etwas weniges mit dem Fuß auf dem Boden, der junge Mann sah sich um, aber sein schönes Auge streifte flüchtig an dem alten Herrn vorüber und haftete dann von neuem auf dem Gemälde.

»San Pedro! San Jago di Compostella!« murmelte der Alte, »welch langweiliger, alberner Dilettante!« Unmutig verließ er das Zimmer und die Galerie, denn er fühlte, heute sei ihm schon aller Genuß benommen durch Verdruß und Aerger. Hätte er doch lieber gewartet! Den Tag nachher war die Galerie geschlossen, und so mußte er sich achtundvierzig lange Stunden gedulden, bis er wieder zu dem Gemälde gehen konnte, das ihn in so hohem Grade interessierte. Noch ehe die Glocken der Stiftskirche völlig zwölf Uhr geschlagen, stieg er mit anständiger Eile die Treppe hinan, hinein in die Galerie, dem wohlbekannten Zimmer zu, und getroffen! Er war der erste, war allein, konnte einsam betrachten.

Er schaute die Dame lange mit unverwandten Blicken an, sein Auge füllte nach und nach eine Träne, er fuhr mit der[109] Hand über die grauen Wimpern. »O Laura!« flüsterte er leise. Da tönte ganz vernehmlich ein Seufzer an seine Ohren, er wandte sich erschrocken um, der junge Mann von vorgestern stand wieder hier und blickte auf das Bild. Verdrießlich, sich unterbrochen zu sehen, nickte er mit dem Haupt ein flüchtiges Kompliment, der junge Mann dankte etwas freundlicher, aber nicht minder stolz als der Spanier. Auch diesmal wollte der letztere den überflüssigen Nachbar abwarten; aber vergeblich, er sah zu seinem Schrecken, wie jener sogar einen Stuhl nahm, sich einige Schritte vor dem Gemälde niedersetzte, um es mit gehöriger Muße und Bequemlichkeit zu betrachten.

»Der Geck,« murmelte Don Pedro, »ich glaube gar, er will mein graues Haar verhöhnen.« Er verließ, noch unmutiger als ehegestern, das Gemach.

Im Vorsaal stieß er auf einen der Eigentümer der Galerie; er sagte ihm herzlichen Dank für den Genuß, den ihm die Sammlung bereitete, konnte sich aber nicht enthalten, über den jungen Ruhestörer sich etwas zu beklagen. »Herr B.,« sagte er, »Sie haben vielleicht bemerkt, daß vorzüglich eines Ihrer Bilder mich anzog; es interessiert mich unendlich, es hat eine Bedeutung für mich, die – die ich Ihnen nicht ausdrücken kann. Ich kam, so oft Sie es vergönnten, um das Bild zu sehen, freute mich recht, es ungestört zu sehen, weil doch gewöhnlich die Menge nicht lange dort verweilt, und – denken Sie sich, da hat es mir ein junger, böser Mensch abgelauscht, und kommt, so oft ich komme, und bleibt, mir zum Trotze bleibt er stundenlang vor diesem Bilde, das ihn doch gar nichts angeht!«

Herr B. lächelte; denn recht wohl konnte er sich denken, wer den alten Herrn gestört haben mochte. »Das letztere möchte ich denn doch nicht behaupten,« antwortete er; »das Bild scheint den jungen Mann ebenfalls nahe anzugehen, denn es ist nicht das erste Mal, daß er es so lange betrachtet.«

»Wieso? Wer ist der Mensch?«

»Es ist ein Herr von Fröben,« fuhr jener fort, »der sich seit fünf, sechs Monaten hier aufhält, und seit er das erste Mal jenes Bild gesehen, eben jene Dame mit dem Federhut, das auch Sie besuchen, kommt er alle Tage regelmäßig zu dieser Stunde, um das Bild zu betrachten. Sie sehen also zum wenigsten, daß er Interesse an dem Bilde nehmen muß, da er es schon so lange besucht.«

[110]

»Herr! Sechs Monate?« rief der Alte. »Nein, dem habe ich bitter unrecht getan in meinem Herzen, Gott mag es mir verzeihen! Ich glaube gar, ich habe ihn unhöflich behandelt im Unmut. Und ist ein Kavalier, sagen Sie? Nein, man soll von Pedro di Ligez nicht sagen können, daß er einen fremden Mann unhöflich behandelte. Ich bitte, sagen Sie ihm – doch lassen Sie das, ich werde ihn wieder treffen und mit ihm sprechen.«


4.

Als er den andern Tag sich wieder einfand und Fröben schon vor dem Gemälde traf, trat er auch hinzu mit recht freundlichem Gesicht; als aber der junge Mann ehrerbietig auf die Seite wich, um dem alten Herrn den bessern Platz einzuräumen, verbeugte sich dieser höflich grüßend und sprach: »Wenn ich nicht irre, Sennor, so habe ich Sie schon mehrere Male vor diesem Gemälde verweilen sehen. – Da geht es Ihnen wohl gleich mir; auch mir ist dieses Bild sehr interessant, und ich kann es nie genug betrachten.«

Fröben war überrascht durch diese Anrede; auch ihm waren die Besuche des Alten vor dem Bilde aufgefallen, er hatte erfahren, wer jener sei, und nach der steifen, kalten Begrüßung von gestern war er dieser freundlichen Anrede nicht gewärtig. »Ich gestehe, mein Herr!« erwiderte er nach einigem Zögern, »dieses Bild zieht mich vor allen andern an, denn – weil – es liegt etwas in diesem Gemälde, das für mich von Bedeutung ist.« – Der Alte sah ihn fragend an, als genüge ihm diese Antwort nicht völlig, und Fröben fuhr gefaßter fort: »Es ist wunderbar mit Kunstwerken, besonders mit Gemälden. Es gehen an einem Bilde oft Tausende vorüber, finden die Zeichnung richtig, geben dem Kolorit ihren Beifall, aber es spricht sie nicht tiefer an, während einem einzelnen aus solch einem Bilde eine tiefere Bedeutung aufgeht; er bleibt gefesselt stehen, kann sich kaum losreißen von dem Anblick, er kehrt wieder und immer wieder, von neuem zu betrachten.«

»Sie können recht haben,« sagte der Alte nachdenkend, indem er auf das Gemälde schaute, »aber – ich denke, es ließe sich dies nur von größeren Kompositionen sagen, von Gemälden, in welche der Maler eine tiefere Idee legte. Es gehen viele vorüber, bis die Bedeutung endlich einem aufgeht, der dann den tiefen Sinn des Künstlers bewundert. Aber sollte man dies von solchen Köpfen behaupten können?«

[111]

Der junge Mann errötete. »Und warum nicht?« fragte er lächelnd. »Die schönen Formen dieses Gesichtes, die edle Stirne, dieses sinnende Auge, dieser holde Mund, hat sie der Künstler nicht mit tiefem Geiste geschaffen, liegt nicht etwas so Anziehendes in diesen Zügen, daß –«

»O bitte, bitte,« unterbrach ihn der Alte, gütig abwehrend; »es war allerdings eine recht hübsche Person, die dem Künstler gesessen, die Familie hat schöne Frauen.«

»Wie? welche Familie?« rief der Jüngling erstaunt; er zweifelte an dem gesunden Verstand des Alten, und doch schienen ihn seine Worte aufs höchste zu spannen. »Dies Bild ist wohl reine Phantasie, mein Herr, ist zum wenigsten mehrere hundert Jahre alt!«

»Also glauben Sie das Märchen auch?« flüsterte der Alte; »unter uns gesagt, diesmal wurde der Scharfblick der Eigentümer doch getäuscht; ich kenne ja die Dame.«

»Um Gottes willen, Sie kennen sie? wo ist sie jetzt, wie heißt sie?« sprach Fröben heftig bewegt, indem er die Hand des Spaniers faßte.

»Sage ich lieber, ich habe sie gekannt,« antwortete dieser mit zitternder Stimme, indem er das feuchte Auge zu der Dame aufschlug. »Ja, ich habe sie gekannt, in Valencia vor zwanzig Jahren; eine lange Zeit! Es ist niemand anders als Donna Laura Tortosi.«

»Zwanzig Jahre!« wiederholte der junge Mann traurig und niedergeschlagen. »Zwanzig Jahre, nein, sie ist es nicht!«

»Sie ist es nicht?« fuhr Don Pedro hitzig auf. »Nicht, sagen Sie? So können Sie glauben, ein Maler habe diese Züge aus seinem Hirn zusammengepinselt? Doch ich will nicht ungerecht sein, es war wohl ein tüchtiger Mann, der sie malte, denn seine Farben sind wahr und treu, treu und frisch wie das blühende Leben. Aber glauben Sie, daß ein solcher Künstler aus seiner Phantasie nicht ein ganz anderes Bild erschafft. Finden Sie nicht, ohne die Familie Tortosi zu kennen, daß diese Dame offenbar Familienähnlichkeit haben müsse, Familienzüge, bestimmt und klar von der Natur ausgesprochen, Züge, wie man sie nie in Gemälden der Phantasie, sondern nur bei guten Porträts findet? Es ist ein Porträt, sag' ich Ihnen, Sennor, und bei Gott kein anderes, als das der Donna Laura, wie ich sie vor zwanzig Jahren gesehen in dem lieblichen Valencia.«

»Mein verehrter Herr,« erwiderte ihm Fröben, »es gibt Aehnlichkeiten, täuschende Aehnlichkeiten; man glaubt oft einen[112] Freund sprechend getroffen zu sehen, nur in sonderbarem, veraltetem Kostüm, und wenn man fragt, ist es sein Urahn aus dem Dreißigjährigen Kriege oder überdies gar noch ein Fremder. Ich gebe auch zu, daß dieses Bild sogenannte Familienzüge trage, daß es der liebenswürdigen Donna Laura gleiche, aber dieses Bild, dieses ist alt, und so viel weiß man wenigstens aus Registern und Kirchenbüchern, daß es in der Magdalenenkirche zu K. schon seit hundertundfünfzig Jahren hing, durch zufällige Stiftung, nicht auf Bestellung, in die Kirche kam, und nach allen Anzeichen von dem deutschen Maler Lukas Cranach gefertigt wurde.«

»So hole der lebendige Satan meine Augen!« rief Don Pedro ärgerlich, indem er aufsprang und seinen Hut nahm. »Ein Blendwerk der Hölle ist's, sie will mich in meinen alten Tagen noch einmal durch dies Gemälde in Wehmut und Gram versenken.« Tränen standen dem alten Mann in den Augen, als er mit hastigen, dröhnenden Schritten die Galerie verließ.


5.

Aber dennoch war er auch jetzt nicht zum letztenmal dagewesen. Fröben und er sahen sich noch oft vor dem Bilde, und der Alte gewann den jungen Mann durch sein bescheidenes, aber bestimmtes Urteil, durch seine liebenswürdige Offenheit, durch sein ganzes Wesen, das feine Erziehung, treffliche Kenntnisse und einen für diese Jahre seltenen Takt verriet, immer lieber. Der Alte war fremd in dieser Stadt, er fühlte sich einsam, dennoch war er der Welt nicht so sehr abgestorben, daß er nicht hin und wieder einen Menschen hätte sprechen mögen. So kam es, daß er sich unvermerkt näher an den jungen Fröben anschloß; zog ihn ja dieser auch dadurch so unbeschreiblich an, daß er ein teures Gefühl mit ihm teilte, nämlich die Liebe zu jenem Bilde.

So kam es, daß er den jungen Mann auf dem Spaziergang gerne begleitete, daß er ihn oft einlud, ihm abends Gesellschaft zu leisten. Eines Abends, als der Speisesaal im König von England ungewöhnlich gefüllt war und rings um die beiden fremde Gäste saßen, so daß sie sich im traulichen Gespräche gehindert fühlten, sprach Don Pedro zu seinem jungen Freund: »Sennor, wenn Ihr anders diesen Abend nicht einer Dame versprochen habt, vor ihrem Gitter mit der Laute zu erscheinen, oder wenn Euch nicht sonst ein Versprechen hindert, so möchte[113] ich Euch einladen, eine Flasche echten Ximenes mit mir auszustechen auf meinem Gemach.«

»Sie ehren mich unendlich,« antwortete Fröben, »mich bindet kein Versprechen, denn ich kenne hier keine Dame, auch ist es hiesigen Orts nicht Sitte, abends die Laute zu schlagen auf der Straße oder sich mit der Geliebten am Fenster zu unterhalten. Mit Vergnügen werde ich Sie begleiten.«

»Gut; so geduldet Euch hier noch eine Minute, bis ich mit Diego die Einrichtung gemacht; ich werde Euch rufen lassen.«

Der Alte hatte diese Einladung mit einer Art von Feierlichkeit gesprochen, die Fröben sonderbar auffiel. Jetzt erst entsann er sich auch, daß er noch nie auf Don Pedros Zimmer gewesen, denn immer hatten sie sich in dem allgemeinen Speisesaal des Gasthofs getroffen. Doch aus allem zusammen glaubte er schließen zu müssen, daß es eine besondere Höflichkeit sei, die ihm der Spanier durch diese Einführung bei sich erzeigen wolle. Nach einer Viertelstunde erschien Diego mit zwei silbernen Armleuchtern, neigte sich ehrerbietig vor dem jungen Mann und forderte ihn auf, ihm zu folgen. Fröben folgte ihm und bemerkte, als er durch den Saal ging, daß alle Trinkgäste ihm neugierig nachschauten und die Köpfe zusammensteckten. Im ersten Stock machte Diego eine Flügeltüre auf und winkte dem Gast, einzutreten. Ueberrascht blieb dieser auf der Schwelle stehen. Sein alter Freund hatte den Frack abgelegt, ein schwarzes, geschlitztes Wams mit roten Puffen angezogen und einen langen Degen mit goldenem Griff umgeschnallt; ein dunkelroter Mantillo fiel ihm über die Schultern. Feierlich schritt er seinem Gast entgegen und streckte seine dürre Hand aus den reichen Manschetten hervor, ihn zu begrüßen. »Seid mir herzlich willkommen, Don Fröbenio,« sprach er, »stoßet Euch nicht an diesem prunklosen Gemach; auf Reisen, wie Ihr wißt, fügt sich nicht alles wie zu Hause. Weicher allerdings geht es sich in meinem Saale zu Lissabon, und meine Diwans sind echt maurische Arbeit; doch setzet Euch immer zu mir auf dies schmale Ding, Sofa genannt, ist doch der Wein des Herrn Schwaderer echt und gut; setzt Euch!«

Er führte unter diesen Worten den jungen Mann zu einem Sofa; der Tisch vor diesem war mit Konfitüren und Wein besetzt; Diego schenkte ein und brachte Zündstock und Zigarren.

»Schon lange,« hub dann Don Pedro an, »schon lange hätte ich gern einmal so recht vertraulich zu Euch gesprochen,[114] Don Fröbenio, wenn Ihr anders mein Vertrauen nicht gering achtet. Sehet, wenn wir uns oft zur Mittagsstunde vor Lauras Bildnis trafen, da habe ich Euch, wenn Ihr so recht versunken waret in Anschauung, aufmerksam betrachtet, und, vergebt mir, wenn meine alten Augen einen Diebstahl an Euren Augen begingen, ich bemerkte, daß der Gegenstand dieses Gemäldes noch höheres Interesse für Euch haben müsse und eine tiefere Bedeutung, als Ihr mir bisher gestanden.«

Fröben errötete; der Alte sah ihn so scharf und durchdringend an, als wollte er im innersten Grund seiner Seele lesen. »Es ist wahr,« antwortete er, »dieses Bild hat eine tiefe Bedeutung für mich, und Sie haben recht gesehen, wenn Sie glauben, es sei nicht das Kunstwerk, was mich interessiere, sondern der Gegenstand des Gemäldes. Ach, es erinnert mich an den sonderbarsten, aber glücklichsten Moment meines Lebens! Sie werden lächeln, wenn ich Ihnen sage, daß ich einst ein Mädchen sah, das mit diesem Bild täuschende Aehnlichkeit hatte; ich sah sie nur einmal und nie wieder, und darum gehört es zu meinem Glück, wenigstens ihre holden Züge in diesem Gemälde wieder aufzusuchen.«

»O Gott! das ist ja auch mein Fall!« rief Don Pedro.

»Doch lachen werden Sie,« fuhr Fröben fort, »wenn ich gestehe, daß ich nur von einem Teil des Gesichtes dieser Dame sprechen kann. Ich weiß nicht, ist sie blond oder braun, ist ihre Stirne hoch oder nieder, ist ihr Auge blau oder dunkel, ich weiß es nicht! Aber diese zierliche Nase, dieser liebliche Mund, diese zarten Wangen, dieses weiche Kinn finde ich auf dem geliebten Bilde, wie ich es im Leben geschaut!«

»Sonderbar! – Und diese Formen, die sich dem Gedächtnis weniger tief einzudrücken pflegen als Auge, Stirn und Haar, diese sollten, nachdem Ihr nur einmal sie gesehen, so lebhaft in Eurer Seele stehen?«

»O Don Pedro!« sprach der Jüngling bewegt, »einen Mund, den man einmal geküßt hat, einen solchen Mund vergißt man so leicht nicht wieder. Doch, ich will erzählen, wie es mir damit ergangen.« –

»Halt ein, kein Wort!« unterbrach ihn der Spanier; »Ihr würdet mich für sehr schlecht erzogen halten müssen, wollte ich einem Kavalier sein Geheimnis entlocken, ohne ihm das meine zuvor als Pfand gegeben zu haben. Ich will Euch erzählen von der Dame, die ich in jenem sonderbaren Bild erkannte, und wenn[115] Ihr mich dann Eures Vertrauens würdig achtet, so möget Ihr mir mit Eurer Geschichte vergelten. Doch, Ihr trinket ja nicht; es ist echter, spanischer Wein, und ihn müßt Ihr trinken, wenn Ihr mit mir Valencia besuchen wollt.«

Sie tranken von dem begeisternden Ximenes und der Alte hub an.


6.

»Sennor, ich bin in Granada geboren. Mein Vater kommandierte ein Regiment, und er und meine Mutter stammten aus den ältesten Familien dieses Königreichs. Ich wurde im Christentum und allen Wissenschaften erzogen, die einen Edelmann zieren, und mein Vater bestimmte mich, als ich zwanzig Jahre alt und gut gewachsen war, zum Soldaten. Aber er war ein Mann, streng und ohne Rücksicht im Dienste, und weil er die Zärtlichkeit meiner Mutter für mich kannte und fürchtete, sie möchte ihn oft verhindern, mich meine Pflicht gehörig vollbringen zu machen, beschloß er, mich zu einem andern Regiment zu schicken, und seine Wahl fiel auf Pampeluna, wo mein Oheim kommandierte. Ich lernte dort den Dienst sorgfältig und genau und brachte es in den folgenden zehn Jahren bis zum Kapitän. Als ich dreißig alt war, wurde mein Oheim nach Valencia versetzt. Er hatte Einfluß und wußte zu bewirken, daß ich ihm schon nach einem halben Jahr als Adjutant folgen konnte. Als ich aber in Valencia ankam, hatte sich in meines Oheims Hauswesen vieles geändert. Er war schon längst, noch in Pampeluna, Witwer geworden. In Valencia hatte er eine reiche Witwe kennen gelernt und sie einige Wochen früher, als ich bei ihm eintraf, geheiratet. Sie können denken, wie ich überrascht war, als er mir eine ältliche Dame vorstellte und sie seine Gemahlin nannte; meine Ueberraschung stieg aber und gewann an Freude, als er auch ein Mädchen, schön wie der Tag, herbeiführte und sie seine Tochter Laura, meine Cousine, nannte. Ich hatte bis zu jenem Tage nicht geliebt, und meine Kameraden hatten mich oft deshalb Pedro el pedro (den steinernen Pedro) genannt; aber dieser Stein zerschmolz wie Wachs von den feurigen Blicken Lauras.

Ihr habt sie gesehen, Don Fröbenio, jenes Bild gibt ihre himmlischen Züge wieder, wenn es anders einem irdischen Künstler möglich ist, die wundervollen Werke der Natur zu erreichen. Ach, gerade so trug sie ihr Haar, so mutig wie auf jenem Gemälde hatte sie das Hütchen mit den wallenden Federn aufgesetzt,[116] und wenn sie ihr dunkles Auge unter den langen Wimpern aufschlug, so war es, als ob die Pforten des Himmels sich öffneten und ein leuchtender Engel freundlich herabgrüßte.

Meine Liebe, Sennor, war eine freudige; ich konnte ja täglich um sie sein; jene Schranken, die in meinem Vaterlande gewöhnlich die Liebenden trennen und die Liebe schmerzlich, ängstlich, gramvoll und verschlagen machen, jene Schranken trennten uns nicht. Und wenn ich in die Zukunft sah, wie lachend erschien sie mir! Mein Oheim liebte mich wie seinen Sohn; verstand ich seine Winke recht, so schien es ihm nicht unangenehm, wenn ich mich um seine Tochter bewerbe; und von meinem Vater konnte ich kein Hindernis erwarten, denn Laura stammte aus edlem Blute und der Reichtum ihrer Mutter war bekannt. Wie mächtig meine Liebe war, könnt Ihr schon daraus ersehen, daß ich da liebte, wo es so gänzlich ohne Not und Jammer abging. Denn gewöhnlich entsteht die Liebe aus der angenehmen Bemerkung, daß man der Geliebten vielleicht nicht mißfallen habe; wie Feuer unter den Dächern fortschleicht und durch eine Mauer aufgehalten plötzlich verzehrend nieder in das Haus und prasselnd auf zum Himmel schlägt, so die Liebe. Die kleine Neigung wächst. Die unüberwindlich scheinenden Hindernisse spornen an; man glaubt, eine Glut zu fühlen, die nur im Arme der Geliebten sich abkühlen kann. Man spricht die Dame am Gitter, man schickt ihr Briefe durch die Zofe, man malt im Traume und Wachen ihr Bild, ihre Gestalt so reizend sich vor, denn bisher sah man sie nicht anders als im Schleier und der verhüllenden Mantilla. Endlich, sei es durch List oder Gewalt, fallen die Schranken. Man fliegt herbei, führt die Errungene zur Kirche und – besiehet sich nachher den Schatz etwas genauer. Wie auf dem schönen Wiesengrund, der nur ein Teppich ist, über ein sumpfig Moorland gedeckt, wenn du wie auf fester Erde ausschreitest, deine Füße einsinken und Quellen aus der Tiefe rieseln, so hier. Alle Augenblicke zeigt sich eine neue Laune bei der Dame, alle Tage lüftet sie Schleier und Mantilla ihres Herzens freier, und am Ende stündest du lieber wieder an dem Gitter, Liebesklagen zu singen, um – nie wiederzukehren.«

[117]


7.

»Bei Gott, Ihr seid ein scharfer Kritiker,« erwiderte Fröben errötend; »es liegt in dem, was Ihr saget, etwas Wahres, aber ganz so? Nein, da müßte ja jener Götterfunke, der zündend ins Herz schlägt, jener selige Augenblick, wo die Hälfte einer Minute zum Verständnis hinreicht, müßte lügen, und doch glaube ich an seine himmlische Abkunft. O, ist es mir denn besser ergangen?«

»Ich verstehe, was Ihr sagen wollt,« sprach Don Pedro; »jener Moment ist himmlisch schön, aber er beruht gar oft auf bitterer Täuschung. Höret weiter. Mich reizten, mich hinderten keine Schranken, und dennoch liebte ich so warm als irgend ein junger Kavalier in Spanien. Das einzige Hindernis konnte Lauras Herz sein, und – ihr Auge hatte mir ja schon oft gestanden, daß es dem meinigen gerne begegne. Alle jene kleinen Beweise meiner Zärtlichkeit, wie man sie in diesem Zustand gibt, nahm Donna Laura gütig auf, und nach einem Vierteljahre erlaubte sie mir, ihr meine Liebe zu gestehen. Die Eltern hatten die Sache längst bemerkt; mein Oheim gab mir seine Einwilligung und sagte, er habe für mich wegen guter Dienste, die ich geleistet, beim König um ein Majorspatent nachgesucht. Mit der Nachricht meines Steigens soll ich dem Vater meine Liebe gestehen und ihn um Einwilligung bitten. Ich gelobte es; ach, warum habe ich's getan! Sollte man nicht immer einen Dämon hinter sich glauben, der uns das Glück wie ein schönes Spielzeug gibt, nur um es plötzlich zu zerschlagen?

Ich hatte bald nach der Gewißheit meines Glückes mit einem Hauptmann aus einem Schweizerregiment Bekanntschaft gemacht, den ich lieb gewann und täglich in mein Haus führte. Es war ein schöner, blonder Jüngling, mit klaren blauen Augen, von weißer Haut und roten Wangen. Er hätte zu weich für einen Soldaten ausgesehen, wenn nicht berühmte Waffentaten, die er ausgeführt, in aller Munde lebten. Um so gefährlicher war er für Frauen. Seine ganze Erscheinung war so neu in diesem Lande, wo die Sonne die Gesichter dunkel färbt, wo unter schwarzem Haar schwarze Augen blitzten; und wenn er von den Eisbergen, von dem ewigen Schnee seiner Heimat erzählte, so lauschte man gerne auf seine Rede, und manche Dame mochte schon den Versuch gemacht haben, das Eis seines Herzens zu schmelzen.

[118]

Eines Morgens kam ein Freund zu mir, der um meine Liebe zu Laura wußte, und gab mir in allerlei geheimnisvollen Reden zu verstehen, ich möchte entweder auf der Hut sein oder ohne das Majorspatent meine Base heiraten, indem sonst noch manches sich ereignen könnte, was mir nicht angenehm wäre. Ich war betreten, forschte näher und erfuhr, daß Donna Laura bei einer verheirateten Freundin hie und da mit einem Mann zusammenkomme, der in einen Mantel verhüllt ins Haus schleiche. Ich entließ den Freund und dankte ihm. Ich glaubte nichts davon, aber ein Stachel von Eifersucht und Mißtrauen war in mir zurückgeblieben. Ich dachte nach über Lauras Betragen gegen mich, ich fand es unverändert; sie war hold, gütig gegen mich wie zuvor, ließ sich die Hand, wohl auch den schönen Mund küssen – aber dabei blieb es auch; denn jetzt erst fiel mir auf, wie kalt sie immer bei meiner Umarmung war, sie drückte mir die Hand nicht wieder, wenn ich sie drückte, sie gab mir keinen Kuß zurück.

Zweifel quälten mich; der Freund kam wieder, schürte durch bestimmtere Nachrichten das Feuer mächtiger an und ich beschloß bei mir, die Schritte meiner Dame aufmerksamer zu bewachen. Wir speisten gewöhnlich zusammen, der Oheim, die Tante, meine schöne Base und ich. Am Abend des Tages, als mein Freund zum zweitenmal mich gewarnt, fragte die Tante bei Tische ihre Tochter, ob sie ihr Gesellschaft leisten werde auf dem Balkon?

Sie antwortete, sie habe ihrer Freundin einen Besuch zugesagt. Unwillkürlich mochte ich sie dabei schärfer angesehen haben, denn sie schlug die Augen nieder und errötete. Sie ging eine Stunde, ehe die Nacht einbrach, zu jener Dame. Als es dunkel wurde, schlich ich mich an jenes Haus und hielt Wache; rasende Eifersucht kam über mich, als ich die Straße herauf, nahe an die Häuser gedrückt, eine verhüllte Gestalt schleichen sah. Ich stellte mich vor die Haustüre, die Gestalt kam näher und wollte mich sanft auf die Seite schieben; aber ich faßte sie am Gewand und sprach: ›Sennor, wer Ihr auch seid, in diesem Augenblick glaube ich einen Mann von Ehre vor mir zu haben, und bei Eurer Ehre fordere ich Euch auf, steht mir Rede!‹

Bei dem ersten Ton meiner Stimme sah ich ihn zusammenschrecken; er besann sich eine kleine Weile und entgegnete dann: ›Was soll es?‹

›Schwört mir bei Eurer Ehre,‹ fuhr ich fort, ›daß Ihr nicht wegen Donna Laura di Tortosi in dieses Haus geht.[119]

›Wer erkühnt sich, mir über meine Schritte Rechenschaft abzufordern?‹ rief er mit dumpfer verstellter Stimme. An seiner Aussprache merkte ich, daß er ein Fremder sein müsse; eine düstere Ahnung ging in meiner Seele auf. ›Der Kapitän di San Montanjo wagt es,‹ antwortete ich und riß ihm, ehe er sich dessen versah, den Mantel vom Gesicht – es war mein Freund Tannensee, der Schweizer.

Er stand da wie ein Verbrecher, keines Wortes mächtig. Aber ich hatte meinen Degen blank gezogen, und sprachlos vor Wut deutete ich ihm an, dasselbe zu tun. ›Ich habe keine Waffen bei mir, als einen Dolch,‹ erwiderte er. Schon war ich willens, ihm ohne Zögern den Degen in den Leib zu rennen; aber als er so regungslos auf alles gefaßt vor mir stand, konnte ich das Schreckliche nicht vollbringen. Ich behielt noch so viel Fassung, daß ich ihn bestimmte, am andern Morgen vor dem Tor der Stadt mir Rechenschaft zu geben. Die Türe hielt ich besetzt; er sagte zu und ging.

Noch lange hielt ich Wache, bis endlich die Sänfte für Laura gebracht wurde, bis ich sie einsteigen sah; dann folgte ich ihr langsam nach Hause. Die Qualen der Eifersucht ließen mich keinen Schlaf auf meinem Lager finden, und so hörte ich, wie sich um Mitternacht Schritte meiner Türe näherten. Man pochte an; verwundert warf ich meinen Mantel um und schloß auf; es war die alte Dienerin Lauras, die mir einen Brief übergab und eilends wieder davonging.

Sennor! Gott möge Euch vor einem ähnlichen Brief in Gnaden bewahren! Sie gestand mir, daß sie den Schweizer längst geliebt habe, als sie mich noch gar nicht kannte; daß sie aus Furcht vor dem Zorn ihrer Mutter, die alle Fremden hasse, ihn immer zurückgehalten, um sie zu werben; daß sie, von den Drohungen meiner Tante genötigt, meine Anträge sich habe gefallen lassen. Sie nahm alle Schuld auf sich, sie schwur mit den heiligsten Eiden, daß Tannensee mir oft habe alles gestehen wollen und nur durch ihr Flehen, durch ihre Furcht, nachher strenger verwahrt zu werden, sich habe zurückhalten lassen. Sie deutete mir ein schreckliches Geheimnis an, das die Ehre der Familie beflecken werde, wenn ich ihr und dem Hauptmann nicht zur Flucht verhelfe. Sie beschwor mich, von meinem Streit abzustehen, denn wenn er falle, so bleibe ihr, seiner Gattin, nichts übrig, als sich das Leben zu nehmen. Sie schloß damit, meine Großmut anzurufen, sie werde mich ewig achten, aber niemals lieben.

[120]

Ihr werdet gestehen, daß ein solcher Brief gleich kaltem Wasser alle Flammen der Liebe löschen kann; er löschte sogar zum Teil meinen Zorn. Aber vergeben konnte ich es meiner Ehre nicht, daß ich betrogen war, darum stellte ich mich zur bestimmten Stunde auf dem Kampfplatz ein. Der Kapitän mochte tief fühlen, wie sehr er mich beleidigt; obgleich er ein besserer Fechter war als ich, verteidigte er sich nur, und nicht seine Schuld ist es, daß ich meine Hand hier zwischen Daumen und Zeigefinger in seinen Degen rannte, so daß ich außer stande war, weiter zu fechten. Ich gab ihm, während ich verbunden wurde, Lauras Brief. Er las, er bat mich flehend, ihm zu vergeben, ich tat es mit schwerem Herzen.

Die Geschichte meiner Liebe ist zu Ende, Don Fröbenio, denn fünf Tage darauf war Donna Laura mit dem Schweizer verschwunden.«

»Und mit Ihrer Hilfe?« fragte Fröben.

»Ich half, so gut es ging. Freilich war der Schmerz meiner Tante groß; aber in diesen Umständen war es besser, sie sah ihre Tochter nie wieder, als daß Unehre über das Haus kam.«

»Edler Mann! Wie unendlich viel muß Sie dies gekostet haben! Wahrhaftig, es war eine harte Prüfung.«

»Das war es,« antwortete der Alte mit düsterem Lächeln. »Anfangs glaubte ich, diese Wunde werde nie vernarben; die Zeit tut viel, mein Freund! Ich habe sie nie wieder gesehen, nie von ihnen gehört, nur einmal nannten die Zeitungen den Oberst Tannensee als einen tapfern Mann, der unter den Truppen Napoleons in der Schlacht von Brienne dem Feinde langen Widerstand getan habe. Ob es derselbe ist, ob Laura noch lebt, weiß ich nicht zu sagen.

Als ich aber in diese Stadt kam, jene Galerie besuchte, und nach zwanzig langen Jahren meine Laura wieder erblickte, ganz so, wie sie war in den Tagen ihrer Jugend, da brachen die alten Wunden wieder auf, und – nun Ihr wisset, daß ich sie täglich besuche.«


8.

Mit umständlicher Gravität, wie es dem Haushofmeister eines p…schen Prinzen, einem Mann aus altkastilischem Geschlechte geziemte, hatte Don Pedro di San Montanjo Ligez seine Geschichte vorgetragen. Als er geendet, trank er einigen Xeres, lüftete den Hut, strich sich über die Stirne und Kinn und sagte zu dem jungen Mann an seiner Seite: »Was ich wenigen[121] Menschen vertraut, habe ich Euch umständlich erzählt, Don Fröbenio, nicht um Euch zu locken, mir mit gleichem Vertrauen zu erwidern, obgleich Euer Geheimnis so sicher in meiner Brust ruhte als der Staub der Könige von Spanien im Eskorial! – Obgleich ich gespannt bin, zu wissen, inwiefern Euch jene Dame interessiert; – aber Neugier ziemt dem Alter nicht, und damit gut.«

Fröben dankte dem Alten für seine Mitteilung. »Mit Vergnügen werde ich Ihnen meinen kleinen Roman zum besten geben,« sagte er lächelnd, »er betrifft keiner Dame Geheimnisse und endet schon da, wo andere anfangen. Aber wenn Sie erlauben, werde ich morgen erzählen, denn für heute möchte es wohl zu spät sein.«

»Ganz nach Eurer Bequemlichkeit,« erwiderte der Don, seine Hand drückend. »Euer Vertrauen werde ich zu ehren wissen.« So schieden sie; der Spanier begleitete den jungen Mann höflich bis an die Schwelle seines Vorsaals, und Diego leuchtete ihm bis auf die Straße.

Nach seiner Gewohnheit ging Fröben den Tag nachher in die Galerie; er stand lange vor dem Bilde, und wirklich dachte er an diesem Tage mehr an den Alten denn an die gemalte Dame; aber er wartete über eine Stunde – der Alte kam nicht. Er ging mit dem Schlag zwei Uhr in die Anlagen, ging langsamen Schrittes um den See, zog oft sein Fernglas und schaute die lange Promenade hinab, aber die ehrwürdige Gestalt seines alten Freundes wollte sich nicht zeigen; umsonst schaute er nach den dünnen, schwarzen Beinen, nach dem spitzen Hut, umsonst nach Diego und den bunten Kleidern, mit Sonnenschirm und Regenmantel, er war nicht zu sehen. »Sollte er krank geworden sein?« fragte er sich, und unwillkürlich ging er nach dem Schloßplatz hin und nach dem Gasthof zum König von England, um Don Pedro zu besuchen. »Fort ist die ganze Wirtschaft, auf und davon;« antwortete auf seine Frage der Oberkellner, »gestern abend noch bekam der Prinz Depeschen, und heute vormittag sind Seine Hoheit nebst Gefolge in sechs Wagen nach W. abgereist; der Haushofmeister, er fuhr im zweiten, hat für Sie eine Karte hier gelassen.«

Begierig griff Fröben nach diesem letzten Freundeszeichen. Es war nur Don Pedro di San Montanjo Ligez, Major Rio di S. A. etc. darauf zu lesen. Verdrießlich wollte Fröben diesen kalten Abschied einstecken, da gewahrte er auf der Rückseite noch einige Worte mit der Bleifeder geschrieben, er las:[122] »Lebt wohl, teurer Don Fröbenio; Eure Geschichte müßt Ihr mir schuldig bleiben; grüßet und küsset Donna Laura.«

Er lächelte über den Auftrag des alten Herrn, und doch als er in den nächsten Tagen wieder vor dem Bilde stand, war er wehmütiger als je, denn es war in seinem Leben eine Lücke entstanden durch Don Pedros Abreise. Er hatte sich so gerne mit dem guten Alten unterhalten, er hatte seit langer Zeit zum erstenmal wieder in einem genaueren Verhältnis mit Menschen gelebt, und deutlicher als je fühlte er jetzt, daß nur der Einsame, der Hoffnungslose ganz unglücklich ist. Wäre das Bild nicht gewesen, das ihn mit seinem eigentümlichen Zauber zurückhielt, schon längst hätte er Stuttgart verlassen, das sonst keine Reize für ihn hatte. Als ihm daher eines Tages die Herren Boisserée die treue Kopie jenes lieben Bildes, ein lithographiertes Blatt, zeigten und ihn damit beschenkten, nahm er es als einen Wink des Schicksals auf, verabschiedete sich von dem Urbild, packte die Kopie sorgfältig ein und verließ diese Stadt so stille, als er sie betreten hatte.


9.

Sein Aufenthalt in Stuttgart hatte nur dem Bilde gegolten, das er in jener Galerie gefunden. Er war, als er die Hauptstadt Württembergs berührte, auf einer Reise nach dem Rhein begriffen, und dahin zog er nun weiter. Er gestand sich selbst, daß ihn die letzten Monate beinahe allzuweich gemacht hatten. Er fühlte nicht ohne Beschämung und leises Schaudern, daß sein Trübsinn, sein ganzes Dichten und Trachten schon nahe an Narrheit gestreift hatten. Er war zwar unabhängig, hatte dieses Jahr noch zu Reisen bestimmt, ohne sich irgend einen festen Plan, ein Ziel zu setzen und wollte diese lange Unterbrechung seiner Reise auf die angenehme Lage der Stadt, auf die herrlichen Umgebungen schieben. Aber hatte er denn wirklich jene Stadt so angenehm gefunden? Hatte er Menschen aufgesucht, kennen gelernt? Hatte er sie nicht vielmehr gemieden, weil sie seine Einsamkeit, die ihm so lieb geworden, störten? Hatte er die herrlichen Umgebungen genossen? »Nein,« sagte er lächelnd zu sich, »man wäre versucht, an Zauberei zu glauben! Ich habe mich betragen wie ein Tor! Habe mich eingeschlossen in mein Zimmer, um zu lesen. Und habe ich denn wirklich gelesen? Stand nicht ihr Bild auf jeder Seite? Gingen meine Schritte weiter als zu ihr oder um einmal unter dem Gewühl der[123] Menge auf und ab zu gehen? Ist es nicht schon Raserei, auf so langen Wegen einem Schatten nachzujagen, jedes Mädchengesicht aufmerksam zu betrachten, ob ich nicht den holden Mund der unbekannten Geliebten wiedererkenne?«

So schalt sich der junge Mann, glaubte recht feste Vorsätze zu fassen, und wie oft, wenn sein Pferd langsamer bergan geschritten war, vergaß er oben es anzutreiben, weil seine Seele auf andern Wegen schweifte; wie oft, wenn er abends sein Gepäck öffnete und ihm die Rolle in die Hände fiel, entfaltete er unwillkürlich das Bild der Geliebten und vergaß, sich zur Ruhe zu legen.

Aber die reizenden Gebirgsgegenden am Neckar, die herrlichen Fluren von Mannheim, Worms, Mainz verfehlten auch auf ihn den eigentümlichen Eindruck nicht. Sie zerstreuten ihn, sie füllten seine Seele mit neuen, freundlichen Bildern. Und als er eines Morgens von Bingen aufbrach, stand nur ein Bild vor seinem Auge, ein Bild, das er noch heute erblicken sollte. Fröben hatte mit einem Landsmann Frankreich und England bereist, und aus dem Gesellschafter war ihm nach und nach ein Freund erwachsen. Zwar mußte er, wenn er über ihre Freundschaft nachdachte, sich selbst gestehen, daß Uebereinstimmung der Charaktere sie nicht zusammenführte; doch oft pflegt es ja zu geschehen, daß gerade das Ungleiche sich heißer liebt als das Aehnliche. Der Baron von Faldner war etwas roh, ungebildet, selbst jene Reise, das bewegte Leben zweier Hauptstädte, wie Paris und London, hatte nur seine Außenseite etwas abschleifen und mildern können. Er war einer jener Menschen, die, weil sie durch fremde oder eigene Schuld, gewählte Lektüre, feinere tiefere Kenntnisse und die bildende Hand der Wissenschaften verschmähten, zur Ueberzeugung kamen, sie seien praktische Menschen, d. h. Leute, die in sich selbst alles tragen, um was sich andere, es zu erlernen, abmühen, die einen natürlichen Begriff von Ackerbau, Viehzucht, Wirtschaft und dergleichen haben, und sich nun für geborene Landwirte, für praktische Haushälter ansehen, die auf dem natürlichsten Wege das zu erreichen glauben, was die Masse in Büchern sucht. Dieser Egoismus machte ihn glücklich, denn er sah nicht, auf welchen schwachen Stützen sein Wissen beruhte; noch glücklicher wäre er wohl gewesen, wenn diese Eigenliebe bei den Geschäften stehen geblieben wäre, aber er trug sie mit sich, wohin er ging, erteilte Rat, ohne welchen anzunehmen, hielt sich, was man ihm nicht gerade nachsagte, für einen klugen Kopf, und ward[124] durch dieses alles ein unangenehmer Gesellschafter und zu Hause vielleicht ein kleiner Tyrann, aus dem einfachen Grunde, weil er klug war und immer recht hatte.

»Ob er wohl sein Sprichwort noch an sich hat,« fragte sich Fröben lächelnd, »das unabwendbare: ›Das habe ich ja gleich gesagt!‹ Wie oft, wenn er am wenigsten daran gedacht hatte, daß etwas gerade so geschehen werde, wie oft faßte er mich da bei der Hand und rief: ›Freund Fröben, sag' an, hab' ich es nicht schon vor vier Wochen gesagt, daß es so kommen würde? Warum habt Ihr mir nicht gefolgt?‹ Und wenn ich ihm so sonnenklar bewies, daß er zufällig gerade das Gegenteil behauptet habe, so ließ er sich unter keiner Bedingung davon abbringen und grollte drei, vier Tage lang.«

Fröben hoffte, Erfahrung und die schöne Natur um ihn her werden seinen Freund weiser gemacht haben. An einer der reizendsten Stellen des Rheintals, in der Nähe von Caub, lag sein Gut, und je näher der Reisende herabkam, desto freudiger schlug sein Herz über alle diese Herrlichkeit der Berge und des majestätischen Flusses, um so öfter sagte er zu sich: »Nein! er muß sich geändert haben; in diesen Umgebungen kann man nur hingebend, nur freundlich und teilnehmend sein, und im Genuß dieser Aussicht muß man vergessen, wenn man auch wirklich recht hat, was bei ihm leider der seltene Fall ist.«


10.

Gegen Abend langte er auf dem Gute an; er gab sein Pferd vor dem Hause einem Diener, fragte nach seinem Herrn und wurde in den Garten gewiesen. Dort erkannte er schon von weitem Gestalt und Stimme seines Freundes. Er schien in diesem Augenblick mit einem alten Mann, der an einem Baum mit Graben beschäftigt war, heftig zu streiten. »Und wenn Ihr es auch hundert Jahre nach dem alten Schlendrian gemacht habt, statt fünfzig, so muß der Baum doch so herausgenommen werden, wie ich sagte. Nur frisch daran, Alter; es kommt bei allem nur darauf an, daß man klug darüber nachdenkt.« Der Arbeiter setzte seufzend die Mütze auf, betrachtete noch einmal mit wehmütigem Blick den schönen Apfelbaum und stieß dann schnell, wie es schien unmutig, den Spaten in die Erde, um zu graben. Der Baron aber pfiff ein Liedchen, wandte sich um, und vor ihm stand ein Mensch, der ihn freundlich anlächelte und[125] ihm die Hand entgegenstreckte. Er sah ihn verwundert an. »Was steht zu Dienst?« fragte er kurz und schnell.

»Kennst du mich nicht mehr, Faldner?« erwiderte der Fremde. »Solltest du bei deiner Baumschule London und Paris so ganz vergessen haben?«

»Ist's möglich, mein Fröben!« rief jener und eilte, den Freund zu umarmen. »Aber, mein Gott, wie hast du dich verändert, du bist so bleich und mager; das kommt von dem vielen Sitzen und Arbeiten; daß du auch gar keinen Rat befolgst, ich habe dir ja doch immer gesagt, es tauge nicht für dich.«

»Freund!« entgegnete Fröben, den dieser Empfang unwillkürlich an seine Gedanken unterwegs erinnerte: »Freund, denke doch ein wenig nach; hast du mir nicht immer gesagt, ich tauge nicht zum Landwirt, nicht zum Forstmann und dergleichen, und ich müßte eine juridische oder diplomatische Laufbahn einschlagen?«

»Ach, du guter Fröben!« sagte jener zweideutig lächelnd, »so laborierst du noch immer an einem kurzen Gedächtnis? sagte ich nicht schon damals –«

»Bitte, du hast recht, streiten wir nicht!« unterbrach ihn sein Gast, »laß uns lieber Vernünftigeres reden, wie es dir erging, seit wir uns nicht sahen, wie du lebst?«

Der Baron ließ Wein in eine Laube setzen und erzählte von seinem Leben und Treiben. Seine Erzählung bestand beinahe in nichts als in Klagen über schlechte Zeit und die Torheit der Menschen. Er gab nicht undeutlich zu verstehen, daß er es in den wenigen Jahren mit seinem hellen Kopf und den Kenntnissen, die er auf Reisen gesammelt, in der Landwirtschaft weit gebracht habe. Aber bald hatten ihm seine Nachbarn unberufen dies oder jenes abgeraten, bald hatte er unbegreifliche Widerspenstigkeit unter seinen Arbeitern selbst gefunden, die alles besser wissen wollten als er und in ihrer Verblendung sich auf lange Erfahrung stützten. Kurz, er lebte, wie er gestand, ein Leben voll ewiger Sorgen und Mühen, voll Hader und Zorn, und einige Prozesse wegen Grenzstreitigkeiten verbitterten ihm noch die wenigen frohen Stunden, die ihm die Besorgung seines Gutes übrig ließ. »Armer Freund!« dachte Fröben unter dieser Erzählung, »so reitest du noch dasselbe Steckenpferd, und es geht, wie der wildeste Renner, mit dir durch, ohne daß du es zügeln kannst.«

Doch die Reihe zu erzählen kam auch an den Gast, und er konnte seinem Freund in wenigen Worten sagen, daß er an[126] einigen Höfen bei Gesandtschaften eingeteilt gewesen sei, daß er sich überall schlecht unterhalten, einen langen Urlaub genommen habe und jetzt wieder ein wenig in der Welt umherziehe.

»Du Glücklicher!« rief Faldner. »Wie beneide ich dir deine Verhältnisse; heute hier, morgen dort kennst keine Fesseln und kannst reisen, wohin und wie lange du willst. Es ist etwas Schönes um das Reisen! Ich wollte, ich könnte auch noch einmal so frei hinaus in die Welt!«

»Nun, was hindert dich denn?« rief Fröben lachend; »deine große Wirtschaft doch nicht? Die kannst du alle Tage einem Pächter geben, läßt dein Pferd satteln und ziehest mit mir!«

»Ach, das verstehst du nicht, Bester!« erwiderte der Baron verlegen lächelnd. »Einmal, was die Wirtschaft betrifft, da kann ich keinen Tag abwesend sein, ohne daß alles quer geht, denn ich bin doch die Seele des Ganzen. Und dann – ich habe einen dummen Streich gemacht – doch laß das gut sein; es geht einmal nicht mehr mit dem Reisen.«

In diesem Augenblicke kam ein Bedienter in die Laube, berichtete, daß die gnädige Frau zurückgekommen sei und anfragen lasse, wo man den Tee servieren solle?

»Ich denke oben im Zimmer,« sagte er, leicht errötend, und der Diener entfernte sich.

»Wie, du bist verheiratet?« fragte Fröben erstaunt. »Und das erfahre ich jetzt erst! Nun, ich wünsche Glück; aber sage mir doch – ich hätte mir ja eher des Himmels Einfall träumen lassen als diese Neuigkeit; und seit wann?«

»Seit sechs Monaten,« erwiderte der Baron kleinlaut und ohne seinen Gast anzusehen; »doch wie kann dich dies so in Erstaunen setzen; du kannst dir denken, bei meiner großen Wirtschaft, da ich alles selbst besorge, so –«

»Je nun! ich finde es ganz natürlich und angemessen; aber wenn ich zurückdenke, wie du dich früher über das Heiraten äußertest, da dachte ich nie daran, daß dir je ein Mädchen recht sein würde.«

»Nein, verzeihe!« sagte Faldner, »ich sagte ja immer und schon damals –«

»Nun ja, du sagtest ja immer und schon damals,« rief der junge Mann lächelnd, »und schon damals und immer sagte ich, daß du nach deinen Prätensionen keine finden würdest, denn diese gingen auf ein Ideal, das ich nicht haben möchte, und wohl auch nicht zu finden war. Doch noch einmal meinen herzlichen[127] Glückwunsch. Da aber eine Dame im Hause ist, die uns zum Tee ladet, so kann ich doch wahrlich nicht so in Reisekleidern erscheinen; gedulde dich nur ein wenig, ich werde bald wieder bei dir sein. Auf Wiedersehen!«

Er verließ die Laube, und der Baron sah ihm mit trüben Blicken nach. »Er hat nicht unrecht,« flüsterte er.

Doch in demselben Augenblick trat eine hohe weibliche Gestalt in die Laube. »Wer ging soeben von dir?« fragte sie schnell und hastig. »Wer sprach dies auf Wiedersehen

Der Baron stand auf und sah seine Frau verwundert an; er bemerkte, wie die sonst so zarte Farbe ihrer Wangen in ein glühendes Rot übergegangen war. »Nein! das ist nicht auszuhalten,« rief er heftig; »Josephe, wie oft muß ich dir sagen, daß Hufeland Leuten von deiner Konstitution jede allzurasche Bewegung streng untersagt; wie du jetzt glühst! Du bist gewiß wieder eine Strecke zu Fuß gegangen und hast dich erhitzt und gehst jetzt gegen alle Vernunft noch in den Garten hinab, wo es schon kühl ist. Immer und ewig muß ich dir alles wiederholen wie einem Kind; schäme dich!«

»Ach, ich wollte dich ja nur abholen,« sagte Josephe mit zitternder Stimme; »werde nur nicht gleich so böse; ich bin gewiß den ganzen Weg gefahren und bin auch gar nicht erhitzt. Sei doch gut.«

»Deine Wangen widersprechen,« fuhr er mürrisch fort. »Muß ich denn auch dir immer predigen? Und den Schal hast du auch nicht umgelegt, wie ich dir sagte, wenn du abends noch herab in den Garten gehst; wozu werfe ich denn das Geld zum Fenster hinaus für dergleichen Dinge, wenn man sie nicht einmal brauchen mag? O Gott! ich möchte oft rasend werden. Auch nicht das geringste tust du mir zu Gefallen; dein ewiger Eigensinn bringt mich noch um. O ich möchte oft –«

»Bitte, verzeihe mir, Franz!« bat sie wehmütig, indem sie große Tränen im Auge zerdrückte; »ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen und wollte dich hier überraschen; ach, ich dachte ja nicht mehr an das Tuch und an den Abend. Vergib mir, willst du deinem Weib vergeben?«

»Ist ja schon gut, laß mich doch in Ruhe, du weißt, ich liebe solche Szenen nicht; und gar vollends Tränen! Gewöhne dir doch um Gottes willen die fatale Weichlichkeit ab, über jeden Bettel zu weinen. – Wir haben einen Gast, Fröben, von dem ich dir schon erzählte, er reiste mit mir. Führe dich vernünftig auf, Josephe, hörst du? Laß es an nichts fehlen, daß ich nicht[128] auch die Sorgen der Haushaltung auf mir haben muß. Im Salon wird der Tee getrunken.«

Er ging schweigend ihr voran die Allee entlang nach dem Schlosse. Trübe folgte ihm Josephe; eine Frage schwebte auf ihren Lippen, aber so gern sie gesprochen hätte, sie verschloß diese Frage wieder tief in ihre Brust.


11.

Als der Baron spät in der Nacht seinen Gast auf sein Zimmer begleitete, konnte sich dieser nicht enthalten, ihm zu seiner Wahl Glück zu wünschen. »Wahrhaftig, Franz!« sagte er, indem er ihm feurig die Hand drückte, »ein solches Weib hat dir gefehlt. Du warst ein Glückskind von jeher, aber das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß du bei deinen sonderbaren Maximen und Forderungen ein solch liebenswürdiges, herrliches Kind heimführen werdest.«

»Ja, ja, ich bin mit ihr zufrieden,« erwiderte der Baron trocken, indem er seine Kerze heller aufstörte; »man kann ja nicht alles haben. An diesen Gedanken muß man sich freilich gewöhnen auf dieser unvollkommenen Welt.«

»Mensch! ich will nicht hoffen, daß du undankbar gegen so vieles Schöne bist. Ich habe viele Frauen gesehen, aber weiß Gott, keine von solch untadelhafter Schönheit wie dein Weib. Diese Augen! Welch rührender Ausdruck! Glaubt man nicht liebliche Träume auf ihrer schönen Stirne zu lesen? Und diese zarte, schlanke Gestalt! Und ich weiß nicht, ob ich ihren feinen Takt, ihr richtiges Urteil, ihren gebildeten Geist nicht noch mehr bewundern soll.«

»Du bist ja ganz bezaubert,« lächelte Faldner; »doch von jeher hast du zu viel gelesen und weniger aufs Praktische gesehen; ich sagte es ja immer – mit den Weibern ist es ein eigenes Ding,« fuhr er seufzend fort, »glaube mir, in der Wirtschaft ist oft eine, die es versteht und die Sache flink umtreibt, besser als ein sogenannter gebildeter Geist. Gute Nacht; sei froh, daß du noch frei bist und – wähle nicht zu rasch.«

Unmutig sah ihm Fröben nach, als er das Zimmer verlassen hatte. »Ich glaube, der Unmensch ist auch jetzt nicht mit seinem Lose zufrieden; hat einen Engel gewählt und schafft sich durch seine lächerlichen Prätensionen eine Hölle im Haus. Das arme Weib!«

[129]

Es war ihm nicht entgangen, wie ängstlich sie bei allem, was sie tat und sagte, an seinen Blicken hing, wie er ihr oft ein grimmiges Auge zeigte, wenn sie nach seinen Begriffen einen Fehler begangen, wie er ihr oft mit der Hand winkte, die Lippen zusammenbiß und stöhnte, wenn er glaubte, von dem Gast nicht gesehen zu werden. Und mit welcher Engelsgeduld trug sie dies alles! Sie hatte tiefen, wunderbaren Eindruck auf ihn gemacht. Das reiche blonde Haar, das um eine freie Stirn fiel, ließ blaue Augen, rote Wangen, vielleicht auch ein Näschen erwarten, das durch seine zierliche Keckheit Blondinen mehr als Brünetten ziert. Aber von alledem nichts. Unter den blonden Wimpern ruhte wie das Mondlicht hinter dünnen Wolken ein braunes Auge, das nicht durch Glut oder bloße Lebendigkeit, sondern durch ein gewisses Etwas von sinnender Schwermut überraschte, das Fröben bei schönen Frauen, so selten er es fand, so unendlich liebte. Ihre Nase näherte sich dem griechischen Stamm, die Wangen waren gewöhnlich bleich, nur von einem leisen Schatten von Rot unterlaufen, und das einzige, was in ihrem Gesichte blühte, waren statt der Rosen der Wangen die Lippen, bei deren Anblick man sich des Gedankens an zarte, rote Kirschen nicht erwehren konnte.

»Und diese herrliche Gestalt,« fuhr Fröben in seinen Gedanken weiter fort, »so zart, so hoch und, wenn sie über das Zimmer geht, beinahe schwebend! Schwebend? Als ob ich nicht gesehen hätte, daß sie recht schwer zu tragen hat, daß diese Lippen so manches Wort des Grams verschließen, daß diese Augen nur auf die Einsamkeit warten, um über den rohen Gatten zu weinen! Nein, es ist unmöglich,« fuhr er nach einigem Sinnen fort, »sie kann ihn nicht aus Liebe geheiratet haben. Die Welt, die hinter diesem Auge liegt, ist zu groß für Faldners Verstand, das Herz seines Weibes zu zart für den rohen Druck ihres Haustyrannen. Ich bedaure sie!«

Er war während dieser Worte an einen Schrank getreten, worin die Diener sein Reisegeräte niedergelegt hatten. Er schloß ihn auf, sein erster Blick fiel auf die wohlbekannte Rolle, und er errötete. »Bin ich dir nicht ungetreu gewesen diesen Abend?« fragte er. »Hat nicht ein anderes Bild sich in mein Herz geschlichen? Ja, und ertappe ich mich nicht auf Reflexionen über das Weib meines Freundes, die mir nicht ziemen, die ihr auf jeden Fall nichts nützen können?« Er entrollte das Bild der Geliebten und blieb betroffen stehen. Wie ein Gedanke, der bisher in ihm schlummerte und verworren träumte, erwacht[130] es jetzt mit einemmal in ihm, daß Frau von Faldner wunderbare Aehnlichkeit mit diesem Bilde habe. Zwar waren ihre Haare, ihre Augen, ihre Stirn gänzlich verschieden von denen des Bildes, aber überraschende Aehnlichkeit glaubte er in Nase, Mund und Kinn, ja sogar in der Haltung des zierlichen Halses zu finden. »Und diese Stimme!« rief er. »Klang mir diese Stimme nicht gleich anfangs so bekannt? Wie ist mir denn? Wäre es möglich, daß die Gattin meines Freundes jenes Mädchen wäre, die ich nur einmal, nur halb gesehen und ewig liebe und, von jenem Augenblick an, vergebens suche? Die Gestalt – ja auch sie war groß, und als ich ihr den Mantel umschlang, als sie an meinem Herzen ruhte, fühlte ich eine feine schlanke Taille. Und begegnete ich nicht heute abend so oft ihrem Auge, das prüfend auf mir ruhte? Sollte auch sie mich wiedererkennen? Doch – ich Tor! wie könnte Faldner bei seinem Mißtrauen, bei seinen strengen Grundsätzen über Adel und unbescholtenen Ruf eine – unbekannte Bettlerin geheiratet haben?«

Er sah wieder prüfend auf das Bild herab, er glaubte in diesem Augenblick Gewißheit zu haben, im nächsten zweifelte er wieder. Er klagte sein treuloses Gedächtnis an. Hatte nicht dieses Gemälde sich so ganz mit seinen früheren Erinnerungen vermischt, daß er die Unbekannte sich nicht mehr anders dachte als wie dieses Bild? Und nun, da er auf eine neue, auffallende Aehnlichkeit gestoßen, stand er nicht vor einem Labyrinth von Zweifeln? Er warf das Gemälde auf die Seite und verbarg seine heiße Stirn in die Kissen seines Bettes. Er wünschte sich tiefen Schlaf herbei, damit er diesen Zweifeln entgehe, daß ihm das wahre Bild mit siegender Kraft in seinen Träumen aufgehe.


12.

Als Fröben am andern Morgen in den Salon trat, wo er frühstücken sollte, war sein rastloser Freund schon ausgeritten, um eine Dammarbeit an der Grenze seines Gutes zu besichtigen. Der Diener, der ihm diese Nachricht gab, setzte mit wichtiger Miene hinzu, daß sein Herr wohl kaum vor Mittag zurückkommen dürfte, weil er noch seine neue Dampfmühle, einige Schläge im Wald, eine neue Gartenanlage, nebst vielem andern besichtigen müsse. »Und die gnädige Frau?« fragte der Gast.

»War schon vor einer Stunde im Garten, um Bohnen abzubrechen, und wird jetzt bald zum Frühstück hier sein.«

[131]

Fröben ging im Saal umher und musterte in Gedanken den vergangenen Abend. Wie anders erscheinen alle Bilder in der Morgenbeleuchtung, als sie uns im Duft des Abends erschienen! Auch mit den verworrenen Gedanken, die gestern in ihm auf und ab schwebten, ging es ihm so; er lächelte über sich selbst, über die Zweifel, die ihm seine rege Phantasie aufgeweckt hatte. »Der Baron,« sprach er zu sich, »ist am Ende doch ein guter Mensch; freilich viele Eigenheiten, einige Roheit, die aber mehr im Aeußern liegt. Aber wer länger mit ihm umgeht, gewöhnt sich daran, weiß sich darein zu finden. Und Josephe? wie vorschnell man oft urteilt! Wie oft glaubte ich rührenden Kummer, tiefe Seelenleiden, Resignation in den Augen, in den Mienen einer Frau zu lesen, ließ mich vom Teufel blenden, sie recht zart zu trösten und aufrichten zu wollen, und am Ende lag der ganze Zauber in meiner Einbildung: es war dann, näher betrachtet, eine ganz gewöhnliche Frau, die mit den sinnenden Augen, worin ich Wehmut sah, ängstlich die Augen an ihrem Strickstrumpf zählte, oder hinter der von Gram umwölkten Stirne bedachte, was sie auf den Abend kochen lassen wollte.« Er verfolgte diese Gedanken, um sich selbst mit Ironie zu strafen, um die zartere Empfindung, jene Nachklänge von gestern, zu verdrängen, die ihm heute töricht, überspannt erschienen. In diese Gedanken versunken, war er an den Spiegel getreten und hatte die Besuchskarten überlesen, die dort angesteckt waren. Da fiel ihm eine in die Hand, welche Faldners eigene Verlobung ankündigte. Er las die zierlich gestochenen Worte: »Freiherr F. von Faldner mit seiner Braut Josephe von Tannensee.«

»Von Tannensee?« Wie ein Blitz erleuchtete ihm dieser Name jene dunkle Aehnlichkeit, die er zwischen der Gattin seines Freundes und seinem lieben Bilde gefunden. »Wie? Wäre sie vielleicht die Tochter jener Laura, die einst mein guter Don Pedro geliebt? Welche Freude für ihn, wenn es so wäre, wenn ich ihm von der Verlorenen Nachricht geben könnte. Fand er nicht in jenem wunderbaren Bilde die täuschendste Aehnlichkeit mit seiner Cousine? Kann nicht die Tochter der Mutter gleichen?«

Er verbarg die Karte schnell, als er die Türe gehen hörte; er sah sich um und – Josephe schwebte herein. War es das zierliche Morgenkleid, das ihre zarte Gestalt umschloß, war ihr die Beleuchtung des Tages günstiger als das Kerzenlicht? Sie kam ihm in diesem Augenblick noch unendlich reizender vor als gestern. Ihre Locken flatterten noch kunstlos um die Stirne,[132] der frische Morgen hatte ein feines Rot auf ihre Wangen gehaucht, sie lächelte zu ihrem Morgengruß so freundlich, und doch mußte er sich schon in diesem Augenblick einen Toren schelten, denn ihre Augen erschienen ihm trübe und verweint.


13.

Sie lud ihn ein, sich zu ihr zum Frühstück zu setzen. Sie erzählte ihm, daß Faldner schon mit Tagesanbruch weggeritten sei und ihr seine Entschuldigung aufgetragen habe; sie beschrieb die mancherlei Geschäfte, die er heute vornehme und die ihn bis zu Mittag zurückhalten werden. »Er hat ein Leben voll Sorgen und Mühen,« sagte sie, »aber ich glaube, daß diese Geschäftigkeit ihm zum Bedürfnis geworden ist.«

»Und ist dies nur in diesen Tagen so?« fragte Fröben; »ist jetzt gerade besonders viel zu tun auf den Gütern?«

»Das nicht,« erwiderte sie; »es geht alles seinen gewöhnlichen Gang, er ist so, seit ich ihn kenne. Er ist rastlos in seinen Arbeiten. Diesen Frühling und Sommer verging kein Tag, an welchem er nicht auf dem Gute beschäftigt gewesen wäre.«

»Da werden Sie sich doch oft recht einsam fühlen,« sagte der junge Mann, »so ganz allein auf dem Lande und Faldner den ganzen Tag entfernt.«

»Einsam?« erwiderte sie mit zitterndem Ton und beugte sich nach einem Tischchen an der Seite; und Fröben sah im Spiegel, wie ihre Lippen schmerzlich zuckten. »Einsam? Nein! Besucht ja doch die Erinnerung die Einsamen und –« setzte sie hinzu, indem sie zu lächeln suchte: »glauben Sie denn, die Hausfrau habe in einer so großen Wirtschaft nicht auch recht viel zu tun und zu sorgen? Da ist man nicht einsam oder – man darf es nicht sein.«

Man darf es nicht sein? Du Arme! dachte Fröben, verbietet dir dein Herz die Träume der Erinnerung, die dich in der Einsamkeit besuchen, oder verbietet dir der harte Freund, einsam zu sein? Es lag etwas im Ton, womit sie jene Worte sagte, das ihrem Lächeln zu widersprechen schien.

»Und doch,« fuhr er fort, um seinen Empfindungen und ihren Worten eine andere Richtung zu geben, »und doch scheinen gerade die Frauen von der Natur ausdrücklich zur Stille und Einsamkeit bestimmt zu sein; wenigstens war bei jenen Völkern, die im allgemeinen die herrlichsten Männer aufzuweisen hatten,[133] die Frau am meisten auf ihr Frauengemach beschränkt, so bei Römern und Griechen, so selbst in unserem Mittelalter.«

»Daß Sie diese Beispiele anführen könnten, hätte ich nicht gedacht;« entgegnete Josephe, indem ihr Auge wie prüfend auf seinen Zügen verweilte. »Glauben Sie mir, Fröben, jede Frau, auch die geringste, merkt dem Mann, ehe sie noch über seine Verhältnisse unterrichtet ist, recht bald an, ob er viel im Kreise der Frauen lebte oder nicht. Und unbestreitbar liegt in solchen Kreisen etwas, das jenen feinen Takt, jenes zarte Gefühl verleiht, immer im Gespräch auszuwählen, was gerade für Frauen taugt, was uns am meisten anspricht; ein Grad der Bildung, der eigentlich keinem Manne fehlen sollte. Sie werden mir dies um so weniger bestreiten,« setzte sie hinzu, »als Sie offenbar einen Teil Ihrer Bildung meinem Geschlecht verdanken.«

»Es liegt etwas Wahres darin,« bemerkte der junge Mann, »und namentlich das letztere will ich zugeben, daß Frauen weniger auf meine Denkungsart, als auf die Art, das Gedachte auszudrücken, Einfluß hatten. Meine Verhältnisse nötigten mich in der letzten Zeit viel in der großen Welt, namentlich in Damenzirkeln zu leben. Aber eben in diesen Zirkeln wird mir erst recht klar, wie wenig eigentlich die Frauen, oder um mich anders auszudrücken, wie wenige Frauen in dieses großartige Leben und Treiben passen.«

»Und warum?«

»Ich will es sagen, auch auf die Gefahr hin, daß Sie mir böse werden. Es ist ein schöner Zug der neueren Zeit, daß man in den größeren Zirkeln eingesehen hat, daß das Spiel eigentlich nur eine Schulkrankheit oder ein modischer Deckmantel für Geistesarmut sei. Man hat daher Whist, Boston, Pharo und dergleichen den älteren Herren und einigen Damen überlassen, die nun einmal die Konversation nicht machen können. In Frankreich freilich spielen in Gesellschaft Herren von zwanzig bis dreißig Jahren; es sind aber nur die armseligen Wichte, die sich nach einem englischen Dandy gebildet haben oder die selbst fühlen, daß ihnen der Witz abgeht, den sie im Gespräch notwendig haben müßten. Seitdem man nun, seien die Zirkel groß oder klein, die sogenannte Konversation macht, das heißt, sich um den Kamin oder in Deutschland um das Sofa pflanzt, Tee dazu trinkt und ungemein geistreiche Gespräche führt, sind die Frauen offenbar aus ihrem rechten Gleise gekommen.«

»Bitte, Sie sind doch gar zu strenge, wie sollten denn –«

[134]

»Lassen Sie mich ausreden,« fuhr Fröben eifrig fort; »eine Dame der sogenannten guten Gesellschaft empfängt jede Woche Abendbesuche bei sich; sechsmal in der Woche gibt sie solche heim. In solchen Gesellschaften tanzt höchstens das junge Volk einigemal, außer es wäre auf großen Bällen, die schon seltener vorkommen. Der übrige Kreis, Herren und Damen, unterhält sich. Es gibt nun ungemein gebildete, wirklich geistreiche Männer, die im Männerkreise stumm und langweilig, vor Damen ungemein witzig und sprachselig sind, und einen Reichtum sozialer Bildung, allgemeiner Kenntnisse entfalten, die jeden staunen machen. Es ist nicht Eitelkeit, was diese Männer glänzend oder beredt macht, es ist das Gefühl, daß das Interessantere ihres Wissens sich mehr für Frauen als für Männer eignet, die mehr systematisch sind, die ihre Forderungen höher spannen.«

»Gut, ich kann mir solche Männer denken, aber weiter.«

»Durch solche Männer bekommt das Gespräch Gestaltung, Hintergrund, Leben; Frauen, besonders geistreiche Frauen, werden sich unter sich bei weitem nicht so lebendig unterhalten, als dies geschieht, wenn auch nur ein Mann gleichsam als Zeuge und Schiedsrichter dabei sitzt. Indem nun durch solche Männer allerlei Witziges, Interessantes auf die Bahn gebracht wird, werden die Frauen unnatürlich gesteigert. Um doch ein Wort mitzusprechen, um als geistreich, gebildet zu erscheinen, müssen sie alles aufbieten, gleichsam alle Hahnen ihres Geistes aufdrehen, um ihren reichlichen Anteil zu der allgemeinen Gesprächsflut zu geben, in welcher sich die Gesellschaft badet. Doch, verzeihen Sie, dieser Fond ist gewöhnlich bald erschöpft; denken Sie sich, einen ganzen Winter alle Abende geistreich sein zu müssen, welche Qual!«

»Aber nein, Sie machen es auch zu arg, Sie übertreiben –«

»Gewiß nicht; ich sage nur, was ich gesehen, selbst erlebt habe. Seit in neuerer Zeit solche Konversation zur Mode geworden ist, werden die Mädchen ganz anders erzogen als früher; die armen Geschöpfe! Was müssen sie jetzt nicht alles lernen vom zehnten bis zum fünfzehnten Jahr. Geschichte, Geographie, Botanik, Physik, ja sogenannte höhere Zeichenkunst und Malerei, Aesthetik, Literaturgeschichte, von Gesang, Musik und Tanzen gar nicht zu erwähnen. Diese Fächer lernt der Mann gewöhnlich erst nach seinem achtzehnten, zwanzigsten Jahre recht verstehen; er lernt sie nach und nach, also gründlicher; er lernt[135] manches durch sich selbst, weiß es also auch besser anzuwenden, und tritt er im dreiundzwanzigsten oder später noch in diese Kreise, so trägt er, wenn er nur halbwegs einige Lebensklugheit und Gewandtheit hat, eine große Sicherheit in sich selbst. Aber das Mädchen? Ich bitte Sie! Wenn ein solches Unglückskind im fünfzehnten Jahre, vollgepfropft mit den verschiedenartigsten Kenntnissen und Kunststücken in die große Welt tritt, wie wunderlich muß ihm da alles zuerst erscheinen! Sie wird, obgleich ihr oft ihr einsames Zimmer lieber wäre, ohne Gnade in alle Zirkel mitgeschleppt, muß glänzen, muß plaudern, muß die Kenntnisse auskramen, und – wie bald wird sie damit zu Ende sein! Sie lächeln? Hören Sie weiter. Sie hat jetzt keine Zeit mehr, ihre Schulkenntnisse zu erweitern; es werden bald noch höhere Ansprüche an sie gemacht. Sie muß so gut wie die Aelteren über Kunstgegenstände, über Literatur mitsprechen können. Sie sammelt also den Tag über alle möglichen Kunstausdrücke, liest Journale, um ein Urteil über das neueste Buch zu bekommen, und jeder Abend ist eigentlich ein Examen, eine Schulprüfung für sie, wo sie das auf geschickte Art anbringen muß, was sie gelernt hat. Daß einem Mann von wahrer Bildung, von wahren Kenntnissen vor solchem Geplauder, vor solcher Halbbildung graut, können Sie sich denken; er wird diese Unsitte zuerst lächerlich, nachher gefährlich finden; er wird diese Ueberbildung verfluchen, welche die Frauen aus ihrem stillen Kreise herausreißt und sie zu Halbmännern macht, während die Männer Halbweiber werden, indem sie sich gewöhnen, alles nach Frauenart zu besprechen und zu beklatschen; er wird für edlere Frauen jene häusliche Stille zurückwünschen, jene Einsamkeit, wo sie zu Hause sind und auf jeden Fall herrlicher brillieren als in einem jener geistreichen Zirkel!«

»Es liegt etwas Wahres in dem, was Sie hier sagten,« erwiderte Frau von Faldner; »ganz kann ich nicht darüber urteilen, weil ich nie das Glück oder das Unglück hatte, in jenen Zirkeln zu leben. Aber mir scheint auch dort, wie überall, das minder Gute nur aus der Uebertreibung hervorzugehen. Es ist wahr, was Sie sagen, daß uns Frauen ein engerer Kreis angewiesen ist, jene Häuslichkeit, die einmal unser Beruf ist. Wir werden ohne wahren Halt sein, wir werden uns in ein unsicheres Feld begeben, wenn wir diesen Kreis gänzlich verlassen. Aber wollen Sie uns die Freude einer geistreichen Unterhaltung mit Männern gänzlich rauben? Es ist wahr, sieben solche Abende in der Woche müssen zum Unnatürlichen, zur Ueberbildung[136] oder zur Erschöpfung führen; aber ließe sich denn hier nicht ein Mittelweg denken?«

»Ich habe mich vielleicht zu stark ausgedrückt, ich wollte –«

»Lassen Sie auch mich ausreden,« sagte sie, ihn sanft zurückdrängend: »Sie sagten selbst, daß Frauen unter sich seltener ein sogenanntes geistreiches Gespräch lange fortführen. Ich weiß nur allzuwohl, wie peinlich in einer Frauengesellschaft eine sogenannte geistreiche Dame ist, welcher alles frivol erscheint, was nicht allgemein, nicht interessant ist. Wir fühlen uns beengt und wollen am Ende mit unserem bißchen Wissen lieber vor einem Mann erröten als vor einer Frau. Gewöhnlich wird, wenn nur Frauen zusammen sind oder Mädchen, die Wirtschaft, das Hauswesen, die Nachbarschaft, vielleicht auch Neuigkeiten oder gar Moden abgehandelt; aber sollen wir denn ganz auf diesen Kreis beschränkt sein? Soll denn, was allgemein interessant und bildend ist, uns ganz fremd bleiben?«

»Gott! Sie verkennen mich, wollte ich denn dies sagen?«

»Es ist wahr,« fuhr sie eifriger fort, »es ist wahr, die Männer besitzen jene tiefe, geregeltere Bildung, jene geordnete Klarheit, die jede Halbbildung oder gar den Schein von Wissen ausschließt oder gering achtet. Aber wie gerne lauschen wir Frauen auf ein Gespräch der Männer, das an Gegenstände grenzt, die uns nicht so ganz ferne liegen, zum Beispiel über ein interessantes Buch, das wir gelesen, über Bilder, die wir gesehen; wir lernen gewiß recht viel, wenn wir dabei zuhören oder gar mitsprechen dürfen; unser Urteil, das wir im stillen machten, bildet sich aus und wird richtiger, und jeder gebildeten Frau muß eine solche Unterhaltung angenehm sein. Auch glaube ich kaum, daß die Männer uns dies verargen werden, wenn wir nur,« setzte sie lächelnd hinzu, »nicht selbst glänzen, den bescheidenen Kreis nicht verlassen wollen, der uns einmal angewiesen ist.«


14.

Wie schön war sie in diesem Augenblick; das Gespräch hatte ihre Wangen mit höherem Rot übergossen, ihre Augen leuchteten, und das Lächeln, womit sie schloß, hatte etwas so Zauberisches, Gewinnendes an sich, daß Fröben nicht wußte, ob er mehr die Schönheit dieser Frau oder ihren Geist und die einfache schöne Weise, sich auszudrücken, bewundern sollte.

»Gewiß,« sagte er, in ihren Anblick verloren, »gewiß, wir müßten sehr ungerecht sein, wenn wir solche zarte und gerechte[137] Ansprüche nicht achten wollten; denn die Frau müßte ich für recht unglücklich halten, die bei einem gebildeten Geist, bei einer Freude an Lektüre und gebildeter Unterhaltung keine solche Anklänge in ihrer Umgebung fände; wahrlich, so ganz auf sich beschränkt, müßte sie sich für sehr unglücklich halten.«

Josephe errötete, und eine düstere Wolke zog über ihre schöne Stirne; sie seufzte unwillkürlich, und mit Schrecken nahm Fröben wahr, daß ja eine solche Frau, wie er sie eben beschrieben, an seiner Seite sitze. Ja, ohne es zu wollen, hatte sie ihren eigenen Gram verraten. Denn konnte ihr roher Gatte jenen zarten Forderungen entsprechen? Er, der in seiner Frau nur seine erste Schaffnerin sah, der jedes Geistige, was dem Menschen interessant oder wünschenswert dünkt, als unpraktisch geringschätzte, konnte er diese Ansprüche auf den Genuß einer gebildeten Unterhaltung befriedigen? War nicht zu befürchten, daß er ihr solche sogar geflissentlich entzog?

Noch ehe Fröben so viel Fassung gewonnen hatte, seinem Satz eine allgemeinere Wendung zu geben und das ganze Gespräch von diesem Gegenstand abzuleiten, sagte Josephe, ohne ihn seinen Verstoß fühlen zu lassen: »Wir Frauen auf dem Lande genießen diese Freude freilich seltener; übrigens sind wir dennoch nicht so allein, als es dem Fremden vielleicht scheinen möchte; man besucht einander um so öfter; sehen Sie nur, welche Masse von Besuchen dort am Spiegel hängt.«

Fröben sah hin, und jene Karte fiel ihm bei. »Ach ja,« sagte er, indem er sie hervorzog, »da habe ich vorhin einen kleinen Diebstahl begangen;« er zog sie hervor und zeigte sie. »Können Sie glauben, daß ich bis gestern nicht einmal wußte, daß mein Freund verheiratet sei? Und Ihren Namen erfuhr ich erst vorhin durch diese Karte. Sie heißen Tannensee?«

»Ja,« antwortete sie lächelnd, »und diesen unberühmten Namen tauschte ich gegen den schönen von Faldner um.«

»Unberühmt? Wenn Ihr Vater der Oberst von Tannensee war, so war Ihr Name wohl nicht unberühmt.«

Sie errötete. »Ach, mein guter Vater!« rief sie. »Ja, man erzählte mir wohl von ihm, daß er für einen braven Offizier des Kaisers gegolten habe und – sie haben ihn als General begraben. Ich habe ihn nicht gekannt; nur einmal, als er aus dem Feldzug zurückkam, sah ich ihn und nachher nicht wieder.«

»Und war er nicht ein Schweizer?« fragte Fröben weiter.

Sie sah ihn staunend an. »Wenn ich nicht irre, sagte mir meine Mutter, daß Verwandte von ihm in der Schweiz leben.«

[138]

»Und Ihre Mutter, heißt sie nicht Laura und stammt aus einem spanischen Geschlecht?«

Sie erbleichte, sie zitterte bei diesen Worten. »Ja, sie hieß Laura,« antwortete sie; »aber mein Gott, was wissen Sie denn von uns, woher? – Aus einem spanischen Geschlechte?« fuhr sie gefaßter fort. »Nein, da irren Sie, meine Mutter sprach Deutsch und war eine Deutsche.«

»Wie? So ist Ihre Mutter tot?«

»Seit drei Jahren,« erwiderte sie wehmütig.

»O, schelten Sie mich nicht, wenn ich weiter frage; hatte sie nicht schwarze Haare, und, wie Sie, braune Augen? Hatte sie nicht viele Aehnlichkeit mit Ihnen?«

»Sie kannten meine Mutter,« rief sie ängstlich und zitterte heftiger.

»Nein; aber hören Sie einen sonderbaren Zufall,« erwiderte Fröben; »es müßte mich alles täuschen, wenn ich nicht einen trefflichen Verwandten Ihrer Mutter kennen gelernt hätte.« Und nun erzählte er ihr von Don Pedro. Er beschrieb ihr, wie sie sich vor dem Bilde gefunden, er ließ die Kopie von seinem Zimmer bringen und zeigte sie; er sagte ihr, wie sie genauer bekannt geworden und wie ihm Don Pedro seine Geschichte erzählte. Aber die letztere wiederholte er mit großer Schonung; er datierte sogar aus einem gewissen Zartgefühl jene Vorfälle und Lauras Flucht um ein ganzes Jahr zurück und schloß endlich damit, daß er, wenn Josephe ihre Mutter nicht eine Deutsche nennen würde, bestimmt glaubte, Mutter Laura und jene Donna Laura Tortosi des Spaniers, der Schweizerhauptmann Tannensee und ihr Vater, der Oberst, seien dieselben Personen.

Josephe war nachdenklich geworden; sinnend legte sie die Stirn in die Hand; sie schien ihm, als er geendet hatte, nicht sogleich antworten zu können.

»O, zürnen Sie mir nicht,« sagte Fröben, »wenn ich mich hinreißen ließ, dem wunderlichen Spiel des Zufalls diese Deutung zu geben.«

»O, wie könnte ich denn Ihnen zürnen?« sagte sie bewegt, und Tränen drängten sich aus den schönen Augen. »Es ist ja nur mein schweres Schicksal, das auch dieses Dunkel wieder herbeiführt. Wie könnte ich auch wähnen, jemals ganz glücklich zu sein?«

[139]

»Mein Gott, was habe ich gemacht!« rief Fröben, als er sah, wie ihre Tränen heftiger strömten. »Es ist ja alles nur eine törichte Vermutung von mir. Ihre Mutter war ja eine Deutsche, Ihre Verwandten und Sie werden ja dies alles besser wissen –«


15.

»Meine Verwandten?« sagte sie unter Tränen. »Ach, das ist ja gerade mein Unglück, daß ich keine habe. Wie glücklich sind die, welche auf viele Geschlechter zurücksehen können, die mit den Banden der Verwandtschaft an gute Menschen gebunden sind; wie angenehm sind die Worte Oheim, Tante; sie sind gleichsam ein zweiter Vater, eine zweite Mutter, und welcher Zauber liegt vollends in dem Namen Bruder! Wahrlich, wenn ich fähig wäre, einen Menschen zu beneiden, ich hätte oft dies oder jenes Mädchen beneidet, die einen Bruder hatte, es war ihr inniger, natürlichster, aufrichtigster Freund und Beschützer.«

Fröben rückte ängstlich hin und her; er hatte hier, ohne es zu wollen, eine Saite in Josephens Brust getroffen, die schmerzlich nachklang; es standen ihm Aufschlüsse bevor, vor welchen ihm unwillkürlich bangte. Er schwieg, als sie ihre Tränen trocknete und fortfuhr:

»Das Schicksal hat mich manchmal recht sonderbar geprüft. Ich war das einzige Kind meiner Eltern, und so entbehrte ich schon jene große Wohltat, Geschwister zu haben; wir wohnten unter fremden Menschen, und so hatte ich auch keine Verwandten. Mein Vater schien mit den Seinigen in der Schweiz nicht im besten Einverständnisse zu leben, denn meine Mutter erzählte mir oft, daß sie ihm grollen, weil er sie geheiratet habe und nicht ein reiches Fräulein in der Schweiz, das man ihm aufdringen wollte. Auch meinen Vater sah ich nur wenig; er war bei der Armee, und Sie wissen, wie unruhig unter dem Kaiser die Zeiten waren. So blieb mir nichts als meine gute Mutter; und wahrlich, sie ersetzte mir alle Verwandten. Als sie starb, freilich, da stand ich sehr verlassen in der großen Welt; denn da war unter Millionen niemand, zu dem ich hätte gehen und sagen können: Nun sind sie tot, die mich ernährten und beschützten, seid ihr jetzt meine Eltern!«

»Und Ihre Mutter hieß also nicht Tortosi?« fragte Fröben.

»Ich nannte sie nicht anders als Mutter, und nie hatte sie über ihre früheren Verhältnisse mit mir gesprochen; ach, als ich größer wurde, war sie ja immer so krank! Mein Vater[140] nannte sie nur Laura, und in den wenigen Papieren, die man nach ihrem Tode fand und mir übergab, wird sie Laura von Tortheim genannt.«

»Ei nun!« rief Fröben heiter, »das ist ja so klar wie der Tag; Laura hieß Ihre Mutter, Tortheim ist nichts anders als Tortosi, das die lieben Flüchtlinge veränderten, Tannensee hieß jener Kapitän in Valencia, er ist Ihr Vater, der Oberst Tannensee, und noch mehr, sagen Sie nicht selbst, daß dieses Bild Ihrer Mutter Laura vollkommen gleiche, und erkannte nicht mein werter Don Pedro in dem Urbild seine Donna Laura? Jetzt sind Sie nicht mehr einsam, einen trefflichen Vetter haben Sie wenigstens, Don Pedro di San Montanjo Ligez! Ach! wie wird sich mein Freund über die berühmte Verwandtschaft freuen!«

»O Gott, mein Mann!« rief sie schmerzlich und verhüllte das Gesicht in ihr Tuch.

Unbegreiflich war es Fröben, wie sie dies alles so ganz anders ansehen könne als er; er sah ja in diesem allen nichts als die Freude Don Pedros, eine Tochter seiner Laura zu finden. Er war reich, unverheiratet, trug noch immer den alten Enthusiasmus für seine schöne Cousine in sich, also auch eine schöne Erbschaft kombinierte Fröben aus diesem wunderbaren Verhältnis. Er ergriff Josephens Hand, zog sie herab von ihren Augen; sie weinte heftig.

»O, Sie kennen Faldner schlecht,« sagte sie, »wenn Sie meinen, daß ihn diese Vermutungen freudig überraschen werden! Sie kennen sein Mißtrauen nicht. Alles soll ja nur seinen ganz gewöhnlichen Gang gehen, alles recht schicklich und ordentlich sein, und alles Außergewöhnliche haßt er aus tiefster Seele. Ich mußte es ja,« fuhr sie nicht ohne Bitterkeit fort, »ich mußte es ja als eine Gnade ansehen, daß mich der reiche, angesehene Mann heiratete, daß er mit den wenigen Dokumenten zufrieden war, die ich ihm über meine Familie geben konnte. Muß ich es denn,« rief sie heftiger weinend, »muß ich es denn nicht noch alle Tage hören, daß er mit den angesehensten Familien sich hätte verbinden, daß er dieses oder jenes reiche Fräulein hätte heiraten können? Sagt er es mir nicht so oft, als er mir zürnt, daß mein Adel neu sei, daß man von dem Geschlecht meiner Mutter gar nichts wisse, und daß sogar einige Tannensee in der Schweiz das von abgelegt haben und Kaufleute geworden seien?«

Jetzt erst ging dem jungen Mann ein schreckliches Licht[141] auf. »Also in ein Haus des Unglücks, in eine unglückselige Ehe bin ich gekommen,« sprach er zu sich. »Ach, nicht aus Liebe hat sie ihn geheiratet, sondern aus Not, weil sie allein stand; und Faldner, so kenne ich ihn, hat sie genommen, weil sie schön war, weil er mit ihr glänzen konnte. Das unglückliche Weib! Und der Barbar macht ihr Vorwürfe über ihr Unglück, läßt sie sogar fühlen, was sie ihm verdanke?« Ein gemischtes Gefühl von Unmut über seinen Freund, von Mitleid und Achtung gegen die schöne, unglückliche Frau zog ihn zu ihr hin; er bemühte sich, ihr Mut und Vertrauen einzuflößen. »Sehen Sie dies alles als nicht gesagt an,« flüsterte er; »ich sehe, es macht Ihnen Kummer; was nützt es denn Faldner? Verschweigen wir ihm die törichten Mutmaßungen, die ich hatte, die ja ohnedies zu nichts führen können.« –

Josephe sah ihn bei diesen Worten groß an; ihre Tränen verlöschten in den weitgeöffneten Augen, und Fröben glaubte eine Art von Stolz in ihren Mienen zu lesen. »Mein Herr,« sagte sie, und ihre Gestalt schien sich höher aufzurichten, »ich kann unmöglich glauben, daß, was Sie sagten, Ihr Ernst sein kann; auf jeden Fall werden Sie wissen, daß die Gattin des Baron von Faldner kein Geheimnis mit Ihnen teilt, das nicht ihr Gatte wissen dürfte.«

Unter diesen Worten hatte sie das Teegeschirr unsanft von sich gerückt, war aufgestanden und – nach einer kurzen Verbeugung verließ sie den erstaunten Gast. Fröben wollte ihr nach, wollte abbitten, was er getan, wollte alles auf einmal gut machen, aber sie war schon in der Türe verschwunden, ehe er nur Fassung genug hatte, sich vom Sofa aufzuraffen. Unmutig ging er hinab in den Garten; er wußte nicht, sollte er sich selbst grollen oder der Empfindlichkeit der Dame, die ihm in diesem Augenblick übergroß erschien. Doch wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, sein aufgeregtes Blut wallte nach und nach ruhiger und sein Geist gewann Raum, über sich selbst nachzusinnen. Und hier fand er nun manches, was Josephen zur Entschuldigung diente. »Sie liebt ihn nicht,« sagte er zu sich, »er behandelt sie vielleicht roh, zeigt sich mehr als Herr denn als Gatte. Sie wurde weich, als ich mit ihr über höhere Genüsse des Lebens sprach, ich sah, wie sie erschrak, als sie sich gegen mich verraten hatte, als sie aussprach, welcher Mangel selbst mitten im äußeren Glück sie drücke. Und mußte sie sich nicht ängstlich berührt fühlen, daß sie diesen Mangel einem Freunde ihres Gatten verriet? Und weiter, als ich ihr alles, alles sagte,[142] als ich mit einer gewissen Bestimmtheit von ihrer Abstammung sprach, als ich, vielleicht etwas unzart, Saiten berührte, die sonst niemand bei ihr antastete, mußte sie nicht dadurch schon außer sich selbst geraten? Und als sie vollends den Argwohn, die Zweifelsucht des Barons bedachte, wurde sie nicht immer ängstlicher, immer verlegener, und ich,« fuhr er fort, indem er sich vor die Stirne schlug, »ich konnte ihr zumuten, ein Geheimnis mit mir zu teilen, das sie ihrem nächsten Freund, ihrem Gatten, nicht verraten dürfte? Mußte sie nicht fürchten, wenn sie es verheimlichte, ganz in meiner Hand zu sein? Mußte ihr nicht das ganze Anerbieten sonderbar, unzart vorkommen?« Wie hoch, wie edel erschien ihm jetzt erst der Charakter dieser Frau, wo nahm sie bei dieser Jugend, denn sie konnte höchstens neunzehn zählen, solche Stärke, solche Umsicht, solche ungewöhnliche Bildung, solche feine geselligen Formen her? Er fühlte, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, daß den Frauen etwas von Feinheit, Schlauheit, Kraft, Ueberwindung, kurz, daß ihnen ein Geheimnis innewohne, dem der Mann, selbst der stolze, gewichtige, nicht gewachsen sei.


16.

Der Baron von Faldner war zum Mittagessen zurückgekommen und Josephe hatte ihn mit der gewohnten Anmut, vielleicht ein wenig ernster als gewöhnlich, empfangen. Aber hastig riß er sich aus ihrer Umarmung. »Ist es nicht, um toll zu werden, Fröben?« rief er, ohne seine Frau weiter zu beachten. »Mit horrenden Kosten lasse ich mir eine Dampfmaschine aus England kommen, lasse sie, auf die Gefahr hin, daß alles zu Grunde gehe, ausschwärzen – du kennst ja die Gesetze hierüber –, und jetzt, da ich meine, im Trockenen zu sein, da ich schon achtzig, ja hundert Prozent berechnete, jetzt geht sie nicht!«

»Franz!« rief Josephe erbleichend.

»Sie geht nicht?« rief ihr Fröben nach.

»Sie geht nicht!« wiederholte der unglückliche Landwirt. »Die Fugen greifen nicht ein, das Räderwerk steht, es muß irgend etwas verloren gegangen sein. Ich ließ, wie du weißt, Josephe, ich ließ es mich ja alles kosten, mit teurem Gelde ließ ich einen Mechanikus aus Mainz kommen; ich legte ihm die Zeichnung vor. ›Nichts leichter als dies,‹ sagte der Hund, und jetzt, da ich ihm A zu A, B zu B gebe, denn es ist alles numeriert und beschrieben, jetzt kann es kein Teufel zusammensetzen; o, es ist um rasend zu werden!«

[143]

Man setzte sich verstimmt zu Tische. Der Baron verbiß seinen inneren Grimm über die fehlgeschlagene Hoffnung und den wahrscheinlichen Verlust des Kapitals, er trank viel Wein und exaltierte sich zu schlechten Scherzen. Josephe war noch bleicher als gewöhnlich; sie besorgte still ihr Amt als Hausfrau, und nur Fröben wußte einigermaßen ihre Gefühle zu deuten, denn sie vermied es, ihn anzusehen. Ihm quoll der Bissen im Munde; er sah den Unmut einer getäuschten Hoffnung in den Mienen seines Freundes, er sah den Mut, die Entschlossenheit und doch wieder die unverkennbare Angst auf den Mienen der schönen Frau, es war ihm zuweilen, als sei mit ihm erst das Unglück über dieses Haus hereingebrochen. Das Gespräch schlich während der Tafel nur mühsam und stockend hin, doch als das Dessert aufgetragen war und die Diener auf Josephens Wink sich entfernt hatten, holte sie einigemal mühsam Atem, ihre Wangen färbten sich röter, und sie sprach:

»Du hast heute früh eine recht sonderbare Unterhaltung zwischen mir und deinem Freunde versäumt. Schon oft, wie du weißt, klagten wir über Mangel an Verwandtschaft von meiner Seite, jetzt scheint mir auf einmal ein neues Licht aufzugehen, denn er bringt uns ja viele und angesehene Verwandte ins Haus.«

Verwundert und fragend sah Faldner seinen Freund an; dieser war im ersten Augenblicke etwas betroffen, doch hier galt es, mit Umsicht zu handeln. Wunderbar fühlte er in diesem Augenblicke das Uebergewicht eines Mannes von Welt über die niedere, beinahe rohe Denkungsart eines Baron Faldner, und mit mehr Gelassenheit, mit weiser Benützung der Umstände erzählte er die sonderbare Geschichte des Bildes und seiner Bekanntschaft mit Don Pedro.

Gegen alle Erwartung wurde der Baron zusehends heiterer während der Erzählung. »Ei – sonderbar,« waren die einzigen Worte, die ihm hie und da entschlüpften, und als Fröben geendet hatte, rief er: »Was ist klarer als dies? Donna Laura Tortosi und Laura von Tortheim, der Schweizer Kapitän Tannensee und dein Vater sind dieselben. Und reich sagst du, lieber Fröben, reich ist der Haushofmeister? Begütert, unverheiratet und hegt noch die alte Vorliebe für seine Dulcinea von Valencia? Ei der Tausend! Josephchen, da könnte es ja noch eine reiche Erbschaft von Piastern geben!«

Josephe hatte wohl diese Aeußerung nicht erwartet; der Gast sah ihr an, daß sie dieses gemeine Wort lieber ohne Zeugen[144] gehört hätte; aber eine drückende Last schien sich dennoch ihrem Busen zu entladen, sie drückte die Hand ihres Gatten, vielleicht nur, weil er ihr diesmal weniger Bitteres gesagt hatte als sonst, und ziemlich aufgeheitert sagte sie: »Mir selbst scheint in dem sonderbaren Zusammentreffen unseres Freundes mit dem Spanier eine eigene Fügung des Schicksals zu liegen; ja ich glaube sogar, daß es spanische Lieder waren, die hie und da meine Mutter, wenn sie einsam war, zur Laute sang. Ja vielleicht kommt es eben daher, daß ich nicht in eurem Glauben erzogen wurde, obgleich mein Vater, wie ich bestimmt weiß, reformierten Glaubens war. Nun, das beste ist, unser Freund schreibt an Don Pedro.«

»Ja, tu mir den Gefallen,« sagte Faldner; »schreibe an den alten Don, seine Laura habest du nicht gefunden, aber offenbar ihre Tochter; es könnte doch zu etwas führen, du verstehst mich schon; wem will er auch seinen Mammon vermachen als dir, du Goldkind? Ich habe es ja immer gesagt, und auch zur Gräfin Landskron sagt' ich es, als ich um dich anhielt, wenn sie auch nicht viel, eigentlich gar nichts hat, mit ihr kommt Segen in mein Haus. Und haben wir da nicht den Segen? Wie hoch, sagtest du, daß du den Spanier schätzest?«


17.

Der Baron hatte frische Flaschen befohlen, und Josephe stand bei den letzten Worten auf und entfernte sich. Unbegreiflich war Fröben, wie unzart sein Freund mit dem holden, edlen Wesen verfuhr, er fühlte, wie sie sich vor ihm der Gemeinheit ihres Gatten schäme, er fühlte es und antwortete daher ziemlich unmutig: »Was weiß ich; meinst du denn, ich frage die Leute, mit denen ich umgehe, wie ein Engländer. Wieviel wiegst du?«

»Ach, ich kenne ja deine sonderbaren Grillen über diesen Punkt,« lachte der Baron, »dir ist ein armseliger Geselle, wenn er nur das sogenannte Sentiment und Savoir vivre besitzt, so gut als einer, der zweimalhunderttausend Pfund Renten hat; aber ernstlich, mit dem Don müssen wir ins reine kommen, und ich rechne ganz auf dich.«

»Ja doch; du kannst gänzlich auf mich rechnen. Aber wie war es denn mit der Gräfin Landskron? Du sagtest mir ja noch nicht einmal, wie du deine Frau kennen lerntest.«

[145]

»Nun, das ist eigentlich eine kurze Geschichte,« erwiderte Faldner, indem er sich und dem Freunde von neuem Wein in das Glas goß. »Du kennst meinen praktischen Sinn, meinen richtigen Takt in dergleichen Dingen. Es stand mir die Wahl frei unter den Töchtern des Landes; reiche, bemittelte, schöne, hübsche, alles stand mir zu Gebot. Aber ich dachte: Nicht alles ist Gold, was glänzt, und suchte mir eine tüchtige Hausfrau. So kam ich durch Zufall auch auf das Gut der Gräfin Landskron. Josephe war damals noch als Fräulein von Tannensee ihre Gesellschaftsdame. Das emsige, geschäftige Kind gefiel mir; Tee eingießen, Aepfel schälen, Bohnen brechen, Blumen begießen, kurz alles wußte sie so zierlich und nett zu machen, daß ich dachte, diese oder keine wird eine gute Hausfrau werden. Ich sprach mit der Gräfin darüber. Zwar schreckten mich anfangs die kurzgefaßten Nachrichten wieder ab, die mir die Landskron über Josephens Verhältnisse geben konnte. Sie sagte mir, daß sie Josephens Mutter gekannt und nach ihrem Tode das Mädchen zu sich genommen habe; Vermögen hatte sie nicht, aber die Gräfin gab eine anständige Ausstattung. Das Kopulationszeugnis ihrer Eltern, ihr Taufschein war richtig – nun, man ist ja in der Liebe gewöhnlich ein Narr, und so nahm ich sie zu mir.«

»Und bist gewiß unendlich glücklich mit diesem holden Wesen?«

»Nun, nun, das geht so; praktisch ist sie nun einmal gar nicht, und ich muß ihr die dummen Bücher ordentlich konfiszieren, nur daß ich sie an Haus und Garten gewöhne; denn wie will man am Ende hier auf dem Lande auskommen, wenn die Hausfrau sich vornehm in das Sofa setzt, Romane und Almanachs liest, empfindelt, wozu sie ohnedies großen Hang hat, und weder Küche noch Garten besorgt?«

»Aber mein Gott, dazu könntest du ja Mägde halten?« bemerkte Fröben, den der Wein und das Gespräch noch wärmer und unmutiger gemacht hatten.

»Mägde?« fragte Faldner lachend und sah ihn groß an. »Mägde! Da sieht man wieder den Theoretiker! Freund, davon verstehst du nichts! Würden mir nicht die Mägde hinterrücks den halben Garten, die schönen Gemüse, Obst und Salat verkaufen? Und vollends in der Küche. Woher nur Holz und Butter genug nehmen, wenn alles den Mägden anvertraut ist! Nein, die Frau muß da schalten und walten, und leider! bin ich[146] da mit Josephen schlecht gefahren; doch komm, stoß an; der Don soll alles gut machen!«

Fröben, so sehr sein Herz, sein zarterer Sinn durch alles, was er hier sah und hörte, verletzt wurde, wagte nichts entgegenzureden. Er folgte dem Hausherrn, als dieser jetzt aufstand, hielt seine Umarmung geduldig aus und nahm sogar, mehr um Josephen so bald nach diesem Vorfall nicht zu sehen, als aus Freude an des Barons Gesellschaft, seine Einladung an, ihn nach der neuen Dampfmühle zu begleiten. Die Pferde wurden vorgeführt, die Männer schwangen sich auf, und schon wollte Fröben um die Ecke biegen, als er noch einen Blick zurückwarf und Josephens Gestalt im Fenster erblickte; sie zog ihr Tuch von dem Auge, sie blickte ihnen wehmütig nach, sie grüßte mit der zierlichen Hand. »Deine Frau winkt uns noch, um Abschied zu nehmen,« rief er Faldner zu; aber dieser lachte ihn aus. »Was meinst du denn?« sagte er im Weiterreiten. »Glaubst du, ich habe sie so zart und weich gewöhnt, daß wir auf einen Nachmittag mit Küssen und Drücken, mit Grüßen und Schnupftuchwedeln Abschied nehmen? Gott bewahre mich, dadurch verwöhnt man die Weiber, und, wenn es dir einmal begegnen sollte, daß du auch heiratest, so mache es um Gottes willen wie ich. Kein Wort von einer Reise oder einem Spazierritt vorher. Das Pferd wird vorgeführt – ›Wohin, mein Lieber?‹ fragt sie dann das erste oder zweite Mal. Keine Antwort, sondern die Handschuhe angezogen. ›Aber wirst du mich denn so allein lassen?‹ fragt sie weiter und streichelt dir die Wangen; du nimmst getrost die Reitpeitsche und sagst: ›Ja, ich will heute abend noch auf das Vorwerk, es ist dies und das zu tun. Adieu! und wenn ich bis neun Uhr nicht zu Hause bin, brauchst du mit der Suppe nicht zu warten.‹ Sie erschrickt, du achtest es nicht; sie will nach, du winkst ihr mit der Reitgerte zurück; sie stürzt ans Fenster, hängt sich und das Tränentüchlein heraus und ruft adieu! und wedelt hin und her mit dem weißen Fahnen. Laß wehen und achte nicht darauf. Drück dem Gaul die Sporen in den Leib und davon; ich kann dir schwören, das setzt die Weiber in Respekt. Das dritte Mal fragte die meine nicht mehr, und gottlob! das Gewinsel hat ein Ende!«

Der Baron hatte während dieser trefflichen Rede in größter Gemütsruhe eine Pfeife gestopft, Feuer angeschlagen und dampfte jetzt, indem er seine Felder und Wälder überschaute, ohne eine Antwort seines Gastes zu erwarten; aber dieser preßte die Lippen zusammen, und noch stärker preßte die Rede des rohen Mannes[147] sein volles Herz. »O, du Hund von einem Menschen,« sprach er bei sich, »schlechter noch als ein Hund, denn der Herr hat dir ja Vernunft gegeben. Wie man ein Pferd zureitet oder einen Baum in bessere Erde setzt, hast du gelernt, aber eine schöne Seele zu behandeln, ein liebendes Herz zu verstehen, liegt außer deinen Grenzen. Wie sie ihm nachsah, so voll Wehmut, denn er hatte ja nicht von ihr Abschied genommen, so voll Engelsgeduld, sie hatte ihm ja seine rohen Worte schon wieder vergeben; mit einem Blick so voll von Liebe! Von Liebe? Kann sie ihn denn lieben? Wird nicht ihr zarter Sinn tausendmal von ihm beleidigt? Sieht sie denn nicht, wie er seinem Jagdhund mehr Zärtlichkeit beweist als ihr? Oder wie?« fuhr er in seinem Hinträumen fort, »sollte sie, weil sie einmal sein Weib geworden ist, Zärtlichkeit für den fühlen, den sie an Geist so weit überragt und den sie dennoch – fürchtet? Oder sollte es immer und ewig das Los dieser armen Wesen sein, daß unter Hunderten nur eine wahrhaft lieben darf, daß die andern, von der Natur zu einem herrlichen Gefäß zärtlicher, hoher Liebe ausgerüstet, erwachsen, blühen, verwelken, ohne wahre Liebe zu kennen? Doch, dieser Gedanke wäre mir noch erträglicher als der, daß sie ihn wirklich lieben könnte! Nein, es kann, es darf nicht sein!« Unwillkürlich hatte er bei dem letzten Gedanken durch eine rasche Bewegung seinem Pferde die Sporen gegeben, es raffte sich auf und flog dahin. »Ho, ho, Junge! du willst mit mir in die Wette reiten?« rief ihm der Baron nach und steckte die Pfeife bei. »Zweihundert Schritte gebe ich dir vor und hole dich dennoch ein.« Kunstgerecht berechnete er dann den Zwischenraum, und als er dachte, Fröben habe die vorgegebenen Schritte zurückgelegt, ließ er sein Pferd weit ausstreichen und gelangte zu seinem nicht geringen Triumph in demselben Moment mit dem Freunde vor der Dampfmühle an.


18.

Der Mechanikus, ein bescheidener Mann, der aber allgemein den Ruf großer Geschicklichkeit genoß, empfing sie an der Türe. »Noch immer nicht weiter?« fragte Faldner, indem sein Gesicht sich verfinsterte. »Wahrhaftig, entweder ist mein Korrespondent in London ein Schurke und verdient gehangen zu werden, oder Ihr, Meister Fröhlich, versteht zwar Taschenuhren zusammen zu drechseln, aber keine Dampfmühle aufzuschlagen, wie Ihr mir vorgespiegelt.«

[148]

Der Mann schien tief gekränkt durch die Worte des Barons; eine hohe Röte überflog sein Gesicht und ein bitteres Wort schwebte auf seinen Lippen, aber er unterdrückte es und fuhr mit der Hand über sein schlichtes Haar, als wollte er seinen inneren Unmut wie seine Haare glätten. »Halten zu Gnaden, Herr Baron,« antwortete er; »wenn man mir Aufriß und Berechnung einer Maschine vorlegt und dazu Räderwerk und Schrauben so genau verzeichnet sind, so will ich eine Maschine zusammensetzen, wenn ich sie auch nie zuvor gesehen. Aber dann muß ich freies Spiel haben und dann steh' ich auch davor, daß alles recht wird, aber so –«

»Nun, daß ich selbst ein wenig mitgeholfen, meint Ihr? Darauf soll also alles geschoben werden? Ihr sagt selbst, daß Ihr in Eurem Leben noch keine solche Maschine gesehen, und ich habe eine gesehen, zwei, drei, in Frankreich und England, und weiß recht gut, daß die größeren Räder in der Mitte des Zylinders eingreifen und die kleineren oben angebracht sind –«

»Aber mein Gott, erlauben Eure Gnaden,« entgegnete der Künstler ungeduldig, »diese Ihre Dampfmühle ist nun einmal nach anderer Struktur, das kann man ja schon an der Zeichnung sehen –«

»Zeichnung hin, Zeichnung her, Dampfmaschinen sind Dampfmaschinen, und eine sieht aus wie die andere. Betrogen bin ich; von allen Seiten angeführt, das Geld zum Fenster hinausgeworfen!«

Fröben hatte indessen die Zeichnungen zur Hand genommen und sie durchgesehen. Er fand, daß die Struktur dieser Mühle sehr einfach und schön, und wenn die bezeichneten Räder und Schrauben paßten, sehr leicht aufzuschlagen sei. Er hatte in früheren Zeiten Mathematik und Physik gründlich studiert, er hatte zugleich mit dem Freunde die berühmtesten Maschinenwerke gesehen und kennen gelernt, kam aber, weil er sich selten darüber äußerte, bei dem Herrn von Faldner, der sich mit seinen Kenntnissen ungemein viel wußte, in den Verdacht, wenig oder nichts vom Maschinenwesen zu verstehen. Er wandte sich nun, als Faldners Unmut noch größer zu werden drohte, an den Mechanikus, fragte nach diesen und jenen Stücken, die auf der Zeichnung angegeben waren, und als jener sie vorwies, als man sah, wie richtig sie ineinander passen, sagte er zu Faldner: »Ich wollte wetten, du bist durchaus nicht betrogen, denn so gut hier F und H in P passen – du siehst, es sind die Hauptzüge, wodurch die[149] Stampfmühle mit der Oelpresse in Verbindung gesetzt wird –, so gut muß sich auch das übrige fügen.«

»Ach, Sie hat unser Herrgott hergesandt;« rief der Mechanikus freudig, »wie Sie doch dies gleich so wegbekamen! Ja, das F ist der Hauptzug, H hier greift in das Stangenwerk ein, hier wird das Rad KL befestigt.«

»Die Maschine ist sehr einfach,« fuhr Fröben fort, »und der ganze Irrtum meines Freundes kommt daher, daß er die Struktur größerer Werke vor Augen hat, die freilich anders aussehen. Du wirst dich übrigens erinnern, daß wir in Devonshire bei Sir Henry Smith eine Oelmühle sahen, die beinahe ganz nach diesem Plan gebaut war.«

Der Baron verbarg sein Staunen hinter einem ironischen Lächeln, womit er bald den Freund, bald den Mechanikus ansah. »Machet, was ihr wollt,« sagte er gleichgültig, »ich gebe die ganze Geschichte verloren; vernünftiger wäre es gewesen, ich hätte einen englischen Mechaniker mitkommen lassen. Versuche immer dein Heil an dem heillosen Schraubenwerk; ich denke, wenn ich dich in einigen Stunden abhole, wirst du dieses Maschinen-Abc schon satt haben; denn darin, ich weiß es ja, bist du doch nur ein Abcschütze.« Pfeifend verließ er das Gebäude, setzte sich auf und ritt in den Wald.

Fröben aber ließ sogleich wieder auseinanderlegen, was nach des Barons eigenmächtigem Plan bisher zusammengefügt war. Die Nummern wurden geordnet, und er wurde unter diesem Geschäft nach und nach heiterer, denn es zerstreute die düsteren Bilder in seiner Seele, und nicht ohne Lächeln bemerkte er, wie ihn der Mechanikus mit leuchtenden Blicken betrachtete, wie ihn seine Gesellen und Jungen gleich einem Altmeister ihrer Kunst ehrfurchtsvoll ansahen. Freude und Leben war in die Werkstätte gekommen, wo man diesen Morgen nur die Befehle, die Flüche des Barons, die Bitten und Gegenreden des Meisters gehört hatte; bald war alles in Ordnung gebracht, und als der Baron abends aus dem Wald zurückkam, seinen Gast abzuholen, erstaunte er und schien sich im ersten Augenblick nicht einmal über das sichtbare Fortschreiten des Werkes zu freuen. Er hatte erwartet, alles in Bestürzung und Konfusion zu treffen, aber der Mechanikus überreichte ihm lächelnd die Zeichnung, führte ihn an den Zylinder und zeigte ihm, indem er bald auf das Papier, bald auf das Werk hindeutete, mit stolzer Freude, was sie bis jetzt schon geleistet haben. »Wenn es so fortgeht,« setzte der Mechanikus hinzu, »und wenn[150] der fremde Herr dort uns auch morgen so trefflich an die Hand geht, so garantiere ich, daß wir noch vor Sonntag fertig werden.«

»Tolles Zeug!« war alles, was der Baron antwortete, indem er die Zeichnung zurückgab, und Fröben war ungewiß, ob es Flüche oder Danksagungen seien, was sein Freund hin und wieder murmelte, als sie zusammen nach dem Schloß zurückritten.

Der glückliche Fortgang des Maschinenbaues, vielleicht auch die schimmernde Aussicht auf Don Pedros spanische Quadrupeln, hatte den Baron in den nächsten Tagen fröhlicher gestimmt. Fröben hatte an den Spanier nach W. geschrieben, und sein Gastfreund nahm ihm das Versprechen ab, so lange bei ihm zu verweilen, bis aus W. eine Antwort angelangt sei. Auch gegen Josephe betrug er sich etwas menschlicher, und er hatte ihr, wahrscheinlich mehr aus Rücksicht auf den Freund als auf sie, sogar erlaubt, daß sie ihre Haushaltungsgeschäfte abkürzen und vormittags oder abends, wenn ihn selbst Geschäfte abhielten, sich von Fröben vorlesen lassen oder Spaziergänge mit ihm machen dürfe. Und sie lebte in diesen wenigen Tagen zusehends auf. Ihre Haltung wurde kräftiger, ihre Wangen rötete ein Schimmer von stillem Vergnügen, und in manchen Augenblicken, wenn ein holdes Lächeln um ihre Lippen zog, wenn jene feinen Grübchen in den Wangen erschienen, gestand sich Fröben, daß er selten eine schönere Frau gesehen habe, ja ihr Anblick verwirrte ihn oft so ganz, daß er ein geliebtes Bild seiner Träume verwirklicht glaubte, daß halbversunkene Erinnerungen wieder in ihm auftauchten, daß ihm sogar ihre Stimme, wenn sie bewegt, gerührt war, so bekannt deuchte, als hätte er sie nicht hier zum erstenmal gehört. Seltener zog er in jenen Tagen das Bild hervor, das er sonst stundenlang betrachtet hatte, und wenn es ihm zufällig in die Hände fiel, wenn er es aufrollte, wenn er in das Auge der unbekannten Geliebten sah, so fühlte er sich beschämt, er glaubte, ihrem leblosen Bilde diese Vernachlässigung abbitten zu müssen. »Doch,« sprach er dann zu sich, als müßte er sich entschuldigen, »ist es denn unrecht, der armen Freundin einige Tage ihres freudelosen Lebens angenehmer zu machen? Und wie wenig gehört dazu, dieses holde Wesen zu erfreuen, sie glücklicher zu stimmen! Ein schönes Buch mit ihr zu lesen, mit ihr zu sprechen, sie auf einem Spaziergang an ihre Lieblingsplätzchen zu begleiten – dies ist ja alles, was sie braucht, um heiter und froh zu sein. Welchen Himmel könnte Faldner in seinem Hause haben, wenn er nur zuweilen die eine oder andere dieser kleinen Freuden mit ihr teilte!«

[151]

Der junge Mann fühlte sich übrigens, ohne daß er es sich selbst recht gestand, angenehm berührt, geschmeichelt von Josephens Anhänglichkeit an ihn. Schien ihr nicht jeder Morgen, jeder Abend ein neues Fest zu sein? Wenn er herabkam zum Frühstück, hatte sie schon alles zierlich und nett bereitet; bald wählte sie den Saal, der eine herrliche Aussicht auf den fernen Rhein öffnete, bald die Terrasse, von wo sie das ländliche Gemälde der Arbeiter in den Feldern und an den Weinbergen vor sich hatten, so nah, um alles, wie ein treues Tableau, zu betrachten, und doch ferne genug, um im stillen Genuß des Morgens nicht gestört zu sein, bald hatte sie eine Laube im Garten ausgesucht, wo die Welt ringsum von dichten Platanen abgeschlossen und nur der frischen Morgenluft oder dem Frührot der Zutritt gestattet war. So erschien sie immer neu und überraschend, und wenn der Freund herzutrat, wie freudig stand sie auf, wie hold bot sie ihm die Hand zum Gruß, wie lebhaft wußte sie, wenn er noch ganz in ihren Anblick versunken ohne Worte war, das Gespräch anzuknüpfen, dies und jenes zu erzählen, durch Laune und feine Beobachtung allem, was sie sagte, ein eigenes Gewand, einen eigentümlichen Reiz zu geben! Und wenn sie dann nachher schnell und emsig das Geräte des Frühstücks auf die Seite räumte, wenn er sein Buch hervorzog, wenn sie mit der Arbeit, die sie selten beiseite legte, ihm sich gegenübersetzte und erwartungsvoll an seinen Lippen hing, da war es ihm oft, als müsse er alles, die ganze Welt vergessen, und einen kleinen, kurzen, seligen Augenblick träumte er, er sei ein glücklicher Gatte und sitze hier an der Seite eines geliebten Weibes.


19.

Es gereichte Josephen in den Augen ihres Freundes zu keinem geringen Ruhm, daß sie gerade jenen Dichter zu ihrem Liebling erwählt hatte, der auch ihn vor allen anzog. Zwar mußte er ihr oft bei Vorlesungen aus Jean Pauls herrlichen Dichtungen zu Hilfe kommen, um dieses oder jenes dunklere Gleichnis zu erklären; aber sie faßte schnell, ihr natürlicher Takt und ihr zarter Sinn, der so ganz in dem Dichter lebte, ließ sie manches erraten, ehe ihr noch der Freund Gewißheit gegeben hatte.

»Es liegt doch,« sagte sie eines Tages, »eine Welt voll Gedanken in diesem Hesperus! Jede menschliche Empfindung bei Freude und Schmerz, bei Liebe und Gram liegt zergliedert vor[152] uns da; er weiß uns, indem wir den süßen Duft einer Blume einsaugen, ihre innersten Teile, ihre zarten Blätter, ihre feinsten Staubfäden zu beschreiben, ohne daß er sie zerstört, entblättert. Denn das, glaube ich, ist ja das große, tiefe Geheimnis dieses Meisters, daß er jede tiefere Empfindung nicht beschreibt, sondern andeutet, und doch wieder nicht flüchtig andeutet, sondern wie durch das feine Mikroskop eines Gleichnisses uns einen tiefen Blick in die Menschenseele tun läßt, wo Gedanke an Gedanke aufsteigt und das Auge überrascht, aber entzückt über die wundervolle Schöpfung, in eine Träne übergeht.«

»Sie haben,« erwiderte der Gastfreund, »wie es mir scheint, in diesen Worten sein Geheimnis wirklich ausgesprochen. Mir ist sonst, ich gestehe es offen, nichts so in der innersten Seele zuwider, als das sichtbare Abmühen eines Autors, dem Leser recht klar und deutlich zu machen, was sein Held oder die Heldin oder eine dritte, vierte Person da oder dort empfunden oder gedacht. Aber unser Dichter! Wie herrlich, wie reich ist auch hierin seine Erfindung; wir leben, wir denken, wir weinen unwillkürlich mit Viktor, und Klothildens bleichere Wangen, ihre klaglose Trauer trifft uns tiefer, als jede Beschreibung es sagen kann, und im warmen, weichen Glück der Liebenden möchten wir ein Strahl der Abendsonne sein, der in der Laube um ihre Umarmung spielt, jene Nachtigall, die ihnen die fromme Feier ihrer Seligkeit mit ihrer glockenhellen Stimme einläutete.«

»Es ist sonderbar,« bemerkte Josephe, »der Faden dieses Romans, was man sein Gerippe nennt, würde uns bei andern nicht im mindesten interessant, vielleicht sogar gesucht, langweilig dünken. Sechs verlorene, vertauschte, wiedergefundene Söhne, statt daß z. B. Walter Scott gewöhnlich nur einen hat und sogar der Verfasser des Walladmor in seiner Parodie mit zweien sich begnügt; eine junge Dame, die zu ihrer Qual von ihrem Bruder geliebt wird, selbst aber seinen Freund liebt; ein kleiner, simpler Hof in Duodez, ein Pfarrhaus voll Ratten und Kinder, und ein Edelsitz, wo Unedle wohnen; denken Sie sich diese gewöhnlichen Dinge in einer Reihenfolge, so haben Sie einen unserer gewöhnlichen Romane von verlorenen Söhnen etc. und nicht einmal einen rechten Jammer, um mich so auszudrücken, als etwa La Beaus Ermordung durch den Hofjunker oder das tragische Ende des Lords im fünften Akt. Aber welch ein Leben, welch eine Welt wird aus dieser Geschichte, wenn ihr jener Dichter seinen Blumenmantel umhängt! Welche geistreiche Luft, höher und reiner als jede irdische, kommt uns aus[153] der verehrenden Liebe Viktors und Klothildens zu ihrem Lehrer Emanuel, welche Wehmut aus den Täuschungen eines kalten Lebens, wenn Viktor und jenes liebenswürdige Wesen sich verkennen, nicht finden; welche Wonne endlich, wenn ihre Seelen unter dem nächtlichen, gestirnten Himmel im Schmerz der Trennung sich aufschließen und überströmen in Liebe!«

»Ja,« rief der junge Mann, »unser Dichter ist ein großer Musiker! Er hat ein ausgespieltes, altes, längst gehörtes Thema vor sich; aber indem er den Gang des alten Liedchens beibehält, führt er die Gedanken auf eine Weise aus, die uns so überraschend, so neu erscheint, daß wir das Thema vergessen und nur auf die Wendungen horchen, in die er übergeht, in welchen er die Himmelsleiter der Töne wie ein Engel auf und ab geht und uns einen geöffneten seligen Himmel im Traume zeigt, während wir vielleicht wie Jakob in der Wirklichkeit auf recht hartem Lager liegen. Dann ist er bald weich wie eine Flöte, durchdringend wie die Hoboe, bald voll, rührend wie das Waldhorn aus der Ferne, bald braust er daher wie mit den mächtigsten tiefsten Bässen, majestätisch, erhaben, bald nur sanft lispelnd wie die Aeolsharfe oder in Wehmut aufgelöst wie die Töne der Harmonika.«

»Wie danke ich es ihm,« sagte Josephe weich, »daß er versöhnt, daß er die Wunden unserer Wehmut heilt! Es hätte ja in seiner Macht gestanden, Klothilden untergehen zu lassen im Schmerz unerwiderter Liebe, vor ihrem Tode hätte ihr Viktor noch zugerufen: ›Ich liebte dich ja über alles,‹ und sie wäre lächelnd eingeschlafen. Denken Sie sich den ungeheuren Schmerz, die Bitterkeit gegen das Geschick, wenn wir diese Menschen so hätten untergehen sehen, ohne Hoffnung, ohne Trost! Aber es wäre ja nicht möglich gewesen; Viktor hätte nicht so lange geliebt, hätte sich an Joachime oder die Fürstin hingegeben, denn ein Mann kann ja ohne erwiderte Liebe nicht lange lieben!«

»Glauben Sie das wirklich?« erwiderte Fröben wehmütig lächelnd. »O, wie wenig müssen Sie uns kennen, wie klein müssen Sie von uns denken, wenn wir nicht einmal den Mut besäßen, dieses kurze Leben hindurch treu zu lieben, auch ohne geliebt zu werden!«

»Ich halte es bei Frauen für möglich,« sagte die schöne Frau; »Liebe ohne Gegenliebe ist ein tiefes Unglück, und Frauen sind ja mehr dazu gemacht, stille Leiden zu tragen ein Erdenleben lang als ihr. Der Mann würde einen solchen Gram von sich werfen, oder der glühende Kummer müßte ihn verzehren!«

[154]

»Beides nicht – ich lebe ja noch und liebe,« sagte Fröben, zerstreut vor sich hinblickend.

»Sie lieben!« rief Josephe, und mit so eigenem Ton, daß der junge Mann erschrocken aufblickte; sie schlug die Augen nieder, als ihr sein Blick begegnete, eine tiefe Röte überflog ihr Gesicht und ging ebenso schnell wieder in tiefe Blässe über.

»Ja,« sagte er, indem es ihm mit Mühe gelang, es scherzhaft zu sagen; »der Fall, den Sie setzten, ist der meinige, und noch liebe ich, vielleicht ruhiger, aber nicht minder innig als am ersten Tag, ich liebe sogar beinahe ohne Hoffnung, denn die Dame meines Herzens weiß nicht um meine Liebe, und dennoch, wie Sie sehen, hat mich der Kummer noch nicht getötet.«

»Und darf man wissen,« sagte sie zutraulich, aber, wie es Fröben schien, mit zitternder Stimme, »darf man wissen, wer die Glückliche ist?«

»Ach, sehen Sie, das ist gerade das Unglück, ich weiß ja nicht, wer sie ist, noch wo sie sich aufhält, und liebe dennoch; ja Sie werden mich für einen zweiten Don Quichotte halten, wenn ich gestehe, daß ich sie nur einigemal flüchtig sah, mich nur noch einiger Partien ihres Gesichtes erinnern kann, und dennoch in der Welt umherstreife, um sie zu finden, weil es mir zu Hause keine Ruhe läßt.«

»Sonderbar,« bemerkte Josephe, indem sie ihn nachdenklich ansah, »sonderbar; es ist wahr, ich kann mir einen solchen Fall denken, aber dennoch machen Sie eine seltene Ausnahme, lieber Fröben; wissen Sie denn, ob Sie geliebt werden? Ob das Mädchen Ihnen treu ist?«

»Nichts weiß ich von diesem allen,« erwiderte er ernst und mit verschlossenem Gram, »ich weiß nichts, als daß ich glücklich wäre, wenn ich jenes Wesen mein nennen könnte, und weiß nur allzugut, daß ich vielleicht auf immer verzichten muß und nie ganz glücklich werde!«

Je seltener sonst der junge Mann über diese Gefühle sich aussprach, desto mächtiger kamen in diesem Augenblicke alle Schmerzen der Erinnerung an gramvolle Stunden und eine Wehmut über ihn, der er sich nicht gewachsen fühlte. Er stand schnell auf und ging aus der Laube dem Schlosse zu. Aber Josephe sah ihm mit Blicken voll unendlicher Liebe nach, Träne um Träne löste sich aus den zuckenden Wimpern, und erst als[155] sie wie ein Quell auf ihre schöne Hand herabfielen, erweckten sie Josephen aus ihren Träumen. Und beschämt, als hätte sie sich bei einer geheimen Schuld belauscht, errötete sie und preßte ihr Tuch vor diese verräterischen Augen.


20.

Die Vorhersagung des alten Mechanikus war eingetroffen, denn mit dem letzten Tage der Woche waren auch die Maschinen der Dampfmühle fertig aufgestellt. Der Baron, so unmutig er anfangs gewesen war, hatte in der Freude seines Herzens, als der erste Versuch glücklich gelungen war, den Alten und seine Gesellen reichlich beschenkt entlassen und auf Sonntag alle seine Nachbarn in der Umgegend eingeladen, um mit einem kleinen Feste seine Mühle einzuweihen. So glücklich und heiter er an diesem Tage war, so fröhlich und jovial er seine zahlreichen Gäste empfing, so entging es doch Fröbens beobachtenden Blicken nicht, daß er die arme Josephe mit hunderterlei Aufträgen und Anordnungen plagte, daß sie ihm nichts zu Dank machen konnte. Bald sollte sie in der Küche sein, um das Gesinde anzutreiben und selbst mitzuhelfen, bald besserte er dies oder jenes an ihrem Putz, bald wollte er vor Ungeduld verzweifeln, wenn sie nicht schnell genug die Treppe herabflog, um mit ihm am Portal die Ankommenden zu empfangen, bald wollte er die Tafel so oder anders gestellt haben, bald wollte er den Kaffee im Garten, bald im Salon trinken. Mit Engelsgeduld und einer Resignation, die dem Freunde unbegreiflich war, ertrug sie alle diese Unbilden. Sie war überall, sorgte für alles und wußte sogar einen Augenblick zu finden, um den Gastfreund zu fragen, warum er gerade heute so trübe sei, ihn aufzumuntern, an der allgemeinen Fröhlichkeit teilzunehmen.

Allgemein entzückte die Schönheit, die behende Aufmerksamkeit der Hausfrau; die Männer priesen den Baron glücklich, einen solchen Schatz im Hause zu haben, und mehrere der älteren Damen sagten ihm unverhohlen ihre Bewunderung über die seltenen Talente zur Wirtschaft, über die Einsicht und Ordnung einer so jungen Frau. »Siehst du,« flüsterte der Glückliche Fröben zu, »siehst du, was eine Zucht wie die meinige Wunder wirkt? Ich bin im ganzen heute recht zufrieden mit ihr, aber wenn ich nicht im geheimen überall selbst nachhülfe, wie stünde es dann um die wirtschaftliche Ehre der Hausfrau! Aber es macht sich, ich sagte es ja immer, es macht sich.« Die allgemeine[156] Fröhlichkeit und der Wein steigerten Faldner immer höher, und es war endlich hohe Zeit, die Tafel aufzuheben, denn er und einige Herren aus der Nachbarschaft erlaubten sich schon Scherze und Anspielungen, welche jedes zartere Ohr beleidigten.

Man fuhr nach der neuen Dampfmühle, man weihte sie unter Scherz und Lachen förmlich ein, man ging wieder zurück und erstaunte aufs neue über die geschmackvollen und doch so bequemen Anordnungen, welche Josephe indessen im Garten getroffen hatte. Sie hatte es gewagt, nach ihrer eigenen Erfindung schnell eine große geräumige Laube errichten zu lassen; alle möglichen Erfrischungen erwarteten dort die Gäste, und ihr allgemeines Lob bewirkte ein Wunder: der Baron wurde nicht einmal ungehalten, daß man junge Eschen und Tannen aus seinem Walde zu der Laube verwendet, daß man seinen eigenen Plan, ein Zelt aus Brettern und Teppichen aufzuschlagen, nicht befolgt hatte. Er küßte seine Frau auf die Stirne und dankte ihr für die angenehme Ueberraschung.

Man setzte sich in bunten Reihen umher. Die Männer sprachen den alten Weinen des Hausherrn fleißig zu, und bald hatte eine allgemeine Fröhlichkeit die Gesellschaft erfaßt. Man spielte witzige, geistreiche Spiele, und als die mutwillige Laune der Männer noch höher stieg, wurden sogar Pfänderspiele nicht verschmäht. So kam es, daß bei ihrer Auslösung auch Fröben sein Pfand mit einer Strafe lösen sollte, und Josephe, welcher die Bestimmung dieser Strafe aufgelegt war, befahl ihm, eine wahre Geschichte aus seinem Leben zu erzählen. Man gab ihrer Wahl allgemeinen Beifall, der Baron schlug vor Freuden über seine kluge Frau in die Hände, und als Fröben zauderte und sich besann, rief er: »Nun soll ich etwas für dich erzählen aus deinem Leben? Etwa die pikante Geschichte von dem Mädchen vom Pont des Arts

Fröben errötete und sah ihn mißbilligend an; aber die Gesellschaft, die hier vielleicht ein lustiges Geheimnis ahnete, rief: »Die Geschichte von dem Mädchen, die Geschichte vom Pont des Arts!« und vielleicht nur, um der Indiskretion seines Freundes zu entgehen, den der Wein schon etwas über die gewöhnlichen Grenzen hinausgerückt hatte, bequemte er sich zu erzählen; der Baron aber versprach der Gesellschaft, sobald der Erzähler von der genauen Wahrheit abweichen würde, wolle er Noten zu der Geschichte geben, denn er sei selbst dabei gewesen.

[157]


21.

»Ich weiß nicht,« hub Fröben an, »ob der Gesellschaft bekannt ist, daß ich vor mehreren Jahren mit unserem Faldner reiste, namentlich in Paris mit ihm einige Zeit zusammenlebte, ja ein Haus mit ihm bewohnte? Wir hatten so ziemlich gemeinschaftliche Studien, besuchten dieselben Zirkel, machten gegenseitig unsere früheren Bekannten mit dem Freunde bekannt und lebten auf diese Weise unzertrennlich. Wir hatten einen gemeinschaftlichen Freund, den ebenso liebenswürdigen als gelehrten Doktor M., einen Landsmann, der in der Rue Taranne wohnte, die bekanntlich in die Rue St. Dominique führt und auf dem linken Ufer der Seine liegt. Unser gewöhnlicher Abendspaziergang war durch die Champs elysées über die schöne Brücke ins Marsfeld und von da durch Faubourg St. Germain in die Wohnung unseres Freundes, wo wir oft noch bis tief in der Nacht vom Vaterlande, von Frankreich, von dem, was wir gesehen, von allem möglichen plauderten. Wir wohnten, um dies noch hinzuzusetzen, an der Place des Victoires, ziemlich entfernt von der Rue Taranne, und wählten zum Rückweg gewöhnlich den Pont des Arts, um das Louvre zu durchschneiden und uns einen Umweg durch die Seitenstraßen zu ersparen. Eines Abends, es mochte nach elf Uhr sein – es hatte etwas geregnet und der Wind wehte besonders in der Nähe des Flusses sehr kalt und schneidend – gingen wir auch vom Quai Malaquais über den Pont des Arts dem Louvre zu. Der Pont des Arts ist nur für Fußgänger zugänglich, und so kam es, daß um diese Zeit nicht mehr viel Leben um und auf der Brücke war. Wir gingen, die Mäntel fester um uns ziehend, stillschweigend über die Brücke; schon wollte ich die Brückenstufen auf der andern Seite hinabeilen, als ein überraschender Anblick mich festhielt.

An die Brücke gelehnt, stand eine schlanke, ziemlich hohe weibliche Gestalt. Ein schwarzes Hütchen war tief ins Gesicht geknüpft und zum Ueberfluß noch mit einem grünen Schleier versehen; ein schwarzer Mantel von Seide fiel um den Leib, und der Wind, der die Gewänder in diesem Augenblick fester anschmiegte, verriet eine ungemein zarte, jugendliche Taille; aus dem Mantel ragte eine kleine Hand hervor, die einen Teller hielt; vor ihr aber stand ein kleines Laternchen, dessen Licht unruhig flackerte, sein Schein fiel auf einen zierlichen Fuß. Es[158] wohnt vielleicht nirgends so sehr als in jener Stadt das tiefste Elend neben dem höchsten Glanz und Wohlleben, aber dennoch sieht man verhältnismäßig wenige Bettler. Sie drängen sich selten unverschämt herzu, und nie wird man sehen, daß sie dem Fremden nachlaufen, ihn mit Bitten verfolgen. Alte Männer oder Blinde sitzen oder knien an den Ecken der Straßen, den Hut ruhig vor sich hinhaltend, und überlassen es dem Vorübergehenden, ob er ihren bittenden Blick beachten will.

Am schauerlichsten, wenigstens für mein Gefühl, waren immer jene verschämten Bettler, die nachts mit verhülltem Haupt eine brennende Kerze vor sich, regungslos, fast schon wie erstorben in einer Ecke stehen; viele meiner Bekannten in Paris hatten mir versichert, daß man darauf rechnen könne, daß dies meistens Leute aus besseren Ständen seien, die durch Unglück so tief herabgekommen sind, daß sie entweder Arbeit suchen müssen, oder sind sie zu verschämt, vielleicht zu schwach, um für Brot zu arbeiten, so ergreifen sie diesen letzten Ausweg, ehe sie, wie so viele Unglückliche, ihr Leben in der Seine der Vergessenheit übergeben.

Von dieser Klasse der Bettelnden war die weibliche Gestalt an dem Pont des Arts, deren Anblick mich unwiderstehlich fesselte. Ich sah sie näher an; ihre Glieder schienen vor Frost noch heftiger zu zittern als das Flämmchen in der Laterne, aber sie schwieg und ließ ihr Elend und den kalten Nachtwind für sich reden. Ich suchte in der Tasche nach kleinem Gelde, aber es wollte sich kein Sou, sogar kein einzelner Frank finden. Ich wandte mich an Faldner und bat ihn um Münze; aber unmutig, durch mein Zögern der schneidenden Kälte ausgesetzt zu sein, rief er mir in unserer Sprache zu: ›So laß doch das Bettelvolk und spute dich, daß wir zu Bette kommen, mich friert!‹ – ›Nur ein paar Sous, Bester!‹ bat ich; aber er packte mich am Mantel und wollte mich wegziehen.

Da rief die Verhüllte mit zitternder, aber wohltönender Stimme und zu unserer Verwunderung auf gut deutsch: ›O meine Herren! sein Sie barmherzig!‹ Diese Stimme, diese Worte und unsere Sprache hatten etwas so Rührendes für mich, daß ich nochmals um einige Münze bat. Er lachte: ›Nun wohlan, da hast du ein paar Franken,‹ sagte er, ›versuche dein Heil mit der Jungfer, aber laß mich aus dem Zug treten.‹ Er drückte mir das Geld in die Hand und ging lachend weiter. Ich war in diesem Augenblick wirklich verlegen, was ich tun sollte; sie mußte ja gehört haben, was Faldner sagte, und beleidigen[159] mag ich am wenigsten einen Unglücklichen. Ich trat unschlüssig näher. ›Mein Kind,‹ sagte ich, ›Sie haben hier einen schlechten Standpunkt gewählt, hier werden heute abend nicht mehr viele Menschen vorübergehen.‹ Sie antwortete nicht gleich. ›Wenn nur,‹ flüsterte sie nach einer Weile kaum hörbar, ›diese wenigen Gefühl für Unglück haben!‹ Diese Antwort überraschte mich, sie war so ungesucht und doch so treffend. Die edle Haltung des Mädchens, der Ton, womit sie jene Worte gesagt, verrieten Bildung. ›Wir sind Landsleute,‹ fuhr ich fort, ›darf ich Sie nicht bitten, daß Sie mir sagen, ob ich vielleicht mehr für Sie tun kann, als so im Vorübergehen zu geschehen pflegt?‹ – ›Wir sind sehr arm,‹ antwortete sie, wie mir schien, etwas mutiger, ›und meine Mutter ist krank und ohne Hilfe.‹ Ohne weitere Ueberlegung, nur von dem unbestimmten Gefühl, daß mich das Mädchen sehr anzog, getrieben, sagte ich: ›Führen Sie mich zu ihr!‹ Sie schwieg, der Vorschlag schien sie zu überraschen. ›Halten Sie dieses für nichts anders,‹ fuhr ich fort, ›als für meinen redlichen Willen, Ihnen zu helfen, wenn ich kann.‹ – ›So kommen Sie,‹ erwiderte die Verschleierte, hob ihr Laternchen auf, löschte es aus und verbarg es samt dem Teller unter dem Mantel.« –


22.

»Wie?« rief der Baron laut lachend, als Fröben schwieg, »weiter willst du nicht erzählen? Willst es auch heute wieder machen, wie du es mir schon damals machtest? Nämlich bis hierher, meine Herren und Damen, hat er ganz nach reiner historischer Wahrheit erzählt. Er glaubte mich vielleicht weit weg, und ich stand keine zehn Schritte von der erbaulichen Samariterszene unter dem Portal des Palais und sah ihm zu; ob der Dialog wirklich so vor sich gegangen, weiß ich nicht, denn der schändliche Wind verwehte die Worte, aber ich sah, wie die Dame ihr Lämpchen auslöschte, und mit ihm zurück über die Brücke ging. Die Nacht war mir zu kalt, um ihm bei seinem galanten Abenteuer zu folgen, aber am Ende, ich wollte wetten, sah er weder eine kranke Mama noch dergleichen, sondern die Dame vom Pont des Arts hatte das alte Sirenenlied nur auf andere Weise gesungen.«

Er belachte seinen eigenen Witz, und die Männer stimmten ein in das rohe Gelächter, die Damen aber sahen vor sich nieder, und Josephe schien mit den Worten ihres Gatten so unzufrieden als mit der sonderbaren Erzählung ihres Freundes, denn bleich[160] wie der Tod hielt sie ihre Tasse in den Händen, daß sie klirrte, und sandte dem jungen Mann nur einen Blick zu, für den er in diesem Augenblick keine andere als eine tief beschämende Deutung wußte. »Ich glaube zwar,« sprach er, mit starker Stimme das Gelächter der Männer unterbrechend, »mein Pfand gelöst zu haben, aber mein eigener Vorteil will, daß ich eine Deutung dieses Vorfalls nicht zulasse, die mein Freund ihm unterzulegen scheint; Sie erlauben mir daher, daß ich fortfahre, und bei meinem Leben,« setzte er hinzu, indem er errötete und sein Auge höher leuchtete, »ich will Ihnen die reine Wahrheit sagen.

Das Mädchen bog über die Brücke ein, woher ich gekommen war. Während ich schweigend mehr hinter als neben ihr ging, hatte ich Zeit, sie zu betrachten. Ihre Gestalt, so weit sie der Mantel sehen ließ, ihre ganze Haltung, besonders aber ihre Stimme war sehr jugendlich. Ihr Gang schnell, aber leicht und schwebend. Sie hatte meinen Arm abgelehnt, als ich ihn zur Führung angeboten. Am Ende der Brücke bog sie nach der Rue Mazarin ein. ›Ist Ihre Mutter schon lange krank?‹ fragte ich, indem ich wieder an ihre Seite trat und versuchte, durch den Schleier etwas von ihren Zügen zu erspähen. ›Seit zwei Jahren,‹ antwortete sie seufzend, ›aber seit acht Tagen ist sie recht elend geworden.‹ – ›Waren Sie schon öfter an jenem Ort?‹ – ›Wo?‹ fragte sie. – ›Auf der Brücke.‹ – ›Diesen Abend zum erstenmal,‹ erwiderte sie. – ›Dann haben Sie sich keinen guten Platz gesucht, andere Passagen sind frequenter.‹ Doch schon, indem ich dies sagte, bereute ich, es gesagt zu haben, denn es mußte sie ja verletzen. Mit unterdrücktem Weinen flüsterte sie: ›Ach, ich bin ja hier so unbekannt und – ich schämte mich, so ins Gedränge zu gehen.‹

Wie grenzenlos mußte das Elend sein, das dieses Geschöpf zwang, zu betteln. Zwar wollten auch mir, ich gestehe es, einigemal solche Gedanken kommen, wie sie Faldner hatte, aber immer verschwanden sie wieder, weil sie widersinnig, unnatürlich waren; wenn sie zu jener verworfenen Klasse von Mädchen gehörte, warum sollte sie sich verhüllt an einen einsamen Ort stellen? Warum geflissentlich eine Gestalt verbergen, die, soviel die Umrisse flüchtig zeigten, gewiß zu den schöneren zu zählen war? Nein, es war gewiß wirkliches Elend und jene zarte Verschämtheit vor unverschuldeter Armut da, die das Unglück so unbeschreiblich rührend macht.

[161]

›Hat Ihre Mutter einen Arzt?‹ fragte ich wieder nach einiger Weile. ›Sie hatte einen; aber als wir keine Arznei mehr kaufen konnten, wollte er sie ins Spital des Incurables bringen lassen, und – das konnte ich nicht ertragen. Ach Gott, meine arme Mutter ins Spital!‹ Wieviel tiefer Schmerz lag in den letzten Worten dieses Mädchens!

Sie weinte, sie führte ihr Tuch unter dem Schleier ans Auge, und Laterne und Teller, die sie in der andern Hand trug, verhinderten sie, den Mantel zusammenzuhalten; der Wind wehte ihn weit auseinander und ich sah, daß ich mich nicht betrogen hatte; sie war von feiner schlanker Taille, sie trug ein einfaches, soviel mein flüchtiger Blick bemerkte, sehr reinliches Kleid. Sie haschte nach dem Mantel, und indem ich ihr behilflich war, ihn wieder umzulegen, fühlte ich ihre weiche, zarte Hand.

Wir waren schon durch die Straßen Mazarin, St. Germain, Ecole de Médecine und von dort durch einige kleine Seitenstraßen gegangen, als sie auf einmal stehen blieb und klagte, sie habe den Weg verfehlt. Ich fragte sie, in welcher Gegend sie wohne, und sie gab St. Severin an. Ich war in Verlegenheit, denn diese Straße wußte ich selbst nicht zu finden. Machte es Angst oder Kälte, ich sah sie heftiger zittern. Ich sah mich um; ich bemerkte noch Licht in einem Souterrain, wo Branntwein verkauft wurde, ich bat sie, zu warten, stieg hinab und erkundigte mich. Man wies mich zurecht, und ich glaubte mich hinfinden zu können. Als ich heraufkam, hörte ich in der Nähe laut reden; ich sah beim schwachen Schein einer Laterne, wie sich das Mädchen heftig gegen zwei Männer wehrte, von denen der eine ihre Hand, der andere den Mantel gefaßt hatte; sie lachten, sie sprachen ihr zu; ich ahnete, was vorging, sprang herzu und riß dem einen die Hand weg, die er gefaßt hatte; sprachlos, weinend klammerte sie sich fest an meinen Arm.

›Meine Herren,‹ sagte ich, ›ihr sehet, ihr seid hier im Irrtum, ihr werdet im Augenblick den Mantel von Mademoiselle loslassen!‹

›Ach, Verzeihung, mein Herr!‹ erwiderte der, welcher ihren Mantel gefaßt hatte. ›Ich sehe, Sie haben ältere Rechte auf Mademoiselle!‹ Und lachend zogen sie weiter.

Wir gingen weiter, das arme Kind zitterte heftig, sie hielt noch immer meinen Arm fest, sie war nahe daran, niederzusinken.

›Nur Mut!‹ sagte ich zu ihr, ›St. Severin ist nicht mehr ferne, Sie werden bald zu Hause sein.‹ Sie antwortete nicht,[162] sie weinte noch immer. Als wir in der Straße waren, die nach der Beschreibung St. Severin sein mußte, blieb sie wieder stehen. ›Nein, Sie dürfen nicht weiter mit mir gehen, mein Herr!‹ sagte sie. ›Es darf nicht sein.‹ – ›Aber warum denn nicht, da Sie mich so weit mitgenommen haben; ich bitte, trauen Sie mir keine schlechten Absichten zu!‹ Ich hatte bei diesen Worten, ohne es zu wissen, ihre Hand ergriffen und vielleicht gedrückt; sie entzog sie mir hastig und sagte: ›Vergeben Sie, daß ich die Unschicklichkeit beging, Sie so weit mitzuführen; bitte, verlassen Sie mich jetzt!‹ Ich fühlte, daß der Auftritt vorhin sie tief verletzt hatte, daß er ihr vielleicht gegen mich selbst Mißtrauen einflößte, und eben dies rührte mich unbeschreiblich; ich nahm das Silber, das mir Faldner gegeben, und wollte es ihr hinreichen; aber der Gedanke, wie wenig diese kleine Gabe ihr helfen könne, zog meine Hand zurück, und ich gab ihr das wenige Gold, das ich bei mir trug.

Ihre Hand zuckte, als sie es nahm; sie schien es für Silber zu halten, dankte mir aber mit zitternder, rührender Stimme und wollte gehen.

›Noch ein Wort,‹ sagte ich und hielt sie auf; ›ich hoffe, Ihre Mutter wird gesund werden, aber es könnte ihr doch noch an etwas gebrechen, und Sie, mein Kind, sind nicht für solche Abendgänge, wie der heutige, gemacht. Wollen Sie nicht heute über acht Tage um dieselbe Zeit vor der Ecole de Médecine sein, daß ich mich nach Ihrer Mutter erkundigen kann?‹ Sie schien unschlüssig, endlich sagte sie: ›Ja.‹ – ›Und setzen Sie doch den Hut mit dem grünen Schleier wieder auf, daß ich Sie erkenne,‹ fügte ich hinzu; sie bejahte es, dankte noch einmal, ging eilend die Straße hin und war schnell in der Nacht verschwunden.


23.

Als ich am Morgen nach dieser Begebenheit erwachte, schien es mir, als hätte mir von diesem allen nur geträumt. Aber Faldner, der bald herbeikam und mich nach seiner zarten Manier zu schrauben anfing, riß mich aus meinem Zweifel. Die Sache schien mir, so recht deutlich am Morgenlicht betrachtet, doch allzu fabelhaft, als daß ich sie dem ungläubigen Freund hätte erzählen mögen. Man ist in neuerer Zeit zu jenem Grad der Sittenverfeinerung gekommen, die schon ins Gebiet der Unsittlichkeit hinüberstreift; man will in manchen Fällen lieber wild, etwas liederlich und schlecht erscheinen, man gibt lieber eine Zweideutigkeit[163] zu, nur um nicht als ein Tor, als ein Sonderling, als ein Mensch von schwachem Verstand und beschränkten Lebensansichten zu gelten.

Im Innern kränkte mich aber noch mehr als Faldners Schraubereien eine Unruhe, ein Etwas, was ich nicht zu deuten wußte. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich nicht einmal ihr Gesicht gesehen hatte. ›Wozu,‹ sagte ich mir, ›wozu diese übertriebene Diskretion? Wenn ich ein paar Napoleons hingebe, so kann ich doch um die Gunst bitten, den Schleier etwas zu lüften?‹ Und doch, wenn ich mir das ganze Betragen des Mädchens, das, so einfach es war, doch von Gemeinheit auch nicht im geringsten etwas an sich hatte, zurückrief, wenn ich bedachte, wie mich ihre edle Haltung, der gebildete Ton ihrer Antworten anzog, so mußte ich mich, halb zu meinem Aerger, rechtfertigen. Es liegt etwas in der menschlichen Stimme, das uns, ehe wir Züge und Auge, ehe wir den Stand der Sprechenden kennen, den Ton angibt, in welchem wir mit ihm sprechen müssen. Wie unendlich, nicht sowohl in der Form als im Klang der Sprache, unterscheidet sich der Gebildete vom Ungebildeten, und des Mädchens Töne waren so weich und zart, ihre kurzen Antworten oft so aus der tiefsten Seele gesprochen. Den ganzen Tag konnte ich diese Gedanken nicht los werden, sogar abends, in eine glänzende Gesellschaft von Damen begleitete mich das arme Mädchen mit dem schwarzen Hütchen, dem grünen Schleier und dem unscheinbaren Mantel.

In den nächsten Tagen ärgerte ich mich über meine Torheit, welche schuld war, daß ich das Mädchen erst nach acht Tagen wiedersehen konnte: ich zählte die Stunden ab bis zu dem nächsten Freitag, und es war, als hätte jene Hauptstadt der Welt, wie sie ihre Bewohner nennen, nichts Reizendes mehr in sich als die Bettlerin vom Pont des Arts. Endlich, endlich erschien der Freitag. Ich brauchte alle mögliche List, um mich auf diesen Abend von Faldner und den übrigen Freunden los zu machen, und trat, als es dunkel wurde, meinen Weg an. Ich hatte über eine Stunde zu gehen, und Zeit genug, über meinen Gang nachzudenken. ›Heute‹, sagte ich zu mir, ›heute, wirst du ins reine kommen, was du von dieser Person zu denken hast; du wirst ihr anbieten, mit ihr zu gehen, nimmt sie es an, so hast du dich schon das erste Mal betrogen. Auch das Gesicht muß sie heute zeigen.‹

Ich war so eilends gegangen, daß es noch nicht einmal zehn Uhr war, als ich auf der Place de l'Ecole de Médecine[164] anlangte, und – auf elf Uhr hatte ich sie ja erst bestimmt. Ich trat noch in ein Café, durchblätterte gedankenlos eine Schar von Zeitungen –; endlich schlug es elf Uhr.

Auf dem Platz waren wenige Menschen, und so weit ich mein Auge anstrengte, kein grüner Schleier zu sehen. Ich hielt mich immer auf der Seite der Arzneischule, weil dort mehrere Laternen brannten. Die Momente solchen Erwartens sind peinlich. ›Wenn sie an deinem Golde genug hätte und gar nicht käme? Wenn sie deine Gutherzigkeit verlachte?‹ dachte ich, als ich den Platz wohl schon zehnmal auf und ab gegangen war. Es schlug halb zwölf, schon fing ich an, über meine eigene Torheit zu murren, da wehte im Schein einer Laterne etwa dreißig Schritte von mir etwas Grünes; mein Herz pochte ungestümer, ich eilte hin – sie war es. ›Guten Abend,‹ sagte ich, indem ich ihr die Hand bot, ›schön, daß Sie doch Wort halten; schon glaubte ich, Sie würden nicht mehr kommen.‹ Sie verbeugte sich, ohne meine Hand zu fassen, und ging an meiner Seite hin; sie schien sehr gerührt: ›Mein Herr, mein edler Landsmann,‹ sprach sie mit bewegter Stimme, ›ich muß ja Wort halten, um Ihnen zu danken. Ich komme heute gewiß nicht, um Ihre Güte aufs neue in Anspruch zu nehmen. Ach, wie reich, wie freigebig haben Sie uns beschenkt! Kann Sie der innige Dank einer Tochter, können die Gebete und Segenswünsche meiner kranken Mutter Sie entschädigen?‹

›Sprechen wir nicht davon,‹ erwiderte ich. ›Wie geht es Ihrer Mutter?‹ – ›Ich glaube wieder Hoffnung schöpfen zu dürfen,‹ antwortete sie, ›der Arzt spricht zwar nichts Bestimmtes aus, aber sie selbst fühlt sich kräftiger. O, wie danke ich Ihnen! Von Ihrem Geschenk konnte ich ihr wieder kräftige Speisen bereiten, und glauben Sie mir, der Gedanke, daß es noch so gute Menschen gibt, hat sie beinahe ebensosehr gestärkt.‹

›Was sagte Ihre Mutter, als Sie zu Hause kamen?‹ – ›Sie war sehr in Sorgen um mich, weil es schon so spät war,‹ erwiderte sie, ›ach, sie hatte so ungern mir die Erlaubnis zu diesem Gang gegeben und malte sich jetzt irgend ein Unglück vor, das mir begegnet sei. Ich erzählte ihr alles, aber als ich mein Tuch öffnete, und die Gaben, die ich gesammelt hatte, hervorzog und Gold dabei war, Gold unter den Kupfer- und Silberstücken, da erstaunte sie, und –‹ Sie stockte und schien nicht weiter reden zu können; ich dachte mir, die Mutter habe sie arger Dinge beschuldigt, und forschte weiter, aber mit rührender Offenheit[165] gestand sie: die Mutter habe gesagt, der großmütige Landsmann müsse entweder ein Engel oder ein Prinz gewesen sein.

›Weder das eine noch das andere,‹ sagte ich ihr. ›Aber wie weit haben Sie ausgereicht? Haben Sie noch Geld?‹

›O wir haben noch,‹ erwiderte sie mutig, wie es scheinen sollte, aber mir entging nicht, daß sie vielleicht unwillkürlich dabei seufzte.

›Und was haben Sie noch?‹ sagte ich etwas bestimmter und dringender.

›Wir haben eine Rechnung in der Apotheke davon bezahlt und einen Monat am Hauszins, und der Mutter habe ich davon gekocht, es ist aber immer noch übrig geblieben.‹

›Wie ärmlich mußten Sie wohnen, wenn Sie von diesem Gelde eine Apothekerrechnung, einen Monat Hauszins bezahlen und acht Tage lang kochen konnten? Ich will aber genau wissen,‹ fuhr ich fort, ›was und wieviel Sie noch haben.‹

›Mein Herr!‹ sagte sie, indem sie beleidigt einen Schritt zurücktrat.

›Mein gutes Kind, das verstehen Sie nicht,‹ erwiderte ich, indem ich ihr näher trat; ›oder Sie wollen es sich aus übertriebenem Zartgefühl nicht gestehen; ich frage Sie ernstlich: wenn Sie mit den paar Franken zu Rande sind, haben Sie Hilfe zu erwarten?‹

›Nein!‹ sagte sie schüchtern und weich; ›keine!‹

›Denken Sie an Ihre Mutter und verschmähen Sie meine Hilfe nicht!‹ Ich hatte ihr bei diesen Worten meine Hand geboten; sie ergriff sie hastig, drückte sie an ihr Herz und pries meine Güte.

›Nun wohlan, so kommen Sie,‹ fuhr ich fort, indem ich ihren Arm in den meinigen legte; ›ich kam leider nicht gerade von Hause, als ich mich hierher begab, und hatte mich nicht versehen; Sie werden daher die Güte haben, mich einige Straßen zu begleiten bis in meine Wohnung, daß ich Ihnen für die Mutter etwas mitgebe.‹ Sie ließ sich schweigend weiterführen, und so angenehm mir der Gedanke war, sie noch ferner unterstützen zu können, so war doch mein Gefühl beinahe beleidigt, als sie so ganz ohne Sträuben mitging; nachts in die Wohnung eines Mannes; aber wie ganz anders kam es, als ich dachte. Wir mochten wohl etwa zwei- oder dreihundert Schritte fortgegangen sein, da stand sie stille und entzog mir ihren Arm.[166] ›Nein, es kann, es darf nicht sein,‹ rief sie, in Tränen ausbrechend. ›Was betrübt Sie auf einmal?‹ fragte ich verwundert, ›was darf nicht sein?‹

›Nein, ich gehe nicht mit, ich darf nicht mit Ihnen gehen.‹

›Aber mein Gott,‹ erwiderte ich, indem ich mich etwas aufgebracht stellte. ›Sie haben doch wahrhaftig sehr wenig Vertrauen zu mir; wenn nicht Ihre Mutter wäre, gewiß ich ginge jetzt von Ihnen, denn Sie kränken mich.‹

Sie nahm meine Hand, sie drückte sie bewegt. ›Habe ich Sie denn beleidigt?‹ rief sie. ›O, Gott weiß, das wollte ich nicht; verzeihen Sie einem armen unerfahrenen Mädchen; Sie sind so großmütig, und ich sollte Sie beleidigen?‹

›Nun denn, so komm,‹ sagte ich, indem ich sie weiterzog, ›es ist keine Zeit zu verlieren, es ist spät, und der Weg ist weit.‹ Aber sie blieb stehen, weinte und flüsterte: ›Nein, um keinen Preis gehe ich weiter.‹

›Aber vor wem fürchten Sie sich denn? Es kennt Sie ja kein Mensch, es sieht Sie ja keine Seele; Sie können getrost mit mir kommen.‹

›Ich bitte Sie um Gottes willen, lassen Sie mich! Nein, nein, es darf nicht sein, dringen Sie nicht weiter in mich!‹ Sie zitterte; ich fühlte wohl, wenn ich ihr die Not der Mutter noch einmal recht dringend vorstellte, so ging sie mit, aber die Angst des Mädchens rührte mich tief.

›Gut, so bleiben Sie hier,‹ sprach ich. ›Aber sagen Sie mir, können Sie vielleicht arbeiten?‹

›O ja, mein Herr,‹ erwiderte sie, ihre Tränen trocknend.

›Könnten Sie vielleicht meine feinere Wäsche besorgen?‹

›Nein,‹ antwortete sie sehr bestimmt. ›Dazu sind wir nicht eingerichtet.‹

›Hier ist ein weißes Tuch,‹ fuhr ich fort. ›Können Sie mir vielleicht ein halb Dutzend besorgen und fertig machen?‹

Sie besah das Tuch und sagte: ›Mit Vergnügen, und recht fein will ich es nähen!‹ Zu meiner eigenen Beschämung mußte ich jetzt dennoch Geld hervorziehen, obgleich ich es vorhin verleugnet hatte.

›Kaufen Sie sechs solcher Tücher,‹ fuhr ich fort, ›und können Sie wohl drei davon bis Sonntagabend fertig machen?‹ Sie versprach es; ich gab ihr noch etwas für die Mutter, und sagte ihr, daß ich heute darauf nicht eingerichtet sei, aber Sonntag mehr tun könne. Sie dankte innig; es schien sie zu freuen, daß ich ihr Arbeit gegeben, denn noch einmal plauderte sie davon,[167] wie schön sie die Tücher machen wolle, ja wenn ich nicht irre, so fragte sie mich sogar, ob sie nicht einen englischen Saum einnähen dürfe? Ich sagte ihr alles zu, aber als sie nun Abschied nehmen wollte, hielt ich sie noch fest. ›Eines müssen Sie mir übrigens noch zu Gefallen tun,‹ sprach ich, ›Sie können es gewiß und leicht.‹

›Und was?‹ fragte sie. ›Wie gern will ich alles für Sie tun.‹

›Lassen Sie mich diesen neidischen Schleier aufheben und Ihr Gesicht sehen, daß ich doch eine Erinnerung an diesen Abend habe.‹

Sie wich mir aus und hielt ihren Schleier fester.

›Bitte, lassen Sie das,‹ erwiderte sie und schien ein wenig mit sich selbst zu kämpfen; ›Sie haben ja die schöne Erinnerung an Ihre Wohltaten; die Mutter hat mir streng verboten, den Schleier zu lüften, und ich versichere Ihnen,‹ setzte sie hinzu, ›ich bin häßlich wie die Nacht, Sie würden nur erschrecken!‹

Aber dieser Widerstand reizte mich nur noch mehr; ein wirklich häßliches Mädchen, dachte ich, spricht nicht so von ihrer Häßlichkeit, ich wollte den Schleier fassen, aber wie ein Aal war sie entwischt: ›Dimanche à revoir!‹ rief sie und eilte davon. Erstaunt blickte ich ihr nach, etwa fünfzig Schritte von mir blieb sie stehen, winkte mir mit meinem weißen Tuch und rief mit ihrer silberhellen Stimme: ›Gute Nacht!‹


24.

In den nächsten Tagen beschäftigte mich der Gedanke, welchem Stande das Mädchen wohl angehören könnte. Je lebhafter ich mir ihre gebildete Sprache, ihren zarten Sinn zurückrief, desto höher steigerte ich sie in meinen Gedanken. Darüber wenigstens mußte sie mir Gewißheit geben, nahm ich mir vor, und beschloß, mich nicht wieder so abspeisen zu lassen wie mit dem Schleier. Der Sonntag kam; du wirst dich noch jenes Nachmittags erinnern, Faldner, wo wir mit den Freunden in Montmorency im Garten des großen Dichters saßen. Ihr wolltet spät in der Nacht zu Hause fahren, und ich trieb immer zu einer frühen Rückfahrt, und als ihr dennoch bliebet, da machte ich mich trotz eures Scheltens davon. Freilich glaubtest du damals nicht, was ich vorgab, ich könnte die Nachtluft nicht vertragen, aber daß ich zu einem Rendezvous mit der Bettlerin vom Pont des Arts eile, konntest du auch nicht denken? Sie war diesmal[168] die erste auf dem Platz, und weil sie mir die Tücher zu bringen hatte, war sie schon bange geworden, ich könnte sie verfehlt haben und glauben, sie werde nicht Wort halten. Mit beinahe kindischer Freude und, wie es mir schien, noch größerem Zutrauen als früher plauderte sie, indem sie mir beim Schein einer Straßenlaterne die Tücher zeigte.

Sie schien es gern zu hören, daß ich ihre feine Arbeit lobte. ›Sehen Sie, auch Ihren Namen habe ich herein gezeichnet,‹ sagte sie, indem sie das zierliche E. v. F. in der Ecke vorwies. Dann wollte sie mir eine Menge Silbergeld als Ueberschuß zurückgeben, und nur meine bestimmte Erklärung, daß sie mich dadurch beleidige, konnte sie bewegen, es als Arbeitslohn anzunehmen.

Ich bestellte aufs neue wieder Arbeit, weil ich sah, daß dem zarten Sinn des Mädchens ein solcher Weg meiner Gaben mehr zusagte, und diesmal waren es Jabots und Manschetten, die ich bestellte. Ihre Mutter war nicht kränker geworden, konnte aber das Bett noch nicht verlassen; doch schon dieser Mittelzustand erschien ihr tröstlich. Als die Mutter abgehandelt war, wagte ich es, sie geradehin zu fragen, wie denn eigentlich ihre Verhältnisse seien.

Die Geschichte, die sie mir in wenigen Worten preisgab, ist in Frankreich so alltäglich, daß sie beinahe jedem Armen zum Aushängeschild dienen muß. Ihr Vater war Offizier in der großen Armee gewesen, war nach der ersten Restauration der Bourbons auf halben Sold gesetzt worden, hatte nachher während der hundert Tage wieder Partei ergriffen und war bei Mont St. Jean mit den Garden gefallen; seine Witwe verlor die Pension und lebte von da an ärmlich und elend. In den zwei letzten Jahren fristeten sie ihr Leben meist vom Verkauf ihrer geringen Habe, und waren jetzt eben an jenen äußersten Grad des Elends gekommen, wo dem Armen nichts übrig bleibt, als aus der Welt zu gehen.

Ich fragte das Mädchen, ob sie nicht ihr Verhältnis hätte bessern können, wenn sie etwa ihre Mutter auf andere Weise zu unterstützen gesucht hätte.

›Sie meinen, wenn ich einen Dienst genommen hätte?‹ erwiderte sie ohne alle Empfindlichkeit. ›Sehen Sie, das war nicht möglich. Vor der Krankheit der Mutter war ich viel zu jung, kaum vierzehn Jahre vorüber, und dann wurde sie auf einmal so elend, daß sie das Bett nicht verlassen konnte; da brauchte sie also immer jemand um sich, und konnte ich denn[169] ihre Pflege einer Fremden überlassen? Ja, wenn sie gesund geblieben wäre, da hätte ich mit Freuden alle unsere früheren Verhältnisse verleugnet, wäre etwa in einen Putzladen gegangen oder als Gouvernante in ein anständiges Haus, denn ich habe manches gelernt, mein Herr! Aber so ging es ja nicht!‹

Auch diesmal bat ich vergeblich, den Schleier zu lüften. Die Andeutungen, die sie über ihr Alter gegeben, reizten mich, ich gestehe es, nur noch mehr, das Gesicht dieses Mädchens zu sehen, die wenig über sechzehn Jahre haben konnte; aber sie bat mich so dringend, davon abzulassen, ihre Mutter habe ihr so triftige Gründe angegeben, daß es nimmer geschehen könne.

Wir trafen uns von da an alle drei Tage. Ich hatte immer einige kleine Arbeiten für sie, und pünktlich war sie damit fertig. Je fester ich in dem Betragen blieb, das ich einmal gegen sie angenommen, je strenger ich mich immer in den Grenzen des Anstandes hielt, desto zutraulicher und offener wurde das gute Mädchen. Sie gestand mir sogar, daß sie zu Hause die drei Tage über immer an den nächsten Abend denke. Und ging es mir denn anders? Tag und Nacht beschäftigte ich mich mit diesem sonderbaren Wesen, das mir durch seinen gebildeten Geist, durch sein liebenswürdiges Zartgefühl, durch sein eigentümliches Verhältnis zu mir immer interessanter wurde.

Der Frühling war indessen völlig heraufgekommen, und die Zeit war da, die ich mit Faldner schon längst zu einer Reise nach England festgesetzt hatte. Mancher hält es vielleicht für töricht, was ich ausspreche, aber wahr ist es, daß ich an diese Reise nur mit Widerwillen dachte; Paris an sich hatte nichts Interessantes mehr für mich; aber jenes Mädchen hatte alle meine Sinne so gefangen genommen, daß ich einer längeren Trennung nur mit Wehmut entgegensah. Ausweichen konnte ich nicht, ohne mich lächerlich zu machen, denn es war sonst kein bündiger Grund vorhanden, die Reise aufzuschieben; ich schämte mich sogar vor mir selbst und stellte mir die ganze Torheit meines Treibens vor; ich beschloß die Abreise, aber gewiß hat sich wohl keiner je so wenig auf England gefreut als ich.


25.

Acht Tage zuvor sagte ich es dem Mädchen; sie erschrak, sie weinte. Ich bat sie, ihre Mutter zu fragen, ob ich sie nicht besuchen dürfe, sie sagte es zu. Das nächste Mal aber brachte sie mir sehr betrübt die Antwort, daß mich ihre Mutter bitten[170] lasse, diesen Besuch aufzugeben, der für ihren Gemütszustand allzu angreifend sein würde. Ich hatte jenen Besuch eigentlich nur darum nachgesucht, um mein Mädchen bei Tag und ohne Schleier zu sehen; ich verlangte dies also aufs neue wieder; aber sie bat mich, am Abend vor meiner Abreise noch einmal zu kommen, sie wolle ihre Mutter so lange bestürmen, bis sie die Erlaubnis erhalte, den Schleier aufzuheben. Unvergeßlich wird mir immer dieser Abend sein. Sie kam, und meine erste Frage war, ob die Mutter es erlaubt habe; sie sagte ja und hob von selbst den Schleier auf. Der Mond schien helle, und zitternd, begierig blickte ich unter den Hut. Aber die Erlaubnis schien nur teilweise gegeben zu sein, denn meine Schöne trug sogenannte Venezianeraugen, die den oberen Teil ihres Gesichtes verhüllten. Doch wie schön, wie reizend waren die Partien, welche frei waren! Eine feine, zierliche Nase, schöngeformte, blühende Wangen, ein kleiner, lieblicher Mund, ein Kinn wie aus Wachs geformt, und ein schlanker, blendend weißer Hals. Ueber die Augen konnte ich nicht recht ins reine kommen, aber sie schienen mir dunkel und feurig.

Sie errötete, als ich sie lange, entzückt betrachtete. ›Werden Sie mir nicht böse,‹ flüsterte sie, ›daß ich diese Halbmaske vornahm; die Mutter wollte es von Anfang ganz abschlagen, nachher gestattete sie es nur unter dieser Bedingung; ich war selbst recht ärgerlich darüber, aber sie sagte mir einige Gründe, die mir einleuchteten.‹

›Und was sind das für Gründe?‹ fragte ich.

›Ach mein Herr,‹ erwiderte sie wehmütig. ›Sie werden ewig in unserem Herzen leben, aber Sie selbst sollen uns ganz vergessen; Sie sollen mich nie, nie wiedersehen, oder wenn Sie mich auch sehen, nicht erkennen.‹

›Und meinen Sie denn, ich werde Ihre schönen Züge nicht wiedererkennen, wenn ich auch Ihre Augen, Ihre Stirne nicht sehen darf?‹

›Die Mutter meint,‹ antwortete sie, ›das sei nicht wohl möglich; denn wenn man ein Gesicht nur zur Hälfte gesehen, sei das Wiedererkennen schwer.‹

›Und warum soll ich dich denn nicht wiedersehen, nicht wiedererkennen?‹

Sie weinte bei dieser Frage, sie drückte meine Hand und sagte: ›Es darf ja nicht sein! Was kann Ihnen denn daran liegen, ein unglückliches Mädchen wiederzuerkennen; und – nein, die Mutter hat recht; es ist besser so.[171]

Ich sagte ihr, daß meine Reise nicht lange dauern werde; daß ich vielleicht schon nach zwei Monaten wieder in Paris sein könne, daß ich sie wiederzusehen hoffe. Sie weinte heftiger und verneinte es. Ich drang in sie, mir zu sagen, warum sie glaube, ich werde sie nicht mehr sehen.

›Mir ahnt,‹ erwiderte sie, ›ich sehe Sie heute zum letztenmal; ich glaube, meine Mutter wird nicht lange mehr leben, der Arzt sagte es mir gestern, und dann ist ja alles vorbei! Und wenn sie auch länger lebt, in London werden Sie ein so armes Geschöpf, wie ich bin, lange vergessen.‹

Ihr Schmerz machte mich unendlich weich; ich sprach ihr Mut ein; ich gelobte ihr, sie gewiß nicht zu vergessen; ich nahm ihr das Versprechen ab, immer den Ersten und Fünfzehnten eines jeden Monats auf diesen Platz zu kommen, damit ich sie wiederfinden könnte, sie sagte es unter Tränen lächelnd zu, als ob sie wenig Hoffnung hätte. ›Nun so lebe wohl auf Wiedersehen,‹ sagte ich, indem ich sie in meine Arme schloß und einen kleinen einfachen Ring an ihre Hand steckte, ›lebe wohl und denke an mich und vergiß nicht den Ersten und Fünfzehnten!‹

›Wie könnte ich Sie vergessen!‹ rief sie, indem sie weinend zu mir aufblickte. ›Aber ich werde Sie nimmer wiedersehen; Sie nehmen Abschied auf immer.‹

Ich konnte mich nicht enthalten, ihren schönen Mund zu küssen; sie errötete, ließ es aber geduldig geschehen; ich steckte ihr einen Tresorschein in die kleine Hand, sie sah mich noch einmal recht aufmerksam an und drückte sich heftiger an mich. ›Auf Wiedersehen!‹ sprach ich, indem sie sich sanft aus meinen Armen wand. Der letzte Moment des Abschieds schien ihr Mut zu geben: sie zog mich noch einmal an ihr Herz, ich fühlte einen heißen Kuß auf meinen Lippen. ›Auf immer! Lebe wohl auf immer!‹ rief sie schmerzlich, riß sich los und eilte über den Platz hin.

Ich habe sie nicht wiedergesehen! Nach einem Aufenthalt von drei Monaten kehrte ich von London nach Paris zurück; ich ging am Fünfzehnten auf die Place de l'Ecole de Médecine, ich wartete über eine Stunde, mein Mädchen erschien nicht. Noch oft am Ersten und Fünfzehnten wiederholte ich diese Gänge; wie oft ging ich durch die Straße St. Severin, blickte an den Häusern hinauf, fragte wohl auch nach einer armen deutschen Frau und ihrer Tochter, aber ich habe nie wieder etwas von ihnen erfahren, und das reizende Wesen hatte recht, als sie mir beim Abschied zurief: Auf immer!«

[172]


26.

Der junge Mann hatte seine Erzählung mit einem Feuer vorgetragen, das ihr große Wahrheit verlieh und wenigstens auf den weiblichen Teil der Gesellschaft tiefen Eindruck zu machen schien. Josephe weinte heftig, und auch die andern Fräulein und Frauen wischten sich hin und wieder die Augen. Die Männer waren ernster geworden und schienen mit großem Interesse zuzuhören, nur der Baron lächelte hin und wieder und flüsterte ihm seine Bemerkungen zu. Jetzt, als Fröben geschlossen hatte, brach er in lautes Gelächter aus: »Das heiße ich mir sich gut aus der Affaire ziehen!« rief er. »Ich habe es ja immer gesagt, mein Freund ist ein Schlaukopf. Seht nur, wie er die Damen zu rühren wußte, der Schelm! Wahrhaftig, meine Frau heult, als habe ihr der Pfarrer die Absolution versagt. Das ist köstlich, auf Ehre! Dichtung und Wahrheit! Ja, das hast du deinem Goethe abgelauscht, Dichtung und Wahrheit, es ist ein herrlicher Spaß.«

Fröben fühlte sich durch diese Worte aufs neue verletzt. »Ich sagte dir schon,« sagte er unmutig, »daß ich die Dichtung oder Erdichtung gänzlich beiseite ließ und nur die Wahrheit sagte; ich hoffe, du wirst es als solche ansehen.«

»Gott soll mich bewahren!« lachte der Baron. »Wahrheit, das Mädchen hast du dir unterhalten, Bester, das ist die ganze Geschichte, und aus den Abendbesuchen bei ihr hast du uns einen kleinen Roman gemacht. Aber gut erzählt, gut erzählt, das lasse ich gelten.«

Der junge Mann errötete vor Zorn; er sah, wie Josephe ihren Gatten starr und ängstlich ansah; er glaubte zu sehen, daß auch sie vielleicht seinen Argwohn teile und schlecht von ihm denke; die Achtung dieser Frau wenigstens wollte er sich durch diese gemeinen Scherze nicht nehmen lassen. »Ich bitte, schweigen wir davon,« rief er, »ich habe nie in meinem Leben Ursache gehabt, irgend etwas zu bemänteln oder zu entstellen, kann es aber auch nicht dulden, wenn mir andere dieses Geschäft abnehmen wollen. Ich sage dir zum letztenmal, Faldner, daß sich, auf mein Wort, alles so verhält, wie ich es erzählte.«

»Nun dann sei es Gott geklagt,« erwiderte jener, indem er die Hände zusammenschlug. »Dann hast du aus lauter übertriebenem Edelsinn und theoretischer Zartheit ein paar hundert Franken an ein listiges Freudenmädchen weggeworfen, das dich[173] durch ein gewöhnliches Histörchen von Elend und kranker Mutter köderte; hast nichts davon gehabt als einen armseligen Kuß! Armer Teufel! In Paris sich von einer Metze so zum Narren halten zu lassen.«

Noch mehr als die vorige Beschuldigung reizte den jungen Mann dieses spöttische Mitleid und das Gelächter der Gesellschaft auf, die auf seine Kosten den schlechten Witz des Barons applaudierte. Er wollte eben, aufs tiefste gekränkt, die Gesellschaft verlassen, als ein sonderbarer, schrecklicher Anblick ihn zurückhielt. Josephe war, bleich wie eine Leiche, langsam aufgestanden; sie schien ihrem Gatten etwas erwidern zu wollen, aber in demselben Moment sank sie ohnmächtig, wie tot zusammen. Bestürzt sprang man auf, alles rannte durcheinander, die Frauen richteten die Ohnmächtige auf, die Männer fragten sich verwirrt, wie dies denn so plötzlich gekommen sei, Fröben hatte der Schrecken beinahe selbst ohnmächtig gemacht, und der Baron murmelte Flüche über die zarten Nerven der Weiber, schalt auf die grenzenlose Dezenz, auf die ängstliche Beobachtung des Anstandes, wovon man ohnmächtig werde, suchte bald die Gesellschaft zu beruhigen, bald rannte er wieder zu seiner Frau; alles sprach, riet, schrie zusammen und keiner hörte, keiner verstand den andern.

Josephe kam nach einigen Minuten wieder zu sich; sie verlangte nach ihrem Zimmer, man brachte sie dahin, und die Mädchen und Frauen drängten sich neugierig und geschäftig nach; sie gaben hunderterlei Mittel an, die wider die Ohnmacht zu gebrauchen, sie erzählten, wie ihnen da und dort dasselbe begegnet, sie wurden darüber einig, daß die große Anstrengung der Frau von Faldner, die vielen Sorgen und Geschäfte an diesem Tage diesen Zufall notwendig haben herbeiführen müssen, und die Sorge, der Baron möchte sich vielleicht blamieren, da er ohnedies schon recht unanständig gewesen, habe die Sache noch beschleunigt.

Der Baron suchte indessen unter den Männern die vorige Ordnung wiederherzustellen. Er ließ fleißig einschenken, trank diesem oder jenem tapfer zu, und suchte sich und seine Gäste mit allerlei Trostgründen zu beruhigen. »Es kommt von nichts,« rief er, »als von dem Unwesen der neuern Zeit; jede Frau von Stande hat heutzutage schwache Nerven, und wenn sie die nicht hat, so gilt sie nicht für vornehm; Ohnmächtigwerden gehört zum guten Ton; der Teufel hat diese verrückten Einrichtungen erfunden. Und auch daher kommt es, daß man nichts[174] mehr beim rechten Namen nennen darf. Alles soll so überaus zart, dezent, fein, manierlich hergehen, daß man darüber aus der Haut fahren möchte. Da hat sie sich jetzt alteriert, daß ich einigen Scherz riskierte, was doch die Würze der Gesellschaft ist; daß ich über dergleichen zarte, feingefühlige Geschichten nicht außer mir kam vor Rührung und Schmerz und mir einige praktische Konjekturen erlaubte. Was da! Unter Freunden muß dergleichen erlaubt sein! Und ich hätte dich für gescheiter gehalten, Freund Fröben, als daß du nur dergleichen übelnehmen könntest.«

Aber der, an den der Baron den letzteren Teil seiner Rede richtete, war längst nicht mehr unter den Gästen; Fröben war auf sein Zimmer gegangen im Unmut, im Groll auf sich und die Welt. Noch konnte er sich diesen sonderbaren Auftritt nicht ganz enträtseln, seine Seele, halb noch aufgeregt von dem Zorn über die Roheit des Freundes, halb ergriffen von dem Schrecken über den Unfall der Freundin, war noch zu voll, zu stürmisch bewegt, um ruhigeren Gedanken und der Ueberlegung Raum zu geben. »Wird auch sie mir nicht glauben,« sprach er kummervoll zu sich, »wird auch sie den schnöden Worten ihres Gatten mehr Gewicht geben als der einfachen, ungeschmückten Wahrheit, die ich erzählte? Was bedeuteten jene seltsamen Blicke, womit sie mich während meiner Erzählung zuweilen ansah? Wie konnte sie diese Begebenheit so tief ergreifen, daß sie erbleichte, zitterte? Sollte es denn wirklich wahr sein, daß sie mir gut ist, daß sie innigen Anteil an mir nimmt, daß sie verletzt wurde von dem Hohne des Freundes, der mich so tief in ihren Augen herabsetzen mußte? Und was wollte sie denn, als sie aufstand, als sie sprechen wollte? Wollte sie den unschicklichen Reden Faldners Einhalt tun, oder wollte sie mich sogar verteidigen?«

Er war unter diesen Worten heftig im Zimmer auf und ab gegangen, sein Blick fiel jetzt auf die Rolle, die jenes Bild enthielt, er rollte es auf, er sah es bitter lächelnd an. »Und wie konnte ich mich auch von einem Gefühl der Beschämung hinreißen lassen, mein Herz Menschen aufschließen, die es doch nicht verstehen, von Dingen zu reden, die solch überaus vornehmen Leuten so fremd sind; das Schlechte, das Gemeine ist ihnen ja lieber, scheint ihnen natürlicher als das Außerordentliche; wie konnte ich von deinen lieben Wangen, von deinen süßen Lippen zu diesen Puppen sprechen? O, du armes, armes Kind; wieviel edler bist du in deinem Elend als diese Fuchsjäger[175] und ihr Gelichter, die wahren Jammer und verschämte Armut nur vom Hörensagen kennen und jede Tugend, die sich über das Gemeine erhebt, als Märchen verlachen! Wo du jetzt sein magst? Und ob du des Freundes noch gedenkst und jener Abende, die ihn so glücklich machten!«

Seine Augen gingen über, als er das Bild betrachtete, als er bedachte, welch bitteres Unrecht die Menschen heute diesem armen Wesen angetan. Er wollte seine Tränen unterdrücken, aber sie strömten nur noch heftiger. Es gab eine Stelle in der Brust des jungen Mannes, wohin, wie in ein tiefes Grab, sich alle Wehmut, alle zurückgedrängten Tränen des Grames still und auf lange versammelten; aber Momente wie dieser, wo die Schmerzen der Erinnerung und seine Hoffnungslosigkeit so schwer über ihn kamen, sprengten die Decke dieses Grabes und ließen den langverhaltenen Kummer um so mächtiger überströmen, je mehr sein gebrochener Mut in Wehmut überging.


27.

Fröben überdachte am andern Morgen die Vorfälle des gestrigen Tages und war mit sich uneinig, ob er nicht lieber jetzt gleich ein Haus verlassen sollte, wo ihn ein längerer Aufenthalt vielleicht noch öfter solchen Unannehmlichkeiten aussetzte, als die Türe aufging und der Baron niedergeschlagen und beschämt hereintrat. »Du bist gestern abend nicht zu Tisch gekommen, du hast dich heute noch nicht sehen lassen,« hub er an, indem er näher kam, »du zürnst mir; aber sei vernünftig und vergib mir; siehe es ging mir wunderlich; ich hatte den Tag über zu viel Wein getrunken, war erhitzt, und du kennst meine schwache Seite, da kann ich das Necken nicht lassen. Ich bin gestraft genug, daß der schöne Tag so elend endete, und daß mein Haus jetzt vier Wochen lang das Gespräch der Umgegend sein wird. Verbittere mir nicht vollends das Leben und sei mir wieder freundlich wie zuvor!«

»Lasse lieber die ganze Geschichte ruhen,« entgegnete Fröben finster, indem er ihm die Hand bot; »ich liebe es nicht, über dergleichen mich noch weiter auszusprechen; aber morgen will ich fort, weiter; hier bleibe ich nicht länger.«

»Sei doch kein Narr!« rief Faldner, der dies nicht erwartet hatte und ernstlich erschrak. »Wegen einer solchen Szene gleich aufbrechen zu wollen! Ich sagte es ja immer, daß du ein solcher Hitzkopf bist. Nein, daraus wird nichts; und hast du mir nicht[176] versprochen, zu warten bis Briefe da sind vom Don in W.? Nein, du darfst mir nicht schon wieder weggehen; und wegen der Gesellschaft hast du dich nicht zu schämen, sie alle, besonders die Frauen, schalten mich tüchtig aus, sie gaben dir völlig recht und sagten, ich sei an allem schuld.«

»Wie geht es deiner Frau?« fragte Fröben, um diesen Erinnerungen auszuweichen.

»Ganz hergestellt, es war nur so ein kleiner Schrecken, weil sie fürchtete, wir werden ernstlich aneinander geraten; sie wartet mit dem Frühstück auf dich; komm jetzt mit herunter und sei vernünftig und nimm Raison an. Ich muß ausreiten, nimm es mir nicht übel, die Mühle kommt heute in Gang. Du bist also wieder ganz wie zuvor?«

»Nun ja doch!« sagte der junge Mann ärgerlich. »Laß doch einmal die ganze Geschichte ruhen.« Er folgte mit sonderbaren Gefühlen, die er selbst nicht recht zu deuten wußte, dem Baron, der vergnügt über die schnelle Versöhnung seines Freundes ihm voraneilte, seiner Frau schnell berichtete, was er ausgerichtet habe, und dann das Schloß verließ, um seine Mühle in Gang zu bringen.

Hatte sich denn heute auf einmal alles so ganz anders gestaltet, oder war nur er selbst anders geworden? Josephens Züge, ihr ganzes Wesen schien Fröben verändert, als er bei ihr eintrat. Eine stille Wehmut, eine weiche Trauer schien über ihr Antlitz ausgegossen, und doch war ihr Lächeln so hold, so traulich, als sie ihn willkommen hieß. Sie schrieb ihr gestriges Uebel allzugroßer Anstrengung zu und schien überhaupt von dem ganzen Vorfall nicht gerne zu sprechen. Aber Fröben, dem an der guten Meinung seiner Freundin so viel lag, konnte es nicht ertragen, daß sie beinahe geflissentlich seine Erzählung gar nicht berührte. »Nein,« rief er, »ich lasse Sie nicht so entschlüpfen, gnädige Frau! An dem Urteil der andern über mich lag mir wenig; was kümmert es mich, ob solche Alltagsmenschen mich nach ihrem gemeinen Maßstab messen! Aber wahrhaftig, es würde mich unendlich schmerzen, wenn auch Sie mich falsch beurteilten, wenn auch Sie Gedanken Raum gäben, die mich in Ihren Augen so tief herabsetzen müßten, wenn auch Sie die Wahrheit jener Erzählung bezweifelten, die ich freilich solchen Ohren nie hätte preisgeben sollen. O, ich beschwöre Sie, sagen Sie recht aufrichtig, was Sie von mir und jener Geschichte denken?«

[177]

Sie sah ihn lange an; ihr schönes, großes Auge füllte sich mit Tränen, sie drückte seine Hand: »O Fröben, was ich davon denke?« sagte sie. »Und wenn die ganze Welt an der Wahrheit zweifeln würde, ich wüßte dennoch gewiß, daß Sie wahr gesprochen! Sie wissen ja nicht, wie gut ich Sie kenne!«

Er errötete freudig und küßte ihre Hand. »Wie gütig sind Sie, daß Sie mich nicht verkennen. Und gewiß, ich habe alles, alles genau nach der Wahrheit erzählt.«

»Und dieses Mädchen,« fuhr sie fort, »ist wohl dieselbe, von welcher Sie mir letzthin sagten? Erinnern Sie sich nicht, als wir von Viktor und Klothilden sprachen, daß Sie mir gestanden, Sie lieben hoffnungslos? Ist es dieselbe?«

»Sie ist es,« erwiderte er traurig. »Nein, Sie werden mich wegen dieser Torheit nicht auslachen; Sie fühlen zu tief, als daß Sie dies lächerlich finden könnten. Ich weiß alles, was man dagegen sagen kann, ich schalt mich selbst oft genug einen Toren, einen Phantasten, der einem Schatten nachjage; ich weiß ja nicht einmal, ob sie mich liebt –«

»Sie liebt Sie!« rief Josephe unwillkürlich aus; doch über ihre eigenen Worte errötend, setzte sie hinzu: »Sie muß Sie lieben; glauben Sie denn, so viel Edelmut müsse nicht tiefen Eindruck auf ein Mädchenherz von siebzehn Jahren machen, und in allen ihren Aeußerungen, die Sie uns erzählten, liegt, es müßte mich alles trügen, oder es liegt gewiß ein bedeutender Grad von Liebe darin.«

Der junge Mann schien mit Entzücken auf ihre Worte zu lauschen. »Wie oft rief ich mir dies selbst zu,« sprach er, »wenn ich so ganz ohne Trost war und traurig in die Vergangenheit blickte; aber wozu denn? Vielleicht nur, um mich noch unglücklicher zu machen. Ich habe oft mit mir selbst gekämpft, habe im Gewühl der Menschen Zerstreuung, im Drang der Geschäfte Betäubung gesucht, es wollte mir nie gelingen. Immer schwebte mir jenes holde, unglückliche Wesen vor; mein einziger Wunsch war, sie nur noch einmal zu sehen. Es ist noch jetzt mein Wunsch, ich darf es Ihnen gestehen, denn Sie wissen meine Gefühle zu würdigen; auch diese Reise unternahm ich nur, weil meine Sehnsucht mich hinaustrieb, sie zu suchen, sie noch einmal zu sehen. Und wie ich denn so recht über diesen Wunsch nachdenke, so finde ich mich sogar oft auf dem Gedanken, sie auf immer zu besitzen! – Sie blicken weg, Josephe? O, ich verstehe; Sie denken, ein Geschöpf, das so tief im Elend war, dessen Verhältnisse so zweideutig sind, dürfe ich nie wählen; Sie denken an[178] das Urteil der Menschen; an alles dies habe auch ich recht oft gedacht, aber so wahr ich lebe, wenn ich sie so wiederfände, wie ich sie verlassen, ich würde niemand als mein Herz fragen. Würden Sie mich denn so strenge beurteilen, Josephe?«

Sie antwortete ihm nicht; noch immer abgewandt, ihre Stirne in die Hand gestützt, bot sie ihm ein Buch hin und bat ihn vorzulesen. Er ergriff es zögernd, er sah sie fragend an; es war das einzige Mal, daß er sich in ihr Betragen nicht recht zu finden wußte; aber sie winkte ihm, zu lesen, und er folgte, wiewohl er gerne noch länger sein Herz hätte sprechen lassen. Er las von Anfang zerstreut; aber nach und nach zog ihn der Gegenstand an, entführte seine Gedanken mehr und mehr dem vorigen Gespräch und riß ihn endlich hin, so daß er im Fluß der Rede nicht bemerkte, wie die schöne Frau ihm ein Angesicht voll Wehmut zuwandte, daß ihre Blicke voll Zärtlichkeit an ihm hingen, daß ihr Auge sich oft mit Tränen füllen wollte, die sie nur mühsam wieder unterdrückte. Spät erst endete er, und Josephe hatte sich soweit gefaßt, daß sie mit Ruhe über das Gelesene sprechen konnte, aber dennoch schien es dem jungen Mann, als ob ihre Stimme hie und da zittere, als ob die frühere gütige Vertraulichkeit, die sie dem Freund ihres Gatten bewiesen, gewichen sei; er hätte sich unglücklich gefühlt, wenn nicht jener leuchtende Strahl eines wärmeren Gefühles, der aus ihrem Auge hervorbrach, ihn an seiner Beobachtung irre gemacht hätte.


28.

Da der Baron erst bis Abend zurückkehren wollte, Josephe sich aber nach dieser Vorlesung in ihre Zimmer zurückgezogen hatte, so beschloß Fröben, um diesen quälenden Gedanken auf einige Stunden wenigstens zu entgehen, die heiße Mittagszeit vor der Tafel zu verschlafen. In jener Laube, die ihm durch so manche schöne Stunde, die er mit der liebenswürdigen Frau hier zugebracht, wert geworden war, legte er sich auf die Moosbank und entschlief bald. Seine Sorgen hatte er zurückgelassen, sie folgten ihm nicht durch das Tor der Träume; nur liebliche Erinnerungen verschmolzen und mischten sich zu neuen reizenden Bildern; das Mädchen aus der St. Severinstraße mit ihrer schmelzenden Stimme schwebte zu ihm her und erzählte ihm von ihrer Mutter; er schalt sie, daß sie so lange auf sich habe warten lassen, da er doch ja den Ersten und Fünfzehnten gekommen sei; er wollte sie küssen zur Strafe, sie sträubte sich, er hob den[179] Schleier auf, er hob das schöne Gesichtchen am Kinn empor, und siehe – es war Don Pedro, der sich in des Mädchens Gewänder gesteckt hatte, und Diego, sein Diener, wollte sich totlachen über den herrlichen Spaß. – Dann war er wieder mit einem kühnen Sprung der träumenden Phantasie in Stuttgart in jener Gemäldesammlung. Man hatte sie anders geordnet, er durchsuchte vergebens alle Säle nach dem teuren Bilde; es war nicht zu finden; er weinte, er fing an zu rufen und laut zu klagen; da kam der Galeriediener herbei und bat ihn, stille zu sein und die Bilder nicht zu wecken, die jetzt alle schlafen. Auf einmal sah er in einer Ecke das Bild hängen, aber nicht als Brustbild wie früher, sondern in Lebensgröße; es sah ihn neckend, mit schelmischen Blicken an, es trat lebendig aus dem Rahmen und umarmte den Unglücklichen; er fühlte einen heißen, langen Kuß auf seinen Lippen. Wie es zu geschehen pflegt, daß man im Traum zu erwachen glaubt, und träumend sich sagt, man habe ja nur geträumt, so schien es auch jetzt dem jungen Mann zu gehen. Er glaubte, von dem langen Kuß erweckt, die Augen zu öffnen, und siehe, auf ihn niedergebeugt hatte sich ein blühendes, rosiges Gesicht, das ihm bekannt schien. Vor Lust des süßen Atems, der liebewarmen Küsse, die er einsog, schloß er wieder die Augen; er hörte ein Geräusch, er schlug sie noch einmal auf und sah eine Gestalt in schwarzem Mantel, schwarzem Hütchen mit grünem Schleier entschweben; als sie eben um eine Ecke biegen wollte, kehrte sie ihm noch einmal das Gesicht zu; es waren die Züge des geliebten Mädchens, und neidisch wie damals hatte sie auch jetzt die Halbmaske vorgenommen. »Ach, es ist ja doch nur ein Traum!« sagte er lächelnd zu sich, indem er die Augen wieder schließen wollte; aber das Gefühl, erwacht zu sein, das Säuseln des Windes in den Blättern der Laube, das Plätschern des Springbrunnens war zu deutlich, als daß er davon nicht völlig wach und munter geworden wäre. Das sonderbare, lebhafte Traumbild stand noch vor seiner Seele; er blickte nach der Ecke, wo sie verschwunden war; er sah die Stelle an, wo sie gestanden, sich über ihn hingebeugt hatte, er glaubte die Küsse des geliebten Mädchens noch auf den Lippen zu fühlen. »So weit also ist es mit dir gekommen,« sprach er erschreckend zu sich, »daß du sogar im Wachen träumst, daß du sie bei gesunden Sinnen um dich siehst? Zu welchem Wahnwitz soll dies noch führen? Nein, daß man so deutlich träumen könne, hätte ich nie geglaubt. Es ist eine Krankheit des Gehirns, ein Fieber der Phantasie, ja es fehlt nicht viel, so möchte ich sogar behaupten,[180] Traumbilder können Fußtapfen hinterlassen; denn diese Tritte hier im Sande sind nicht von meinem Fuß.« Sein Blick fiel auf die Bank, wo er gelegen, er sah ein zierlich gefaltetes Papier und nahm es verwundert auf. Es war ohne Aufschrift, es hatte ganz die Form eines Billetdoux; er zauderte einen Augenblick, ob er es öffnen dürfe; aber neugierig, wer sich hier wohl in solcher Form schreiben könnte, entfaltete er das Papier – ein Ring fiel ihm entgegen. Er hielt ihn in der Hand und durchflog den Brief, er las: »Oft bin ich Dir nahe, Du mein edler Ritter und Wohltäter; ich umschwebe Dich mit jener unendlichen Liebe, die meine Dankbarkeit anfachte, die selbst mit meinem Leben nicht verglühen wird. Ich weiß, Dein großmütiges Herz schlägt noch immer für mich, Du hast Länder durchstreift, um mich zu suchen, zu finden; doch umsonst bemühst Du Dich – vergiß ein so unglückliches Geschöpf; was wolltest Du auch mit mir? Wenn auch mein höchstes Glück in dem Gedanken liegt, ganz Dir anzugehören, so kann es ja doch nimmermehr sein! Auf immer! sagte ich Dir schon damals, ja auf immer liebe ich Dich, aber – das Schicksal will, daß wir getrennt seien auf immer, daß nie an Deiner Seite, vielleicht nur in Deiner gütigen Erinnerung leben darf

Die Bettlerin vom Pont des Arts.«

Der junge Mann glaubte noch immer oder aufs neue zu träumen; er sah sich mißtrauisch um, ob seine Phantasie ihn denn so ganz verführt habe, daß er in einer Traumwelt lebe; aber alle Gegenstände um ihn her, die wohlbekannte Laube, die Bank, die Bäume, das Schloß in der Ferne, alles stand noch wie zuvor, er sah, er wachte, er träumte nicht. Und diese Zeilen waren also wirklich vorhanden, waren nicht ein Traumbild seiner Phantasie? »Hat man vielleicht einen Scherz mit mir machen wollen?« fragte er sich dann; »ja gewiß; es kommt wohl alles von Josephe; vielleicht war auch jene Erscheinung nur eine Maske?« Indem er das Papier zusammenrollte, fühlte er den Ring, der in dem Briefchen verborgen gewesen, in seiner Hand. Neugierig zog er ihn hervor, betrachtete ihn und erblaßte. Nein, das wenigstens war keine Täuschung, es war derselbe Ring, den er dem Mädchen in jener Nacht gegeben, als er auf immer von ihr Abschied nahm. So sehr er im ersten Augenblick versucht war, hier an übernatürliche Dinge zu glauben, so erfüllte ihn doch der Gedanke, daß er ein Zeichen von dem geliebten Wesen habe, daß sie ihm nahe sei, mit so hohem[181] Entzücken, daß er nicht mehr an die Worte des Briefes dachte, er zweifelte keinen Augenblick, daß er sie finden werde, er drückte den Ring an die Lippen, er stürzte aus der Laube in den Garten, und seine Blicke streiften auf allen Wegen, in allen Büschen nach der teuren Gestalt. Aber er spähte vergebens; er fragte die Arbeiter im Garten, die Diener im Schlosse, ob sie keine Fremde gesehen haben; man hatte sie nicht bemerkt; bestürzt, beinahe keiner Ueberlegung fähig, kam er zu Tische; umsonst forschte Faldner nach dem Grund seiner verstörten Blicke, umsonst fragte ihn Josephe, ob er denn vielleicht von gestern her noch so trübe gestimmt sei. »Es ist mir etwas begegnet,« antwortete er, »das ich ein Wunder nennen müßte, wenn nicht meine Vernunft sich gegen Aberglauben sträubte.«


29.

Dieser sonderbare Vorfall und die Worte des Briefchens, das er wohl zehnmal des Tages überlas, hatten den jungen Mann ganz tiefsinnig gemacht. Er fing an nachzusinnen, ob es denn möglich sei, daß überirdische Wesen in das Leben der Sterblichen eingreifen können. Wie oft hatte er über jene Schwärmer gelacht, die an Erscheinungen, an Boten aus einer andern Welt, an Schutzgeister, die den Menschen umschweben, wie an ein Evangelium glaubten. Wie oft hatte er ihnen sogar die physische Unmöglichkeit dargetan, daß körperlose Wesen dennoch sichtbar erscheinen, daß sie dies oder jenes verrichten können. Aber was ihm selbst begegnet war, wie sollte er es deuten? Oft nahm er sich vor, alles zu vergessen, gar nicht mehr daran zu denken, und im nächsten Augenblick quälte er sich ab, seine Erinnerung recht lebhaft vor das Auge treten zu lassen; deutlicher als je erschienen dann wieder ihre Züge, er hatte sie ja gesehen, als sie sich an der Ecke noch einmal umwandte; er hatte den holden Mund, diese rosigen Wangen, dieses Kinn, diesen schlanken Hals wiedergesehen! Er holte jenes Bild herbei, er verglich Zug um Zug, er deckte die Hand auf Augen und Stirne der Dame, und es war das holde Gesichtchen, wie es unter der Halbmaske hervorschaute!

Er hatte sich, weil Josephe am nächsten Morgen im Hause allzusehr beschäftigt war, um ihn zu unterhalten, wieder in die Laube gesetzt. Er las, und während des Lesens beschäftigte ihn immer der Gedanke, ob sie ihm wohl wieder erscheinen werde. Die Hitze des Mittags wirkte betäubend auf ihn; mit Mühe suchte er sich wach zu halten, er las eifriger und angestrengter,[182] aber nach und nach sank sein Haupt zurück, das Buch entfiel seinen Händen, er schlief.

Beinahe um dieselbe Zeit wie gestern erwachte er, aber keine Gestalt mit grünem Schleier war weit und breit zu sehen; er lächelte über sich selbst, daß er sie erwartet habe, er stand traurig und unzufrieden auf, um ins Schloß zu gehen, da erblickte er neben sich ein weißes Tuch, das er sich nicht erinnern konnte, hingelegt zu haben; er sah es an, es mußte wohl dennoch ihm gehören, denn in der Ecke war sein Namenszug eingenäht. »Wie kommt dies Tuch hierher?« rief er bewegt, als er bei genauerer Besichtigung entdeckte, daß es eines jener Tücher sei, die ihm das Mädchen hatte fertigen müssen, und die er wie Heiligtümer sorgfältig verschloß. »Soll dies aufs neue ein Zeichen sein?« Er entfaltete das Tuch, und suchte, ob nicht vielleicht wieder einige Zeilen eingelegt seien? Es war leer; aber in einer andern Ecke des Tuches entdeckte er noch einige Lettern, die wie sein Name eingenäht waren; zierlich und nett standen dort die Worte: Auf immer! »Also dennoch hier gewesen!« rief der junge Mann unmutig. »Und ich konnte ihre liebliche Erscheinung schnöderweise verschlafen? Warum gibt sie mir wohl ein neues Zeichen? Warum diese traurigen Worte wiederholen, die mich schon damals und erst gestern wieder so unglücklich machten?« Auch heute befragte er nach der Reihe die Domestiken, ob nicht eine fremde Person im Garten gewesen sei? Sie verneinten es einstimmig, und der alte Gärtner sagte, seit drei Stunden sei gar niemand durch den Garten gegangen als nur die gnädige Frau. »Und wie war sie angezogen?« fragte Fröben, auf sonderbare Weise überrascht. »Ach, Herr, da fragt Ihr mich zu viel,« antwortete der Alte; »sie ist halt angezogen gewesen in vornehmen Kleidern, aber wie, das weiß ich nicht zu beschreiben; als sie vor mir vorbeiging, nickte sie freundlich und sagte: ›Guten Tag, Jakob!‹«

Der junge Mann führte den Alten beiseite: »Ich beschwöre dich,« flüsterte er; »trug sie einen grünen Schleier? Hatte sie nicht eine große schwarze Brille auf?«

Der alte Gärtner sah ihn mißtrauisch und kopfschüttelnd an. »Eine schwarze Brille?« fragte er. »Die gnädige Frau eine große schwarze Brille? Ei, du Herrgott, wo denken Sie hin, sie hat so scharfe, klare Augen wie eine Gemse und soll eine Brille auf der Nase tragen, mit Respekt zu melden, eine große schwarze Brille, wie sie die alten Weiber in der Kirche auf die Nase klemmen, daß es feiner schnarrt, wenn sie singen? Nein,[183] gnädiger Herr, solche schlechte Gedanken müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen, das ist nichts; und nehmen Sie es nicht ungütig, aber eine Mütze sollten Sie doch aufsetzen bei dieser Hitze, es ist von wegen des Sonnenstichs.« So sprach der Alte und ging kopfschüttelnd weiter; den übrigen Dienstboten aber deutete er mit sehr verdächtiger Bewegung des Zeigefingers ans Hirn an, daß es mit dem jungen Herrn Gast hier oben nicht ganz richtig sein müsse.


30.

Auch jetzt kam Fröben zu keinem andern Resultat, als daß das Betragen jenes Mädchens, das er so innig liebte, unbegreiflich sei, und dieses rätselhafte Spiel mit seinem Schmerz, mit seiner Sehnsucht, beschäftigte ihn so ganz ausschließlich, daß ihm vieles entging, was ihm sonst wohl hätte auffallen müssen. Josephe kam mit verweinten Augen zu Tische; der Baron war verstimmt und einsilbig und schien seinem inneren Unmut, der ihm um die Stirne lag und deutlich aus den Augen sprach, hie und da durch einen Fluch über die schlechte Küche und die noch schlechtere Haushaltung Luft machen zu müssen. Die unglückliche Frau ließ alles still und geduldig über sich ergehen, sie schickte zuweilen, als wolle sie Hilfe und Trost suchen, einen flüchtigen Blick nach Fröben hinüber; ach, sie bemerkte nicht, wie ihr Gatte diese Blicke belauerte, wie seine Stirne sich röter färbte, wenn er ihre Augen auf diesem Wege traf.

An Fröbens Auge und Ohr ging dies vorüber als etwas, an das er sich schon gewöhnt hatte; er gab sich nicht einmal die Mühe, Josephe um die Ursache dieses Aufbrausens zu befragen. Es fiel ihm nicht auf, daß sie zurückhaltender gegen ihn war im Beisein Faldners; er schrieb es der gewöhnlichen Geschäftigkeit seines Freundes zu, daß ihn dieser in den nächsten Tagen nötigte, mit ihm da- und dorthin auf das Gut zu gehen und in Wald und Feld oft einen großen Teil des Tages mit Messungen und Berechnungen hinzubringen. Als er aber eines Morgens, als ihn Faldner schon gestiefelt und gespornt erwartete, eine kleine Unpäßlichkeit vorschützte, um diesen unangenehmen Feldbesuchen zu entgehen, als er arglos hinwarf, daß er doch Josephen auch einmal wieder vorlesen müsse, da wollte es ihm doch auffallend dünken, daß der Baron unmutig rief: »Nein, sie soll mir nichts mehr lesen, gar nichts mehr. Es geht ohnedies seit einiger Zeit alles konträr. Das könnte ich vollends brauchen, wenn sie den ganzen Morgen mit Lesen zubrächte und solche Romanideen im[184] Kopfe trüge, wie ich schon welche habe spuken sehen. Lies dir in Gottes Namen selbst vor, lieber Fröben, und nimm mir nicht übel, wenn ich mein Weib anders placiere. Du gehst in den Garten nach dem Frühstück, Josephe, es soll heute Gemüse ausgestochen werden, nachher bist du so gütig und gehst zu Pastors, du bist dort seit lange einen Besuch schuldig.« Mit diesen Worten nahm er seine Reitpeitsche vom Tische und schritt davon.

»Was soll denn das? Was hat er denn heute?« fragte Fröben staunend die junge Frau, die kaum ihre Tränen zurückzuhalten vermochte.

»O, er ist so ziemlich wie sonst,« erwiderte sie ohne aufzublicken. »Ihre Anwesenheit hat ihn einige Zeitlang aus dem gewöhnlichen Geleise gebracht; Sie sehen, er ist jetzt wieder wie zuvor.«

»Aber mein Gott,« rief er unmutig, »so schicken Sie doch eine Magd in den Garten!«

»Ich darf nicht,« sagte sie bestimmt, »ich muß selbst zusehen; er will es ja haben.«

»Und den Besuch bei Pastors –?«

»Muß ich machen, Sie haben es ja gehört, daß ich ihn machen muß; lassen wir das, es ist einmal so. Aber Sie,« fuhr Josephe fort, »Sie, mein Freund, scheinen mir seit einigen Tagen verändert, gar nicht mehr so munter, so zutraulich wie früher. Sollten Sie sich vielleicht nicht mehr hier gefallen? Sollte mein Mann, sollte vielleicht ich Ursache Ihrer Verstimmung sein?« –

Fröben fühlte sich verlegen; er war auf dem Punkt, der Freundin jene sonderbaren Vorfälle im Garten zu gestehen, aber der Gedanke, sich vor der klugen jungen Frau eine Blöße zu geben, hielt ihn zurück. »Sie wissen,« sagte er ausweichend, »daß ich in den letzten Tagen Briefe aus S. bekam. Und wenn ich verstimmt erscheine, so tragen diese Briefe allein die Schuld.« Sie sah ihn zweifelnd an; eine Antwort schien auf ihren Lippen zu schweben, aber wie wenn sie den Mangel an Vertrauen in dem Blicke des jungen Mannes gelesen und sich dadurch gekränkt gefühlt hätte, zuckten ihre schönen Lippen und drängten die Antwort zurück; sie zog schweigend die Glocke, befahl ihrer Zofe, ihr Hut und Schirm zu bringen, und ging dann, ohne ihn zu diesem Gang einzuladen, in den Garten an die Arbeit.

Als der junge Mann einige Stunden nachher ebenfalls in den Garten hinabstieg und nach Josephe fragte, hieß es, sie[185] sei zu Pastors gegangen. Er eilte der Laube zu, er setzte sich mit pochendem Herzen nieder. Heute hatte er sich vorgenommen, nicht einzuschlafen. »Ich will doch sehen,« sagte er zu sich, »ob dieses Wesen, das mich so geheimnisvoll umschwebt, noch ein drittes Zeichen für mich hat? Ich will mich wie zum Schlummer niederlegen, und so wahr ich lebe, wenn es wieder erscheint, will ich es haschen und schauen, welcher Natur es sei.« Er las, bis der Mittag herangekommen war, dann legte er sich nieder und schloß die Augen. Oft wollte sich der Schlummer wirklich über ihn herabsenken, aber Erwartung, Unruhe und sein fester Wille, der die Mohnkörner von ihm ferne hielt, ließen ihn wach bleiben. Er mochte wohl eine halbe Stunde so gelegen haben, als die Zweige der Laube rauschten. Er öffnete die Augen kaum ein wenig und sah, wie zwei weiße Hände die Zweige behutsam teilten, vermutlich um eine Aussicht auf den Schlummernden zu öffnen. Dann knisterten leise, leise Schritte im Sand. Er blickte verstohlen nach dem Eingang der Laube, und sein Herz wollte zerspringen voll freudiger Ungeduld, als er sein Mädchen sah im schwarzen Mantel und Hut, den grünen Schleier zurückgeschlagen, die schwarzen Maskenaugen vor den obern Teil des schönen Gesichts gebunden.


31.

Sie nahte auf den Zehenspitzen. Er sah, wie auf ihrem Gesicht ein höheres Rot aufstieg, als sie näher trat. Sie betrachtete den Schläfer lange; sie seufzte tief und schien Tränen abzutrocknen. Dann trat sie nahe heran; sie beugte sich über ihn herab, ihr Atem berührte ihn wie ein Himmelsbote, der die Nähe ihrer süßen Lippen ansagte, sie senkte sich tiefer und ihr Mund legte sich auf den seinigen so sanft, wie das Morgenrot sich auf den Hügel senkt.

Da hielt er sich nicht länger; schnell schlang er seinen Arm um ihren Leib, und mit einem kurzen Angstschrei sank sie in die Kniee. Er sprang erschrocken auf, er glaubte sie ohnmächtig, aber sie war nur sprachlos und zitterte heftig; er hob sie auf, er zog sie, erfüllt von der Wonne des Wiedersehens, an seiner Seite auf die Bank nieder, er bedeckte ihren Mund mit glühenden Küssen, er drückte sie fest an sich: »O, so habe ich dich wieder, endlich, endlich wieder, du geliebtes Wesen!« rief er; »du bist kein Trugbild, du lebst, ich halte dich in meinen Armen wie damals und liebe dich wie damals und bin glücklich, selig, denn[186] du liebst ja auch mich!« Eine hohe Glut bedeckte ihre Wangen, sie sprach nicht, sie suchte vergebens sich aus seinen Armen zu winden. »Nein, jetzt lasse ich dich nicht mehr,« sprach er, und Tränen, Tränen des Glücks hingen an seinen Wimpern; »jetzt halte ich dich fest und keine Welt darf dich von mir reißen. Und komm, hinweg mit dieser neidischen Maske, ganz will ich dein schönes Antlitz schauen, ach, es lebte ja immer in meinen Träumen!« Sie schien mit der letzten Kraft die Hand von der Halbmaske abhalten zu wollen, sie atmete schwer, sie rang mit ihm, aber die trunkene Lust des jungen Mannes, nach so langer Entbehrung sich so unaussprechlich glücklich zu wissen, gewährte ihm einen leichten Sieg. Er hielt ihre Arme mit der einen Hand, zitternd stieß er mit der andern den Hut zurück, band die Maske los und erblickte – die Gattin seines Freundes.

»Josephe!« rief er, wie in einen Abgrund niedergeschmettert, und seine Gedanken drehten sich im Ringe. »Josephe!«

Bleich, erstarrt, tränenlos saß sie neben ihm und sagte wehmütig lächelnd: »Ja, Josephe.«

»Sie haben mich also getäuscht?« sagte er bitter, indem alle Hoffnung, alle Seligkeit des vorigen Augenblicks an ihm vorüberflog. »O, dieses Possenspiel konnten Sie uns ersparen. Doch,« fuhr er fort, indem ein Gedanke ihn durchblitzte; »um Gottes willen, wo haben Sie den Ring her, woher das Tuch?«

Sie errötete von neuem, sie brach in Tränen aus, sie verbarg ihr Haupt an seiner Brust. »Nein,« rief er, »Antwort muß ich haben; es ist mein Ring, das Tuch – ich beschwöre Sie, wie kam beides in Ihre Hände, woher haben Sie den Ring?«

»Von dir!« flüsterte sie, indem sie sich beschämt fester an ihn drückte.

Da fiel ein Lichtstrahl in Fröbens Seele; noch blendete ihn dies zu helle Licht, aber er hob sanft ihr Haupt in die Höhe und sah sie an mit Blicken voll Verwunderung und Liebe. »Du bist es? Träume ich denn wieder?« sprach er, nachdem er sie lange angeblickt. »Sagtest du nicht, du seiest mein süßes Mädchen? O Gott, welcher Schleier lag denn auf meinen Augen? Ja, das sind ja deine holden Wangen, das ist ja dein reizender Mund, der mich heute nicht zum erstenmal küßte!«

Eine hohe Glut bedeckte ihre Wangen. Sie sah ihn voll Wonne und Entzücken an. »Was wäre aus mir geworden ohne dich, du edler Mann!« rief sie, indem sich in Tränen der Schimmer[187] ihrer Augen brach. »Ich bringe dir den Segen meiner guten Mutter, du hast ihre letzten Tage leicht gemacht und die Decke des Elends gelüftet, die so schwer auf ihrer kranken Brust lag. O! Wie kann ich dir danken? Was wäre ich geworden ohne dich! Doch –« fuhr sie fort, indem sie mit ihren Händen das Gesicht bedeckte, »was bin ich denn geworden, das Weib eines andern, deines Freundes Weib!«

Er sah, wie ein unendlicher Schmerz ihren Busen hob und senkte, wie durch die zarten Finger ihre Tränen gleich Quellen herabrieselten. Er fühlte, wie innig sie ihn liebe, und kein Gedanke an einen Vorwurf, daß sie einem andern als ihm gehören könnte, kam in seine Seele. »Es ist so,« sagte er traurig, indem er sie fester an sich drückte, als könne er sie dennoch nicht verlieren. »Es ist so; wir wollen denken, es sollte so sein, es habe so kommen müssen, weil wir vielleicht zu glücklich gewesen wären. Doch in diesem Moment bist du mein, denke, du kommst herüber über den Platz der Arzneischule und ich erwarte dich: o komm, umarme mich so wie damals, ach, nur noch ein einziges Mal!«

In Erinnerung verloren, hing sie an seinem Hals; hinter ihren düsteren Blicken schien der Gedanke an die Wirklichkeit sich zu verlieren; heller und heller, freundlicher und immer freundlicher schien die Erinnerung aufzutauchen; ein holdes Lächeln zog um ihren Mund und senkte sich auf ihren Wangen in zarte Grübchen. »Und kanntest du mich denn nicht?« fragte sie lächelnd. »Und du kanntest mich nicht?« fragte er, sie voll Zärtlichkeit betrachtend. »Ach!« antwortete sie. »Ich hatte mir damals deine Züge recht abgelauscht und tief in mein Herz geschrieben, aber wahrlich, ich hätte dich nimmer erkannt. Es mochte wohl auch daher kommen, daß ich dich nur immer bei Nacht sah in den Mantel eingewickelt, den Hut tief in der Stirne, und wie konnt' ich auch denken – Freilich, als du am ersten Abend Faldner zuriefst: ›Auf Wiedersehen!‹ da kam mir der Ton so bekannt vor, als hätte ich ihn schon gehört; aber ich lachte mich immer selbst aus über die törichten Vermutungen. Nachher war es mir hie und da, als müßtest du der sein, den ich meinte; doch zweifelte ich immer wieder; aber als du am Sonntag nur erst Pont des Arts genannt hattest, da ging auf einmal eine eigene Sonne auf deinem Gesicht auf; du schienest ganz in Erinnerung zu leben und mit den ersten Worten ward es mir klar, daß du, du es bist! Aber freilich, mich konntest du nicht wiedererkennen, nicht wahr, ich bin recht bleich geworden?«

[188]

»Josephe,« erwiderte er; »wo waren meine Sinne? Wo mein Auge, mein Ohr, daß ich dich nicht erkannte? Gleich bei deinem ersten Anblick flog ein freudiger Schreck durch meine Seele, du glichst ja ganz jenem Bilde, das ich, durch einen wahrhaften Kreislauf der Dinge, als dir ähnlich gefunden und geliebt hatte; aber die Entdeckung über das Geschlecht der Mutter führte mich in eine Irrbahn; ich sah in dir nur noch die ähnliche Tochter der schönen Laura, und oft, während ich neben dir saß, streifte mein Geist ferne, weithin nach – dir!«

»O Gott!« rief Josephe, »ist es denn wahr, ist es möglich? Kannst du mich denn noch lieben?«

»Ob ich es kann? – Aber darf ich denn? Gott im Himmel, du heißt ja Frau von Faldner; sage mir nur um des Himmels willen, wie fügte sich dies alles? Wie hast du auch nicht ein einzigesmal mehr mich erwarten mögen?«


32.

Sie stillte ihre Tränen, sie faßte sich mit Mühe, um zu sprechen. »Siehe,« sagte sie, »es war, als ob ein feindliches Geschick alles nur so geordnet hätte, um mich recht unglücklich zu machen. Als du weg warst, hatte ich keine Freude mehr. Jene Abende mit dir waren mir so unendlich viel gewesen. Siehe, schon von dem ersten Moment an, als du in der lieben Muttersprache deinen Begleiter um Geld batest, von da an schlug mein Herz für dich; und als du mit so unendlichem Edelmut, mit so viel Zartsinn für uns sorgtest, ach, da hätte ich dich oft an mein Herz schließen und dir gestehen mögen, daß ich dich wie ein höheres Geschöpf anbete. Ich weiß nicht, was mir für dich zu tun zu schwer gewesen wäre; und wie groß, wie edel hast du dich gegen mich benommen! Du gingst, ich weinte lange, denn ein schmerzliches Gefühl sagte mir, daß es auf immer geschieden sei; acht Tage nachdem du abgereist warst, starb meine arme Mutter sehr schnell. Was du mir damals noch gegeben, reichte hin, meine Mutter zu beerdigen und ihr Andenken nicht in Unehre geraten zu lassen. Eine Dame, es war die Gräfin Landskron, die in unserer Nachbarschaft wohnte und von uns Armen hörte, ließ mich zu sich kommen. Sie prüfte mich in allem, sie durchschaute die Papiere meiner Mutter, die ich ihr geben mußte, genau; sie schien zufrieden und nahm mich als Gesellschaftsfräulein an. Wir reisten; ich will dir nicht beschreiben, wie mein Herz blutete, als ich dieses Paris verlassen[189] mußte; es fehlten nur noch vierzehn Tage, bis die Zeit um war, die du zu deiner Rückkehr bestimmtest; dann wäre ich am Ersten auf den Platz gegangen, hätte dich noch einmal gesprochen, noch einmal von dir Abschied genommen! Es sollte nicht so sein; als wir aus der St. Severinstraße über den wohlbekannten Platz der Ecole de Médecine hinfuhren, da wollte mein Herz brechen, und ich sagte zu mir: ›Auf immer!‹ Eduard! ich habe nie wieder von dir gehört, dein Name war mir unbekannt, du mußtest ja die Bettlerin längst vergessen haben; ich lebte von der Gnade fremder Leute, ich hatte manches Bittere zu tragen, ich trug es, es war ja nicht das Schmerzlichste. Als aber die Gräfin in diese Gegend auf ihr Gut zog, als Faldner sich um mich bewarb, als ich merkte, daß sie es gutmütig für eine gute Versorgung halte, vielleicht auch meiner überdrüssig war – nun ich war ja nur ein einzigesmal glücklich gewesen, konnte nimmer hoffen, es wieder zu werden; das übrige war ja so gleichgültig – da wurde ich seine Frau.«

»Armes Kind! an diesen Faldner, warum denn gerade du mit so weicher Seele, mit so zartem Sinn, mit so viel gültigem Anspruch auf ein zum mindesten edleres Los, warum gerade du seine Frau? Doch es ist so; Josephe, ich kann, ich darf keinen Tag mehr hier sein; ich habe ihn bei allem, was er Rohes haben mag, einst Freund genannt, bin jetzt sein Gastfreund, und wenn auch alles nicht wäre, wir dürfen ja nicht zusammen glücklich sein!« Es lag ein unendlicher Schmerz in seinen Worten; er küßte die Augen der schönen Frau, nur um durch den Gram, der in ihnen wohnte, nicht noch weicher zu werden. »O, nur noch einen Tag,« flüsterte sie zärtlich; »hab' dich ja jetzt eben erst gefunden, und du denkst schon zu entfliehen. Siehe, wenn du weg bist, da verschließt sich wieder die Türe meines Glücks auf immer; ich werde Hartes ertragen müssen, und da muß ich doch ein wenig Erinnerung mir aufsparen, von der ich zehren kann in der endlosen Wüste.«

»Höre, ich will Faldner alles gestehen,« sprach nach einigem Sinnen der junge Mann, »ich will es ihm alles vormalen, daß es ihn selbst rühren muß; er liebt dich doch nicht, du ihn nicht und bist unglücklich; er soll dich mir abtreten. Mein Haus liegt nicht so schön wie dieses Schloß; meine Güter kannst du vom Belvedere auf dem Dache übersehen, du verließest hier großen Wohlstand, aber wenn du einzögest in mein Haus, wollte ich dir meine Hände als Teppich unterlegen, auf den Händen[190] wollte ich dich tragen, du solltest die Königin sein in meinem Hause und ich dein erster treuer Diener!«

Sie blickte schmerzlich zum Himmel auf, sie weinte heftiger. »Ach ja, wenn ich deines Glaubens wäre, dann ginge es wohl, aber wir sind ja gut katholisch getraut worden, und das scheidet nur der Tod! O du großer Gott, wie unglücklich machen oft diese Gesetze! Welch eine Seligkeit mit dir, bei dir zu sein, immer für dich zu sorgen, an deinen Blicken zu hängen und alle Tage dir durch zärtliche Liebe ein Tausendteil von dem heimzugeben, was du an meiner lieben Mutter und an mir getan.«

»Also dennoch auf immer,« erwiderte er traurig; »also nur noch morgen, und dann für immer scheiden?«

»Für immer!« hauchte sie kaum hörbar, indem sie ihn fester an ihre Lippen schloß.

»Hier also findet man dich, du niederträchtige Metze!« schrie in diesem Augenblick ein dritter, der neben dieser Gruppe stand. Sie sprangen erschreckt auf; zitternd vor Zorn, knirschend vor Wut stand der Baron, in der einen Hand ein Papier, in der andern die Reitpeitsche haltend, die er eben aufhob, um sie über den schönen Nacken der Unglücklichen herabschwirren zu lassen. Fröben fiel ihm in den Arm, entwand ihm mit Mühe die Peitsche und warf sie weit hinweg. »Ich bitte dich,« sagte er zu dem Wütenden; »nur hier keine Szene; deine Leute sind im Garten, du schändest dich und dein Haus durch einen solchen Auftritt.«

»Was?« schrie jener, »ist mein Haus nicht schon genug geschändet durch diese niederträchtige Person, durch dieses Bettlerpack, das ich in meinem Haus hatte? Meinst du, ich kenne deine Handschrift nicht,« fuhr er fort, indem er ihr das Papier hinstreckte; »das ist ja ein süßes Briefchen an den Herrn Galan hier, an den Romanhelden. Also eine Dirne mußte ich heiraten, die du unterhieltst, und als du ihrer satt warest, sollte der ehrliche Faldner sie zur gnädigen Frau machen; dann kommt man nach sechs Monaten so zufällig zu Besuch, um den Hörnern des Gemahls noch einige Enden anzusetzen. Das sollst du mir bezahlen, Schandbube; aber dieses Bettelweib mag immer wieder mit Teller und Laterne sich am Pont des Arts aufstellen oder von deinem Sündenlohn leben. Meine Knechte sollen sie mit Hetzpeitschen vom Hof jagen!«

[191]


33.

Der Mann von gediegener Bildung hat in solchen Momenten ein entschiedenes Uebergewicht über den Rohen, der von Wut zur Unbesonnenheit hingerissen, unsicher ist, was er beginnen soll. Ein Blick auf Josephe, die bleich, zitternd, sprachlos auf der Moosbank saß, überzeugte Fröben, was hier zu tun sei. Er bot ihr den Arm und führte sie aus der Laube nach dem Schlosse. Wütend sah ihnen der Baron nach; er war im Begriff, seine Knechte zusammenzurufen, um seine Drohung zu erfüllen, aber die Furcht, seine Schande noch größer zu machen, hielt ihn ab. Er rannte hinauf in den Saal, wo Josephe auf dem Sofa lag, ihr weinendes Gesicht in den Kissen verbarg, wo Fröben wie gedankenlos am Fenster stand und hinausstarrte. Scheltend und fluchend rannte jener in dem Saal umher; er verfluchte sich, daß er sein Leben an eine solche Dirne gehängt habe. »Es müßte keine Gerechtigkeit mehr im Lande sein, wenn ich sie mir nicht vom Halse schaffte!« rief er. »Sie hat Taufschein und alles fälschlich angegeben; sie hat sich für ebenbürtig ausgegeben, die Bettlerin, diese Ehe ist null und nichtig!«

»Das wird allerdings das vernünftigste sein,« unterbrach ihn Fröben; »es kommt nur darauf an, wie du es angreifst, um dich nicht noch mehr zu blamieren –«

»Ha, mein Herr!« schrie der Baron in wildem Zorn, »Sie spotten noch über mich, nachdem Sie durch Ihre grenzenlose Frechheit all diese Schande über mich brachten? Folgen Sie mir, zu unserer Scheidung brauchen wir weiter keine Assisen; die kann sogleich abgemacht werden. Folgen Sie!«

Josephe, die diese Worte verstand, sprang auf; sie warf sich vor dem Wütenden nieder, sie beschwor ihn, alles nur über sie ergehen zu lassen; denn sein Freund sei ja ganz unschuldig; sie wies hin auf den Zettel in seiner Hand, den sie erkannte; sie schwur, daß Fröben erst heute erfahren, wer sie sei. Aber der junge Mann selbst unterbrach ihre Fürbitten, er hob sie auf und führte sie zum Sofa zurück. »Ich bin gewohnt,« sagte er kaltblütig zum Baron, »bei solchen Gängen zuerst meine Arrangements zu treffen, und du wirst wohl tun, es auch nicht zu unterlassen. Vor allem geht deine Frau jetzt aus dem Schloß, denn hier will ich sie nicht mehr wissen, wenn ich nicht da bin, sie vor deinen Mißhandlungen zu schützen.«

[192]

»Du handelst ja hier wie in deinem Eigentum,« erwiderte der Baron vor Zorn lachend; »doch Madame war ja schon vorher dein Eigentum, ich hätte es beinahe vergessen; wohin soll denn der süße Engel gebracht werden? In ein Armenhaus, in ein Spital oder an den nächsten besten Zaun, um ihr Gewerbe fortzusetzen?«

Fröben hörte nicht auf ihn; er wandte sich zu Josephe. »Wohnt die Gräfin noch in der Nähe?« fragte er sie. »Glauben Sie wohl für die nächsten Tage einen Aufenthalt dort zu finden?«

»Ich will zu ihr gehen,« flüsterte sie.

»Gut; Faldner wird die Gnade haben, Sie hinfahren zu lassen, dort erwarten Sie das Weitere, ob er einsieht, wie unrecht er uns beiden getan, oder ob er darauf beharrt, sich von Ihnen zu trennen.«


34.

Josephe war zu der Gräfin abgefahren; der Freund hatte ihr geraten, bei ihrer Ankunft nur einen Besuch von einigen Tagen vorzugeben, indessen wolle er ihr über die Stimmung seines Freundes Nachricht geben, und wenn es möglich wäre, ihn bereden, sich mit ihr zu versöhnen. »Nein,« rief sie leidenschaftlich, indem sie von der Terrasse an den Wagen hinabstieg, »in diese Türe kehre ich nie mehr zurück, auf ewig wende ich diesen Mauern den Rücken. Glauben Sie, eine Frau vermag viel zu ertragen, ich habe lange dulden müssen, und das Herz wollte mir oft zerspringen, aber heute hat er mich zu tief beleidigt, als daß ich ihm vergeben könnte. Und sollte ich wieder zurückkehren müssen auf den Pont des Arts, die Menschen um ein paar Sous anzuflehen, ich will es lieber tun, als noch länger solche niedrige Behandlung von diesem rohen Menschen mir gefallen lassen. Mein Vater war ein tapferer Soldat und ein geachteter Offizier Frankreichs, seine Tochter darf sich nicht bis zur Magd eines Faldner entwürdigen.«

Der junge Mann hatte nach ihrer Abreise einige Briefe geschrieben und war gerade mit Ordnen seines kleinen Gepäcks beschäftigt, als Faldner in das Zimmer trat. Fröben sah ihn verwundert an und erwartete neue Angriffe und Ausbrüche seines Zorns. Jener aber sagte: »Ich glaube, je mehr ich diese unglücklichen Zeilen lese, die ich heute mittag auf deinem Zimmer fand, immer mehr, daß du eigentlich doch unschuldig an der miserablen Historie bist, nämlich, daß du vorher nichts[193] wußtest und die Person nicht kanntest; daß ich mein Weib in deinen Armen traf, verzeihe ich dir, denn jene Person hatte aufgehört, mein zu sein, als sie den törichten Brief an dich schrieb.«

»Es ist mir wegen unseres alten Verhältnisses erwünscht,« antwortete Fröben, »wenn du die Sache so ansiehst, hauptsächlich auch, weil ich dadurch Gelegenheit bekomme, vernünftig und ruhig mit dir über Josephe zu sprechen. Fürs erste mein heiliges Wort, daß zwischen ihr und mir bis heute mittag nie, auch früher nicht, etwas vorging, was im geringsten ihrer Ehre nachteilig wäre; daß sie arm war, daß sie einmal genötigt war, die Hilfe der Menschen anzurufen –«

»Nein, sag lieber, daß sie bettelte,« rief Faldner hitzig, »und nachts auf den Straßen und Brücken der liederlichen Hauptstadt umherzog, um Geld zu verdienen; ich hätte ja schon damals das Vergnügen ihrer nähern Bekanntschaft haben können, ich war ja bei der rührenden Szene auf dem Pont des Arts. Nein, wenn ich dir auch alles glaubte, ich bin dennoch beschimpft; die Familie Faldner und eine Bettlerin!«

»Ihr Vater und ihre Mutter waren von gutem Hause –«

»Fabeln, Dichtung! Daß ich mich so fangen ließ; ebensogut hätte ich die Kellnerin aus der Schenke heiraten können, wenn sie ein Bierglas im Wappen führte und ein falsches Zeugnis ihrer Geburt brachte!«

»Das ist in meinen Augen das Geringste bei der Sache; die Hauptsache ist, daß du sie gleich von Anfang wie eine Magd behandeltest und nicht wie deine Frau; sie konnte dich nie lieben; ihr paßt nicht füreinander.«

»Das ist das rechte Wort,« entgegnete der Baron, »wir passen nicht zusammen; der Freiherr von Faldner und eine Bettlerin können nie zusammen passen. Und jetzt freut es mich erst recht, daß ich meinem Kopf folgte und sie so behandelte, die Dirne hat es nicht besser verdient. Ich hab' es ja gleich gesagt, sie hat so etwas Gemeines an sich.«

Diese Roheit empörte den jungen Mann, er wollte ihm etwas Bitteres entgegnen, aber er bezwang sich, um Josephen nützlich zu sein. Er redete mit dem Baron ab, was hierin zu tun sei, und sie kamen dahin überein, daß sie die ganze Sache vor die bürgerlichen Gerichte bringen und gegenseitige Abneigung als Grund zur Trennung angeben sollten. Freilich[194] konnte bei ihren Glaubensverhältnissen keiner der beiden Teile hoffen, in einer neuen Verbindung Trost zu finden; aber Josephen, wenn sie auch mit Schrecken in eine hilflose Zukunft blickte, schien kein Los so schwer, daß es nicht gegen die unwürdige Behandlung, die sie in Faldners Hause erduldete, erträglich geschienen hätte, und der Baron, wenn ihn auch in manchen einsamen Stunden Reue anwandelte, suchte Zerstreuung in seinen Geschäften und Trost in dem Gedanken, daß ja niemand seine Schande erfahren habe, eine Bettlerin von zweideutigem Charakter zur Frau von Faldner gemacht zu haben.


35.

Einige Wochen nach diesem Vorfall ging Fröben in Mainz, wohin er sich, um doch in Josephens Nähe zu sein, zurückgezogen hatte, auf der Rheinbrücke abends hin und wieder. Er gedachte der sonderbaren Verkettung des Schicksals, er dachte an mancherlei Auswege, die ihn und die geliebte Frau vielleicht noch glücklich machen könnten; da fuhr ein Reisewagen über die Brücke her, dessen wunderlicher Bau die Aufmerksamkeit des jungen Mannes schon von weitem auf sich zog. Bald aber haftete sein Auge nur noch an dem Bedienten, der auf dem Bock saß; dieses braungelbe, heitere Gesicht, das neugierig um sich schaute, schien ihm ebenso bekannt als die grellen Farben der Livree. Als der Wagen, der sich auf der Brücke nur im Schritt weiter bewegen durfte, näher herankam, bemerkte auch der Diener den jungen Mann und rief: »San Jago di Compostella! Das ist er ja selbst!« Er riß das Wagenfenster auf, das ihn von dem Innern des Wagens trennte, und sprach eifrig hinein. Alsobald wurde auf der Seite des Wagens ein Fenster niedergelassen und heraus fuhr das wohlbekannte Gesicht Don Pedros di San Montanjo Ligez. Der Wagen hielt; der junge Mann sprang freudig herzu, um den Schlag zu öffnen, und der alte Herr sank in seine Arme. »Wo ist sie, wo habt Ihr sie, die Tochter meiner Laura? O, um der heiligen Jungfrau willen, habt Ihr sie hier? Sagt an, junger Herr! Wo ist sie?«

Der junge Mann schwieg betreten; er führte den Alten auf der Brücke weiter und sagte ihm dann, daß sie nicht weit von dieser Stadt sich aufhalte, und morgen wolle er ihn zu ihr führen.

Der Spanier hatte Freudentränen im Auge. »Wie danke ich Euch für die Nachrichten, die Ihr mir gegeben!« sprach er.[195] »Sobald ich Urlaub bekommen hatte, setzte ich mich mit Diego in den Wagen und ließ mich von W. bis hier täglich sechs Meilen fahren, denn länger hielt ich es nicht aus. Und lebt sie glücklich? Sieht sie ihrer Mutter ähnlich, und was erzählt sie von Laura Tortosi?« Fröben versprach, auf seinem Zimmer alle seine Fragen zu beantworten. Er ließ, nachdem sich der Spanier ein wenig ausgeruht und umgekleidet hatte, Xeres bringen, schenkte ein, Diego reichte, wie damals, die Zigarren, und als Don Pedro recht bequem saß, fing der junge Mann seine Erzählung an. Mit steigendem Interesse hörte ihn der Spanier an; zu großem Aergernis Diegos ließ er seit zwanzig Jahren zum erstenmal die Zigarre ausgehen, und als der junge Mann an jene empörende Szene zwischen Faldner und der unglücklichen Frau kam, da konnte er sich nicht mehr halten; sein altes, südliches Blut kochte auf; er drückte den Hut tief in die Stirne, wickelte den linken Arm in den Mantel und rief mit blitzenden Augen: »Meinen langen Stoßdegen her, Diego, den mach' ich kalt, so wahr ich ein guter Christ und spanischer Edelmann bin; ich stech' ihn nieder und hätte er ein Kruzifix vor der Brust, ich bring' ihn um; ohne Absolution und ohne alle Sakramente schick' ich ihn zur Hölle, so tu' ich. Bring mir mein Schwert, Diego!«

Aber Fröben zog den zitternden, vom Zorn erschöpften Alten zu sich nieder; er suchte ihm begreiflich zu machen, wie dies alles nicht nötig sei, denn Josephe sei schon aus der Gewalt des rohen Menschen befreit und lebe getrennt von ihm. Er holte, um ihn noch mehr zu besänftigen, jenes Bild herbei und entfaltete es vor den staunenden Blicken Pedros. Entzückt betrachtete es der Don. »Ja, sie ist es,« rief er, alles übrige vergessend, »meine arme, unglückliche Laura!« Und weinend umarmte er den jungen Mann, nannte ihn seinen lieben Sohn und dankte ihm mit gebrochener Stimme für alles, was er an der unglücklichen Mutter und ihrer armen Tochter getan.

Am andern Morgen brach er mit Fröben nach dem Gut der Gräfin auf. Es war ein rührender Anblick, wie der alte Mann die schöne jugendliche Gestalt Josephens umschlungen hielt, wie er ihre Züge aufmerksam betrachtete, wie seine strengen Züge immer weicher wurden, wie er sie dann gerührt auf Auge und Mund küßte. »Ja, du bist Lauras Tochter!« rief er. »Dein Vater hat dir nichts gegeben als sein blondes Haar, aber das sind ihre lieben Augen, das ist ihr Mund, das sind die schönen Züge der Tortosi! Sei meine Tochter, liebes Kind;[196] ich habe keine Verwandten und bin reich; durch Verwandtschaft, mein Herz und einen zwanzigjährigen Gram gehörst du mir näher an als irgend jemand auf der Erde!« Ihre Blicke, die über seine Schultern weg auf Fröben fielen, schienen diese letztere Behauptung nicht gerade zu bestätigen, aber sie küßte gerührt seine Hand und nannte ihn ihren Oheim, ihren zweiten Vater.

Die Freude des Wiedersehens dauerte übrigens nur wenige Tage. Don Pedro erklärte sehr bestimmt, daß ihn seine Geschäfte nach Portugal rufen und zugleich schien er gar nicht einzusehen, was Josephen abhalten könnte, ihm dahin zu folgen; er hegte zu strenge Grundsätze über die Artikel seiner Kirche, als daß er den Gedanken für möglich gehalten hätte, Fröben könne Josephe, die getrennte Gattin eines andern, zur Frau begehren. Es ist uns nicht bekannt geworden, was die Liebenden über diesen strittigen Punkt verhandelten; nur so viel ist gewiß, daß Fröben einigemal darauf hindeutete, sie solle zum evangelischen Glauben zurückkehren, daß sie jedoch, zwar mit unendlichem Schmerz, aber sehr bestimmt, diesen Vorschlag abwies. Oft soll ihr der junge Mann in Verzweiflung über die herannahende Trennung vorgeschlagen haben, sie solle Don Pedro ziehen lassen, sie solle für sich leben, in Deutschland bleiben, er wolle, wenn er nicht ihr Gatte werden könne, auf immer als Freund um sie sein. Aber auch dies lehnte sie ab; sie gestand ihm offen, daß sie sich zu schwach fühle, ein solches Verhältnis mit Ehren hinauszuführen, und stolzer gemacht durch ihr Unglück, bebte sie zurück vor dem Gedanken an eine unwürdige Verbindung mit einem Mann, den sie so hoch achtete, als sie ihn liebte. Allein mit sich, gestand sie sich wohl, daß ein noch edelmütigerer Gedanke ihre Schritte lenke. »Sollte er,« sagte sie zu sich, »die Blüte des Lebens an ein unglückliches Geschöpf verlieren, das ihm nur Freundin sein darf? Soll er den hohen Genuß häuslicher Freuden, das Glück, Kinder und Enkel um sich zu versammeln, wegen meiner aufgeben? Nein, er hat mich schon einmal verloren und die Zeit wird auch jetzt seinen Schmerz lindern, er wird ein unglückliches Wesen vergessen, das ewig an ihn denken, ihn lieben, für ihn beten wird.«

So schienen denn jene prophetischen Worte Josephens: »Auf immer!« in Erfüllung zu gehen. Don Pedro verließ mit seiner neuen Verwandten das Gut der Gräfin, um durch Holland auf die See zu gehen. Fröben, den vielleicht nur der Gedanke, Josephen bald nach Portugal nachzufolgen und dort ihr[197] Freund zu sein, aufrecht erhielt, geleitete die Geliebte auf der Reise durch Deutschland und Holland; und so oft sie ihn bat, durch längeres Begleiten die Tage der Trennung nicht noch schwerer zu machen, bat er mit Tränen im Auge: »Nur bis ans Meer und dann auf immer!«


36.

Im August dieses Jahres wurde in Ostende ein englisches Schiff klar, das nach Portugal Schiffsgut und Passagiere brachte. Es war ein schöner Morgen, die Nebel hatten sich gesenkt und die Tage schienen für die Fahrt günstig werden zu wollen. Es war um neun Uhr morgens, als ein Kanonenschuß von dem Engländer herüberschallte, zum Zeichen, daß die Passagiere sich an die Küste begeben sollen. Zu gleicher Zeit ruderte eine Schaluppe heran und warf ihr Brett aus, um die Reisenden einzunehmen. Vom Land her kamen viele Personen mit Gepäck, gingen über das Brett, und bald war die Schaluppe voll und die erste Ladung wurde an Bord gebracht. Ehe noch die Schaluppe zum zweitenmal anlegte, sah man vier Personen sich dem Strande nähern, die sich durch Gang, Haltung und Kleidung von den übrigen ärmlicheren Passagieren unterschieden. Ein hoher, ältlicher Mann ging stolzen Schrittes voraus; er hatte einen breitgekrempten Hut auf und den Mantel so kunstreich und bequem um die Schultern geschlagen, daß ein Schiffer, der ihn kommen sah, ausrief: »Ich laß mich fressen, wenn es kein Spanier ist!« hinter jenem kam ein jüngerer Herr, der eine schöne, schlankgebaute Dame führte. Der junge Herr war sehr bleich, schien einen großen Kummer niederzukämpfen, um durch Zureden einen noch größeren bei der Dame zu beschwichtigen. Ihr schönes Gesicht war um Auge und Stirne von heftigem Weinen gerötet, der Mund schmerzlich eingepreßt und die Wangen und untern Teile des Gesichtes sehr bleich. Sie ging schwankend, auf den Arm des jungen Mannes gestützt; ein Hütchen mit wallenden Straußfedern; ein wallendes Kleid von schwerem schwarzen Seidenzeug, um Hals und Busen reiche Goldketten, schienen nicht zur Reise zu passen, und man konnte daher glauben, daß sie den jungen Mann an Bord begleite; hinter beiden ging ein Diener in bunten Kleidern; er trug einen großen Sonnenschirm unter dem Arm und hatte ein spanisches Netz über seine dunkeln Haare gezogen.

[198]

Als sie so weit herabgekommen waren, wo der Sand von der vorigen Flut noch feucht war, an die Stelle, wo man das Brett nach der Schaluppe auswarf, blieben sie stehen, und das schöne junge Paar sah nach dem Schiff, dann sahen sie sich an und die Dame legte ihr Haupt auf die Schulter des Mannes, daß die Straußfedern um sein Gesicht spielten und seine stillen Tränen den Augen der Neugierigen verbargen. Der alte Herr stand nicht weit davon, wickelte sich, finster auf die See blickend, tief in seinen Mantel, und sein Auge blinkte, man wußte nicht ob von einer Träne oder dem Widerschein der glänzenden Wellen. Jetzt kam die Schaluppe plätschernd ans Ufer; das Brett wurde ausgeworfen und ein donnernder Schuß vom Schiffe schreckte das Paar aus seiner Umarmung. Der alte Herr trat heran, bot dem jungen Mann die Hand, schüttelte sie kräftig und stieg dann schnell über das Brett, sein Diener folgte, nachdem auch er dem Jüngling herzlich die Hand geboten. Jetzt umarmten sich die jungen Leute noch einmal; er wandte sich zuerst los und führte die Dame nach dem Brett. »Auf immer!« flüsterte sie mit wehmütigem Lächeln. »Auf immer!« antwortete der junge Mann, indem er sie bebend, mit Tränen ansah. Noch einen Händedruck und sie wandte sich, das Brett hinanzusteigen. Schon stand sie oben, der Oberbootsmann, ein breiter Engländer, wartete am Brett, streckte seine breite Hand aus, um die schöne Dame zu empfangen, und hatte schon einige gutgemeinte Trostgründe in Bereitschaft. Da wandte sie von dem unendlichen Meer ihr dunkles Auge noch einmal zurück nach dem jungen Mann. Ihre hohe herrliche Gestalt schwebte kühn auf dem schmalen Brett, ihr schlanker Hals war nach dem Land zurückgebogen, die schwankenden Federn des Hutes schienen hinüberzugrüßen. Er breitete die Arme aus, in seinen Zügen mischte sich die Seligkeit der Liebe mit dem Schmerz der Trennung. Da schien sie ihrer selbst nicht mehr mächtig zu sein; sie sprang über das Brett und hinab auf das Land, und ehe der Bootsmann die Hände vor Verwunderung zusammenschlagen konnte, hing sie schon an des jungen Mannes Hals, an seinen Lippen. »Nein, ich kann nicht über das Meer,« rief sie, »ich will bleiben; ich will alles tun, was du willst, will diese Fesseln eines Glaubens von mir werfen, der mich hindert, meinem bessern Gefühl zu folgen; du bist mein Vaterland, meine Familie, mein alles; ich bleibe!«

»Josephe, meine Josephe!« rief der junge Mann, indem er sie mit stürmischem Entzücken an sein Herz drückte. »Mein,[199] mein auf immer? Ein Gott hat dein Herz gelenkt, o, ich wäre untergegangen unter der Qual dieser Trennung!« Sie hielten sich noch umschlungen, als der alte Herr mit hastigen Schritten über Bord und das Brett herabstieg und zu der Gruppe trat: »Kinder,« sagte er, »einmal Abschied zu nehmen wäre genug gewesen; komm, Josephe, es hilft ja doch zu nichts, sie werden gleich zum drittenmal schießen.«

»Laßt sie mit Stückkugeln schießen, Don Pedro,« rief der junge Mann mit freudig verklärten Zügen, »sie bleibt hier, sie bleibt bei mir!«

»Was höre ich?« erwiderte jener sehr ernst. »Ich will nicht hoffen, daß dies so ist, wie der Kavalier sagt; du wirst deinem Verwandten folgen, Josephe!«

»Nein!« rief sie mutig, »als ich dort oben auf dem Rand der Schaluppe stand und hinaussah auf diese Fluten, die mich von ihm trennen sollten, da stand fest in mir, was ich zu tun habe; meine Mutter hat mir den Weg gezeigt; sie ist einst dem Mann ihres Herzens in die weite Welt gefolgt, hat Vater und Mutter verlassen aus Liebe; ich weiß, was auch ich zu tun habe, hier steht der, dem meine arme Mutter ihre letzten süßen Stunden, dem ich Leben, Ehre, alles verdanke, und ich sollte ihn verlassen? Grüßet die Gräber meiner Ahnen in Valencia, Don Pedro, und saget ihnen, daß es noch eine aus dem Stamm der Tortosi gibt, der die Liebe höher gilt als das Leben!«

Don Pedro wurde weich. »So folge deinem Herzen, vielleicht ratet es dir besser als ein alter Mann; ich weiß dich zum mindesten glücklich in den Armen dieses edlen Mannes, und sein hoher Sinn bürgt mir dafür, daß ihm unsere Ehre nicht minder hoch als die seine gilt. Aber, Don Fröbenio, was werden Sie zu Ihren stolzen Verwandten sagen, wenn Sie dieses Kind des Elends vorstellen? Gott! Werden Sie auch den Mut haben, den Spott der Welt zu ertragen?«

»Fahre wohl, Don Pedro,« sagte der junge Mann mit mutigem Gesicht, indem er jenem die eine Hand zum Abschied bot und mit der andern die Geliebte umschlang; »seid getrost und verzaget nicht an mir. Ich werde sie der Welt zeigen, und wenn man mich fragt: Wer war sie denn? so werde ich mit freudigem Stolz antworten: Es war die Bettlerin vom Pont des Arts


[200]

Jud Süß.

1.

Der Karneval war nie in Stuttgart mit so großem Glanz und Pomp gefeiert worden als im Jahr 1737. Wenn ein Fremder in die ungeheuren Säle trat, die zu diesem Zwecke aufgebaut und prachtvoll dekoriert waren, wenn er die Tausende von glänzenden und fröhlichen Masken überschaute, das Lachen und Singen der Menge hörte, wie es die zahlreichen Fanfaren der Musikchöre übertönte, da glaubte er wohl nicht in Württemberg zu sein, in diesem strengen, ernsten Württemberg, streng geworden durch einen eifrigen, oft asketischen Protestantismus, der Lustbarkeiten dieser Art als Ueberbleibsel einer andern Religionspartei haßte; ernst, beinahe finster und trübe durch die bedenkliche Lage, durch Elend und Armut, worein es die systematischen Kunstgriffe eines allgewaltigen Ministers gebracht hatten.

Der prachtvollste dieser Freudentage war wohl der zwölfte Februar, an welchem der Stifter und Erfinder dieser Lustbarkeiten und so vieles andern, was nicht gerade zur Lust reizte, der Jud Süß, Kabinettsminister und Finanzdirektor, seinen Geburtstag feierte. Der Herzog hatte ihm Geschenke aller Art am Morgen dieses Tages zugesandt; das angenehmste aber für den Kabinettsminister war wohl ein Edikt, welches das Datum dieses Freudentages trug, ein Edikt, das ihn auf ewig von aller Verantwortung wegen Vergangenheit und Zukunft freisprach. Jene unzähligen Kreaturen jeden Standes, Glaubens und Alters, die er an die Stelle besserer Männer gepflanzt hatte, belagerten seine Treppen und Vorzimmer, um ihm Glück zu wünschen, und manchen ehrliebenden, biedern Beamten trieb an diesem Tage die Furcht, durch Trotz seine Familie unglücklich zu machen, zum Handkuß in das Haus des Juden.

Dieselben Motive füllten auch abends die Karnevalsäle. Seinen Anhängern und Freunden war es ein Freudenfest, das sie noch oft zu begehen gedachten; Männer, die ihn im stillen[201] haßten und öffentlich verehren mußten, hüllten sich zähneknirschend in ihre Dominos und zogen mit Weib und Kindern zu der prachtvollen Versammlung der Torheit, überzeugt, daß ihre Namen gar wohl ins Register eingetragen und die Lücken schwer geahndet würden; das Volk aber sah diese Tage als Traumstunden an, wo sie im Rausch der Sinne ihr drückendes Elend vergessen könnten; sie berechneten nicht, daß die hohen Eintrittsgelder nur eine neue indirekte Steuer waren, die sie dem Juden entrichteten.

Der Glanzpunkt dieses Abends war der Moment, als die Flügeltüren aufflogen, eine erwartungsvolle Stille über der Versammlung lag, und endlich ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit auffallenden, markierten Zügen, mit glänzenden, funkelnden Augen, die lebhaft und lauernd durch die Reihen liefen, in den Saal trat. Er trug einen weißen Domino, einen weißen Hut mit purpurroten Federn, auf welchen er die schwarze Maske nachlässig gesteckt hatte; es war nichts Prachtvolles an ihm als ein ungewöhnlich großer Solitär, welcher am Hals die purpurrote Bajute von Seidenflor, die über den Domino herabfiel, zusammenhielt. Er führte eine schlanke, zartgebaute Dame, die, in ein mit Gold und Steinen überladenes orientalisches Kostüm gekleidet, aller Augen auf sich zog.

»Der Herr Finanzdirektor, der Herr Minister,« flüsterte die Menge, als er vornehm grüßend durch die Reihen ging, die sich ihm willig öffneten; und als er in der Mitte des Hauptsaales angekommen war, begrüßten ihn Trompeten und Pauken und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Masken klatschte ihm Beifall, während man andere wie von einem unzüchtigen Schauspiele sich abwenden sah. Aber allgemein schien die Teilnahme, womit man die schöne Orientalin betrachtete, die mit dem Minister gekommen war. Seine Lebensweise war zu bekannt, als daß nicht die meisten unter der Larve der reich geschmückten Dame eine seiner Freundinnen geahnet hätten, nur darüber schien man uneinig, welcher von diesen solche Auszeichnung zu teil geworden sei; die eine schien zu klein für diese Figur, die andere zu korpulent für diese zierliche Taille, die dritte zu schwerfällig, um so leicht und beinahe schwebend über den Boden zu gleiten, und einer vierten, bei welcher man endlich stille stehen wollte, konnte nicht dieses glänzend schwarze Haar, das in reichen Locken um den stolzen Nacken fiel, nicht dieses herrliche, dunkle Auge gehören, das man aus der Maske hervorleuchten sah.

[202]

Die Menge pflegt, wenn ihre Neugier nicht sogleich befriedigt wird, bei Gelegenheiten von so glänzender und rauschender Art, wie dieser Karneval war, nicht lange bei einem Gegenstand stille zu stehen. »Wenn sie die Maske abnimmt, wird man ja sehen!« sprach man, ohne der Dame noch längere Aufmerksamkeit zu schenken, als nötig war, um zu bemerken, wie sie zum Menuett antrat. Aber drei junge Männer, die müßig hinter den Reihen der Tanzenden standen, schienen diese Erscheinung noch immer unablässig zu verfolgen.

»Wer sie nur sein mag?« rief der eine ungeduldig. »Ich wollte gern dem verzweifelten Juden fünfzig Eintrittskarten abkaufen, wenn er mir sagte, woher dieses Mädchen kommt, das er wie eine Fürstin in den Saal führte.«

»Herr Bruder!« erwiderte der zweite, indem er unter dem Sprechen kein Auge von der Orientalin abwandte: »Herr Bruder, Parole d'honneur! Diese Widersprüche kann ich nicht vereinigen, und wenn ich bei Cartesius selbst die Logik samt dem ›cogito, ergo sum‹ studiert hätte; eine so ungewöhnliche feine Gestalt, diese Haltung, diese nach den neuesten und vornehmsten Regeln abgemessene Bewegung, diese Art, das Handgelenk rund und spielend zu bewegen, wie ich sie nur in den bedeutendsten Zirkeln zu Wien und Paris sah, dieser Anstand, womit sie den Nacken trägt –«

»Gott verdamm' mich, du hast recht, Herr Bruder!« unterbrach ihn der dritte. »Dieses alles und – mit Süß auf den Ball zu kommen! Nein, ein solcher Kontrast ist mir in meinem Leben nicht vorgekommen!«

»Aus unserer Bekanntschaft,« fuhr der erste fort, »aus unsern Kreisen kann sie nicht sein; denn wenn es auch wahr ist, was man flüstert, daß schon mancher elende Kerl von einem Vater seine Tochter mit einer Bittschrift zum Juden schickte, so laut läßt keiner seine Schande werden, daß er sein leibliches Kind mit dieser Mazette auf den Ball schickt!«

»Bitte dich ums Himmels willen, Herr Bruder, nicht so laut, er hat überall seine Spione, und uns ist er ohnedies nicht grün; denk an deine Familie, willst du dich unglücklich machen? Aber wahr ist's, es kann kein Mädchen aus bessern Ständen sein, und doch ist ihr Wesen für eine Bürgerstochter zu anständig. Doch halt, wer ist der Sarazene, der dort auf uns zukommt? Die Farbe seines Turbans ist ja dieselbe, wie ihn die Scharmante des Juden hat!«

Die jungen Männer wandten sich um und sahen einen[203] schlanken, schöngewachsenen Mann, der, als Sarazene gekleidet, sich durch die einfache Pracht seines Kostüms wie durch Gang und Haltung vor gemeineren Masken auszeichnete. Auch er schien die jungen Männer ins Auge gefaßt zu haben, denn er ging langsam an sie heran und zögerte, an ihnen vorüber zu schreiten.

»Was ist deine Parole?« fragte der eine der jungen Männer, der in der Maske einen Freund zu erkennen glaubte. »Hast du nur dein Allah zum Feldgeschrei, oder weißt du sonst ein Sprüchlein?«

»Gaudeamus igitur, juvenes dum sumus,« erwiderte der Sarazene, indem er stille stand.

»Er ist's, er ist's,« riefen zwei dieser jungen Herren und schüttelten die Hand des Sarazenen. »Gut, daß wir die Parole gaben, ich hätte sonst kein Erkennungszeichen für dich gehabt, denn ich war meiner Sache so gewiß, du seiest als Bauer hier, daß ich mit dem Kapitän eine Flasche gewettet habe, du müßtest ein Bauer sein!«

»Laßt uns ans Büffet treten,« sagte der zweite, »ich habe dir hier jemand vorzustellen, Bruder Gustav, der sich auf deine Bekanntschaft freut, und du weißt, in Larven erkennt man sich schlecht.«

»Freund,« erwiderte Gustav, »ich nehme die Larve nicht ab, ich habe Gründe; so angenehm mir die Bekanntschaft dieses Herrn wäre, so muß ich sie doch bis morgen versparen.«

»Und wenn es nun Pinassa wäre, nach welchem du so oft gefragt?« antwortete jener.

»Pinassa? Mit dem du dich geschlagen? Nein, das ändert die Sache, den will ich sehen und begrüßen; aber – meine Maske nehme ich nur auf zwei Augenblicke und im fernsten Winkel des Speisesaals ab.«

»Wir sind's zufrieden, Bruder Sarazene,« antwortete der Kapitän. »Aber laß uns nur erst an die zweite Flasche kommen, dann sollst du auch die Gründe beichten, warum du dein Angesicht nicht leuchten lassen willst vor den Freunden!«


2.

In dem Speisesaal, welchen sie wählten, waren nur wenige Menschen, denn man verkaufte hier nur ausgesuchte Weine, feine Früchte und warme Getränke, während die größeren Trinkstuben, wo Landwein, Bier und derbere Speisen zu haben waren, die größere Menge an sich zogen. In einer Ecke des[204] Zimmers war ein Tischchen leer, wo der Sarazene, wenn er dem übrigen Teil des Saales den Rücken kehrte, ohne Gefahr, erkannt zu werden, die Maske abnehmen konnte. Sie wählten diesen Platz, und als die vollen Römer vor ihnen standen, legten die zwei jungen Krieger die Masken ab, und der Kapitän begann: »Herr Bruder, ich habe die Ehre, dir hier den unvergleichlichen Kavalier Pinassa vorzustellen, den berühmtesten Fechter seiner Zeit; denn es gelang ihm, durch eine unbesiegliche Terz-Quart-Terz, mich, bedenke, mich den Senior des Amicistenordens, in Leipzigs unvergeßlichem Rosenthal hors de combat zu machen. Er hat gleich mir die Musen verlassen, hat gesungen: ›Will mich Minerva nicht, so mag Bellona raten‹, und hat den alten Hieber und sein ungeheures Stichblatt, worauf er sein Frühstück zu verzehren pflegte, mit dem Paradedegen eines herzoglich württembergischen Leutnants vertauscht.«

»Der Tausch ist nicht übel, Herr von Pinassa, und mein Vaterland kann sich dazu Glück wünschen,« sagte der Sarazene, indem er sich vor dem neuen Leutnant verbeugte. »Wolltet Ihr einmal in unsern Dienst treten, so war diese Laufbahn die angenehmste. Der Zivilist hat zu dieser Zeit wenig Aussicht, wenn er nicht ein Amt für fünftausend Gulden oder für sein Gewissen und ehrlichen Namen beim Juden kaufen will. Doch diese dünnen Bretterwände haben Ohren – stille davon, es ist doch nicht zu ändern. Wie anders sind Eure Verhältnisse! Der Herzog ist ein tapferer Herr, dem ich einen Staat von zweimalhunderttausend Kriegern gönnen möchte; für uns – ist er zu groß. Der Krieg ist sein Vergnügen, ein Regiment im Waffenglanz seine Freude; leider fällt für uns andere selten eine müßige Stunde ab, und daher kommt es, daß diese Juden und Judenchristen das Zepter führen. Er gilt für einen großen General, er hat mit Prinz Eugen schöne Waffentaten verrichtet, und ein schlanker, junger Mann, mit einer Narbe auf der Stirne, Mut in den Blicken, wie Ihr, Herr von Pinassa, ist ihm jederzeit in seinem Heere willkommen.«

»Was der Sarazene altklug sprechen kann über Juden und Christen!« sprach der Kapitän. »Doch öffne dein Visier und zeige deine Farben, mein Kamerad soll nun auch wissen, mit wem er spricht: das ist der umsichtige, rechtskundige, fürtreffliche Herr Juris utriusque Doctor Lanbek, leiblicher Sohn des berühmten Landschaftskonsulenten Lanbek, welchem er als Aktuarius substituiert ist; ein vortrefflicher Junge, Parole d'honneur, wenn er sich nicht in neuerer Zeit hin und wieder[205] durch sonderbare Melancholie prostituierte, noch trefflicher, wenn ihm der Herr auch einen Sinn für das schöne Geschlecht eingepflanzt hätte.«

Lanbek nahm bei diesen Worten die Maske ab und zeigte dem neuen Bekannten ein errötendes Gesicht von hoher Schönheit. Unter dem Turban stahlen sich gelbe Locken hervor und umwallten kunstlos und ungepudert die Stirne. Eine kühn gebogene Nase und dunkle, tiefblaue Augen gaben seinem Gesicht einen Ausdruck von unternehmender Kraft und einen tiefen Ernst, der mit den weichen Haaren und ihrer sanften Farbe in überraschendem Widerspruch war. Doch das Strenge dieser Züge und dieser Augen milderte ein angenehmer Zug um den Mund, als er antwortete: »Ich öffne mein Visier und zeige Euch ein Gesicht, das Euch recht herzlich bei uns willkommen heißt. Ich trinke auf Euer Wohl dieses Glas, dann aber werdet Ihr entschuldigen, wenn ich aufbreche.«

»Pro poena trinkst du zwei,« rief der Kapitän mit komischem Pathos, indem er einen ungeheuren Hausschlüssel aus der Tasche nahm und ihn als Zepter gegen den Sarazenen senkte. »Hast du so wenig Ehrfurcht vor deinem Senior, daß du dich erfrechst, in loco Gläser zu trinken, ohne daß sie dir ordentlich vom Präses diktiert sind? O tempora, o mores! Wo ist Zucht und Sitte dieser Füchse hin? Pinassa! Zu unserer Zeit war es doch anders!«

Die jungen Männer lachten über diese klägliche Reminiszenz des ehemaligen Amicistenseniors; der Kapitän aber faßte Lanbek schärfer ins Auge und sagte: »Herr Bruder, nimm mir's nicht übel, aber in dir steckte schon lange etwas wie ein Fieber, und heute abend ist die Krisis; ich setze meine verlorene Flasche, davon geht nichts ab, aber ich wette zehn neue; sei ehrlich, Gustav – du warst heute abend schon als Bauer hier, und dein Alter weiß nichts vom Sarazenen.«

Gustav errötete, reichte dem Freunde die Hand und winkte ihm ein Ja zu.

»Alle Tausend!« rief der Kapitän. »Junge, was treibst du? Wer hätte das hinter dem stillen Aktuarius gesucht? Auf dem Karneval das Kostüm zu ändern! Und so ängstlich, so geheimnisvoll, so abgebrochen; willst du etwa dem Juden zu Leibe gehen?«

Der Gefragte errötete noch tiefer und nahm schnell die Maske vor; ehe er noch antworten konnte, sagte Reelzingen: »Herr Bruder, du bringst mich auf die rechte Fährte. Wo habt[206] ihr beide, du und die Orientalin, die der Finanzdirektor führte, das Zeug zu euren Turbanen gekauft? Gustav, Gustav!« setzte er, mit einem Finger drohend, hinzu. »Du wohnst dem Juden gegenüber, ich wette, du weißt, wer die stolze Donna ist, die er führt.«

»Was weiß ich!« murmelte Lanbek unter seiner Larve.

»Nicht von der Stelle, bis du es sagst,« rief der Kapitän; »und wenn du auf deinem Trotz beharrst, so schleiche ich mich an die Orientalin und flüstere ihr ins Ohr, der Sarazene habe mich in sein Geheimnis eingeweiht.«

»Das wirst du nicht tun, wenn ich dich ernstlich bitte, es zu unterlassen,« erwiderte der junge Mann, wie es schien, sehr ernst; »wenn ich übrigens Vermutungen trauen darf, so ist es Lea Oppenheimer, des Ministers Schwester. Und nun adieu! Wenn ihr mir im Saal begegnen solltet, kennt ihr mich nicht, und Reelzingen, wenn mein Vater fragt –«

»So weiß ich nichts von dir, versteht sich,« erwiderte dieser. Der Sarazene erhob sich und ging. Die Freunde aber sahen einander an, und keiner schien zu wissen, ob er recht gehört habe, oder wie er dies alles deuten sollte. »Hat denn der Jude eine Schwester?« fragte Pinassa.

»Man sprach vor einiger Zeit davon, daß er eine Schwester zu sich genommen habe, doch hielt man sie für noch ganz jung, weil sie sich nirgends sehen läßt;« erwiderte Reelzingen nachdenklich. »Und wie er errötete, Herr Bruder, du wirst sehen, da läßt auch einmal wieder der Satan einen vernünftigen Jungen einen dummen Streich machen.«


3.

Lanbek irrte, als er die Freunde verlassen hatte, in den Sälen umher; seine Blicke gleiteten unruhig über die Menge hin, sein Gesicht glühte unter der Larve, und mühsam mußte er oft nach Atem suchen, so drückend war die Luft in dem Saale und so schwer lag Erwartung, Sehnsucht und Angst auf seinem Herzen. Dichter und stürmischer drängte sich die Menge, als er in die Mitte des zweiten Saales kam; mit Mühe schob er sich noch eine Zeitlang durch, aber endlich riß ihn unwillkürlich der Strom fort, der sich nach einer Seite hindrängte, und ehe er sich dessen versah, stand er an einem Spieltisch, wo Süß mit einigen seiner Finanzräte Karten spielte. Große Haufen Goldes lagen auf dem Tische, und die neugierige Menge beobachtete[207] den berühmtesten Mann ihres Landes und teilte sich flüsternd und murmelnd Bemerkungen mit über die ungeheuren Summen, die er, ohne eine Miene zu verändern, hingab oder gewann.

Gustav hatte den Gewaltigen noch nie so in der Nähe beobachtet wie jetzt, da er, festgehalten durch die Menge, die wie eine Mauer um ihn stand, zum unwillkürlichen Beobachter wurde. Er gestand sich, daß das Gesicht dieses Mannes von Natur schön und edel geformt sei, daß sogar seine Stirne, sein Auge durch Gewohnheit zu herrschen etwas Imponierendes bekommen haben; aber feindliche, abstoßende Falten lagen zwischen den Augenbrauen da, wo sich die freie Stirne an die schön geformte Nase anschließen wollte, das Bärtchen auf der Oberlippe konnte einen hämischen Zug um den Mund nicht verbergen; und wahrhaft greulich schien dem jungen Mann ein heiseres, gezwungenes Lachen, womit der jüdische Minister Gewinn oder Verlust begleitete.

Während die Herren, von der Menge umlagert, spielten und auf irgend etwas zu warten schienen, trat ein Mann in der Kleidung eines Bauern aus der Steinlach aus den Reihen der Neugierigen; ein alter Hut auf dem Kopf, eine grobe blaue Jacke, eine rote Weste mit großen Knöpfen von Zinn, Beinkleider von gelbem Leder und schwarze Strümpfe machten sein unscheinbares Kostüm aus; aber er trug eine sehr feine, gutgemalte Larve. Er stützte sich nach Art der Landleute mit der Hand auf den fünf Fuß hohen Knotenstock, legte sein Kinn auf die Hand und sprach in gut nachgeahmtem Dialekt des Steinlachtals: »Viel Geld habt Ihr daliegen, Herr! Und habt alles selbst verdient?«

Der Minister sah sich um und bemühte sich, über diese Maskenfreiheit zu lächeln. Vielleicht mochte ihm diese Gelegenheit erwünscht kommen, um sich ein populäres Ansehen zu geben, denn er antwortete freundlich: »Guten Abend, Landsmann.«

»Euer Landsmann bin ich gerade nicht,« erwiderte der Bauer mit großer Ruhe: »so wie ich tragen sich gewöhnlich die Mausche nicht.« Ein unterdrücktes Lachen flog durch die Reihen der Zuschauer. Der Minister schien es aber nicht zu bemerken, denn er fuhr ganz leutselig fort: »Du bist witzig, mein Freund.«

»Gott bewahr' mich, daß ich Euer Freund sei, Herr Süß,« entgegnete der Bauer. »Wär' ich Euer Freund, so ging' ich wohl nicht in dem schlechten Rock und durchlöcherten Hut; Ihr macht ja Eure Freunde reich.«

[208]

»Nun, dann muß ganz Württemberg mein Freund sein, denn ich mache es reich,« sagte Süß und begleitete seine Rede mit heiserem, unangenehmem Lachen.

»Ihr seid ein Allerweltsgoldmacher,« entgegnete der Bauer. »Wie schön diese Dukaten sind; wieviel Schweißtropfen armer Leute gehen wohl auf ein solches Goldstück?«

»Du bist ein kapitaler Kerl!« rief Süß, ganz ruhig weiter spielend.

Als der Bauer zu einer neuen Rede ansetzen wollte, zog eine neue Gestalt die Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Mann, dessen Kostüm beinahe ebenso war wie des Bauers, nur hatte er einen langen, spitzen Bart am Kinn, und trug einen Tressenrock. Der Bauer sah ihn eine Zeitlang verwundert an, schüttelte ihm dann die Hand und rief: »Ei Hans! Wo kommst du her, und so schmuck und stattlich! Gar nicht mehr wie unsereiner!«

»Das macht,« erwiderte Hans, indem er aus einer silbernen Dose schnupfte, »ich bin bei einem vornehmen Herrn in Dienst getreten.«

»Wer ist denn dein Herr?« fragte der Bauer.

»Ein Schinder, aber ein vornehmer. Meinst du, er schindet gemeines Vieh, Pferde, Hunde und dergleichen? Nein, ein Leuteschinder ist er und noch überdies ein Kartenfabrikant.«

»Ein Kartenfabrikant?« rief der Bauer.

»Jawohl, denn alle Karten im Lande muß man von ihm kaufen, er stempelt sie; er ist aber auch ein Gerber.«

»Wie das?«

»Nun alle Gerber im Lande müssen die Häute gegerbt von ihm kaufen; er ist aber auch ein Prägestock.«

»Wie! ein Prägestock?«

»Ja, er macht alles Geld, was im Lande ist.«

»Das ist erlogen,« sagte der Bauer, »du willst sagen, er macht alles zu Geld, was im Lande ist; aber darum ist er noch kein Prägestock. Es gibt nur einen Prägestock in Württemberg, der dem Land seinen Namenszug aufgedrückt hat.«

Die Menge hatte bisher nur ihren Beifall gemurmelt, aber bei der letzten Anspielung auf die Münze brach sie in lautes Gelächter aus; die Stirne des Gewaltigen verfinsterte sich etwas, aber noch immer spielte er ruhig weiter.

»Aber warum hast du dir den Bart so spitzig wachsen lassen?« fragte der Bauer weiter. »Das sieht ja ganz jüdisch aus.«

[209]

»Es ist halt so Mode,« erwiderte Hans, »seit die Juden Meister im Lande sind; bald will ich vollends ganz jüdisch werden.«

Als Hans diese letzten Worte sprach, rief eine vernehmliche Stimme aus dem dicksten Haufen: »Warte noch ein paar Wochen, Hans, dann kannst du gut katholisch werden.«

Wem je der schreckliche Anblick wurde, wie in einer volkreichen Straße, durch Unvorsichtigkeit oder Bedacht entzündet, eine Tonne Pulvers aufspringt, dem bot sich kaum eine so seltsame Szene dar, als die, welche diese wenigen geheimnisvollen Worte hervorbrachten. Der Minister, bleich wie eine Leiche, springt vom Sessel auf, er wirft die Karten mit wütendem Blick auf den Tisch: »Wer sagt dies? Greift ihn im Namen des Herzogs!« ruft er und stürzt, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, auf die Menge; seine Genossen, nicht weniger bestürzt, aber besonnener, ergreifen seinen Arm und ziehen ihn zurück, suchen ihn zu beschwichtigen – sein dunkles Auge will sich durch die Menge bohren, um den Gegenstand seiner Wut zu fassen, die Masken murmeln unwillig und drängen sich; doch als der gefürchtete Mann seine Hand nach dem Bauer ausstreckt und ruft: »So sollst du mir für ihn haften,« da ist er plötzlich von einer drohenden Menge umringt. »Maskenfreiheit, Jude!« hört man in dumpfen, gefährlichen Tönen, der Bauer und sein Geselle sind in einem Augenblick von ihm getrennt, verschwunden, und so schnell als er vorhin umringt war, ist er wieder verlassen, denn die Menge zerstiebt, von geheimer Furcht gejagt, nach allen Seiten.

Das Gedränge riß Gustav Lanbek mit sich hinweg; seine Gedanken verwirrten sich, es war ihm noch nicht möglich, sich klar vorzustellen, was diesen seltsamen Auftritt verursacht haben könnte. So stand er einige Augenblicke in seinen Gedanken verloren, als er plötzlich seine Hand von einer andern ergriffen fühlte; er sah sich um, die Orientalin stand vor ihm.


4.

»Wo stammt die Rose her auf deinem Hut, Maske?« fragte die Orientalin mit zitternder Stimme.

»Vom See Tiberias,« war die Antwort des Sarazenen.

»Schnell! Folgen Sie mir!« rief die Dame und schlüpfte durchs Gedränge. Er folgte, mit Mühe sich durch die Massen schiebend, und nur ihr Turban zeigte ihm hin und wieder den[210] Weg; sein Herz pochte lauter, sein Ohr trug noch die letzten Laute dieser süßen Stimme, und sein Auge sah keinen andern Gegenstand mehr als sie. In einer dunkleren Ecke des zweiten Saales hielt sie an und wandte sich um. »Gustav, ich beschwöre Sie, was ist mit meinem Bruder vorgefallen? Die Menschen flüstern allenthalben seinen Namen; ich weiß nicht, was sie sagen, aber ich denke, es ist nichts Gutes; hat er Streit gehabt? Ach, ich weiß wohl, diese Menschen hassen unser Volk.«

Der junge Mann war in peinlicher Verlegenheit. Sollte er mit einemmal den arglosen Wahn dieses liebenswürdigen Geschöpfes zerstören? Sollte er ihr sagen, daß auf ihrem Bruder der Fluch der Württemberger ruhe, daß sie für alle Menschen beten, und nur ihn aus dem Gebet ausschließen, daß es zur Sitte geworden sei, zu bitten: »Herr erlöse uns von dem Uebel und von dem Juden Süß.« – »Lea,« antwortete er sehr befangen, »Ihr Bruder wurde von einigen Masken im Spiel gestört und hatte einen Wortwechsel, der vielleicht gerade an diesem Ort auffiel, ängstigen Sie sich nicht.«

»Was bin ich doch für ein törichtes Mädchen!« sagte sie. »Ich habe so schwere Träume, und dann bin ich den Tag über so traurig und niedergeschlagen. Und so reizbar bin ich, daß mich alles erschreckt, daß ich immer gleich an meinen Bruder denke und glaube, es könnte ihm Unglück zugestoßen sein.«

»Lea,« flüsterte der junge Mann, um diese Gedanken zu zerstreuen, »erinnerst du dich, was du versprachst, wenn wir uns auf dem Karneval träfen? Wolltest du mir nicht einmal eine einsame Stunde schenken, wo wir recht viel plaudern könnten?«

»Ich will,« sagte sie nach einigem Zögern; »Sara, meine Amme, steht am Ausgang und wird mich begleiten. Doch wo?«

»Dafür ist gesorgt,« erwiderte er; »folge mir, verliere mich nicht aus dem Auge; am Eingang rechts.«

Der erfinderische Sinn des jüdischen Ministers hatte, als er den Karneval in Stuttgart arrangierte und diese Säle schnell aus Holz aufrichten ließ, dafür gesorgt, daß, wie in großen Häusern und Schlössern, an diese Säle auch kleinere Zimmer stoßen möchten, wo kleine Zirkel ein Abendessen verzehren konnten, ohne gerade im allgemeinen Speisesaal ihr Inkognito abzulegen. Der Aktuarius hatte durch eine dritte Hand und hinlängliche Bezahlung sich den Schlüssel zu einem dieser Zimmer zu verschaffen gewußt, eine kleine Kollation stand dort bereit, und Lea freute sich über diese Artigkeit des jungen Christen, der sein möglichstes getan hatte, den Sinn einer in[211] der Küche erfahrenen Dame zu befriedigen, obgleich das Zimmerchen, das nur einen Tisch und wenige Stühle von leichtem Holz enthielt, wenig Bequemlichkeit bot.

»Wie bin ich froh, endlich die lästige Larve ablegen zu können!« sagte sie, als sie mit ihrer Amme eintrat; sie sah sich nach einem Spiegel um, und als sie nur leere Bretterwände erblickte, setzte sie lächelnd hinzu: »Sie müssen mir schon statt eines Spiegels dienen, Gustav, und sagen, ob diese drängende Menge mir den Haarputz nicht verdorben hat?«

Entzückt und mit leuchtenden Augen betrachtete der junge Mann das schöne Mädchen. Man konnte ihr Gesicht die Vollendung orientalischer Züge nennen. Dieses Ebenmaß in den feingeschnittenen Zügen, diese wundervollen dunkeln Augen, beschattet von langen, seidenen Wimpern, diese kühngewölbten, glänzend schwarzen Brauen und die dunkeln Locken, die in so angenehmem Kontrast um die weiße Stirne und den schönen Hals fielen und den Vereinigungspunkt dieser lieblichen Züge, zarte rote Lippen und die zierlichsten weißen Zähne noch mehr hervorhoben; der Turban, der sich durch ihre Locken schlang, die reichen Perlen, die den Hals umspielten, das reizende und doch so züchtige Kostüm einer türkischen Dame – sie wirkten, verbunden mit diesen Zügen, eine solche Täuschung, daß der junge Mann eine jener herrlichen Erscheinungen zu sehen glaubte, wie sie Tasso beschreibt, wie sie die ergriffene Phantasie der Reisenden bei ihrer Heimkehr malte.

»Wahrlich,« rief er, »du gleichst der Zauberin Armida, und so denke ich mir die Töchter deines Stammes, als ihr noch Kanaan bewohntet. So war Rebekka und die Tochter Jephthas.«

»Wie oft schon habe ich dies gesagt,« bemerkte Sara, »wenn ich mein Kind, meine Lea in ihrer Pracht anblickte; die Poschen und Reifröcke, die hohen Absatzschuhe und alle Modewaren stehen ihr bei weitem nicht wie diese Tracht.«

»Du hast recht, gute Sara,« erwiderte der junge Mann; »doch setze dich hier an den Tisch; du hast zu lange unter Christen gelebt, um vor diesem Punsch und diesem Backwerke zurückzuschaudern; unterhalte dich gut mit diesen Dingen.«

Sara, welche den Sinn und die Weise des Nachbars kannte, sträubte sich nicht lange und erbarmte sich über die Kunstprodukte der Zuckerbäcker; der junge Mann aber setzte sich einige Schritte vor ihr neben die schöne Lea. »Und nun aufrichtig, Mädchen,« sagte er, »du hast Kummer, du hast gestern kaum[212] das Weinen unterdrückt, und auch heute wieder ist eine Wolke auf dieser Stirne, die ich so gern zerstreuen möchte. Oder glaubst du etwa nicht, ungläubiges Kind, daß ich dein Freund bin und gern alles tun möchte, um dich aufzuheitern?«

»Ich weiß es ja, o, ich sehe es ja immer und auch heute wieder,« sagte sie, mühsam ihre Tränen bekämpfend, »und es macht mich ja glücklich. Als Sie mich das erste Mal an unserem Gartenzaun grüßten, als Sie nachher, es war Anfang Oktober, mit mir über den Zaun hinübersprachen, und nachher und immer so freundlich und traulich waren, gar nicht wie andere Christen gegen uns, da wußte ich ja wohl, daß Sie es gut mit mir meinen, und – es ist ja mein einziges, mein stilles Glück!« Sie sagte es, und einzelne Tränen stahlen sich aus den schönen Augen, indem sie sich bemühte, ihn freundlich und lächelnd anzusehen.

»Aber dennoch –« fragte Gustav.

»Aber dennoch bin ich nicht glücklich, nicht ganz glücklich. In Frankfurt hatte ich meine Gespielinnen, hatte meine eigene Welt, wollte nichts von der übrigen. Ich dachte nicht nach über unsere Verhältnisse, es kränkte mich nicht, daß uns die Christen nicht achteten, ich saß in meinem Stübchen unter Freunden, und wollte nichts von allem, was draußen war. Mein Bruder ließ mich zu sich nach Stuttgart bringen. Man sagte mir, er sei ein großer Herr geworden, er regiere ein Land, in seinem Hause sei es herrlich und voll Freude, und die Christen leben mit ihm, wie wir unter uns; ich gestehe, es freute mich, wenn meine Freundinnen meine Zukunft so glänzend ausmalten; welches Mädchen hätte sich an meiner Stelle nicht gefreut?«

Tränen unterbrachen sie aufs neue, und der junge Mann, voll Mitleid mit ihrem Kummer, fühlte, daß es besser sei, ihre Tränen einige Augenblicke strömen zu lassen. Es gibt ein Gefühl in der menschlichen Brust, das wehmütiger macht als jeder andere Kummer; ich möchte es Mitleiden mit uns selbst heißen, es übermannt uns, wenn wir am Grabe zerstörter Hoffnungen in die Tage zurückgehen, wo diese Hoffnungen noch blühten, wenn wir die fröhlichen Gedanken zurückrufen, mit welchen wir einer heiteren Zukunft entgegengingen; wahrlich, dieser bittere Kontrast hat wohl schon stärkere Herzen in Wehmut aufgelöst als das Herz der schönen Jüdin.

»Ich habe alles anders gefunden,« fuhr Lea nach einer Weile fort. »In meines Bruders Hause bin ich einsamer als in meiner Kindheit. Ich darf nicht kommen, wenn er Bälle und große Tafeln gibt. Die Musik tönt in mein einsames Zimmer,[213] man schickt mir Kuchen und süße Weine wie einem Kinde, das noch nicht alt genug ist, um in Gesellschaft zu gehen. Und wenn ich meinen Bruder bitte, mich doch auch einmal, nur in seinem Hause wenigstens, teilnehmen zu lassen, so schlägt er es entweder ganz kalt ab, oder wenn er gerade in sonderbarer Laune war, erschreckte er mich durch seine Antwort.«

»Was antwortete er denn?« fragte der Jüngling gespannt.

»Er sieht mich dann lange und seufzend an, seine Augen werden trüber, seine Züge düster und melancholisch, und er antwortet: Ich dürfe nicht auch verloren gehen; ich solle unablässig zu dem Gott unserer Väter beten, daß er mich fromm und rein erhalte, auf daß meine Seele ein reines Opfer werde für seine Seele.«

»Törichter Aberglaube!« rief der junge Mann unmutig. »Darum also sollst du, armes Kind, allen Freuden des Lebens entsagen, damit er –«

»Hat er sich denn so arg versündigt?« fragte Lea, als ihr Freund, wie bei einer unbesonnenen Rede, schnell abbrach. »Was soll ich denn büßen? Solche hingeworfenen Worte machen mich so unglücklich: es ist mir, als schwebe irgend ein Unglück über meinem Bruder, auch sei nicht alles recht, was er tut. Niemand steht mir darüber Rede, auch Saras Worte kann ich nicht deuten, denn wenn ich sie darüber befrage, weicht sie aus oder nennt ihn geheimnisvoll den Rächer unseres Volkes.«

»Sie ist nicht klug,« erwiderte der junge Mann befangen; »dein Bruder hat, wie es überall geht, eine mächtige Gegenpartei; manche seiner Finanzoperationen werden getadelt. Aber wegen seiner darfst du ruhig schlafen,« setzte er bitter lachend hinzu, »der Herzog hat ihm heute einen Freibrief geschenkt, der ihn vor jeder Gefahr und Verantwortung sichert.«

»O, wie danke ich dies dem guten Herzog!« sagte sie aufgeheitert, indem sie die dunklen Locken aus der weißen Stirne strich. »So hat er also gar niemand zu fürchten? Die Christen können ihn nicht verfolgen? – Sie antworten nicht? Gestehen Sie nur, Gustav, Sie sind meinem armen Bruder gram?«

»Deinem armen Bruder? – Wenn er arm wäre, könnte ich ihn vielleicht um seines Verstandes willen ehren! Aber was geht uns dein Bruder an,« fuhr Lanbek düster lächelnd fort; »ich liebe dich, und hättest du alle bösen Engel zu Brüdern; aber eines versprich mir, Lea, die Hand darauf.«

Sie sah ihn erwartungsvoll und zärtlich an, indem sie ihre Hand in die seinige legte.

[214]

»Bitte deinen Bruder niemals wieder,« fuhr er fort, »dich zu seinen Zirkeln zuzulassen. Mag er nun Gründe haben, welche er will, es ist gut, wenn du nicht dort bist. So viel kann ich dir versichern,« setzte er mit blitzenden Augen hinzu, »wenn ich wüßte, daß du ein einzigesmal dort gewesen, kein Wort mehr würde ich mit dir sprechen!«

Befangen und mit Tränen im Auge wollte sie eben um Aufschluß über dieses neue Rätsel bitten, als ein lauter Zank im Nebenzimmer die Liebenden aufstörte. Mehrere Männer schienen mit der Polizei sich zu streiten, man hatte die Türe des Kabinetts gesprengt, und über diesen Eingriff in die Rechte des Karnevals wurde schnell und mit Heftigkeit gestritten.

»Mein Gott! das ist meines Vaters Stimme,« rief der junge Lanbek, »schleiche dich mit Sara in den Saal, Mädchen; nehmet den Schlüssel dieser Türe zu euch, vielleicht können wir später uns wiedersehen.« Er drückte der überraschten Lea schnell einen Kuß auf die Stirne, nahm seine Maske vor, und noch ehe sie sich über diesen schnellen Wechsel besinnen konnte, war der Aktuarius schon aus der Tür gestürzt. Im Korridor, den er jetzt betrat, stand schon eine dichte Menschenmasse um die geöffnete Tür des Nebenzimmers versammelt. Deutlicher vernahm er die gewichtige, tiefe Stimme seines Vaters; er stieß und drängte sich wie ein Wütender durch und kam endlich in das Gemach. Fünf alte Herren, die ihm als ehrenwerte Männer und Freunde seines Vaters wohlbekannt waren, standen um den alten Landschaftskonsulenten Lanbek; die einen zankten, die andern suchten zu beruhigen. Es war damals eine gefährliche Sache, mit der Polizei in Streit zu geraten; sie stand unter dem besondern Schutz des jüdischen Ministers, und man erzählte sich mehrere Beispiele, daß biedere, ruhige Bürger und Beamte, vielleicht nur weil sie einem Diener dieser geheimen Polizei widersprochen oder Gewalttätigkeiten verhindert hatten, mehrere Wochen lang ins Gefängnis geworfen und nachher mit der kahlen Entschuldigung es sei aus Versehen geschehen, entlassen worden waren. Doch der alte Lanbek schien keine Furcht vor diesen Menschen zu kennen; er bestand darauf, daß die Häscher das Zimmer sogleich verlassen müßten, und es wäre vielleicht zu noch schlimmeren Händeln als einem Wortwechsel gekommen, wenn nicht in diesem Augenblick ein ganz anderer Gegenstand die Aufmerksamkeit des Anführers der Häscher auf sich gezogen hätte. Der junge Lanbek hatte sich beinahe bis an die Seite seines Vaters vorgedrängt, bereit, wenn es zu Tätlichkeiten[215] kommen sollte, den alten Herrn kräftig zu unterstützen. Er hatte eben seine Maske fester gebunden, damit sie ihm im Handgemenge nicht verloren gehen möchte, als ihn der Polizeidiener erblickte und mit lauter Stimme, indem er auf ihn deutete, rief: »Im Namen des Herzogs, diesen greift, den Türken dort, der ist der Rechte!«

Die Ueberraschung und sechs Arme, die sich plötzlich um ihn schlangen, machten ihn wehrlos. So nahe seinem Vater, der ihn hätte retten können, wagte er doch nicht, sich auch nur durch einen Laut zu erkennen zu geben, weil er den Zorn seines Vaters noch mehr fürchtete als die Gewalt des Juden.

Die alten Herren waren stumm vor Staunen über diesen Vorfall, der Anführer der Häscher wurde, als er seinen Zweck erreicht hatte, artiger und entschuldigte sich, worauf jene kalt und abgemessen dankten. Willenlos ließ sich der junge Mann dahinführen. Die Menge, die sich vor der Tür versammelt hatte, teilte sich, aber manche schauten ihm neugierig in die Augen, um zu erraten, wer es sein möchte, den man hier mitten aus der öffentlichen Lust herausriß. Gustav hörte, als er weiter hingeführt wurde, einen schwachen Schrei; er sah sich um, und beim schwachen Schein der Lampen glaubte er, den Turban der schönen Orientalin gesehen zu haben. Schmerzlich bewegt ging er weiter, und erst, als die kalte Winternacht schneidend auf ihn zuwehte, erwachte er aus seiner Betäubung und übersah nicht ohne Besorgnis die Folgen, die seine Gefangennehmung haben könnte.


5.

Die Polizeidiener hatten den Sarazenen, wahrscheinlich aus Rücksicht auf seine feine und reiche Kleidung, in das Offizierszimmer der Hauptwache gebracht. Der wachhabende Offizier wies ihm mit einer mürrischen Verbeugung eine Bank, die in der fernsten Ecke des Zimmers stand, zu seiner Schlafstätte an, und ermüdet von dem langen Umherirren auf dem Ball, fand der junge Mann dieses Lager nicht zu hart, um nicht bald einzuschlafen.

Trommeln weckten ihn am nächsten Morgen; schlaftrunken sah er sich in dem öden Gemach um, blickte bald auf sein hartes Lager, bald auf seine Kleidung, und nach einer geraumen Weile erst konnte er sich besinnen, wo er sei und wie er hierhergekommen. Er trat ans Fenster, noch war alles still auf dem Platze vor der Hauptwache, und nur die Kompagnie, die gerade[216] vor seinem Fenster zur Ablösung aufzog, unterbrach die Stille des trüben Februarmorgens. Indem die Trommeln auf der Straße schwiegen, hörte er von der Stiftskirche acht Uhr schlagen, und der Ton dieser Glocke rief ihm alles Unangenehme und Besorgliche seiner Lage zurück. »Bald wird er nach dir fragen,« dachte er, »und wie unangenehm wird es ihn überraschen, wenn er hört, ich sei in der Nacht nicht zu Hause gekommen!« –

Im Hause des alten Landschaftskonsulenten Lanbek ging alles einen so geordneten Gang, daß dieses Ereignis allerdings sehr störend erscheinen mußte. Zu dieser Stunde pflegte der alte Herr, seit vielen Jahren, sein Frühstück zu nehmen; mit dem ersten Glockenschlag erschien dann, zugleich mit dem Diener, der den Kaffee auftrug, sein Sohn; man besprach sich über Tagesneuigkeiten, über den Gang der Geschäfte, und zu jener Zeit ließ es der allgewaltige Minister nicht an Stoff zu solchen Gesprächen fehlen. Das Gespräch war regelmäßig mit dem Frühstück zu Ende; der Aktuarius küßte dem Alten die Hand und ging dann, einen Tag wie den andern, ein Viertel vor neun Uhr nach seiner Kanzlei. Diese langjährige Sitte des Hauses rief sich Gustav in diesen Augenblicken zurück. »Jetzt wird Johann die Tassen bringen,« sagte er zu sich, »jetzt wird er erwartungsvoll nach der Türe sehen, weil ich noch nicht eingetreten bin, jetzt wird er mich rufen lassen; daß ich doch dem guten alten Herrn solchen Aerger bereiten mußte!« Er warf unwillig seinen Turban weg, stützte die Stirne in die Hand, und beschloß, den Offizier, sobald er wieder erscheinen würde, um die Ursache seiner Verhaftung zu fragen.

Die Trommeln ertönten wieder, die Abgelösten zogen weiter, er hörte die Gewehre zusammenstellen und bald darauf trat ein Offizier in das halbdunkle Gemach. Er warf einen flüchtigen Blick nach seinem Gefangenen in der Ecke, legte Hut und Degen auf den Tisch und setzte sich nieder. Lanbek, der jenen nicht zuerst anreden mochte, bewegte sich, um anzudeuten, daß er nicht mehr schlafe. »Bonjour, mein Herr,« sagte der Offizier, als er ihn sah, »wollen Sie vielleicht mein Dejeuner mit mir teilen?«

Die Stimme schien Gustav bekannt; er stand auf, trat höflich grüßend näher, und mit einem Ausruf des Staunens standen sich die beiden jungen Männer gegenüber. »Parole d'honneur, Herr Bruder!« rief der Kapitän von Reelzingen, »dich hätte ich hier nicht gesucht! Wie kommst du in Arrest? Weiß Gott,[217] Blankenberg hat nicht unrecht, als er prätendierte, du werdest irgend etwas contra rationem riskieren.«

»Ich möchte dich fragen, Kapitän,« entgegnete der junge Mann, »warum ich hier sitze? Mir hat kein Mensch den Grund angegeben, warum man mich gefangen nehme; du hast die Wache, Reelzingen; bitte dich, du mußt doch wissen –«

»Dieu me garde! Ich?« rief der Kapitän lächelnd. »Meinst du, er habe mich mit seiner besondern Aestimation beehrt und in seine Konfidenz gezogen? Nein, Herr Bruder! Als ich ablöste, sagte mir der Leutnant von gestern: ›Oben sitzt einer, den sie vom Karneval auf ausdrücklichen Befehl hergebracht haben.‹ Er pflegt es gewöhnlich so zu machen.«

»Wer pflegt es so zu machen?« fragte Lanbek erblassend.

»Wer?« erwiderte jener leise flüsternd; »dein Schwager in spe, der Jude.«

»Wie?« fuhr jener errötend fort, »du glaubst, er selbst? Ich hoffte bisher, es sei vielleicht eine Verwechslung vorgefallen! Du hast wohl von dem Auftritte gehört, der, bald nachdem ich euch verlassen hatte, mit dem Juden vorfiel, man rief etwas von Katholischwerden, und da fuhr der Finanzminister auf –«

»Was sagst du?« unterbrach ihn der Kapitän mit ernster Miene, indem er näher zu dem Freund trat und seine Hand faßte. »Das war es also? Uns hat man es anders erzählt; wie ging es zu? Was hat man gerufen?«

Den Aktuarius befremdete der Ernst, den er auf den Zügen des sonst so fröhlichen und sorglosen Freundes las, nicht wenig; er erzählte den Vorfall, wie er ihn mit angesehen hatte, und sah, wie sich die Neugierde des Freundes mehr und mehr steigerte, wie seine Blicke feuriger wurden; als er aber beschrieb, wie Süß nach jenem geheimnisvollen Ausruf wütend geworden, aufgesprungen sei, da fühlte er die Hand des Kapitäns auf sonderbare Weise in der seinigen zucken. »Was bewegt dich so sehr?« fragte Gustav befremdet. »Wie nimmst du nur an solchen Karnevalsscherzen, die am Ende auf irgend eine Torheit hinauslaufen, solchen Anteil? Wenn ich nicht wüßte, daß du evangelisch bist, ich glaubte, mein Bericht habe dich beleidigt.«

»Herr Bruder,« erwiderte der Kapitän, indem er seinen Ernst hinter einem gleichgültigen Lächeln zu verbergen suchte, »du kennst mich ja, mich interessiert alles auf der Welt, und ich bin erstaunlich neugierig; überdies ist manches ernster, als man glaubt, und im Scherz liegt oft Bedeutung.«

[218]

»Wie verstehst du das?« sagte der Aktuarius verwundert. »Was macht dich so nachdenklich? Hast du wieder Schulden? Kann ich dir vielleicht mit etwas dienen?«

»Bruderherz,« entgegnete der Soldat, »du mußt in den letzten Wochen gewaltig verliebt gewesen sein, sonst wäre deinem klaren Blick manches nicht entgangen, was selbst an meinem leichten Sinn nicht vorüberschlüpfte. Sag einmal, was spricht der Papa von solchen Zeiten? Siehst du den Oberst von Röder nie bei ihm? Waren nicht am Freitagabend die Prälaten in eurem Hause?«

»Du sprichst in Rätseln, Kapitän!« antwortete der junge Mann staunend. »Was soll mein Vater mit einem Oberst von der Leibschwadron und mit Prälaten?«

»Freund, mach es kurz!« sagte Reelzingen. »Halte mich in solchen Dingen nicht für leichtsinnig; ich will mich nicht in euer Vertrauen eindrängen, aber ich kann dir sagen, daß ich dennoch schon ziemlich viel weiß, und – Parole d'honneur!« setzte er hinzu, »ich denke darüber, wie es einem Edelmann und meinem Portepee geziemt.«

»Was geht mich dein alter Adelsbrief und dein neues Portepee an?« erwiderte der Aktuar; »und wie kommst du dazu, dich mit diesen Dingen gegen mich breit zu machen? Ich sage dir, daß ich von allem, was du da so geheimnisvoll schwatzest, keine Silbe verstehe, und kann dir mein Wort darauf geben, und damit genug, Herr von Reelzingen!«

»O mon Dieu!« rief jener lächelnd; »Herr Bruder, wir sind nicht mehr in Leipzig, dies Zimmer ist nicht der göttliche Ratskeller, sondern eine Wachtstube; wir sind keine Musen mehr, sondern du bist herzoglicher Aktuar, und ich – Soldat; aber Freunde sind wir noch in Not und Tod, und darum sei vernünftig und brause nicht mehr auf wie vorhin. Ich glaube dir ja aufs Wort, daß du nichts weißt, aber gut wäre es von deinem Vater gewesen, wenn er dich präveniert hätte. Deine Amour mit der Jüdin ist überdies jetzt ganz und gar nicht an der Zeit, wir alle bitten dich, laß deine Scharmante, mit der du doch niemals eine vernünftige und ehrenvolle Liaison treffen kannst –«

»Was wißt Ihr denn von diesem Verhältnis?« unterbrach ihn der junge Mann düster und erbittert. »Ich dächte, ehe ich Euch hierüber um Rat gefragt, könntet Ihr billigerweise mit Eurer Mahnung warten.«

[219]

Der feurige junge Soldat, um seinem Freunde zu nützen, wollte eben in derselben Sprache etwas erwidern, als man an der Türe pochte. Der Kapitän schloß auf, und einer seiner Sergeanten winkte ihm, herauszutreten. Gustav hörte sie einige Worte wechseln und sah den Freund bald darauf mit verstörter Miene wieder zurückkehren: »Du bekommst einen sonderbaren Besuch,« flüsterte er ihm zu, »er wird gleich selbst eintreten, und ich darf nicht zugegen sein.«

»Wer doch? Mein Vater?« fragte Gustav bestürzt.

»Er kommt,« sagte der Kapitän, indem er eilends Hut und Degen vom Tische nahm, »der Jud Süß


6.

Vor der Tür des Offizierszimmers hatten seine Diener dem Minister den spanischen Mantel abgenommen, und er trat jetzt ein, stattlich geschmückt und vornehm gekleidet, wie es einem Günstling des Glücks und eines Herzogs in damaliger Zeit zukam. Er trug einen roten Rock mit goldenen Troddeln und Quasten besetzt; die goldgestickten Aufschläge seines Rocks gingen bis zum Ellbogen zurück, und die Weste von Goldbrokat reichte herab bis an das Knie. Ein kurzer, breiter Degen mit reichbesetztem Griff hing an seiner Seite, ein mächtiger Stock unterstützte seine Hand, und auf den reichen, hellbraunen Locken, die bis tief in den Nacken herabfielen, saß ein Hütchen von feinem schwarzen Wachstuch, mit Gold und weißen Federn verbrämt. Die Züge dieses merkwürdigen Mannes waren, in der Nähe betrachtet, zwar etwas zu kühn geschnitten, um schön und anmutig zu heißen, aber sie waren edler als sein Gewerbe und ungewöhnlich; sein dunkelbraunes Auge, das frei und stolz um sich blickte, konnte sogar für schön gelten; die ganze Erscheinung imponierte, und sie hätte sogar etwas Würdiges und Erhabenes gehabt, wäre es nicht ein hämischer, feindlicher Zug um die stolz aufgeworfenen Lippen gewesen, was diesen Eindruck störte und manchen, der ihm begegnete, mit unheimlichem Grauen füllte.

Der Kapitän stand fest und aufgerichtet an der Tür, den Hut in der einen, den Degengriff in der andern Hand, als der Minister Süß eintrat. Dieser nahm sein Hütchen ab, musterte, auf seinen Stock gestützt, den Soldaten mit scharfem Blick und sagte dann kurz und mit leiser Stimme: »Wie ist der Name?«

»Hans von Reelzingen, Kapitän im zweiten Grenadierbataillon, dritte Kompagnie.«

[220]

»Man hat studiert?« fuhr der Jude etwas artiger fort.

»Die Jurisprudenz in Leipzig,« antwortete der Kapitän mit militärischer Kürze.

»Wie lange dient der Herr Kapitän?«

»Ein Jahr und zwei Monate; zuerst bei –«

»Schon gut,« unterbrach ihn der Minister mit einer gnädigen Bewegung der Hand; »können abtreten.«

Der Kapitän Reelzingen verbarg seinen Verdruß über das stolze Wesen des Emporkömmlings unter einer tiefen Verbeugung und trat ab. Dem Aktuarius aber, obgleich er keine Menschenfurcht kannte, pochte das Herz, als er nun mit dem Mann allein war, vor dem ein ganzes Land mit abergläubischer Furcht zitterte. Er errötete unwillkürlich, als jener ihn lange und prüfend ansah und ihm Gelegenheit gab, auch seine Züge zu mustern und hin und wieder etwas zu finden, das ihn an die schöne Lea erinnerte. Der Minister setzte sich endlich in den Armstuhl, den die Offiziere der Garnison zur Bequemlichkeit dieses Zimmers gestiftet hatten, und winkte dem Sarazenen herablassend, sich auf einer Bank, die unfern stand, niederzulassen.

»Junger Mann,« sprach er, »wenn Euch Eure eigene Ruhe und Wohlfahrt lieb ist, so antwortet mir auf das, was ich Euch fragen werde, offen und ehrlich; denn Ihr könnet leichtlich denken, daß es mir nicht schwer werden kann, Euch jeder Lüge, die Ihr wagtet, zu überweisen.«

»Ich bin herzoglich württembergischer Aktuar,« erwiderte der junge Mann, »und der Eid, den ich als Christ und Bürger –«

»Laissez cela,« fiel ihm der Jude ins Wort, »Ihr wäret nicht der erste, der seinen Eid gebrochen. Wer waren gestern, frag' ich, die beiden Masken, die sich an meinem Tisch zur Belustigung des Publikums unterhielten? Ihr wißt es, Ihr standet zunächst bei mir.«

»Das ist mir nicht bekannt, Ew. Exzellenz,« sagte Gustav mit fester Stimme.

»Nicht bekannt?« rief der Minister. »Bedenket wohl, was Ihr gesagt, ich stehe hier als Euer Richter; habt Ihr keinen an der Stimme gekannt?«

»Keinen.«

»Keinen?« fuhr jener heftiger fort. »Und Euren Vater solltet Ihr nicht an der Stimme kennen?«

[221]

»Meinen Vater!« rief der junge Mann erblassend; doch besonnen setzte er nach einer Weile hinzu: »Ihr irrt Euch, Herr Finanzdirektor, oder vielmehr, Ihr seid schlecht berichtet; mein Vater ist ein ruhiger, gesetzter Mann, und sein Charakter, sein Amt, seine Jahre verbieten ihm, das Publikum auf einem Maskenball zu amüsieren.«

»Sie sollten es ihm verbieten,« erwiderte jener mit blitzenden Augen, »und ich werde Mittel finden, es ihm zu verbieten. Ich weiß recht wohl, daß ich diesen Herren von der Landschaft ein Dorn im Auge bin, und zwar aus dem einzigen Grund, weil die Herren nicht rechnen können; verständen sie das Einmaleins so gut wie ich, sie würden sehen, was dem Lande frommt. Noch ist aber nicht aller Tage Abend, und ich will diesen Rebellen zeigen, wer sie sind und wer ich bin!«

»Herr Finanzdirektor!« rief der junge Mann mit der Röte des Unmutes auf den Wangen.

»Herr Aktuarius?« erwiderte Süß mit spöttischem Lächeln.

»Mein Vater ist ein Ehrenmann,« fuhr Gustav fort, ohne sich von der stolzen Miene des Gewaltigen einschüchtern zu lassen; »Sie sprechen von Rebellen? Wie können Sie sagen, daß mein Vater dem Herzog nicht immer treu gedient hat? Wie können Sie wagen, ihn einen Rebellen zu schimpfen?«

»Wagen?« lachte Süß. »Hier ist von keiner Wagnis die Rede, Herr Aktuarius, aber Rebell ist jeder, der nur dem Land und nicht dem Herzog dient; er ist des Herzogs Diener, aber er dient ihm schlecht; doch das soll nicht lange mehr so bleiben. Das mögt Ihr übrigens dem Herrn Landschaftskonsulenten, Eurem Vater, sagen, daß ich recht wohl weiß, was die beiden Masken wollten, und daß sie es mit dem dritten abgekartet hatten; ich konnte ihn gestern nacht so gut wie Euch verhaften lassen, und wenn ich es nicht tat, so verdankt er diese Schonung nur Euch!«

»Mir?« antwortete der junge Mann staunend. »Mir? Und ist dies etwa auch Schonung, daß ich, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, diese Nacht in diesem Zimmer zubringen durfte?«

»Nein!« fuhr jener gütig lächelnd fort, »dies war nur zur Abkühlung auf Euer Rendezvous veranstaltet.« Er weidete sich einige Augenblicke an der Verlegenheit des Jünglings und fuhr dann fort: »Das gute Kind, wie hat sie mich gefleht und auf den Knieen gebeten, Euch zu retten! Sie glaubte nicht anders, als[222] Ihr seiet wegen irgend eines Kapitalverbrechens gefangen. Wie? Und habt Ihr mir gar nichts zu sagen, Herr Lanbek?«

»Ihr kanntet mich nicht,« erwiderte Gustav, »und es ist mir nun wohl begreiflich, warum Ihr so hart mit mir verfuhret; aber Leas Charakter hätte Euch wohl dafür bürgen können, daß nichts Strafbares in diesem Verhältnis liege.«

»Wirklich? Mort de ma vie!« rief der Minister. »Nichts Strafbares? Meinen Sie, wenn ich etwas Strafbares in diesem Verhältnis ahnete, Sie hätten es mit einer Nacht auf der Wache abgebüßt? Bei den Gebeinen meiner Väter! Wenn ich – auf Neuffen oder Asperg gibt es Keller und Kasematten, wo kein Mond und keine Sonne scheint, da hätte ich den Herrn Sarazenen sitzen lassen, bis er sein Schwabenalter erreicht hätte. Oder meint Ihr etwa in Eurem christlichen Hochmut, einem Israeliten gelte die Ehre seiner Familie nicht ebenso hoch als einem Nazarener?«

Der junge Mann erschrak vor dieser Drohung, denn er bedachte, daß es dem Allgewaltigen ein leichtes gewesen wäre, ihn spurlos von der Erde verschwinden zu lassen, aber sein mutiger Sinn lehnte sich auf gegen den Uebermut dieses Mannes, der seine Privatsache zu einer öffentlichen machte, und zur Wahrung seines Hausrechtes mit den Festungen des Landes drohte. »Exzellenz,« sagte er mit Blicken, vor welchen der Minister die Augen niederschlug, »wie Sie über Ihre eigene Ehre denken, weiß ich nicht, doch scheint es mir nicht sehr ehrenvoll zu sein, solche Drohungen auszustoßen. Mein Vater ist zwar nur ein geringer Mann im Vergleich mit einem so gewaltigen und hohen Herrn; aber der Landschaftskonsulent Lanbek weiß, wo man in Deutschland Gerechtigkeit findet. Wien ist nicht so fern von Stuttgart, und Euern Gnadenbrief von gestern hat der Kaiser nicht unterzeichnet; was aber die Ehre Eurer Schwester betrifft, so kann ich Euch versichern, daß sie mir nicht minder teuer ist als meine eigene.«

»Ihr habt hübsche Anlagen zu einem Landschaftskonsulenten,« sagte der Jude ruhig lächelnd; »übrigens im Vertrauen gesagt, auf den Kaiser müßt Ihr nicht zu sehr pochen; wegen eines württembergischen Schreibers fängt man in Wien mit uns keine Händel an. Aber Ihr gefallt mir, mein Schatz; ich habe Eure Arbeiten loben hören, und Köpfe wie der Eure kann man zu etwas Besserem brauchen, als Akten zu heften und Fascikel zu binden; Ihr seid Expeditionsrat mit sechshundert Gulden[223] Besoldung, und es freut mich, daß ich der erste bin, der Euch hierzu gratuliert.«

Der junge Mann sprang von seiner Bank auf und wollte reden, aber Ueberraschung und Schrecken schlossen ihm den Mund. Hundert Gedanken kreuzten sich in seinem Kopf. Es war nicht die Freude, vier Stufen, durch welche man sich sonst lange und mühevoll schleppte, nun in einem Augenblicke übersprungen zu haben, was seine Seele füllte; es war der schreckliche Gedanke, vor der Welt für einen Günstling dieses Mannes zu gelten, vor seinem Vater, vor allen guten Männern gebrandmarkt dazustehen.

»Exzellenz!« sprach er befangen. »Ich darf, ich kann diese Gnade nicht annehmen! Bedenken Sie, was wird man sagen, so viele ältere, verdiente Männer –«

»Was da! Ich habe Euch Platz gemacht,« antwortete der Jude in befehlendem Ton, »ich habe Euch zum Rat ernannt und Ihr seid es. Keinen Dank, keine übergroße Delikatesse, ich liebe das nicht. Nun,« fuhr er gütig, beinahe zärtlich fort, »und wie steht Ihr mit meiner Lea? Ihr habt mir ja das stille blöde Kind ganz verzaubert. Fürchtet Euch nicht vor mir, junger Herr, ich bin nicht der Mann, der gerade so sehr auf Reichtum sieht; Eure Familie gehört unter die ältesten und angesehensten Bürgerfamilien, und das gilt mir in diesem Fall so viel oder mehr als Reichtum. Euer Vater wird Euch zwar nicht viel mitgeben, aber mit mir sollt Ihr zufrieden sein; fürstlich will ich meine Lea ausstatten.«

Die Felsenkeller von Neuffen und die tiefen Kasematten von Asperg wären in diesem Augenblick dem jungen Manne willkommener gewesen als diese Versicherung; er dachte an seinen stolzen Vater, an seine angesehene Familie, und so groß war die Furcht vor Schande, so tief eingewurzelt damals noch die Vorurteile gegen jene unglücklichen Kinder Abrahams, daß sie sogar seine zärtlichen Gefühle für die schöne Tochter Israels in diesem schrecklichen Augenblick übermannten. »Herr Minister!« sprach er zögernd, »Lea kann keinen wärmeren Freund als mich haben; aber ich fürchte, daß Sie dieses Gefühl falsch deuten, mit einem andern verwechseln, das – ich möchte nicht, daß Sie mich falsch verstehen, und Lea wird Ihnen nie gesagt haben, daß ich jemals davon gesprochen hätte –«

Der stolze Mann errötete, warf seine Lippen auf, drückte die Augen beinahe zu, und an seiner Stirne begann eine Ader[224] hoch anzuschwellen. »Was ist das?« sagte er streng. »Wie soll ich diese Redensart deuten?«

»Herr Minister,« erwiderte Gustav gefaßter, »bedenken Sie doch den Unterschied der Religion.«

»Habt Ihr diesen bedacht, Herr! als Ihr meiner Schwester diese Liebeleien in den Kopf setztet? Aber ich kann Euch darüber trösten, Lea wird Euch in dieser Hinsicht kein Hindernis geben. Ihr schweigt?« fuhr er heftiger fort, »soll ich mit Eurem Vater darüber reden, junger Mensch? War etwa meine Schwester gut genug dazu, Eure müßigen Stunden auszufüllen, zur Gattin aber wollt Ihr sie nicht? Wehe Euch, wenn Ihr so dächtet! Dich und deinen ganzen Stamm würde ich verderben! Euer Vater ist gestern eines schweren Verbrechens schuldig worden, es steht in meiner Hand, ihn zur Verantwortung zu ziehen; in Eure Hand lege ich nun das Schicksal Eures Vaters; entweder – Ihr macht Eure Unvorsichtigkeit gegen mein Haus gut und heiratet meine Schwester, oder ich erkläre Euch öffentlich für einen Schurken und lasse den Herrn Konsulenten in Ketten legen. Vier Wochen gebe ich Euch Bedenkzeit; mein Haus steht Euch offen, Ihr könnt Eure Braut besuchen, so oft Ihr wollt; vier Wochen, versteht Ihr mich? Jetzt seid Ihr frei, und morgen, Herr Expeditionsrat, werdet Ihr Euer Amt antreten.«

Nach diesen Worten verbeugte er sich kurz und verließ stolzen Schrittes das Zimmer; dem Kapitän, den er im Vorzimmer traf, befahl er, Kleider für den Herrn Expeditionsrat herbeischaffen zu lassen und ihm seine Freiheit anzukündigen.

Staunend über diesen ganzen Vorfall, besonders über die letzten Worte des Ministers, trat Reelzingen in sein Zimmer. Er fand den Freund bleich und verstört, die Arme über die Brust gekreuzt, das Haupt kraftlos auf die Brust herabgesunken. »Nun, sag mir ums Himmels willen,« fing der Kapitän an, indem er vor Gustav stehen blieb, »was wollte er bei dir? warum ließ er dich verhaften? Was hat sein Besuch zu bedeuten?«

»Er kam, um mir zu gratulieren,« antwortete er mit sonderbarem Lächeln.

»Zu gratulieren? Wozu? Daß du eine Nacht auf der Wache zubrachtest?«

»Nein, weil ich in dieser Nacht Expeditionsrat geworden bin.«

»Du?« rief der Kapitän lachend. »Gottlob, daß du so heiter bist und scherzen kannst; als ich hereintrat und dich sah,[225] glaubte ich dich nicht so spaßhaft zu finden; aber im Ernst, Freund, was wollte der Jude?«

»Ich sagte es ja, und es ist Ernst; zum Rat hat er mich gemacht. Ist das nicht ein schönes Avancement?«

Der Kapitän sah ihn mit zweifelhaften Blicken lange an; endlich sagte er gerührt: »Nein, du kannst nicht auch zum Schurken werden, Gustav; Gott weiß, wie dies zusammenhängen mag! Aber siehe, wenn ich dich nicht so lange und so genau kennte – glaube mir, die Welt wird dich hart beurteilen; doch nein, du lächelst, gestehe, es ist alles Scherz. Expeditionsrat! Ebensogut könntest du seine Schwester heiraten.«

»Ei, das wird ja auch geschehen,« sagte Lanbek düster lächelnd; »in vier Wochen, meint mein Schwager, soll die Hochzeit sein.«

»Tod und Hölle!« fuhr der Kapitän auf, »mach mich nicht rasend mit diesen Antworten. Wahrhaftig, mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen.«

»Wer sagt dir denn, daß ich spaße?« erwiderte Lanbek, indem er langsam aufstand. »Es ist alles so, wie ich sagte, auf Ehre!«

Dem Kapitän schwamm eine Träne im Auge, als er den Freund, den er geliebt hatte, also sprechen hörte; doch nur einen Augenblick gab er diesen weichern Empfindungen nach, dann trat er heftig auf den Boden, setzte seinen Hut auf und rief: »So sei der Tag verflucht, an welchem ich dich zum erstenmal sah und Bruder nannte. Geh, hilf deinem Juden, dem armen Land das Fell vollends vom Leibe ziehen, schinde dir auch ein Stück herunter und mach dich reich. O Lanbek, Lanbek! Aber mein Portepee, ja ein Jahr meines Lebens wollte ich verhandeln, um einem meiner Kameraden die Wache abzukaufen; ich selbst will die Exekution kommandieren, wenn man dich und den Juden zum Galgen führt.«

»So hoch werde ich mich wohl nicht poussieren,« erwiderte Gustav ruhig und ernst; »aber meiner Leiche kannst du folgen, wenn sie mich morgen um Mitternacht neben der Kirchhofsmauer einscharren.«

Der Kapitän sah ihn erschrocken an; er mochte tiefen Ernst auf der Stirne des jungen Mannes lesen, denn er wiederholte diesen Blick und begegnete Gustavs Auge. »Willst du mich fünf Minuten lang anhören, Reelzingen?« fragte er. »Du wirst dann über die Uneigennützigkeit dieses Ministers staunen. Sonst war doch der Preis einer Amtei zweitausend und ein Expeditionsrat[226] galt seine dreitausend Gulden unter Brüdern; aber ich Glückskind bekomme ihn umsonst, rein pour rien! Denn das Glück meines Lebens, die Ruhe meiner Familie, der heitere Frieden meines Vaters – daß diese bei dem Handel verloren gehen, ist ja gering zu achten. Doch höre.«

Staunend vernahm der Kapitän diese Worte; aufmerksam setzte er sich neben Gustav nieder. Je höher der Glaube an seinen Freund während seiner Erzählung stieg, desto ängstlicher wurde er für ihn und seine Familie besorgt. Er schloß ihn in seine Arme, er versuchte es, ihm Trost einzusprechen, obgleich er selbst an diese Trostgründe nicht glaubte. »Der Jude ist ein feiner Spieler,« sagte er, »deine besten Tarocks hat er dir abgejagt und das Spiel scheint in seiner Hand zu liegen; aber – er könnte sich verrechnet haben, wir wollen sehen, wie er beschlagen ist, wenn wir – Spadi anspielen.«


7.

Wir führen unsere Leser aus dem Offizierszimmer der Hauptwache in Stuttgart nach dem Hause des Landschaftskonsulenten Lanbek. In einem weiten, geräumigen Zimmer, dessen Hausrat nicht überladen und prächtig, aber solid und stattlich ist, finden wir einen ältlichen Mann von mehr als mittlerer Größe. Sein Gesicht und seine Gestalt beweisen, daß er, als er in den Fünfzigen stand, wohlbeleibt gewesen sein mochte, jetzt, zehn Jahre später, hatten sich Falten um Mund und Stirne gelegt, und der weite Schlafrock von feinem grünen Tuch, mit Pelz verbrämt, war für eine reichliche Fülle gefertigt und schlug jetzt weite Falten um den Leib; aber die rötlichen Wangen, die klaren grauen Augen, der feste Schritt, womit er im Zimmer auf und ab ging, ließen, noch ehe man seine volle, sonore Stimme vernahm, ahnen, daß der alte Konsulent an Geist und Körper noch frisch und rüstig sei.

In der Vertiefung des breiten Fensters saßen zwei schöne Mädchen von achtzehn bis zwanzig Jahren, die dem Alten, so oft er ihnen den Rücken wandte, besorglich und ängstlich nachschauten, wohl auch untereinander flüsterten, so lange sie von ihm nicht gesehen wurden. Die eine war bemüht, des Vaters ungeheure Allongeperücke in Ordnung zu bringen, und trotz dem Kummer, der aus ihren Blicken sprach, schien sie doch Freude an dem schönen Kontrast zu finden, welchen die schwarzen Locken dieses Haargebäudes mit ihren zarten, weißen Händchen[227] bildeten. Die dunkelblauen Augen der andern jungen Dame schienen mehr mit der Straße als mit der feinen Arbeit, an welcher sie nähte, beschäftigt, doch waren ihre Züge zu ernst, als daß man es müßiger Neugier hätte zuschreiben dürfen.

Sie hatten mehrere Minuten lang geschwiegen, denn die Mädchen waren viel zu streng erzogen, als daß sie den Vater, der seinen Gedanken nachhing, mit Fragen belästigt hätten; plötzlich sprang die junge Nähterin auf, ließ ihre schöne Arbeit zu Boden fallen, beugte den schlanken Hals näher ans Fenster und sah gespannt nach der Straße. Der Vater sah diese Bewegungen, hielt seine Schritte an, blickte aufmerksam nach seiner Tochter und fragte nur mit Blicken; Käthchen, die jüngere Schwester, vollendete schnell noch eine Stirnlocke der Perücke, setzte dann das Prachtwerk behutsam auf eine Kommode und kam eben noch zeitig an, um mit Hedwig zu rufen: »Er ist's, er hat heraufgesehen, Vater; er geht sehr schnell; sieh doch, was er für einen sonderbaren Rock anhat!«

»Das ist Blankenbergs Jagdkleid;« sagte Hedwig leise zu ihrer Schwester.

»Geh doch, was weißt du von Blankenbergs Garderobe?« erwiderte die jüngere, bedeutungsvoll lächelnd.

»Er hat Gustav schon oft in diesem Kleid besucht,« antwortete sie, indem eine dunkle Röte über ihre Wangen flog.

Die Ankunft Gustavs verhinderte seine jüngere Schwester, Hedwig nach ihrer Gewohnheit noch länger zu quälen. Der Vater sah noch ernster aus als vorhin, er hatte sich in seinen Lehnstuhl gesetzt und die strengen Augen auf die Türe geheftet; bang und ängstlich pochte den Schwestern das Herz, als jetzt die Türe aufging und ihr Bruder hereintrat. – Nach dem ersten »Guten Morgen« trat für alle drei Parteien eine peinliche Pause ein; endlich trat der Sohn bescheiden zum Vater. »Sie haben mich wohl diesen Morgen vermißt, Vater?« fragte er. »Es ist allerdings ein seltener Fall in unserm Hause, und Sie wurden vielleicht besorgt um mich.«

»Das nicht,« antwortete der Alte sehr ernst; »du bist alt genug, um nicht verloren zu gehen; aber zweierlei ist mir aufgefallen, nämlich, daß man dich nur eine Stunde auf dem Karneval sah, und daß du diese Nacht und ihre Lustbarkeiten so unregelmäßig lang bis morgens neun Uhr ausdehnst; du solltest schon seit einer halben Stunde in deiner Kanzlei sein.«

»Ich bin heute dort entschuldigt,« sagte Gustav lächelnd; »ich habe auch seit heute früh ein Uhr so schrecklich geschwärmt[228] und so unordentlich gelebt, daß es kein Wunder ist, wenn man so spät zu Hause kommt; ratet einmal ihr Mädchen, wo ich gewesen bin!«

Die Schwestern sahen ihn unwillig an, denn sie befürchteten mit Recht, dieser leichtfertige Ton möchte dem alten Herrn mißfallen. »Wie können wir dies wissen?« erwiderte Hedwig. »Ich habe nie danach gefragt, wo du dich mit deinen Kameraden umtreibst; doch heute, Bruder, bist du mir ein Rätsel.«

»Und in einem Lustschloß bin ich gewesen,« fuhr der junge Mann fort, »wo weder ihr beide noch Papa jemals waren; ihr erratet es doch nie – auf der Wache.«

»Auf der Wache!« riefen die Schwestern entsetzt.

»Das ist mir sehr unangenehm, Gustav,« setzte der Landschaftskonsulent hinzu; »meines Wissens bist du der erste Lanbek, den man auf die Wache setzte.«

»Mir ist es doppelt unangenehm,« antwortete sein Sohn, indem er den Vater fest anblickte, »weil es im Grunde eine Namensverwechslung zu sein scheint; denn meines Wissens bin nicht ich jener Lanbek, der die Szene an dem Tisch des Juden aufführte.«

Der Alte sah ihn bleich und betroffen an. »Gehet ins Nebenzimmer, Mädchen!« rief er, und als sich die Schwestern staunend, aber schnell und gehorsam zurückgezogen hatten, faßte er die Hand seines Sohnes, zog ihn auf einen Stuhl neben sich nieder und fragte hastig, aber mit leiser Stimme: »Was ist das? Woher weißt du? Wer sagt dir davon?«

»Er selbst,« antwortete der Sohn.

»Der Jude?« fragte der Alte. »Wie ist dies möglich?«

»Er war bei mir auf der Wache; ich sehe, wie Sie staunen, Vater, aber bereiten Sie sich auf noch wunderlichere Dinge vor.« Der junge Mann hielt es für das beste, seinem Vater soviel als möglich zu entdecken; er erzählte ihm also, wie aufgebracht der Minister auf den Konsulenten und seine Partei sei, wie der Sohn ihm widersprochen, wie der Minister, statt in heftigeren Zorn zu geraten, ihn plötzlich zum Expeditionsrat ernannt habe. Nur Leas erwähnte er mit keiner Silbe, der Kapitän hatte ihm dies geraten, und er beschloß, davon zu schweigen, bis er seine Maßregeln getroffen hätte oder die Entdeckung des unglücklichen Verhältnisses unvermeidlich wäre.

»Ich sehe, was ich sehe,« sprach der Konsulent nach einigem Nachdenken. »Meinst du, wenn er uns nicht gefürchtet hätte, er würde mich geschont und dich dafür ergriffen haben, um mich[229] gleichsam durch seine Gnade zu beschämen? Er hat mich gefürchtet, und er hat alle Ursache dazu. Ich bin ihm zu populär, und auch du wirst ihm nach und nach zu bekannt mit den hiesigen Bürgern, weil du jetzt statt meiner die Armenprozesse führst. Der Expeditionsrat ist – eine Falle, die er uns beiden legen wollte, der kluge Fuchs.«

»Wie verstehen Sie dies, Papa?« fragte Gustav, dem es leichter ums Herz wurde, seit er ahnte, wie sein Vater die Sache aufnehme.

»Sieh, Freund,« sprach der Alte zutraulicher, als er je getan, »du wirst das Opfer dieser Kabale; aber so wahr ich dein Vater bin, du sollst es nicht lange sein. Dieser Jude denkt aber also: Verwehre ich dir, diese Stelle anzunehmen, weil du dadurch in übeln Geruch kommen könntest, so macht er es zu seiner Ehrensache, beklagt sich beim Herrn und ergreift die einzige Gelegenheit, die sich bot, mich zu zwingen, auch mein Amt aufzugeben. Er kennt mich, er weiß, daß er so wenig als der Herzog mich absetzen kann, er weiß auch, wer der alte Lanbek ist, nämlich – sein Feind. Nehmen wir die Stelle an, kalkulierte er weiter, so werden wir verdächtig bei allen, die das Bessere wollen. Der Vater, Konsulent der Landschaft, würde man denken, der Sohn – Expeditionsrat; gekauft hat ihm der Alte die Stelle nicht und der Süß gibt bekanntlich nichts ohne großen Gewinn an Geld oder geheimem Einfluß, folglich – sind wir übergetreten zu dem Gewaltigen. So, glaubt er, werden die Leute urteilen, und er hat es recht klug gemacht, aber er kennt mich nicht ganz; noch weiß ich, gottlob! ein Mittel, uns das Vertrauen der Besseren zu erhalten, und du – wirst und bleibst Expeditionsrat; ändern sich die Verhältnisse, so wirst du wieder Aktuarius und die Menschen erkennen dann deine Unschuld.«

»Aber Vater!« sagte der junge Mann zaudernd. »Ihr Ruf ist felsenfest, aber der meinige? Wie lange wird es noch anstehen, bis die Verhältnisse sich ändern!«

»Sohn!« erwiderte der Alte nicht ohne Rührung. »Du siehst, wie dieses schöne Land bis in sein innerstes Mark zerrüttet ist; meinst du, es könne immer so fortgehen? – Glaube mir, ehe der Frühling ins Land kommt, muß es anders werden; schlechter kann es nimmer werden, aber besser. Darum glaube mir und vertraue auf Gott!«

[230]


8.

Während der alte Lanbek noch so sprach und seinem Sohn Mut einzureden suchte, wurde die Hausglocke heftig angezogen, und bald darauf trat ein Offizier in das Zimmer, dem der Konsulent freundlich entgegeneilte. Wenn man das dunkelrote Gesicht, die freien, mutigen Züge und das kleine, aber scharfblickende Auge des Mannes sah, so konnte man die Sage von kühner Entschlossenheit und beinahe fabelhafter Tapferkeit, die er unter dem Herzog Alexander und dem Prinzen Eugenius bewiesen haben sollte, glaublich finden.

»Mein Sohn, der vormalige Aktuarius Lanbek,« sprach der Alte, »der Oberst von Röder, den du wenigstens dem Namen nach kennen wirst.«

»Wie sollte ich nicht?« erwiderte Gustav, indem er sich verbeugte; »wenn unsere Truppen von Malplaquet und Peterwardein erzählen, so hört man diesen Namen immer unter die ersten und glänzendsten zählen.«

»Zu viel Ehre für einen alten Mann, der nur seine Schuldigkeit getan,« antwortete der Oberst. »Aber Konsulent, was sagt Ihr dazu, daß der Jude jetzt auch uns ins Handwerk greift? Ich komme zu Euch eigentlich nur, um zu fragen: soll ich, oder soll ich nicht?«

»Wie soll ich das verstehen?« fragte der Konsulent staunend; »Röder, nur jetzt keinen übereilten Streich!«

»Das ist es eben!« rief jener auf den Boden stampfend, »meine Ehre und die Ehre des ganzen Korps ist gekränkt! einen meiner talentvollsten Offiziere sollte ich nach Fug und Recht kassieren lassen um dieses Hundes willen, und tu' ich's, so bin ich morgen selbst außer Dienst.«

»Aber so sprecht doch, Oberst!« sagte der Alte, indem er seinem Sohn winkte, Stühle zu setzen, »setzt Euch, Ihr seid noch in der ersten Hitze.«

»Mein Regiment hat gestern und heute den Dienst,« fuhr jener eifrig fort; »da bringt man nun gestern nacht von der Redoute weg einen Menschen auf unsere Wache, mit dem ausdrücklichen Befehl vom Juden, ihn wohl zu bewachen, aber keinen weitern Rapport abzustatten; heute früh zieht der Kapitän Reelzingen auf, findet einen Gefangenen im Offizierszimmer, von welchem nichts im Rapport steht, und denkt Euch – nach einer halben Stunde kommt der Minister selbst, schickt den[231] Kapitän aus dem Zimmer, verhört auf unserer Wache den Gefangenen insgeheim, entläßt ihn dann und befiehlt dem Kapitän noch einmal, keinen Rapport abzustatten und – nimmt ihm das Ehrenwort ab – er einem Offizier auf der Wache – nimmt ihm das Wort ab, den Namen des Gefangenen nicht zu nennen; dahin also ist es gekommen, daß jeder Schreiber oder gar ein hergelaufener Jude uns kommandiert? Nach Kriegsrecht muß ich den Kapitän kassieren lassen; meine Ehre fordert, daß ich es nicht dulde, denn ich hatte den Dienst, und ich muß mich rühren, sollte es mich auch meine Stelle kosten.«

Die beiden Lanbek hatten sich während der heftigen Rede des Obersten bedeutungsvolle Blicke zugeworfen. »Der Jude ist listiger, als wir dachten,« sagte, als jener geendet hatte, der Vater; »also auch auf den Oberst war es abgesehen, auch für ihn war die Falle aufgestellt! Wer meint Ihr wohl, daß der Gefangene war? Da, seht ihn, mein leiblicher Sohn saß heute nacht auf Eurer Wache!«

Der Oberst fuhr staunend zurück, und so groß war der Unmut über den Eingriff in seine militärischen Rechte, daß er sich nicht enthalten konnte, einen unwilligen, finstern Blick auf den jungen Mann zu werfen. Als aber der alte Lanbek fortfuhr und ihm erzählte, wie er selbst eigentlich die Ursache dieses Vorfalls gewesen, und wie alles andere so sonderbar gekommen sei, als er ihm den arglistigen Plan des Ministers näher auseinandersetzte, da sprang Herr von Röder von seinem Stuhl auf. »Wohlan, Alter!« sagte er mit bewegter Stimme zu dem Konsulenten, »daß er mich verfolgt und haßt, hat am Ende nichts zu bedeuten, und daran ist nur der General Römchingen schuld, der mich nie leiden konnte; aber über dir soll er den Hals brechen, oder ich will nicht selig werden! Herr Aktuarius! Die Stelle müßt Ihr annehmen, das ist jetzt keine Frage mehr! Denn Euer Vater darf jetzt nicht von seinem Amt kommen, oder Verfassung und Religion stehen auf dem Spiel. Aber zum Herzog will ich gehen, will sprechen, und sollt' es mich mein Leben kosten.«

»Das werdet Ihr nicht tun, Oberst!« sagte der Alte mit Nachdruck und Ernst. »Leset diesen Brief, den man uns aus Würzburg schickt, und sagt mir dann, ob Ihr noch waget, zum Herzog zu gehen und zu sprechen.« Der Oberst nahm aus seiner Hand ein Schreiben und fing an zu lesen; doch je weiter er las, desto bestürzter wurden seine Züge, bis er staunend, aber[232] mit zornsprühenden Augen den Alten anblickte und die Arme sinken ließ.

»Vater!« sprach der junge Mann, der betroffen bald den Alten, bald den Obersten betrachtete, »Vater, Sie machen mich hier zum Zeugen eines Auftrittes, bei welchem ich vielleicht besser nicht zugegen gewesen wäre. Ich soll aber gezwungenerweise eine Rolle übernehmen, die mir nicht zusagt. Ich bin zum Expeditionsrat ernannt und weiß nicht warum; ich darf die Stelle nicht ablehnen, obgleich sie mich vor der Welt zum Schurken macht, und weiß nicht warum; es gehen Dinge vor im Staat und in meines Vaters Hause, man verhehlt sie mir, und ich weiß wieder nicht warum. Herr Oberst von Röder, Sie überreden mich, eine Stelle nicht auszuschlagen, die meines Vaters Namen beschimpft; von Ihnen glaube ich Gründe verlangen zu können, warum ich es nicht tun soll?«

»Gott weiß, er hat recht!« rief Röder, indem er den jungen Mann nachdenkend betrachtete. »Ich weiß auch nicht, Alter, warum Ihr ihm nicht längst den Schlüssel gegeben habt. Wenn Ihr ihm übrigens die Augen nicht öffnen wollt, so will ich ihm diesen Dienst tun, weil ich weiß, wie drückend es ist, ein wichtiges Geheimnis halb zu erraten und halb zu ahnen.«

»Es sei,« sagte der Vater, »setzet Euch wieder; wenn ich dich, mein Sohn, bis jetzt nicht mit Dingen dieser Art vertraut gemacht habe, so geschah es nur aus Furcht, für einen allzu stolzen Vater zu gelten, denn wir hatten uns das Wort gegeben, nur erprobten und ausgezeichneten Männern uns anzuvertrauen. Ich darf dir nicht erst sagen, was in den drei Jahren, seit Alexander regiert, aus Württemberg geworden ist. Man soll von einem Lanbek nicht sagen können, daß er gegen seinen Herrn gemurrt hätte, er ist ein tapferer Mann und nach Prinz Eugenius vielleicht der erste Feldherr unserer Zeit, aber das Feldregiment taugt wohl im Lager und vor dem Feind, nicht so in der Kanzlei. Er sieht die Regierung des Ländchens, wie er sagt, etwas zu heldenmäßig an, das heißt, er sieht darüber hinweg und läßt andere dafür sorgen.«

»Dieses Ländchen!« rief der Oberst bitter. »Dieses schöne Württemberg! Es heißt wohl ein alter Spruch, daß, wenn man auch sich alle Mühe gebe, dieses Land doch nicht könne zu Grunde gerichtet werden; aber nous verrons! Wenn es so fortgeht, wenn man es durch Verkauf der Aemter, durch Verhöhnung der Besseren, durch Erhebung der niederträchtigsten Bursche geflissentlich[233] verderbt, wenn man seine Kräfte bis aufs Mark aussaugt –«

»Kurz, mein Freund,« fuhr der Alte fort, »es kann nicht so fortgehen. Nach und nach kann es nicht besser werden, denn schon jetzt sitzen bei uns in der Landschaft fünf Schurken, die nicht einmal der Gott-sei-bei-uns für sich repräsentieren ließe, alle Aemter sind verkauft oder für Süßsche Kreaturen käuflich, also kann es nur schlechter werden. Aber es sind zwei Parteien, die da sagen: ›Es muß anders werden.‹ Die eine Partei ist Süß, der schnöde Jude, der General Römchingen, der feinste von diesen Burschen, Hallwachs, dein neuer Kollege, Metz und noch einige von der Landschaft. Wir wissen, was sie wollen, und es ist nichts Geringeres, als die Stände und den Landtag völlig aufzuheben.«

»Und, Gott sei's geklagt,« sagte Herr von Röder, »den Herzog haben Sie von seiner edelmütigen Seite gepackt, er ist mit allem zufrieden. Das Land sei aufgebracht über die Stände, sagen sie ihm, man murre über die Landschaft, und nun hat er sich entschlossen, das Institut wie ein Korps Invaliden aufzulösen, dem Lande die jährlichen Kosten der Stände edelmütig zu schenken und allein zu regieren.«

»Wie? Verstehe ich recht?« rief der junge Lanbek. »Also unsern letzten Schutz gegen den übeln Willen oder gegen die unrichtige Ansicht eines Herrn will man uns rauben? Auf die Verfassung ist es abgesehen? Doch das ist nicht möglich, Alexander hat sie ja beschworen, und mit welchen Mitteln will er dies wagen? Meinen Sie wirklich, Herr Oberst, der württembergische Soldat werde seine eigenen Rechte unterdrücken?«

»Hier sind die Hunde,« erwiderte der Oberst, indem er auf den Brief zeigte, »die man bei diesem Treibjagen hetzen will.«

»Nur ruhig,« sprach der Landschaftskonsulent, »höre mich ganz. Der Herzog ist aufs abscheulichste getäuscht; er glaubt fest, daß es ihn nur ein Wort koste, so werden die Stände nicht mehr sein, und alle Herzen werden ihm zufliegen. So haben es der Jude und Römchingen ihm vorgeschwatzt; aber sie kennen uns besser und wissen, daß Gewalt zu einem solchen Schritt gehört. Hier ist ein Brief an den Erzbischof von Würzburg, den der General Römchingen geschrieben: man wolle zum Besten des Landes einige Aenderungen vornehmen, man könne sich aber auf die Truppen im Lande nicht verlassen, daher solle der Bischof bewirken, daß die Truppen des fränkischen Kreises an einem bestimmten Tag an unserer Grenze seien. Auch an[234] einige Reichsstände in Oberschwaben hat er ähnliche Schreiben erlassen.«

»Und im Namen des Herzogs?« fragte der junge Mann.

»Nein, sie lassen ihn nur so durchblicken, aber eine andere Lockspeise haben sie dem Bischof hingeworfen; man sagt nicht umsonst, daß unser alter Reformator Brenz seit einigen Nächten aus seinem Grab aufstehe und die Kanzel besteige – katholisch wollen sie uns machen. Du staunst? Du willst nicht glauben? Auch ich glaube, daß sie es nicht aus Religiosität tun wollen, sondern entweder soll es den Bischof und die Oberschwaben enger für die Sache verbinden, oder sie meinen, dem Herzog gefällig zu sein, wenn sie in vierundzwanzig Stunden den Glauben reformieren, wie sie das alte Recht reformieren wollen.«

»Es kann, es darf nicht sein!« rief der junge Mann. »Die Grundpfeiler unseres Glückes und unserer Zufriedenheit mit einem Schlag umstürzen? Es ist nicht möglich, der Herzog kann es nicht dulden.«

»Er weiß und denkt nicht, daß sie dies alles vorhaben,« sagte der Oberst; »sein Ruhm ist ihm zu teuer, als daß er ihn auf diese Weise beflecken möchte; aber wenn es geschehen ist, ohne daß die Schuld auf ihn fällt, dann, fürchte ich, wird er das Alte nicht wiederherstellen. Zu welchem Zweck, glaubt Ihr denn, habe der Jude dem Herzog das Edikt von gestern abgeschwatzt, worin er für Vergangenheit und Zukunft von aller Verantwortlichkeit freigesprochen wird? Das soll ihn schützen in dem kaum denkbaren Fall, wenn der Herzog über die treuen und ergebenen Herren Räte erbost würde, die ihm die unumschränkte Macht zu Füßen legen und in der Stiftskirche einen Krummstab aufpflanzen.«

»Und gegen diese wollt ihr kämpfen?« fragte Gustav besorgt und zweifelhaft.

»Kämpfen oder zusammen untergehen,« sprach der Alte. »Wer mit uns verbunden ist, mußt du jetzt nicht wissen; es genüge dir zu erfahren, daß es die Trefflichsten des Adels und die Wackersten der Bürger sind. Wir wollten den Kaiser um Schutz anflehen, aber die Umstände sind ungünstig, die Zeit ist zu kurz, um durch alle Umwege zu ihm zu gelangen, und überdies hat der Herzog einen gewaltigen Stein im Brett seit den letzten Kriegen; man würde uns abweisen. Uns bleibt nichts übrig als –«

»Wir müssen,« rief der Oberst mutig und entschlossen, »das[235] Prävenire müssen wir spielen; St. Joseph, den neunzehnten März, haben sie sich zum Ziel gesteckt; aber einige Tage zuvor müssen wir die Feinde des Landes gefangen nehmen, die treuen Truppen nach Stuttgart ziehen, das Landvolk zu unserer Hilfe aufrufen, und wenn es gelungen ist, dem Herzog von neuem huldigen und ihm zeigen, an welchem furchtbaren Abgrund er und wir gestanden. Und dann – er ist ein tapferer Soldat und ein Mann von Ehre, dann wird er erröten vor der Schande, zu welcher ihn jene Elenden verführen wollten.«

»Aber der Herzog,« fragte der junge Mann, »wo soll er sein und bleiben, während ihr diese furchtbare Gegenmine auffliegen lasset?«

»Das ist es ja gerade, was uns zur Eile zwingt,« erwiderte der Oberst; »sie haben ihn überredet, im nächsten Monate die Festungen Kehl und Philippsburg zu bereisen, und hinter seinem Rücken wollen sie reformieren. Den elften will er abreisen; schon sind die Adjutanten ernannt, die ihn begleiten sollen, und, wenn ich es sagen darf, mit solchem Gepränge und so viel und laut wird von dieser Reise gesprochen, daß ich fürchte, die ganze Fahrt ist nur Maske und der Herzog wird nicht über die Grenze gehen.«

»Du kennst jetzt unsere Pläne,« sprach der alte Herr zu seinem Sohn, »sei klug und vorsichtig. Ein Wort zuviel kann alles verraten. Darum, wie es unter uns gebräuchlich ist, lege deine Hand in die deines Vaters und dieses tapfern Mannes und schwöre uns, zu schweigen.«

»Ich schwöre,« sagte Lanbek mit fester Stimme, aber bleich und mit starren Augen; und sein Vater und der Oberst zogen ihn an ihre Brust und begrüßten ihn als einen der Ihrigen.


9.

Ein drückender, trüber Nebel lag über Stuttgart und gab den Bergen umher und der Stadt ein trauriges, ödes Ansehen; gerade so lag auch ein trüber, ängstlicher Ernst auf den Gesichtern, die man auf den Straßen sah, und es war, als hätte ein Unglück, das man nicht vergessen konnte, oder ein neuer Schlag, den man fürchtet, alle Herzen wie die sonst so lieblichen Berge umflort und in Trauer gehüllt. Am Abend eines solchen Tages schlich der junge Lanbek durch die feuchten Gänge des Gartens. Sein Gesicht war bleich, sein Auge trübe, sein Mund heftig zusammengepreßt, seine hohe Gestalt trug er nicht mehr so leicht und aufgerichtet wie zuvor, und es schien, als sei er in den[236] letzten acht Tagen um ebenso viele Jahre älter geworden. Was er vorausgesehen hatte, war eingetroffen; niemand, der die Lanbeks auch nur dem Rufe nach kannte, konnte die schnelle Erhebung des jungen Mannes begreifen oder rechtfertigen. Die Günstlinge und Kreaturen des mächtigen Juden traten ihm mit jener lästigen Traulichkeit, mit jener rohen Freude entgegen, wie etwa Diebe und falsche Spieler einem neuen Genossen ihrer Schlechtigkeit beweisen, und des jungen Lanbeks Gefühl bei solchen neuen, werten Bekanntschaften läßt sich am besten mit den unangenehmen und wehmütigen Empfindungen eines Mannes vergleichen, den das Unglück in einen Kerker mit dem Auswurf der Menschen warf, und der sich von Räubern und gemeinen Weibern als ihresgleichen begrüßen lassen muß.

Die gnädigen Blicke, die ihm der Minister hin und wieder öffentlich, beinahe zum Hohn, zuwarf, bezeichneten ihn als einen neuen Günstling. Jetzt erst sah er, wie viele gute Menschen ihm sonst wohlgewollt hatten; denn so manches bekannte Gesicht, das sonst dem Sohne des alten Lanbek einen »guten Tag« zugelächelt hatte, erschien jetzt finster, und selbst wackere Bürgersleute und jene biederen, ehrlichen Weingärtner, die sich bei ihm und dem Alten so oft Rats erholt hatten, wandten jetzt die Augen ab und gingen vorüber, ohne den Hut zu rücken.

Der Gedanke an Lea erhöhte noch sein Unglück. Er wußte genau, wie unglücklich sein alter Vater, er selbst und die Seinigen werden könnten, wenn der verzweifelte Schlag, den sie führen wollten, mißlang; und doch, so groß der Frevel war, den jener fürchterliche Mann auf sich geladen hatte, dennoch graute ihm, wenn er sich die Folgen überlegte, die sein Sturz nach sich ziehen würde. Was sollte aus der armen Lea werden, wenn der Bruder vielleicht monatelang gefangen saß? Konnte der Herzog, ein so strenger Herr, Vergehungen und Pläne, wie die des Juden, vergeben, selbst wenn er ihm durch jenes Edikt Straflosigkeit zugesichert hatte?

Und dann durchzuckte ihn wieder die Erinnerung an jene schreckliche Drohung, die Süß gegen ihn ausgestoßen, als er das Verhältnis des jungen Mannes zu seiner Schwester berührte. Alle Angst vor seinem alten Vater, vor der Schande, die eine solche Verbindung, wenn sie auch nur besprochen würde, brächte, kam über ihn. Es gab Augenblicke, wo er seine Torheit, mit der schönen Jüdin auch nur ein Wort gewechselt zu haben, verwünschte, wo er entschlossen war, den Garten zu verlassen, sie nie wieder zu sehen, seinem Vater alles zu sagen, ehe es zu[237] spät wäre; aber wenn er sich dann das schöne Oval ihres Hauptes, die reinen, unschuldigen und doch so interessanten Züge und jenes Auge dachte, das so gerne und mit so unnennbarem Ausdruck auf seinen eigenen Zügen ruhte, da war es, ich weiß nicht ob Eitelkeit, Torheit, Liebe oder gar der Einfluß jenes wunderbaren Zaubers, der sich, aus Rahels Tagen, unter den Töchtern Israels erhalten haben soll – es zog ihn ein unwiderstehliches Etwas nach jener Seite hin, wo ihn, seit die Dämmerung des ersten Märzabends finsterer geworden war, die schöne Lea erwartete.

»Endlich, endlich!« sagte Lea mit Tränen, indem sie ihre weiße Hand durch die Staketen bot, welche die beiden Gärten trennten. »Wenn nicht der Frühling indes hätte kommen müssen, wahrhaftig, ich hätte gedacht, es sei schon ein Vierteljahr vorüber. Ich bin recht ungehalten; wozu denn auch in den Garten gehen bei dieser schlimmen Jahreszeit, wenn Ihr frei und offen durch die Haustüre kommen dürft? Wisset nur, Herr Nachbar, ich bin sehr unzufrieden.«

»Lea,« erwiderte er, indem er die schöne Hand an seine Lippen zog, »verkenne mich nicht, Mädchen! Ich konnte wahrhaftig nicht kommen, Kind! Zu dir durfte ich nicht kommen, und in die Zirkel deines Bruders gehe ich nicht; und wenn ich wüßte, daß du ein einzigesmal da warst, würde ich dich nicht mehr sprechen.« Trotz der Dunkelheit glaubte der junge Mann dennoch, eine hohe Röte auf Leas Wangen aufsteigen zu sehen. Er sah sie zweifelhaft an; sie schlug die Augen nieder und antwortete: »Du hast recht, ich darf nicht in die Zirkel meines Bruders gehen.«

»So bist du da gewesen? Ja, du bist dort gewesen!« rief Lanbek unmutig. »Gestehe nur, ich kann jetzt doch schon alles in deinen Augen lesen.«

»Höre mich an,« erwiderte sie, indem sie bewegt seine Hand drückte, »die Amme hat dir gesagt, was nach dem Karneval vorging, und wie ich ihn bat und flehte, dich frei zu lassen. Seit jener Zeit hat sich sein Betragen ganz geändert; er ist freundlicher, behandelt mich, wie wenn ich auf einmal um fünf Jahre älter geworden wäre, und läßt mich zuweilen sogar mit sich ausfahren. Vor einigen Tagen befahl er mir, mich so schön als möglich anzukleiden, legte mir ein schönes Halsband in die Hand, und abends führte er mich die Treppe herab in seine eigenen Zimmer. Da waren nur wenige, die ich kannte, die meisten Herren und Damen waren mir fremd. Man spielte[238] und tanzte, und von Anfang gefiel es mir sehr wohl, nachher freilich nicht, denn –«

»Denn?« fragte Lanbek gespannt.

»Kurz, es gefiel mir nicht, und ich werde nicht mehr hingehen.«

»Ich wollte, du wärest nie dort gewesen,« sagte der junge Mann.

»Ach, konnte ich denn wissen, daß die Gesellschaft nicht für mich passen würde?« erwiderte Lea traurig. »Und überdies sagte mein Bruder ausdrücklich, es werde meinen Herrn Bräutigam freuen, wenn ich auch unter die Leute komme.«

»Wen hat er gesagt, wen werde es freuen?« rief Lanbek.

»Nun dich,« antwortete Lea; »überhaupt, Lanbek, ich weiß gar nicht, wie ich dich verstehen soll; du bist so kalt, so gespannt; gerade jetzt, da wir offen und ohne Hindernis reden können, bist du so ängstlich, beinahe stumm; statt ins Haus zu uns zu kommen, bestellst du mich heimlich in den Garten, ich weiß doch nicht, vor wem man sich so sehr zu fürchten hat, wenn man einmal in einem solchen Verhältnis steht?«

»In welchem Verhältnis?« fragte Lanbek.

»Nun, wie fragst du doch wieder so sonderbar! Du hast bei meinem Bruder um mich angehalten, und er sagte dir zu, im Fall ich wollte und der Herzog durch ein Reskript das Hindernis wegen der Religion zwischen uns aufhöbe. Ich bin nur froh, daß du nicht Katholik bist, da wäre es nicht möglich, aber ihr Protestanten habt ja kein kirchliches Oberhaupt und seid doch eigentlich so gut Ketzer wie wir Juden.«

»Lea! Um Gottes willen, frevle nicht!« rief der junge Mann mit Entsetzen. »Wer hat dir diese Dinge gesagt? O Gott, wie soll ich dir diesen furchtbaren Irrtum benehmen?«

»Ach, geh doch!« erwiderte Lea. »Daß ich es wagte, mein verhaßtes Volk neben euch zu stellen, bringt dich auf. Aber sei nicht bange; mein Bruder, sagen die Leute, kann alles, er wird uns gewiß helfen, denn was er sagt, ist dem Herzog recht. Doch eine Bitte habe ich, Gustav: willst du mich nicht bei den Deinigen einführen? Du hast zwei liebenswürdige Schwestern; ich habe sie schon einigemal vom Fenster aus gesehen; wie freut es mich, einst so nahe mit ihnen verbunden zu sein! Bitte, laß mich sie kennen lernen.«

Der unglückliche junge Mann war unfähig, auch nur ein Wort zu erwidern; seine Gedanken, sein Herz wollten stille stehen. Er blickte wie einer, der durch einen plötzlichen Schrecken[239] aller Sinne beraubt ist, mit weiten, trockenen Augen nach dem Mädchen hin, das, wenn auch nicht in diesem Augenblick, doch bald vielleicht, noch unglücklicher werden mußte als er, und das jetzt lächelnd, träumend, sorglos wie ein Kind an einem furchtbaren Abgrund sich Blumen zu seinem Kranze pflückte.

»Was fehlt dir, Gustav?« sprach sie ängstlich, als er noch immer schwieg. »Deine Hand zittert in der meinigen: bist du krank? Du bist so verändert.« Doch – noch ehe er antworten konnte, sprach eine tiefe Stimme neben Lea: »Bon soir, Herr Expeditionsrat; Sie unterhalten sich hier im Dunkeln mit Dero Braut? Es ist ein kühler Abend; warum spazieren Sie nicht lieber hinauf ins warme Zimmer? Sie wissen ja, daß mein Haus Ihnen jederzeit offen steht.«

»Mit wem sprichst du hier, Gustav?« sagte der alte Lanbek, der beinahe in demselben Augenblick herantrat. »Deine Schwestern behaupten, du unterhieltest dich hier unten mit einem Frauenzimmer.«

»Es ist der Minister,« antwortete Gustav beinahe atemlos.

»Gehorsamer Diener,« sprach der Alte trocken; »ich habe zwar nicht das Vergnügen, Ew. Exzellenz zu sehen in dieser Dunkelheit, aber ich nehme Gelegenheit, meinen gehorsamsten Dank von wegen der Erhebung meines Sohnes abzustatten; bin auch sehr scharmiert, daß Sie so treue Nachbarschaft mit meinem Gustav halten.«

»Man irrt sich,« erwiderte Süß, heiser lachend, »wenn man glaubt, ich bemühe mich, mit dem Herrn Sohn im Dunkeln über den Zaun herüber zu parlieren, ich kam nur, um meine Schwester abzuholen, weil es etwas kühles Wetter ist und die Nachtluft ihr schaden könnte.«

»Mit Ihrer Schwester?« sagte der Alte streng. »Bursche, wie soll ich das verstehen, sprich!«

»Echauffieren sich doch der Herr Landschaftskonsulent nicht so sehr!« erwiderte der Jude. »Jugend hat nicht Tugend, und er macht ja nur meiner Lea in allen Ehren die Cour.«

»Schandbube!« rief der alte Mann, indem er seine Hand um den Arm seines Sohnes schlang und ihn hinwegzog. »Geh auf dein Zimmer; ich will ein Wort mit dir sprechen; und Sie, Jungfer Süßin, daß Sie sich nimmer einfallen läßt, mit dem Sohn eines ehrlichen Christen, mit meinem Sohn ein Wort zu sprechen, und wäre Ihr Bruder König von Jerusalem, es würde meinem Hause dennoch keine Ehre sein.« Mit schwankenden unsichern Schritten führte er seinen Sohn hinweg. Lea[240] weinte laut, aber der Minister lachte höhnisch. »Parole d'honneur!« rief er. »Das war eine schöne Szene; vergessen Sie übrigens nicht, Herr Expeditionsrat, daß Sie nur noch vierzehn Tage Frist zu Ihrer Werbung haben; bis dahin und von dort an werde ich mein Wort halten.«


10.

Die an Furcht grenzende Achtung des jungen Lanbek hieß ihn geduldig und ohne Murren dem Vater folgen, und langjährige Erfahrungen über den Charakter des Alten verboten ihm in diesem Augenblick, wo der Schein so auffallend gegen ihn war, sich zu entschuldigen. Der Landschaftskonsulent warf sich in seinem Zimmer in einen Armsessel und verhüllte sein Gesicht. Besorgt und ängstlich stand Gustav neben ihm und wagte nicht zu reden; aber die beiden schönen Schwestern des jungen Mannes flogen herbei, als sie die Schwäche des Vaters sahen, fragten zärtlich, was ihm fehle, suchten seine Hände vom Gesicht herabzuziehen und benetzten sie mit ihren Tränen. – »Das ist der Bube,« rief er nach einiger Zeit, indem sein Zorn über seine körperliche Schwäche siegte; »der ist es, der das Haus eures Vaters, unsern alten guten Namen, euch, ihr unschuldigen Kinder, mit Elend, Schmach und Schande bedeckte; der Judas, der Vatermörder – denn heute hat er den Nagel in meinen Sarg geschlagen.«

»Vater! Um Gottes willen! Gustav!« riefen die Mädchen bebend, indem sie ihren bleichen Bruder scheu anblickten und sich an den alten Lanbek schmiegten.

»Ich weiß,« sagte der unglückliche junge Mann, »ich weiß, daß der Schein gegen mich –«

»Willst du schweigen!« fuhr der Konsulent mit glühenden Augen und einer drohenden Gebärde auf. »Schein? Meinst du, du könntest meine alten Augen auch wieder blenden wie damals nach dem Karneval? Nicht wahr, es wäre weit bequemer, wenn sich diese beiden Augen schon ganz geschlossen, wenn sie den alten Lanbek so tief verscharrt hätten, daß keine Kunde von der Schande seines Namens mehr zu ihm dringt. Aber verrechnet hast du dich, Elender! Enterben will ich dich; hier stehen meine lieben Kinder, du aber sollst ausgestoßen sein, meines ehrlichen Namens beraubt, verflucht –«

»Vater!« riefen seine drei Kinder mit einer Stimme; die Töchter stürzten sich auf ihn und zum erstenmal wagte es[241] Hedwig, ihre Lippen auf die geheiligten Lippen des Vaters zu legen, indem sie ihm den zum Fluch geöffneten Mund mit Küssen verschloß. Die jüngere hatte sich unwillkürlich vor Gustav gestellt, seine Hand ergriffen, als wollte sie ihn verteidigen, der junge Mann aber riß sich kräftig los; nie so als in diesem Augenblick glich sein Gesicht, sein drohendes Auge den Zügen seines Vaters, und die beengte Brust weit vorwerfend, sprach er: »Ich habe alles ertragen, was möglicherweise ein Sohn von seinem Vater ertragen darf, ich habe aber noch andere Pflichten, meine eigene Ehre muß ich wahren, und wäre es mein eigener Vater, der sie antastet. Es hätte Ihnen genügen können, wenn ich bei allem, was mir heilig ist, versichere, daß ich nicht das bin, wofür Sie mich halten. Wenn Sie keinen Glauben mehr an mich haben, wenn Sie mich aufgeben, dann bleibt nichts mehr übrig. Lebet wohl – ich will euch nur noch eine Schande machen.«

»Du bleibst!« rief ihm der Alte, mehr ängstlich und bebend als befehlend nach. »Meinst du, dies sei der Weg, einen gekränkten Vater zu versöhnen? Hast du so sehr Eile, mir voranzugehen, und einen Weg einzuschlagen, wo ich dich nie mehr träfe? Denn ich habe redlich und nach meinem Gewissen gelebt, dich aber und deine Absicht verstand ich wohl.«

»Aber Vater,« sprach seine jüngste Tochter mit sanfter Stimme, »wir hatten ja alle Gustav immer so lieb, und Sie selbst sagten so oft, wie tüchtig er sei; was kann er denn so Schreckliches verbrochen haben, daß Sie so hart mit ihm verfahren?«

»Das verstehst du nicht, oder ja, du kannst es verstehen: des Juden Schwester liebt er, und mit ihr und mit seinem Herrn Schwager Süß hat er sich am Gartenzaun unterhalten. Jetzt sprich! Kannst du dich entschuldigen? O, ich Tor, der ich mir einbildete, man habe ihn, um mir eine Falle zu legen, erhoben und angestellt! Seine jüdische Scharmante hat ihn zum Expeditionsrat gemacht!«

»Der Vater will mich nicht verstehen,« sprach der junge Mann mit Tränen in den Augen, »darum will ich zu euch sprechen. Euch, liebe Schwestern, will ich redlich erzählen, wie die Umstände sich verhalten, und ich glaube nicht, daß ihr mich verdammen werdet.« Die Mädchen setzten sich traurig nieder, der Alte stützte seine gefurchte Stirne auf die Hand und horchte aufmerksam zu. Gustav erzählte anfangs errötend und dann oft von Wehmut unterbrochen, wie er Lea kennen gelernt habe,[242] wie gut und kindlich sie gewesen sei, wie gerne sie mit ihm gesprochen habe, weil sie sonst niemand hatte, mit dem sie sprechen konnte. Er wiederholte dann das Gespräch mit dem jüdischen Minister und dessen arglistige Anträge; er versicherte, daß er nie dem Gedanken an eine Verbindung mit Lea Raum gegeben habe, und daß er diesen Abend dem Minister es selbst gesagt haben würde, wäre nicht der Vater so plötzlich dazwischen gekommen.

»Du hast sehr gefehlt, Gustav,« sagte Hedwig, seine ältere Schwester, ein ruhiges und vernünftiges Mädchen. »Da du nie, auch nur entfernt, an eine Verbindung mit diesem Mädchen denken konntest, so war es deine Pflicht als redlicher Mann, dich gar nicht mit ihr einzulassen. Auch darin hast du sehr gefehlt, daß du nicht gleich damals schon deinem Vater alles anvertraut hast; aber so hast du jetzt deine ganze Familie unglücklich und zum Gespött der Leute gemacht; denn meinst du, der Süß werde nicht halten, was er gedroht? Ach, er wird sich an Papa, an dir, an uns allen rächen.«

»Geh, bitte den Vater um Verzeihung!« sprach das schöne Käthchen weinend. »Du mußt ihm nicht noch Vorwürfe machen, Hedwig, er ist unglücklich genug. Komm, Gustav,« fuhr sie fort, indem sie seine Hand ergriff und ihn zu dem Vater führte, »bitte, daß er dir vergibt; ja, wir werden recht unglücklich werden, der böse Mann wird uns verderben, wie er das Land verdorben hat, aber dann lasset doch wenigstens Frieden unter uns sein. Wenn wir uns noch haben, so haben wir viel, wenn er uns alles übrige nimmt.«

Der Alte blickte seinen Sohn lange, doch nicht unwillig an. »Du hast gehandelt wie ein eitler junger Mensch, und die Aufmerksamkeit, die dir diese Jüdin schenkte, hat dich verblendet. Du hast, ich fühle es für dich, vielleicht schon seit geraumer Zeit, gewiß aber diesen Abend dafür gebüßt. Katharine hat recht; ich will dir nicht länger grollen; wir müssen uns jetzt gegen einen furchtbaren Feind waffnen. Glaubst du, daß er Wort halten wird mit den vierzehn Tagen Frist, die er dir nachrief?«

»Ich glaube und hoffe es,« antwortete der junge Mann.

»Um jene Zeit muß sich mehr entscheiden als nur das Schicksal unsers Hauses,« fuhr der Alte fort; »Römchingen und Süß – oder wir; wer verliert, bezahlt die Zeche. Jetzt gelobe mir aber, Gustav, die Jüdin nie mehr, weder im Garten noch sonstwo aufzusuchen, und unter dieser Bedingung will ich deine Torheit verzeihen.«

[243]

Gustav versprach es mit bebenden Lippen und verließ dann das Zimmer, um seine Bewegung zu verbergen. Noch lange und mit unendlicher Wehmut dachte er dort über das unglückliche Geschöpf nach, dessen Herz ihm gehörte, und das er nicht lieben durfte. Er teilte zwar alle strengen religiösen Ansichten seiner Zeit, aber er schauderte über dem Fluch, der einen heimatlosen Menschenstamm bis ins tausendste Glied verfolgte und jeden ins Verderben zu ziehen schien, der sich auch den Edelsten unter ihnen auf die natürlichste Weise näherte. Er fand zwar keine Entschuldigung für sich und seine verbotene Neigung zu einem Mädchen, das nicht auch seinen Glauben teilte, aber er gewann einigen Trost, indem er sein eigenes Schicksal einer höheren Fügung unterordnete.

Sein Vater und die Schwestern unterhielten sich noch lange über ihn und diese Vorfälle, und die Erinnerung an so manche schöne Tugend des jungen Mannes versöhnte nach und nach den Alten, so daß er selbst das Geheimhalten jener Vorschläge des Ministers einigermaßen entschuldigte. Als aber spät abends die beiden Schwestern allein waren, sagte Käthchen: »Wahr ist es doch, Gustav hat zwar gefehlt. Ich habe sie einmal am Fenster und einmal im Garten gesehen; so schön und anmutig sah ich in meinem ganzen Leben nichts. Was sind alle Gesichter in Stuttgart, was ist selbst die schöne Marie, von der man so viel Wunder macht, gegen dieses herrliche Gesicht! Nein, Hedwig, ich hätte mich ganz in sie verlieben können!«

»Wie magst du nur so töricht schwatzen!« erwiderte Hedwig unwillig. »Mag sie sein, wie sie will, sie ist und bleibt doch nur eine Jüdin.«


11.

Nicht die unglückliche Liebe ihres Bruders allein war es, was in den folgenden Tagen die schönen Töchter des Landschaftskonsulenten Lanbek ängstigte; nein, es war das sonderbare und drückende Verhältnis, das zwischen Vater und Sohn zu herrschen schien, was den vier schönen blauen Augen im stillen so manche Träne kostete. Man konnte nicht sagen, daß sie sich finster angeblickt, mürrisch gefragt oder kalt geantwortet hätten; aber dennoch sah man ihnen beiden an, daß Gram und Sorgen sie beschäftigten, und die Mädchen wurden immer wieder in ihren Vermutungen über den Grund dieses Grämens irre geleitet, wenn sie zuweilen den alten Mann und seinen Sohn in einer Fensternische beisammenstehen und zutraulicher, aber auch[244] ernster als je zusammen flüstern sahen. Endlich wurden sie sogar für drei Abende in der Woche förmlich aus dem großen Familienzimmer, das winters allen zum Aufenthalt diente, verwiesen, und, was ihres Wissens nie geschehen war, Papas kleines Bibliothekzimmer wurde ihnen für solche Abende besonders geheizt und ihnen die Erlaubnis gegeben, sich an den trefflichen Juristen und Philosophen zu amüsieren.

Freilich bedachten bei solchem Exil weder Vater noch Sohn, daß man von der Bibliothek im oberen Stock in das Studierzimmer, von diesem in das Gastzimmer und von dem Gastzimmer in die sogenannte Rumpelkammer kommen könne, von welcher eine viereckige Oeffnung, mit einem kleinen Deckel versehen, in das Wohnzimmer hinabging, um Luft oder Wärme in dieses Gemach zu leiten; sie bedachten auch nicht, daß weibliche Neugierde wohl noch stärkere Schranken durchbrochen haben würde als diese, die zwischen jener Kammer und der Bibliothek lagen. Einige Abende hatte übrigens doch noch ein mächtigeres Gefühl als Neugierde die Mädchen in der Bibliothek zurückgehalten, nämlich Furcht. Hedwig behauptete, schon öfters oben in jener Kammer Fußtritte und ein schreckliches Stöhnen gehört zu haben, und dem schönen Käthchen graute dort hinzugehen, weil jenes Gemach nur eine dünne Wand aus Holz und Backsteinen von den Zimmern des gefürchteten Juden Süß trennte.

Eines Abends jedoch, als man die Mädchen schon längst weggeschickt hatte, sah Käthchen, die sich bis auf die Mitte der Treppe hinabgeschlichen hatte, drei Männer bei ihrem Vater eintreten, die ihre Neugierde aufs höchste trieben. Der erste, der sich langsam und schnaubend die untere Treppe heraufschob und auf der Hausflur einige Minuten stehen blieb, um Atem zu sammeln, war niemand Geringeres als der lutherische Prälat Klinger. Seine schneeweiße Perücke, seine Prälatenkette, die gerade auf dem Magen ruhte, und seine alten verwitterten Züge flößten dem Mädchen ungemeine Ehrfurcht ein; ihm folgte hastigen Schrittes der Oberst und Stallmeister von Röder, ein Mann, den man für sehr klug und tapfer, aber zugleich auch in seinen Sitten für sehr unheilig hielt, und über den dritten hätte sie beinahe laut aufgelacht, es war der fröhliche Kapitän Reelzingen, der so drollige Geschichten und Schnurren zu erzählen wußte, und sie schon auf manchem Ball beinahe zum Lachen gebracht hatte. Heute hatte er sein Gesicht in ganz ehrbare Falten gelegt und sah gerade aus wie damals, als er ihr auf Parole d'honneur schwur, daß er sie vraiment liebe. Sie[245] sah ihm lächelnd nach, bis sein ungeheurer Degen in der Türe verschwunden war, und eilte dann in das Bibliothekzimmer, wo sie die blonde Hedwig traf, welche die Augen fest zugeschlossen hatte, um nicht über ein Gespenst zu erschrecken, wenn etwa zufällig eines in der Bibliothek auf und ab wandelte. »Heute müssen wir hinuntergucken!« erklärte Käthchen. »Und komm nur jetzt gleich mit; denke dir, die Leute kommen hier zusammen wie beim Karneval. Hast du je sonst den Prälaten Klinger und den Kapitän Reelzingen in einem Zimmer gesehen, und dazu den Oberst Röder und« – setzte sie hinzu, als die Schwester zauderte – »ich müßte mich sehr irren, wenn ich nicht, als die Tür einmal aufging, auch Blankenberg gesehen hätte.«

Dieser letzte Name entschied; Käthchen nahm das Licht und ging mit pochendem Herzen voran, Hedwig folgte ihr, so nahe als möglich an die mutigere Schwester gedrängt, und als jene die verhängnisvolle Kammertür aufschloß, hielt sie sich fest an ihrem Kleide. Die Oeffnung war gerade über dem Ofen des Wohnzimmers, das einen Stock tiefer lag, angebracht, und Käthchen konnte, als sie die Klappe aufzog, selbst wenn sie sich auf die Knie legte und den Kopf tief herabbeugte, doch nicht mehr als vier oder fünf der versammelten Männer sehen; auch Hedwig beugte sich jetzt herab und versuchte es, noch tiefer zu blicken als ihre Schwester, aber verdrießlich stand sie wieder auf und sagte: »Nichts als den breiten Rücken des Prälaten, einige Perücken und die Uniform des Obersten kann ich sehen; weißt du denn gewiß, daß Blankenberg zugegen ist?«

»Sicher!« erwiderte Käthchen, schalkhaft lächelnd. »Doch laß uns horchen, was sie sprechen; vielleicht kennst du deinen Liebhaber an der Stimme.«

Sie setzten sich auf den Fußboden neben der Oeffnung und lauschten; die angenehme Wärme, die von dem Ofen heraufdrang, und ihre Neugierde ließen sie eine Zeitlang die empfindliche Kälte der Märznacht vergessen; endlich richtete sich Hedwig unmutig auf. »Meinst du, wir werden klug werden aus diesem Geplauder, wovon man nur die Hälfte versteht? Sie schwatzen wieder, wie immer, vom Wohl des Landes, vom Herzog, von Süß, von allem; was geht das uns an! Komm! Es ist gar schaurig hier und kalt. Mädchen, so steh doch auf!«

Aber Käthchen winkte ihr zu schweigen; man hörte jetzt eben den Oberst Röder mit bestimmter und vernehmlicher Stimme etwas vorlesen; die tiefe Stille umher unterbrach nur zuweilen ein schnell verrauschendes Murmeln des Unwillens. Jetzt[246] sprach der alte Lanbek; Käthchens fröhliche Züge gingen nach und nach in Staunen und Angst über; endlich, als die Männer unten wieder laut, aber beifällig zusammensprachen und die Gläser anstießen, flog eine hohe Röte über das Gesicht des Mädchens, ihre Augen leuchteten, als sie vorsichtig die Klappe schloß, die Lampe ergriff und mit ihrer Schwester den Rückweg einschlug.

»Hast du was verstanden?« fragte Hedwig. »Du schienst auf einmal so aufmerksam; was haben sie denn Besonderes gesprochen?«

»Ich weiß nicht alles, ich kann nicht alles sagen,« erwiderte Käthchen nachdenkend; »mir ist's, als hätte mir alles geträumt. Höre – aber schweig! Es könnte uns alle unglücklich machen. Das sind gefährliche Menschen in Vaters Zimmer unten. Mir graut, wenn ich daran denke, was daraus entstehen kann.«

»So sprich doch, einfältiges Kind! Ich bin zwei Jahre älter als du, und du sollst keine Geheimnisse vor mir haben.«

»Denke dir,« fuhr Käthchen mit leiser Stimme fort, »der Süß will uns katholisch machen und die Landschaft umstürzen; da verlöre der Vater und alle andern verlören ihre Stellen!«

»Katholisch!« rief Hedwig mit Entsetzen. »Da müßten wir ja Nonnen werden, wenn wir ledig blieben? Nein, das ist abscheulich!«

»Ach, warum nicht gar,« erwiderte Käthchen, lächelnd über den Jammer ihrer Schwester, »da müßte es viele Nonnen geben, wenn alle, die keine Männer bekommen, ins Kloster gingen; aber sei ruhig, es kommt nicht so weit. In drei Tagen, sagte Röder, werde der Herzog verreisen, und während er in Philippsburg ist, wollen die Männer da unten den Juden und alle seine Gehilfen im Namen der Landschaft gefangen nehmen und dann dem Herzog beweisen, wie schlecht seine Minister waren.«

»Ach Gott, ach Gott! Das geht nicht gut,« sagte Hedwig weinend. »Alles werden sie verlieren, denn der Herzog traut allen eher als denen von der Landschaft; ich weiß ja, was mir einmal die Oberstjägermeisterin über den Vater sagte. Du wirst sehen, es geht unglücklich!«

»Und wenn auch,« antwortete Käthchen, »so sind wir die Töchter eines Mannes, der, was er tut, zum Besten seines Vaterlandes tut. Das kann uns trösten.« Das mutige Mädchen holte aus dem Schranke eine mit vielen schönen Kupfern geschmückte Bibel. Sie gab der weinenden Schwester das neue Testament, um sich an den Kupfern und Reimsprüchen zu zerstreuen.[247] Sie selbst schlug sich das Alte Testament auf. Sie verbarg ihre eigene Besorgnis um ihren Vater unter einem Liedchen, das sie leise vor sich hinsang, während ihre schönen Fingerchen emsig die vergilbten Blätter von einem Bilde zum andern durcheilten.


12.

Es gibt im Leben einzelner Staaten Momente, wo der aufmerksame Beschauer noch nach einem Jahrhundert sagen wird, hier, gerade hier mußte eine Krise eintreten; ein oder zwei Jahre nachher wären dieselben Umstände nicht mehr von derselben Wirkung gewesen. Es ist dann dem endlichen Geist nicht mehr möglich, eine solche Fügung der Dinge sich hinwegzudenken, und aus der unendlichen Reihe von möglichen Folgen diejenigen aneinander zu knüpfen, die ein ebenso notwendig verkettetes Ganze bilden als ein verflossenes Jahrhundert mit allen seinen historischen Wahrheiten. Hier zeigt sich der Finger Gottes, pflegt man zu sagen, wenn man auf solche wichtige Augenblicke im Leben eines Staates stößt. Es hat aber zu allen Zeiten Männer gegeben, die, mochte ihr eigener Genius, mochte das Studium der Geschichte sie leiten, solche Momente geahnet, berechnet haben, und sie wirkten dann am überraschendsten, wenn sie sich nicht begnügten, solche Krisen vorhergesehen zu haben, sondern wenn sie Mut genug besaßen, zu rechter Zeit selbst einzuschreiten, Kraft genug, um eine Rolle durchzuführen. Die Geschichte hat längst über die kurze Regierung der Minister Karl Alexanders entschieden. Sie flucht keinem Sterblichen, sonst müßte sie die Tränen und Seufzer Württembergs in schwere Worte gegen die Urheber seines Unglücks im Jahre 1737 verwandeln; aber sie gedenkt mit Liebe einiger Männer, die sich nicht von dem Strome der allgemeinen Verderbnis hinreißen ließen, die ahneten, es müsse anders kommen, die vor dem Gedanken nicht zitterten, eine Aenderung der Dinge herbeizuführen, und die auch dann mit Ruhe und Gelassenheit die Sache ihres Landes führten, als ein Höherer es übernommen hatte, einen unerwartet schnellen Wechsel der Dinge herbeizuführen, indem er zwei feurige Augen schloß und ein tapferes Herz stille stehen hieß.

Wer sollte es diesem heiteren Stuttgart und seinen friedlichen Straßen ansehen, daß es einst der Schauplatz so drückender Besorgnisse war? Wie beruhigt über den Gang der Dinge sind die Enkel derer, die in jenem verhängnisvollen März jede[248] Stunde für das Schicksal ihrer Familien, für die alten Rechte ihres Landes, selbst für ihren Glauben zittern mußten!

Wer den übermütigen Süß in seiner Karosse, mit sechs Pferden bespannt, durch die »reiche Vorstadt« fahren sah, wie er stolz lächelnd auf die bleichen, feindlichen Gesichter herabblickte, die ihm überall begegneten; wer den schrecklichen Hallwachs, seinen innigen Freund und Ratgeber, neben ihm sah und bedachte, wie viele verderbliche Pläne dieser Mann ersonnen, wie viele unerhörte Monopole er eingeführt habe und wie er immer neue zu erfinden trachte; wer das unbegrenzte Vertrauen kannte, das der Herzog in diese Menschen setzte, der mußte wohl an der Möglichkeit der Rettung verzweifeln.

Dazu kamen noch die sonderbaren und widersprechenden Gerüchte, die im Umlauf waren. Die einen sagten, der Herzog sei nach Philippsburg und Kehl gereist, habe aber das Regiment nicht an den Geheimenrat, sondern das Siegel dem Juden Süß gegeben; andere widersprachen und behaupteten, man habe den Herzog an einem Fenster des Ludwigsburger Schlosses gesehen, auch seien seine Pferde noch dort, und er sei nicht abgereist. In einem Dorf an der österreichischen Grenze im Oberland sollen die Katholiken plötzlich über die protestantischen Einwohner hergefallen sein, und als letztere den Kampfplatz behaupteten, sei eine Kompagnie Kreistruppen über die Grenze herein ins Dorf gerückt. Am sonderbarsten klang das Gerücht, das sich überdies noch bestätigte, der Oberfinanzrat Hallwachs habe ein kostbares Meßgewand beim Hofsticker bestellt und ihm befohlen, es bis zum achtzehnten März fertig zu machen und wenn er mit fünfzig Gesellen arbeiten müßte; bringe er es nicht fertig, so werde er eingesetzt. Ein lutherischer Geistlicher, den man mit Namen nannte, soll den Kindern in der Schule Kreuzchen, aus Holz geschnitzt, geschenkt haben, mit den Worten: »Nur wenn ihr diese in Händen haltet, könnet ihr recht beten.« Endlich erzählte man sich als etwas Verbürgtes, der Jude habe zum Herzog über der Tafel gesagt: »Ihre Stände, Durchlaucht, sind eigentliche Widerstände; aber sie stehen schon so lange, daß sie müde und matt sind.« Karl Alexander habe ihm lächelnd zur Antwort gegeben: »C'est vrai; allons donc leur donner des chaises, et une fois assis, ils ne se leveront plus.« Auch jene Männer, die entschlossen waren, dem drohenden Verderben zuvorzukommen, hörten diese Gerüchte. Aber sie waren dabei kalt und ruhig; wußten sie ja doch, Württemberg stehe eine solche Veränderung bevor, daß es entweder erleichtert oder[249] so tief ins Unglück gestürzt werden würde, daß der Jammer des einzelnen davor verstummen müßte. Man erzählt sich, sie haben alles, was dazu gehört, einem mächtigen und bösartigen Feind mit Hilfe des Landvolks zu begegnen, vorbereitet gehabt, und wenn ihr Unternehmen gelingen sollte, so verdankten sie es nur den wenigen hellstrahlenden Namen einiger Männer aus der Landschaft; denn an diese war man in Württemberg gewöhnt, das Interesse des Landes zu ketten.

Es war spät abends den elften März, als der Landschaftskonsulent Lanbek mit seinem Sohne und dem Kapitän Reelzingen in seiner Wohnstube beim Weine saß. Die beiden Lanbek waren ernst und düster, der Kapitän aber konnte auch jetzt seinen fröhlichen Lebensmut nicht verbergen, denn er teilte seine Aufmerksamkeit und sein Gespräch zwischen der Fensternische, wo die beiden Schwestern Gustavs saßen, und zwischen den beiden Männern an seiner Seite. Hedwig sah bleich und still vor sich hin auf ihre Nadeln, aber auf Käthchens Gesichtchen lag eine höhere Röte als gewöhnlich und alle Augenblicke zeigte sie die weißen Zähne und die schönen Grübchen in ihren Wangen, denn der Kapitän wußte wieder wunderschöne Späße und Geschichten.

»Wie ist Euer Pferd, Kapitän?« fragte der alte Lanbek.

»Mein Fuchs ist ein besserer Infanterist als ich selbst,« erwiderte er. »Wenn ich die sechs ersten Stunden Trab und bergauf Schritt reite, so kann ich die nächsten sechs bequem Galopp reiten. Er hat nur einen Fehler, den, daß er noch nicht bezahlt ist, und macht mir durch diese Untugend oft großen Jammer.«

»Ihr könnt,« fuhr der Alte fort, »wenn ihr von der Galgensteige an scharf Trab reitet, zwischen elf und zwölf Ludwigsburg passieren; um vier Uhr müßt ihr in Heilbronn sein und dort laßt ihr die Pferde ruhen; zwischen acht und zehn Uhr seid ihr morgen in Oehringen.«

»Aber Vater,« fiel Gustav ein, »wäre es nicht ratsamer, gegen Heidelberg zu reiten? Ich wollte darauf wetten, wir sind gegen Oehringen hin nicht mehr sicher. Bedenken Sie, daß der Deutschorden dort tief herein sich erstreckt, daß sie in Mergentheim gewiß von dem Bischof in Würzburg unterrichtet sind, daß –«

»Daß,« fuhr der Vater fort, »ihr auf der Straße nach Heidelberg viel mehr auffallet und daß ihr, wenn ihr etwa die Gegend nicht mehr rein fändet eine letzte Zuflucht bei meinem[250] alten Herrn und Gönner, dem Herzog in Neustadt, habt, der euch gewiß in den ersten Tagen nicht herausgibt. Ist dann Karl Alexander zufrieden mit dem, was wir hier getan, so könnet ihr immer zurückkehren; wo nicht, so gehet ihr, wie schon gesagt, weiter nach Frankfurt.«

»Gott! daß ich euch in einer solchen Krisis zurücklassen soll!« rief Gustav mit Tränen. »Daß ich vielleicht an eurem Unglück schuld bin; daß alles schlecht gehen kann, wenn Süß meine Flucht erfährt und sich an Ihnen, Vater, rächt! Nein, ich kann, ich darf nicht gehen!«

»Nein, Vater,« fiel Hedwig ein, indem sie noch bleicher als zuvor herbeieilte und ihres Vaters Hand ergriff, »er darf uns nicht verlassen; o, ihr habt schreckliche Dinge vor, ich weiß es wohl, ihr wollt eine Verschwörung gegen diese mächtigen Menschen machen. Lassen Sie ab davon, Vater; Süß und die andern werden Ihnen verzeihen; ach, mich tötet die Angst!«

»Geh, Mädchen,« sprach Käthchen, die auch herangetreten war; »was Männer tun und was unser Vater tut, geht uns nichts an. Aber warum soll denn gerade jetzt Gustav so schnell hinweg? Er könnte uns allen so nützlich sein.«

»Weil ich keine Jüdin zur Tochter mag;« sagte der Alte streng, »darum soll er fort. Weil ich ein Briefchen seiner Scharmanten aufgefangen und mit Protest an den Juden geschickt habe, und weil dieser jetzt wütet und euren Bruder mit Gewalt zum Schwager haben oder auf Neuffen setzen will, darum soll und muß er ihm jetzt aus dem Wege gehen. Doch, ich wollte dir in dieser Stunde nicht wehe tun, Gustav; wir scheiden als Freunde, und alles andere soll vergessen sein, wer weiß, wann und wo wir uns wiedersehen!«

Indem der Alte die letzten Worte sprach und seinem Sohn die Hand reichte, wurde schnell und heftig an der Tür gepocht, und ehe noch jemand antwortete, trat plötzlich eine Gestalt, in einen Mantel gehüllt, ein. »Was soll dies?« fuhr der alte Lanbek auf. »Wer drängt sich so bei Nacht in mein Haus, wer sind Sie?«

»Blankenberg!« rief Hedwig, als jener den Mantel abwarf, und trat schnell und errötend einige Schritte vor.

»Verzeihung, Herr Konsulent,« sprach der junge Mann eilend, »die Not muß mich entschuldigen. Gustav, du mußt im Augenblick fort; der Leutnant Pinassa schrieb mir soeben, daß er dich auf Befehl des General Römchingen heute nacht[251] zwischen elf und zwölf Uhr aufheben müsse. Der ehrliche Junge möchte dich nicht gern im Nest treffen.«

»Dank, Dank,« erwiderte der Alte, indem er Blankenberg die Hand drückte. »Trinket aus, Kinder, und macht den Abschied schnell; hier, mein lieber Reelzingen,« fuhr er fort und drückte dem überraschten Kapitän einen großen Beutel in die Hand; »man kann nicht wissen, ob sich euer Weg nicht teilt. Sie sind so edelmütig, meinen Sohn zu begleiten.«

»Und mit Geld wollen Sie dies lohnen?« unterbrach ihn der Kapitän unmutig. »Parole d'honneur, Herr! ich begleite meinen Bruder, weil wir alte Amicisten sind, und nicht wegen Ihrer Spieße. Da soll mich doch –«

»Reelzingen,« sagte Käthchen mit ihrer süßen Stimme, »Ihr versteht doch gar keinen Scherz; es sind lauter Kupfermünzen, und ich habe dem Vater den Beutel gegeben, Euch in April zu schicken.«

»Ich verstehe,« flüsterte der Kapitän, indem er errötend dem schönen Mädchen die Hand küßte. »Ich will Euch dafür etwas Schönes von Frankfurt mitbringen.«

»Bringet mir,« antwortete sie, indem sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, »nur unsern Gustav wohlbehalten zurück, und,« setzte sie, durch Tränen lächelnd, hinzu, »machet mir keine tollen Streiche, die euch verraten könnten.«

»Die Pferde sind vor dem Seetor,« sprach der Alte zu Reelzingen und seinem Sohn. »Ihr dürft nicht das Tor selbst passieren; denn die erste Runde ist schon vorüber. Begleiten Sie meinen Sohn, Herr von Blankenberg, durch die Gärten und bringen Sie mir Nachricht, wie sie fortgekommen sind.«

Der junge Lanbek umarmte Vater und Geschwister, die Schwestern folgten ihm und seinen Freunden weinend bis unter die Gartentüre, und als nachher Hedwig ihre jüngere Schwester bitter tadelte, weil sie erlaubt habe, daß der Kapitän sie auf den Mund küsse, antwortete jene: »Du hast gefehlt, nicht ich, daß du es unterlassen hast; solche Höflichkeit waren wir einem Manne schuldig, der für unsern Bruder so viel tut.«

»Ei,« erwiderte Hedwig errötend, »Blankenberg hat ihn eigentlich doch auch gerettet.«

[252]


13.

Die beiden jungen Männer ritten schweigend durch die finstere Nacht hin. Kein Stern war am Himmel und der Wind heulte um die Berge. »Hu! Siehst du dort?« flüsterte Reelzingen, als sie an dem eisernen Galgen vorbeiritten, den einst (1597) Herzog Friedrich dem Alchimisten Honauer aus dem Metall errichten ließ, das er in Gold zu verwandeln versprochen hatte. »Schau, diese ungeheure Menge Raben, es ist, als witterten sie eine neue Beute.«

Sein Freund blickte schweigend hinauf, schlug aber plötzlich wieder die Augen nieder, denn ihm war, als sähe er Leas feine, liebliche Gestalt klagend unter dem Galgen sitzen. »Fest genug ist diese Schandsäule aus Eisen,« fuhr der Kapitän fort, »um alle Schurken im Lande zu tragen; aber wollte man das Gold mit aufhängen, das sie eingesackt haben, würde selbst dieser Galgen wie ein morscher Stab zusammenbrechen! Wie diese Raben schaurige Melodien singen! Doch wie? – Dieu nous garde, Kamerad! Gib deinem Roß die Sporen, wahrhaftig, dort sitzt ein Gespenst am Galgen!«

Es war, als ob die Pferde selbst diesen Ort des Schreckens fürchteten, denn auf diesen Ruf jagten sie mit Sturmeseile den Berg hinan und waren nicht mehr ruhig, bis man das Gekreisch der Raben nicht mehr hörte.

Es liegt eine kleine Brücke zwischen Stuttgart und Ludwigsburg, von welcher das Volk viel Schauerliches zu erzählen weiß; so viel ist gewiß, daß schon Unerklärliches dort vorgefallen ist, und daß mancher Mann sein Gebet spricht, wenn er nachts allein über diese Stelle reitet. Die Sage sagt, daß der Sohn des Konsulenten und sein Freund, der muntere Kapitän, glücklich und in kurzer Zeit bis an jene Brücke gekommen seien; dort aber seien ihre Pferde nicht mehr von der Stelle gegangen und haben geschnaubt und gezittert. Die jungen Leute spornten und gebrauchten ihre Peitschen, als eine alte, zitternde Stimme rief: »Gebt einem alten Mann doch ein Almosen!«

»Wer wird bei Nacht und Nebel den Beutel ziehen? Zurück, Alter, von der Brücke weg, unsere Pferde scheuen vor Euch, zurück, sag' ich, oder Ihr sollt meine Peitsche fühlen!«

»Nicht so rasch, junges Blut! Nicht so rasch!« sagte der Alte, dessen dunkle Gestalt sie jetzt auf dem Brückengeländer[253] sitzen sahen. »Eile mit Weile! Kommet noch früh genug, gebet einem alten Mann ein Almosen!«

»Jetzt ist meine Geduld zu Ende,« rief der Kapitän und schwang seine Peitsche in der Luft. »Ich zähle drei, wenn du nicht weg bist, hau' ich zu.«

Der Alte hüstelte und kicherte, Gustav kam es vor, als wachse seine dunkle Gestalt ins Unendliche und – ein langer Arm streckte einen großen Hut heran, und zum drittenmal, aber drohend und mit furchtbarer Stimme krächzte der Mann von der Brücke: »Einem alten Mann gib ein Almosen! Es wird dir Glück bringen, und reite nicht so schnell; vor zwölf Uhr darfst du nicht dort sein.«

Reelzingen ließ kraftlos und zitternd seinen Arm sinken; er gestand nachher, daß ihn eine kalte Hand angefaßt habe. Gustav aber zog mit pochendem Herzen die Börse und warf ein Silberstück in den großen Hut. »Wieviel Uhr ist's, Alter?« fragte er.

»Weiß keine Stund' als zwölf Uhr,« sprach die Gestalt, die wieder auf dem Geländer zusammenkauerte, mit dumpfer Stimme. »Dank dir, sollst Glück haben; reit' zu!« Er sagte es und stürzte rücklings mit einem dumpfen Fall in den Sumpf, über den die Brücke führte. Entsetzt gab Reelzingen seinem Pferde die Sporen, daß es sich hoch aufbäumte und dann in zwei Sprüngen über die Brücke setzte. Gustav aber hielt erschrocken sein Pferd an, stieg ab und blickte über das Geländer der Brücke. Es rührte sich nichts. »Alter!« rief er hinab, »hast du Schaden genommen? Kann ich dir helfen?« – Keine Antwort, und alles war still unten wie im Grabe. Jetzt faßte auch den jungen Lanbek eine unerklärliche Angst; er fühlte, als er aufstieg, wie sein Pferd zitterte; er wagte es nicht, sich noch einmal nach dem grauenvollen Ort umzusehen, als er seinem Freund nachjagte.

»Das ist das zweite Mal, daß er mir begegnet ist,« flüsterte Reelzingen tief aufatmend, als Lanbek wieder an seiner Seite war.

»Wer?« fragte dieser betroffen.

»Der Teufel,« antwortete der Kapitän.

Lanbek gab ihm keine Antwort auf die sonderbare Rede, und sie jagten weiter durch die Nacht hin. In Zuffenhausen schlug es Viertel vor zwölf Uhr, als sie durchritten; in den meisten Häusern brannten noch die Kerzen und da und dort hörte man geistliche Lieder aus den Stuben. Der Nachtwächter[254] stieß eben ins Horn und rief die Stunde; der Kapitän hielt an und fragte ihn, was die späten Gesänge und Gebete zu bedeuten haben.

»Ach Herr! Das ist eine arge Nacht,« antwortete dieser, »es hat ein Mann an vielen Häusern gepocht und befohlen, die Leute sollen die ganze Nacht bis zwölf Uhr beten.«

»Wer ist der Mann?« fragte Lanbek staunend.

»Alte Leute, Herr, die ihn gesehen haben, versichern, es sei unser alter Pfarrer gewesen; Gott hab' ihn selig, er ist seit zwanzig Jahren tot; aber es war ja nichts Unchristliches, was er verlangte, drum beten und singen sie in den Lichtkarzstuben und spinnen dazu.«

»Diese Nacht kann mich noch wahnsinnig machen!« rief der Kapitän, indem sie wegritten. »Gustav, ich glaube, heute nacht geht er leibhaftig auf der Erde um; ich denke, es wäre jetzt gerade die beste Zeit, den alten Burschen zu zitieren, wenn man etwa schnell Oberst werden oder zweimalhunderttausend spanische Quadrupel haben möchte.«

»Tor!« antwortete der Freund. »Der, den du meinst, hat mit dem Gebet nichts gemein.«

Es war, als ob ihre Pferde nur zum Schein die Beine aufhöben, denn jede Viertelstunde, die sie zurücklegten, schien zu einer neuen anzuwachsen. Noch immer wollte Ludwigsburg nicht erscheinen und die Nacht war so finster, daß sie auch an der Gegend nicht erkennen konnten, ob sie fehlgeritten oder ob sie der Stadt schon nahe seien. Endlich, nachdem sie etwa wieder eine halbe Stunde geritten sein mochten, sahen sie in der Entfernung von etwa tausend Schritten Lichter schimmern, fanden aber auch zugleich ihren Weg durch vier Pferde versperrt, die, an einen Reisewagen gespannt, quer über die Landstraße standen.

»Führ' deine Pferde hinweg, Fuhrmann!« rief der Kapitän, »oder meine Peitsche wird sie bald weggetrieben haben; warum versperrst du den Weg?«

»Gemach, ihr Herren, soll gleich geschehen,« antwortete ein Mann, der von dem Wagen stieg. Aber die Zeit, die er dazu brauchte, die herabgefallenen Zügel aufzunehmen und zu ordnen, dauerte dem raschen Soldaten zu lange, er versuchte über die schlaff liegenden Stränge des vordersten Gespanns wegzusetzen, und forderte seinen Freund auf, ein gleiches zu tun; doch wie es in solchen Fällen blinder Eile zu geschehen pflegt, in demselben Augenblick zog der Mann am Wagen die Zügel an, und das[255] Pferd des Kapitäns blieb mit einem Fuß in den straff aufgerichteten Strängen hängen.

Lanbek sprang ab, um dem Freund zu helfen, der Kutscher lief bedauernd herzu, und eben war der Fuß des unbezahlten Rosses frei, als man einige Reiter in aller Eile von der Stadt herbeijagen hörte. Der erste mochte einen Vorsprung von fünfhundert Schritten, aber kein gutes Pferd haben, denn der Kapitän unterschied deutlich, daß es kurzen Paradegalopp ging, die Tritte der nachfolgenden Pferde schlugen zwar minder kräftig auf, waren aber flüchtiger. »Platz – allons! – Platz!« rief der erste Reiter; aber in demselben Augenblick hörten auch die beiden jungen Männer eine bekannte Stimme, die mit dem wildesten Ausdruck rief: »Halt, Jude! oder ich schieß' dich mitten durch den Leib!«

Unter dem Volke in Württemberg hört man zuweilen noch einen Reim, der diesen merkwürdigen Moment bezeichnet, er heißt:

Da sprach der Herr von Röder:
Halt oder stirb entweder!

Und der alte Oberst war es auch, der in diesem Augenblick seinen Begleitern weit voran, eine Pistole in der Hand, ansprengte, den ersten Reiter wütend am Arme packte und schrie: »Wo hinaus, Jude? Warum so schnell zu Roß, als ich dir nachrief zu warten?«

»Mäßigt Euch, Herr Oberst,« erwiderte der erste mit stolzem Ton, in welchem aber doch einige Angst durchzitterte; »ich gehe nach Stuttgart, der Frau Herzogin Durchlaucht zu sagen, was in diesem Augenblick für Maßregeln –«

»Das ist auch mein Weg, Herr!« erwiderte der Oberst mit furchtbarer Stimme; »und keinen Augenblick geht Ihr von meiner Seite, sonst werde ich mit meiner Pistole Beschlag auf Euch legen. Platz da, wer steht hier im Weg?«

»Der Kapitän von Reelzingen von der dritten Kompagnie und der Expeditionsrat Lanbek.«

»Guten Abend, meine Herren!« fuhr Röder fort. »Habt Ihr geladene Pistolen, Kapitän?«

»Ja, mein Herr Oberst,« war die Antwort des Soldaten, indem er sie aus den Halftern losmachte.

»Ich kommandiere Euch, in welchem Auftrag Ihr jetzt auch sein möget, auf der linken Seite des Herrn Ministers Süß zu reiten. Bei Eurem Dienst und Eurer Ehre als Edelmann,[256] sobald er Miene macht zu entfliehen, jagt ihm eine Kugel nach. Die Verantwortung nehme ich auf mich.«

»Herr Expeditionsrat,« rief Süß, »ich nehme Euch zum Zeugen, daß mir hier schändliche Gewalt geschieht. Oberst Röder, ich warne Sie noch einmal; dieser Auftritt soll gerächt werden!«

»Aber Herr von Röder,« flüsterte Gustav; »ums Himmels willen, übereilen Sie nichts, bedenken Sie, was daraus entstehen kann. Bedenken Sie,« setzte er lauter hinzu, »den furchtbaren Zorn des Herzogs.«

»Der Herzog ist tot,« sagte Röder laut genug, daß es alle hören konnten.

»Karl Alexander tot?« rief der Kapitän, auf den alle Begebenheiten dieser Nacht mit einemmal in schrecklichen Erinnerungen hereinstürzten.

»Hat man sichere Nachricht? Gott! welch ein Fall!« sagte Gustav besorgt. »War er in Kehl?«

»Er ist in Ludwigsburg vor einer Viertelstunde schnell und plötzlich gestorben. Drum ist es unsere Pflicht, diesen Herrn da, der sich mit der Regierung sehr stark beschäftigte, schnell an das verwaiste Staatsruder zu bringen.«

»Wie, in Ludwigsburg, sagt Ihr,« rief Lanbek, »und schnell gestorben? O, ewige Vorsicht!«

»In diesem Ludwigsburg hier,« sagte Röder wehmütig, »und im Bette am Schlag gestorben. Friede mit seiner Asche! Er war ein tapferer Herr. Aber jetzt weiter, ihr Freunde, daß die Nachricht nicht vor uns nach Stuttgart kommt!«

»Meine Herren,« rief Süß mit einer Stimme, die Zorn und Angst beinahe erstickte, »noch bin ich Minister, und erinnere Sie an das Edikt des Herzogs, das mich von aller Verantwortung freispricht; ich sage Ihnen, es kann Ihnen allen schlimm gehen, wenn Sie sich mit Herrn von Röder verbinden. Im Namen des Herzogs und seines Erben befehle ich Ihnen, von mir abzulassen.«

»Jetzt hat dein Reich ein Ende, Jude!« rief der Kapitän, lachte wild, riß ihm den Zaum aus der Hand und schlug sein Pferd mit der langen Peitsche auf den Rücken; der Oberst ritt an der rechten Seite, seine Pistole in der Hand; der Zug setzte sich in Galopp, und Gustav folgte halb träumend durch das singende Dorf, an dem alten Mann, der heiser lachend wieder[257] auf der Brücke saß, und an dem Galgen vorüber, wo die Raben krächzten und mit den Flügeln schlugen. Erst hier, als er einen scheuen Blick nach der Richtstätte warf, fiel ihm mit ängstlicher Ahnung Lea und ihr unglückliches Schicksal bei.


14.

Als die Stuttgarter am Morgen nach dieser verhängnisvollen Nacht erwachten, wurden sie von zwei beinahe ganz unglaublichen Nachrichten überrascht. Der Herzog sei, statt außer Landes verreist zu sein, in dieser Nacht zu Ludwigsburg schnell gestorben. Er war ein gesunder, kräftiger Mann gewesen, dem mancher, der ihn gesehen, wohl noch zwanzig bis dreißig Jahre gegeben hätte. Die Klagen um seinen Tod verstummten beinahe vor der Freude über eine andere Nachricht: der Jude Süß sei mit mehreren der höchsten Hofherren im Ludwigsburger Schloß gewesen, als der Herzog so plötzlich starb; er habe sich alsobald, nachdem er die Leiche gesehen, aufs Pferd geschwungen und sei wie wahnsinnig Stuttgart zu geritten; Herr von Röder aber, ein Mann, mit dem sich nicht spaßen lasse, habe ihn eingeholt und bewacht nach Stuttgart geführt. Man lachte über die sonderbare Verblendung des Juden; als er nämlich von der Frau Herzogin, welcher er noch in der Nacht aufgewartet hatte, um zu kondolieren, heraustrat und eine Eskorte nach Haus verlangte, weil er wichtige Akten holen müsse, schloß sich ein Leutnant mit sechs Mann an ihn an. Am Ende des Korridors machte ihm ein Hauptmann das Kompliment und folgte mit zwölf Mann; jener meinte zwar lächelnd, »es sei zuviel Ehre,« als er aber an Lanbeks Haus um die Ecke bog, und vier Schildwachen vor seinem Palais bemerkte, als er oben an der Treppe Bajonette blitzen sah und Lea bleich, verstört und weinend ihm entgegenstürzte, da merkte er, welche Stunde geschlagen habe, und rief: »Ciel, je suis perdu!«

Obgleich das Testament des verstorbenen Herzogs im Fall seines Todes eine Administration bestellt hatte, welche seinen Ministern angenehmer gewesen wäre, so übernahm doch Herzog Rudolf von Neustadt, trotz seines hohen Alters, als der nächste Agnat, die Administration, und das Land fühlte sich erleichtert und zufrieden dabei. Er ließ, außer anerkannt schlechten Menschen, jeden in der Würde, in der er unter der vorigen Regierung stand, und es war dies wirklich eine Art von Gnadenakt, wenn man bedenkt, daß früher zwei Dritteile aller Aemter[258] im Lande gekauft worden waren. Nur einer war nicht zufrieden mit dem Amt, das ihm der Herzog Administrator mit den huldreichsten Ausdrücken bestätigt hatte; es war der junge Lanbek. Er wurde nicht nur als Expeditionsrat aufs neue ernannt, sondern, als der alte Röder, im Feuer der Freundschaft für den Landschaftskonsulenten, dessen Sohn als einen klugen Kopf und trefflichen Juristen schilderte, wählte ihn der Herzog sogar in die Kommission, die den Prozeß gegen den Juden Süß zu führen hatte. Der alte Lanbek fühlte sich dadurch nicht wenig geehrt und nannte seinen Sohn mehreremal den Stolz und die Stütze seines Alters; aber Gustav machte diese Wahl unaussprechlich unglücklich. Nicht als ob er nicht, wie jeder andere Bürger, den Mann verdammt hätte, der das Land in so tiefes Elend gestürzt; nicht als ob es gegen sein Gewissen gewesen wäre, Verbrechen ans Licht zu ziehen, die man so künstlich verborgen hatte; aber Lea, es war ja ihr Bruder, den er richten sollte, und der Gedanke war es, der ihm dieses Geschäft zum Abscheu machte. Kleine Seelen sättigen sich gerne an Rache, und manchem wäre es eine innige Freude gewesen, einen Mann, der noch vor kurzem so hoch stand, jetzt in der tiefsten Kasematte der Festung zu besuchen, mit herrischer Stimme ihn von seinem Lager aufzujagen und ihn zu martern und zu peinigen. Dieser Mann hatte sich noch überdies gegen Gustav persönlich verfehlt, er hatte ihn mit dem empörendsten Uebermut behandelt, ihm sogar mit demselben Gefängnis gedroht, in welchem er jetzt selbst, bange um künftige Freiheit, vielleicht selbst um sein Leben, schmachtete. Aber das Herz des jungen Mannes war zu groß, als daß es hätte freudig pochen sollen, als er zum erstenmal als Richter in den Kerker des Mannes trat, der jetzt, entblößt von aller irdischen Herrlichkeit, angetan mit zerlumpten Kleidern, bleich, verwildert, sich langsam aus seinen rasselnden Ketten aufrichtete. Erinnerte ihn doch jetzt noch dieses Gesicht an die Züge eines unglücklichen, geliebten Wesens; und er konnte sich kaum der Tränen enthalten, als nach dem Schlusse des Verhörs der Gefangene sprach: »Herr Lanbek, es gibt ein unglückliches, unschuldiges Mädchen, das wir beide kennen; als man in meinem Hause versiegelte, haben sie die rohen Menschen auf die Straße gestoßen – sie war ja eine Jüdin und verdiente also kein Mitleid. – Mir, Herr, ist kein Pfennig geblieben, womit ich ihr Leben fristen könnte; ich weiß nicht, wo sie ist – wenn Sie etwas von ihr hören sollten – sie hat nichts als das Kleid, das sie trug, als man sie[259] von der Schwelle stieß – geben Sie ihr aus Barmherzigkeit ein Almosen.«

Der junge Mann ließ seinen Tränen freien Lauf, als er allein den Berg von Hohenneuffen herabstieg; er erfuhr zwar nachher, daß ihn der Jude belogen habe, daß er, obgleich man über fünfmalhunderttausend Gulden in Gold und Juwelen in seinem Hause fand, doch beinahe hunderttausend in Frankfurt in sichern Händen habe, und Gustav konnte leicht einsehen, daß ihn Süß durch diese Vorstellungen von Elend nur habe weich stimmen wollen; aber dennoch konnte er den Gedanken nicht entfernen, daß Lea verlassen und unglücklich sei, und dieser Gedanke wurde immer peinlicher, als er trotz seiner Nachforschungen keine Spur von ihr entdecken konnte.

Der Frühling, Sommer und Herbst waren vorüber gegangen und noch immer dauerte der Prozeß. Es waren Dinge zur Sprache gekommen, wovor selbst den kältesten Richtern graute; aber obgleich der junge Lanbek der Kommission mit edlem Unwillen vorstellte, daß noch vier andere Männer nicht minder schuldig seien als Süß, so schien man doch nur gegen diesen ernstlich verfahren zu wollen, weil ihn der allgemeine Haß als den Schuldigsten bezeichnete.

Es war an einem trüben Oktoberabend – der alte Konsulent war seit einigen Tagen verreist und sein Sohn arbeitete im Bibliothekzimmer an einem neuen Verhör –, als seine jüngere Schwester, jetzt die glückliche Braut des Kapitäns Reelzingen, ernster als gewöhnlich zu ihm eintrat. Sie sprach anfangs Gleichgültiges, schien aber nur mit Mühe eine Träne unterdrücken zu können, die endlich wirklich in dem sanften Auge glänzte, als sie fragte, ob er ihr nicht zürnen werde, wenn sie eine bekannte Person zu ihm führe? Er sah sie staunend und verwundert an, doch noch ehe er eine Antwort zu geben vermochte, eilte Käthchen weinend aus dem Zimmer und trat bald darauf mit einem verschleierten Mädchen wieder ein. Noch ehe die trübe Kerze ihre Umrisse deutlich zeigte, noch ehe sie den Schleier zurückschlug, sagte ihm sein ahnendes Herz, wen er vor sich habe; errötend sprang er auf, aber schon hatte die Unglückliche sich vor ihm niedergeworfen, den Schleier zurückgeschlagen, und Lea war es, welche die einst so geliebten Augen düster und bittend zu ihm aufschlug und die bleichen, magern Hände ineinander gerungen, flehend nach ihm hinstreckte. »Barmherzigkeit!« rief sie. »Nur nicht sterben lassen Sie ihn; man sagt, er müsse sterben; seine einzige Hoffnung[260] ruht noch auf Ihnen. Wo soll ich Worte nehmen, Ihr großmütiges Herz zu erweichen? Welche Sprache soll ich erdenken, an ein Ohr zu sprechen, das mich einst so wohl verstand?« – Tränen ließen sie nicht weiterreden, und auch Käthchen weinte bitterlich. Voll von Schmerz und Ueberraschung faßte Gustav ihre kalten Hände und richtete sie auf; er sah sie an – wie schmerzlich war ihm ihr Anblick! Ihre Wangen waren bleich und eingefallen, die schönen Augen lagen tief, und der Mund, der sonst nur zum Lächeln geschaffen schien, zeigte, daß er jenes süße Lächeln längst nicht mehr kenne. Das schwarze Haar, das um die weiße Stirne hing, und das bleiche Gesicht vollendeten das Gespenstische ihres Anblicks.

»Lea! Unglückliche Lea!« rief der junge Mann. »Wie lange haben Sie sich verborgen gehalten und Ihren Freunden den letzten Trost geraubt, zu wissen, ob es Ihnen an nichts gebricht, ob die Freunde etwas für Sie tun können?«

»Ach! Das ist es nicht, um was ich Ihre edelmütige Schwester gebeten habe, mich hierher zu führen;« sagte sie schmerzlich lächelnd. »Warum soll es mir denn nicht gut gehen? Ich habe alle meine Hoffnungen und Träume längst begraben, ich pflanzte die Erinnerungen als Blumen auf das Grab und begieße diese Blumen mit meinen Tränen. Nein! Sie waren immer so großmütig gegen Unglückliche, geben Sie mir nur den Trost, daß mein Bruder nicht sterben muß. Ach! es ist so bitter zu sterben, und was nützt sein Tod diesem Lande?«

»Lea,« antwortete der junge Mann verlegen, »gewiß, es ist bis jetzt noch nicht davon die Rede gewesen, und ich glaube auch nicht – Sie dürfen sich trösten – es wird nicht so weit kommen.«

»Es wird, und in Ihrer Hand liegt sein Schicksal,« flüsterte sie; »er hat es mir gesagt, ich habe ihn gesprochen: ›Wenn nur der Brief nicht wäre, der Brief kann mich verderben.‹ O Gustav! Halten Sie ihn jahrelang, auf immer im Gefängnis, was liegt an ihm, wenn er in Ketten sitzt? Nur nicht sterben; Gustav sein Sie edelmütig – vergessen Sie den Brief, um den niemand weiß als Sie – mit jener schwachen Kerze dort können Sie das Leben eines Menschen retten.«

»Bruder,« sagte Katharina, nähertretend, indem sie seine Hand faßte, »tu es, dein Gewissen kann nicht gefährdet werden, denn er ist ja auf immer unschädlich gemacht; verbrenne den Brief, er kann sich ja verloren haben.«

[261]

Der junge Mann sah die weinenden Mädchen an; ein unabweisbares Gefühl kämpfte in ihm, er schwankte einen Augenblick, und Lea, die diesen Kampf in seinen Mienen las, faßte seine Hand, drückte sie stürmisch an ihr Herz, zog sie zärtlich an ihre Lippen. »Er will!« rief sie entzückt. »O, ich wußte es wohl, er ist edel; er will sich nicht wie die andern, an dem Unglücklichen rächen, der ihn einst beleidigt hat, er läßt ihn nicht sterben, belastet mit Sünden, er läßt ihn leben und fromm und weise werden. Wie gütig bist du, o Gott, daß du noch deiner Engel einen gesendet hast auf diese öde Erde, der mit der offenen Hand der Barmherzigkeit segnet und nicht mit dem flammenden Schwert der Rache den Verbrecher zerschmettert!«

»Nein – nein – es ist nicht möglich!« sprach Lanbek mit tiefem Schmerz. »Sieh, Lea, mein Leben möchte ich hingeben, um deine Ruhe zu erkaufen, aber meine Ehre! Meinen guten Namen! Es ist nicht möglich! Sie wissen um diesen Brief, einige haben ihn gelesen und – morgen soll ich ihn vortragen. Käthchen! Sprich, ich beschwöre dich, kann, darf ich es tun?«

Käthchen weinte, und eine leise Bewegung ihres Hauptes schien anzudeuten, daß es auch ihr unmöglich scheine. Lea aber hatte ihm mit starren Blicken zugehört; über die bleichen Wangen ergoß sich die Röte der Angst, sie beugte sich vor, als könne sie die schreckliche Verneinung nicht recht vernehmen; sie sah, als sich Gustav auf seine Schwester berief, mit einem Blick voll schmerzlicher Zuversicht nach dieser hin, sie streckte die Hand krampfhaft aus wie ein Ertrinkender, der nach dem schwachen Zweig am Ufer die Hand ausstreckt – vergebens.

»So muß er sterben,« sagte sie nach einer Weile leise, »und du – du brichst ihm den Stab? Das war es also, warum ich lebte – und liebte? Es ist ein sonderbares Rätsel, das Leben! Hätte ich dies gedacht, als ich noch ein fröhliches Kind war? Hätte ich gedacht, daß wir so untergehen müßten?«

»Armes, unglückliches Mädchen!« sprach Käthchen und schloß sie in ihre Arme. »Ach, gewiß, er kann nicht anders handeln, ich sehe es selbst ein; und wenn es dich trösten kann, komm zu mir, so oft du willst, du sollst gewiß treue Teilnahme finden –«

»Lea,« unterbrach sie ihr Bruder, »wenn wir etwas für Sie tun können; Sie sind an Wohlstand gewöhnt – dieses Kleid hier sagt mir, daß Sie in Not sind.«

»Komm, Lea,« fuhr Käthchen fort, »wir sind beinahe von derselben Größe, nimm von meinen Tüchern, von meinen Kleidern, du machst mir Freude, wenn du es tun willst.«

[262]

»Das Vermögen Ihres Bruders, das er außer Landes besitzt,« sagte Gustav, »soll und muß für Sie gerettet werden, Sie haben die nächsten Ansprüche, und ich will gewiß das Meinige tun.«

»Guter Gustav,« unterbrach sie ihn, indem sie sich zu einem Lächeln zwang; »lassen wir das; die Leute sagen, daß er sein Vermögen den Armen dieses Landes entzogen habe. Da hatte er unrecht, und es wäre besser, er hätte dieses Land nie gesehen; aber ebenso unrecht wäre es von mir, von diesem Golde Gebrauch zu machen, das ihm den Tod bringen wird. Aber von dir, liebes, schönes Mädchen, nehme ich ein Tuch an, weil es jetzt so kalt wird. Ich höre, du bist Braut; sei doch recht glücklich! Möchten dies die letzten Tränen sein, die jetzt in deinen Wimpern hängen; und wenn du weinen mußt, so sei es nur fremdes Unglück, um das dein schönes Herz trauert.«

»Lea,« sagte der junge Mann mit tiefem Schmerz, »ich kann dich nicht so hinweglassen; es ist die trügerische Ruhe der Verzweiflung die aus dir spricht. Besuche doch meine Schwester; sage, wo du wohnst. – Ach, wenn du Mangel littest! – Scheide nicht im Groll von mir, Lea! Gott weiß, daß ich nicht anders konnte!«

»Und auch ich weiß es, Gustav, und war ein törichtes Mädchen, dich auf diese gefährliche Probe zu stellen; unser Unglück ist so groß, daß eine kleine Hilfe mit deiner Ehre, mit deiner Ruhe zu teuer erkauft wäre. Lebet wohl! Ich brauche wenig, vielleicht bald gar nichts mehr, und sollte ich etwas nötig haben, so bin ich nicht zu stolz, zu dieser Freundin zu kommen, der einzigen, die mir das Unglück erworben hat.«

»Und vergibst du?« sagte Gustav mit Tränen.

»Ich habe nichts zu vergeben,« erwiderte sie, indem sie ihm mit mehr Fassung, als die beiden Geschwister erhalten hatten, die Hand bot. »Lebe wohl, Freund! Ich gehe, meine Blumen zu begießen. Möge der Gott meiner Väter dich so glücklich machen, als es dein reines Herz verdient!« Sie sagte es, warf noch einen Blick voll Liebe auf ihn und ging, von Käthchen begleitet.

Der junge Mann blickte ihr wehmütig nach; es war ihm, als hätte diese Stunde einen mächtigen Einfluß auf sein Leben, aber er ahnte auch, daß er das unglückliche Mädchen zum letztenmal gesehen habe.

[263]


15.

Es würde unsere Leser ermüden, wollten wir sie von dem Prozeß des Juden Süß noch länger unterhalten. Es ging damals wie ein Lauffeuer durch alle Länder und wird da und dort noch heute erwähnt, daß am 4. Februar 1738 die Württemberger ihren Finanzminister wegen allzu gewagter Finanzoperationen aufgehenkt haben. Sie hingen ihn an einem ungeheuren Galgen von Eisen in einem eisernen Käfig auf. Im Dekret des Herzogs Administrator heißt es: »Ihme zu wohlverdienter Straff, jedermänniglich aber zum abscheulichen Exempel.« Beides, die Art, wie dieser unglückliche Mann mit Württemberg verfahren konnte, und seine Strafe sind gleich auffallend und unbegreiflich zu einer Zeit, wo man schon längst die Anfänge der Zivilisation und Aufklärung hinter sich gelassen, wo die Blüte der französischen Literatur mit unwiderstehlicher Gewalt den gebildeten Teil Europas aufwärts riß.

Man wäre versucht, das damalige Württemberg der schmählichsten Barbarei anzuklagen, wenn nicht ein Umstand einträte, den Männer, die zu jener Zeit gelebt haben, oft wiederholen, und der, wenn er auch nicht die Tat rechtfertigt, doch ihre Notwendigkeit darzutun scheint. »Er mußte,« sagen sie, »nicht sowohl für seine eigenen schweren Verbrechen als für die Schandtaten und Pläne mächtiger Männer am Galgen sterben.« Verwandtschaften, Ansehen, heimliche Versprechungen retteten die andern, den Juden – konnte und mochte niemand retten, und so schrieb man, wie sich der alte Landschaftskonsulent Lanbek ausdrückte, »was die übrigen verzehrt hatten, auf seine Zeche.« Es sind seitdem neunzig Jahre verflossen, und wir wissen nicht, ob damals der schmähliche Tod dieses Mannes die Gemüter über alles Frühere beruhigte und befriedigte. Ein Edikt des Administrators wenigstens scheint es nicht ganz zu beweisen, denn er sah sich genötigt, zu verordnen: »daß die Untertanen alle widrigen Nachreden und ungleichen Urteile über den hochseligen Herrn, bei Strafe und Ahndung, vermeiden, und denselben im schuldigst-respektuösesten Andenken halten sollen.«

Der alte Lanbek tat das letztere auch ohne dies Edikt, denn so oft der Name Karl Alexanders genannt wurde, lüftete er mit besorgter Miene sein Mützchen und sagte: »Gott habe ihn selig!« Er folgte auch dem hochseligen Herrn noch unter der Vormundschaft Rudolfs von Neustadt. Man sagt, sein Sohn habe nie[264] wieder gelächelt, und selbst Schwager Reelzingen konnte ihm mit den herrlichsten Späßen keine heitere Miene abgewinnen. Noch Anno 93 sah man ihn als einen hohen, magern Greis an einem Stock über die Straße schreiten; seine Miene war ernst und düster, aber sein Auge konnte zuweilen weich und teilnehmend sein. Er hat nie geheiratet, und die Sage ging damals, daß er nur einmal, und ein unglückliches Mädchen geliebt habe, das ihren Tod im Neckar freiwillig fand. Männer, die ihn gekannt haben, versichern, daß er gewöhnlich kalt und verschlossen, dennoch sehr interessant in der Unterhaltung gewesen sei, wenn man ihn auf gewisse metaphysische Untersuchungen brachte, mit welchen er sich in seinem hohen Alter hauptsächlich beschäftigte. Er starb, betrauert von vielen, die ihn und sein Schicksal kannten, und beweint von den Armen und Unglücklichen. Mein Großvater pflegte von ihm zu sagen: »Es war einer von jenen Menschen, die, wenn sie einmal recht unglücklich gewesen sind, sich nicht mehr an das Glück gewöhnen mögen.«


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

Korrekturen:

S. 71: keinen → keiner
Es hat ja noch keiner vom achten Regiment

S. 205: Melancholei → Melancholie
durch sonderbare Melancholie prostituierte

S. 247: Stadium → Studium
mochte das Studium der Geschichte