Title: Wenn Landsleute sich begegnen, und andere Novellen
Author: Jassy Torrund
Release date: January 7, 2019 [eBook #58641]
Language: German
Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert.
Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches.
und andere Novellen
von
Jassy Torrund
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Übersetzungsrecht vorbehalten
Nie in ihrem ganzen Leben war Leonie Wilten so grenzenlos überrascht und enttäuscht gewesen – und dennoch nicht ohne das Gefühl einer leis und heimlich aufzuckenden Freude, wie an jenem Frühlingsabend, wo die Großeltern, von ihrem gewohnten Spaziergang heimkehrend, ihr den ins Haus geschneiten Gast vorstellten.
Die beiden Gäste vielmehr: den Dr. med. Erdmann und dessen Schwester, die mit eigenem Automobil in der Kreisstadt waren und auf dem Heimweg, weit draußen auf der Chaussee, eine gründliche Panne erlitten hatten.
Großvater Neuhaus, der alte Automobilhasser, der alle Welt und den alle Welt kannte, war mit halb schadenfroher Neugier hinzugetreten und hatte im Dämmern des Märzabends den ihm flüchtig bekannten Arzt eines weitentlegenen Kirchdorfes erkannt und ihm ohne Besinnen Hilfe und Unterstand angeboten. Beides hatte Dr. Erdmann dankend angenommen und mit Hilfe von ein paar Arbeitern das verunglückte Vehikel in Großvaters Schuppen geschleppt. Er hatte dann um Wagen und Pferd nach Hause telephoniert, sich ein wenig gesäubert – denn er und Lieselott, seine Schwester, hatten schon eine halbe Stunde angestrengt und im Schweiße ihres Angesichts über dem widerspenstigen Auto gearbeitet, ehe Hilfe kam – und nun[4] erschienen die beiden späten unerwarteten Gäste im hellen behaglichen Speisezimmer von »Haus Friede«, wo der gedeckte und mit großem Schneeglöckchensträußen geschmückte Abendtisch schon bereit stand. Sie wurden dem Haustöchterchen und ihrem Vetter Luz Neuhaus vorgestellt und erzählten in lebhaftem Durcheinander, lachend und scheltend, ihr Abenteuer. Vor drei bis viertehalb Stunden konnte der Einspänner mit dem braven Füchslein, das schon so oft die Sünden des eigensinnigen Schnauferls gutmachen mußte, nicht da sein. Man hatte also vollauf Zeit, recht bekannt und vergnügt miteinander zu werden. Improvisierte Feste sind oft die allergelungensten, und dieser ins Haus geschneite Abendbesuch war im wahren Sinne des Worts ein Fest für die sehr einsam lebende Familie des großen Ziegeleibesitzers.
Der kleine Unfall brachte die bisher einander Fremden schnell und zwanglos nahe, und das Gespräch glitt leichtbeschwingt vom Hundertsten ins Tausendste. Man grub gemeinsame Beziehungen aus, erzählte die neuesten Anekdoten und Varietéwitze, lachte und plauderte, und während all dieser Zeit zerbrach Leonie Wilten sich den feinen klugen Kopf, wann und wo sie diesen Dr. Erdmann mit der langen weißen Narbe über Stirn und Schläfe schon gesehen hätte. Denn eben diese Narbe haftete zäh und fest in ihrer Erinnerung, die mußte sie schon einmal im Leben gesehen haben, nur daß sie damals viel breiter und noch frisch und rot war, während sie jetzt wie ein schmaler weißer Strich über das sonnverbrannte Gesicht des Landarztes lief. Aber wann? aber wo?
Lieselott Erdmann beschrieb mit drolliger Empörung und fast dramatischer Anschaulichkeit eine der[5] zahlreichen Pannen, die sie und ihr Bruder im letzten halben Jahr, seit er glücklich-unglückseliger Autobesitzer war, erlitten hatten. Zerstreut hörte Leonie zu, während unter der Schwelle ihres Bewußtseins beständig die Frage bohrte: Wann? wo? – als wenn den tiefsten Hintergrund ihres Hirns ein undurchdringlicher Vorhang verhüllte, den sie trotz aller Mühe nicht imstande war zu lüften. Jeder weiß, wie aufreizend und gedankenabsorbierend solch vages Erinnern ist – und nur höflichkeitshalber warf Leonie die Frage dazwischen: »Also um ein einziges kleines verlorenes S–tiftchen?«
Es passierte ihr sonst selten, daß sie den scharftrennenden St-Laut der nordwestlichen Provinzen, den halbvergessenen Dialekt ihrer Heimat, anwandte, und Dr. Erdmann, der soeben den beiden Herren eine flüchtige Skizze der neuesten Bremsvorrichtung für Bergfahrer aufzeichnete, wandte sich überrascht um.
»Sie sind doch wohl keine Hiesige, gnädiges Fräulein?«
»Meine Enkeltochter ist in Schleswig-Holstein geboren – bitte weiter, lieber Doktor!«
Die Aufforderung des alten Herrn blieb unbeachtet.
»Dann sind wir ja beinah' Landsleute! – ich bin nämlich ein Oldenburger Kind,« rief der Doktor erfreut.
»Landsleute!«
Das war's. Wie auf ein Stichwort zerriß der Vorhang in Leonies Hirn von oben bis unten – und ein kleines, längstvergessenes Erlebnis der Vergangenheit schob sich mit einem Ruck erlöst und lebendig in den Vordergrund.
Tief atmete sie auf und ward im selben Moment wie mit Blut übergossen.
So sah der Mann aus, ihr Helfer und Erlöser aus banger Not? – ihr ritterlicher »Landsmann«, den sie einst im fernen fremden Lande getroffen und der sie …
Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende, alles Blut ebbte zum Herzen zurück und das war der Moment, wo sie die große Enttäuschung empfand.
Jahrelang hatte sie auf ihn gewartet, ihn wiederzusehen gehofft, den Helden ihrer Backfischträume, ihren Lohengrin, ihren Gralsritter, kühn und zart zugleich, den idealschönen schlanken Jüngling mit der blutroten Narbe auf der weißen Stirn und dem weichen blondgelockten Haar, das ihm das Aussehen eines Dichters gab – und nun dieser wohlbeleibte Vierziger – dafür taxierte sie ihn – mit fast kahlem Schädel und dem lebemännisch gestutzten Prinz Heinrich-Bart – ein und derselbe – diese beiden so himmelweit verschiedenen Köpfe!
Und dennoch – wenn sie näher zusah – ja, die Augen waren noch dieselben: braun, mit einem goldig aufleuchtenden warmen Schimmer und jenem undefinierbaren Ausdruck, der sie ihr einst so lieb und unvergeßlich gemacht. Und dann die Narbe – und die Landsmannschaft!
Aber Leonie wollte ganz sicher gehen.
Nachdem der Großvater noch einiges gefragt und Dr. Erdmann beiläufig erzählt hatte, daß er in Breslau und Greifswald studiert und nach bestandenem Staatsexamen zufällig den erkrankten Landarzt in Groß-Lutschine vertreten hätte, um nach dessen Tode halb wider Willen seine Praxis zu übernehmen und[7] so in diesem verlorensten Winkel der Mark Brandenburg hängenzubleiben. Er, dessen Wünsche und Hoffnungen eigentlich immer auf die Universitätskarriere gerichtet waren, seit Jahren nun schon hier ansässig und so eins geworden mit seinem Beruf und dem Landleben, daß er seine hochfliegenden Pläne längst verschmerzt hatte – warf Leonie heuchlerisch die Bemerkung hin: »Schade nur, daß die Gegend hier gar so flach und reizlos ist – wenn's wenigstens Hügel und Seen gäbe wie daheim! Oder Berge wie in Schlesien – Sie kennen das schlesische Gebirge wohl nicht?«
»O doch, ich kenne beides: das Riesengebirge wie die Sudeten. Einen großen Teil meiner Universitätsferien verlebte ich bei einem Jugendfreunde meines Vaters in Mittelwalde. Na ja – Berge sind ja ganz schön und nett, um drauf herumzukraxeln – aber für einen Schnauferlbesitzer und Landdoktor ist halt doch das Flachland das bequemste Terrain – und Heide und Kiefernwald haben auch ihren Reiz,« sagte er heiter, und wieder gab das Lächeln seinem stark gewordenen Gesicht mit den schlaffen Zügen etwas Jugendliches, denselben treuherzig liebenswürdigen Ausdruck von einst, dessen Leonie sich so gut, ach! so gut erinnerte.
Und wieder, wie im Lustspiel, war das richtige Stichwort gefallen: Mittelwalde.
Kein Zweifel – er war's!
Mein Gott, wie das alles lebendig wurde! Wie die alten Zeiten heraufstiegen, beschworen von dem einzigen Wort: Landsleute!
Aber nicht jetzt, während Leonie sich unterhalten und die Pflichten des Haustöchterchens wahrnehmen[8] mußte, hatte sie Zeit, ihren Gedanken Audienz zu geben und längstvergessene Blicke und Worte aus der Tiefe ihres Erinnerns heraufzubeschwören. Erst spät in der Nacht, als das brave Füchslein »Wittkopp« den Dr. Erdmann und seine Schwester abgeholt und beide das Versprechen eines baldigen Gegenbesuches in Groß-Lutschine mitgenommen hatten – und als Leonie allein in ihrem Zimmer am Fenster stand und in die tiefe Finsternis der Märznacht hinausstarrte, zogen wie in einem Kaleidoskop die Bilder der Jugendzeit an ihr vorüber.
Damals – vor fünfzehn oder sechzehn Jahren, hatten die guten Nönnchen von Mariahilf noch ziemlich unklare Begriffe übers Reisen, kannten ein Kursbuch wohl nur vom Hörensagen, und wenn die Klostermädel in die Ferien fuhren, brachte Verondl, die alte »weltliche« und ach! so rührend weltungewandte Bonne sie zur Bahn, löste jedem ein Billett, und nun: Fahrt zu in Gottes Namen! Und legte den Ausgelassenen der guten kleinen Mater Helenens Abschiedswort noch einmal dringend ans Herz: »Daß ihr mir unterwegs aber brav den Rosenkranz betet und hübsch gesittet die Augen niederschlagt, und um Jesu und aller lieben Heiligen willen mit keinem fremden Menschen anbändelt!«
Die übermütigen jungen Dinger, selig ihrer Freiheit, quiekten vor Wonne und pfefferten ihre zahmen Tauchnitzbände, die erlaubte Reiselektüre, ins Gepäcknetz und der Rosenkranz blieb zutiefst in der Tasche stecken. Statt dessen frisierten sie sich alsogleich im Coupé wechselseitig nach der neusten Mode und der Devise: je toller, je besser – und erzählten einander heiß und eifrig ihre kleinen Schulmädelerlebnisse und[9] die wundersamsten Geschichten von harmlosem vetterlichen Flirt.
So fuhren einmal ihrer acht oder neun, jede mit ihrem Billett in der Tasche, aber allesamt nur mit einem einzigen für alle acht oder neun Reisekörbe gültigen Gepäckschein versehen – Verondl expedierte bequemlichkeitshalber alles Gepäck in Bausch und Bogen – nach Kamenz, dem großen mittelschlesischen Knotenpunkt. Dort trennten sich ihre Wege, einige wurden hier schon abgeholt, andere mußten noch mit der Post weiter. Der ältesten, einer angehenden Seminaristin, waren die jüngeren alle anvertraut.
Leonie fuhr zu ihren Großeltern in die Grafschaft Glatz. Daheim in Neustadt war just ein Brüderchen zur Welt gekommen, und die Mama brauchte Ruhe und Schonung. Damals hatte Großvater noch die Pachtung Charlottenhof, erst viel später kaufte er die große Ziegelei im Brandenburgischen, die ihn zum reichen Manne machte.
Großmama hatte geschrieben: »Du nimmst dir ein Billett bis Wartha, so weit geht jetzt die neue Bahn, die letzte Strecke mußt du mit der Post fahren, und in Glatz holt dich der Wagen ab.« Aber an Verondl schienen alle Fortschritte der Kultur spurlos vorüberzugehen, in konservativem Eigensinn und weltfremder Ahnungslosigkeit beharrte sie bei ihrer Meinung: »Papperlapapp – was die Grafschafter Mädel sein, die sein noch allemal bis Kamenz gefahren, so wird es auch diesmal wohl stimmen,« und also lautete auch Leonies Billett wie das der andern nur bis Kamenz, und ihr Gepäck wurde gleichfalls bis dorthin expediert.
Station Kamenz. Hu, war das ein Hasten und Drängen auf dem großen Bahnsteig, Stoßen und[10] Werfen mit Koffern und Körben, ein Schreien von Schaffnern und Kellnern, Kommen und Gehen von Zügen – den Klostermädeln wurde himmelangst. Aber die Seminaristin wußte Rat: »Kommt nur, jetzt trinken wir erst mal gemütlich Kaffee, und ich besorg' euch derweil die Postbilletts. Gebt mir alle eure Portemonnaies.«
Ihrer vier saßen um den Kaffeetisch, die übrigen waren schon von ihren Leuten in Empfang genommen – da stürzte die Älteste wie eine erschreckte Henne auf ihre Küchlein los: »Jesses, Leonie, du mußt augenblicklich weiter, dein Zug geht ja bis Wartha! Da steht er zum Glück noch – fix, fix!«
Und Leonie lief, daß ihr die kurzen Röcke um die Beine flogen, der Schaffner packte und schob sie ins erste beste Coupé – ein Pfiff, ein Ruck – der Zug ging ab. Neben ihm her rannte die Seminaristin: »Leonie, Leonie, wohin soll ich dir denn deinen Korb nachschicken?«
»Charlottenhof bei Glatz,« schrie Leonie zurück – dann verschwand das letzte bekannte Gesicht – Büsche, Bäume, Häuser flogen an ihren Augen vorüber – sie wandte den Blick und sah sich unter lauter fremden Menschen, noch dazu lauter Herren – o Schreck und Entsetzen! – der Schaffner hatte die Verspätete Hals über Kopf ins Rauchabteil geschoben.
Was würden die Schwestern sagen, wüßten sie dies! Zagend hob das erschrockene Klosterkind die Augen – alles nur fremde ernsthafte Gesichter, die sie gleichgültig anstarrten oder ihre Zeitung lasen – bloß ihr gegenüber ein hübscher blondhaariger junger Mensch, der halb lächelnd, halb neugierig auf sie schaute. Sie blickte an sich nieder – da saß sie, hochrot, atemlos, zusammengekauert wie ein Häuflein[11] Unglück, in der einen Hand ihren Schirm und das krampfhaft geballte Taschentüchlein, mit dem sie wohl eben noch ein erschrockenes Tränchen abtupfen gewollt, in der andern ihr Billett, das die Seminaristin ihr im letzten Augenblick zwischen die Finger gedrückt hatte. Sie griff in die Tasche, um es ins Portemonnaie zu stecken – Herrgott, die war ja leer, nichts drin als der Rosenkranz, der verräterisch klimperte, als wolle er sich für das Vergessensein rächen. Sie wurde noch röter und heißer vor Schreck, wie mit Blut übergossen – mit weitaufgerissenen entsetzten Augen starrte sie ihr freundliches Gegenüber an: Jesus Maria, ihr Portemonnaie war fort – sie hatte keinen Pfennig Geld bei sich! Wovon um Himmels willen sollte sie ihr Postbillett bezahlen? Hier im fremden Lande, wo sie keine Menschenseele kannte, wo sie ganz allein und verlassen war?
Sie stürzte ans Fenster – weit, weit dahinten lag das Kamenzer Schloß – näher und näher rückten die unbekannten Berge, auf die sie sich so grenzenlos gefreut hatte, und die sich jetzt auf sie zu stürzen, ihr das Herz abdrücken zu wollen schienen. Sie bückte sich, suchte auf dem Boden, riß ihren Schirm auf, schüttelte das Taschentüchlein auseinander – nichts – nichts! Und nun entsann sie sich schreckensvoll deutlich: Dora Dunker, die Seminaristin, hatte ihr das Portemonnaie ja überhaupt nicht wiedergegeben, hatte in Angst und Eile wohl selber darauf vergessen.
Lieber Gott – ach lieber guter Gott, was nun?!
Die arme kleine Dreizehnjährige, die zum erstenmal in ihrem Leben allein auf Reisen war, vergaß alles Selbstbewußtsein ihrer »höheren Töchterwürde« und brach in Tränen aus. Sie weinte fassungslos,[12] lautschluchzend, wie Kinder weinen. O wenn Mama und Papa dies wüßten, wie's ihrem Kinde in der weiten wildfremden Ferne ging! Das Heimweh überwältigte sie und preßte ihr das Herz zusammen.
Erstaunt blickte einer oder der andere auf das weinende Kind, jemand redete sie an, in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand. Fast alle Insassen des Abteils waren Russen oder Polen, die in die schlesischen Bäder reisten.
»Warum weinen Sie, Fräulein – Fräulein Leonie?« fragte plötzlich eine freundliche Stimme. Der junge Mann ihr gegenüber beugte sich weit vor, seine Stirn mit der blutroten Narbe, seine treuherzigen braunen Augen waren dicht vor ihrem Gesicht. Sein lockiges Haar fiel ihm über die Stirn, er strich es hastig zurück und wurde rot wie ein Mädchen. Das kleidete ihn gut und gab der schüchternen kleinen Pensionärin Mut, ihm zu antworten. In stockenden Worten vertraute sie ihm ihr großes Unglück an.
Er lachte hellauf und legte die Hand beruhigend auf ihren Arm. »Wenn's weiter nichts ist!« sagte er leichthin, »das Billett von Wartha nach Glatz kostet einen Taler, den borg' ich Ihnen mit dem allergrößten Vergnügen.«
Leonie atmete auf. O wie dankbar war sie ihrem jungen Retter! Wie ein Heiland kam er ihr vor, einer, der sich ihrer Not erbarmte hier unter all den fremden Leuten, die nicht mal ihre Sprache verstanden.
In Wartha besorgte er ihr richtig ein Billett und brachte ihr außerdem noch ein großes Glas Limonade. Wie gut die schmeckte nach der heißen staubigen Fahrt!
»Hier bauen sie jetzt den großen Tunnel für die Eisenbahn,« sagte er. »Wir aber fahren noch mit der[13] Postkutsche über den Berg ins Glatzerländchen hinein – es lebe die Romantik, die nun bald tot und begraben sein wird – schade!«
Wie hübsch das klang! Es erinnerte sie an die Literaturstunde bei der klugen lieben Mater Theresia – ach, wenn sie selber nur auch irgend etwas Kluges und Schönes hätte sagen können! Statt dessen sagte sie ganz prosaisch: »In Glatz holt mich sicher der Großpapa ab, da kann er Ihnen gleich den Taler wiedergeben. Wenn nicht …«
»Hole ich ihn mir selbst in Charlottenhof,« sagte er lustig. »Ich hab' ja Ihre Adresse gehört, als Sie einstiegen, Sie sind mir also ganz sicher.« Und beide lachten. O himmlische Ferienzeit!
Leonie war noch niemals mit der Post gefahren, es dünkte sie herrlich, der Postillon blies: »So leben wir, so leben wir alle Tage …« und die Köpfe von dem dicken Ehepaar gegenüber stießen unsanft aneinander, als die gelbe Kutsche über das vorsintliche Straßenpflaster hinausstolperte.
Leonie und ihr ritterlicher junger Freund saßen rückwärts, und er erzählte ihr dies und das. Namensnennung erschien allen beiden wohl als unnütze und überflüssige Zeremonie, genug, daß sie wußte, er studierte in Breslau Medizin und führe zu einer Silberhochzeitsfeier nach Mittelwalde. Auf der Rückreise wollte er sie dann vielleicht in Charlottenhof besuchen. Ach, wenn er's nur täte! Sie hoffte brennend, daß Großpapa sie nicht selber abholen und ihr junger Freund somit nach Charlottenhof kommen müsse, um sich seinen Taler wiederzuholen.
Daß sie ein Klostermädel sei, brauche sie gar nicht erst zu sagen, hatte er lachend gemeint. Das säh' man[14] ihr ja auf zehn Schritt Entfernung an. Aber das möcht' er grad besonders gern leiden!
Bis jetzt hatte Leonie in anerzogener Schüchternheit noch nicht viel gesprochen, allmählich aber taute sie auf, wurde lebhafter und stach mit ihren heimatlichen spitzen S-t und S-p lustig in der deutschen Sprache herum. Da fragte er: »Sie sind doch gewiß aus Hannover, Fräulein Leonie?
»Nein, aus Neus-tadt in Hols-tein.«
»Aber da sind wir ja Landsleute!«
»Nein, wie reizend!« rief sie erfreut. »Haben Sie es gleich gemerkt?«
»Auf der S-telle,« kopierte er.
»Aber Sie s-prechen doch gar nicht so?«
»Ich hab' mir's leider schon abgewöhnt.«
»Ach, das sollte ich ja auch, Mère Angèle sagt mir alle Tage, es klänge so abscheulich affektiert – aber ich kann's doch nicht!« klagte Leonie und flog mit ihrem Kopf gegen seine Schulter, weil die Postkutsche plötzlich anhielt. Der Postillon öffnete den Schlag: »Wollen die Herrschaften vielleicht aussteigen? Itze kimmt nämlich dar gruße Berg.«
Ächzend krochen die zwei Dicken heraus. Leonie wollte ihnen folgen, da hielt jemand ihre Hand fest. »Nein, bitte, bleiben Sie doch, Fräulein Leonie! Wir haben unser Billett ehrlich bezahlt und wir zwei sind ja so schlank und dünn, uns spüren die vier Postgäule gar nicht.«
Leonie guckte hinaus, richtig schirrte der Postillon zwei kräftige Vorspannpferde vor seinen Wagen, vierspännig fuhren sie den Berg hinauf – das war Leonie in ihrem ganzen Leben noch nicht passiert! Mit einem wohligen kleinen Seufzer sank sie ins[15] Polster zurück und der Wagen ratterte langsam bergan.
»Jetzt wird's erst gemütlich,« sagte ihr junger Beschützer. »Erzählen Sie mir von zu Hause, Fräulein Leonie – ist's da hübsch?«
Sie dachte, er müsse es doch eigentlich selber wissen, wie hübsch es in Holstein sei, aber sie genierte sich, ihn zu fragen, aus welcher Gegend oder Stadt er stamme, und erzählte von der holsteinischen Schweiz und den Seen, von der Ostsee und dem weißen Strande und den kühlen Buchenwäldern ihrer Heimat. Er hörte still zu und sah sie mit seinen schönen guten Augen an – und dann auf einmal sagte er: »Ich freue mich doch zu sehr, daß wir zwei Landsleute uns hier in der Fremde getroffen haben!«
»Ach ja,« erwiderte Leonie und seufzte tief auf – »was hätt' ich wohl anfangen sollen ohne Sie?«
Und wieder sah er sie an, sein Blick ging wie eine Liebkosung über sie hin, sie dachte: ob sie ihm wohl ein klein bißchen gefiele? und fühlte sich stolz und beseligt in dem Gedanken.
»Wissen Sie auch, was zwei Landsleute tun müssen, wenn sie einander in der Fremde begegnen?« fragte er.
»Nein,« sagte das arglose Klosterkind und blickte ihm mit großen fragenden Augen ins Gesicht. Er lächelte unmerklich und beugte sich etwas vor.
»Sie müssen sich einen Kuß geben,« sagte er ernsthaft.
Dem armen Kinde wurde schwül und angst, aber gleich darauf sonderbar feierlich zumute.
»Müssen sie das wirklich? Ach nein!« meinte sie ungläubig. Dies war eine schwere und wichtige Sache – ach, wenn nur eins von den ältern[16] Mädeln dagewesen wäre und ihr gesagt hätte, was sie tun solle!
»Es ist ein alter heiliger Brauch!« sprach er von der erhabenen Höhe seiner zwei- oder dreiundzwanzig Jahre herab und nickte ihr ermunternd zu. »Sonst hat man sein Vaterland nicht richtig lieb!«
Ach – sie und ihr liebes Holstenland, ihre Heimat, nicht liebhaben? Hatte sie nicht eben erst davon geschwärmt und sich mit Sehnsucht daran erinnert, wie schön und herrlich es dort in den grünen rauschenden Buchenwäldern sei?
»Also bitte – liebe kleine Landsmännin!« drängte er.
»Ja, wenn es denn sein muß« – ergeben faltete sie ihre Hände, sein feierlicher Orakelton wirkte hypnotisierend, sie ward ganz willenlos und litt es geduldig, daß er sich herüberbeugte und sie küßte. Sehr leise und sanft, sie spürte den Hauch und Druck seiner Lippen und das komische Kitzeln seines kleinen weichen Schnurrbärtchens – und schloß die Augen.
Das war so süß, so feierlich! Ach, es war doch eine reizende Sitte, daß sich zwei Landsleute in der Fremde einen Kuß geben mußten!
Ein klein wenig befangen waren sie nachher aber doch alle beide, nur hin und wieder fiel ein Wort, wie traumverloren – und fast wie eine Erlösung dünkte es Leonie, als die zwei Dicken auf der Höhe des Warthaberges wieder einstiegen. Was die nur hatten, und weshalb die Frau ihr so strafende Blicke zuwarf? Ob sie etwas gemerkt hatten von dem Kuß? Sie zuckte die Achseln und warf die Lippe auf, recht wie ein kleines schnippisches Schulmädel: Pöh – was wußten die von der Landsmannschaft und dem wunderhübschen Brauch? Verstohlen guckte sie ihren Freund[17] an – der nickte ihr zu. Wie himmlisch war's, so ein kleines, heimlich süßes Geheimnis zu haben! Wovon kein Mensch etwas wußte – das sie später nicht mal der guten Großmama beichtete. Von der Hilfe ihres freundlichen Landsmannes und dem geliehenen Taler erzählte sie wohl – von dem Landsmannschaftskuß nicht ein Sterbenswörtchen.
Der Abschied war kurz und herzlich. In Glatz wartete schon Großvaters alter Johann Nepomuk, der sie nach Charlottenhof holen sollte. Großvater war bei der Heuernte und Großmama hatte sich den Fuß verstaucht, so daß keines von beiden abkommen konnte. Und Leonie freute sich dessen wie ein Schneekönig, ihr junger Freund hatte hoch und heilig versprochen, sie in längstens drei Tagen in Charlottenhof zu besuchen. Fröhlich riefen sie einander »Auf Wiedersehn« zu, er stand und schwenkte sein buntes Mützchen und Leonie blickte sich wohl hundertmal nach ihm um.
Er war nie nach Charlottenhof gekommen.
Auch nach acht Tagen, auch nach vier Wochen nicht. Leonie sah ihn niemals wieder.
Bis heute! Und nun hätte sie weinen mögen, wie ein Mensch sich so verändern konnte. War das der schlanke schöne Jüngling von einst, der damals die sterbende Romantik der Bergpost beklagt? Derselbe, der ihr so ritterlich beigestanden, der sie so zart und andächtig auf die Lippen geküßt hatte? Dieser behäbige Landdoktor, der im Automobil in der Welt umherkutschierte und aussah, als hätte er in seinem Leben schon ungezählte Liebeshändel angebändelt und ungezählte Mädchenlippen geküßt? Dessen Devise wohl auch, wie bei den meisten, Wein, Weib – Pläsier war – so wenigstens sah er aus! Wie einer, dem[18] von seiner Jugend und vom Idealismus seiner Jugend keine Spur mehr geblieben ist.
Und der das kleine Klostermädel, das er einst in übermütiger Laune geküßt, bis in den Tod vergessen hatte!
Die Scham brannte in ihrem Herzen und mehr noch der Schmerz – ein so wunderlich heißer Schmerz, um so unbegreiflicher, als sie selbst doch seit Jahren nicht mehr an das kleine Erlebnis ihrer Jugend gedacht hatte.
Aber damals – damals – –!
Was wir Jahr um Jahr liebevoll und andächtig mit uns herumgetragen, das wächst uns unmerklich ans Herz, bleibt uns heilig, und würden wir auch alt wie Methusalem – und rüttelt eine unberufene Hand daran, tut's uns weh, und wir spüren dann erst, wie tief und fest die Erinnerung saß.
All die Jahre, wo sie ihn nicht vergessen konnte, wo sie bei Tage an ihn gedacht und nachts von ihm geträumt, standen wieder auf wie Tote, die aus ihrer Gruft gerufen werden, um Zeugnis zu geben. Die langen Ferienwochen, wo ihr kleines sehnsüchtiges Herz von einem Tag zum andern gehofft und gewartet; frühmorgens freudig den jungen Sommertag begrüßte: Heut kommt er, heut kommt er ganz gewiß! – und abends vor sehnsüchtigem Klopfen und bitterster Enttäuschung keine Ruhe in Großmutters schneeweißem weichen Gastbette fand.
O, über das erste holde Erwachen der jungen Seele, wo sie noch ahnend und unbewußt ihre Flügel regt; wo ein Blick zum Erlebnis, ein Wort oder Kuß zum welterschütternden Drama wird! Und dies alles, dies erste Aufwachen, dies zagende Sicherschließen der[19] Knospe war mit ihm verknüpft – o wie teuer, wie über alles teuer war er damals ihrem Herzen!
Sie dachte an die Jahre in der Pension, wenn die Klostermädel einander ihre kleinen Ferienerlebnisse anvertrauten; wo ihre eigenen allerschönsten Geschichten immer mit dem Satz begannen: »Als ich zu den Großeltern in die Ferien fuhr …« Aber von dem Kuß nie ein einziges Wort! Das war ihr alleiniges, ihr heiliges und süßestes Geheimnis, von dem selbst ihr Beichtvater, der alte liebe Pater Regens, nichts erfuhr. Küssen war doch keine Sünde? Die Großen taten's ja alle, und beichten brauchte man das wahrlich nicht! Und Er wollte ja kommen, er wußte doch, daß sie bei den guten Nönnchen in Mariahilf war – und er mußte ganz sicher einmal kommen, hatte er's nicht versprochen? Und hatte er sie nicht geküßt?
Heimlich sparte sie sich Groschen für Groschen von ihrem Taschengelde ab, und als sie nach einem Vierteljahr – während dessen sie kein einziges Mal zum Konditor gegangen war, sich nicht eine seidene Zopfschleife gekauft und immer die weggeworfenen Federn der andern heimlich aus dem Papierkorb »geklaubt« hatte, um nur ja jeden Pfennig zu sparen – endlich so viel beisammen hatte, wechselte sie das Kleingeld um und trug ihren Taler immer bei sich, ganz blitzblank gerieben und in ein blauseidenes Säckchen eingebeutelt, damit sie ihn gleich bei der Hand hätte, wenn er käme.
Die achtundzwanzigjährige Leonie, die am Fenster stand und ihre heiße Stirn an die kühle Scheibe drückte – während auf dem finstern Hintergrund der mondlosen Frühlingsnacht all diese Jugendbilder licht und hell an ihrem Geiste vorüberzogen – die klug[20] und kühl und vernünftig gewordene Leonie, die alleinstehende wohlhabende Waise, die zehnmal schon hätte heiraten können und an jedem Bewerber etwas auszusetzen fand – wandte sich hastig ab, damit ihre dummen Tränen die klargeputzte Scheibe nicht trüben sollten.
Sie zündete ihr Licht an und begann sich auszukleiden. Jählings kam ihr ein wunderlicher Einfall, und ehe sie sich dessen versah, kniete sie vor ihrer Kommode und suchte im untersten Schubfach zwischen altem vergessenen Kram, welken Kotillonsträußchen und kleinen Andenken aus der Jugendzeit, nach einem eingelegten Ebenholzkästchen. Und als sie es gefunden hatte und auf das kleine Vexierschloß drückte, sprang der Deckel mit einem schwachen Laut auf – wie ein Seufzer klang's – und ein verstaubtes zerknittertes Seidenbeutelchen kam zum Vorschein. Sie zog die Schnur auseinander und mußte beinah' lächeln: da lag ihr gesparter Taler aus der Pensionszeit, der fünfzehn Jahre lang treu und pietätvoll aufgehobene!
Nun konnte sie ihn seinem Besitzer ja wiedergeben!
Und sie mußte es wohl – über kurz oder lang würden die Taler außer Kurs sein, hatte neulich jemand gesagt – und auch dieser hatte dann keinen Wert mehr.
Gedankenvoll hielt sie ihn in der Hand, den alten, alten Taler, an dem soviel süße und traurige Erinnerungen hingen. Der einst so blank geputzt gewesen – unwillkürlich griff sie nach einem Zipfel ihrer weichen Flanellmatinee und rieb und putzte an der alten Silbermünze – und mußte nun wirklich lachen. Schnell steckte sie das Beutelchen zwischen Handschuh und Schleier oben im ersten Fach, wo's ihr bequem[21] zur Hand war – bei erster Gelegenheit sollte Doktor Erdmann seinen Taler wiederhaben.
Als sie längst im Bette lag, zerbrach sie sich noch den Kopf, wie sie's anstellen sollte, ihm unbemerkt das geliehene Geld zurückzugeben.
Nun – die Gelegenheit würde sich schon finden. Sie und ihr Vetter Luz Neuhaus, Großvaters rechte Hand und dereinstiger Nachfolger, waren ja dringend eingeladen, die Geschwister Erdmann in Groß-Lutschine zu besuchen. Luz – das Lächeln ihrer Lippen wandelte sich zu einem Seufzer, wie sie an diesen Luz dachte, den smarten Geschäftsmann, den Großmutter ihr so gern zum Mann geben wollte, und den sie nicht leiden mochte; zu dem – obwohl sie ihn von klein auf kannte – sie so gar kein rechtes Zutrauen fassen konnte. Kalt wie 'ne Hundeschnauze, dachte sie, der richtige Engländer – ihr Leben lang hatte sie für die Englishmen nicht viel übrig gehabt, obgleich sie nicht viel mehr von ihnen wußte, als was sie aus den langweiligen Tauchnitzbänden ihrer Pensionszeit herausgelesen hatte.
»Lieselott, wo steckst du denn?«
Dr. Richard Erdmann kam breitbeinig in die Laube gestiefelt, wo seine Schwester sich den seltenen Genuß gönnte, ein Stündchen – das feiernde Strickzeug im Schoß, in den Journalen zu blättern.
»Komm nur, du mußt gleich Medizin machen!«
»Schon wieder mal? – Ach, du lieber Himmel!« seufzte die Schwester.
»Hilft nix, mein Döchting –« Schwerfällig ließ er sich auf einen Gartenstuhl fallen und strich seufzend mit der Hand über das bei seinen sechs- oder[22] siebenunddreißig Jahren schon bedenklich gelichtete Haupt.
»Haste Haarweh, schöner Jüngling?« fragte Lieselott mit heuchlerischem Bedauern. »Ja ja – dreie war's heut früh, als du aus dem ›Bären‹ heimkamst. Ich hab's wohl gehört.«
»Still, altes Scheusal – laß mich nachdenken. Ach – der verdammte Brummschädel!« Er zog ein paar Rezeptformulare aus der Tasche und begann seine Formeln niederzuschreiben, wobei er jedes Wort halblaut vor sich hinsprach.
»Kodeïn 0,4.«
Lieselott blickte ihm über die Hand aufs Papier.
»Ist nicht mehr da,« sagte sie ruhig. »Gestern abend das letzte verbraucht.«
»Na, dann geben wir Phenazetin – ist auch egal. 2,0 also – tut genau dieselben Dienste.«
»Nux vomica …«
»Du – nein, Richard!« Lieselott hielt die schreibende Hand fest. »Nicht Nux vomica – auch noch Medizin kochen heut zum Sonntag? Fällt mir ja im Traum nicht ein!«
Wieder rieb der Doktor seinen schmerzenden Schädel.
»Laß ihn, er ist blank genug,« sagte Lieselott hartherzig.
»Ja, – was soll ich denn sonst geben?«
Die gewandte Apothekerin schlug ein anderes Mittel vor, das nicht erst gekocht zu werden brauchte.
»Hm –« machte der Bruder nachdenklich. Dann riß er sich energisch zusammen.
»Nein, nein – das sind Weiberfisimatenten! Mit so was darfst du mir nicht kommen, das weißt du,« sagte er kurz – in diesem Punkte verstand er keinen[23] Spaß und schrieb sein Nux vomica nur desto kräftiger hin. »So –!« tief aufatmend hob er die Augen, – da saß Lieselott über ihre Zeitschriften gebeugt und kümmerte sich nicht mehr um ihn. Jetzt galt's, sie herumzukriegen.
»Lieseken?!«
Keine Antwort. Er langte über den Tisch und zupfte die Lesende derb-liebevoll am Ohr: »Jesses, jesses, was sollt' ich wohl machen, wenn du mal heiratest, altes Scheusal?«
»Dasselbe – schöner Jüngling!« gab sie prompt zurück – und las weiter.
»Geh schon und mach die Rezepte!« bat er.
»Mach du sie doch selbst, mein Lieber – hast ja ohnehin nichts zu tun. Ich will auch meine Ruh' am Sonntag.«
Er gähnte ostentativ. »Bin müd zum Umsinken.«
»Ja, vom Skaten.«
»Nee – vom Auteln. Du, Lies – das Schnauferl ist noch mein Tod.«
»Das glaub' ich selbst.«
»Sei gut, Lieserl, geh in die Apotheke!«
Seufzend stand Lieselott auf. »Du gönnst einem doch keine Sekunde Ruh'!«
Nach einer Weile kam er ihr nach in die »Apotheke.«
Da war es bei herabgelassenen Jalousien kühl und still wie in der Kirche; nur eine Fliege summte durchs Zimmer und stieß ihren dicken Brummkopf schlaftrunken gegen die Scheibe.
»Fertig?«
»Ja – gleich.«
Er zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich rittlings darauf.
»Also Sonnabend!« sprach er mit nachdenklicher Betonung und sah ihr zu, wie sie mit flinken Fingern geschickt und emsig mit der blankgeputzten Wage und den winzigen Gewichtchen hantierte und die großen weißen Porzellanbüchsen und dickbäuchigen Glasflaschen wieder in Reih' und Glied auf die Regale setzte. Weiß Gott, ein Verlaß war schon auf das Mädel, gewissenhaft und pflichttreu bis in die Fingerspitzen – keine andere würd's je so gut verstehen. Eigentlich jammerschade, daß ihr junges frisches Leben hier versauern sollte. Und wer war daran schuld? Kein anderer als er. Um seinetwillen hatte Lieselott erst neulich wieder einen Bewerber, den wohlhabenden Domänenpächter Wilpert, abgewiesen. Beinah' ein Bedauern ergriff ihn um die Schwester, die es, wahrhaftigen Gott, wert wäre, einen andern Platz im Leben auszufüllen. Für Mann und Kinder zu sorgen, glücklich zu sein und glücklich zu machen.
Statt dessen hatte er in barem, blankem Egoismus ihr junges tüchtiges Leben an sein eingerostetes Junggesellentum geschmiedet, amüsierte sich auf eigene Faust, und selbst wenn er – »ihr zulieb« wie er sagte – ein paar gute Freunde einlud, hatte sie doch nur die Last davon.
»Daß nur auch alles recht gut und reichlich ausfällt!« sagte er, die lästigen Gedanken abschüttelnd.
»Und dem Hausherrn keine Schande macht!« setzte Lieselott lachend hinzu und schloß die letzte Büchse. »Keine Angst! Tip-top von der Bouillon bis zum Mokka.« Noch einmal sprachen sie das ganze Menü durch, das für Sonnabend, wo »Doktors« eine ihrer kleinen gemütlichen Gesellschaften gaben, aufgestellt war.
»Weißt du was?« unterbrach er sie zwischen Aal und Rehrücken. »Wollten nicht Fräulein Wilten und ihr Vetter in dieser Woche kommen?««
»Ja – sie fragten an, welchen Tag es uns passe.«
»So schreib ihnen doch, sie möchten Sonnabend kommen. 's geht schon in einem Aufwaschen hin – und es macht sich besser, weißt du.«
»Hm.«
»Bist ja so einsilbig, Lieseken?«
Lieselott zuckte die Achseln. »Was soll ich groß dazu sagen? Meine Meinung kennst du.«
»'s ist wirklich 'n nettes Mädel. Und Knöppe hat sie auch.«
»Aber zum Flirten zu schade, das merke dir! Wie Unzählige hast du schon ›nett‹ und ›lieb‹ gefunden – eine sogar ›herzig‹. Ach, Dicker, wenn du doch endlich mal Ernst machen wolltest! Ich hab's manchmal so satt und der Vater wird auch alle Tage älter und brauchte mich daheim.«
»Wollen sehen, was sich tun läßt. Also schreib nur, hörst du? Sie gefällt mir wirklich recht gut. Und die Aussichten wären nicht schlecht, hör' mal. Reuter wußte gut Bescheid. Einige Sechzigtausend hat sie jetzt schon, und mindestens Vierzig kriegt sie noch mal von dem Großalten. Hunderttausend – hab' ja immer gesagt, billiger tu' ich's nicht.« Er dehnte sich – »au, mein Schädel! Ich leg' mich jetzt drei Minuten aufs Ohr, sonst halt' ich's nicht aus. Nachher auteln wir irgendwohin.«
»Fällt mir nicht ein. Und dir wär's auch besser, du bliebest daheim und brächtest mal deine Bücher in Ordnung.« Sie wollte an ihm vorbeigehen, da hielt er sie am Schürzenzipfel fest.
»Ach, süßes Schwesterherz – das tust du mir nicht an!«
»Aber sicher. Die Wochenrechnung steht nicht in meinem Kontrakt. Du hast den ganzen Sonntagnachmittag – mach dich nur drüber her.«
»Goldenes Seelchen! Komm, ich geb' dir auch 'nen Kuß!«
»Laß mich!«
Ohne weiteres nahm er sie um die Taille, zog die sich Sträubende herunter, küßte und streichelte sie und bettelte so herzbeweglich mit Mund und Blick, bis er sie glücklich herum hatte: erst autelten sie ein paar Stunden und abends holten sie gemeinsam die Wocheneintragung nach.
Wie Gott den Schaden bei Licht besah, arbeitete Lieselott abends allein über den Büchern – und der Doktor saß wie gewöhnlich im »Bären«.
So ging es nun immer.
Nicht, als ob er nicht ein gewissenhafter Arzt und beruflich völlig auf seinem Posten gewesen wäre. Im Gegenteil: nicht dran zu tippen. Er studierte eifrig seine Fachschriften und machte fast jeden Herbst in Berlin einige Kurse mit, so daß er sich beruflich immer auf der Höhe hielt. Aber das übrige drum und dran. Lieselott behauptete: eine Frau, die den Unsoliden ans Haus zu fesseln verstände und ihm seine kleine Eskapaden abgewöhnte, täte ihm nötiger als das tägliche Brot; die Schwester, in ihrer nachsichtigen Liebe, ließe ihm gar zuviel durch die Finger gehen. – Möglich, daß sie recht hatte! In philosophischen Augenblicken, die – seit »Wittkopp« durch das Schnauferl ersetzt war – jetzt sehr viel seltener kamen, sah er's auch selber ein. So auf einsamen[27] Überlandfahrten – ringsum nur Wald und Feld, nickende Ähren und schwermütig rauschende Kiefern, oder das tausendfältige Blühen der märkischen Heide, über sich den weiten blaßblauen Himmel der nordischen Tiefebene mit Vogelruf und Sonnenschein – findet der hastende Mensch noch Zeit und Sammlung, in sich selber einzukehren, und ehrlich gestand er sich: Die erste beste nehm' ich nicht – dazu hat Lieselott mich viel zu sehr verwöhnt. Eine Doktorsfrau muß Opfer bringen können. Erst recht die Frau von so einem alten ausgepichten Egoisten wie ich. Und dazu muß sie mich liebhaben, sehr lieb sogar. Aber woher nehmen und nicht stehlen?
Als tüchtiger Arzt mit ausgedehnter wohlhabender Landpraxis galt er für eine gute Partie. Und er selbst suchte eine reiche Braut. Ein Arzt, der an die Zukunft und Sicherstellung einer Familie zu denken hat, muß dies tun, sagte er sich. Und hübsch, gescheit und liebenswürdig sollte sie nebenbei auch noch sein – woher sollte da wohl – bei soviel vernünftigem Abwägen und so großen Ansprüchen – noch die Liebe kommen?
Er nahm nicht die erste beste – auch nicht die Zehnte und Zwölfte und war siebenunddreißig Jahre alt und ein eingerosteter Junggesell geworden, als er bei jener abendlichen Panne im März Fräulein Leonie Wilten kennen lernte. Gut gefallen hatte sie ihm gleich, und was er später über ihre Vermögensverhältnisse hörte, tat seinen freundschaftlichen Gefühlen erst recht keinen Abbruch.
Um Ostern hatte man sich wieder getroffen, zufällig, bei einem ersten Frühlingsausflug. Das Wetter war nach langen griesgrämigen Schnee- und[28] Regenwochen verlockend schön, die Waldhänge waren blau von Veilchen und die Amsel sang im Morgen- und Abenddämmern ihre wonnetrunkenen Lieder; die Sonne lachte, wie nur eine frühaufstehende Ostersonne Ende April strahlen und lachen kann. Kein Wunder also, daß alle Welt unterwegs war und des Doktors Schnauferl sich mit dem Landauer des Ziegeleibesitzers an einem halben Wegs gelegenen vielbesuchten Ausflugsort traf. Man improvisierte ein Picknick, sang Mailieder und pflückte Veilchen und Anemonen am sonnigen Waldhang – es wurde der gemütlichste Sonntagnachmittag, den man sich denken konnte, und Fräulein Leonie machte dem Dr. Richard Erdmann einen noch viel nachhaltigeren Eindruck als das erstemal. Als man sich spät in der Nacht trennte, nahmen Erdmanns das felsenfeste Versprechen der Neuhausschen Enkel, bestimmt im Monat Mai ihre Gegenvisite abzustatten, mit nach Groß-Lutschine. Und gleich in der zweiten Maiwoche hatten sie sich richtig angesagt, und Lieselott ersuchte sie telephonisch, am Sonnabendnachmittag vier Uhr den üblichen »Löffel Suppe« mitzuessen.
Nun war der Sonnabend da, die Kochfrau waltete ihres Amts und Lieselott steckte nach einem letzten Revidiergang ihre schweren blonden Zöpfe fest und war eben – hochrot vor Eile und Aufregung – im Begriff, die hellseidene Bluse zu schließen, als ihr Bruder in Hemdsärmeln hereinstürmte: »Um Himmels willen – die Gäste kommen ja schon!«
Aber es war nur ein Schreckschuß; ein Bauernwagen aus der Nachbarschaft brachte einen verunglückten Hütejungen mit gebrochenem Arm, den der Doktor zurechtrichten sollte. Lieselott, schon im Full[29] dress, mußte helfen, band eine große Schürze um und tat wie immer ruhig und besonnen ihre Pflicht. Zwischendurch fragte Richard: »Ist auch alles fertig? Habt ihr denn auch oben ins Gastzimmer einen Leuchter hingestellt?« – denn einige der Gäste sollten über Nacht bleiben. Da mußte Lieselott trotz des Stöhnens ihres armen Patienten lachen. So lang die Woche war und so viel Arbeit ihr oblag – um nichts hatten Seine brüderlichen Gnaden sich gekümmert. Nicht mal um Wein und Zigarren – nun fragte er, um doch etwas zu tun, nach dem Leuchter.
Sie beruhigte ihn – und kaum waren der Patient und seine Mutter geschient und getröstet entlassen, als wieder ein Wagen vorfuhr: diesmal ein herrschaftlicher, der die am weitesten wohnenden Gäste, Fräulein Wilten und ihren Vetter, brachte – die grad noch drüberzu kamen, wie das arme alte Auszüglerweib den Doktor, der ihren Jüngsten umsonst geschient und verbunden hatte, noch auf der Treppe bis in den Himmel lobte und pries.
Luz Neuhaus verzog spöttisch den Mund und bemerkte trocken: »Wenn er's oft so treibt, dürfte er keine großen Schätze sammeln,« wofür seine Cousine ihn nicht eben mit einem freundlichen Blick bedachte.
Oben an der Tür wartete schon die Hausfrau, um ihre Gäste zu begrüßen.
Lieselott bestand ihre oft geübte Rolle auch heut wieder mit Glanz. Nichts fehlte und alles ging wie am Schnürchen, die ganze Gesellschaft amüsierte sich köstlich. So gut, daß selbst Luz Neuhaus, der steife Englishman, wie seine Cousine ihn nannte, auftaute und der hübschen lustigen Hausfrau in seiner etwas phlegmatischen Art den Hof machte.
Alle Wetter! – in der steckte doch noch Feuer, Rasse – die war anders wie seine tugendreiche Cousine mit ihrer ewigen Ernsthaftigkeit. Dr. Erdmann revanchierte sich dafür ausgiebig; er und besagte Cousine kamen sich in diesen kurzen Stunden um sehr vieles näher. Ein Glück nur, daß die bildhübsche kokette Frau des Kreisbaumeisters, Erdmanns letzte und außergewöhnlich andauernde Flamme, heut anderweitig engagiert war, weil ein Hauptmann v. Schütze, ein Vetter der Erdmanns, als schneidiger Courmacher vorhanden war, der ihr, ihrer Meinung nach, zehnmal besser zu Gesicht stand als der behäbige Doktor.
Hin und her spannen sich zarte Fäden.
Nicht allzu fest, das gestatteten die gastlichen Pflichten der Wirte nicht, aber schon war eine neue Begegnung beim großen Johannimarkt in der Kreisstadt verabredet.
»Was meinen Sie zu der Kreuzung?« fragte lakonisch und vielsagend der Kreisbaumeister, dem es naturgemäß ein beruhigender Gedanke war, den Doktor, diesen Schwerenöter und dauerhaften Courmacher seiner Frau, anderweitig festgelegt zu sehen.
Der Rechtsanwalt folgte dem deutenden Blick.
»Nicht übel. Zudem – hier heißt's wirklich: alle beide oder keiner. Solange der Bruder nicht fest engagiert ist, heiratet Lieselott ganz sicher nicht, dafür kenn' ich sie. Na, die Wilten ist ja ein gescheites Frauenzimmer, die soll ihn wohl fest an die Kandare nehmen.«
»Damit er ihr nachher mit seinem Schnauferl um so gewisser durchgeht,« spottete der Ehemann. Beide lachten. Man saß bei Kaffee und Zigarren zwanglos um kleine Tische gruppiert. Während der Hausherr sich eifrig und halblaut mit Leonie unterhielt, fühlte[31] diese wiederholt heimlich in die Tasche, wo ihr Taler steckte, den sie heut seinem Eigentümer zurückerstatten wollte. Doch das »wie« war immer noch die ungelöste Frage. Unauffällig mußte es geschehen, und doch wollte sie ihn nicht einfach irgendwo hinlegen, daß sich nachher die Dienstboten ein willkommenes Extra-Trinkgeld daraus machten. So hörte sie ein wenig zerstreut den Worten ihres Nachbars zu. Nebenan in der Fensterecke saßen ein paar behäbige Pächter und schimpften laut über die hohen Löhne und schlechten Zeiten. »Uff!« stöhnte der eine, eben aus Marienbad Zurückgekehrte, der dem leckeren Aalgericht wohl mehr als dienlich zugesprochen, »nichts auf der Welt ist umsonst und der Tod kostet erst recht einen Haufen Geld, – das kann man in den großen Bädern erleben.«
»Schadet nix, das bezahlen die lachenden Erben,« gab der andere zurück. »Aber auch das armselige bissel Leben und Pläsier was man so auf der Welt hat – zum Beispiel, was meinen Sie? hat mein Schreiber nicht neulich die kleine Wirtschaftselevin um den Hals genommen und geküßt? Der Kerl war betrunken, weiter nichts – aber das Mädel geht hin und verklagt ihn, und er wird zu zwanzig Emchen verknackst. Fast wie in Amerika. Nicht mal 'nen Kuß mehr umsonst!«
Alles lachte über den komischen Zorn des bekannten Bonvivant und vermutete, daß hinter dem Schreiber wohl der Gutsherr selber stecken mochte.
»'s ist gut, daß die Küsse nicht immer so hoch im Kurse standen!« rief der Rechtsanwalt und schlenkerte seine Finger, als hätt' er sie verbrannt. »Herrgott, was hätten wir in unserer Jugend blechen müssen![32] All' die kleinen niedlichen Mädel – und nicht 'n Pfennig hat's einen gekostet! Haben sie alles für umsonst getan, und aufs Dutzend immer noch einen zugegeben – was, Dicker?«
Das Gespräch schien den Doktor unangenehm zu berühren, er suchte es durch eine gleichgültige Bemerkung abzulenken. Aber der Rechtsanwalt, Erdmanns Jugend- und Studienfreund protestierte.
»Ach was – nun laß mal dein Auto, Dicker, und bekenne Farbe: Wieviel Schulden hättst du wohl heut noch abzuzahlen, solltest du für jedes Küßchen in Ehren zwanzig Emchen blechen?«
»Gar keine,« sagte Erdmann kurz.
»Na, tu nur nicht so, du Tugendfritze!« widersprach der andere. »Von einem wenigstens weiß ich sicher. Hat dich allerdings bare drei Mark gekostet, und warst doch damals noch ein junger Bursch in den ersten Semestern, dem jeder ›Böhm‹ leid tat, den du nicht in Bier und Zigarren anlegen konntest.«
»Ich –? Ih Gott bewahre! Was dir nicht einfällt!«
»Na, na, schieß nur mal los und beichte, du!«
»Bei Gott, ich hab' keine Ahnung. Laßt doch die alten Geschichten, Kinder, wir sind ja hier nicht unter uns Pastorentöchtern.«
»Ach die Damen – denen macht's gerade Spaß. Erzähl nur, Dicker!«
»Erzählen, Doktor!« baten die Damen. »Ach bitte, erzählen Sie einen Schwank aus Ihrem Leben.«
»Ich weiß keinen.« Ärgerlich warf der Doktor seine Zigarette in den Aschenbecher und griff nach einer neuen.
»So – und das niedliche kleine Klostermädel, dem du vorgeschwindelt, du seiest ihr Landsmann? Der du[33] drei Mark gepumpt und hinterher einen Kuß als Belohnung verlangt hast?«
»Unsinn! Die Sache verhielt sich ganz anders.«
Leonie Wilten saß steif und hochaufgerichtet in ihrem Sessel, ihre Hände waren eiskalt, in ihren Ohren gellte es wie Trompetenstöße, und ihr feines Gesicht unter tiefdunklen Scheiteln ward abwechselnd rot und blaß. Was würde sie zu hören bekommen?
»So erzähl doch, Richard!« bat jetzt auch Lieselott. »Davon weiß sogar ich nicht mal etwas.«
»Na ja,« sagte der Doktor ergeben. »Dann muß ich wohl – schon damit mein Renommee in den Augen der Damen nicht allzu großen Schaden leidet.« Heimlich blickte er auf Leonie, deren Haltung und Miene er sich nicht recht erklären konnte. Während alle übrigen Damen, Lieselott einbegriffen, heiter und erwartungsvoll dasaßen, blieb sie ernst wie der Tod. War sie, die nicht mehr Junge und sonst so Verständige, in diesem Punkt noch spröd' und prätentiös wie eine Sechzehnjährige, die in ihrer Naivität verlangt, Männerherzen müßten sein wie ein unbeschriebenes Blatt? Lächerlich!
»Also« – begann der Doktor und erzählte den harmlosen Vorgang fast genau so wie Leonie ihn erlebt – doch mit all der Routine des gewandten Weltmanns, der seine Farben aufzutragen, Licht und Schatten raffiniert zu verteilen weiß, und in Ton und Färbung lag jenes undefinierbare je ne sais quoi, das Leonie aufs tiefste verletzen mußte. War das nur der natürliche Unterschied in der verschiedenen Auffassung von Mann und Weib? Oder lag der Grund tiefer? In seinem Charakter, seiner ganzen Anschauungsweise? Leonie war sich darüber nicht klar; sie hätte auch[34] nichts dagegen sagen können, und wenn es ihr Leben gekostet hätte.
Doktor Erdmann beobachtete sie. Es ärgerte ihn, daß sie seiner hübschen kleinen Geschichte so teilnahmlos zuhörte. Hörte sie überhaupt zu? Sie saß mit einer undurchdringlichen Miene da und sah aus wie der menschgewordene Protest. Das reizte ihn über die Maßen – nun erst recht wollte er etwas sagen, das sie aus ihrer eisigen Reserve herausriß – und nur deshalb allein gab er seiner kleinen Geschichte zum Schluß eine andere Wendung – gleichsam ein ganz fremdes verzerrtes Gesicht.
»Na ja,« sagte er langsam und bastelte angelegentlich an seiner Zigarette, eh' er sie wie triumphierend mit elegantem Schwung an die Lippen führte – »aber meinen Taler sah ich natürlich niemals wieder!«
Leonie war starr vor Zorn, Haß und Empörung. Sie hätte aufspringen und ihm zurufen mögen: Sie irren – nein, Sie lügen ja mit Bedacht und Bewußtsein! Wären Sie nur gekommen – ich und der Taler haben auf Sie gewartet – Gott, wieviel Jahre! Alles Blut strömte ihr zum Herzen und brauste ihr dann wieder wie ein feuriger Strom in Stirn und Schläfen. Sie tupfte ihr heißes Gesicht mit dem Taschentuch – Um Gottes willen nur nichts merken lassen! und saß wieder wie zuvor steif und still im Schatten des Fenstervorhangs, die Hände krampfhaft um die Seitenlehnen ihres Stuhls geklammert – während die andern Damen unisono über den Doktor herfielen.
»Warum nicht? – Weshalb fuhren Sie nicht hin und holten sich Ihren Taler und besuchten die kleine – wie hieß sie denn?«
»Lotti oder Leni – was weiß ich?«
»Die hat doch gewiß auf Sie gewartet? – Vielleicht wartet sie heute noch, die Arme!« Alles lachte wie über einen guten Witz.
»Ja, meine Damen –« sagte der Doktor mit seinem mokantesten Gesicht und liebkoste nachdenklich seinen blonden Prinz-Heinrich-Bart. »Es war ja vielleicht auch ein bißchen meine eigene Schuld, daß ich den Taler nicht wieder kriegte. Mein alter Freund nahm mich nämlich mit nach Prag – nachher vergaß ich drauf – und am Ende lohnte es auch wirklich nicht der Müh'.«
»Drauf vergessen« – und »es lohnte ihm nicht mal der Müh'« - und saß nun hier und erzählte in mokantem Ton und behaglicher Weinlaune wie einen gutgelungenen Witz, was ihr einst das Höchste und Köstlichste auf Erden bedeutet, die reine süße Erinnerung ihrer Jugend, die sie Jahr um Jahr wie ein Heiligtum gehütet hatte. So sind die Männer! Sie hätte es längst wissen können. Warum nur tat ihr dies so furchtbar weh und rann wie ein glühender Strom durch ihren Körper? Vom Herzen zum Kopf und staute sich dort, als wollt' es ihr die Adern an den Schläfen sprengen. Und dann auf einmal – vielleicht durch ihr gewaltsames Sichbeherrschenwollen noch beschleunigt – trat die natürliche und in ihrer Wirkung beinah lächerliche Reaktion ein, – mit unbeschreiblicher Verwirrung fühlte Leonie, daß ihre Nase heftig zu bluten begann. Kaum schnell genug konnte sie das Taschentuch ans Gesicht führen – sprang auf und hastete aus dem Zimmer. Lieselott folgte ihr eilig nach.
»Never mind,« sagte Vetter Luz und hielt den Doktor zurück. »Das passiert ihr öfter, hat nichts zu bedeuten.[36] 's war auch 'ne tolle Hitze heute und der ganze Weg so schattenlos,« gemütsruhig zündete er sich eine frische Zigarre an.
Der Doktor blickte ihn von der Seite an. Der wird mir nicht gefährlich, dachte er und widmete sich beruhigt seinen Gästen. Hm – was sie nur haben mag? War's wirklich nur die Hitze?
Lieselott hatte ihren Gast in ihres Bruders Sprechzimmer geführt, wo es kühl und ruhig war. Die Abendsonne schickte lange schräge Strahlen durch die Lücken der herabgelassenen Jalousien und mit den Strahlen zugleich kam ein blutrotes Leuchten von den Blumen auf dem Balkon herein.
»Mein eigenes Zimmer hab' ich leider ausräumen müssen, aber hier sind Sie ganz ungestört – kommen Sie, Fräulein Wilten, legen Sie sich ein wenig auf die Chaiselongue.«
Sie brachte Essig und Wasser und allmählich ließ die heftige Blutung nach – Leonies Gesicht wurde sehr blaß und sah im Dämmerlicht der Jalousien fast grünlich aus.
»Sie sind abgemattet von der langen heißen Fahrt,« sagte Lieselott mitleidig, »bleiben Sie nur ruhig liegen, niemand stört Sie hier. Und nicht wahr, Sie sind nicht bös, wenn ich jetzt wieder hinüber muß?«
Leise schloß sie die Tür hinter sich – Leonie war allein. Allein im Zimmer des Mannes, dem ihre erste Liebe gegolten, als sie seinen Namen nicht einmal kannte – und den sie jetzt beinah' haßte.
Sie lag ganz still. Wie aus weiter Ferne drang manchmal ein Lachen oder verworrenes Stimmengeschwirr an ihr Ohr. Oder das Rollen eines Wagens auf der Chaussee.
Sie öffnete die Augen und sah sich um. Etwas Eigenes, Persönliches haftet den Räumen an, die ein Mensch bewohnt, ein Teil seiner eigenen Seele, sagt man – und Leonie liebte es sonst, Menschen nach ihrer Umgebung zu taxieren. Wie hätte es sie früher gereizt, das Sanktissimum dieses Doktor Richard Erdmann kennen zu lernen, aus seiner Umwelt einen Schluß auf seinen Charakter zu ziehen. Heut hatte sie keinen Blick oder Gedanken dafür. Von innerer Unruhe gepeinigt, richtete sie sich auf, sah ein paar Kupferstiche an den Wänden, kleine farbige Aquarelle, Reiseerinnerungen; auf dem hohen mit Büchern besetzten Aufsatz des großen altmodischen Schreibtisches eine Goethe-Büste – das alles nahm sie nur mechanisch wahr, während ihre Gedanken unablässig bohrend arbeiteten. Ihr ganzes Innere war so voll Empörung, voll leidenschaftlichen Zorns, daß sie ihn am liebsten nie wiedersehen wollte, der ihr reinstes Erinnern in den Staub gezogen, sie vor den Augen seiner Gäste fast zur – Dirne gestempelt, die ihre Küsse um Geld verkauft. Ihre Phantasie arbeitete fieberhaft, ihr wirres schmerzendes Gehirn suchte nach den demütigendsten Worten, ihre erregten Nerven übertrieben und verzerrten das Geschehnis ins Bodenlose.
Ein erlösender Gedanke kam: Sie wollte fort. Heimlich sich davonschleichen – ihre beginnende Migräne war den Dienstleuten gegenüber Vorwand genug. Luz konnte mit den Bekannten aus der Kreisstadt nachkommen, Baumeisters hatten reichlich Platz für den dritten Fahrgast.
Aber vorher sollte »er« sein Geld wieder haben, den Taler, »den er nie wieder zu sehen kriegte« – sie lachte hart auf. Und wissen sollte er, wen er als[38] geladenen Gast in seinem eigenen Hause beleidigte! Mühsam stand sie auf, ihr Kopf schmerzte fast unerträglich – eine Lüge war's nicht, wenn sie ihren Wirten durch die Dienstleute bestellen ließ, sie habe es nicht länger aushalten können. Die kühle Abendluft würde ihr gut tun.
Sie dehnte die Glieder – wie müd' und abgeschlagen sie war, wie nach einer schweren körperlichen Anstrengung. Langsam ging sie durchs Zimmer, zuerst an die Tür zum Wartezimmer, drehte leise den Schlüssel herum – dann, mit raschem Entschluß an den Schreibtisch. Da lag Rezeptpapier – ein Kuvert fand sich auch wohl. Sie setzte sich und nahm die Feder zur Hand, sann nach. Dabei wanderten ihre Blicke über den Schreibtisch. Nichts als Bücher – nur rechts und links von der Goethe-Büste zwei Photographien. Seine Eltern wohl – am Rahmen des einen steckte ein winziges verdorrtes Sträußchen, vielleicht galt's einer toten Mutter?
Ihr Blick glitt ziellos weiter. Über dem Schreibtisch jenes bekannte Bild eines englischen Malers: Der Arzt am Krankenlager eines Kindes in der trostlosen Umgebung einer Armeleutstube. Sie betrachtete das Antlitz des Arztes – es erschien ihr bekannt und lieb und vertraut durch einen Zug warmer Güte und Hilfsbereitschaft. Und nun auf einmal wußte sie's – es durchzuckte sie förmlich: das war dieselbe Güte und echtes hilfsbereites Menschentum, das ihr Blick und Antlitz des Doktor Erdmann trotz allem unendlich anziehend machte. Noch heute wie in dem idealschönen Jünglingsgesicht – aber ihr Zorn empörte sich gegen die mildere Regung. Sie wollte das nicht wahr haben! Energisch flog jetzt ihre Feder übers[39] Papier und schrieb in hastigen zitternden Buchstaben: »Jemand, der jahrelang vergebens gewartet um Ihnen das geliehene Geld zurückzugeben, legt es heute in Ihre …« sie horchte auf und erschrak. Nebenan wurden Schritte laut, Herrgott, sie hatte nicht geahnt, daß die Portiere hinter der schräg ins Zimmer gerückten Chaiselongue den Ausgang in ein zweites Zimmer verbarg! Die Falten schoben sich spaltbreit auseinander, dann – als er sah, daß die Patientin auf war – trat der Doktor rasch ins Zimmer: »Gnädiges Fräulein …?«
Wie mit Blut übergossen saß sie da – eine ertappte Verbrecherin, unfähig sich zu rühren, einen Laut von sich zu geben.
»Ei – Sie schreiben sich wohl gar selber ein Rezept?« fragte er halb scherzend, halb befremdet. »Darf ich einmal neugierig sein?«
Hastig deckte sie die Hand über ihre Zeilen. Was mußte er von ihr denken? Sie – die Fremde, hier an seinem Schreibtisch – eingeschlossen in seinem Zimmer – Jesus Maria, in welch unglaubliche Situation hatte sie sich gebracht!
»Ich … wollte mich verabschieden …« stammelte sie, die andere Hand an ihre schmerzende Stirn pressend. »Ich halt's wirklich nicht mehr aus …« Ihr schmales, von den tief dunklen Scheiteln umrahmtes Gesicht erschien in diesem Moment gequält, geisterblaß. Ohne weiteres zog er ihr die Hand herunter, griff nach ihrem Pulse und sagte ruhig: »Aber dafür sind Sie hier im Doktorhause und werden mir erlauben …«
»Nein, nein!« stieß sie angstvoll heraus und entzog ihm ihre Hand. »Lassen Sie mich, bitte – ich will fort!« Befremdet trat er zurück.
»Und das ist Ihr Abschiedsgruß – ich habe also das Recht, ihn zu lesen,« sagte er und hob das schmale Blatt an seine etwas kurzsichtigen Augen.
»Was – Sie? – Mein Gott – nein!«
Leonie verlor alle Selbstbeherrschung griff in die Tasche und riß das Beutelchen heraus, und weil die Schnur ihren bebenden Fingern widerstand, warf sie es so auf den Tisch.
»Da haben Sie Ihr Geld – Gott weiß es, meine Schuld war's nicht, daß Sie Ihren Taler einbüßten!« rief sie außer sich – wandte sich und hastete der äußeren Zimmertür zu – hätte sie die nur nicht verschlossen! Im Nu hatte er sie eingeholt und hielt sie zurück.
»Gnädiges Fräulein! – Fräulein Leonie Wilten – wie konnt' ich ahnen …«
»Lassen Sie mich gehn …!« sie rang mit ihm, aber er hielt ihre Hände zugleich mit dem Türdrücker umfaßt, und er war der stärkere. Da wandte sie den Kopf, ihre Augen sprühten vor Zorn – fast schluchzend, sich überstürzend kamen ihre Worte: »– – ich war ein Kind, ein törichtes ahnungsloses Kind – und Sie haben mir mit dem Märchen von Ihrer Landsmannschaft den Kuß gestohlen! – Einem Kinde, das jedes Wort eines Erwachsenen auf Treu und Glauben hinnimmt, das noch keinen Zweifel kennt! – Ich hab' auf Sie gewartet jahrelang, um Ihnen Ihr Eigentum zurückzugeben – ich hab' Sie verehrt und liebgehabt – ach, so grenzenlos dankbar war ich meinem Retter aus dieser ersten großen Bedrängnis meines Lebens! Und Sie – Sie stempeln das ahnungslose vertrauende Kind hier vor Ihren Gästen zu ich weiß nicht was – Sie tun, als hätten Sie jenen gestohlenen[41] Kuß mit Geld erkauft – o, Sie sind ein schlechter – – ein grundschlechter Mensch! – Und jetzt lassen Sie mich fort!«
Statt jeder Antwort führte er die am ganzen Leibe Zitternde zu seinem Schreibsessel zurück. »Jetzt bitte ich um Ruhe!« sprach er gebieterisch. »Hier bin ich vorerst einmal der Arzt und nichts weiter. Sie werden sich erst beruhigen, ehe ich Sie fortlasse. In dieser Verfassung können Sie nicht auf den Wagen und die vierstündige Heimfahrt antreten.«
Er schloß ein Schränkchen auf, goß Wasser in ein Glas und mischte ihr ein Pulver – »hier, bitte!«
Und sie – immer unter der zwingenden Gewalt seiner Augen, halb ohnmächtig vor zorniger Scham, Aufregung und physischem Schmerz, gehorchte willenlos – wie sie einst ihrem »Landsmanne« gehorcht hatte.
»So – und nun wollen wir weiterreden, Fräulein Leonie Wilten! Ich will mich kurz fassen.« Er setzte sich nicht, sondern blieb an seinen Operationstisch gelehnt, in einiger Entfernung stehen.
»Ich habe abzubitten, das ist wahr. Aber nicht nur, weil ich – ahnungslos und unabsichtlich, wie Sie mir glauben werden – Sie beleidigt habe, sondern weil ich gegen mich selbst und mein eigenes Empfinden unehrlich war. Lange Zeit hab' ich das kleine Erlebnis und das süße Gesicht meiner kleinen Landsmännin nicht vergessen können. Als ich damals nach Breslau zurückkam, bin ich eines schönen Tages wirklich nach Mariahilf hinausgepilgert, um mein kleines liebes Klostermädel wiederzusehen. Natürlich wurde mir an der Pforte mit eisigkühler Höflichkeit abgewinkt, da ich ja weder Bruder noch Vetter war – ja sogar den Vatersnamen dieser kleinen Leonie[42] nicht einmal kannte. Ich baute halt auf mein gutes Glück – aber nicht ein Zopfendchen bekam ich zu sehn! – Na, wie's dann so geht – im nächsten Semester zog ich nach Berlin, im Sommer nach Greifswald – und zuletzt vergaß ich drauf. Aber nie, das schwör' ich Ihnen! nie in all den Jahren, wenn ich je daran dachte, hab' ich anders als mit reiner und herzlicher Freude an das kleine Klostermädel zurückgedacht. Erst heute in der besondern Stimmung, in dem ganzen drum und dran, kam's so über mich, daß ich dem kleinen Erlebnis ein anderes Gesicht gab. Nicht mal mit Worten vielleicht, aber in meinem Ton lag etwas Leichtsinniges, Herabsetzendes, das Sie – ich begreife es wohl – aufs tiefste kränken und verletzen mußte. Aber im Grunde sind Sie selber daran schuld – Ihr strenges starkes Gesicht trieb mich dazu, mich selbst zu belügen, Ihrer eisigen Miene zum Trotz sprach ich gegen meine eigene Überzeugung. Ich wollte Ihr Urteil herausfordern, wollte – und sei's selbst in Zorn und Widerspruch, ein einziges Wort von Ihnen hören.
Und nun bitte ich Sie herzlich – verzeihen Sie mir!«
Er hielt ihr die Hand hin – sie saß unbeweglich, die Hände im Schoß gefaltet und sah an ihm vorüber gegen das Fenster hin. Rot wie Blut brannten die Pelargonien durch den Ausschnitt der Jalousie herein – ihr war, als flösse das rote Blut in heißen Tropfen aus ihrem Herzen.
Er sah sie an und er, der schönheitsliebende, sah den Reflex der roten Blumen wie Blutstropfen auf der weißen Mädchengestalt liegen und empfand selbst in diesem Augenblick den feinen eigentümlichen Reiz des Bildes. Er wartete – es kam keine Antwort,[43] da wandte er sich enttäuscht und gekränkt ab und sah das Beutelchen auf dem Schreibtisch liegen, das kleine verblaßte, zerknitterte Ding, dem man es ansah, wie lange seine Besitzerin es mit sich herumgetragen. Er nahm es auf und wog's in der Hand, und eine wunderliche Rührung überkam ihn. Sprach dies unscheinbare kleine Ding nicht Bände, wie ein junges Herz einst auf ihn gehofft und gewartet, an ihn gedacht – jahrelang vielleicht? War das nicht Liebe? Die erste, selbstloseste, die reinste, die es im Leben gibt und die hatte ihm gehört! Sie sagte es ja selbst – und er hatte es nicht gewußt. Nicht einmal geahnt. Und nun stürmte er – auch schon seit Jahren – durchs Leben und suchte nach dem Kleinod einer echten großen Liebe und betäubte sich mit tausend andern wertlosen Genüssen, weil er nicht fand, was er suchte. Und auch hier, auch jetzt bei dieser zufälligen Bekanntschaft hatte er in erster Linie nur ans Geld gedacht und die gute Partie in Betracht gezogen, und hatte soeben mit eigenen Füßen das fast vergessene Pflänzchen Liebe zertreten, das vielleicht – nach Jahren noch – heimlich für ihn blühte – – – Ach, Unsinn! – die Zeiten der Romantik waren vorbei – so was gab's ja gar nicht mehr!
»Mir ist jetzt besser – und ich darf wohl gehn?« fragte neben ihm eine scheue Stimme.
Er sah das blasse Gesicht, den gequälten hilflosen Ausdruck ihrer Augen – und ihm war, als ob all das forcierte Herrenmenschentum seiner letzten Jahre von ihm abfiele und ein letzter unverbrauchter Rest seiner unverdorbenen, ungekünstelten wahren Natur diesem andern Menschen da vor ihm entgegendrängte.[44] Nicht dem Kinde mehr, das ihn einst geliebt hatte, sondern dem Weibe, das jetzt durch ihn litt.
Wie mit drängenden Händen, all seiner spöttischen Überlegenheit, seinem hochmütigen Selbstbewußtsein zum Trotz, wollte es ihn auf die Kniee ziehn – fast mit Gewalt hielt er sich aufrecht. Aber sprechen mußte er jetzt, zu laut redete die innere Stimme und ein langunterdrücktes zwingendes Etwas forderte endlich sein Recht. Er beugte sich vor und griff nach ihrer Hand.
»Verzeihen Sie mir, Leonie!« bat er – und ein hinreißender Ton von Wärme und Ehrlichkeit, ein Ton wie er ihn vielleicht nie in seinem Leben gefunden, klang aus seinen Worten.
»Verzeihen Sie mir – und glauben Sie meinen Worten: Ich hatte um Sie werben wollen, weil Sie ein schönes, kluges und – reiches Mädchen sind – jetzt aber werbe ich um Sie, weil ich Sie liebe und weil ich eine Frau brauche, die mich sehr liebhat und die – mir viel verzeiht.
Leonie, Sie haben mich einst liebgehabt – ist nicht ein kleines Restchen von der alten Liebe übriggeblieben?«
Sie schüttelte den Kopf, wollte widersprechen und – brach in Tränen aus.
Da legte er den Arm um sie und zog sie näher zu sich heran und nahm ihr sanft die Hände vom Gesicht.
»Jetzt nicht aus Landsmannschaft – freiwillig und von Herzen bitte ich um einen Kuß, Leonie –!«
Sie drängte ihn zurück.
»Nicht so, Doktor Erdmann – ach Gott, wir sind ja inzwischen viel zu alt und vernünftig geworden![45] – – So schnell kann ich's nicht überwinden,« sagte sie traurig.
Er ließ nicht nach, hielt ihre Hand fest trotz des Sträubens – Lieselott hatte so oft gesagt: Bitten und betteln kannst du wie kein anderer – die Frau wollt' ich sehn, die dir was abschlägt. Nun sollte sich's zeigen. Ein alter Autler verzagt nicht gleich bei der ersten Panne.
»So werde ich warten. Vielleicht kommt noch einmal die Stunde, wo wir uns wieder jung fühlen. Sie dreizehn und ich zweiundzwanzigjährig. Ist's nicht in der Romantik der Postkutsche, so vielleicht in der Prosa des Doktorzimmers – ich habe Geduld.« Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. Und sah sie an – und allmählich ging in dem ernsten treuherzigen Blick seiner Augen das innere Leuchten auf, das einst ihr Kinderherz gefangengenommen. Sie wollte es nicht sehn – unruhig rückte sie in ihrem breiten Sessel hin und her.
»Aber Sie haben ja Gäste, Doktor!«
»Macht nichts – die haben erst recht Zeit zum warten.« Er zog seine Uhr. »Also in fünf Minuten, so lange gebe ich Ihnen Zeit. Dann werden Sie mir verziehen haben.«
Da mußte sie wider Willen lächeln – die Panne war überwunden, das Fahrzeug wurde wieder flott. Er rückte seinen Stuhl näher.
»Bitte, sagen Sie mir's!«
»Ich glaube beinah', man kann Ihnen wirklich nicht lange böse sein, Doktor Erdmann.«
»Das ist noch längst nicht genug! Hab' ich nicht auch Zinsen zu fordern nach so vielen Jahren?«
Sie errötete und strich hastig mit der Hand über Stirn und Scheitel.
»Und ich glaube auch, daß Sie ein guter Arzt sind – mein Kopf ist jetzt wieder ganz frei.«
»Und Ihr Herz, Leonie?«
»Das ist – nicht mehr frei.«
»Sondern –?«
»Es gehört einem – Landsmann, Doktor – und Sie sind ja ein Oldenburger,« sie lächelte schalkhaft.
»Vier Minuten fünfzig Sekunden!« sagte er zufrieden und steckte seine Uhr ein. »Bekomme ich jetzt meinen Kuß?«
Da widersprach sie nicht mehr, als er den Arm um sie legte –
Zwischen Riva und Bozen war's. Im August. Daß es außerdem noch glühend heiß war, brauche ich bei dieser Ort- und Zeitangabe kaum noch hinzuzufügen, es versteht sich von selbst.
Wir saßen zu sechsen im Coupé, hatten die Vorhänge dicht zusammengezogen, weil unsere glanzmüden Augen nicht mehr imstande waren, die märchenhafte Pracht der sonndurchglühten Dolomiten, den ewigblauen Südlandshimmel und die strahlende, blendende, sengende, unerbittliche Sommersonne zu ertragen. Und weil die reifenden Trauben zwischen dem bläulich schimmernden Weinlaub unsern Durst zu Tantalusqualen steigerten. Und – »Kärlchen« gab sich vergebliche Mühe, mit seinen zweifelhaften Witzen die flaue Stimmung zu beleben.
Es wäre höchst unschlau, wollte ich jetzt schon verraten, wer »Kärlchen« war und in welchem Verhältnis er zu uns fünfen im allgemeinen und zu einer von uns im besonderen stand.
Den Durst habe ich schon erwähnt. Doch auch der Hunger begann sich zu regen. Wir hatten sehr zeitig und nicht allzu üppig in Riva gefrühstückt und keinen Proviant bei uns. Dank der abnormen Temperatur streikte selbst der letzte Rest unserer Reiseschokolade, die »der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe« eine unlösbare chemische Verbindung mit ihrer Staniolhülle eingegangen war. Kärlchen nannte es eine Mesalliance und wurde mit mattem Lächeln dafür quittiert. Die von Millionen Fliegen, Wespen und anderem fliegenden Getier umschwirrten Butterbrötchen des Bahnhofbüfetts in Mori hatten uns auch nicht locken können, und bis Bozen waren noch gut drei Stunden – so harrten wir hungernd und halb verschmachtet auf Trient, wo es, wie Kärlchen tröstend versicherte, vorzügliche Würstchen und Bier geben sollte.
Inzwischen hielt unser Bummelzug mit echt italienischer Gemütsruhe und Zeitvergeudung an jeder kleinsten Station, ohne daß wir uns auch nur die Mühe gaben, den Fenstervorhang zu lüften, um den Namen zu lesen. Unser Coupé war übrigens auch so weit rückwärts, daß wir meist noch bei der vorletzten Station weilten, während unsere Lokomotive schon vor der nächsten hielt.
»Abgespannt!« sagte Kärlchen mit verächtlicher Betonung und sah uns der Reihe nach strafend an, weil sein letztes Bonmot keinen Eindruck mehr gemacht hatte. »Ihr seid mir 'ne nette verhungerte, verdurstete, schlafmützige Reisegesellschaft! Ist das der Lohn für[48] meine Tugend?« Beleidigt stand er auf und ging hinaus. Bald darauf hielt der Zug, unser Wagen schmorte in der Sonnenglut.
»Verdurstet? O Gott, verschmachtet bin ich, ganz halbtot!« seufzte eine. »Und das nennt sich Vergnügungsreise!«
Neue Passagiere schoben sich schwitzend und stöhnend mit ihrem Handgepäck durch den engen Korridor. Ein dicker Herr blieb stehen und schnaubte mit zornrotem Angesicht: »Das ist aber unerhört, meine Damen – nebenan das Frauencoupé ist leer und hier sitzen Sie Ihrer fünf im Raucher!«
»Wir haben ja einen Herrn bei uns, der raucht sogar für drei,« verteidigten wir uns.
»So – wo ist er denn?«
»Karl! Kärlchen! Komm doch herein!«
Aber Kärlchen meldete sich nicht, ohne Zweifel war er ausgestiegen.
»Kann jeder sagen,« brummte mißtrauisch unser Choleriker und suchte ein Häuschen weiter Unterschlupf zu finden. Immer noch drängten Leute vorüber, in dem überfüllten Zuge ging's um jedes Mauseloch.
Wieder ein paar Herren der Schöpfung – und wie ein Kampfhahn hob der eine an: »Meine Damen …!« Doch schon fiel ihm unsere temperamentvolle Jüngste ins Wort, vertrat ihm die Coupétür und erklärte in ihrer raschen energischen Art: »Der Platz ist aber wirklich besetzt, meine Herren!« Und im Übereifer und um neuem Ansturm und Vorwürfen vorzubeugen, setzte sie hinzu: »Der gehört unserem gemeinsamen Mann!«
Im nächsten Augenblick kam eine Stimme von jenseit der Korridortür, und ein lachendes humordurchstrahltes Gesicht schaute herein, zwei Augen,[49] aus denen Lebenslust und herzerquickender Frohsinn lachten, ein schmalbärtiger Mund, um dessen Winkel es wie tausend Schelme zugleich zuckte – und die Stimme sagte im gemütlichsten Weanerisch: »Den muß i mir doch amol anschaugn, den g'meinsamen Mann!«
Ein belebender Hauch fuhr in unsere müd-faule Abgespanntheit, zündend wie ein elektrischer Funke sprang der goldene Humor von einem zum anderen über.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf Damen!« zählte der Wiener. »Wie an richtiger Padischah also, – muß der aber Couraschi hob'n, der G'meinsame! Jetzt, wo steckt er denn eigentlich?«
»Er wird gleich wiederkommen, warten Sie nur,« sagte unsere lustige Jüngste.
Mit beiden Füßen stand der Fremdling mitten in der ungewollt komischen Situation.
»Reichsdaitsche, dacht' ich mir's doch,« konstatierte er ernsthaft. »Bei uns in Österreich is nämlich d' Bigamie verboten, meine Damen. Wann i ihn jetzt anzeigen tät, den g'meinsamen Mann, nachher würd' er augenblicklich arretiert und ich könnt' mich dahier so hübsch warm und weich auf sein Platzerl setzen. Aber ich will Gnad' für Recht ergehn lassen, wann's jetzt ein Bisserl z'sammenrücken tät'n.«
Lachend taten wir ihm den Gefallen – lustige Leut' schlagen sich überall durch die Welt.
»Jetzt, wia schaugt er denn aus, der G'meinsame, daß wir ihn auch erkennen, wann er wiederkommt?« begann er behaglich.
»Klein und schmächtig,« sagte kichernd die eine.
»Blaß und schmal und gedrückt.«
»Kann ich mir denken,« nickte der Wiener verständnisinnig. »Fünf Damen – au du mein!«
»Blond und bartlos,« ging das Signalement weiter, und eine ganz Übermütige fügte hinzu: »Und Kärlchen heißt er.«
»Kerlchen? – Jesses, Jesses, nu sagen's bloß noch, an Halsbandel hat er um und vier Beine und a g'stutztes Schwanzerl – und bellen kann er auch.«
»Aber, Kinder!« mahnte halblaut unsere sanfte Hella, und die dunkeläugige Iz fragte etwas von oben herab: »Mir scheint, Sie glauben nicht recht an unseren gemeinsamen Herrn? Bitte – hier ist sein Hut, und dort hängt sein Wettermantel.«
»Wettermantel ist gut!« Der Wiener lachte, daß er sich schüttelte. »Sie wissen doch, meine Damen, der ägyptische Joseph hat auch seinen – Wettermantel der Frau Potiphar zurückgelassen und ist …«
Empört fuhren wir alle auf, bloß eine sagte mit schöner Gelassenheit: »… ausgestiegen, um ein Glas Bier zu trinken. O ja, wir wissen's noch recht gut, mein Herr, es ist ja noch nicht gar so lange her, seit wir auf der Schulbank saßen.«
Jetzt sah er uns alle der Reihe nach an, prüfend, nachdenklich – und auf einmal schlug er sich mit der flachen Hand vor den Kopf.
»Ei du mein, daß mir dös auch net eher einfallt! Jetzt hob ich's, natürlich – dös hier is g'wiß die erste Klasse, die mit ihrem Professor einen Ausflug macht. Meiner Treu!«
»Professor ist gut,« meinte eine halblaut.
»No also, hob ich doch recht. Aber jetzt, wo steckt er denn? – Sind Sie vielleicht der g'meinsame Mann?« fuhr er auf ein altes verhutzeltes Männchen[51] los, das eben seinen eisgrauen Kopf schüchtern durch die Tür steckte.
»Nein, o nein!« wehrten wir mit Mund und Händen ab.
»Oder sind Sie's?« fragte er einen anderen, der neugierig um die Ecke guckte. Der fuhr des Todes erschrocken zurück. »'s Kreuz hätt' er glei schlag'n soll'n«, meinte der Wiener trocken. »Is dös a Nazi, vor fünf hübsche junge Damen so an Schreck zu kriag'n. – Nu aber, unser G'meinsamer, dös scheint mir wirklich der Mann im Mond zu sein. Der Zug geht ab, und er is immer noch net da.«
Ein fünfstimmiges Freudengeschrei ließ ihn den Kopf wenden. Sein Gesicht war einfach nicht zu bezahlen, als er sich unserem Kärlchen gegenübersah, dessen mächtige breitschultrige Hünengestalt die ganze Türöffnung ausfüllte, gekrönt von einem blühenden Angesicht mit stattlichem schwarzen Vollbart, lachenden Augen und zufriedenem Schmunzeln. Lachende Augen, jawohl – denn im Eifer unserer Coupéverteidigung und des nachfolgenden lustigen Geplänkels hatte keins von uns auf die Station geachtet, und die hieß Trient, und Kärlchen hatte seinen Durst an kühlem Bier gelöscht und stand nun da wie ein satter, schmunzelnder Gambrinus, in einer Hand ein Brötchen, in der anderen ein paar Wiener Würstchen.
»No, mir scheint, Sie halten's aus!« sagte der Wiener verdutzt.
Wir schrien unserem Kavalier entgegen: »Kärlchen, hast du …? O wie nett! Gib mir! – Nein, bitte, mir zuerst!«
Kärlchen tat erst seelenruhig einen neuen Biß nach rechts und links und schüttelte dann sein mächtiges Haupt.
»Ja, Kinder, an euch hab' ich, ehrlich gestanden, nicht gedacht. 's hätt' auch nichts genützt, dies waren die letzten.«
Was half's, daß wir mit Schelten und Lachen über ihn herfielen, Kärlchens schöne Ruhe blieb unerschütterlich, und währenddes verschwand auch der letzte Rest von Wurst und Brötchen zwischen seinen prachtvollen Zähnen.
Der Wiener hatte ihm unverwandt, aufmerksam, beinah andächtig zugesehen. Dann nickte er.
»Also Sie sind der gemeinsame Mann? Ja, dös glaub' i gern, daß Sie das Kunststück fertig bringen,« sagte er voll aufrichtiger Bewunderung.
Nachdem der Sturm unserer von Hunger und Durst aufgestachelten Empörung sich einigermaßen gelegt hatte, erzählten wir alle durcheinander, lachend, in dramatischer Lebendigkeit die eben erlebte Szene.
Kärlchen amüsierte sich königlich. Und wir mit. Denn es war zu possierlich, wie der Wiener sich abmühte, herauszukriegen, wer von uns fünfen denn nun eigentlich das erste und standesamtlich verbriefte Anrecht auf Kärlchens Person hätte.
»Akkurat wie ich mir's gedacht hob, die erste Töchterschulklass' mit 'n Herrn Direktor auf einem Ausflug ins klassische Land der Kunst,« klopfte er auf den Busch.
»Professor,« verbesserte eine.
»Professor, ja richtig – freut mich ungemein, Ihre werte Bekanntschaft zu machen! Und welche von den fünf hübschen jungen Damen is denn nun Ihre Frau Professorin?«
»Raten!«
»Ja, Kuchen. Wann der Herr Professor net so an Ausbund von ein' G'mütsmenschen g'wesen wär'[53] und wenigstens der Frau Gemahlin ein paar Würsteln mitgebracht hätt' – nachher wüßt' ich's gleich.«
Wir sahen uns an, es zuckte um aller Lippen, es sprühte und wetterleuchtete in lachenden jungen Augen – wie ein elektrischer Funken flog stillschweigendes Einverständnis heimlicher Verschwörung zwischen uns hin und wider.
»Da haben Sie's, geschieht Ihnen ganz recht, Sie Schlimmer – wenigstens der Frau Professor hätten Sie ein Paar mitbringen sollen!« sagte unsere Jüngste, die für gewöhnlich mit Kärlchen nicht auf so zeremoniellem Fuße steht.
Der Wiener konstatierte im stillen: die Blonde, Temperamentvolle, die das Wort vom gemeinsamen Mann gesprochen, das ist also keinesfalls die Frau.
»Ja, weiß Gott, einfach himmelschreiend, daß du nicht einmal an mich gedacht hast, Karl!« sagte die braune Iz, ohne den leisesten Anspruch an den Titel einer Professorsfrau zu besitzen.
Aha, die also, die Braune, dachte der Wiener.
»Ich hätte wohl noch ältere Anrechte!« begann vorwurfsvoll die dritte.
Die »älteren Anrechte« machten unseren Wiener sichtlich aufs neue stutzig, er fixierte die Sprecherin, taxierte sie im stillen auf ihr Alter. Mutter? – unmöglich! Tante? – vielleicht. Es gibt sehr jugendliche Tanten, beruhigte er sich. Man sah ihm die grübelnden Gedanken an der Nasenspitze an – wir starben beinah vor Lachen. Jetzt ein Blick auf unsere Hände, ein blitzschnell streifender, der leider feststellte: keine einzige trägt einen Trauring. Keine? Die sanfte Hella, unsere Prinzeß auf der Erbse, die sich vor jedem Stäubchen fürchtet, hatte trotz der Gluthitze[54] ihre Handschuhe nicht ausgezogen. Die ist's nun aber ganz gewiß! dachte der Wiener.
»Gnädige Frau? – Frau Professorin?« Er machte eine leichte fragende Verbeugung.
Sie wurde blutrot, mußte aber doch lachen, und wir anderen klatschten ausgelassen in die Hände: »Stimmt! Geraten! – Kunststück!«
Wieder sah er uns der Reihe nach an. Wir anderen waren also frei, uns konnte er nach Herzenslust die Kur schneiden; sonderbarerweise schien er nicht die mindeste Lust zu verspüren, uns, die wir uns so viel Müh' um ihn gegeben, diesen Gefallen zu tun. Verbotenes lockt – und die stillen Wasser hatten's ihm angetan, die wunderschönen sanften Rehaugen der »Frau Professorin,« die bisher noch kein Wort mit ihm geredet, nur immer still und aufmerksam zugehört hatte, als könne sie sich gar nicht satt hören an dem herzigen »Weanerisch«. Ordentlich angetan! Wir merkten's bald. Und wir schürten das Feuer. Es machte uns einen Heidenspaß, ihr zulieb – die heut so besonders reizend aussah mit ihrem aschblonden Wuschelhaar unter der kleidsamen schottischen Reisemütze, die Kärlchen nach endlosem Wählen und Feilschen in München für sie erstanden – und Kärlchen zuleide, der doch auch wahrlich nichts Besseres um uns verdient hatte. Er forderte unsere Spottlust ja förmlich heraus, wie er so satt und behäbig in seiner künstlich abgenutzten hochtouristischen Ausstaffierung dasaß – die genagelten Bergschuhe an den Füßen, in denen er als harmlose und bescheidene Talschnecke sich von Bank zu Bank zu drücken pflegt – wie ein Schlot qualmte und ab und zu ein paar sachverständige Brocken zwischen die schlichten Wanderberichte[55] des Wiener Alpenbesteigers warf. Immer aufs neue setzte es für diesen Gemütsmenschen einen kleinen lustigen Seitenhieb.
Mitten hinein in seine harmlose Prahlerei, wie er einst mit List und Gewalt in einem kleinen Alpengasthause das beste Nachtquartier für sich erobert, indem er aus allen Betten ein Kissen oder eine Decke zusammenstahl, fuhr ihm ein scharfes Zünglein: »Natürlich! daß du ein abscheulicher Egoist bist, das wußten wir ja längst, aber dies Heutige übersteigt denn doch alle Begriffe! In Gegenwart seiner eigenen …« Die hübsche Sprecherin verwirrte sich, stockte einen Moment und fuhr dann mit erhobener Stimme fort: »– in Gegenwart der armen, halbverhungerten Hella, vor ihren Augen wagt es dies Ungeheuer, sich satt und voll zu essen!«
»Lieber Gott – als ob sie nicht schon Kummer gewohnt wär', die Arme!« stimmte eine andere heuchlerisch zu. »Bedenkt doch nur all die Jahre, seit sie mit dieser Seele von einem Menschen haust, was hat die nicht schon alles durchgemacht! Das geht auf keine Kuhhaut.«
»Ich werde euch gelegentlich eine Elefantenhaut für diesen Zweck zur Verfügung stellen,« schmunzelte Kärlchen ungerührt.
»Laßt ihn doch in Ruh'!« wehrte Hella unserem boshaften Übereifer. »Er hat's ja nicht bös gemeint. Ihr hört doch, es waren die letzten, was hätten die uns genützt? Ein Paar Würstchen für uns alle fünf!«
»Wir sollen ihm wohl noch dankbar sein, deinem Herrn und Gebieter?« hieß es spöttisch, und unsere kühne Jüngste verstieg sich zu dem Mißtrauensvotum: dies letzte mitgebrachte Paar sei ganz sicher nicht das[56] erste und einzige gewesen, was Kärlchen in Trient erstanden und sich heimlich zu Gemüte geführt hätte.
Man sah's dem Wiener an, wie er mit ganzer Seele innerlich Partei für die unterdrückte Frau nahm, die den gefühlsrohen Gatten auch noch verteidigte und immer gleich sanft und freundlich blieb. Kein Zweifel, sie war eine Unglückliche! Von nun an widmete er sich ihr mit einem Eifer, der uns andere beinah neidisch machte.
Wir hielten uns dafür an Kärlchen schadlos. Der wurde gezwickt und gezwiebelt bis aufs Blut, bis er's zuletzt nicht mehr aushielt und samt seiner qualmenden Bauernpfeife in die Öffentlichkeit, will sagen, den Korridor, hinausflüchtete. Vielleicht verdroß ihn auch die zarte Huldigung des Wieners für seine »Frau Professorin«. Daß dieser auch ihr sympathisch war, merkten wir ganz gut. Und wir ahnten auch wohl, warum.
Gelacht wurde auch ohne Kärlchen noch genug, und eh' wir uns versahen, war Bozen erreicht. Als wir uns am Bahnhof von dem lustigen Wiener trennten, wurde schnell noch für den Abend ein Rendezvous im Batzenhäusl verabredet.
Und dann eilten wir ins Stiegl.
Nicht nur der Hunger trieb uns – auch die Sehnsucht; erwarteten wir doch Nachricht von unseren vielgeliebten – Ehemännern, die inzwischen die Geislerspitzen, den Schlern und weiß ich was sonst noch für Dolomittürme erklettert hatten – während wir vier lustige junge Strohwitwen mit unserem Allerweltsvetter, Schwager und Bruder, dem sogenannten faulen Kärlchen, unserem »gemeinsamen Mann«, eine Spritztour an den Gardasee gemacht hatten. Als richtige übermütige Strohwitwen, den Trauring im Goldtäschchen[57] unterm Mieder – wir wollten uns mal frank und frei nach Herzenslust amüsieren. Und das hatten wir getan. Selbst unsere ernsthafte Fünfte, Kärlchens leibliche Schwester, die eine wirkliche Witwe unter uns ausgelassenen jungen Frauen.
Das Erlebnis mit dem Wiener war nur der würdige Abschluß einer Reihe von himmlischen Tagen auf und am Gardasee, wobei unserem stattlichen Kavalier von neugierigen Mitreisenden abwechselnd die Rolle eines töchtergesegneten Vaters oder die des gestrengen Mentors und Kunstprofessors aufgehängt wurde. Er hatte beides mit stoischem Gleichmut über sich ergehen lassen und war dabei nicht zu kurz gekommen – wie die Trienter Würstelaffäre bewies.
Nachmittags kamen »unsere Vier« – ob sie auch den Trauring ins Goldtäschel gesteckt hatten? Chi lo sa – fidel genug waren sie und sonnverbrannt, daß wir sie kaum wiedererkannten – aber gebeichtet haben sie nichts!
Nachdem sich die kühnen Hochtouristen ihres schauerlichen Räuberzivils entledigt und etwas menschlich gemacht hatten, pilgerten wir gegen Abend – eine mehr als ausgelassene Gesellschaft von zehn Personen, alle untereinander verwandt oder verschwägert – dem Batzenhäusl zu. In paarweiser Würdigkeit natürlich, und Hella und Kärlchen als letzte, so war's ausgemacht. Unser Wiener saß richtig schon da, hatte den Ecktisch im Künstlerzimmer reserviert und machte ein Gesicht – – grundgütiger Himmel! so viel aufgesperrte Augen, Mund und Ohren in einem einzigen Gesicht hatt' ich mein Lebtag noch nicht gesehen! Ich kniff »Meinen« vor unterdrücktem Lachen in den Arm, sonst hätt' ich laut herausgeschrien.
Mit einer gewissen Feierlichkeit bugsierten wir uns heran: »Erlauben Sie, Herr Reisekamerad, daß wir Ihnen unsere Ehemänner …«
»Jede von uns hat nämlich ihren eigenen …« Die blauen Augen unserer Jüngsten wetterleuchteten vor Übermut – dann folgte die offizielle Vorstellung.
Der Wiener klammerte sich krampfhaft an die Stuhllehne, ich glaube, das ganze Batzenhäusl fing an um ihn zu tanzen.
Zuletzt die Geschwister.
»Gestatten: Professor Siebenbrot – meine Schwester, Frau Professor Klinghart …« Bei offiziellen Anlässen war Kärlchen tadelloser Kavalier.
Jetzt kam Leben, Farbe, Bewegung in des Wieners erstarrtes Antlitz.
»Also nicht – nicht Ihre Frau Gemahlin?« stammelte er. »Aber Sie sagten doch …?«
Hilflos wandte er sich an uns, schüttelte wie hypnotisiert und ganz von seinen wirbelnden Gedanken umstrickt, der Reihe nach alle Hände, die sich ihm entgegenstreckten – starrte uns in die lachenden Gesichter.
»Na, was denn?« half ihm eine ein.
»Daß er Sie schlecht behandelt …«
»Stimmt – oder nennen Sie das etwa gute Behandlung, wenn er vor Ihren hungrigen Augen gemütsruhig sein Frühstück verzehrt? Und zu Haus macht er's um kein Haar besser.«
»O bitte – da hat sie den Speisekammerschlüssel,« berichtigte Kärlchen. »Wollen wir uns nicht setzen, meine Herrschaften? Ich hab' einen Mordshunger.«
»Aber Sie – ja, Sie beide leben doch zusammen. Seit Jahren – sagten Sie nicht so?«
»Allerdings,« bestätigte Kärlchen würdevoll. – »Wenn's Sie interessiert: Berlin S. W., Hans Sachs-Straße 22, dritter Stock links. Nämlich meine Schwester hat die Güte, meinen Junggesellenhausstand zu führen, seit sie vor fünf Jahren verwitwet ist.«
»Verwitwet ist …« echote der Wiener – und nun endlich begriff er, und im Laufe des Abends und mit Hilfe von etlichen Vierteln Magdalener erholte er sich auch von der gewaltsamen Überraschung.
Es wurde der fidelste Abend, den wir je im Batzenhäusl erlebten.
Am Nebentisch saßen Studenten, junges, sanglustiges Volk – ein Lied stieg, ein zweites – die anderen Tafelrunden taten wie selbstverständlich mit – ein förmlicher Rausch schien all diese einander fremden, aus allen Himmelsgegenden bunt zusammengewürfelten Menschen ergriffen zu haben. Eine ungemachte, echte, herzerquickende Fröhlichkeit verbrüderte sie. Studenten- und Vaterlandslieder, dazwischen ein neckisches Liebesliedel im Volkston. Zuletzt, als ob man sich besänne, bei wem man zu Gast sei, stieg dem lieben wunderschönen Land Tirol, dem deutschen Bruderland, dem greisen, edlen Gastfreund ein begeisterter Sang: »Gott erhalte Franz, den Kaiser!« – Was verschlug's, daß kaum einer mehr als die beiden Anfangszeilen des schönen alten Haydn-Liedes kannte – so gut es ging, sang, summte, brummte jeder mit. In heller Begeisterung. Sogar unsere stille Hella stimmte ein. Mit nassen Augen. Ihr verstorbener Gatte war ein Deutsch-Böhme, leidenschaftlicher Patriot gewesen – um seinetwillen hatte sie Land und Leute liebgewonnen[60] und kannte das Lied bis zur letzten Strophe, tat gar nicht not, daß der Wiener soufflierte.
Ja, solch ein Abend im Batzenhäusl!
's ist nicht der Magdalener allein. Es ist die Stimmung, die sie draußen von den Bergen mit hereinbringen, die goldene, sonndurchwebte, leuchtende Alpenstimmung, der klingende Widerhall all des Herrlichen, Wunderbaren, das ihre Augen geschaut. Die uralte angeborene germanische Wanderlust, die alle Freud' und Begeisterung, alles, was groß und gut im Menschenherzen ist, weckt, ihn alle kleinlichen Sorgen und Kümmernisse von daheim vergessen läßt. Und nicht zuletzt: der Tropfen verwandten deutschen Blutes zwischen hüben und drüben.
Auch zwischen den beiden im Winkel der Fensternische. Was sie gesprochen haben, weiß man nicht. Sie saßen nebeneinander, und mehr als einmal klang Glas an Glas. Der Wiener – es war übrigens ein Weingutbesitzer aus der Vöslauer Gegend – redete. Diesmal nicht im Dialekt – es ist eine liebenswürdige Eigenschaft des gebildeten Österreichers, daß er uns Reichsdeutschen zulieb seine Weaner Mundart aus dem vergessenen Winkel hervorholt. Er kann sehr gut anders reden, wenn er will. Und jetzt schien's, wollte er hochdeutsch reden – obgleich ja grad die vertrauten weanerischen Klänge es unserer Hella zuerst angetan hatten. Sie antwortete mit ihrer sanften Stimme, und er ließ den Blick nicht von ihr.
Später trafen wir uns im Stubai wieder. Ganz zufällig natürlich. Aber das Stubai ist kein Ort zum Ausruhen und Anspinnen heimlicher Liebesidylle. So nahmen wir Abschied und zogen unseres Weges weiter gen Mittenwald.
Und wieder eines Abends am Lautersee tauchte der Vöslauer zum drittenmal auf. Er sei übers Karwendel gestiegen, sagte er und erzählte von seiner Bergtour. Und als wolle das Karwendel seiner begeisterten Schilderung Ehre machen, begann es sich zu färben, – dolomitenhaft schön. Zuerst golden und purpurn, dann rosenrot und zuletzt in blassem Violett gegen den klaren, stillen Abendhimmel ragend. Es war ein Abend, wie man ihn selten sieht, – Schönheit und heiliger Friede der ersten Schöpfungstage.
Still gingen wir heimwärts. Die beiden zuletzt. –
Denselben Abend verführte Kärlchen nach abscheulicher Junggesellengewohnheit den Vöslauer zu einer endlosen Sitzung. Er hat uns später davon berichtet, und natürlich war er der große Mann, der alles arrangierte und ins rechte Geleise brachte. Der Vöslauer, so ein tapferer Alpengänger er war, hatte in schüchternen Andeutungen gesprochen, sich nicht recht mit der Sprache herausgetraut – ein einfacher Mann wie er, und die Frau Professorin, so ein feines, liebes, vornehmes Geschöpf – – –
Aber Kärlchen faßte ja schnell, und gutmütig war er trotz der Trienter Würsteln. Er hob sein Glas: »Prost, alter Freund – und da sich's gemütlicher auf Du und Du sagt: Mensch, sei kein Frosch – wollen wir Duzbrüderschaft trinken! Kannst ruhig anfragen. Sie nimmt dich. Ehrenwort!«
Er hat recht behalten. Unsere liebe, sanfte Hella waltet nun schon über Jahr und Tag als Herrin in ihrer rosenumrankten Villa zwischen Baden und Vöslau.
Kärlchen aber, unser »gemeinsamer Mann«, steigt leider heute noch wie damals in seinen genagelten[62] Bergschuhen als einsamer Junggesell durch die Welt.
Vielleicht triffst du ihn einmal, verehrte Leserin, freundlich und wortfaul auf einer Aussichtsbank mitten im Tal. Die Berge hinauf geht er nämlich nie – trotz der Genagelten.
Ruth Hardenberg war auf dem Wege zu ihrer Mutter.
Was das für sie bedeutete, hätte niemand von allen, die sie kannten und liebhatten, selbst ihr eigener Vater nicht begriffen.
Als kleines Kind hatte man ihr gesagt, ihre Mutter sei tot. Später zerstörte die unbedachte Äußerung irgendeines Bekannten die mitleidige Lüge und Ruth erfuhr, daß ihre Mutter noch lebe, daß sie gesund und blühend und glücklich sei – als das Weib eines anderen. In einer Sommernacht, als die Rosen dufteten, hatte sie ihre kleine zweijährige Tochter und ihren Gatten verlassen, um einem fremden Manne anzugehören und fortan ihm und ihrer Kunst zu leben.
Tanten und Cousinen hatten, wenn je die Rede darauf kam, nur gehässige Worte für die ehemalige Liane Hardenberg. Die Männer zuckten die Achseln und lächelten nachsichtig und vielsagend.
Ruths Vater sprach nie von der einst heißgeliebten Frau. Nur die alte Kindermuhme, die schon Ruths Mutter auf den Armen getragen, sagte manchmal: »Die arme Mama! Wer weiß, was ›Er‹ ihr alles[63] vorgeredet hat. ›Er‹ hat sie ja rein bezaubert mit seinem wunderschönen Geigenspiel. Und der Papa war dann manchmal so heftig und schalt über das viele Musikmachen.«
Und allmählich – ganz in der Tiefe und Stille ihres sehnsüchtigen Kinderherzens – sprach's ihr die kleine Ruth nach: »Die arme liebe Mama! Wer weiß, weshalb sie es getan hat. Und ob ihr nicht manchmal schrecklich bange nach ihrer kleinen Mausel ist?«
Die Kinderfrau hatte ihr erzählt, daß die gnädige Frau immer »meine süße kleine Mausel« gesagt, und daß sie herzbrechend an dem Kinderbettchen geschluchzt hatte – die letzte Nacht, ehe sie fortging. Und nach ihrer Art beschrieb sie dem andächtig lauschenden Kinde, das kein Bild von seiner Mutter besaß, die unbekannte Mama: »fein und zierlich und flink wie eine Bachstelze; Haare wie Gold und die schönsten blauen Augen; Hände so weich wie ein Maulwurfsfellchen, und eine Stimme so süß und hold, wie die Engel singen, wenn sie nachts auf der großen blauen Himmelswiese spazierengehen und silberne Sternblumen pflücken.«
Seitdem träumte Ruth, die groß und dunkelhaarig war und die eckige Figur und die ernsten grauen Augen ihres Vaters besaß, von dieser zierlichen blonden Mama und hörte nachts im Traum eine zärtliche Stimme: »Meine süße kleine Mausel!« rufen. Und manchmal tat ihr förmlich das Herz weh, so unbeschreiblich sehnte sie sich nach ihrer unbekannten Mutter.
Nicht, als ob Ruths Vater nicht auch gut und liebevoll zu dem Kinde gewesen wäre. Aber er war ein ernster wortkarger Mann, den das Leben hart mitgenommen hatte; der rastlos arbeiten mußte, um alte Schulden[64] zu tilgen und seinem Kinde einen ehrlichen Namen zu hinterlassen; um seine Existenz, die die unsinnige Verschwendungssucht seiner Frau vernichtet hatte, von neuem aufzubauen. Ehemals hatte ihm eine große Fabrik in Danzig gehört, jetzt war er Geschäftsführer eines Aktienunternehmens in einem kleinen polnischen Grenzstädtchen – seine Tage waren voll Sorge und Arbeit und für das Kind blieb ihm wenig Zeit. Ruth sah ihn eigentlich nur bei den Mahlzeiten, und auch da hatte er meist den Kopf voll von anderen Dingen. Wenn Ruth ihm gesegnete Mahlzeit oder Gutnacht sagte, hielt er wohl ihre kleine Hand fest und küßte sie flüchtig auf die Stirn oder fragte auch einmal: »Willst du etwas, Ruth? Hast du auch alles, was du brauchst?« – aber Ruth mußte dabei immer denken: Eine Mutter ist doch ganz was anderes!
Eine Mutter zu haben, war das Köstlichste, was Ruth sich denken konnte, der größte, sehnsüchtigste, glühendste Wunsch ihres Kinderherzens.
Sie hatte eine kleine Schulfreundin, zu der sie gern ging, weil deren Mutter ihr mitleidig zuweilen eine flüchtige Liebkosung zuteil werden ließ. Wenn die hartgearbeitete Hand der guten kinderreichen vielbeschäftigten Frau über ihr Haar glitt, duckte Ruth sich zusammen wie ein Vögelchen, schloß die Augen und dachte: Wenn das jetzt meine Mama wäre, wie wollt' ich die Hand festhalten und küssen. Ach, einmal nur Mamas Hand fühlen, die so sanft und weich wie ein Maulwurfsfellchen ist! Und Mamas Stimme hören, die so klingt wie Engelsstimmen auf der Himmelswiese.
Und als die kleine Freundin einmal das Fieber hatte und ihre Mutter auf dem Bettrande saß und kalte[65] Umschläge auf das heiße Köpfchen legte, das sich ungeduldig hin und her warf, stand Ruth nachdenklich daneben und dachte, sie würde gern Fieber und Schmerzen ertragen, wenn ihre Mama nur ein allereinziges Mal so an ihrem Bett säße.
Nächtelang kam ihr das Bild der kleinen Kranken und der zärtlich pflegenden Mutterhände nicht aus dem Sinn.
Später, als Ruth heranwuchs, zeigte es sich, daß sie das musikalische Talent ihrer Mutter geerbt hatte.
Der Vater wollte anfangs nichts davon wissen. Er haßte die Musik, die Kupplerin, die ihm sein Weib gestohlen und jenem fremden Geiger in die Arme getrieben hatte. Aber Ruth ließ nicht nach mit Bitten und Betteln, und ihre Begabung war so unleugbar, drängte so ungestüm nach freier Entfaltung und künstlerischer Ausbildung, daß selbst fremde Leute Herrn Hardenberg zuredeten, das Kind auf ein Konservatorium zu geben.
Schweren Herzens entschloß er sich zu diesem Schritt, der ihn auch pekuniäre Opfer kostete. In zäher Rechtschaffenheit trug er noch Jahr um Jahr die alten Verpflichtungen ab – wie sollte er da die teure Pension und all die ungezählten Nebenspesen aufbringen? Aber für das Glück seines Kindes schien ihm kein Opfer zu groß, er rechnete und sparte, versagte sich seine kleinen Liebhabereien und schränkte den Haushalt aufs äußerste ein.
Und nun war es so weit. Seit einem Jahre war Ruth in der teuren Dresdener Pension, durfte üben und spielen und studieren und Konzerte hören, soviel sie nur wollte. Sie war froh und glücklich. Ihr einziger Kummer war, daß sie keine Stimme besaß –[66] ihr schwaches Stimmlein konnte man unmöglich mit dem Gesang »der Engel auf der Himmelswiese« vergleichen.
Daheim der Vater arbeitete für sein Kind und sehnte sich nach seinem Kinde. Es war ihm nicht gegeben, viel Zärtlichkeit nach außen zu zeigen, so ahnte niemand, Ruth wohl am wenigsten, wie unaussprechlich teuer sie seinem Herzen war.
Nicht einmal in den großen Ferien hatte er sie bei sich gehabt. Ruth war überangestrengt und bleichsüchtig und eine der Tanten lud sie zu sich auf ihr Gut.
Und da war das Wunderbare geschehen, was in Ruths Herzen die alte Kindersehnsucht weckte und eine Welt von neuen heimlichen Wünschen und süßen Träumen auslöste.
In Ruths Gedanken, die sich bewußt und unbewußt in Musik umsetzten, ward dies große Ereignis ihres Lebens mit der etwas abgeleierten Liedstrophe eingeleitet:
Immerfort summte ihr die Melodie im Ohr – und dabei sah sie das Bild zum Malen deutlich vor sich: Früh am Sonntagmorgen in der Kirche. Sie selbst neben Onkel und Tante Hardenberg und den Cousinen in der rotausgeschlagenen Gutsbank links vom Altar. Die Messe hat eben begonnen. Die alte Orgel versagt manchmal und der Sopran der Dorfmädel setzt beim zweiten Kyrie einen Viertelton zu hoch ein. Die Sonnenstrahlen bauen eine schräge flimmernde Brücke zu den Kirchenfenstern, auf der die Weihrauchwolken emporzuklettern scheinen. Da geht die Sakristeitür und herein tritt eine wunderschöne Frau, groß, schlank, elegant, mit prachtvollem, blondem Haar, das sich in losen Wellen[67] um ihren Kopf bauscht, steht einen Augenblick still im Sonnenschein, während die flimmernde Lichtbrücke zerreißt und sich über ihrem Haupt von neuem aufbaut und geht in das Herrschaftsgestühl gerade gegenüber.
Durch Ruths Herz geht ein wunderlich schreckhaftes Entzücken. Sie kann nicht mehr beten, muß fort und fort die schöne fremde Frau betrachten. So – genau so hat sie sich im Traum ihre Mutter vorgestellt.
Gruß und Gegengruß ist mit der anderen Bank gewechselt worden.
»Du – wer ist das?« frägt Ruth leise ihre Cousine.
Hella Hardenberg blättert verlegen in ihrem Gebetbuch, guckt auf die Mama, ob sie's sagen darf – aber die ist ganz in Andacht und in den bezaubernden Sommerhut ihres Visavis versunken, der unfehlbar ein Wiener Modell ist.
»Das ist … das ist die Frau von Domanska aus Groß-Herdain,« flüstert Hella stockend, »sie kommt sonst nie hierher.«
Ruth wird nicht nur blaß, sie wird geradezu grünweiß vor zitternder Erregung, so daß Tante Hardenberg allen Ernstes eine Ohnmacht befürchtet.
»Dann ist es also … meine Tante … Mamas Schwester!« – – –
Mögen die Weihrauchwolken noch so betäubend duften, mag der bäuerliche Chor beim Sanctus nahezu umwerfen und das Ministrantenglöcklein schrill und eindringlich mahnend klingeln – Ruth hört und sieht nichts mehr – ein einziger Gedanke pocht in ihren Schläfen, eine einzige starke und süße Melodie klingt und singt an ihrem Ohr: Mamas Schwester – Mamas Schwester …
Nach dem Hochamt die übliche kurze Begrüßung zwischen den Gutsnachbarn, wobei Ruth ihrer Tante v. Domanska vorgestellt wird und ihr, schneeweiß bis in die Lippen, die Hand küßt. Ein Glück, daß Onkel Hardenberg im richtigen Moment seinem Kutscher pfiff – sonst wär's auf dem Kirchhof mitten unter der gaffenden Dorfjugend unfehlbar zu einer dramatischen Szene gekommen.
Am nächsten Morgen ein Brief aus Groß-Herdain. Man unterhält »seit der Geschichte« fast gar keine Beziehungen mehr, aber dringend und mit überzeugendster Liebenswürdigkeit bittet Frau von Domanska ihr »das Kind« herüberzuschicken. Den unverzeihlichen Schritt Lianens hätten alle Verwandten aufs schärfste verurteilt, aber schließlich sei doch niemand für sie verantwortlich, und warum solle sie, Lianens Schwester, und das Kind entgelten, was Liane gesündigt hätte?
Die Verwandten wollten anfänglich nichts davon hören, aber Ruth fiebert beinah vor Aufregung, bis Tante Hardenberg sie gutmütig in den Wagen schiebt und mit ihr hinüberfährt.
Im Salon auf Groß-Herdain gibt's dann – zwar keine dramatische, wohl aber eine erschütternde Szene, wie das mutterlose Kind der fremden Tante zu Füßen sinkt und all das sehnsüchtige Weh, all den heimlich mit sich herumgeschleppten Kummer ihrer einsamen Kinderzeit in den Armen von »Mamas Schwester« ausschluchzt.
Seitdem brennt nur eine Sehnsucht in Ruths Herzen: Hin zur Mutter! Wenn schon »Mamas Schwester« so gut und lieb und zärtlich zu ihr war, wie himmlisch süß muß es da erst sein, in Mamas[69] Armen zu liegen, Mamas Stimme ein allereinzigesmal »liebe kleine Mausel« sagen zu hören! Nie hatte Ruths Vater ihr einen Kosenamen gegeben, nicht aus Mangel an Liebe – einfach weil es nicht in seiner Natur lag. Jetzt weniger denn je. Es gibt Kinder, die das kaum merken, und andere, die es ihr Leben lang tief und schmerzlich entbehren.
Die Sehnsucht reist mit Ruth aus den Ferien zurück und wächst sich in der steif-vornehmen Pension in Dresden zu einem schier unersättlichen Riesen aus, der Ruth Tag und Nacht in seinen herrischen Armen hält, ihr Herz klopfen macht, ihre Wangen bald blaß, bald fieberisch rot färbt; der in allen Tonarten zu ihr redet, zu allen Übungen den Takt schlägt, der Beethoven, Chopin und Liszt zu Liedern ohne Worte macht, aus denen eine einzige, fast tödlich sehnsüchtige Melodie klingt: Hin zu Mama!
Und der Vater, der alles für sein Kind tat, der es ernährt und gekleidet, geliebt und erzogen hat, dessen Leben eine Kette von Opfern und Entbehrung für das Glück dieses heißgeliebten Kindes ist, ahnt nichts von der tödlich sehnsüchtigen Melodie in Ruths Herzen. Er rechnet und spart und arbeitet, zählt die Tage bis Weihnachten, wo seine kleine Ruth zu den Ferien heimkommen soll und schickt ihr pünktlich, schon acht Tage vor dem heiligen Abend, das Reisegeld. Ein reichlich bemessenes – und schreibt dazu: »Kauf' dir in Dresden, was du dir wünschest, mein Kind. Ich versteh' so wenig davon, was junge Mädchen brauchen.«
Ach, er versteht freilich nicht, was sein armes kleines Mädchen braucht, der gute Papa, denkt Ruth mit zuckenden Lippen. Und in einer schlaflosen Nacht,[70] wo ihre Gedanken den alten Weg wandern, den hundertmal gewanderten, der schon so ausgetreten ist von ihren kleinen, müden, suchenden Füßen, wird jählings ein Entschluß geboren. Ein großer atemraubender: Ruth will nach Berlin zu ihrer Mama. Sie hält's nicht mehr aus. Sie stirbt vor Sehnsucht, wenn man sie nicht läßt. Und Papa ließe sie nicht, das ist sicher. Er weiß ja nicht, was man braucht, was ein Kind braucht: die Mutter – zu allererst und über alle anderen Dinge die Mutter. Und Ruth malt sich aus, daß die arme Mama ebenso zärtlich und sehnsüchtig nach ihrer kleinen Mausel verlangt. Nur natürlich – die Verhältnisse erlauben es nicht. Und der Mann mit der Geige, der sie bezaubert hat, läßt sie nicht fort. Und der Papa würde sie vielleicht auch nicht wieder aufnehmen – die arme Mama. Also muß sie selbst – Ruth – die Sache in die Hand nehmen. Reisegeld hat sie ja. Und die Adresse weiß sie auch, Frau v. Domanskas alte Kammerfrau hat sie ihr verraten.
Sie wollte schon immer einmal der Mama schreiben. Wohl zwanzig Briefe und mehr wurden auf der zierlichen Mappe geschrieben und wieder zerrissen. Du lieber Gott, was sagt denn so ein Brief! Da müßte man schon mit Engelszungen reden können wie irgendein großer Dichter oder Schriftsteller, um in nüchternen Buchstaben aufs Papier zu kritzeln, was man denkt, was man fühlt, wie heiß man sich sehnt. Nein, ein Brief ist gar nichts, ist das armseligste Ding von der Welt, wenn das Herz danach schreit, die Arme um Mamas Hals zu legen und den Kopf an Mamas Schulter zu drücken und da still, ganz still liegen und sich halbtot weinen für alles, was man fünfzehn lange Jahre hindurch entbehrt und gelitten hat.
Im bloßen Gedanken daran duckt Ruth sich zusammen wie ein frierendes Vögelchen – wie sie's als Kind getan hat, wenn die hartgearbeitete Hand der mitleidigen fremden Frau in flüchtiger Liebkosung über ihr Haar strich. O Mama!
Sie schreit es beinah laut hinaus – und dann setzt sie sich im Bett aufrecht, streicht die Haare aus der heißen Stirn und denkt angestrengt nach. Überlegt weise und klug wie ein Erwachsenes. In Dresden bringt man sie auf die Bahn, besorgt ihr Gepäck und Billet und in Posen holt der Papa sie ab. Aber in Dobrilugk, anderthalb Stunden hinter Dresden ist der Knotenpunkt, wo der Berliner und der Kottbus-Posener Zug sich scheiden. Wenn sie … wenn sie ihr Gepäck allein weitergehn ließe und sie selbst kaufte sich in Dobrilugk ein neues Billet und führe nach Berlin? Um fünf Uhr nachmittags wäre sie dort, Gott, sie fürchtet sich gar nicht, sie nimmt eine Droschke und fährt Kurfürstenstraße 7. Dann die Treppe hinauf und klingeln: Ist die gnädige Frau zu Hause? Und ihre Karte hineingeschickt. Und dann: Mama, o Mama! – Meine süße kleine Mausel! Bist du's wirklich? Mein Herzenskind – – und dann Schluchzen und Küsse und Himmelsseligkeit – und tausend Fragen ohne Ende: Wie geht es dir und wie lebst du? Und was ist aus dir geworden, liebe kleine Tochter? Wonach sehnst du dich? was glaubst und hoffst und liebst du? Ruth weiß nicht genau, was es da alles zu fragen und zu antworten gibt. Sie könnte es auch nicht sagen und erklären, sie fühlt nur instinktiv, daß es unaussprechlich süß sein müsse, wenn eine geliebte Hand sich zum allererstenmal vertraut und zärtlich auf den heimlichsten Pulsschlag ihres Lebens legen wird.
Und diese im voraus gekostete Seligkeit glüht Ruths Entschluß wie Eisen im Schmiedefeuer, und die Sehnsucht klopft und hämmert daran herum, bis er felsenfest und stark und tapfer dasteht – unerschütterlich.
In eine Handtasche packt sie das Nötigste. Was sonst noch fehlt, wird Mama ihr ja geben, und schreibt einen Brief an den Papa, den sie einen Tag vor der Reise in den Kasten wirft.
»Sei nicht bös, lieber Papa! Ich halt's nicht mehr aus, ich fahre nach Berlin zu meiner Mama und will Weihnachten mit ihr verleben. Und vielleicht – ach, lieber Papa, vielleicht holst du mich dann ab? Mama wohnt Kurfürstenstraße 7. Alle Mädel in der Pension haben Vater und Mutter und ich, ach, lieber Papa, ich möchte doch einmal wenigstens wissen, wie das ist, eine Mutter zu haben! Bitte sei nicht bös deiner Ruth.«
Und zwischen den Zeilen steht noch allerlei törichtes Zeug, was das heiße Herzchen in Hoffnung und Sehnsucht und holder Weltunkenntnis sich ausgesonnen hat: von Versöhnung und Heimkommen, und ein zaghafter Traum von einem glückseligen Kinde, das zum erstenmal im Leben zwischen Vater und Mutter sitzen darf.
Und nun war richtig alles so gekommen, wie das siebzehnjährige Köpfchen es ausgeheckt hatte und Ruth Hardenberg saß im Berliner Zuge und fuhr zu ihrer Mutter.
Es war am Nachmittag des 22. Dezember und richtiges frostklares Weihnachtswetter. Felder und Wälder verschneit, die Züge überfüllt, in allen Coupés fröhliche Gesichter, unruhige Vorfreude, kaum zu[73] bändigende Ungeduld. Ruth blaß und fröstelnd, fiebernd vor Aufregung und eiskalt bis in die Fingerspitzen, schweigsam zwischen all den anderen. Ach wenn sie jetzt allein wäre, sie hätte ihr Gesicht an die Lehne gedrückt und gelacht und geschluchzt vor zitternder Erwartung. Nun tat sie keins von beiden. Saß steif aufgerichtet, still und stumm in ihrer Ecke und starrte in das schneehelle Dämmern und auf die vorüberfliegenden Lichter und malte sich das hundertmal Geträumte aus. Ab und zu tauchte ein flüchtig unbehaglicher Gedanke an Mamas zweiten Mann in ihr auf. Wie sollte man sich dem gegenüber verhalten? wie ihn anreden? Er war's doch eigentlich, der das ganze Unglück verschuldet, dem armen Papa die Mama weggenommen, sie mit seiner Geige verzaubert hatte. Wie er nur aussehen mochte? Und seine Geige, die wollte sie hören! Ob Mama ihn wirklich noch liebte? Gott, wenn er sie nun vor Ruths Augen in die Arme nähme und küßte, – gräßlich wäre das, nicht auszudenken!
Ruth hatte ein unklares Empfinden, daß sie vielleicht allerlei Peinliches, Verlegenheitbringendes hören und sehen und erleben würde. Sie lehnte sich innerlich dagegen auf, schob es mit beiden Händen energisch von sich in den tiefsten Winkel. »Er« brauchte ja gar nicht da zu sein. War vielleicht auf einer Kunstreise, gab ein Konzert. Ach, hoffentlich!
Ruths Gedanken gingen zu tröstlicheren Bildern über: Mamas kleine feine Hände, die den Christbaum anzündeten – und sie durfte dabei helfen. Und manchmal vergaßen sie alle beide den Baum und die Lichter und küßten sich. Ruth fühlte die süßen zärtlichen Mutterküsse auf ihrem Gesicht und weiche Mutterhände[74] um ihren Hals, und Mutters blondes Haar glänzte wie Gold im Kerzenschimmer. Und nachher saß Mama am Klavier und sang all die lieben alten Weihnachtslieder: Stille Nacht, heilige Nacht – –
Und Ruth würgte an ihren Tränen.
O, was hatte sie entbehrt all die langen, langen Jahre hindurch, wo sie keine Mutter gehabt hatte!
Der Zug lief in Berlin ein und Ruth bekam glücklich eine Droschke und fuhr nach der Kurfürstenstraße. Wie im Traum läutete sie an der Haustür und hätte beinah das Bezahlen vergessen, wenn der Kutscher ihr nicht ein grob unverschämtes Wort nachgerufen hätte.
Wie im Traum stieg sie die breiten teppichbelegten Treppen hinauf, stand oben vor der Entreetür im dritten Stock, wo der Name »van Eigersloh« auf dem Porzellanschildchen stand – und wagte minutenlang nicht zu klingeln. Als sie es dann endlich doch tat und ein gewandtes Berliner Stubenmädchen im weißen Häubchen öffnete, brachte sie vor rasendem Herzklopfen kaum die Frage heraus.
»Die Gnädige empfängt nicht,« sagte die Weißbehaubte schnippisch und wollte die Tür zuschlagen, als Ruth hastig ihren Fuß dazwischen schob.
»Ach bitte, einen Moment nur, ich muß sie sprechen,« stammelte sie fast weinend vor Angst und Aufregung. Wenn nicht – was dann? wohin in der großen fremden Stadt? In all dem stürmischen Auf und Nieder ihrer Gedanken fuhr ihr das blitzgleich und schreckhaft durch den Sinn. Daran hatte sie bisher noch gar nicht gedacht: daß ein Kind vor der Mutter Tür abgewiesen werden könne!
Die zitternde Stimme, das blasse Gesichtchen mit den erschrockenen Augen stimmten das Mädchen milder.[75] Und überhaupt, es mußte doch was Feines sein, das sah man dem jungen Dinge schon an. Und was Dringendes. Fragen konnte man ja wenigstens.
»Bitte, warten Sie hier. Die gnädige Frau ist bei der Toilette. Grad' im Begriff auszugehen,« sagte sie, legte die Visitenkarte auf ein kleines Silbertablett, warf noch einen neugierig forschenden Blick auf Ruth und verschwand im Hintergrunde des Korridors.
Ruth stand allein in dem matt erleuchteten Entree, das aussah wie tausend andere Berliner Entrees, und ihr doch vorkam wie ein Heiligtum. Als stände sie in einer Kirche. Ein großer Spiegel mit schmaler Marmorkonsole, rechts und links allerlei Bilder und Büsten. Gegenüber ein Kleiderständer, daran einige Herrenhüte und Röcke hingen, – daneben ein dunkelroter Theatermantel mit weichem silbergrauen Pelzwerk besetzt – Mamas Mantel!
Um ein Haar wäre Ruth hingelaufen und hätte das Gesicht hineingedrückt – in Mamas Mantel! Sie stellte ihre Handtasche auf einen Stuhl und krampfte die Hände zusammen. Was wird nun kommen? Herrgott, so klopf' doch nicht so, du dummes Herz! – bis zum Halse herauf, als wollt' es zerspringen. Und ein Hämmern in den Schläfen. Und so komisch rot und schwarz vor den Augen – mechanisch erfaßte Ruth eine Stuhllehne und hielt sich daran fest.
Da ging eine Tür. Eine andere, als durch die das Mädchen verschwunden war. Und eine Stimme rief: »Marianne, wo stecken Sie denn?«
In der nächsten Sekunde steht eine blendend schöne Frau in eleganter, sehr tief ausgeschnittener Gesellschaftstoilette auf der Schwelle, hinter ihr flutendes[76] Licht, das ihr blondes Haar vergoldet und ihre Brillanten wie Sprühfeuer aufflimmern läßt.
Ruth hat's nicht gewollt, in ihr ist so gar nichts Theatralisches, es war bloß einfach stärker als sie – und ihre Knie zitterten so sehr, ihre Füße trugen sie nicht – ehe sie sich's versieht oder nur irgend etwas denken kann, liegt sie auf den Knien vor der wunderschönen Frau: »Mama – o meine Mama!«
»Wer … was …? Jesus – Ruth!« Entsetzen, Schreck, Erstaunen – zuletzt doch ein warmer, echter Herzenston: »Meine kleine Ruth … so groß geworden … steh' doch auf, Kind – komm' herein!«
Hinein in den Salon, in das blendende Licht – am Kronleuchter sind alle Flammen aufgedreht. Ruth sieht einen Flügel, aufgeschlagene Noten, deckenhohe Spiegel an den Wänden, tiefrote seidene Möbel, Portieren – das alles wie ein Traumbild, schattenhaft, flüchtig – zwei Arme halten sie umfangen, ein Herz pocht gegen das ihre, Mutterlippen küssen sie – und für Ruth kommt ein Augenblick der höchsten und tiefsten, der alles um sich her vergessenden, wunschlosen Seligkeit – – –
Sie wacht auf wie aus süßem Traum – und fühlt plötzlich, daß die Arme, die sie umfangen, nackt sind, der Hals, an den sie ihr tränenüberströmtes Gesicht drückt, die Schultern – nackt und warm und parfümiert. Ein Schauer läuft über sie hin, höher hinauf schiebt sie ihr glühendes Gesichtchen und preßt es gegen Mamas Wange – hat sie doch ganz vergessen, daß ihre Mama eine große Künstlerin, eine elegante Weltdame ist. Aber auch die Wange, wie sonderbar – gar nicht so weich, wie Ruth gedacht hatte – so, als wenn sie bestaubt wäre – oder gemalt?
Der erste Sturm, die erste Ekstase sind vorüber.
Liane van Eigersloh schiebt ihr Kind, das sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hat, von sich und betrachtet es prüfend. Ihr lächelndes Gesicht, über das sonderbare Streifen gehen – Ruths Tränen, die eine Verheerung in Puder und Schminke angerichtet – nimmt einen fremdkühlen Ausdruck an. Sie nickt. Ganz seine Tochter, kein Zug von ihr – schade! Ein wohlgefälliger Streifblick in den Spiegel, der sich schnell in einen bestürzten wandelt. »Gott, wie sehe ich denn aus? Ruth – liebes kleines Dummchen, wie hast du mich zugerichtet!«
Schon ist sie im Nebenzimmer hinter den roten Seidenportieren verschwunden. Man hört erregtes eifriges Flüstern, einen unterdrückten Ausruf.
Ruth sieht sich um. Sieht herrliche Gemälde an den Wänden, und kleine moderne grüngraue und elfenbeinfarbene nackte Skulpturen auf Tischchen und Etageren, wie man sie in den Schaufenstern sieht, die ihr sehr sonderbar in »Mamas Zimmer« vorkommen, zahlreiche Photographien von Mama in prächtigen Toiletten, jede anders und alle tief, sehr tief ausgeschnitten. Unmassen von Blumen, frische und welke, in Vasen und Jardinieren; Fächer, Handschuhe, Noten, alles in buntestem Durcheinander und über allem ein schwerer betäubender Duft. Sie tritt an den Flügel, auf den Tasten liegt ein kleiner parfümierter heller Handschuh – Ruth nimmt ihn in die Hand und drückt ihn an die Lippen und weiß nicht recht, soll sie lachen oder weinen.
Da kommt Mama wieder, einen seidenen Schal um die nackten Schultern, der Teint wieder tadellos wie zuvor hergerichtet, lächelnd, strahlend. Wie[78] schön sie ist, viel tausendmal schöner als Ruth geträumt hat.
»Nun, meine liebe kleine Ruth, erzähle! Wo kommst du her? Bist du dem Papa ausgerissen? Das hast du recht gemacht!«
Ruth beichtet. Anfangs stockend, dann immer beredter, vertraulicher, und die Mama hört zu, ein wenig zerstreut, wie es scheint, ein wenig nervös, jeden Augenblick sieht sie nach der Uhr. Das von der großen, großen Sehnsucht, die Ruth nachts nicht schlafen ließ und sie beinahe krank machte – dies zarteste Geständnis, das Ruth heißerglühend, das Gesicht in den buntseidenen Schal gedrückt, flüstert – hat sie offenbar gar nicht verstanden, denn fast im selben Augenblick sagt sie: »Kind, du wirst Hunger haben – warte!« und drückt auf den Knopf der elektrischen Klingel. »Bringen Sie sogleich Tee und etwas Gebäck,« befiehlt sie dem Mädchen. »Und um acht soll Luise für ein kleines Abendbrot sorgen, Bouillon, Filetbeefsteak, Salat und süßes Kompott – liebst du das Filet deutsch oder englisch, mignonne?«
»So wie du es gewohnt bist,« sagt Ruth ein wenig verstört, die sich von ihrer großen Sehnsucht nicht so schnell zu englischem Filet zurechtfinden kann.
»Nein, wie du es wünschest, Ruth,« betont die Mutter – und dann, halb verlegen: »Wir, das heißt, mein … Herr van Eigersloh und ich speisen auswärts.«
Da Ruth keine Antwort gibt, verschwindet das Mädchen.
»Du gehst fort, Mama?«
»Ich muß, Kind. Der Wagen kann jeden Augenblick kommen. Diner in der französischen Gesandtschaft – eine Absage ist unmöglich.«
Ruths Gesichtchen sieht jämmerlich enttäuscht aus – eine kleine drückende Pause entsteht. Da richtet Mama sich auf, man hört Schritte im Nebenzimmer. »Da kommt Jacques …« sie preßt Ruths Finger zusammen. »Sei lieb, ich bitte dich.«
Statt des idealen Künstlerkopfes, den Ruth erwartet hat, ein ziemlich nichtssagendes volles, glattrasiertes lächelndes Gesicht, stark gelichtetes Haar, eine große elegant gekleidete Figur – und dieser Mann, von dem Ruth nicht weiß, ob sie ihn gern haben, fürchten oder hassen soll, kommt auf sie zu, wie der Bonvivant im Theater, schüttelt ihr kordial beide Hände: »Das ist also die liebe kleine Ruth …«
Marianne, die mit einem Tablett voll Teller und und Tassen hereintritt, beendet die etwas peinliche Situation. Alle drei setzen sich um den Mitteltisch, Tee und Gebäck werden präsentiert.
»Hatten Sie eine gute Reise? Es ist bitter kalt heute,« bemerkt Herr van Eigersloh, und Ruths Mutter fügt auf französisch hinzu: »Ich hoffe, daß dein Vater dich zweiter Klasse fahren ließ?«
Ruth bejaht und nimmt fröstelnd einen Schluck heißen Tee. Sie sprechen von Dresden, von Kunstschätzen und der königlichen Familie, von allen möglichen Dingen, die Ruth unsagbar gleichgültig sind – dann erscheint Marianne und meldet den Wagen, zugleich bringt sie Mantel und Kapotte für ihre Gnädige.
»Also adieu, kleine Ruth. Mach' nicht so ein betrübtes Gesichtel, es geht wirklich nicht anders. Morgen plaudern wir weiter. Marianne wird für dich sorgen. Willst du etwas lesen? Dort im Regal liegen Bücher, die neuesten Journale. – Hast du die Noten, Jacques? – Marianne, meinen Fächer!«
Noch eine graziöse Kußhand, dann ist Ruth abermals allein. Sie sieht sich um wie betäubt – aus allen Himmeln gerissen. Das also war das Wiedersehen mit Mama, worauf sie all die langen, langen Jahre gewartet; das sie sich hundertmal in den glühendsten Farben ausgemalt; wovon sie seit dem Sommer Tag und Nacht geträumt hatte. Und das ist nun alles: kaum eine Viertelstunde – ein Dutzend flüchtigster Worte – geteilte Aufmerksamkeit zwischen ihrer Toilette, Jacques und ihrem Kinde – das sie seit fünfzehn Jahren nicht gesehen!
Und nach diesem Wiedersehen, das Ruth bis in die tiefste Seele hinein erschüttert, fährt Mama in Gesellschaft und wird fremden gleichgültigen geputzten Menschen ihre Lieder vorsingen – – und Ruth liegt in der Diwanecke, wo sie vorhin neben Mama gesessen, und schluchzt, als solle ihr das Herz brechen. Nicht mit Worten oder Begriffen macht sie sich die Grausamkeit ihrer Enttäuschung klar – aber sie fühlt diese tief und schwer wie einsame Kinder fühlen.
Sie rührt auch das appetitlich servierte kleine Souper kaum an, trinkt nur auf Mariannens Zureden einen Schluck Wein und läßt sich willenlos von dem Mädchen, das teilnehmender als ihre Herrin ist, in einem engem, eiskalten Zimmerchen, dem Badekabinett, auskleiden und in das schnell hergerichtete Bett legen.
Keine zärtliche Mutterhand, die sie zudeckt und den ungemütlichen kleinen Raum in ein Paradies umgewandelt hätte; keine »engelssüße« Stimme, die ihr Gutenacht sagt – keine Lippen, die sie küssen – und wie ein gescholtenes Kind weint Ruth sich in den Schlaf.
Aber Kinderherz ist sanguinisch und so leicht läßt Ruth mit ihrem zärtlichen Liebesverlangen sich nicht einschüchtern.
Am nächsten Morgen darf sie der Mama beim Frühstück Gesellschaft leisten.
Sie sind allein. Herr van Eigersloh, der sich beginnender Korpulenz wegen trainiert, macht seinen Morgenspaziergang.
Ruth hat allerlei erzählt, während die Mama gleichmütig in ihrer Schokolade rührt.
»Also in Inowrazlaw lebt dein Vater jetzt. Inowrazlaw – guter Gott! – Verkehr habt ihr wohl nicht?«
»Doch, Papa hat ein paar gute Freunde, den Doktor und den Amtsgerichtsrat, der furchtbar lustig ist. Und Töchter sind auch da, sehr nette Mädchen.«
»Hm, kann mir's denken. Blond gescheitelt natürlich und können malen und sticken und Klavierspielen. Und warten wohlerzogen und geduldig auf einen Mann. – Sag' mal, Ruth, dein Kleid ist natürlich auch in Inowrazlaw gearbeitet. Wie viel zahlt ihr eigentlich Fasson?«
»Neun Mark fünfzig,« sagt Ruth erstaunt und treuherzig. Sie trägt ein leidlich gutsitzendes dunkelblaues Tuchkleid von sehr jugendlichem Schnitt, das ihr vorzüglich steht, und weiß nicht recht, was sie aus Mamas Bemerkungen machen soll.
»Neun Mark fünfzig, dacht' ich's doch!« lacht die Mama hell heraus und zupft die ockergelben Valenciennesspitzen an ihrer eleganten Matinee zurecht; gleich darauf streichelt sie Ruths Wange: »Poor little darling!«
Ruth hält die Hand fest. »O Mama!«
»Was denn, dearest?«
»Denkst du noch manchmal an die kleine Mausel?« fragt Ruth, die es nicht erwarten kann, von Mamas Lippen das heißersehnte Wort zu hören.
»Welche Mausel, Kind?«
Ruth sieht sie mit großen Augen an. »Die Wanken sagte, du hättest mich immer ›süße kleine Mausel‹ genannt,« sagt sie zögernd.
»Ach ja, richtig – also Mausel – gewiß denk' ich an dich.«
»Und hast mich lieb, Mama?«
»Aber natürlich, Kleines.« Die großen ernsthaften grauen Augen, die so unverwandt und eindringlich fragen können, verursachen ihr ein leises Unbehagen.
»Weißt du was, du mußt dich anders frisieren. So …« sie lockert ein paar Haarsträhne und schiebt den Kamm, der Ruths Frisur hält, etwas tiefer. »Laß dich ansehen, siehst du?« sie hält Ruth einen Handspiegel vor, »so kleidet's dich zehnmal besser. Du studierst also Musik? Hast du denn Talent, Kleines?«
»Professor Brehmer meint es,« sagt Ruth bescheiden.
»Das hast du natürlich von mir, dein Vater besitzt nicht so viel …« Die Mama schnippt mit den Fingerspitzen.
»Darf ich dir etwas vorspielen, Mama?«
»Später. Jetzt hab' ich Kopfweh. Und Marianne räumt den Salon auf.« Auch das noch! denkt Liane Eigersloh schaudernd, als ob Gesang und Geigenspiel nicht grad des Guten genug wäre! Sie lehnt sich hintenüber, spielt mit dem Teelöffel und gähnt verstohlen. Mama spielen ist nicht so leicht, wenn man[83] jahrelang ganz aus der Übung ist. Dann fällt ihr etwas anderes ein. »Sag' mal, kommt dein Gepäck nach?«
»Mein Korb ist nach Inowrazlaw gegangen.«
Zum erstenmal denkt Ruth an ihren Vater und was der wohl sagen wird.
»Und du hast gar nichts weiter bei dir?«
»Nichts als mein Nachtzeug, Mama. Ich dachte, wenn ich etwas brauchte … ich hab' ja noch Geld, Papa schickte mir reichlich.«
»Natürlich brauchst du. Wir müssen nachher gleich ausgehen und das besorgen,« sagt Liane lebhaft interessiert und richtet sich aus ihrer halbliegenden Stellung auf.
»Aber ist mein Tuchkleid nicht gut genug? Es ist noch ganz neu und in der Pension fanden alle, es stände mir gut.«
»Nein, Kind, du brauchst eine helle seidene Bluse. Oder besser noch ein weißes Kleid. Wir haben morgen eine kleine Gesellschaft.«
»Am heiligen Abend?«
»Nun natürlich. Du glaubst doch wohl nicht, daß Jacques und ich »familiensimpeln« wollen? Uns bei der Hand fassen und um den Baum tanzen, wie zwei artige Kinder und dazu singen ›O Tannebaum, o Tannebaum …?‹«
Und Liane van Eigersloh lacht aus vollem Halse.
Ruth wagt nicht zu sagen, daß sie einfältig genug war, zu träumen, sie höre eine süße Stimme »Stille Nacht, heilige Nacht« singen. Sie kommt sich entsetzlich dumm und kindisch vor. Was für spießbürgerliche Begriffe hat sie sich eigentlich von der Mama gemacht, die eine große Künstlerin ist, eine Dame von Welt, die seit fünfzehn Jahren in der Großstadt Berlin lebt.
Mama erzählt von ihrer Gesellschaft, wer alles eingeladen ist: Künstlerinnen, Offiziere, ein paar steinreiche Junggesellen, alles distinguierte Namen, o sie verkehren in sehr guter Gesellschaft, Jacques ist Mitglied eines vornehmen Klubs. Zahllose Festlichkeiten haben sie in dieser Saison schon mitgemacht, eine Pracht und Eleganz – Ruth würde Augen machen, wenn sie das sehen könnte; von so was hätte poor little darling natürlich keine Ahnung. Und wie man Jacques und Liane van Eigersloh feierte …
Ruth hört staunend und geduldig zu und wartet, ob nicht endlich, endlich diese hunderttausend zärtlich vertraulichen Fragen kommen werden, die eine Mutter für ihr Kind haben muß, das sie so viele Jahre nicht gesehen, das sie eigentlich noch gar nicht kennt.
Aber nichts von alledem. Keine Hand, die sich in liebevollem Verstehen auf das in banger Sehnsucht klopfende Herz, auf den heimlichsten zartesten Pulsschlag ihres Innenlebens legt – und nach einer halben Stunde wird Ruth hinausgeschickt, weil Mama Toilette machen will.
Sie geht in den zwei großen Vorderzimmern umher, betrachtet die Bilder und Statuen, die sie gestern nur flüchtig gesehen und die ihr heute noch viel weniger gefallen, sucht vergebens nach einer Photographie von Mama, die nicht so schrecklich ausgeschnitten ist, blättert in den Büchern und legt sie mit hochrotem Gesicht hastig, als hätte sie sich die Finger daran verbrannt, wieder hin. Die gehören sicher Herrn Jacques van Eigersloh, wenn Mama wüßte, was alles darin steht … Zuletzt schaut sie zum Fenster hinaus auf die breite stille vornehme Straße. Die blasse Dezembersonne scheint auf die verschneiten Vorgärten; eilige Menschen[85] hasten paketbeladen vorüber, ein Dienstmann schleppt einen großen Christbaum, und Ruth erinnert sich, was sie fast vergessen hat, daß morgen heiliger Abend ist.
Da kommen von nebenan aus Herrn van Eigerslohs kleinem Privatzimmer Geigentöne. Ruth fährt herum und bleibt lauschend auf ihrem Platz stehen. Wie festgebannt. Atemlos – ihre Augen glänzen, ihr Herz beginnt zu klopfen. Gott im Himmel, wie der Mann spielt! Ja – nun glaubt sie's wirklich, daß sein Spiel die arme Mama verzaubert hat. Sie selber, Ruth, wäre ihm vielleicht auch nachgefolgt …
Wie die Geige singt und weint und bittet! Ein Lied der Sehnsucht, ein Lied der Einsamkeit, das Ruth weinen macht. Und plötzlich muß sie an ihren Vater denken. Sie sieht ihn vor sich, wie er in seinem Zimmer sitzt, am Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt. Und die Geige singt dazu. Mit einer süßen klagenden Menschenstimme singt sie ein Lied von Menschenleid. Deutlich hört Ruth die Worte. Den Text zu dem Bilde, das ihre Augen innerlich schauen: Verlassen von seinem Weibe. Fünfzehn Jahre des Grams und der Einsamkeit. Fünfzehn Jahre der Arbeit und Sorge. Und verlassen von seinem Kinde. Ganz allein. Ärmer als der ärmste Fabrikarbeiter. Allein – allein – allein –
Längst hat die Geige das Thema gewechselt und ist zu einem rauschenden Impromptu übergegangen – noch steht Ruth leidversunken. Ihre Lippen zittern, das Herz tut ihr so weh. Nie hat sie gewußt, daß es so viel Jammer auf Erden geben könnte. Daß das Leben so schwer sei! O Vater und Mutter, was habt ihr getan, daß euer Kind um euch so leiden[86] muß! Das Kind, das ihr liebhabt – und dem ihr doch das Herz zerreißt!
»Die gnädige Frau wartet,« meldet Marianne und hält Ruths Hut und Jäckchen schon in der Hand.
Eine Besorgungsfahrt mit der Mama durch die menschenwimmelnden Straßen. Und die glänzenden Geschäfte, die prachtvollen Schaufenster – Ruth, die in Dresden nicht viel hinaus kam, wird fast schwindlig vor lauter Schauen. Und was da alles gekauft wird! Ruth schaut und staunt: entzückende kleine Lackschuhe und ein feines weiches weißes Kleid mit Spitzen und blaßroten Schleifen, lange Handschuhe und ein gemalter Elfenbeinfächer an goldener Kette.
»Mein Weihnachtsgeschenk für little darling.«
Ruth küßt der guten Mama verstohlen die Hand, doch ihr Herz will nicht recht froh werden.
Nach dem Mittagsschläfchen fragt die Mama: »Du singst auch, Ruth?«
»Nein, ich hab' leider keine Stimme.«
Lianens feines musikalisches Ohr hat es längst herausgehört, aber sie kann sich den heimlichen Triumph nicht versagen. Ruth muß mit an den Flügel, Mama sucht lange in den Noten, bis sie etwas Passendes findet: Hensels süßes kleines Frühlingslied. Sie beginnt die Begleitung. Ruths Stimmchen setzt schüchtern ein, noch unsicherer als sonst, zitternd, verängstigt. Mama läßt die Hände sinken. »Nein, wirklich nicht, keine Spur von Stimme,« sagt sie aufatmend. Fast befriedigt klingt es. Etwas kühl Abschätzendes liegt auch in dem Blick, mit dem sie Ruths lang aufgeschossene schmächtige Gestalt umfaßt. Sie schüttelt den Kopf, daß die blonden Stirnlöckchen fliegen, ihre Augen leuchten. Nein – die wird ihr nicht gefährlich!
»Nun werde ich singen.«
Ein italienisches Lied – und die arme kleine Ruth, die musikliebend ist bis in die Fingerspitzen hinein, ist bezaubert, nein, hingerissen von dem Gesang ihrer Mutter. Eine Kraft, eine Höhe und Fülle, ein Schmelz ohnegleichen liegt in dieser herrlichen Stimme. Ruth fällt das naive Wort der alten Kinderfrau ein, weiß Gott, sie hat recht: wie Engelsgesang steigt der Mutter Lied von himmlischen Höhen herab, umfängt die selig lauschende Seele ihres Kindes und trägt sie empor.
»Mama, o Mama – was bist du für eine herrliche Künstlerin!«
Das Kind kniet vor ihr, glühend vor stolzer Freude. Kniet wie vor einem Heiligenbild in der Kirche. Ein Augenblick reinster Wonne, wo die Seelen von Mutter und Kind eins sind in jenem überirdischen Entzücken, das nur drei Dinge hier auf Erden über unsere schauernden Herzen auszugießen vermögen: Liebe, Kunst und Natur.
Die große Künstlerin, die vielgefeierte, der das Beifallsklatschen von Tausenden etwas Alltägliches ist, strahlt vor Glück, ein stolzer Atemzug schwellt ihre Brust. Sie küßt das Kind, dann schiebt sie es sanft von sich. Sie will mehr, noch mehr Triumphe feiern, noch mehr der Anbetung aus diesen reinen zärtlichen Kinderaugen. Schier unersättlich ist sie, wie berauscht von diesem neuen Erleben. Was sie fünfzehn Jahre lang versäumt, möchte sie in einer einzigen Stunde nachholen. Alle Erden- und Himmelsseligkeit zugleich auskosten.
In ihrem heißhungrigen, ihrem ehrgeizigen Glücksverlangen vergißt sie alle Vorsicht, vergißt, wen sie vor sich hat.
Sie beginnt ein neues Lied. Ein leidenschaftliches wildbegehrendes Liebeslied, glühendes Verlangen, stürmisches Drängen, ein Taumel der Liebesleidenschaft. Schleierlose Hingabe – Mund an Mund, Herzen an Herzen – gott- und welt- und menschenvergessen –
Ein Lied, das in der Gesellschaft wie ein zündender Blitz einschlug, die blasierten Menschen hinriß und entflammte und rasende nicht endenwollende Beifallssalven auslöste.
Und Ruth, die noch neben ihr kniet und die Worte hört und die Worte liest, die ihre Mutter singt, auf deren feinfühlige Seele die leidenschaftliche Musik fast intensiver noch als der Text wirkt, wird glühend rot bis in die dunklen Haarwurzeln. Und ihre Seele bebt und erschauert. Schleier um Schleier wird vor ihren keuschen Augen weggerissen. Hüllenlos schaut sie – zitternd, entsetzt – die Geheimnisse des Lebens.
Und solche Lieder singt ihre Mutter!
Ihre Gedanken verwirren sich, wie eine Nachtwandelnde, die im blassen keuschen Mondlicht einsam am hohen Dachfirst wanderte, über sich die Sterne und das große heilige Himmelszelt – und jählings hinabgestoßen wird in den Staub und Dunst und die widerliche Schwüle der Gassen – unter Menschen, die die Leidenschaft zu Tieren erniedrigt.
Und das tat ihre Mutter! –
Das Kind springt auf und läuft wie gejagt durchs Zimmer, wirft sich auf den Diwan und bohrt den Kopf in die Kissen, um nichts zu hören, nichts mehr zu sehen.
Bis zu dieser Stunde hat sie immer heimlich in ihrem Herzen dem Vater unrecht und der Mutter[89] recht gegeben. Jetzt in diesem Augenblick wendet sich das Zünglein der Wage, die eine fliegt hinauf, die andere sinkt tief, tief hinab – für das Kind ein erschütterndes Erleben!
Schmeichelnde Hände liebkosen sie, heiße weiche Lippen küssen sie. Sie rührt sich nicht, liegt still und stumm in den Mutterarmen.
»So sehr hat's dich mitgenommen, meine süße kleine Ruth?« flüstert eine erregte Stimme an ihrem Ohr. »Begreifst du's nun, daß ich hinaus mußte in die Welt? Daß eine Künstlerin wie ich sich nicht in dem entsetzlichen Inowrazlaw vergraben konnte?«
Ruth weiß gar nicht, ob und was sie geantwortet. Sie läßt alles Reden und Liebkosen wehrlos über sich ergehen. Über den jungen Baum, der so still im kühlen Waldesschatten aufwuchs, ist das erbarmungslose Leben hereingebrochen, wilde Stürme schütteln ihn, glühende Sommersonne versengt ihn.
Ruth liegt in den weichen Mutterarmen und ein Grauen läuft über sie hin. Und auf einmal schießt ein Wunsch in ihr auf, ein fast schmerzhaft heftiges Verlangen. Schießt empor, steil und aufrecht, wie der Schaft einer Sonnenblume, die ihr goldenes Antlitz sehnsüchtig gen Osten wendet: Ach, könnt' ich jetzt heim!
Heim in ihr stilles Mädchenstübchen mit dem schneeweißen schmalen Bett und der Defreggerschen Madonna darüber. Heim in die kleinen engen Gäßchen, wo die polnischen Juden an der Tür stehen und ihr freundlich zunicken; zu den niedrigen Kleinstadthäusern, hinter denen die verschneiten Gärten liegen. Und rings umher Wald und Feld in unberührter schneeiger Reinheit und tiefem Winterschweigen.
Heim!
Ihr graut vor der Gesellschaft am heiligen Abend, wo die Mama vielleicht wieder solch häßliche Lieder singen und Herr Jacques van Eigersloh lächelnd und strahlend und händereibend unter seinen geputzten Gästen umhergehen wird.
Aber wie soll sie es nur anfangen?
Sie sitzt abends im Eßzimmer und bindet seidene Bändchen an allerhand raffinierte kleine Geschenke, die zwischen den Christbaumzweigen hängen sollen, während Herr und Frau van Eigersloh vorn im Salon den Baum putzen. Als Ruth fertig ist, will sie hinübergehen, um der Mama ihre Hilfe anzubieten. Keine Spur von Freude ist in ihrem Herzen, nur eine große Leere, eine unsäglich tiefe Traurigkeit. Sie möchte fort – aber sie will der Mama, die doch so lieb und gut zu ihr ist, die Freude nicht verderben. So wird sie noch über die Feiertage bleiben und dann – ach, hoffentlich! kommt der Papa und holt sie heim.
Die Salontür ist verschlossen. Da geht Ruth zurück und will durch das Zimmer des Hausherrn, das sie höchst ungern betritt, hineingelangen, als sie ihren Namen hört. Unwillkürlich bleibt sie stehen.
»Wie willst du sie vorstellen?«
»Natürlich als Ruth Hardenberg, meine Tochter erster Ehe.«
»Von der kein Mensch etwas weiß. Die Sache ist mir äußerst fatal.«
»Ach, Unsinn!«
»Eine so große Tochter. Völlig erwachsen. Man wird dir nachrechnen.«
»Jesus, ja« – ein ungeduldiger Seufzer – »es geht doch nicht anders, da sie nun einmal hier ist …«[91] Dann gedämpftes Lachen: »Du – mit der Tochter nehm' ich's noch dreimal auf!«
»Aber selbstverständlich! Gib sie deshalb lieber als deine Nichte aus.«
»Das kann ich doch nicht. Was sollte das Kind wohl denken?«
»Sehr mal à propos – dies hereingeschneite Kind!«
»Mein Weihnachtsgeschenk, Jacques!«
»Ich bitte dich, tu' nicht so – Sentiments kleiden dich absolut nicht, ma chère. Im Grunde deiner Seele wünschest du sie ja doch je eher je lieber nach diesem gesegneten Inowrazlaw zurück …«
Und kein Wort aus Muttermund, das dieser harten Behauptung widerspricht – nur ein halbverlegenes Auflachen! – Im nächsten Augenblick ist Ruth allein in ihrem Badezimmerchen. Liegt auf den kalten Steinfließen, als hätte eine brutale Hand sie niedergeschlagen. Zu hart war die Enttäuschung für das zärtliche Kinderherz – zu grausam die Ernüchterung. – Eine Last ist sie für die Mama, ein ungebetener, unwillkommener Eindringling! Sie beißt sich die Lippen blutig, um nicht laut zu schreien. Zertrümmert ist der Altar, heruntergerissen ihr Heiligenbild, in den Staub getreten, beschmutzt, zerbrochen – die Stücke in alle Winde zerstreut. O, was nun, was nun? Wie kann sie weiter leben ohne diese heilige Liebe, die fromme Verehrung, die heiße Sehnsucht? – alles, was bis dahin ihr Denken und Leben ausgefüllt, ihm Inhalt und Wert gegeben – – –
»Ruth! Ruth! So komm doch, hilf die Kerzen aufstecken, mignonne!«
Noch zwei, drei Abendstunden; oberflächliches Geplauder, Lachen, Zärtlichkeiten, die für Ruth eine Marter sind.
Noch eine letzte schlaflose Nacht in dem engen eiskalten Badezimmer. Und frühmorgens, ehe das Haus erwacht – während Mama noch tief und fest in ihren gestickten Kissen schlummert – schreibt Ruth auf einen Zettel: »Sei nicht bös, daß ich fortgehe. Papa ist so allein und ich hab' Heimweh« – nimmt Tasche und Muff und schleicht sich wie ein Dieb aus dem Hause in das graue kalte Dämmern des Dezembermorgens hinein.
Und dann eine Droschke und zum Bahnhof.
Und die endlos lange Eisenbahnfahrt mit den trostlosen Gedanken, dem bettelarm gewordenen Herzen.
Und endlich ein verschneites Städtchen an der russischen Grenze.
Ein müder Mann sitzt im Dunkel des Weihnachtsabends in seinem Zimmer am Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, und denkt daran, daß heute der vierundzwanzigste Dezember ist. Und daß Weib und Kind ihn verlassen haben – daß ihm nun auf der Welt nichts mehr übrigbleibt als eine Kugel vor den Kopf oder ein Sprung in das rauschende schwarze Wasser – damit sein Kind nicht zugrunde gehe an der harten Wahl zwischen Vater und Mutter.
Draußen schlägt der Hund an. Lautes Bellen, ein freudiges Winseln, dann geht die Haustür – leise, zaghafte Schritte über den Flur. Der einsame Mann hört es nicht – vor seinen Ohren gurgeln schon die rauschenden Wasser, die ihm das letzte Lied singen werden – das ihn Jacques Eigerslohs falsche lockende Geigentöne vergessen läßt für immer.
Die Tür knarrt, der Hund springt herein – ein hastiger Schritt kommt über den Teppich – zwei Arme[93] legen sich um des Einsamen Hals, ein schneenasses kaltes Gesichtchen schmiegt sich an seine Wange. »Papa!«
Und dann ein wirres wildes Schluchzen und Stammeln, abgebrochene Laute, die sein Ohr nicht versteht und sein Herz doch errät und richtig deutet: Klagen, Anklagen, die das Vaterherz zerreißen – der ganze trost- und fassungslose Jammer einer allerersten allerbittersten Enttäuschung.
Er hält das Kind in seinen Armen und Gott selber vielleicht gibt ihm die Worte ein, die er dem beraubten, zerrissenen Herzen sagen muß, das sein Heiligstes verloren.
Und im Finstern tastet und sucht das verirrte, das verwaiste, heimatlos gewordene Seelchen, und findet zum erstenmal den Weg zum Vaterherzen. Und schlüpft hinein, schauernd, zitternd. Wie sie sich noch nie gefunden, so ergießt sich Seele in Seele in dieser heiligen Weihnachtsnacht.
Eine Uhr schlägt. Da fährt der Vater auf und wird sich des Tages und der Stunde bewußt. »Sieben Uhr, Ruth – und ich hab' nicht mal einen Baum für dich; der steht noch ungeputzt draußen im Garten.«
Enger schmiegen sich die Arme um seinen Hals – und ein bettelndes Stimmchen an seinem Ohr: »Sag' einmal ›kleines süßes Mausel,‹ Papa!«
Pause – während der man die Atemzüge beider hört. Dann sagt eine tiefe zärtliche Stimme: »Ich weiß etwas Besseres: Ruth – mein kleiner treuer Kamerad!«
»Papa!«
»Ruth – Liebling!«
Ein allerletztes verlorenes Schluchzen. Dann ein tiefes Atemholen. »Jetzt brauch' ich keinen Baum mehr. Den putzen wir morgen. Oder zu Neujahr –[94] oder wann sonst. Ich bleib' jetzt bei dir, Papa. Immer! Ich geh' nicht mehr fort.«
»Und deine Musik?«
»Ich mag sie nicht mehr, Papa! Den ganzen langen Weg hab' ich nur einen Gedanken, nur einen Wunsch gehabt …«
»Und der heißt?«
»Heim!«
Ende.
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Unser gemeinsamer Mann | 46 |
Heim! | 62 |
Auf Kriegspapier gedruckt.
Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
Korrekturen:
S. 48: Nichtraucher → Raucher
sitzen Sie Ihrer fünf im Raucher
S. 74: Porzellanschilden → Porzellanschildchen
auf dem Porzellanschildchen stand