The Project Gutenberg eBook of Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche Author: Paul Göhre Release date: September 25, 2019 [eBook #60357] Language: German Credits: Produced by Peter Becker, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DREI MONATE FABRIKARBEITER UND HANDWERKSBURSCHE *** Produced by Peter Becker, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) #################################################################### Anmerkungen zur Transkription Der vorliegende Text wurde anhand der 1891 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und regional gefärbte Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert. Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter der Übersichtlichkeit halber an den Anfang des Textes verschoben. Die Fußnote wurde an das Ende des betreffenden Abschnitts gesetzt. Das Original wurde in Frakturschrift gedruckt. Besondere Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet: Fettdruck: =Gleichheitszeichen= gesperrt: +Pluszeichen+ Antiqua: ~Tilden~ #################################################################### Drei Monate Fabrikarbeiter [Illustration] Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche Eine praktische Studie von Paul Göhre Kandidaten der Theologie Generalsekretär des evangelisch-sozialen Kongresses in Berlin Erstes bis zehntes Tausend [Illustration] Leipzig Fr. Wilh. Grunow 1891 Das Recht der Übersetzung bleibt vorbehalten Seinen Arbeitsgenossen in der Fabrik Der Verfasser Inhalt Seite Erstes Kapitel: Mein Weg 1 Zweites Kapitel: Die materielle Lage meiner Arbeitsgenossen 12 Drittes Kapitel: Die Arbeit in der Fabrik 40 Viertes Kapitel: Die Agitation der Sozialdemokratie 88 Fünftes Kapitel: Soziale und politische Gesinnung meiner Arbeitsgenossen 108 Sechstes Kapitel: Bildung und Christentum 142 Siebentes Kapitel: Sittliche Zustände 191 Achtes Kapitel: Ergebnisse und Forderungen 212 Vorwort Die nachstehenden Mitteilungen sind auf Grund ausführlicher Notizen, die ich während meiner Arbeiterzeit aufgezeichnet habe, gemacht worden. Einiges ganz Wenige davon ist aus Artikeln, die ich im vergangenen Herbste in die „Christliche Welt“ über meine Erlebnisse geschrieben habe, herüber genommen. Die Lückenhaftigkeit meiner Mitteilungen gestehe ich zu. Das ist bei einem nur dreimonatlichen Studium selbstverständlich. Was ich aber gesehen und gefunden habe, habe ich mit der Objektivität darzustellen versucht, die nur immer einem Menschen möglich ist, der nicht aus seiner Haut heraus kann. Ich warne dann noch ernstlich vor einer Verallgemeinerung der von mir gefundenen Ergebnisse. Ich gebe zu bedenken, daß alles, was ich berichte, nur von den sächsischen Industriearbeitern Geltung hat. Ich habe das Buch meinen ehemaligen Arbeitsgenossen in der Fabrik gewidmet als ein Zeichen des Gedenkens, der aufrichtigen Liebe und Zuneigung, die ich immer gegen sie hegen werde. Sie mögen darin das Bekenntnis sehen, daß ich meine ganze Lebenskraft in den Dienst ihrer Sache stellen will. Trotzdem bin ich auf Verdächtigungen gefaßt. Aber ihnen allen gegenüber erhebe ich den Anspruch, daß ich, selbst aus einfachsten Kreisen herausgewachsen, es nicht weniger ehrlich mit ihnen meine, als es andre von sich behaupten. Mit einem Appell an meine Alters- und Standesgenossen möchte ich diese Worte beschließen. Ich bitte sie dringend, es mir nachzuthun, allein oder zu zweien, aber mit offnem Visier, zu keinem andern Zwecke, als die ärmern Mitbrüder und ihre Lage, ihre Gedanken, ihr Sorgen und ihr Sehnen kennen zu lernen, ihnen durch solche Opfer die Liebe und Achtung zu zeigen, auf die sie einen Anspruch haben, und im künftigen Berufe dann vorurteilslos und ernst da für sie einzutreten, wo immer sie recht haben. Berlin, Anfang Juni 1891 =Der Verfasser= Erstes Kapitel Mein Weg Anfang Juni des vorigen Jahres hängte ich meinen Kandidatenrock an den Nagel und wurde Fabrikarbeiter. Ein abgelegter Rock, ein ebensolches Beinkleid, Kommißstiefeln aus der Militärzeit, ein alter Hut und ein derber Stock bildeten meinen abenteuerlichen Anzug. Eine vielgereiste Umhängetasche fand sich dazu, die nötigste Wäsche aufzunehmen, und gab, ein Paar Schuhe und die vorschriftsmäßige Bürste oben aufgeschnallt, einen prächtigen „Berliner“ ab. So zog ich eines frühen Morgens in struppigem Haar und Bart als richtiger Handwerksbursche mit klopfendem Herzen von daheim aus und bald darauf zu Fuß in das mir unbekannte Chemnitz ein. Hier in Chemnitz, dem Mittelpunkte der ausgedehnten sächsischen Großindustrie, habe ich fast drei Monate +unerkannt+ als einfacher Fabrikarbeiter und beinahe ohne jeden Verkehr mit meinesgleichen gelebt, habe in einer großen Maschinenfabrik mit den Leuten täglich elf Stunden gearbeitet, mit ihnen gegessen und getrunken, als einer der ihrigen unter ihnen gewohnt, die Abende mit ihnen verbracht, mich die Sonntage mit ihnen vergnügt und so ein reiches Material zur Beurteilung der Arbeiterverhältnisse gesammelt, das mitzuteilen ich im Folgenden versuchen will. Seit Jahren für das Studium der sozialen Frage vom religiösen und kirchlichen Standpunkte aus erwärmt, war es vor allem eines, das mich bisher einen klaren Blick, ein sicheres Urteil, einen festen Haltepunkt zu gewinnen immer wieder verhinderte: die zu geringe Kenntnis der Wirklichkeit, der thatsächlichen Lage derer, um derentwillen wir eine soziale, eine Arbeiterfrage haben. Zwar giebt es eine reiche Litteratur. Aber wer verbürgte mir die Richtigkeit der gegebenen Darstellungen? Wo ist die Wahrheit? Bei dem Optimisten, der die Lage der Arbeiter als durchaus nicht so erbarmungswürdig schildert, oder bei dem Pessimisten, der alles Schwarz in Schwarz sieht und die Zukunft nur als Revolution? In den sozialdemokratischen Schriften, die, so scharf und bedeutungsvoll ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen auch ist, doch für nichts weniger als unparteiisch und sachlich gelten und, fast alle Agitationsschriften, jedenfalls wissenschaftlichen Wert nicht beanspruchen können? In den weniger zahlreichen Äußerungen von Arbeitgebern, die in dieser Angelegenheit ebenso Partei sind, wie die Arbeiter selbst? Oder gar in unsrer periodischen und Tagespresse, die beinahe durchgängig +Parteipresse+ ist und als Vertreterin bestimmter Interessengruppen die Dinge immer nur von ihrem einseitigen, egoistischen Interessenstandpunkte aus zu würdigen und zu Gunsten ihrer Partei auszubeuten geneigt ist? Oder endlich in den Schriften von Geistlichen? Gewiß wird dem Pastor durch seine seelsorgerische Thätigkeit eine Fülle von Erfahrungen zur Verfügung stehen; ob aber gerade besonders reichlich und der Wirklichkeit entsprechend unter den Arbeitern, die je länger desto mehr sich von der Kirche und ihrem Einflusse fern zu halten suchen? Und dann ist eins zu bedenken: vor dem Träger des geistlichen Amtes pflegt sich jedermann, auch der Arbeiter, gern in sein Sonntagsgewand, thatsächlich wie bildlich gefaßt, zu werfen; die innersten Gedanken der Leute, ihre Gesinnung, die sie nur äußern, wenn sie unter sich und unbelauscht sind, lernt auch er nur sehr schwer und lückenhaft kennen. Und eben das war es, was ich vor allem wissen wollte, um darauf mein weiteres Studium und meine spätere Arbeit bauen zu können: +die volle Wahrheit über die Gesinnung der arbeitenden Klassen, ihre materiellen Wünsche, ihren geistigen, sittlichen, religiösen Charakter+. Wie aber ergründen, was sich so gerne dem forschenden Auge entzieht? Das beste, geradeste, wenn auch nicht eben bequemste war, wenn ich selbst unerkannt unter die Leute ging, mit eignen Ohren hörte und mit eignen Augen sah, wie es unter ihnen steht, ihre Nöte, ihre Sorgen, ihre Freuden, ihr tägliches einförmiges Leben selbst miterlebte, die Sehnsucht ihrer Seele, ihren Drang nach Freiheit, Besitz, Genuß belauschte und selbständig nach den innersten Triebfedern ihrer Handlungen suchte. Wie malt sich eigentlich die Welt in den Köpfen dieser Leute, die nun schon seit Jahrzehnten vielleicht unter dem Einflusse der sozialdemokratischen Führer stehen? Welches sind, eine Frucht jener Agitation, ihre sozialen und politischen Vorstellungen, welches ist ihr sittlicher Charakter, ihr innerstes religiöses Empfinden, die Stellung der Einzelnen zur Kirche? Haben sie überhaupt noch religiöse Bedürfnisse? Und wenn, auf welchem Wege können sie ihnen am besten befriedigt werden? Wie ist den Verhetzten und -- zum großen Teil mit Recht -- Verbitterten überhaupt erst wieder nahe zu kommen? Das alles konnte ich nur an der Quelle, selbst Arbeiter unter Arbeitern, erfahren. Also -- heran an die Quelle! Als ich um die Mittagszeit in Chemnitz einzog, war ich, absichtlich ohne bestimmten Plan, völlig dem Zufall überlassen. Ich fragte, um mich zu orientieren, einen an der nächsten Ecke postierten Schutzmann, ob er mir vielleicht sagen könnte, wo man hier Arbeit nachgewiesen erhielte. Was sind Sie? herrschte er mich in bedeutend unfreundlicherem Tone an, als ich es früher von Schutzleuten gewohnt war. Expedient, Schreiber. Da werden Sie wohl keine Arbeit in Chemnitz bekommen. Ich mache auch jede andre Arbeit, gab ich zurück. Dann gehen Sie einmal in die Zentralherberge, Zschopauerstraße; dort ist noch am ehesten irgendwelche Arbeit zu erfahren. So war mir der weitere Weg gewiesen. Ich fragte mich nach der Zentralherberge durch. Die Herberge war zugleich Arbeitsnachweisstelle und gehörte räumlich zum Vereinshaus des, wenn ich recht berichtet bin, freisinnigen Chemnitzer Arbeitervereins. Das vordere Zimmer der Herberge war mit einigen jungen Leuten in Sonntagskleidern und mit mehrern Handwerksmeistern besetzt, die hier auf zureisende Gesellen warteten. Auf einer großen Tafel an der Wand las ich: Zureisenden ist der Aufenthalt im vordern Zimmer nicht gestattet. So ging ich ins hintere. Dort sah es noch öder aus. Mehrere große graue Tische, um sie herum vielgebrauchte, mitunter durchgesessene Holzstühle bildeten neben einer alten Handwerkslade und dem primitiven Schenktische die einzigen Möbel dieses Zimmers, das mit einer dunstigen, dicken Luft gefüllt war. An den Wänden hingen viele Plakate mit Adressen von Herbergen der verschiedensten Städte. Es waren nur vier Mann in diesem Zimmer. Drei in blauem Kittel, die Hüte auf den Köpfen, saßen zusammen, ein andrer für sich. Ich setzte mich schüchtern in eine Ecke. Es wurde mir in der neuen Umgebung doch etwas bang zu Mute, und ich dachte in diesen Augenblicken, wohl das einzigemal, ernstlich an eine Umkehr. Ich saß etwa eine halbe Stunde und wartete. Ich mußte, noch völlig unerfahren in dieser Lage, zunächst die Dinge einfach an mich herankommen lassen. Und sie kamen in der Gestalt des dürren beweglichen Männchens, das dort einsam am Tische saß. Er trat auf mich zu: Guten Tag, Landser [Landsmann]. Guten Tag, Landser, antwortete ich. Auch einer von der Zunft? -- Damit hielt er mir seinen ausgestreckten Zeigefinger vor die Augen. Ich wußte nicht, was er damit wollte. Doch ich ahnte, wie es sich gleich nachher herausstellte, mit Recht einen Schneider in ihm und sagte jedenfalls Nein. Was bist du denn? forschte er weiter. Expedient, Schreiber. Und warum bist du auf der Walze [Wanderschaft]? Sage mal -- damit rückte er vertraulich an mich heran --, es ist wohl nicht ganz richtig mit dir? Mir kannst du es schon erzählen. Du siehst noch so anständig aus, du bist wohl durchgebrannt? Nein, sagte ich sehr einsilbig. Oder kommst du vom Zuchthause?... Das war ein schöner Anfang. Doch durfte ich mein Schneiderlein nicht fahren lassen. Ich wurde zunächst grob. Dummer Kerl, glaubst du mir nicht, was ich dir erzähle? erwiderte ich, das allgemein gebräuchliche Du, das mir bald ganz geläufig war, ihm zurückgebend. Ich bin ein Expedient und habe zuletzt fast zwei Jahre lang bei einem Pastor gearbeitet, der eine christliche Zeitung herausgiebt. Ich wäre auch noch dort; aber ich bekam von dem Korrekturenlesen und von nächtlicher Privatarbeit schwache Augen. Der Doktor verbot mir, sie diesen Sommer über nur im geringsten anzustrengen. Aber so lange zu bummeln, geht nicht; zu Hause zur Last liegen will man auch nicht. So bin ich hierher gekommen, um mir unterdessen in einer Fabrik etwas Verdienst zu suchen. Da brauche ich -- setzte ich hinzu -- doch die Augen auch nicht viel mehr aufzumachen, als wenn ich faulenze und immer spazieren gehe. Zur Bekräftigung dessen zog ich ein Arbeitszeugnis hervor, das mir der Herausgeber der bekannten „Christlichen Welt,“ in deren Redaktion ich fast zwei Jahre lang als Hilfsarbeiter beschäftigt war, für alle Notfälle ausgestellt hatte, laut dessen ich so und so lange bei ihm in der Redaktion als Schreiber und Expedient gearbeitet hätte. Das wirkte. Mein Schneiderlein bekam Mitleid mit mir. Ich habe jenes Zeugnis nur noch einmal zu gebrauchen nötig gehabt. Auch in der Fabrik glaubte man meiner bloßen Erzählung und schob allerhand Kenntnisse, die man trotz aller Gegenbemühungen meinerseits doch bei mir entdeckte, auf die nächtlichen Studien -- wie ich das ja auch gewünscht hatte. Dennoch hat es mich immer eine große sittliche Überwindung gekostet, wenn ich meinen Arbeitsgenossen schon diese Geschichte vorlügen mußte, und ich benutze diese Gelegenheit, um ihnen auch an dieser Stelle öffentlich dafür Abbitte zu leisten. Ich habe vorher lange nach einem andern Wege gesucht, aber kein besseres Mittel gefunden, um +unerkannt+ unter ihnen sein zu können. Das war aber die erste Bedingung, wenn ich mein Ziel nur annähernd erreichen wollte. Meine Bekanntschaft mit dem Schneider, der etwa vierzig Jahre alt sein mochte, wurde mir sehr wertvoll. Wir waren schnell gut Freund und bei einem Glase Bier in eifrigem Gespräch. Bald saßen auch jene andern drei, ein Maurer, ein Steinmetz und ein Ziegelstreicher, mit an unserm Tische. Der Schneider führte das Wort. Er sah ein wenig gönnerhaft, mit väterlichem Bedauern auf die arme Schreiberseele herab. Ja, wir Schneider, rief er, wir sind doch viel besser dran als ihr Schreiber. Wir wissen wenigstens, was wir gelernt haben. Ein Schneider, der einen Rock machen kann, kommt immer durch. Auch er war augenblicklich ohne Arbeit. Er hatte erst gestern bei seinem Meister aufgehört. Ungern, wie er sagte; denn er ginge nicht leicht von einem Meister fort, bei dem er sich einmal eingearbeitet hätte. Aber siehst du, Schreiber, meinte er, der Mann war ein Säufer. Und wenn das ein Meister ist, ist er verloren, und es geht mit ihm abwärts. So wars auch bei diesem, und das Elend in einer solchen Familie kann ich nicht mit ansehen. Er war ein seelensguter Mensch, aber total verworren. Er erzählte jedem ganz ernsthaft das tollste Zeug, ohne daß man ihn dazu besonders veranlaßte. Wer an Gott nicht mehr glaubt, ist verloren, war sein drittes Wort. Der alte Fritz hätte gesagt: Jesus lieb haben, wäre mehr wert denn vieles Wissen. Und der hätte Recht gehabt. Sonst aber wüßten wir nichts. Nur die Natur ist uns bekannt. Dann redete er zwischen seine Handwerkserinnerungen hinein plötzlich einmal von Darwin. Was der sagt, daß wir von den Affen abstammen, ist albern. Affe bleibt Affe. Nee, wir stammen von Affen, schrie nun wieder ein Betrunkener, ein Stammgast der Herberge, der inzwischen hereingewankt war und sich auf eine hölzerne Bank in der andern Ecke schlafen gelegt hatte. Die drei andern hörten dem allen ruhig zu, lachten sich eins und machten sich ihre eignen Gedanken. Ich fragte sie, was sie wohl dächten, ob ich zu jetziger Zeit in Chemnitz Arbeit +in einer Fabrik+ bekommen könnte. Sie hielten das für wohl möglich, der Schneider jedoch nicht, und mit Recht, wie es sich hernach zeigte. Er riet mir vielmehr, in das Zwickauer Kohlenrevier zu gehen und unter der Erde Arbeit zu suchen. Das thun viele, die keine Arbeit hier bekommen, sagte er sehr bezeichnend. Aber freilich ist es kein Zuckerlecken. Es ist der letzte Ausweg, aber besser als Hungern. Er schlug mir vor, morgen mit einander ins Vogtland hinein zu wandern. Jedoch gegen drei Uhr nachmittags ging er plötzlich weg und ward nicht mehr gesehen. Ich vermißte ihn nicht mehr zu sehr. Ich hatte nun schon neue Freunde, zu denen ich mich hielt. Vor allem den Maurer und den Steinmetz, zwei kluge, stille und anständige Menschen, ohne jede Spur von der Roheit, die man so gern für den Arbeitertypus hält. Durch sie vor allem wurde ich auch mit den andern schnell bekannt und rasch in der ganzen Herberge heimisch. Ich lernte bald drei bestimmte Klassen von Herbergsbesuchern unterscheiden. Die erste, wohl zahlreichste sind die jungen, siebzehn-, achtzehnjährigen Gesellen, die eben ausgelernt haben und sich gewöhnlich auf ihrer ersten Wanderschaft befinden. Sie sind mit Kleidung gut ausgestattet, meist auch mit Geld hinreichend versehen, kommen erst am Spätnachmittag in kleinen Trupps an, halten sich still und schüchtern von den übrigen zurück und bringen mit wenig Ausnahmen immer nur einen Abend und eine Nacht auf der Herberge zu. Die zweite Kategorie setzt sich aus den eigentlichen „Kunden,“ den Bummlern von Profession zusammen. Sie sind im Durchschnitt nicht unter dreißig und oft über fünfzig Jahre alt, Säufer und vielfach Stammgäste einer oder mehrerer Chemnitzer Herbergen. Sie haben ganz bestimmte Reviere, die sie „abkloppen“ und dabei besonders die immer wieder freigebigen Geistlichen und Lehrer auf dem Lande mitnehmen, über deren Gutmütigkeit sie sich dann in der Herberge lustig machen. Mitunter arbeiten sie auch einmal halbe und ganze Tage: laden Steine ab, spülen Flaschen, tragen Kohlen ein u. s. f. Ich arbeite höchstens zwei Tage in der Woche, sagte einmal einer in einer andern, der verrufenen Maurerherberge, das ist genug und langt zum Leben. Die andern Tage lasse ich andre arbeiten. Ein Teil von ihnen stand bei dem Vorsteher der Herberge, dem „Vater,“ sichtlich gut. Zwischen diese beiden ausgeprägten Klassen schiebt sich die dritte. Sie rekrutiert sich meist aus zwanzig- bis dreißigjährigen, kraftvollen Gestalten, die schon weit in der Welt herumgekommen sind, vielfach etwas Ordentliches gelernt haben und augenblicklich freiwillig oder unfreiwillig arbeitslos sind. Dehnt sich diese Arbeitslosigkeit lange aus, so stehen sie in der größten Gefahr, zu gewohnheitsmäßigen Bummlern herabzusinken, und sind dann der Gesellschaft meist für immer verloren. Ein besonders hervortretender Charakterzug an ihnen, wenigstens an denen, die mir begegneten, ist eine unerschütterliche Ruhe und Sicherheit und große Erfahrung. Sonst sind am Orte in Arbeit stehende junge Leute, namentlich die häufig blau machen und ihre Arbeitsstätten oft wechseln, auf Stunden Gäste der Herberge, ohne sich jedoch mit den Wandernden besonders abzugeben. Sie hielten sich denn auch meist im vordern, reservierten, bessern Zimmer auf und wurden vom Herbergsvater gern gesehen. Über acht Tage lang habe ich mich in dieser Zentralherberge herumgetrieben, meist auch die Nächte hier zugebracht, für mich fürchterliche Nächte in dem gemeinsamen Schlafraume mit schmutzigen, stinkenden Betten, Stickluft und vielem Ungeziefer. Auch in der Herberge zur Heimat übernachtete ich einmal; aber ich schlief auch nicht besser als dort. Doch ist seitdem ein andrer Hausvater eingezogen. In der Zentralherberge pflegte uns ein junger Mensch abteilungsweise zu Bette zu bringen, hager, bleich, bartlos, in schäbiger modischer Kleidung, mit ungekämmtem Haar und einem Klemmer auf der Nase. Er redete nicht mit den Herbergsgästen, gab eine Art Hausknecht ab, putzte das Eßgeschirr und hing morgens die Betten zum Ausdünsten an die Luft. Man sagte, daß es ein früherer Handlungskommis wäre. Er machte einen unsäglich traurigen Eindruck; leider war er auch mir unzugänglich. Deutliche sozialdemokratische Regungen habe ich unter dieser Wanderbevölkerung, wie auch erklärlich, bis auf einen Vorfall nicht wahrgenommen. Das war, als einer ein aus der Chemnitzer sozialdemokratischen „Presse“ früher einmal von ihm ausgeschriebenes Gedicht über die Maurer zum Gaudium aller und unter Neckereien des Maurers vorlas. Drei bis vier Mann schrieben es sich hernach ab. Aber mein Herbergsaufenthalt war doch nur Mittel zum Zweck. Einen Teil jedes Tages benutzte ich darum, um, vielfach in Gesellschaft eines Westfalen, Arbeit in einer Fabrik zu suchen. Wir bekamen sie nirgends. Überall fanden eher Entlassungen als Neueinstellungen von Arbeitern statt. Die MacKinley-Bill warf schon damals ihre Schatten voraus. Außerhalb der Fabrik war auch für den gänzlich Fremden eher Arbeit zu finden. So konnte ich sofort bei einem Brunnenmeister antreten. Aber das war nicht mein Wille. Ich mußte, um meine Absicht auszuführen, in eine größere Fabrik. So blieb nichts übrig, als mich doch einem Fabrikanten zu entdecken. Gleich die ersten, die ich anging, die Direktoren einer großen Maschinenfabrik, waren auf das Uneigennützigste bereit, meinen Wunsch zu erfüllen. Ich wurde als gewöhnlicher Handarbeiter eingestellt. Außer den beiden Herren, die mir strengste Verschwiegenheit zusicherten und ihr Versprechen treulich gehalten haben, wußte niemand sonst in der Fabrik, wer ich war. Auch sie behandelten mich, meiner Bitte gemäß, wie jeden andern Arbeiter. Es ist hier der Ort, meine ehemaligen Arbeitsgenossen über die ihnen vielleicht auftauchende Besorgnis zu beruhigen, daß ich den Herren meine täglichen Beobachtungen in der Fabrik etwa mitgeteilt haben und ihr Zuträger gewesen sein könnte. Es war jedoch gleich bei meinem Eintritt in die Fabrik zwischen uns als selbstverständlich vereinbart worden, daß dies nicht geschehen dürfte. Zum Beweis, wie gänzlich unmöglich dies überhaupt war, führe ich an, daß ich nach meiner Einstellung nur noch einmal mit den Herren längere Zeit gesprochen habe. Das war, als ich mich von ihnen verabschiedete. Auch da haben wir uns nur über Arbeiterverhältnisse im allgemeinen unterhalten. Ich wurde in der Abteilung für Werkzeugmaschinenbau beschäftigt und war einer Kolonne von fünf Handarbeitern zugeteilt, die überall da zugreifen mußten, wo Not am Manne war. Dadurch sah ich mich, was äußerst wertvoll für mich wurde, nicht an einen bestimmten Platz gefesselt, sondern hatte volle Bewegungsfreiheit und stets Gelegenheit, mich fast jedem der Hundertzwanzig mehr oder weniger zu nähern. Es war schwere, mir ungewohnte Arbeit, die wir zu verrichten hatten. Da mußten eben aus der Gießerei gekommene Eisenteile der verschiedensten Form und Größe und oft viele Zentner schwer abgeladen, gewogen und zu den einzelnen Arbeitern sowie wieder zwischen diesen hin und her transportiert werden, je nachdem sie gerade zu bearbeiten waren. Dann hieß es ganze schwere Maschinen mittelst Krahnes und Walzen zum und vom Probiersaale schaffen, Maschinen aus einander nehmen helfen, ihre einzelnen beim Probieren ölig und schmierig gewordenen Teile wieder reinigen; dann wieder Kohlen holen, Eisenspäne wegfahren, diese und jene Bestellung machen. Mitunter wurde man auch aushilfsweise in der Schlosserei verwendet und hatte z. B. in starke Eisenteile Löcher von verschiedener Tiefe zu bohren. Wenn ich so in der ersten Zeit täglich fast elf Stunden mit der Handbohrmaschine, oft in der ungemütlichsten Haltung, liegend oder gebückt oder auf einer Leiter stehend gebohrt hatte, vermochte ich manchmal des Abends vor Schmerzen in den Armen kaum einzuschlafen. Wir waren mit einem Worte die Diener für alle, auf jeden Wink, jedes Pst gewärtig. Selbst kleine Schlosserlehrlinge beehrten den Handarbeiter, freilich meist unter Protest der Ältern, mit Aufträgen. Häufig ging es von einem schweren Dienst zum andern; dann kostete es mich alle Kraft, hier auszuhalten. Heute bin ich froh, es durchgesetzt zu haben. Ich habe damit bewiesen, daß mein ganzes Unternehmen keine bloße Spielerei und Abenteuerei, sondern bitterer Ernst für mich war. Aber es kamen auch bessere Zeiten: Stunden, halbe und ganze Tage, wo es nicht viel oder nur leichte Arbeit gab. Solche Zeit wurde von mir stets doppelt fleißig zum Verkehr mit meinen Arbeitsgenossen ausgenutzt. Dann ging ich von dem einen zum andern, und während dessen Maschine rasselte, lenkte ich unser Gespräch von dem zu jenem Gegenstande, worüber ich gern sein Urteil haben wollte. Oder ich hörte einfach zu, wo sich eine Gruppe gebildet hatte und sich eifrig über allerhand Fragen unterhielt, sich neckte oder stritt. Wenn ich einem oft eine Stunde lang etwa eine eiserne Welle oder einen Hebel halten oder sonstwie zur Hand sein mußte, so war das für mich stets erwünschte Gelegenheit, seine Gesinnung, seine Ansichten zu hören. Ja fast jede gemeinsame Arbeit, jede Handreichung bot so günstigen Anlaß zu interessanten Studien. Ich machte aus meiner religiösen Überzeugung kein Hehl, und das rief den Widerspruch hervor. Ich ließ erkennen, daß ich über manches nachgelesen und nachgedacht hatte, und das wurde für viele die Ursache, die verschiedensten und mitunter wunderlichsten Fragen an mich zu richten. Bald hieß ich der „Doktor,“ der „Professor.“ Einer meinte, an mir wäre ein Pastor verloren, ein andrer hielt mich für einen heruntergekommenen Studenten, ein dritter machte mir Aussicht, einmal Reichstagsabgeordneter zu werden. Daß irgendwem eine richtige Ahnung von meiner Person und meinen Plänen aufgegangen ist, glaube ich trotz alledem nicht, habe jedenfalls keinen Anhalt dafür, es anzunehmen. Der Gedanke, daß ein Gebildeter selbst nur auf Zeit auf allen Komfort, seinen Beruf und seine immerhin hohe Lebensstellung freiwillig und um ihretwillen verzichten könnte, kam den Leuten nicht, war für sie wohl einfach undenkbar. Auch die kurze Frühstückspause, während deren man in Gruppen zusammensaß, ließ mich viele Einblicke thun. Die Stunde des Mittagsessens, das ich für geringen Preis in Arbeiterkneipen einnahm, führte mich täglich in nahen Verkehr mit den jungen unverheirateten Leuten meiner und andrer Fabriken. Auch die Abende verbrachte ich selten allein und daheim, häufig auf den Straßen unsers Arbeiterviertels, die um diese Zeit bei schönem Wetter von den Anwohnenden, gleichviel ob jung oder alt, zahlreich belebt zu sein pflegen, oder in den Sitzungen des sozialdemokratischen Wahlvereins, in denen ich nie fehlte, oder -- und dies je länger desto mehr -- in den Familien der Arbeiter, denen ich allmählich näher gekommen war. Die Sonntage trafen mich entweder auf einem Ausfluge mit mehrern jungen Schlossern oder als Teilnehmer der dort sehr beliebten sozialdemokratischen Arbeiter- und Kinderfeste; am Sonntagsabende war ich ständiger Besucher der öffentlichen Tanzsäle, die ich fast nie vor Schluß, also vor Mitternacht verließ. Nur die Nächte gehörten mir. Ich hatte gleich nach meinen Herbergserlebnissen den Plan, mich als Schlafbursche in einer Arbeiterfamilie einzumieten, aufgegeben. Ich sah, daß es einfach über meine Kräfte gehen würde, nach so ungewohnter Tagesarbeit auch noch mehr oder weniger schlaflose Nächte durchzumachen. Auch brauchte ich die späten Abendstunden sehr notwendig, um unbeobachtet die Eindrücke des Tages klären und meine Notizen machen zu können. So begnügte ich mich damit, mir mitten in einer Arbeitervorstadt bei einer schlichten Familie ein kleines Stübchen zu mieten, das vor mir erst ein Schlosser, dann ein Kaufmann bewohnt hatte, von derselben ganz einfachen Art, wie sie junge Arbeiter auch sonst mitunter bewohnen. Um aber den Schlafstellenjammer doch wenigstens etwas kennen zu lernen, verließ ich Mitte August die Fabrik und verwendete -- als Arbeitsloser -- die nächste Zeit meist auf die Besichtigung von freistehenden Schlafstellen. Der tägliche Wohnungsanzeiger des „Chemnitzer Tageblattes“ wies mir die Wege. Eine Düte mit Zuckerzeug hatte ich auch stets in der Tasche, und wo immer ich Kinder traf, teilte ich daraus mit. Das öffnete mir Herz und Mund der Mütter und gestattete, daß ich mitunter ziemlich lange in einzelnen Familien zubrachte. So habe ich im ganzen doch etwa sechzig Schlafstellen wenigstens gründlich +gesehen+. Ein Sozialdemokrat hat in einer öffentlichen Versammlung zu Göttingen diese Methode, „das Schlafstellenwesen durch Mietsvorspiegelungen und Erregung irriger Hoffnungen zu rekognoszieren,“ als „unwürdig“ hingestellt. Ich erkläre hiermit, daß es jedem frei steht, zur Vermietung angebotene Wohnungen sich anzusehen, und daß ich keine Familie bei meinem Weggang darüber im Unklaren gelassen habe, daß ich die betreffende Schlafstelle +nicht+ annähme. Schließlich packte ich abermals mein Bündel und zog, wieder Handwerksbursche, von Chemnitz aus ins Vogtland hinein. Aber ich kam nicht mehr weit. Ich fühlte, daß meine Elastizität zu Ende war. So brach ich, wohl allzu plötzlich, ab und kehrte Ende August nach Hause zurück. Soviel zur Orientierung über meine äußern Erlebnisse, über den Weg, den ich bei diesen Untersuchungen ging. Nunmehr diese selbst und ihre Resultate. Zweites Kapitel Die materielle Lage meiner Arbeitsgenossen Wir waren etwa fünfhundert Mann in unsrer Fabrik beschäftigt, denen allen ich selbstverständlich nicht gleich nahe gekommen bin. In täglicher intimer Berührung war ich eigentlich nur mit 120 bis 150 Mann, von denen die meisten mit mir +einer+ Abteilung, dem Werkzeugmaschinenbau, angehörten. An diesen habe ich vornehmlich die Erfahrungen gemacht, die ich mitteile. Unter ihnen wiederum war die überwiegende Mehrzahl Sachsen, soviel ich habe herausbekommen können, 70 bis 75 Prozent. Ich bitte, diese Thatsache für alle folgenden Erörterungen im Auge zu behalten und meine Erfahrungen nicht, wider meinen Willen, unbesehen auch auf andere Stämme zu übertragen. Der Rest von 25 Prozent verteilte sich etwa auf 10 Prozent Norddeutsche, 5 Prozent Süddeutsche, 10 Prozent Österreicher und einige Schweizer. Die hohe Ziffer der Österreicher erklärt sich leicht aus der Nähe der sächsisch-böhmischen Grenze. Übrigens waren sie zumeist Deutschböhmen und bereits in Sachsen naturalisiert. Unter den Sachsen überwog wieder das eingeborene Element, geborene Chemnitzer, oder aus der nähern und weitern Umgebung der Stadt, oder wenigstens aus dem Erzgebirge und Vogtlande.[*] Aus den übrigen drei sächsischen Kreisen war die Zahl der Eingewanderten verhältnismäßig gering, kaum 15 bis 20 Prozent. Dagegen war das einheimische Element in der Chemnitzer Wirk- und Webindustrie viel stärker als bei uns, im Gegensatz wieder zum Baugewerbe, wo die Österreicher, speziell die tschechischen Arbeiter, ein überraschend großes Kontingent stellten. Über das +Einkommen+ meiner Arbeitsgenossen nun kann ich nicht ganz sichre Zahlenangaben machen. Denn ich habe sie selbstverständlich nur von den Leuten selbst und kann darum für ihre genaue Richtigkeit nicht bürgen. Es war ungemein schwer, hierüber die volle Wahrheit zu erfahren. Jeder suchte seinen Verdienst vor dem andern zu verheimlichen, der eine, der mehr verdiente, um durch seinen Lohn nicht in den Geruch eines Schleichers und Günstlings zu kommen oder die Mitarbeiter nicht zu einer gleichhohen Lohnforderung zu veranlassen; der andre, der weniger verdiente, aus Scham und Furcht vor dem Spott und der Hänselei unvernünftiger Mitarbeiter. Die damaligen Löhne standen offenbar unter dem Drucke der verfehlten Maifeier und der nahenden MacKinley-Bill. Dann einmal wurden neu Eintretende mit niedrigerm Stundenlohn als der vorhergehende eingestellt, und dann wurde jede Bitte um Lohnzuschlag zurückgewiesen. Wer mit seinem bisherigen Verdienst nicht zufrieden war, wurde entlassen. Ich selbst, um damit zu beginnen, bekam als Neuling und Handarbeiter 20 Pfennige Lohn für die Stunde, den gewöhnlichen Anfangslohn, der aber auf Bitten, namentlich Verheirateter bald um 1 bis 2 Pfennige erhöht zu werden pflegte. Das machte bei mir täglich mit Ausnahme des Montags und Sonnabends, wo eine Stunde weniger gearbeitet wurde, 2,13 Mark, an den beiden genannten Tagen 1,93 Mark, in der ganzen Woche genau 12,78 Mark. Davon gingen stets fast zwei Mark ab: an Krankenkassenbeiträgen, Strafgeldern für Verspätungen und Arbeitsversäumnisse, sodaß ich selten mehr als 11 Mark Verdienst auf die Woche herausbekam. Die übrigen Handarbeiter verdienten 12 bis 15 Mark, durchschnittlich wohl 14 Mark die Woche, Schlosser 15 bis 21, ihre Monteure 22 bis 28, Bohrer, die um Lohn arbeiteten, 15 bis 19 Mark. Dagegen kamen die Akkordarbeiter bedeutend höher: Hobler im Durchschnitt bis auf 25, Dreher von 20 bis 30, Stoßer und Bohrer von 20 bis 30, 35, einzelne gar bis 40 Mark in der Woche. Der Maschinist an der großen Dampfmaschine verdiente nach seiner eignen Angabe bei vierzehnstündiger täglicher und regelmäßiger Sonntagsvormittagsarbeit 24 Mark die Woche. Bei den Monteuren wird ebenso wie bei einigen Meistern das Einkommen bedeutend durch sogenannte Prozente für von ihnen fertig gestellte Maschinen erhöht. Das Jahreseinkommen der letztern sollte nach Angaben der Leute im Durchschnitt 1800 bis 2000 Mark betragen. Unter den starken Verdienern sind viele junge Leute mit einem angeblichen Mindestverdienst von 100 Mark im Monat. Ein Teil dieser Angaben kann eher noch zu niedrig als zu hoch gegriffen sein. In einigen andern Maschinenfabriken sollte der Lohn noch höher sein, aber auch die Arbeit länger und anstrengender. Doch vermochte ich selbstverständlich die Richtigkeit dieser Angaben nicht zu prüfen. Aus alledem geht hervor, daß von Not unter dieser Arbeiterklasse nicht die Rede sein kann. Jedenfalls ist sie eine der verhältnismäßig bestgestellten, konsumtionskräftigsten unter der gesamten sächsischen Arbeiterschaft, auch wenn man sich immer vor Augen hält, daß die angegebenen höchsten Zahlen nur für einen kleinen Prozentsatz der Arbeitsgenossen gelten, daß der Durchschnittsverdienst 80 Mark im Monat beträgt, und ein Stundenlohn von 32 Pfennigen schon als sehr günstig angesehen wird. Die vielen, die, wie namentlich Handarbeiter, bedeutend weniger als diese angegebene Summe verdienten, dazu eine zahlreiche Familie, Sorgen und Schulden hatten, die aber fleißig und strebsam waren und auf sich und ihre Angehörigen hielten, suchten durch +Nebenverdienst+ ihr Einkommen einigermaßen zu erhöhen. Sie suchten sich auf alle Weise in ihren knappen Feierabendstunden sowie am Sonntage außerhalb der Fabrik ihre bald besser bald schlechter gelohnte, bald leichte und angenehme, bald mühsame Nebenbeschäftigung. Hier einige Beispiele. Ein Packer, der gern und mit herzlichem Behagen von seinem Heim, seiner Frau und seinen erwachsenen und halberwachsenen Kindern zu erzählen pflegte, ein schlichter, treuherziger Charakter, schnitzte den Sonntagmorgen über Kleiderbügel und machte am Nachmittag und in der Nacht auf einem nicht allzufernen Dorfe den Tanzmeister; ein ehemaliger Schneider trieb in seiner Freizeit sein altes Handwerk, um sich Taschengeld zu verdienen, da er, wie er uns sagte, sein ganzes Verdienst, allvierzehntägig 27 Mark bis auf eine Mark seiner Frau und seinen zwei Kindern heimbrachte; ein Zimmermann tischlerte nebenbei; ein andrer, der einst Barbierjunge gewesen, aber aus der Lehre entlaufen war, ging des Abends von Haus zu Haus und barbierte Bekannte und Genossen aus der Fabrik; mehrere machten des Sonntags Tanzmusik, einer, ein Dreher, in einer „fidelen“ Kneipe Ulkmusik; wieder einer verhandelte Fässer; ein Bohrer war Sonntags nachmittags Hilfskutscher eines in den vermehrten Sonntagsbetrieb eingestellten Wagens der Chemnitzer Pferdeeisenbahn; ein Schlosser, der seinen Sohn Kaufmann werden ließ und etwa vierzig Jahre alt sein mochte, ein gutmütiger Kerl, aber ein großer, wenn auch nicht allzu unanständiger Verehrer geistiger Getränke, kellnerte allabendlich und allsonntäglich in einer unsrer vielbesuchten bessern Arbeiterkneipen -- wohl ebenso aus dem Streben, etwas zu verdienen, als ab und zu einen billigen Trunk zu thun; endlich fand ich nicht einen nur, der unter den Fabrikgenossen einen schwunghaften Handel mit billigen Zigarren im Preise von drei, vier, auch fünf Pfennigen trieb. Auch sonst suchte man sich auf allerhand Weise zu verdienen: durch Kohleneintragen bei Meistern und Direktoren, durch Grasmähen in deren Gärten und ähnliche Dinge. Einzelnen wenigen brachten auch Überstunden und Sonntagsarbeit in der Fabrik etwas Nebenverdienst. Es waren das freilich meist ganz bestimmte, vom Meister ausgesuchte Leute, denen dieser „Vorteil“ zufiel: um den Preis ihres gewöhnlichen Stundenlohnes übernahmen sie die Werkstattreinigung an jedem Sonnabend nach Feierabend, ferner die Reinigung der Dampfmaschinen und sonst sich nötig machende Reparaturen am Sonntag Vormittag. Einen weitern Zuschuß brachte die Arbeit der Frauen und manchmal, doch nicht zu häufig, der größern Kinder. Es ist mir unmöglich, hierüber Genaueres zu sagen, ich vermag nur anzugeben, daß diese Frauenarbeit die allerverschiedenste war: Schneidern, Nähen für ein Geschäft, Waschen und Scheuern, Hausieren oder Handeln mit Grünzeug und andern Waren; wohl nicht häufig ging man in Fabriken, viel mehr wurden daheim auf der Strickmaschine Strümpfe gestrickt. Auch wurde das Halten von Schlafleuten und Mittagskostgängern, wobei ebenfalls der Frau die +ganze+ Arbeit obliegt, als Quelle zur Erhöhung des Fabriklohnes angesehen -- kaum mit vollem Rechte. Denn so viel ich beobachten konnte, kommt in Anbetracht der dadurch den Frauen auferlegten schweren Mühe und der Opfer an häuslicher Bequemlichkeit, von andern tiefern, aber mehr ausnahmsweisen Schäden hier einmal ganz abgesehen, ein pekuniärer Vorteil selten heraus. Das alles aber gilt immer nur von den geringer gestellten Arbeitern. Ich glaube bemerkt zu haben, daß wer nur immer dazu imstande war, auf solche Nebenverdienste zu verzichten, es auch mit einigen Ausnahmen that. Aber mein Bild würde unvollständig bleiben, wenn ich ihm nicht einen goldnen Rahmen gäbe und nicht noch erzählte, daß wir doch auch fünf Hausbesitzer unter den Arbeitern unsrer Fabrik hatten. Wenigstens sind mir fünf bekannt geworden: ein enorm fleißiger, auf Akkord arbeitender Dreher, der sich das Vesperbrot am Munde absparte, und den man scherzweise den Kommerzienrat nannte, hatte es sich durch seiner Hände Arbeit und seinen, wie einige sagten, Sparsinn, wie andre meinten, Geiz erworben; dasselbe galt von einem andern Arbeiter; ebenfalls ein junger Dreher war -- wohl durch Erbschaft -- Eigentümer des flottgehenden Gasthofes eines engbenachbarten Dorfes; und ein Schmied und ein Schmirgler waren ebenso im Besitz eines Wohnhauses. Dann war einer in meiner Kolonne, ein guter, bei allen beliebter Kerl, der aus einer Bauernfamilie der Umgegend stammte und, wie man sagte, aber wohl übertrieb, im Besitze von soviel tausend Mark sei, daß er es nicht nötig gehabt hätte, sich bei uns herumzuplagen. Endlich mußte ich einmal als gelernter „Schreiber“ einem andern schon älteren Manne, dessen Vater gestorben war und den Kindern je mehrere hundert Mark hinterlassen hatte, einen Kontrakt aufsetzen, auf Grund dessen er seinen Anteil einem Bruder als Hypothek auf dessen Haus überließ -- wie er mir sagte, da er das Geld ja doch nicht brauchte. Doch habe ich es kaum nötig, noch ausdrücklich zu erwähnen, daß diese glücklichen Hausbesitzer und Kapitalisten nicht die Regel unter uns bildeten. Nach dem allen wiederhole ich meine oben gemachte Aussage, daß von Not in unsrer Arbeitergruppe nicht die Rede sein konnte. Freilich auch nicht von Überfluß. +Denn der oben angegebene Betrag des jährlichen Durchschnittseinkommens von 800 bis 900 Mark gestattet bei den heutigen hohen Wohnungs- und Lebensmittelpreisen eben gerade, daß ein Arbeiter mit einer nicht allzu zahlreichen Familie ohne schwere Nahrungssorgen leben kann.+ Die Sache liegt aber sofort bedeutend ungünstiger, wo wie bei uns Handarbeitern das Jahreseinkommen nur zwischen 600 bis 700 Mark betrug, oder wo Krankheiten, Todes- und andre Unglücksfälle, längere Reserve- und Landwehrübungen des Mannes oder endlich ein häufig mit einer Arbeitspause verbundener Wechsel der Arbeit einen beträchtlichen Teil auch des höhern Einkommens verschlangen. Bei denen, die 1200 bis 1500 Mark Einkommen hatten, war allerdings eine bessere höhere Lebenshaltung und einiger Luxus möglich und zu meiner Freude vielfach auch vorhanden. Im allgemeinen muß das Urteil aber dahin zusammengefaßt werden, daß auch bei dem angegebenen Durchschnittsverdienste die Lebensführung für eine Arbeiterfamilie nur in den allerbescheidensten, sagen wir in beschränkten Verhältnissen möglich war. Das werden schon die nicht erschöpfenden Beobachtungen zeigen, die ich über +Wohnung+, +Kleidung+, +Nahrung+ meiner Arbeitsgenossen gemacht habe, und die ich trotz aller Lückenhaftigkeit doch der folgenden Mitteilung für wert halte. Meine Arbeitsgenossen wohnten zu einem beträchtlichen Teile nicht in dem Vorstadtdorf, in dem unsre Fabrik lag und wo auch ich mich einquartiert hatte. Viele wohnten in der Stadt, viele in den umliegenden nahen und fernern Dörfern. Die Fälle waren nicht vereinzelt, in denen sie stundenweit bis nach Hause hatten. Ein Handarbeiter unsrer Kolonne, der älteste von uns, ein hoher Fünfziger, hatte so weit zu gehen, daß er es vorzog, die Woche über bei seinem Schwiegersohn in unsrer Vorstadt Quartier zu nehmen und nur Sonnabends seine Frau und sein Heim zu besuchen, das ein andrer von uns, der ihn einmal besuchte, wegen seiner Nettigkeit, Sauberkeit und „Heimlichkeit“ nicht genug zu rühmen vermochte. Über die Wohnungsverhältnisse aller dieser vielen Auswärtigen vermag ich fast keine Einzelheiten zu bringen und nur zu sagen, daß die in der Stadt lebenden bedeutend schlechter, die von den weiter entfernt und oft in reizender Natur gelegenen Dörfern hereinkommenden, im Durchschnitt unstreitig besser wohnten, als wir in unserm Viertel. Unser Vorstadtdorf schloß sich so dicht an Chemnitz an, daß man beider Grenzen nicht mehr herausfinden konnte. Beide gingen ineinander über, und auf der andern Seite des Dorfes bildete eine ganze stundenlange Kette von Dörfern, wie das in dem dicht bevölkerten Sachsen nicht selten vorkommt, seine Fortsetzung. Dieser Zusammenhang bestimmte Aussehen und Anlage unsers Ortes. Er war halb Stadt halb Dorf: zwischen den alten charakteristischen hochgiebeligen, kleinfenstrigen, niedrigen Landhäusern hoben sich die zum Sterben nüchternen städtischen zwei- bis dreistöckigen Mietskasernen empor. Nur ein kleines Viertel gab es noch, wo der alte Charakter des ehemaligen Dorfes in den niedrigen primitiven, planlos und willkürlich nebeneinander gestellten Tagelöhnerhäuschen und den schmalen, zickzackigen Gängen und Wegen dazwischen ganz rein erhalten war. Aber dicht daneben wuchs mit Riesenschnelle wieder ein rein städtischer Teil empor, zwei breite, mächtige parallel laufende Straßen, wo in gerader Linie Kaserne an Kaserne stand, deren kalte Front freilich kleine grüne Vorgärtchen freundlich belebten und schmückten. So gab auch die äußere Gestalt dieses Vorstadtdorfes ein Abbild der wirtschaftlichen Wandlung, die seine Bewohner eben durchmachten: die Entwicklung aus Land- und Ackerbauern in großindustrielle Fabrikarbeiter. Meine hier ansässigen Arbeitsgenossen wohnten je nach den Wohnungspreisen, den Ansprüchen, den Neigungen, der Gewohnheit, oft auch nach bloßem Zufall teils in dem neuen Viertel, teils in den alten Häusern, deren Inneres gewöhnlich nach der Weise der neuen Häuser umgebaut und in mehrere Familienwohnungen, „Parten“ genannt, geteilt war. Ich weiß nicht, welcher Art Wohnungen ich den Vorzug geben soll. Die in den alten ländlichen Häusern hatten niedrige Stuben, kleine Fenster, enge Fluren und waren mitunter äußerlich verwahrlost; aber dafür lag fast jedes derartige Wohnhaus mitten in einem Gärtchen, mitten im Grünen. Jene andre Sorte hatte größere und höhere Räume, mehr Luft und mehr Licht, aber eben auch den ganzen öden Kasernencharakter, und die Häuser waren vielfach auch recht flüchtig und mangelhaft gebaut. Die geringsten und unfreundlichsten Wohnungen aber fanden sich jedenfalls in den häufigen Hinterhäusern dieser neuen Straßen, die vielfach die Schattenseiten der beiden eben genannten Gattungen in sich vereinigten und an Armseligkeit der innern Anlage und Ausstattung sowie ihrer Umgebung oft nichts zu wünschen übrig ließen. Es ist schwer, das, was die Leute an Räumen inne zu haben pflegten, noch +Familien+wohnungen zu nennen. Oder kann man wirklich eine zweifenstrige Stube und ein einfenstriges unheizbares Gelaß daneben noch so bezeichnen? Eben dies aber und nicht mehr bildete das Heim eines -- wenn ich recht sah -- sehr großen Teiles unsrer Arbeiterfamilien. Darum sprach man da unten auch immer nur von Stuben. „Ich will mir eine neue Stube mieten“; „Was bezahlst du für deine Stube?“ waren ganz übliche Worte. Bedeutend besser, geräumiger, anheimelnder erschienen schon die Wohnungen, die aus einer Stube und zwei solcher Gelasse, im Volke dort fälschlich „Alkoven“ genannt, oder gar aus zwei heizbaren Stuben und einem Alkoven bestanden. Doch auch ihnen fehlte sehr oft, wie den Stuben immer, die Küche, dagegen gehörte zu allen genannten Gattungen regelmäßig noch eine sogenannte Bodenkammer, d. h. ein enger Bretterverschlag unter dem Dache, deren jeder mit einer kleinen Luke versehen war. Die meisten, namentlich modernen, nach städtischer Art gebauten Häuser hatten von jeder der geschilderten Wohnungsparten eine Anzahl, aber in erdrückender Gleichmäßigkeit auch nichts als solche; größere Wohnungen fanden sich in solchen eigentlichen Arbeitermiethäusern gar nicht. Für die wenigen Leute am Orte, die danach verlangten, gab es besonders gebaute Häuser dazwischen und außerdem noch einige wenige Villen oder dem ähnliche Gartengebäude. Die Preise für diese Wohnungen waren hoch im Vergleich zu ihrem Werte wie zu dem Einkommen der meisten Arbeiter, doch wohl niedriger als diejenigen für gleiche in der Stadt. Ich vermag hier keine Zahlen zu geben; die wenigen, die ich mir damals notiert habe, sind ungenügend, ich setze sie darum gleich gar nicht erst her. Aber an Berliner Preise reichten sie freilich nicht hinan. Auch darüber, welche nach der Höhe des Einkommens geordnete Arbeitergruppen je diese einzelnen Sorten von Wohnungen bewohnten, läßt sich schwer etwas Allgemeingiltiges festsetzen. Man kann wohl sagen, daß jene kleinsten Räume natürlich immer die schwachen Verdiener oder Väter mit zahlreicher und darum kostspieliger Familie oder junge Eheleute mit noch keinem oder einem einzigen kleinen Kinde bewohnten, die größern immer die stärkern Verdiener. Aber es war nicht selten, daß auch Leute mit weniger Lohn solche größeren Wohnungen innehatten, die aber dann immer eine Anzahl Schlafleute hielten, die ihnen die hohe Miete mit erbringen mußten. Es war, um dies gleich an dieser Stelle zu sagen, in der Fabrik immer ein Ach und Weh, wenn der „Zinstermin“ kam; an dem Lohntage, der diesem Termine zuvorging, pflegte besonders wenig für die übrigen Bedürfnisse übrig zu bleiben. Wie es nun innen in den Wohnungen aussah? Gut, mittelmäßig, schlecht -- das kam auf viele verschiedene Ursachen an. Ein Sofa, ein häufig runder Tisch, eine Kommode, ein größerer Spiegel, mehrere Rohr- und noch mehr Holzstühle sowie einige Bilder pflegten wohl fast immer vorhanden zu sein; nicht selten auch eine Nähmaschine, eine Hängelampe und ein hübscher, äußerlich eleganter, wenn auch sehr oberflächlich fabrizierter Kleiderschrank oder Vertikow. In der Ecke oder an der Seite, wo der zum Kochen benutzte Ofen stand, pflegte das wenige Küchengeschirr zu hängen; Töpfe, das „Geschühte“ und sonstiges Gerümpel, vielleicht auch noch irgend ein Schrank befanden sich dann in dem anstoßenden Zimmerchen, das im übrigen fast vollständig mit Bettgestellen besetzt war. Einem jungverheirateten Paare fehlte häufig eins oder mehrere der oben genannten Stücke, etwa das Sofa, der Spiegel, die Uhr: man war da eben noch nicht in der Lage gewesen, sie sich schaffen zu können, denn da unten heiratet man ja ohne Mitgift. Ob aber in einem solchen Haushalt Ordnung, Reinlichkeit, verständnisvolles Arrangement und bei aller Enge und größter Einfachheit ein freundlich einladender Geist herrschte oder nicht, das bestimmten die Zahl der Kinder, ihr Alter, das Verdienst und die Haltung des Mannes, die Beschäftigung und vor allem natürlich der Charakter, die Anlage, die Vergangenheit der Frau. Ich war bei Arbeitskollegen im Hause, die kaum ein paar Pfennige mehr für die Arbeitsstunde hatten als ich und genug Kinder und wenig gute Möbel, und bei denen man doch nur gerne blieb; ich war bei Stoßern und Bohrern, die auf Akkord arbeiteten und 40 bis 50 Mark die Woche verdienten, wo es nicht einfacher aussah als in meines Vaters Haus, und weiße Decken den Tisch, das Sofa und die Kommode, weiße Gardinen die blumenbestandenen Fenster, manches Bild die reinlichen Wände schmückten, und ich sah auch das Gegenteil bei Leuten sowohl mit großem als mit geringem Verdienste, mit vielen und wenigen Kindern, mit neuem und altem Hausgerät. Jedenfalls -- und ich betone das scharf und nachdrücklich -- war die Zahl der Familien, die bei aller Beschränktheit der Lebenshaltung und Wohnung so gut als möglich auf Adrettheit und Anstand zu halten versuchten und auch thatsächlich hielten, unendlich größer, als diejenigen, bei denen das aus irgend einem Grunde nicht der Fall war. Das Traurige an dem ganzen Wohnungswesen dieser Leute war vielmehr ein andres, schon oft beklagtes: das Mißverhältnis zwischen der Enge der Räume und der Zahl ihrer Bewohner. Solche eben geschilderte Wohnräume genügten wohl jungen, erst verheirateten Leuten mit ein oder zwei Kindern zu einem halbwegs gesunden, zufriedenen Wohnen: wo sich aber eins, zwei, drei Kinder mehr einstellten, und wo man um des bessern Auskommens willen noch gar Fremde in Kost und Logis zu nehmen gezwungen war, gab es dann Zustände, die sich leicht nachfühlen, aber schwer beschreiben lassen. Das aber war selbstverständlich die Regel. Weitaus die meisten Familien hatten eine Schar Kinder, hatten Schlafleute und Kostgänger. Tadellose Wohnungsverhältnisse gab es darum nur da, wo weder die einen noch die andern vorhanden waren: wenn kinderlose oder auch ältere Ehepaare, deren Kinder bereits erwachsen und versorgt waren, leidliches oder gar gutes Einkommen hatten, blieb man gern für sich und machte es sich freundlich, gemütlich daheim. So bei einem Stoßer, den ich mehrmals besuchte, dessen Jüngster eben aus der Schule war. Hier wars einfach reizend. Auch das waren noch günstige Verhältnisse, wo, wie in der Familie eines aus unsrer Kolonne, der in einem solchen ehemaligen zum Miethause umgewandelten Bauernhause wohnte, Vater, Mutter, eine erwachsene Tochter aus erster Ehe der Frau und drei kleine Kinder aus der jetzigen Ehe eine geräumige Eckstube, einen einfenstrigen Alkoven und eine Bodenkammer inne hatten: Da schlief das Mädchen in der letztern allein; die übrigen im Alkoven, und zwar das Kleinste in der umfangreichen Wiege, die zwei andern in einem und die Eltern auch in einem Bette. Solches allnächtliches Zusammenschlafen einmal der Eltern und dann von Geschwistern, auch schon größern, und dann auch von Bruder und Schwester in einem Bette war übrigens nach meinen Erfahrungen weitaus die Regel: nur bei zwei kinderlosen Ehepaaren fand ichs auch in diesem Punkt anders und besser; da hatten die Gatten je ein Bett für sich. Ungünstiger schon als bei der eben geschilderten Familie lagen die Dinge bei einer andern mir befreundet gewordenen, die aus den jungen Eltern, einem zweijährigen und einem halbjährigen Kinde und einem erwachsenen fremden Fabrikmädchen bestand, und die sich nur mit einem einzigen engen Zimmer zur ebnen Erde und der Dachkammer, wo jene Fremde schlief, begnügen mußte. In dieser einzigen Stube, die natürlich Wohnzimmer, Schlafzimmer, Besuchszimmer und Küche zugleich war, stand ein einziges Bett für die Eltern, ein Kinderwagen, ein Tisch, ein paar Stühle, eine Kommode, ein Kleiderschrank und Küchenzeug eng zusammen. Aber auch so wars noch verhältnismäßig gut. Es kommt noch schlimmer. Wieder ein Handarbeiter meiner Kolonne, bei dem ich am häufigsten war, der eine energische, fleißige Frau, ehemalige Köchin, zwei von ihm und ihr herzlich geliebte und sorgsam gehütete Kinder, ein Mädchen von etwa neun und einen Jungen von sechs Jahren hatte, bewohnte in einem mit Menschen vollgestopften Hintergebäude mit drei jungen Schlossergesellen aus unsrer Fabrik ebenfalls nur ein enges zweifenstriges Zimmer, einen Alkoven und eine Bodenkammer. Auch hier schliefen Eltern und Kinder je in einem Bette zusammen, und zwar so, daß diese zwei Betten fast den ganzen Raum einnahmen, die +drei+ Burschen in der etwas geräumigern Bodenkammer ebenfalls nur in +zwei+ Betten, also zwei einander fremde zusammen in einem Bette, und nur einer allein, wofür er natürlich entsprechend mehr zu bezahlen hatte. Wie verbreitet diese Sitte war, beweist die geringfügige Thatsache, daß ich, wenn ich auf meinen Wohnungssuchen meinen Wunsch zu erkennen gab, ich möchte gern „für mich,“ wie ich meinte, in einem Zimmer allein, schlafen, wohl fast immer dahin verstanden wurde, allein in +einem Bette+. Das ärgste von Wohnungsnot aber, was ich erlebte, war bei einem andern Mann aus meiner Fabrik. Das war thatsächlich nicht mehr menschenwürdig. Der Mann war ein alter, langjähriger Arbeiter und hatte eine Maschine zu bedienen. Er war nicht mehr jung, knapp über die fünfzig, ein kleiner, biedrer, guter Kerl, mit dem ich mich besonders viel und gern unterhielt. Er hatte eine kränkliche, halbgelähmte, blutflüssige Frau, deren Lebens- und Liebesgeschichte er mir wie seine eigne in der ganzen Massivheit, wie sie sich unter diesen Leuten abspielt, und mit der ganzen naiven Offenheit und kameradschaftlichen Vertraulichkeit, wie sie da unten auch zwischen ältern und jüngern schnell entsteht, doch nicht ohne poetischen Schimmer ausführlich erzählte. Ihre Kinder waren bereits erwachsen und verheiratet; sie hatten nur eine von ihnen herzlich gepflegte Enkelin noch bei sich, dagegen +fünf+ fremde Schlafleute! Dieses Mannes Wohnung nun bestand aus folgenden Gelassen: aus einer Stube, einem wirklichen Alkoven, einer einfenstrigen Kammer und einer Dachkammer. In der einfenstrigen Kammer standen zwei Betten, in deren einem ein Pferdebahnkutscher, und in deren anderm +zwei+ böhmische Maurer nächtigten. Im Alkoven, in einem Bette für sich, schlief die kränkliche Frau allein; ihr Mann seit +drei+ Jahren, seit seine Frau niemand mehr neben sich liegen haben konnte, auf dem Sofa derselben Wohnstube, die vom frühen Morgen bis nach zehn Uhr abends, das heißt für diese Leute bis tief in die Nacht und in die Schlafenszeit hinein, von sämtlichen schwatzenden, essenden, rauchenden Haushaltungsmitgliedern frequentiert wurde. Denn die beiden Maurer mußten schon früh ½5 Uhr weg und vorher noch ihren in eben dieser Stube gekochten Kaffee getrunken haben, und der Pferdebahnkutscher kam erst abends ½10 Uhr von seinem schweren Dienst zurück und wollte dann noch Abendbrot essen. Wo war da eine wirklich erquickende Nachtruhe für Mann und Frau möglich? Aber das Ärgste kommt noch. In der noch übrig bleibenden Bodenkammer standen ebenfalls zwei Betten: in dem einen schlief ein ganz junges Ehepaar, das hier zur Aftermiete wohnte, tagsüber auf Arbeit war und wohl nichts sein Eigen nannte, und in dem andern das zwölfjährige Mädchen, das Enkelkind. Man macht sich leicht ein Bild von dem, was dies Kind nächtlicherweile hören und erleben konnte, wie es überhaupt in diesem und ähnlichen Haushalten selbst bei dem besten Willen aller Bewohner zugehen mußte. Kamen nun obendrein noch Verwandte oder Bekannte zu Besuch, so war ihre Beherbergung mit weitern großen, fast unglaublichen Einschränkungen verknüpft. Jenen letztgenannten Arbeiter, bei dem so jammervolle Wohnungszustände herrschten, besuchte einmal mit zwei ihrer Kinder seine nach Thüringen verheiratete Tochter, „eine Schlange, die ihre Eltern auszunutzen sucht,“ wie der Vater in einer mürrischen Stunde einmal meinte. Da schliefen auch diese beiden Kleinen noch bei den Großeltern, und zwar in der Dachkammer, mit der Zwölfjährigen zu dritt in einem Bette, während die Tochter bei Verwandten in der Nachbarschaft untergebracht war. Und alle solche Zustände herrschten unter einer Arbeiterschaft, die vorher als eine verhältnismäßig gutgestellte bezeichnet werden mußte! Die meisten und größten dieser Übel kamen jedenfalls durch das +Schlafstellen-+ und +Kostgängerunwesen+. Das ist der Ruin der deutschen Arbeiterfamilie. Aber es ist für sie in den allermeisten Fällen eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Der geringe materielle Vorteil, der dabei herauskommt, ist ein ersehnter Zuschuß zum Wirtschaftsgeld der Arbeiterfrau. Daß die Arbeiter sich nur zum Spaße mit solchen Fremden herumplagen, braucht niemand zu glauben. Im Gegenteil machte ich häufiger die Erfahrung, daß, wer es durchsetzen kann, womöglich sich diese Leute vom Halse und aus dem Hause hält. Wenn man es aber thut, nimmt man jedenfalls immer lieber junge Männer als junge Mädchen. Es gab ganz bestimmte, von einander verschiedene Arten von Schlafstellen, bessere und schlechtere. Die traurigsten, moralisch und sanitär gefährlichsten hat glücklicherweise eine verständige und nachahmungswerte Verordnung des Chemnitzer Amtshauptmanns unmöglich gemacht. Durch diese Verordnung wurde für jeden Schläfer ein nach Kubikmetern bestimmter notwendiger Raum vorgeschrieben +und den einzelnen Familien das gleichzeitige Halten von Schlafburschen und Schlafmädchen streng untersagt+. Bei meinen Besuchen und Gängen fand ich etwa noch folgende Arten an: a) Schlafstellen unter dem Dache, in den obengeschilderten Bretterverschlägen. Hier pflegte fast jede Familie ein bis drei Betten stehen zu haben. Und keine Etage des ganzen Hauses war des Nachts oft dichter besetzt, als diese Dachräume, deren schiefe Decke Dachsparren und die nackten Ziegel bildeten. In alten Häusern mußten es, namentlich im heißen Sommer, nächtliche Marterkästen sein; in solider gebauten waren es mit die besten Schlafräume. Jedenfalls hatte diese Art von Schlafstellen den großen Vorzug, daß sie des Nachts den Fremden von der ihn beherbergenden Familie isolierte. Sie waren ungemein zahlreich und je nach ihrer Güte teurer oder billiger. Die geringwertigere Sorte bevorzugten mit Vorliebe die anspruchslosen böhmischen Maurer und Erdarbeiter, die nur den Sommer über hier auf Arbeit waren. Der wöchentliche Durchschnittspreis war etwa zwei Mark; dafür bekam man noch den Morgenkaffee. Bei kleinen Meistern schlafen die Lehrjungen, ab und zu auch einer ihrer Gesellen hier, manchmal mit einem oder mehreren fremden Schlafburschen zusammen. In kleinen Beamten-, Kaufmanns- oder ähnlichen Familien, wo ein Dienstmädchen nötig gebraucht wird, und die Wohnräume knapp sind, wird auch deren Bett mitunter, dann natürlich allein, hier aufgestellt. Außer der Bettstelle und einigen Nägeln in der Wand giebts gewöhnlich kein Mobiliar in diesem Gelaß, es sei denn, der Fremde brächte sich eine Kommode oder eine Kiste mit. Jenes passiert selten, dies häufig. Die paar Kleider, die so ein Menschenkind zu besitzen pflegt, werden dann an die eingeschlagenen Nägel gehängt, die Wäsche und die andern Siebensachen in der Kiste und das andre Paar Stiefel in einer Ecke der Bodenkammer untergebracht. Wer ganz billige Unterkunft haben wollte oder mußte, mietete sich solchen Bretterverschlag mit einem Bette mit einem Freunde zusammen. b) Die zweite Reihe Schlafstellen befindet sich in den Wohnräumen der Familie selbst. Die bedenklichsten darunter, die mit der Familie in einem Raume gemeinsamen, sind nebst den durch die angeführte Verordnung untersagten heute wenn auch noch nicht ganz beseitigt, so doch selten. Wer in einem Alkoven (in der Stadt wird oft auch die Küche dazu benutzt) mit mehreren andern zusammenschläft, pflegt wöchentlich eine Mark zu zahlen; wer in einem leeren, d. h. nur mit einem Bette ausgestatteten Alkoven allein schläft, mindestens zwei Mark. Dann kommen die beiden besten, aber auch seltensten Kategorien: schlicht möblierte Stübchen mit zwei und drei Betten, die namentlich unter einander befreundete junge Schlosser aus bessern Familien für je zwei Mark die Woche gemeinsam bewohnen, und ebensolche mit einem Bette, die freilich wegen ihrer Kostspieligkeit (drei Mark für die Woche) weniger verlangt werden und bereits den Übergang zu den in studentischen Kreisen üblichen schlichten Garçonwohnungen bilden. Die angeführten Wohnungspreise sind natürlich nur, aber ziemlich sichere, Durchschnittsangaben. Sie verstehen sich immer mit Morgenkaffee, häufig auch mit Abendkaffee. Sie sind nicht hoch; für den jungen Burschen, der meist eben so viel als ein verheirateter Mann verdient und für niemand zu sorgen hat, mit die geringste Ausgabe für notwendige Bedürfnisse. Dennoch kommt es nicht selten vor, daß einer mit dem Logisgeld durchbrennt. Der Chemnitzer Lokalanzeiger brachte fast täglich eine derartige Notiz, wobei zu bedenken ist, daß nur ein kleiner Teil der Fälle von den Betroffenen zur Anzeige gebracht wird. Dann pflegt man gewöhnlich eine verschlossene, aber leere, mit einigen Steinen beschwerte Kiste als Pfand zurückzulassen. Namentlich Arbeitslose manövrieren gern so. Sie spiegeln ihren neuen Wirtsleuten vor, daß sie Arbeit hätten, gehen des Morgens zur vorgeschriebenen Stunde weg, vertreiben sich den Tag teils auf der Herberge, teils mit Spaziergängen, teils mit Arbeitsuchen und kommen zur Feierabendzeit ins Quartier zurück. Wenns paßt, fliegt dann der Vogel einmal aus -- auf Nimmerwiedersehen. Das ist dann immer eine herbe Einbuße für die Familie. Über die +Kleidungsverhältnisse+ meiner Arbeitsgenossen habe ich natürlich weniger zu sagen. In der Fabrik war die Kleidung selbstverständlich primitiv und schmutzig. Ein festes, wenn auch durch langen Gebrauch abgeschabtes, glänzig gewordenes Beinkleid, eine Weste und darüber ein blauer Leinwandkittel war das übliche Kostüm. Mit Vorliebe zog man in der Fabrik die Stiefel aus und Holzpantoffeln an. Wenn man die Stiefel anbehält, schmerzen die Füße nach dem elfstündigen Stehen und Gehen auf dem Ziegelpflaster zu sehr. Nur wenige arbeiteten mit unbedecktem Kopfe; die meisten trugen teils des herumfliegenden Staubes und Schmutzes wegen, teils aus alter Volksgewohnheit eine leichte billige Mütze oder den alten abgenutzten Hut, den sie auch auf den Gängen von und zur Fabrik aufhatten. Außerdem banden wir Handarbeiter und noch einige andre, die viel zu heben und zu transportieren hatten, noch eine aus altem Sackleinen meist selbst gefertigte Schürze vor. War es, wie an manchen Tagen des vergangenen Sommers, besonders heiß und darum trotz allen Wassersprengens, wozu dann drei Mann von uns kommandiert waren, erstickend dunstig in den mit schwitzenden Menschen erfüllten Räumen, so zog man gern die Westen aus, krempelte die Ärmel der Bluse hoch auf und schlug vorn Hemd und Bluse weit zurück, daß die Brust weit offen lag. Unterbeinkleider trug man selten, dagegen meist wollene Strümpfe und wollene bunte Hemden; bunte Leinenhemden sah ich wenig, ganz vereinzelt grobe weiße nur bei einigen Tischlern und Zimmerleuten. Wollene Kleidungsstücke wurden überhaupt, wo es anging, mit Vorliebe sowohl von Männern wie von Frauen, auch ohne Professor Jägers Sanktion, doch in längst erprobter Kenntnis von dem, was richtig an seinem „System“ ist, getragen. Es war allgemein Sitte, daß die üblichen blauen leinenen Blusen allwöchentlich gewechselt wurden, und es fiel geradezu auf, wenn Montag morgens einer wieder die altwaschene mitbrachte. Nur ein bestimmter Arbeitsanzug aus starkem blauem englischen Lederstoff, den man bei einem einhändigen Expedienten unsers Büreaus mit Erlaubnis der Direktoren auf Abzahlung billig und preiswert kaufen konnte, der schwer zu waschen war und auch nicht so leicht schmutzte, wurde länger, zwei bis drei Wochen ohne Anstoß getragen. So alt und bleiglänzig auch die ganze Kleidung meist war und sein mußte, so wurde doch durchschnittlich darauf gehalten, daß sie nicht zerrissen war. Wo das der Fall war, namentlich bei Verheirateten, wurde es gar wohl bemerkt. Man machte mich bei ein paar solchen Leuten geradezu darauf aufmerksam mit den halb entschuldigenden, halb bedauernden Worten: „Na, es kann ja auch nicht anders sein; seine Frau ist eben eine Schlumpe.“ Nur wenige befolgten bei uns die Sitte, die nach Erzählungen einiger junger Schlosser in Berlin unter den jungen Leuten mit gutem Verdienste sehr üblich sein soll, daß man nach Schluß der Arbeitszeit gleich in der Fabrik das Arbeitszeug aus und gutes anzog; die meisten von uns gingen im Arbeitsanzuge nach Hause, über die blaue Bluse nur einen alten ehemaligen Rock oder eine Jacke gezogen, den Blechkrug, in dem man sich gewöhnlich morgens Kaffee mitbrachte, in der Hand. Ab und zu kam es aber doch vor, daß man wenigstens die Beinkleider wechselte oder doch während der Arbeit über die bessern leinene blaue zog. Das gerade Gegenteil dieser eben geschilderten Werktagskleidung pflegte der Sonntagsanzug zu sein. Dieser war fast bei allen höchst anständig und modisch, oft so sehr, daß ich viele der Arbeitskollegen nicht wieder erkannte, als ich sie zum erstenmale des Sonntags sah. Namentlich die jungen, unverheirateten legten den größten Wert auf diese Sonntagskleidung. In dem einen der besten Säle, wo Sonntag abends junge Offiziere in Zivil, Referendare, Kaufleute, Handwerker und Fabrikarbeiter mit eleganten Ladenmädchen und vornehm gekleideten Dirnen zum öffentlichen Tanz zusammen zu sein pflegten, waren sie in den meisten Fällen von ihren Tanzgenossen aus höhern Regionen kaum, höchstens an den größern, derbern Händen und dem Mangel eines Klemmers zu unterscheiden. Ebenso ließen es auch die Verheirateten nicht an Schmuckheit in der Sonntagskleidung fehlen. Aber es trat dies Streben bei diesen doch natürlich und desto mehr zurück, je besonnener, sparsamer, schlichter einer war, je größere Familie er hatte, je mehr er auf sie hielt und wendete; auch trug sich immer derjenige, der vom Lande war oder wohl gar noch dort wohnte, selbstverständlich nicht so modisch wie der Städter und Vorstädter. Gleichwohl war auch unter ihnen auf diesem Gebiete die Nivellierung weit vorwärts geschritten. Rote Schlipse und jene gewaltigen Turnerhüte, die einen so unsäglich komischen Eindruck namentlich auf Köpfen mit noch ganz jugendlichen bartlosen Gesichtern machen, waren weniger in Gebrauch, als man annehmen sollte. Abschließend ist zu sagen, daß sich fast alle über ihre Verhältnisse hinaus gut kleideten. Was sie dieser spezifisch sächsischen Neigung opferten, sparten sie sich dann am Essen, am Leibe ab. Über die +Ernährungsverhältnisse+ der Arbeitsgenossen ist nun manches zu sagen. Zunächst: wir hatten in der Fabrik nur zwei Eßpausen. Früh 8 bis 8 Uhr 20 Minuten war Frühstückszeit, 12 bis 1 Uhr Mittagszeit. Sonst wurde die beinahe elfstündige Arbeitszeit, von früh 6 bis abends 6 Uhr nicht unterbrochen. Nachmittags 4 Uhr durften allein die Lehrlinge ein halbstündiges Vesper machen; wer von den übrigen Bedürfnis hatte, aß mitten in der Arbeit ein paar Bissen. Die früher allgemein übliche Vesperpause war unter Billigung der Leute beseitigt worden, sodaß sie schon um 6 Uhr Feierabend haben konnten. Das Frühstück wurde von beinahe allen in der Fabrik selbst eingenommen; nur wenige, die in allernächster Nähe wohnten, gingen dazu nach Hause. Wenige setzten sich auch in den der Fabrik benachbarten Budikerladen, wo man guten Käse billig kaufte und in der vollgepfropften Wohnstube des Besitzers oder in dem Laden zum mitgebrachten Butterbrot verzehrte. Einigen andern brachten auch die Frauen das Frühstück oder schickten es durch die Kinder, meist mit peinlicher Pünktlichkeit. Die allermeisten aber nahmen das bereits am Morgen mitgebrachte Brot in der Fabrik ein. Hier verteilte man sich nun dabei ganz nach freiem Belieben. Sobald das Wetter einigermaßen schön war, setzte man sich ins Freie, d. h. in den geräumigen Fabrikhof, an den Lattenzaun, der ihn von einer vorüberführenden Eisenbahn trennte. Aus alten Kisten, Brettern, Eisenteilen baute man sich da schnell seinen Sitz. Ein Teil frühstückte auch im Speisesaale, einem großen, hellen Raum zu ebener Erde, mit nüchternen, kahlen Wänden, langen hölzernen Tischen und Bänken, einem Wärmeofen und dem Schanktisch des Kantinenverwalters, der zugleich der Kutscher der Fabrik war. Junge Schlosser blieben wohl auch gleich an ihrem Arbeitsplatze und ließen es sich da schmecken. Das ganze Frühstück ging ohne viel Umstände vor sich; an vorheriges Toilettemachen war natürlich nicht zu denken. Die Kürze der Zeit verbot selbst eine gründliche Reinigung der schwarzen Hände am Waschtroge. So begnügten wir uns damit, sie an der selbst schmutzigen Schürze, an Putzfäden, Sägespänen oder sonst etwas flüchtig abzuwischen. Ich kann nicht sagen, daß uns das den Appetit auch nur im geringsten verdorben hätte, der gerade um 8 Uhr bei allen stark vorhanden war. Es schmeckte uns allen niemals besser als bei diesem zweiten Frühstück, nach zweistündiger Morgenarbeit. Es wurde sehr stark gegessen: ein großes Butterbrot und stets etwas dazu, Wurst, rohes Fleisch, Käse, ab und zu gekochte Eier, saure Gurken. Je weiter der letzte Lohntag zurücklag, desto mehr herrschte der Käse vor. Und die Zukost war außer bei den Handarbeitern und andern mit besonders wenig Verdienst und vielen Kindern gesegneten reichlich und immer gut bemessen. Stets auch wurde dazu etwas getrunken, was infolge unsrer Beschäftigung eben so notwendig war wie gutes Essen. Man trank gleich häufig kalten oder warmen Kaffee oder Buttermilch, ein bei der Chemnitzer Arbeiterbevölkerung allgemein beliebtes, eben so nahrhaftes als billiges Sommergetränk. Nur in seltenen Fällen habe ich beobachtet, daß die Wohlhabendern sich auch bairisch Bier leisteten, und dann auch nur in den ersten Tagen nach der Löhnung. Dagegen war der Genuß von einfachem Bier, wovon die Flasche sieben Pfennige kostete, in stetem Zunehmen und verdrängte immer mehr und mehr den Schnapsgenuß. Eine Hauptursache dazu ist wohl die Erfindung des allbekannten Patentverschlusses gewesen. Denn der Arbeiter, der früher die Schnapsflasche in der Tasche hatte, nimmt jetzt die ebenso transportable Bierflasche mit. So wird eine kleine technische Erfindung von großer sozialethischer Bedeutung -- hier einmal in günstigem Sinne -- und wirkt mehr als viele moralisierende Reden und andre Reformversuche. Speisen und Getränke brachte man sich entweder von daheim mit oder kaufte sie sich in der Kantine. Jenes pflegten vor allem die ältern verheirateten, darum sparsamen, dies die unverheirateten Leute zu thun. In dieser Kantine war nur der Verkauf von Brot, Semmel, dreierlei Wurst, Käse, ab und zu auch Eiern, sowie von Kaffee und einfachem Bier gestattet. Die Preise waren nicht hoch, doch so, daß der Verkäufer noch etwas dabei verdiente; ein Topf Kaffee mit Zucker kostete vier Pfennige, eine Flasche Bier sieben Pfennige. Eine Einrichtung dabei wurde besonders dankbar empfunden. Wir waren etwa vier- bis fünfhundert Arbeiter; nimmt man an, daß nur ein Viertel von ihnen in der Kantine kaufte, so hätten gegen hundert Mann allmorgendlich sich um den Verkaufstisch gedrängt, und die letzten hätten glücklich am Schlusse der Pause bedient werden können. Um diesen Übelstand zu beseitigen, war gestattet, daß einer von uns Handarbeitern, ein dazu fest bestimmter, eine Stunde vorher von Mann zu Mann ging, dessen Bestellungen entgegennahm und dann kurz vor 8 Uhr dies Bestellte den einzelnen an ihren Platz brachte: den heißen Kaffee in einer großen, blitzblank gescheuerten blechernen Gießkanne, aus der jedem in seinen Blechkrug geschenkt wurde. So primitiv in vielen Punkten dies ganze Frühstück war, so wurde das doch nicht unangenehm empfunden. Man sah ein, daß es nicht anders anging, und ließ es sich schmecken. Für das +Mittagessen+ war, wie gesagt, auch bei uns die übliche Stunde von 12 bis 1 Uhr frei. Grundsatz war für alle: Wer zu Tisch nach Hause kommen kann, geht nach Hause. Das war in unsrer Fabrik doch einer sehr großen Zahl möglich. Und so wiederholte sich täglich in unsrer Vorstadt ein interessantes Bild. So wie die Dampfpfeifen punkt 12 Uhr ihr Signal gaben, waren mit einem Schlage die sonst stillen Straßen mit Hunderten von Menschen belebt, die im schnellsten Schritt in der verschiedensten Richtung, allein oder zu zweien und dreien, an einander vorübereilten; wer unter sie gehörte, begegnete alltäglich immer denselben Gesichtern. Und dasselbe Bild eine Stunde später, kurz vor 1 Uhr, bis dasselbe Signal die Straßen wieder säuberte. So reguliert, wie früher der Klang der Glocken, heute der schrille Schrei der Fabrikpfeifen das tägliche Leben der Bewohner unsrer Fabrikorte. Denn wie mittags 12 und 1 Uhr gellen früh ½6 und um 6 Uhr und ebenso zum Feierabend diese Pfeifen. Was mittags in den einzelnen Familien gegessen wurde, vermag ich selbstverständlich nicht zu sagen. Häufig fragte ich, was es gegeben hätte, aber manchmal erfuhr ich nicht die Wahrheit. Dann war anzunehmen, daß es besonders dürftig gewesen war. Fleisch gab es bei den hohen Fleischpreisen natürlich nicht immer, doch vermochte es eine kluge, sparsame Hausfrau öfter auf den Tisch zu bringen als ihr Gegenteil. Denn innerhalb bestimmter, durch das Einkommen gezogener Grenzen kommt auch hier alles auf das Talent und den Wert der Frau an. Eine tüchtige Hausfrau macht in dieser Weise -- und sie sind +nicht+ in der Minderzahl -- fast Unmögliches möglich. Die Frauen von zwei meiner engern Arbeitskollegen, die wöchentlich noch nicht fünfzehn Mark verdienten, sagten mir, es gebe bei ihnen +immer+ Fleisch in irgend welcher Form. Die eine von ihnen hatte ein zweijähriges und ein halbjähriges Kind, die andre ein neun- und ein fünfjähriges, eins unter dem Herzen und zwei auf dem Friedhofe; jene hatte außer ihrem Mann und ihren Kindern noch ein Schlafmädchen, die andre noch zwei Schlosser am Tisch. Beide Frauen hatten früher als Dienstmädchen gedient. Dann wieder war bei uns ein Monteur, der verhältnismäßig viel verdiente; wer seine Frau sah, wußte, warum seine Kleidung so vernachlässigt war, warum er, wie er mir einmal erzählte, häufig selbst kochte und briet und sie nicht mitthun ließ. Eines Sonntags sollte es bei ihm als besondre Delikatesse Hundebraten geben. Anstatt der Butter wurde in manchen Familien viel Fett und viel Leinöl gegessen. Im allgemeinen schließlich gilt der Satz, daß man am Anfang einer Lohnperiode immer besser lebte als am Ende. Zwei Konsumvereine am Orte wurden von den Familien viel benutzt, namentlich am Abend des Lohntages, wo man gleich für mehrere Tage Einkäufe machte. Der eine Verein war eine ausgesprochene sozialdemokratische Gründung, der andre noch jung; beide florierten. Viele Familien hatten außer ihren eignen Angehörigen, wie schon gesagt, noch Kostgänger, häufig ihre eignen Schlafleute, oft noch andre junge Burschen und Mädchen dazu, ab und zu auch verheiratete Männer, die selbst zu weit nach Hause hatten, ihrer Familie die Unbequemlichkeit des Essentragens ersparen, aber auch den noch etwas teuren Mittagstisch in der Kneipe vermeiden und sich doch auch nicht mit einem kalten Imbiß in der Fabrik begnügen wollten. Des Sonntags aber war es allgemeinste Sitte, daß jeder in der Familie aß, in der er wohnte. Soviel ich erfahren konnte, gab es, wo Fremde mit aßen, häufiger Fleisch, immer aber bessere Speisen, und der Preis, den der Kostgänger zahlte, war stets niedriger als der, den wir im Gasthaus zahlten. Das war wieder eine andre, verhältnismäßig große Gruppe, die zum Mittagstisch in eine der in der Nähe liegenden, ganz einfachen Kneipen ging. Meist waren es junge, unverheiratete Leute mit besserm Verdienst, und vor allem Schlosser, denen die Engigkeit einer Arbeiterwohnung, die in der als Küche und Eßzimmer benutzten Stube und bei der Eile aller Beteiligten gegen Mittag am fühlbarsten wurde, unbequem und die Ordnung einer Restauration lieber war. Oder sie wohnten sehr weit und hatten keine ihnen bekannte Familie in der Nähe, von der sie mittags aufgenommen werden konnten. Ich that es ihnen nach, weil es mir anfangs ebenso ging. Ich habe hinter einander in drei Kneipen gegessen, in der einen von ihnen fast dreiviertel der Zeit, die ich in der Fabrik verbracht habe. Es war das ein kleines, einfaches, aber anständiges Restaurant; die hübsche Tochter des Wirtes trug auf in genauer Reihenfolge, wie wir saßen, und um keinen zu benachteiligen, jeden Tag bei einem andern beginnend. Das Essen war reichlich und leidlich schmackhaft; einen Tag um den andern gab es Braten, den man trotz seiner Wässrigkeit sehr liebte, die übrigen Tage setzte es Kochfleisch und Gemüse, das mir lieber war. Dazu erhielt jeder außer einer tüchtigen Portion von Kartoffeln ein großes Stück Brot, und das Ganze kostete Tag für Tag mit einem Glas einfachen Braunbiers vierzig Pfennige. Es herrschte gute Ordnung unter den Tischgenossen, ein höflicher Ton und ein anständiges Gebaren. Man aß ruhig, ohne Hast. Es wurde wenig gesprochen und viel gelesen, sodaß, wenn einer ein Blatt zu Ende hatte, ein andrer schon immer darauf wartete, es zu erhalten. Und genau wie hier ging es in dem zweiten Lokale zu. Das dritte, nur von wenigen besuchte, stand tiefer. Es war die sogenannte Kutscherstube eines großen Etablissements. Diese allgemein verbreiteten Kutscherstuben sind sozial und moralisch ganz bedenkliche Institute: meist unsauber, eng und unfreundlich, bilden sie den Übergang zu jenen berüchtigten Stehbierhallen und Destillationen, die, häufig mit Kauf- und Budikerläden verbunden, durch die Leichtigkeit, Einfachheit und Schnelligkeit der Bedienung, durch die Möglichkeit, sofort wieder gehen zu können, die größten Verführungsstätten zum Trunk für die untern Schichten sind. Die eben geschilderten Restaurationen vertrat im Innern der Stadt teilweise die städtische Speiseanstalt, die täglich von 12 bis 1 Uhr geöffnet war, von Hunderten von Arbeitern und auch Arbeiterinnen besucht wurde und sich gut rentieren soll. Vier große Speisesäle zu ebener Erde und im ersten Stock waren in dieser Stunde immer gedrängt voll; selbst auf dem öden, weiten Hofe hatte man Tische und Bänke aufgestellt. Es gab zwei Klassen hier. In der einen kostete der Mittagstisch dreißig, in der andern fünfzehn Pfennige. In der ersten gab es an gedeckten Tischen, doch ohne Bier, etwa dasselbe wie in unsern Vorstadtrestaurants, in der zweiten in einem großen Napfe, den man sich selbst holen mußte, Bohnen, Reis, Graupen, Linsen und ähnliche Hülsenfrüchte, gewöhnlich mit einem Scheibchen Wurst oder Fleisch. Während meiner Herbergszeit habe ich in beiden Klassen gegessen; in beiden war es reichlich und verhältnismäßig gut. Einmal wurde ich dabei aus dem Lokal hinausgeworfen. Ein Bummler in abgetragener modischer Kleidung, mit langem, grauem Haar und dem Auftreten eines ehemaligen, nun verkommenen Künstlers, ein häufiger Gast der Herberge, verkaufte einmal drei Speisemarken zweiter Klasse, das Stück für fünf Pfennige. Ich nahm natürlich auch eine und ging damit mittags in die Anstalt zu Tische. Als ich sie vorwies und meinen Napf mit Erbsen in Empfang nehmen wollte, fragte man mich barsch, woher ich diese Marke habe, die ganz anders aussah als diejenigen aller übrigen. Ich erzählte es, aber man schien mir nicht recht zu trauen, sagte, das seien Armenmarken und wahrscheinlich gestohlen, und jagte mich schleunigst zum Tempel hinaus. Als ich dann in die Herberge zurück kam und es erzählte, setzte es dann noch ein zweites Donnerwetter vom Herbergsvater, das sich dann noch mehrmals wiederholte, so oft wir, „die ihm den Tag über, ohne etwas zu verzehren, die Stühle durchsäßen,“ mittags noch anderswohin essen gingen. Denn ich war nicht der einzige, der sich so in der Herberge herum drückte. Es gab noch manchen, der keinen Pfennig mehr in der Tasche und Hunger im Leibe hatte, und der dann auch in die Speiseanstalt ging, um dort im Gedränge die auf dem Tische herumstehenden Näpfe mit Resten leer zu essen. Einer meiner neuen guten Freunde empfahl mir heimlich diesen Weg als den besten und kostenlosesten besonders angelegentlich. Der Rest der Arbeitsgenossen brachte die Mittagsstunde ganz in der Fabrik zu. Es waren Junge und Alte, Verheiratete und Unverheiratete, eine immer noch große Zahl, alle diejenigen, die zu weit ab von der Fabrik wohnten, und zu sparsam waren oder zu wenig verdienten, um bei Fremden ein warmes Mittagbrot zu bezahlen; sie begnügten sich meist mit einem gleichen kalten Imbiß wie zum Frühstück und mit Kaffee, oder sie wärmten sich Tag für Tag das Gemüse, das ihnen die Mutter oder die Frau am Abend vorher schon bereitet hatte, und das sie des Morgens in einem Blechkännchen mit in die Fabrik brachten. Für sie war der nüchterne Speisesaal eine wahre Wohlthat, denn da in der Mittagsstunde alle Werkstätten geschlossen wurden, war er der einzige Raum, in dem sie sich aufhalten konnten. Mir thaten die Leute, namentlich die ältern unter ihnen, aufrichtig leid; die elf Stunden am Tage wahrhaftig keine leichte Arbeit zu thun hatten, denen fehlte in dieser einzigen Stunde des Ausruhens beinahe jede Bequemlichkeit. Man denke sich nur in die Lage hinein, man versuche es selbst einmal, Mittag um Mittag mit kalter Küche oder nur aufgewärmtem Zeug fürlieb zu nehmen und man wird begreifen, daß das dauernd kein würdiges Mittagbrot für einen Menschen ist, der tagsüber stramm seine Pflicht thut. Das empfanden die Leute selbst auch sehr gut. Wenn ich kurz vor Beginn der Nachmittagsarbeit in die Fabrik zurück kam und -- wie es Sitte war -- ihnen Mahlzeit, gesegnete Mahlzeit wünschte, da kam es vor, daß einer das bitter abwehrte. Das sei ja keine Mahlzeit, am allerwenigsten eine gesegnete. War das Wetter schön oder der Tag sehr heiß und darum der Körper besonders schlaff und matt, dann legte man sich, wenn man mit seinem Butterbrot zu Ende war, im freien Hofe an einer schattigen Stelle irgend wohin auf ein Brett oder auf die Erde, um seufzend sein Mittagsschläfchen zu halten. Nur selten brach, wenn wir so abgespannt und stumm neben einander saßen und lagen, dann einer das Schweigen, und dann war es oft nur ein herbes Wort, wenns auch scherzend klingen sollte, wie das: Hats der arme Arbeiter doch gut! Eins fehlte bei uns jedoch fast ganz: daß sich die Zurückbleibenden von daheim das Essen in die Fabrik bringen ließen, was wieder an den allzu weiten Entfernungen liegen mochte. In der Stadt war das aber ganz allgemein Sitte; Hunderte von essentragenden Arbeiterfrauen und Kindern durcheilten da täglich kurz vor 12 Uhr die Straße, um pünktlich bei dem harrenden hungrigen Gatten und Vater oder der Mutter zu sein. Und auf den Bänken der städtischen Anlagen sah man dann die ruhenden Männer mit dem rauchenden Topfe in der einen und dem Löffel in der andern Hand sitzen, Frau oder Kind daneben und oft mit essend, -- denn die städtische Speiseanstalt ist selbstverständlich nur für die erreichbar, deren Werkstätte in der Nähe liegt. Diese Art des täglichen Mittagsbrotes erkläre ich für unwürdig. Unwürdig der braven Familien, die dazu gezwungen, unwürdig unsrer Zeit, die sich prahlend ihrer humanen Gesinnungen rühmt, unwürdig der Männer, in deren Händen heute das Wohl und Wehe dieser Fabrikarbeiter ruht. Wie kann solch eine Mahlzeit auf der Straße jemals eine gesegnete sein? Wie kann man im Ernst tadeln, daß sie ohne Gebet und Händefalten hineingeworfen wird? Wie muß sie ganz anders, als Agitatorenworte es vermögen, den Familiensinn des Vaters und der Mutter und damit Familienglück und Familienleben zerstören? Denn diese Zustände und ihre Folgen treffen ja nicht nur den, dem man das bißchen Essen im Topfe auf die Promenadenbank bringt, sondern stets die ganze Familie. Oft wird es infolge dessen auch daheim bei Mutter und Kindern keinen geregelten Mittagstisch geben. Nur ein drastisches Beispiel dazu. Es war auf der Promenade an dem großen schönen Chemnitzer Schwanenteiche. Ich saß auf der Bank neben einem, der eine knappe Viertelstunde von da beim Trottoirlegen geholfen hatte. Er war in sieben Minuten bis zu unserm Platz gelaufen und wartete nun auf seinen Knaben, den er mit dem Essen dorthin bestellt hatte. Aber es wurde ein Viertel, es wurde halb, und der Junge kam immer noch nicht. Nun gingen wir ihm entgegen, und endlich, kurz vor dreiviertel kam er atemlos, voll Angst vor dem ärgerlich gewordenen Vater angerannt: die Schule, die sonst pünktlich 12 Uhr zu Ende zu sein pflegte, war 20 Minuten länger ausgedehnt worden. In einem Atem war dann der arme Junge von der Schule nach Hause und von da zu uns gelaufen; in fünf Minuten hatte der Vater das Essen hinunter und lief dann an die Arbeit zurück, während sein Kind müde, hungrig, abgespannt nach Hause trollte, um sich nun erst, wohl allein, zum Essen zu setzen, das Mutter, Geschwister und Kostgänger ihm übergelassen hatten. Vielleicht ist dies ein seltnerer und besonders unerfreulicher Fall; aber die Hauptsache daran, daß Kinder, die von 8 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags auf der Schulbank müde und hungrig geworden sind, nun erst, ohne einen Bissen gegessen zu haben, den Vater bedienen müssen, passiert täglich und nicht einem nur, sondern hunderten von ihnen. Doch zurück in unsre Fabrik. Einzelne von denen, die sich des Mittags mit kalter Küche begnügten, pflegten allerdings dafür des Abends einen warmen Ersatz daheim vorzufinden; manchmal aß die ganze Familie erst um diese Zeit mit ihnen das aufgeschobene Mittagsbrot. Dann lag ja die ganze Sache nicht so schlimm, wenigstens wenn die ganze Familie nur aus Erwachsenen oder doch schon größern Kindern bestand. Wo aber Kinder waren, da war dann das erste Übel durch ein zweites abgelöst. Denn eine Hauptmahlzeit des Abends ist für Kinder bekanntlich nie förderlich und gesund. Das Abendbrot bestand bei der übrigen Mehrzahl meiner Arbeitsgenossen aus Kartoffeln oder Brot mit Butter, Fett oder Leinöl und auch Zukost. Quantität und Qualität dieser Speisen richtete sich stets nach der Höhe des Einkommens, nach der Sparsamkeit und den sonstigen augenblicklichen Ausgaben der einzelnen Familien. Aber nie fehlte der Kaffee, wovon immer auch die Schlafleute ohne Entgelt einige Tassen bekamen. Brot und Butter aber hielten diese sich gewöhnlich selbst. Das ist, was ich von Bemerkenswertem über die Wohnungs-, Kleidungs- und Ernährungsverhältnisse meiner Arbeitsgenossen mitzuteilen vermag. Ich meine, auch diese lückenhaften Angaben beweisen schon die Richtigkeit meiner oben gemachten Behauptung von der notwendigen Engigkeit und Bescheidenheit ihrer Lebensstellung. Aber sie machen auch noch eine andre Thatsache begreiflich, die man im Zusammenleben mit diesen Menschen täglich erfährt, und die unendlich bedeutsamer und verhängnisvoller als jene ist, nämlich die Thatsache, +daß infolge dieser Zustände in weiten Kreisen unsrer großstädtischen Industriebevölkerung die überlieferte Form der Familie heute schon nicht mehr vorhanden ist+. Der alte, auf der Blutsverwandtschaft von Eltern und Kindern ruhende und aus allein solchen blutsverwandten Gliedern zusammengesetzte Organismus der Familie, an den sich in bessern Ständen bisher nur einzelne Dienstboten fester oder loser anschlossen, hat in der That in jener Bevölkerungsschicht heute bereits mehr oder weniger einem erweiterten, aus den rein wirtschaftlichen Bedürfnissen gemeinschaftlichen Wohnens und Lebens aufgebauten, in der Zusammensetzung seiner Glieder durch Zufälligkeiten gebildeten Kreise von Blutsverwandten und Fremden Platz gemacht. Deutlich treten hier die verwandtschaftlichen Neigungen vor den wirtschaftlichen Verpflichtungen zurück. Aus der Mutter wird der Haushaltungsvorstand, der von dem eignen Manne, den erwachsenen Kindern und den Fremden eine fest bestimmte Summe erhält und dafür verpflichtet ist, die Ausgaben für Wohnungsmiete, Nahrung, Wäsche und ähnliches zu bestreiten, während für die Kleidung ein jeder für sich zu sorgen pflegt. Und nicht die Sozialdemokraten und deren Agitation haben daran die Hauptschuld, sondern eben jene Zustände, die eine Frucht unsrer ganzen wirtschaftlichen Verhältnisse sind, und die es den Arbeiterfamilien unmöglich machen, gemeinsam ihre Morgen- und Mittagsmahlzeiten einzunehmen, die sie zwingen, die allerdürftigsten Häuser und allerengsten Wohnungen zu beziehen, dazu noch wildfremde, häufig wechselnde Schlafgäste bei sich aufzunehmen und ihnen den vertraulichsten gemeinsamen Umgang zu gestatten, den man sonst nur mit den eignen Familienangehörigen zu pflegen gewohnt war. Man denke daran, wie dicht in solchen Arbeitermietskasernen und den nach ihrem Muster umgebauten ehemals ländlichen Wohnhäusern „Stube“ an und über „Stube,“ d. h. also Wohnung neben Wohnung liegt, ohne jede gegenseitige Abschließung, wie dünn die Wände der Zimmer in solchen flüchtig gebauten Häusern sind, so dünn, daß jedes laute Wort in der Nachbarfamilie deutlich verstanden wird; und wie die drei und vier „Stuben“ einer Etage immer nur einen Korridor zu haben pflegen, dessen Benutzung ebenso gemeinsam sein muß wie diejenige der Wasserleitung, des Klosets u. a. Das alles führt zu einer Gemeinsamkeit des täglichen Verkehrs und einer Öffentlichkeit des Familienlebens, über die man erschrickt, wenn man hinein sieht, und die notwendig der Tod jedes Familienlebens werden muß. Es ist ja gar nicht anders möglich, als daß die Kinder solcher Familien dauernd fast wie Geschwister unter einander leben, wobei der Korridor der Ort des gemeinschaftlichen Aufenthalts, ihrer Spiele und Plaudereien ist; daß die jungen Burschen und Mädchen dieser Familien in intimste Berührung, die Männer in nahen Gedankenaustausch, oft freilich auch in Streit und Hader geraten, und daß die Frauen jeden Winkel, jeden Makel, jedes Kleidungsstück und Hausgerät aus den benachbarten Familien auf das genauste kennen, ja daß die gemeinsame Benutzung solcher Geräte z. B. für die Küche durch Entleihen und Verleihen einen sehr kommunistischen Zug in die ganze mit solchen Dingen oft recht dürftig ausgestattete Hauswirtschaft solcher Familien bringt. Dazu tritt die Enge und Beschränktheit der einzelnen Wohnungen, die die Menschen mit Macht zur Thüre hinaus und des Abends, so oft das nur möglich ist, ins Freie, auf die Straße und den Hof, in die bessern, geräumigern Zimmer der Nachbarn oder in die Kneipen und Versammlungen drängen. Man bedenke weiter, wie diese Enge noch erhöht wird durch die Anwesenheit der fremden Schlafleute, die fremde, und oft genug nicht gerade fromme, beßre Sitten und Gewohnheiten mitbringen, eine andre Art, andre Anschauungen und Bedürfnisse, die sie auch ungeniert wie daheim äußern und zur Geltung bringen wollen. Man bedenke, daß diese fremden Gäste zugleich mit dem eignen Manne und den eignen erwachsenen Kindern das Haus verlassen, daß sie zu derselben Zeit wie diese zurückkehren und meist bis zum Schlafengehen am gleichen Tisch wie diese miteinander sitzen, lesen, rauchen, sich unterhalten, Karte spielen. Es ist in der That in vielen Familien so, daß Eltern und Kinder ungestört zusammen +allein+ nur noch während der Nacht, im Schlafen sein können. Denn auch die letzte Gelegenheit eines gemütlichen gemeinsamen Beisammenseins, die Morgens- und Mittagsmahlzeit wird, wie aus meinen obigen Schilderungen hervorgeht, vielfach vereitelt durch die Arbeitsbedingungen, die den Vater, den Sohn und die Tochter abhalten, zu Tische nach Hause zu gehn. Wo es aber geschieht, da genügt meines Erachtens die einstündige Pause nur gerade, um den doppelten Weg nach und von Hause machen und das Essen einnehmen zu können, auch dies bei nur halbwegs größern Entfernungen, die für die Arbeiter großer Etablissements natürlich die Regel ist, ohne richtiges behagliches Sichzeitlassen, in Hast und Eile. Über die Wirkung dieser Zustände auf die Sittlichkeit, den Charakter, die Gesinnung der Arbeiter habe ich an einer andern Stelle zu reden. Hier sollte nur die Thatsache der bereits vollzogenen Wandlung in dem Wesen der Arbeiterfamilie konstatiert, und die Ursachen dargestellt werden, die sie hervorgerufen haben. Ich wiederhole nochmals, daß sie in erster Linie eine Frucht unsrer heutigen wirtschaftlichen Lage sind. Und darum ist vor allem diese, nicht aber die Sozialdemokratie als die Hauptschuldige anzuklagen, die hier nur wie so oft die letzten Konsequenzen aus den Wirkungen der herrschenden Zustände gezogen und in ein System gebracht hat. Die vorhandenen traurigen Zustände sind erst Grundlage und Anlaß zur Verbreitung des sozialdemokratischen Familienideals der Zukunft. Über diese Thatsache sollte man sich namentlich auch in bestimmten kirchlichen Kreisen nicht wegtäuschen und, anstatt Klagelieder über den allerdings vorhandenen Verfall des alten christlichen Familienideals und Anklagen gegen die Sozialdemokratie zu erheben, in diesem Falle zuerst lieber mit daran arbeiten, daß die verhängnisvollen wirtschaftlichen Ursachen dieser Zustände endgiltig und dauernd beseitigt werden. [*] Viele dieser engern Landsleute waren mit einander verwandt. Ich fand bei flüchtiger Umschau allein vier Brüderpaare bei uns, fünf Väter, die einen Sohn, mehrere, die Schwiegersöhne, einen, der Sohn und Schwiegersohn mit in der Fabrik hatte. Drittes Kapitel Die Arbeit in der Fabrik Unsre Fabrik war durch ihren frühern Besitzer, der noch lebte, aus kleinen Anfängen zu einem bedeutenden Institut entwickelt, seit einiger Zeit aber in ein Aktienunternehmen, an dem jener stark beteiligt war, umgewandelt worden. Ein technischer und ein kaufmännischer Direktor standen augenblicklich an ihrer Spitze. Die Fabrik lag, wie schon erzählt, in einem der bedeutenderen Vororte von Chemnitz. Zwei mächtige parallel laufende Gebäude bildeten den Kern ihrer ganzen Anlage. An ihrer einen Schmalseite sausten die Eisenbahnzüge dicht vorüber, denen wir oft sehnsüchtig nachschauten; an der andern führte die Landstraße vorbei. Von hier nimmt sich die Fabrik fast schmuck aus. Ein gepflegter Obstgarten der Direktoren, ein breiter, sauberer Eingang und ein freundliches Portierhäuschen mit einem Rosengärtchen davor verdeckten den schwarzen Staub, der dahinter, auf Haus und Hof und allem Gerät einer jeden solchen Eisenfabrik notwendig lagert. Unser Hof, der sich an der Eisenbahn hindehnte, war groß und geräumig. Auf ihm erhob sich unweit des Portierhäuschens ein kleiner Gasometer, daneben ein größeres Gebäude mit Wohnungen für den Kutscher und Wächter, mit dem Speisesaal und der Kantine, dem Kesselhaus für die eine der beiden Dampfmaschinen und dem Pferdestalle; dann ein Schuppen mit rostenden, einst kostbaren Maschinenteilen nunmehr veralteter Konstruktion, mit eisernen Särgen, die einst auch in unsrer Fabrik gebaut wurden, und wovon noch einige verstaubte Exemplare vorhanden waren, mit Eisenspänen, die angesammelt und wieder gut verkauft wurden, und mit allerhand anderm Gerümpel. Weiter zurück noch eine offne Zimmermannswerkstatt, und unter freiem Himmel reiche Brettervorräte, ein Kistenlager und große Kohlenhaufen. Dicht an dem primitiven, aber festen hölzernen Zaune, der den Eisenbahndamm vom Hofe schied, erhob sich ein mächtiger hölzerner Krahn zum Verladen der versandfertigen Warengüter; ein Schienenstrang verband ihn mit den Eisenbahngeleisen. Und über allem lag eine dicke Decke von Kohlenschmutz und Eisenstaub. Selten etwas dem Auge Wohlgefälliges, selten ein dürftiger Baum oder ein schmales Stück grünen Rasens, der über die herumliegenden Eisenteile wild und ungepflegt herauswuchs. Nur in einem stillen Winkel ein bescheidnes Gärtchen, das der Kutscher sich angelegt hatte, und in dem er sich einiges Gemüse zog. Hier blühten einige Blumen, duftete Krauseminze und Pfefferkraut. Manches mal haben wir uns heimlich während der Arbeit ein Blatt davon geholt. Dasjenige Hausgebäude, das diesen Hof nach der einen Seite hin abschloß, war das ältere, die ursprüngliche Fabrik, darum primitiver, mit niedrigern Stockwerken, kleinen Fenstern, dunkeln Arbeitssälen, die zu ebner Erde mit oft sehr abgenutzten Ziegelsteinen gepflastert waren. Hier in diesem Bau hatte man auch das kaufmännische Kontor und die Expeditionszimmer für die Ingenieure und Zeichner untergebracht. Zwischen ihm und seinem Bruderbau stand ein dritter, kleinerer: die Schmiede mit der Werkzeugschlosserei und dem Magazin. In dem andern großen Bau war ich mit beschäftigt. Er war später aufgeführt und darum besser, bequemer, heller, luftiger und geräumiger angelegt. Er hatte ebenfalls die Höhe eines zwei- bis dreistöckigen Hauses. Der Bau erinnerte mich immer an das Innere einer Kirche. Er hatte keine Etagen. Man konnte in der Mitte des Raumes bis hinauf zum Dache sehen, das zum großen Teil aus Glasplatten bestand, um mehr Licht herein zu lassen. An den beiden Langseiten liefen je zwei übereinander gebaute breite Emporen hin, zu denen von unten steile primitive Holztreppen hinaufführten, die namentlich bei großen Transporten beschwerlich zu passieren waren. Auf der einen Empore befand sich der Probiersaal, wo eben vollendete Maschinen ausprobiert wurden, und wohin der Zutritt der großen Verunglückungsgefahr wegen nur denen gestattet war, die einen Auftrag dorthin hatten. In einem andern Teile war der Drehersaal. Die übrigen Emporen standen augenblicklich fast leer. Denn der eine Zweig unsrer Maschinenproduktion, der hier seinen Sitz hatte, lag sehr danieder. Auf dem östlichen Ende und der dortigen Schmalseite des ganzen Baues fehlten die Emporen bis auf eine einzige kleine ganz; dadurch war ein weiter geräumiger Platz geschaffen, lichter und freundlicher -- gleich dem Altarplatze einer Kirche. Und wo in unsern Kirchen oft die Sakristeien zu sein pflegen, stand hier das Maschinenhaus mit dem eisernen stöhnenden Ungeheuer, das seine riesigen Kräfte durch den ganzen Raum ausströmte und Dutzende schwerer Maschinen und hundert Menschen in Atem und Bewegung hielt. Daneben ragte der große Schornstein auf, dessen rußige rauchende Spitze auch zum Himmel wies. Zwar fehlte Glockenklang und Orgelton. Aber dafür brausten andre gewaltige Töne unaufhörlich durch die Halle: das Gehämmer und Gefeile der Schlosser, das Ächzen und Dröhnen der Maschinen, das Quietschen und Schlagen der Räder. Und was die schwarzen blaukitteligen Männer da schafften -- wars nicht auch ein Gotteswerk, ein Gottesdienst? Konnte es nicht wenigstens einer sein? Platz war gleichwohl nicht viel in dem großen hohen Raume. An den Fenstern der beiden Langseiten standen die Schraubstöcke der Schlosser; an den Säulen, die die Emporen trugen, und wo sonst immer ein geeigneter Platz und halbwegs genügendes Licht sich fand, waren die großen und kleinen Arbeitsmaschinen aufgestellt; die größte, eine gewaltige Bohrmaschine, legte sich quer durch den ganzen Raum und war bei der Passage und vor allem bei Transporten oft sehr unbequem und hinderlich. Um die einzelnen Arbeitsplätze herum, am ziegelsteingepflasterten und häufig sehr holprigen und beschwerlichen Boden lagen Eisenteile, die in Arbeit kommen sollten oder eben bearbeitet waren, in der Nähe der Schlosser halb oder ganz fertige Maschinen großen und kleinen Kalibers. Hier standen ausrangierte Stücke, in gerader Linie aufgereiht, dort lehnten Bretter und lange eiserne Wellen. In einer Ecke war der Blasebalg, daneben das Terrain für die Packer; am entgegengesetzten Ende des Raumes nahm die frühere, jetzt ausrangierte und zu einem Gelegenheitsverkauf bereitliegende große Dampfmaschine unsrer Fabrik, in ihre einzelne Teile zerlegt, viel Raum ein und hinderte die Bewegungsfreiheit. Ein gewaltiger Krahn, viel benutzt und von zwei Mann an der Kurbel in mühsamer Kraftaufwendung fortbewegt, lief durch den ganzen Raum, zwei kleine bedienten in dem Teile, den ich oben mit dem Altarplatz einer Kirche verglich, die dort Arbeitenden. Unter den durch die Emporen gebildeten Decken liefen die langen Wellen hin, die durch die Dampfmaschine in rasender Drehung gehalten wurden und durch Riemenscheiben und die verbindenden Treibriemen die allerhand kleinen und großen Arbeitsmaschinen mit der Kraft nie ruhender Bewegung speisten. In den ersten Tagen nach meinem Eintritt in die Fabrik vermochte ich mich nur schwer und unsicher zwischen dem allen zurecht zu finden. Scheinbar wirr und planlos lag, stand, bewegte sich in dem Raume alles durcheinander. Erst allmählich sah das Auge die Ordnung, die doch herrschte, fand der Fuß die schmalen Gänge zwischen den Maschinen hindurch, die die übliche Passage von dem einen zum andern und durch den ganzen Raum hin bildeten, und die uns den Transport größerer umfangreicher Stücke wegen ihrer Engigkeit und Gewundenheit oft sehr erschwerten. Nur an dem schon oben geschilderten freundlichern, hellern Ende war es auch in dieser Beziehung besser. Das war der Arbeitsplatz der Hundertzwanzig bis Hundertfünfzig, die hier ihr Tagewerk verrichteten, kahl, öde, schwarz, ohne eine Bequemlichkeit, durchtost von einem nie abbrechenden nervenzerreißenden Geräusch grell zusammenklingender Töne. Und doch lag über dem allen auch Adel und Poesie. Nicht nur, wenn von oben das Sonnenlicht hereinflutete und selbst den Schmutz und das Eisen verklärte, sondern auch wenn ein grauer Himmel das Kahle, Öde, Schwarze noch kahler, öder, schwärzer erscheinen ließ. Das war die Poesie eines grandiosen in einander greifenden Getriebes, das hier ruhelos und doch in gleichmäßiger Bewegung sich auswirkte, der Adel menschlicher Arbeit, die hier an einer einzigen Stelle von mehr als hundert Menschen im Kampfe ums Brot, um Leben und Genuß tagaus tagein gethan wird. In unserm Bau wie in der ganzen Fabrik waren ausschließlich männliche Personen beschäftigt, keine einzige Frau, kein Mädchen, kein Kind; im ganzen Betriebe gab es meines Wissens noch nicht ein halbes Dutzend Knaben zwischen dem dreizehnten und vierzehnten Lebensjahre und kaum ein paar Dutzend Lehrlinge von vierzehn bis siebzehn Jahren. Auch das gab unsrer Fabrik und unsrer Arbeiterschaft ein ganz bestimmtes Gepräge; mich hinderte es vor allem, über Frauen- und Kinderarbeit irgend welche persönlichen Erfahrungen zu sammeln. Gleichwohl war die Zusammensetzung unsrer Arbeiterschaft noch immer bunt genug, ein getreues Spiegelbild des Charakters unsrer gesamten großkapitalistischen Produktionsweise; die verschiedensten Berufe waren vertreten und in Thätigkeit, alte, von den Vätern, aus der Zeit der Zünfte her bewährte und berühmte, und junge, die die großen Erfindungen und die veränderten Bedürfnisse unsrer Tage neu geschaffen haben. Ich kann über ein Dutzend Handwerke aufzählen, die bei uns gebraucht wurden. Am zahlreichsten waren natürlich die Schlosser vertreten; dann folgten in abnehmender Reihenfolge etwa die Dreher, die Hobler, die Tischler, die Bohrer, die Stoßer, die Schmiede, Zimmerleute, Anstreicher, Riemer und Klempner. Dann aber jene Reihe neuer und Zwitterberufe: Anreißer, Aufreiber, Anhänger, Schmirgler, Räderschneider; dazu Maschinenwärter, Heizer, Packer, Transporteure, andre Handlanger jeder Art und Bestimmung -- denn auch unter ihnen herrscht die Arbeitsteilung --, Kutscher und Portier, eine bunte Kette, in der doch jedes Glied eine Notwendigkeit ist, um auch nur die kleinste Maschine fertig zu bringen: eine Form menschlicher Arbeitsgemeinschaft, so neu, originell, großartig, wie sie vergangene Zeiten wohl nie gekannt haben, der sichtbare Ausdruck der geistigen und wirtschaftlichen Umwälzung, die sich eben jetzt auf unsrer Erde vollzieht, und von der es sich eben in unsern Tagen entscheiden soll, ob sie der Menschheit zum Segen oder zum Fluche werden wird. Diese Arbeiterschar war selbstverständlich im einzelnen organisiert, voran die Schlosser. Ihre große Zahl war in Gruppen zu vier bis zehn Mann geteilt. Je ein Vorarbeiter, der sogenannte Monteur, leitete die gemeinsame Arbeit und dirigierte und kontrollierte den einzelnen. Hobler, Dreher, Tischler, Packer hatten ihre Meister; über allen stand der Schlossermeister, zugleich der Werkmeister des ganzen großen Raumes, in den wir gehörten. Er war gleichsam der Feldwebel dieser 120 Mann starken Arbeiterkompagnie, die übrigen Meister Vizefeldwebel und Sergeanten, die Monteure die Unteroffiziere, ihre Abteilungen, „Montagen“ genannt, die einzelnen Korporalschaften. Der Werkführer und die übrigen Meister waren den Direktoren, besonders dem technischen verantwortlich. Die Leitung im einzelnen hatten sie, je für ihre einzelnen Abteilungen, selbständig; in Fühlung mit ihnen überwachte der Schlossermeister den gesamten Arbeitsprozeß im Detail. Dieser +Arbeitsprozeß+ war schwer, kompliziert, langsam; aber er war keiner von denen, die den Menschen durch seine Einförmigkeit geistig, moralisch und physisch tot machen. Denn die Maschinenbauindustrie ist eine der höchst entwickelten Zweige der modernen Großindustrie und steht auch, was den sittlichen Einfluß ihres Arbeitsprozesses auf die dabei beschäftigte Arbeiterschaft anlangt, mit an erster Stelle. Das Folgende hat eben dies vor allem zu zeigen und zu würdigen. Der Arbeitsprozeß beginnt auf dem Tischlersaale. Eine große Maschine, etwa eine Hobelmaschine nach neustem System, ist bestellt worden. Die Konstruktions- und Berechnungsarbeiten der Techniker sind beendigt, die Zeichnungen dafür fertig. Da ist die nächste Arbeit die Anfertigung der Modelle für die einzelnen Teile der neuen Maschine. Dies geschah, wie gesagt, durch Tischler. Auch dabei wurde, wo es möglich war, mit Hilfe von Maschinen gearbeitet. Eine zwar bei der kleinsten Unvorsichtigkeit gefährliche aber zehnmal schneller und exakter als Menschenhand arbeitende Holzsäge-, und ebenso eine Holzhobelmaschine standen zum fortwährenden Gebrauche. Aber auf ihnen wurden doch nur die groben Stücke geschnitten; das übrige, bei weitem das meiste aus diesem Saale, war notwendig Handarbeit. Denn diese großen und kleinen Modellstücke hatten oft die wunderlichsten Formen, und ein jedes eine andre; sie mußten genau in der vorgeschriebenen Größe auf das genauste und dauerhaft ausgeführt werden. Wer hier arbeitete, mußte darum nicht nur geschickt sein, sondern auch denken können. Er mußte die Konstruktion der Maschine, deren Modellkörper er eben anfertigte, einigermaßen kennen; er mußte die Zeichnungen verstehn, die ihm die Maße und Formen für seine Arbeit angaben; er mußte Geschick und Gewandtheit besitzen, um aus möglichst wenig Brettern, Pflöckchen und Brettchen möglichst schnell, praktisch und gut die Formen zusammenzusetzen und zu gewinnen, die die Zeichnung für das betreffende Stück vorschrieb. Das Verhältnis zu seinem Meister beschränkte sich nicht nur auf eine disziplinarische Kontrolle jenes über ihn, sondern bestand notwendig auch in einem Austausch der Ansichten über die bestmögliche Herstellung der geforderten Körper. Dabei war dem einzelnen doch eine gewisse Selbständigkeit in der Ausführung gewahrt; und was er schaffte, war kein Teilstück, sondern ein in sich geschlossenes und wertvolles Ganze, das nach seinem Gebrauch in der Gießerei nicht weggeworfen, sondern dauernd der Modellsammlung der Fabrik einverleibt wurde. Eine gedanken- und charakterlos machende, rein mechanische Fabrikarbeit war also in diesem Teile der Fabrik ausgeschlossen. Auch war der Raum, in dem diese Leute nicht allzu zahlreich mit einander arbeiteten, wohl der beste in der ganzen Fabrik: groß, hoch, licht und luftig. Staub war freilich auch hier genug, wie immer in Tischlerwerkstätten mit ihren groben und feinen Sägespänen, und darum die Gesichtsfarbe auch dieser wie aller Tischler blaß. Die fertigen, meist rotangestrichenen Modelle wurden dann der benachbarten Gießerei zugestellt, die uns den sogenannten „Guß“ zu liefern pflegte. Wenn man ihn brachte, war es unsrer, der Handarbeiterkolonne Aufgabe, ihn abzuladen und zu wiegen, dann kam die sichtende Hand des Modellmeisters, dem auch die Modellsammlung unterstand, darüber. Sein erprobtes Auge unterschied leicht Charakter und Bestimmung der einzelnen rohen Stücke, die oft nur noch entfernte Ähnlichkeit mit ihrem saubern Modell aufzuweisen hatten, und jedes erhielt die besondre Chiffre, die nach der Sitte später die einzelnen fertigen Maschinen in dem Produktionsjournal der Fabrik führten. Dann wurden sämtliche Teile dem Monteur überwiesen, der mit dem Bau der betreffenden Maschine beauftragt worden war. Diese Überweisung geschieht nicht ohne Auswahl. Nicht jeder Monteur erhält jede beliebige Maschine zu bauen. Die Verteilung richtet sich im ganzen nach dem Dienstalter, der Erfahrung und dem Geschick des Mannes und der Größe seiner Gruppe. Jüngere und ungeübtere Monteure mit kleineren und weniger geschulten Abteilungen erhielten nur den Bau einfacherer und bekannterer Maschinen. Doch will ich nicht sagen, daß nicht Ausnahmen vorkamen. Für jede vollendete Maschine sind nämlich je nach deren Größe und Kompliziertheit sogenannte Prozente wie für die Direktoren, so für den Werkmeister und den Vorarbeiter in absteigender Höhe festgesetzt. Wer von letztern beim Meister gut stand, konnte hier natürlich leicht einmal bevorzugt werden und Maschinen zu bauen bekommen, die mehr Prozente abwarfen als andre. Doch habe ich selbst hierüber keine deutlichen Beobachtungen gemacht, es mir nur von Arbeitsgenossen erzählen lassen. Auch wird die Ausgabe mit dadurch geregelt, daß die einzelnen Vorarbeiter immer nur auf ganz bestimmte Maschinen eingearbeitet sind: der eine auf Hobelmaschinen und Kreissägen, der andre auf Bohrmaschinen und Drehbänke u. s. f. Gewöhnlich ist es so, daß immer zwei und mehr verschiedne Maschinen in derselben Abteilung im Bau begriffen sind -- was für den erziehlichen Charakter der Arbeit dieser Leute ein unendlich wichtiges, förderndes Moment ist. Denn dadurch wird auch in diesen Abteilungen die letzte Möglichkeit einer schablonenhaften Fabrikarbeit beseitigt. Aber die Veranlassung zu dieser Einrichtung liegt freilich nicht in dieser sittlichen Rücksicht, sondern in dem Charakter des ganzen Fabrikationsbetriebes. Diese Maßnahme ist nämlich notwendig, um die Schlosser überhaupt dauernd beschäftigen zu können. Denn mit dem aus der Hand des Modellmeisters überwiesenen groben Stücke, vermögen der beauftragte Monteur und seine Leute nur zum geringsten Teile schon etwas anzufangen. Ehe die Schlosser die letzte Hand anlegen und die Knaupelarbeit der Zusammensetzung der Maschinen beginnen können, gehen die meisten Stücke noch durch viele Hände. Zunächst kamen sie auf die Platte des Anreißers, eines der wichtigsten und angesehensten Arbeiters in unsrer Fabrik, durch seinen Beruf sowohl als durch seine Persönlichkeit. Der Mann hatte eine verantwortungsvolle Aufgabe. Er hatte nach den ihm vorliegenden, oft verwickelten Zeichnungen an den großen und kleinen Gußstücken mit Reißnadel und Grobzirkel alle Bohrungen, alle Hobelflächen, alle abzustoßenden Kanten und Ecken genau zu berechnen und zu bezeichnen. Von ihm hing es vor allem ab, ob schließlich die einzelnen Teile sich zusammenfügten und auf einander paßten, ob die ganze Maschine schließlich klappte. Macht auch hier langjährige Übung und allmähliche genaue Kenntnis der einzelnen Maschinen, ein praktischer Blick und eine geschickte Hand diese Thätigkeit leichter und zu einer gewohnheitsmäßigen -- das eine steht doch fest, daß sie nie ohne die strikteste Aufmerksamkeit und ohne Gedankenarbeit gethan werden kann. Ich habe, wohl weil ich als der intelligenteste unter den Handarbeitern erschien, dem Anreißer sehr oft bei seiner Arbeit behilflich sein und ihm die eisernen Lineale, Schienen u. s. w. nachtragen, halten und stützen müssen; aber immer sah ich den Mann inmitten des dröhnenden Lärms, mit der Zeichnung vor sich, probierend, rechnend, schweigend seine Arbeit thun. Man ist in vielen Kreisen so wenig imstande, sich einen rechten Begriff von dem Charakter der Fabrikarbeit zu machen, ist so leicht geneigt, jede Fabrikarbeit als die durchschnittlich tiefststehende, einfachste und darum notwendig billigste Art menschlicher Thätigkeit anzusehen, daß ich es für meine Pflicht halte, an dieser Stelle vor diesem leichtfertigen Urteil zu warnen und auf die Arbeit dieses Mannes hinzuweisen, die meines Erachtens viel größere geistige und physische Kraft fordert und doch viel niedriger gelohnt ist, als z. B. die Thätigkeit vieler Subalternbeamten, Handlungsgehilfen, Kontoristen und andrer, die doch eine ganz andre gesellschaftliche Stellung und meist auch ein ganz andres Einkommen haben als dieser und andre ihm gleich zu ordnende Fabrikarbeiter. Ich stehe nicht an, es auszusprechen, daß mir die einseitige und in dem Grade, wie es geschieht, ja ohne weiteres falsche und lächerliche Betonung und Überschätzung der körperlichen, der Hand-, der Fabrikarbeit seitens der Sozialdemokraten auch in unsrer Fabrik eine ihrer begründeten Ursachen in dieser bisher sehr häufigen Nichtachtung und Verkennung solcher und ähnlicher Fabrikarbeiter, deren es viele giebt, zu haben scheint. Es ist der Drang nach einer gerechteren sittlichen Würdigung und damit auch gesellschaftlichen Anerkennung dieser Berufe durch die Allgemeinheit, der hier wie in der ganzen modernen Arbeiterbewegung in elementarer und ungefüger Form zum Ausdruck kommt. Vom Anreißer hinweg brachten wir die Stücke je nach der Disposition ihrer Meister zu den Bohrern und Hoblern, Stoßern und Drehern. Bei den beiden ersten Kategorien finden wir das Gegenteil geistig anregender Fabrikarbeit. In selten unterbrochener Monotonie steht der Bohrer und der Hobler an seiner kleinen oder großen Arbeitsmaschine und läßt sie Löcher, immer Löcher bohren, Flächen, immer Flächen hobeln. Immer wieder sieht er den Stahlhobel die Flächen pflügen und glätten, den Bohrer wie spielend sich in das Gußeisen graben. Immer wieder führt er der erhitzten Stelle kühlendes Seifenwasser zu, immer wieder fegt er die groben Späne beiseite, bläst er die feinen mit dem Munde davon. Die einzige Thätigkeit, die dabei kurze Zeit ein wenig geistiges Nachdenken und Aufmerksamkeit fordert, ist das richtige Aufstellen der zu bohrenden und hobelnden Stücke. Die Löcher müssen nach der Vorschrift des Anreißers genau senkrecht, die Flächen genau wagerecht werden. Darum muß mit hölzernen Böcken, mit Brettern und Pflöckchen, mit Hammer und Wasserwage, mit eines oder mehrerer Handarbeiter Unterstützung die rechte, genaue und feste Lage für das Stück gefunden werden. Ist das aber geschehen, so beginnt zum millionenstenmale der Bohrer und Hobel seine Arbeit, zu der des Menschen Auge nichts weiter thun als immer nur zusehen und sie überwachen kann. Wunderlicherweise finden sich gerade unter diesen Leuten ebenso gut schwache wie die stärksten Verdiener. Der eine, ein Hobler, der die größten Flächen, und der andre, ein Bohrer, der mit der größten Maschine die gröbsten und längsten Löcher an den stärksten und oft viele Zentner schweren Hauptteilen zu arbeiten hatte, und die beide im Akkordlohn standen, sollten nach übereinstimmendem Urteile vieler Arbeitsgenossen das höchste Einkommen von allen Arbeitern unsers Baues, jedenfalls nicht unter 160-170 Mark im Monat haben, während z. B. der Anreißer die Stunde nur 29, höchstens 30 Pfennige, also in der Woche kaum 20 Mark verdienen sollte, und ebenso die anstrengende Arbeit der Durchschnittsschlosser und der Schmiede unvergleichlich niedriger gelohnt wurde. Bei dem sogenannten „großen Bohrer“ war das immer noch verständlicher als bei jenem Hobler, der mit Hilfe von uns Handarbeitern die Eisenteile auf die tadellose Platte seiner Hobelmaschine hob, sie nur einzurichten und festzumachen brauchte und dann den Dampf die manchmal halbe Tage lange Arbeit thun ließ. Im ganzen war wohl die Thätigkeit der Hobler langweiliger und bequemer als die der Bohrer. Und wieder unter diesen hatten es diejenigen leichter aber auch noch langweiliger, die an größern Maschinen standen. Wer dagegen eine kleine zu bedienen hatte, dessen Aufmerksamkeit war in ganz andrer Weise an den ewig rotierenden Stahl gefesselt. Denn auf solchen Maschinen konnten ja nur enge und kurze Löcher, dünne Flächen und kleine Stücke gebohrt werden; diese festzuschrauben war unmöglich; hier hatte die Hand des Mannes sicher und stark zuzugreifen, hier hatte das Auge schärfer und schneller zu beobachten, hier hatte die Lunge unausgesetzt feinen Eisenstaub zu atmen. Und doch hatten gerade diese Leute von allen Bohrern -- wenn ich recht berichtet bin -- den niedrigsten Verdienst, waren freilich auch durchschnittlich jünger als die andern. Wieder anders lag die Arbeit der Stoßer und Dreher. Beide Arbeitsarten, so verschieden sie im einzelnen auch von einander sind, sind sich darin gleich, daß sie dem Manne, der an der Drehbank oder Stoßmaschine steht, wieder größere Selbständigkeit und Selbstthätigkeit ermöglichen. Der Stoßer, der an meist schon glatt und blank gefeilten Stücken Flächen, Ecken, Kanten bald geradlinig bald kurven- oder kreisförmig abzustoßen hat, muß genau die vorgezeichnete Linie einhalten. Das zwingt ihn, so wie er die Maschine in Bewegung setzt, mit unausgesetzter Aufmerksamkeit in halbgebückter Stellung ihren Gang zu überwachen und zu dirigieren. Ganz ebenso der Dreher, dessen Aufgabe es ist, Bolzen, Wellen, Kurbeln und Hebel so zu kürzen, zu formen, so mit Nuten, Rissen, Einschnitten und Spitzen zu versehen, daß sie für die neue Maschine sofort verwendbar sind, jedenfalls aber nur noch geringer Nachhilfe durch die Schlosserfeile bedürfen. Aber ein großer Übelstand ist auch diesen Arbeiten wie denjenigen der Bohrer und Hobler gemeinsam: alles ist nur Teilarbeit. Nie schafft der Bohrer, der Hobler, der Stoßer, der Dreher ein zum Verkauf fertiges, geschweige zusammengesetztes, vollkommenes Produkt; es ist kein organisches Ganze, weder wenn er es unter die Hände bekommt, noch wenn er es aus den Händen giebt. Es ist immer trauriges Stückwerk. Man unterschätze dieses Faktum nicht, dessen üble Folgen, wie wir sehen werden, nur zum Teil wieder aufgehoben werden. Es ist hierauf die Beobachtung zurückzuführen, die ich immer machte, daß gerade unter dieser Berufsgruppe jene Züge häufiger hervortraten, auf die man fälschlicherweise als das bestimmende Charakteristikum des modernen deutschen Durchschnittsfabrikarbeiters so gern mit Entrüstung hinweist: gedankenlose Oberflächlichkeit und sittliche Unreife. Als eine geradezu bedauernswerte Arbeit aber erschien mir immer die der Aufreiber, zweier schon älterer Männer, die tagaus tagein von morgens 6 bis abends 6 Uhr nichts andres zu thun hatten, als die von den Maschinen roh gebohrten Löcher fein, sauber, glatt nachzubohren -- alles mit der Hand, im ewigen Einerlei. Wo ist da noch Schaffensfreudigkeit, innere Befriedigung, geistiges Streben, sittliche Charakterbildung möglich? Im vollen Gegensatz hierzu stand die Thätigkeit unsrer Schlosser. Wenn alles, wie die Zeichnung es forderte, gebohrt, gehobelt, gestoßen, geschnitten und gedreht war, wenn die Schrauben, Muttern, Bolzen und Einsatzstücke geglüht und gehärtet, wenn die wenigen schmiedeeisernen und messingnen Teile beisammen waren, begann ihre Arbeit, der eigentliche Bau der Maschine. Unter der Leitung ihres Monteurs, immer die Zeichnung vor Augen, die Feile, den Hammer, den Meißel in der Hand, wurde ein Stück auf und in das andre gefügt, häufig nicht ohne größte Mühe. Denn nur in den seltensten Fällen paßten die Teile sofort zu einander; meist konnte gar nicht von jenen andern Arbeitern mit der Akkuratesse und Genauigkeit vorgearbeitet werden, die das allein ermöglicht hätte. Überall gab es darum nachzuhelfen, zehnmal zu probieren, zehnmal die Sache auseinanderzunehmen, um sie auch das elfte und zwölfte mal noch vergeblich zusammenzupassen. Die glatten Flächen, die, nur rauh gehobelt, aufeinander zu laufen bestimmt waren, mußten -- eine schwere Mühe -- mit Glassand, Öl und Eisenstaub so lange eingeschmirgelt werden, bis sie dicht und fest aufeinander schlossen und doch glatt und leicht funktionierten. Zu dieser gefürchteten Arbeit wurden wir Handarbeiter mit Vorliebe herangezogen. Dann mußten rauhe Stellen abgeputzt, große Scheiben auf eiserne Wellen gekeilt, mit dem Handbohrer die der Maschine unzugänglichen Löcher gebohrt, Gewinde geschnitten, Bolzen und andre Stücke eingesetzt werden. Alles oft in der unmöglichsten Lage: hoch auf der Leiter, gebückt, knieend, kauernd, liegend auf dem Rücken oder auf dem Bauche. Mitunter, wenn es gar nicht klappte, wurde der oder jener Maschinenarbeiter, der Bohrer, Stoßer, Dreher herangeholt und nicht gerade in der zärtlichsten Weise von der von ihm verschuldeten fatalen Situation unterrichtet, ab und zu ihm auch das eine oder andre Stück zur Verbesserung zurückgegeben. Aber allmählich wurde es doch; man sah die Maschine wachsen, bis endlich die letzte Schraube angezogen war, und das Ganze fix und fertig da stand. Dann folgten, wenn möglich an Ort und Stelle, die ersten rohen Versuche, die neue Maschine in Gang zu setzen, und endlich, wieder durch uns Handarbeiter, ihr Transport auf den Probiersaal. Auch hier waren Schlosser und Monteure stationiert, und ein andres Stück Arbeit begann. Denn nicht sofort arbeitete die neue Maschine. Viele male wurde versucht, der Gang genau beobachtet, die kleinsten Störungen bemerkt, ihre Ursachen beseitigt, hie und da nachgeholfen -- bis endlich eine tadellose Funktionierung des neuen Werkes erreicht war. Dann noch eine letzte Hauptprobe vor dem Direktor, dem Werkführer und dem Monteur, der sie gebaut hatte, und sie wurde den Händen der Lackierer überantwortet, die dem schwarzen Ungetüm ein freundliches, glänzendes Gewand gaben, und von denen die Packer als die letzten sie in Empfang nahmen. So viel schwieriger und langwieriger diese Arbeit der Schlosser auch war, so viel höher muß eine ethische Würdigung sie über diejenige der Maschinenarbeiter stellen. Dort ist Schablone, hier Freiheit. Dort ewige Teilarbeit, hier organisch fortschreitende Thätigkeit, deren Produkt zuletzt ein geschlossenes Ganzes darstellte. Wohl kommt auch hier mancher öde Auftrag zwischen hinein, manche Stunde langweiligen Feilens, Meißelns, Bohrens; aber das ist nicht die Regel, und es dient der andern gehaltvollern Arbeit und bringt, vollendet, erfreulichen Fortschritt. Es erregte wirklich Freude und Befriedigung, wenn nach langem, mühsamem Probieren das bearbeitete Stück endlich saß, die Welle gleichmäßig im Lager lief, der Hebel leicht arbeitete, die Flächen fest aufeinander schlossen. Wie oft habe ich solche Freude an jungen und alten Schlossern beobachtet, wenn sie es mir, sobald ich davon sprach, auch nicht immer eingestehen wollten. Daß immer in derselben Gruppe mehrere Maschinen zu gleicher Zeit in Arbeit und in verschiednen Stadien ihrer Vollendung begriffen sind, war, wie gesagt, nur eine neue Ursache, das Interesse an der Arbeit zu vermehren. Denn wenn der Mann, je nach dem Stande der Vorarbeiten, ein paar Tage an dieser Maschine, dann einige Stunden an jener, wieder einen Nachmittag an einer dritten zu arbeiten hatte, so zwang ihn das zu doppelter und dreifacher Aufmerksamkeit, bei der Sache zu sein, die in Arbeit befindlichen Teile nicht zu verwechseln und die ganzen Maschinen miteinander zu vergleichen. Und das ist so förderlich und bedeutsam, daß dadurch auch das sonst so nachteilige Prinzip der Arbeitsteilung, das selbstverständlich innerhalb der Montagen ebenfalls im Schwange ist, für den einzelnen Mann seine schlimmen Folgen fast völlig verliert. So geht aus allem hervor, daß für den ethischen Charakter der Arbeit unsrer Schlosser, ebenso wie der Tischler, der großkapitalistische Fabrikbetrieb nicht nur nicht schädlich war, sondern geradezu einen Fortschritt bedeutete. Denn er hob beide Berufe über die handwerksmäßige, beschränktere Art des kleinmeisterlichen Betriebes zu höhern Aufgaben empor und machte sie der eigentlichen Kunstschlosserei und Kunsttischlerei nahe verwandt. Auf andre, gleich alte und ehrwürdige Handwerker hatte dagegen derselbe Betrieb die gerade entgegengesetzte Wirkung. Berufe, wie die der Maler, Sattler, Schmiede, Klempner und Zimmerleute, waren in unsrer Fabrik zu bloßen Hilfsberufen degradiert. In andern Fabriken werden es wieder andre, vielleicht gerade die der Schlosser und Tischler sein -- das wird sich je nach dem richten, was produziert wird. Jedenfalls aber gilt nach meinen Erfahrungen für sie alle dasselbe, was oben über den sittlichen Wert der Arbeit der Stoßer, Bohrer, Dreher und Hobler gesagt worden ist. Auch für sie gab es im ganzen nichts als langweilige, unbefriedigende Flick- und Teilarbeit. Die Maler hatten bei uns immer nur die Maschinen mit derselben graugrünen Fabrikfarbe zu lackieren, die Schmiede immer nur einzelne meist sehr einfache schmiedeeiserne Stücke und sonst ebenso wie der Klempner nur Reparaturarbeiten zu liefern, die Sattler immer nur Treibriemen in die gewünschte Länge umzuflicken, und die drei Zimmerleute standen ausschließlich dem Packmeister zur Verfügung, für den sie nichts als Kisten und Gestelle zur Verpackung der bestellten Maschinen zu nageln hatten. Freilich wurde -- und damit komme ich auf das Gesamturteil über die Arbeit in unsrer Fabrik -- bei ihnen wie bei jenen andern niederern Arbeitskategorien der Bohrer, Hobler, Schlosser und Dreher die schlimme Folge dieser Teilarbeit durch den Gesamtcharakter gerade unsers Arbeitsprozesses wesentlich gemildert und auch ihre Thätigkeit ethisch vertieft. Denn dieser Prozeß beruhte bei uns auf dem Prinzip der Arbeitsbeteiligung +aller+ an +demselben+ einen Arbeitsprodukte. Vom Meister und Monteur herab bis zum Packer und Transporteur, schaffte jeder einzelne mit an dem gleichen Objekt, an einem einzig sinnvollen Ganzen, dem komplizierten Kunstwerke einer Werkzeugmaschine. Damit aber blieb einmal das Bewußtsein gegenseitiger Unentbehrlichkeit und Verantwortung unter allen rege, und zweitens das Interesse auch des einfachsten Schablonenarbeiters und Handlangers an dem Ganzen lebendig. Denn jede einzelne Arbeitskategorie war für den Arbeitsprozeß notwendig, jede einzelne mit ihrem Pensum auf die prompte, akkurate und verständige Leistung der andern angewiesen. Man wußte genau, wieviel z. B. für die Schlosser darauf ankam, daß der Bohrer genau nach Vorschrift bohrte; man sah, wieviel Mühe es allemal kostete, Sachen, die einer verpfuscht hatte, wieder gut und brauchbar zu machen; und man fürchtete die berechtigten Vorwürfe und Klagen der Arbeitsgenossen, die einen in solchen Fällen zu unangenehmer Verantwortung zogen. So orientierte man sich lieber in zweifelhaften Fällen über Bestimmung und Zweck des Stückes und verrichtete auch die langweiligste Teilarbeit nicht ganz ohne Aufmerksamkeit und Überlegung und mit verständnisvoller Rücksicht auf die Zusammensetzung der ganzen Maschine. Und indem so fast jeder der 120 Mann an dem Gelingen fast jeder Maschine, die aus unsrer Werkstatt hervorging, seinen Anteil und sein Verdienst hatte, kam es, daß auch ein jeder, selbst der schlichte Handarbeiter, der Teile und Ganzes fünfzehn, zwanzigmal transportiert hatte, ihre Bezeichnung und allgemeine Konstruktion mehr oder weniger genau sich klar zu machen suchte, und daß der und jener, wenn das Kunstwerk fertig und zum erstenmal im Gange war, mit prüfendem Auge und innerer Befriedigung hinzutrat, um die Stücke zu suchen, die sein Hobel geglättet, sein Bohrer durchbrochen, sein Meißel getroffen, seine Hand mühsam hin und her geschleppt hatte. Wohl den meisten war der heilsame Einfluß dieses ganzen gemeinsamen Arbeitsprozesses nicht bewußt, aber er trat mir immer sofort deutlich vor die Augen, wenn mich der Zufall, die Neugierde oder ein Auftrag einmal in die Säle der Stickmaschinenfabrikation führte, in der ganz anders als bei uns die Thätigkeit vieler Arbeiter in allersimpelste Schablonenarbeit auseinanderfiel, ohne daß der Betriebsorganismus, den sie hatten, denselben Vorteil und Ersatz hätte bieten können wie der unsre. Hier gab es Arbeiten zu verrichten, von denen man mit Recht sagt, daß sie aller sittlich erziehenden Momente, wie sie die evangelische Auffassung der Arbeit fordert, bar sind, bei denen der Mann, selbst wenn er es wollte, gar nicht die Möglichkeit hatte, Streben, Sorgfalt, Fleiß zu beweisen, anzuwenden, was er gelernt hatte oder für gut hielt, wo er vielmehr willenlos, gedankenlos, kraftlos nur immer dasselbe Stahlblättchen an immer derselben Stelle durch immer dieselbe Handbewegung in immer demselben Tempo durchlochen zu lassen oder nichts als Maschen, immer Maschen zu zählen hatte, Tag um Tag und elf Stunden an jedem -- Arbeiten, die für einen strebsamen, vorwärtsdrängenden Mann in der That kein Gottesdienst mehr sind, sondern Höllenqual. Freilich auch in jenem andern Teile der Fabrik gab es solche Arbeiten noch nicht so massenhaft, wie wir sie in andern Industrien kennen, aber immerhin zahlreich und ausgeprägt genug, um den Kontrast gegen den Charakter unsers Arbeitsprozesses scharf hervortreten zu lassen, der bei allen vorhandenen Schwächen und Nachteilen doch wenigstens den einzelnen Mann nicht äußerlich und innerlich isolierte und ihn in eine rührige Arbeitsgemeinschaft hineinstellte, die ihn trug, erhob und ihm auch eine mühselige Teilarbeit erträglicher machte. Aber vor einem großen sittlichen Schaden behütet die Leute auch dieser so hochstehende Arbeitsprozeß nicht wie wohl überhaupt kein großindustrieller Betrieb in der heutigen Form der Organisation: nämlich vor einer gewissen Unselbständigkeit des Charakters, die immer da eintritt, wo der Arbeiter nicht imstande ist, über sein Arbeitsprodukt auf dem Markte frei zu verfügen. Es fehlt ihm, was auch der einfache Handwerksmeister noch besitzt oder doch bis vor Jahrzehnten besessen hat, die persönliche Verantwortlichkeit für die Verwertung und den Vertrieb seiner Produkte. Der Arbeiter in der Fabrik, auch in der unsern, stellt die ihm aufgetragene Arbeit her; aber in dem Moment, wo er sie dem Monteur, dem Meister, dem Direktor abliefert, hat er kein Verfügungsrecht und nicht den geringsten Anspruch mehr darauf; sie existiert nicht mehr für ihn, wie er nicht für den wirtschaftlichen Markt, auf dem sie zum Verkauf kommt. Hierin befindet sich jeder großindustrielle Fabrikarbeiter, mag er noch so tüchtig und alt sein, immer und ewig auf dem Niveau des frühern Handwerks+gesellen+; darin liegt die Ursache der dauernden schülerhaften Abhängigkeit von dem Leiter der Fabrik, der an seiner Stelle seine Arbeit auf den Markt bringt und für ihn das Risiko des Verkaufs übernimmt, damit zugleich aber für ihn einen der wichtigsten Faktoren beseitigt, durch den auch die schlechteste Berufsarbeit eines Mannes noch anregend und interessant und das Haupterziehungsmittel eines geschlossenen Charakters, einer befriedigenden, ihres Lebenszieles klaren Persönlichkeit wird. Es fehlen die Sorgen um die Verwertung seiner Arbeiten, die Freude daran, wenn sie gelungen ist, der Stachel und Ehrgeiz, die rechten und besten Wege für ihren Absatz zu finden. Gerade das aber reift, klärt, stählt den Willen, den Charakter, die geistige Fähigkeit des Mannes, macht ihn erst zu eineeinem ganzen Manne. Jetzt aber ist an diese Stelle, wie gesagt, die schülerhafte Abhängigkeit getreten, die nicht sich, sondern immer einem Höhergestellten und immer nur diesem Einzigen verantwortlich ist; gegenüber seiner Gunst sind Geschick und Glück, gegenüber seinem Willen und Machtwort, seiner Anordnung und Verfügung ist der eigne gute Wille, ist die eigne, selbst die größte Geschicklichkeit minderwertig, und das Selbstbestimmungsrecht im Beruf und der künftigen Existenz jetzt null und nichtig. So ist es nur natürlich, daß der Arbeiter sich mit andern bald gleichgiltigen nebensächlichen, kindischen Dingen, bald wieder mit zu schwierigen, seinem Fassungsvermögen fernabliegenden Problemen zu beschäftigen oder sich ins Vergnügen oder politische Radauleben zu stürzen sucht. Jedenfalls aber macht es ihn unnormal und prägt seinem Charakter den Stempel innerlicher Unfertigkeit auf, den ich auch an meinen Arbeitsgenossen zum Schaden für ihre sittliche Lebensführung bemerkt habe. Und also beseitigt, wie sich mir dies bei uns deutlich und täglich zeigte, der großkapitalistische Fabrikbetrieb selbst gerade das, was heutzutage noch eine große Majorität zu Verfechtern des individualistischen Wirtschaftssystems macht, die Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Berufsarbeiters, seine männliche Selbständigkeit vor der Öffentlichkeit des Wirtschaftslebens, die Möglichkeit des persönlichen Risikos, die Freiheit der Produktion und der Selbstgestaltung der eignen Zukunft und damit edeln Ehrgeiz und starkes Streben. Und diese verhängnisvolle, im technischen Großbetriebe notwendig wurzelnde Wirkung wurde durch die +Arbeitsordnung+ noch vermehrt, die bei uns in Geltung war. Diese im Folgenden darzustellen, ist meine nächste Aufgabe. Sie war, nebenbei bemerkt, in einem Büchelchen von dreizehn Oktavseiten im Druck erschienen und wurde jedem in die Fabrik neu eintretenden Arbeiter eingehändigt unter der Bedingung der Zurückgabe beim Austritt aus der Fabrik. Ich beginne der Vollständigkeit wegen mit der Arbeitszeit, deren schon früher erwähnt worden war. Sie dauerte also von früh 6 Uhr bis mittags 12 Uhr, und von 1 bis 6 Uhr nachmittags. Montags, oder überhaupt an jedem ersten Arbeitstage einer neuen Woche erfolgte der Beginn morgens eine Stunde später, erst um 7 Uhr, eine von allen dankbar empfundene Erleichterung, für viele, namentlich junge Leute, die des Sonntags sich austollten, die Sonntagabend bis 12 Uhr auf dem Tanzboden und den Rest der Nacht oft bei ihren Mädchen zubrachten, die Möglichkeit, nun wenigstens ein paar Stunden noch schlafen zu können und nicht ganz übernächtig und kraftlos die Arbeit der neuen Woche anzutreten. Auch am Sonnabend war eine Stunde gestrichen. Da wurde schon um 5 Uhr nachmittags Feierabend gemacht. Sonst fand eine Unterbrechung dieser Arbeitszeit nur am Vormittag zwischen 8 und 8,20 Uhr statt, wo das Frühstück, das ich bereits schilderte, genommen wurde; die Nachmittagsvesperpause war beseitigt, um die Leute schon 6 Uhr nach Hause schicken zu können. Abweichungen von dieser Arbeitszeit fanden, so lange ich der Fabrik angehörte, nicht statt. Doch war in dieser Zeit mehrmals unter den Arbeitsgenossen von in Aussicht stehenden Überstunden die Rede, wenn die Nachricht von neuen umfangreichen Maschinenbestellungen, die gemacht seien, aus dem Kontor in die Arbeitsräume drang. Solche Gerüchte wurden nie mit Befriedigung aufgenommen und kolportiert; denn in dem Falle, daß sie sich bewahrheiteten, traten zwei Absätze unsrer Fabrikordnung in Kraft, die +alle+ Arbeiter ohne Widerrede zur Übernahme solcher Überstunden bei dem gleichen Stunden- und Akkordlohne zwangen und folgendermaßen lauteten: „Abweichungen von der gewöhnlichen Arbeitszeit werden durch Anschlag bekannt gemacht“ und „Jeder Arbeiter ist verpflichtet, zu vereinbartem Lohne auch nach Feierabend zu arbeiten.“ Dagegen hing es vom freien Willen des einzelnen ab, Beschäftigungen an Feiertagen zu übernehmen. Auch sie fanden in meiner Anwesenheit in bemerkenswertem Umfange nicht statt; übrigens erschwerte sie auch das sächsische Gesetz über das Verbot der Sonntagsarbeit erheblich. Die Überstunden- und Sonntagsarbeit, die in jenen Sommermonaten vorkamen, beschränkten sich infolgedessen auf das geringe Maß der notwendigen Reparaturarbeiten und auf Hilfsdienste der einen Hälfte der Arbeiterschaft an einem Sonn- und Montage, an dem die jährliche Inventur stattfand. Hierzu wurden die Leute befohlen, zu jenem die verwendet, die sich freiwillig anboten. Nur einmal erlebte ich einen Fall, in dem die angebliche Freiwilligkeit nackter Zwang war. Das war an einem Sonnabende, als vier Mann von uns dem Maschinenmeister zu einer plötzlichen, gründlichen Reinigung der einen großen Dampfmaschine zur Verfügung gestellt wurden. Ich gehörte zu den vieren und hatte an dem Abend gerade den Besuch einer wichtigen sozialdemokratischen Versammlung vor. Da aber die Sache, wie der Meister schlauerweise vorgab, nur eine Stunde dauern sollte, trat ich mit an. Doch zeigte sich sofort, daß die Arbeit dreimal länger währen würde. Eine Stunde machte ich mit, dann bat ich, mich zu entlassen, und nur mit der allergrößten Mühe erreichte ich mein Ziel. An meine Stelle wurde ein Bohrer kommandiert, der um diese Zeit mit sechs andern vom Kehren und Aufräumen des Fabrikraums kam, das allsonnabendlich von diesen sieben Freiwilligen besorgt wurde. Er hatte nicht die geringste Lust, mein Nachfolger zu sein, dennoch blieb er. „Was will man machen?“ sagte er. „Man kann es ja doch nicht mit dem Meister verderben.“ Übrigens fanden jene schon genannten sonntäglichen Reparaturarbeiten, wenn sie sich nötig machten, immer während des Vormittags und des Gottesdienstes statt. Die beiden einzigen aber, die ohne Unterbrechung an jedem Sonntagvormittage kontraktlich vorgeschriebene, vom Betrieb notwendig geforderte Arbeit zu thun hatten, waren die beiden Maschinenwärter, die ihre Maschinen nur in diesen Stunden putzen konnten, in denen sie außer Gang waren. Unsre Arbeit wurde uns teils durch Stunden- teils durch Akkordlöhne bezahlt, deren Höhe meist beim Eintritt in die Fabrik gewöhnlich vom Meister, selten durch den Direktor selbst bestimmt zu werden pflegte. Der Stundenlohn überwog in unsrer Abteilung. Jenen verderblichen Gruppenlohn aber, bei dem ein oft ganz ungeschickter und gar nicht berufsmäßig vorgebildeter, nur äußerlich gewandter und geschmeidiger sogenannter Akkordmeister für die Herstellung einer Maschine oder eines andern Produktes eine bestimmte Summe erhält, von der er nun die ihm zugewiesenen und von ihm nur beaufsichtigten, nicht einmal bei der Arbeit unterstützten Arbeiter häufig so zu lohnen pflegt, daß ihm der Löwenanteil der Summe zufällt, also mit nackten Worten das englische Schwitzsystem in deutschem Gewande, gab es meines Wissens bei uns glücklicherweise gar nicht. Und ein Widerwille gegen den Akkordlohn war auch nicht, höchstens bei einigen sozialdemokratischen Prinzipienreitern, vorhanden, wäre in unserm Falle auch die reinste Thorheit gewesen. Denn die große Gefahr, die die Akkordarbeit in sich birgt, und die sie auch, wie mir von Arbeitsgenossen erzählt wurde, thatsächlich in einer der andern großen Chemnitzer Maschinenfabriken haben sollte, daß die Arbeiter während der ganzen langen Arbeitszeit durch das Akkordlohnsystem bis aufs Blut angestrengt würden, wurde bei uns durch das glücklich gewählte nicht zu langsame und nicht zu schnelle Arbeitstempo vermieden, das in der ganzen Fabrik herrschte und seinerseits viel dazu beitrug, daß auch die nüchternste Teilarbeit erträglich wurde. Ohne daß gebummelt und gefaulenzt wurde, war doch dem Einzelnen einigermaßen so viel Freiheit und Spielraum gelassen, daß er sich in dieser Stunde einmal nach seinen zufälligen Bedürfnissen etwas Zeit nehmen konnte, um es in einer andern bessern Stunde wieder nachzuholen. Und das galt noch viel mehr gerade von den in Akkordlohn stehenden als von der andern Lohngruppe. Ich weiß, daß ein paar Stoßer, die sehr gute Verdiener waren, in der ersten Hälfte der vierzehntägigen Lohnperiode fast nur mit Auswahl und nach Belieben an ihrer Maschine fleißig waren und sich erst in der zweiten Hälfte recht ins Zeug legten. Von andern, die im Stundenlohn arbeiteten, wurden diese Akkordlöhner fast immer beneidet; ein Bohrer hatte es zu seiner großen Befriedigung und seinem pekuniären Vorteil noch kurz vor meinem Eintritt in die Fabrik durchgesetzt, daß er künftig im Akkordlohn beschäftigt wurde, was mir andre später noch mehrmals ostentativ erzählten. Und ein gewandter, mir befreundeter Schlosser klagte mir mehrmals über die Langweiligkeit seines Stundenlohnes und sehnte sich herzlich nach Arbeit im Akkordlohn, da man da mehr Abwechslung im Verdienen und auch Aussicht auf mehr Verdienst hätte. Daß die Auszahlung der Löhne aller vierzehn Tage stattfand, sagte ich bereits. In der Fabrikordnung war die Bestimmung so formuliert: Die Berechnung der Löhne erfolgt nach Arbeitsstunden oder nach im +Voraus+ durch schriftliche Verträge (Akkordzettel oder Eintragung in das Akkordbuch) vereinbarten Akkordsätzen. Eine +Löhnungsperiode+ erstreckt sich, so lange sich nicht eine andre Anordnung notwendig macht, vom Sonnabend der einen Woche bis zum Freitag einschließlich der übernächstfolgenden Woche. Die Lohnauszahlung erfolgt an dem der betreffenden Lohnperiode folgenden Freitage abends 6 Uhr 20 Minuten. Von den Löhnen werden die Beiträge zur Krankenkasse, event. Strafgelder und zu leistender Schadenersatz, sowie Kautionszahlungen in Abzug gebracht. Aus dem letzten dieser drei Abschnitte geht hervor, daß von jedem Arbeiter immer der Lohn seiner ersten Arbeitswoche, die er nach Eintritt in den Fabrikverband zurücklegte, von der Direktion innebehalten wurde. So zwar, daß, wenn einer an dem einem Lohntage folgenden Sonnabend in Arbeit trat, er nach den ersten vierzehn Tagen nur den Verdienst einer Woche ausgezahlt erhielt und erst dann regelmäßig seinen vierzehntägigen Lohn empfing. Das hatte seinen Grund nicht in irgend welcher schlechten, hinterlistigen Absicht der Fabrikleitung, etwa um dadurch die Möglichkeiten von Streiks zu verhindern; ich sagte schon, daß es bei uns keine Kündigungsfrist gab und damit auch niemals die Gefahr eines Kontraktbruches eintrat. Vielmehr wollte die Direktion wohl den Leuten, wenn sie die Fabrik aus irgend einem Grunde verließen, etwas Geld in die Hand geben, sodaß sie mit geringerer Sorge und ohne Not für die nächste Woche sich unterdes neue Arbeit zu suchen in der Lage waren. Das wurde von allen nüchtern denkenden Arbeitsgenossen, mit denen ich mich darüber unterhielt, auch dankbar anerkannt, wenngleich sie in der ersten Zeit den durch jenes gezwungene Sparsystem hervorgerufenen Ausfall an Verdienst schmerzlich und oft mit Opfern entbehrten. Aber in diesem Falle wurde immer auch vom Meister durch Auszahlung eines Vorschusses ausgeholfen, dessen Betrag langsam und allmählich an den spätern Lohnterminen wieder abgezogen wurde. Ich habe das öfter zu beobachten Gelegenheit gehabt und bin selbst in den ersten Tagen meiner Anwesenheit in der Fabrik von den vielen Arbeitsgenossen, die es gut mit mir Neuling meinten und mich in der üblichen bedrängten Lage wähnen mußten, aufgefordert worden, mir ohne Gêne auch solch einen Vorschuß beim Meister zu holen. Für andre Fälle freilich existierte in der Arbeitsordnung über Vorschußzahlungen folgender mit Recht ziemlich strenger Passus: Die Zahlung von Vorschüssen findet nur ganz ausnahmsweise und nach freiem Ermessen der Direktion statt. Und für länger andauernde Akkordarbeiten galt dieser Abschnitt: Die Auszahlung von Akkordlöhnen erfolgt nur, wenn die Vollendung und ordnungsgemäße Ausführung der betreffenden Arbeit vom vorgesetzten Meister im Akkordbuche bez. auf dem Akkordzettel, welcher dazu abzugeben ist, bestätigt worden ist. Auf rechtzeitiges, d. h. vor Schluß der Lohnperiode gestelltes Verlangen werden entsprechende Akkordvorschüsse gewährt. Akkordarbeiten, die nicht innerhalb zwei Monaten, vom Tage des Akkordabschlusses an gerechnet, zur Vollendung und Verrechnung kommen, werden nicht bezahlt, wenn nicht vor Ablauf dieser Zeit die Verlängerung des Akkordvertrages von der Direktion ausdrücklich gebilligt worden ist. Allgemeine Sitte war es, daß alljährlich zum Chemnitzer Jahrmarkt, einem Montage, an dem übrigens auch nicht gearbeitet wurde, laut Anschlages jedem auf Verlangen nach Schluß der Arbeit ein Vorschuß in der Höhe bis zu zehn Mark gewährt wurde; früher wohl eine sehr vernünftige Maßregel, die aber jetzt überflüssig geworden ist, seit die Jahrmärkte sich überlebt haben, und man die Waren in den Läden der Stadt, die man noch dazu besser kennt, ebenso billig und gut oder gar noch billiger und besser zu kaufen imstande ist. Sehr viele der Arbeitsgenossen wußten das auch sehr wohl und sprachen es geradezu aus; dennoch holte sich die große Mehrzahl von ihnen seine zehn Mark, um den dadurch entstandenen Ausfall am nächsten Lohntag, desto schmerzlicher zu vermissen. Ich muß sagen, daß dieser kleine Zug mir kein sehr günstiges Licht auf die wirtschaftliche Fähigkeit der Leute warf. Die allvierzehntäglich wiederkehrende Stunde der Lohnauszahlung war für alle ein sehnlichst erwarteter, festlicher Termin. An dem Nachmittag, der ihr vorausging, wurde nicht allzu eifrig gearbeitet, und wenn es sechs Uhr schlug, war im Nu unser ganzer Bau leer, und die Schar drüben im andern Gebäude, wo in zwei der Fabriksäle die wichtige Handlung vor sich ging, schnell und einfach genug. Ein Meister rief in alphabetischer Reihenfolge die Namen der Leute. Auf deren „Hier“ übergab ein andrer ihm eine Blechkapsel, in der die Lohnrechnung und das Geld in runder Summe lag. Ein Blick, und man hatte die Richtigkeit der Rechnung geprüft, ein Griff, und die leere Büchse wanderte in einen am Wege stehenden Korb. Wir bekamen nie die Bruchteile einer Mark ausgezahlt. Hatte einer z. B. 29 Mark 97 Pfennige verdient, so erhielt er immer nur die 29 Mark ausgehändigt. Die 97 Pfennige wurden ihm gut geschrieben und in das nächste Lohnkonto mit verrechnet. Damit waren die Leute auch wohl zufrieden. Für mich war die ganze Szene immer besonders reizvoll. Sie bot dem Auge ein packendes Bild. Im Halbkreis stehen die rußigen Gestalten um die zwei Meister, im Arbeitskleide, den Hut auf dem Kopfe, den Blechkrug in der Hand, dicht gedrängt. Alte und junge durcheinander, die einen sich neckend, andre gleichgiltig wartend, andre mit finsterm, gespanntem Auge den ausrufenden Meister fixierend, bis ihr Name erklingt, und sie ihr „Hier“ antworten können, ihr Arm sich vorstrecken und das Sauerverdiente empfangen darf. Dazu im Hintergrunde der Szene die großen Maschinen, die wie im Schlafe stumm, unbeweglich daliegen nach dem rastlosen Getriebe des Tages, an sie gelehnt da und dort ein Mann, der prüfend, und bald lächelnd bald enttäuscht den Inhalt seiner Büchse mustert. Und über allem das Abendrot der untergehenden Sonne, deren letzte flimmernde Strahlen durch die blinden Scheiben der hohen Fabrikfenster brechen. Strafen, und zwar fast ausschließlich Geldstrafen, waren in unsrer Fabrikordnung reichlich und doch -- ich kann das wohl sagen -- meist in gerechter und praktischer Beurteilung der Verhältnisse ausgesetzt. Die höchste betrug 2 Mark, die niedrigste 20 Pfennige. Jene trat ein, wenn einer beim Rauchen oder Schnapstrinken innerhalb der Fabrik oder bei mißbräuchlicher Benutzung der elektrischen Signalglocken ertappt wurde, letztere lag auf unpünktlichem Beginn der Arbeit. Die hohe Strafe auf das Schnapstrinken und den Mißbrauch der elektrischen Glocken, die in beiden Fällen eventuell auch auf sofortige Entlassung erhöht werden konnte, war durchaus gerechtfertigt, und ihre Höhe war die Ursache, daß sie nur selten in Anwendung zu kommen brauchte. Es wurde in der That fast kein Schnaps innerhalb der Fabrik und während der Arbeit getrunken. Ausnahmen machten nur einige wenige notorische Säufer und ein paar ältere treue Leute, die sich des Morgens ihr sogenanntes „Püllchen,“ eine kleine Flasche, die kaum 3 bis 4 Schnapsgläschen faßte, gefüllt mitbrachten und dies im Laufe des sechsstündigen Vormittags schluckweise als Erquickung und Delikatesse zu sich nahmen, also eine durchaus harmlose und ungefährliche Überschreitung des Verbotes. Die Strafe, die am häufigsten in Anwendung kam, war die wegen Zuspätkommens. Mit Schlag 6 Uhr früh, und Schlag 1 Uhr mittags schloß der Portier, der den Ein- und Ausgang der Leute zu kontrollieren hatte, das Thor, oft so, daß er den Heranjagenden das Gitter vor der Nase zuschlug. So kam es, daß mitunter zehn und zwanzig auf einmal ausgesperrt wurden. Denn bei den Entfernungen, die die Leute zur Fabrik zurückzulegen hatten, war die Verspätung um 1 bis 2 Minuten leicht möglich. Verspätungen von mehr als 10 Minuten wurden, eine allzuhohe Strafe, mit 50 Pfennigen geahndet. Das war mehr als das Verdienst einer Stunde, für manche, wie für mich, sogar das von 2 und 2½ Stunden. In solchem Falle, der übrigens nicht sehr häufig vorkam, zog man es vor, lieber zwei ganze Stunden später zu erscheinen und sich dann persönlich beim Werkmeister zu entschuldigen, worauf jene Strafe wegfiel und nur der Satz für die fehlenden Stunden am Lohne abgezogen wurde. Eine gleich hohe Strafe von 50 Pfennigen lag auf Bummelei bei der Arbeit oder auf unnötigem Verlassen des Arbeitsplatzes, eine an sich ebenfalls notwendige Bestimmung, die auch nur in den seltensten Fällen in Anwendung kam, obwohl sie wohl häufig übertreten wurde. Die Meister waren klug genug, nicht hinzusehen. Ich habe nur einen Fall mit erlebt, an dem ich selbst mit beteiligt war, wo sie in Kraft trat. Hier ertappte uns der Direktor selbst bei einem höchst anregenden Gespräch, das sich zwischen uns Arbeitern entsponnen hatte. Wir mußten alle mit 50 Pfennigen bluten. Ich muß sagen, daß ich dies Verfahren des Direktors nicht für ganz korrekt hielt. Denn es wurden Leute davon betroffen, die länger als ein Dutzend Jahre in der Fabrik und noch nie bestraft worden waren. Hier hätte die gute Führung in der Vergangenheit einige Rücksicht und Nachsicht gefordert, anstatt der unterschiedslosen militärisch gesetzlichen Strenge, die seitens des Direktors in Anwendung kam. Dann gab es Strafbestimmungen für Fahrlässigkeit bei der Arbeit, für unpünktliche Führung des Akkordtagebuches, für zweckwidrige Benutzung der Maschinen und Werkzeuge, böswillige Beschädigung derselben, Beschmutzung wertvoller Zeichnungen. Aber ich habe nirgends bemerkt, daß alle diese Bestimmungen jemals in Anwendung gekommen wären. Nur ein Umstand erregte die meines Erachtens auch gerechte Erbitterung der Leute: das war die Art, wie die aufgesammelten Strafgelder verwendet wurden. In der Fabrikordnung war darüber bestimmt, „daß sich die Direktion, soweit die Gelder von der Fabrik nicht als Schadenersatz beansprucht werden, das alleinige Dispositionsrecht darüber vorbehält.“ Kein Arbeiter wußte, wo das Geld hinkam. Man behauptete, daß die Gratifikationen, die an dem vorhergegangenen Weihnachten an ein paar Dutzend Leute für während der Festzeit geleistete Nebenarbeit gezahlt worden waren und große Freude unter diesen hervorgerufen hatten, aus jenen Geldern gewährt worden wäre: die Fabrikleitung hätte sich also ohne die geringsten eignen Opfer, auf Kosten der während des Jahres in Strafe genommenen Arbeiter bei einer Anzahl von Leuten populär und beliebt gemacht. Das war die allgemeine Ansicht, die unter der Hand kolportiert wurde und die sehr viel böses Blut machte. Man sollte in der That solche Dinge ernstlich vermeiden. Sie sind eine Saat ewigen Mißtrauens, Kleinigkeiten, die doch keine bleiben. Das beste ist immer, solche Strafgelder, abzüglich der von der Fabrik als Schadenersatz mit Recht beanspruchten, zu Gunsten aller Arbeiter und vor deren Augen, womöglich unter ihrer Mitwirkung zu verwenden. Die Betrachtungen, die ich über den Arbeitswechsel während meines Aufenthalts in der Fabrik gemacht habe, sind nur relativ zu verstehen und richtig nur unter dem Gesichtspunkte der damaligen allgemeinen wirtschaftlichen Lage zu würdigen. Sie stand, wie schon einmal gesagt, unter dem Eindruck hauptsächlich zweier allgemeiner Faktoren: der hinter uns liegenden Feier des 1. Mai und der in Aussicht stehenden MacKinley-Bill. Diese erhob sich wie ein drohendes Gespenst vor der Chemnitzer Industrie und drückte schon damals die Produktionsstimmung; jene war zwar in Chemnitz vollständig gescheitert, sodaß nach Zeitungsberichten im ganzen großen Orte überhaupt nur vier Mann gestreikt haben sollten, aber sie war doch die Ursache zur Bildung einer mächtigen Vereinigung der dortigen Eisenindustrie geworden, die nach jenem Rückschlag selbstverständlich jede Kampfregung niederhielt. Bei dieser Lage der Dinge war eine nennenswerte Neueinstellung von Arbeitskräften nicht möglich, wohl aber die Beseitigung unliebsamer Personen. Gleichwohl stand die Sache für die Maschinenfabrikarbeiter noch bedeutend besser als z. B. für die Weber. Bei uns fanden wenigstens keine umfangreichen Entlassungen statt, während dort immer mehr Menschen brotlos wurden. Als ich zuletzt im Vogtlande wanderte, traf ich einen Spinner aus Chemnitz, einen guten stillen Menschen, Familienvater, den ebenfalls das furchtbare Los der Arbeitslosigkeit getroffen hatte, und der in einem Tage die ungeheure Strecke von Chemnitz über Zwickau bis Crimmitschau nach Arbeit abgesucht hatte und nun am andern Tage müde und verzweifelnd den Weg zurück machte. Er zeigte mir seinen Entlassungsschein, auf dem die Bemerkung stand: Hat am 1. Mai ordnungsmäßig gearbeitet. Er erzählte leidenschaftslos, daß in Chemnitz bereits 1100 Familienväter brotlos seien -- damals jedenfalls eine viel zu hoch gegriffene Zahl, aber bezeichnend für die Stimmung und die Gerüchte, die zu der Zeit schon unter der dortigen Arbeiterbevölkerung umgingen. Unter all diesen Umständen war der Wechsel des Personals in unsrer Fabrik während meines Dortseins nur gering. Ich zähle aus der Erinnerung und den gemachten Notizen etwa sechzehn Wechsel verschiedenster Art zusammen, die in dem Bau, dem ich zugeteilt war, vorkamen, doch mag die Zahl nicht genau sein. Im einzelnen war es so, daß etwa neun Stellen sogleich nach ihrem Freiwerden wieder besetzt wurden, in zwei andern Fällen Plätze besetzt wurden, die aus irgend einem mir nicht bekannt gewordenen Grunde (wohl aus Mangel an Arbeit) eine Zeitlang frei gewesen waren, drei Plätze erhielten während meiner Zeit mehrere Inhaber, die sich binnen wenigen Tagen ablösten, zwei Stellen endlich waren, als ich ging, eben vakant geworden. Die leeren Plätze, die während meiner ganzen Zeit leer standen, ziehe ich nicht mit in diese Betrachtung. Krank oder verunglückt oder wegen häuslicher Verhältnisse für längere Zeit von der Arbeit abgehalten waren in dieser Zeit vier Mann. Ihre Plätze blieben unbesetzt; ihre nötige Arbeit besorgten andre Arbeitsgenossen. Sowie sie sich zurück meldeten, traten sie in die frühere Stelle ein. Unter den Wechselnden war ein Handarbeiter, zwei Dreher und der Rest Schlosser; die größere Hälfte von ihnen war verheiratet. Interessanter als diese trocknen Angaben ist es, den Ursachen nachzuforschen, die zum Austritt der Leute führten. Einige junge unverheiratete Schlosser gingen weg, nur um sich einmal zu verändern -- derselbe Grund, der auch einige meiner Bekannten aus der Herberge zu langer und hinterher schmerzlich empfundener Arbeitslosigkeit verurteilt hatte. Wieder zwei andre gingen weg, weil sie beßre Stellen anderswo in Aussicht hatten, in die sie sofort einrücken konnten. Bei dem einen dieser beiden war ein wenig erfreulicher Vorgang in unsrer Fabrik der unmittelbare Anlaß, daß er sich eine andre Stelle suchte. Ich habe ihm freilich nicht persönlich beigewohnt und schildere ihn darum nur nach der Erzählung meiner Arbeitsgenossen. Ich weiß nicht, ob diese den Thatsachen entsprach; jedenfalls beweist sie, wie lebhaft alle in diesem Fall für ihren Arbeitsgenossen Partei nahmen, der ein zielbewußter Sozialdemokrat war, und wie tiefe Verstimmung die Geschichte unter ihnen allen hervorrief. Der Mann, um den es sich handelt, war ein Dreher, der 22 Jahre lang in unsrer Fabrik an derselben Maschine gestanden hatte. An einem Lohntage -- er arbeitete in Akkord -- war ihm ein in der That auffallend niedriger Lohn ausgezahlt worden. Er beschwerte sich, wohl in schroffer Weise, bei seinem Meister, einem äußerlich feinen Mann, über den ich sonst nicht habe klagen hören. Es kommt zu einem heftigen Wortwechsel, der sich auf dem Kontor auch mit dem Direktor fortsetzt, worauf der Mann kündigt. Als er -- immer nach der Erzählung seines jugendlichen etwa 20jährigen Neffen, der, ein bescheidenes Kerlchen, in meiner Handarbeiterkolonne stand -- um seinen Entlassungsschein bittet, wird ihm ein mit +roter+ Tinte geschriebener übergeben. Darauf neuer Skandal, der erst dann mit dem Abgang des Mannes endet, als man den Gendarmen zu holen im Begriff ist. Den Schein hat der Mann auf dem Kontortische liegen lassen und hat, wohl als tüchtiger Arbeiter bekannt, ohne ihn gleich andern Tages in einer andern Fabrik lohnende Arbeit gefunden. Von Bedeutung ist vor allem der Eindruck, den dieser Vorgang auf die Zurückbleibenden machte. Viel und laut geredet wurde zwar nicht darüber, desto mehr im stillen von Mann zu Mann; die überzeugten Sozialdemokraten blickten in diesen Tagen besonders finster vor sich hin, andre zuckten nur die Achsel, für einige war es ein willkommener Anlaß, ihre Klatschsucht zu befriedigen, allen aber eine neue Warnung, vorsichtig zu sein. Ein andrer Schlosser trat aus und eine Woche darauf wieder in die Fabrik ein. Er hatte sich mit seinem Monteur gezankt, jähzornig sein Werkzeug hingeworfen und war davon gegangen. Da er, obgleich Süddeutscher und unverheiratet, ich weiß nicht aus was für Gründen in Chemnitz bleiben wollte, kam er, als er nirgendwo anders Arbeit fand, nach einigen Tagen zurück und bat den Meister wehmütig um abermalige Aufnahme. Der ließ ihn erst ein paar Tage zappeln, stellte ihn dann aber wirklich bei einem andern Monteur wieder ein. Aber der Mann hatte von diesem Moment an bei vielen unsrer Arbeitsgenossen alle Achtung und Beliebtheit verloren. Man rechnete es ihm geradezu zur Schande, daß er so zu Kreuze gekrochen war, und manche ignorierten ihn von diesem Augenblick an völlig. Der Monteur, unter dem er nun, und zwar mit Aufwendung allen Fleißes, arbeitete, war verständig genug, ihn diese „Charakterlosigkeit“ nicht auch seinerseits entgelten zu lassen und ihn, was unendlich leicht gewesen wäre, zu chikanieren. Aber ich weiß auch, wie sehr er sich dieser Unparteilichkeit als eines Besondern bewußt war. Für drei andre wieder war ihre gewohnheitsmäßige Lüderlichkeit die von den meisten verurteilte Ursache, daß sie schon nach den ersten acht Tagen einfach wieder wegblieben. Unter ihnen war einer, ein Regimentskamerad von mir, dessen Frau damals eben zum fünftenmale niedergekommen war, und der darum gleich am ersten Tage vom Meister Vorschuß erbat und wohl auch erhielt, uns andre, freilich ohne Erfolg, anzupumpen versuchte und dann auf einmal fort war, um, wie man sich nachher erzählte, kurze Zeit darauf mit drei andern fidel bei einer sonntäglichen Droschkenfahrt gesehen zu werden. Er und die zwei andern erregten den Abscheu und die Entrüstung aller meiner nähern Freunde, die alle ihr Verfahren laut oder schweigend verurteilten, ein Umstand, den ich zu beachten bitte. Jene drei gehörten zu der auch da unten nicht geachteten Sorte von Arbeitern, die nirgends lange aushält und das beste und jedenfalls sichere Material für die unterste Hefe unsers arbeitenden Volkes, das Proletariat im schlimmen Sinne abgiebt. Es ist hier der Ort, im Anschluß an das Gesagte einige allgemeinere Angaben über die Länge der Zeit zu machen, die die Hundertzwanzig, unter denen ich stand und ging, unsrer Fabrik angehörten, das Dienstalter, das sie bei uns hatten. Doch gebe ich auch hier ausdrücklich zu bedenken, daß sie auf Beobachtungen aus einer Zeit beruhen, deren Arbeitsbedingungen ich oben bereits angeführt habe. Trotzdem kann man wohl sagen, daß unsre Arbeiterschaft im großen und im ganzen äußerst stabil war. Wir hatten unter uns einen zahlreichen Stamm natürlich meist ältrer Leute, die oft schon jahrzehntelang dem Fabrikverbande angehörten, allerdings leider wohl nicht wegen der Aussicht auf wachsenden Verdienst, sondern wegen des alten guten Zuges der Seßhaftigkeit und Anhänglichkeit an die heimatliche Gegend, der noch auffallend tief, scheinbar gegen die übliche Meinung, wenigstens der ältern Generation meiner Genossen im Herzen sitzt. Das ihnen entgegengesetzte, das fluktuierende Element unter uns bildeten selbstverständlich die jungen unverheirateten Gesellen, die, je nach Lust, Laune, Lerngelegenheit oder Lerneifer, manchmal aus recht zufälligen Ursachen längere oder kürzere Zeit in derselben Fabrik und an demselben Orte aushielten, und die, wie ich schon in dem einleitenden Kapitel bemerkte, vielfach ein gut Stück Welt gesehen hatten. Zwischen diesen beiden Gruppen stand deutlich eine dritte, wie mir schien an Zahl ebenfalls nicht geringe: diejenigen, die, fast durchgängig verheiratet, immer etwa sechs bis zehn Jahre in einer Fabrik, stets aber am selben Orte bleiben. Sie sind also ebenso seßhaft wie jener alte Stamm, dessen Rekruten sie meistenteils bilden, und wechseln die Fabrik in der angegebenen Zeit entweder, weil sie sich anderswo materiell dauernd zu verbessern hoffen, häufig aber auch nur, um eine heißersehnte Abwechslung in das langweilige Einerlei des bisherigen nur zu sehr gewohnten und ausgekannten Fabrikbetriebes zu bringen. Weiter bilden selbstverständlich die Fabriklehrlinge eine Gruppe für sich, und schließlich die kleine Zahl jener Lüderlichen, die ich zuletzt schilderte. Der Arbeitswechsel vollzog sich ebenso schnell als verständig. Wir kannten, wie schon mehrmals bemerkt, keine Kündigungsfrist. Der Abschnitt 2 der Arbeitsordnung besagte hierüber folgendes: Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses kann von beiden Seiten jederzeit und ohne Kündigung erfolgen, sofern nicht hierüber besondre schriftliche Vereinbarungen getroffen sind. Doch ist auf Verlangen jeder Arbeiter verpflichtet, event. angefangene Akkordarbeiten vor seinem Abgange zu vollenden. Der beabsichtigte Abgang ist dem vorgesetzten Werkführer anzuzeigen. Vor dem Abgange hat jeder seinen Platz aufzuräumen, beziehentl. seine Maschine zu putzen und die ihm übergebenen Werkzeuge an den Werkführer abzugeben, beziehentl. deren Richtigkeit von letzterem sich bescheinigen zu lassen. Damit war mit einem Schlage die ganze Frage des Kontraktbruches bei uns aus der Welt geschafft. Und beide Teile befanden sich wohl dabei. Die Fabrikleitung, die dadurch in der Disposition ihrer Arbeitskräfte völlig freie Hand behielt, wovon sie aber im allgemeinen nur besonnenen und humanen Gebrauch machte, und die Arbeiter, die dadurch immer die Möglichkeit hatten, sofort in eine ihnen gebotene bessere Stelle überzugehn, und denen jener zu Anfang einbehaltene und bei ihrem Abgang auszuhändigende Lohn der ersten Woche die nun allerdings größere Gefahr augenblicklicher Erwerbslosigkeit wenigstens einigermaßen wieder ausglich. Es ist in dieser Zeit unendlich viel über die Frage des Kontraktbruchs und seiner Bestrafung gestritten worden. Hier ist ein Weg, der sie höchst einfach und auch ohne materielle Verluste für die Etablissements löst, wie die Erfahrung in unsrer und, wie ich höre, auch in andern Fabriken beweist, wo dieselbe Sitte herrscht. Aber selbst wenn solche Verluste eintreten sollten, dürfte dies nicht das ausschlaggebende Bedenken sein, wo viel höhere Güter auf dem Spiele stehn. Auch im Wirtschaftsleben der Völker müssen sittliche Rücksichten wieder materiellen Interessen vorausgehn, und gerade wir, die unparteiischen Gebildeten, die mit dem Maßstabe ernster ethischer Grundsätze und ohne materielle Voreingenommenheit an der Lösung der sozialen Frage mitarbeiten wollen, müssen darauf dringen, daß dieser Grundsatz wieder immer mehr Wahrheit wird. Es muß uns gleichgiltig sein, ob einige Tausende von Mark mehr oder weniger von den Großindustriellen verdient werden, wenn damit ein Zustand beseitigt wird, der zwar formell Recht, thatsächlich aber durch die wirtschaftliche Zwangslage eine Ungerechtigkeit ist, und der dem Rechtsbewußtsein in unserm Volke einen schweren Stoß zu versetzen im Begriffe ist. Und sollten die deutschen Industriellen wirklich weniger imstande sein, diesen ernsten sittlichen Bedenken Rechnung zu tragen, als die deutsche Arbeiterschaft, die durch den von der sozialdemokratischen Partei vorgeschlagenen Zusatzparagraphen zum Arbeiterschutzgesetz ihrerseits sich bereit erklärt hat, um den Preis der Beseitigung aller Kündigungsfrist die dadurch geschaffene größere Erwerbsunsicherheit auf sich zu nehmen? Ich meinerseits spreche meine volle Sympathie mit diesem Schritte der Sozialdemokraten offen aus. Wenn ich endlich noch einige Worte über die Erfahrungen sagen darf, die ich bei der Arbeitssuche gemacht habe, so sind das kurz folgende. Tüchtigen Facharbeitern, wie Schlossern und Drehern, war es zu jener Zeit immer noch leichter möglich, Arbeit in Fabriken und kleinern Werkstätten zu erhalten, als Handarbeitern, Webern und Maschinenarbeitern. Auf der Arbeitssuche wurden wir meist schon von den Portiers der Fabriken kurz zurückgewiesen. In den wenigen Fällen, wo wir bei dem Leiter direkt anfragen konnten, wurden wir freundlich und höflich behandelt, einmal auch mit guten Ratschlägen versehen, die freilich in diesem Falle nichts nützten. Auch die Arbeitsnachweise, zu denen wir unsre Zuflucht nahmen, befriedigten unser Bedürfnis nicht. Es waren die in den Herbergen und in den Zeitungen. Jene bestanden darin, daß der Herbergsvater der Zentralherberge auf einem großen schwarzen Brett, das an der Wand hing, die gesuchten Berufsarten, die Anzahl der verlangten Arbeiter, die Art der in Aussicht stehenden Beschäftigung, manchmal auch die Höhe des Lohnes anschrieb, wonach sich jedermann orientierte. Daß dabei, wie es namentlich in Innungsherbergen vorkommen soll, von ihm einzelne Leute bevorzugt worden seien, denen er vorher im geheimen Mitteilung von der bessern Arbeitsgelegenheit gemacht hätte, habe ich nicht bemerkt, kann aber das Gegenteil auch nicht fest verbürgen. Unter den Beschwerden dieser erfolglosen Arbeitssuche litten selbstverständlich vor allem wir zugereisten, in Chemnitz fremden. Wer hier bekannt war oder auch einige Routine besaß, dem glückte es selbstverständlich eher. Es kommt nicht zu selten vor, daß sich einer, anstatt sich abweisen zu lassen, hinter den Portier steckt, ihm etwas zuschiebt und dafür von ihm Nachricht erhält, wann in seiner Fabrik ein Platz frei wird. Auch von guten Bekannten und ehemaligen Arbeitsgenossen, die zur Zeit da arbeiteten, erhält man solche Mitteilungen und Winke, wo und wie anzuklopfen ist, etwa bei einem Meister der Fabrik, bei dem jene dann selbst auch ein gutes Wort einlegen. Doch ist natürlich bei dem allem viel glücklicher Zufall im Spiel; und wer fremd am Orte ist, kann sich nicht sonderlich darauf verlassen. Jedenfalls kann ich nach meinen eignen Erfahrungen es aussagen, wie unsäglich deprimierend es ist, erfolglos von Fabrik zu Fabrik, von Werkstatt zu Werkstatt wandern zu müssen, immer von neuem seine Kraft anbietend, mit bittenden Worten, und immer wieder erfolglos. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist, auch wenn der Hunger noch nicht mit seiner eisernen Faust an die Thür pocht, das furchtbarste Los, das einen gesunden, strebsamen, für seine Familie sorgenden Manne treffen kann, um so bitterer, je ernster, tiefer, charaktervoller er ist, und eine größere Gefahr zur physischen und moralischen Verwahrlosung, als nur je die sozialdemokratische Agitation es sein kann. Zwei Seiten unsrer Arbeitsordnung enthielten schließlich gute, klare Vorschriften zur Verhütung von Unglücksfällen. Sie wurden meist von den Leuten verständig befolgt. Während meiner Zugehörigkeit zur Fabrik ereignete sich nur ein größeres Unglück, das den Betroffenen auf etwa vierzehn Tage arbeitsunfähig machte: eine eiserne Schiene von etwa zwanzig Pfund war ihm auf den Fuß gestürzt, hatte mit der einen spitzen Kante seinen Stiefel durchbohrt, ein tiefes Loch in das Fleisch und dieses vom Knochen los geschlagen. Dagegen waren kleinere Unfälle um so häufiger: Quetschungen der Finger und Zehen, schmerzhafte Verletzungen der Fingernägel, Verwundungen der Hände durch scharfe Ecken und Kanten, und der Augen durch abspringende Eisensplitter. Gerade das letztere kam besonders oft vor, lief aber in den meisten Fällen gut ab. Man half sich da gern gegenseitig und schnell und geschickt. Die Hauptgefahr bei aller Arbeit war immer die des Fallenlassens der großen, oft zentnerschweren eisernen Stücke. Ein Fehlgriff, ein unzeitgemäßes Nachlassen konnte Beine und Füße kosten. Darum wurde hier zumeist instinktiv vorsichtig, bedächtig und behutsam gearbeitet. Als Grundsatz galt: Was man einmal in der Hand hat, muß man so lange darin behalten, bis ein sicheres Niederlegen möglich ist, koste es an Kraft, was es wolle. Übrigens war ein für allemal der Befehl gegeben, daß zu jeder Arbeit immer soviel Leute antreten mußten, daß die betreffende Arbeit ohne Schaden für die Leute und den Arbeitsgegenstand verrichtet werden konnte. Damit war jede Überanstrengung verhindert, was von den Arbeitern dankend anerkannt wurde. Ebenso wurde durch die drei Krahne in unserm Bau namentlich die Transportarbeit ungemein erleichtert. Ferner gab es, wie erwähnt, überall elektrische Leitungen, durch die bei Unglücksfällen den Maschinenwärtern im Nu das Signal zum Anhalten der Dampfmaschine gegeben werden konnte. Dann existierten strenge Verbote gegen das unbefugte Betreten des Probiersaales, das Auflegen von Treibriemen während des Ganges der Maschinen, u. s. w. Weiter war geboten, enganliegende Kleider zu tragen, die nicht von den in Gang befindlichen Rädern ergriffen werden konnten. Eigentliche Schutzvorrichtungen an Maschinen aber waren über Erwarten wenig vorhanden, jedoch immer wo nötig zur Stelle. Für vorkommende Verunglückungen gab es eine Ecke in unserm Bau mit Matratze, Verbandtisch und Stuhl, Verbandzeug, Waschtoilette u. s. w. Ein Arbeiter, früher Lazarettgehilfe, war stets zur ersten Hilfeleistung bereit, legte in schweren Fällen einen Notverband an und übernahm den Transport des Verletzten. In der Art Verunglückte zu transportieren war wohl erst kurz vor meinem Eintritt in die Fabrik eine große, von den Leuten aufs dankbarste, aber doch nur als die Erfüllung einer notwendigen Pflicht begrüßte Änderung eingetreten: anstatt wie früher auf harten in der Fabrik benutzten Handwagen wurde der Verunglückte jetzt in der Equipage der Direktoren nach Hause oder ins Krankenhaus geschafft. Durchaus mangelhaft jedoch waren die Wascheinrichtungen, die nur eine oberflächliche, mühsame Reinigung des Gesichts und der Hände ermöglichten. In solchen rußigen Maschinenfabriken ist aber die Errichtung von Bädern, die für alle zur Benutzung freistehen, einfach Pflicht, namentlich wenn man die traurigen Wohnungsverhältnisse, das enge Zusammenleben so vieler Menschen und beider Geschlechter nebeneinander und dazu die Notwendigkeit einer täglichen gründlichen Reinigung des ganzen schmutzigen Körpers in Betracht zieht. Aber diese fehlten gänzlich bei uns, wie es überhaupt außer dem bereits geschilderten Speisesaal nichts weiter von derartigen Wohlfahrtseinrichtungen gab; man müßte denn jenen von der Direktion gebilligten Handel eines einhändigen Expedienten mit guten, billigen Arbeitskleidern auf Abzahlung noch darunter rechnen. Und dabei war die Arbeit in unsrer Fabrik für alle körperlich schwer und strapaziös. Ich sage das nicht nach den Erfahrungen, die ich an mir machte; ich weiß, daß ich eine Ausnahme war und daß mir wenigstens in der ersten Zeit alles doppelt schwer fiel. Ich berichte allein nach den Aussagen der Leute und nach dem Eindruck, den sie auf mich machten. Sie waren aber, mit Ausnahme der Jugend, alle des Abends am Schlusse der Arbeit mehr oder weniger müde und abgespannt: ihr Gang war nicht mehr so leicht, schnell und elastisch wie des Morgens und Mittags, ihre Stimmung nicht mehr so heiter und lebhaft, ihre Arbeitsleistung in der letzten Stunde deutlich geringer als in den ersten. Es ist gar nicht zu leugnen, daß eine Fabrikarbeit von dem Charakter der unsern, selbst bei einem so glücklichen Tempo, bei einem so hochstehenden und verhältnismäßig geistig anregenden Produktionsprozeß und bei der Freiheit und Selbständigkeit, wie sie gerade bei uns noch herrschten, die tägliche Kraft eines Mannes durchaus erschöpft. Es ist in der That keine Kleinigkeit, elf Stunden des Tages mit 120 Mann in einem von öligem, schmierigem Dunste, von Kohlen- und Eisenstaube geschwängerten heißen Raume auszuhalten. Nicht eigentlich die meist schweren Handgriffe und Arbeitsleistungen, sondern dieses Zusammenleben, Zusammenatmen, Zusammenschwitzen vieler Menschen, diese dadurch entstehende ermüdende Druckluft, das nie verstummende nervenabstumpfende gewaltige quietschende, dröhnende, ratschende Geräusch, und das unausgesetzte elfstündige Stehen in ewigem Einerlei, oft an ein und derselben Stelle -- dies alles zusammen macht unsre Fabrikarbeit zu einer alle Kräfte anspannenden, aufreibenden Thätigkeit, die wenn auch nicht über, so doch gleichwertig neben jede anstrengende geistige Arbeit gestellt werden darf. Denn sie muß geleistet werden mit Anspannung der besten Kraft eines Mannes -- und dies, nicht aber der Erfolg, der größere oder kleinere Nutzen aus ihr, ist der richtige sittliche Maßstab für ihre Beurteilung. Dabei muß ich aber doch konstatieren, daß unter unsrer Arbeiterschaft eine verhältnismäßig ganz beträchtliche Anzahl von Grauköpfen vorhanden waren. So gab es unter den Schlossern einige, die schon als Reservisten mit in Frankreich gewesen waren; unter den vier Packern waren, wenn ich mich nicht irre, drei um die sechzig herum alt; zu meiner Kolonne gehörte ein mittlerer Vierziger und ein hoher Fünfziger; unter den Tischlern war ein freundlicher Alter mit schneeweißem Haar; an der Langlochbohrmaschine stand ein mir besonders liebgewordener Mann, der längst Großvater war und sehr frisch, treu und rüstig seine Pflicht that; ein gleichaltriger Bruder von ihm, ein Schlosser, hatte nicht allzu weit von ihm seinen Platz. Je mehr ich aufzähle, desto mehr tauchen solche Grauköpfe in meiner Erinnerung wieder auf: sogar zwei Siebziger, wenn ich recht berichtet worden bin, waren noch in leichtem Dienste, der freilich leider entsprechend niedrig gelohnt wurde. Die Mehrzahl der Arbeitsgenossen stellte aber natürlich das mittlere Alter, starke, stramme Gestalten in den zwanziger und dreißiger Jahren. Lange nicht so zahlreich waren Siebzehn- bis Zwanzigjährige, und an Lehrlingen hatten wir eine noch geringere Zahl. Ein abschließendes Urteil über den Charakter dieser eben mitgeteilten +Arbeitsordnung+ unsrer Fabrik findet man aus den Sätzen, die am Anfange des Büchelchens über die Aufnahme und an seinen Schlusse über eventuelle Änderungen der Fabrikordnung Bestimmungen enthalten. An der ersten Stelle heißt es wörtlich: „Das Recht, Arbeiter anzunehmen, steht nur der Direktion oder deren Beauftragten zu. +Durch Annahme der Arbeit unterwirft sich jeder Arbeiter den Bestimmungen der Fabrikordnung+, von welcher er bei seinem Antritt ein Exemplar ausgehändigt erhält und worüber durch eigenhändige Eintragung des Namens in ein im Kontor ausliegendes Buch zu quittieren ist.“ Und an der letztern Stelle heißt es, ebenfalls wörtlich: „+Änderungen sowie Zusätze zu derselben+ werden von der Direktion +durch Anschlag bekannt gemacht und treten jedesmal sofort in Kraft+.“ Hier prägt sich auch dem Harmlosen klipp und klar der ganze Charakter dieser wie wohl fast aller bestehenden Fabrikordnungen aus. Sie ist deutlich das Produkt der Fabrikleitung, zugeschnitten nach den allein maßgebenden Gesichtspunkten ihrer einseitigen Interessen. Sie ist eine Hausordnung, die der Eigentümer allein nach seinem Willen erläßt, und der sich jeder zu fügen hat, so lange er als Glied dem Hause angehört. Es giebt für die Arbeiter gegen solche Arbeitsordnung keinen andern wirksamen Protest, als den des Austritts aus dem Verbande, dem sie Gesetz ist. Ihr Dasein und ihre Giltigkeit bezeichnet in allen Fällen von Bedeutung die vollkommene, schweigende Abhängigkeit aller Arbeiter; sie ist der Ausdruck eines absolutistischen Systems, das gerade Gegenteil von wirtschaftlicher Freiheit, die doch das heute herrschende Gesetz im Wirtschaftsleben der Völker sein soll; sie ist eine neue und folgenschwere Ursache der Unselbständigkeit und Unreife des Charakters der heutigen Fabrikarbeiter. Freilich, und das ist das zweite, was ich abschließend zu sagen habe, wurde die Schärfe dieser ganz einseitigen Arbeitsordnung in unsrer Fabrik stark gemindert, ja häufig geradezu unwirksam gemacht durch die kluge taktvolle Art, wie sie bei uns zur Anwendung kam. Bei dem Direktor traten diese geschriebnen Satzungen überhaupt durchaus hinter seiner energischen Persönlichkeit zurück, in dessen thatkräftiger, militärischer, aber verständiger, besonnener und vor allem gerechter und unparteiischer Art sie eine neue lebendige Gestalt annahm, und dem man, wie ich das weiter unten noch ausführen werde, ohne Widerstand gehorchte. Die übrigen Vorgesetzten aber, vor allem die Meister, handhabten die Ordnung durchschnittlich so klug, mild und nachsichtig, daß die Arbeiter die in ihr enthaltenen rücksichtslosen Sätze leicht hinnahmen, und daß ihre Schärfe ihnen nur in den seltensten Fällen schmerzlich zum Bewußtsein kam. Eingehend möchte ich am Schlusse dieses Kapitels noch von dem +Verhalten der Leute bei der Arbeit, ihrem Verkehr unter einander und mit ihren Vorgesetzten+ erzählen. Die gesamte Arbeiterschaft unsrer Fabrik schied sich auch in dieser Beziehung in zwei große Gruppen, in die des Werkzeug- und des Stickmaschinenbaues; die vollständige Trennung des Arbeitsprozesses beider Abteilungen hatte für die darin beschäftigten im allgemeinen auch eine solche des Verkehrs zur Folge, und zwar so sehr, daß häufig sogar eine vollständige gegenseitige Unbekanntschaft unter den Leuten bestand. Dann ging man meist achtlos, grußlos, ohne ein Wort zu wechseln, beim Eintritt wie beim Austritt aus der Fabrik an einander vorüber und kannte nicht Namen noch Gesinnung des andern. Zwischen denen, die schon jahrelang in der Fabrik waren, bahnte sich natürlich trotz dieser Betriebsscheidung allmählich eine Annäherung an; doch beschränkte auch sie sich meist nur auf einen ganz oberflächlichen, flüchtigen und seltenen Verkehr während der Arbeitspausen. Die Handarbeiter, die selbstverständlich am meisten in der Fabrik hin und her geschickt wurden, waren eigentlich das einzige und hauptsächliche verbindende Element zwischen den beiden großen Arbeitergruppen, denen man als dritte isolierte die kleinere Tischlerkolonne an die Seite stellen kann. Innerhalb jeder dieser drei Gruppen aber war der Verkehr bei der Arbeit selbstverständlich sehr rege. Dazu zwang schon der obengeschilderte Charakter des gemeinsamen Arbeitsprozesses. Es waren darum nur seltene Ausnahmen, daß ältere Leute, die oft schon 20 Jahre in der Abteilung arbeiteten, einmal einen jungen Schlosser nicht kannten und auch nie ein Wort mit ihm wechselten. Solche Fälle erklärten sich dann aus der abnehmenden geselligen Elastizität der ältern Leute, und aus dem fortwährenden Wechsel gerade dieser jugendlichen Elemente. Sonst aber führte, wie gesagt, die Gemeinsamkeit des Arbeitsprozesses die Leute schnell, häufig und nahe aneinander und zwang sie zu dauerndem gegenseitigen Verkehr. Dieser war nun selbstverständlich besonders rege zwischen Gleichaltrigen, Arbeitsnachbarn und den Leuten derselben Kolonne, derselben Montage, desselben Meisters. Hier wurde er von selbst häufig ein intimer; und jede Gelegenheit zu einem längern oder kürzern Zwiegespräch wurde dann fleißig benutzt. Und je nachdem unterhielt man sich bald über gleichgiltige, bald lustige, bald ernste Dinge, oder neckte und balgte man sich herum. Vor allem wurde der Neueingetretene ausführlich kritisiert; dann erzählte man sich andre kleinere Neuigkeiten aus der Fabrik, z. B. daß dem Kantinenwirt und dem Portier gekündigt worden wäre, und dann auch, daß der Kutscher seine Stellung aufgäbe, und warum das alles geschähe; oft wurde auch ein Ereignis aus dem gemeinsamen Wohnorte des langen und breiten erörtert oder über das letzte Sonntagsvergnügen geredet, und was man für den nächsten Feiertag plante; vor allem plauderte man gern auch von seinen Kindern und erzählte und hörte ausführlichere Schilderungen an von Selbsterlebtem aus vergangner Zeit. Aber ebenso oft unterhielt man sich auch, und mitunter während man die Feile hin und her schob oder während die Maschine rasselte, während man maß und verglich, mit hinzugetretenen zweiten und dritten über ernste Dinge, religiöse, wirtschaftliche, politische und über Bildungsfragen, natürlich in der Art und mit den Fähigkeiten und Kenntnissen, die den Leuten eben zu Gebote standen. Gerade hierüber sollen die nächsten Kapitel berichten; an dieser Stelle genügt die eben gemachte Angabe. Vor allem aber scherzte, neckte und balgte man sich herzlich gern, wo immer es anging. Überall suchte man unter guten Bekannten, die solche Neckereien verstanden, einander etwas auszuwischen: so warf man den achtlos vorübergehenden aus einem Versteck mit Thon, zog ihm heimlich die Schleife seiner Schürze auf oder in der Pause das Brett unter dem Sitze weg, stellte sich plötzlich einander in den Weg oder „meinte es miteinander gut.“ Dies Gutmeinen pflegte gern am Ende der Woche von ältern Leuten zu geschehen, die einen starken Bartwuchs hatten und sich, wie es im Volke heute noch viel verbreitete Sitte ist, nur einmal in der Woche, des Sonnabends Abend oder des Sonntags Morgen, rasierten. So einer mit genügend langen harten Stacheln im Gesicht nahm dann plötzlich ein um Kinn, Backen und Lippen noch zarteres Kerlchen beim Kopfe und rieb blitzschnell seine Wange an der jenes mehrmals hin und her, wodurch gerade kein angenehmes Gefühl hervorgerufen werden sollte. Wenn der so Liebkoste zur Besinnung kam, war der Übelthäter längst davon. Noch ungemütlicher war ein andrer Spaß, den man an mir glücklicherweise nur einmal probierte, das sogenannte „Bartwichsen.“ Da lehnt einer vielleicht achtlos an einem Pfosten, eben zufällig ohne bestimmten Arbeitsauftrag. Zwei andre sehen den Arglosen stehen; ein gegenseitiger Blick des Einverständnisses, und der eine tritt von hinten an ihn heran, umschlingt ihn mit den Armen, sodaß jener sich nicht mehr rühren kann; unterdes umfaßt der andre mit seinen zwei schwarzen, schmutzigen Händen von vorn das Gesicht des Überfallenen und streicht nun in aller Gemütsruhe mit den festangepreßten Daumen den Schnurrbart des Wehrlosen auseinander, was, wie ich versichern kann, sehr schmerzhaft ist. Bei mir wiederholte man aber die Sache niemals wieder, weil mir beim erstenmale durch eine abwehrende Bewegung meines Kopfes die Brille von der Nase fiel, glücklicherweise ohne zu zerbrechen; das wollten die Leute doch nicht nochmals riskieren und unterließen es darum. Unter intimern Bekannten blieb keiner davon verschont, und jeder wurde ohne Unterschied des Alters heimgesucht. So etwas geschah natürlich immer nur, wenn man sich unbeaufsichtigt glaubte. Scherze andrer Art und viele Witze waren selbstverständlich ebenso häufig und oft von urwüchsigster Komik, sodaß man von Herzen darüber lachen mußte, nicht selten aber auch derb und roh. Ich habe auch darüber an andrer Stelle noch eingehender zu reden. Spitznamen wurden viele ausgeteilt; selbst der Direktor hatte einen, freilich einen völlig harmlosen, seinen Vornamen. Sonst pflegte man mit Vornamen mit Vorliebe nur die in der Fabrik besonders beliebten Kameraden zu rufen, ferner die Komiker und Spaßmacher, die, wohin sie traten, immer Ursache oder Gegenstand heiterster Laune wurden. Heiterkeit, Frohsinn, ausgelassene Lustigkeit waren überhaupt der Grundzug des Geistes, der wenigstens in unserm Baue während der Arbeit herrschte und auch in den letzten Abendstunden des langen Werktages, wo die Abspannung und Müdigkeit sich geltend zu machen begann, nicht ganz verloren ging. Davon war wohl der günstige Charakter des Arbeitsprozesses nicht weniger als die joviale, heitere Anlage des Volkes selbst die erfreuliche Ursache. Diese lustige, frische, scherzende Art war der gute Geist, der auch die schweren Arbeitsmühen immer wieder leicht und erträglich machen half. Verwunderlich war, daß man trotzdem wenig bei der Arbeit sang. Nur einzelne pflegten gern ein Liedchen vor sich hinzuträllern, und nur eine Schlossergruppe, die fast ausschließlich aus jungen verliebten Burschen bestand, stimmte ab und zu ein gemeinsames Volks- oder Soldatenlied an. Jedenfalls war der unaufhörliche große Lärm das Hindernis. Das gegenseitige Duzen war nicht durchgängig Sitte, doch immer in den engern Arbeitsgruppen, unter Gleichaltrigen und auch meist unter Nachbarn. Dagegen hielt mancher Schlosser, namentlich der von ferne und aus besserer Familie herkam, streng darauf, das Du außerhalb seiner Gruppe nur sehr mit Auswahl anzuwenden, und schüttelte den Kopf über seine Handwerksgenossen, die es an jeden beliebigen Handarbeiter verschwendeten. Manchmal duzten sich auch alte, langerprobte Arbeiter, Schlosser oder Maschinenarbeiter mit einem Meister, auch Meister mit Vorarbeitern, häufiger Vorarbeiter mit Arbeitern jeder Art und selbst Handarbeitern, selten aber mit Leuten ihrer Kolonne; wenn dies aber doch geschah, dann immer nur mit ältern, langansässigen. Die Vorarbeiter stehen unter sich fast immer auf Du und Du, nicht aber häufig auch die Meister unter einander. Bei denen kommt doch schon ihre höhere soziale Stellung in Betracht, während bei den andern der angeborene Gemeinschaftssinn, die militärische Sitte der Kameradschaft und die leicht erregbare gegenseitige Teilnahme an einander jene Neigung in lebendige Übung bringt. Bemerkenswert war das besondre Verhältnis zwischen uns fünf Handarbeitern. Unter uns war es am leichtesten möglich, auf Kosten der andern zu faulenzen. Es gab eine Reihe von Winkeln und Plätzen in der Fabrik, die einem auf eine halbe Stunde ein friedliches, auch vom Meister nicht bemerktes Ausruhen möglich machten. Oder ein guter Freund unter den Schlossern und Maschinenarbeitern betraute einen nur scheinbar mit einem Auftrag. Um dies zu verhüten, wurde ganz von selbst eine gegenseitige geheime Kontrolle geübt. Es gab unter uns besonders zwei, die sich gern einmal von der Arbeit drückten; auf sie hatten die andern ein besonders wachsames und scharfes Auge. Zwar sah man ihnen vieles nach; wenn sie es aber dann und wann einmal gar zu arg trieben, stellte man sie offen, ernstlich und nicht zart darüber zur Rede; das gab dann immer einen tüchtigen Streit und hatte zwischen den beiden Wortführern ein mehrtägiges oder mehrwöchentliches Schmollen zur Folge. Aber die Ermahnung fruchtete doch meist, und allmählich kam auch zwischen den beiden wieder ein leidliches Verhältnis zu stande. Die andern drei verband ein intimeres kameradschaftliches Verhältnis, sodaß jeder von ihnen nach Kräften zugriff und nicht gern den andern im Stiche ließ. Gegen mich, den Neuling, waren alle fünf unsrer Kolonne besonders freundlich und entgegenkommend. Als ich in die Fabrik eintrat, zeigte es sich gleich am ersten Tage, daß ich unfähig war, ebenso stramm und stark zuzugreifen, wie die in solcher Arbeit erprobten Kolonnengenossen. Sofort nahm man Rücksicht auf mich; und anstatt den neuen, noch schüchternen Kameraden auszubeuten und ihn an ihrer Statt arbeiten zu lassen, stellte man ihn immer an den leichtesten Platz, ja schob ihn gar ganz beiseite, um selbst schneller und besser die Arbeit zu thun. Und denselben kameradschaftlichen Sinn, dieselbe freundliche Nachsicht übten die meisten Schlosser und Maschinenarbeiter gegen mich. Später, als ich kräftiger, geschickter, ausdauernder geworden war, hörte das freilich und mit Recht auf, und ich wurde ebenso viel, doch nicht mehr als die andern strapaziert. Das Verhältnis der Schlosser, Schmiede, Maschinenarbeiter zu uns Handarbeitern war ebenfalls mehrfach interessant. Außerdienstlich gab es zwar für die Mehrzahl von ihnen keine Rangunterschiede zwischen uns, wohl aber während der Arbeit. Man wußte, daß wir eben zur Dienstleistung für die andern da waren, und machte von dieser Thatsache, jedoch mit Unterschied, ohne Scheu Gebrauch. Ältere Leute nahmen nur ungern, wenn es gar nicht anders ging, zu unsrer Unterstützung Zuflucht, jüngere dagegen benutzten uns häufig; selbst Lehrlinge machten Versuche dazu. Die Handarbeiter wieder gehorchten, sowie man sie nur anständig behandelte. Unteroffiziersmäßig anschnauzen ließ sich keiner. Wer es versuchte, wurde stillschweigend, ohne jede Verabredung, geboykottet; d. h. die Handarbeiter ignorierten ihn, kamen nicht in die Nähe seines Platzes, thaten als hörten sie ihn nicht, wenn er einen von ihnen anrief, und wenn dieser direkt an sie herantrat und eine Dienstleistung verlangte, hatte man immer angeblich etwas zu thun. In solchen Fällen mußte sich der Verlassene dann an den Meister wenden und diesen um Zuteilung einer Hilfskraft bitten. Beschwerte er sich aber dabei über einen von ihnen oder verdächtigte er ihn gar, und es kam heraus, so ging es ihm noch schlechter, und er wurde als „Fuchsschwanz“ erst recht beiseite liegen gelassen, hatte oft auch bei unserm Meister gar kein Glück. Darum war es immer auch für die Auftraggeber erwünscht, sich mit den Handarbeitern gut zu stellen, und wenn nötig, sie freundlich zu bitten. Die am meisten übliche Form der Aufforderung zur Hilfeleistung war die: He! Pst! Hast du Zeit? Ja. Da wollen wir mal das und das zusammen machen; es dauert gar nicht lange. Oder man sagte: Wir möchten einmal diese Welle hier fortschaffen; aber sie ist schwer; du mußt dir noch ein paar andre suchen und mitbringen. Und fast immer halfen die Auftraggeber selbst mit. Die Monteure nahmen ihren Leuten gegenüber etwa die Stellung von Untermeistern ein. Ihr Verhältnis zu ihnen war halb das von Vorgesetzten, halb das von Genossen. In Dingen, die die Arbeit betrafen, wurden sie von jenen durchaus respektiert, im übrigen war der Verkehr zwischen ihnen ein mehr kordialer. Besonders wenn gleichaltrige oder an Jahren ältere Leute unter ihnen arbeiteten, was nicht selten vorkam; denn wir hatten ein paar noch ziemlich junge Monteure als Gruppenführer unter uns. Wie diese zu der Stellung gekommen waren, erfuhr ich nicht; sie alle waren früher Durchschnittsarbeiter gewesen. Ältere Leute ließen diese dann meist sehr selbständig und „ihren eignen Stiefel“ arbeiten; ihnen gegenüber begnügte man sich mit den allernötigsten Anordnungen. Übrigens sei an dieser Stelle bemerkt, daß einige der ältesten Schlosser überhaupt den Gruppenverbänden dauernd entnommen waren und direkt dem Werkmeister unterstanden. Ältere Monteure prägten ihren Gruppen einigermaßen ihren technischen Charakter auf; Gruppen mit gewandten und tüchtigen Monteuren waren deutlich intelligenter und leistungsfähiger als andre, deren Vorarbeiter sich häufig bei ihren erfahreneren Kollegen Rats erholten. Auch in sittlicher Beziehung war der Vorarbeiter auf seine Gruppe hie und da von Einfluß. Doch war dieser Einfluß ein ebenso zufälliger als verschiedener; bei einigen ein besserer, bei der Mehrzahl aber ein wenig guter. Das war nur zu erklärlich, wenn man bedenkt, daß die Leute früher ja selbst Arbeiter gewesen und nie auf die Pflicht, ein gutes Vorbild zu geben, aufmerksam gemacht worden sind. Ich hörte darum selten, daß einer von ihnen einem seiner Leute ein unzüchtiges Wort, einen Fluch, eine unedle Gesinnung verwies. Es war schon viel, wenn ein Monteur sich persönlich davon frei und dazu still verhielt; viel häufiger teilte man die Ansichten der Leute, fluchte und zotete selbst mit. Von besondrer Bedeutung ist der einzelne Monteur für die Lehrlinge, die den Montagen zugeteilt zu werden pflegen. Je nach der Tüchtigkeit des Monteurs und der Gruppe, der er angehört, wird der Junge etwas lernen. Doch habe ich nicht bemerkt, daß sich der vorgesetzte Monteur, ebensowenig der Schlosser- und Werkmeister, in irgend welcher Beziehung viel um seinen Lehrburschen gekümmert hätte. In einem einzigen Falle behandelte der wohl tüchtigste Monteur, ein polternder aber sehr gutmütiger Mann, der namentlich des Sonntags gern einmal einen über den Durst trank, ohne gerade ein Gewohnheitstrinker zu sein, den ihm unterstellten Lehrling mit väterlichem Wohlwollen und Wohlgefallen. Das war aber ein besonders hübscher und kluger Junge, dessen Vater ein Lehrer am Orte und mehrfacher Hausbesitzer war und darum wohl auch persönliche Beziehungen zu dem betreffenden Monteur unterhielt, die diesem gerade nicht zum materiellen Schaden gereichten. Eine Entscheidung darüber, ob der Lehrling in der Fabrik oder bei einem Kleinmeister besser aufgehoben ist, wage ich nach meinen geringen Erfahrungen hierin nicht zu geben; doch glaube ich sagen zu können, daß eine solche Fabrik von vornherein eher geeignet erscheint, bessere Lehrlinge zu erziehen, als der in beschränkten Verhältnissen meist um seine Existenz ringende und häufig mit Flickarbeit beschäftigte Kleinmeister. Die sittlichen Gefahren können bei diesem aber eben so groß sein als dort. Außerhalb der Fabrikräume galt der Monteur dem Schlosser, dem Maschinenarbeiter, dem Handarbeiter als durchaus gleichgeordnet; da fielen die Unterschiede, die der Betrieb zwischen sie notwendig aufstellte; da waren sie und fühlten sie sich alle im gemeinsamen Umgange als Arbeiter, und kein andrer Umstand entschied für ihren persönlichen Verkehr, als die gegenseitige Neigung, die Gesinnungsgleichheit und die nachbarliche Wohnung. Wieder anders als die Monteure standen in der Fabrik die Meister. Bei ihnen trat, obgleich auch sie häufig aus ganz einfachen Arbeiterkreisen, aber wohl nur selten aus derselben Fabrik herausgewachsen waren, die gesellschaftliche Überordnung während und noch mehr außerhalb der Arbeit klar und offen zu Tage. Schon durch ihre Kleidung unterschieden sie sich in der Fabrik von allen übrigen; sie trugen keinen eigentlichen Arbeitsanzug, sondern auch während der Arbeit den üblichen modischen Rock, Schlips und weiße Wäsche. Sie bildeten das Bindeglied zwischen der Arbeiterschaft und den höhern Beamten des Etablissements bis zu den Direktoren hinauf; sie sind, ich weiß in der That keinen bessern Vergleich, die Feldwebel in der Fabrik. Sie sind die technischen Leiter des Betriebes im Detail, dem Direktor hierin wie bezüglich der Persönlichkeiten der einzelnen Arbeiter maßgebend und verantwortlich; sie kontrollierten die Arbeiter alle und hatten -- was von besonderer Bedeutung ist -- Einfluß auf die Höhe des Stunden- wie namentlich des Akkordlohnes des einzelnen Mannes. Sie gaben das Tempo für den Gang der Arbeit mit an und hatten es in der Hand, daß auch bei flauerm Geschäftsgange Leute nicht entlassen, sondern mit durchgeschleppt wurden. Traten wirklich Betriebseinschränkungen ein, so bestimmten ebenfalls sie mit, wer von den Leuten zu gehen habe; endlich waren sie imstande, manches mißratene Stück unbemerkt zu beseitigen, manches Verpfuschte zu vertuschen. Das alles machte sie für die Arbeiter ebenso wie für die Direktoren zu den wichtigsten Persönlichkeiten in der Fabrik, und es bestimmte auch sichtlich ihr Verhältnis und ihren Verkehr zu den Leuten und umgekehrt. Dies Verhältnis ist eben durchaus das des Vorgesetzten zum Untergebenen. Je nach der Persönlichkeit des Mannes ist es angenehm oder unangenehm. Wir hatten in unsrer nächsten Nähe vier Meister. Der eine wurde von allen meinen Arbeitsgenossen einstimmig als grob, gemein und als Zwischenträger, dabei als unfähig, freundlich ins Gesicht, hinterlistig im Rücken geschildert, vor dem man den Neuling warnte. Auch ihm parierte man ohne Widerrede. Aber alle zeigten ihm gegenüber eine gewisse stolze Reserve, wiesen jede scheinbare Annäherung von seiner Seite zurück und hatten auf seine Anordnungen oft nur ein heimliches überlegenes Lächeln. Zwei andre Meister thaten schlicht und recht ihre Pflicht, ließen sich nicht allzusehr mit den Leuten ein, wurden hie und da grob gegen sie, wofür man meist mit gleicher Münze bezahlte. Sonst war in ihrem Verkehr nichts Sonderliches zu beobachten; eigentliche Zuneigung besaßen sie wenig. Wohl aber der vierte. Er erfreute sich, alles in allem genommen, bei den meisten großer Beliebtheit. Er war ein in seinem Fache erfahrener kluger Mann, wohlhabend, gewandt, und hatte eine große Gabe, die Leute recht zu behandeln. Er schnauzte sie mitunter tüchtig an, aber machte auch einmal mit jedem einen guten Witz und nahm überall seine Leute gegen andre Meister, wohl auch gegen die Direktoren in Schutz; wenn er früh morgens kam, wünschte er jedem einen guten Morgen, sah auch hie und da nicht hin, wo einmal gebummelt wurde, wenn er wußte, daß es nicht gerade eilig ging, und war gegen Petitionen um Lohnaufbesserung nicht taub und unzugänglich. Er war so klug, ältere, lange anwesende Leute anders, feiner, kordialer, freundschaftlicher zu behandeln als die jungen. Er hatte, wie das psychologisch erklärlich und bei Leuten dieser Bildungsstufe selbstverständlich ist, freilich auch seine Schützlinge und Sündenböcke, die aber zum Glück häufig wechselten. Alle gehorchten seinen immer im rechten Ton und in rechter Weise gegebenen Weisungen willig und sofort, wenn auch der einzelne Mann, je nach seiner Gesinnung, seinem Alter, seinem Charakter im stillen manches an ihm auszusetzen haben mochte und sich anders als der Nachbar gegen ihn benahm: bald freundlicher, bald zurückhaltender, bald selbstbewußter, bald serviler und mit dem sichtlichen Streben, bei ihm gut angeschrieben zu sein. So z. B. ein älterer Genosse meiner Kolonne, der, über die Fünfzig hoch hinaus, in rührender Weise alle seine schon abnehmenden Kräfte anspannte, so oft der Meister in die Nähe unsrer Arbeit kam, um ihm zu zeigen, daß er noch ganz seinen Mann zu stellen vermöchte. Wieder andre zeigten ihm gegenüber eine gewisse Vertraulichkeit, Sicherheit, und einige wenige Verbissene heimliche Feindseligkeit. Die jüngern und fluktuierenden Elemente gehorchten ihm ohne Widerrede und gaben sich Mühe, ihn nicht zu erzürnen. Einen irgendwie nennenswerten günstigern moralischen Einfluß aber übten auch diese Meister nicht aus. Im Gegenteil, in ihrer ganzen Bildung, ihrem Denken, Streben, Handeln ihnen innerlich durchaus verwandt, bestärkten sie häufig nur, sowie sie zu solchen Äußerungen einmal die Gelegenheit und das Wort fanden, durch ihre sozial autoritative Stellung die sittlich sehr geringwertige Haltung und Gesinnung ihrer Untergebenen. Ein intimeres Verhältnis bestand zwischen den Meistern und den meisten Vorarbeitern, mit denen sie gern einmal plauderten, selbstverständlich auch geschäftlich am meisten zu verkehren hatten, da sie mit ihnen die im Bau begriffenen Maschinen eingehend besprechen mußten. Wie die Meister unter sich standen, bekam ich nicht genau heraus. Eine äußerliche Kollegialität war jedenfalls vorhanden, aber ebenso auch eine gewisse Rivalität, in einem Falle wohl auch Neid, und in einem andern spöttische Geringschätzung. Das ganze Verhältnis kann man etwa mit dem bekannten der Subalternbeamten vergleichen. Einmal kam es in der Fabrik zwischen zwei Meistern zu einem lauten Skandal, bei dem sich die beiden Beteiligten zum Gaudium der Arbeiter wacker herumzankten. Es erübrigt nun noch, einen Blick auf das Verhältnis der Arbeiterschaft zu dem kaufmännischen Kontorpersonal und zu den Zeichnern und Ingenieuren zu werfen. Man sah unter den Arbeitsgenossen jene sämtlich als zu einer andern Gesellschaftsklasse gehörig und ihnen innerlich und äußerlich fernstehend an. Das wurde befördert durch die Thatsache, daß jenes Personal nur wenig mit den Leuten in Berührung und nur selten in die eigentlichen Fabrikräume kam. Wenn es aber geschah, so war mindestens in der Hälfte der Fälle die Klage der Leute über das gleichgiltige oder hochfahrende Gebaren dieser Herren aus Kontor und Zeichenstube nach allen meinen Beobachtungen berechtigt. Es gab besonders einen Zeichner oder Ingenieur, ich weiß das nicht mehr genau, der ab und zu mit dem Anreißer wegen der Zeichnungen zu verhandeln hatte: auch nicht den kürzesten Gruß zu uns brachte dieser Herr über die Lippen, selbst dem Anreißer gegenüber nicht, den sonst jeder zu grüßen pflegte. Das wurde von den in solchen Dingen feinfühligen schlichten Leuten gar bitter empfunden. Um so dankbarer und freudiger wurde dagegen von den Arbeitsgenossen die Freundlichkeit einiger andrer Herren und namentlich eines jungen schlanken Kaufmanns bemerkt, dessen höflicher Gruß und schlichte Art ihm uns alle zu Freunden machte. Einige Kontorschreiber standen selbstverständlich den Arbeitern näher. Ein doppeltes Charakteristikum springt nun bei der übersichtlichen Beurteilung dieses eben geschilderten Verkehrs der Leute unter sich und vor allem mit ihren subalternen Vorgesetzten leicht in die Augen: einmal das wunderliche halb gleich halb untergeordnete Verhältnis der verschiedenen Arbeiterkategorien zu ihren Chargen, wenn ich so sagen darf, und zu einander; und zweitens die bedauerliche Abwesenheit aller nur einigermaßen erzieherisch wirkenden sittlichen Kräfte. Jenes halb kordiale halb subordinierte Verhältnis ist darum so wunderlich und auffallend, weil es in schroffem Gegensatz steht zu dem sonstigen Charakter der Organisation und Disziplin unsrer großen industriellen Betriebe, die, wie wir das auch an unsrer Arbeitsordnung sehen, sonst vielmehr auf dem aristokratischen Prinzip der absoluten Unterordnung der Arbeiterschaft unter ihre Vorgesetzten und ihrer Abhängigkeit von diesen in Arbeits- und Lohnbedingungen beruht. Aber dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich sehr wohl aus demselben Prinzip des Laissez aller, das unser Wirtschaftsleben überhaupt bestimmt. Während man aber diesen Satz von der freien Bewegung aller Menschen und Kräfte in diesem Falle in die absolute Freiheit der Verfügung der Leiter der Fabriken über die Arbeiter und Arbeitsbedingungen umgedeutet und demgemäß ausgenutzt hat, hat man im andern die Ordnung des Verhältnisses der Leute unter sich diesen einfach selbst überlassen. Und die auf eignes Zurechtkommen angewiesenen Arbeiter übertrugen da wohl anfangs das frühere, bewährte Verhältnis zwischen Meister und dem einzelnen Gesellen im ehemaligen Kleingewerbe auf die großen neuen Arbeitsverbände der großindustriellen Betriebe. Hier aber, wo der ehemalige Meister selbst nicht mehr selbständiger Herr ist, nahm die Sache sofort einen demokratischen Charakter an, der es bewirkte, daß der Arbeiter sich ohne geschriebene Satzungen und Paragraphen soweit den Anordnungen der nunmehr selbst subalternen Vorgesetzten beugt, als sie der Betrieb verlangt und seine persönliche Würde achtungsvoll anerkannt wird. Es leuchtet ein, von wie großer Bedeutung diese demokratisch-sozialistischen Verkehrsgewohnheiten bei der Arbeit für das wirtschaftliche Denken der Leute sein müssen. Über den zweiten Punkt, den Mangel sittlicher Faktoren und einer bewußten Verwertung und Verwendung derselben durch die niedern und höhern Vorgesetzten, braucht nicht allzuviel mehr gesagt zu werden. Die stumme Thatsache redet schmerzlich laut genug für sich selbst. Sie beweist an ihrem Teile das, was dies ganze Kapitel über die Arbeit in der Fabrik bloßlegt, und was als Schlußwort an seinem Ende folgen mag, daß sich alle unsre großartigen Fabrikbetriebe ganz einseitig nur als Institute zur Schaffung ausschließlich materieller Werte repräsentieren. Was von sittlichen Kräften in ihnen wirkt, ist die Folge rein zufälliger günstiger Verhältnisse und nicht eine bewußte Absicht dazu. Ihnen allen fehlt noch der sittliche Adel, der ihnen zukommen würde, sobald man sie zugleich auch als Stätten einrichtete und ausnutzte, die als die modernsten und großartigsten Bildungen menschlicher Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zugleich auch bestimmt wären, allen in ihnen beschäftigten, hoch und niedrig, durch ihre Arbeitsbeteiligung und Arbeitsleistung gleich günstige Gelegenheit zu einer freudigen Bethätigung ihrer geistigen Fähigkeiten und einer harmonischen Ausgestaltung auch ihrer sittlichen Persönlichkeit zu bieten. Nur erst, wenn diese Auffassung von dem Beruf eines Fabrikorganismus zur allgemeinen Anerkennung und Herrschaft willig oder widerwillig gebracht worden sein wird, hat das moderne Institut der Fabrik seine sittliche Daseinsberechtigung erlangt und wird das gepriesene Mittel werden, die Menschheit einen gewaltigen Schritt vorwärts zu bringen, ihrer unabsehbaren Bestimmung entgegen. Und ich wage zu meinen, daß die Verwirklichung dieses Zieles sich sehr wohl vereinigen läßt mit der in der That durchaus gleichbedeutsamen Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungs- und materielle Ertragsfähigkeit solcher großen Etablissements, sofern die betreffenden Fabrikleiter nur erst einigermaßen von dem Bewußtsein der gewaltigen erzieherischen Aufgaben durchdrungen sind, zu deren Bewältigung sie von Berufs wegen, um des Vaterlandes und des Volkes, um der Sittlichkeit und der Religion willen verpflichtet sind. Dazu aber sind sie -- mit oder wider ihren Willen -- durch den Druck einer neuen, bessern, idealern, sittlichen, christlichen öffentlichen Meinung einfach zu erziehen. Viertes Kapitel Die Agitation der Sozialdemokratie Chemnitz ist einer der ältesten und ersten Sitze der deutschen Sozialdemokratie. Schon im Jahre 1867 schickte es den Sozialdemokraten und Dresdner Kupferschmiedemeister +Försterling+ in den Norddeutschen Reichstag, der freilich bald nachher wieder aus ihm ausschied. Dann kurz nach dem Kriege schlug der „wütende Most“ sein Hauptquartier in Chemnitz auf und wurde daselbst 1874 sowohl wie 1877 als Reichstagsabgeordneter gewählt. 1878 bei den Neuwahlen nach den Attentaten fiel er allerdings durch, doch eroberte die Sozialdemokratie den Kreis im Jahre 1881 durch den Breslauer Schriftsteller Bruno Geiser sich wieder zurück, um ihn auch 1884 zu behaupten; 1887 verlor sie ihn jedoch abermals. Aber schon bei den letzten Wahlen 1890 wurde wieder ein Sozialdemokrat, der bekannte Max Schippel, dessen Vater in Chemnitz Schuldirektor ist, gewählt. Fast 25 Jahre hindurch also wird in Chemnitz und Umgegend von der Sozialdemokratie agitiert, und immer waren es Parteigrößen, die hier „in Arbeit“ standen. So ist es nicht verwunderlich, daß schon 1881 über 10000 und 1887 über 15000, 1890 gar 34642 sozialdemokratische Stimmen abgegeben wurden, und daß in dem Vororte, in dem unsre Fabrik stand und die Mehrzahl von uns wohnte, bei der letzten Wahl 700 sozialdemokratische und nur 150 sogenannte „reichstreue“ Stimmen gezählt worden sein sollen. Dieser Vergangenheit würdig, war auch während des letzten Sommers die Agitation der Partei ununterbrochen rege, auch hier wie an den meisten Orten Deutschlands überhaupt die einzige, die zu bemerken war. Sie war durchaus planmäßig, kraftvoll und ins einzelne gehend. Allwöchentliche große öffentliche Versammlungen für Angehörige irgend eines Arbeitszweigs oder auch für Männer und Frauen überhaupt hielten die Aufmerksamkeit der gesamten arbeitenden Bevölkerung für die Arbeiterpartei zunächst im allgemeinen lebendig. Freilich waren diese Versammlungen, wenigstens die, die ich mitgemacht habe, meist nur dürftig besucht; und nur wenn ein besondrer Anlaß eine Reihe bestimmter Berufszweige zugleich beschäftigte, oder ein bekannter von auswärts zitierter Redner, eine sozialdemokratische Größe auftrat, schwollen sie zu imposanten Massenversammlungen an; sonst schwankte die Durchschnittszahl der Besucher wohl immer zwischen 1-200 Mann; es waren die in der Bewegung voranstehenden Arbeiter, die immer den Ton angaben, wo etwas Sozialdemokratisches los war. Meist waren das gut situierte Leute. Ich erinnere mich, daß ich in der ersten derartigen Versammlung, zu der ich als Arbeiter in die Stadt hineinkam, der einzige war, der im schmutzigen Arbeitszeug, ohne weißen Kragen und Schlips erschien; die andern hatten alle bessere Kleidung an. Jedenfalls aber erregten diese Versammlungen schon durch die ständigen großen roten Plakate, die sie vorher an allen Ecken und Enden der Stadt und Vorstädte ankündigten, ihren Zweck: die Aufmerksamkeit der Bevölkerung für die Bewegung wachzuhalten. Im übrigen bildeten sie nur den Rahmen für die intensivere besondre Agitation in den einzelnen Stadtteilen und Vorstadtdörfern. Denn fast jeder dieser Bezirke besaß, und zwar nicht bloß bei herannahender Reichstagswahl, seinen +sozialdemokratischen Wahlverein+, der das ganze Jahr hindurch eine stille aber kluge und tiefgehende Thätigkeit entfaltete, und dessen Mitglieder sich aus den überzeugtesten und zielbewußtesten Anhängern der Partei zusammensetzten. Der Wahlverein hat die Agitation für die Reichstags- und neuerdings auch Gemeinderatswahlen in der Hand; er stellt bei großen Wahlversammlungen stets eine nie fehlende Schar, die bei allen Gelegenheiten in blinder Treue nach bekanntem, lärmendem Rezept die Partei ihrer Arbeiterredner ergreift; er ist eine der Sammelstellen für die Parteigelder und -- das bedeutsamste an ihm -- die Hochschule für die sozialdemokratischen Redner. Denn nicht nur die neugegründeten Arbeiterbildungsvereine, nicht nur besondre Institute, wie deren in Hamburg eines in der Stille blühen soll, dienen diesem Zwecke. Man kann dreist behaupten, daß jeder sozialdemokratische Wahlverein eine solche Rednerschule für Anfänger bildet. Wenigstens war das bei dem unsers Vorortes, der etwa 120 Mitglieder zählen sollte und eine Monatssteuer von zehn Pfennigen erhob, wirklich der Fall. Darum lag immer auch auf den Debatten, die sich an den jedesmaligen Vortrag oder die Vorlesung von Artikeln aus der sozialdemokratischen Volkstribüne knüpfte, der von allen beherzigte Nachdruck. Ja der Vorsitzende unsers Vereins sprach das zu Beginn jeder Debatte geradezu aus, wenn er zur lebhaften Teilnahme an ihnen aufforderte und diese Aufforderung mit immer denselben Worten etwa so begründete: „Die Sitzungen unsers Wahlvereins sind in erster Linie der Debatten wegen da. Es wird gewünscht, daß +jeder+ redet, +jeder+ sich ausspricht. Und wenn das auch in der kläglichsten Form geschieht, jeder ist sicher, nicht ausgelacht zu werden, +denn eben dazu sind wir allvierzehntägig hier zusammen, damit wir uns schulen, um in den großen Versammlungen unsern Gegnern mit Erfolg antworten zu können+.“ Und ich muß sagen, man kam dieser Aufforderung getreulich nach. Bis gegen zwölf Uhr nachts, von acht Uhr abends, zogen sich meist die Debatten der von des Tages Last und Mühe müden Leute hin. Wer immer etwas auf dem Herzen hatte, redete es herunter, alt und jung, ohne Unterschied. Oft in der holprigsten Form, in Sätzen, von denen kein einziger richtig gebaut war, Gedanken, die ein grauenhaftes Gemisch von Wissen und Unwissenheit, von praktischer Erfahrung und Mangel an Überblick über das große Ganze, und oft eine Verranntheit in Ansichten zeigte, über die selbst die klaren, klugen Köpfe unter den Genossen erschraken. Daneben aber zeigte sich unter uns auch eine Zahl so gewandter, so schlagfertiger, so scharf und praktisch urteilender Redner, daß ich im stillen voll Bewunderung und Scham diesen einfachen Webern, Schlossern, Handarbeitern zuhörte, deren Beredsamkeit und Sicherheit im Denken und Auftreten nach meinen Erfahrungen wohl nur eine kleine Zahl unsrer Durchschnittsgebildeten gleichkommt. Und alle, die da redeten, auch wenn sie das tollste Zeug vorbrachten, wurden mit Ruhe und Aufmerksamkeit und fast kindlichem Ernst angehört und in dem, was sie nun eigentlich sagen wollten, zu meinem Verwundern auch deutlich und klar verstanden. Daß man sich in diesen Debatten mitunter tüchtig in die Haare fuhr, daß eine Reihe verschiedener Ansichten aufeinander platzten, ist ebenfalls und zwar darum besonders erwähnenswert, weil im Gegensatz dazu in großen Versammlungen mit ihren Gegnern unter den Sozialdemokraten immer die geschlossenste Einheit an den Tag gelegt zu werden pflegt. In gewissem Sinne die Fortsetzung dieser Debatten bildete die Beantwortung der Fragezettel, die während der Debatte von den Leuten in den Fragekasten geworfen wurden und meist irgend eine Aufklärung über einen in der Debatte berührten Punkt, über ein Fremdwort oder über eine in der Zeitung gefundene und nicht verstandene Notiz heischten. Meist waren die Antworten, die der Vorsitzende, der Redner oder ein andrer gab, leidlich zutreffend, manchmal aber auch, wie selbstverständlich, nur dürftig oder gar falsch. Aber sie wurden alle mit der siegesgewissen Sicherheit gegeben, die immer dem Halbgebildeten, an seine Sache oder sich selbst glaubenden eigen ist. Hinter diesen Debatten trat der Wert der Vorträge selbst deutlich zurück. Sie waren meist kurz und wurden immer von Parteigrößen am Orte, also Chemnitzern, gehalten; oft taugten sie gar nichts und waren sichtlich aus den neuesten Zeitungsnachrichten zusammengestoppelt. Solch ein Vortrag pflegte dann, wie das auch anderwärts unter den Sozialdemokraten allgemeine Sitte ist, von dem betreffenden Verfasser nicht nur in unserm, sondern noch in fünf, ja zehn andern Brudervereinen mit dem gleichen Nachdruck und der gleichen Emphase fast wörtlich vorgetragen zu werden, eine Erscheinung, die sich nur aus dem geradezu fanatischen Agitationseifer und wiederum der Halbbildung erklären läßt, durch die den Leuten die Langeweile solchen Wiederkäuens nicht zum Bewußtsein zu kommen scheint. Vortrag und Debatte wurden von den etwa vierzig Männern, die immer anwesend zu sein pflegten, wie gesagt, mit größter Aufmerksamkeit verfolgt. Man sah es diesen sinnenden, leuchtenden Augen an, wie die Köpfe mitarbeiteten, die vorgetragenen Gedankengänge aufzufassen und mitzudenken. Man rauchte viel Pfeife, doch auch Zigarren dazu und trank im Durchschnitt daneben ein, höchstens zwei Glas Bier, einfaches für 8 Pfennige oder Lagerbier für 15 Pfennige. Nur wenige verließen die Versammlung vor dem Schlusse, wenige auch, von den Mühen der Tagesarbeit überwältigt, schlummerten zuletzt ungestört ein. Sonst herrschte, wie gesagt, ungeteilte Aufmerksamkeit; denn solche Abende waren für diese Männer kein bloßes Vergnügen, sondern schwere Arbeit und immer Stunden eifrigen Lernens, scharfen Nachdenkens, der Auffrischung und Ermutigung in ihrem abwechslungslosen einförmigen Fabrikleben. Sie ersetzten, das kann man wohl ohne große Übertreibung sagen, vielen den früher gewohnten Kirchgang. Und darin liegt die große agitatorische Bedeutung dieser sozialdemokratischen Wahlvereine mit ihren regelmäßig wiederkehrenden Versammlungsabenden gerade in solchen Mittelstädten wie Chemnitz. Sie sind es, die den zur Sozialdemokratie sich neigenden Arbeiter dauernd, unaufhörlich, unauffällig bearbeiten, bis er mit seinem Dichten und Denken in den parteisozialistischen Gedankenkreisen aufgeht, und die den Befähigten schulen, daß er imstande ist, das Feuer der Überzeugung, das er an jenen Stätten in sich entfacht hat, nicht nutzlos verglühen zu lassen, sondern seine Kraft wieder zu verwerten in Agitation unter den Arbeitsgenossen und der eignen Familie, wie im Eintreten für die gemeinsame Sache bei Versammlungen mit den politischen Gegnern. Äußerlich verliefen diese Abende immer gleichmäßig, unter immer derselben Tagesordnung: Aufnahme neuer Mitglieder, Verlesung des Protokolls über die letzte Sitzung, Vortrag, oder -- in Fällen der Behinderung des angekündigten Referenten -- Vorlesung einiger Artikel aus einer sozialdemokratischen Zeitung, meist der „Berliner Volkstribüne,“ die sich gut dazu eignet, darauf Debatte und Fragekasten. Gleich einförmig und stereotyp waren die Worte, mit denen der sonst begabte Vorsitzende die Versammlung leitete, und der Schriftführer über den Verlauf der vergangnen Sitzung berichtete: man sah hier deutlich, wie äußerlich angelernt noch die parlamentarischen Formen an diesen einfachen Menschen waren. Gäste waren in den Sitzungen immer willkommen, kamen aber stets nur aus Arbeiterkreisen, doch auch nicht allzu zahlreich. Jede der Sitzungen wurde abwechselnd durch einen königlichen Gendarm und den Gemeindediener des Ortes von einer bescheidnen Ecke des Zimmers aus überwacht. Doch rührten diese sich nie, und übrigens schien ihr persönliches Verhältnis zu den Arbeitern und das dieser zu ihnen nicht allzu feindlich zu sein. Man wünschte sich wenigstens fast immer gegenseitig einen guten Abend; auch sah ich denselben Ortsdiener manchmal an andern Abenden der Woche in einer gemütlichen Kneipe, die viel von uns Arbeitern besucht wurde, mit uns gemeinsam am runden Tische in Uniform sein Glas Bier trinken. Während meine Arbeitsgenossen mich sichtlich als Mitglied für den Wahlverein unsers Ortes zu gewinnen suchten, fand ich nie eine Gelegenheit, dem +Fachverein+ unsrer Chemnitzer Metallarbeiter näher zu kommen. In der Fabrik wurde nie von ihm gesprochen, und ich selbst mußte mich hüten, es zu thun, um nicht aufdringlich zu erscheinen oder als Spitzel verdächtigt und dadurch überhaupt unmöglich zu werden. Andre Fachvereine, deren Versammlungen ich aber besuchte, namentlich derjenige der Lithographen, erörterten damals schon das wichtige Thema, das ja heute alle Gewerkschaften aufs lebhafteste beschäftigt, die Frage, ob Zentral- oder Lokalorganisation die unter den heutigen beschränkten Verhältnissen beßre Form einer erfolgreichen Arbeit sei. Die Sitzungen unsers Wahlvereins fanden in der Restauration unsrer Vorstadt statt, die das offizielle aber nicht alleinige Versammlungslokal der hier wohnenden Sozialdemokraten war. Sie war eine der besten im ganzen Orte. Wirt und Wirtin waren beide Sozialdemokraten, wenn sie sich auch gewissenhaft hüteten, sich in lange politische „Diskurse“ einzulassen. Die Frau zeichnete sich durch eine besondre, bei Frauen von mir noch nie erlebte Roheit der Gesinnung aus. Ich weiß noch genau, wie sie uns, die letzten Gäste, eines Nachts gähnend und schlafmüde mit der Blasphemie zum Heimgehen aufforderte: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein.“ Doch war, wie gesagt, dies nicht das einzige sozialdemokratische Lokal. Man kann wohl behaupten, daß die meisten, jedenfalls alle kleinen Kneipen unsers Ortes sozialdemokratische Wirte hatten. In zwei der größten Etablissements mit großen Konzertgärten, die auch von sogenannten bessern Chemnitzer Familien viel besucht wurden, und in denen allsonntäglich die verhältnismäßig nobelsten öffentlichen Tanzmusiken stattfanden, waren nur die dazu gehörigen „Kutscherstuben“ und deren Unterwirte sozialdemokratisch. In fast allen dieser Fälle war es offenbar das reine Geschäftsinteresse, das die Wirte dazu gemacht hatte. Dieselbe Thatsache trat auch in kleinern Materialwarengeschäften, sogenannten „Büdchen,“ zu Tage. Ich habe da mehrmals erlebt, wie eifrig und beflissen die Besitzer, aber vor allem auch die Besitzerinnen auf die sozialistische Gesinnung ihrer Käufer eingingen. Dieser Geschäftssozialismus ist wohl in allen solchen Industriezentren weiter verbreitet, als man glaubt; er ist das Eigentum der allerverschiedensten zahlreichen Geschäftsleute und der Jammer aller ideal gerichteten Sozialdemokraten; denn er ist in den meisten Fällen gleichbedeutend mit Gesinnungslosigkeit. Aber er ist zugleich ein neues Zeichen dafür, welch eine +reale+ Macht auch die sozialdemokratische Bewegung in solchen Orten bereits geworden ist. In jeder der oben genannten Restaurationen und Kneipen lagen nun neben den +Lokalzeitungen+ anderer oder überhaupt keiner Parteifarbe, neben „Kladderadatsch“ und „Fliegenden Blättern“ immer auch ein oder mehrere Exemplare sozialdemokratischer Zeitungen, vor allem der Chemnitzer „Presse,“ und einzelner Gewerkschaftsblätter aus. Es ist ja längst anerkannte Thatsache, welch ein Machtmittel die sozialdemokratische Agitation in ihrem Heer von über ganz Deutschland verbreiteten Zeitungen besitzt. Sie werden augenblicklich die Zahl von 130 übersteigen. In unserm Vororte zeigte sich im kleinen Kreise, im engen Rahmen ihr Einfluß und ihre Bedeutung. Es galt wohl für selbstverständlich, daß jeder von uns Arbeitern seine Zeitung las. Ausnahmen bestätigten auch hier nur die Regel. Man hielt in der Hauptsache -- entweder allein oder, was noch häufiger war, zu zweien und dreien -- eben die sozialdemokratische „Presse,“ ein durchaus besonnen und meist tüchtiger als unsre kleinstädtische Lokalpresse redigiertes Blatt, das so frei war, auch einmal Gedichte von Gerok und Uhland zu bringen, wie von irgend einem Windbeutel der jüngstdeutschesten, ins sozialdemokratische Lager übergegangenen Dichterschule. Daneben wurden auch der gut und besonnen geschriebene „Landesanzeiger,“ sowie die noch billigern „Neuesten Nachrichten,“ ein kleines, ganz unparteiisches Blättchen, wohl ein Absenker davon, häufig gehalten. Das ziemlich farblose reichstreue „Chemnitzer Tageblatt“ wurde nur wegen seines inhaltreichen Wohnungs- und Arbeitsstellenanzeigers ab und zu eingesehen, regelmäßig gelesen wohl nur von einer ganz kleinen Schar Arbeiter, den Elitesozialdemokraten, die es sich zu dem höchst anerkennenswerten und manchem „reichstreuen“ Philister zur Nachahmung zu empfehlenden Grundsatze gemacht hatten, von den hauptsächlichen politischen Parteirichtungen je ein Blatt zu halten, und das heißt für solche Leute immer auch: regelmäßig und genau durchzustudieren. Die Berliner „Volkstribüne,“ damals noch von Max Schippel redigiert und mehr wissenschaftlich, fachlich, vornehm gehalten, ohne Tagesklatsch und Parteigezänk (Tugenden, die es übrigens unter dem neuen radikalern und stark demagogisch angelegten Redakteur Paul Ernst neuerdings leider sämtlich verloren zu haben scheint), habe ich auch nur in diesem kleinen Kreise gefunden, häufiger das Fachorgan des großen Metallarbeiterverbandes, das aber bei weitem nicht nur Fachvereinsangelegenheiten zur Sprache bringt. Für die Verbreitung sonstiger sozialdemokratischer Litteratur sorgte in unserm Bezirke ein wegen des ersten Mai arbeitslos gewordener, der als Kolporteur das sehr interessante sozialdemokratische Witzblatt: „Der wahre Jakob,“ mitunter auch dessen Bruderblatt, die in Wien erscheinenden „Glühlichter,“ vertrieb, Zeichnungen auf die sozialdemokratischen Lieferungswerke annahm und expedierte, Berloques, Streichholzbüchsen, Busennadeln mit den Bildern von Schippel, Bebel, Liebknecht und Photographien von diesen Herren an den Mann zu bringen suchte, und der immer in Versammlungen ebenso wie bei Vergnügungsfesten anwesend, oft auch einer der Mitarrangeure davon war. Was er sonst trieb, weiß ich nicht, jedenfalls aber habe ich ein aufdringliches Bestreben, die Leute, namentlich Neulinge zu bearbeiten, auch an diesem Manne nicht wahrgenommen. Er war der Agent der drei sozialdemokratischen Buchhandlungen, die es auch in Chemnitz gab. Es ist bekannt, daß diese Buchhandlungen, denen manchmal eine Anzahl zweifelhafter Antiquariate sich angliedern, in unerhörter Einseitigkeit nichts als sozialdemokratische Parteilitteratur und außerdem nur solche führen, deren Lektüre doch meistens indirekt eine Förderung der Parteisache bedeutet. Erst neuerdings scheinen sie soviel geistige Freiheit und Unparteilichkeit gewonnen zu haben, daß sie auch Sachen wie Schillers und Goethes Werke, die freilich in ihren Augen Produkte eingefleischter Bourgeois sind, zum Verkauf stellen. Auch diese sozialdemokratischen Buchhandlungen sind Quellpunkte der kraftvollen Agitation, und zeigten sich auch in Chemnitz als bedeutsame Institute der heutigen Volksbildung. Eine eigentümliche und nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Agitation der Partei besaßen auch die beiden bereits genannten sozialdemokratischen +Witzblätter+, die jener Kolporteur vertrieb. Wer sie kennt, wird zugestehen, daß sie ganz respektable Leistungen auf ihrem Gebiete sind. Die Bilder sind fast immer künstlerisch gewandt, die Witze, natürlich stets politisch gefärbt und zugespitzt, aber prägnant und schlagend, der Humor gesund und gut. Ihre Existenz ist für mich immer eine Ursache innerer Befriedigung gewesen, denn sie ist mir ein Beweis für den unblutigen Charakter der ganzen großen sozialdemokratischen Geistesbewegung. Eine Bande rabiater Gesellen, eine Partei, deren ausschließliches bewußtes Ziel der Ausbruch einer blutigen Revolution, deren einzige und größte Freude die Vernichtung alles dessen, was ist, sein würde, dächte nicht daran und wäre auch nicht fähig, etwas wie diese Witzblätter zu produzieren. Wo der mit echtem, heiterm Humor durchsetzte Witz im Gegensatz zu der bloßen von Verbitterung und Verbissenheit erfüllten und diktierten Satire zu so harmlosem Ausdruck gelangen kann, wie in diesen beiden Blättern, da ist ein solcher „blutiger“ Verdacht mehr und mehr auszuschließen; da kann man vielmehr auch aus solchen kleinen, an sich geringfügigen Zeichen die Gewißheit nehmen, daß bei allem sittlich Bedenklichen und geistig Unreifen, das dieser Bewegung anhaftet, bei allem ernsten und gefährlichen Explosionsstoff, der in ihr noch unleugbar ruht, doch auch so viel gesunde Kraft und frisches Blut in ihr pulsiert, daß bei richtiger Behandlung und Beeinflussung auch sie noch zu einem bedeutenden gottgewollten und gottgesegneten Faktor in der fortschreitenden Kulturentwicklung der Menschheit erzogen werden kann. Eine bedeutsame Agitation wurde weiter bei den im Sommer fast allsonntäglich stattfindenden +Arbeiter- und Kinderfesten+ entfaltet. Ich weiß nicht, ob das eine besondre Spezialität der Chemnitzer Sozialdemokraten ist; in Berlin treten ihnen zur Winterszeit wenigstens allerhand Bälle, Theateraufführungen, Konzerte und Maskenscherze mindestens gleichwertig an die Seite. Ich habe drei jener Sommerfeste mit erlebt, eines in unserm Dorfe, zwei in mehrere Stunden von Chemnitz entfernten reizend gelegenen Orten. Man hat deutlich den Eindruck, wie sehr es bei diesen Festen gerade auf die dem rein Politischen und Volkswirtschaftlichen fernstehenden, namentlich auf Arbeiterfrauen, Mädchen und Kinder abgesehen ist. Wer durch den Ernst des politischen Parteigedankens nicht gefesselt werden kann, soll durch die Freude an heiterer Geselligkeit und allerhand amüsanter Unterhaltung für die Partei gewonnen werden und so allmählich auf diesem leichten und lustigen Wege sozialdemokratischen Geist einsaugen. Indem man den Kindern Freude macht, gewinnt man die Herzen der Mütter; indem man daneben ein Tänzchen arrangiert, bringt man die nur auf Vergnügen gerichtete männliche und weibliche Jugend, dieser selbst unbewußt, mit der sozialdemokratischen Bewegung in Berührung und verknüpft ihre doch so ganz anders gearteten oberflächlichen Interessen mit denen der Partei. In Orten, wo die Sozialdemokratie noch nicht allzu festen Fuß gefaßt hat, wird mit besondrer Vorliebe ein solches Fest abgehalten; denn man präsentiert sich auf ihnen von der liebenswürdigsten, harmlosesten Seite und erscheint auch besonnenern und zaghaftern Arbeitern acceptabel und gar nicht fürchterlich. In solchen Fällen erfüllt solch Sommerfest im besondern Sinne Pionier- und Agitationsarbeit, und meist mit größerm Erfolge, als durch Abhaltung einer Anzahl öffentlicher Versammlungen erreicht zu werden pflegt. Noch eine besondre Aufgabe haben diese Feste. Sie sind alle zugleich ein finanzielles Geschäftsunternehmen der lokalen Parteileitung; denn ihr stets angestrebter und meist auch erzielter Überschuß muß die Parteikasse füllen helfen. Auch wurden durch allerhand Dinge, die ich gleich schildern will, noch gern gezahlte Extrasteuern erhoben. Das alles aber verhinderte nicht, daß sehr viele der Teilnehmer gleichwohl einer durchaus harmlosen Freude sich hingaben, und daß diese Harmlosigkeit, diese kindliche, tief im Volke steckende Lust, ungebunden, ganz hingegeben mit einander fröhlich zu sein, für viele Anwesende den eigentlichen Parteizweck in die zweite Linie zurückdrängte. Unter solchen Umständen macht dann ein solches sozialdemokratisches Kinderfest äußerlich denselben Eindruck, wie die meisten andern sonst üblichen „unparteiischen“ Volksbelustigungen und Volksvergnügungen auch. Es kommt gerade bei ihnen viel auf den Ort, das Wetter und das glückliche Arrangement an, um sie gelingen zu lassen. Zwei jener drei Feste sind mir in durchaus freundlicher Erinnerung. Das auf der sogenannten Jagdschenke, in der Nähe von Siegmar bei Chemnitz, und dasjenige in Einsiedel, einem von Chemnitz in etwa zwei Stunden erreichbaren idyllisch gelegenen Dorfe. Der Tag war schön, der Himmel blau, die Luft klar. Bei dem ersten Feste spielten die Kinder sichtlich die Hauptrolle; es war ein echtes, volkstümliches Jugendfest mit Kinderwagen und Kindergeschrei, mit Blechtrompetentönen und Ziehharmonikamusik, mit Sternschießen und Luftballon. Wie harmlos man sich da freute, zeigt ein originelles Spiel, das mir neu war. Ein junger Arbeiter in buntem Kostüm hatte sich ganz mit einfachen Pfefferkuchenstückchen behängt; so trat er unter die Kinder und ließ sich nun von ihnen jagen; wer ihn einholte, durfte sich solch ein süßes Stückchen von seinem Leibe reißen. Das gab eine lustige, tolle Jagd, das Bild eines modernen Rattenfängers von Hameln. Auch über die Spiele, die mehrere Arbeiter geschickt und unermüdlich mit den Kindern arrangierten, und denen eine große Menge Erwachsener lustig lachend zusah, freute ich mich. Da spielte man einmal sichtlich ohne Parteitendenz, wie das bekannte, abwechslungsreiche: Adam hatte sieben Söhne und ähnliches. Die Tanzlustigen vergnügten sich dabei in einem sehr primitiven Saale bei Zithermusik an Walzer und Polka, die Mehrzahl der Verheirateten draußen im Freien unter den Bäumen des Gartens. Das besondre Charakteristikum dieser sozialdemokratischen Feste war auch hier vertreten: das Raritätenkabinett und die Sitte der Arretierungen. Aber dies schildere ich besser bei der Erzählung von dem Feste in Einsiedel, das schon wieder einen andern, nicht mehr so ganz tendenzlosen naiv-heitern Charakter trug. Vielleicht mochte das auch an den allzuvielen Chemnitzer Genossen liegen, die hier im Gegensatz zu dem Feste in Siegmar das Übergewicht gegen die ortseingesessenen Teilnehmer bildeten und den Ton angaben, der, wenn er von diesen großstädtischen, in sozialdemokratischer Gesinnung und Gebaren gedrillten Arbeitern ausgeht, der Liebenswürdigkeit und ungekünstelten Natürlichkeit zu entbehren pflegte. Einigermaßen interessant ist das Programm, das mit roten Lettern auf gelbem Kartonpapier gedruckt, einem auf diesem zweiten Feste in Einsiedel gegen die Zahlung von 15 Pfennigen Eintrittsgeld übergeben wurde und folgendermaßen lautete: ~Ergebenste Einladung~ ~zum~ ~grossen Sommer-Fest~ ~des~ ~Wirker-Fachvereins für Einsiedel und Umgegend unter Belustigungen grosser und kleiner Kinder beiderlei Geschlechts +Sonntag, den 3. August 1890+ im Kaiserhof zu Einsiedel. Bei wolkenbruchartigem Regen 14 Tage später.~ ~+Programm.+~ ~I. Theil.~ ~2 Uhr: Sammeln aller grossen und kleinen Kinder im Kaiserhof.~ ~3 Uhr: Zusammentreffen mit den Besuchern, welche per Bahn von Chemnitz kommen, dann gemeinsamer Abmarsch nach dem Festplatz.~ ~3 Uhr 4½ Minuten: Ankunft auf demselben.~ ~II. Theil.~ ~1. Grosses Freiconcert von der weltberühmten Haus-Capelle, genannt Achtstunden-Capelle.~ ~2. Grosses Prämienschiessen aller kleinen Kinder beiderlei Geschlechts.~ ~3. Für kleine Wirker oder sonstige Lohnnehmer wird eine mit Wurst und anderen Sachen behängte Kletterstange errichtet, darf aber Niemand höher klettern, als die Stange ist.~ ~4. Aufstellen des weltberühmten Schnellphotographen.~ ~5. Grosses Prämien-Knaulwickeln für grosse Kinder weiblichen Geschlechts.~ ~6. Besichtigung des grossartigsten Raritätencabinetts der Welt.~ ~7. Rückfahrt nach der Stadt, 7 Uhr oder ½11 Uhr Abends.~ ~8. Alle 36 Stunden muss jeder Theilnehmer einmal nach Hause gehen.~ ~9. Jeder kann theilnehmen, wenn er eingeladen ist, darf aber nicht unter 3 Tage und nicht über 90 Jahre alt sein.~ ~10. Das Festcomité ist an den leeren Magen und schwieligen Händen zu erkennen.~ ~11. Hunde dürfen nicht mitgebracht werden, da schon genug Spitze vorhanden sind.~ ~Zum Schluss grossartiger Fackelzug und Abschied der Gäste, welche mit dem ½11-Uhr-Zug fahren.~ Das Konzert dauerte freilich nur von 4-5 Uhr. Währenddessen fand in dem kleinen, engen Rasengarten der Restauration das Klettern der großen Knaben, das Sternstechen der Mädchen, das Blindekuhspielen der Kleinsten statt. Jeder erhielt eine Kleinigkeit, die Jungen Messer, Mundharmonikas, Federhalter, Taschentücher, Wurst, die Mädchen Ohrringe, Broschen, Geldtäschchen, Strumpfbänder, Taschentücher, Würstchen, alles ganz billige Ware, wohl ein Gelegenheitskauf, da die bedruckten Taschentücher das farbige Bild -- Kaiser Wilhelm ~I.~ zeigten. Während dann für die erwachsene Jugend gegen 5 Uhr der Tanz begann und die Musikstücke aus den offnen Fenstern über den Festplatz schallten, bildete sich hier unter den zahlreichen Besuchern eine Männergruppe und sang, nachdem die Polizei inspiziert und sich wieder etwas entfernt hatte, aus dem sozialdemokratischen Liederbuche nach bekannten Melodien sozialdemokratische Weisen. Dicht umstanden Männer, Frauen und Kinder die Sänger und lauschten aufmerksam den Liedern, die vielen eine noch neue Welt kühner Gedanken in schwungvoller begeisternder Form enthüllten. In einer Ecke des Platzes stand auch hier das bereits genannte Raritätenkabinett und eine Nachahmung der bekannten auf Jahrmärkten und auch sonst nie fehlenden Buden für Schnellphotographie. Jeder mußte in eine der Buden hinein. Wer es nicht freiwillig that, wurde von einem mit Militärmütze und altem Uniformrock bekleideten, und mit einem Holzschwert bewaffneten Arbeiter, dem „Polizisten“, unter Assistenz mehrerer Genossen mit Gewalt hineintransportiert, „arretiert.“ Den Inhalt des Kabinetts bildeten wunderliche Raritäten. Da lag ein riesiger, üblicher Knüppel: die Keule des Kain; ein Stück rundes Glas: der Erdspiegel; ein eingetrockneter Hering: ein Riesenwallfisch; ein alter verrosteter Säbel und ebensolches Messer: Waffen von 1848 u. s. f. Jeder, der drin war zahlte 10 Pfennige, die der sogenannte Erklärer der wunderlichen Sachen kassierte und in ein Notizbuch notierte. Ich war gerade drin, als der königliche Gendarm und der Gemeindediener das verfängliche Lokal inspizierten. Ich muß sagen, es war eine lächerliche Szene. Die beiden Beamten, die mit strenger finstrer Miene diese Lappalien untersuchten, die naivdreisten Antworten der beiden auf solche Fälle wohlstudierten durchtriebenen Kassierer und Erklärer, das schadenfrohe Lächeln der andern, der Besucher. Als die Beamten hinausgingen, drehte man ihnen hohnlachend eine Nase. Unerfreulicher war das Fest in unserm Orte selbst, bei regnerischem Wetter, im engen, kahlen Hofe der Restauration. Auch hier ein solches Kabinett, darin ein Faß mit -- Arbeiterschweiß. Die Kinder mit Schürzen in roten oder deutschen Farben, die Erwachsenen mit roten Schleifen an der Brust. Die beiden Gasthofszimmer waren dicht mit Qualm und Menschen gefüllt und blieben es bis nachts 11 Uhr. An einem großen runden Tische war dichtes Gedränge und ein heftiger Streit zwischen der sozialdemokratischen Mehrzahl und einem Baiern, einem Kaufmann, der eben erst aus Amerika zurückgekommen und zufällig in dies Lokal geraten war. Neben ihm saß schweigend der Direktor der Brauerei, die dem Wirte das Bier lieferte und deswegen ihren Direktor aus Geschäftsrücksichten zu diesem Besuch und Verkehr verpflichtet hatte. Der Streit war heiß und kühlte sich nur immer wieder an der jovialen Gelassenheit des kaltblütig aber nicht geschickt opponierenden amerikanisierten Baiern. Daneben sang man demonstrativ sozialdemokratische Lieder, bis sich endlich die Woge der Diskussion legte und in einer solennen Kneiperei auf Kosten des Baiern verlief. Hierbei habe ich manches gesehen und gehört, wovon ich an einer andern Stelle erzählen werde. Dies „Kinderfest“ war kein Kinderfest, sondern ein durch und durch sozialdemokratisches, ziemlich wüstes Parteifest, das in schroffem Gegensatz stand zu dem hübschen Vergnügen des Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereins der Chemnitzer Metallarbeiter und Weber, dem ich am Sonntag darauf beiwohnte. Ich traf da zwei Schlosser unsrer Fabrik als Mitglieder, zwei unsrer ruhigsten, anständigsten Leute. Und wie sie, so wohlanständig, gewandt und höflich benahmen sich auch die übrigen Mitglieder und Gäste bei diesem Konzert und Tanzvergnügen. Es herrschte ein merklich andrer Ton als auf jenem eben geschilderten sozialdemokratischen Kinderfeste. In der +Fabrik+ selbst, während der Arbeit war von einer offnen und ostentativ-politischen Agitation der ausgesprochenen Sozialdemokraten so gut wie nichts zu beobachten. Das verhinderte vor allem wohl schon die energische Haltung unsers technischen Direktors. Er machte es jedenfalls schlauer als der „König“ Stumm. Er war streng, aber er überspannte den Bogen nicht, wie dieser es zu thun scheint. Er hatte ruhig, noch nach sieben Monaten, die große Kreideinschrift über der Eingangsthür zu unserm Bau stehn lassen: „Arbeiter, wählt alle Schippel!“ Er ignorierte das einfach, wie das „Hoch die internationale Sozialdemokratie!“, das in vielen Ecken zu lesen stand. Aber sonst hatte er ihnen angekündigt: „Die Sozialdemokratie ist mir ganz egal; draußen könnt ihr euch so rot anstreichen, wie ihr wollt, hier drin nicht; hier kommandiere ich; wer es dennoch thut, fliegt hinaus.“ Man wußte, daß er damit ernst machte, und hütete sich demgemäß, das Verbot zu überschreiten. Nur zu intimen Bekannten, deren man ganz sicher war, gab der oder jener agitatorisch angelegte zielbewußte Sozialdemokrat gelegentlich auch seinen politischen Anschauungen offnen Ausdruck; im übrigen beschränkte sich die kleine Schar der Getreuen darauf, einen um so intensivern indirekten Einfluß auf Angelegenheiten des Betriebes auszuüben. Ich merkte schon wenige Tage nach meinem Eintritt in die Fabrik, daß in solchen Fragen die gesamte Arbeiterschaft unsrer Abteilung unter einem gewissen undefinierbaren Drucke stand, und daß die Fäden dieser stummen Beeinflussung in den Händen ganz bestimmter charakteristischer Persönlichkeiten zusammenliefen. Wenn z. B. durch die Leiter der Fabrik irgend eine Neuerung in der Produktion, im Betriebe, in der Arbeitszeit, in der Löhnungsform eingeführt wurde, so konnte man genau beobachten, wie die Mehrzahl der Arbeiterschaft unschlüssig, zagend mit ihren eignen Ansichten und Urteilen zurückhielt, bis auf einmal die Parole ausgegeben, die „öffentliche Meinung“ gebildet erschien. Und wenn sie auch vielen der Leute nicht paßte, ja deren augenblicklichem Interesse direkt entgegenstand und darum deutlich von ihnen gemißbilligt wurde, so war sie doch eine Macht, die man respektierte, und gegen die man offen nur selten Einspruch zu erheben wagte. Das ist, was ich an +planmäßiger organisierter+ Agitation der sozialdemokratischen Partei an unserm Orte bemerkt habe. Ich behaupte und glaube nicht, daß sie sich auf diese Arbeit beschränkte; aber ich habe nur das, was ich schilderte, beobachten können. Ihre +Leiter und Hauptträger+ war die nicht allzu zahlreiche Schar der Elitesozialdemokraten, der überzeugten Genossen, die die Phalanx der Partei an jedem Orte, den Halte- und Krystallisationspunkt für die Tausende bilden, die sich um sie gruppieren. Aus dieser Schar gingen die Kandidaten für die sozialdemokratischen Wahlen, die Unterführer in den einzelnen Bezirken, die Vorstände der Wahl- und Fachvereine, die Komiteemitglieder für die Agitation bei Wahlen hervor. Sie allein waren in abstufender Reihenfolge mehr oder weniger eingeweiht in die Pläne der gesamten allgemeinen Zentralleitung, waren deren ausführende Organe, erhielten allein Mitteilungen und Anweisungen von ihr. Sie leiteten die Feste, waren die Wortführer in den öffentlichen Versammlungen und Auseinandersetzungen mit den Gegnern, die Wanderredner in der Umgegend, die unermüdlichen Vortragenden in den regelmäßigen Sitzungen der Wahl- und Fachvereine; sie instruierten auch die tonangebenden Personen in den Betrieben, in denen nicht selbst einer von ihnen beschäftigt war. Von den übrigen Arbeitern wurden sie -- äußerlich wenigstens -- widerspruchslos als die Führer anerkannt, und mit einem absonderlichen interessanten Gemisch kameradschaftlicher Vertraulichkeit und achtungsvollen Respekts behandelt; sie ihrerseits erwiderten diesen Ton wenigstens vielfach mit einer Art berechneten Wohlwollens und selbstgewisser Zurückhaltung. Doch war nicht jeder von ihnen bei jedem gleich gefeiert und geachtet. Einer gefiel besser als der andre; den hatte man lieber als jenen. Darüber entschied die Art seines Auftretens, seiner Reden, seiner ganzen Gesinnung. So gab es z. B. zwei Brüder R., die damals mit an der Spitze der Chemnitzer Agitation standen, und die -- namentlich einer von ihnen -- in den Sitzungen unsers Vereins sowie bei den Sonntagsfesten besonders das große Wort führten, heute aber, wie ich höre, der eine aus der Partei ausgeschlossen, der andre ausgetreten sind. Diese hatte man wegen ihres polternden, aufbrausenden, anmaßenden Wesens nicht allzu gern, und man zog andre wegen ihrer mildern, geschloßnern, ernstern Art vor. Es sind mir mehrmals in der Fabrik solche ganz selbständige Urteile von ältern Arbeitsgenossen über Führer ausgesprochen worden. Gleichwohl erkannte man sie als die leitenden Persönlichkeiten an, lauschte ihren autoritativen Worten, respektierte die Anordnungen, die sie von Parteiwegen zur Ausbreitung eben der von ihnen gleichmäßig organisierten und geleiteten und in der That meist wohlüberlegten Agitation geben zu müssen glaubten. Als ausführende Organe solcher einzelner Befehle ließ sich aber nur eine kleine Schar der Anhänger gebrauchen, fast ausschließlich ganz jugendliche Persönchen zwischen 18 und 22, 23 Jahren, die von blindem Parteieifer und unreifem Thatendrange überquollen. Sie waren die allerbrauchbarsten und gefährlichsten Werkzeuge in den Händen jener Agitatoren, das junge grüne Holz, aus dem diese ihre ergebenen Adjutanten und ihren Nachwuchs schnitzten. Die Menge der Anhänger aber, namentlich derjenigen, die etwas selbständige Neigungen und gemütliche Bedürfnisse hatten, gab sich mit dieser Art der organisierten Parteiagitation nicht ab, hatte wohl auch nicht die Zeit, die Kraft und die Mittel dazu. Sie huldigten vielmehr einer andern für sie bequemern Art der Agitation, die jener planmäßigen, von einer Zentralstelle geleiteten und gut funktionierenden nebenherging. Man kann sie im Gegensatz zu dieser die mehr +freiwillige+, +irreguläre+, +zufällige+, dem Ermessen, dem augenblicklichen Empfinden, den Fähigkeiten, der Gesinnungstreue der einzelnen Anhänger überlaßne nennen. Sie war mit einem Worte der persönliche Einfluß, den der sozialdemokratische Arbeiter auf den noch nicht oder erst wenig sozialdemokratischen Genossen ausübt; sie war gleichsam das Fleisch, jene andre das Gerippe des ganzen Ungeheuers, so da heißt sozialdemokratische Propaganda. Sie war wichtiger, bedeutsamer, verhängnisvoller als jene, aus der sie zwar ihre Kraft, ihre Gedanken, ihre ganze geistige Nahrung und immer neuen Antrieb empfing, der sie aber ihrerseits auch erst Leben und Nachdruck verlieh. Sie wurde nicht sonderlich kontrolliert, sie war an keine Zeit, keinen Ort, keine Weisungen von oben, keine kostspieligen Unternehmungen, keine äußern festlichen Veranstaltungen geknüpft, wenn sie auch, wie z. B. auf jenen Sonntagsfesten, auf diesen ihre ebenfalls und da besonders wirksame Thätigkeit entfaltete. Sie war allein an die Persönlichkeit der Tausende von Anhängern gebunden, die die Partei am Orte zählte, an deren Begeisterung, deren Gesinnungstreue, deren Überzeugungskraft. Sie ließ dem so Agitierenden alle Mittel und Wege zur freien Verfügung: nicht nur die langen theoretischen Auseinandersetzungen, die Reden am Biertisch und im Vergnügungsverein wie im Pfeifen-, im Zither- oder Harmonikaklub, sie war auch möglich in den Gesprächen während der Arbeit zwischen Mann und Mann, auf gemeinsamen Spaziergängen nach Feierabend, an schönen Sommerabenden, bei den gegenseitigen langen Besuchen in den nachbarlichen Familien, beim Kartenspiel, kurz wo immer zwei oder drei Menschen bei einander waren. Sie machte sich, und hier oft gerade mit doppeltem Erfolge, schon in den unmittelbaren Äußerungen des unbewachten Augenblicks geltend, in den Scherzen, die von Lippe zu Lippe fliegen, in den Urteilen, die über andre, Abwesende fallen, in einer einzigen kurzen malitiösen Bemerkung, ja in einem überlegnen Lächeln, einem scharfen Blick, einem beredten Schweigen, einer flüchtigen, aber bezeichnenden Handbewegung. Und das ist vielfach ein weiteres Charakteristikum an ihr: sie, +diese+ Agitation, ist in vielen Fällen den Agitierenden selbst gar nicht bewußt, und gerade dann, wo dies eintritt, erst recht eindringlich und eindrucksam. Denn sie ist dann erst recht der unmittelbare Ausfluß des innern Empfindens, der innern Gedanken, die die Seele beherrschen, als eine Glaubensmacht und treibende Lebenskraft, der Ausdruck und die Ausprägung der eigensten Persönlichkeit, die dabei ihr bestes einsetzt, weil sie von ihrem besten redet. Darum wird gerade diese überall, wo Sozialdemokraten anwesend sind, geübte Agitation so besonders bedeutungsvoll, daß hinter ihr die ganze Person der Agitierenden steht und den Argumenten des Wortes den wuchtenden Nachdruck verleiht. Das ist aber auch zugleich die Ursache, warum mit dieser Form der irregulären, persönlichen Agitation mehr als mit jener andern organisierten, d. h. durch Überlegung kontrollierten ein Fanatismus verbunden sein kann, der dann bei bestimmten Gelegenheiten zum schroffen Terrorismus führt. Eben dieser Terrorismus war in der That sehr oft im Verkehr mit den sozialdemokratisch gesinnten Arbeitern zu bemerken, besonders häufig und drückend natürlich in der Fabrik, weil da der persönliche Verkehr am längsten und intensivsten möglich zu sein pflegt. Er war die Ursache, daß man sich in der oben geschilderten Weise den von den Führern gegebenen Parolen in Betriebsfragen wenigstens äußerlich fügte, daß man allerhand Geschichten mitmachte, die man vielleicht sonst unterlassen hätte, daß man Äußerungen in den Mund nahm, die nicht, wenigstens nicht ganz der Ausdruck der innersten Wünsche und Neigungen war, daß die meisten sich in ihren Urteilen einschüchtern und beeinflussen ließen, was sich namentlich, wie wir sehen werden auf geistigem, sittlich-religiösem Gebiete zeigte. Aber er führte auch geradezu zu thätlichen Vergewaltigungen. So erzählte mir einer, der selbst dem sozialdemokratischen Konsumverein des Ortes angehörte, natürlich auch, freilich in der üblichen Durchschnittsform, Sozialdemokrat war, aber gern seine eignen Wege ging und seine besondern Neigungen hatte, daß einmal die Fabrikdirektion infolge zu zahlreicher Bestellungen Überstundenarbeit angesetzt hätte. Dagegen Agitation der tonangebenden Sozialdemokraten in der Fabrik; die Parole, daß keiner, trotz der Verpflichtung in der Arbeitsordnung, kommen dürfe; einige opponieren, schon um mehr zu verdienen; da nimmt man ihnen heimlich das Werkzeug weg um sie zur Unthätigkeit zu zwingen. Das ist nackter Terrorismus, der noch dadurch eine eigentümliche Beleuchtung erhält, daß eben diese terrorisierenden Agitatoren nach der Erzählung meines Gewährsmannes dann, als die von ihnen beeinflußten wirklich nicht an der Überstundenarbeit teilgenommen hatten und nach Hause gegangen waren, daß sie selbst zurückgeblieben waren, um zu arbeiten. Ich kann diese Geschichte freilich nicht im einzelnen auf ihre Wahrheit prüfen, es ist auch nicht nötig; schon die Thatsache, daß jener mir so etwas erzählen konnte, beweist das Vorhandensein des Terrorismus, dessen Wirkungen auch ich persönlich oft mehr instinktiv als in deutlichen Vorgängen wahrnehmen konnte. Aber ein solcher aus einer Sitzung des schon genannten Konsumvereins sei noch gestreift: in diesem Falle wurde in der Sitzung bei einer für den Verein wichtigen Frage der innern Verwaltung ein Antrag nicht nur, sondern auch die Meinungsäußerung der weniger energisch sozialdemokratisch gerichteten Mitglieder darüber einfach nicht geduldet, unterdrückt -- also eine gerade entgegengesetzte Erscheinung der gegenüber, die ich oft in den Sitzungen unsers Wahlvereins beobachten konnte. Ihrem +materiellen Inhalte+ nach hatte es diese ganze Agitation nicht nur auf die Verbreitung neuer politischer Anschauungen und ökonomischer Grundsätze abgesehen, sondern sie bezweckte und bewirkte zugleich auch eine Umwandlung der bisherigen Bildung, der religiösen Überzeugung und des sittlichen Charakters der deutschen Arbeiterschaft. Das macht, weil die Sozialdemokratie von heute nicht nur eine neue politische Partei oder ein neues wirtschaftliches System, auch nicht nur dies beides, sondern zugleich eine neue Welt- und Lebensanschauung, die Weltanschauung des konsequenten Materialismus, die praktische Anwendung der Lehre von der +natürlichen+ Weltordnung im Gegensatz zur +sittlichen, göttlichen+ ist. Ich habe dies an dieser Stelle nicht theoretisch, aus der Geschichte, den Schriften, den Zeitungen der Sozialdemokratie und dem Entwicklungsgange und Charakter ihrer bisherigen Führer nachzuweisen. Das überschreitet bei weitem Rahmen und Zweck dieser Schrift. Aber jeder, der nur einigermaßen diese Geschichte kennt, diese Schriften studiert, diese Zeitungen aufmerksam verfolgt und die führenden Elemente und deren Interessen einigermaßen überwacht, wird mir ohne weiteres die heute immer mehr anerkannte Wahrheit dieses Satzes zugestehen. Um wenigstens eins zu sagen, erinnere ich hier allein an den frappanten Gegensatz der sozialdemokratischen Bestrebungen zu denen der Bodenbesitzreformer unter Michael Flürscheims Führung, der in der Grund- und Bodenfrage ebenso radikal ist wie jene, d. h. den gesamten Grund- und Bodenbesitz verstaatlichen will, der dies Ziel nicht nur durch litterarische Arbeiten, sondern auch -- wie jene -- durch Bildung politisch-ökonomischer Vereine agitatorisch zu erreichen sucht, und der meines Erachtens doch durchaus nicht Sozialdemokrat ist, weil er dieses sein politisch-ökonomisches Ideal nicht verquickt mit einer radikalen Opposition gegen die überkommenen Bildungselemente, gegen Christentum und Kirche und mit dem bewußten Versuche der Umgestaltung auch der sittlichen Grundsätze, die bisher in unserm Volke Geltung und Nachachtung fanden. Doch das nebenbei. Hier wird es meine Aufgabe sein, die Wahrheit jenes oben behaupteten Satzes einmal aus den praktischen Erfahrungen zu erhärten, die ich während meiner dreimonatlichen Arbeiterzeit gemacht habe. Ich werde da nun zu zeigen haben, +daß die Wirkung dieser so vielseitigen und energischen sozialdemokratischen Agitation bisher viel weniger tiefgreifend, nachhaltig und vor allem viel weniger verhängnisvoll für die politische Gesinnung und die wirtschaftlichen Gedanken der Arbeiter, die mir begegneten, gewesen ist, als eben für ihre geistige Bildung, ihre religiöse Überzeugung und ihren sittlichen Charakter+. Man könnte vielleicht sagen, daß die offizielle, organisierte Agitation mehr die politischen und die sozialen Grundsätze der Partei, wie sie bisher im Eisenacher Programm formuliert vorlagen, in allen Tonarten und Nüancen in die Köpfe der Arbeiter zu bringen suchte, während die andre, die sogenannte freiwillige, unorganisierte, die Gelegenheitsagitation in erster Linie eben jenen ganzen sozialdemokratischen Geist, die materialistische Gesinnung, die Weltanschauung der Partei weiter trug und zu immer größerer, oft selbst nicht im ganzen Umfange erkannter Geltung brachte, -- wenn es nicht gerade hier schwer wäre, eine solche scharfe Grenzscheidung zu ziehen. Wie das auch in der sozialdemokratischen Tagespresse, die ja vor allem ebenfalls der Verfechtung und Propagierung des offiziellen Programmes dienen soll, gleichwohl aber auf jeder Zeile den Geist jener spezifischen Weltanschauung atmet, deutlich zu sehen ist, so war es im allgemeinen auch mit dieser Doppelagitation: sie floß stets mehr oder weniger in einander über; die eine hob und trug die andre; und sie trat umso zusammengeschlossener, umso harmonischer, wenn ich so sagen darf, auf, je geschlossener, zielbewußter, sozialdemokratischer die Persönlichkeiten waren, die sie machten, je völliger und klarer das ganze einseitige und doch in dieser starren Einseitigkeit große sozialdemokratische System in diesen Persönlichkeiten zum Ausdruck kam. Fünftes Kapitel Soziale und politische Gesinnung meiner Arbeitsgenossen Die erste und bedeutsamste Wirkung dieser eben geschilderten Agitation ist die Thatsache, +daß die gesamte Arbeiterschaft von Chemnitz und Umgegend, die ich kennen lernte, mit nur geringen Ausnahmen heute mit der sozialdemokratischen Partei irgendwie weit verknüpft ist, daß sie mehr oder weniger in der Luft ihrer Ideen lebt, und daß sie jedenfalls in ihr, dieser Arbeiterpartei ~par excellence~, ihre einzige starke und berufene Repräsentantin erblickt+. Der Arbeiter, mit dem ich Umgang gehabt habe, ist -- bewußt oder instinktiv -- durchdrungen von dem Gefühl des bestehenden feindlichen Gegensatzes seiner und der Unternehmer Interessen; er ist erfüllt von dem Drange nach einer geschlossenen thatkräftigen Organisation der Massen, zu denen er gehört, von dem Sehnen nach einem großen Fortschritt, nach einem Aufschwung des ganzen vierten Standes, den diese Massen bilden; er hat, auch ein Kind der neuen gedankendurchfluteten, gärenden Zeit, wie die andern Zeitgenossen allerhand neue Interessen, höhere, leibliche wie geistige Bedürfnisse, deren Befriedigung er verlangt; und er weiß, sieht, fühlt, daß dieses elementare Drängen und Sehnen, dieses Streben und Bedürfen ihm niemand anders bis heute ohne Rückhalt und Eigennutz, energisch und weitausgreifend befriedigen will, als eben die sozialdemokratische Partei. Und darum, mag ihn sonst vieles von ihr trennen, vieles von ihrem sonstigen Wesen abstoßen, gehört er ihr an, und -- ich bin dessen ganz gewiß -- keine augenblicklich herrschende Gewalt, auch keine geistigen Machtfaktoren werden ihn heute ohne weiteres wieder von dieser Partei lösen, werden es vermögen, daß die Gedanken, die jene geweckt hat, und aus denen sie doch auch wieder erst herausgeboren wird, jemals wieder völlig verschwinden. Darum hängen ihr unterschiedslos Junge und Alte, Gut- und Schlechtgestellte, Verheiratete und Unverheiratete, Gelernte und Ungelernte, Sparsame und Lüderliche, Fleißige und Faule, Kluge und Dumme, Herauf- und Heruntergekommene, Eingeborene und Eingewanderte, alle Gruppen, Klassen und Kategorien der Fabrik bis auf eine verschwindend kleine Gruppe irgendwiesehr an, wissen sich als Sozialdemokraten, folgen den Führern und glauben an sie, ihre Worte und Schriften wie an ein neues Evangelium. Man hat es mir mehr als einmal in der Fabrik geradezu ins Gesicht gesagt: „Was bis jetzt Jesus Christus war, wird einst Bebel und Liebknecht sein.“ Das ist der Ausdruck des Bewußtseins, daß die Sozialdemokratie heute die Arbeiterschaft ist, daß diese sich in ihr zusammenfindet oder doch immer mehr zusammenfinden wird und daß, so groß und viel auch die Unterschiede, die Gegensätze, die Widersprüche, die Trennungen unter ihnen sind und immer sein werden, sie doch alle zusammen gehören in ihren Leiden, Freuden und Idealen. Zum Beweis dessen führe ich eine Reihe ganz spontaner Äußerungen aus dem Munde der verschiedensten Arbeitsgenossen an. Sie lauten ihrem Sinne nach einander alle gleich: „Bei uns haben alle bis auf den letzten Mann sozialdemokratisch gestimmt“; „Die Arbeiter sind und wählen alle Sozialdemokraten“; „Jeder Arbeiter ist Sozialdemokrat“; „Ich wähle meinesgleichen“; und, besonders drastisch: „Hier ist alles sozialdemokratisch, selber die Maschinen!“ Was sich da ausspricht, ist immer dasselbe, eben die Meinung -- ganz im allgemeinen --, daß Sozialdemokratie und Arbeiterschaft ein und dasselbe sein muß. Zwar scheinen dem eine Reihe andrer Aussprüche andrer Arbeitskollegen direkt zu widersprechen. Denn einige der Leute meinten auch wieder gelegentlich, „daß nur etwa die Hälfte der 400-500 Mann unsrer Fabrik Sozialdemokraten seien.“ Doch ist das nur ein scheinbarer Widerspruch. Denn da meinte man immer nur solche, die mit ihrer sozialdemokratischen Gesinnung irgendwie besonders bemerkbar hervortreten, vor allem irgend welchem sozialdemokratischen Wahl-, Fach-, Hilfskassen- oder Vergnügungsvereine angehörten. In +diesem+ Sinne war allerdings noch lange nicht die Hälfte Sozialdemokraten zu nennen. Sozialdemokratisch gerichtet, bestimmt, gesinnt aber -- im weitesten Sinne -- war, wie gesagt, die erdrückende Mehrzahl meiner Arbeitsgenossen. Bewußte und erklärte Nichtsozialdemokraten habe ich nur drei in unsrer Abteilung von 120 Mann im Laufe der Zeit ausfindig machen können. Davon waren zwei in dem auch in Chemnitz bestehenden, wie ich hörte, etwa siebzig Mitglieder zählenden Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine; der dritte war eine gute, treue Seele, der religiös noch zu tief angeregt war und auch einer zu konservativen und zu wohlhabenden Bauernfamilie angehörte, um irgendwie sozialdemokratische Neigungen mit gutem Gewissen und aus innerm Bedürfnis haben zu können. Man sagte von ihm, er ginge nur zu seinem Vergnügen in die Fabrik; nötig hätte er es nicht. Außer diesen dreien gab es nun freilich, soviel ich beobachten konnte, auch bei uns noch einige andre, die thatsächlich mit der Sozialdemokratie nichts gemein hatten. Aber sie behielten das für sich und zogen es vor, die Genossen über ihre Gesinnung im Ungewissen zu lassen. Manchmal war auch angeborene große Schüchternheit und nicht bloße Berechnung die Ursache dazu. Obgleich ihre Zahl nicht zu schätzen ist, glaube ich doch nicht, daß ihrer allzuviele waren. Jedenfalls bildeten diese Neutralen auch zusammen mit jenen drei offnen mutigen Nichtanhängern an die Sozialdemokratie nur die verschwindende Minderheit gegenüber den Arbeitsgenossen, die sich selbstverständlich zur Sozialdemokratie rechneten oder offen zu ihr bekannten. Das heißt nun freilich nicht, daß jeder von diesen ein zielbewußter, über das Prinzip und Programm der Partei klar orientierter Sozialdemokrat gewesen wäre. +Das gilt vielmehr von kaum drei, allerhöchstens vier Prozent der Gesamtheit, nur von der kleinen Schar jener Leiter und Träger der Agitation und ihren nächsten Freunden und Schülern.+ Sie allein hatten einigermaßen die Agitationsschriften der Partei gründlich und mit Verständnis gelesen, sie allein kannten und verstanden das gesamte offizielle Programm, seine Interimsforderungen nicht minder als seine letzten radikalsten Ziele. In oft glühendem Fanatismus hatten sie die eignen, widersprechenden Erfahrungen aus der Praxis, das geistige Erbe ihrer Vergangenheit, die Kritik ihres gesunden Menschenverstandes gewaltsam unterdrückt und zum Schweigen gebracht, hatten sie sich, oft mit unsäglicher Mühe, mit pekuniären Opfern aller Art in dies Programm hineingearbeitet, bis sie endlich ganz in seinen Gedankengängen aufgingen, nur noch in ihnen und für sie lebten, nur durch die Brille dieses Programms Menschen und Dinge, Zustände und Ereignisse anzusehen und zu beurteilen imstande waren. Es waren meist echte, ehrliche, deutsche Schwärmer und Idealisten, aus denen sich dieser Kreis von Arbeitern zusammensetzte, manche dazu noch von einem unbändigen Ehrgeiz und Thatendrang erfüllt, aber nach allen meinen Beobachtungen nur wenige unter ihnen von der Klasse der ausgeprägten Egoisten, die heimlich irgend welchen persönlichen Vorteil suchten und fanden. Hier in dieser kleinen Gruppe und in ihr allein fand man wirklich die Anschauungen und Grundsätze der Sozialdemokratie klar und rein vertreten und ausgesprochen, Prinzip und Ziel fest erkannt und erstrebt. Doch gab man ihnen seltner, als man hätte vermuten und erwarten können, auch ebensolchen offnen Ausdruck. +In der ganzen übrigen erdrückenden Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft aber war von einer ebensolchen geschlossenen und klaren politischen und sozialen Gesinnung nicht mehr die Rede. Hier waren vielmehr die allerverschiedensten, auseinandergehendsten, verworrensten Ansichten in buntem Gemisch, in allen Nüancen und Färbungen vertreten.+ Hier waren die eignen praktischen Erfahrungen, die ein jeder in seinem bisherigen Leben und Berufe gemacht, die persönlichen Wünsche und Erwartungen, die gerade er hegte und erstrebte, die eigentümlichen Eindrücke, die er in seiner frühern nicht sozialdemokratischen Zeit, im Elternhause und sonstwo erhalten, nicht so gewaltsam unterdrückt und verwischt, sondern vielmehr häufig noch besonders rege und lebendig, und alles zusammen, eigne Erfahrung, persönliche Wünsche, frühere Einflüsse in eine wunderliche, oft nur sehr lose und nur sehr beschränkte Verbindung mit sozialdemokratischen Anschauungen und Lehrsätzen gebracht. Und auch diese wieder waren bei weitem nicht vollständig, nicht geklärt und geordnet aufgenommen. Denn nur wenige aus diesem großen und unübersehbaren Kreise hatten auch nur einigermaßen so hartnäckig und ernsthaft wie jene andre, erstgeschilderte Gruppe die Parteischriften studiert. Was sie vielmehr von politischen und wirtschaftlichen Ansichten sozialdemokratischen Ursprungs besaßen, war ihnen meistenteils aus kurzen halbverdauten Artikeln der unregelmäßig gelesenen sozialdemokratischen Lokalpresse, teils aus den Vorträgen und Reden sozialdemokratischer Versammlungen, teils endlich aus dem persönlichen Umgange mit den klarern, zielbewußtern Kameraden hängen geblieben. Und je nachdem nun einer oder mehrere der oben genannten vier Faktoren in dieser Verquickung das Übergewicht und den bestimmenden Einfluß hatten und je nach den geistigen Fähigkeiten des einzelnen Mannes und seiner größern oder geringern Initiative, entstand so ein vollständigeres oder unvollständigeres, geklärteres oder widerspruchsvolleres, vernünftigeres oder unvernünftigeres, immer aber buntes Gemisch von politischen und sozialen Gedanken, das sich in keinem Falle mehr mit der wasch- und programmechten sozialpolitischen Anschauung des Normal- und Elitesozialdemokraten zu decken vermochte, das überhaupt in keine Parteischablone einzuordnen war, und das nun bald in liebenswürdigerer, freundlicherer, ruhigerer und leidenschaftsloser, bald aber auch in roher, abstoßender, gehässiger, radaumäßiger Art, bald in gewandteren bald unbeholfneren Ausdrücken, bald häufiger bald seltner zu Gehör gebracht wurde. Und obgleich so notwendigerweise fast ein jeder dieser Leute eine besondre, von dem andern verschiedene Stellung zum sozialdemokratischen Programm einnahm und oft das Allerverschiedenste, ja Konservativste mit unter dasselbe subsummierte, fühlten und wußten sie sich doch alle als Sozialdemokraten, und manch einer von ihnen glaubte steif und fest, daß eben seine eignen lückenhaften, brockenweisen Gedanken gerade diejenigen der Partei, sein eigen wunderlich Ideal auch das ganze Ideal der Sozialdemokratie sei. Es ist unter solchen Umständen geradezu unmöglich, eine erschöpfende Darstellung dieser verworrenen, verschiedenartigsten, halb oder nie zum klaren Ausdruck gebrachten Ansichten zu geben. Ich selbst habe sie natürlich auch bei weitem gar nicht alle in Erfahrung bringen können und muß mich darum darauf beschränken, mir besonders frappant gewesene Züge davon hier wiederzugeben. In einem sehr wichtigen Gesichtspunkte näherten sie sich zunächst einander ziemlich alle. Das war in dem Verhältnis zu den letzten radikalen Zielen des sozialdemokratischen Parteiprogramms. Ich sage nicht, daß man sie offen verwarf oder ihnen auch nur konsequent Opposition machte. +Aber bei der Mehrzahl dieser Durchschnittssozialdemokraten und gerade auch bei den klügern, nachdenklichen, praktischen, erfahrenen und gereiften Männern unter ihnen war weder der offizielle demokratische Republikanismus noch der wirtschaftliche Kommunismus eigentlich recht populär.+ Es waren dies Größen, für die die meisten dieser Köpfe kein inneres Verständnis und ebenso viele Herzen keine Begeisterung und Wärme zu hegen vermochten. Aber man nahm eben auch dies wie so vieles von der Sozialdemokratie hin als etwas, was nun wohl einmal dazu gehören und so sein müßte, gleichgiltig es den Führern überlassend, sich mit diesen unfaßbaren Problemen herumzuschlagen, im stillen vielfach davon überzeugt, jedenfalls aber darauf gefaßt, daß diese Prophezeiungen niemals in Erfüllung gehen würden. So sagte mir einmal ein ziemlich gut gestellter, kinderloser, darum sorgenlos lebender Bohrer, ein schon älterer, gutmütiger, höflicher Mann, aber ein begeisterter Anhänger der Sozialdemokratie, genau wörtlich: „So wie Bebel die Sache in Zukunft haben will, wird es doch niemals kommen. Er hat sich schon geändert und wird sich auch weiter noch mehr ändern.“ Ein andrer, ebenfalls sehr kluger, nachdenkender und überzeugter Sozialdemokrat erzählte mir einmal unter anderm in einem längern Gespräche: „Weißt du, ich lese nie ein sozialdemokratisches Buch und selten eine Zeitung. Früher habe ich mich überhaupt nie mit Politik beschäftigt. Aber seit ich verheiratet bin und fünf tüchtige Fresser im Hause habe, muß ichs thun. +Doch mache ich mir meine Gedanken für mich.+ Ich bin auch nicht für rote Schlipse, große runde Hüte und sonstige ähnliche Sachen. Das machts alles nicht. +Wir wollen auch gar nicht den Reichen und Vornehmen gleich werden. Reich und arm muß und wird immer sein.+ Das fällt uns gar nicht ein. Aber wir wollen gerechtere und bessere Ordnung in der Fabrik und im Staate, und was ich darüber denke, sage ich offen heraus, wenns auch nicht gefällt. Etwas Ungesetzliches aber thue ich nicht.“ Überhaupt scheuten sich Klügere und Selbstbewußtere nicht, auch gegenüber augenblicklichen Fragen ihrer Partei ihre besondre Stellung auszusprechen. So ein Monteur, der älteste, erfahrenste in der ganzen Abteilung, der, wie er mir bei einer andern Gelegenheit auseinandersetzte, ähnlich dem vorher zu Worte gekommenen Kameraden zur Sozialdemokratie stand, und der durchaus nicht die Verwirklichung aller ihrer Forderungen erwartete, ja kaum wünschte. Dieser war über die Haltung der offiziellen Partei zur Frage der Frauen- und Kinderarbeit, wie viele, nicht sehr erbaut. Bekanntlich drängte die Parteileitung bis vor kurzen dahin, daß die gesamte sozialdemokratische Agitation auf deren Beseitigung, und der Arbeiter möglichst auf deren freiwillige Unterlassung bestand. „Das ist aber Unsinn. Wenn der Mann genug verdient, läßt er schon von allein Frau und Kinder nicht in der Fabrik arbeiten. Wird aber das Geld gebraucht, so müssen sie eben wohl oder übel mitarbeiten; da sollte man denn doch den Verdienst nicht noch einschränken wollen. Denn das ist falsch, daß man behauptet, dann würden die Löhne steigen. Ein bißchen vielleicht, aber viel nicht. Sollte wirklich ein Ersatz geschaffen werden, dann müßten sie im Durchschnitt verdoppelt werden; dann brauchte allerdings keiner mehr seine Frau oder sein Kind arbeiten lassen. Aber wer kann das den Fabrikanten zumuten? Ich glaube gar nicht, daß sie das, selbst wenn sie es wollten, leisten könnten.“ Es kommt in diesen Meinungsäußerungen nicht darauf an, ob sie sachlich und wirtschaftlich richtig oder falsch sind -- bei der eben angeführten z. B. müßte man doch das letztere behaupten --, sondern darauf, zu beweisen, daß +geistig begabte, gewandte und überlegende Arbeiter, so sehr sie sich im allgemeinen mit der sozialdemokratischen Partei verbunden wissen, doch eigne Ansichten nicht nur bewahren, sondern sie auch unter den Genossen ruhig auszusprechen sich nicht schämen und jedenfalls mit ganz andern Fragen sich innerlich auseinanderzusetzen das Bedürfnis haben, als mit den Phrasen von einer republikanisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung+. +Vielmehr beschäftigen diese große, breite Gruppe der besten Arbeiter am stärksten die augenblicklichen+ und -- für Höherangelegte und Weiterausschauende -- auch die ferner und prinzipieller liegenden Fragen des eignen Wirtschaftsbetriebes, den sie kennen und verstehn, an dem sie unmittelbar beteiligt sind, in dem sie Erfahrung und Urteil besitzen. So ließ manchen schon die so ganz harmlose Frage der vierzehntägigen Lohnauszahlung nicht in Ruhe. Sie wünschten dringend eine achttägige Lohnperiode. Ich meinte da, das sei doch gleichgiltig, aber da kam ich nicht gut an. Die Bedürfnisse für acht Tage könnte man übersehen, das Geld so lange zusammenhalten und richtig und gleichmäßig verteilen. Das sei bei vierzehntägiger Löhnung nicht gut möglich. Größere Ausgaben, die notwendig dazwischen kämen, nähmen da zu viel weg, und am Ende der vierzehn Tage ginge es dann immer knapp genug her, oder man lebte auf Borg. Das waren nun zwar keine ausschlaggebenden Gründe, wohl aber leider ein weiterer Beweis für die schon bemerkte hauswirtschaftliche Unfähigkeit unsrer Arbeiterschaft. Wieder für andre war das Problem einer gerechteren Bezahlung Kern und Stern ihrer politischen und sozialen Anschauungen. Mit Fug und Recht. Ich habe schon in einem frühern Kapitel diese Sache gestreift. Es ist Thatsache, die viel beklagt wurde und mir immer wieder auffiel, daß in der Wertung und Löhnung der einzelnen Berufskategorien und innerhalb deren wieder der einzelnen Arbeiter kaum eine gerechte Ordnung herrscht. Es ist das meines Erachtens ebenso wie jene totale Vernachlässigung einer Regelung des Verhältnisses und der Kompetenzen der subalternen Vorgesetzten zu ihren unterstellten Arbeitern auf jenes verhängnisvolle wirtschaftliche Prinzip des Gehenlassens und der Verachtung der menschlichen Persönlichkeit zurückzuführen, das es in seinem absolutistischen Dünkel gar nicht der Mühe wert hält, gar nicht als eine sittliche Pflicht auch nur ahnen und verstehn läßt, daß hier Ordnung sein muß, widrigenfalls hier eine Quelle dauernder größter Unzufriedenheit sprudelt. So war es Sitte, daß die Schlosser und Schmiede, also gelernte Leute, für ihre mühsame, schwere, oft knaupliche und viel Intelligenz erfordernde Arbeit im Durchschnitt viel geringer gelohnt waren als eine große Anzahl an der Maschine arbeitender Bohrer, Dreher, Hobler und Stoßer. Und wieder unter diesen hatten, wie schon gesagt, gerade die an den großen Drehbänken, Bohr-, Hobel- und Stoßmaschinen mühelos beschäftigten einen unverhältnismäßig höhern Lohn als die zu unausgesetzter Aufmerksamkeit gezwungenen Arbeiter an denselben Maschinen kleinen und kleinsten Kalibers, von den Handarbeitern gar nicht zu reden. Diese Mißstände zu beseitigen war mancher unsrer Sozialdemokraten dringendste Forderung. Sie verlangten hier gerechtere Berücksichtigung und dann mit einer ganzen Reihe von Arbeitsgenossen steigenden Lohn mit der wachsenden Anzahl der Jahre, währenddem man in ein und demselben Betriebe beschäftigt war, wenn möglich auch eine gewisse Avancementsfähigkeit, so vom Handarbeiter zum Arbeiter an einer kleinen, allmählich zu solchem an einer größern und auch ganz großen Maschine, die auch heute schon von keinen darauf gelernten Leuten bedient wurden. Ansätze zu einer solchen Avancementsskala waren freilich bei uns, aber auch wohl nur unbeabsichtigt vorhanden. Ich persönlich würde nicht so leicht begreifen, warum unsre Arbeitgeber -- ich vermute, es ist anderwärts auch so -- gerade diese Wünsche ihrer Leute bis heute so total ignoriert haben, wenn es nicht eben Thatsache wäre, daß sie von der Erfüllung sittlicher Pflichten keine blasse Ahnung haben. Und doch läge das in ihrem eigensten Interesse. Es kostete ihnen kaum eine nennenswerte Summe -- worauf für sie doch so viel anzukommen pflegt -- und ermöglichte ihnen, einen viel größern und viel seßhaftern, damit auch konservativern Arbeiterstamm heranzuziehen. Noch andre unsrer Arbeitsgenossen spannen nun freilich die Gedanken über Fragen +unsers+ Betriebes über diese hinaus bis zu allgemeinen wirtschaftlichen Problemen der Art, wie sie allerdings die Sozialdemokratie ihnen vorformulierte. Dabei kamen ihnen dann jene früher geschilderten Erscheinungen zu Hilfe, die ihrer scharfen Beobachtung nicht entgingen, z. B. daß der ganze ihnen sichtbare Betrieb durchaus gesellschaftlich, sozialistisch gebildet war, in der Form der gemeinsamen Produktion einzelner kunstvoller Ganzen sowohl, wie in der Art des gegenseitigen Verkehrs unter sich und mit ihren nächsten Vorgesetzten bei dieser Arbeit. Dazu verhalf weiter die Thatsache, daß die eigentliche Gesamtleitung, die Thätigkeit des kaufmännischen Zweiges eines solchen großen Etablissements sowie der gesamten technischen Abteilung der Ingenieure und Zeichner sich fast vollständig ihren Augen entzog, sodaß diese einfachen Menschen umso leichter zu der irrigen Ansicht kommen konnten, daß eben +ihre+ Arbeit die eigentliche, die hauptsächliche, die Arbeit überhaupt sei, daß eben +sie+ die Maschinen bauten, sie die eigentlichen Schöpfer und Macher seien, sie, diese Arbeiterschaft, die Fabrik repräsentierten. Aber auch sie, die so ihre grübelnden Gedanken und Träume selbstbewußt und stolz oft weit hinaus in verschwimmende Ferne spannten, thaten auch das doch ohne rechtes Versenken in die eigentlich kommunistischen Prinzipien, ohne eigentlich klares Verständnis ihres Wesens und ihrer Konsequenzen und fast immer auch ohne jene erbärmliche, vaterlandslose, +politische+ Gesinnung der Führer und Elitesozialdemokraten, deren Humanitätsduselei zum schwächlichsten Kosmopolitismus und damit zur Verkennung und Proskribierung alles wahrhaft Patriotischen und +patriotisch Notwendigen+ verführt. Ich glaube es nachdrücklich wiederholen zu können, daß eben von dieser letzten schlimmern Sorte von Sozialdemokratismus unter der Masse dieser Durchschnittssozialdemokraten, auch der strebsamen, überzeugtern unter ihnen, nur erst noch sehr wenig als wirklicher Bestandteil innerster Überzeugung vorhanden, und daß vielmehr z. B. dem deutschen Vaterlande, dem Kaiser und dem Heere gegenüber eine überraschend freundliche Gesinnung unter ihnen lebendig war. So schwer, ja unmöglich es für mich auch in diesem Falle war, bei der Verworrenheit und Unklarheit der Meinungen dieser Leute ein geschlossenes Gesamtbild davon zu gewinnen, so glaube ich doch gerade über ihre Stellung zum Militär, zum Kaiser und zum Könige von Sachsen, zur Revolution, endlich auch zu Bismarck ziemlich vollständige und richtige Angaben im folgenden machen zu können, für die ich die Bürgschaft übernehme. Über das +Militär+ habe ich mich nach meinen Notizen wohl fast zwanzigmal in der verschiedensten Richtung hin zufällig oder absichtlich, länger oder kürzer und mit den allerverschiedensten Leuten unterhalten. So schon in der Herberge. Da war ein mir etwa gleichaltriger Steinmetzgeselle mein besondrer Intimus geworden. Auch er war natürlich Sozialdemokrat von der geschilderten üblichen Durchschnittssorte; er hatte dabei ein seelengutes Gemüt ohne jede Verbitterung, und hatte noch manches von früherer Zeit in seiner Gesinnung bewahrt. Er hatte in einem thüringischen Bataillon, in der Residenz eines der kleinen Fürsten, gestanden. Davon und von den Paraden, die er mitgemacht, den Offizieren, die ihn befehligt hatten, erzählte er mir auf unsrer gemeinsamen Wanderschaft mit besondrer Vorliebe. Vor allem hatte es ihm imponiert, daß sein eigner Fürst, dienstlich im Range geringer, dem alten Generalfeldmarschall von Blumenthal die Honneurs gemacht hätte, als dieser einst die Garnison inspizierte. Blumenthal war überhaupt sein Ideal. Ihn schilderte er in besonders lichten Farben und mit großer Begeisterung. Für glänzende Uniformen und schöne prächtige Offiziere schien er ein besonders empfängliches Auge zu haben. Auch in der Fabrik dachte ein jeder gern an seine Dienstzeit zurück. Wenn wir zusammenstanden, und das Gespräch durch irgend etwas darauf kam, fing man bald Feuer dafür. Dann erzählte man mit Genugthuung von den Strapazen des Dienstes, den heißen Sommertagen auf den Exerzierplätzen und den kalten Winternächten auf Posten. Und mancher war auf sein Regiment besonders stolz. Und doch waren es allesamt Sozialdemokraten, alte und junge, die so redeten. Von den letztern hatten wir einen, einen kleinen, hübschen, netten, 18jährigen strebsamen Schlosser, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, als Vierjährig-Freiwilliger bei der reitenden Artillerie in Riesa einzutreten. Er ging von seinem Plan auch nicht ab, so sehr sich ein älterer, übrigens wohlmeinender Genosse unsrer Handarbeiterkolonne, oft und meines Erachtens mit Recht bemühte, ihm ihn auszureden und die Schattenseiten eines vierjährigen Militärlebens zu schildern. Dann gabs auch eine Anzahl bereits ausgehobener Rekruten, die im Herbste einzutreffen hatten. Auch ein Österreicher war darunter. Sie alle, besonders der letztere, warteten wie Kinder mit freudiger Ungeduld und doch natürlich mit einigem Bangen auf den Termin ihrer Einberufung, auch von ihnen ein jeder stolz auf sein Grenadier- oder Gardereiterregiment, zu dem er ausgehoben war. Der Österreicher nahm sichtlich schon eine immer strammere militärische Haltung an und grüßte gar nicht anders mehr als durch Anlegen der Hand an die Mütze, ganz nach militärischer Art. Auch sie waren mehr oder weniger alle „sozialsch,“ wie es einmal einer sehr geschmackvoll und gewandt ausdrückte. Ja eben der künftige Gardereiter, ein ziemlich leichtsinniges Bürschchen, war es gewesen, der mir das schon oben zitierte famose Wort gesagt hatte. „Bei uns ist alles sozialdemokratisch, selber die Maschinen.“ Dann traf ich einen sogenannten Zehnwöchentlichen unter uns, also einen Ersatzreservisten. Auch er sollte in weniger als vier Wochen eintreffen. Und auch er hatte dafür -- ich sprach mehrmals mit ihm -- nichts andres als nur Worte einer gewissen stillen und stolzen Genugthuung. Er that sich etwas darauf zu gute, daß er jetzt sparen mußte, um während der zehn Wochen Militärzeit etwas zum Zusetzen zu haben! Einmal stand ich mit etwa fünf andern Sozialdemokraten zusammen. Auch da kam das Gespräch auf das Militär und vor allem auf die Manöver in der Chemnitzer Gegend. Und auch da war es nur der Anstoß zu einer Menge hübscher Manövergeschichten, die einzelne von ihnen meist als Zuschauer und als Quartierleute zu ihrer Freude mit erlebt hatten. Dann war unter den Handarbeitern unsrer Fabrik ein früherer Schneider, der in Dresden bei der Artillerie gestanden hatte und diese Dresdner Zeit mehrmals als die schönste und lustigste seines Lebens bezeichnete. Als ich ihn einmal auf dem Krankenbette abends besuchte, ließ er sich von seiner Frau seine eigne und seiner Kameraden Photographien sowie das ganze Batteriebild herbeiholen, um sie mir mit sichtlicher Freude und unter genauer Schilderung des Lebensganges eines jeden abgebildeten Vaterlandsverteidigers vorzuführen. Dann erklärten mir wieder einmal bei der Arbeit zwei Packer, alte, wetterfeste, knorrige Leute, die viel derbe Späße im Kopfe hatten und leidlich genießbar waren, wenn man sie zu nehmen wußte, mit besonderm Nachdruck: „Wir sind mit Leib und Seele Soldat und werden es bis an unsern Tod bleiben.“ Und dasselbe könnte ich noch von einer Reihe andrer berichten, die beim Frühstück und auch einmal eines Abends in der Kneipe ganz ähnlich von ihrer Soldatenschaft redeten. Selbst jener ganz heruntergekommene Schlosser, der nur acht Tage bei uns blieb, sich gleich am ersten Tage hatte Vorschuß geben lassen und, freilich ohne Glück, uns alle anzuborgen versuchte, und der sich als ein Regimentskamerad von mir entpuppte, unterhielt sich mit ganzem Herzen über die uns gemeinsam bekannten Offiziere im Regiment, über die Kaserne und allerhand andre Wichtigkeiten. Freilich -- einzelne räsonnierten ja auch manchmal über ihre Offiziere, die sie allzu scharf angefaßt hatten. Ein junger sozialdemokratischer Schlosser kannte auch die bekannte Abelsche Broschüre und sagte, er stimmte ihr zu: aber auch bei ihm und denen, die sich manchmal über ihre Offiziere beklagten, war das mehr persönlicher Groll und galt eben -- nach dem ganzen Eindruck, den ich davon hatte -- mehr nur diesen Personen und einzelnen Vorfällen als der gesamten Einrichtung. Einmal unterhielten sich auch zwei über die sozialdemokratische Forderung der Abschaffung des stehenden Heeres. Der eine, selbst nicht Soldat gewesen, vertrat sie, aber mäßigte sie dahin, daß das natürlich nicht sofort und auf einmal möglich wäre. Vielmehr könnte das nur ganz allmählich vor sich gehen. Der andre bestritt das und erklärte die eventuelle Auflösung der Regimenter und die Entlassung der Hunderttausende junger, frischer Arbeitskräfte für einen Ruin der gesamten Arbeiterbevölkerung. Dann würde die industrielle Reservearmee ins ungeheure anschwellen, die Löhne ganz gewaltig sinken, und wir Arbeiter allesamt hungern müssen. Eine ganz wunderliche Vorstellung traf ich bei zwei andern Sozialdemokraten, von denen nur einer unsrer Fabrik angehörte. Es war das bei dem Kinderfeste auf der Jagdschenke bei Siegmar. Sie redeten von Streiks. Da sagte der mir Unbekannte plötzlich: „Ja, wenn erst die Offiziere streiken werden. Es fängt schon an, zu gären. Nur darum hat die Regierung auch neuerdings ihre Gehälter verbessern wollen, um sie zufrieden zu machen. Übrigens, setzte er hinzu, geht es schon los, in England, Spanien u. s. w.“ Eigentliche Erbitterung gegen das Militär habe ich nur einmal beim Mittagessen in unsrer Kneipe an einem finstern wortkargen Burschen mit einem fanatischen Jesuitengesichte angetroffen. Dieser las einem andern einen Militärartikel aus einem Blatte vor. Darin wurde der Hauptmann der Vater, der Feldwebel die Mutter der Kompagnie genannt. Das brachte den Mann sehr in Aufregung, und er erging sich denn da in nicht allzu schmeichelhaften Ausdrücken über die in der That ja manchmal höchst problematische Vater- und Muttertreue der beiden Herren. Aber das war eben auch einer der rabiaten „Elitesozialdemokraten,“ von dem keine andre Meinung zu erwarten war. Sonst jedoch fand ich, wie gesagt, immer nur freundliche Gesinnungen. Eine besondre Vorliebe für das Militär äußerte sich natürlich bei denen unter uns, die den Feldzug in Frankreich mitgemacht hatten. Ich habe von ihnen drei in treuer Erinnerung, einen Ulanen, einen Jäger und einen Infanteristen. Alle drei erzählten mit Stolz von jenem Jahr in Frankreich mit der ganzen epischen Breite, Komik, Derbheit und Natürlichkeit, die alle solche Schilderungen im Munde von Leuten aus dem Volke so originell und reizvoll machen. Der eine, der Jäger, ein Bohrer, hätte so gern der damals gerade in Aussicht stehenden Zusammenkunft der alten Kameraden von den sächsischen Jägern und Schützen in Meißen beigewohnt -- aber an die Ausführung dieses Wunsches war natürlich bei seinem Verdienst von 27 oder 29 Pfennigen die Stunde -- und dem Rudel Kinder, das er hatte, kein Gedanke. Endlich möchte ich doch auch erwähnen, was mir nicht ganz unwichtig scheint, daß mir die Militär- und Soldatenbilder und Bildchen oft primitivster Art, und manchmal im allerdürftigsten Farbendrucke ausgeführt, auffielen, die vielfach an den Arbeitskästen neben dem Arbeitsplatze der einzelnen Leute angeklebt waren. Auch das scheint mir ein deutliches Zeugnis für die Vorliebe zu sein, die man nach meinem Urteil auch heute noch trotz mehr denn zwanzigjähriger sozialdemokratischer Agitation unter der Arbeiterbevölkerung eines großen deutschen Industrieortes für das deutsche Volksheer hegte. Ich führe diese erfreuliche Erscheinung nun allerdings weniger auf den idealen Gedanken zurück, daß man auch in dieser Bevölkerungsschicht wie im Adel und einigen Bürgerkreisen stolz ist, dem Könige im Heere dienen zu dürfen, sondern vielmehr auf die Freude des Volkes an dem bunten Rock und dem militärischen Glanz und Gepränge, auf das frische, freie, heitre, sorgenlose Leben, das der vollkräftigen, lebenslustigen Arbeiterjugend in dieser Zeit wie meist niemals wieder nachher beschieden ist, und auf die nicht minder wichtige Thatsache, daß diese Militärzeit für den Fabrikarbeiter die längste, völligste und glänzendste Abwechslung in dem öden Einerlei seines Fabriklebens ist. Daraus erkläre ich mir auch die auffällige Erscheinung, daß man sich allerseits doch auch (wenn nicht ganz armselige Verhältnisse und allzugroße Not in der Familie herrschen) verhältnismäßig gern und willig an den Reserveübungen beteiligt, weil man dabei die Erinnerung an die alte schöne Zeit für kurze Wochen wieder einmal gemeinsam auffrischt. Und diese Erscheinung gewinnt noch an moralischem Schwergewicht, wenn man daran denkt, daß für solche Leute aus dem Arbeiterstande die Reserveübungen bisher ja mit einem gänzlichen Ausfall an Verdienst für die Familien und darum mit viel größern Opfern fürs Vaterland verbunden sind, als die jährlichen achtwöchigen Übungen für Söhne wohlhabender Eltern, die Reserveoffiziere sind oder es werden wollen. Auch über die Militärvereine wurde zweimal in der Fabrik von meinen Arbeitsgenossen gesprochen, beide male in einer höchst interessanten und mitteilenswerten Weise. Es handelte sich um die Frage, ob Sozialdemokraten Mitglieder eines Militärvereins sein dürfen; und es zeigte sich hierbei, daß drei ganz verschiedne Meinungen unter den Arbeitsgenossen vorhanden waren, die sich schroff gegenüber standen. Die einen behaupteten, man müßte unter allen Umständen ehrlich und charakterfest sein. Es stünde fest, daß die Militärvereine offiziell jeden sozialdemokratischen Kameraden auszuschließen verpflichtet wären. So sollte jeder Genosse auch so stolz sein und von selbst aus diesen Vereinen austreten, besser überhaupt niemals in sie eintreten, um keinen Betrug zu begehen und nicht doch schließlich hinausgeworfen zu werden. Zwei andre, die selbst nie Soldaten gewesen waren, bestritten diese Ansicht lebhaft und vertraten die gegenteilige: „Jeder Sozialdemokrat, der gedient hat, hat die Pflicht, in den Verein einzutreten und es dahin zu bringen, daß sie allmählich ganz zu sozialdemokratischen Vereinen und auch die bisher anders gesinnten Kameraden Sozialdemokraten werden.“ Diese beiden, jüngere Männer voll Initiative, hatten dabei wohl den Militärverein unsers Vororts im Auge, dessen Mitglieder allerdings zur Mehrzahl aus erklärten Sozialdemokraten bestanden, der dies bei irgend einer Gelegenheit auch offen bekannt und daraufhin die Zugehörigkeit zum sächsischen Militärvereinsbunde und das Recht, das königliche Wappen in seiner Fahne zu führen, verloren hatte. Zum größten Bedauern und zur Mißbilligung der dritten Gruppe bei jenen beiden Gesprächen, die, schon ältere Leute, eine mehr vermittelnde Anschauung, doch auch nachdrücklich und gegensätzlich genug den zwei andern gegenüber vertrat. Sie meinten, die Sache sei so: „Wir sind Soldaten und Sozialdemokraten, beides mit Leib und Seele. Die Militärvereine sind Soldaten- und zugleich Unterstützungsvereine, vornehmlich mit das letztere; und wir haben lange Jahre auch mit in ihre Kasse gesteuert. Wir haben also ein Anrecht an dem Genuß ihrer Vorteile. Schon deshalb dürfen wir in den Vereinen bleiben. Aber da deren Satzungen die politische Gesinnung der Sozialdemokratie ausschließen, so wäre es Blödsinn und Tollkühnheit, sie in den Vereinen zu äußern oder gar Propaganda dafür zu machen. Man behält sie dort besser für sich und redet nicht davon.“ In beiden Gesprächen kam es zu keiner Einigung und Annäherung dieser drei Anschauungen. Jede Gruppe bestand auf der Richtigkeit der ihrigen und erklärte die zwei andern für durchaus falsch. Jedenfalls zeigt auch diese Thatsache die Verschiedenheit der treibenden innersten Prinzipien in der politischen Gesinnung dieser Durchschnittssozialdemokraten. Bei den ersten entscheidet der Idealismus und fordert offnes Visier und streng reinliche Trennung; bei den zweiten drängt der Gedanke der Agitation und Propaganda zu kühnem Wagen; bei den dritten kämpft das von der Partei aufgezwungne vaterlandslose Empfinden des Sozialdemokraten mit der guten vaterländischen Gesinnung des alten Soldaten, und Nützlichkeitsrücksichten bestärken noch mehr die dadurch erzeugte Unentschiedenheit der Stellung. Ich glaube, annehmen zu können, daß diese drei Meinungen auch in weitern Kreisen meiner Fabriksgenossen vorhanden waren, da sie, wie gesagt, eben damals infolge der Vorgänge im Militärvereine unsers Ortes gezwungen waren, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Welche von den Richtungen überwog, konnte ich nicht erkennen. Einen meines Erachtens guten Dienst leistete übrigens -- ich darf dies an dieser Stelle gleich mit erwähnen -- der Turnverein unsers Vorortes. Er war noch nicht alt und verhältnismäßig stark. Junge Schlosser, Weber, Arbeiter, aber auch Kaufleute, Expedienten und Schreiber gehörten ihm an. Auch einen jungen Zeichner, also einen höhern Beamten aus unsrer Fabrik, traf ich unter den Turnern. Kurz, es waren wohl fast alle Berufsarten unsers Vorortes in dem Vereine vertreten, und ebenso die sozialdemokratischen wie die sozialistisch noch nicht oder nur wenig durchsetzten. Und alle Glieder schienen gute Kameradschaft zu halten. So war dieser Turnverein ein neutraler Boden, auf dem die verschiedensten politischen Gesinnungen und Neigungen friedlich und nach den Satzungen des Vereins unausgesprochen neben einander hergingen. Es war damit eine Stätte der persönlichen gegenseitigen Annäherung gebildet über die engherzige Parteigesinnung hinweg. Und hierin sehe ich die große ethische Bedeutung aller Turnvereine, die in einer ähnlich wie bei uns zusammengesetzten Bevölkerung nach denselben Grundsätzen existieren und blühen. Von diesem Gesichtspunkt aus stelle ich sie auch höher als die Militärvereine, die heute doch in der That „reichstreue“ Parteivereine und antisozialdemokratische Kampfvereine geworden sind. Gleich freundlicher Art sind nun auch die Erfahrungen, die ich über die Gesinnung dieser Leute gegen den +deutschen Kaiser+ und den +König von Sachsen+ gemacht habe. Zwar war es hier natürlich besonders schwierig, einen sichern Einblick zu bekommen. Jedermann hütete sich vor einer Majestätsbeleidigung, da keiner dem andern recht traute. Ich glaube auch, daß sich ein nicht ganz geringer Bruchteil wie zu manchem andern so auch zu Kaiser und Reich durchaus gleichgiltig verhielt. Sie hegten weder Haß noch Liebe; sie hatten kein Interesse dafür, häufig auch zu viel mit sich, ihren engen Verhältnissen oder seichten Vergnügungen zu thun, um daran denken und ihr Herz noch daran begeistern zu können. Dann waren gewiß auch wieder andre, die, von der parteikorrekten Gesinnung der Elitesozialdemokraten auch in dieser Beziehung schon angekränkelt, innerlich zwischen Zuneigung und Abneigung, Vaterlandsliebe und Vaterlandslosigkeit noch hin und her schwankten. +Aber für die große Mehrzahl eben der Durchschnittsanhänger war doch der Kaiser eine durchaus sympathische, volkstümliche Gestalt.+ Nicht nur, daß man ohne Opposition, ohne Murren und finstre Mienen billige und freundliche Urteile über ihn mit anhörte und ihnen zustimmte -- das wäre in diesem Falle noch kein Beweis für meine Behauptung --, sondern ich habe auch selbst aus dem Munde der Leute nicht einmal nur das runde Urteil gehört: „Der Kaiser ist gut und tüchtig.“ Einmal bei einem der Kinderfeste, wo die Leute also doch ganz unter sich waren und sich nicht genierten, trat diese Ansicht besonders deutlich zu Tage: „Kaiser Wilhelm hat die besten Absichten; aber er kann nicht, wie er will. Den halten sie fest und zwingen ihn nach ihren Plänen. Aber hoffentlich gelingt es ihm noch, seine eignen Wege zu gehn.“ Dort hörte ich auch um Kaiser Friedrichs Tod die nicht seltene Klage: „Schade um ihn! Wie ganz anders stünde alles, wenn er nur fünf Jahre regiert hätte.“ Ein andermal sagte ein schon ziemlich herabgekommener Fleischergeselle, mit dem ich ein Stück wanderte: „Kaiser Friedrich hielt auf die Arbeiter mehr als auf alle andern. Sie haben aber auch recht.“ An Kaiser Friedrich vor allem glaubt man da unten. Der milde freundliche Hohenzoller ist noch im Grabe ein Friedensmittler zwischen dem Thron und dem Volk und ein Segen für beide. Hie und da findet sich auch ein Bild von ihm wie von dem regierenden Kaiser an den Arbeitsplätzen einzelner Leute angeklebt. Auch traf ich patriotische Lebensbeschreibungen von Friedrich dem Dritten sowohl als Wilhelm dem Ersten, freilich in Form der bekannten, meist so minderwertigen Kolportagegroschenhefte in mehreren Familien verbreitet, deren Väter wiederum sonst offen mit in das Horn der sozialdemokratischen Partei stießen. Ich werde an einer spätern Stelle ein haarsträubendes Gespräch zweier Sozialdemokraten unsrer Fabrik über Bismarck mitteilen. Auch diese beiden zeigten, so sehr sie Bismarck fluchten, doch volles Vertrauen zum Kaiser. Als ich bei jener Unterhaltung meinte, ich glaube nicht, daß der Kaiser, selbst wenn ein neues Attentat käme, das Sozialistengesetz aufrecht erhalten würde, stimmten mir beide nachdrücklich zu. Ein andermal verwahrte einer ganz entschieden die Arbeiter gegen die Anklage der Reichsfeindlichkeit: „Wir sind nicht gegen die Regierung und den Kaiser, nur gegen ihre falschen Freunde.“ Und ein andrer Durchschnittssozialdemokrat, mit dem ich mich besonders häufig über politische Dinge unterhielt, auf dessen durchdachte Ansichten ich einiges hielt und der, bereits neun Jahre in unsrer Fabrik, auch die einzelnen Genossen ziemlich genau kannte, sagte mir einmal ganz offen und ohne dazu aufgefordert zu sein: „Ich bin im geringsten gar nicht gegen den Kaiser oder gegen unsern König. Ich habe zwar beide noch nicht gesehn; aber für unsern König ginge ich durchs Feuer. +Und so wie ich, giebts ihrer unter uns noch satt (genug).+“ Zu dieser weit verbreiteten freundlichen Gesinnung half wohl gleichmäßig mit das feste monarchische Bewußtsein, das von alters her tief im deutschen und sächsischen Volke sitzt, die aufrichtige reformfreundliche, soziale Gesinnung des Kaisers, von deren Ehrlichkeit man auch da unten oft wider Willen überzeugt scheint, und schließlich die nur beschränkte antimonarchische Agitation der Sozialdemokratie, der man gerade in diesem Punkte die Flügel arg beschnitten hat. Freilich darf man nicht meinen, daß diese günstige monarchische Gesinnung auch nur in einem wesentlichen Punkte jener frühern Unterthänigkeit gleicht, die in tiefster Ehrfurcht, mit Zittern und Zagen vor Seiner Allmächtigen Majestät erstarb. Willenlos, gedankenlos geht wohl keiner mehr auch da unten mit durch Dick und Dünn. Aber dafür ist -- nach meinem Dafürhalten eine viel gewichtigere Thatsache -- doch in weiten Kreisen jene Achtung vor dem „ersten Diener des Staates“ vorhanden, dessen Daseinsnotwendigkeit anerkannt ist, an dessen redliche, pflichttreue, volksfreundliche, unparteiische und gerechte Absichten man glaubt, von dem man aber auch mehr ahnt als weiß, daß er nicht der allmächtige Herr, sondern ein durch Zwang und Widerstreit der entgegengesetztesten Interessen vielfach sehr gebundner Herrscher ist. Ich bin nach alledem davon überzeugt, daß es der sozialdemokratischen Agitation kaum gelingen dürfte, diese vernünftige Gesinnung des Volkes zu vernichten, wenn nur der Kaiser wie bisher fortfährt, auch den Arbeitern und ihren begründeten Forderungen nicht nur gerechte Billigung zu teil werden zu lassen, sondern ihnen auch, so viel an ihm ist, Geltung und Erfüllung zu verschaffen. Im Zusammenhang damit ist es nun auch verständlich, +daß der weitaus größte Teil meiner Chemnitzer Fabrikgenossen durchaus an keine gewaltsame blutige Revolution dachte+. Ich habe auch für diese Thatsache nicht nur den sichern allgemeinen Eindruck als Beweis, sondern auch zahlreiche direkte und ehrliche Äußerungen meiner Arbeitsgenossen, die ebenfalls deren Richtigkeit bestätigen. An jenem aufgeregten Sonntagabend, an dem nach dem Kinderfest unsers Wahlvereins die heiße Redeschlacht mit dem amerikanisierten Baiern und seinem Freunde, dem Brauereidirektor, geschlagen wurde, an dem ein sozialdemokratisches Lied auf das andre gesungen wurde, und wirklich Herz und Mund den Leuten auf- und übergingen, erklärten mir mehrere: „Wir Arbeiter +wollen+ keine Revolution. Wir sind viel zu gebildet dazu. Wir wollen auf friedlichem Wege unser Ziel erreichen; jetzt schon so viel als möglich, und unsre Nachkommen den Rest.“ Und das waren ein paar jüngere Leute. In der Fabrik sagte mir gleich im Anfang meiner Arbeiterlaufbahn ein andrer: „Es fällt uns gar nicht ein, Revolutionäre zu sein; hier in Chemnitz und Umgegend denkt wenigstens niemand daran.“ Und später einer: „Daß die Arbeiter Revolution machen wollen, glauben die oben im Ernst doch selber nicht.“ Und einer der beiden schon genannten strammsozialdemokratisch-rabiaten Bismarckhasser sagte eben da, als wir von der Aufhebung des Sozialistengesetzes redeten. „Der Kaiser hat gesehn, daß alles auch ohne das Sozialistengesetz in Ruhe und Ordnung weitergeht. Revolution kommt schließlich nur, wenn man unsre Sache gewaltsam unterdrückt.“ Ebenso ein sehr erfahrener, selbständiger, schon mehrmals genannter Monteur. „Wir wären doch selbst die größten Dummhute, wenn wir Revolution machen und die Fabriken zerstören wollten. Das wäre albern und schadete uns selber am meisten.“ Dann einer der vordern in der Chemnitzer Weberbewegung, ein kraftvoller Mensch und ausgezeichneter Turner: „Die Großen wünschen, daß wir Revolution machen; aber wir werden ihnen unter keinen Umständen den Gefallen thun.“ Und endlich sagte einmal in einer geschlossenen Sitzung der Vorsitzende mit großem Nachdruck und unter aller schweigender Zustimmung: „Wir im Fachverein wollen keine Umstürzler sein, sondern vielmehr ein gutes Beispiel geben und nur die Besserung der Lage unsers Standes anstreben.“ Nur ein einziges mal traf ich auf einen Ausspruch, den man auch anders auslegen könnte: „Die großen Herren sollten uns mit mehr Liebe entgegenkommen. Dann wäre all der Haß und Streit nicht. Wenn sie das aber durchaus nicht wollen, so gehts uns schließlich wie dem, der Hunger hat und nichts zu essen kriegt: er maust sich, was er braucht.“ Ich meine, die Fülle dieser verschiedenen ausdrücklichen Zeugnisse, die fast alle gerade von ziemlich selbstgewissen Sozialdemokraten stammen, können genügen, um meine mir unerschütterlich feststehende Behauptung zu erhärten: der Chemnitzer Fabrikarbeiter, mit dem ich zusammen gearbeitet habe, sträubt sich heute noch mit Händen und Füßen gegen den Gedanken einer blutigen Revolution. Zwar weiß er genau, daß eine durchgreifende Besserung seiner Lage, die ein jeder von ihnen erwünscht, erstrebt, erwartet, +ohne Kampf+ eine Unmöglichkeit ist. Dazu kennt und erfährt er selbst, wie gesagt, zu oft den heute unüberbrückbaren Interessengegensatz zwischen ihm und dem Unternehmertum. Aber er sieht ihn heute noch als eine Naturnotwendigkeit und nur im gegebnen Falle auch als Schuld seines Arbeitgebers an. Er hält darum auch dessen Person und Sache durchschnittlich auseinander und will auch seinerseits nicht einen Kampf roher Gewalt, sondern die zwar mannhafte und unnachgiebige, aber gesetzmäßige Auseinandersetzung zweier organisierter Parteien in einem parlamentarisch freien Staate. Nicht die Zahl der Fäuste soll entscheiden, sondern die Zahl der Stimmen und die Macht der Wahrheit. Gleichwohl leugne ich die +Gefahr+ einer Revolution keinen Augenblick. +Sie liegt aber nicht in der Absicht, in den augenblicklichen politischen und sozialen Gesinnungen der Leute, sondern einmal in der immerhin möglichen Unterlassung oder Verschleppung einer grundlegenden Sozialreform, und dann vor allem in der erbärmlichen, neuen Lebensanschauung, die, begünstigt durch die vorhandene innere Krisis der Kirche und durch unsre verwahrlosten wirtschaftlichen und sozialen Zustände, sich heute infolge der sozialdemokratischen Agitation weithin im Volke verbreitet hat.+ Hier allein und nicht in einer, gegebenenfalls übrigens doch immer nur formalen wirtschaftlichen Schulung der Arbeiter im rein sozialistischen und kommunistischen Sinne liegt die eigentliche große Gefahr, der eigentliche verhängnisvolle Erfolg der ganzen bisherigen Agitation der Partei. Darüber werden die nächsten Kapitel des Weitern und Breitern zu reden haben. Im Zusammenhang mit dem eben erörterten Revolutionsgedanken ist nun auch die fernere Beobachtung, die ich machte, nicht uninteressant, daß der ihm verwandte Gedanke, die sozialdemokratische Phrase von der Verbrüderung aller Nationen, bisher in der Praxis noch absolut keinen fruchtbaren Boden gefunden hatte. Vielmehr gerade das Gegenteil davon konnte man in Chemnitz täglich studieren, da hier wegen der Nähe der sächsisch-böhmischen Grenze Hunderte von Tschechen, mit dem Spitznamen „Seffs“ genannt, meist auf Bauten in Arbeit standen. Zwischen ihnen und den einheimischen Deutschen herrschte durchgehends Abneigung und Gleichgiltigkeit. Für viele Arbeiterfamilien waren sie zwar wertvolle und nicht übelbehandelte Erwerbsobjekte; aber man sah immer auf sie herunter. Sie hatten auch ihre eignen Tanzböden, die unsre Leute nicht gern besuchten, weil es da zu roh zuging, und es gab häufig Schlägereien mit ihnen. In unsrer Fabrik hatten selbst die Deutsch-Böhmen unter dieser Abneigung gegen ihre Landsleute zu leiden. Von einer Verbindung zwischen Tschechen und unsern Leuten war jedenfalls nicht das geringste zu spüren. Dagegen war es tief betrübend, wenn auch nicht gerade verwunderlich zu sehen, wie erfolgreich die sozialdemokratische Agitation unter der +gesamten+ Arbeiterbevölkerung, vom eingefleischtesten bis zum harmlosesten Sozialdemokraten herab, gegen den Fürsten Bismarck hat Stimmung machen können. Kein Mann ist mehr, bitterer, glühender gehaßt da unten als der Gründer des deutschen Reiches. Über ihn herrschte +eine+ Ansicht, +eine+ Stimme: „Bismarck ist der größte Arbeiterfeind“ und „Bismarck ist ein Betrüger.“ Das sind wörtliche Zitate, die ich mehr als einmal gehört habe. Einmal standen wir etwa ein halbes Dutzend Mann zusammen vor einer großen eisernen Wand, in die ich mit der Handbohrmaschine Löcher zu bohren hatte. Da schrieb einer ganz plötzlich mit Kreide Bismarcks Namen in großen Buchstaben an die Wand und gab uns auf zu raten, was das bedeute. Er löste uns das Rätsel dann selbst. Es bedeutete zwei Sätze; jeder Buchstabe des Bismarckschen Namens, je von vorn und hinten gelesen, war der Anfangsbuchstabe eines Wortes in diesen zwei Sätzen. Der eine hieß: „=B=ismarck =I=st =S=einer =M=ajestät =A=llmächtigster =R=eichs-=K=anzler“ und der andre: „=K=ein =R=eich =a=rbeitet =m=it =s=o =i=ntelligenten =B=eamten.“ „Ja,“ sagte ein andrer darauf, „Bismarck hat viel Bildung“. Wieso? fragte ich. „Bismarck hat die meisten Steuern +gebildet+,“ war die Antwort. In beiden Fällen wenig Witz, aber viel Haß. Ein andermal stand ich wieder mit einem andern zusammen. Wir redeten vom ersten Mai, der hinter uns lag. Der Mann behauptete, daß in unsrer Fabrik damals kein Wort weder +vor+ noch +nach+ dem „Ersten“ über eine Maifeier gefallen sei. „Und doch hat man so ernstliche Maßregelungen angedroht; nicht nur von seiten der Arbeitgeber, sondern auch der Regierung. Aber daran ist Bismarck schuld; dieser hat das größte Unheil angerichtet. Zwar ist er nun fort, und das ist gut, aber dafür sind nun seine Anhänger und Getreuen noch immer sehr mächtig bei der Regierung.“ Noch bezeichnender war das schon erwähnte Gespräch, das ich wieder zwischen zwei andern mit anhörte. A: „Was wird jetzt Bismarck machen?“ B: „„Der sitzt gemütlich in Friedrichsruh und stellt vielleicht neue Attentate an, wie 1878.““ A: „Wieso denn?“ B: „„Nun, das ist doch klar. Weder Nobiling noch Hödel waren Sozialdemokraten. Jener war ein Liberaler, dieser ein Stöckerscher. Beide waren von Bismarck angestellt, um dann das Sozialistengesetz erlassen zu können.““ Ich: „Und warum sollte er denn jetzt wieder an so etwas denken?“ B: „„Um zu verhindern, daß das Sozialistengesetz zum ersten Oktober endlich aufgehoben wird.““ So thöricht auch dies ganze Gespräch ist -- es ist der höchste Grad von Mißtrauen, Haß und Verachtung, der aus ihm spricht, und der auch nicht durch ein einziges andres freundliches Urteil über ihn gemildert erscheint. -- Aus der breiten Masse der bisher geschilderten Durchschnittssozialdemokraten hob sich nun meiner Beobachtung noch eine besonders bedeutsame Gruppe ab, deren Zahl, wie ich zu vermuten manche gute Gründe habe, heute überall in stetigem Wachsen ist. Es waren gerade die besonders klugen, praktischen, verständigen, ernsten und gebildeten Leute, Männer mittlern Alters, die sich auch mit den weitergehenden sozialdemokratischen wirtschaftlichen und politischen Problemen nicht ohne Verständnis beschäftigt hatten, und ihnen, wenn auch mit Kritik, doch teilweise gerade besonders stark huldigten, die aber trotzdem von der rein politischen Agitationsarbeit der Partei nichts oder nicht viel hielten und darum, thatenlustig wie sie waren, sich auf die näher liegende, unmittelbare, praktische Erfolge und mehr Befriedigung versprechende Arbeit in den Fach- und Gewerkvereinen, in den Komitees der Kranken- und Unfallversicherungskassen, der freien Hilfskassen und vor allem auch auf die Thätigkeit innerhalb ihrer lokalen politischen Gemeinde geworfen hatten; natürlich immer mit der festen Absicht, diese Arbeit im Sinne der sozialdemokratischen Grundsätze und selbstverständlich zu Nutzen und Frommen der sozialdemokratischen, der Arbeiterinteressen zu thun. Aber indem sie sie thaten, waren sie -- mochten sie noch so sehr sozialdemokratische Gesinnung dabei durchdrücken wollen -- doch gezwungen, mit realen Thatsachen zu rechnen, reale Ziele verfolgen zu lernen. Diese realen Thatsachen und Ziele beginnen zu interessieren; sie treten vor den problematischen und fern hinausliegenden der Gesamtpartei voran und erziehen so diese Männer, die dabei meist immer noch überzeugte Sozialdemokraten bleiben, zu wahrhaft praktischer politischer und sozialer Thätigkeit. Damit ist aber ein wirksames Gegengewicht zu den Träumereien und Utopienjagden geschaffen, denen sie früher ausschließlich nachhingen und nachgingen, wenn sie ihren politischen Menschen anzogen; dadurch wird hoffentlich auch mit die Gefahr vermieden, daß die Sozialdemokratie zu einer kindlichen, nie wirkliche Reformen erzwingenden Schattenpartei wird und sich lächerlich macht. Diese Erfahrung, die ich da eben ausführte, und für die ich auch besonders aus der aufmerksamen Verfolgung der jüngsten Entwicklung der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung ausreichende Beweise bringen könnte, machte ich in besonders klarer und überraschender Weise z. B. einmal in einer Sitzung unsers sozialdemokratischen Wahlvereins. Hier trug an diesem Abend der damalige, jetzt auch abgedrückte Redakteur der Chemnitzer sozialdemokratischen „Presse,“ wie ich glaube eine ehrliche Seele, über die damals noch nicht in Kraft getretene Alters- und Invaliditätsversicherung vor, zunächst hauptsächlich zur Orientierung der Genossen. Es war eine im großen und ganzen durchaus sachlich gehaltene Rede. Sie gipfelte in der doppelten Behauptung, daß das neue Gesetz in der That vielfach noch mangelhaft sei, und daß es jedenfalls nicht die durchgreifende Hilfe für die Arbeiterschaft und die Lösung der sozialen Probleme sei, daß man sich aber dennoch nicht abschrecken lassen dürfte, sondern nun zunächst einmal das Angebotene annehmen, aber zugleich wacker an der allmählichen Verbesserung dieses Gesetzes mitarbeiten sollte. Man sollte, so schloß er, endlich einmal mit dem ganz überflüssigen Räsonnieren und Schnauzen aufhören. Trotz allem steckte in der Arbeiterversicherung ein guter Kern, den immer mehr herauszuschälen die Hauptaufgabe wäre. Er gab damit mutvoll wohl einer Meinung Ausdruck, die vielfach unter den Arbeitsgenossen verbreitet war, sich aber nur selten und schüchtern ans Tageslicht wagte, nachdem die offizielle Sozialdemokratie ihr Verdikt über die heutige Versicherungsgesetzgebung ausgesprochen hat. Denn man empfindet heute schon dankbar, wenn auch als etwas Selbstverständliches die bereits deutlich spürbaren Wohlthaten des Gesetzes. Wenn man irgendwie über sie klagte, so betraf das nach meiner Beobachtung immer nur einzelne Mängel, wie die dreitägige Karenzzeit zu Anfang einer jeden Krankheit, oder Mißstände, die sich in der Verwaltung herausstellten, und an denen oft nur die an ihrer Spitze stehenden Personen die Schuld hatten. So erzürnte ein Fall, den ich gelegentlich des Besuches eines meiner erkrankten Arbeitsgenossen erfuhr, ihn und seine Familie besonders sehr. Es handelte sich da um eine Böhmin, die, des Deutschen nicht mächtig, bei dieser Familie im vergangnen Sommer in Schlafstelle gewesen war und auf einem Bau, wie das in Chemnitz sehr Sitte war, in Arbeit stand. Diese wurde krank. Der herbeigerufene Arzt aber suchte sie, anstatt sie zu behandeln, schleunigst in ihre Heimat zu ihren wohlhabenden Eltern abzuschieben. Ihrer Wirtin, die sie treulich pflegte, fiel das auf, sie spürte der Sache nach, und es stellte sich heraus, daß die Böhmin sowohl wie eine ganze Reihe ihrer Arbeitsgenossinnen überhaupt nicht bei der Krankenkasse angemeldet waren: Bauunternehmer und Krankenkassenarzt hätten, wie meine Gewährsmännin, die ich übrigens nicht auf die Wahrheit ihrer Erzählung kontrollieren konnte, behauptete, in gleicher Weise Schuld und -- Profit daran. In der Fabrik gingen die Wahlen der Vertrauensmänner für die Ausschüsse der Kassen in der ruhigsten, geräuschlosesten, in kaum bemerkbarer Weise vor sich. Ein Anschlag machte z. B. die Notwendigkeit einer solchen Ersatzwahl für eine bestimmte Berufskategorie eines Tages am Thore unsers Fabrikgebäudes bekannt, und an dem dafür bestimmten Termin ging mitten in der Arbeit ein großer hölzerner, verschlossener, mit einem Spalt versehener ziemlich primitiver Kasten unter den Beteiligten von Mann zu Mann; in einer halben Stunde war das ganze Wahlgeschäft beendigt, der Kasten im Beisein von Arbeiterkommissaren geöffnet, und am folgenden Tage das Resultat ebenfalls durch Anschlag an derselben Stelle bekannt gemacht. Genau dieselbe freundliche Gesinnung zu den Versicherungsgesetzen kam nun auch in jener Sitzung unsers Wahlvereins unter den zahlreichen Anwesenden zum erfreulichen Ausdruck. Zwar -- ich wiederhole das nachdrücklich -- fehlten auch gegnerische Stimmen, die sich ganz in den offiziellen Urteilen der sozialdemokratischen Fraktion über die Gesetze ergingen, nicht. Aber die Meinung des Vortragenden war doch auch diejenige der Majorität. Die ganze lange Debatte spitzte sich schließlich zu einer hartnäckigen Kontroverse zwischen diesem und seinen Gesinnungsgenossen einerseits und den wenigen Verfechtern der Sache der sozialdemokratisch geleiteten freien Hilfskassen andrerseits zu. Unter diesen befand sich einer, der sie besonders deshalb so eifrig verteidigte, weil er nach seinen Erfahrungen in einem kleinen erzgebirgischen Industrieorte meinte, daß in den offiziellen Kassen sich die gewählten Arbeitervertreter in devoter schweigender Abhängigkeit von den mit im Komitee sitzenden Arbeitgebern befänden und sich von diesen als stummes Stimmvieh widerspruchslos zu deren Gunsten und Vorteil mißbrauchen ließen. Dem widersprachen nun besonders die in solchen gemischten Kommissionen oft schon sehr lange, seit dem Inkrafttreten der Gesetze sitzenden Genossen mit aller Entschiedenheit. Sie nahmen für sich die Anerkennung dafür in Anspruch, daß sie sich thatsächlich niemals hätten in der oben angegebnen Weise mißbrauchen lassen, vielmehr, wo immer es möglich und nötig gewesen sei, aufs energischste und in echt sozialdemokratischer Gesinnung und Mannhaftigkeit die Interessen ihrer Leute wahrgenommen hätten. Und immer mit gutem Erfolge. „Wenn man in Streitfällen den mit uns zusammensitzenden Arbeitgebern nur ordentlich mit Gründen kommt, dann haben sie meist Einsicht und gehen +mit+ uns, +gegen+ ihre eignen Kollegen.“ „Ja es ist,“ so führt ein besonders gewandter und, wie es schien, hierin viel erfahrener, ungemein kluger Redner aus, „es ist vorgekommen, daß +wir+ gegen Zubilligung von Schadenersatz bei Unfällen, die Arbeitgeber +für+ einen solchen gestimmt haben. Aber freilich, man muß überlegen, muß immer sachlich bleiben und gerecht und billig urteilen. Dann aber thun es jene, wenigstens viele von ihnen auch. Und dann sind die Gesetze eine Wohlthat, und es kann viel mit ihnen, viel mehr als durch die freien Hilfskassen erreicht werden. Trotzdem müssen wir freilich immer mehr an ihnen zu bessern, immer mehr für uns herauszuschlagen suchen, auch unsre sozialdemokratische Gesinnung bewahren. Aber das ist auch durchaus möglich. Nur die offiziellen, nicht die freien Hilfskassen sind, wie nun einmal die Dinge liegen, lebensfähig und haben die Zukunft; es ist Thorheit, wenn wir das nicht ausnutzen wollten.“ Und in derselben Weise sekundierten mehrere andre. Die Debatte wurde so lebhaft und heftig, daß sie noch gegen zwölf Uhr nicht zu Ende gehen wollte, und daß, als die Sitzung geschlossen wurde, sie auf dem Nachhausewege zwischen den besonders stark in sie verwickelt gewesenen wieder aufgenommen wurde und sich an der Straßenecke, an der ich meine Wohnung hatte, und wo die Streitenden auseinander gehen mußten, wohl noch eine halbe Stunde lang fortspann. Das besonders Wertvolle an diesem Erlebnis ist für mich erstens dies, daß sich hier in der That einmal wieder in einem bestimmten Fall ein wirkliches Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitern und Arbeitgebern zeigte, und dann, daß hier Sozialdemokraten um wirklich praktische Fragen stritten und dafür eintraten. Ich begreife für den letztern Punkt auch die Verteidiger des Hilfskassenwesens mit ein. Denn indem diese sich mit der Organisation und Verwaltung solcher Kassen, mit der zeitweiligen Unterbringung und Sicherstellung ihrer Gelder, mit der Sorge um das finanzielle Risiko und das Gelingen einer solchen Kasse eingehend beschäftigen, sind auch sie, genau wie jene andern in den offiziellen Komitees sitzenden Arbeiter, genötigt, ihr ganzes Augenmerk von utopistischen Phantasien ab und auf wirkliche, ihre Fähigkeiten zunächst ganz in Anspruch nehmende Aufgaben zu richten -- in meinen Augen ein ganz eminenter, vielverheißender Fortschritt. Dasselbe gilt in gleichem, in Zukunft vielleicht noch höherm Maße für die Thätigkeit, die heute schon einzelne unsers Wahlvereins in der Verwaltung ihrer Ortsgemeinde, in der sie ansässig waren, entfalteten. Auch hier traten die sozialdemokratische Gesinnung und die sozialdemokratischen Ziele, deren Verwirklichung sie, wenn auch je nach ihrem Alter, ihren Fähigkeiten, ihrer Erfahrung und ihrem Charakter mehr oder weniger gemäßigt anstrebten, deutlich hervor: aber das ist auch hier das glückliche, daß sie die harten Thatsachen und die oft in der That, namentlich in der Kassenverwaltung der Gemeinden vorhandnen großen Übelstände zwingen, ihre Ideale, Wünsche und Bestrebungen immer nur in der Arbeit von Fall zu Fall, in gründlicher Einzelthätigkeit, schrittweise, korrigiert und abgeschliffen an den Ansichten und an dem Willen andersgesinnter, wenn überhaupt, dann nur teilweise zu Geltung und Wirksamkeit zu bringen. Endlich ließe sich von demselben Gesichtspunkte aus ein Ähnliches, vielleicht heute noch nicht so Überzeugendes, aber doch sehr Hoffnungsvolles von der Arbeit der in der neuesten Phase der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung stehenden Arbeiter behaupten. Doch enthalte ich mich hier weiterer Ausführungen, die ich aus meiner eignen Fabrikarbeiterzeit mit schlagenden Beispielen zu belegen nicht imstande wäre. Dieser großen Masse der Durchschnittssozialdemokraten, die ich bisher zu schildern versucht habe, steht nun schließlich eine letzte, nicht minder große Gruppe von Arbeitsgenossen gegenüber. +Sie umfaßt alle diejenigen, die überhaupt keine eigne politische und soziale Überzeugung haben, sie auch nicht einmal zu gewinnen sich bemühen, und die sich doch Sozialdemokraten nennen und noch mehr als solche fühlen und wissen.+ Sie sehn nur sehr selten einmal in eine sozialdemokratische Zeitung hinein, sie gehn kaum in eine sozialdemokratische Versammlung, sie suchen nicht sozialdemokratische Gespräche. Aber sie schwören gleichwohl auf das sozialdemokratische Programm. Sie sind entweder zu leichtsinnig und genußsüchtig, oder zu unfähig und gedankenlos, oder zu faul und feige, oder auch -- die bedauernswertesten -- dauernd zu gedrückt und sorgenvoll, um sich damit zu beschäftigen. Sie wählen sozialdemokratisch, aber kümmern sich sonst nicht viel um die Partei, in der sie vor allem den Ausdruck ihrer Unzufriedenheit sehn. Sie haben von nichts eine klare Vorstellung, nur ungewisse Wünsche, verbitterte Stimmungen, Sehnsucht, daß es mit ihrer teils selbstverschuldeten teils unverschuldeten Lage bald anders, womöglich besser werden möchte. Es sind oft die ärgsten Schreier, die rohsten Gesellen, die echten verlumpten Proletarier in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Aber es sind ebenso oft stille, gedrückte, hilf- und haltlose Menschen, harmlose Seelen, die niemand den kleinen Finger krümmen, denen die hochaufzischenden Wogen der wirtschaftlichen Stürme rettungslos über dem Kopfe zusammenschlagen. Es sind unter ihnen Kandidaten für Korrektionshäuser wie für christliche Arbeitervereine. Und alle Berufsklassen, alle Altersstufen sind auch unter ihnen vertreten, besonders stark aber doch die Jugend zwischen dem sechzehnten und zwanzigsten Jahr etwa. +Denn nach allen meinen Erfahrungen sind die meisten jungen Leute noch ohne nur irgendwie klare und bewußt gewollte politische und soziale Meinungen, auch ohne die vermuteten üblichen sozialdemokratischen.+ Das hatte, wenigstens in der von mir studierten Arbeitergruppe, seinen hauptsächlichsten Grund in der unbegrenzten Vergnügungssucht der Burschen und in der leichten Möglichkeit, sie zu befriedigen. Sie bringen die Sonntagnachmittage und Nächte meist auf den Tanzböden, die Wochenabende ebenfalls so oft als möglich mit ihren Mädchen oder auf gemeinsamen Spaziergängen, und die besten von ihnen in Zither-, Feuerwehr- und Turnvereinen zu. Dann haben sie bei der Arbeit und während der Arbeitspausen meist weder Zeit noch Lust noch Kraft noch Gelegenheit, sich mit den schwierigen politischen Dingen zu beschäftigen. Das kommt dann erst meist nach der Heirat, durch den Ernst und Zwang des Lebens. Die -- nach meinen Beobachtungen -- +nicht zahlreichen+ jungen unverheirateten Leute aber, die sich im Gegensatz zu ihren Altersgenossen schon frühzeitig für die politischen und sozialen Fragen interessieren, thun das dann immer auch mit dem ganzen Ungestüm und Feuereifer der Jugend und sind, wie schon gesagt, die besten Handlanger und Knappen der Agitatoren am Orte. Diese dritte Gruppe hat ein sehr bezeichnendes besonders scharf und rücksichtslos ausgeprägtes Charakteristikum an sich: +die stetige Rücksicht auf den persönlichen Vorteil+. Sie pfiffen -- wie es gar nicht anders zu erwarten war --, auch wenn man es ihnen noch so dringend einpaukte und auf sie moralisch drückte, auf alle Sozialdemokratie, +wenn sie keinen Nutzen von ihr hatten+. Gerade bei ihnen versagte immer am ersten die Autorität der sozialdemokratischen Führer in der Fabrik ihre Wirkung. Sie teilten nun freilich diese Eigenschaften auch mit einem großen Teile der Angehörigen der vorhergeschilderten zweiten, ja selbst der ersten Gruppe der Elitesozialdemokraten. Nur waren bei diesen Gesinnungstüchtigern die Beweggründe für solche Gesinnungsuntreue vielleicht etwas gewichtigere, jedenfalls niemals so skrupellos und niedrig, sondern überlegter, manchmal erst nach langem innern Kampfe zugestanden. Aber so und so -- in all den kleinen Fragen des täglichen Betriebes, die während meiner Anwesenheit in der Fabrik auftauchten, gab doch immer nicht die Rücksicht auf die freilich diktatorisch starren und rücksichtslosen Grundsätze und Prinzipien der Partei, nicht die so oft in stürmischen Versammlungen, wo die Wogen der sozialdemokratischen Begeisterung hochgingen, gelobte Treue die Entscheidung und den Ausschlag, sondern -- zum Jammer der führenden sozialdemokratischen Heißsporne -- +die von jedem selbsterprobte praktische Erfahrung und nüchterne und besonnen abwägende Überlegung, die nur zu gewisse Kenntnis von den Grenzen ihrer Macht, der Gedanke an Weib und Kind, ja, auch bei den idealer angelegten und ernstern unter ihnen, die Rücksicht auf das Wohl und Wehe, das platte, augenblickliche Interesse+. Diese Thatsache trat bei einem Falle besonders frappant zu Tage, bei dem Versuche der Bildung einer ständigen Arbeitervertretung in unsrer Fabrik. Die Sache ist auch nach andern Seiten hin so interessant und bei der augenblicklich schwebenden Streitfrage über die Arbeiterausschüsse so lehrreich, daß ich die ganze Geschichte der Einführung dieser sogenannten Arbeitervertretung hier ausführlich darlegen will. Sie scheint freilich kein allzu günstiges Licht auf unsre Fabrikleiter zu werfen; doch glaube ich trotzdem, daß sie in diesem Falle ~bona fide~, in aufrichtiger Gesinnung, mit bestem Wissen und Willen gehandelt haben können. Eines Tages, ich war noch nicht lange in der Fabrik, erschien plötzlich ein Anschlag an den Fabrikthoren mit folgendem Inhalt: „Um bei Fabrikseinrichtungen und sonstigen Anordnungen u. s. w. auch die Wünsche und Ansichten unsrer Arbeiter kennen zu lernen, wollen wir eine Arbeitervertretung, aus 6 Personen bestehend, wählen lassen. Wahlberechtigt sind alle diejenigen, welche das 21. Lebensjahr überschritten haben. Die zu wählenden Vertreter müssen mindestens 30 Jahre alt und mindestens seit 3 Jahren in unsrer Fabrik ununterbrochen beschäftigt sein. Die Wahl erfolgt in der Weise, daß jeder Wahlberechtigte die 6 Namen der zu erwählenden Vertreter auf die 1. Seite des Einrechnungsbogens bis nächsten Freitag abend schreibt; diejenigen 6 Personen, welche die meisten Stimmen auf sich vereinigen, gelten als gewählt, und wird das Resultat durch Anschlag bekannt gegeben. Die Ablehnung derjenigen gewählten Arbeiter, welche uns für diese Vertrauensstellung nicht geeignet erscheinen, behalten wir uns vor, und würden vorkommenden Falls Arbeiter, welche die nächst höhere Stimmenzahl auf sich vereinigen, einzutreten haben. Bei der Stimmenauszählung haben sich Dreher H. und Schmied N. zu beteiligen.“ Das heißt also kurz: Die geplante Arbeitervertretung hat den Zweck, bei neuen Fabrikeinrichtungen aller Art die Ansichten der Arbeiter kund zu geben. Sie besteht aus sechs Mann, die ohne Rücksicht auf die einzelnen Berufskategorien gewählt werden können. Wahlberechtigt ist jeder einundzwanzigjährige Arbeiter, wahlfähig jeder dreißigjährige und ältere, der drei Jahre der Fabrik angehört. +Die Wahl ist eine offne und bedingte. Wer von den Gewählten der Direktion zu dem Amte ungeeignet erscheint, wird zurückgewiesen.+ An seine Stelle tritt der mit der nächst höchsten Stimmenzahl. Die Bekanntmachung wurde an jenem Tage, da sie angeschlagen war, oft und genau, von vielen vielmals gelesen. Ich drückte mich absichtlich, so oft ich es ohne aufzufallen riskieren konnte, vor dem Anschlage herum. Ich fand, wie eine sehr große Anzahl der Arbeitsgenossen ihn still für sich studierte und bald nachdenklich bald auch gleichgiltig, wie sie gekommen waren, wieder an ihre Arbeit gingen. Eine ebenfalls nicht geringe Zahl machte ihre Späße dazu, die teils ganz harmloser Art teils aber beißende Satire über die ganze neue Einrichtung waren. Wenn ein besondrer Dummkopf oder harmloser Geselle zufällig dabei stand, mit dem man auch sonst gern seine Allotria trieb, versicherte man diesem ganz ernsthaft, daß man gerade ihn auf jeden Fall wählen und zu diesem Ehrenposten verhelfen würde. Wenige murrten. Ein einziger jüngerer Mann, etwa ein dreißiger, sprach sofort scharf seine Mißbilligung über den Anschlag offen aus. Die Sache taugte in der Form, wie sie hier geplant wäre, absolut nichts, sondern wäre ein totgebornes Kind. Einige, die dabei standen, wagten schüchterne Einwände. Sie gaben die Fehlerhaftigkeit des Planes zu; doch müßte man erst abwarten. Wen ich sonst von den Arbeitern an diesem und dem folgenden Tage über die Sache um seine Meinung befragte, zuckte die Achseln und sagte gar nichts. Nach ein paar Tagen aber war man -- so war wenigstens die allgemein sich äußernde öffentliche Meinung -- darüber einig, daß die ganze Sache mindestens falsch angefangen, wahrscheinlich aber wieder ein schlauer Coup der Fabrikleitung gegen die Arbeiter wäre. Das bewiese schon der Wahlmodus. Die offne Wahl wäre angeordnet, um die Gesinnung jedes einzelnen Mannes kennen zu lernen. Wählte er energische, klar denkende, ihn wirklich ehrlich und offen vertretende Genossen, so wüßte man sofort, daß er ebenfalls Sozialdemokrat wäre, wie die gewählten. Denn nur diese hätten den Mut einer freien Meinung. Wählte er zahme und untaugliche, so hätte die ganze Einrichtung eben keinen Zweck, denn die würden zu allem, was die Herren wünschten, ja sagen und bei wirklichen Mißständen von selbst niemals den Mund aufmachen. Aber solche Arbeiter wollten die Herrn auch nur, das zeigte deutlich der fünfte Abschnitt des Anschlags. Wenn jene erste Absicht erreicht wäre, und man erst die Gesinnung der einzelnen ehrlichen Wähler erkannt haben würde, würde man sich einfach ohne Rücksicht auf die Höhe der Stimmenzahl die zahmen und genehmen Kandidaten aussuchen und aus ihnen eine Arbeitervertretung bilden, „die für die Herren ebenso Luft wäre, wie überhaupt keine.“ Auch wollte man wahrscheinlich mit der Einrichtung dieser Scheinvertretung andern größern Verpflichtungen für später aus dem Wege gehn. Denn es wäre ja nur noch eine Frage der Zeit, daß mit dem Inkrafttreten des neuen Arbeiterschutzgesetzes wirksame Arbeitervertretungen gesetzlich eingeführt würden. Da hoffte man denn, diesen Zwangseinrichtungen zuvorzukommen, sich vielleicht um sie herumdrücken zu können und sich zugleich den Schein von Arbeiterfreundlichkeit zu geben. So hoffte man, drei Fliegen mit einem Schlag zu treffen, und die Arbeiter wären, wenn sie darauf eingingen, wieder einmal die Dummen. Diese Ansichten blieben die maßgebenden; die Folge war, daß, wenn ich recht beobachtet habe und recht unterrichtet worden bin, an dem aufgegebnen Wahltermine kaum die Hälfte der Leute überhaupt Namen auf ihr Lohnberechnungsblatt eingetragen hatten. Die übrigen hatten sich standhaft der Wahl enthalten. Darauf erschien ein neuer Anschlag, erklärte diese erste unvollständige Wahl wegen zu geringer Beteiligung für ungiltig, setzte einen neuen Wahltermin an und forderte +alle+ Arbeiter energisch zur Wahl auf. +Das wirkte. Die allergrößte Mehrzahl wählte nunmehr und wählte Kandidaten, die durchweg die Bestätigung der Fabrikleitung erhielten.+ Ihre Namen wurden bekannt gemacht, und die neue Arbeitervertretung damit für konstituiert erklärt. Aber ich habe in den mehr als zwei Monaten, die diesem Vorgange folgten, und während deren ich noch in der Fabrik war, niemals wieder auch nur das geringste Lebenszeichen von dieser Arbeitervertretung gespürt. So oft ich auch die Kollegen danach fragte -- niemand wußte etwas von ihr. Für die denkenden und scharf sozialdemokratisch gerichteten war das nur ein neuer Beweis für die Richtigkeit ihres vorhin mitgeteilten Verdachtes. Noch eine Geschichte andrer Art, die aber dasselbe beweist. Sie betrifft einen sehr überzeugten Sozialdemokraten unsrer Fabrik, einen überaus tüchtigen Mann, dessen bedeutsame Arbeit schon früher gewürdigt worden ist. Sie wurde damals im ganzen Bau von ihm allein verrichtet. Früher hatten sie zwei Mann gethan. Aber unser Mann arbeitete gleich nach seinem Eintritt in die Fabrik so auffällig eifrig und intensiv (obgleich er nicht in Akkordlohn stand), daß man den andern schwächern bald entbehren konnte, ihn entließ und dafür den allein Zurückgebliebenen wohl etwas besser lohnte. Das war nun zwar für ihn vorteilhaft und wohl auch verdient, aber durchaus gegen das sozialdemokratische Solidaritätsprinzip, das doch, so viel ich weiß, den mittelalterlich-zünftlerischen Satz wieder wahr machen will: Was zwei ernährt, soll nicht einer thun. Aber es zeigte sich eben auch in diesem Falle, wie in dem vorher Geschilderten und wie sonst oft: Das eigne, augenblickliche Interesse siegt auch über eine sehr viel versprechende sozialpolitische Prinzipienreiterei und eine sonst reine und klare sozialdemokratische Gesinnung. So bewährt sich an all dem Berichteten mit vollster Deutlichkeit, daß die rein politische und soziale Agitation der Sozialdemokratie bei dem phantastischen, unaussprechlichen, unfaßbaren Charakter ihrer Lehrsätze, sowie bei dem nüchternen praktischen Charakter, der trotz aller Schwärmerei und Träumerei auch dem deutschen Arbeiter noch innewohnt, und im Verhältnis zu der Fülle von Zeit und Kraft, die nunmehr seit Jahrzehnten in Chemnitz auf +diese+ Agitation verwendet worden ist, bisher eigentlich nicht allzu große Erfolge erzielt hat und daß es ihr jedenfalls noch nicht gelungen ist, der Mehrzahl der Arbeiterschaft dieselben ganz gleichen politischen Ansichten und Wünsche einzuprägen. Ich glaube, daß es auch in Zukunft niemals viel anders damit werden wird; jedenfalls behaupte ich mit vollster Entschiedenheit, daß die ganze sozialdemokratische Propaganda auf diesem Gebiete überhaupt nicht ihre wirkungsvollste und tiefstgreifendste Arbeit thut. Diese liegt auf einem andern wichtigern Felde, von dem das nächste Kapitel reden wird. Aber das eine Große hat sie doch auch sozialpolitisch unter den Arbeitern erreicht, daß diese sich trotz aller Unterschiede, Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten als eine große politische und soziale Schicht empfinden gelernt haben und sich nun dauernd mit einander solidarisch verbunden und durch die Sozialdemokratie, ganz einerlei wie sie im einzelnen zu ihr stehn, vertreten wissen. Und so sehr einerseits die Recht hatten, die es mir in der Fabrik bitter klagten, daß die Arbeiter nur in Versammlungen zusammen hielten, sonst aber nicht zusammenstünden, so sehr ist es doch auch Thatsache, daß sie sich andern politischen Parteien und sozialen Gesellschaftsschichten, gerade in Stunden, da die Begeisterung erwacht, bei Wahlen und eben auch in solchen Versammlungen unwillkürlich und selbstverständlich als +eine+ große Masse entgegenstellen. Nach alledem darf man sich die Arbeiterschaft, unter der ich lebte, in Hinsicht auf ihre politischen und sozialen Gesinnungen nicht als eine uniforme, gleichmäßige und gleichwertige Masse vorstellen, sondern vielmehr -- in einem Bilde -- +als einen gewaltigen pyramidalen Bau, zu dem sie durch den Mörtel der sozialdemokratischen Agitation fest und wuchtig genug zusammengefügt ist. Ihre Spitze bilden die oben vielgenannten Elitesozialdemokraten. Aber von diesen, den Führern, und der kleinen Schar ihrer Getreusten geht es allmählich in immer breitern Absätzen bis zu der chaotischen Masse aller derer hinab, die nur deshalb Sozialdemokraten sind, weil sie, was ihnen heutzutage durchaus nicht zu verdenken ist, bei den Wahlen einem von „ihresgleichen,“ einem Arbeiterkandidaten, einem Sozialdemokraten ihre Stimme geben.+ Sechstes Kapitel Bildung und Christentum Die Arbeiter unsrer Fabrik setzten sich deutlich aus drei Bevölkerungsgruppen zusammen: aus ehemaligen ländlichen Arbeitern, Knechten, Tagelöhnern und Häuslern, die teils aus ihrem heimatlichen Dorfe verzogen waren, teils von ihm aus täglich zur Fabrik kamen; aus eigentlichen großstädtischen Industriearbeitern, die ganz selbstverständlich schon von Kindesbeinen an für die Fabrikarbeit bestimmt gewesen waren, und deren Großeltern, wenigstens aber Eltern ebenfalls schon ihr Brod und ihren Lebensberuf in der Fabrik gefunden hatten, und endlich aus Angehörigen kleiner Handwerker- und Beamtenfamilien, die meist aus kleinen oder mittelgroßen Provinzialstädten, seltner aus einer Großstadt zu uns herein gekommen waren. Die mittelste Gruppe war selbstverständlich die an Köpfen zahlreichste; jedoch kam ihnen die Schar der ehemaligen Landbewohner auch sehr nahe; die kleinste Gruppe bildeten die zuletzt genannten Klein- und Mittelstädter. Diese waren übrigens fast durchweg gelernte Leute, meist Schlosser, und standen noch in jugendlichem Alter, zwischen 18 und 23 Jahren; die Leute vom Lande thaten dagegen Handarbeit oder waren an Bohr-, Hobel- und Stoßmaschinen beschäftigt; die eigentlichen, wenn man so sagen darf, zunftmäßigen Fabrikarbeiter verteilten sich endlich auf alle drei Kategorien der Handarbeit, der Maschinenarbeit und auch -- freilich zu einem geringen Teile -- der gelernten Berufe der Schlosser, Schmiede, Tischler, Zimmerleute. Es ist selbstverständlich, daß die Angehörigen dieser drei Gruppen auch den Geist, die Gesinnung, den sozialen Charakter, die Lebensanschauungen und Lebensgewohnheiten mit in die Fabrik und das Zusammenleben unsrer Arbeiterschaft hineinbrachten, die in den drei sonst getrennten Bevölkerungsschichten ganz verschiedenartig vorhanden sind. Natürlich blieben dieselben hier nun nicht scharf von einander getrennt und dauernd rein erhalten. Vielmehr rieben sie sich stark aneinander, schliffen sich gegenseitig ab und wurden, namentlich unter dem Drucke der sozialdemokratischen Agitation und des eigentümlichen neuen Fabriklebens, mehr oder weniger nivelliert. Und das geschah bei den einzelnen Leuten desto schneller und intensiver, je länger sie bereits diesem Fabrikleben angehörten und je rückhaltloser sie die Verbindung mit der Vergangenheit gelöst hatten. Dennoch flutete immer von frischem, in immer neuer Reinheit derselbe dreifache Strom der Gesinnung und Gesittung, der politischen und sozialen Anschauungen und Wünsche in unsre Fabrik herein, da immer von neuem frische Kräfte vom Lande und aus den kleinen und Mittelstädten in sie eintraten, die einen, vor allem die ländlichen, um dauernd in ihr zu bleiben, jene andern, um nur eine längere oder kürzere Zeit durch sie hindurchzugehen, zu lernen, was hier zu lernen war, und dann in den Kleinbetrieb der väterlichen Werkstatt zurückzukehren oder in kommunale und staatliche Anstalten technischer Art, wie Eisenbahnwerkstätten, Feuerwehrdepots, Gas- und Wasserleitungsanstalten als subalterne technische Beamte einzutreten oder auch, falls sie in der Fabrik blieben, doch hier oft Meister oder Monteure und damit ebenfalls der eigentlichen Arbeiterklasse entnommen zu werden. Entsprechend dieser scharf unterscheidbaren und in ihrer Wirksamkeit nach allen Seiten und Beziehungen hin bedeutsamen dreifachen sozialen Schicht war nun auch, man kann ruhig sagen, eine dreifache Art der +geistigen Bildung+ deutlich unter ihnen zu erkennen. Diese ist freilich nicht allein durch jenen Einfluß entstanden; aber ebensowenig würde der andre gleichwichtige Faktor, der zur andern Hälfte daran Ursache war, der Unterricht in den verschiedenen Schulen, die die Leute besucht hatten, und zwar der Dorfschule für die ehemals ländlichen Arbeiter, der sogenannten Bürgerschule, für die aus sozial besser situierten Kreisen stammenden Mittelstädter und der einfachen großstädtischen Gemeinde-, Bezirks- oder Volksschule für die eigentlich großindustriellen Fabrikarbeiter, diese dreifache Art von Bildung allein haben zeitigen können. Dazu sind die Unterschiede dort der Erwerbsart, des Einkommens, der Lebensgewohnheiten, hier des Lehrpersonals, der Lehrform, des Lehrinhalts an sich nicht groß genug. Erst der gemeinsame Einfluß beider Faktoren hat sie nach allen meinen Beobachtungen hervorgebracht. Denn indem je eine dieser drei Schularten sich überwiegend benutzt zeigt von allemal je einer der drei Bevölkerungsgruppen, und indem so die geistige Eigenart der Schule mit der ganzen sozialen Eigenart der betreffenden Bevölkerungsschicht, deren Kinder eben diese Schulen hauptsächlich besuchen, zusammentrifft und sich unwillkürlich in den einzelnen kleinen Persönlichkeiten der Kinder verbindet, entsteht in der That eine immer von den beiden andern deutlich unterscheidbare Qualität des Wissens, des Denkens, des ganzen geistigen Niveaus, von denen man jede nunmehr mit Recht als eine eigentümliche Kategorie der Bildung bezeichnen darf, und von denen eine jede in den Personen zahlreicher Arbeiter bald reiner bald unbestimmter verkörpert war. Ich beginne mit der Schilderung der Dorfschulbildung, wie sie an meinen ehemals ländlichen Arbeitsgenossen zu Tage trat. Sie zeigte sich, das ist ihr oberstes Charakteristikum, als durchaus religiös und konfessionell dogmatisch bestimmt, als eine, man kann wohl kurz sagen, biblische Bildung. Und das war ebenso natürlich als erklärlich. Der Religionsunterricht der Dorfschule nimmt anerkanntermaßen qualitativ und quantitativ den breitesten Raum in ihrem Lehrgebäude ein. Aber nicht nur das, er ist auch das starke Rückgrat des gesamten übrigen Unterrichts. Der Geist und der Ton, der in jenen herrscht, wird weniger in ausdrücklichen Worten und mit bewußter Lehrtendenz als durch die Persönlichkeit und die Haltung des Lehrers und durch die ganze Art seines Unterrichtens auch in die übrigen Lehrstunden hineingetragen und gilt jedenfalls vor allem in den Augen der Kinder als derselbe hier wie dort. In den Singstunden werden geradezu außer Vaterlands- und Volksliedern, die aber ebenfalls vielfach religiösen Charakter tragen, besonders Choräle und Gesangbuchslieder geübt; das Lesebuch, das in der Lesestunde benutzt wird, enthält zahlreiche religiös-moralisierende Erzählungen, und der Geschichtsunterricht ist zu einem großen Teile Unterricht in der jüdischen und biblischen Geschichte; so wird auch ganz unwillkürlich in der Schreib- und Rechenstunde, in der Geographie und Naturkunde der höhere letzte Gesichtspunkt, der sie beherrscht, der religiöse sein. Dazu kommt, daß das Familienleben im Elternhause, die gesamte Lebensanschauung der Dorfgenossen, die ganze Sitte, die in der +Gemeinde+ herrscht, kirchlich, religiös beeinflußt und bestimmt ist, daß also auch hier, außerhalb der Schule, der heranwachsende Knabe immer und überall auf Gedankenkreise, Ansichten, Worte, Handlungen und Gewohnheiten trifft, die durch dieselben geistigen Faktoren bedingt sind, die den gesamten Unterricht in der Schule erfüllen und treiben. Und diese Einflüsse ändern sich auch nicht, wenn er die Schule verläßt und als Knecht, als Tagearbeiter oder Eigenhäusler seinen Lebensberuf in der Heimat gefunden hat. Zeigt er außerdem, was nicht häufig ist, auch nach der Schulzeit einiges Bedürfnis nach geistiger Fortbildung, so ist wieder der Pfarrer der einzige gebildete Mann, mit dem er ab und an zusammentrifft und sich auszusprechen vermag. Dieser aber hat seinerseits, so oft er mit ihm verkehrt, zunächst seelsorgerische Absichten und Pflichten gegen ihn und vermittelt ihm darum neue Gedanken auch wieder nur in vorwiegend religiöser Form und Hülle; und endlich bleibt die Kanzel die einzige Stätte, sind Bibel, Gesangbuch und vielleicht noch ein von den Vätern ererbtes uraltes Gebetbuch meist die einzigen Bücher, woher er sich seine geistige Nahrung und seine Anregungen holt. So wird es geradezu zu einer Notwendigkeit, daß der Vorstellungskreis, den der schlichte, handarbeitende Mann auf dem Lande sich allmählich aneignet, durchaus auf der religiösen Seite liegt, daß der kleine Schatz von Wissen, den er besitzt, auf das Gebiet des profanen Wissens der Schrift beschränkt und von dem Stand ihrer geistigen Bildung durchaus abhängig ist, und daß er die Gedanken, die er allmählich selbständig denken lernt, in den Bahnen, in den Formen, den Kategorien und Begriffen denkt, in denen die Menschen der heiligen Schrift gedacht haben. Seine Geschichtsauffassung ist unlösbar verknüpft mit dem Wunderglauben, ohne den die Jahrhunderte des Altertums, des Mittelalters und des nachreformatorischen Zeitraums bis zur Aufklärungszeit die Vergangenheit nicht auszufüllen und sich vorzustellen vermochten. Die Natur ist ihm ein unerforschtes, undurchdringbares Rätsel, eine schweigende Sphinx, über die ein dichter Schleier gebreitet ist; er kennt noch nichts von den Entwicklungsgesetzen, die die moderne Wissenschaft lehrt, von Urschleim und Stoffwechsel; und der biblische Schöpfungsbericht ist ihm nach wie vor die eigentliche Quelle seiner Naturauffassung, der einzige maßgebende Ausgangspunkt seiner Gedanken über die Welt. Endlich das gesellschaftliche Leben der Menschheit erscheint ihm, wenn überhaupt, so wie in Israel vornehmlich von religiösen und sittlichen Beweggründen bestimmt und durch das in die erstarrte Sitte gebannte kirchliche Gemeindeleben geregelt. Und diese so gestaltete biblische Anschauungsform erwies sich mir um so fester in Kopf und Herz der Leute eingeprägt, als sie deutlich in ihren Augen getragen und gestützt, verbrieft und versiegelt erschien durch die überlieferte und unfehlbare Autorität der Schrift, aus der sie stammt. Diese Autorität gilt ihnen gemäß der alten Auffassung von der Inspiration nicht bloß, soweit diese Schrift „Jesum Christum treibet,“ sondern sie gilt gleichwertig und gleich einschränkungslos von allem andern, was sie an profanem Wissen mitteilt, bis auf den Punkt über dem i. Ich sah, daß sie in ihr nicht nur auf die Frage befriedigende Antwort suchten, wie der Mensch den Frieden des Herzens gewinnen kann, sondern auch auf alle möglichen Zweifel des Verstandes und Fragen des Wissens. Ja ich darf sagen, zu diesem letzten Zwecke waren sie ganz besonders gewöhnt, die Schrift zu benutzen, während ihnen ihr Wert für die Lösung der andern Frage meist völlig unklar geblieben war. Dazu trat als eine dritte ebenso wichtige und von allen ernsten gedankenvollen Männern längst anerkannte, in meinem Verkehr mit den Leuten ebenfalls täglich bestätigte Erscheinung der Umstand hinzu, daß heutzutage in der Schule die Heilsthatsachen des Evangeliums nicht als persönliche Lebenswahrheiten unmittelbar, sondern als Lern- und Memorierstoff lehr- und schulmäßig, wie sie im Katechismus formuliert sind, nicht den Herzen, sondern den Köpfen der Kinder übermittelt zu werden pflegen. Der Religionsunterricht ist hier also vorwiegend Verstandesunterricht anstatt Erziehung des Charakters; die christliche Heilswahrheit kalter Lernstoff anstatt warme, alles durchdringende Lebenskraft; Jesus Christus -- nach dem Vorgang des Dogmas -- mehr ein metaphysisches Rätsel als eine historische gottvolle Persönlichkeit. Und darf ich nach meinen Erfahrungen weiter schließen, so ist auch der übliche Konfirmandenunterricht kein Ersatz für den Mangel des Schulunterrichts. Seine Hauptaufgabe, eine feste Grundlage für die Auseinandersetzung der ewigen Wahrheiten der Religion mit den mannigfachen Thatsachen der Erfahrung zu bieten, leistet auch er heute -- nach seiner Wirkung auf die Leute zu schließen -- nicht. Vielmehr ist es meine durchgehende Beobachtung, daß der vielleicht feierliche Eindruck der Konfirmation in kurzer Zeit schon in der Jugend spurlos verwischt ist. Diese drei Züge, die Abhängigkeit der geistigen Bildung von den Gedankenkreisen und der Bildungsweise der Schrift, die falsche Auffassung von ihrer Autorität und die vorwiegend verstandesmäßige Aneignung der Wahrheiten des Christentums gaben ausschließlich der Bildung die Signatur, die jene ehemaligen Landbewohner, mehr oder weniger scharf geprägt, immer von neuem mit in die Stadt und unsre Fabrik hineinbrachten, und die hier für sie bis auf den letzten Mann unter ihnen auch immer von neuem die Ursache einer schweren intellektuellen und religiösen Krisis wurde, in der diese Bildung dann fast immer Bankerott und einer andern Platz machen mußte. Einen andern Charakter zeigte die Bildung der jungen Leute, die aus meist besser situierten Handwerker- und kleinen Beamtenfamilien eben erst zu uns hereingekommen waren. In den Bürgerschulen, die sie besucht hatten, sind die Schulstunden zahlreicher, der Lehrplan reichhaltiger, der Lehrinhalt größer und gehaltvoller als in jenen Dorfschulen. Was hier an Lehrstoff geboten wird, sind nicht nur, wie dort vielfach, bloße Anfangsgründe, sondern mehr, meist ein abgerundetes, geschlossenes, systematisches Ganze, das den Versuch macht, zwar nicht den gesamten Inhalt eines Wissensgebietes den Kindern nahe zu bringen, wohl aber ihnen doch einen klaren Überblick über diese gesamte Materie, z. B. der Geographie, Naturgeschichte u. s. w., und jedenfalls die praktisch wertvollen Hauptsachen und das ganze Gerippe der Disziplin zu geben. Weiter ist der Unterricht in diesen einzelnen Fächern offenbar ganz anders als in der Dorfschule Selbstzweck. Er vollzieht sich lange nicht so wie dort in einer religiös-moralisierenden Atmosphäre; der in ihnen gelehrte Wissensstoff fußt vielmehr auf den Ergebnissen der neuen, modernen Wissenschaft und ist unabhängiger als dort von dem Wissensstoffe der Bibel und der Gedankenwelt des überlieferten Dogmas. Der Unterricht ist also moderner und profaner zugleich; nicht jede Schulstunde ist so wie dort eine religiös bestimmte Stunde. Der Religionsunterricht selbst aber ist nur ein allerdings bedeutsamer Bestandteil des Unterrichts, aber eben nur wieder ein Bestandteil des Unterrichts, nicht der Erziehung, der im allgemeinen den andern Fächern gleichartig betrieben wird. Denn der Religionsunterricht ist auch hier genau wie in der Dorfschule vorwiegend Katechismusunterricht. Sein Gegenstand ist das logisch mit den Mitteln einer antiken längstveralteten Wissenschaft aufgebaute Lehrgebäude des kirchlichen Dogmas, seine Aneignungsform das verstandesmäßige Begreifen und Auswendiglernen dieser Glaubenssätze, Bibelsprüche und Gesangbuchverse ohne ebenso starke und innerliche Aneignung ihrer religiösen und sittlichen Lebenskräfte in der Person Jesu Christi -- und all das immer auch hier unter selbstverständlicher Anerkennung der wörtlichen Inspiration der Schrift und der Richtigkeit auch aller ihrer profanen Bestandteile. Aber man erlaubt sich hinsichtlich des letztern in der Praxis eine starke, wenn auch stillschweigende Korrektur, indem man in den übrigen Unterrichtsstunden eben diese nach innerer logischer Notwendigkeit allgemeingiltige Autorität eliminiert und die modernen Erkenntnisse hier als Autorität anerkennt und benutzt, ohne jedoch in eine klare Auseinandersetzung dieses innern Widerspruchs einzutreten. So wird der Religionsunterricht einerseits zwar ebenfalls wie der andre Unterricht ein rein verstandsmäßiges Lehrgebiet, aber er wird andrerseits auch von allen übrigen als etwas besonders Heikles mit Peinlichkeit isoliert. Das pflegt nun freilich zunächst der naiven Schülerseele fast nie zum Bewußtsein zu kommen, umsoweniger, da die in den elterlichen Kreisen noch einigermaßen als wohlanständig erhaltene kirchliche Sitte und der rationalistisch-ethische Sinn solange einen gewissen Halt zu bieten vermag, als der herangewachsene junge Mann, sozial leidlich geschützt, in dieser Schicht bleibt. Sowie er aber aus ihr heraus und, wie bei uns in einen großen Fabrikbetrieb und damit auch in eine andre soziale Gruppe, hier diejenigen der großstädtischen sozialdemokratischen Industriearbeiter eintritt, wird ihm dieser innere Widerspruch, dieser große Schaden an seiner geistigen und religiösen Bildung fühlbar, und auch er ist gezwungen, gleich dem Genossen vom Lande eine Krisis durchzumachen, die zwar nicht eine so radikale Wirkung, nicht eine so völlige Hilf- und Haltlosigkeit auch seines profanen Wissens zur Folge hat wie bei diesem, aus der er aber ebenfalls meist für immer als ein andrer hervorgeht, und die er vor allem, wie sich zeigen wird, mit der Darangabe des ganzen ihm gelehrten und bisher autoritativen Christentums zu bezahlen pflegt. Endlich die großstädtische Gemeindeschulbildung, die Durchschnittsbildung der letzten und größten Gruppe unsrer Arbeiterschaft. Sie ähnelte wohl, nach dem Eindrucke, den ich hatte, in manchem derjenigen der Bürgerschule, aber sie steht, nach Bildungsziel und Lehrcharakter der Schule, im Grunde doch nur auf etwa demselben Niveau wie die Bildung einer großen völlig ausgebauten achtklassigen Dorfschule. Auch hier die übertriebene Abhängigkeit der profanen Wissensbestandteile von denjenigen der Bibel, auch hier die falsche Auffassung von deren Autorität, auch hier dieselbe überwiegend verstandesmäßige Mitteilung und Aneignung der christlichen Heilsthatsachen ähnlich wie bei jedem andern Lehrstoff. Aber hier tritt nun die schlimme Wirkung dieses Zustandes viel schneller und unmittelbarer an den Tag. Denn bei den Schülern dieser Schulgattung pflegt im Durchschnitt die erhaltende, überbrückende, verbessernde Kraft der häuslichen und gesellschaftlichen Sitte zu fehlen, die sich noch in den beiden andern sozialen Gruppen lebendig zeigte. Denn unter dem Drucke der neuen alles verändernden Gebilde des großindustriellen Fabrikbetriebes wurde diese jüngste Bevölkerungsschicht der berufsmäßigen großstädtischen Fabrikarbeiter von allen überlieferten, festen Lebensformen befreit, die aus dem Boden früherer Gesellschaftsgruppierungen herausgewachsen waren; an ihrer Stelle sind neue noch nicht geschaffen, kaum erst in Ansätzen, und dann häufig nur in unreifen und lebensunfähigen, vorhanden. Der Gegensatz aller Stätigkeit, ein fortwährendes unruhiges Hin- und Herfluten, der das Leben dieser Menschen zu keinem gleichmäßigen Gange kommen läßt, ist das maßgebende Gesetz, dem sie unterworfen sind; die Macht des Augenblicks ist an die Stelle der alten kraftvollen Sitte getreten. Diese Unruhe des neuen sozialen Lebens übt auch auf den geistigen und religiösen Bildungscharakter der meisten einen folgenschweren Einfluß aus. Sie läßt es zu keiner Erhaltung und Festigung der in der Schule angeeigneten Bildungselemente kommen, schwemmt vielmehr eine Menge davon schnell wieder hinweg, macht bedenklich gegen die Zuverlässigkeit der bewahrten und weckt damit zugleich das Bedürfnis und die Sehnsucht nach einer bessern und umfassendern Bildung, die frei von Widersprüchen ist, die vor der modernsten Kritik besteht, die ihnen wieder imponiert, ihnen zugleich einen Ersatz und eine Befriedigung bietet für die teilweise oder gänzliche Leere und Fadheit der eintönigen uninteressanten Berufsarbeit, und für die sie bereit sind, die ganze alte, niemals geliebte, weil niemals recht fruchtbar gewordene schulmäßige Jugendbildung zu opfern. So tritt bei den meisten und gerade den Begabten, Strebsamen, Gedankenvollen dieser dritten Gruppe jene oben bereits erwähnte Krisis plötzlicher, heftiger und gründlicher ein als bei den Angehörigen der zwei andern Gruppen; und bei ihnen kommt sie im Gegensatz zu jenen meist ohne maßgebenden Zwang und Einfluß von andern aus dem Drucke der Verhältnisse, in die sie hineingeboren sind, aus dem eignen Empfinden der Gegensätze und Lücken heraus, aus dem selbständigen Nachdenken über die Menschen und Dinge rings umher. Dieser Bildungstrieb nun sitzt tief als eine elementare Macht in vielen Köpfen und Herzen dieser dritten Gruppe von Arbeitern unsrer Fabrik. Er trat täglich und überall dem Beobachter entgegen und kam in immer neuen kleinen Einzelzügen, in Worten und Wünschen, in Fragen und Seufzern zu bald klarerem, bald unklarerem, bald ernsthaftem und schmerzlichem, bald komischem und heiterm Ausdruck; in besonders kraftvollen Naturen äußerte er sich geradezu als eine Art von Bildungshunger, der urteilslos und unterschiedslos verschlingt, wessen er habhaft werden kann; aber seinen unmittelbarsten und grandiosesten Ausdruck erhält er doch in der internationalen Bewegung für den Achtstundentag. Das ist nicht nur eine bloße Manifestation der Faulheit und der Genußsucht, des Übermuts und der Oppositionslust, auch nicht nur der sozialdemokratischen Gesinnung und wirtschaftlicher Forderungen, sondern nach meiner Beobachtung und Überzeugung zugleich ein Beweis der Sehnsucht des Fabrikvolkes nach mehr Licht, Wahrheit und Wissen. Man will Zeit gewinnen, um auch dem geistigen Menschen die Pflege zu teil werden zu lassen, auf die er selbst in einem schlichten Fabrikarbeiter Recht und Anspruch hat. Das ist aber heute, ich habe das an mir selbst zur Genüge erprobt, der Mehrzahl noch durchaus nicht möglich, die von früh sechs Uhr bis abends sechs Uhr und länger an ihre Plätze in der tosenden dunstigen Fabrik gefesselt ist, die außerdem oft einen langen, nicht selten einstündigen Weg zur und von der Fabrik hat und des Abends schmutzig, hungrig und müde heimkommt. Unter diesem Gesichtspunkte, und jene Achtstundenbewegung ernsthaft so verstanden, wie sie ein Teil des Volkes nicht minder ernsthaft thatsächlich versteht, nämlich als den einzig gangbaren Weg zu einer wirklich ausreichenden Befriedigung dieses Bildungsinteresses, scheue ich mich nicht, sie nicht nur vorurteilslos zu würdigen und anzuerkennen, sondern auch für ihre allmähliche, schrittweise Erfüllung einzutreten, unbeeinflußt und unbeirrt auch davon, daß sie von rüden Elementen als Anlaß zu ebenso unsittlichen als nutzlosen und dummejungenhaften Demonstrationen benutzt wird. Aber freilich, so stark die Sehnsucht nach Bildung in den Köpfen steckt, so viele sind der Hemmnisse, die sich ihrer Befriedigung in den Weg stellen. Das eine hauptsächliche, die allzulange Arbeitszeit, verbunden mit weiten Fabrikwegen, nannte ich schon; weitere wichtige sind die kleinen engen Wohnungen mit den vielen Personen in dem einen Zimmer, dann die Sorgen hier, die Gelegenheiten zum Genuß und Vergnügen da. Das alles macht, daß bei vielen weniger willensstarken und idealgerichteten Naturen dieser Drang nach Bildung immer nur Wunsch und Drang bleibt und selten über gute Absichten und Ansätze hinauskommt; das bewirkt vor allem auch, daß der größte Teil der Jugend dieses Bildungsinteresses im Grunde entbehrte. Auch die ehemaligen Landarbeiter, sahen wir, besaßen es selten aus eigner unmittelbarer Initiative, und die Angehörigen aus bessern Kreisen nur mehr als Streben nach Fachbildung. Die Strebemutigen, die Lernbegierigen, die Vorwärtsringenden waren zumeist Männer der ausgehenden zwanziger und der dreißiger Jahre aus der letzten, dritten sozialen Schicht. Die drei Arten von Bildung, die ich bisher schilderte, machen nun in der Fabrik eine völlige Wandlung durch. Sie werden unter dem Einflusse der Sozialdemokratie unaufhörlich zerstört und gehen in einer neuen, der +sozialdemokratischen Bildung+ unter. Denn die Sozialdemokratie hat sich auch dieser Volksbildungsfrage bemächtigt. Sie hat den Drang nach Wissen da unten wie niemand belauscht und hat sich seit zwanzig Jahren daran gemacht, ihn durch systematische Arbeit im großen zu befriedigen. So hat sie allmählich eine Volkslitteratur geschaffen, von deren Umfange heute die Kataloge der sozialdemokratischen Buchhandlungen zeugen, von einem Gehalte, wie ihn Volksbücher bisher nie zu bieten wagten, oberflächlicher und leichtfertiger zwar als die bisherigen religiösen und vaterländischen, aber nicht weniger populär wie diese und neu, modern, zeitgemäß wie keine von beiden. Sie hat darin unternommen, was jene unterlassen: sie hat mit kühnem Griffe die moderne Wissenschaft popularisiert. Sie hat sich dabei nicht gescheut, dem Volke auch trockne Zahlen, langwierige, nüchterne Demonstrationen, ernste, schwere Kost, Dinge, die es noch lange nicht verstehen wird, zu bieten. Aber eben das will heute das Volk; es will in mühsamer Gedankenarbeit mitringen um die Probleme, die auch ihm heute nahe treten und Kopf und Stirn heiß machen; es will dasselbe Neue haben wie die andern, die Gebildeten, zu denen es bisher wunschlos aufgeschaut hat; es will mit ihnen selbständig, souverän sein auch im Reiche der Gedanken. Doch die Sozialdemokratie hat nicht edel und ehrlich dabei gehandelt, als sie diese neue Volkslitteratur schuf. Sie mißbrauchte das Vertrauen, das das Volk ihr hierin entgegenbrachte. Sie gab ihm nicht die wahre moderne Wissenschaft, sondern ein Extrakt aus ihr, das ein Erzeugnis agitatorischer Berechnung war. Sie fälschte und strich von der neuen Wahrheit, was ihr gutdünkte, sie tauchte alles in die Farbe der Partei und stellte den so gewonnenen Inhalt ausschließlich in den Dienst ihrer Interessen. Ist es erklärtermaßen ihr oberstes höchstes Ziel, die Arbeiter in ihrem Denken, Empfinden und Handeln aus ihren bisherigen natürlichen Verbindungen mit der übrigen Gesellschaft herauszulösen, sie in unüberbrückbaren Gegensatz zu dieser, „der gesamten übrigen, reaktionären Masse“ zu setzen, und ihnen nicht nur die neuen politischen und sozialen Ansichten der Partei beizubringen, sondern sie immer fester und fester auch zu einer ganz besondern, eigenartigen Gesinnung und Lebensanschauung zusammen zu schweißen, so giebt es in der That kein beßres Mittel, dies zu erreichen, als eine klug dazu zurechtgemachte und ausgenutzte neue Volkslitteratur. Diese vermag beides zugleich: den Durst der Leute nach der neuen Bildung zu stillen und den Rest der alten Bildung schnell und gründlich und für immer aus ihren Köpfen und Herzen zu reißen. Und da diese alte Bildung, wie wir wissen, völlig eingetaucht ist in den Geist des Christentums, wurzelt in dem Boden der Bibel, getränkt ist mit der Lebens- und Weltanschauung, die diese atmen, in ihr ihren letzten Halt, ihren Kern, ihre zusammenfassende, verbindende, stützende Kraft hat, mit einem Wort, da diese christliche Weltanschauung im Grunde die überlieferte Bildung und Gesinnung selbst ist, und da man wohl sah, daß alles gewonnen war, wenn sie fiel, so schnitt man die ganze neue Volkslitteratur, die man schuf, auf den Kampf mit dieser christlichen Weltanschauung zu, wählte man aus den Resultaten der modernen Wissenschaft aus, was zu ihr im Gegensatze stand oder doch bequem in Gegensatz dazu gebracht werden konnte. Der Lehre und dem Glauben von einer göttlichen Weltordnung, die die Bildung der Leute bisher bestimmt hatte, setzte man so in dieser neuen Litteratur in hundert großen und kleinen, guten und schlechten Abhandlungen aus der Religions- wie Naturkunde, aus der Geschichte und Philosophie, aus der Kunst und Litteratur die Lehre und den Glauben einer bloß natürlichen Weltordnung entgegen. Man verarbeitete die Werke eines Darwin, eines Häckel, eines Büchner; man schlachtete Spinoza und Feuerbach, Schopenhauer und Hartmann aus; die neuen Forschungen der Astronomie und Geologie, diese objektiver als andres, wurden verwertet, Strauß und Renan, Bruno Bauer und moderne katholisch-französische Encyklopädisten wurden benutzt; und endlich fälschte man -- im Zeitalter der Blüte der Geschichtsforschung! -- die ganze Weltgeschichte und verkündete sie dem armen Volke ausschließlich unter dem Gesichtspunkte der materialistischen Philosophie, der ökonomischen Entwicklungen. +So entstand die jüngste Volkslitteratur, ein einziger, in seiner Art kühner und großartiger Versuch, in Verbindung mit der Verbreitung der neuen radikalen ökonomischen und politischen Lehren der Partei die ganze alte Bildung und Kultur, Christentum und Bibel aus Herz und Köpfen der Massen und aus der ganzen Welt hinauszufegen.+ In ihr findet sich kein Platz mehr für den Glauben an einen lebendigen, persönlichen Gott, der unser Vater ist, und an ein unsterbliches Leben. Sie erzählt nichts von Sünde und Schuld, von Gnade, Erlösung und Heiligung; an die Stelle des ewigen, heiligen Sittengesetzes stellt sie das kalte, starre Naturgesetz, an Stelle der Liebe das Solidaritätsgefühl, an Stelle des Ideals der Sittlichkeit die Macht der bloßen Sitte, die da wechselt mit den ökonomischen Verhältnissen des Volkes. Und mit Gier stürzte sich nun die Schar der Bildungshungrigen da unten auf die neue Speise, die man ihnen bot. Das war ja, wie sie wähnten, das, was sie so lange gesucht und ersehnt, worum sie die „hohen Herrn“ oben so lange und so bitter beneidet hatten, die Wahrheit, das Wissen, die Bildung. Diese wollten sie wenigstens haben, da sie heute noch ihr Geld, ihr Wohlsein, ihren Besitz nicht haben konnten; wenigstens geistig wollten sie ihnen ebenbürtig, nein, ihnen über sein. Und dann hatten sie ja auch die Verheißung der sozialdemokratischen Führer: daß unter dem Zeichen dieser neuen Wahrheit und Wissenschaft die Welt eine andre werden, unter ihrem Leuchten der neue, herrliche, der sozialistische Zukunftsstaat heraufziehen, und daß die Träger der neuen Wahrheit auch die Herren der neuen Zeit sein würden. So hing Gegenwart und Zukunft gerade der ringenden, vorwärtsdrängenden Arbeitergeister an diesem neuen Schatze; so kannten sie kein Halten mehr; so warfen sie um den Preis, jene zu besitzen, und diese zu erleben, freiwillig vom alten Wissen weg nicht nur das Überlebte, Überholte, den hindernden Ballast, sondern auch die edeln Güter und die wahrhaftigen Lebenskräfte, alles, alles, wie es die neuen Bücher und Lehren wohlweislich heischten; so lebten sie sich in die neuen Gedanken hinein, die diese ihnen mit demselben Anspruch unfehlbarer Richtigkeit und Autorität entgegenbrachten, wie einst die alten Lehren, die alte Bibel: +so wurde die neue sozialdemokratische Bildung im Volke geboren, die eine Halbbildung ist, wie keine zuvor+. Sie trat sofort ihren Siegeszug unter den Hunderttausenden der deutschen Arbeiter an. Jene ersten, die ihr gewonnen waren und anhingen, wurden nach einem Gesetze, das alles Geistesleben durchdringt, ihre neuen Propheten, ihre begeistertsten Verkündiger. Sie waren meist kluge, begabte Köpfe, die tüchtigsten von allen und ehrliche Naturen dazu. Ihre ganze Kraft, alle ihre Fähigkeiten stellten sie aus innerm Drange in ihren Dienst. Nicht nur in den Versammlungen der Partei, sondern auch bei der Arbeit und während der Pausen in der Fabrik, beim Mittagsmahl und Abendbrot daheim, auf Spaziergängen und wo immer sie zu zweit und dritt versammelt waren, diskutierten und gaben sie die Gedanken wieder, die sie aus einem, zwei, fünf, zehn Büchern jener neuen Litteratur gesogen und bald leidlich verstanden, bald nur halbverdaut und schon halb wieder vergessen hatten, aber die sie immer wieder aufgefrischt erhielten durch die Artikel ihrer sozialdemokratischen Blätter. Ich brauche das alles nicht weiter zu schildern: das ist eben jene ganze freiwillige, unorganisierte Agitation der neuen sozialdemokratischen Gesinnung, von der ich am Schlusse des vierten Kapitels geredet habe, die gewaltigste, schneidigste, überwältigendste Waffe der Partei, die kein Fabrikherr, keine Polizei verbietet, hinter der die Macht überzeugter Persönlichkeiten steht. Die Wirkung dieser Agitation war die gewünschte. Unter ihrem Eindruck brach die gesamte alte Bildung der Arbeiter aus ihrer Jugendzeit zusammen, bricht sie noch heute in jedem einzelnen immer wieder zusammen, der noch mit ihr in eine unter sozialdemokratischem Einfluß stehende Fabrik eintritt. Da rächen sich mit einemmale die drei großen Fehler, an denen, wie wir sahen, unsre ganze heutige Volksschulbildung krankt, jene Abhängigkeit der einzelnen profanen Bildungselemente von den Gedankenkreisen und dem Bildungsniveau der Schrift, jene falsche Auffassung von ihrer Autorität, jene vorwiegend verstandesmäßige Aneignung der Heilswahrheiten des Christentums. Vor den neuen Bildungsfaktoren können die antiken der Schrift, vor der Autorität der exakten Wissenschaften, die jene stützt, kann die Autorität der Bibel, die diese bisher trug und fälschlicherweise gleich ebenso maßgeblich und unanfechtbar erklärte wie die religiösen Wahrheiten in ihr, nicht bestehen; vor der Kritik des modernen realistisch geschulten Menschen fallen die metaphysischen Spekulationen des überlieferten Dogmas, in das man die Wahrheit des Christentums bisher hauptsächlich setzte, über den Haufen. Zwar fühlen manche ehrlichen Gesellen instinktiv, daß an dieser neuen Bildung auch nicht alles Gold ist, was glänzt und gleißt; daß sie ebenso freudelos und unbefriedigt und unklar läßt wie das Alte; daß trotz alledem in diesem Alten die letzte ewige unwandelbare Wahrheit noch ruhen konnte; aber sie vermögen den entscheidenden Punkt nicht zu finden, an dem dies der Fall ist. Es fehlen die Menschen, die ihnen dazu verhelfen, ihnen den Weg zeigen, das Überlebte, Überholte, Vergängliche, das Verstandeswerk, den Irrtum von dem ewig wahren Kern zu scheiden; niemand kümmert sich um sie in den Massengemeinden, in denen sie zumeist leben; niemand schmiedet ihnen die modernen Waffen, gießt ihnen die neuen Gewehre, vermittelt ihnen die wahren, echten, vollen, widerspruchslosen, ungefälschten Ergebnisse der jüngsten Wissenschaft, deren Besitz sie allein befähigen würde, den mächtig anstürmenden Vorkämpfern jener sozialdemokratischen Halbbildung entgegenzutreten, ihnen den Beweis des Geistes und der Kraft zu führen, ihnen ihre Thorheit aufzudecken. Dazu teilen alle ohne Unterschied das tiefe Sehnen nach ökonomischer Besserung, dessen sich ebenfalls die Sozialdemokratie bemächtigt hat, und dessen glänzendste Befriedigung sie ja auch wiederum erst mit dem Siege der neuen Wissenschaft verheißt. Auch das zwingt den noch zögernden vor dieser „Wissenschaft“ auf die Kniee nieder. Und so fällt, mögen sie wollen oder nicht, Mann für Mann rettungslos der neuen Gesinnung, der neuen sozialdemokratischen Weltanschauung anheim, wirft mit dem alten Wissen den alten Glauben weg, ohne in dem neuen den Ersatz zu finden, den man ihnen versprochen hat, und den seine begeisterten Propheten zu haben behaupten, immer wieder suchend, tastend, sehnsüchtig zurückschauend, ob das Alte sich nicht doch noch verjüngen und als Wahrheit offenbaren will, und doch immer wieder verzweifelnd unter den vernichtenden Beweisgründen der klugen, gebildeten Genossen, denen sie nicht stand halten können. So lebt eine große Mehrzahl ihr armes leeres Leben hin, ohne Freude, ohne Hoffnung, ohne Hilfe. „Wenn es nur erst wieder heute um sechs, wenn es nur erst wieder Sonntag wäre!“ -- das war der ewige, täglich wie oft zu hörende Seufzer. Und wie manchmal fügte man ähnliches wie das folgende hinzu: „Es ist doch merkwürdig bei den Arbeitern; die wünschen sich immer weiter hinaus, das Alter auf den Hals. Das ist doch eigentlich Unsinn. Es bleibt ja immer einen Tag wie den andern. Morgen früh geht es doch wieder ebenso los. Und wir müssen noch froh sein, etwas zu verdienen.“ Das ist der Ton der vollendeten Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung an einem Wert, einem Inhalt, einem Zweck des Daseins. Einen Schritt weiter -- und er kann in den Schrei der Wut, der Empörung umschlagen, die alles zerstört, weil sie nichts für lebenswert findet, die an allem verzweifelt, weil sie an sich selbst verzweifeln mußte. Dann ist die Entfesselung aller Leidenschaften, die Revolution des Volkes da. Es ist kein Zweifel: heute ist dieser letzte eine Schritt noch nicht gethan; heute denkt das Volk, wir sahen es, noch an keine Empörung und Revolution. Aber es ist abermals kein Zweifel, daß ihre Gefahr näher ist als das Volk wohl selbst wähnt. +Und sie wird in dem Augenblick da sein, wo zu der religiösen Verwahrlosung der Industriearbeitermassen, die heute im ganzen vollendet ist, die sittliche hinzutritt; wo aus jener die letzte Konsequenz für diese gezogen wird. Hier also, und nicht in der politischen und wirtschaftlichen Organisierung der Massen, liegt der verhängnisvollste Einfluß der sozialdemokratischen Agitation; und hier in der Vernichtung des überlieferten Christentums hat sie ihren bisher größten Erfolg gehabt.+ Es ist auch das freilich nicht ihr Verdienst oder ihre Schuld allein: sie ist auch hier nur die Schnitterin, die mit raschem, scharfem Schnitt triumphierend die Früchte erntet, die andre Hände gesät haben. Aber das ändert an dem Jammer nichts, der nun herrscht, und nichts an der Größe der Gefahr, die nun droht. Im Folgenden habe ich nunmehr die Wahrheit des bisher Ausgeführten aus meinen Erlebnissen in der Fabrik zu erhärten. Ich werde in loser Ordnung Gespräch an Gespräch, Zitat an Zitat, Bild an Bild reihen und nicht viele Worte dazu machen. Und Gespräche, Zitate und Bilder werden für sich selber reden. Eines Tages erhielten zwei Mann unsrer Kolonne den Auftrag, Riemenscheiben, große fünfzehn bis zwanzig Centimeter breite eiserne Räder, auf denen die Treibriemen der einzelnen Maschinen laufen, aus dem Parterre auf die zweite Empore hinaufzuschaffen. Wir luden jeder ein paar davon auf die Schultern und kletterten hinauf. Da, wo wir sie aufreihen sollten, saß einsam am Fenster ein Arbeiter in den besten Jahren. Er hatte unaufhörlich hunderte kleiner stählerner Federn mit immer demselben Loche zu versehen. Neben ihm lag, unter einer Platte halb verborgen, die neueste Nummer der „Presse.“ Von seinem hohen Fenster aus übersah er die ganze Stadt mit ihren hundert rauchenden Schloten. Mein Arbeitsgenosse, der stark schnupfte, trat zu ihm und bot ihm eine Prise. Aus der respektvollen Art, wie er es that, merkte ich, daß der neue Bekannte einer der geistig bedeutendern Arbeiter in der Fabrik und ausgesprochener Sozialdemokrat sein mußte. Ich nahm auch ein Prise, und bald waren wir im Gespräch. Er fragte, warum ich eigentlich hierher in die Fabrik gekommen wäre. Ich log ihm schweren Herzens mein Märlein vom arbeitslosen Expedienten vor. Was war das für eine theologische Zeitung, die Ihr Pastor da herausgab, forschte er dann weiter. Etwa wie das Sonntagsblatt „Der Nachbar“? Nein, gab ich zurück. Das Blatt schreibt für die Gebildeten, die Studierten, besonders die Nichttheologen unter ihnen. Sein Ziel ist, in seinen Artikeln den Beweis zu führen, daß zwischen Christentum und Kultur, zwischen Religion und Wissenschaft durchaus keine Kluft besteht. Das ist nicht wahr; da kann Ihr Pastor lange machen; so ein Beweis ist unmöglich. Das bestreite ich denn doch noch, erwiderte ich. Die moderne Wissenschaft.... Die moderne Wissenschaft, die auf der Naturforschung ruht, hat sich nur mit der sichtbaren Welt, mit der weiten sinnlich wahrnehmbaren Natur um uns her zu befassen; sie kann nur das studieren, was wir hören, sehen, fühlen, schmecken, riechen, und nur darüber kann sie ein Urteil haben. Ja, das ist ganz schön und gut und richtig. Aber die Schlüsse daraus. Nun gut, ziehen wir die Schlüsse daraus! Und ich versuchte, wie manchmal, ein Experiment zu machen. Man behauptet noch immer vielfach, Gott lasse sich wissenschaftlich, verstandesmäßig beweisen. Hier war offenbar einer, der ihn verstandesmäßig leugnete. Ist jener Satz Wahrheit, so konnte ich mit dem üblichen Beweise meinen Gegner vielleicht überzeugen. Ich suchte nun möglichst populär darzulegen, was ich dem Sinne nach im Folgenden wiedergebe. Mein Mann kannte Darwin; so knüpfte ich am besten daran an. Darwin lehrt doch, daß die ganze Welt sich von unten herauf entwickelt habe? Ja. Er sagte, das Erste, was war, war der Urschleim? Ja. Aber jede Wirkung muß eine Ursache haben. Der Urschleim also auch? Ja. Es muß also eine Kraft vorhanden gewesen sein, die ihn erzeugt hat und aus ihm wieder das ganze Universum sich hat entwickeln lassen? Nennen wir diese Kraft einmal Gott. Wir sehen, daß in dem Entwicklungsprozesse und der dadurch entstandenen Welt bestimmte Gesetze herrschen. Sie müssen aus dieser Kraft stammen. Wo aber Gesetzmäßigkeit und Ordnung ist, muß Vernunft, Geist vorhanden sein. In dieser Welt haben sich nun nicht nur Steine und Pflanzen, sondern auch Tiere und Menschen entwickelt -- natürlich unter dem Einflusse dieser Kraft. Menschen sind vernunft- und geistbegabte Persönlichkeiten. Die vernunftbegabte Kraft, die sie erzeugt, muß Herrin ihrer Erzeugnisse, mehr als diese, mindestens also aber auch eine vernunftbegabte, geistige Persönlichkeit sein. Ferner das Höchste nun, was der Mensch kennt, die Vollkommenheit, nach der er ringt, liegt in der Liebe. Die schöpferische, zielbewußte, vernunftbegabte, persönliche Kraft muß aber das haben und sein, wonach die streben, die sie geschaffen hat. Daraus folgt: es giebt einen persönlichen Gott, und dieser ist die Liebe, der Vater seiner Geschöpfe. Aber mein Gegner schüttelte den Kopf und erwiderte nur: +Mein Glaube+ ist: Die Natur ist Gott, aber kein vernünftiges Wesen, sondern einfach Kraft. Es war die folgerichtige Antwort, die ich erwartet hatte. Denn solche Beweise haben nur für den Wert, der schon Christ ist. So haben Sie also doch auch einen +Glauben+, fuhr ich fort, als er wieder schwieg. Ja; aber das +Christentum+ ist ein +Wahnglaube+. Es ist erst im vierten Jahrhundert entstanden, wo es durch Majoritätsbeschluß zu stande kam... Die Bibel ist ein Buch wie jedes andre. Sie ist auch erst fünfhundert Jahre nach Christo nach Belieben zusammengesetzt. Es ist ein Ausbeutungsbuch für die Großen. In der Bibel steht alles drin; man kann alles herauslesen. Und die einzelnen Bücher sind erfunden. Ich erwiderte, daß sei doch wohl etwas zu viel behauptet: So viel ich von dem Pastor weiß, bei dem ich war, haben Universitätsprofessoren, das genau untersucht und festgestellt, welche Bücher auf keinen Fall bloß erfunden sind. So weiß man, glaub ich, bestimmt, daß die Briefe an die Römer, Korinther und Galater vom Apostel Paulus herrühren. Aber er fährt fort: Es existiert kein einziges gerichtliches (!) Dokument von Christus, wie doch von Sokrates und solchen Leuten. Wie kommt es, daß über das zwölfte bis dreißigste Lebensjahr von Christus nichts bekannt ist? Das zeigt doch, daß auch das übrige von ihm sagenhaft ist. Hierauf wird mir eine Entgegnung leicht. Und so lenkt er ein wenig ein: Wahr ist von Christus nur, daß er ein Mensch wie wir gewesen ist. Er wollte seinen Mitmenschen helfen, und er bildete seine Lehrsätze so, wie es die damalige Zeit brauchte, er kleidete sie in ein religiöses Gewand. Heute ist die Religion nur noch zur Einschüchterung, zur Niederhaltung des großen Lümmels „Volk“ da...... Warum befolgen denn die Großen nicht die Lehren des Christus? Warum helfen sie nicht, stellen die Nöte nicht ab, bringen nicht Opfer? Wenn sie Religion haben, und Religion Wahrheit ist, so müssen sie es doch durch die That beweisen, erst einmal praktisches Christentum treiben; dann könnten wir eher glauben...... Er forderte den Beweis der glaubensstarken, lebendigen christlichen Persönlichkeit, eben das, was allein von der Wahrheit unsers Glaubens wirklich überzeugt. Gewiß, gab ich zurück, Sie haben in manchem, wenn auch nicht in allem Recht. Ich hasse die Brut auch, die so heuchelt, das Heiligste ausbeutet und dadurch in den Schmutz zieht. Aber fällt durch solche Lumpen die +Wahrheit+ des Christenglaubens gleich mit dahin? Ist es mit der Schlosserei nichts, weil manche Schlosser nur Pfuscher in ihrem Handwerke sind? Und ich habe die letzten Jahre mit guten und edeln Christen zusammengelebt, die sich Mühe gaben, ihrem Glauben auch im Leben Ehre zu machen. Die sind mir ein Beweis für die Wahrheit des Christentums. Von denen sind Sie eben hypnotisiert. Lebt man lange mit einem Menschen zusammen, so hypnotisiert der einen. Dann sind Sie von Männern der entgegengesetzten Ansicht hypnotisiert. Dann giebt es überhaupt keine eigne, männliche, selbsterrungene Ansicht. Dann ist alles Lug und Trug. Dann beruht erst recht alles auf Glauben. Dazu schweigt er. So fahre ich fort: Und es ist auch so, im letzten Grunde beruht wirklich alles auf Glauben. Dort der Baum. Woher wissen Sie, daß das ein Baum ist? Man hat es Ihnen von Kindheit an gelehrt, und Sie haben es geglaubt und meinen nun, es zu wissen. Das mag wohl sein, gesteht er zu, giebt jedoch zugleich der Sache geschickt eine andre Wendung: Aber von der Existenz dieses Baumes kann ich mich doch überzeugen, von der Existenz eines Gottes nicht. Doch. Nur nicht auf die gleiche Weise, nicht mit dem Verstande. Daß der Baum dort wirklich existiert, das sehe und fühle ich, höre es auch, wenn der Wind hineinfährt. Aber es giebt noch ein andres Gebiet, das man nicht mit den Sinnen wahrnehmen und dem Verstande erfassen, durchdenken kann. Das ist das Gebiet des moralischen, sittlichen Lebens, wo der Verstand bankerott wird, wo das Gewissen und der Glaube entscheidet und seine Notwendigkeit und Wahrheit erweist. Die Wissenschaft, der Verstand freilich kann weder beweisen, daß es einen Gott giebt, noch daß es keinen giebt. Der Beweis aber, der unumstößliche, wird geführt durch die geschichtliche, menschliche Person Jesus Christus. Aus seinem Lehren, Leben und Sterben erkennen wir, daß es einen Gott giebt. Denn in ihm war eine Kraft, die sonst niemand besitzt, und die, sagt er selbst, hatte er von Gott. Wir erkennen aber darin auch, wer dieser Gott ist: die Liebe. Und daß dem so ist, daß es diesen von Christus verkündigten lebendigen Gott giebt, erfährt jeder, der die Sehnsucht und den Mut hat, sein Leben nach diesem Christus einzurichten, der sich entschließt, sich von ganzem Herzen diesem Gotte anzuvertrauen, mit andern Worten: der glaubt. Aber er schüttelte abermals den Kopf: Wer den Wahnglauben einmal hat, für den ist es selbstverständlich, daß er nun alles dreht und wendet, um seine Sache plausibel zu machen. Aber Thatsachen hat er nicht. Er meinte massive, augenfällige und greifbare Thatsachen, wie sie der Materialismus verlangt und hat. Für historische, sittliche, geistige Thatsachen hatte er kein Verständnis und nach dem Frieden keine Sehnsucht. Ohne das aber ist Christentum unmöglich. So brach ich ab, und wir kamen auf andre Dinge zu reden. Nicht lange. Dann jagte uns ein Werkmeister, der uns wohl schon länger beobachtet hatte, mit grobem Gepolter auseinander. Etwa vierzehn Tage später hatten wir einmal nicht viel zu thun. So stand ich müßig bei einem an der Drehbank, einem stillen Manne, der mir sympathisch war. Vor einer halben Stunde erst hatte man einen meiner nähern Kollegen, jenen Handarbeiter nach Hause geschafft, von dem ich schon an einer früheren Stelle ausführlich erzählte, daß ihm eine eiserne Schiene von etwa zwanzig Pfund auf den Fuß gestürzt war. Der Dreher und ich sprachen von dem Falle. Ich sagte ihm, daß der Verletzte mir noch heute morgen freudestrahlend erzählt hätte, welches Glück er gestern gehabt hätte. Eine große, viele Zentner schwere und etwa sechs Centimeter starke Eisenplatte für eine Parketthobelmaschine, die schon einem unsrer Transporteure eine Zehe gekostet hatte, wäre beim Aufheben wieder zurückgefallen und hätte ihm bei einem Haar beide Beine zerquetscht. Nun hat es ihn heute doch noch getroffen, wenn auch viel gelinder, fuhr ich fort. Ist das nun Zufall oder Fügung? Das sind Dinge, hinter die man nicht sehen kann, erwiderte mein Dreher. Für einen Christen giebts aber keinen Zufall. Was ist Christentum? -- Nichts. Was der liebe Gott? -- Den hat noch niemand gesehen. Und Gottes Sohn? -- Dann sind wir alle Gottes Kinder. Gewiß, sagte ich, sind wir das, wenn wir Jesus nachleben, Gottes Willen thun, an ihn von ganzem Herzen glauben und täglich darum bitten. Aufs Beten kommt besonders viel an. Aber er lächelte nur und sagte: Dann die Bibel. Freilich steht viel Wahres drin. Aber auch viel Falsches. Sie ist auch nicht für uns gemacht, sondern für die Großen... Also wieder diese furchtbare Anklage!... Dann redeten wir von den Pastoren. Ach ja, sagte er, es giebt ja ganz gute und tüchtige Menschen unter den Geistlichen -- im übrigen aber leben sie vom Christentum und befinden sich wohl dabei. Wo ist heute einer, der so handelte wie Christus? der so viele Entbehrungen und Verfolgungen ertrüge? Und wenn nun ein Geistlicher, wie Christus, zu uns Fabrikarbeitern käme, würde er etwas ausrichten? fragte ich. Nicht viel. Es ist zu spät. Nachdem Christus selbst die Not nicht hat aus der Welt schaffen können, vermag es das Christentum heute erst recht nicht mehr. Die Not wegschaffen will es gar nicht, wollte auch Christus nicht, sondern nur den Menschen innern Frieden und heilige Kraft geben, diese äußere Not zu tragen und zu überwinden. Kraft, Frieden? Das geben andre Dinge viel mehr. Nein, wenn das Christentum dies nicht geben könnte, dann kann es uns nichts geben. Dazu schweigt er still, und auch dies Gespräch hat ein Ende. Einmal gegen Ausgang meines Aufenthalts in der Fabrik fragte ich einen direkt, was er von Religion und Christentum hielte. Ich wußte, er war eifriger Sozialdemokrat, aber die Gutmütigkeit und Höflichkeit selbst, ein richtiger Sachse. Er hatte früher im Hause eines Rechtsanwalts gewohnt und dort manches geflickt und ausgebessert. Zum Dank dafür hatte ihm dieser außer seinem pflichtmäßigen Lohn manche Bücher zu lesen gegeben, geographische, naturwissenschaftliche, geschichtliche. Ihre Titel konnte er mir nicht mehr genau angeben. Auf meine offne Frage antwortete der Mann nun gleich offen, ehrlich und kurz: Ich rede wenig von den Sachen und streite mich nie darum. Ich lasse jedem seine Ansicht. Aber ich habe auch meine eigne, und ich denke: Wo man nichts erkennen kann, da ist auch nichts. Damit basta. Er war liebenswürdiger als ein andrer Gesinnungsgenosse von ihm aus unserm Vorort, übrigens seines Zeichens ein Fabrikwirker, aber mit leidlichem Verdienst. Ich hatte ihn eines Abends im schon erwähnten Turnverein unsers Ortes getroffen. Der Mann war, was man ein „Turngenie“ zu nennen pflegt, mit tadellosem Körperbau und gleicher Muskelbildung, ein schöner, kraftvoller Mann. Ich ging mit ihm am Schlusse der Turnstunde in eine nahe einfache, von uns gern besuchte Kneipe und trank ein Glas Bier mit ihm. Er war auch ein kluger Mensch, fanatischer Anhänger der Kaltwasserheilmethode und der Sozialdemokratie und ein Führer unter der zahlreichen Weberbevölkerung von Chemnitz, die unter wirklichen Notständen seufzte, ohne anscheinend allzuviel Rücksicht bei den Unternehmern zu finden. Er erzählte mir manches aus den Lohnkämpfen, die sie geführt, und in denen er mit in den vordersten Reihen gestanden hätte, ernst, objektiv, mit der epischen Ruhe, die so vielen Leuten im Volke eigen ist. Dann lenkte ich ihn auch auf die religiöse Frage und drängte ihn zu einem Urteil. Es war kurz, bündig und konsequent sozialdemokratisch: Die Kirche ist bloße Verdummungsanstalt und wohlberechnetes Staatsinstitut; aber man soll sie trotzdem nicht beseitigen, sondern nur umwandeln, aber durch und durch. Man soll es dahin bringen, daß sie die Naturwissenschaften dem Volke lehrt und predigt. Alle bisher Geschilderten gehörten jener zielbewußten, begeisterten, gedankenkräftigen, edeldenkenden, wirklich wahrheitsdurstigen Gruppe meiner sozialdemokratischen Arbeitsgenossen an. Bei aller Ablehnung gegen die Religion, bei aller Geringschätzung der Kirche waren sie gemäßigt in ihrem Urteil, anständig in ihren Äußerungen und mehr oder weniger bemüht, die Stellung derer, die noch glaubten, mehr oder weniger zu würdigen, zu verstehen, zu erklären. Aber es gab eine viel größere Gruppe gleich stark geprägter Sozialdemokraten, die, roher als jene, in der That nur noch Hohn und Spott und Blasphemie für die Heiligtümer unsers Glaubens hatten. Auch bei ihnen war das Stichwort: „Natur ist Gott, Gott ist die Natur.“ Aber sie variierten es gern, manchmal in der unzüchtigsten Form. So saßen solche Kumpane einmal in einer Kneipe zusammen; man kam auch auf solche Dinge zu sprechen und erklärte sie kurzer Hand für Blödsinn, und einer rief aus: „Ach was, unser Gott ist ein strammes Weib.“ Ein lautes Gelächter über den Witz schnitt dann die ganze flüchtige Debatte schnell ab. Andre ähnliche schlimme Dinge, die ich bei andern Gelegenheiten hörte, mag ich nicht hierher setzen. Vorzüglich war es die Jugend, die vielfach solche Gesinnungen hatte. Hier war von Ernst, von einem Bemühen, auch nur einmal objektiv zu prüfen, am allerwenigsten die Rede. Man war selbstverständlich meist längst über solche Dinge hinweg. Dem einen, einem Thüringer, galt Christentum gleich Antisemitismus, den er als ebenso unnobel wie unberechtigt haßte, und den er, übrigens mit einigem Recht, für das Gegenteil vom Christentum erklärte. Man ginge in die Kirche, machte fromme Gesichter, und im übrigen lebte man doch draußen keinen Deut besser als die andern, Gleichgiltigen, die viel ehrlicher als jene handelten. Ich konnte ihm nur erwidern, was ich dem ersten gesagt hatte. Er war auch still davon aber von jener Gleichung: Christentum = Antisemitismus ließ er sich partout nicht abbringen. Übrigens war es schwer, mit ihm darüber überhaupt länger zu reden. Er hielt das offenbar, wie viele, die mir das geradezu ins Gesicht sagten, nicht mehr der Rede wert. Denn „Religion -- det wohnt nich mehr unter den Arbeitern,“ sagte in gleicher Haltung und Meinung einmal ein andrer junger Bursche, aus Berlins Umgebung gebürtig. Er war mir zu Anfang meines Fabriklebens besonders hochmütig gekommen, als ich ihn meine christliche Gesinnung merken ließ; später verkehrte ich viel und gern mit ihm; er war trotz mancher Berliner Manieren ein kleiner kluger, schneidiger, strebsamer Kerl, der es eben nicht besser wußte und allmählich, der einzige von allen, wirklich durch meinen übrigens von allem Bekehrungsstreben freien Verkehr zu andrer, tieferer, ernsterer Gesinnung über Religion und Christentum, aber wohl kaum zu wirklicher Frömmigkeit gelangte. Ich traf ihn gleich an einem meiner ersten Sonntage nachmittags und ging dann mit ihm spazieren. Unterwegs fragte er mich gelegentlich, was ich am Vormittag gemacht hätte. „Ich war in der Kirche,“ antwortete ich. „Dummer Mensch,“ war seine Entgegnung. Ich fragte ihn freundlich, wie er dazu käme, so zu reden, und sagte ihm einiges von der Vernünftigkeit meiner religiösen Überzeugungen, und kurz bevor ich für immer von Chemnitz fortging, sagte er mir eines Sonnabends ganz freiwillig, er wollte mit mir morgen in die Kirche gehn, wo es ihm dann auch ganz gut gefiel. Schließlich machte er mir noch eine Liebeserklärung: er wünschte, er könnte immer in solcher Gesellschaft wie der meinen sein, da würde man ein ganz andrer Mensch. Er war übrigens schon in der besten Gesellschaft von allen. Er bewohnte mit einem Gleichaltrigen, Zwanzigjährigen eine hübsche Stube. Diesen, einen Pommern, hatte er, wenn ich mich recht erinnere, in Berlin kennen gelernt und war mit ihm zusammen nach Chemnitz gewandert. Das war ein stiller, harmloser Mensch aus einer allerdings armen Handwerkerfamilie, einer von den wenigen, die noch Christentum im Leibe hatten, an dem sie nicht rütteln ließen, und von dem alle Gegeneinflüsse wie selbstverständlich wirkungslos abglitten. Der übte einen stummen, aber guten Einfluß auf den Stubengenossen aus. Eben dieser stille Junge, ebenfalls Schlosser, stand in der Fabrik zwischen zwei gleichaltrigen Handwerkskollegen. Von des einen religiöser Gesinnung weiß ich nicht viel. Er war aus der Gegend von Wurzen bei Leipzig, wo sein Vater in einem ganz kleinen Landstädtchen eine große, gut gehende Schlosserei hatte, und wohin er zurückkehren sollte, wenn er sich in der Welt und den Fabriken umgesehen und sich -- ausgetobt hätte. Er zeigte mir einmal eine Flasche mit hellem Trinkwasser lächelnd mit der witzig sein sollenden Bemerkung: „Reines Gotteswort.“ Der andre Nachbar war Typus für den durchschnittlichen jungen Fabrikschlosser und machte tüchtig lebenschön. Ich traf ihn +immer+ des Sonntags auf den Tanzböden mit seinem Mädchen; er wußte, daß er leidlich situierte Eltern hatte. An ihm besonders hatte die glaubenslose Agitation der Sozialdemokratie ihre normale, oben geschilderte Wirkung gethan. Er war nämlich Gevatter eines verheirateten jungen Freundes. Eines Tages war sein Patenkind gestorben, drei Tage nachher, nachmittags 3 Uhr, das Begräbnis. Am andern Tage war er müde und übernächtig. Auf meine Frage darnach erzählte er mir in einem Zuge, daß der Pastor am Grabe schön gesprochen hätte, und daß sie danach den Nachmittag und die Nacht bis morgens 4 Uhr gekneipt und gezecht hätten. Man hätte ja doch einmal freien Nachmittag gehabt. Der Vater des toten Kindes wäre allerdings schon um 10 Uhr aus der Kneipe nach Hause gegangen. Ein andrer war sein getreues Ebenbild an Alter, Beruf und Gesinnung. Er glaubte an ein „höheres Wesen,“ von dem er sich aber nicht die geringste Vorstellung machte, und das ihn völlig gleichgiltig ließ. Er „glaubte“ bloß noch daran, weil das so zum Menschen gehöre. Etwas müßte ihn doch vom Tiere unterscheiden. Das sind einige Schlaglichter auf die Gesinnung und religiöse Verfassung unsrer jungen erwachsenen Leute; auch sie bewähren schon das frühere Urteil über sie. Ich kehre nun zur Charakteristik der reifern, zielbewußten sozialdemokratischen Männer zurück. Es war eines Vormittags; ich bohrte seit einigen Tagen krampfhaft mit der Handbohrmaschine in eine hohe starke eiserne Wand eines Rundsägegatters Löcher, die ich mir mit Kreide vorgezeichnet hatte. Da trat ein Monteur, der in der Nähe arbeitete, der älteste von allen neun Monteuren, an mich heran; ein zweiter, von dem ich noch manches erzählen werde, ein Handarbeiter kam dazu; dann noch ein dritter, den ich ebenfalls schon mehrmals erwähnt habe. Der letztere war ein konsequenter Sozialdemokrat, konsequenter und von der Partei in seinem Denken bewußter abhängig als jene zwei andern. Wir kamen mit einander in ein langes Gespräch. Man löschte mir, während ich einmal wegsah, im Scherze die Kreidekreise weg, die ich mir auf meine Eisenwand aufgezeichnet hatte. Als ich es bemerkte, nahm ich den Scherz auf und sagte: „Zerstört mir meine Zirkel nicht!“ Was meinst du damit? sagte da der eine. Ich fragte, ob sie die Geschichte von Archimedes und der Zerstörung von Syrakus kennten. Sie verneinten, und ich erzählte sie ihnen und erklärte ihnen mein obiges Zitat. Darauf fragte einer, ob das auch um die Zeit des trojanischen Krieges herum passiert wäre. Den trojanischen Krieg kennte er genau, hätte ihn gelesen. Und er schilderte ganz richtig und gut den Verlauf der homerischen Geschichte. Ich glaube, er hatte das Reklamheft, das Homers Ilias enthält, in der Hand gehabt. Dann sprang das Gespräch auf Ägypten über, auf die Pharaonen, von denen ebenfalls alle wußten. Wir redeten von den Pyramiden, die sie vor allem um der Menschen willen lebhaft beschäftigten, die einst mühsam, mit unsäglichen Strapazen ihre Steine aufeinander getürmt hatten. H: Das waren die Lasttiere, die Sklaven vor 4000 Jahren; wir Fabrikarbeiter von heute sind die Sklaven und Lasttiere der Gegenwart. Das ist zu viel behauptet, erwiderte ich und wies z. B. auf die viel bessere allgemeine Bildung hin, die heute alle besitzen. Das bestritt H: Die Leute waren damals nicht ungebildeter und unklüger, als sie heute im Durchschnitt sind. Nein, früher waren sie noch viel klüger als jetzt, mischte sich halb ironisch halb ernsthaft der andre, S. mit Namen, ein. Früher konnte man sogar Wasser in Wein verwandeln. Er sagte das unsicher, und ich konnte nicht erkennen, wie er selbst darüber dachte. Mein Monteur lachte laut auf, als er das hörte, und H. lächelte auch überlegen dazu. So fuhr S. fort: Ja freilich, das ist Glauben, aber.... Aber der Monteur schnitt ihm kurzer Hand das Wort ab: Ach was, unser Glaube ist, daß zehn Pfund Rindfleisch eine gute Brühe geben. Und jener wagte keine Entgegnung mehr. Dann redeten wir weiter und kamen wieder auf wirtschaftliche Dinge, wobei ich einmal das Schlagwort „Soziale Frage“ in den Mund nahm. Sofort stach das H. auf und meinte überlegen, ich wüßte doch nicht, was die soziale Frage sei. Das kommt noch darauf an, antwortete ich. Das ist in der That auch nicht so leicht zu sagen. Darüber kann man Stunden, Tage, Wochen lang reden. Aber jedenfalls ist sie ein Ungeheuer von vielen Fragen und mit zwei Seiten, der materiellen und der geistigen Seite, genau wie der Mensch aus Körper und Geist besteht. Aber der Monteur und H. lachten laut auf: Geist? Geist giebts nicht. Es giebt nur ein Gehirn, ein Nervensystem, das funktioniert, wie die Maschine. Diese Funktion, das, was dabei herauskommt, nennt man heutzutage Geist. Wer hat euch das bewiesen? fragte ich. Das ist doch höchstens nur eine Annahme, eine Behauptung, also nichts andres als meine freilich andre Meinung auch. Übrigens habe ich auch Gründe für die meine. Nehmt z. B. eine Trompete und blast hinein, dann giebt sie einen Ton. Aber der Ton ist etwas durchaus andres als die Trompete; so ists, so kann es wenigstens mit dem Gehirn und Geist auch sein. Jenes ist das Organ, dieser sein Inhalt. Darauf stutzte H. eine kurze Zeit. Aber dann lächelte er abermals überlegen und sagte -- wie unendlich bezeichnend für die Richtigkeit meiner Darlegungen an der Spitze dieses Kapitels! --: Ich sehe schon, Sie hängen noch ganz an Orthodoxie und Bibel. Die ganze heutige Wissenschaft ist dagegen. Ja und nein, gebe ich zurück. Übrigens ist das weder eine Schande noch ein Unglück, sondern das Gegenteil von beiden, wenn einem die Bibel noch was wert ist. Man lacht Sie bloß aus damit. Wenn Sie zu einem Gebildeten dasselbe sagen wie zu mir, so wird er Sie bloß fragen, was Sie sind; und wenn er hört: bloß Arbeiter, so wird er Sie einfach auslachen und sich Ihre Dummheit erklären. Hier mischt sich ein vierter ins Gespräch, der inzwischen mit einem Bohrer zusammen ebenfalls hinzugekommen war, ein Handarbeiter, von dessen innerer religiöser Verfassung ich noch weiter unten viel erzählen muß. Er war ebenso voll von Hoffnungslosigkeit und Mißtrauen gegen den Glauben, wie von Sehnsucht nach ihm. Er erzählte: Gestern packten wir einen von den eisernen Särgen ein, den die Fabrik von dem kleinen noch vorhandenen Lager einmal wieder nach langer Pause verkauft hatte. Wir waren drei Mann beim Einpacken und gerieten dabei in Streit, ob es ein ewiges Leben gäbe. Die beiden andern meinten entschieden nein; auch der Meister, der hinzu kam und sich hinein mischte, sagte, daß sie recht hätten: der Mensch wäre einfach wie eine brennende Cigarre; sie verglüht, und der Rest ist Asche. Haben die nun recht oder nicht? Giebts ein Wiedersehen oder nicht? Ja wohl, in Buxtehude, lachte abermals der Monteur. Aber warum lehren das dann die Geistlichen? Damit die Menschen hübsch arm und dumm und hübsch zufrieden bleiben, belehrt ihn der, der vorhin das Jesuswunder zu Kana erwähnt hatte; und der Monteur fügte bestätigend hinzu: Der Mensch ist ein Raubtier, ja schlimmer als das. Das Raubtier will nur satt werden, der Mensch will mehr. Gäbs nicht das bißchen Religion in der Welt, so müßten wir jeden Morgen so und so viele Leichen beiseite schaffen. Das war die weitverbreitete Meinung in der Fabrik: +die längst überholte, innerlich unwahre, in ihrem Leben tote Kirche ist heute nichts als ein sehr erwünschtes und kräftiges Polizeiinstitut des bestehenden Staates, der es eifrig und künstlich aufrecht erhält+. Endlich kamen wir am Schlusse unsers langen Gesprächs auch auf Darwin und die Lehre von der Abstammung des Menschen von den Affen. Der Handarbeiter und Monteur sind für sie, S. dagegen, H. sagt gar nichts dazu. S. meinte, das wäre unmöglich; denn wir hätten den Verstand, der uns durchaus von den Tieren, auch den Affen schiede. Das ist ja richtig, entgegnete der Handarbeiter; aber trotzdem glaube ich daran. Was bleibt auch andres übrig? Denn das kann ich auf keinen Fall glauben, wie es in der Bibel steht, daß der Mensch aus Lehm gemacht ist. Als wir dann auseinander gingen, blieb der Handarbeiter an meiner Seite und kam wieder auf das Sterben und das ewige Leben zurück, wie noch viele male, wenn wir beisammen waren. Er hatte vor einiger Zeit ein halberwachsenes Mädchen verloren. Nun quälte ihn die Sehnsucht nach ihr, sie wieder zu sehen. Er wollte immer wieder hören, was ich darüber dächte und glaubte. Und immer wieder, so oft ich ihm mein Innerstes ausgeschüttet, mein Bestes gegeben hatte, schüttelte er den Kopf und seufzte: Ach wenn wir nur glauben könnten. Aber Gewißheit müßten wir haben, ganz feste Gewißheit. Auch dieser Ärmste hatte kein Verständnis mehr für eine Gewißheit, die nicht auf Augenschein und Tastgefühl, Gehör und Geschmack beruht. Ein andermal hatte mich ein Schlosser zu einem ältern Dreher geschickt, von ihm etwas zu holen. Die Arbeit ist noch nicht fertig, wird es morgen erst, wenn mich nicht derweile der Teufel holt -- war die barsche Antwort auf meine Anfrage. Teufel giebts nicht, meinte sein Nachbar dazwischen. Aber Sünde, setzte ich dazu. Unsinn; das widerspricht sich, fuhr mich der erstere an. Wenn es keinen Teufel giebt, giebts auch keine Sünde. Übrigens, glauben Sie denn auch noch an das Zeug, das einem in der Schule weis gemacht wird? Man hat eben, das ist ein neues scharfes Charakteristikum, durchgängig nicht das geringste Bewußtsein mehr von Schuld und Sünde. Auch diejenigen nicht, die religiös noch schwanken und ringen und eben mitten in jener Bildungskrisis stehn. Ein andrer kleiner Zug aus einem Gespräche mit einem ältlichen, ernst gesinnten Manne beweist das noch. Dieser hatte mir erzählt, daß er irgend einen kleinen Gegenstand, Schrauben oder sonst, ich weiß nicht mehr, was mit aus der Fabrik nach Hause genommen hätte. Das ist ja aber verboten, also Sünde, warf ich ein, um das Gespräch darauf zu bringen. Nein, das ist keine Sünde. Sünde thut man in so einem großen Geschäft wie hier nie. Die Besitzer versündigen sich auch an uns. Ach, wir armen Leute! Sonst habe ich eigentlich nur selten bemerkt, daß die Leute heimlich kleine Utensilien aus der Fabrik mit nach Hause in die Wirtschaft nahmen. Öfter beobachtete ich, daß sie sich in der Fabrik selbst ein Thürband, ein Schloß oder sonst was bauten. Ganz gleiche Äußerungen, wie die zuletzt angeführte, fand ich auch schon in der Herberge. So bei einem, der mir eben seine Lebensgeschichte erzählt hatte. Er war früher einmal gut situiert gewesen, jetzt war er stellenlos, wohnungslos, Tagearbeiter. Seine Frau hatte er verlassen; seine drei Kinder waren erwachsen und kümmerten sich nicht um ihn, wie er sich nicht um sie. Der Branntwein war auch sein Unglück; noch kurz vorher hatte er in der Betrunkenheit in Dresden seinen ganzen Berliner „mit einem guten Anzuge und guter Wäsche“ verloren. Ich bin zu ehrlich gewesen, deswegen bin ich heruntergekommen, beteuerte er. Ich habe keinen Betrug machen wollen wie die Reichen, deren Schliche ich gar gut kenne, die betrügen und in Ansehen stehn. Das ist aber doch nicht immer so. Und wenn es der Fall ist, so ist es eben eine Sünde und Schande, beschwichtigte ich. Schande? fragte er da. Was ist Sünde und Schande? Frage mal die fetten Herren, ob die sie auch kennen. Nun eine neue, interessantere Szene, wieder aus der Fabrik. Ich arbeitete mit einem Bohrer und demselben S. zusammen, der auch bei jenem langen Gespräche, das ich vorhin berichtete, dabei gewesen war. Ich weiß nicht mehr wie, jedenfalls aber ohne mein Zuthun, kam das Gespräch auf Gott. Der Bohrer, einer der stärksten Verdiener in der Fabrik, ein breiter, untersetzter, ruhiger Mann von 40 bis 45 Jahren, meinte, der liebe Gott müßte erst erfunden werden. Oder vielmehr nein, fuhr er fort, es giebt ihn doch schon; ich habe einen Bekannten in X., den nennen sie „Lieber Gott.“ S. ist diesmal offner und geht mit der Sprache heraus. Er widerspricht dem Bohrer: An ein höheres Wesen glaube ich. Ich habe auch viele Erbauungsbücher und die ganze Bibel mit meinen Eltern gelesen. Jetzt thue ich es nicht mehr; denn die Bibel paßt nicht mehr für unsre Zeit zum Lesen. Aber beten thue ich noch täglich das Vaterunser, früh und abends, und wenn ich die Arbeit antrete. Aber ich thue das nur so aus Gewohnheit, seit meiner Kindheit her, wo es die Eltern mir eingelernt haben. Ich weiß, daß es nichts nützt. Dann sind wir auf einmal bei Luther. Der hat viel Unheil angerichtet, sagt S., und die Geistlichkeit erst so mächtig gemacht, wie sie heute ist. Wie ich nun Luther gegen diese Angriffe verteidige, gehen zwei andre, wieder ein etwa dreißigjähriger Monteur und ein Dreher, beide stramme Sozialdemokraten, vorüber, hören zufällig, was ich rede, und bleiben stehn. Der Monteur unterbricht mich bald: Luther hat ja viele gute Seiten gehabt, aber auch viele schlechte. Ich weiß das ganz genau; ich habe ein Buch über ihn gelesen. Welches? Das Pfaffentum seit dem zwölften Jahrhundert. Na, da weiß ich schon genug. Das ist ein schönes Schund- und Lügenbuch. Das kann nicht sein, ist die aufrichtig ernste Antwort. Es muß alles wahr sein, was drin steht. +Sonst hätten sie es ja längst verboten.+ Der Mann dachte offenbar an das Sozialistengesetz, das alle sozialdemokratischen Schriften, die auf Entstellung beruhten, unterdrückte. Man sieht, das Sozialistengesetz zeitigt die vielseitigsten Früchte. Der Monteur kommt dann auf Luther zurück und sein Verhalten in den Bauernkriegen: Erst hetzte er die Bauern auf, nachher schnauzte er über sie. Und wie hat er den Fürsten geholfen, wie sie unterstützt, wie ihnen geschmeichelt und sich vor ihnen gedemütigt! +Und das ist auch sein Werk, daß er erst die Kirche so fest und stark gemacht hat, daß wir sie nun nie wieder los werden.+ Auch der Dreher giebt seine Meinung ab: Ja, das muß man Luther lassen, ein gescheiter Mensch war er. Aber das fiel nur deshalb so auf, weil damals das ganze Volk so verdummt war. Jetzt wäre Luther nichts besondres mehr. Jetzt machen wirs +alle+ so wie er mit der Kirche und dem religiösen Humbug. Ich wenigstens kümmere mich nicht mehr um das Zeug und gehe um jede Kirche weit herum. Auch von Christus ist im weitern Verlaufe die Rede. Er war der erste Sozialist und ist für seine Ansichten gestorben, ist die einstimmige Ansicht. Aber Jesus hat sich doch ausdrücklich nicht um die privaten Verhältnisse, um das Vermögen der Leute und die Welthändel gekümmert, wagte ich einzuwenden. Er hat zunächst die Menschen nur fromm und gut machen wollen. Nein, meinte der Monteur, das ist nicht wahr. Das hat Christus nicht bloß gewollt. Das ist erst eine Verdrehung der Geistlichkeit. Aber das mag sein; die Religion ist ja für frühere Zeiten, wo die Menschen noch nicht so weit waren, ganz gut und dienlich, ja nötig gewesen. Aber jetzt ist sie das nicht mehr. Jetzt haben wir Gesetze. Wer nach denen lebt, ist ein achtbarer Mensch, wer nicht, ein Lump. Man sieht, das klingt ganz wie in sozialdemokratischen Schriften. Mit jenem Bohrer und diesem Monteur hatte ich später noch ein paar mal ähnliche Gespräche. Jenen traf ich bald darauf eines Morgens während der Frühstückspause in dem unsrer Fabrik benachbarten Käseladen, den ich im zweiten Kapitel bereits erwähnte. Der ganze Laden und die Wohnstube der Besitzerin waren gestopft voll von unsern Leuten. Einer, ein Stammgast, verlangte für zehn Pfennige Limburger Käse und eine Flasche Bier. Als er es erhalten hatte, sagte er: Danke, der liebe Gott wirds bezahlen. Da könnt ich lange warten, war die Antwort der Verkäuferin. So hats zwar immer geheißen; aber der bezahlt nichts. Es wird wohl gar keinen lieben Gott geben, warf da der Bohrer ein, der daneben stand. Glaubs selber, lachte die Frau. Beten ist altmodisch. Es hilft ja auch nichts. Wer nicht arbeitet, hat nichts. An demselben Tage rief mich einmal der Monteur zu sich. Was giebts? Ich will ihnen einmal den Herrgott zeigen: tragen Sie hier die Welle zum Langlochbohrer. Das werden Sie schon spüren. Sie können +mir+ den Herrgott noch lange nicht zeigen, aber ich Ihnen. Wollen Sies? Nein, lieber nicht. Und er ging lachend davon. Dann traf ich ihn auf jenem sonntäglichen Kinderfest unsers sozialdemokratischen Vorortswahlvereins wieder. Wieder kamen wir unter anderm auf religiöse Dinge zu sprechen. Er fragte mich da geradezu: Warum geben Sie sich nur so mit dem Kram ab? Sie können ihn ja doch nicht beweisen. Ich versuchte es an der Person Christi. Aber er ließ mich nicht lange dabei: Genau so reden die Pfaffen auch. Die Religion ist nur für die Wilden. Mein Wahlspruch ist: Macht euch das Leben gut und schön, Kein Jenseits giebts, kein Wiedersehn. Ein schöner Wahlspruch! Meiner ist es nicht. Aber meiner. Übrigens sind die Pfaffen selbst an der ganzen Feindschaft des Volkes gegen die Kirche schuld. Denn sie haben Partei für die „großen Herren“ genommen. Nur wenige machen davon eine Ausnahme. Zum Beispiel einer in unsrer Nähe, in Langenberg. Diese Geringschätzung gegen die „Pfaffen,“ die hier wieder und ganz offen zum Ausdruck kam, war so allgemein wie dieser Name, der überall im Munde der Leute, auch halbwegs wohlgesinnter, war. Ganz natürlich. Wem die Kirche nur noch als ein äußerliches, öffentliches Institut, ein politisches und wirtschaftliches Machtmittel in der Hand des Interessenstaates und der selbst ungläubigen Bourgeoisie erscheint, hat natürlich auch keine Achtung und Ehrerbietung vor ihren amtlichen Trägern und Dienern, die ihm folgerichtig nur als Heuchler gelten müssen, weil sie ihre Überzeugung opfern, um eine bequeme Versorgung und Existenz zu haben. So war es häufig, daß man die „Schwarzkittel“ gar nicht etwa mehr haßte, sondern nur noch verachtete. Man sah sie auch geradezu als Tagediebe und Faulenzer an, weil man keine Schätzung mehr für geistige Arbeiten besaß, die nicht augenblickliche, sichtbare materielle Werke schaffen, und weil man auch keine Einsicht in den Umfang und die Art der Thätigkeit hatte, die einem gewissenhaften und gewandten Pfarrer obliegt. Das alles kam oft zu drastischem, für mich besonders schmerzlichem Ausdruck. So gleich in derselben Stunde, in der ich das letzterzählte Gespräch hatte, bei demselben Kinderfeste im Munde noch eines Anwesenden, der aber nicht unsrer Fabrik zugehörte, und den ich sonst nicht kannte. Er unterhielt sich mit einem anscheinend zufällig hereingekommenen Lehrer, während ich als unbeteiligter dritter daneben stehend unbemerkt zuhörte. Der Lehrer versuchte ihn sachlich und leidenschaftslos, aber mit viel Geschick und ohne große Worte eines bessern zu belehren. Aber jener ließ sich nicht belehren. Ach was; über die Kirche sind wir lange hinaus. +Was der Pfaffe quasselt, kann ich auch, wenn ich wie er die ganze Woche dazu Zeit hätte. Der lernts doch bloß aus Büchern auswendig.+ Sein Gegner sagte ihm, wie falsch das wäre; man müßte doch auch erst auf Gymnasium und Universität etwas Ordentliches gelernt und gearbeitet haben; man müßte manche gewichtige Examina bestehn -- aber darauf hatte der aufgeblasene Schreihals, denn das war er, immer nur ein geringschätziges, abweisendes Ach was, sodaß der andre bald darauf verzichtete, sich weiter mit ihm einzulassen. Dieselbe Meinung hörte ich auch schon, fast bis aufs Wort übereinstimmend, während der ersten Tage meines Herbergsaufenthaltes. Da war ein Barbier, von dem ich noch im folgenden Kapitel etwas zu erzählen haben werde, ein halber Pennbruder, der in Chemnitz von Herberge zu Herberge ging und Zureisende für fünf Pfennige rasierte und für zehn Pfennige ihnen die Haare schnitt. Eben bei der Ausübung seines Handwerks, natürlich mitten im Gastraum der Herberge, redete er mit seinem Opfer, das er gerade unter den Händen hatte, auch einmal vom Pastor: Auch der hat nichts als eine Profession, von der er lebt; er muß das eben machen, dafür ist es sein Handwerk. Natürlich kann er nicht beweisen, was er da vorquasselt; das ist bloßer.... Dreck und Quatsch, ergänzte der andre. Ich komme ooch in keene Kärche, lallte dann einer unsrer stets halb angetrunkenen Stammgäste dazu. Ich war emal drinne. Das ist aber lange her. Ich wollte ooch bloß drin schlafen; von Andacht keene Spur. Albernheit -- Andacht! Dann hörte ich einmal fünf junge, in der Mehrzahl verheiratete Männer, die alle aus demselben etwa eine Stunde von Chemnitz gelegenen Dorfe zu uns auf Arbeit kamen, sich bei dem Frühstück ebenfalls über ihren Pastor und ebenfalls wenig schmeichelhaft unterhalten. Einer hatte ganz sachlich von den Einnahmen des Kaisers geredet, und sie hatten ausgerechnet, wie viel er an einem Tage zu verzehren hätte. Dazu fügte nun sein Nachbar hinzu: ’S ist wie bei unserm Pastor, dem Spitzbuben. Der hat 27½ Thaler die Woche und ist trotzdem nicht damit zufrieden. Die Pfarre war früher ein großes Bauerngut. Als er nun herkam und sie sah, that er wunder wie erfreut. Sie hätte ja so viel Stuben, daß er gar nicht wüßte, wo er die Möbel alle hernehmen sollte, hätte er gesagt. Und kaum ist er ein halbes Jahr bei uns, verlangt er auf einmal eine neue Pfarre, weil die alte ihm über dem Kopfe zusammenbrechen könnte. Ja, ergänzte ein andrer, und dazu predigt der Kerl stets genau nur 25 Minuten; aller fünf Minuten sieht er während der Predigt einmal nach der Uhr.... Dann sagt er immer, daß er keinen Unterschied zwischen reich und arm mache, und macht ihn immer, besonders bei Trauungen und Taufen.... Aber ich habs dem Schwarzkittel neulich einmal gründlich gesteckt, im Gasthof wars, und er hat mir kein Wort geantwortet, sondern ging weg. Dann erzählte der erste wieder: Einmal hat er gesagt, mit neun Mark könnte eine Familie in der Woche gut auskommen, und er selber hat 83 Mark! Und kommt doch nicht damit aus! Denn als er ein Kind bekam, verlangte er aus diesem Grunde 200 Mark jährlich mehr! Geht mir nur mit dem ganzen Pastorenkram. Damit meinte er auch das Christentum, dessen Träger der Pastor ja vor allen sein soll. Mitten in dies Gespräch hatte der vierte eine andre Episode erzählt, seine Erlebnisse bei den Kirchgängen während seiner Militärzeit, haarsträubende Dinge, die aber nur meine eignen Erfahrungen bestätigten. Da sei während der Predigt unter der Kirchbank Skat gespielt worden, daß es eine Lust gewesen wäre. Ja einer hätte aus der Schnapsflasche Nordhäuser getrunken, indem er das Taschentuch über sie gehalten und gethan hätte, als schnaubte er sich die Nase. Man lachte herzlich darüber und schimpfte dann wieder auf den Pastor weiter. Ich konnte nun freilich nicht kontrollieren, mit wieviel Recht. Darauf kommt es aber auch hier nicht an. Die Hauptsache ist, daß man daran sieht, wie unendlich rücksichtsvoll und taktvoll ein Pfarrer sein muß, wie sehr er auf sich zu achten hat, um keinen begründeten oder unbegründeten Anstoß zu geben. Das beweist auch folgende andre Geschichte eines unsrer Packer. Ich und alle hatten den Mann besonders gern; er war bereits Großvater, hatte aber auch noch unerwachsene Kinder, die er sehr liebte, plagte sich auch mit seiner Frau ehrlich für sie und war immer nüchtern, schlicht und heiter. Er erzählte mir: Ich komme nie mehr zu einem Geistlichen in die Kirche. Meine Jüngste -- sie ist acht Jahre alt -- bettelt mich zwar immer darum. Aber ich gehe nicht. Ich glaube ja an einen Gott, der für uns sorgt; ich fluche auch nicht und dulde nicht, daß andre es thun; ich halte auch Frau und Kinder zur Kirche an, aber ich gehe nicht. Ich mag mich von den Kerlen nicht veralbern lassen. Wieso veralbern lassen? Ja, ich ging früher vor vielen Jahren auch in die Kirche. Aber da sah ich einmal eines Sonntags früh -- er stammte auch aus einem Dorf in der Nähe von Chemnitz -- unsern alten Pastor von der Jagd heimkommen, Sonntags früh, eine halbe Stunde vor dem Gottesdienste! Da wars aus bei mir. Ich kehrte auf der Stelle um und war niemals wieder in einer Kirche. Veralbern lasse ich mich noch lange nicht. Und noch eine derartige muß ich erzählen. Sie ist die traurigste von allen, in Wirklichkeit glücklicherweise eine Seltenheit. Ein etwa dreißigjähriger Schlosser, einer der Lustigmacher unter uns, der sich sonst nichts um politische und soziale Dinge kümmerte, erzählte sie mir: In unserm Dorfe -- ich bin aus dem „Gebärg“ (d. h. aus dem armen Erzgebirge) -- trieb es der Pastor mit den Frauen im Dorfe und war obendrein ein Säufer, der sogar das mühsam zusammengebrachte Geld für ein neues Leichentuch der Gemeinde versoff. Er wurde allerdings dann seines Amtes entsetzt, aber seitdem bin ich auf alle die schwarzen Halunken wütend. Ich gebe ja zu, ein höheres Wesen mag existieren, und Religion mag auch immer gelehrt werden. Und wenn einem Pastor nichts nachgesagt werden kann, so lange muß man ja ruhig sein, so lange ist er eben ein angesehner Mann. Im übrigen aber glauben die +Kerle doch selbst nicht, was sie reden+. Das ist nun einmal so ihr Beruf, wovon sie leben. Da kann man es ihnen auch nicht verdenken, wenn sie einfach reden, was im Buche steht. Ein andrer, schon ein alter Knabe, nur ein sehr unklarer Kopf, total abhängiger Sozialdemokrat und sehr unbeholfen, schimpfte einmal: Die Pastoren sind wie die Advokaten; sie fressen alles auf, wo sie es herkriegen können. Aber jetzt sind die Leute nicht mehr so dumm wie früher und geben alles her. Der Mann dachte wohl ebenfalls an das gute, bequeme, arbeitslose Leben, das nach ihrem Eindruck ein Pfarrer führt, und an die Geschenke, die früher vor allem die Landleute ihm zu machen pflegten, dann aber, wie ich aus Andeutungen merkte, ebenso sehr auch an die Stolgebühren, die dem Pfarrer ehemals auch in Sachsen als ein Hauptteil seines Einkommens direkt zuflossen, die aber hier glücklicherweise fast seit zwei Jahrzehnten abgelöst sind. Trotzdem ist das ganze Urteil dieses Mannes ein Zeichen dafür, wie tief das Bewußtsein von der sozialen Ungehörigkeit dieser Einrichtung noch in den ältern Bestandteilen dieses Volkes lebt. Ja, dies geht heute noch weiter: es empfindet überhaupt die Verschiedenheit der Taxen für kirchliche Gebühren und dementsprechend der kirchlichen Leistungen durch den Pfarrer als eine soziale Ungerechtigkeit. So klagte einmal einer, ein noch jung Verheirateter, dessen politische und religiöse Gesinnung ich sonst nicht näher kennen lernen konnte, direkt, daß die Geistlichen den Reichen, die es bezahlen könnten, viel schönere Taufen, Trauungen, vor allem aber Begräbnisfeierlichkeiten hielten, als den unvermögenden Arbeitern. Der Mann war obendrein verständiger als jener eben Geschilderte. Er machte wenigstens den Pastor nicht dafür verantwortlich. Vielmehr traf ich bei ihm eine überaus günstige Meinung über den Diakonus, der unser Vorstadtdorf pastorierte, an. Er wäre sehr gut und mitleidig und käme fleißig zu ihnen armen Leuten. Dies Urteil über den Diakonus fand ich noch öfter -- aber immer galt er als Ausnahme, galt diese gute Meinung nicht dem Pastor, geschweige dem geistlichen Amte, sondern allein seiner Person, ein neues gewichtiges Zeichen dafür, welchen Weg allein der Seelsorger zu gehn hat, um diesen Leuten etwas zu zeigen von dem Adel, der Schönheit und dem Werte unsers Christenglaubens: den der aufrichtigen, herzlichen, opferfreudigen, durch und durch wahren Hingabe einer ganzen offenen, ehrlichen, volkstümlichen Persönlichkeit in einem anspruchslosen, unaufdringlichen Verkehr. Eine neue Bestätigung dafür ist die gleich freundliche Haltung eines andern stark und zudem selbstbewußt sozialdemokratisch beeinflußten Mannes in den besten Jahren über denselben Diakonus. Er fluchte zwar mitunter wie selten einer, beteuerte aber auch ernsthaft und nachdrücklich, daß er fest glaubte, „daß es etwas Göttliches auf Erden gäbe,“ und hatte eine unsäglich niedrige Meinung vom Katholizismus. Sehr erklärlich, da er ein in Deutschland naturalisierter Deutschböhme war, also den Katholizismus in dessen Heimat kennen gelernt hatte. Er würde darum niemals eine Frau heiraten, die katholisch wäre; denn diese stünden alle unter dem Willen und Machtgebot des Pfaffen. Dagegen war es ebenso bezeichnend, daß ich bei Einheimischen nicht die geringste Spur eines Verständnisses auch nur für den Unterschied zwischen den Konfessionen, geschweige für einen Vorzug der eignen vor der fremden fand. Noch ein halbwegs freundliches Urteil über die Pfaffen möchte ich an dieser Stelle registrieren, um alle die wenigen freundlichen kleinen Bilder zu sammeln, die doch zwischen den vielen großen düstern und ernsten sich ab und an fanden. Da war ein Bohrer aus einem Nachbardorfe, der wie berichtet als Freiberger Jäger schon den Feldzug von 1870/71 mitgemacht hatte und mir viel und stolz und anregend davon erzählte. Er meinte einmal: Man soll den Pastoren ihren Glauben lassen. Sie haben einmal darauf studiert; und das kann nicht jeder. Man versteht auch diese so unendlich bezeichnende Bemerkung. Für den Mann, der ebenfalls vom Dorfe stammte, war die Religion wieder nur ein logisch aufgebautes Gedankengebäude, dessen man sich durch Verstandesarbeit, durch wissenschaftliches Studium bemächtigen müßte, und das für ihn selbst zu hoch, zu schwierig, zu unfaßbar war, -- die alte rein katholisch-mittelalterliche Stellung zu den Mysterien der aus der Verbindung mit dem Neuplatonismus erwachsenen dogmatischen Spekulationen. Die Folge war, daß der aufrichtig gute Kerl, ursprünglich deutlich religiös angelegt und gestimmt, nun innerlich verwaist und vereinsamt war, zumal da er obendrein noch sichtlich unter dem Drucke des sozialdemokratischen Terrorismus stand. Denn es war weiter bezeichnend, was er sofort jener obigen Bemerkung hinzufügte: Aber wir wollen davon nicht weiter reden; denn so etwas darf man in der Fabrik nicht laut sagen! Ich bin hier an der Stelle, um nun die innere Verfassung auch der Gruppe meiner Arbeitsgenossen noch genauer zu schildern, die eben unter dem dämonischen Einfluß jener sozialdemokratischen Fanatiker noch mitten in der verhängnisvollen Krisis des Übergangs von der alten Bildung und den antiquierten Glaubensformen in die neue, für sie gleich lückenhafte, modern sozialdemokratische Halbbildung und Glaubenslosigkeit mit allen Zweifeln und ihrer Haltlosigkeit standen. Das kam, wie gesagt, namentlich bei wirklich mit religiösen Bedürfnissen ausgestatteten Naturen oft zu ergreifendem Ausdruck. Ich erinnere an den Handarbeiter, den ich schon mehrmals erwähnte. Er stand, von Anlage eine ziemlich kritische Natur, seit dem Tode seines zärtlich geliebten Kindes in ewigem innern Ringen, Suchen und Sehnen, aber trotzdem so sehr unter dem Banne der für ihn einfach schlagenden Argumente der glaubenslosen sozialdemokratischen Agitation, daß er nach jedem Ansatz in hoffnungsloses Verzweifeln zurückfiel. Es war nicht damals nur am Schlusse jenes langen Gesprächs vor meinem Rundsägegatter, daß er bei mir Gewißheit, aber ganz feste Gewißheit suchte. So traf ich ihn einmal sonntags auf dem Friedhof unsers Ortes am Grabe seines Kindes zusammen mit seiner Frau, die seine Zweifel und seine Hoffnungslosigkeit teilte. Da mußte ich ihnen abermals von meinem Glauben, meiner Auferstehungsgewißheit reden, auch hier wieder vergebens. Denn einige Tage nachher sagte er mir einmal ganz plötzlich und unvermittelt -- es war beim gemeinsamen, mühsamen Einschmirgeln zweier großer Platten --: Du, mit deinem Glauben ist es doch nichts. Gestern abend war ich wieder auf dem Gottesacker und traf zwei Frauen. Die hatten auch nicht viel Hoffnung wegen des Wiedersehens. Sie meinten auch, wo denn die vielen Millionen Toten hin sollten, wenn sie alle ewiges Leben hätten. Ich versuchte abermals, diesen im Volke weit verbreiteten Gedanken, der auch so eine Frucht des alten falschen, verstandesmäßigen Glaubens ist, zu widerlegen. Ich machte ihn auf den Glauben an die Allmacht unsers Gottes aufmerksam, und daß wir darüber gar nicht grübeln könnten, und grübeln sollten, weil wir doch auf diesem Wege zu keinem Ziele und niemals zum Glauben kämen; daß wir uns nur an Gottes Liebe zu halten brauchten, deren wir aus Jesu Christi ganzer Person unerschütterlich gewiß würden. Aber er auch da wieder: Ja, es muß schön sein, wers glauben, ganz gewiß glauben kann, für Leben und Sterben schön. Aber wers nicht glaubt, ist doch auch nicht gerade ein Sünder. Es ist ja alles gleich, ebenso wie im Grunde auch die Katholiken, die Juden und Türken nichts andres glauben. Und davon ließ er sich nicht abbringen. Ein andermal, eines Abends in einer ganz kleinen aber gemütlichen Kneipe, erzählte er mir folgende für seine innere Verfassung unendlich bezeichnende Geschichte mit vollstem, bitterstem Ernste: Weißt du, wie unser Kind gestorben war, kam gleich der Diakonus zu uns und wollte uns trösten. Wir sollten vor allem Gott um Kraft und Trost bitten, meinte er. „Das haben wir auch während der ganzen Krankheit gethan, und es hat doch nichts geholfen; sie ist doch gestorben,“ antwortete meine Frau. Und weißt du, was er darauf sagte? „Sie haben aber doch gebetet: Vater +dein+, nicht +mein+ Wille geschehe!“ +Siehst du, die Leute haben doch immer eine Ausrede!+ Dann traf ich ihn, es war gleich in den ersten Tagen meiner Fabrikzeit, und wir machten eben eine schmierig gewordene große Hobelmaschine rein, wieder einmal in eifrigem Gespräch mit vier andern, alle von seiner Natur, wie er im Zweifeln und Kämpfen. Ich hatte erst nicht auf ihr Gerede geachtet und kniete am Boden, um Hobelspäne zusammenzulesen. Da sagte plötzlich ganz laut und ganz energisch der eine: Nein, nein, ich lasse es mir nicht nehmen, ein höheres Wesen giebt es. Es war jener einzige in der ganzen Fabrik, der ein überzeugtes Christentum noch offen und ehrlich bekannte, der mir dann, ein moderner Märtyrer, sagte, daß er darum von allen in den ersten Jahren seiner Anwesenheit in der Fabrik viel verspottet worden wäre und viel zu leiden gehabt hätte, den man aber jetzt als unverbesserlich aufgegeben hatte und ruhig, ohne unfreundlich gegen ihn zu sein, seine Wege gehn und seines Glaubens leben ließ. Als ich ihn jenes Nein, nein sagen hörte, sah ich natürlich überrascht vom Boden auf. Und sofort bemerkten sie mein Erstaunen, und nun erklärte ein dritter: Die beiden haben oft solchen Diskur (d. i. Gespräch) mit einander. Und ich höre auch ganz gern zu. Ich habe auch ein Kind verloren und mache mir so meine Gedanken. Ist der Glaube wirklich bloß eine Einbildung, wie die meisten andern sagen? Oder ist das nicht bloß Profession von den Geistlichen, wenn sie so predigen und reden? Warum thut Gott heute keine Wunder mehr? Warum läßt er so viel Unglück in der Welt zu? Warum geht es so vielen Guten schlecht?... Ja, und wenn es mir schlecht geht -- nun, da haue ich eben alles hin, fügte wieder einer hinzu. Der fünfte aber rief dazwischen hinein: Wollt ihr noch nicht bald mit dem Zeuge aufhören! Aber der „Bekenner,“ der den andern so gut und so schlecht, als seinem selbst unklaren und natürlich ganz nach der alten Schablone zugeschnittenen Glauben möglich war, Antwort zu geben versuchte und in diesem Falle die andern auf seiner Seite und sich also einmal als der stärkere, überlegenere wußte, brachte ihn schnell zum Schweigen: Sei du nur stille. Du bist freilich ein halber Teufel, gerade wie ein Stück Vieh, das sein bißchen Fressen hineinschüttet und schläft und damit zufrieden ist. Aber so schlimm war es nun wirklich nicht. Auch er war vielmehr ein Typus, für eine andre freilich kleine Gruppe ehemaliger Landarbeiter, die auch jetzt noch in den nahen Dörfern ihren Wohnsitz hatten. Er erklärte mir später, zwar was die Pastoren redeten, wäre meistenteils Quatsch, aber er ginge doch auch in die Kirche, ja sogar ein „hübsch paarmal.“ Bloß die letzte Zeit hätte er lange ausgesetzt, weil er keinen ordentlichen Anzug hätte. Hier zeigt sich ein andrer katholischer Zug des bisherigen kirchlichen Lebens, der sich namentlich auf dem Lande findet: daß man in die Kirche geht, ohne eine innere Anteilnahme dazu für nötig zu finden. Der bloße Gang, diese schuldige Visite bei dem lieben Gott, ist ein gutes Werk und genügt. Das übrige besorgt schon dieser liebe Gott und diese Kirche durch den Pastor, der dazu angestellt und bezahlt ist, heilig und fromm zu sein. Sonst war natürlich der Kirchenbesuch von Leuten aus der Fabrik minimal. Der echte Sozialdemokrat, das heißt, der es wirklich war oder doch als solcher gelten wollte, ging selbstverständlich niemals in eine Kirche; aber formell aus ihr ausgetreten waren doch auch wieder nur wenige. Jener Monteur, der über Luther so absprechend geurteilt hatte, war wohl der einzige, wenn ich mich recht entsinne. Er machte sich mir gegenüber wenigstens über die Schwächlichkeit und die Kraftlosigkeit der Kirchgemeinden lustig. Die wären so ohne Leben, daß der Pfaffe dem, der öffentlich austräte, noch wegen seiner Überzeugungstreue ein Kompliment machte. Die andern, die drin blieben, hätten überhaupt gar keine Überzeugung mehr und wären die Gleichgiltigkeit selbst. Hatte er da wirklich so unrecht? Zeugt nicht das wieder für das, was uns fehlt, was wir haben müssen: lebendige kraftvolle christliche Gemeinden? Aber auch von jenen armen Zweiflern, Abhängigen, Halben, die noch haltlos und hilflos, zweifelnd und seufzend, willenlos zwischen den beiden Weltanschauungen hin und her geworfen wurden, bei denen also noch am meisten Sehnsucht nach religiöser Aufklärung und Befriedigung vorhanden war, gingen nur wenige und ganz selten einmal in die Kirche, dagegen um so öfter auf den Kirchhof, an ihre Gräber, um hier zu trauern und zu zagen. Jener vielerwähnte Handarbeiter zum Beispiel hatte, wie er mir sagte, die Kirche seit fünf Jahren nur einmal betreten, während er früher in seiner Heimat Sonntag für Sonntag hineingegangen sei. Aber das war nun alles vergessen, und nun besann man sich des Sonntags gar nicht mehr auf sie. Das ganze heutige sonntägliche soziale Leben der Bewohner einer Fabrikarbeitervorstadt ist eben gar nicht mehr darauf zugeschnitten, auch wenn man, wie in Sachsen schon lange fast durchgängig, wirkliche Ruhe von der Arbeit, sogenannte Sonntagsruhe hatte. Das trat aus eines andern Äußerung besonders deutlich hervor. Er war ebenfalls vom Lande, oder besser aus dem „Gebärg,“ in eine der Vorstädte und unsre Fabrik hereingekommen. Er war ebenfalls einer der wenigen, die über ihren Pastor nicht direkt schnauzten, wenn er ihn auch nicht gerade als einen besondern Liebling verehrte. Er sagte in aller Ruhe: Früher, in unserm Dorfe, gingen wir immer in die Kirche. Da war es eine Schande, wer es nicht that. Aber seit ich hierher gezogen bin, komme ich fast nie mehr hinein. +Hier ist es nicht Mode, und da spielen wir sonntags vormittags lieber einen tüchtigen Skat.+ Würde das -- es ist das ein Bild aus einer Gesamterscheinung -- möglich sein, wenn das kirchliche Leben auf dem Lande wirklich rege, die Predigt wirklich modern und kraftvoll wäre? Dann müßte die Sehnsucht nach der Kirche und nach Gottes Wort solche Herzen auch in ihren neuen weniger günstigen Wohnorten unwiderstehlich in die Kirche ziehen. Aber über die Kirche ist man eben längst hinaus, auch die, die noch Bruchstücke von ihren Lehren sich bewahrt haben, weil man in ihr meist nur die gleichartige Schwester der Schule, aber nicht das Heiligtum gefunden hat, aus dem der Mensch, auch der Fabrikarbeiter, immer wieder seinen Frieden, sein Glück, seine Kraft für das harte Leben der Woche holt. So äußerte sich ein Dreher, ein heitrer, freilich etwas kalter, aber sonst selbständig und verständig urteilender Mann: +Ich gehe fast nie mehr in die Kirche, das haben wir ja alles schon in der Schule genug gehabt.+ Aber sie muß sein; sonst wäre der Teufel vollends los. Das gefällt mir auch an der Sozialdemokratie nicht, daß sie gegen die Kirche so räsonniert. Auch meinem Schwiegervater nicht. Die meisten Pfaffen sagen es doch den Großen ebensogut wie uns. Er kann es doch nicht ändern, wenn niemand auf ihn hört. Ein Stückchen Wahrheit liegt auch darin. Ebenso ein andrer, ein echter Sohn des Dorfes: Ich glaube nur an ein höheres Wesen und eine Fügung. Ich bete auch immer noch, wie ich es als Kind gelernt habe, und könnte abends, ohne das Vaterunser gebetet zu haben, gar nicht einschlafen, wenn ich auch weiß, daß es nichts hilft. Sonst glaube ich nichts mehr, an ein ewiges Leben nun gar nicht; und Christus war ebenso einer wie die „Sozialschen.“ +Aber zum Pastor gehe ich schon lange nicht mehr in die Kirche. Denn was der mir sagt, weiß ich längst aus der Schule und Konfirmation.+ Diese zwei zuletzt erwähnten gehören nun wieder einer besonders gefärbten Gruppe an. Nicht allzu zahlreich, sind sie mit die gesundesten und thatkräftigsten Naturen von allen. Auch sie, die sich fast alle aus ländlichen Kreisen rekrutieren, sind ebensowenig wie alle andern von jener Krisis verschont geblieben, die alle in ihre Strudel reißt. Aber da sie weder die alte noch die neue Bildung, weder der alte noch der neue Glaube zu befriedigen vermochte, sie aber doch etwas derartiges haben mußten, so haben sie sich ihre eigne Bildung, ihr eignes bißchen Philosophie zurecht gemacht, die nun freilich oft wunderlichster Art ist, ein Gemisch von Altem und Neuem, mit viel persönlich bestimmter Kritik und Beweisführung durchsetzt, aber auch noch mit manchen Resten aus der Vergangenheit ausgestattet. Natürlich standen und stehen auch sie unter dem Einfluß der sozialdemokratischen Genossen, vor denen ihre Überzeugungen und Gründe meist nicht Stich genug zu halten pflegen. Darum bekennen sie auch nicht gleich Farbe, verhalten sich durchschnittlich zurückhaltend und stoßen ab und an mit der Sozialdemokratie in ein Horn, um sich nicht deren Spott und Hohn auszusetzen, gegenüber dem auch sie waffen- und wehrlos sind. Darum gehen sie auch gewöhnlich nur vor demjenigen aus sich heraus, zu dem sie als einem gleich oder doch ähnlich gesinnten Vertrauen gefaßt haben. Und auch dann sprechen sie sich am liebsten nur unter vier Augen aus. Aber auch ihnen fehlt jedes Leben und alle Wärme des Glaubens, das Bewußtsein davon, daß das Christentum eine Kraft, ein innerer Frieden, eine wahrhaftige unirdische und überirdische Seligkeit ist. Auch ihnen ist, was sie davon noch gerettet haben, ein Stück bloßer Verstandesbildung, nur ein Stück Wissen und alter Sitte. Ach, die verfluchten Pfaffen, sagte einmal so einer plötzlich zu mir, als ich ihn fragte, ob sie eine Kirche in ihrer Vorstadt hätten. Wie so? Das sind ja alles große Heuchler, größere wie wir alle. Von denen lasse ich mir nichts mehr sagen. Das erstere können Sie wohl kaum beweisen, und was das letztere betrifft, so haben die Leute doch mehr gelernt als alle in der Fabrik. Das wäre also auch nicht so schlimm. Lernen kann und soll man doch von jedem. Da sah mich der Mann rasch, überrascht an. Und als er sah, wes Geistes Kind ich war, lenkte er ein. Zwar auf die Pfaffen im allgemeinen blieb er wütend. Nur von einem redete er dann lange freundlich und gut, von dem bekannten Achtundvierziger, Pastor Würkert in Zschopau, der ihn dort konfirmiert hatte. Jetzt ist es mir freilich viel lieber, sonntags ein gutes Buch zu lesen, als in die Kirche zu gehn. Da habe ich mehr davon. Aber auch wenn ichs wollte, käme ich kaum dazu. Ich habe gar nicht einmal die Zeit. Denn da muß ich meiner Frau das Mittagsessen für unsre vielen Schlafleuten mit machen helfen. Übrigens war ich voriges Jahr zu unsrer silbernen Hochzeit zum heiligen Abendmahl mit meiner Frau. Das klingt ja ganz anders als vorhin, warf ich dazwischen. Ja wie die richtigen Sozialisten mache ich es auch nicht, die beim Begräbnis den Sarg in das Grab herunterlassen und dann stracks davon rennen. Ich höre mir die Rede vom Geistlichen ruhig mit an und mache mir eine Lehre daraus. Auch das ist nicht recht, wenn die Sozialisten zum Austritt aus der Kirche drängen. Ich bin getauft, dabei bleibe ich. Ja, man muß auf seinen Glauben etwas halten, bestätigte ich. Meinen Glauben habe ich für mich, verbesserte er. Was im ganzen Alten Testament steht, daran glaube ich nicht. Auch nicht an die Geschichte von der Schöpfung der Welt. Und im Neuen glaube ich auch nicht alles. Nur was von Gott und dem Heiland drin steht, mag ja etwa wahr sein. Auch zwei Katholiken waren unter dieser Kategorie. Der eine war ein Deutschösterreicher, hatte in Böhmen sein Geschäft verloren und war seit anderthalb Jahren in Chemnitz und in unsrer Fabrik, erst als Handarbeiter, nun als Bohrer. Da er keine Geschäftssorgen mehr und auch keine Kinder hatte, auch seine Frau noch mitverdiente, war er immer guter Laune. Auch der Mann hatte unser langes Gespräch am Rundsägegatter meist schweigend mit angehört. Nur einmal hatte er ausdrücklich einer spöttischen Bemerkung des einen meiner damaligen Widerparts zugestimmt. Kurz vor meinem Fortgang aus der Fabrik kam ich nochmals mit ihm allein auf religiöse Dinge zu sprechen. Da redete er nun ganz anders. Da hörte ich, daß er mit seiner Frau nicht zu selten in die Kirche ging. Das letzte Jahr war er viermal drin gewesen -- natürlich in einer evangelischen, wie er mir stolz versicherte. Das war in der That schon viel für die dortigen Verhältnisse. Er lobte die evangelische Predigt sehr, namentlich die Trauungen, wo eine so schöne „Lehre“ dabei sei. Er glaube nicht mehr an die Heiligen, die Mutter Maria u. s. w., aber noch an Gott und Christus. Zweifelhafter an Charakter und religiöser Gesinnung war sein Glaubensgenosse. Er war schon in die Fünfzig und kinderloser Witwer, ging aber wieder auf Freiersfüßen, was ihn jedoch nicht abhielt, sich, wo es ihm geboten ward, mit andern Mädchen aufs intimste abzugeben. Er war lange Zeit Bote des Vereins für innere und äußere Mission eines sächsischen Superintendenten gewesen und ging, wie er sagte, aller drei bis vier Wochen einmal zur Kirche. Aber niemandem sagen! fügte er dazu. Sonst geht es mir schlecht hier. Ebenso wars noch mit einem jungen, etwa dreißigjährigen Hamburger. Auch er hatte mir früher -- freilich beiläufig -- wenig Schmeichelhaftes über Kirche und Christentum gesagt. Und auch er redete in der letzten Zeit meiner Fabrikzeit, wo er mich kannte, ganz anders: +Sieh, ich bin draußen ein andrer als in der Fabrik+, sagte er einmal ganz unaufgefordert. Ich glaube an Vater, Sohn und heiligen Geist und auch an Wunder; denn ich habe selbst welche erlebt. Wenn ich Sonntags nichts zu thun habe, gehe ich mit meiner Frau in die Kirche. Hier drin in der Fabrik darf man aber davon nichts merken lassen. Ich weiß nicht, ob das seine innerste Überzeugung war. Er nahm das Leben sehr leicht und oberflächlich, war übrigens ein hübscher Kerl und stand sehr unter dem Regiment seiner gleichaltrigen, ebenso tüchtigen und energischen als eifersüchtigen Frau. Ich traute ihm nicht. Er hatte mir geradezu einmal gesagt, daß er es darauf anlegte, daß die Leute nicht aus ihm klug würden. Das wäre das allerbeste. Einmal beteuerte er, daß er nicht Sozialdemokrat wäre, und dann wieder einmal, daß er aus unserm sozialdemokratischen Wahlverein austreten wollte. Als ich ihm auf sein obiges Bekenntnis bedeutete, wenn das wirklich seine Überzeugung und sein Christentum wäre, so dürfte er es auch nicht verleugnen, sondern müßte es frei und offen bekennen, sah er mich ganz erstaunt und verständnislos an. Aber nun genug dieser trüben Bilder, die ich wohl leicht noch durch manche andre vermehren könnte. Doch ich glaube, mein Beweis ist auch durch diese schon schlagend geführt. +Und es ist in der That kein Ausweg übrig, wir müssen nach alledem anerkennen, daß der materialistisch-sozialdemokratische Einfluß nirgends so gründlich mit den überkommenen Anschauungen und Empfindungen der Arbeiter aufgeräumt hat, als auf dem religiösen Gebiete.+ Die alten Gebilde und Denkformen, in die der Glaube des Christentums bisher gefaßt und geprägt war, sind in der Masse der großindustriellen Fabrikarbeiter für immer zerstört. Und mit den Gefäßen ist für viele von ihnen heute auch der Geist zerbrochen, der sie erfüllte, und der allein das Wesentliche, das Wertvolle, die Wahrheit ist. Nun wächst eine Welt ohne Gott da unten herauf, zieht ihre immer größern Kreise, zwingt die noch Ringenden, Zagenden, Schwankenden, die im Grunde nichts wissen wollen von den öden Glaubenslehren der materialistischen Weltanschauung, immer von neuem in ihren eisigen Bann. Von der eignen Kirche ohne Hilfe, ohne Aufklärung, ohne Führung und Stärkung gelassen und von der Atmosphäre sozialistischer Ideen unentrinnbar umgeben, sterben sie alle einen langsamen, oft qualvollen geistigen Tod. Ein einziges nur ist allen geblieben: die Achtung und Ehrfurcht vor Jesus Christus. Auch der ausgesprochenste Sozialdemokrat und Glaubenshasser hat sie, ja gerade er mehr als mancher sozialdemokratisch Nichtverpfändete. Wohl macht man sich ein ganz andres Bild von diesem Jesus von Nazareth als bisher; es fehlt ihm in ihren Augen der Glorienschein, den die Kirche ihm um die hohe Stirne gewoben hat; man lächelt über seine von den Theologen ihm „zugemutete“ Göttlichkeit; für sie ist er meist nur noch der große soziale Reformator, der mit religiösen Mitteln, aber vergeblich das goldne Weltalter heraufführen wollte, das auch sie erstreben und, glücklicher als jener, schaffen werden. Aber sie alle halten doch sinnend still vor seiner großen Persönlichkeit. Siebentes Kapitel Sittliche Zustände Die sittlichen Zustände unter meinen Arbeitsgenossen waren noch viel deutlicher als ihre sozialen, politischen und religiösen Gesinnungen das gemeinsame Produkt der alten christlichen Sittlichkeit, neuer, durch diese noch nicht geadelter Lebensordnungen, sozialdemokratischer Lehren und menschlicher Leidenschaften, die nur halbgebändigt natürlich auch in diesen Menschen gären und glühen. Über den ersten der vier Punkte bedarf es kaum noch eines Wortes näherer Ausführung. Das Sittengesetz des Christentums, das in der geschichtlichen Person Jesu von Nazareth als erfülltes Ideal uns von Gott offenbart ist, seitdem das starke Rückgrat aller christlichen Jugenderziehung, sitzt noch als das beste Stück ihres sittlichen Charakters und ihnen selbst oft unbewußt auch in den Herzen der mir nahegekommenen Arbeiter fest. Es gilt auch ihnen noch als Maßstab und Wertmesser für alle Handlungen und Gedanken, als die unsichtbare letzte Instanz, die Macht des Gewissens, die zwar oft beiseite geschoben, umgangen und zum Schweigen gebracht wird, die aber trotzdem auch in ihren Augen eine unantastbare Autorität und selbstverständliche und natürliche Ordnung ist. Zwar auch diese christlich-sittlichen Begriffe sind ihnen ebenso wie die religiösen Heilswahrheiten unsers Glaubens mehr nur anerzogen, als in ihrer Notwendigkeit und Schönheit erkannt und innerlich angeeignet. Aber hier ist diese Methode viel mehr Notwendigkeit und darum weniger schädlich; sie bleiben daher auch viel mehr als jene den Seelen eingeprägt, als ein niemals wieder ganz verlierbares Eigentum des einzelnen, in der That ein Teil seiner Persönlichkeit; und sie sitzen auch irgendwieweit noch im Herzen, wenn bereits die letzte religiöse Empfindung verflogen ist; aber sie verlieren dann freilich mit dieser ihren stärksten Halt, den immer erneuten Beweis ihrer Notwendigkeit und Wahrheit, ihren mächtigsten Impuls, ihren unmittelbarsten Schwung. Sie erstarren dann oft zu einer nur äußern Schale, hinter der nur wenig und verborgen noch Feuer des sittlichen Lebens glimmt. Aber sie sind doch, auch erstarrt, noch da; sie sind, gewollt oder widerwillig, stärker oder schwächer doch noch maßgebend für die ganze Haltung auch der Fabrikarbeiter und für die sittlichen Zustände, die unter ihnen herrschen, noch der Boden, aus denen diese herauswachsen. Freilich wie überall nicht ungehindert, in Reinheit und Lauterkeit. Gerade die neuen, ungeordneten, nur durch das Interesse des Stärkern bestimmten sozialen Beziehungen, in die dieser neue Stand der großindustriellen Fabrikarbeiter hineingestellt ist, üben hier einen besonders verhängnisvollen, wenn auch nicht, wie die „Wissenschaft“ der Sozialdemokratie behauptet, den alleinigen Einfluß aus. Man denke nur einen Moment an die Einkommens- und Wohnungsverhältnisse, wie sie im zweiten Kapitel angedeutet sind: sie machen es in den meisten Fällen den Durchschnittsmenschen auch beim besten Willen unmöglich, das alte schöne sogenannte christliche Familienideal zu verwirklichen, von dem man auf den Kanzeln so gern predigt. Man denke weiter an die elf- bis zwölfstündige Arbeit in der tosenden, schwülen Fabrik; wie schwer läßt sich darauf der evangelische Gedanke vom Berufe, den wir so oft verkündigen, anwenden! Wie soll sie dem Menschen innere Befriedigung und Freude gewähren und das Mittel werden, durch das sich seine Persönlichkeit zu entfalten und als ein geschlossenes, harmonisches, zweckbewußtes, lebens- und strebensvolles Ganze auszugestalten vermag? Man denke daran, wie die durch die Sorge um das Brot notwendige alltägliche lange Abwesenheit oft beider Eltern von daheim und dafür die Anwesenheit fremder selbst ungezogener und ungehobelter junger Menschen eine auch nur einigermaßen geregelte Erziehung der Kinder vereitelt. Man denke weiter auch daran, daß die unverhältnismäßig günstigen Löhnungsverhältnisse der unbeaufsichtigten Jugend notwendig zu dem Leichtsinn, der Roheit und der Verschwendungssucht führen müssen, die man unter ihnen in erstaunlichem Umfange verbreitet findet. Aber es ist nicht nötig, an dieser Stelle weitere Beispiele zum Beweise anzuführen. All das ist schon oft und objektiv genug von andern aufgezählt worden. Hier gilt es nur nochmals zu betonen, daß sie alle zu einem bedeutenden Teile die Folgen der anarchischen wirtschaftlichen Zustände sind, die der großindustrielle Fabrikbetrieb in seiner Verachtung sittlicher Rücksichten und Werte unter den Arbeitern gezeitigt hat. Und diese Folgen mußten für den sittlichen Charakter der Leute um so verhängnisvoller sein, als in dem Maße, wie sie sich zeigten, zugleich auch die religiösen Fähigkeiten unter ihnen schwanden, die seine beste Stütze sind, und dafür die Lehrsätze der Sozialdemokratie in Wirksamkeit traten, die seinen Verfall beschleunigen. Wir wissen, daß die Sozialdemokratie eine neue widerchristliche Weltanschauung hat. Sie hat dementsprechend auch eine andre, widerchristliche, wenn überhaupt eine Sittlichkeit. Nach ihr ist, wie schon oben angedeutet wurde, der Begriff der Sittlichkeit nur ein andrer Ausdruck für denjenigen der herrschenden Sitte. Diese aber wird wieder ausschließlich geschaffen durch die jeweiligen wirtschaftlichen Zustände, innerhalb deren sich eine Volksschicht befindet. Jede Schicht hat ihre eigne Sittlichkeit, die mit dem wirtschaftlichen Niveau wechselt. Es giebt also keine ewig giltigen, in den Menschen von oben eingepflanzten Sittengesetze. Man kennt darum auch keine Sittlichkeit um Gottes und des innern Gewissens, sondern nur um dieser materiellen Zustände, also um des irdischen Vorteils willen. Die Sozialdemokratie fordert freilich theoretisch für und von jedem einzelnen die Verwirklichung dieser „Sittlichkeit“ mit Rücksicht auf das Befinden des andern, aber auch dies nur wieder um des eignen Vorteils willen, der verloren ginge, wenn der Bogen zu straff gespannt und das Behagen des einen mit dem des andern bezahlt würde. Dann würde dieser gereizt auch dem des andern ein schnelles Ende machen. So soll das Nützliche, nicht das Gute nach der Lehre der Sozialdemokratie das treibende Motiv aller sittlichen Handlungen sein. Der Egoismus ist, ganz parallel zu dem Geiste der Wirtschaftslehre des Manchestertums, auch von der Sozialdemokratie, nur in andrer Gestalt und andrer Begründung, als der Gott proklamiert, der alles regiert. Daß diese Grundsätze auf den durch ein mangelhaftes religiöses Bewußtsein und durch die soziale Unordnung an sich schon geschwächten sittlichen Charakter der Arbeiter neue schlimme Wirkungen üben müssen, ist selbstverständlich. Diese Wirkungen werden auch nicht verringert durch die Thatsache, daß diese philosophisch-ethischen Lehrsätze der „wissenschaftlichen“ Sozialdemokratie nur von wenigen Arbeitern klar erkannt sind. Wenn sie sie auch nicht als Lehrsätze deutlich verstehen, umweht sie doch ihr Geist als die neue Atmosphäre, die sie seit den Erfolgen der sozialdemokratischen Agitation umgiebt, und der sie nicht entgehn können, wie sie der natürlichen Luft nicht entgehn können, die sie atmen müssen. Und eben in dieser Agitation selbst ist ihnen das beste Beispiel der Verwertung dieses neuen Geistes gegeben. Es ist der Geist der absoluten Gewissenslosigkeit, der ihr entströmt, und dem alle Mittel und Wege genehm sind, wenn sie der Parteisache nicht schädlich werden können; es ist der Geist der ungebändigten Leidenschaftlichkeit, der auch bei andern diese selben elementaren Leidenschaften des Hasses, der Verbitterung, der Verleumdung, der Vergewaltigung weckt, wenn nur ein Vorteil für die Partei erreicht wird; es ist direkt auch der Geist der bewußten, überlegten Fälschung, der mit klarem Blick und kaltem Blute herrschende Mißstände, also Ausnahmezustände, aus parteiagitatorischem Interesse als ideale Ansätze neuer sozialer Bildungen erklärt, sie theoretisch vervollständigt und ausbaut und wieder als neue treibende Prinzipien mit verstärkter Wirkung in das öffentliche Leben hineinwirft, und es so erreicht, daß jene Übelstände immer größer, daß die Ausnahmezustände chronisch, und dadurch die christlich-sittliche Gesinnung der beteiligten Arbeitermassen immer schwächer und widerstandsunkräftiger wird. Ich erinnere hier nur an ihre Lehre von der Ehe und ihr Schlagwort gegen das Sparen. Freilich, auch eine Reihe idealer Kräfte weckt diese Agitation in der Seele des Volkes: die Begeisterung für ein neues, weites Bildungsziel, das Streben nach der Erhebung aus einer ewig stagnierenden wirtschaftlichen Lage, den Glauben an eine hohe, wirtschaftliche und politische Mission des vierten Standes und das allerdings überspannte Bewußtsein von dem Berufe einer internationalen Verbrüderung aller Völker über die Grenzen des eignen Landes hinaus. Aber auch diese idealen Kräfte verlieren durch den Charakter, mit dem sie zur Geltung gebracht werden, zum großen Teil den guten erziehlichen Einfluß, den sie in der That haben könnten, weil auch sie in den Dienst jener Nützlichkeitsmoral gestellt und von jener Agitation mißbraucht und entwürdigt werden, die nichts kennt, als das Interesse der Klasse und der Partei. Und nun füge man zu dem allen noch die tausend verschiedenen Charaktere, die von Natur auch in der Arbeiterschaft, ja hier ursprünglicher als in andern Bevölkerungsschichten, weil hier weniger durch gesellschaftliche Schranken gehemmt, ausgeprägt sind, die Dutzende guter und schlechter Eigenschaften, die ihren Trägern angeboren sind, die mancherlei Neigungen und Hoffnungen, die dem einzelnen sein Lebensgang geweckt hat, die Leidenschaften, die auch in ihm gären und aus seinem Herzen oft mit rücksichtsloser Gewalt hervorbrechen, kurz, man nehme die Menschen, wie sie von Natur sind, mit ihren Sünden und Sorgen, ihren Wünschen und Vorsätzen, alle verschieden, jeder ein Unikum, und mische das alles mit den Wirkungen jenes höhern christlichen Sittengesetzes, das in ihrer Jugend in ihre Seelen gesenkt ward, jener oft erbärmlichen sozialen Zustände, unter deren Druck sie seufzen, jener wundersamen sozialdemokratischen Lehren, die wie die Luft sie umgeben, so wird das Produkt von dem allen ein ungefähres Bild der sittlichen Zustände geben, die in Wahrheit in der von mir beobachteten Arbeiterschaft herrschen. Sie sind wie überall ein Durcheinander von Gutem und Schlechtem, eine tragische Vereinigung von fremder und eigner Schuld. Und stets spiegeln sie sich in den Tausenden von Einzelpersönlichkeiten in tausend immer verschiedenen Schattierungen wieder. Es ist darum thöricht, wie es manchmal geschieht, zu meinen, eine Darstellung dieses sittlichen Charakters der Arbeiter durch Anführung einzelner besonders hervorstechender Züge geben zu können. Es gehört ein langes Studium, ein feines psychologisches Urteil und ein mit den Arbeitersorgen zusammenschlagendes Herz dazu, um die Tiefe ihrer Seelen, ihren ganzen sittlichen Charakter recht verstehn und schildern zu können. Auch ich maße mir nicht an, auf Grund meiner nur dreimonatlichen Beobachtungen dies leisten zu können. Ich vermag nur einige Gesichtspunkte zu geben, die mir besonders deutlich an ihnen geworden sind, und die zu einem ganzen Bilde zu vervollständigen ich spätern Arbeiten überlasse. Eine Bemerkung, die sich an das eben Erörterte von selbst anschließt, muß ich der Wahrheit halber als die erste dieser beobachteten Thatsachen an die Spitze stellen. Man soll nicht meinen, daß unter den Arbeitern die enragiertesten Sozialdemokraten die sittlich anrüchigsten, die am wenigsten mit der Sozialdemokratie verknüpften die lautersten Naturen sind. Es ist ebenso oft das Gegenteil von beidem der Fall. Wo ein Mann schon von Natur edler und tiefer angelegt, in seiner Jugend durch guter Eltern und ehrenhafter Lehrer Erziehung hindurchgegangen ist und sich zu einem ernsten, strebsamen Charakter entwickelt hat, können ihn auch die drückenden sozialen Verhältnisse und die Sozialdemokratie nicht verderben, vielmehr werden jene nur noch seine Widerstandskraft und Energie stählen und diese ihn mit einem Enthusiasmus erfüllen, an dem das Schlechte wirkungslos abprallt. Es giebt schon in solch einem kleinen Kreise, wie ich ihn vor mir hatte, eine ganze Anzahl von Naturen, deren Typus August Bebel ist, ehrliche Menschen mit einem guten Kern, hochbegabt, aber trunken von den Resultaten der modernen „Wissenschaft“, deren rechte Konsequenzen nach rückwärts und vorwärts sie in ihrer leider nur halben Bildung nicht zu ziehn und zu werten vermögen, erfüllt von schwärmerischem Idealismus, der auch vom Materialismus wie von jedem geschlossenen Prinzip ausstrahlt, und doch nur zum teil angesteckt von dem Gifthauch, der mit ihm zugleich ausgeht und die sittlichen Kräfte der andern knickt. Ich erinnere des zum Beweise an jene vierzig freilich besser gestellten Chemnitzer Arbeiter, deren ich schon einmal Erwähnung that, von denen mir ein Weinreisender erzählte, daß jeder von ihnen ihm jährlich ein Fäßchen Wein abnähme und prompt bezahlte, ja, was sonst niemand thäte, ihm das Geld dafür noch ins Hotel brächte. Sie alle hielt er für die ordentlichsten Menschen der Welt, für sparsame, strebsame Leute, gute Familienväter, tüchtige, ruhige Arbeiter, aber auch zielbewußte Sozialdemokraten. Vielleicht ist diese Schilderung etwas übertrieben; aber in ihren Grundzügen ist sie wahr; dafür kann ich selbst, wie gesagt, aus dem mir bekannt gewordenen Kreise ähnliche Menschen als Belege beibringen. Sie wachten mit peinlicher Gewissenhaftigkeit über ihren guten Ruf und setzten ihre Ehre darein, sittlich unanfechtbare Persönlichkeiten und gute Staatsbürger zu sein, und waren dennoch Sozialdemokraten, die auch das überlieferte Christentum von sich abgeschüttelt hatten. Anderseits gab es eine große Anzahl von Arbeitsgenossen, die -- ich verweise hier auf den betreffenden Abschnitt meines fünften Kapitels -- sich nur wenig oder gar nicht mit Sozialdemokratie abgaben und nicht das geringste taugten, die ärgsten Schreier und zweifelhaftesten Persönlichkeiten waren, ihre Familien, wenn sie welche hatten, arg vernachlässigten, ihre Arbeitsstellen immer nach kurzen Zwischenräumen wechselten, und so weiter. Und wieder zwischen diesen zwei Gruppen die wenigen, die sich tüchtige Menschen zu sein bestrebten und sich zugleich vor allen sozialdemokratischen Einflüssen ängstlich zu hüten suchten, und die vielen Sozialdemokraten, die auf dem sittlich nicht hohen Durchschnittsniveau der breiten Masse standen -- alle zusammen ein Beweis für die Richtigkeit meiner Warnung, die heutigen sittlichen Mängel an unsrer Arbeiterschaft ausschließlich der Wirkung sozialdemokratischer Degenerierung zuzuschieben. Der sozialdemokratische Geist ist wie dicke schwere Fabrikluft, die gesunden Lungen nichts schadet, schwache aber nur schwächer und schwindsüchtiger macht. Und das ist das eigentliche Verhängnis, daß die sittlichen Dispositionen der Mehrzahl eben bereits nur gering und schwach sind, sodaß auch hier die Sozialdemokratie nur die letzte Arbeit zu thun braucht. Hiernach möchte ich ein weniges über die Art sagen, wie die Leute nach meiner Beobachtung Ausgaben zu machen pflegen. Ich kann freilich keine Arbeiterhaushaltpläne mitteilen, die allein für ein erschöpfendes Urteil über diesen Punkt maßgebend wären. Im allgemeinen habe ich beobachtet, daß ein niedriger Verdienst bis zu 25 Pfennigen die Stunde, also bis zu etwa 750 Mark das Jahr, bei einer ausgedehnten Familie ebenso zu peinlichster, geradezu heroischer Sparsamkeit erzieht, wie zu hoffnungsloser Liederlichkeit verführt, jedenfalls häufig wirtschaftlich unnormal macht, je nach dem Charakter des Mannes und der Frau. Dagegen glaube ich bemerkt zu haben, daß bei einigermaßen größerem Jahresverdienste bei weitem die Mehrzahl die Neigung zu einem geordnetern, verständigern, von höhern und edlern Bedürfnissen getragenen, sozusagen anständigern Leben hat und diese Neigung in vielen Fällen in mehr oder weniger glückende That umsetzt. Unter solchen, auch wenn sie Sozialdemokraten sind, finden sich dann auch einmal Äußerungen einer gewissen Zufriedenheit und einer Art von glücklichem Behagen, das sie nun auch ihren weniger günstig gestellten Genossen zu verschaffen und zu erkämpfen wünschen. Von der Jugend, das heißt von den Heranwachsenden und den unverheirateten Erwachsenen, ist weniger günstiges zu sagen. Sie lebten meist einfach in den Tag hinein. Was da ist, muß eben verbraucht werden und wird zumeist zum Vergnügen verbraucht. Für einen verheirateten, mit Kindern gesegneten Mann ist es auch schon bei höherem Einkommen über 1200 Mark selbstverständlich sehr schwer, zu sparen; dem vielfach gleich gut gelohnten unverheirateten jungen Manne wäre das aber eine Leichtigkeit. Aber gerade er thut es -- ich kann hier ohne viele Worte zu machen die allgemeinen Klagen nur bestätigen -- nur selten. Wenigstens der eigentliche, geborene Fabrikarbeiter, der Abkömmling von Fabrikarbeitern. Er gleicht in seinem lustigen, leichten Leben überraschend dem Bruder Studio, der sich ebenfalls austollen will, bevor er sich für immer in das lebenslängliche Philisterium des verheirateten Fabrikarbeiters begiebt. Etwas anders geartet ist ein Teil der direkt vom Lande und aus gut kleinbürgerlichen Kreisen in die Fabrik eintretenden jungen Leute. Unter beiden Gruppen habe ich doch manche ernstere, strebsame, an die Zukunft denkende, auch sparsame Menschen gefunden. Jene waren es wohl vor allem deswegen, weil sie im Verhältnis zu dem gewohnten Verdienst auf dem Lande sich wesentlich verbessert hatten und bei ihren bescheidneren Bedürfnissen ganz selbstverständlich manches übrig behielten, das ihnen ein Ansporn zu weiterer Sparsamkeit wurde; diese wurden häufig von daheim dazu angehalten und angespornt zum Streben nach bessrer Fachbildung, nach einstiger Selbständigkeit und größerm Behagen, wie sie es daheim gesehen und kennen gelernt hatten. Wie weit -- um darauf noch einmal zurückzukommen -- bei vielen Familienvätern die freilich oft durch andre wirtschaftliche Untugenden und Unfähigkeiten wettgemachte minutiöse Sparsamkeit geht, beweist die Thatsache, daß mancher unter ihnen die alte Sitte jugendlicher Völker wieder auffrischte und in seinem kleinen Haushalte, so gut er konnte, oft mit vieler praktischer Geschicklichkeit alle möglichen Arbeiten selbst verrichtete, deren Besorgung man sonst Handwerkern überträgt. So war es vielverbreitete Gewohnheit, daß man sich allerhand Lederabfälle und altes Schuhzeug sammelte, um sein und seiner Familie Schuhwerk eigenhändig zu flicken und seinen Bedarf an Holzpantoffeln selbst zu befriedigen; daß man allerhand Zimmer-, Tischler- und Schlosserarbeiten, die sich daheim nötig machten, verrichtete, den Kindern höchsteigenhändig die Haare schor u. s. w. Und dementsprechend war es nicht selten, daß der einzelne, der einst ein Handwerk gelernt, es aber aus den verschiedensten Gründen in der Fabrik dauernd mit andrer lohnenderer Arbeit vertauscht hatte, es doch in seinen Feierabendstunden und des Sonntags noch betrieb und dies und das für gute Freunde um ein billigeres Geld, als es sonst jemand zu liefern vermocht hätte, anfertigte. So tauchen hier -- ob als alte Reste oder neue Anfänge, überlasse ich dem berufeneren Urteile Sachverständiger zur Entscheidung -- unter der Decke des großindustriellen Fabrikbetriebes, also unter neuen, bisher nicht vorhanden gewesenen Umständen wieder kleinhandwerkliche Erscheinungen auf. Was das Schuldenmachen meiner Arbeitsgenossen anlangt, so vermag ich kaum eine maßgebliche Meinung zu äußern. Man sagte mir zwar manchmal: „Jeder Arbeiter hat Schulden,“ aber ich habe, offen gestanden, nie recht erfahren können, wie das gemeint war. Ich glaube wohl so, daß jede Arbeiterfamilie gegen Ende der vierzehntägigen Lohnperiode häufiger oder seltner in die Lage kam, beim Kaufmann und sonstwo auf Borg einzuholen. Doch glaube ich auch, daß man diese Schuld meist wieder am nächsten Lohntage beglich. Größere und empfindlichere Schulden, die auch dem energischen Manne und der sparsamen Frau nur erst langsam wieder los zu werden möglich wurde, entstanden bei längern und schwerern Krankheiten in der Familie, bei Todesfällen, bei Arbeitslosigkeit und etwa während größerer Reserveübungen des Mannes. Ein +gegenseitiges+ Borgen aber habe ich wenigstens unter meinen Arbeitsgenossen nicht, kaum einmal einen schwachen und dann vergeblichen Versuch dazu bemerkt. Einen Gesichtspunkt möchte ich schließlich noch unter diesem Abschnitte erwähnen: die Neigung aller meiner Arbeitsgenossen, sich am Lohntage, am Sonntage und am jedesmaligen Chemnitzer Jahrmarkte etwas Besondres zu leisten. Das waren in aller Augen Festtage, und an Festtagen läßt das Volk ganz selbstverständlich „etwas aufgehn.“ Jeder freilich in seiner Weise. Gerade hierbei zeigte sich die Höhe der sittlichen Bildung, auf der jeder einzelne stand. Es gab ernste, oder gering gelohnte, oder mit Sorgen oder viel Familie beladene Leute, die begnügten sich des Lohntags Abends, nach Aushändigung des Verdienstes mit einer Cigarre und einem auf dem Nachhausewege im Vorübergehn getrunkenen Glase bairischem oder auch nur Lagerbier; es gab dann ihrer, die an diesem ganzen Abend bald allein bald mit der Frau „aus-,“ d. h. zu Biere gingen und hier bald größere, bald kleinere Zeche machten und von da bald nüchterner bald weniger nüchtern nach Hause kehrten; und es gab ihrer, die an diesem Abend bald im Sonntagskleid bald noch im Arbeitsrock von Stehbierhalle zu Stehbierhalle, von „Destille“ (Destillation) zu „Destille,“ von Kneipe zu Kneipe zogen, bis sie schwer trunken nach Hause kamen. Unter die letztern gehörte namentlich ein gut Teil der gut verdienenden gelernten Jugend. Ich habe es erlebt, daß einige, die etwa 35 bis 40 Mark Löhnung aus vierzehn Tage erhielten, an einem solchen Abend 8 bis 10 Mark verfraßen, vertranken, verrauchten, verspielten und sonstwie verschleuderten. Aber ich habe es auch erlebt, daß einer nur 15 Pfennige ausgab, was freilich eine größere Seltenheit als das Gegenteil war. Im allgemeinen verthat man wohl 1½ bis 2 Mark an solchem Abend, durchschnittlich aber fast immer mehr, als man eigentlich im Verhältnis zur Löhnung gedurft hätte. Ebenso war es am Chemnitzer Jahrmarktstage, wo wir frei hatten, und ein jeder 10 Mark Vorschuß von der Fabrik zu Familieneinkäufen nehmen durfte. Und sehr viele nahmen ihn, um hiervon zwar in der That manches Nützliche einzukaufen, doch aber sich auch ein Gütchen zu thun, obwohl man genau wußte, wie schmerzlich der Ausfall des Zehnmarkstückes am nächsten Lohntage empfunden werden würde. Und dieselbe Erscheinung zeigte sich, wenn auch nicht so durchgängig und regelmäßig, an den Ausgaben, die man sich für Sonntagsvergnügungen leistete. Auch über den Alkoholgenuß möchte ich einiges sagen. Am meisten und widerlichsten ist er mir in den Herbergen entgegengetreten. Die Klasse der eigentlichen Pennbrüder, die ich im ersten Kapitel kurz schilderte, besteht fast durchweg aus Säufern; von ihnen waren in den Chemnitzer Herbergen täglich einige stark betrunkene Exemplare zu finden. Aber auch unter den übrigen Herbergsgästen, mit Ausnahme der jungen eben aus der Lehre getretenen Wanderburschen, schnapste man tüchtig, wo immer man Gelegenheit dazu hatte, und immer ließ man dann Bier vor Branntwein stehen. Dort in einer der Herbergen traf ich auch einen schon erwähnten Barbier, der mir erzählte, daß er früher ein permanenter Schnapssäufer gewesen wäre, so sehr, daß er nichts als immer nur Branntwein hätte haben wollen und vor allzu starkem Zittern der Hände nicht mehr imstande gewesen wäre, zu rasieren. Seit einiger Zeit tränke er keinen Tropfen mehr, und zwar hätte er es sich selbst ganz allmählich abgewöhnt. Ich vermochte auch in diesem Falle nicht zu kontrollieren, wie weit diese Angaben der Wahrheit entsprachen; ich glaubte es aber doch hier mitteilen zu sollen angesichts der allgemein für unanfechtbar gehaltenen Behauptung, daß die Selbstrettung eines Branntweinsäufers unmöglich sei. Auch in der Fabrik hatte ich einen Kollegen, der früher Schnaps getrunken und ihn jetzt niemals mehr über die Lippen brachte, man mochte ihn ihm anbieten, so sehr man wollte. Unter der seßhaften Fabrikbevölkerung herrschten bei weitem nicht so krasse Zustände. Es gab zwar auch in unsrer Fabrik einige ständige und periodische Säufer mit roten Nasen. Aber sie waren gegenüber der großen Menge eine verschwindend kleine Zahl und waren deutlich in vieler Arbeitsgenossen Augen mit einem Makel behaftet. Als einer einmal während der Arbeit in einem Anfalle von Delirium hinstürzte und hinausgebracht wurde, habe ich auch nicht ein Wort des Bedauerns und Mitleids, dagegen manches harte des Gegenteils vernommen. Hier hat das wohl schon jahrzehntealte, in den meisten Fabriken freilich sicher nur um der Arbeitsleistung und des Betriebes willen gegebene Schnapsverbot wirklich gute Dienste geleistet; in unsrer Fabrik wurde infolgedes in der That mit jenen wenigen Ausnahmen fast nie mehr Schnaps, dagegen, wie schon gesagt, viel unschädliches, doch gehaltvolles und den Durst löschendes einfaches Bier getrunken. Auch außerhalb der Fabrik trank man nicht täglich, wie das in den Mittelständen in Form der öden Stammtischkneipereien ausgebreitetste Sitte ist, Bier. Der Durchschnittsarbeiter von Chemnitz ging, außer am Lohntage und an den Sitzungen seines Wahlvereins, des Wochentagsabends selten aus. Er machte, wenn es schön war, seinen Abendspaziergang in die nahen Felder hinaus, aber ohne ihn in einer Kneipe zu beenden; denn dazu fehlte den meisten schon einfach das nötige Geld. Aber wenn dann einmal etwas los war, eben wie der Jahrmarkt oder ein Sonntagsvergnügen, wurde wacker gezecht. Ein jeder trank mit, und alle konnten erstaunlich viel vertragen. Und fast immer mußte ein Glas Schnaps dabei sein. Aber Schnaps allein trank man bei solchen Gelegenheiten doch nur noch selten. Sehr viele kannten dann keine Grenzen, nach echter Kinder- und Volksart, die weder in Leid noch Lust sich zu beherrschen vermag. Viele hörten darum nicht eher auf, als bis sie betrunken waren. Ja für manche war das der eigentliche Hochgenuß und von vornherein die letzte Absicht. Und selten sah man das als eine Schande, geschweige Sünde an. Ich sprach hierüber öfter mit den Leuten und fand fast immer dasselbe gleichlautende Urteil: einmal sich besaufen ist keine Schande; das thun die Großen auch, die nur heimlich, wir offen. In einem solchen Gespräch kam ich, wohl das einzige mal, beinahe in einen wirklichen Streit mit zwei sonst guten, gediegneren Leuten. Sie wurden ernstlich böse darüber, daß ich auf der gegenteiligen Ansicht stehen blieb. Ein zusammenfassendes Urteil kann man wohl so formulieren: unter der erwachsenen Wanderbevölkerung ist der Schnapsgenuß geradezu eine Pest; die seßhaften Arbeiter am Orte aber, soweit ich sie kennen lernte, trinken viel mehr Bier als Schnaps, trinken viel Bier, aber sind selten eigentliche Säufer. Nun ein Wort über die Tanzböden. Ich habe fast jeden Sonntag einen oder mehrere, im ganzen acht bis zehn besucht. Es giebt feinere und gewöhnliche. Der schlimmste, den ich kennen lernte, war die „Kaiserkrone“ in Chemnitz, vom Volke sehr bezeichnend der „blutige Knochen“ genannt. Denn hier gehörte Keilerei und Tanzvergnügen wie in jenem Gassenhauer wirklich zusammen. Hier verkehrte das ärgste Gesindel, Huren und Fabrikdirnen niedrigster Sorte und ihre Zuhälter mit jungen Fabrikarbeitern und vielen Soldaten der Chemnitzer Garnison. Ich mache hierauf nachdrücklich aufmerksam, und mache es den Militärbehörden hiermit zur ernsten Pflicht, darauf zu achten, daß künftig nicht bloß sozialdemokratisch-anrüchige, sondern vor allem auch solche sittlich verwahrlosende Lokale den Soldaten verboten werden. Ein Mensch in anständiger Kleidung, allein, bleibt hier selten ganz unbehelligt. Ich war mit einem Arbeitskollegen etwa eine knappe Stunde dort. Und wie viele male sind wir in dieser kurzen Zeit trotz unsers unauffälligen Sonntagsgewandes namentlich von den Weibern mit ihren frechen Gesichtern in der unflätigsten Weise und mit allen ihren Körperteilen angerempelt worden! Da muß man denn schließlich entweder so wie sie selbst mittollen und mit gemein sein, oder man bekommt Händel und darauf Schläge. Wir gingen beiden Möglichkeiten zeitig genug aus dem Wege, indem wir uns wieder entfernten. Beim Ausgang traf uns der junge Wirt und fragte uns, warum wir schon wieder gehen wollten, ob es uns nicht gefallen habe. Wir murmelten einige Worte der Antwort, und darauf sagte der Mann ganz stolz: Ja unter meinem Vater war der Saal tüchtig herunter; aber Gott sei Dank, jetzt habe ich ihn wieder in Schwung und in die Höhe gebracht. Das Gegenteil von diesem Saale war das „Kolosseum“ in Kappel. Es war der vornehmste von allen, die ich gesehen habe, durch die Ausstattung und den Umfang des Saales, die Musik, die da aufspielte, das Publikum, das ihn besuchte. Hier fanden sich nicht nur die gutgelohnten jungen Schlosser und Dreher unsrer Fabrik, sondern viele junge Kaufleute und auch -- wie man mir versicherte -- Referendare und Offiziere in Zivil zusammen. Und vom weiblichen Geschlecht traf man allerhand Ladenmädchen und Verkäuferinnen, aber auch „feinere“ Huren, dagegen wenig Dienst- und Fabrikmädchen. Es ging wirklich beinahe wie auf einem Balle zu. Die Damen in modernster, oft kostbarer, fast immer geschmackvoller Toilette, und viele schöne Menschenkinder unter ihnen; die Herren meist in ebenso eleganten Anzügen, wenn auch nicht in Schwarz und Frack; alle zusammen in ihren Haltungen, Bewegungen und Verbeugungen gewandt und voll jugendlicher Elastizität. Die Fabrikarbeiter unterschieden sich kaum von den andern, nur durch den Mangel eines Klemmers auf der Nase und durch ihre größern, härtern, rauhern Hände. Denn niemand trug Handschuhe, was manche der Damen veranlaßte, ihren Herren beim Tanz mit stummer, aber verständnisvoller Gebärde ihr Taschentuch zu bieten, damit die schwitzende Hand des Tänzers, die die Taille umfaßt, das Kleid nicht beschmutzte. Die übrigen Säle, die ich sonst sah, standen nach dem äußern Eindruck, den sie machten, etwa in der Mitte zwischen beiden. Meist waren es Vorortssäle mit halb städtischem und halb ländlichem Charakter und ebensolchem halb städtischen halb ländlichen Publikum. Hier mischten sich unter die modischen Toiletten der zur Stadt hereinkommenden Fabrikarbeiter und Arbeiterinnen noch die unschönen Kostüme unsrer Dorfbewohner; hier waren die Mädchen mitunter noch im Kopftuch und mit vorgebundener schöner bunter Schürze. Auch die Musik war primitiver, der Eintrittspreis niedriger, nur 25 Pfennige etwa, während er in dem Kappeler Saale, wenn ich mich recht entsinne, 50 Pfennige betrug. Natürlich kostete hier wie dort noch jeder Tanz, den man tanzte, seine Extrasteuer, immer 10 Pfennige. So gab einer leicht am Abend 3 bis 4 Mark nur für das bloße Tanzvergnügen aus. Auch der Ton, der auf diesen Sälen herrschte, war freier als auf jenem. Man sang laut Lieder zu den Weisen, die die Musikanten aufspielten, man juchzte und rief laut über die Köpfe und den Saal hinweg. Manchmal war ein dichtes Gedränge und eine unausstehliche Hitze, daß der Schweiß nur so von der Stirne rann, und Glas auf Glas getrunken wurde. Aber dann wars am schönsten und die Freude am größten. In den bessern Sälen ging es auch in diesem, aber auch nur in diesem Sinne anständiger zu. Da scherzte und lachte und tollte man sich denn an den einzelnen Tischen, im kleinern Kreise der Bekannten, in den Ecken und Nischen des Saales und auf den Galerien umso mehr aus. Da koste und umschlang und drückte man sich. Und hier wie dort, lachende, glühende, oft schöne Gesichter, leuchtende, lebensprühende Augen, kräftige Gestalten, volle, frische Formen. Hier wie dort ungebändigte Lust, steigende Erregung, sinnlicher Taumel, der seinen Abschluß und seinen Höhepunkt erreicht, wenn Schlag 12 Uhr die Musik verstummt, der Saal geräumt, die Lichter verlöscht werden. Dann zieht Paar nach Paar einsam von dannen, zu einem Nachtspaziergang ins freie Feld, wo nur die Sterne die Sünde sehn, die man hier begeht, oder bis in Liebchens Hausflur oder gar in Liebchens Wohnung und Bett. Denn das ist nach allen meinen Beobachtungen wenn auch nicht die durchgängige Regel, so doch in den weitaus überwiegenden Fällen der Abschluß jedes sonntäglichen Tanzvergnügens. Auf den Tanzböden, in den Nächten vom Sonntag zum Montag verliert heutzutage unsre Arbeiterjugend nicht nur ihren meist sauer verdienten Lohn, sondern auch ihre beste Kraft, ihre Ideale, ihre Tugend und ihre Keuschheit. Es ist ja auch kein Wunder; es wäre ein Wunder, wenn es anders wäre. Man überlege nur einmal. Während der Woche, Tag um Tag in regelmäßiger Einförmigkeit in der häßlichen Fabrik, bei oft langweiliger Arbeit, in Schmutz und Schweiß; des Mittags ohne behagliche Ruhe; die Abende der Werktage auf der Straße vor der Thür oder im Hofe des Arbeiterhauses oder in der kleinen engen, oft dürftigen Stube des Logiswirts mit Kindergeschrei und Küchendunst; die Nächte in armseligen Schlafstätten; dabei ein leidlicher Verdienst, ohne Kontrolle, ohne Aufsicht, ohne elterliche Fürsorge und Liebe, kurz ohne den segensvollen Einfluß eines starken Familienverbandes, Jugendkraft in den Gliedern, Jugendlust in Kopf und Herzen -- und nun kommt der Sonntag mit seinem Ausschlafen, seinem Ausruhn, seiner Freiheit, die ihnen niemand kürzt, deren rechten Gebrauch sie keiner lehrt: da locken die Töne der Musik; da lachen junge frische Mädchengesichter; da strahlt lichter Glanz; da wölben sich die hohen weiten Hallen des schön gemalten Saales; ja hier ist Ersatz für das häßliche Einerlei der Woche, an einem Abend, in einer Nacht hundertfacher Ersatz für die hundert häßlichen Eindrücke der ganzen Woche! Ist es da wirklich noch verwunderlich, wenn sich die Ungebundenen da hineinstürzen in den herrlichen, entzückenden Strudel, ihre Seelen an ihm berauschen, ihr Bestes in ihm verlieren? Ich klage nicht an, ich entschuldige auch nicht, ich schildre nur, wie es in Wahrheit ist, und erkläre, wie es mit Notwendigkeit so kommen muß. Ich behaupte, daß infolgedes kaum ein junger Mann oder ein junges Mädchen aus der Chemnitzer Arbeiterbevölkerung, das über 17 Jahre alt ist, noch keusch und jungfräulich ist. Der geschlechtliche Umgang, auf den Tanzböden vor allem groß gezogen, ist unter dieser Jugend heute im weitesten Umfange verbreitet. Er gilt einfach als das Natürliche und ganz Selbstverständliche; von dem Bewußtsein, daß man damit eine Sünde begeht, ist selten eine Spur vorhanden. Das sechste Gebot existiert in diesem Sinne da unten nicht. Zwar mit Huren, die sich bezahlen lassen, giebt man sich fast nie ab. Das gilt als Schande, und diese selbst werden verachtet. Aber fast jeder hat seine Liebste und jede ihren Liebsten, die sich mit wenigen Ausnahmen diesen ganz selbstverständlichen Dienst thun. Daneben sucht der junge Mann, wo immer es gerade einmal geht, auch andre Mädchen zu benutzen, die sich ihm dazu hergeben, was wiederum nicht schwer und selten ist. Gleichwohl hat auch die schon einen kleinen Makel in vieler Augen an sich, die sich gleich bei der ersten Bekanntschaft gebrauchen läßt. Mit dieser „geht man“ dauernd wenigstens nicht. Wird eine dann schwanger, so heiratet man sich in der Regel auch, ganz gleich, ob man schon lange oder nur erst wenige Wochen beisammen ist, ob man sich kennt oder nicht, ob man etwas taugt oder nicht, zusammenpaßt oder nicht. So treiben der Zufall, der Geschlechtsgenuß und seine etwaigen Folgen, selten echte Liebe, inneres Bedürfnis und vernünftige Überlegung die jungen Leute in die Ehe zusammen. Und daraus vor allem erklärt sich mit der Jammer der Arbeiterehen, die Klagen aller, auch der Sozialdemokraten, die es mit den Leuten wirklich gut meinen, darüber, die Sehnsucht nach einer Erhebung, einer Emanzipation des Weibes und das neue sozialdemokratische Ideal von der Ehe. Ich verweise hier auf die Bemerkungen am Schlusse des zweiten Kapitels. Die Frau ist in der That in vieler Männer Augen nichts als das Mittel zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, ein Hindernis für das Fortkommen, höchstens, wenn es gut geht, der tüchtige Haushaltungsvorstand, der energisch auch den Mann im Zaume hat. Die Ehe ist nach der Äußerung mehrerer meiner Arbeitskollegen die „letzte und größte Dummheit, die einer machen kann.“ In manchen Familien ist es ja besser, und zwischen manchen Gatten tritt allmählich sogar einige gegenseitige Achtung und Zuneigung ein. Ja ich fand trotz alledem auch mehrere wirklich schöne, durch ernste Liebe vertiefte Ehen: aber im allgemeinen gilt doch die Thatsache, daß die Frau dort unten von den Männern unendlich viel niedriger geschätzt, viel weniger geachtet, viel schlechter behandelt wird als in den andern Ständen. Sie wird hart gehalten und sehr häufig geschlagen. Dabei fordert der Mann von ihr ehrliche Treue, ohne sich selbst ihr zu einem Gleichen verpflichtet zu fühlen. Auch sonst zeigt sich überall ein großer Mangel des Bewußtseins der gegenseitigen sittlichen Pflichten, die die Ehe vorschreibt. Ein Lichtpunkt in diesem trüben, bestenfalls gleichgiltigen und einförmigen Eheleben sind für Vater und Mutter zugleich die gemeinsamen Kinder. Was sie selbst an gegenseitiger Zärtlichkeit fehlen lassen, übertragen sie vielfach auf diese, so sehr, daß auch sie manchmal mit eine Ursache der mangelhaften Erziehung, der Verziehung derselben wird. Ihnen thun sie an, was sie können; für sie sorgen sie, so gut sie es vermögen; mit ihnen geben sie sich ab, machen sie des Abends und des Sonntags ihre üblichen Spaziergänge. Und viele setzen ihre ganze Kraft und ihren höchsten Ehrgeiz darein, die Jungen, wenn es nur halbwegs die Verhältnisse erlauben, etwas „Ordentliches,“ d. h. jedenfalls etwas mehr lernen und werden zu lassen, als der Vater ist. Der Handarbeiter sieht seinen Sohn gern als Dreher, Schlosser, Tischler, kurz als gelernten Arbeiter, dieser wieder den seinigen am liebsten als Kaufmann, Subalternbeamten oder etwas dem ähnliches. Überbeschäftigt wurden die Kinder in den Familien meiner Arbeitskollegen jedenfalls nicht. Wenn sie gelegentlich einmal etwas mit verdienen konnten, dann gut; regelmäßig angestrengt und zum Verdienen ausgenutzt waren sie meinen Beobachtungen nach nur wenig. So lange es ihm möglich war, gönnte jeder seinem Kinde Freiheit und Ruhe. Und wenn eines krank wurde, war immer die Sorge groß, ward alles gethan, um es am Leben zu erhalten. Da gab denn auch der strenge Sozialdemokrat, der natürlich auch ein Feind der zunftmäßigen Medizin war und manchmal gar selbst dokterte, seinen verrannten Standpunkt auf, ließ sich von den Bitten seiner Frau erweichen und holte den teuern Arzt. Die Liebe zum Kinde war doch noch größer als der Dünkel einer alles besser wissenden Halbbildung. Eine andre Bemerkung darf ich an dieser Stelle unvermittelt einschieben, eine Klage über das unerhörte Fluchen der Leute. Fast jedermann that es: der Arbeiter in der Fabrik, die jungen Burschen unter sich, die Mädchen des Abends auf den Straßen und daheim. Man fluchte in allen Tonarten, bei jeder harmlosen Gelegenheit; oft wußte mans selbst nicht mehr, wenn man es that. Alle Empfindungen drückten sich in diesen Flüchen aus: Jähzorn, Haß, Verbitterung, drolliger Witz, Affektiertheit und Großthuerei. Ich habe einmal die Flüche zusammengezählt, die ich an einem Tage so zufällig hörte: wenn ich mich recht entsinne, zählte ich fast hundert. Ich glaube bestimmt, daß das eine Frucht und ein Geschenk unsers Militärwesens ist. Hier zeigt es sich als nichts weniger denn als ein sittlich erziehendes Institut. Dagegen habe ich in der Fabrik unter meinen Arbeitsgenossen nie eine Spur von Diebstahl gespürt, wohl aber desto mehr in den Herbergen. Da mußte man in der That immer sehr auf seiner Hut sein. Ein Messer, das man unbemerkt auf dem Tische oder Stuhle liegen ließ, ein Stock, den man achtlos in die Ecke gestellt hatte, war leicht verschwunden und wanderte schleunigst zum Trödler, worauf der geringe Erlös daraus sofort wieder in Branntwein umgesetzt wurde. Ich will damit nicht sagen, daß jeder, der in der Herberge verkehrte, mauste. Aber von jenen alten echten Kunden verschmähte fast keiner diesen bequemen Weg der Selbstbereicherung. Man gab darum immer gleich bei seiner Ankunft in der Herberge Stock und Berliner dem Herbergsvater zur Aufbewahrung, und lieferte des Nachts auch seine sonstigen Wertsachen ab. Wenn einer Geld aus der Tasche in die Stube verlor, durfte sich keiner rühren, nur der Betroffene bückte sich und suchte selbst und ganz allein seine paar Pfennige zusammen. Mehrmals habe ich bereits die innere Stellung meiner Arbeitsgenossen zu einander erwähnt, ausführlich ihren Verkehr bei der Arbeit geschildert. Ich möchte hier noch einige ergänzende Bemerkungen dazufügen. Bei aller Kameradschaft, die unter ihnen herrschte, und die sich namentlich in jenem schon durch den Betrieb geforderten In-die-Hände-arbeiten während der Arbeitsstunden äußerte, traten doch in dem einförmigen Einerlei des kleinen Alltagslebens die Züge der Solidarität, der Gemeinsamkeit, der innerlichen Übereinstimmung mehr und mehr zurück und dafür die besondern Eigentümlichkeiten der einzelnen Charaktere, ihre guten und schlechten Seiten hervor, machten sich kleinliche Interessen untereinander geltend, kamen Eifersucht und Neid, Hochmut und Geringschätzung, Klatschsucht und Kriecherei, Streitsucht und Jähzorn, Selbstsucht und Niederträchtigkeit, Gleichgiltigkeit, Bitterkeit und Mißtrauen wie überall in einer durch den Zwang der Verhältnisse geschaffenen Gemeinschaft zu oft abstoßendem Ausdruck und riefen wie überall dieselben Spaltungen, Gruppierungen und Vorgänge hervor, deren Druck dann oft stärker ist als das Gemeinsame, das diese Leute verbindet. Es ist eine Kleinigkeit, die aber viel Wahres enthält, was mir mehrmals einige klagten: Die Arbeiter sind nie unter einen Hut zu bringen; sie halten nur in Versammlungen zusammen. Oder: Wenn einer nur fünfzig Pfennige mehr Lohn hat als die andern, so sieht er sie gleich über die Achseln an und dünkt sich wunder was. Ein andrer sagte mir einmal, als er mir einen guten Dienst thun wollte: Du darfst den andern nicht soviel von deiner Vergangenheit erzählen; viele machen sich dann hinter deinem Rücken nur darüber lustig. Derselbe Mann warnte mich auch vor einer allzu intimen Aussprache gegen einen andern mit den Worten: Der alte X ist ein Zwischenträger! Und doch stand auch von diesem meinem getreuen Eckehardt an den Holzwänden der Abtritte mehrmals die wutschnaubende Bleistiftnotiz: N. ist ein Fuchsschwanz! Wieder einer, freilich ein etwas griesgrämiger, verbitterter Geselle, meinte einmal: Es giebt viele Halunken hier in der Bude. Und dieselben Erscheinungen zeigten sich fast noch deutlicher selbstverständlich in den Arbeitermietskasernen, namentlich unter den Frauen. Über die Arbeit herrschte eine doppelte Auffassung unter den Arbeitsgenossen, die sich innerlich kaum berührte. Den einen galt die Arbeit nur als Last. Niemand arbeitet zum Vergnügen, warf einer einmal gelegentlich hin. Dann ein andermal entspann sich während der Frühstückspause ein Gespräch mit ähnlichem Resultat in Anknüpfung an eine Wurstschale. Die suchte und wickelte ein Schlosser sorgfältig zusammen: Ich will sie meinem Hunde mit zuhause bringen, fügte er hinzu. Wozu brauchst du denn einen Hund? fragte sein Nachbar; der kostet ja doch nur Steuern. Nur zum Vergnügen. Man will doch auch seine Freude haben, entschuldigte sich jener. Das ist überflüssig. Du sollst Freude genug an deiner Arbeit haben, erwiderte ihm ebenso ironisch als bezeichnend der andre. Arbeit und Nichtsthun waren dieser zahlreichen Gruppe die ganz parallelen Begriffe zu Last und Lust, Langerweile und Abwechslung. Die „Reichen,“ die „großen Herren,“ die nichts zu arbeiten brauchen, hatten in ihren Augen nie Langeweile. Die „fressen, saufen, reisen, lesen, sehen sich schöne Bilder und Gegenden an und haben schöne Weiber.“ Einmal wagte ich dagegen energischen Widerspruch und wollte meinem Gegenüber zeigen, daß wenigstens für tiefer angelegte Menschen, die ja freilich die „Reichen“ nicht immer sind, gerade in dieser Beschäftigungslosigkeit und Ungebundenheit, dieser Ziel- und Zwecklosigkeit des Daseins die größere Qual, die ärgste Langeweile, die schlimmste Last liege. Aber damit stieß ich auf absolute Verständnislosigkeit. Unsinn, war die kurze scharfe Antwort, mit der er mich abfertigte, die Reichen können gar nicht Langeweile haben! Die Arbeiter wissen gar nicht mehr, daß es auch heute noch eine Bevölkerungsschicht giebt, die fleißig arbeitet, dabei noch echten Idealismus hat, die diesen idealen Sinn mit bescheidenen äußern Ansprüchen verbindet und in einem edeln geistigen Genuß wahrhaft glücklich ist. Mit dieser Auffassung verband sich dann immer ein eisiges Gefühl der Kälte, der Entfremdung, des Mißtrauens gegen diese „vornehmen“ Klassen, ein ausgeprägtes Bewußtsein von der unendlichen Kluft zwischen ihnen und jenen, das zwar selten eine persönliche Spitze hatte, aber gerade deswegen für die allgemeine Betrachtung einen um so trüberen Eindruck gewinnt. Einer meiner Freunde nannte das einmal treffend einen +objektiven+ Haß. Häufig kommt er, veredelt, mit einem gewissen Stolz, den man seinerseits ebenfalls jenen obern Klassen entgegensetzt, zum Ausdruck. Eine Episode, die auch nach andern Seiten hin interessante Schlaglichter zu werfen geeignet ist, zeigt dies besonders gut. Es war in einer Sitzung unsers Wahlvereins. Ein Redner verlas einen langen Artikel irgend eines auswärtigen Blattes, das eine Erklärung des Vorstandes für die Chemnitzer Ferienkolonien enthielt mit, wenn ich mich recht entsinne etwa dem Inhalte, daß man sich wegen des zunehmenden agitatorischen Charakters der Chemnitzer Arbeiterbewegung genötigt sähe, künftig Kindern erklärter Sozialdemokraten nicht mehr die Wohlthat der Ferienkolonien zukommen zu lassen. Da stand einer in ernster Erbitterung auf und redete etwa also: Genossen! Ihr habt gehört, wie man ein sogenanntes Liebeswerk zu einem parteipolitischen Kampfmittel mißbraucht. Aber das ist Bourgeoisart. Wir wollen still sein und dem nur ein doppeltes entgegen setzen: Wir wollen mit ganzer Kraft danach streben, daß unsre Kinder gar nicht mehr diese „Wohlthat“ zu beanspruchen brauchen und dann -- nicht gleiches mit gleichem vergelten! Wir wollen es uns auch heute wieder versprechen, daß es nach wie vor dabei bleibt: Wenn ein Arbeiter eines Reichen Kind in Not und Gefahr sieht, so wollen wir auch künftig unser Leben daran setzen, es dieser Gefahr zu entreißen! Die zweite Ansicht über die Arbeit, die jener eben geschilderten nebenher lief, steht höher und ist doch gerade für die künftige Arbeit des Theologen verhängnisvoller. Die Leute, die ihr anhingen, waren nicht der Meinung, daß jedes Arbeiten ein Unglück für die Menschen wäre. Aber sie hatten nur Achtung vor der Arbeit, die unmittelbar materiellen Gewinn bringt. Unter diesem Gesichtspunkte stand ihnen die körperliche, die Hand-, die Fabrikarbeit der geistigen völlig gleich, die wie die des Kaufmanns und des Technikers sich unmittelbar mit Geld bezahlt macht. Für die geistige Arbeit des Wissenschaftlers, des Theologen, die man um ihrer selbst oder wieder nur um geistiger Interessen willen thut, hatten sie nur wenig oder gar kein Verständnis. Daher der Dünkel über die unfruchtbare „kindische“ Arbeit des Geistlichen, daher vor allem auch beim besten Willen die Unempfänglichkeit für die geistig-sittlichen Beweise der Wahrheit des Christentums, wie sie uns im vorigen Kapitel mehrfach entgegengetreten ist. Dieser materialistische Zug ist überhaupt die Signatur für die ganze sittliche Entwicklung, in der sich die Gruppe meiner Arbeitsgenossen eben befindet. Sie alle haben ja neben vielen schlechten viele gute, liebenswürdige Eigenschaften an sich und stehen überhaupt nach meiner festen Überzeugung verhältnismäßig sittlich nicht tiefer als die übrigen Schichten unsers Volkes. Aber diese guten Seiten, die sie haben, sind zusehends immer weniger ethisch-religiös, immer mehr wirtschaftlich und ständisch bestimmt; der Idealismus, der sie erfüllt, ist der Idealismus nicht um des Guten, sondern um des Nützlichen willen. In notwendiger Folge davon zeigt sich der so sich gestaltende sittliche Charakter immer weniger fest und widerstandsfähig, verliert also zusehends gerade die Tugenden, die bisher seine Kraft und sein Bestes ausmachten. Ich glaube nach allem Ausgeführten nichts Unrichtiges und Unrechtes zu sagen, wenn ich auch diese bedauernswerte Entwicklung nicht nur den wirtschaftlichen Zuständen, sondern zu einem großen Teile mit der Agitation der Sozialdemokratie in die Schuhe schiebe. +Es zeigte sich mir überall deutlich, daß hier die andre Stelle ist, wo jene ihre verderblichste Wirkung geübt, ihren größten Erfolg bisher errungen und die eigentliche Gefahr für die Zukunft heraufbeschworen hat.+ Ich vermag auch nach allen meinen Erfahrungen nicht zu hoffen, daß es in nächster Zeit damit besser wird. Achtes Kapitel Ergebnisse und Forderungen Ich fasse nunmehr das Ergebnis meiner Untersuchungen zusammen. Ich glaube, eins vor allem bewiesen zu haben: daß die Arbeiterfrage keine bloße Magen- und Lohnfrage, sondern auch eine Bildungs- und religiöse Frage ersten Ranges ist. Auch wenn die weitesten Arbeiterkreise die höchsten Löhne und das beste Auskommen hätten, würde sie, vielleicht in andrer Gestalt, aber doch existieren. Die Lohnfrage ist nach allen meinen Erfahrungen nur einer, nicht einmal der bedeutendste, gewöhnlich nur der anstoß-, keinesfalls der ausschlaggebende Faktor der Bewegung. Es ist natürlich richtig, daß die Agitation unter den Arbeitern immer bei ihren materiellen Nöten und Sorgen einsetzt und, wo keine herrschen, sie ihnen doch einzureden versucht; aber das, was die großen Scharen nun schon seit Jahrzehnten zu diesem „Massenkampfe“ begeistert, was gerade auch die bestgestellten und nachdenklichsten Kreise an die Spitze dieser Bewegung stellt, ist, ich wiederhole es, nach allen meinen Beobachtungen diese Lohnfrage nicht, wenigstens nicht allein. Das ist vor allem die heiße Sehnsucht des ganzen Fabrikvolkes nach größerer Achtung und Anerkennung und, im Gegensatz zu der politisch-formellen, auch nach größerer sozialpraktischer Gleichberechtigung, das ist der Glaube an eine trotz allem mögliche bessere Ordnung der wirtschaftlichen Produktion und die dunkle Ahnung, daß gerade der jetzt zur Selbständigkeit erwachende Arbeiterstand am ersten berufen sei, diese durch den demokratischen Druck der parlamentarisch heute schon hoffähigen Masse heraufzuführen. Es ist der heiße Wunsch, in dieser nahenden neuen wirtschaftlichen Ordnung nicht bloß mehr die stummen ausführenden gedankenlosen Werkzeuge eines höhern Willens, nicht nur gehorsame Maschinen, sondern kraftvoll und originell mitwirkende Menschen, nicht nur Hände, sondern auch Köpfe zu sein. Es ist der unaufhaltsame Drang nach größerer geistiger Freiheit, das Verlangen nach den Gütern der Bildung und des Wissens und nach voller Klarheit auch über die höchsten und tiefsten Probleme der Menschenseele, die heute wieder trotz aller Jagd nach Gold und Glanz als neue Rätsel in neuen Gestalten vor der Menschheit emportauchen. Das alles prägt sich, roh noch und ungefüge, unklar und gärend, aber dem beobachtenden Auge deutlich und scharf genug in dieser elementaren deutschen Arbeiterbewegung aus. Und darum unterscheidet sich die deutsche von der aller andern Länder, auch von der Chartistenbewegung Englands in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts: dort waren es, wie auch sonst überall heute noch, in der That die jammervolle materielle Lage, die grausigen wirtschaftlichen Nöte, denen diese Bewegung ihren Ausdruck gab; dort wollte man in erster Linie Brot, höhere Löhne, bessere Kleidung, ein menschenwürdiges Dasein. Was sonst von andern Zügen in ihr war, hatte nur sekundäre Bedeutung. Bei uns ist das ganz anders, ist es so, wie ich es oben geschildert habe, und eben das macht diese deutsche Arbeiterbewegung so furchtbar ernst, zu einem so vielköpfigen Ungeheuer; aber das giebt auch die Gewähr, daß, wenn sie in ruhige Bahnen eingelenkt sein wird, eine ganz andre, größere, bleibende Frucht aus ihr für spätere Zeiten und Geschlechter zurückbleiben wird, als es schon die Gewerkschaftsorganisation der englischen Arbeiter ist. Das zweite, was wir rundweg aussprechen müssen, ist die Thatsache, daß die so geschilderte deutsche Arbeiterbewegung ihren Ausdruck und ihre Repräsentation in der Sozialdemokratie hat. Die beiden sind heute und für die absehbare Zukunft aufs engste miteinander verknüpft, ja die Sozialdemokratie ist heute diese Bewegung selbst. Es ist darum ein Wahn, dem sich immer noch viele hingeben, zu meinen, daß es möglich sein könnte, sie zu vernichten, auszuroden, aus der Welt zu schaffen. Auf dieser Meinung fußte der Schöpfer des Sozialistengesetzes ebenso wie der Führer der christlich-sozialen Bewegung, die beide ihre Taktik und Thätigkeit nur nach der Qualität der Führer, und nicht auch der Hunderttausende einrichteten, die hinter den Führern stehen und ganz anders als diese geartet sind. In beiden Fällen hat sich gezeigt, daß es eine irrtümliche Meinung war. Die deutsche Sozialdemokratie ist heute so wenig mehr zu beseitigen, als es die moderne Arbeiterbewegung überhaupt ist. Im Gegenteil, es ist meine wohlüberlegte Ansicht, daß sie auch in Zukunft noch wachsen, daß sie vor allem sich auch in vielen Teilen des platten Landes ausbreiten wird. Sicher da, wo der Großgrundbesitz überwiegt und in Verbindung mit industriellem Großbetriebe, mit Zuckerfabrikation und Schnapsbrennerei auftritt, also eine der städtischen durchaus gleiche Arbeiterklasse geschaffen hat. Auch keine freisinnigen Gewerkvereine, keine christlichen Jünglings- und Männervereine, keine evangelischen Arbeitervereine werden diese Entwicklung aufhalten. Denn sie ist, wie mir scheint, zu einer geschichtlichen Notwendigkeit geworden. Zwar auch jene eben genannten Organisationen haben ihre Bedeutung und ihren Beruf. Vor allem die Arbeitervereine sollen alle die noch immer nach Tausenden zählenden Arbeiter, denen die Wogen der sozialen Stürme über den Köpfen zusammenschlagen, sollen die ruhigen sinnenden Seelen unter ihnen, denen die Kämpfe zuwider sind, und alle die in sich sammeln und stark machen, die ihren überkommenen christlichen Glauben nicht einzutauschen gewillt sind um den Preis friedlosen Suchens und Ringens nach dem Neuen. Aber darüber hinaus haben sie sicherlich keine Mission; und so schmerzlich es mir ist, es auszusprechen, muß ich es doch sagen: es ist eine Täuschung, in ihnen die kraftvollen Ansätze einer neuen sieghaften Gegenorganisation gegen die Sozialdemokratie zu sehen. Hier liegt derselbe Gedanke zu Grunde, der sich uns schon vorhin als falsch erwiesen hat, daß die Sozialdemokratie aus der Welt zu schaffen sei. Das ist, wie gesagt, nicht möglich, nicht einmal wünschenswert. Aber möglich, wünschenswert und notwendig ist, daß sie erzogen, geadelt und geheiligt wird. Dies geschieht sicherlich zunächst durch eine kraftvolle tiefgreifende Reformarbeit, durch die bedingungslose Erfüllung aller berechtigten Wünsche der millionenköpfigen Arbeitermasse, durch ihre Organisation zu einem besondern Stande und durch dessen Einpflanzung in den Rechtsboden des modernen Staates. Das aber ist die Aufgabe der Regierung und der gesamten im Parlament vertretenen Gesellschaft. Hier habe ich als Theologe kein Urteil und keinen Rat. Nur das eine bitte ich zu bedenken, die Erfahrung, die ich gemacht habe: daß alles, was für die Arbeiter geschieht, heutzutage durch sie, mit ihrer Hilfe und ihrem Willen geschehen muß. Wir sind über die Zeit des Patriarchentums hinaus: auch der Einzelne aus der großen Menge ist zur Selbständigkeit erwacht und will mitraten und mitthaten, wo es um sein eigen Wohl und Wehe geht. Darum, nur durch eine dauernde ernsthafte Mitbeteiligung an den sozialen Neuformationen der Zukunft wird auch die Arbeiterschaft wieder zu einer nüchternen, besonnenen, praktischen Haltung erzogen. Aber die zweite, nicht geringere Hälfte jener Erziehungsaufgabe hat die Kirche zu lösen. Ich setze hier mit dem ein, was sich uns als drittes allgemeines Resultat meiner Studien ergeben hat, mit der Thatsache, daß die heutige deutsche Sozialdemokratie nicht nur eine politische Partei, auch nicht nur die Trägerin eines neuen wirtschaftlichen Systems, oder dies beides zusammen, sondern ihrem innersten Wesen nach die Verkörperung einer Weltanschauung, der Weltanschauung des konsequenten, widerchristlichen Materialismus ist. Aus diesem materialistischen Prinzip heraus wächst erst ihr ökonomisches und politisches System; dieses Prinzip, das Zerrbild einer sogenannten, von ihren Anhängern angebeteten „Wissenschaft,“ bildet ihre feste Grundlage, giebt der Partei ihre Autorität und ihren Idealismus; und ebenso hat dieses Prinzip bewirkt, daß sie bis heute ihren verhängnisvollsten, nachhaltigsten Einfluß nicht sowohl auf die soziale und politische Gesinnung der Leute, sondern auf den geistigen und religiös-sittlichen Charakter der gesamten deutschen Arbeiterschaft ausgeübt hat. So ist der Arbeit der Kirche der Weg gewiesen: für sie gilt es allein die Auseinandersetzung mit dieser widerchristlichen Weltanschauung des sozialdemokratischen Materialismus. Die politischen Ziele, die sozialen Träume und Wünsche jener Partei sollten sie ebenso wenig beunruhigen, wie die Sorge um die Erhaltung der heutigen Zustände, um den Bestand der herrschenden Staatsform. Diese, ihre Träger und Interessenten, mögen und müssen sie und sich selber schützen. Die Kirche hat kein Interesse daran; sie kann sie ruhigen Herzens selbst untergehen sehen, wenn sich im Ringen der Geister ihre Kraftlosigkeit und Lebensunfähigkeit herausgestellt hat. Der Kirche und ihren Dienern ist es gleichgiltig, ob sie in einem Feudal-, Manchester- oder Sozialstaate wirken. Sie sind nicht um dieses, sondern um der Menschen willen da, die in ihnen leben. Und darum, wenn in ferner oder naher Zukunft selbst der radikalste sozialistische Staat heraufziehen, wenn die Mobilisierung aller Staatsbürger in Arbeiterbataillone Wirklichkeit und Wahrheit werden würde -- was thut das uns? So treten auch wir „evangelische Pfaffen“ in ihre Reihen, so arbeiten auch wir unsre vier oder sechs Stunden in der Fabrik, im Bergwerk, auf dem Acker: und die übrigen zwanzig Stunden des Tages verkündigen wir, den Aposteln gleich, frei und stark vor allen, die es hören wollen, das Evangelium unsers Herrn. Aber noch sind wir lange nicht so weit. Noch gilt es ein näheres großes Ziel zu erreichen, zu verhindern, daß die Sozialdemokratie das vollendete Antichristentum wird. +Es muß der Grundsatz durch uns zur Thatsache gemacht werden, daß auch ein Sozialdemokrat Christ und ein Christ Sozialdemokrat sein kann.+ Dazu aber müssen wir der sozialdemokratischen Weltanschauung ihr materialistisches Rückgrat ausbrechen. Wir müssen die Autorität jener gefälschten Wissenschaft vernichten, die durch ihren Glanz heute die Augen der ehrlich ringenden Arbeiter blendet und deren Geister willenlos in ihre Ketten schlägt. Wir müssen dieser Pseudowissenschaft der sozialdemokratischen Volkslitteratur die Heuchlermaske vom Gesicht reißen, müssen der falschen die wahre, der parteiischen die unparteiische, der mißbrauchten die reine, keusche Wissenschaft gegenüberstellen. Das ist der soziale Beruf der wahrhaft Gebildeten unsrer Tage, der Männer der Schulen und Studierstuben, daß sie heute von ihren Lehrstühlen zum Volke hinabsteigen und ihm rückhaltlos mitteilen von den Schätzen ihres Wissens und ihrer Gedanken. Da unten ringt sich eine neue breite Volksschicht aus der sozialen Unsicherheit, aus der geistigen Verworrenheit machtvoll herauf. Kommen wir ihr entgegen, geben wir ihr das Licht, das volle Licht und die volle Wahrheit, nach der sie verlangt; lassen wir es nicht weiter zu, daß man sie mit vergiftetem Wissen nährt, schenken wir ihr alles, alles, was wir nach bestem Wissen und Gewissen selber haben. Gehen wir in die Fachvereine der Arbeiter, in ihre Wahlvereine, und wo immer sie sich zusammen finden; bieten wir uns ihnen zum Dienste an, freundlich, bittend, aber ohne Hintergedanken, ohne Agitationszwecke, ohne eigennützige Absichten, nur mit dem einen Ziele, ihnen die Schätze der wahren Wissenschaft zu erschließen, ihre Folgerungen nach rückwärts und vorwärts zu ziehen, aber ihnen besonnen und ernst die Schranken zu zeigen, die auch ihnen aufgerichtet sind, und vor ihrem Mißbrauche und vor Irrwegen zu warnen. Wir protestantischen Theologen fürchten diese Arbeit nicht, wir freuen uns darüber, wir bitten um sie. Denn wir wissen, daß die wahre, vorurteilslose, forschende Wissenschaft der Wahrheit unsers Glaubens nie schadet, nur nützt. Auch auf unsern menschlichen Augen liegen noch Schleier über Schleier. Der ist uns willkommen, der sie uns herabziehen hilft. Nur immer tiefer, klarer, kraftvoller werden wir dann die ewige, unversiegliche herrliche Wahrheit unsers Glaubens ergreifen und den Frieden suchenden Menschen bringen, nur um so besser, schneller, gründlicher wird die evangelische Kirche ihre oberste soziale Aufgabe in dieser Zeit erfüllen können: den modernen Arbeitern ein modernes Christentum zu bieten. Denn darüber ist mir nach allen meinen Studien kein Zweifel mehr übrig, daß wenigstens der sächsische Industriearbeiter, der infolge der sozialdemokratischen Agitation durch moderne Gedanken- und Wissenskreise hindurchgegangen ist, in seinem Empfinden, Denken und Auffassen ebenso wenig mehr wie der sogenannte Gebildete unsrer Zeit auf die geistige Verfassung vergangner Zeiten zurückzuschrauben ist. Auch nicht auf die der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt, der Zeiten des Neuplatonismus und der Schöpfung unsers überkommenen Glaubensgebäudes. Es geht den modernen „aufgeklärten“ Arbeitern wie den Angehörigen unsrer Mittelstände, unter denen die Egidysche Bewegung unendlich viel Staub, leider wohl nur Staub aufgewirbelt hat, -- sie, die sich wie alle tiefer empfindenden Menschen nach wahrhaftem Frieden sehnen, können ihn im Christentum nicht mehr finden, weil ihnen seine ewig unveränderlichen Heilsgüter in einer Form und Fassung dargeboten werden, die für sie heute unannehmbar ist. Und da sie, wie die Kaufmanns- und Beamtenkreise des Mittelstandes, weder die Zeit noch die Bildung und den geistigen Überblick haben, selbst diese Form und Fassung zu zerbrechen, um den Kern und Edelstein zu behalten, so werfen sie, obendrein ergriffen von dem Strudel des Genusses und Glanzes der Zeit, das ganze kostbare Kleinod hin und verlieren mit der Hülle den Inhalt. Nun wohl, so müssen wir, die Diener der Kirche, dies weggeworfene Gut wieder aufheben, müssen die Arbeit, die jene heute nicht thun können, oft schon nicht mehr thun wollen, für sie thun, die alten Formen zerbrechen und den trotz alledem sich danach sehnenden die ganze Herrlichkeit und Wahrheit unsers Glaubens in neuen Gedankenkreisen, in neuen Ausprägungen, in Auffassungen, wie sie dem modernen Menschen allein kongenial sein können, übermitteln. Und der ganze Apparat der modernen echten Wissenschaft soll und kann uns dabei Helferdienste leisten. Wir brauchen dabei kein Fünkchen von der Kraft und dem Wesen, das nach unsrer Erkenntnis das Christentum ausmacht, beiseite stellen und verlieren. Der Inhalt ist ewig, die Form ist vergänglich. Ich habe freilich an dieser Stelle diese Arbeit nicht zu thun. Kein einzelner vermag sie überhaupt zu thun, die von vielen hohen Geistern seit langem schon vorbereitet ist. Nur im gemeinsamen Ringen, allmählich, Schritt für Schritt, in Eintracht, mit Ernst und Besonnenheit, aber auch mit Mut und Kraft haben wir alle, die berufenen und die künftigen Diener der Kirche, sie zu leisten und dabei immer anzuknüpfen an die geschichtliche Person Jesu von Nazareth, vor deren stiller Hoheit auch der Arbeiter sich heute allein noch beugt. Aber geleistet muß diese Arbeit werden -- sonst, das ist meine feste, aus bitterster Erfahrung geschöpfte Überzeugung, geht es da unten und wohl auch anderswo auf lange hinaus zu Ende mit dem Christentum. Die Sozialdemokratie ist, vom religiös-kirchlichen Standpunkte aus betrachtet, die erste große geistige Bewegung seit den Tagen der Reformation, die auch den einzelnen kleinen Mann aus dem Volke vor die Frage stellt, sich zu entschließen, ob er für oder wider Christum sein will. Sie faßt mit diesem Zwange der Entscheidung jedes Einzelnen innerste Persönlichkeit, all seine seelischen und geistigen Fähigkeiten an: nutzen wir diese wunderbare geschichtliche Gelegenheit aus, bringen wir es dahin, daß diese Entscheidung ein: Ja Herr, ich glaube! wird, so wird die sozialdemokratische Bewegung dereinst zwar als eine schwere Krisis bedauert, aber als ein unendlicher Segen und als das Mittel eines neuen großen auch religiös-kirchlichen Fortschrittes gepriesen werden. Die wir aber nicht gewinnen werden, denen werden wir dann wenigstens durch die Kraft der wissenschaftlichen Überlegenheit, die von neuem in unserm Dienste steht, imponieren. Und auch das thut nicht weniger not. Aber der künftige Sieg unsers Glaubens, die Wiedereroberung des arbeitenden Volkes für ihn, ruht nicht in dieser apologetisch-wissenschaftlichen Arbeit, in dieser Vermählung der alten Heilswahrheiten mit den neuen Erkenntnisformen allein, sondern ebenso sehr in der Kraft frommer Persönlichkeiten, die den zweiten, den Thatbeweis für die Wahrheit des Christentums führen, den vor allem die Arbeiter -- ich erinnere an einige im sechsten Kapitel mitgeteilte Gespräche -- erst fordern, ehe sie wieder glauben zu können vorgeben. Christliche Persönlichkeiten aber wachsen allein auf dem Boden der kleinen lebendigen Gemeinde. Sie zu schaffen ist darum heute eine soziale Notwendigkeit. Daß sie in jenem Vororte, wo ich Arbeiter war, seit Jahren gefehlt hatte und nur erst wieder in den leisesten Anfängen vorhanden war, daß die Arbeitsgenossen dort wie verlassen in der Mitte einer fast toten kirchlichen Gemeinschaft dahin lebten, daß sie keinen moralischen Halt, keine Stütze, keine Hilfe in ihr fanden, ja daß sie sie überhaupt nicht mehr fanden und suchten, das machte sie noch viel weniger widerstandsfähig gegen die Angriffe der Gegner, als sie es ohnehin schon waren, das vor allem ließ ihnen den Glauben an irgend welchen +praktischen+ Wert des Christentums für ihr leeres Leben gänzlich verlieren. Aber ich brauche für den Gemeindegedanken nicht noch mehr Worte zu machen: er steckt heute schon in allen Köpfen, und seine Verwirklichung ist allenthalben auf den besten Wegen. Was wird das einst in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren für eine Freude sein, wenn auch die Großstädte nur kleine Gemeinden von 5-8000 Seelen haben, wenn überall in ihnen frisches Leben pulsiert, wenn die Predigt und die Seelsorge wieder bis in jedes Haus sorgsam hineingetragen, wenn sie getragen und mitgeübt wird von einer zahlreichen Schar begeisterter frommer Laien aller Stände, aber gleicher, edler, heiliger Gesinnung, und wenn in ihr alle Werke der Liebe und Barmherzigkeit an den Armen, Kranken und Schwachen werden gethan werden. Dies ist keine Utopie, wie Bebels freilich wohl ehrlich geträumter Zukunftsstaat: das ist nur eine Frage der Organisation, an die heute bereits Hand angelegt ist, und die Schritt für Schritt ihrer Vollendung entgegen geführt wird. Und wenn dann die Verhetzten, die Verschüchterten, die Gleichgiltigen, die Spötter verwundert aufsehn und uns fragen werden: Aus was für Kraft thut ihr das? so werden wir antworten wie die ersten Christen: In der Kraft Jesu von Nazareth! und werden auch die neuen Heiden überwinden. Eines aber wird auch diese Zukunftsgemeinde nicht vermögen: die Nöte beiseite zu schaffen, die aus den großen, jetzt kranken wirtschaftlichen Zusammenhängen stammen. Die innere Mission, in jenes Gemeindeleben zum größten Teile organisch eingefügt, kann nur die Wunden waschen, die Schmerzen lindern, die die Anzeichen einer schweren Krankheit des ganzen Volkskörpers sind. Diese Krankheit selbst aber kann sie nicht verhindern, hat sie bisher kaum in ihrem Wesen erkannt. Diese Arbeit hat für die evangelische Kirche ein andres, das junge Unternehmen des Evangelisch-sozialen Kongresses zu thun. Ich schreibe an dieser Stelle von ihm nicht in offizieller Eigenschaft, als sein Generalsekretär. Ich schreibe hier, wie ich mir persönlich am liebsten und ausführbarsten seine Zukunft denke. Ich glaube, der Evangelisch-soziale Kongreß hat eine doppelte Aufgabe. Seine Waffe ist die Ethik des Evangeliums. Mit ihr soll er rücksichtslos, offen und ehrlich, ohne Ansehen der Partei oder Person Kritik üben an den Zuständen unsrer Tage; er soll darüber wachen, daß diese sittlichen Grundsätze des Evangeliums in den sozialen Neugestaltungen unsrer Zeit nicht abermals unberücksichtigt bleiben, und nicht abermals nur materielle Interessen ausschlaggebend werden; er soll die führenden und gebildeten, auch die leitenden industriellen Kreise, wenn nicht anders so durch den Druck der öffentlichen Meinung zwingen, daß das gesamte Wirtschaftsleben künftig auch als um der Menschen willen vorhanden angesehen wird, die, wie vor allem die Arbeiter, von ihm abhängig sind; und er soll dafür sorgen, daß auch die industriellen Werke allmählich Stätten werden, an denen alle, die in ihnen beschäftigt sind, nicht nur ihren ausreichenden Unterhalt, sondern auch innere Befriedigung und einen zweckvollen, sittlich fördernden Lebensberuf finden. So wird er in der That eine evangelisch-soziale, eine sozial-ethische Instanz werden, deren Gewicht der Staat und die gesetzgebenden Körperschaften künftig werden ebenso berücksichtigen müssen, wie beispielsweise den Zentralverein deutscher Industrieller und die sozialdemokratische Reichstagsfraktion. Aber der Kongreß hat meines Erachtens, indem er jener eben geschilderten Verpflichtung gerecht wird, noch eine zweite Aufgabe zu erfüllen: er hat der Kirche, ihren Organen und Dienern die wahren Quellen der materiellen Not, d. i. die wirtschaftlichen Zusammenhänge aufzudecken, hat ihnen das Auge für diese wirtschaftlichen Probleme zu öffnen und ihnen zu zeigen, daß auch diese Probleme bei aller kirchenregimentlichen, kirchlich organisatorischen und seelsorgerlichen Thätigkeit künftig zu berücksichtigen sind. Der einzelne Geistliche vor allem soll sich auf den jährlichen Kongressen die Kraft und die Fähigkeit holen, seine Gemeinde und die Verhältnisse ihrer einzelnen Glieder auch einmal unter diesen wirtschaftlichen Gesichtspunkten anzusehn, ihre Notstände zu untersuchen, deren Einflüsse auf den sittlichen und religiösen Charakter seiner Pfarrkinder zu verstehen, diese mit ihren angesehenen Gliedern in dem seelsorgerischen Umgang, den er mit ihnen hat, zu besprechen und auch ihnen den Blick für diese Zustände zu erschließen und das Bewußtsein der Verantwortung zu wecken, damit auch sie an ihrem Teile, in ihrem öffentlichen wie Privatleben eine ernste soziale Gesinnung bethätigen. Erfüllt der Evangelisch-soziale Kongreß diesen doppelten Beruf, so hat er eine hohe Mission, so ist auch er ein Machtmittel, um das der evangelischen Kirche gesteckte Ziel endlich doch zu erreichen: +die Erziehung, die Veredlung, die Christianisierung der heute noch wilden, heidnischen Sozialdemokratie, und die Vernichtung ihrer widerchristlichen materialistischen Weltanschauung+. Druck von Carl Marquart, Leipzig. *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DREI MONATE FABRIKARBEITER UND HANDWERKSBURSCHE *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™ electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your possession. 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The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws. The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate. While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate. Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our website which has the main PG search facility: www.gutenberg.org. This website includes information about Project Gutenberg™, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.