The Project Gutenberg eBook of Rund um den Kreuzturm: Roman aus den Dresdner Maitagen von 1849

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Title: Rund um den Kreuzturm: Roman aus den Dresdner Maitagen von 1849

Author: Gustav Hildebrand

Illustrator: Josef Windisch

Release date: January 13, 2018 [eBook #56367]

Language: German

Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK RUND UM DEN KREUZTURM: ROMAN AUS DEN DRESDNER MAITAGEN VON 1849 ***

Anmerkungen zur Transkription

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Rund um den Kreuzturm


Altmarkt mit Kreuzkirche 1849

Rund um den Kreuzturm

Roman
aus den Dresdner Maitagen
von 1849

von

Gustav Hildebrand

Mit Federzeichnungen von Josef Windisch

Signet

Verlagsbuchhandlung Schulze & Co., Leipzig 1913


Geschützt durch Urheberrechtsgesetz vom 19. Juni 1901

Copyright by Schulze & Co., Leipzig 1912

Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig


[5]

Der erste Zusammenstoß vor dem Zeughaus.

Erstes Kapitel

Über der breiten Hauptstraße, die in Dresden vom Blockhaus in einer schnurgeraden Linie nach dem Bautzner Platz lief, lag die Dämmerung.

Es war ein sonniger Oktobertag gewesen. Der Wind hatte die letzten Fäden des Altweibersommers über die buntbelaubten Äste der Bäume gehängt, und auf den Bänken der breiten Mittelallee hatten sich zahlreiche Spaziergänger ausgeruht und die behagliche Wärme der Sonnenstrahlen genossen. Jetzt war es kühl, und der Abendwind bewegte leise die Zweige. Die vergilbten Blätter schwebten unaufhörlich zur Erde nieder und wurden vom Winde überallhin verstreut.

Unter den dichten Baumreihen war es belebt. Friedliche Bürger schlenderten Arm in Arm mit ihren Frauen die Allee hinab, junges Volk trieb allerhand Allotria, und Kinder tummelten sich spielend zwischen den Spaziergängern. Besonders lebhaft war es auf dem unteren Teil der Hauptstraße. Hier stand, gegenüber der Dreikönigskirche,[6] breit und wuchtig die alte Kaserne des 1. Linien-Infanterieregiments Prinz Albert.

Aus vielen Fenstern dieses großen Baues sahen Soldaten heraus, die mit untenstehenden jungen Mädchen plauderten oder mit vorübergehenden Bekannten Begrüßungen austauschten. Hier und da baumelten über ihren Köpfen an einer Schnur frischgescheuerte Halsbinden und Feldmützen. Zuweilen blieben die auf der Allee Lustwandelnden wohl ein Weilchen stehen, um den Melodien der alten Soldatenlieder zu lauschen, die aus der Kaserne schallten.

Inzwischen war es dunkel geworden, und die wenigen Gaslaternen flammten trübe auf. Auch in den Mannschaftsstuben wurde Licht gemacht.

Die Soldaten hatten heute Brotfassen. Aus diesem Grunde war das breite Hauptportal der Kaserne, wie an jedem dieser Tage, dicht umlagert. Besonders Kinder und einfache Frauen drängten sich heran, um für wenige Groschen ein frisches Kommißbrot zu erhandeln.

Unter dem hohen Torbogen stand der Posten vor dem Gewehr, die Ungeduldigen von Zeit zu Zeit zurückweisend. Hinter ihm unterhielt sich in der breiten Halle eine Anzahl jüngerer Unteroffiziere im Drillichanzug.

Plötzlich rief halblaut eine Stimme: »Der Kasernendienst!«

Im Nu kam Bewegung in die Gruppe, denn das Herumstehen im Hauptportal war verboten. Aller Blicke richteten sich nach dem auf den Kasernenhof mündenden Ausgang. Dort stand, durch die in der Mitte der Vorhalle hängende Gaslaterne nur spärlich beleuchtet, eine hohe, straffe Gestalt. Von dem breiten Gesicht war in[7] dem Halbdunkel nicht mehr zu sehen als ein martialischer, weißer Schnurrbart. Auf der Brust trug der unbemerkt Herangekommene ein dickes Notizbuch, das zwischen ein paar geöffnete Waffenrockknöpfe geschoben war.

Da tönte es scharf und befehlend durch das Portal:

»Korporal Mißbach!«

»Herr Feldwebel!« antwortete eine laute Stimme, und von der Gruppe der Unteroffiziere löste sich einer und eilte zu dem Rufer hin. Zwei Schritte von ihm entfernt blieb er kerzengerade stehen, die Hände an die Hosennaht pressend.

»Bist du für heute fertig?« fragte der Schnurrbärtige leise.

»Ja, Vater,« antwortete der junge Korporal.

»Hat deine Kompagnie nicht noch Instruktionsstunde?«

»Nein.«

»Dann wollen wir zusammen Abendbrot essen. Geh' voran, ich komme sogleich.«

Der Korporal machte auf den Hacken stramm kehrt und verschwand.

Inzwischen hatten sich die übrigen Unteroffiziere unbemerkt aus dem Staube gemacht, und das Hauptportal war leer. Der Posten vor dem Gewehr, ein älterer Soldat, stand erwartungsvoll auf seinem Platz. Die äußerliche Ruhe, die er zur Schau trug, konnte ein geübtes Auge nicht über seine innere Unrast hinwegtäuschen.

Jetzt betrat der Kasernendiensthabende mit langsamen Schritten die leere Torhalle. Ein kaum merklicher Seitenblick durch das Fenster der erhöht liegenden Wachtstube belehrte ihn, daß man darin nur auf das Zeichen wartete.[8] Noch einmal trat der Fuß des Revidierenden nieder, – da legte die Schildwache die Hand an den Mund und rief mit lauter Stimme:

»Rrrraus!«

In demselben Augenblick flog die Tür der Wachtstube auf, und die Mannschaft eilte auf den Korridor. Die Soldaten rissen ihre Gewehre aus den Stützen, stampften die kurze Treppe hinunter und stellten sich in einem Gliede schnurgerade auf. Der Kasernendiensthabende stand währenddessen unbeweglich inmitten der Halle und musterte das Heraustreten der Wache mit scharfen Blicken.

Jetzt war das Glied ausgerichtet. Der wachthabende Sergeant trat mit einer Linkswendung einen Schritt vor und kommandierte, daß seine Stimme von den Mauern zurückschallte:

»Schultert – Gwehr!«

Die Gewehre krachten an die linken Schultern.

»Präsentiert – Gwehr!«

Derselbe scharfe Ton wie vorher, als sollten die Schäfte zersplittern. Dann herrschte lautlose Stille. Der Kasernendiensthabende rührte sich noch immer nicht von seinem Platze. Aber seine Augen verschlangen förmlich die Präsentierenden.

Da näherte er sich endlich dem rechten Flügel des Glieder und der Sergeant meldete:

»Als Wachthabender! Parole Leipzig. Auf Wache und Posten nichts Neues!«

Als das Wort Leipzig fiel, blitzte es in den Augen des Revidierenden auf, und er rieb die Zähne aufeinander, daß die langen Spitzen des starken Schnurrbarts zuckten. Dann ging er mit langsamen Schritten die Wache[9] ab, jeden Mann mit durchdringendem Blick auf Haltung und Anzug musternd.

Den regungslos stehenden Soldaten wurde während dieser wenigen Sekunden schwül, und jeder riß sich zusammen. Denn Feldwebel Mißbach, der in der Reihe der Subalternoffiziere Kasernendienst tat, genoß im ganzen Regiment ein Ansehen, das schon an Furcht grenzte.

Jetzt ging er hinter der Wache entlang. Jeder Mann reckte sich unmerklich noch höher auf, und die Nacken preßten sich an Halsbinde und Waffenrockkragen. Plötzlich blieb er stehen, fuhr einem Soldaten mit der Hand unter den Tschako und schnarrte nur das eine Wort:

»Haarschnitt!«

Der Gemeinte zuckte vor Schreck leise zusammen. Diese verstohlene Bewegung war dem scharfen Auge des Feldwebels nicht entgangen.

»Stillstehen!« herrschte er den vor Aufregung Zitternden an. »Der Kerl springt im Gliede 'rum wie'n Sack voll Flöhe.«

Der Soldat stand wie eine Bildsäule und wagte nicht Atem zu holen. Erst als er gewahr wurde, daß auf die Zurechtweisung nichts folgte und der Revidierende weiterging, beruhigte er sich langsam.

»Die Wache ist gut aufgestellt,« sagte Feldwebel Mißbach außergewöhnlich wohlgelaunt zum Wachthabenden. »Tragen Sie ins Journal ein: Revision fünf Uhr fünfundfünfzig.«

»Schultert – Gwehr! – – – Beim Fuß – Gwehr! – – – Trett – ab!«

Damit ging die Wachtmannschaft auseinander, froh,[10] daß die Revision so gut abgelaufen war. »Der liebe Gott« – wie Feldwebel Mißbach im Regiment allgemein genannt wurde – hatte heute seinen guten Tag.

Unterdessen war der Korporal Heinrich Mißbach durch eine lange Flucht matterhellter Korridore und über einige Treppen gegangen, bis er das Revier der 3. Kompagnie erreicht hatte. Hier öffnete er die erste Tür, schlug den dunkeln Wollvorhang dahinter zurück und betrat die väterliche Wohnung. Am Fenster saß eine weibliche Gestalt, die beim Schein einer dicken Stearinkerze nähte.

»Guten Abend, Linchen!«

Das Mädchen ließ die Arbeit sinken und sah auf. Als sie den Bruder erkannte, huschte wie ein Sonnenstrahl ein mattes Lächeln über ihr bleiches und eingefallenes Gesicht.

»Guten Abend, Heinrich!« erwiderte sie. Und ihre großen Augen blieben an der Gestalt des Eingetretenen hängen.

Heinrich Mißbach ging zu dem gelben Kachelofen, legte die Hände auf den Rücken und lehnte sich stumm daran.

»Soll ich dir eine Tasse Kaffee einschenken?« fragte das Mädchen mit herzlicher Bereitwilligkeit, »er ist gerade noch warm.«

Mit diesen Worten war sie zum Tellerbrett gegangen, hatte eine mit bunten Blümchen bemalte Steinguttasse herabgenommen und wollte gerade die eiserne Ofenröhre aufmachen, als der Bruder sagte:

»Ich habe schon in der Menage Kaffee getrunken. Laß es sein, Linchen. Der Vater schickt mich; ich soll mit euch Abendbrot essen.«

[11]

Das Mädchen stellte die Tasse schweigend wieder auf den Platz zurück. Beim Hinaufreichen klirrte das Geschirr in ihrer Hand; ihr Arm mochte wohl zittern.

Karoline Mißbach zählte vierunddreißig Jahre. Sie war klein und ein wenig verwachsen.

Heinrich beobachtete seine Schwester verstohlen; er fühlte, daß er sie mit seiner Antwort betrübt hatte. Und es schien ihm, als ob der alte Leidenszug auf ihrem Gesicht heute tiefer ausgeprägt sei, denn sonst. Sie war vor dem Tellerbrett stehengeblieben und wandte ihm den Rücken. Der Anblick ihrer hinfälligen Gestalt und ihre ergebene Haltung schnitten ihm ins Herz.

Mit ein paar langen Schritten war er an ihrer Seite, faßte sie um die Schultern und zog sie an sich.

»Linchen,« sagte er leise und in weichem Ton, »sei nicht so traurig. Es tut mir doch weh, wenn ich's mit ansehen muß.«

Das ältliche Mädchen lehnte den Kopf an die Brust des großen Bruders und sah mit dem Ausdruck eines unsäglichen Glücksgefühls zu ihm auf. Ihr Gesicht war verhärmt und unschön. Aber aus ihren großen Augen strahlte unerschöpfliche Herzensgüte. Jetzt schimmerten diese Augen in feuchtem Glanz.

»Wenn du doch öfters zu mir kommen wolltest, Heinrich!« sagte sie leise. Da schwieg sie auch schon wieder, weil sie den Vorwurf empfand, der in ihren Worten lag. Sie entwand sich den Armen des Bruders und hantierte verlegen vor dem Tellerschrank herum.

Heinrich Mißbach kehrte zum Ofen zurück. Er war ein großer, breitschultriger Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren mit schwerfälligen Bewegungen.

[12]

»Sei nicht böse, Linchen,« versetzte er mit leise durchklingender Herzlichkeit. »Du weißt ja …«

Die Schwester seufzte tief.

»Ja, ich weiß,« sagte sie mit unsäglicher Bitterkeit.

»Wenn ich dich bloß aus diesem Kerker befreien könnte!« fuhr der junge Korporal auf, seine natürliche Gelassenheit vergessend. Dazu sah er sich in dem weißgetünchten, mit nüchternem Kasernengerät dürftig ausgestatteten Raum zornig um.

»Heinrich,« flehte das Mädchen, »hier wurden wir ja geboren, und auch unsere Mutter hat hier gelebt.«

Diese Worte schlugen den aufwallenden Zorn des Bruders nieder.

»Bist du gestern bei Marschalls gewesen?« fragte er begütigend.

»Ich war drüben,« antwortete sie. »Und ich soll während des ganzen Winters in jeder Woche auf zwei Tage kommen. Valentinens Ausstattung wird genäht.«

Heinrich sah schweigend vor sich nieder.

»Wenn wir diese guten Leute nicht hätten, Linchen,« versetzte er endlich.

Das Mädchen seufzte wieder, antwortete aber nicht.

»Und wenn es unsere leiblichen Eltern wären, sie hätten nicht besser an uns handeln können,« murmelte er.

Die Schwester nickte stumm und senkte den Kopf auf die Brust.

Da fuhr sie plötzlich in die Höhe. Der Tür näherten sich stampfende Schritte, und gleich darauf trat Feldwebel Mißbach in die Stube.

»Na, Junge, da bist du ja schon!« rief er Heinrich zu,[13] der sich beim Eintreten des Vaters unwillkürlich aus seiner bequemen Haltung aufgerichtet hatte.

»Linchen, schaff' Nahrung!« fuhr Mißbach die Tochter mit lauter Stimme an, »ich habe einen wahren Wolfshunger.«

Mit Hast schlug das Mädchen die Doppeltür des Küchenschrankes auf, während Mißbach den Säbel abschnallte und an den eisernen Haken am Türgewände aufhing. Dann zog er den Waffenrock aus und fuhr in eine alte, tuchene Ärmelweste, deren niedriger Kragen mit einer schmalen, weißgrünen Bandborte und zwei Wappenknöpfen besetzt war.

»Steh' nicht wie ein Pfahl, Junge!« rief Mißbach mit seiner schallenden Stimme. »Jetzt ist's aus mit den Honneurs. Hier bist du gemütlich zu Hause. Nicht wahr, Linchen?«

Das Mädchen lächelte demütig.

»Setz' dich da her, Heinrich! Und du trag' auf!«

Der junge Mann gehorchte und nahm dem Vater gegenüber am Tische Platz. Linchen ging zum Fenster, holte den eisernen Leuchter und stellte ihn auf den weißgescheuerten Tisch. Dann brachte sie das Abendbrot. Mißbach ergriff den frischen Brotlaib, kratzte mit dem Messer drei fromme Kreuze darauf und schnitt auf.

»Das Ränftchen kriegt heute der Junge,« sprach er und warf Heinrich den knusperigen Anschnitt zu.

»Frisches Wurstfett von Beilichs,« sagte Linchen, dem Vater den Napf hinschiebend.

»Ausgezeichnet!« frohlockte dieser und strich das grünliche Fett dick auf die Schnitte.

»Hier, Junge – und nun iß!«

[14]

Linchen setzte sich zwischen Vater und Bruder an die Schmalseite des Tisches und schnitt eine saure Gurke in Scheiben.

Mißbach war ein hoher Fünfziger, von straffer, soldatischer Haltung. Seine Brust war breit, und der weißhaarige Kopf saß auf einem wahren Stiernacken. Seine gute Stimmung war offensichtlich.

»Kinder,« versetzte er, mit vollen Backen kauend, »heute ist der Tag von Leipzig. Gott straf' mich, – mein Ehrentag! Laßt's euch erzählen, wie's zuging.«

Die Geschwister kannten die nun folgende Geschichte schon auswendig.

»Halt!« rief Mißbach, bevor er begann, lief zur Tür und schrie hinaus:

»Hegenbarth!«

Linchen trat währenddessen zum Schrank und nahm ein großes Glas mit silbernem Deckel heraus, auf dem inmitten eines erhaben gearbeiteten Eichenkranzes ein kleiner Tschako aufgelötet war. Das war das Bierglas, das Feldwebel Mißbach von den Offizieren des Regiments am Tage seines dreißigjährigen Dienstjubiläums als Geschenk erhalten hatte.

Soldat Hegenbarth, Mißbachs Faktotum, trat in die Stube, nahm das Glas und brachte es nach erstaunlich kurzer Zeit mit dunkelm Bier gefüllt zurück.

»Also, der Tag von Leipzig!« rief Mißbach mit blitzenden Augen. »Prost!«

Nachdem er einen tiefen Zug getan, wischte er mit dem Handrücken den Schaum von dem langen Schnurrbart, strich rasch ein paarmal die Enden hinaus und begann:

[15]

»Ihr wißt, wie ich's im Sommer Anno dreizehn bei meinem Gutsherrn nicht mehr aushielt. Als von Leipzig die Kunde ins Land ging, eine Anzahl Studenten hätte sich den Preußen angeschlossen, marschierten wir ihrer fünf Bauernjungen aus dem Sächsischen geradeswegs in die Festung Magdeburg hinein. Hier lernten wir rasch den Schießprügel gebrauchen. Ein paar Wochen darauf standen wir schon unter Blüchers Kommando. Alles war fieberhaft erregt; man munkelte, es würde bald losgehen.

Da krachten von Leipzig her Kanonen. Wir schrien auf vor Ungeduld! Was befiehlt aber der schuftige Bernadotte dem Blücher? Marschieren Sie nach Wittenberg! Doch unser Alter war viel zu schlau. Er ließ sich durch Napoleons Geflunker nicht täuschen wie der Schwedenprinz. Pariert also vor dem Feind nicht Order, sondern rückt nach Leipzig! Wär's schief gegangen, so hätten sie ihn vor den Sandhaufen gestellt!

Bei Möckern kriegen wir endlich den Marmont zu packen, aber gleich so fest, daß ihm die Luft ausgeht. Gottstrambach! Wir waren einfach nicht mehr zu halten. Ganze Bataillone brachen vor ohne Kommando, über Hecken, Zäune und Mauern hinweg. Die Franzosen hatten das Dorf besetzt und wollten es nicht hergeben. Wir stürmen! Kartätschen schlagen in uns ein und metzeln die Kompagnien reihenweis nieder. Wir stürmen! Da sind wir Mann an Mann. Jetzt war ihnen das letzte Brot gebacken!

Wie die leibhaftigen Teufel fahren wir in ihre Artillerie und bringen die Kanonen zum Schweigen. Aber weiter! Eine Kirchhofsmauer hemmt unsern Lauf. Helft[16] mir hinauf, schrei' ich. Da heben mich schon starke Arme hoch. Ich trete auf die Mauerkrone, – krach! fährt vor mir ein Schrapnell in den Boden und wirft eine Wolke von Erde und Steinen auf mich. Ich falle rückwärts von der Mauer hinab, die Augen voll Sand. Man stellt mich von neuem hinauf, und ich springe hinunter. Andere folgen mir. Zwischen den Stätten der Dahingeschiedenen hebt nun eine grausige Schlächterei an.

Da sehe ich, nicht weit entfernt, einen baumlangen Franzosen, der auf einer Stange einen flügelspreizenden Adler aus glänzendem Erz trägt. Das Blut steigt mir ins Hirn! Ich breche quer durch die Kämpfenden, bis ich vor dem Goliath stehe. Her damit! schrei' ich ihn an und will ihm den Stock aus den Händen reißen. Er lohnt mir's mit einem Fußtritt. Da hau' ich ihm die Flinte über den Schädel, daß der Kolben zersplittert, – und mit ihm seine Stirn. Der Riese stürzt wie ein Sack nieder; ich habe die Stange mit dem Vogel! Jetzt fallen mich die Rothosen an wie Wölfe. Blind vor Wut faß' ich mein Gewehr an der Mündung und schwing' es im Kreise um mich herum.

Da bekam manch einer eine arge Kopfnuß! Aber ich hatte die Trophäe und hätte sie für's ewige Leben nicht wieder hergegeben!«

Feldwebel Mißbach hatte sich warm geredet. Jetzt schlug er mit der Hand auf die Tischkante, beugte sich über das Bierglas und sagte eindringlich:

»Kinder! Vierzig Kanonen haben wir an diesem Tage genommen, aber nur einen einzigen Adler. Und das war der meinige!«

Heinrich hatte anfänglich nur mit Widerstreben der[17] Erzählung zugehört. Allmählich hatte ihn jedoch die packende Schilderung mit fortgerissen. Jedesmal, wenn der Vater mit seiner anschaulichen Lebhaftigkeit diese Szene erzählte, wurde Heinrich warm. Wahrlich, ihn trennte innerlich eine Kluft von seinem Vater. Aber zuweilen empfand er fast widerwillig eine stumme Hochachtung vor ihm.

»Als nach dem Feldzug die Eisernen Kreuze verteilt wurden,« fuhr Feldwebel Mißbach fort, »erhielt ich eines der ersten. Und wie wir aus Frankreich zurückgekehrt waren, da hatte ich mich des Pflugs und des Dreschflegels entwöhnt. Nachdem die Freiwilligen ihren Abschied erhalten hatten, bot ich unserm jetzigen Regiment meine Dienste an. Man stellte mich jungen Dachs mit der hohen Auszeichnung, die in Sachsen nur noch wenige trugen, mit Freuden ein. Heute jährt sich der Tag von Leipzig zum fünfunddreißigsten Male!«

Mißbach legte das Messer beiseite. Das war für Linchen das gewohnte Zeichen. Sie lief zum Pfeifenbrett, wo sie stets einen frisch gestopften Kopf bereit hielt, und brachte die lange Pfeife. Dann schlug sie einen Funken vom Stahl, fing ihn mit dem Zunder auf und hielt diesen an den Tabak, worauf Mißbach unter großem Behagen mit mächtigen Zügen den Rauch vor sich hinpaffte.

»Was ich noch sagen wollte,« hob er wieder an und lehnte sich dabei zurück: »Kinder, ihr wißt, daß wir jetzt in einer ganz verteufelten Zeit leben. Die Welt dreht sich nicht mehr friedlich rundum wie bisher. Man möchte sie aus den Angeln heben. Vor ein paar Monaten wurde in Berlin so ein bißchen Revolution gespielt. Gott sei[18] Dank mißglückte der Versuch. Andere Städte hatten Geschmack daran gefunden und folgten. Hierzulande ist man friedlicher gesinnt. Aber allerlei dunkle Ehrenmänner blasen insgeheim in die Funken unter der Asche. Und so leid mir's tut, wenn ich's aussprechen muß: der Herr Advokat Marschall …«

»Vater!« rief das Mädchen mit angsterfüllten Augen und zitternden Lippen. Aber schon erschrak sie ob ihrer Kühnheit.

»Ja, Linchen, ich muß es aussprechen,« fuhr Mißbach mit ungewohnter Duldsamkeit fort, »unser Herr Advokat gehört auch zu den Friedensstörern. Ich weiß ja, daß ihr sagen möchtet, er hat uns viel Gutes erwiesen. Niemand kann's leugnen. Aber – die Pflicht vor allem! Bis zu meiner Sterbestunde soll's ihm unvergessen sein, wie er an eurer Mutter und an mir und an euch gehandelt hat. Und die Madam nicht weniger. Alles das darf uns aber nicht hindern, den richtigen Weg zu gehen.«

Mißbach schwieg. Die Geschwister tauschten rasch einen verstohlenen Blick aus.

»Der Herr Advokat ist von der Oppositionspartei, wie sie die Leute nennen. Viele hohe Herren gehören ihr an, das ist unbestritten. Sogar Minister sind dabei und – wie gesagt – selbst Offiziere. Das mag jeder für sich verantworten, wenn's von ihm gefordert wird. Ich will jedenfalls meine Hände rein halten. Und ihr habt zu handeln wie euer Vater. Deshalb verlange ich von euch, daß ihr das Haus des Herrn Advokaten so lange meidet, bis er nicht mehr in dem Ruf steht, gegen die alte Ordnung zu räsonnieren. Heinrich, du verstehst mich,« schloß Mißbach mit einem strengen Blick auf seinen Sohn.[19] »Und du, Linchen, gibst die Nähtage bei der Madam vorderhand auf!«

Das stille Mädchen mit dem Duldergesicht saß mit niedergeschlagenen Augen regungslos. Aber in ihrer Brust stieg – wohl zum erstenmal in ihrem Leben – ein Sturm herauf, und die bleichen Wangen färbten sich dunkelrot.

»Vater,« versetzte sie mit mühevoller Zurückhaltung, »nur ein paar Wochen laß mich noch hingehen.«

Mißbach blies gleichmütig den grauen Rauch in die Luft.

»Unmöglich, Linchen.«

»Valentinens Wäscheausstattung soll fertiggestellt werden.«

»Warum nicht? Dafür findet sich jeden Tag eine Näherin.«

Das Mädchen zitterte vor Aufregung. Der Widerstand, den sie geleistet, brach schon zusammen. Ihre Kraft war nur stark im Dulden, nicht im Kämpfen. Sie krampfte unter dem Tisch die Hände ineinander und stieß in flehentlichem Ton aus:

»Vater, du bist grausam! Bedenke doch, wie gern wir zu Marschalls gehen.«

»Mehr als mir lieb ist.«

»Besinn' dich auf alles, was wir ihnen zu danken haben …«

Mißbach trank ruhig sein Bier aus.

»Heul' nicht, Mädel,« sagte er kurz. »Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß wir diesen Leuten Dank schulden. Der Herr Advokat ist ein Ehrenmann! Wer das jemals in Abrede gestellt hätte, wär' mein Feind gewesen. Aber seit einiger Zeit ist auch in ihn, wie in[20] so manchen andern hochachtbaren Mann, der Teufel gefahren. Ich darf es nicht mehr länger mit ansehen, daß meine Kinder im Hause eines Anhängers der Opposition ein- und ausgehen. Basta!«

Heinrich hatte während dieser Unterhaltung still vor sich hin gesehen. Sein Denken und Tun war von Natur aus schwerfällig; darin unterschied er sich aufs schärfste von seinem Vater. Aber wenn er sich in etwas verbissen hatte, so ließ er auch nicht wieder davon ab. Einen gefaßten Vorsatz verfolgte der junge Mann mit äußerster Zähigkeit.

Jetzt räusperte sich Heinrich und versetzte stockend:

»Wer kann denn aber behaupten, daß die Demokraten sich nicht um das Wohl des Volkes sorgten? Die Männer, die an der Spitze dieser Bewegung stehen, werden bloß deshalb angefeindet, weil sie anders wollen, als die Regierung.«

Mißbach nahm die Pfeifenspitze aus dem Mund und sah seinen Sohn mißbilligend an.

»Und die offene Gewalt, die sie anderwärts schon anwendeten?« sagte er barsch. »Warum reizen sie die Menge auf, bis Blut fließt? So machten sie es in Berlin und erst vor kurzem auch in Wien. Ich habe nicht danach zu fragen, was die Volksaufwiegler beabsichtigen, und ob noch so viel ehrenwerte Männer in ihrem Lager sind. Ich bin Soldat. Damit ist es entschieden, welche Gesinnung ich habe. Sie wenden sich wider Regierung und König. Das genügt für mich, sie als meine Feinde anzusehen!«

Heinrich ließ sich durch diese Worte aber nicht irre machen. Doch schwieg er. Denn der Vater betrachtete jede Gegenrede, wie er wußte, als Widerspruch. Und die[21] Erziehung der Geschwister war von Jugend an darauf gerichtet gewesen, sein Urteil als höchste Wahrheit anzusehen und sich unter seinen eisernen Willen zu beugen.

»Was reden wir aber lange von Dingen, die uns nichts angehen,« versetzte Mißbach ungeduldig. »Du bist wie ich Soldat, Heinrich. Was ich von mir sagte, gilt ebensogut für dich! Wir haben unsern Fahneneid geschworen. Seitdem gehören wir mit Leib und Seele dem König. Was sich gegen ihn richtet, trifft auch uns. Wenn er seine Soldaten ruft, marschieren wir. Und damit Gott befohlen. Blitz und Donnerschlag soll den treffen, der anders denkt!«

Während der letzten Worte stand Feldwebel Mißbach auf, ging in die Ecke zum Spucknapf und klopfte die kalte Asche aus dem Pfeifenkopf.

»Jetzt muß ich die Bodenräume revidieren, mein Kasernendienst ruft wieder,« sagte er, zum Säbel greifend. »Wenn ich zurückkomme, mach' ich auf dem Sofa ein Nickerchen. Gegen elf weckst du mich, Linchen! Dann will ich die Kasernentore noch ein Stündchen im Auge behalten. Vor allem aber jetzt ein frisches Glas Bier in der Kantine. Heute ist Leipzig! Mein Ehrentag! Teufel nochmal!«

Damit stampfte er hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Gleich darauf hörten die Zurückgebliebenen vom Korridor her seine scheltende Stimme.

Jetzt sahen sich die Geschwister stumm an. Der verzweifelte Blick des Mädchens begegnete dem trotzigen des Bruders.

»Heinrich,« wehklagte Linchen, »nun verlangt der Vater auch noch dieses Opfer von uns.«

[22]

»Er ist ein Unmensch,« knirschte der junge Mann. »Ah …, wie das wohltut, einen so liebevollen Vater zu haben!«

»Glaub' mir, er empfindet Freude dabei, wenn er uns das Marschallsche Haus verbietet; er ahnt es, wie schwer er uns damit trifft,« versetzte Linchen.

Dazu weinte sie still in sich hinein.

»Ich weiß es,« antwortete Heinrich dumpf, während ein furchtbarer Zorn in ihm heraufstieg. »Schon von frühester Jugend an,« fuhr er mit zusammengebissenen Zähnen fort, »hat er uns gequält. Wenn er wußte, daß wir eine Freude hatten, so dämpfte er sie. Ja, er brachte uns selbst in frohe Stimmung, um diese bald wieder zu verscheuchen, weil man vor allem in der Lust Maß halten müsse. Wie oft hat er unsern kindlichen Frohsinn nicht grausam in Leid verwandelt. Der Mensch sei nur geschaffen, damit er seine Schuldigkeit tue, war sein immer wiederkehrendes Wort. Pflicht hieß der Knüppel, mit dem er jede heitere Regung in uns niederschlug. Pflicht und immer wieder – Pflicht!«

Der junge Mann sah finster vor sich nieder. Seine starken Fäuste lagen auf dem Tisch. Ihr Zucken verriet die gewaltige Erregung, die den Phlegmatischen durchzitterte.

Da fuhr er auf.

»Verflucht sei die Pflicht, die der unschuldigen Freude den Ausdruck wehrt und das Leben zur Qual macht! Heuchelei und Unnatur ist das, nichts anderes!«

Linchen war erschrocken zusammengezuckt. In solchem Zorn hatte sie den Bruder noch nicht gesehen. Sie neigte sich zu ihm und schmiegte sich zitternd an seine Brust.[23] Diese Bewegung machte den Wütenden ruhiger. Und im plötzlichen Aufwallen seines mitleidigen Herzens preßte er die Zitternde an sich. Er wußte, daß ihr Leben noch ärmer an Freude gewesen war, als das seinige. Seit seiner frühesten Jugend hatte die ältere Schwester Mutterstelle bei ihm vertreten. Während langer Jahre hatte sie keine Liebe genossen, bis er herangewachsen war und sie sich beide fest aneinander geschlossen. Von unscheinbarer Gestalt wie die Mutter und mit einem tiefen Stachel im Herzen, war sie wie die Verstorbene freudlos durchs Leben gegangen.

»Linchen, sei nicht traurig,« sagte Heinrich schmeichelnd und strich der Schwester die Haarsträhnen von den eingefallenen Schläfen zurück. Sie sah ihn an, und ein ganzer Himmel von Liebe brach aus ihren vergrämten Augen, seine Freundlichkeit lohnend.

»Ich habe ja dich, Heinrich,« stammelte sie, unter Tränen lächelnd.

Der junge Mann merkte, wie sich auch seine Augen füllten. Da stand er rasch auf, um Linchen seine Weichheit nicht sehen zu lassen.

Linchen deckte nun schweigsam den Tisch ab, und Heinrich verfolgte in Gedanken versunken mit den Augen ihre Bewegungen. Dann trug sie die Kerze wieder zum Nähtisch und setzte ihre Arbeit fort. Da sagte Heinrich der Schwester gute Nacht und verließ sie.

Als er seine Stube betrat, war die ganze Visitation darin versammelt und putzte beim Kerzenschein die Gewehre und Uniformstücke für den Dienst am nächsten Morgen.

Heinrich setzte sich an seinen Tisch am Fenster, stützte[24] den Kopf in die Hand und sah sinnend hinaus in die Dunkelheit und auf die gegenüberliegenden Häuser der Ritterstraße. Unten im Speisesaal schälte eine Kompagnie Kartoffeln; ihr Gesang schallte dumpf aus der Tiefe herauf:

Was nützet mir ein schöner Garten,
wenn Andre drin spazieren gehn.

Hinter ihm pfiffen die Mannschaften Tanzbodenmelodien und machten derbe Scherze. Der junge Korporal am Fenster hörte es kaum.

Zu Marschalls sollte er nicht mehr gehen? Die Menschen sollte er meiden, von denen er so viel Liebes und Gutes erfahren?

Der Vater hatte des Advokaten politische Anschauung getadelt! Wer so hohe Ehrbegriffe besaß wie Marschall, wer in der ganzen Stadt solche Achtung genoß und heimlich so viel Wohltaten erwies, – ein solcher Mann sollte einen Vorwurf verdienen? Heinrich lachte bitter in sich hinein, wenn er Marschall mit seinem Vater verglich. Nur ein wenig möchte der Vater von Marschalls Herzensgüte besitzen!

Des Grübelnden Aufmerksamkeit wurde jetzt auf die Vorgänge in der Stube gelenkt. Der Gefreite vom Tagesdienst war mit dem Parolebuch vom Hauptmann zurückgekehrt. Er warf die große Ledertasche auf den Tisch und schnallte das Seitengewehr ab.

»Kameraden,« sagte er laut und nahm den Tschako vom Kopf, »heute ist im Körnergarten zur Erinnerung an die Schlacht von Leipzig Tanz. Wie wär's, wenn wir alle hingingen!«

[25]

»Wir haben keine Nachtzeichen,« versetzte einer der Soldaten. »Wenn es anfängt schön zu werden, müssen wir nach Hause.«

»Ach was,« sagte der Gefreite mit gedämpfter Stimme. »Wenn wir kein Blech haben, so streichen wir eben Zapfen. Wer hat denn heute Kasernendienst?«

»Der liebe Gott,« erwiderte ein anderer leise und sah verstohlen nach dem Korporal.

»Ffft,« machte der Gefreite, »das ist freilich faul!«

Einige der Soldaten stimmten trotzdem für das längere Ausbleiben, andere fanden es sehr bedenklich.

Da konnte es Heinrich nicht länger aushalten. Er stand auf und ließ eine Kerze auf seinen Tisch stellen. Dann nahm er seinen kleinen Spiegel aus dem Schrank, kämmte sich vor ihm sorgfältig das Haar, zog seinen besseren Waffenrock und die guten Dienststiefel an und schnallte das Seitengewehr um. Nachdem er noch den Mützenschirm mit dem Rockzipfel blank gerieben, schloß er seinen Schrank zu und verließ die Stube.

Der Abend war fast kalt. Leichter Nebel wallte in den Gassen und trübte die halbkreisförmigen Flammen der Gaslaternen. Auf der Allee waren jetzt nur noch wenig Menschen. Aber vor den hellen Schaufenstern drängten sie sich auf dem Bürgersteig.

An der Ecke der Ritterstraße wohnte ein Kaufmann. Heinrich betrat den Laden und kaufte zwei Dreierzigarren. Hiervon brannte er sich eine an, während er die andere zwischen die Waffenrockknöpfe schob. Seit kurzem war ja den Soldaten das Rauchen auf der Straße gestattet, und von dieser Erlaubnis wurde viel Gebrauch gemacht.

Nun schritt er die Hauptstraße entlang. Ob denn der[26] Vater im Ernst daran glaubte, daß er nicht mehr zu Marschalls gehen würde? Heinrich erschien das Verbot mit einem Mal lächerlich. Bis jetzt hatte er in allem das Geheiß des Vaters befolgt, so schwer es ihm zuweilen auch geworden war. Aber hier? Hier konnte, nein, hier wollte er ihm nicht gehorchen! Er hätte damit ja alles aufgeben müssen, was ihm Freude machte. Denn an dieser Familie hing der junge Mann mit seinem ganzen Herzen!


Zweites Kapitel

Heinrichs Mutter war als Mädchen bei Marschalls Näherin gewesen und ihnen auch noch dann treu geblieben, nachdem sie Mißbach geheiratet hatte. Marschalls hatten die stille Frau lieb gehabt und ihr viele Wohltaten erwiesen. Es war ihnen bekannt, daß sie an der Seite ihres polternden und jähzornigen Gatten furchtbar litt. Die liebevollen Menschen bewunderten die Seelengröße des einfachen Weibes, mit der sie ihr schweres Geschick ergeben trug. Nie kam eine Klage von ihren Lippen, und Tröstungen, die man ihr zusprach, wies sie sanft zurück.

Linchen begleitete als kleines Kind die Mutter an ihren Nähtagen regelmäßig in das Marschallsche Haus. Später tat es Heinrich. Dort verlebten beide die glücklichsten Stunden ihrer Kindheit. Vor dem wetternden Vater daheim fürchteten sie sich. In dem alten, dunkeln Hause des Advokaten dagegen ging ihnen das Herz auf. Hier waltete köstlicher Frieden. Und die nach dem Hofe gelegene, hoch gewölbte Galerie, die breiten Treppen[27] mit den angetretenen Sandsteinstufen und die vielen heimlichen Schlupfwinkel boten ihren Spielen und ihrer kindlichen Phantasie einen unerschöpflichen Anreiz.

Als Linchen zehn Jahr alt geworden war, durfte sie die Mutter nicht mehr begleiten. Daheim lag ein großköpfiger, starker Junge in der Wiege, der die kleinen, dicken Fäuste verlangend nach seiner jungen Pflegerin ausstreckte. Dieses Brüderchen war das getreue Abbild des Vaters, was dem Gestrengen nicht wenig schmeichelte. Und er gelobte sich, den Jungen zu einem tüchtigen Soldaten zu erziehen.

Das Würmchen lag noch in den Windeln, als Feldwebel Mißbach mit der Erziehung auch schon begann. Nun ist es allerorts sattsam bekannt, daß die Kinder, besonders im zartesten Alter, gegen die erziehlichen Einwirkungen der Eltern entschiedene Abneigung besitzen. Auch der kleine Heinrich betrachtete die hierauf gerichteten Bemühungen seines Vaters recht argwöhnisch. Der heimliche Zwist zwischen Vater und Sohn trat etwa um die Zeit offen zutage, als Heinrich die ersten Gehversuche machte. Vater Mißbach hatte einen harten Kopf, aber auch der seines Söhnchens war nicht von Pappe. Bedauerlicherweise schien diese Tugend die einzige zu sein, die sie gemeinsam besaßen.

Noch guckte dem kleinen Heinrich das weiße Zipfelchen fürwitzig aus dem Hosenschlitz, als er schon seine festen Grundsätze hatte. Und er fand es recht störend, daß der Vater immer anders wollte, als er. Dennoch verfolgte er seine Eingebungen mit äußerster Zähigkeit.

Gegen die wie Graupelwetter auf ihn niederfallenden Belehrungen zeigte Heinrich offene Geringschätzung, und[28] die väterlichen Liebkosungen waren ihm unbequem. Heinrich offenbarte keine Anlage, jemals ein rücksichtsloser Draufgänger zu werden, wie es sein Vater war. Im Gegensatz zu diesem faßte er seine Entschlüsse langsam, und sein Handeln war träge. Aber in dem beharrlichen Festhalten an seinen Vorsätzen und in der skrupellosen Verachtung des Eindrucks, den seine Willensäußerungen machten, war er dem Vater überlegen.

So bestand schon frühzeitig eine Spannung zwischen Vater und Sohn, deren Ursache ihre gänzlich verschiedenen Charaktereigenschaften bildeten und welche von Tag zu Tag durch eine Erziehung verschärft wurde, die zwar das Beste des Kindes wollte, aber doch verkehrt war. Und als eines Tages der Dreikäsehoch der väterlichen Erziehungskunst rücksichtslos eine scharfe Abfuhr erteilte, war der Bruch fertig. Dem Feldwebel Mißbach trat endlich die Galle ins Blut. Mit fester Faust hob er den jungen Verächter seiner weisen Lehren an der Jacke hoch in die Luft und hielt ihm mit der Säbelscheide eine aufs knappste zusammengedrängte Vorlesung über die Pflichten eines braven Kindes – die übliche letzte Zuflucht, wenn sich die rednerische Begabung als zu kümmerlich erweist.

Der kleine Heinrich quittierte dieses Höchstmaß aller bisher empfangenen Prügel mit weithin vernehmlichem Einspruch. Und der Zufall fügte es, daß sich diese familiäre Auseinandersetzung an einem schönen Sonntagvormittag mitten auf dem Kasernenhof abspielte. Ihre Lebhaftigkeit rief die Soldaten aller Kompagnien an die Fenster, so daß die Exekution sozusagen vor versammelter Mannschaft vollzogen wurde.

[29]

Seit diesem Tage lebten Vater und Sohn in offener Feindschaft.

Wenn Mißbach die feinen Regungen der Seele seines Kindes verstanden hätte, würde er entdeckt haben, daß Heinrich nur mit Hilfe eines Mittels zu erziehen war: mit Liebe. Hätte der Knabe diese genossen, wäre er leichter als viele andere Kinder zu zügeln gewesen. So aber begleiteten ihn auf seinem Lebenswege Strenge und Grausamkeit. Das Kind mit der fein empfindenden Seele wurde widerspenstig und störrisch, wie es das Los verprügelter Kinder ist.

Der geringe Rest von Liebe zu seinem Vater verschwand spurlos aus dem Herzen des heranwachsenden Knaben, als er die unzähligen feinen Nadelstiche empfand, die der Vater ihm schonungslos – aus erzieherischer Notwendigkeit, wie er meinte – zufügte. Da erstarrte die kindliche Seele allmählich. Am schwersten freilich litt das blutende Mutterherz. Bis es den Gram nicht länger tragen konnte und aufhörte zu schlagen. –

Die Hauptstraße hinabschreitend, hatte Heinrich seine frühe Jugend wieder einmal an seinem Geiste vorüberziehen lassen. Bei ihr verweilten seine Gedanken ungern. Danach aber kamen herrliche Jahre, eine Zeit, um derentwillen ihm das Leben erst wertvoll erschienen war. Es war sein Aufenthalt im Marschallschen Hause.

Nachdem Heinrich die Garnisonschule verlassen, willigte der Vater auf Marschalls Zureden darein, daß sein Sohn den geschätzten Beruf eines Advokatenschreibers einschlug. So kam Heinrich zu seinen Wohltätern.

Advokat Marschall hatte noch nie einen so anstelligen und gelehrigen Schreiberlehrling besessen, wie Heinrich[30] es war. Seine Handschrift war wie in Stahl gestochen, und die Schleifen der Buchstaben waren so überaus zierlich und wohlgerundet, daß jedermann seine Freude daran hatte. Bald schrieb er alle notariellen Verhandlungen und feierlichen Urkunden. Und wenn der Herr Kanzleivorsteher an den hohen Aktenständern vorüberging, liebäugelte er mit den klaren, wohlgefälligen Aufschriften auf den Aktenschwänzen und nannte Heinrich im stillen eine wertvolle Kraft der Kanzlei.

Aber auch in andern Dingen verstand es Heinrich vortrefflich, sich in die Gunst seines Brotherrn zu setzen.

Frau Marschall war eine gutherzige Dame, die das Vertrauen des verschlossenen Jungen im Fluge gewonnen hatte. Sie kannte die Qualen, die er unter der Erziehung seines Vaters erlitten, und ihr weibliches Empfinden ließ sie ahnen, wie sehr sich Heinrich seit dem Tode seiner Mutter nach Liebe gesehnt. Deshalb war sie mild und gütig zu ihm und sorgte für sein Wohlbefinden wie für das ihres eigenen Kindes.

Heinrich erkannte ihre Zuneigung mit unsäglicher Freude, und das übervolle Herz des Knaben hängte sich an seine Wohltäterin. Er verehrte Frau Marschall aus tiefster Seele. Wo er sich ihr dienstbar erweisen konnte, tat er's, und seine unbeholfenen Bemühungen für die grenzenlos verehrte Frau fanden zuweilen einen rührenden Ausdruck.

Der junge Schreiberlehrling begnügte sich aber nicht allein mit seiner Tätigkeit in der Advokaturkanzlei.

Wenn Heinrich nach Schluß der Schreibstube in der Küche sein Abendbrot verzehrt hatte, machte er sich überall nützlich. Mit Hammer und Zange strich er wie ein guter[31] Geist durch die Räume des alten Hauses, klopfte hier und da einen locker gewordenen Nagel fest, brachte geschickt schwer zu schließende Türschlösser in Ordnung, wachte darüber, daß die leeren Waschfässer nicht eintrockneten und erwarb sich die volle Gunst der alten Köchin durch allerlei Handreichungen. Kein schiefhängendes Rouleau entging seinem spähenden Blick, und die Türen getrauten sich kaum noch, leise zu knarren. Sogleich erschien Heinrich mit seinem Fläschchen und kitzelte mit dem öligen Federbart ihre trocken gewordenen Angeln.

Besuchte Frau Marschall das Königliche Hoftheater, so ging Heinrich mit gravitätischen Schritten hinterdrein und trug den großen Operngucker. War die Vorstellung zu Ende, so wartete er schon wieder unter einem bestimmten Baum am Zwingerwall und hing seiner Herrin das schottische Umschlagetuch zum Schutz gegen die Abendkühle sorgfältig über die Schultern. Zu Hause angekommen, schloß er die Tür auf, zündete die am Fuß der Treppe zurechtgestellte Kerze an und leuchtete der Madam vorauf.

Bevor er aber seine Bodenkammer aufsuchte, ging er in die Küche, briet über der Öllampe gewissenhaft kleine Speckstückchen lecker, als Nachtschmaus für seine kleinen Freunde, die Mäuse, die er mit einer engelsfrommen, nicht müde zu machenden Beharrlichkeit bekriegte.

Sobald dann am nächsten Morgen das liebliche Geräusch der Kaffeemühle an sein feines Ohr drang, stand er hurtig auf und huschte im schlichten Nachtgewand und auf bloßen Füßen zu den Mausefallen. Und wenn er ein unglückliches Opfer darin entdeckte, spiegelte sich in seinem Auge ungeheuchelte Freude.

[32]

Mit diesen vielseitigen Talenten machte sich Heinrich im Marschallschen Hause geradezu unentbehrlich. Überall verspürte man sein stilles Walten. War etwas verlegt, so forderte man seine Hilfe; er fand es. Auf dem Boden wußte er unter den alten weggestellten Geräten ebensogut Bescheid, wie im Keller unter den Einmachetöpfen, Kartoffeln und Kohlen. – Heinrich war der Liebling des Hauses.

Die kleine Valentine, Marschalls einziges Kind, war ihm besonders zugetan. Bereits in früheren Jahren, als er die Mutter an ihren Nähtagen zu Marschalls begleitete, hatte er mit dem um wenige Jahre jüngeren Mädchen herzliche Freundschaft geschlossen. Keine von Valentinens Gespielinnen verstand es so gut, mit Puppen umzugehen, wie Heinrich. Seine Phantasie war unerschöpflich im Erfinden neuer Spiele. Jeden Tag sorgte er für Abwechslung. Und seine Geduld und Nachsicht, die das kleine, herrische Wesen manchmal arg herausforderte, kannten keine Grenzen. –

Von diesen freundlichen Erinnerungen begleitet, hatte Heinrich den Weg zurückgelegt und die Schloßgasse erreicht. Nun bog er in die kleine Brüdergasse ein und betrat das Marschallsche Haus. Schon auf der Treppe drang ihm ein süßer Duft entgegen. In der Küche stand vor dem Herd die Köchin und rührte mit einem langen Holzlöffel emsig den Inhalt eines großen, eisernen Topfes durcheinander.

»Du kommst wie gerufen,« sagte Frau Marschall, als sie ihn bemerkte. »Valentine, gib dem Heinrich erst mal eine tüchtige Käsebemme, dann mag er weiterrühren. Ich habe noch ein paar Metzen Pflaumen bekommen,« setzte sie zur Erklärung für ihn hinzu.

[33]

Mit diesen Worten war Frau Marschall aus der Küche gegangen, als sie noch einmal zurückkam.

»Hast du heute Nachtzeichen?« fragte sie.

Heinrich war verdutzt. Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Erinnerung an die Unterhaltung der Soldaten in seiner Stube, die das späte Heimkommen aufgaben, weil sein Vater Kasernendienst hatte. Da sah er in das erwartungsvolle Gesicht von Frau Marschall, die, wie es schien, seine Hilfe brauchte.

»Ja,« log er und legte Mütze und Seitengewehr auf den Fensterstock.

»Das paßt gut. Wir haben heute abend Gesellschaft, da kannst du den Herren immer frisches Bier hineintragen. Dort in der Ecke liegt das Fäßchen.«

Damit ging sie.

»Hier ist deine Bemme, Heinrich,« sagte Valentine und legte das bereitete Käsebrot auf den Küchentisch.

Heinrich biß herzhaft hinein. Das schmeckte besser als das Abendbrot des Vaters! Dann nahm er der Köchin den Holzlöffel aus der Hand und rührte das Mus fleißig um.

»Wer kommt denn heute?« fragte Heinrich.

»Ach, du kennst ja doch alle,« antwortete Valentine ausweichend und unter leichtem Erröten, während die Köchin mit den Kellerschlüsseln hinausging.

Nun plauderten sie miteinander. Heinrich warf ab und zu einen verstohlenen Blick zur Seite. Valentine wird wirklich immer hübscher, dachte er. Zwar war der ausgeprägte Zug um ihren Mund für ein junges Mädchen zu herb. Aber die schöne, breite Stirn und der ruhige Blick ihrer braunen Augen gefielen ihm.

[34]

Valentine war schon für die Gesellschaft angekleidet. Die einfache, blaue Wollbluse spannte sich über ihrer kräftig entwickelten Brust.

»Wie geht's Linchen?« fragte Valentine im Gespräch.

Heinrich empfand plötzlich ein Würgen in der Kehle und räusperte sich.

»Gut,« versetzte er etwas kurz, »wie immer.«

»Sie kommt doch von nächster Woche ab zwei Tage?« meinte Valentine dringlich.

Heinrich wußte nicht sogleich zu antworten. Sollte er beichten, daß ihnen der Vater heute ihr Haus verboten hatte? Und der Ingrimm stieg wieder in ihm herauf. Ach, mochte es Linchen doch selbst ausrichten. Sie würde in den nächsten Tagen sicherlich zu Frau Marschall gehen.

»Wenn du es ihr gesagt hast, wird sie schon kommen,« versetzte er unwirsch und stieß den Löffel wiederholt nachdrücklich in die Tiefen des Muses hinein.

Valentine stand auf und trat an den Herd.

»Du tust doch gerade, als ob du den Boden vom Topf stoßen müßtest,« sagte sie lachend. »So rührt man ja in ganz Dresden kein Pflaumenmus. Warum bist du denn mit einem Mal so schlecht gelaunt? Bin ich etwa schuld daran?«

Heinrich fühlte, daß er sich verraten hatte. Die letzten Worte des Mädchens aber machten ihn verlegen.

Er lächelte und rührte besänftigt weiter.

»Warum sollte ich denn schlechter Laune sein?« warf er gleichmütig hin, »was du nicht gleich denkst.«

Das Mädchen trat an ihn heran, legte den Arm auf seine Schulter und strich liebkosend über sein welliges[35] Haar. Heinrich tat, als wenn er das nicht bemerke, aber ein unsägliches Glücksgefühl erfüllte ihn.

»An diesen langen Ohren habe ich mich immer festgehalten,« sagte Valentine und nahm seine Ohrmuschel in die Hand. »Du krochst auf den Knien in der Stube herum, und ich ritt auf deinem Rücken. Jetzt weiß ich erst, was für ein gutmütiger Junge du gewesen bist. Kein anderer hätte meine Teufeleien so willig ertragen wie du. Denkst du noch manchmal daran, Heinrich?«

Der Bursche stand regungslos über den großen Topf gebeugt, und der Rührlöffel lag untätig in seinen Händen.

»Laß das Pflaumenmus nicht anbrennen,« mahnte das Mädchen. Da erinnerte er sich seiner Pflicht und nahm hurtig die Kreisbewegungen wieder auf.

Draußen klangen leichte Schritte, und das Mädchen trat vom Herd zurück.

»Guten Abend, Fräulein Valentine,« tönte im nächsten Augenblick eine Stimme hinter ihnen.

Heinrich guckte sich neugierig um. In der Tür stand hoch aufgerichtet ein junger Offizier ohne Säbel und Mütze. Es war Leutnant Allmer von seiner Kompagnie. Da trennte Heinrich sein Schicksal von dem des Pflaumenmuses und ließ den Löffel im Stich. Er ruckte zusammen und nahm militärische Haltung an. Der Offizier blickte überrascht zuerst auf den Korporal, dann auf das Mädchen.

»Rühr' weiter, Heinrich,« sagte Valentine ruhig und wandte sich an den Eintretenden. »Guten Abend, Herr Leutnant. Sie lieben Überraschungen …«

Den jungen Offizier machte diese Begrüßung sichtlich sehr verlegen. Er schlug die Hacken zusammen und ergriff rasch die dargebotene Hand.

[36]

»Ihre Frau Mutter schickt mich … sie sagte … ich solle doch gleich einmal … Sie seien in der Küche …«

»Rühr' weiter, Heinrich,« gebot Valentine noch einmal dringlich, als sie sah, daß dieser noch immer steif stand. Denn Mannszucht und Überraschung hielten den jungen Korporal im Bann. Auf die abermalige Mahnung gedachte er wieder des Pflaumenmuses und rührte nun um so geschwinder.

Mit ruhiger Sicherheit wandte sich das Mädchen wieder zu dem Offizier:

»Ich darf es der Mutter nicht länger überlassen, die Gäste allein zu bewillkommnen. Gehen wir hinein, Herr Leutnant.«

Während Valentine das sagte, näherten sich auf dem Gang gewichtige Schritte der Tür, und ein großer, wohlbeleibter Mann mit weißem Haupthaar und Vollbart trat in die Küche. Leutnant Allmer eilte auf ihn zu:

»Herr Advokat …«

»Ei der Tausend,« rief dieser erfreut, »willkommen!« und reichte ihm die Hand. »Wollen Sie nicht immer hineingehen, Herr Leutnant? Aber ich hörte doch, der Heinrich sei da? Ah, da ist er ja. Stich flink das Fäßchen an, Heinrich, und bring' uns Bier.«

»Rück' den Topf vom Feuer,« rief Valentine.

»Ach so, der Junge rührt Pflaumenmus,« meinte Herr Marschall, wobei sich sein breites, gutmütiges Gesicht zu einem Lächeln verzog.

Da klangen von neuem Tritte und Stimmen auf dem Gang, und gleich darauf drängten sich mehrere Herren herein.

»Wie wär's, wenn wir es uns heute abend in der Küche[37] bequem machten,« schlug einer vor, worauf die andern lachend beistimmten.

Advokat Marschall lachte am meisten.

»Meine Frau wird außer sich sein, wenn sie diese Bescherung sieht,« versicherte er. »Aber, erlauben Sie: Herr Leutnant Allmer, – Herr Doktor Minkwitz, Herr Advokat Tzschirner, Herr Hofbaumeister Semper, Herr Musikdirektor Röckel.«

»Nein, was soll denn aber das bedeuten?« rief hinter ihnen Frau Marschall, die Hände zusammenschlagend.

Ihre weiteren Klagen wurden von der lauten Heiterkeit der Herren übertönt.

»Kommen Sie, Herr Hofbaumeister,« wandte sich Frau Marschall an den ihr zunächst stehenden Herrn, »wir wollen vorangehen.«

»Ihr Diener, Madam,« versetzte dieser, der Hausfrau artig den Arm reichend. Und so zog die ganze Gesellschaft unter ausgelassener Fröhlichkeit wieder zur Küche hinaus. Leutnant Allmer und Valentine bildeten den Schluß.

Nur Heinrich blieb zurück und schlug geschwind den hölzernen Bierhahn in das Fäßchen.


Als einige Stunden später die Herren das Marschallsche Haus verlassen hatten, ging auch Heinrich nach Hause. Mit raschen Schritten lief er die Schloßgasse hinab, durch das dunkle Georgentor und trat sodann auf den Schloßplatz.

Es war eine kühle Herbstnacht. Der Mond war von Wolken ganz verhüllt. Nur ein paar vereinzelte Sterne funkelten am Himmel.

[38]

Der mächtige Bau der katholischen Hofkirche lag wie ein ungeheurer Felsblock zu seiner Linken. Von ihrem Haupttor schallten die langsamen Schritte eines Nachtwächters herüber.

Die Uhr des Schloßturms verkündete gerade mit feierlichen Schlägen die Mitternachtsstunde, als Heinrich die Augustusbrücke betrat. Hier standen die Gaslaternen in großen Abständen. Ihr spärliches Licht wurde von der Dunkelheit fast aufgesogen. In der Tiefe rauschte dumpf die Elbe, deren hochgehendes Wasser sich an den mächtigen steinernen Pfeilern brach. Auf dem Strom lag undurchdringliche Finsternis. Drüben am Belvedere auf der Brühlschen Terrasse schimmerten matt ein paar Lichter.

Heinrich empfand leises Unbehagen. Wenn er nur erst in seinem Bette läge, dachte er. Er tat es ungern, Zapfen zu streichen.

Endlich stieg am Ausgang der Brücke der kolossale Würfel des Blockhauses aus der Dunkelheit herauf. Der Posten vor dem Gewehr der Neustädter Hauptwache lehnte verschlafen am Schilderhaus und sah über den Markt hinweg auf den stumm zu Pferde sitzenden August den Starken.

Heinrich ließ die Hauptstraße links liegen und schlug den Weg durch die Kasernenstraße ein, an dem langgestreckten Gebäude der Ritterakademie vorbei. Jetzt hatte er die Kaserne erreicht. Unwillkürlich verkürzte er seine Schritte. Ob Linchen schon schlief? Sicherlich nicht. Sie wachte ja die halben Nächte durch und nähte für die Herrschaften!

Er ging über die Ritterstraße und blieb vor dem hohen Hoftor stehen. Oder sollte er bis zum Tor in der[39] Magazinstraße gehen? Dort galt das Übersteigen für weniger gefährlich! Aber seine Trägheit siegte, und er blieb.

Heinrich sah sich nach allen Seiten um. Kein Mensch war zu sehen. Die mächtige Kaserne lag wie ausgestorben. Hinter keinem Fenster, so weit er sehen konnte, brannte noch Licht. Da stieg er entschlossen auf den Prellstein neben dem Tor, griff in eine Vertiefung im Rahmen des Holzes und kletterte, Füße und Knie zwischen Tor und Mauer einstemmend, so weit in die Höhe, bis er mit der rechten Hand die obere Kante des Tores erfassen konnte. Nun griff er mit der Linken nach, machte einen Klimmzug und schwang sich in Reitsitz. Prüfend glitten seine Augen in die pechschwarze Dunkelheit hinein. Bevor er hinabsprang, mußte er überzeugt sein, daß niemand in der Nähe lauerte.

Aber so weit der Blick reichte, war nichts Verdächtiges zu sehen. Da ließ er sich leise am Tor hinab und sprang auf die Erde. Noch einmal lauschte er – kein Laut! Vorsichtig ging er bis zur Ecke des Gebäudes, von wo er den Kasernenhof übersehen konnte.

Der ausgedehnte Platz lag in tiefer Einsamkeit. Die Finsternis ließ den Blick nicht weit dringen. Totenstille! Die Tritte seiner schweren Stiefel so viel er konnte dämpfend, lief Heinrich quer über den gepflasterten Weg, der rund um den Kasernenhof führte, bis er die festgestampfte Erde des Exerzierplatzes unter den Füßen fühlte. Hier waren seine Schritte fast unhörbar. Das Tor, durch welches er in die Kaserne gelangen konnte, lag in der Mitte des Flügels; es stand auch während der Nacht offen. Langsam ging er weiter und stierte[40] unter Anspannung aller Sinne in die Dunkelheit hinein.

Plötzlich blieb er stehen. Hatte er nicht ein leises Geräusch gehört? Seine Schläfen schmerzten, so angestrengt sah er den Weg entlang. Da erkannte er in geringer Entfernung eine menschliche Gestalt, die regungslos am Stamm einer der Platanen am Rande des Exerzierplatzes lehnte. Heinrich starrte nach dem Baum. Nein! Es war kein Irrtum, dort stand jemand.

Blitzschnell wandte er sich um; – da rief laut eine befehlende Stimme:

»Halt! Stehen bleiben!«

Den jungen Korporal durchzuckte es: »Der Vater!« Gleichzeitig hörte er, wie dieser ihm nacheilte.

Schnell lief Heinrich den gepflasterten Weg zurück. Aber kaum hatte er ein paar Schritte getan, als sein Knie mit aller Kraft gegen einen harten Gegenstand rannte. Es war eine der Bänke, auf denen die Soldaten Sonnabends ihre Drillichkleidung scheuerten und die er in der Dunkelheit nicht bemerkt hatte. Das leichte Gerät flog unter lautem Geräusch zur Seite.

Heinrich fühlte einen heftigen Schmerz am Knie und stürzte seiner ganzen Länge nach auf die Steine. Im nächsten Augenblick sprang er wieder auf, den Schmerz verbeißend. Aber schon hörte er dicht hinter sich die eilenden Schritte seines Vaters.

Da fiel sein Blick auf ein offen gebliebenes Speisesaalfenster zu ebener Erde. Wie toll schoß er darauf zu, stolperte jedoch, schlug noch einmal hin und rutschte alsdann auf der schiefen Fläche der Fensterhöhlung kopfüber in den Speisesaal hinunter. Halb betäubt von dem[41] Sturz raffte er sich auf und eilte durch den dunkeln Raum nach der Tür. Sie war verschlossen. In blinder Wut warf er seinen schweren Körper so heftig dagegen, daß die Krampe aus ihrem steinernen Lager flog und die Tür donnernd aufsprang. Dann lief er weiter. Am vorderen Ende des Ganges blieb er keuchend stehen und horchte. Es war alles still. Hastig zog er die Stiefel aus, nahm sie in die Hand und rannte in sinnloser Eile nach dem Revier der 4. Kompagnie.

Endlich hatte er sein Bett erreicht, das sich in dem Karree der Unteroffiziere befand. Eine übermannshohe Wand aus Latten und grauer Leinwand trennte diese Lagerstätten von denen der Mannschaften. Auf dem großen Schlafsaal herrschte tiefe Stille. Nur das übliche laute Schnarchen einiger Schläfer war zu hören.

Heinrich blieb erschöpft vor seinem Bett stehen und wischte sich mit dem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Das verletzte Knie schmerzte fürchterlich. Endlich ging sein Atem langsamer, und er kleidete sich aus.

Da hielt er plötzlich inne: auf dem Korridor klangen hastige Schritte. Vornübergebeugt lauschte er mit offenem Munde eine Sekunde lang. Dann vernahm sein scharfes Ohr deutlich Säbelklirren. Und diese Tritte? Es war wieder sein Vater! Er mußte ihn in der Dunkelheit unsicher erkannt haben und hegte Verdacht. Geschwind ergriff Heinrich Mütze, Waffenrock, Stiefel und Seitengewehr und schleuderte alles unter das Bett. Dann riß er die Hosen und Unterhosen auf, schob sie bis unter die Knie hinab, sprang ins Bett und warf sich die Decken über.

Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen,[42] und Feldwebel Mißbach trat in den Schlafsaal. Er nahm die Laterne mit der trübe brennenden Öllampe von dem Nagel in der Tür und näherte sich mit wuchtigen Tritten dem Bett seines Sohnes. Heinrich lag unbeweglich auf dem Rücken – scheinbar in tiefem Schlafe. Kopfschüttelnd leuchtete Mißbach dem Schläfer ins Gesicht. Schon wollte er sich wieder entfernen, als er plötzlich die Bettdecke erfaßte und bis über den Leib des Liegenden zurückschlug. Heinrich fühlte, wie sein Herzschlag aussetzte.

Wenn der Vater die Decke noch um eine Handbreit tiefer hinabschob, sah er die Hosen, und er war entdeckt! Ein furchtbarer Zornausbruch seines Vaters mußte folgen. Zudem würde er morgen sein Zuspätkommen und seine Flucht im Frührapport dem Regiment melden. Ja noch mehr! Er würde den Ungehorsamen auf der Stelle arretieren und auf die Kasernenwache bringen.

Heinrich zwang mit ungeheurer Willenskraft seine Aufregung nieder. Kein Muskel zuckte in seinem starren Gesicht …

Da warf Feldwebel Mißbach die Decke wieder zurück, trug die Laterne wieder zur Tür und verließ den Schlafsaal.

Noch lange, nachdem Heinrich die Tritte hatte verhallen hören, lag er regungslos. Ein furchtbarer Kampf tobte in ihm. Scham und Zorn rangen miteinander. Und er fühlte zum erstenmal, solange er diente, mit grausamer Deutlichkeit, was für ein schlechter Soldat er war. Jeder seiner Kameraden beschämte ihn. Warum mußte ihn aber auch sein Vater gewaltsam aus dem Marschallschen Hause reißen, aus einem Berufe, dem er mit Lust und voller Hingabe angehangen! Sein Vater! Alles, was[43] ihm in seinem Leben Kummer bereitet, war von seinem Vater gekommen! Und zuletzt hatte ihn dieser in eine Laufbahn gezwungen, in der er sich tief unglücklich fühlte.

Heinrichs Zorn bäumte auf. Ja, jetzt wußte er es: er haßte seinen Vater!

Da war es ihm, als wenn eine linde Hand über sein Haar striche, – Valentinens Hand. Und in seinem Ohre klang leise ihre liebe Stimme. Im Nu war der jähe Zorn des jungen Menschen verraucht, und er empfand, daß er weich wurde.

Eine Zeitlang biß Heinrich die Zähne zusammen und sträubte sich tapfer gegen die Schwäche. Zuletzt fühlte er sich aber besiegt. Er wandte den Kopf auf die Seite und weinte still bittere Tränen.


[44]

Der Zug mit dem ersten Toten vor dem Königlichen Schloß.

Drittes Kapitel

Am nächsten Vormittag exerzierten die Rekruten aller Kompagnien wie alltäglich auf dem Kasernenhof.

Unter den vielen kommandierenden Unteroffizieren befand sich auch Heinrich. Seine Visitation übte gerade langsamen Marsch. Die jungen Soldaten waren noch reichlich unbeholfen. Sie standen zaghaft auf einem Bein und wackelten wie schlafende Hühner.

»Lehrschritt vorwärts – marsch!« kommandierte Heinrich mit Löwenstimme. Da warf die im Gänsemarsch stehende Reihe die Beine in die Luft, und jeder kämpfte mit den herabhängenden Armen um das bedrohte Gleichgewicht wie ein unsicher gewordener Seiltänzer, bis die riesigen Transtiefel krachend niederschlugen. »Und – rechts! und – links! und – rechts! und – links! …«

»Halt! Los!« Nach diesem Kommando guckten sich die jungen Soldaten jedesmal verwundert um und freuten sich, den soliden Kasernenhof wieder unter beiden Füßen zu haben.

[45]

Jetzt trat Leutnant Allmer, sein Rekrutenoffizier, an ihn heran.

»Korporal Mißbach,« fragte er leise, »hatten Sie gestern Nachtzeichen?«

Heinrich fühlte einen Stich in der Brust.

»Zu Befehl, Herr Leutnant,« antwortete er, ohne sich zu besinnen.

Leutnant Allmer hatte diese Antwort erwartet. Eine Sekunde lang stand er unschlüssig; er wußte, daß der junge Korporal die Unwahrheit gesagt hatte. Dann wandte er sich ab und ließ Heinrich stehen.

Um elf Uhr war das Exerzieren zu Ende. Und weil heute Sonnabend war, fiel die übliche Gymnastik und das Gewehrfechten am Nachmittag aus. Dafür fand gründliches Revierreinigen statt.

Leutnant Allmer wartete noch so lange, bis die Visitationen eingerückt waren. Dann verließ er durch das Hauptportal die Kaserne. Die Hände in den Manteltaschen, schritt er langsam schräg über die Allee und durch das Schmiedegäßchen bis zur Königstraße. Hier betrat er das gegenüberliegende Haus und zog an dem spiegelblanken, messingnen Klingelknopf im ersten Stock.

Nachdem ihn das Mädchen eingelassen hatte, klopfte er an eine der weißlackierten Türen und trat sodann in die Stube.

»Guten Tag, Tante,« sagte er, die Tür behutsam hinter sich schließend.

Auf dem verschossenen roten Ripssofa mit eingewirkten gelben Phantasieblumen saß häkelnd eine hagere, kleine Dame, um deren Mund und Augen ein spätherbstlicher Zug lagerte.

[46]

Sie erwiderte seinen Gruß in kühlem Ton und reichte ihm mit einer gemessenen Bewegung die Spitzen ihrer langen, dürren Finger. Dann zeigte sie stumm auf den Stuhl gegenüber. Leutnant Allmer nahm an dem runden Sofatisch Platz, während die kleine Dame die Häkelnadel wieder ergriff, die während der kurzen Begrüßung neben dem riesigen Ball zusammengewickelter Spitze geruht hatte.

Diese schon lange verblühte Jungfrau war Tante Sidonie. Sie lebte von einer sehr bescheidenen Rente, aß nur wenig mehr als ihr noch älterer Papagei und verrichtete all ihr Tun und Lassen mit einer feierlichen Pedanterie, daß ihre Bewegungen zuweilen wie die einer Marionettenfigur erschienen. Bei alledem war sie sehr fleißig! Mangels einer andern Beschäftigung strickte sie im Laufe eines jeden Jahres einen vollgemessenen Scheffel Strümpfe, häkelte ein Knäuel Madeiraspitze von der Größe einer Kanonenkugel und saß dabei ein tiefes Loch in das Sofa, – ebenfalls jedes Jahr eins.

»Warst du kürzlich bei Abendroths, liebe Tante?« fragte Leutnant Allmer ein wenig kleinlaut.

Tante Sidonie richtete über die hüpfenden Finger hinweg den Blick scharf auf den Frager, wobei sich ihre spitze Nase zu verlängern schien.

»Nein, Kurt,« erklärte sie in feierlichem Ton, »ich hatte in dieser Woche noch keine Zeit, Besuche zu machen.«

Das klang wie ein sanfter Vorwurf.

Leutnant Allmer blickte schweigend auf die Kanonenkugel und verstand.

Diesem angeregten Zwiegespräch folgte eine längere Pause. Dem jungen Offizier wurde es ungemütlich. Er[47] sah vor sich nieder und spielte mit seinem Portepee. Die Augen der Tante glühten wie Kohlen. Er fühlte förmlich ihren sengenden Blick auf seinem Gesicht.

»Bist du viel ausgewesen?« fragte sie endlich scheinbar harmlos.

Leutnant Allmer rückte sich auf dem Stuhl zurecht und war entschlossen, scharf auf der Hut zu sein. Jetzt begann es. Vorläufig plänkelte sie freilich noch.

»Zweimal,« versetzte er vorsichtig. »Am Dienstag bei der Kommandeuse auf einen Löffel Suppe und gestern beim – Advokaten Marschall.«

Tante Sidoniens Rücken hatte sich während der letzten Worte heimlich von der Sofalehne losgelöst. Jetzt saß sie steif wie eine Wachsfigur. Nur die Finger, die wie Tanzpuppen durcheinanderflogen, bewegten sich an ihr. Das Häkchen der Nadel schoß von Zeit zu Zeit blitzschnell vor, faßte mit seinem scharfen Zahn den immer ängstlicher werdenden Faden, sprang alsdann wieder zurück und führte ihn mit so ungewöhnlicher Geschwindigkeit durch ein Labyrinth von Schleifen und Maschen, daß ihm hätte schwindelig werden dürfen. Dem wie gebannt zuschauenden Neffen gingen die Augen davon über.

»Beim – Advokaten – Marschall?« wiederholte sie mit Geisterstimme.

Leutnant Allmer nickte.

»Bei Marschall,« wiederholte er wie ein Echo.

Das dumpfe Ticktack des langen Perpendikels der alten Schwarzwälder Uhr klang in das Schweigen hinein. Der junge Mann strich sich über die Stirn und schloß eine Sekunde lang die Augen. Da war es ihm, als wenn er[48] nächtlicherweile einsam im Bankettsaal einer alten Burg säße und die schlurfenden Schritte von unsichtbaren Gestalten vernähme.

Aus dieser Beklemmung befreite ihn Tante Sidoniens vorwurfsvolle Stimme.

»Kurt,« sagte sie halblaut.

In dem jungen Mann begehrte es auf. Er umklammerte den Säbelgriff krampfhaft und sagte:

»Es tut mir aufrichtig leid, daß du für Marschalls so wenig Sympathien hast, liebe Tante; es sind wirklich recht umgängliche Menschen.«

Die hagere Gestalt auf dem Sofa schien zu wachsen. Ihre Augen nicht von der Arbeit wendend, bot sie ein Bild vollkommener Ruhe. Nur die Finger tanzten emsig, und der Faden machte verzweifelte Kreuz- und Quersprünge. Der Neffe verspürte einen Hauch eisiger Kälte, der von dem grell gemusterten Sofa ausging. Da ließ Tante Sidonie plötzlich die Hände in den Schoß sinken.

»Du weißt, wie man von Marschall spricht,« versetzte sie.

Kein Fremder hätte aus dem ruhigen Ton ihre innere Erregung herausgehört. Tante Sidonie war viel zu sehr Dame, daß sie ihre Gereiztheit jemals verraten hätte. Allein der Neffe verstand sie.

»Es herrschen jetzt ungewöhnliche Zeiten, liebe Tante,« antwortete er beschwichtigend. »Auf der Seele des Volks liegt ein Druck. Allerorts ist man der Meinung, daß die verantwortlichen Männer den König schlecht beraten. In beiden Kammern des Landtags spricht man dies unverblümt aus, und in den öffentlichen Versammlungen fallen erregte Worte. Die große Masse verhält sich ja[49] ruhig; aber in den Herzen zittert der Widerhall dieser Reden nach und schürt die tiefe Unzufriedenheit, die im Lande herrscht. Bei uns ist es noch nicht einmal so schlimm wie anderwärts. Der König sei wohlgesinnt, sagt man allgemein, aber der Einfluß auf ihn wäre verhängnisvoll. Und unter den Ministern besteht keine Einigkeit. Ein paar Heißsporne aus der Mitte der Abgeordneten reden fortgesetzt Unüberlegtheiten und reizen auf. Dazu die stürmischen Verhandlungen im Frankfurter Parlament und die blutigen Aufstände in den Nachbarländern. Aber unser gutmütiges sächsisches Volk gelüstet es nicht nach Ausschreitungen. So etwas wie die Berliner Märztage könnte bei uns nie vorkommen. – Es wird sich ja alles noch klären.«

Kurt Allmer hatte anfänglich erregt gesprochen. Aber im Laufe seiner Rede hatte er sich wieder beruhigt. Tante Sidonie hatte sich inzwischen wieder ihrer Arbeit erinnert und häkelte emsig weiter. Freilich war ihre äußerliche Ruhe trügerisch. Dennoch hob sie die Augen nicht auf, als sie entgegnete:

»Advokat Marschall steht mitten in der Bewegung, die gegen den König gerichtet ist …«

»Nicht gegen den König,« fiel Kurt Allmer ihr ins Wort, »sondern gegen die Regierung!«

»Aber es ist ein Sturmlaufen wider Gesetz und Ordnung.«

»Die Gesetze sollen frei machen, liebe Tante; die bestehenden bedrücken aber, – wie man sagt.«

»Staatsfeindliche Umtriebe …«

»Es sind nicht die Schlechtesten, die an der Spitze der Bewegung stehen! Männer von Ehre und Ansehen!«

[50]

Da reckte sich die alternde Jungfrau höher auf und sah den kühnen Sprecher scharf an. Ihr tief eingewurzeltes monarchische Empfinden war verletzt.

»Du bist ein beredter Verteidiger der Widerspenstigen! Das muß ich gestehen! – Aber wer es mit seinem Volke gut meint, geht immer mit dem König!«

Kurt Allmer zuckte unmerklich mit den Schultern. Das verworrene Zeitbild war ihm in seinen Tiefen nicht völlig klar. Das gestand er. Aber die gute Tante klammerte sich zäh an das Althergebrachte. Das allein war vortrefflich. Wer zu ihr von Fortschritt und Entwicklung sprach, machte sie argwöhnisch. Sie vermochte den Geist, der auch die Gemäßigten jetzt erfaßt hatte, nimmermehr zu begreifen.

Tante Sidonie merkte wohl, daß sie auf dem betretenen Pfad nicht weiter konnte, und zog sich vorsichtig zurück. Plötzlich schlug sie einen Haken.

»Aber wozu streiten wir um Ideen! Gehst du bei Marschalls ein und aus, um allein von der Politik zu hören?«

Das war für ihren Mund stahlscharf gesprochen. Allmer empfand den Stich und schwieg. Endlich versetzte er mit gut gespielter Harmlosigkeit:

»Die Menschen, die dort zusammenkommen, liebe Tante, sind sehr interessant. Es wird auch nicht immer von Politik geredet. Und Fräulein Marschall,« schloß er in leichtem Tone, »ist eine wohlerzogene junge Dame und für ihr Alter recht klug.«

Nun war es heraus, worauf Tante Sidonie hinzielte.

Der flache Busen der Schweigenden hob sich einige[51] Male höher als sonst, bevor sie, ohne aufzusehen, langsam sagte:

»Wenn ein Mann mit Verpflichtungen, wie du, wiederholt in einem Hause verkehrt, in dem sich ein junges Mädchen befindet, so gibt dies leicht Anlaß zu falschen Deutungen.«

Kurt Allmer schwieg. Da fuhr sie fort:

»Dein Herz ist gebunden! Fühlst du innerlich nicht einen leisen Widerstreit, wenn du dort bist?«

Der junge Offizier errötete.

»Valentine Marschall besitzt ungewöhnliche Geistesgaben,« sagte er rasch, »und viel weibliches Empfinden. Mein Verhältnis zu ihr ist wirklich ganz harmlos. Ich plaudere gern mit feingebildeten jungen Damen.«

»Glaubst du nicht, daß Ursula darunter leidet, wenn du ihr selbst nur einen geringen Teil deiner Neigung entziehst, um sie einem anderen Mädchen zuzuwenden?«

Allmer kämpfte eine leichte Verlegenheit nieder.

»Ursulas Verstimmung, die sie vielleicht gegen Fräulein Marschall hegt,« antwortete er ausweichend, »würde sich sogleich ins Gegenteil kehren, wenn sie Valentine kennen lernte.«

»Kurt,« sagte Tante Sidonie mit sanftem Nachdruck, »einem Mädchen wie Ursula muß es weh tun, wenn sie weiß, daß der Geliebte ihr nicht sein ganzes Herz schenkt! Allerdings giltst du vor der Welt noch frei, euer Verlöbnis besteht vorläufig ja nur heimlich. Den tiefen Schmerz, den Ursula vor kurzem durch den überraschenden Heimgang ihrer Mutter erlitt, muß erst die Zeit lindern, bevor ihr euch vor der Welt als Brautpaar bekennt. Aber gerade dieser tiefbedauerliche Hinderungsgrund[52] verpflichtet dich zu großen Rücksichten und verlangt von einem jungen Mann von Familie den höchsten Beweis feinen Taktes.«

Diese Worte kamen wie von einer Mutter und übten eine tiefe Wirkung auf den Zuhörenden.

»Glaubst du, liebe Tante, daß Ursula sich über meinen Verkehr bei Marschalls beunruhigt?« fragte Kurt. »Wir haben doch verabredet, daß ich nur in schicklichen Zeiträumen im Abendrothschen Hause vorsprechen soll, um jede Nachrede zu vermeiden.«

»Das ist wohl richtig,« antwortete Tante Sidonie. »Aber Ursula weiß um dein wiederholtes Zusammentreffen mit Valentine Marschall. Freilich ist sie ein viel zu edler Charakter, um Argwohn zu hegen oder dich zu bitten, die Besuche bei Marschalls einzustellen. Dennoch leidet sie darunter, wie ich empfinde. Denn sie liebt dich mit ihrem ganzen keuschen Herzen.«

Kurt lehnte sich zurück. Er fühlte deutlich sein Unrecht. Ursula war wirklich ein vornehmer Charakter. Seine ganze Seele hing an diesem herrlichen Mädchen, und es würde ihm weh tun, wenn er sie betrübt hätte.

Tante Sidonie erkannte mit scharfem Blick die innerliche Not des jungen Neffen. Plötzlich legte sie die Häkelarbeit mit liebevoller Sorgfalt in einen umfangreichen, weißen Spankorb, den rosafarbene Schleifen freundlich zierten, und sagte:

»Du ißt jetzt mit mir, Kurt, und danach machen wir zusammen einen Besuch bei Abendroths.«

Kurt warf der Tante einen dankbaren Blick zu, stand auf und schnallte den Säbel ab. Tante Sidonie ging zu[53] dem perlengestickten Klingelzug neben der Tür und läutete.

»Anna, du kannst decken,« sagte sie zu dem eintretenden Mädchen. »Der Herr Leutnant bleibt bei uns zu Tisch.«

Jetzt lächelte Kurt. Nun war sie wieder ganz Tante Sidonie, steif und gemessen in ihren Bewegungen, ausdrucksvoll und feierlich in ihren Worten. Worin das Mittagessen bestehen würde, wußte er übrigens auch schon.

Heute war Sonnabend, also der Tag des großen Reinemachens. Da wurde in der ganzen Wohnung das Unterste zu oberst gekehrt. Besen und Staubtuch wirbelten in der Luft, und das Röhrwasser ergoß sich in Fluten. So heischte es die Würde jeder ordentlichen Hausfrau. Deshalb unterblieb an diesem Tag auch die zeitraubende Zubereitung des einfachen Mittagessens. Statt dessen kamen auf den Tisch der sparsamen Tante nur der übliche dünne Kaffee und hauchartig bestrichene Butterbemmchen.

Endlich war Tante Sidonie zum Ausgehen bereit. Ihr Kleid stammte sicherlich aus dem vorigen Jahrzehnt. Aber es war fleckenlos und peinlich gebürstet. Und Tante Sidonie trug es mit Würde!

Sie gingen über den Bautzner Platz bis zur Glacisstraße und diese hinab. Endlich hatten sie das untere Ende erreicht. Hier stand nahe dem Elbufer in einem Garten ein einstöckiges Haus, dessen schwärzliches Ziegeldach sein hohes Alter bezeugte. In diesem Hause wohnte der pensionierte Königlich Sächsische Kriegsrat Christoph von Abendroth mit seiner Enkelin Ursula.

Als Kurt hinter der Tante die zum Eingang führenden wenigen Stufen hinaufschritt, fühlte er eine leise Beklemmung,[54] die aber wieder von ihm wich, als sie im Flur den weißhaarigen, betagten Kriegsrat sahen, der sie mit lauter Freude begrüßte. Während Tante Sidonie den alten Herrn mit einer Frage absichtlich eine Weile zurückhielt, betrat der junge Offizier eine der auf den Flur mündenden Stuben.

An dem großen, runden Tisch inmitten des Zimmers saß in einem schlichten, schwarzen Hauskleid ein junges Mädchen, in das Lesen eines Buches versunken. Als die Tür geöffnet wurde, blickte sie auf. Vor freudiger Überraschung errötend, erhob sie sich und ging dem Eintretenden entgegen. Sie war von hoher, schlanker Gestalt und lieblicher Schönheit. Ihre feinen Züge trugen einen vornehmen Ausdruck, verbunden mit scheuer Zurückhaltung. Ursula von Abendroth galt als eins der schönsten Mädchen der Dresdner Gesellschaft.

Kurt näherte sich ihr rasch und küßte sie auf Stirn und Mund. In leichter Verwirrung schloß sie flüchtig die Augen und erwiderte die Liebkosung mit mädchenhafter Befangenheit.

»Verzeih', Ursula,« sagte Kurt schmeichelnd, »daß ich diesmal länger als sonst fern blieb.«

Es drängte ihn, das zu sagen, denn bei Ursulas Anblick fühlte er seine Schuld deutlicher als bisher. Doch wagte er nicht, Gründe für sein Ausbleiben anzuführen.

Das Mädchen hatte inzwischen ihre Befangenheit bekämpft und lud ihn zum Sitzen ein.

»Wie ist dir's ergangen, Kurt?« fragte sie, ohne auf seine Worte einzugehen.

»Gut, liebe Ursula. Und dir?«

»Danke, mir auch. Großvater ist immer kränklich gewesen[55] und bedurfte sorgsamer Pflege. Nun wo der Winter kommt, zwickt ihn auch sein altes Podagra wieder in den Füßen. Du weißt ja …«

Kurt nickte bedauernd.

»Ich habe ihm einen dicken, wollenen Fußsack gestrickt, den er bis über die Knie heraufziehen kann. Damit sitzt er tagsüber viel im Lehnstuhl und liest eifrig die Zeitungen. Du kennst seine Vorliebe für Politik. So gutmütig er sonst ist, wird er beim Lesen zuweilen doch recht unmutig und schilt auf alle, die die Unzufriedenheit im Lande schüren.«

Kurt sah zur Seite. Dem Gespräch rasch eine andere Wendung gebend, versetzte er:

»Denk' mal, liebe Ursula, vor einigen Tagen sagte mir der Oberst, er beabsichtige, mich im kommenden Jahr zum Adjutanten zu machen.«

Das Mädchen sah in freudiger Bewegung auf.

»Ach, wie freue ich mich über diese Nachricht,« antwortete sie mit strahlenden Augen. »Viel Glück dazu, Kurt,« und hielt ihm ihre schöne, weiße Hand hin.

Kurt lächelte befriedigt.

»Wenn es gut geht, mache ich das Bataillonsexerzieren im nächsten Sommer schon zu Pferde mit. Die Adjutantur ist ja stets mein sehnlichster Wunsch gewesen. Natürlich reite ich nun auch immer, wenn sich Gelegenheit hierzu bietet. Ich habe schon mit allen berittenen Herren des Regiments gesprochen. Wer von ihnen einmal verhindert ist, sein Pferd zu bewegen, überläßt es an diesem Tage mir.«

»Das ist wirklich eine gelungene Überraschung und auch für mich eine große Freude,« versetzte Ursula.

[56]

Während sie so plauderten, kamen Tante Sidonie und Herr von Abendroth herein. Ursula ging dem alten Fräulein entgegen und ergriff mit einem Willkommengruß die dargebotene Hand. Ihre bescheidene Haltung, mit der sie Ältere begrüßte, zeugte für die vortreffliche Erziehung des jungen Mädchens.

»Meine liebe, kleine Pflegerin,« sagte der Kriegsrat scherzend zu Tante Sidonie, indem er den Arm um Ursula legte. »Sie vergißt sich selbst noch ganz vor Eifer, den sie an mich wendet, anstatt an ihre Jugend zu denken.«

»Aber Großvater!« rief Ursula, verlegen lächelnd und mit leisem Vorwurf.

Tante Sidonie strich mit der Hand liebevoll über die Wange des jungen Mädchens.

»Kindchen,« sagte sie eindringlich, ihre gewohnte Förmlichkeit für einen Augenblick vergessend, »Ihre Wangen sind wahrhaftig ein wenig blaß. Denken Sie auch an sich und gehen Sie öfters ins Freie.«

Ursula schlug eine dunkle Röte ins Gesicht.

»Ich bin ja täglich im Garten,« entgegnete sie.

»Wie wär's, Herr von Abendroth,« wandte sich Tante Sidonie an den Kriegsrat, »wenn wir jetzt alle zusammen einen Spaziergang elbaufwärts nach Linkens Bad machten? Die Sonne scheint gerade so warm. Können Sie bis dorthin gehen?«

Die jungen Leute waren von diesem Vorschlag freudig überrascht. Kurt sah mit einem warmen Blick auf Tante Sidonie. Er wußte, daß sie gewohnt war, ihr tägliches Arbeitspensum peinlich inne zu halten. Aus diesem Grunde würde sie die auf den Spaziergang verwendete Zeit beim Schein der Kerze nachholen.

[57]

Der alte Herr stimmte dem Vorschlag erfreut zu.

»Ich fühle mich heute so wohl,« versetzte er schmunzelnd, »daß ich's recht gut wagen kann. Wir haben lange genug das Zimmer gehütet.«

»Sei nicht unvorsichtig, Großvater,« mahnte Ursula.

»Nein, nein, kleines Hausmütterchen,« antwortete er mit jugendlichem Feuer, »heute wollen wir den schönen Herbsttag genießen.«

Damit klingelte er und bestellte den warmen Flauschrock.

Ursula versuchte zwar noch einmal, den Großvater zum Bleiben zu bestimmen. Aber der alte Herr ließ keine Einwendungen gelten. Und so schlenderten sie nach kurzer Zeit am Ufer der Elbe entlang. Tante Sidonie hielt sich immer neben dem Kriegsrat, während die jungen Leute ein Stück vorauf waren.

»Lassen Sie uns hübsch langsam gehen, Herr von Abendroth,« meinte sie mit Vorbedacht, »damit Ihnen der Spaziergang auch gut bekommt.«

Und als sie bemerkte, wie sich der Abstand bis zu dem jungen Paar trotz alledem nur wenig vergrößerte, blieb sie plötzlich stehen und sagte, sich umwendend:

»Finden Sie nicht, daß heute ein ungewöhnlich klarer Tag ist? Sehen Sie doch bloß, man kann auf der Brühlschen Terrasse die Spaziergänger ganz deutlich erkennen.«

Mit dieser kleinen List hatte sie den Redefluß des alten Herrn in das richtige Fahrwasser gelenkt, denn der Kriegsrat studierte, seitdem er pensioniert war, mit großer Vorliebe die Wissenschaft von den atmosphärischen Erscheinungen. Voll Eifer erklärte er ihr den Grund, warum jetzt eine längere Reihe von schönen Tagen gewesen[58] sei und daß nach den Anzeigen in der Natur das heitere Wetter noch einige Zeit anhalten würde. Tante Sidonie hörte eine Weile aufmerksam zu, dabei aber in einem fort über die Schulter zurückspähend. Plötzlich versetzte sie:

»Kommen Sie, Herr von Abendroth, wir wollen jetzt weitergehen, damit Sie keine kalten Füße kriegen.«

»Gnädiges Fräulein sind so gütig um mich besorgt,« sagte der alte Herr erfreut, während Tante Sidonie mit Befriedigung wahrnahm, daß die jungen Leute nunmehr einen tüchtigen Vorsprung gewonnen hatten.


Viertes Kapitel

Die Winterstürme waren ins Land gebraust. Der Vorplatz des Café réale auf der Brühlschen Terrasse – wo in der schönen Jahreszeit vom frühen Morgen an durchreisende Fremde und wohlhabende einheimische Bürger an kleinen runden Tischen saßen und aus den zwiebelgemusterten Tassen von Meißner Porzellan ihren Kaffee tranken – war verödet. Die Besucher hatten sich in die geheizten Räume dieser beliebten Stätte geselliger Zusammenkunft zurückgezogen und sahen durch die angelaufenen, hohen Fensterscheiben hinaus in das Schneetreiben. Mit innigem Behagen beobachteten sie bei einer Tasse heißen Kaffees, wie der scharfe Nordost in die dicht herabschwebenden Flocken blies, daß sie durcheinanderwirbelten.

Der langgestreckte, niedrige Pontonschuppen hinter der Stallwiese drüben über der Elbe trug ein dickes Schneedach,[59] und das alte Hospital ragte einsam über die entlaubten Bäume seines großen Gartens hinweg. Auf der Elbe war Eisgang. Langsam schwammen die beschneiten Schollen talwärts, nachdem sich die größten an den starken Pfeilern der Augustusbrücke zersplittert hatten. Sorgsam in ihre Mäntel vermummt, hasteten die Fußgänger über die Brücke, und die Kutscher der Omnibusse und Droschken trieben die Pferde zur Eile an und wehrten sich, so gut sie konnten, gegen den schneidenden Wind, der pfeifend in die großen Kragen ihrer Umhänge fuhr, daß sie hochauf flatterten. –

Auf Heinrich Mißbach hatte sich seit jenem Abend, an dem er vor seinem Vater geflüchtet war, ein schwerer Druck herabgesenkt. Der junge Mann sah jetzt mit tiefer Niedergeschlagenheit, daß der Soldatenberuf ihn niemals befriedigen konnte.

Als Heinrich das Haus seiner Wohltäter auf strenges Geheiß seines Vaters mit der Kaserne vertauschen mußte, hatte er zum erstenmal mit dem Leben gehadert. Der schmucke, grüne Rock mit dem blauen Kragen und den hellen Aufschlagpatten, die blauen, weiten Hosen und der hohe Tschako mit den hellblauen Regimentsabzeichen, die Uniform, die seine Kameraden mit Lust trugen, gewann ihm keine Freude ab. Er hatte gegen das ganze Soldatenhandwerk schon seit früher Jugend stille Abneigung besessen. Der Lärm und der Geruch der Kaserne, die Scheltworte der Unteroffiziere und die derben Späße der Mannschaften, dazu der überstrenge Vater und das seelisch wie körperlich leidende Linchen … Heinrichs Brust war wie zusammengeschnürt, wenn er diese geräuschvolle und bedrückende Umgebung mit der[60] wohltuenden Stille des alten, verwinkelten Bürgerhauses in der kleinen Brüdergasse verglich.

Dem Verbot des Vaters entgegen, war er nach wie vor an seinen freien Abenden heimlich zu Marschalls gegangen, immer von der geheimen Furcht begleitet, der Vater möchte seinen Ungehorsam entdecken. Linchen hatte sich dem strengen Gebot freilich fügen müssen. Einmal noch war sie von daheim fortgeschlichen und wie gebrochen bei den guten Leuten erschienen, um ihnen unter bitteren Tränen das Geheiß des Vaters mitzuteilen. Madam Marschall hatte dieses Verbot schon lange im stillen befürchtet. In ihrer mütterlichen Weise redete sie auf das fassungslose Mädchen liebevoll ein und vertröstete es auf bessere Zeiten. Ihr Haus, das wisse Linchen ja, stehe immer für sie offen, und die herzliche Zuneigung aller seiner Bewohner werde ihr erhalten bleiben.

Mit diesem Trostspruch hatte Linchen die traute Stätte verlassen.

Mehr noch als an Linchen, hingen Marschalls freilich an Heinrich, der schon als zur Familie gehörig galt. Niemand konnte sich denken, wie es ohne den Jungen gehen sollte.

Als Advokat Marschall am Abend des Tages, an dem Linchen gebeichtet hatte, in die Küche trat, sah er Heinrich mit einer Unschuldsmiene, als wenn nichts vorgefallen sei, auf seinem gewohnten Platz sitzen und das Abendbrot verzehren. Da war er zu ihm hingegangen und hatte ihm schonend vorgestellt, daß er besser täte, wenn er sich dem Willen seines Vaters füge. Leicht waren[61] ihm die Worte nicht gefallen, denn Heinrich war ihm ans Herz gewachsen.

Als dieser aber die schwermütigen Augen zu ihm aufgeschlagen, in denen sich tiefe Traurigkeit und stille Angst abspiegelten, da hatten dem alten Mann die Worte gefehlt, seine Ermahnung zu wiederholen, und er war schweigend aus der Küche gegangen. Niemand von Marschalls war imstande, mit Heinrich noch einmal über das schlimme Verbot zu sprechen. Jeder bemühte sich, ihn durch vermehrte stille Freundlichkeit zu trösten.

Madam Marschall vermied es, an den Abenden, wo Heinrich einmal nicht gekommen war, nach dem leeren Platz zu sehen. Sie bangte vor der Möglichkeit, daß der Stuhl nun immer leer bleiben könnte. Valentine plauderte stundenlang mit dem Burschen und war bemüht, ihn aus seiner Traurigkeit zu reißen. Und die seit vielen Jahren in der Familie lebende Köchin, die ihrem Liebling schon immer heimlich manchen guten Bissen zugesteckt hatte, tat dies nunmehr ganz offen.

Heinrich war das Schoßkind von allen. Er fühlte es und empfand darüber unsägliche Freude. Aber er blieb traurig, und in seinen Augen stand immer der Ausdruck eines stillen Kummers. –

Kurt Allmer war während der letzten Wochen in schweren Widerstreit mit sich geraten; sein inneres Gleichgewicht war gestört. Er fühlte sich aus seiner ruhigen Bahn geworfen. War er bisher in heiterer Sorglosigkeit durchs Leben gegangen, so verfiel er jetzt oft in tiefes Grübeln. In solchen Stunden stiegen Zweifel in ihm auf, ob er recht gehandelt, daß er sich Ursula von Abendroth genähert.

[62]

Zu jener Zeit, als er Ursula kennen gelernt, war sie von zahlreichen Anbetern umschwärmt gewesen. Junge und gereiftere Herren aus den ersten Kreisen der Gesellschaft huldigten ihr, und hochgestellte Damen zeichneten sie durch ihre Gunst aus. Vereinigten sich doch auch in Ursula herzgewinnende Anmut und hohe Schönheit mit einem reich empfindenden Herzen. Kurt hatte bald eine tiefe Zuneigung zu dem Mädchen gespürt. Doch war er nicht beherzt genug gewesen, sich ihr zu nähern.

Da hatte Ursula einmal ihre großen, dunkeln Augen fester als sonst auf ihn gerichtet, und er hatte ihren langen Blick erwidert. Von Stunde an fühlte Kurt, daß innerlich eine Schranke zwischen ihnen gefallen war. Er suchte eifrig Gelegenheit, das junge Mädchen in Gesellschaften zu sehen und war darin erfinderisch, scheinbar zufällige Begegnungen mit ihr herbeizuführen. Ein beseeligendes Empfinden beschlich ihn, als er merkte, wie Ursula seinen emsigen Bemühungen nicht auswich. Die allen verborgen gebliebenen Beweise ihrer Zuneigung, die er mit stummem Jubel wahrnahm, wurden immer deutlicher, bis er die heimlich Geliebte eines Tages bei Tante Sidonie traf, wo die langersehnte Aussprache erfolgte.

Noch an demselben Abend verfiel Ursulas Mutter in eine schwere Krankheit, der sie bald erlag. Kurz vor dem Hinscheiden gestand das Mädchen der Mutter ihre Liebe. Kurt wurde gerufen, und die Sterbende segnete den Herzensbund ihrer Kinder.

Nach diesem bittern Verlust war Ursula verwaist, und der Großvater hatte sie zu sich genommen. Kurt durfte die Geliebte nur selten sehen. Sie hatte dies um[63] der teuern Toten willen selbst so gewünscht. In den kurzen Stunden aber, in denen er bei ihr weilte, hatte er reines Glück genossen.

Da war Valentine Marschall auf seinen Lebensweg getreten.

Advokat Marschall genoß den Ruf eines Mannes, auf dessen Ehrenhaftigkeit wie auf einen Felsen gebaut werden konnte, und galt zugleich als einer der tüchtigsten Advokaten Dresdens.

Als solcher hatte er den Nachlaß der verstorbenen Frau von Abendroth geordnet. Und da der alte Kriegsrat zu dieser Zeit gerade wieder kränkelte, hatte Kurt in seinem Auftrag wiederholt mit Marschall verhandelt. Sein Verhältnis zu Ursula, um das niemand wußte, hatte er auch dem Advokaten verschwiegen. So war es gekommen, daß Herr Marschall ihn eines Tages nach einer langen Konferenz zum Abendbrot einlud. Bei dieser Gelegenheit hatte er Valentine kennen gelernt.

Valentine Marschall war eine außergewöhnliche Mädchenerscheinung. Schon ihr Gesicht verriet, daß sie einen starken Charakter besaß. Es war ernst, und seine Züge waren scharf geschnitten. Von ihrem Vater hatte Valentine ein Stück seiner Weichheit geerbt. Aber ihr Verstand überwog die Weichheit, und sie wußte ihre Gefühle meisterhaft zu beherrschen. Weibliche Anmut hatte sie nicht. Dafür verriet ihr Auftreten Sicherheit und strotzende Lebenskraft.

Schon als Kind hatte Valentine den Drang empfunden, der Unterhaltung der Männer zu lauschen, die allabendlich das gastliche Haus ihres Vaters besuchten. Besonders politischen Gesprächen, die in dieser bewegten Zeit im[64] gebildeten Bürgertum eifrig gepflogen wurden, konnte sie in einer dunkeln Ecke des Zimmers stundenlang und ohne zu ermüden zuhören. So hatte sich ihr Verstand schon frühzeitig vertieft, und die Umgebung, in der sie herangewachsen, bot ihrem scharfen Denken viel Nahrung.

Valentinens sicheres Urteil und die Gewandtheit, mit der sie ihre Gedanken treffend und in klaren Worten ausdrückte, hatten Kurt gleich am ersten Tag gefesselt. Dabei verstand es das Mädchen trefflich, schicklich Maß zu halten. Wenn Kurt ihr zuhörte, hatte er stets das Empfinden, daß sie mehr wußte, als sie aussprach. Ihr angeborene Taktgefühl bewahrte sie glücklich davor, als unweiblich zu erscheinen.

So war es unbewußt Valentine gewesen, die in Kurt eine lebhafte Aufmerksamkeit für die verworrenen politischen Zustände in den Ländern deutscher Zunge wachgerufen.

Anfänglich hatte er versucht, seine geringen Kenntnisse von den großen Fragen dieser bewegten Zeit sorgfältig zu verbergen. Nach wiederholtem Zusammentreffen mit dem Mädchen war ihm das aber nicht mehr gelungen. Er hatte ihre Überlegenheit willig anerkannt und sie im stillen als seine Lehrmeisterin betrachtet. Ihr Wissen von der Vergangenheit des deutschen Volkes war tiefgründig, und nicht selten bewunderte er ihre Gedankenschärfe, mit der sie die starken Fäden ineinanderwob und wieder entwirrte, die sich unsichtbar durch die Weltgeschichte ziehen und hervorragende Persönlichkeiten und die Völker umschlungen halten. Diese Kenntnis verdankte Valentine ihrem Vater.

Was Wunder also, daß dieses eigenartige Mädchen[65] den jungen Mann stark anzog. Er fühlte sich ihr auf geistigem Gebiete unterlegen und geriet allmählich unbewußt unter ihre Herrschaft. Nicht eines von all den Mädchen, die er kannte, hätte sich mit Valentine Marschall messen können. Die meisten von ihnen waren, wie er jetzt wußte, Valentine gegenüber unbedeutend.

Die in den höheren Gesellschaftskreisen jener Zeit herrschenden Anschauungen zwangen die nicht verheirateten Frauen zur Untätigkeit. Sie genossen unbesorgt um die Zukunft die Annehmlichkeiten des elterlichen Hauses, schwärmten für Zerstreuungen, himmelten den Jüngling ihrer Anbetung heimlicherweise so lange an, bis der Glorienschein dieses Idols verblich, weil ein neu heraufgezogener Stern es überstrahlte, und lasen tage- und nächtelang. Aber ihr Lesestoff war süßlich und kraftlos wie abgestandene Limonade. Dieses Tändeln und Nichtstun lähmten den Willen, verweichlichte die Mädchen und erzeugte eine Rührseligkeit, der man sich freudig hingab. Bei allen passenden Gelegenheiten wurden reichlich Tränen vergossen. Zu ernster Arbeit auf einem bestimmten Gebiete waren sie zu untüchtig. Ja, die Arbeit galt bei einem großen Teil jener unversorgten Töchter als ihrer nicht würdig.

Diese Ansicht, von dem was schicklich, war auch der Grund, weshalb man über jede Äußerung eines starken weiblichen Willens mit heimlichem Lächeln geringschätzig die Achseln zuckte. Und wenn sich ein Mädchen von kraftvollem Charakter gegen den Druck der herrschenden Verhältnisse auflehnte, weil er die weibliche Würde verletze, so bestrafte man diese Kühnheit mit gesellschaftlicher Ächtung.

[66]

Kurt verschwieg seiner Braut das Interesse, welches er für Valentine Marschall gewonnen hatte, und auch seine Besuche im Hause des Advokaten, die er in so kurzen Zeiträumen wiederholte, als es die Gepflogenheit erlaubte, verheimlichte er vor Ursula.

Inzwischen hatte sich die politische Spannung innerhalb der weißgrünen Grenzpfähle erheblich verschärft. Überall, wohin die Tageszeitungen die Kunde von den bewegten Vorgängen in den größeren sächsischen Städten trugen, horchte man auf, und jedermann war verwundert, daß offene Kundgebungen gegen die Regierung auch im Lande der allzeit gemütlichen Sachsen geschehen konnten.

Das Erschießen des feurigen Demokraten Robert Blum in Wien häufte unter der Dresdner Bevölkerung viel Zündstoff an. Ein endloser Zug von Anhängern der Opposition begab sich bei Glockengeläute, mit Musik und umflorten Fahnen vom Altmarkt durch die Schloß- und Frauengasse nach der Frauenkirche zur Totenfeier. Selbst Minister verschmähten es nicht, an dieser Kundgebung teilzunehmen.

Noch herrschte aber der Geist der Ruhe und Besonnenheit im Lande. Mit wahrhaftem Edelsinn bemühten sich weite bürgerliche Kreise um die friedliche Lösung der immer schwieriger werdenden nationalen Fragen, und Vieler Augen hingen voll Sehnsucht an hohen, aber unklaren Freiheitsidealen. Doch das Unkraut niederen Parteitreibens überwucherte schon heimlich die edlen Reiser, die der lebensfrische Baum echt nationalen Empfindens getrieben hatte.

Aus der Tiefe drängte der Egoismus von Persönlichkeiten herauf, die zwar ehedem lautere Grundsätze gehegt,[67] die aber jetzt von dem glühenden Ehrgeiz erfüllt waren, sich um jeden Preis an die Spitze der großen Bewegung zu stellen. War diese bisher eine rein bürgerliche gewesen, so huldigten nun diese Männer dem Pöbel, dessen Anschauungen natürlich erst recht verworren waren. So kam es, daß die von hoher Begeisterung getragenen Bestrebungen an nationalem Wert erheblich einbüßten und die Straßendemokratie allmählich die Herrschaft erhielt. Die Bewegung gewann immer mehr an revolutionärem Charakter.

Die Streitigkeiten in den beiden Kammern wuchsen. Das Märzministerium trat zurück, und der Krieg mit Dänemark brach aus. Nach einer Parade auf dem »Heller« bei Dresden marschierte der größte Teil der sächsischen Truppen nach Schleswig-Holstein. Niemand ahnte, daß ihre Abwesenheit der Hauptstadt verhängnisvoll werden sollte.

Das 1. Linien-Infanterieregiment Prinz Albert war als Besatzung in Dresden zurückgeblieben. –

Kurt hatte von Tante Sidonie erfahren, daß Ursula um seinen regen Verkehr mit Marschalls wußte, und bei seinem Zusammensein mit ihr empfand er, wie sie im stillen litt. Doch berührte sie mit keinem Wort ihren heimlichen Kummer. Wenn die Geliebte ihn errötend empfing, wenn er fühlte, wie sie bei seinen Liebkosungen in bräutlicher Verschämtheit erzitterte, da vergaß er, was ihn so machtvoll in das bürgerliche Haus in der Altstadt zog. Liebevoll hielt er die schlanke Mädchengestalt umfangen und flüsterte Ursula die zärtlichsten Schmeichelnamen zu.

Wenn aber dann die Abschiedsstunde nahte, überfiel[68] Kurt eine seltsame Beklemmung. Er kämpfte mit einer Verlegenheit und wagte nicht, sein baldiges Wiederkommen zu versprechen. In solchen Minuten stand Ursula still an seiner Seite, und in ihre dunkeln Augen, aus denen während der kurzen Stunden ihres Beisammenseins der Widerschein eines unaussprechlichen Glücks geleuchtet hatte, stahl sich eine stumme Klage. In bangem Trennungsschmerz schmiegte sich das Mädchen scheu an den Geliebten und sah dem Scheidenden mit umflortem Blick lange nach.

Aber Ursulas Liebe war nicht nur innig, sondern auch felsenfest. Ihr Vertrauen zu dem Geliebten hieß alle bösen Einflüsterungen schweigen. Zerknirscht empfand Kurt die Seelengröße des Mädchens. Und doch gelang es ihm nicht, sich aufzuraffen und alle Regungen aus seinem Herzen zu reißen, die wider seine reinen Empfindungen für Ursula stritten.


Das Jahr 1849 begann mit einem strengen Winter, dem ein zeitiger, milder Frühling folgte. Weiche Winde strichen durch das Elbtal. Im Großen Garten blühten auf den ausgedehnten Wiesenflächen zwischen saftiggrünen Grashalmen Veilchen und Anemonen. Die Herkulesallee hinauf und hinab bewegte sich an schönen Nachmittagen eine endlose Reihe von Lustwandelnden, die die milde Frühlingsluft und den würzigen Geruch des Erdbodens mit vollen Zügen einatmeten und sich die warme Sonne behaglich ins Gesicht scheinen ließen.

Da sah man Herren im Spenzer oder im großkarrierten Bratenrock, mit riesigen Vatermördern und unförmigen Krawatten, Spazierstöcken mit tombakenem Knauf oder[69] mit dick zusammengewickelten, baumwollenen Regenschirmen.

Kein Wunder, wenn in dieser erregten Zeit, wo die politischen Wogen immer höher schlugen, die Gesinnung auch äußerlich zum Ausdruck gebracht wurde. Ob die Zylinderhüte glatt gebügelt und spiegelblank oder glanzlos und drahthaarig waren wie das Fell einer nassen Katze, der man mit der Hand vom Schwanz bis zu den Ohren über den Rücken streicht, gleichviel, – die Angströhre galt gemeiniglich als das Zeichen konservativer Gesinnung. Anders war es dagegen mit dem großen, schlappen Filz, dem sogenannten Karbonarihut. Wer diesen trug, galt als verdächtig.

Die Damen stolzierten in hundertfach gefältelten Röcken einher, die die Krinoline derart aufbauschte, daß der krampfhaft zusammengeschnürte Oberkörper daraus hervorstieg wie ein Lilienstengel aus der Tonne. Der Busen war durch raffinierte Hilfsmittel bis zum Kinn in die Höhe gezwängt, und der Saum des Rockes betrug fünfzehn Ellen. Andere Kleider besaßen zwanzig oder mehr Volants, die von den Hüften aus dachziegelartig überhingen und kunstvoll geglöckelt, ausgezackt oder plissiert waren. Ein solches Kleid erweckte den Anschein, als ob eine Anzahl von Tüten ineinander gesteckt sei. Unter dem käfigartigen Gehäuse der Krinoline, deren weiter Umfang das Führen mancher Dame schlechthin unmöglich machte, wurde reichlich ein Dutzend Unterkleider getragen.

Das Haar war in der Mitte glatt gescheitelt, und die Zöpfe bedeckten Ohren und Nacken. Die Hüte hatten schmale Krempen. Am meisten wurden aber kokette[70] Hauben mit dicken Rüschen getragen, deren bunte Bänder unter dem Kinn zu einer Schleife geknüpft waren. Dieser Kopfschmuck war bei kluger Wahl vortrefflich geeignet, den störenden Anblick manches häßlichen Antlitzes um ein Erhebliches zu mildern. Das starke Geschlecht sieht über solche unschuldige Mittelchen der Frauenlist großmütig hinweg. Kleinliche Männer gibt es nun einmal nicht … Besitzen doch nicht selten gerade die mißlungenen Bilder kostbare Rahmen.

Bei den Männern diente auch die Tragart des Bartes als Unterscheidungsmerkmal der politischen Gesinnung. Ein Schnurrbart galt noch als verläßlich; zierlich gestutzt, erhöhte er die Aufmerksamkeit, die man seinem Besitzer schenkte. Denn diese Form ließ auf Geist und Lebensart schließen. Wer aber gar glatt rasiert und mit langen, schmalen Koteletten erschien, gehörte sicherlich zu den geistig Auserlesenen und konnte einer erheblich über das Tagesmaß hinabgehenden Beachtung sicher sein.

Bedenklicher stand es mit den Männern in Vollbärten! Das ausrasierte Kinn, anfänglich Merkmal alter, verabschiedeter Offiziere, entschuldigte zur Not noch. Aber der Vollbart schlechthin galt als unsäglicher Verächter aller bestehenden Staatseinrichtungen. Vollbart – Demokratenbart. Puh!

Auch sehr hundefreundlich war diese Zeit. Wer einen solchen Hausgenossen besaß, hegte ihn wie ein Kind. Natürlich führten die Spaziergänger auf der Herkulesallee ihre vierbeinigen Freunde bei sich.

Der langsam dahinwandelnde, alles Begegnende mit Blicken unsäglicher Verachtung streifende Bernhardiner verriet die hervorragende gesellschaftliche Stellung seines[71] Besitzers. Ebenso hohes Ansehen verschafften hochbeinige, gelbe Windspiele. Spitze bezeugten Königstreue. Der friedliche Bürger hielt es mit dem Affenpinscher. Alte Fräuleins bevorzugten weiße Pudel mit langem Behang oder Malteserhündchen. Wer eine Dogge führte, mußte ein forscher Kerl sein; Besitzer von Bullenbeißern gehörten aber sicherlich der Opposition an. Und aus der Hefe des Volks kam zweifellos jeder, wer einen Hund um sich hatte, der augenscheinlich von mehr als einem Vater stammte, – Promenadenmischung!


[72]

Appell der Barrikadenkämpfer.

Fünftes Kapitel

In diesen Apriltagen wurde in dem dunkeln Hause in der kleinen Brüdergasse ein Fest begangen: das Marschallsche Ehepaar war vierzig Jahre verheiratet.

Im allgemeinen feierte man in der Biedermeierzeit wenig. Die sprichwörtliche Einfachheit war glänzenden Gastereien abhold. Selbst die Wohlhabendsten liebten nur prunklose Geselligkeit. Aber die hohen Familienfeste wurden doch sehr beachtet.

Der Abend dieses Tages sah bei Marschalls eine größere Anzahl von Freunden und Gevattern vereinigt. Auch Kurt Allmer befand sich unter den Eingeladenen.

Das innerliche Zerwürfnis des jungen Offiziers war im Laufe des Winters immer mehr gewachsen. Seine Besuche im Hause des alten Kriegsrats hatte er freilich mit peinlicher Regelmäßigkeit innegehalten. Kurt empfand, daß sein Herz noch ebenso laut für Ursula schlug, als beim Erwachen seiner Liebe zu ihr. Dennoch waren seine Versuche vergebens gewesen, sich von dem Einfluß zu befreien, den Valentine Marschall auf ihn ausübte.[73] Sein Verhältnis zu ihr war im Gegenteil immer vertrauter geworden.

Diese Unschlüssigkeit bedrückte ihn zuweilen recht schwer. Hier erfüllten ihn der glänzende Geist und die ruhige Sicherheit eines jungen Weibes immer wieder von neuem mit Bewunderung, – dort sah er, abgeschieden von jeder Geselligkeit, ein stilles Mädchen von unerschöpflicher Herzensgüte und mit allen sonstigen Eigenschaften eines wahrhaft edlen Frauengemüts.

So war Kurt Allmer zum Zweifler und Träumer geworden.

Die großen Stuben der Marschallschen Wohnung waren mit Gästen gefüllt, unter denen sich Valentine mit natürlicher Ungezwungenheit bewegte. Ihre reife Gestalt umschloß ein schmuckloses, weißes Kleid, und das zu einem einfachen Knoten geknüpfte, üppige Haar erhöhte die Wirkung ihres ausdrucksvollen Kopfes. Kurt saß abseits in einer Ecke des Zimmers und beobachtete, wie Valentine von einer Gruppe zur andern ging. Wenn sie mit den Gästen sprach, wußte er, daß sie mit Sicherheit für jeden die richtigen Worte fand. Valentine würde nach seiner Überzeugung in einer großen und glänzenden Gesellschaft wahrhafte Triumphe feiern. Für diesen schlichten bürgerlichen Kreis aber erschien sie ihm zu vornehm.

Endlich stand Kurt auf und mischte sich unter die Gäste.

Die Ausstattung der Marschallschen Wohnung war wie in allen bürgerlichen Häusern recht einfach. Die meisten Stuben waren blau oder weiß getüncht. Nur die Wände der beiden besten Zimmer waren seit kurzem mit großblumigen Papiertapeten beklebt, deren Muster – nach[74] dem Urteil der heutigen Zeit – greuliche Geschmacklosigkeit verrieten. Übrigens galt Tapete als unerhörter Luxus. In der guten Stube war sogar eine kornblumenblaue Rosette inmitten einer knallroten Rosenranke in die Mitte der weißen Decke gemalt. Diese ungewöhnliche Verschönerung wurde allseitig beachtet.

Die Möbel bestanden aus Kirschbaumholz. Nur ein kleiner Schreibtisch war von Mahagoni. Auf ihm ruhten viele neidische Blicke.

An den Wänden hingen gute Kupferstiche in einfachen, schwarzen Rahmen und einige tollgemalte Ölbilder. In der guten Stube standen auf Wandbrettern nickende Chinesen und sonstige Porzellanfiguren, daneben Tassen, die rührende Inschriften besaßen. Ein kleiner Tisch trug das übliche Potpourri: eine große Vase, gefüllt mit Rosenblättern und süß duftendem Lavendel. Auch ein umfangreicher Glasschrank war vorhanden. Diese Servante barg zierliche, gläserne Figuren, schöne Tassen, silberne Leuchter – der Familienschatz! – und die Patengeschenke.

Jetzt betrat Kurt das hinterste Zimmer, in dessen Mitte ein runder, einbeiniger Tisch stand. Auf ihm waren Berge von Butterschnitten aufgehäuft; dazwischen befanden sich Teller mit kaltem Aufschnitt. Ein paar Damen halfen der Hausfrau, die Herrlichkeiten so zu ordnen, daß sie schon durch das Auge den Gaumen reizten.

»Meine liebe, gute Marschall,« hörte Kurt eine steinalte Dame sagen, »ich sehe, daß Sie heute recht leichtsinnig gewesen sind. So viel aufzutragen! Hier ist Wurst und da ist Wurst, drüben Käse und hüben Schinken, ja, in der Mitte sogar kalter Braten und – Russischer[75] Salat … O, o! meine Liebe! Na, für heute sei Ihnen Nachsicht gewährt. Man ist nicht alle Tage vierzig Jahre verheiratet. Aber an unsern gewöhnlichen Gastabenden bleibt es bei drei Zulagen und an den Familienfesttagen bei vier. Jede Schüssel darüber kommt unweigerlich unter den Tisch. Mit unserer guten, alten Sitte wollen wir nicht brechen!«

Zur Bekräftigung dieser Worte sah sich die greise Sprecherin nach allen Seiten bedeutungsvoll um. Und die alten und jungen Frauen nickten ihr ernsthaft zu, und es bestand unter allen Übereinstimmung.

Der eiserne Druck, der bis zu den Freiheitskriegen auf Sachsen gelegen, hatte seine wirtschaftlichen Verhältnisse ärger zerrüttet, als die des übrigen Deutschlands. Überall befleißigte man sich großer Sparsamkeit. Die Mittel der Hausfrauen zum Wirtschaften waren außerordentlich gering. Und doch mußten sie auskommen! Sie knapsten, wo sie konnten, und die Tüchtigen unter ihnen verstanden es sogar, im Laufe des Monats noch einige Schwenzelpfennige gut zu machen, wofür sie die Ihrigen an Geburtstagen beschenkten. Das Essen war damals in ganz Sachsen schlecht. Der Dresdner aber galt als der geistigste Esser. –

Da wurde Kurt plötzlich von hinten angesprochen. Es war die im Hause lebende Schwester von Frau Marschall, ein kleines, rundliches Fräulein, das von jedermann Friedchen genannt wurde. Friedchen plauderte viel, lachte gern und war überaus harmlos. Feinde hatte sie nicht. Nur gab es etliche, die behaupteten, Friedchens Gedankenspeicher müsse ganz und gar verbaut sein. Mehr sagten diese Spötter nicht.

[76]

»Sie scheinen sich zu langweilen, Herr Leutnant,« versetzte Friedchen vorwurfsvoll. »Finden Sie nicht, daß himmelblaue Schleifen Bürzelchen besser stehen als rosenrote?«

Kurt nickte zustimmend. Bürzelchen war der wie ein Kind auf ihrem Arm ruhende, sehr häßliche Zwergmops mit doppelt gespaltener Nase und Friedchens unzertrennlicher Begleiter.

»Kommen Sie doch in die gute Stube zu uns jungen Leuten,« sagte das fünfzigjährige Mädchen. »Wir spielen Blindekuh und Kämmerchenvermieten. Ach, wie reizend wäre es, wenn Sie sich einmal auf den Mokierstuhl setzten!«

Kurt mußte lächeln und wollte irgend etwas Nichtssagendes erwidern. Aber Friedchen kam ihm zuvor. Das war überhaupt ihre Stärke, daß sie sich stundenlang mit jemand unterhalten konnte, ohne daß der andere einmal zum Wort kam.

»Nein, Herr Leutnant,« rief sie begeistert, »was ich jetzt lese! Dieser göttliche Fouqué! Seine Romane übertreffen an Natürlichkeit selbst das Leben. O Gott, wie entzückend er doch schreibt! Wie ästhetisch, nein, wie gefühlvoll!«

Dazu warf sie einen schmachtenden Blick zur Decke und drückte den Mops fest an sich. Kurt mußte sich das Lachen verbeißen.

»Gestern habe ich mir wieder vier seiner Bücher aus der Leihbibliothek geholt,« fuhr sie fort, »und die letzte Nacht durchgewacht und im Bett gelesen. Gerade als die Kerze niedergebrannt war, hatten sie sich. Nein, wie wundervoll!«

[77]

Da trat Valentine heran.

»Tante,« sagte sie, »du sollst jetzt Blindekuh sein, alle wünschen es.«

Damit drängte sie das dicke Fräulein mit dem schläfrig dreinblickenden Mops sanft fort.

»Ich gehe ja schon,« sagte Friedchen eilfertig. »Aber Herr Leutnant, bevor Sie uns heute verlassen, müssen Sie sich noch in mein Stammbuch einschreiben.«

Kurt versprach es.

»Warum so einsam?« fragte Valentine, als sie allein waren. »Wollen Sie nicht mit nach den vorderen Stuben kommen?«

Kurt sah eine Sekunde lang in die schönen, grauen Augen des Mädchens, deren Blick ruhig auf ihn gerichtet war.

»Am liebsten möchte ich, wir beide wären allein, Fräulein Valentine,« sagte er leise.

Valentine stand unbeweglich. Der warme Ton seiner Worte hatte sie getroffen. Kurt fühlte es. Aber er konnte nicht erraten, welche Gedanken das Mädchen erfüllten. Da griff er heimlich nach ihrer Hand. Ein heißer Strom drang ihm zum Herzen, als er merkte, wie ihm die Hand nicht entzogen ward.

»Valentine,« flüsterte er.

Ein weicher Zug trat in das herbe Gesicht des Mädchens. Aber sie blieb stumm. Nur ihre glänzenden Augen schienen größer zu werden.

»Valentine,« wiederholte Kurt, und es war ihm, als wenn sie seinen Händedruck fast unmerklich erwidert hätte.

[78]

Da erwachte Valentine wie aus einem Traum. Sie fühlte, daß sie nahe daran gewesen war, ihre Umgebung und sich selbst zu vergessen. Sanft entzog sie dem jungen Mann ihre Hand, richtete sich hoch auf und sprach in ihrer kühlen Weise:

»Wir wollen zu den Herren gehen, Herr Leutnant. Dort werden Sie besser aufgehoben sein, als bei den Spielenden.«

Dieser Ton rief Kurt wieder zu sich. Valentine bemerkte, wie er errötete, und blickte zur Seite.

»Kommen Sie, Herr Leutnant,« sagte sie noch einmal.

Da ging er an ihrer Seite aus der Stube, und sie führte ihn in das Herrenzimmer.

Hier war der lange Tisch voll besetzt, und die angeregte Unterhaltung drehte sich wie immer um die Politik. Die Luft war mit Rauch angefüllt, daß alle Anwesenden wie in Nebel getaucht erschienen.

Kurt setzte sich auf den Stuhl, der für ihn herangeschoben wurde, und hörte schweigend auf das Gespräch. Valentine hatte sich neben ihn gesetzt.

»Befehlen der Herr Leutnant?« hörte er neben sich eine leise Stimme. Und wie er aufsah, stand der Korporal Mißbach mit einem gefüllten Bierglas da und stellte es vor ihn auf den Tisch.

Immer wieder dieser Mißbach, dachte Kurt. Es war ihm immer unangenehm gewesen, wenn er den Korporal bei Marschalls gesehen hatte. Er kannte zwar Mißbachs Verhältnis zum Hause und schätzte ihn wegen seiner Brauchbarkeit im Dienst. Aber das wiederholte Zusammentreffen mit dem Korporal in der Marschallschen Familie bereitete ihm Unbehagen. Dieses Gefühl hatte[79] er gleich am ersten Abend gespürt, als er hörte, wie Valentine den Korporal duzte.

Valentine richtete leise eine Frage an Mißbach. Kurt sah, wie sich dieser täppisch-vertraulich zu dem Mädchen niederbeugte und ebenso leise erwiderte:

»Deine Mutter ist bei den Damen in der hintern Stube.«

Darauf nickte Valentine befriedigt, und der Korporal entfernte sich, mit seinen großen, knarrenden Stiefeln so vorsichtig auftretend, wie er es vermochte.

Mißbach nennt das Fräulein ebenfalls Du? dachte Kurt. Da empfand er einen bitteren Geschmack auf der Zunge und sah geflissentlich an Valentine vorbei nach dem Sprechenden hin.

»Ich will ja zugeben,« rief Musikdirektor Röckel, »daß das Märzministerium einen schweren Stand hatte. Aber Pforten und Oberländer hätten die Sache nicht so schnell hinwerfen dürfen. Das waren doch Kerle! Und was haben wir an ihrer Statt bekommen? Dieser Beust! Den hätten sie auf seinem Gesandtenposten in London ruhig lassen sollen. Und Rabenhorst? – Rabenhorst ist ein Vertreter der schärfsten Reaktion und hält immer die Hand erhoben, mit der er die Bajonette, wenn's gilt, heranwinken wird.«

Kurt empfand bei diesen Worten Unbehagen. Der Angegriffene war seit kurzem Kriegsminister.

»Gemach,« versetzte Hofbaumeister Semper, »es muß am Ende doch gehen, wie das Volk will. Um seinetwillen ist die Regierung da, nicht umgekehrt.«

»So ist es richtig,« warf Advokat Minkwitz ein.[80] »Wenn's anders wär', wozu hätten wir dann die konstitutionelle Verfassung?«

»Was fragen die Regierenden lange nach den verfassungsmäßigen Rechten des Volks,« rief Röckel mit heiserer Stimme und lachte spöttisch dazu. »Die Fäden der Politik sind durcheinander geworfen, sage ich, und dieser Knoten läßt sich nicht wieder auffitzen. Wir müssen ihn eben zerhauen!« Dazu schlug er mit der Faust auf den Tisch.

Von mehreren Seiten wurde diesen Worten zugestimmt.

»Nicht unüberlegt handeln, Freunde,« sagte der Hausherr mit Mäßigung. Denn Advokat Marschall, das wußte Kurt, war ein Feind jedes ungesetzlichen Mittels, die Forderungen der Demokratie durchzusetzen.

»Der Beschluß des Reichsparlaments,« fuhr Marschall in seiner ruhigen Weise fort, »den König von Preußen zum Deutschen Kaiser zu krönen, bildet, wie ihr wißt, den Hauptteil unseres Programms. Warten wir erst ruhig ab, ob die Fürsten sich untereinander einigen werden. Es muß ihnen schließlich doch selbst daran gelegen sein, ihre Länder unter dem Schutz eines machtvollen deutschen Kaisertums zu regieren!«

Die Gemäßigten stimmten lebhaft bei.

»Nein!« rief Röckel wütend, »die deutschen Fürsten neiden dem vierten Friedrich Wilhelm die Würde und spinnen heimlich Intrigen gegen das Parlament. Spricht man nicht schon davon, daß sie es mit bewaffneter Hand sprengen wollen?«

»Unsinn!« warf Professor Richter ein, der Chefarzt des Klinikums.

[81]

»Doch, so ist es!« schrien mehrere Stimmen durcheinander.

»Am Ende besitzen wir doch kein Recht dazu, den Fürsten eine Entschließung aufzudrängen,« sagte Advokat Marschall.

Da sprang Hofbaumeister Semper erregt in die Höhe und beugte sich weit über den Tisch.

»Keine Berechtigung, sagst du? Die Menschheit darf ihre unveräußerlichen Güter fordern, wenn die Machthaber sie ihnen vorenthalten. Alle Völker ringsum haben sich ihre Einheit errungen, wir allein sind noch elend zersplittert. Ohne festen Zusammenschluß um einen kraftvollen, alle Fürsten überragenden Kaiser kommen wir Deutschen nun einmal nicht vorwärts! Jahrhundertelang haben unsere Stammesbrüder gegen sich gekämpft und den Spott des Auslandes auf sich gezogen. Jetzt ist das Wunderbare geschehen, daß das ganze deutsche Volk sich eint und wieder einen Kaiser haben will, einen Kaiser, der die Zügel der Regierung in starke Hände nimmt und uns endlich aufwärts führt. Und da treten uns die Fürsten entgegen,« – hier schlug die Stimme des Sprechenden vor Ergriffenheit um – »da kommen die Fürsten und sagen: Nein, wir wollen nicht, wir wollen selbständig bleiben, weil ein Kaiser unserer Macht Abbruch tut …«

Hofbaumeister Semper konnte nicht weitersprechen. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt. Von tiefer Bewegung übermannt, setzte er sich nieder.

Ebenso wie Advokat Marschall, galt Professor Richter als Vertreter der gemäßigten Partei unter den Demokraten.[82] Deshalb machte es auf die Zuhörer Eindruck, als er jetzt mit tiefem Ernst sagte:

»Semper spricht wahr! Das Volk hat ein Recht darauf, seine Einheit zu fordern, und die Fürsten dürfen sich seinen Wünschen nicht entgegenstellen. Das wäre Verrat am großen deutschen Vaterland! Das Wohl des Volkes steht über den Wünschen der Herrschenden, ihren Dynastien Fortdauer und Machtstellung zu sichern. Doch vermag ich nicht daran zu glauben, daß sich die Fürsten der Kaiserwahl widersetzen sollten. Denn solange der Kaiserthron auf sicheren Füßen steht, wanken auch die kleinen Thronstühle nicht.«

Professor Richter hielt im Sprechen inne und sah sich nach allen Seiten bedeutungsvoll um. Dann fuhr er fort:

»Der Widerstand liegt aber weniger bei den Fürsten, als vielmehr bei ihren Beratern, deren Familien seit Jahrhunderten am Staatsruder sitzen. Das ist noch ein böses Erbstück aus der schwärzesten Zeit des Mittelalters, daß fast ausnahmslos der Adel die höchsten Ämter im Staate einnimmt, obwohl ihn das Bürgertum auf dem Gebiete des Geistes und der erfolgreichen Arbeit schon längst überflügelt hat.«

Diese ruhig gesprochenen Worte fanden großen Beifall; am lautesten stimmte Advokat Lindeman zu.

»Wir müssen von unserer Regierung verlangen,« versetzte er, »daß sie den König nicht beeinflußt, sich der Kaiserkrönung zu widersetzen.«

Röckel, der Hitzkopf, war des gemäßigten Tons dieser Unterhaltung schon längst überdrüssig. Er sprang auf und schrie:

»Verlangen, Lindeman? Das wäre umsonst! Zwingen[83] müssen wir sie! Die Geschichte beweist, daß sich das Gelingen immer nur auf die Seite derer gestellt hat, die in ernsten Zeiten für ihre Sache keine Waschfrauenreden hielten, sondern rücksichtslos handelten. Nun, die Zeiten sind ernst! Und an uns liegt es, ob sie später einmal groß genannt werden sollen!«

Noch hatte sich Röckel trotz seiner hohen Erregung gescheut, mit dürren Worten auszusprechen, was er mit diesem »rücksichtslos handeln« meinte. Doch verstand ihn jeder.

Aber auch Hofbaumeister Semper war des Spielens mit Worten müde.

»Zwingen, sagt Röckel,« versetzte er, das aufgegriffene Wort bedeutungsvoll wiederholend, »und womit wollen wir die Minister zwingen, wenn alle Petitionen und mündlichen Vorstellungen umsonst sind?«

»Mit den äußersten Mitteln!« schrie der Musikdirektor.

Semper war noch immer nicht zufrieden. Das Wort, auf das es ankam, das einzige Wort, das auszusprechen sich jeder scheute, obwohl es allen auf der Zunge lag, dieses Wort mußte fallen. Auf den Straßen hörte man es schon. Aber in diesem Kreis von Männern, die Ansehen besaßen, und deren Ehrenhaftigkeit niemand anzuzweifeln wagte, unter ihnen mußte es gesagt werden. Dann erst würde den Machthabern der Ernst der Stunde aufgehen.

»Und was wäre dieses Mittel?« fragte Semper beharrlich.

Lautlose Stille herrschte. Wenn man hier die letzte Zuflucht besprach, die dem Volke blieb, – das empfand jeder der Anwesenden –, dann würde sich die Kunde davon rasch verbreiten, und die Regierenden würden[84] sagen: Die Bürger Dresdens machen Gemeinschaft mit den Demokraten aus der Hefe der Gesellschaft.

Noch wartete der Hofbaumeister auf die Antwort, als vom unteren Ende des Tisches eine Frauenstimme klar und ruhig in das Schweigen hineintönte:

»Das Schwert!«

Da war das Wort gefallen, das die Männer auszusprechen sich gescheut hatten! Aus dem Munde eines Mädchens war es gekommen. Der Bann war gebrochen. Alle fuhren auf und sahen nach der Tür. Dort stand bleich und mit weit geöffneten Augen Valentine Marschall. Nur die zitternden Nasenflügel verrieten die hohe Erregung, die das ruhig erscheinende Mädchen erfüllte.

»Valentine! Kind!« rief Advokat Marschall. Aber seine Stimme ging in dem Lärm unter, der jetzt anhob. Von allen Seiten wurde laut zugestimmt, und das Wort wurde immer von neuem wiederholt. Ein paar Heißsporne sprangen auf und riefen stürmisch durcheinander. Selbst die Gemäßigten hielten nicht mehr zurück, sondern bezeichneten die Lage als ernst genug, daß man vor keinem Mittel zurückschrecken dürfe, das zur Erfüllung des Volkswillens diene.

Den letzten Teil der Unterhaltung hatte auch Frau Marschall mit angehört, die unbemerkt in die offene Tür getreten war. Sie war eine Frau mit nüchternem Verstand und ließ sich von aufwallenden Gefühlen nicht so leicht fortreißen. Als sich der Lärm gelegt hatte, sagte sie in trockenem Tone:

»Kinder, gebärdet euch nicht so wild. Wartet erst einmal ab, ob der preußische König überhaupt Kaiser werden will.«

[85]

Diese Worte dämpften die Erregung augenblicklich. Es lag Klugheit darin. Natürlich mußte sich Friedrich Wilhelm erst entscheiden. Vorderhand war der Zeitpunkt noch nicht gekommen, das Äußerste anzuwenden.

»Aber es muß Klarheit darüber bestehen, was wir zu tun haben, wenn uns nur noch die letzte Notwendigkeit bleibt,« rief Röckel hitzig, dem es nicht gefiel, daß sich die Erregung so rasch gelegt hatte.

Das Gespräch wurde nun in ruhigerem Ton geführt, wenn auch der tiefe Eindruck nicht verflüchtete, den die erregte Szene auf alle gemacht hatte.

Auch Advokat Marschall stand unter dieser Wirkung.

»Wir wissen jetzt,« sagte er, »was unsere Pflicht ist, wenn alle gesetzmäßigen Mittel fruchtlos sind. Erreichen müssen wir unser Ziel! Warten wir ab, welchen Weg uns die Regierung weist.«

Am tiefsten hatte die spannende Unterhaltung vielleicht auf Kurt gewirkt. Er hatte den klaren Eindruck gewonnen, daß in diesem Kreise die Würfel gefallen waren. Wohl gab es unter den Anwesenden Hitzköpfe, die zu Unüberlegtheiten neigten. Aber die meisten kannte er als ruhige und gewissenhafte Männer. Das hatte Bedeutung, wenn sich Bürger, wie die hier versammelten, für die Anwendung von Gewalt erklärten. Dann mußte die Not des Volkes wirklich aufs Höchste gestiegen sein!

Auch daran dachte Kurt, daß die Erregung in beiden Kammern des Landtags von Tag zu Tag wuchs.

Die Verhandlungen blieben stecken, trotz manchen vortrefflichen Wortes, das dort gesprochen wurde.

Freilich saß in der Volksvertretung auch eine beträchtliche Anzahl von Männern, die die Verhandlungen verwirrten[86] oder mit Absicht erschwerten: ehrliche Phantasten, Thronstürzer und hohle Köpfe. Hatte nicht erst jüngst der Abgeordnete Bell die Worte in die Versammlung geschleudert: Ich kenne die Absichten der Regierung nicht, aber ich mißbillige sie! Das hatte die Besonnenen sehr aufgebracht; sie wußten, wie solche Reden der guten Sache schadeten und das Parlament vor aller Welt lächerlich machten.

Auf dem Nachhauseweg stieg der erregte Auftritt noch einmal in seiner ganzen Lebendigkeit in Kurts Erinnerung herauf. Immer wieder gingen seine Gedanken zu Valentine, wie sie streitbar neben ihm gestanden und furchtlos gesprochen. Kurt fühlte sich im Bann des Mädchens. Er liebte die geistige Stärke an der Frau. Ein wenig weibliche Holdseligkeit, wie sie Ursula in hohem Grade besaß, hätte er Valentine gewünscht. Ihr Wesen war grundverschieden gegen das ihrer Altersgenossinnen. Wenn Kurt Valentine aber mit den meisten Töchtern der höheren Stände verglich, wenn er an deren engen Gesichtskreis dachte, an ihr Läppischtun und an ihre Saumseligkeit, mit der sie tändelnd die Tage und Jahre hinlebten, so empfand er deutlich, daß Valentine hoch über allen diesen Mädchen stand.

Auch der Reden gedachte Kurt noch einmal, die er heute gehört. Waren denn die politischen Verhältnisse in Wahrheit so schlimm, daß die Erregung des Volks bis zu dieser bedrohlichen Höhe anwachsen durfte?

Sicherlich hatten die Regierenden hier und anderswo Mißgriffe getan. Ihr geringes Verständnis für die Wünsche des Landes hatte viel böses Blut gemacht. Der Drang des Volkes nach freiheitlicheren Staatsformen[87] wurde von oben herab stark bekämpft. Man glaubte dort, selbst die maßvollsten Forderungen seien nichts anderes als versteckte Attentate auf das monarchische Regiment. Alles sei nur darauf gerichtet, das Bestehende umzustürzen und nach den Ideen einiger zügelloser Schwärmer von Grund auf neu zu gestalten. Daß die Bewegung, trotzdem man sie scharf bekämpfte, aber immer weiter um sich griff, und immer mehr Männer von Bedeutung sich ihr anschlossen, hätte die Regierung doch stutzig machen müssen! – So spann der junge Mann seine Gedanken weiter.

Wohl gab es auch Minister, die den Ernst der politischen Lage erkannten. Aber diese verschwindende Minderzahl erwies sich tatsächlich als ohnmächtig, die regierenden Kreise zu beeinflussen. Sie unterwarfen sich entweder gegen ihre Überzeugung dem starken System oder nahmen ihren Abschied. Es stand in dieser drangvollen Zeit keiner auf, der die Kraft besessen hätte, wahrhaft Großes zu vollbringen. Die feudalen Herren draußen im Lande und im Regierungsapparat bangten vor jedem kleinen Zugeständnis, aus Besorgnis, ihre jahrhundertealten Rechte geschmälert zu sehen.

Und der König? Kurt kannte den Gerechtigkeitssinn Friedrich Augusts und wußte, daß er für das Wohl seines sächsischen Volkes ein warmes Herz hatte. Zudem waren dem jungen Offizier Anhänglichkeit und Liebe zum Herrscherhaus vererbt und mit seinem Blut unzertrennlich verbunden. Soweit sich die Geschichte seines Geschlechts verfolgen ließ, hatten die Allmer im Heeres- und Staatsdienst in guten und bösen Zeiten treu zum Hause Wettin gestanden. Ihnen nachzueifern war für ihn nicht nur[88] Bedürfnis, sondern auch Ehrenpflicht! Und Kurt war bereit, für den König sein Alles ebenso bereitwillig hinzugeben, wie es seine Vorfahren getan hatten. Der Name Allmer mußte seinen alten guten Klang behalten!

Wie stellten sich nun aber die Führer der großen Bewegung zu der Person des Königs? Das wußte Kurt freilich nicht. Und er fühlte eine leise Beklemmung. Wenn sich der Zorn der Unzufriedenen gegen den König richtete, dann würde er sich von ihnen wenden.

Doch nein! Es war ja heute abend wiederholt ausgesprochen worden, der Unwille des Volkes gelte allein den Ratgebern des Königs. Man klagte sie an, daß sie Friedrich August gegen die Kaiserkrönung argwöhnisch gemacht hätten und ihn in seinem Widerstand bestärkten. Dazu wären sie ängstlich darauf bedacht, die wirkliche Stimmung im Volke vor ihm zu verbergen. Den falschen Dienern der Krone also zürnte man, nicht dem Monarchen.

Das waren Kurt Allmers Betrachtungen über die tiefgehenden Strömungen dieser bewegten Zeit. Und ebenso arglos urteilten viele Tausend andere, darunter Männer, die lebenserfahrener waren, als ein junger Offizier. In Vieler Herzen brannte das ungestillte Sehnen nach einem Frieden, der die Wünsche des Volkes erfüllte, ohne das Ansehen des Königs zu schmälern.

Diese Freunde einer gütlichen Schlichtung des endlosen Haders vermochten aber nicht, in die gährenden Tiefen der Bewegung zu schauen. Sie hätten sich mit Entsetzen von dem Anblick des aufgehäuften Zündstoffs gewendet, in den nur ein lichter Funke zu fallen brauchte, um ihn aufflammen zu lassen.

Als Kurt das Portal der Kaserne erreicht hatte,[89] begegnete er dem ihm befreundeten Oberleutnant von Schönberg-Pötting, der zur gleichen Zeit vom Bautzner Platz her mit ihm am Tor eintraf.

»Hallo, Karl,« rief Kurt, »wo bist du heute abend gewesen?«

»Bei meinen Eltern. Und du?«

»Zu einer Familienfestlichkeit bei Advokat Marschall.«

Oberleutnant von Schönberg schwieg dazu. Sie gingen durch das Tor, nachdem der schließende Unteroffizier geöffnet hatte. Der verschlafene Posten vor dem Gewehr präsentierte. Nun stiegen die beiden Offiziere die Treppen hinauf.

Kurt fiel die ungewohnte Schweigsamkeit seines Freundes auf. Plötzlich sagte er zu dem Oberleutnant:

»Warum bist du heute abend so still?«

Und als Schönberg mit der Antwort zögerte, legte er seinen Arm in den des Freundes und veranlaßte ihn, auf dem spärlich erleuchteten Korridor stehenzubleiben.

»Lieber Karl,« sagte Kurt mit leisem Vorwurf, »ich weiß nicht, ob ich mich irre. Aber ich glaube bemerkt zu haben, daß du in der letzten Zeit nicht mehr so offen zu mir gewesen bist, wie sonst.«

Der Oberleutnant sah ihn in leichter Verlegenheit an.

»Habe ich, ohne es zu wissen, gegen dich gefehlt?« fragte Kurt, »dann sag' es mir, damit ich's wieder gutmache. Zwischen Freunden darf keine Verstimmung herrschen.«

Schönberg machte eine verneinende Gebärde.

»Aber es hat sich dennoch etwas zwischen uns geschlichen,« drang Kurt in ihn, »das empfinde ich gerade in diesem Augenblick ganz deutlich.«

[90]

Schönberg blickte beiseite und wollte ausweichend antworten.

»Nein, Karl,« versetzte Kurt, »so leichten Kaufs entrinnst du mir nicht. Also sprich offen.«

Der Oberleutnant lächelte gezwungen.

»Karl,« bat Kurt noch einmal, »bitte, sprich!«

»Na, wenn du's willst, meinetwegen …,« entgegnete Schönberg endlich. »Lieber Kurt, es geht ja keinen etwas an, was du treibst, aber … man redet so allerhand. Man meint, du träfst wohl nicht immer das Richtige in der Wahl deines … Verkehrs.«

Kurt schoß das Blut ins Gesicht.

»Das kann sich nur gegen Marschalls richten,« versetzte er gereizt. »Die Familie ist durchaus ehrenwert, und der Advokat genießt einen ausgezeichneten Ruf!«

»Das läßt sich nicht leugnen,« erklärte der Oberleutnant. »Aber du weißt, Kurt, wie vorsichtig gerade wir sein müssen.«

»Hätte ich gefehlt?« warf Kurt ungeduldig ein.

Schönberg hatte den Handschuh abgezogen und betrachtete angelegentlich seine gepflegten Fingernägel.

»Marschall ist zweifellos ein Ehrenmann,« antwortete er, aufsehend. »Aber sieh, lieber Kurt, du weißt, wie jetzt alles erregt ist …«

Und als Kurt nichts erwiderte, setzte er zögernd hinzu:

»Schon den Schein muß man meiden.«

»Karl,« sagte Kurt mit Nachdruck, »glaube mir, die ganze Bewegung ist nur gegen die Regierung gerichtet, die nun einmal, laß es mich offen aussprechen, viele Mißgriffe getan hat.«

Der Oberleutnant blickte den Freund erstaunt an.

[91]

»Ja, gewiß,« fuhr Kurt fort, »gegen die Regierung, nicht aber gegen den König.«

Schönberg schien nicht zu begreifen. Er zuckte mit den Achseln, schwieg aber.

»Sind nicht selbst hochgestellte Männer unter den Demokraten, deren Wahrhaftigkeit niemand anzuzweifeln wagt?«

Der Oberleutnant nickte.

»Und mißbilligt, wohin man auch hört, nicht jedermann die Zustände? Räsonnieren nicht selbst wir manchmal?«

Lächelnd bestätigte Schönberg die Wahrheit dieser Worte. Aber er wurde gleich wieder ernst.

»Kurt,« antwortete er, »was du da sagtest von König und Regierung, er drüben und sie hüben, – lieber Kurt, diese Unterscheidung erscheint mir etwas gekünstelt. Ich denke immer, die beiden bilden eins?«

»Du irrst, Karl,« entgegnete Allmer. »Dem König bleibt viel verborgen. Wenn er nur wüßte, was das Volk bewegt, dann würde so manches besser sein.«

Und als der Oberleutnant nichts darauf antwortete, sagte sich Kurt insgeheim: Das ist einer von den Abseitsstehenden, die die ganze Bewegung und ihre tiefen Ursachen nicht verstehen.

Er trat nahe an den Freund heran und versetzte:

»Sei überzeugt, Karl, daß ich wachsam bleiben werde. Du kennst mich doch! Der schlimme Zwist hat seinen Höhepunkt erreicht. Schon die nächsten Tage müssen eine friedliche Lösung bringen. Denke doch nur daran, was für vortreffliche Männer an der Spitze der Bewegung[92] stehen. Aber bis zu dieser Stunde liegt wirklich nicht der geringste Grund vor, dieses gesellige Haus zu meiden.«

Mit diesen Worten bot er Schönberg die Hand.

»Davon bin ich nun überzeugt, lieber Kurt,« erwiderte dieser und schlug lebhaft ein. Mit dieser Aussprache war die alte Freundschaft wieder besiegelt, und die Freunde sagten sich gute Nacht.

Schon ein paar Schritte entfernt, rief der Oberleutnant noch einmal zurück:

»Du, Kurt, heute habe ich im Vorübergehen Fräulein von Abendroth auf ein paar Worte über den Gartenzaun gesprochen. Sie sah recht blaß aus, der alte Kriegsrat scheint ihr viel Sorge zu machen. Übrigens erkundigte sie sich auch, wie dir's gehe und läßt dich grüßen.«

»Danke, danke,« versetzte Kurt und biß sich auf die Lippe, daß sie heftig schmerzte. Und als er auf seinen Finger sah, mit dem er die schmerzende Stelle unwillkürlich berührt hatte, hing ein dicker Blutstropfen daran.

Kurt hatte in dem Augenblick, wo Schönberg ihm Ursulas Grüße bestellte, daran gedacht, wie er vor wenigen Stunden Valentinens Hand gepreßt hatte.


Sechstes Kapitel

Während der nächsten Tage befand sich das ganze sächsische Volk, allen voran die Einwohnerschaft Dresdens, in einem Taumel. Die Erregung wuchs ungeheuer, und die Ereignisse drängten zur Entscheidung.

Wer abseits vom Tageslärm aufmerksam gelauscht, der hätte den eisernen Tritt der schweren Zeit vernommen, mit dem sie über das sächsische Land hinwegschritt. In[93] diesen Tagen bereitete sich ein bitterernster Abschnitt der Geschichte des jungen Königreiches vor. Die von Kugeln durchlöcherten Blätter, worauf Klio mit zitterndem Griffel die kommenden Geschehnisse niedergeschrieben, tragen Blutspuren, und ihre Ränder hat das Feuer versehrt.

Am Morgen nach dem Feste bei Marschalls mußte Kurt an einer Felddienstübung teilnehmen, zu der zwei kriegsstarke Kompagnien auf den »Heller« rückten. An seiner Stelle beaufsichtigte ein Sergeant das Rekrutenexerzieren.

Die Übung dehnte sich so lange hin, daß die Truppen erst am späten Nachmittag wieder in der Kaserne eintrafen. Obgleich Kurt sehr müde war, kleidete er sich nach dem Essen rasch um und begab sich zu Ursula. Als er das Abendrothsche Haus erreichte, war es schon dunkel.

Der alte Kriegsrat hatte sich frühzeitig zu Bett gelegt, und Ursula war allein im Zimmer. Sie saß in dem hohen Lehnstuhl des Großvaters und blickte gedankenschwer in die Flamme der auf dem Tisch stehenden Kerze.

Bei Kurts unvermutetem Eintritt fuhr Ursula auf. Langsam kam sie ihm ein paar Schritte entgegen. Plötzlich blieb sie jedoch stehen, und als Kurt sie umschlang, fühlte er, daß sie heftig zitterte. Diese Wahrnehmung steigerte seine Befangenheit, die er schon auf dem Wege verspürt hatte.

Er führte das Mädchen zu dem großen Stuhl zurück und nötigte sie sanft zum Sitzen. Dann zog er sich einen Sessel heran, und nun plauderten sie von gleichgültigen Dingen.

[94]

»Geht es deinem Großvater nicht gut, Ursula?« fragte Kurt.

»Er fühlt sich nicht schlechter als sonst,« antwortete sie in müdem Ton. »Aber gerade heute Nachmittag war ihm gar nicht wohl. Deshalb ging er so früh schlafen.«

»Du bist doch nicht krank, liebe Ursula?« forschte Kurt mit heimlichem Bangen, »du siehst bleich aus!«

»Nein, nein,« wehrte sie hastig ab, »es ist nichts; ich bin ganz wohlauf.«

Während sie dies sprach, sah sie auf den Teppich nieder. Kurt betrachtete aufmerksam Ursulas Gesicht. Es erschien ihm schmal, wie er es noch nicht beobachtet hatte. Sie mußte leiden. Zärtlich nahm er ihre Hand und streichelte sie. Ursula tat ein paar tiefe Atemzüge. In der nächsten Sekunde stand sie auf, als wenn sie ihre innere Bewegung verbergen müßte, ging zum Tisch und ergriff die eiserne Lichtschere, die neben dem Leuchter lag.

»Sieh, Kurt,« scherzte sie und machte einen schwachen Versuch, zu lächeln, »die Lichtschnuppe neigt sich dir zu. Du wirst bald einen Brief bekommen oder eine Neuigkeit hören.«

So sprechend, putzte sie sorgfältig die Flamme wieder hell.

Kurt hatte sich gleichfalls erhoben und stand nun neben ihr. Beide schwiegen. Der Schein der Kerze lag voll auf dem bleichen Gesicht des Mädchens. Kurt sah die herabgesenkten Augenlider, umrandet von langen, sammetnen Wimpern, und den feingeschnittenen Mund.

Da fiel plötzlich die eiserne Lichtputzschere laut auf[95] den Tisch nieder, und im nächsten Augenblick warf Ursula schluchzend ihre Arme um seinen Hals und lehnte sich willenlos an ihn. Von tiefer Bewegung übermannt, setzte sich Kurt auf einen Stuhl und zog die heftig Weinende auf seinen Schoß nieder. Ihre Wangen lagen aneinander, und der junge Mann fühlte Ursulas Tränen auf seinem Gesicht.

Kurt versuchte nicht, diesen jähen Tränenstrom aufzuhalten, dessen Grund Ursula aller Fassung beraubt hatte. Er drückte die Schluchzende sanft an sich, flüsterte ihr alle Schmeichelnamen leise ins Ohr, die er ihr gegeben, und streichelte ihre Wangen. Endlich wurden die schweren Atemstöße leichter. Das Weinen ließ nach, und das Mädchen wurde ruhiger. Sie griff nach ihrem Taschentuch und trocknete die Tränen.

»Geliebte,« sagte Kurt in tiefer Bewegung, »ich habe dich betrübt, ich weiß es. Verzeihe mir.«

Ursula hob den niedergesunkenen Kopf auf und sah ihn mit einem Blick voll unendlicher Liebe an.

»Kurt,« antwortete sie leise, die Augen noch voll Tränen, »wenn du doch öfter an mich denken wolltest. Empfindest du nicht, wie schwer ich darunter leide?«

Dem jungen Mann versagte die Sprache, und es stieg ihm feucht in die Augen.

»Ich habe dich von ganzem Herzen lieb,« stammelte er.

Ursula atmete tief auf.

»Ich glaubte, du wolltest dich von mir wenden,« kam es fast unhörbar von ihren Lippen.

Kurt empfand, wie ihn diese leise Klage erschütterte.

»Sei versichert,« erwiderte er mit zuckenden Lippen, »daß ich dich wahrhaft und innig liebe!«

[96]

Mit diesen Worten zog er Ursula an sich, und sie fühlte den lauten Schlag seines Herzens.

So hielten sie sich eine lange Weile umschlungen. Dann erhob sich das Mädchen, strich das hereingefallene Haar über die Stirn zurück und setzte sich von neuem in den Lehnstuhl am Fenster. Ihr Gesicht war noch bleicher als vorher.

»Ich hörte,« sagte sie endlich zögernd, »du verkehrtest viel in Kreisen, die der politischen Bewegung nahestehen. Sieh, lieber Kurt, ich verstehe nichts von all dem, was sich jetzt draußen abspielt. Dieses kleine Haus ist meine Welt. Der Großvater bedarf der sorgfältigsten Pflege –«

»Argwöhne nicht, liebe Ursula,« fiel Kurt ihr ins Wort, »daß die Bewegung im Volke grundlos und etwa auf den Umsturz gerichtet sei. Die besten Namen sind mit ihr verbunden.«

»Ich weiß es,« versetzte das Mädchen. »Der Großvater sagt zwar immer, die Leute seien verblendet und wüßten nicht mehr zu unterscheiden zwischen den nationalen Forderungen, denen auch die der Bewegung Fernstehenden zustimmten, und den inzwischen heraufgekommenen staatsfeindlichen Bestrebungen. Er sähe den Dingen auf den Grund, denn er sei ein alter Mann, dem das Leben die Sinne geschärft habe.«

»Dein Großvater irrt, wenn er etwa meint, daß die Führer das Bestehende zerstören wollen. Aber in den alten Grundpfeilern des Staatsgefüges sind viele Steine verwittert. Die sollen durch frische ersetzt werden, bevor der morsche Bau zusammenbricht.«

Ursula wußte hierauf nichts zu erwidern. Der Geliebte[97] sprach ja förmlich begeistert; vielleicht hatte der Großvater doch unrecht.

»Sei es, wie es wolle,« versetzte sie fügsam, »nur um das eine bitte ich dich, lieber Kurt, vergiß mich nicht über diesem allen.«

»Ich werde dir niemals wieder Grund geben, traurig zu sein,« antwortete er herzlich. Damit war Ursula zufrieden.

Nun unterhielten sie sich noch eine Zeitlang, bis sich Kurt erhob und Abschied nahm.

»Empfangt ihr denn nicht manchmal Besuch in eurer Abgeschiedenheit?« fragte er.

»Solange der Großvater sich noch viel Schonung auferlegen muß, bitten wir niemand zu uns,« antwortete Ursula, »natürlich nehmen wir auch keine Einladungen an. Nur selten kommt jemand auf einen kurzen Besuch. Sie wissen nicht, ob sie gern gesehen sind. Witterns sprechen ab und zu vor und meine Freundin Amalie von Zehmen.«

Beim Klange dieses Namens zuckte es in Kurts Mundwinkeln. Die Zehmen war eine ältere Jungfrau mit überfreundlichem Getue und einer gefürchteten Zunge, die schon manches Unheil angerichtet hatte. Er konnte ihre süßliche Art nicht ausstehen. Aber er schwieg.

Beim Abschiednehmen empfand Kurt noch einmal Ursulas ganze Hingebung. In unsäglicher Bangigkeit hielt sie ihn umschlungen, erwiderte seine Küsse innig und bat ihn zögernd noch einmal, sie nicht allzu lange auf sein Wiederkommen warten zu lassen. Kurt versprach es und nahm bewegten Herzens und mit einer seltsamen Beklommenheit von Ursula Abschied – – –

[98]

Es war ein milder Frühlingsabend, Ausgangs April. Kurt schritt langsam die Glacisstraße hinunter, um Tante Sidonie noch auf ein Stündchen zu besuchen. Als er über den Bautzner Platz gegangen war und in die Königstraße einbiegen wollte, hörte er hinter sich eine bekannte Stimme rufen:

»Guten Abend, Herr Leutnant!«

Kurt wandte sich rasch um und erkannte Valentine Marschall. Sie trug einen langen, dunkeln Mantel und hatte den Kopf in ein weißes Tuch gehüllt.

»Sie sehen ja heute Ihre besten Freunde nicht,« sagte sie lächelnd und streckte ihm die Hand entgegen.

Kurt war höchlich überrascht. Und er empfand zum erstenmal bei Valentinens Anblick ein leises Gefühl von Unbehagen. Aber er faßte sich rasch und murmelte eine Entschuldigung. Valentine wehrte ab.

»Ich bin heute abend zu Lindemans eingeladen,« plauderte sie. »Begleiten Sie mich dahin, wenn Sie nichts Besseres vorhaben.«

Kurt erklärte sich gern bereit. Er hätte nur die Absicht gehabt, seiner Tante guten Abend zu sagen. Erwartet würde er nicht. Damit bot er Valentine den Arm, und nun schlenderten sie um den einsamen Platz.

»Wissen Sie denn auch schon, welch wichtiger Vorgang sich heute in der Ersten Kammer zugetragen hat?« fragte Valentine lebhaft.

Kurt verneinte. Valentine kenne seine Anteilnahme an den politischen Zuständen, fügte er hinzu, aber die Tagesereignisse verfolge er nicht. Dazu sei er dienstlich zu sehr in Anspruch genommen.

»Nun also, dann hören Sie: Präsident Joseph hat[99] heute die von der Regierung vorgelegte Steuerbewilligung von der Tagesordnung abgesetzt.«

»Und was bedeutet das?« fragte Kurt, der den Sinn dieses Vorgangs nicht recht begriff.

»Ach, Sie Weltfremder,« lachte Valentine. »Sagen Sie niemandem, daß Sie mein Schüler gewesen sind. Was dies bedeutet? Der Landtag verweigert der Regierung den Kredit! Und zu alledem sind die Sitzungen am Montag zu Ende.«

»Also ist die Regierung nunmehr ohne gesetzmäßige Mittel? Der Landtag hat ihr den Konflikt angesagt?«

»So ist es,« antwortete Valentine, »und wissen Sie, wie der famose Herr von Beust diesen Schlag erwidert? In der heutigen Abendausgabe des ›Journals‹ hat er die Auflösung des Landtags bekannt gegeben.«

»O,« entfuhr es Kurt, »das wird wieder böses Blut machen.«

»Dieser Schritt ist eine unglaubliche Unklugheit,« fuhr Valentine erregt fort. »Wie mein Vater sagte, wird der Landtag darauf bestehen, daß die Auflösung nach dem Wortlaut der Geschäftsordnung in den Kammern selbst und durch ein Königliches Dekret ausgesprochen wird. Die Regierung soll nur fortfahren, solche Fehler zu machen. Damit reizt sie das Volk bloß auf und treibt es zur Katastrophe.«

Kurt schwieg. Valentine hatte recht; durch solche Unklugheiten gab die Regierung ihre Autorität preis.

»Und nun noch eine Neuigkeit: gestern hat der König von Preußen die Kaiserkrone bestimmt abgelehnt.«

Kurt konnte die peinliche Überraschung nicht verbergen, die ihm diese Mitteilung bereitete. Zwar hatte er schon[100] bei Marschalls die Befürchtung aussprechen hören, an der unentschlossenen Haltung der Fürsten möchte das große Werk der Einigung aller deutschen Stämme scheitern. Dennoch glaubte man allgemein, daß der König von Preußen dem Drängen des Volkes nachgeben und die angebotene Krone annehmen würde. Und nun hatte er sie doch ausgeschlagen!

»Die Ablehnung zu dieser Stunde kommt mehr wie ungelegen,« bemerkte er, »denn alle Welt wird glauben, daß es nur am Widerstand der Fürsten liegt, wenn Friedrich Wilhelm sich zur Annahme der Kaiserkrone nicht bereit erklärt hat.«

»Das ist zweifellos auch der alleinige Grund,« entgegnete Valentine bestimmt. »Warum sollte Friedrich Wilhelm die ihm vom Reichsparlament angetragene Würde sonst ablehnen? Weiß er doch, daß die Krönung der Wunsch aller ist! Das ganze deutsche Volk wird die wahre Ursache der Ablehnung erkennen und wie einen Schlag ins Gesicht empfinden. Und wer hat in der Tat die ungeheuerliche Kränkung dem Volke bereitet? Niemand anders, als die Fürsten mitsamt ihren Regierungen!«

Während dieser Unterhaltung waren sie die Antonstraße hinabgeschritten. An der Ecke der Querallee blieb Valentine stehen.

»Hier bin ich angelangt,« sagte sie, ihren Arm aus dem ihres Begleiter ziehend.

Kurt hatte Valentinens Erregung aus ihren Worten deutlich herausgehört. Er begriff die starke Verstimmung des Mädchens. Aber der Ton, in dem sie gesprochen, war ein Mißklang, der ihm das nämliche Unbehagen bereitete,[101] das er schon gestern empfunden, als Valentine die offene Gewalt als das letzte Mittel bezeichnet hatte. Gewiß schätzte er ihren starken Charakter! Hier aber fühlte er, daß sie aus Eifer für das Gelingen des großen nationalen Gedankens die Wahrung ihrer weiblichen Würde vergaß. Das schmerzte ihn! Und es lag Weichheit und Wärme in seiner Stimme, als er plötzlich sagte:

»Ich kann es recht wohl begreifen, Fräulein Valentine, wenn Sie jetzt bitter enttäuscht sind. Denn Sie haben aus natürlicher Neigung und weil ihre häuslichen Verhältnisse Sie von Jugend auf darin bestärkten, der nationalen Bewegung viel größeres Interesse gewidmet, als andere Frauen. Begeisterung für eine edle Sache verrät immer ein empfindsames Herz. Wenn sich aber ein Weib in dem Maße, wie Sie es getan, in den politischen Kampf begibt, dann reißt sie der Eifer nur zu leicht über die Schranken hinweg, die ihr die Natur gezogen hat. Warmes Mitgefühl für die Sache des Volkes in bewegten Zeiten ziert auch die Frau. Aber der Mann sieht es doch lieber, wenn sie abseits vom Tageslärm steht und ihre weibliche Würde sorgfältig wahrt. Würden Sie nicht besser tun, das offene Eintreten für die Rechte des Volkes den Männern zu überlassen?«

Valentinens Erstaunen war während dieser Worte immer mehr gewachsen. Eine maßlose Gereiztheit hatte sich ihrer bemächtigt, und die scharfe Entgegnung lag ihr schon auf der Zunge, mit der sie Kurts Ratschlag zurückweisen wollte. Da bemerkte sie, wie sein Blick ernst, aber voll ehrlicher Anteilnahme auf ihr haftete.

Eine kurze Weile ruhten beider Augen fest ineinander. Dann senkte Valentine den Blick und Kurt sah, wie eine[102] dunkle Röte in ihr Gesicht schlug. Da trat er im plötzlichen Aufwallen warmen Mitgefühls dicht an das Mädchen heran und berührte mit den Lippen ihre Stirn.

»Liebe Valentine,« sagte er leise und mit bewegter Stimme, »ich wollte Ihnen bei Gott nicht weh tun …«

Valentinens hohe Gestalt überlief ein Zittern. Langsam strich sie mit der Hand über die Augen und trat einen Schritt zurück.

In diesem Augenblick bemerkte Kurt, wie hinter ihm eine Dame rasch vorüberschritt, die auf der schlechtbeleuchteten, menschenleeren Straße unbemerkt herangekommen war. Kurt fühlte plötzlich den Drang, sich nach ihr umzusehen. Die lange Gestalt, die eckigen Schultern, – war ihm die in der Dunkelheit schon wieder Verschwundene nicht bekannt? Aber schon hatte er die Unterbrechung wieder vergessen.

Er vernahm Valentinens Stimme, die bewegt sagte:

»Ich danke Ihnen, lieber Freund, für Ihre Worte.«

Dann reichte sie ihm die Hand und fügte in ihrem gewöhnlichen Tone hinzu:

»Nun gute Nacht; man wird mich schon erwarten!«

»Gute Nacht, Fräulein Valentine,« gab er zurück. Damit trennten sie sich.

Kurt ging die Antonstraße langsam zurück. Zu einem Besuch bei Tante Sidonie verspürte er kein Verlangen mehr. Seine Gedanken beschäftigten ihn viel zu sehr.

Als er den Bautzner Platz betrat, fiel ihm eine Menschenansammlung auf. Die Leute standen in Gruppen zusammen und sprachen erregt miteinander. Aber er ging achtlos an ihnen vorüber.

[103]

Am Eingang der Hauptstraße, kurz vor der Kaserne, hielt wieder eine zusammengedrängte Menge.

Inmitten des Haufens stand auf einem umgestürzten Schubkarren ein sorgfältig gekleideter Mann, der mit lebhaften Worten auf die Umstehenden einsprach.

Als Kurt vorbeikam, hörte er die Worte: »… der König von Württemberg ist erschossen, der König von Hannover ist tot. Berlin befindet sich in vollem Aufstand. Neunhundert Mann Truppen sind von Böhmen her in Freiberg eingerückt, um der sächsischen Regierung zu helfen …«

Da schrie der Haufe wüst auf, und die weiteren Worte des Redners gingen in dem Tumult unter.

Kurt erschrak. Wenn das wahr wäre! Noch quälte ihn dieser Gedanke, als sein Blick auf die friedlich liegende Allee fiel und auf die Kaserne, aus deren Fenstern das Pfeifen und Singen der Soldaten herausschallte. Das beruhigte ihn, und er mußte über seine Besorgnis lächeln.

Heute war Sonnabend. Irgendein Harmloser hatte nach der Arbeit reichlich über den Durst getrunken, und nun spukte es in seinem Hirn. Die Tagesereignisse boten einer lebhaften Einbildung ja genug Stoff, um ungewöhnliche Vorgänge maßlos zu übertreiben.

Mit schnellen Schritten ging er weiter, bis er das Kasernentor erreicht hatte. Da hörte er, wie eine Stubenmannschaft in den stillen Abend hineinsang:

Eine Kugel kam geflogen,
Gilt sie mir oder gilt sie dir – –

Dieses schwermütige Lied stimmte ihn wieder ernst.

[104]


Am darauffolgenden Tag, einem Sonntag, zog der Dresdner, wie er es bei seinem sprichwörtlichen Familiensinn gewohnt war, bald nach dem Mittagessen mit Kind und Kegel hinaus vor die Tore.

Innerhalb der Stadt bildete die Brühlsche Terrasse den Hauptanziehungspunkt. Auf dem Belvedere wurde vom frühen Nachmittag an Musik gemacht. Die Gäste saßen eng zusammengedrängt friedlich beieinander, aßen zu den mitgebrachten Semmelzeilen dünngeschnittene Zwiebelwurstscheiben und tranken Weißbier oder Kaffee.

Nach dem Essen wurde die Zigarre in Brand gesteckt. Hierzu dienten fingerlange Schwefelhölzer, deren giftgrüne Kuppen einmal ums andere fortsprangen und auf den Kleidern ernsthafte Schadenfeuer anrichteten. Deshalb galt es auf der Hut zu sein und jeden dieser Ausreißer durch rasches Daraufschlagen unschädlich zu machen. Obendrein beleidigte der verbrennende Phosphor empfindlich die Nase. Wer am guten Alten festhielt, zog die kurze Stummelpfeife und den Tabaksbeutel von Schweinsblase aus den Tiefen der baumelnden Rockschöße und paffte Portoriko oder den beißenden Varinaskanaster seelenvergnügt in die Luft.

Als Unterhaltungsstoff dienten natürlich die sich immer mehr zuspitzenden politischen Tagesereignisse.

Gegen Abend machte sich alles wieder auf den Heimweg. Der Mann nahm die Kinderwagendeichsel in die Hand und zog unverdrossen daran; die herangewachsene Nachkommenschaft jagte als Eskorte nebenher, und den Schluß des Zuges bildete die Mutter mit dem ärgsten Schreier auf dem Arm. Um sieben Uhr wurde zu Hause das bescheidene Abendbrot gegessen. Danach ging man[105] bald schlafen, um am andern Morgen für das Tagewerk der beginnenden Woche wieder gekräftigt zu sein.

Einige verzehrten das Abendbrot draußen. Die mußten es schon faustdick haben, obwohl nur sechsunddreißig Pfennige genügten, daß der Dresdner Bürger sich delektieren konnte: achtzehn Pfennig für eine Portion Sauerbraten und ebensoviel für eine große Lase Bier.

Die großen Kaffeegärten außerhalb der Stadt waren an schönen Sonntagen bis auf den letzten Platz gefüllt. Da wurde aber politisiert! Glücklicherweise hat bei den streitbaren Sachsen der Kaffee niemals als ein aufregendes Element gewirkt. Das ist eine der wenigen Tatsachen, über die bis heutigen Tages unter allen Völkern, gleichviel welcher Hautfarbe und von welchem Glaubensbekenntnis, wohltuende Übereinstimmung herrscht. Dafür sind aber auch dortzulande die Kaffeekannen viel größer als anderswo.

Wer gemächlich spazieren gehen wollte, ging bis zu Brechlings an der Vogelwiese, oder in das Ostragehege, oder bis zur »Goldenen Sonne« auf den Scheunenhöfen. Besonders Rüstige dehnten den Spaziergang bis zum »Schusterhaus« aus. Auch das »Waldschlößchen« war ein beliebtes Ziel für weitere Ausflüge, ebenso »Kammerdieners« und die »Grüne Tanne« am Eingang der Dresdener Heide. Selbst bis auf das »Lämmchen« liefen welche. Ja, es gab etliche, die marschierten bis Blasewitz, ließen sich dort nach Loschwitz über die Elbe setzen und klimmten den Plattleitenweg empor bis zum »Weißen Hirsch«, um alsdann über die Mordgrundbrücke und an der Saloppe vorbei nach Hause zurückzukehren.

Aber das waren Gewaltleistungen, die in dieser gemächlichen[106] Zeit wenig Nachahmer fanden. Wer sie glaubhaft nachweisen konnte, forderte die stille Bewunderung seiner Zuhörer stärker heraus, als heutzutage ein Afrikareisender mit seinen Berichten.

Der große Kaffeegarten des »Lämmchens« an der Blasewitzer Landstraße war an dem sonnigen Aprilsonntag von Besuchern überfüllt. Auch Feldwebel Mißbach war mit Linchen und Heinrich hier eingekehrt. Sie hatten sich am Hospitalgarten über die Elbe rudern lassen und waren dann quer über die großen Wiesen gegangen.

Die Unterhaltung im Garten galt der gestern erfolgten Landtagsauflösung. Das sei ein Trompetenstoß, der über das ganze Land hinweg vernommen würde.

Von diesem Thema kam keiner los. Und wenn ein Beherzter, um das Gespräch zu wechseln, von den neuen Rüböllampen anfing, oder wenn einer behauptete, die Pieschner Bauern täten jetzt zu wenig Kümmel in ihren echten Altenburger Ziegenkäse, so landete er mit seinem Redekähnchen nach fruchtlosem Plätschern beim dritten Satze doch wieder im Hafen der Politik.

Selbst Feldwebel Mißbach redete von Politik. Und das wollte etwas heißen!

»Kinder, wie gut ist es bloß,« sagte er, »daß ihr nicht mehr zu Marschalls geht! Der Advokat gilt heute als einer der gefährlichsten Demokratenführer.«

Linchen antwortete nicht, und auch Heinrich blieb stumm. Er wurde bis über die Ohren rot und guckte aufmerksam in sein Bierglas.

»Sie sollen es nur nicht zu bunt treiben,« fuhr Mißbach übelgelaunt fort, »sonst mischt sich die Polizei noch ganz[107] ordentlich hinein und setzt die Ärgsten hinter Schloß und Riegel.«

Heinrich räusperte sich.

»Es gibt schon beinahe niemand mehr,« sagte er vorsichtig, »der nicht der Bewegung angehörte. Ob die Leute nicht doch vielleicht ein bißchen recht haben?«

»Ob sie recht haben oder nicht,« erklärte Mißbach barsch, »ist ganz egal. Darauf kommt's hier nicht an. Sie wollen anders als das Ministerium. Und das darf in einem geordneten Staat nicht sein. Die Welt ist immer regiert worden und hat bis heute bestanden. Sie wird auch in Zukunft bestehen.«

»Was früher galt, braucht aber heute nicht mehr gut zu sein,« warf Heinrich ein.

»Das ist es ja,« ereiferte sich Mißbach, »was die Unzufriedenen immer sagen. Aber bisher ist es gegangen, warum sollte es so nicht weitergehen? Sie behaupten, alles müsse mit der Zeit fortschreiten, auch die Staatseinrichtungen. Die Freiheit des Bürgers sei eingeschränkt. Nun frage ich einen Menschen, wer sie einschränkt. Der Staat? Ja, womit denn! Der hätte viel zu tun, wenn er sich um den Einzelnen kümmern wollte. Wer bloß ordentlich für Frau und Kind sorgt, seine Steuern pünktlich bezahlt und Achtung vor dem Gesetz hat, der bleibt ungeschoren und hat seine Freiheit.«

Mißbachs lebhafte Augen blieben hier auf Heinrich ruhen.

Das Gesicht des Jungen gefiel ihm nicht! Es sah aus, als wenn er den Worten des Vaters nicht glaube.

»Aber Zucht muß sein,« fuhr er ärgerlich fort. »Sonst gibt's Mord und Todschlag.«

[108]

»Es ist viel Armut im Lande,« versetzte Heinrich bescheiden. »Durch freiheitlichere Gesetze soll den Notleidenden geholfen werden. Der Wohlstand würde sich damit heben, sagen die Leute.«

Feldwebel Mißbach lachte gezwungen.

»Du redest wie ein Buch, Junge. Laß diese Gedanken fahren, rate ich dir! Der Wohlstand soll sich heben? Ist nicht alles schon viel besser geworden? Du lieber Gott! Wenn ich daran denke, wie es vor dreißig Jahren war. Damals konnte man wirklich von schlechten Zeiten sprechen. Da nährte sich eine Familie von dicken Erbsen, Kartoffeln mit Salz und Kaffee. Und doch wurden die Kinder groß und stark dabei! Und wie ist es heute dagegen? Jeden Tag kann der arme Mann natürlich nicht Fleisch essen. Aber er wird satt, und das ist die Hauptsache. Und zu einem Stückchen Streuselkuchen Sonntagnachmittags reicht es bei vielen.«

Da richtete sich Linchen plötzlich auf und sah über die Nebensitzenden hinweg. Durch den Mittelgang des Gartens schritt Valentine, ihr hinterdrein Madam Marschall. Feldwebel Mißbach, der ebenfalls auf die Kommenden aufmerksam geworden war, zog die Augenbrauen zusammen.

»Kinder,« sagte er, »unser Weg ist noch weit. Den Groschen für die Überfahrt können wir uns sparen. Wir gehen über die Augustusbrücke nach Hause. Trinkt aus.«

Schweigend gehorchten Linchen und Heinrich, und bald darauf verließen sie mit dem Vater den Garten. Kaum waren sie auf die Straße getreten, als ihnen unvermutet Advokat Marschall entgegenkam.

»Ah, guten Tag, Herr Feldwebel!« rief der immer[109] wohlgelaunte alte Mann. »Guten Tag, Linchen! Guten Tag, Heinrich!«

Auf Mißbachs Gesicht spiegelte sich peinliche Verlegenheit. Hier auf der offenen Straße mit dem Demokratenführer zusammenstehen! Wenn das jemand sah! Gleichwohl nahm Mißbach aus dem in Fleisch und Blut übergegangenen Gefühl der Unterordnung unter den Höherstehenden militärische Haltung an.

»Na, wie geht's, Herr Feldwebel?« fragte Marschall freundlich.

»Danke, Herr Advokat, gut.«

»Was macht die Gesundheit?«

»Daran fehlt's mir nie.«

»Immer viel Dienst?«

»Dienst ist nie zuviel.«

»Haben Sie in der Zeitung gelesen, daß es jetzt ernst wird?«

»Ich lese keine Zeitung, Herr Advokat.«

Marschall hatte Mißbachs frostige Haltung längst bemerkt.

»Haben Sie gar kein Interesse für die Vorgänge, die jetzt das ganze Land rege gemacht haben?« fragte er.

»Man hört so mancherlei,« antwortete Mißbach, »aber man horcht nicht darauf. Sie wissen ja, Herr Advokat, ich bin Soldat …«

»Bilden Sie sich kein Urteil über die Vorgänge?«

»Mein Urteil kommt von oben herab.«

»Ob das nicht ein Fehler ist, wenn man heute keine eigenen Gedanken hat?«

Feldwebel Mißbach stockte eine Sekunde lang. Dann platzte er heraus:

[110]

»Wenn das ein Fehler von mir ist, so ist mein ganzes Leben ein Irrtum gewesen. Kommt der Tag, an dem ich das einsehe, dann geh' ich hin und schieße mir eine Kugel vor den Kopf.«

Marschall sah mit einem Gefühl von Bedauern und Bewunderung auf Mißbach.

»Na, nichts für ungut. Adieu, Herr Feldwebel,« sagte er, ihm die Hand reichend.

»Adieu, Herr Advokat,« versetzte Mißbach und richtete sich höher auf.


[111]

Die Ruinen des Opernhauses und des Zwingers.

Siebentes Kapitel

Als Kurt am nächsten Morgen den Anzug der in Reih und Glied stehenden Mannschaften nachgesehen hatte und die Visitationen danach zum Einzelexerzieren auf dem Kasernenhof auseinandergerückt waren, kam der Regimentsadjutant und überbrachte ihm den Befehl, mittags auf Altstädter Hauptwache zu ziehen.

Kurt trat vom Exerzieren der Kompagnie weg und begab sich auf den Teil des Exerzierplatzes, wo die zum Aufziehen befehligten Wachen Garnisonwachtdienst übten. Hier meldete er sich beim Offizier du jour.

»Instruieren Sie Ihre Wachtmannschaft vor dem Wegtreten noch einmal recht sorgfältig über ihr Verhalten bei Verhaftungen und Waffengebrauch,« befahl dieser. »Auf Befehl der Kommandantur ziehen die Wachen heute mit scharfen Patronen auf, die in der Wachtstube aufbewahrt werden. Den Posten auf dem Zwingerwall besetzen Sie mit ganz zuverlässigen, alten Leuten. Welcher Unteroffizier zieht mit Ihnen auf?«

[112]

»Korporal Mißbach.«

»Der ist gut! Schärfen Sie ihm aber die größte Aufmerksamkeit ein, besonders für die Abendstunden, wo Sie im Theater sind.«

»Zu Befehl, Herr Major!«

Das Stellen der Wachen auf dem Kasernenhof um die Mittagsstunde vollzog sich vor einer großen Zuschauermenge. Viele Offiziere hatten sich dazu versammelt, und wohl alle dienstfreien Mannschaften sahen aus den Korridorfenstern zu. Nachdem auf das Kommando: »Offiziere und Unteroffiziere vorwärts – marsch!« die Wachthabenden vor die Front marschiert waren und der Offizier der Ronde »Parole Pillnitz« verkündet hatte, trat der Regimentskommandeur heran. Mit lauter Stimme gab er bekannt, daß heute vormittag die Auflösung des Landtags vor den beiden versammelten Kammern stattgefunden habe. Es seien Unruhen zu befürchten. Wenn die Lage einer Wache schwierig werden sollte, müßten die Wachthabenden und Posten kaltes Blut bewahren. Immer genau nach der Instruktion handeln! Sich nicht im Eifer hinreißen lassen! Angetrunkene nicht reizen! Aber energisch auftreten und, wenn nötig, von der Waffe Gebrauch machen! Alle verdächtigen Wahrnehmungen seien sofort der Kommandantur zu melden.

Hierauf rückten die Wachthabenden wieder ein. Das Präsentieren erfolgte, der Parademarsch, und Schlag ein Viertel auf eins marschierte die Wachtparade zum Hauptportal der Kaserne hinaus, mit klingendem Spiel die Allee hinab.

Die Hauptstraße war heute belebter als an anderen[113] Tagen. Unter die üblichen Spaziergänger, die mittags regelmäßig das Aufziehen der Wachtparade begleiteten, war eine große Anzahl unbekannter Gesichter gemischt, mit Demokratenbärten, weißen Filzhüten mit aufgeschlagener Krempe und blutroter Feder. An einigen Häusern waren Zettel angeklebt, die scharfe Proteste gegen die Auflösung des Landtags enthielten, mit der Überschrift: Kampf um Recht und Freiheit!

An der Ecke der Heinrichstraße war eine große Menge versammelt. Hier hielt vor der Neustädter Schule der voraufgerittene Regimentskommandeur, Oberst von Friederici, zu Pferde und ließ die Wachtparade noch einmal an sich vorbeimarschieren.

Oberleutnant von Schönberg-Pötting kommandierte als Wachthabender der Schloßwache zuerst die Ehrenerweisung. Dann folgte Kurt Allmer mit der Altstädter Hauptwache. Hinter ihm schallten die Kommandos der übrigen Wachthabenden. Die Gewehre krachten an die Schultern, und der harte Boden der Allee dröhnte unter den Tritten der Vorbeimarschierenden. Bei diesem Anblick der in vortrefflicher Mannszucht stehenden Truppen mochte es wohl manchem Zuschauenden unter dem Schlapphut heiß werden, und manche blutrote Feder wippte auf und nieder, die Erregung ihres Trägers verratend.

Ob Soldaten wie diese zu gewinnen waren? Nun, schon die nächsten Tage sollten die Antwort auf diese Frage geben.

Während der Nachmittagstunden war der Waffenplatz der Altstädter Hauptwache von Neugierigen umstellt, Leute, denen man auf den ersten Blick den friedlichen Bürger ansah, der gekommen war, um etwas nicht Alltägliches[114] zu erleben, Demokraten, die sich auf ihren martialischen Gesichtsausdruck viel zugute taten, angetrunkene Kommunalgardisten und Turner.

Einer der Schlapphüte versuchte, mit dem Posten vor dem Gewehr ein Gespräch anzuknüpfen, wobei er durchblicken ließ, daß die Armee mit dem Bürgertum gehen müsse. Der Soldat wandte sich aber gleichmütig ab und ging mit langsamen Schritten an den starken Ketten entlang, die im Bogen von einem steinernen Kegel zum andern hingen und die Grenze des Waffenplatzes bildeten.

Ein kurzer, heftiger Guß, der am späten Nachmittag fiel, trieb die Gaffer auseinander.

Gegen Abend übergab Kurt dem Korporal Mißbach die Wache, um seinen Dienstplatz im Theater einzunehmen. Jedes außergewöhnliche Vorkommnis sollte ihm ohne Verzug gemeldet werden.

Dann schritt Kurt über den leeren Theaterplatz hinweg. Am Hotel Bellevue fiel sein Blick auf eine Anschlagsäule, die die Ankündigung der heutigen Vorstellung trug:

Nehmt ein Exempel daran!

Lustspiel in Alexandrinern
in 1 Akt
von
Karl Töpfer.

Wenige Tage darauf wußte die Dresdner Bevölkerung, daß diese Ankündigung prophetisch auf die kommenden Ereignisse hingewiesen hatte. Nur die Bezeichnung Lustspiel traf die Wirklichkeit nicht. Denn es war ein Drama von erschütternder Wirkung, das die Berliner »Alexandriner« in der sächsischen Hauptstadt aufführen halfen.

[115]

Als Kurt nach der Vorstellung zur Wache zurückkehrte, wurde diese gerade von dem Offizier der Ronde revidiert. Korporal Mißbach wußte nichts Außergewöhnliches zu melden. Auch die Nacht verlief ruhig. Den von der Ablösung zurückkehrenden Posten war nichts von Bedeutung aufgefallen. Ein paar Leute hatten versucht, die Schildwachen zur Aufgabe ihres Postens zu überreden und sich der allgemeinen Bewegung anzuschließen. Sie waren aber ohne Schwierigkeit abgewiesen worden.

Kurt schlief während der Nacht schlecht. Schwere Zweifel quälten ihn. Immer wieder fragte er sich, ob die Forderungen des Volkes gerecht seien. Da vernahm er, wie eine unbekannte Stimme antwortete: Würden sonst Männer wie Marschall, Richter, Semper, Lindeman und viele andere hochachtbare Namen im ganzen Lande die Forderungen vertreten? Haben sich nicht selbst die gestern abgedankten Minister mit den Wünschen des Volks einverstanden erklärt?

Kann die Regierung die Forderungen mit gutem Gewissen bewilligen? fragte Kurt wieder.

Sie kann es, lautete die Antwort.

Alle Forderungen?

Da schwieg die Stimme. Kurt waren Ursulas Worte eingefallen: sie wissen nicht mehr zu unterscheiden zwischen den nationalen Wünschen, denen auch die der Bewegung Fernstehenden zustimmen können, und den staatsfeindlichen Forderungen.

Der so gesprochen, war auch ein Ehrenmann ohne Tadel – der alte Herr von Abendroth! Wo lag hier die Grenze, die das heilige Recht vom Frevel schied!

Ihr droht, euern Wünschen mit Gewalt Geltung zu[116] verschaffen, warf der einsame Mann in der Offizierswachtstube dem unsichtbaren Sprecher vor.

Es ist die letzte Möglichkeit – klang es zurück. Alle Mittel, die das Gesetz vorschreibt, sind umsonst gewesen. Der Menschlichkeit müssen ihre Rechte werden!

Die Regierenden sind Menschen mit schwacher Kraft wie ihr. Große Aufgaben brauchen Zeit, sie durchzuführen.

Wir haben Jahr um Jahr geduldig gewartet. Das Volk verlangt jetzt gebieterisch seine Freiheit.

Kurt preßte die Lippen zusammen. Das Wort Freiheit aus diesem Munde hatte einen fatalen Klang.

Der König von Preußen hat abgelehnt, sagte der Träumende.

Nicht freiwillig, antwortete es. Die regierenden Männer beeinflussen ihre Fürsten, sich gegen den Krönungsbeschluß des Reichsparlaments aufzulehnen.

Wißt ihr denn, ob nicht unser König der Krönung geneigt ist? Billigte er sie, so wäre eure Hauptforderung erfüllt.

Er sträubt sich, klang es zurück. Er denkt nicht daran, zuzustimmen.

Wenn er aber erklärte, daß er für die Krönung sei?

Wir glauben ihm nicht.

Nicht einem Königswort? fuhr Kurt den Sprecher zornig an.

Hier schwieg die Stimme. Der Leichtschlummernde hörte draußen auf dem Waffenplatz die langsamen Schritte des Postens vor dem Gewehr in die Nacht hineinschallen. Sonst war alles still. Wenn der König sprechen würde! Dann müßten sich die Unzufriedenen im Lande[117] bescheiden. Und gäben sie ihre feindselige Haltung dennoch nicht auf, so läge es für jeden Gutgesinnten klar zutage, daß die Entrüstung über die ablehnende Haltung des Königs nur als Deckmantel diente, unter dem man das Volk zu Gewalttaten gegen die staatliche Ordnung aufreizte.

Dann hätte der alte Kriegsrat recht. Und wer es mit dem Wohl des Volkes ernst meinte, müßte der Bewegung den Rücken wenden. –

Während der Vormittagstunden war der Verkehr vor der Hauptwache wieder sehr lebhaft. Wie tags vorher umstand eine gedrängte Menge die Einfriedigung des Waffenplatzes, meist übles Gesindel, das den Soldaten freche Worte zurief. Die Erregung steigerte sich, als allgemein bekannt wurde, drei Minister, unter ihnen Herr von Ehrenstein, hätten abgedankt. Sie wollten mit ihrem Rücktritt beweisen, hieß es, daß sie die reaktionären Ansichten der im Amt verbleibenden Minister von Beust und Rabenhorst nicht teilten.

Kurz vor der Wachtablösung wurde Heinrich aus der Wachtstube gerufen, da ihn jemand sprechen wolle. Und wie er den Flur des Wachtgebäudes betrat, sah er die Köchin von Marschalls.

»Heinrich, die Madam ist plötzlich krank geworden,« sagte Anna zu ihm.

Heinrich erschrak.

»Was fehlt ihr denn?« fragte er bestürzt.

»Professor Richter war schon zweimal bei ihr,« antwortete das Mädchen. »Madam hat hohes Fieber. Der Herr Advokat ist außer sich. Komm nur heute abend einmal hin.«

[118]

Heinrich warf einen raschen Blick durch die offengebliebene Tür in die Wachtstube, wo die Mannschaften schon die Tornister auf den Rücken warfen.

»Ja, ja, freilich komm' ich, Anna,« versicherte er. »Es wird doch nichts Schlimmes sein?«

Das Mädchen zuckte mit den Achseln.

»Hoffentlich nicht. Ach, du lieber Gott, die gute Madam!« klagte sie, in die Hände schlagend.

Heinrich fühlte seine Brust beengt. Er horchte auf: in der Wachtstube traten die Leute an.

»Ich komme gegen Abend bestimmt,« rief er, sich rasch entfernend.

Da vernahm er noch einmal Annas Stimme:

»Ach, Heinrich, ich habe ja etwas vergessen. Valentinchen hat mir aufgetragen, du möchtest Herrn Leutnant Allmer bitten, daß er sie heute abend besucht. Du sollst es aber ja nicht vergessen!«

Heinrich stand schon in der Tür. Er wandte sich noch einmal um, nickte dem Mädchen zu und eilte dann in die Wachtstube.

»Valentinchen hat gestern abend einen Brief gekriegt, danach hat sie lange heimlich geweint …« rief Anna ihm noch nach. Aber die Worte verhallten in dem Lärm, der in der Wachtstube herrschte.

Heinrich schnallte rasch den Tornister auf den Rücken und griff nach dem Tschako. Da rief der Posten auch schon »Rrrraus!« und die Wachtmannschaft drängte eilig in die Vorhalle nach den Gewehrstützen.

Nachdem Kurt die Wache in die Kaserne zurückgeführt hatte, legte er sich zu Bett und schlief ein paar Stunden.[119] Als ihn sein Bursche weckte, war es hohe Zeit, daß er sich in das Kasino begab.

Beim Essen wurde eine lebhafte Unterhaltung geführt. Kurt erfuhr, daß sich die Lage erheblich verschärft hatte und daß der Ausbruch der Empörung stündlich erwartet wurde. Aus allen Teilen des Landes waren schlimme Botschaften eingetroffen. In Leipzig, Chemnitz und Bautzen hätten die Unruhen einen so bedrohlichen Charakter angenommen, daß man von offenem Aufruhr reden könne. Im Vogtlande gähre es gewaltig. Die Führer der Demokraten zögen von einem Ort zum andern, wiegelten die Landbevölkerung auf und machten Anstrengungen, die noch Lauen unter der Bürgerschaft in die Bewegung hineinzuziehen. Der Zustand sei sehr ernst, die Stimmung der Regierung wenig zuversichtlich. Wie solle man einen bewaffneten Aufstand niederwerfen? Jetzt, wo mehr als die Hälfte der Truppen in Schleswig sei!

Nachdem die Tafel aufgehoben war, zog Oberleutnant Wetzig, sein Kompagnieführer, Kurt in eine Fensternische.

»Nun, wie war die Wache?« fragte er.

Kurt erzählte seine geringen Erlebnisse.

»Es wird Ernst, Allmer,« sagte der Oberleutnant.

Noch bestürzt von dem eben Gehörten erwiderte Kurt:

»Die Abdankung der drei Minister betrachten die Demokraten sicher als ihren ersten Sieg. Wird dieser Rücktritt nicht überall den Anschein erwecken, als ob ihre Sache gerecht sei?«

Oberleutnant Wetzig war ein ernster und kluger Offizier, der seinen jüngeren Kameraden kannte und schätzte.

[120]

»Mag jeder über die Billigkeit der demokratischen Forderungen so wohlwollend denken, wie er will,« antwortete er, »eine bewaffnete Erhebung muß aber aufs schärfste verurteilt werden. Bisher führten sie als Hauptgrund ins Feld, die Regierung sei gegen die Krönung des Königs von Preußen. Ich bin neugierig, was sie nun vorbringen werden, nachdem ihnen diese Waffe aus der Hand geschlagen ist.«

Kurt richtete sich unwillkürlich höher auf.

»Ich verstehe Sie nicht ganz,« entgegnete er.

Der Oberleutnant bemerkte sein Erstaunen.

»Haben Sie noch nicht gehört, daß der König gesprochen hat?«

»Nein,« entgegnete Kurt erregt, »mir ist nichts davon bekannt.«

»Nun, also: heute mittag ist eine Deputation des Deutschen Vereins im Schloß gewesen, um König Friedrich August zur Anerkennung der Reichsverfassung zu bewegen. Der König hat diese Männer huldvoll empfangen und ihnen geantwortet: Meine Herren, ich bin bereit, die Reichsverfassung anzuerkennen, sobald König Friedrich Wilhelm von Preußen sie anerkannt hat.«

Kurt trat einen Schritt zurück und starrte dem Sprecher ins Gesicht.

»Das Wort ist also gefallen,« fuhr Oberleutnant Wetzig fort, »das Tausenden die Augen über die wahre Lage öffnen müßte, – wenn sie hören wollten. Die letzten Nachrichten aus der Altstadt lassen aber erkennen, daß die Empörer sich der Einsicht verschließen. Ja, die Erklärung kommt den Führern der Bewegung sehr ungelegen.[121] Sie bieten alles auf, um zu verhindern, daß die Zustimmung des Königs zur Kaiserkrönung im Lande bekannt wird, damit ihnen nicht das schärfste Mittel verloren geht, mit dem sie weite Kreise aufreizen. Jetzt verbreiten sie unter der Bevölkerung die Nachricht, der König verweigere rundweg die Anerkennung. Und diese Fälschung wird von der Hauptstadt aus ins Land fliegen und das Feuer der Empörung schüren. Damit geben die Führer aber den Beweis, daß sie die friedliche Schlichtung des Streits nicht wollen, sondern den Aufstand. Das bedeutet – Revolution!«

Eine kurze Weile stand Kurt sprachlos. Dann erwiderte er scheinbar ruhig, aber mit tiefer Bewegung:

»Vor wenigen Tagen sagte mir Schönberg, die Kameraden verstünden nicht, wie ich noch immer für die Forderungen der demokratischen Partei Sympathien hegte. Auch Sie, Wetzig, werden diese Stimmen gehört haben …«

Oberleutnant Wetzig nickte.

»Ich gestehe freimütig,« fuhr Kurt fort, wobei seine mühevolle Sprechweise verriet, wie es in ihm arbeitete, »daß ich wünschte, die Forderungen möchten bewilligt werden, denn ich hielt sie für gerecht. Ähnlich haben sich, mehr oder weniger entschieden, viele von uns ausgesprochen.«

Der Oberleutnant nickte wieder.

»Nachdem ich jetzt aber gehört, daß man fortfährt, das Volk aufzureizen, obwohl die Forderung erfüllt ist, von deren Bewilligung, wie die Demokraten bisher behaupteten, allein der Frieden des Landes abhinge, – jetzt darf ich keine Minute länger einer Partei innerlich zustimmen, deren Führer so verwerfliche Mittel benutzen.[122] Meine warme Anteilnahme für die Sache ist erloschen. Ich bin aus einem Anhänger zu ihrem Gegner geworden!«

Kurts Erregung hatte sich, während er sprach, immer mehr gedämpft. Nun schöpfte er ein paarmal tief Atem und sagte:

»Ich habe besonders dem Advokaten Marschall meine Sympathien nicht verhehlt. Deshalb werde ich ihn sogleich aufsuchen, um ihm zu erklären …«

»Langsam, lieber Allmer,« mäßigte Wetzig. »Ich verstehe recht gut, was Sie empfinden. Aber Sie werden sich gedulden müssen. Die Truppen sind durch Kommandanturbefehl konsigniert.«

»Herr Oberleutnant, ich bitte um eine Stunde Urlaub,« entgegnete Kurt in dienstlichem Ton, indem er sich verneigte.

Wetzig konnte nur schwer ein Lächeln unterdrücken.

»Ich als Ihr Kompagnieführer soll Sie beurlauben? Selbst der Oberst könnte es nicht, wenn Sie ihn darum bäten.«

Und als er Kurts peinliche Enttäuschung bemerkte, setzte er leiser hinzu:

»Helfen Sie sich allein, lieber Allmer. In Uniform gehen Sie aber nicht! Ziehen Sie rasch Ihr Zivil an und machen Sie's kurz. Und seien Sie auf den Straßen vorsichtig. Wie es heißt, sind in Altstadt alle Teufel losgelassen.«

Kurt erwiderte den freundschaftlichen Rat mit einem dankbaren Blick und drückte Wetzigs dargebotene Hand. Dann entfernte er sich unauffällig aus dem Kasino.[123] Eine Viertelstunde später verließ er in Zivilkleidung die Kaserne.

Der Abend war hereingebrochen. Auf der Allee drängten sich die Menschen. In Altstadt herrschte ein Getümmel, wie es Kurt noch nicht erlebt hatte. Auf dem Schloßplatz, im Georgentor und in der Schloßgasse scholl unausgesetzt wüster Lärm. Große Scharen halbwüchsiger Burschen zogen Arm in Arm an ihm vorbei, pfeifend und brüllend. Unanständige Lieder wurden gesungen und drohende Rufe gegen den König und die Regierung ausgestoßen. An der Ecke des Taschenbergs stand gegenüber dem Schloß ein großer Haufe, der unzählige Hochs auf die abgedankten Minister ausbrachte.

Unmittelbar vor der kleinen Brüdergasse wurde Kurt durch eine neue Zusammenrottung wiederum am schnellen Vorwärtskommen gehindert. Hier riß der Pöbel unter betäubendem Lärm das Straßenpflaster auf und errichtete neben dem Hotel Stadt Gotha – quer über die Schloßgasse – mit Hilfe der granitnen Trottoirplatten eine hohe Barrikade. Auf ihrer Brüstung stand ein einzelner Mann, der die Arbeitenden unterwies, wie sie den Bau aufzurichten hätten, um ihn besonders stark zu machen.

Kurt kannte den Mann auf der Barrikade; es war der Hofbaumeister Semper.

Endlich hatte Kurt das Marschallsche Haus erreicht. Schnell stieg er die dunkeln Treppen hinauf und trat durch die nur angelehnte Tür ein. Die Wohnung schien verlassen. Auch im Vorsaal war es finster. Nur durch die Ritzen einer Tür drang ein Lichtschimmer.

Kurt schritt auf diese Tür zu. Da hörte er, wie in[124] dem Zimmer auf dem Klavier ein paar leise Akkorde angeschlagen wurden und wie darauf der gedämpfte Gesang einer Frauenstimme ertönte:

Und ob die Wolke sie verhülle,
Die Sonne bleibt am Himmelszelt …

Kurt öffnete leise. An dem alten Tafelklavier saß Valentine. Sie war bleich, und auf ihren herben Zügen lag ein ungewohnter Schimmer von Mädchenhaftigkeit, der den auf der Schwelle Stehenden betroffen machte. Eine kurze Weile betrachtete er sie. Da bemerkte ihn Valentine und schreckte zusammen. Ihre schöne Altstimme brach ab, und nun kam das Mädchen auf ihn zu.

»Ich hatte Sie nicht gleich erkannt, Herr Leutnant,« versetzte sie, »weil ich Sie nur immer in Uniform gesehen habe.«

Kurt bemerkte, daß Valentine weich gestimmt und nicht so sicher war wie sonst.

»Es täte mir sehr leid,« fuhr sie fort, ihn mit einer Handbewegung zum Sitzen einladend, »wenn Sie durch diesen Besuch in eine unangenehme Lage gerieten. Auf den Gassen ist es nicht geheuer.« Dabei sah sie verständnisvoll auf Kurts hellgrauen Zivilanzug. »Aber ich habe Sie doch um diese Unterredung bitten müssen.«

Kurt machte eine Bewegung, als ob er den Sinn ihrer Worte nicht verstanden hätte.

»Heinrich Mißbach wird Ihnen überbracht haben …«

Kurt verneinte. Mißbach hätte ihm nichts mitgeteilt.

»Dann hat er's vergessen. Gewiß vor Bestürzung, weil Anna ihm gleichzeitig von der Erkrankung meiner Mutter erzählt hat. Das wird den guten Jungen erschreckt haben.«

[125]

»Ihre Frau Mutter ist erkrankt?« fragte Kurt teilnahmvoll.

Valentine hörte die Wärme aus seiner Stimme heraus.

»Leider – ganz plötzlich. Professor Richter weiß noch nicht, was ihr fehlt. Sie hat hohes Fieber. Vielleicht wird es Lungenentzündung. Jetzt ist Anna einstweilen bei ihr.«

»Die Vorsaaltür stand offen,« sagte Kurt, um sein unerwartete Erscheinen zu erklären.

Valentine hörte diese Worte nicht. Sie sann eine Weile nach. Endlich begann sie stockend:

»Ich mußte Sie noch heute sprechen, Herr Leutnant, weil ich Sie bitten wollte, Ihre Besuche bei uns aufzugeben. Die Entwicklung der politischen Vorgänge hat sich von gestern zu heute in einer so schroffen Weise vollzogen, daß Sie es mit Ihrer Stellung nicht würden vereinbaren können, wenn Sie uns die Freundschaft weiter schenken wollten, die uns bisher verband. Ich weiß nicht, ob Ihnen schon bekannt ist, welch entscheidende Wendung der heutige Tag gebracht hat?«

Kurt bestätigte, daß er es wisse.

»Dann wäre es freilich nicht nötig gewesen, Sie noch einmal zu bemühen … Aber« – das Mädchen atmete tief auf – »ich wünschte auch, mich … persönlich von Ihnen …«

Kurt sah stumm vor sich nieder. Eine tiefe Pause entstand. Endlich sagte er:

»Ich bin heute aus freien Stücken hierhergekommen, Fräulein Valentine. Ich wollte Ihrem Herrn Vater erklären, daß meine Pflicht als Offizier und – ich möchte das besonders betonen – meine persönlichen politischen[126] Anschauungen mich zwingen, das Haus zu meiden, in dem ich so manche frohe Stunde verlebt habe.«

»Ich ahnte es, als Sie eintraten,« sagte Valentine leise.

Beide schwiegen.

Kurt erkannte noch einmal Valentinens Edelmut. Sie war ein hochherziges Mädchen! Daß sie jetzt seine politische Gegnerin war und eine tiefe Kluft ihn für alle Zukunft von ihr trennen würde, konnte seine Hochachtung vor ihr nicht verringern.

»Mein Vater ist leider nicht zu Hause,« unterbrach Valentine das Schweigen. »Der Sicherheitsausschuß tagt auf dem Rathause …«

»Bitte teilen Sie Ihrem Herrn Vater mit, daß ich hier war,« antwortete Kurt.

Valentine neigte zustimmend den Kopf. Dann erhoben sich beide fast gleichzeitig und standen eine kurze Weile stumm einander gegenüber.

»Ihrer Frau Mutter meine besten Wünsche,« sagte Kurt in gedämpftem Ton.

»Ich danke Ihnen, Herr Leutnant,« erwiderte sie noch leiser.

»Und Ihnen, Valentine …« Er stockte. »Sie brachten mir Ihre Freundschaft entgegen,« – hier sah er, wie das Mädchen in tiefer Bewegung erschauerte – »ich bot Ihnen die meinige …«

Kurt kämpfte schwer. Endlich fuhr er mit halblauter Stimme fort:

»Lassen Sie mich in dieser Abschiedsstunde frei bekennen, Valentine, daß es eine Zeit gab, zu der es mehr war als Freundschaft, was ich für Sie empfand. Es[127] kann Ihnen nicht verborgen geblieben sein. Aber ich bin nahe daran gewesen, bitteres Unrecht zu tun, – mein Herz war nicht mehr frei. Ich stand im Begriff, einem guten Menschen unaussprechlichen Kummer zu bereiten. Sie wiesen mein leises Werben sanft zurück. Sicherlich vermochten Sie meine Empfindungen nicht zu teilen, – ich weiß es nicht. Ihre Zurückhaltung war mein Heil, sie hat mich vor schwerer Schuld bewahrt. Dafür werde ich Ihnen immer dankbar sein!«

Valentine hatte dieses Bekenntnis mit abgewandtem Gesicht angehört. Sie unterdrückte ihre schweren Atemzüge, aber ihre Schultern zuckten leise. Plötzlich griff sie in die Tasche ihres Kleides und reichte ihm stumm einen verschlossenen Brief ohne Aufschrift. Kurt nahm den Brief und steckte ihn achtlos ein.

»Leben Sie wohl, Valentine,« sagte er.

Sie hielt ihm die Hand hin.

»Werden Sie glücklich, Kurt!«

Er ergriff ihre Hand und hielt sie eine Sekunde lang umschlungen.

Dann wandte er sich ab und verließ die Stube, ohne noch einmal den Blick zurückzuwenden. –

Als sich Kurt der Schloßgasse wieder näherte, empfing ihn brausender Lärm. An der Barrikade bei Stadt Gotha wurde noch immer fieberhaft gearbeitet, und eine tobende Menge wogte auf und ab. Einige der Männer waren mit Gewehren und Säbeln bewaffnet.

Kurt war noch zu tief bewegt, daß er die drohende Haltung des aufgeregten Volkshaufens und die Schmährufe auf den König beachtet hätte. So rasch es ihm gelang, eilte er die Schloßgasse hinunter. Die Brücke war[128] fast menschenleer. Den Neustädter Markt bedeckten die Jahrmarktsbuden, vor denen aber nur wenig Käufer standen. Auf der Hauptstraße wogte noch immer eine dichte Menge, darunter eine große Anzahl von verdächtigen Gestalten. Doch ging es hier weit ruhiger zu als in der Altstadt.

Plötzlich dachte er an Ursula. Und ein heißes Verlangen ergriff ihn, zu ihr zu eilen, seine Schuld zu bekennen und sie um Verzeihung zu bitten. Sein Herz war übervoll.

Kurt bog in den Obergraben ein und ging dann rasch durch die Kasernenstraße bis zum Pförtchen. In wenigen Minuten hatte er die Hospitalstraße hinter sich und stand nun vor dem kleinen Haus des Kriegsrats. Im Wohnzimmer brannte hinter den niedergelassenen Rouleaux mattes Licht.

Als Kurt durch den Hausflur ging, hörte er seine Schritte hohl von den Wänden zurückschallen. Da tastete er nach der Tür, über deren Schwelle er einen Schimmer sah, und öffnete. Die Kerze auf dem Tisch trug eine große Lichtschnuppe, daß die Flamme niedrig brannte und das Zimmer nur dürftig erleuchtet war.

Herr von Abendroth saß in seinem Lehnstuhl, das dickumwickelte kranke Bein auf einen zweiten Stuhl vor sich hochgelegt. An seiner Seite hockte auf der Fußbank Ursula, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Als Kurt eintrat, ließ sie die Hände langsam sinken, als wenn sie aus einer Erstarrung erwache, und sah ihn verständnislos an.

Da sprang Ursula mit einem Mal auf, und Kurt glaubte, eine Fremde zu sehen. In starrer Haltung und[129] mit zurückgeworfenem Kopf stand sie vor ihm. Ihr Gesicht war aschfahl, und aus ihren weitgeöffneten Augen trafen ihn die erzürnten Blicke eines tief verletzten Weibes.

»Wie, Herr Allmer!« rief sie mit schneidender Stimme, »Sie wagen es wirklich …«

Kurt war wie gelähmt. War dieses Mädchen, das zitternd vor tiefster Empörung dort stand und ihm diese Worte zurief, war das Ursula? Da brach wie ein Himmelsturz die Empfindung der Schwere seiner Schuld auf ihn nieder, und er senkte den Blick vor Ursulas Augen.

Noch rang das aller Fassung beraubte Mädchen nach Worten, als Kurt tief erschüttert sprach:

»Ursula, ich habe gefehlt. Ich komme zu dir als ein Bittender, der seine Schuld büßen will. Höre mich an. Ich flehe darum! Weise mich nicht von dir, – um deiner großen Liebe willen!«

Da lachte das Mädchen schrill auf.

»Um meiner Liebe willen? Nein, Herr Allmer, das Possenspiel, das Sie mit mir trieben, ist aus! Mit grausamer Hand haben Sie aus meinem Herzen gerissen, was ich darin wie ein Heiligtum bewahrte. Ja, ich will es bekennen,« stieß sie hervor, wobei sich ihre Stimme bis zur äußersten Kraftanstrengung steigerte, »ich will es ohne zu erröten gestehen, daß ich Sie liebte mit der ganzen heißen Glut, die ein unschuldiges Mädchenherz für den geliebten Mann nur erfüllen kann. Empfand ich doch, daß diese Leidenschaft selbst stärker war, als die Liebe, mit der ich von meiner sterbenden Mutter Abschied nahm. Jetzt aber ist in meinem Herzen erstickt,[130] was ich für Sie sorgsam darin hegte! Sie selbst waren es, der dies vollbracht!«

Kurt krampfte die Hände ineinander.

»Ursula! – Ursula! –« rief er verzweifelt.

»Nein, Herr Allmer!« schrie das Mädchen, während Blitze aus ihren Augen brachen, »Ihr Flehen ist umsonst!« – Sie schlug wiederholt mit der Hand heftig auf ihre Brust. »Alles ist hier tot, – alles! Verlassen Sie mich! In diesem Hause ist kein längeres Bleiben für Sie!«

»Herr Kriegsrat,« stammelte der Erschütterte und wollte zu dem alten Herrn hineilen, aber seine Füße hingen wie gebannt an der Stelle, »Sie waren immer so gütig zu mir wie ein Vater …«

Herr von Abendroth lag regungslos im Stuhl und hielt die Augen mit der Hand bedeckt und vermochte nicht zu antworten.

»Was zögern Sie noch!« rief Ursula befehlend, – »gehen Sie!« und wies nach der Tür.

Noch eine kurze Weile verharrte Kurt wie betäubt in seiner zusammengesunkenen Haltung, als wenn er die Kraft, diesen Ort zu verlassen, erst sammeln müsse. Müde wandte er sich dann um, tat ein paar Schritte und – blieb stehen.

»Ich komme wieder,« murmelte er schwer atmend.

»Nein, versuchen Sie es nicht!« klang Ursulas Stimme jetzt ruhiger, aber unerbittlich. »Sie würden nur von neuem von der Schwelle dieses Hauses gewiesen werden.«

Ein paar Sekunden vergingen noch. Dann verließ Kurt Allmer wortlos und unsicheren Schritts das Abendrothsche Haus.

[131]

Ursula blieb in steifer Haltung in der Mitte des Zimmers stehen und horchte angestrengt auf die sich entfernenden Schritte. Als der letzte verhallt war, ging sie ruhig zum Tisch zurück, sank schwer auf einen Stuhl nieder und sah unbeweglich nach der Tür. So verharrte sie eine geraume Zeit. Dann legte sie die Arme auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht darin. Bis sich endlich der alte Herr mühsam von seinem Stuhl erhob, zu der Sitzenden hinkte und sich neben ihr niederließ. Mit unendlicher Schonung richtete er die still Weinende auf, schlug die Arme um sie und legte ihren Kopf an seine Brust.

Inzwischen war Kurt völlig erschöpft in die Kaserne zurückgekehrt. Kaum hatte er seine Stube betreten, als es an der Tür stark klopfte und gleich darauf Korporal Mißbach mit tief bekümmertem Gesicht ins Zimmer trat.

Heinrich war halb verzweifelt, weil er nichts über die kranke Frau Marschall erfahren konnte. Kein Soldat durfte ja die Kaserne verlassen.

»Herr Leutnant möchten,« stotterte er, »ich hatte ganz vergessen, – möchten heute abend noch zu Valen… zu Fräulein Marschall kommen.«

Kurt winkte ab. »Schon gut.«

Der geängstigte Bursche verstand, der Herr Leutnant war bereits drüben gewesen. Da fiel ihm dessen verstörtes Gesicht auf, das nichts Gutes weissagte. Schon sollte er nach der Kranken fragen. Da besann er sich, vor wem er stand, und ging tief bedrückt aus dem Zimmer.

Heinrichs Erscheinen hatte Kurt an den Brief erinnert, den Valentine ihm beim Abschied gegeben. Er zog ihn aus der Tasche, riß den Umschlag auf und las:

[132]

Fräulein Marschall!

Nachdem Sie bisher alle Ihre Künste aufgeboten haben, um Herrn Leutnant Allmer in Ihr Haus zu locken, begingen Sie gestern abend auch noch die unglaubliche Taktlosigkeit, sich von ihm auf offener Straße küssen zu lassen. Ich darf kaum hoffen, daß Sie noch empfinden können, was Menschen von Erziehung von einer Person, wie Sie sind, halten. Ich möchte Ihnen nur mitteilen, daß Herr Allmer der heimliche Verlobte einer jungen Dame von Stand ist. Vielleicht glimmt noch ein Funken weiblicher Scham in Ihrer Brust!

Amalie von Zehmen.

Und darunter war mit Bleistift gekritzelt:

Selbst wenn ich Ihr Verlöbnis gekannt, hätte ich das Gefühl in meinem Herzen nicht ersticken können, das mich während ein paar kurzer Monate unaussprechlich glücklich gemacht hat.

Valentine.


Auch in der engen Offizierstube war ein von Schmerz Überwältigter willenlos auf den Tisch gesunken. Aber es kam niemand, der ihm liebevoll Trost zugesprochen hätte.


Achtes Kapitel

Am nächsten Morgen hielten die Kompagnien wieder auf dem Kasernenhof Einzelexerzieren ab. Die große Felddienstübung mit den Gardereitern bei Rähnitz war abgesagt worden.

Die Offiziere standen beieinander und machten ernste[133] Mienen. Die Mannschaften waren in großer Spannung. Allerlei Gerüchte liefen herum, nach denen es in der Altstadt zwischen den Aufrührern und der Kommunalgarde schon zu blutigen Zusammenstößen gekommen war.

Die Vormittagstunden schlichen dahin; jeder merkte, daß das Exerzieren nur abgehalten wurde, um die Zeit hinzubringen. Niemand war richtig dabei. Und eine gedrückte Stimmung, die auf allen wie Blei lastete, verhinderte selbst das Aufkommen des alten Soldatenhumors, der schon über manche ernste Stunde hinweggeholfen hat.

Unter den Soldaten der damaligen Zeit herrschten die erheblichsten Altersunterschiede. Es gab welche, die kaum das siebzehnte Lebensjahr erreicht und wiederum Unteroffiziere, die die Fünfzig überschritten hatten. Unter ihnen waren Verheiratete, deren Frauen eine Wirtschaft betrieben oder einen kleinen Kramladen besaßen. Der Dienst endete zumeist zeitig am Abend, und die Mannschaften hatten viel freie Zeit, die sie im engen Verkehr mit dem Kleinbürgertum verbrachten.

In den letztverflossenen Jahren hatte es unter der sächsischen Bevölkerung gewaltig gegärt, und die Stimmung gegen die Armee war verbittert. Der Soldat erfreute sich lange nicht mehr der hohen Schätzung wie nach den Freiheitskriegen, sondern wurde über die Achsel angesehen.

Als sich aber der Unwille des Volks gegen die Regierung steigerte, änderte sich das Verhalten der bürgerlichen Kreise. Sie versuchten, unter den Mannschaften Mißstimmung zu erregen und besonders die Unteroffiziere für ihre Ideen zu gewinnen.

[134]

So hatte es sich, vornehmlich während der letzten Monate, vielfach zugetragen, daß nicht nur einfache Männer aus dem Volke, sondern auch Vertreter des gehobenen Bürgerstandes in den Wirtshäusern mit Soldaten zusammensaßen, ihnen Bier und Branntwein reichen ließen und Zigarren darboten. Man hätte sich früher geirrt, wurde den Arglosen versichert, wenn man sie gehaßt und vertierte Söldlinge genannt habe. Der einfache Soldat sei ein Freund des Volks, und man müsse ihn schätzen! Er allein verstünde die große Not, die jetzt im Lande herrsche! Er gehöre zum Volk und fühle mit ihm! Aber die Offiziere –!

So war es nicht schwer gewesen, den Beifall manches Leichtgläubigen zu gewinnen. Und die Zuversicht weiter Kreise, die Disziplin der Armee zu lockern, war erheblich gewachsen. Man hatte sich immer mehr mit dem Gedanken vertraut gemacht, die Truppen im Ernstfalle gegen die Regierung zu benutzen.

Aber der Gang der Ereignisse bereitete den Zuversichtlichen die schwersten Enttäuschungen. Der Soldat nahm die Darbietungen schmunzelnd an und ließ sich Bier und Zigarren gut schmecken. Er nickte zu den Anklagen beistimmend und schimpfte unter der Einwirkung des Branntweins zuweilen wohl auch auf die Zustände und auf gewisse Offiziere, die durch Strenge unbeliebt waren. Den guten Soldatengeist konnten diese Wühlereien aber nicht ertöten. Der Soldat erinnerte sich seiner Mannszucht in dem Augenblick, als er sah, daß die Sicherheit des Thrones und der Frieden des Landes ernstlich gefährdet waren.

Die Truppen taten ihre Schuldigkeit. Und ihre Erbitterung[135] wuchs, je mehr sich die Hartnäckigkeit steigerte, mit der ihnen die Aufrührer während des Straßenkampfes Widerstand leisteten. –

Kurt ging während des ganzen Tages mit verstörtem Gesicht umher. Seine Kameraden beobachteten, wie schwer er seelisch litt und schoben es auf die große Enttäuschung, die er mit seinen lange gewahrten Sympathien für die bürgerliche Bewegung erlebt hatte. Anfänglich versuchten sie, den Schweigsamen aufzuheitern. Aber sie gaben ihre Bemühungen auf, als sie erkannten, daß sie fruchtlos waren.

Wieder war es Abend geworden, als Kurt einsam in seinem Zimmer saß. Da wurde ihm eine Dame gemeldet. Es war Tante Sidonie. Das alte Fräulein hatte all ihre, jederzeit streng gewahrte Feierlichkeit verloren. Sie war völlig fassungslos und konnte vor innerer Bewegung kaum sprechen.

Ihre stumme Hilflosigkeit rührte Kurt. Er sah, wie tief sie erschüttert war. Ganz gebrochen saß sie auf der Stuhlkante, und ihre schmalen, weißen Hände zitterten beständig.

Endlich bat sie ihn, ihr alles zu erzählen. Sie wäre heute bei Abendroths gewesen und hätte auch die Zehmen dort getroffen. Aus ihrem Munde habe sie die schweren Anklagen vernommen, die gegen ihn gerichtet würden.

Kurt schüttete der Tante sein Herz aus. Es tat ihm wohl, zu einem vertrauten Menschen sprechen zu können. Er begann damit, wie er Valentine Marschall kennen gelernt, schilderte seine Besuche bei ihren Eltern und verschwieg nicht den tiefen Eindruck, den das geistig hochstehende Mädchen auf ihn gemacht. Anfänglich hätte[136] sie durch ihre Klugheit sein Interesse geweckt, dann hatte er ihren edlen Charakter erkannt und sie hoch geschätzt, bis er schließlich entdeckt, daß sich ein warmes Gefühl für das Mädchen leise in sein Herz geschlichen. Damit hätten auch die schweren seelischen Kämpfe begonnen, unter denen er viel gelitten.

Als er dies sagte, lösten sich Tante Sidoniens ineinandergerungenen Hände und tasteten zitternd über die Falten des Kleides in ihrem Schoß. In dem Herzen des alten Fräuleins mochten verklungene Lieder aus der Jugendzeit leise wieder erklingen, und verblichene Bilder stiegen wohl in ihrer Seele herauf, die sie längst vergessen geglaubt. Damals mochte auch bei ihr der Zorn aufgeflammt sein, als ihre zartesten Mädchengefühle tief verletzt wurden. Heute urteilte sie milder. Die Zeit hatte den bitteren Schmerz geläutert, und in der Seele der alt gewordenen Jungfrau war ein großes Verzeihen langsam herangewachsen.

»Sage mir alles, Kurt,« bat sie unter leisem Weinen.

Da schilderte er den Verlauf seiner Beziehungen zu Valentine Marschall, sprach von seinen Sympathien für das Programm der demokratischen Partei, von den Zweifeln an der Rechtmäßigkeit und Billigkeit ihrer Forderungen, die an ihm immer wieder heraufgestiegen seien, und endlich von der Stunde, in der die Binde von seinen Augen gefallen war.

»Ich weiß, daß ich gegen Ursula gefehlt habe,« fuhr Kurt fort. »Aber ihr reines Bild ist auch während der Tage meiner Schwachheit nicht aus meinem Herzen verdrängt gewesen. Zu derselben Stunde, in der ich erkannte, daß ich den Forderungen der demokratischen Partei aus[137] Überzeugung nicht mehr beistimmen konnte, wich auch mit einem Schlag alle Schwäche von mir, die der Grund meines Schwankens zwischen Valentine und Ursula gewesen war. Schon vor diesem Zeitpunkt hatten sich meine Empfindungen für Valentine Marschall, wie ich dunkel empfand, heimlich gewandelt. Ich bewunderte und schätzte das geistvolle Mädchen mehr, als ich noch Zuneigung für sie hegte.

Der Bruch mit den Demokraten verscheuchte auch mein Zaudern und hieß mich handeln. Ich teilte Valentine Marschall meine politische Wandlung mit und sagte ihr für immer Lebewohl, wobei ich nicht unterließ, sie in mein Inneres blicken zu lassen. Heute bin ich mehr als je davon überzeugt, daß sie ein hochherziger Charakter ist.

Als es mich sodann drängte, Ursula alles zu gestehen und um Verzeihung für meine Schuld zu bitten, war es zu spät. Ich zürne ihr nicht, denn ich habe ihr Vertrauen schlecht belohnt und ihre reinen Empfindungen verletzt.«

Tante Sidonie hatte dieses Geständnis stumm und mit abgewendetem Gesicht angehört. Ihre Haltung war gebrochen. Alle Beherrschung war von ihr gewichen. Sie verstand, wie hier jeder Versuch zu versöhnen, vergeblich sein mußte.

An diesen beiden Menschen hing Tante Sidonie mit ihrem ganzen Herzen. Ihre Brust hatte von Jugend an das große Sehnen erfüllt, Liebe zu geben und zu empfangen. Doch hatte sie nie einen Menschen in ihr Inneres blicken lassen und ihre Weichheit stets unter einer zurückweisenden Haltung verborgen. So war die unerfüllt gebliebene Sehnsucht mit ihr alt geworden. An Kurt, den Sohn ihrer verstorbenen Lieblingsschwester, hatte sich[138] ihr Herz geklammert. Sein Glück sollte das ihrige sein! Deshalb hatte er ihre Liebe, ohne es zu wissen, mit Ursula teilen müssen. Im Träumen und Wachen waren die beiden jungen Menschen ihr ein und alles gewesen! – Und nun – – –?

Lange saßen Kurt und Tante Sidonie mit gesenkten Augen wortlos einander gegenüber.

Endlich sagte das alte Fräulein tonlos:

»Was wird die Zukunft noch an Schlimmem bringen!«

Kurt stand auf.

»Was sie auch bringen mag, liebe Tante,« versetzte er in tiefem Ernst, »ich werde mit dem Schicksal nicht hadern, sondern es in Geduld auf mich nehmen.«

Da erhob sich auch Tante Sidonie, küßte den Neffen mit zuckenden Lippen und ging still wieder fort, wie sie gekommen war.


Blutigrot stieg am Morgen des verhängnisvollen Donnerstags die Sonne herauf. Man schrieb den 3. Mai 1849. Als das Frühlicht hinter den Loschwitzer Höhen aufglimmte und die ersten Sonnenstrahlen die Kirchturmspitzen der sächsischen Hauptstadt vergoldeten, als die Milchfuhrwerke über das holprige Straßenpflaster rollten und in der alten Infanteriekaserne auf der Hauptstraße die schmetternden Töne der Reveille die Schläfer weckten, da herrschte in der Altstadt schon reges Leben.

Während der ganzen Nacht war bei Laternenschein rastlos an der Aufrichtung der Barrikaden gearbeitet worden. Das Straßenpflaster und die Granitplatten der Bürgersteige lieferten hierzu ausgezeichnetes Material. Ein Meister von Ruf hatte ihren Bau geleitet und sein[139] Bestes für das Gelingen eingesetzt, so daß ihre Festigkeit, wie sich erweisen sollte, selbst der furchtbaren Gewalt der Zwölfpfünder spottete. Die meisten Barrikaden waren fünf Ellen stark und reichten bis zum ersten Stockwerk der Häuser. Die beiden stärksten standen auf der Moritzstraße, Ecke Neumarkt, und bei Stadt Gotha.

In den frühesten Morgenstunden begannen von auswärts die Zuzüge der Bewaffneten. Aus der Oberlausitz, aus Leipzig, Freiberg und Riesa, aus den Bergwerken des Erzgebirges, den dichtbevölkerten Weberdörfern des Vogtlandes und den großen Bezirken der Zwickauer Kohlenschächte eilten die Männer in starken Tagesmärschen heran. Besonders zahlreich stellten sich die Turner und Studenten ein. Auch befand sich unter der Menge eine erhebliche Anzahl Polen, deren Sammelpunkt das Café français war.

Jeder Schwarm wurde von dem im Rathaus andauernd tagenden Sicherheitskomitee begrüßt, und die den Altmarkt bedeckende Menge jauchzte den Eintreffenden in überschäumender Begeisterung zu. »Revolutionshimmel!« – »Barrikadenwetter!« – »Retter des Vaterlands!«

Die Kommenden brachten eine überraschende Anzahl von Zündnadelgewehren und Spitzkugelbüchsen mit. Viele der Männer waren sichere Schützen, die ihre Schießfertigkeit in den heimatlichen Schützengilden längst erprobt hatten.

So zeigte sich schon mit Sonnenaufgang in den Straßen eine ungewöhnliche Bewegung. Die dem Tumult gegenüber ohnmächtigen städtischen Behörden sandten am Vormittag noch einmal eine Abordnung ins Schloß, darauf hinweisend, daß die aufs höchste gestiegene Leidenschaft[140] des Volks schon in der nächsten Stunde zum Ausbruch kommen könne.

Der Monarch empfing diese Abordnung tiefernst und wiederholte, daß er die Reichsverfassung alsbald anerkennen und die Kaiserkrönung billigen werde, wenn Preußens König darein willigte. Ohne Preußen könne aber kein machtvolles, großes Deutschland erstehen, nur ein zerstückeltes und uneiniges. – Während diese Worte fielen, umstanden Tausende und aber Tausende das Schloß und harrten ungeduldig der Entscheidung.

Die Kommunalgarde wurde durch anhaltende Glockenschläge vom Kreuzturm herab zusammengerufen. Aber auch in ihren Reihen gärte es gewaltig. Und unter den friedlich Bleibenden gab es ihrer viele, die in Uniform und Bewaffnung alten, biederen Landsoldaten glichen und die ganz außerstande waren, gegen entfesselte Volksleidenschaften zu kämpfen. Dazu wurden die Massen auf der Wilsdruffer Gasse, auf dem Altmarkt, dem Postplatz und vor dem Zeughaus immer aufgeregter.

Beim Linienregiment Albert war für den heutigen Vormittag kein Dienst angesetzt. Die Kompagnien hielten sich zum Abrücken bereit. Kein Mann durfte das Kompagnierevier verlassen; die Leute blieben in den Stuben versammelt. Die Seitengewehre mit Patronentasche waren umgeschnallt, und die Hosen steckten in den Stiefelschäften. Auf den Tischen lagen die gepackten Tornister mit aufgeschnalltem Feldkessel, die gerollten Mäntel und die gefüllten Brotbeutel. Daneben standen die Tschakos.

Gegen elf Uhr wurden die Kompagniefeldwebel auf das Regimentsbureau gerufen. Dort erfuhren sie unter anderem, daß alle Mannschaften auszurücken hätten,[141] wenn der Befehl zum Abmarsch käme. Nur die Köche und die drei Unteroffiziere vom Kasernendienst sollten unter Hauptmann Zimmermann in der Kaserne zurückbleiben.

Diesen letzten Teil des Befehls hörte auch Heinrich, der sich mit seinen beiden Kameraden gerade beim Regimentsadjutanten als Unteroffizier vom Kasernendienst gemeldet hatte. Als er bei seinem, inmitten der Feldwebel stehenden Vater vorüberging, raunte ihm dieser mit finsterem Gesicht zu:

»Ich habe mit dir sofort nach dem Befehlschreiben zu sprechen!«

Heinrich ahnte nichts Gutes und begab sich in die väterliche Wohnung. Der junge Mann war tief bedrückt. Durch die Konsignierung der Truppen war es ihm nicht möglich gewesen, die Kaserne zu verlassen, um zu Marschalls zu gehen. Er wußte nicht, wie es mit der Kranken stand, und die Besorgnis um sie quälte ihn fürchterlich.

Linchen empfing den Bruder mit tief bekümmertem Gesicht. Auch sie litt schwer unter der Ungewißheit.

»Der Vater ist vorhin hier gewesen,« sagte sie trostlos. »Er war ganz wild auf dich.«

Heinrich legte die Hände auf die Patronentasche und zuckte verächtlich mit den Achseln.

»Wenn wir nur etwas von der Madam wüßten, Linchen, das ist mein ganzer Kummer,« sagte er. »Hättest du wirklich nicht einmal hinüberhuschen können?«

»Du glaubst nicht, wie der Vater auf mich aufgepaßt hat,« antwortete die Schwester. »Nicht eine Stunde lang hat er mich aus den Augen gelassen. Ich befürchte bald,[142] es ist ihm hinterbracht worden, daß du immer drüben gewesen bist. Das wäre ja fürchterlich!«

Heinrich murmelte etwas Unverständliches.

Da schlug das zitternde Mädchen die Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich herab.

»Ach, Heinrich,« stammelte sie mit zitternder Stimme, »mir ist so bange!«

»Sei ruhig, Linchen,« tröstete der ungeschlachte Bursche und tätschelte liebevoll die bleichen Wangen seiner Schwester. »Es wird wieder einmal ein Donnerwetter geben. Das sind wir doch schon gewohnt.«

Das Mädchen erschauerte tief, als wenn sie ein furchtbares Verhängnis ahne.

»Sei geduldig, lieber, guter Heinrich,« flehte sie, »– antworte ihm nicht, – kein Wort sage zu allem, – was er auch vorbringen mag.«

Heinrich nickte.

»Versprich mir's,« stammelte Linchen mit fliegendem Atem.

»Ja doch,« antwortete er ungeduldig.

Da klang draußen Stampfen, und die Tür flog auf. Feldwebel Mißbach trat ein. Sein Gesicht war von Zorn gerötet. Er warf das dicke Notizbuch auf den Tisch und schrie:

»Lump, meineidiger! Du hast dein Versprechen nicht gehalten.«

Heinrich blickte beiseite. In so maßloser Wildheit mochte er seinen Vater erst recht nicht sehen.

»Ich habe nichts versprochen,« antwortete er verbissen.

»Warum hast du meinem Befehl nicht gehorcht?« schrie Mißbach noch ärger.

[143]

Heinrich schwieg.

»Rede!« donnerte Mißbach.

»Ich konnte nicht.«

»Du konntest nicht? Du konn – test – nicht? – – Heiliggottverdammich, so rede doch, warum du nicht konntest!« Die Stimme schlug ihm über.

»Gegen seine Natur kann niemand,« antwortete Heinrich mit unnatürlicher Ruhe. »Marschalls haben an mir gehandelt wie Eltern.«

»Ungeratener!« schrie Mißbach in so fürchterlichem Ton, daß Linchen entsetzt zusammenfuhr. »Hund von einem Sohn! Ich wünschte, du wärst schon frühzeitig krepiert, anstatt ein solcher Schuft geworden!«

Heinrichs starker Körper bebte. Da sah er in Linchens totenblasses Gesicht. Ihre Augen waren mit herzzerreißendem Flehen auf ihn gerichtet. Das gab ihm die Kraft, seine furchtbare Erregung niederzuzwingen.

»Und dieser Advokat, der ehrlose Lump, litt es!« fuhr Mißbach von neuem auf. »Der König- und Landesverräter …«

Diese Worte trafen Heinrich wie ein Peitschenhieb.

»Herr Marschall ist ein Ehrenmann,« versetzte er mit leisem Beben in der Stimme. »Und was er tut, tut er zum Wohle des leidenden Volks!«

»Waas?« schrie Mißbach. »Bekennst du dich etwa auch für seine hochverräterischen Ideen?«

Linchen rang hinter dem Vater Heinrich die Hände zu. Jetzt kommt es zum Ärgsten, durchzuckte es sie. Heinrich gewahrte ihre Verzweiflung, aber er konnte sich nicht länger beherrschen! Nein – bei Gott, er konnte es nicht! Den väterlichen Freund in diesem Augenblick verlassen,[144] hielt er für einen Schimpf. Und es mußte jetzt herunter von der Brust, was ihm lange schon fast den Atem raubte! Dem Vater furchtlos ins Gesicht sehend, antwortete Heinrich:

»Lügen kann ich nicht, Vater. Willst du es wissen, wie es um mich steht? Nun gut: ich bin auf der Seite des Herrn Advokaten!«

Feldwebel Mißbach stand regungslos inmitten des Zimmers, als wenn ihn der Schlag getroffen hätte. Seine mächtige Gestalt war hochaufgereckt, und seine breite Brust arbeitete schwer. Er rang nach Luft, um nicht zu ersticken. Plötzlich schlug er eine entsetzliche Lache auf.

»Hahaha! So hat mich meine Ahnung doch nicht betrogen,« höhnte er zwischen keuchenden Atemstößen, die seinen starken Körper erschütterten. »Seit sechsunddreißig Jahren trage ich den Rock des Königs in Ehren, damit ihn schließlich das eigene Blut in den Straßenkot zerrt. Hahaha!«

Plötzlich riß das erzwungene Lachen ab. Eine maßlose Wut flammte in dem jähzornigen Manne auf.

Linchen wußte, was kommen würde und eilte instinktiv zu dem Bruder. Da machte der Vater mit dem Arm eine abwehrende Bewegung gegen sie, daß der leichte Körper des Mädchens wie ein Ball zur Seite flog. Dumpf schlug sie mit der Stirn gegen den eisernen Untersatz des Kachelofens und blieb ohnmächtig liegen.

Mit einem Sprung stand Mißbach jetzt vor seinem Sohn und packte ihn mit der Faust an der Kehle.

»Bube!« keuchte er in einem fort und stieß Heinrich im Zimmer vor sich her. »Bube! …« Heinrich rannte[145] gegen den schweren Tisch, daß er von seinem Platze sprang. Im nächsten Augenblick drückte Mißbach den sich Sträubenden rücklings auf den Tisch nieder. Heinrich sah das Gesicht des Vaters dicht über sich gebeugt. Es war blaurot. Die Augen funkelten, und der Schaum stand dem Rasenden vor dem Munde. Nur nicht die Besonnenheit verlieren! durchfuhr es wie ein Blitz Heinrichs Hirn, nur jetzt ruhig bleiben. Der Vater war ein Riese, das wußte er. Wenn er jetzt aber aufsprang, zerriß er ihn!

»Kanaille!« knirschte Mißbach sinnlos vor Wut und riß mit der freien Hand den Säbel aus der Scheide – – –

In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames.

Der langgezogene Ton eines Hornes hallte vom Kasernenhof halb verklungen herauf, den Arm des Rasenden lähmend. In der nächsten Sekunde flogen dröhnend Türen auf, und die polternden Schritte und das laute Durcheinanderrufen der an die Korridorfenster eilenden Soldaten wurden hörbar.

Noch einmal tönte der einsame Hornruf: Das Ganze sammeln! Da fiel ein zweiter, ein dritter, ein vierter ein. Jetzt hatte auch der Signalist aus der nebenliegenden Mannschaftsstube das Horn an die Lippen gesetzt und erwiderte pflichtgemäß das Alarmsignal, das nunmehr in allen Kompagnierevieren nachgeblasen wurde.

Zu gleicher Zeit begannen die Trommeln dumpf zu rasseln. Der Tambour der Kompagnie lief auf dem Korridor auf und ab und schlug unaufhörlich den Wirbel. Die Trommeln anderer Kompagnien klangen darein – Generalmarsch!

Feldwebel Mißbach hatte wie versteinert in den plötzlichen[146] Lärm hineingehorcht. Jetzt ließ er von Heinrich ab und stieß den Säbel wieder in die Scheide. Seine Besinnung war zurückgekehrt; die Pflicht rief! Schnell raffte er das vom Tisch gefallene Notizbuch auf, warf den gerollten Mantel über den Kopf, ergriff den Tschako und stürzte aus der Stube.

Nun richtete sich Heinrich auf. Sein Haar war verwirrt, sein Gesicht bleich. Der Hals war gerötet, wo die Faust seines Vaters gelegen hatte. Langsam griff er nach der beim Ringen vom Kopfe gefallenen Mütze und setzte sie auf. Draußen schallte brausender Lärm: auf den Rücken fliegende Tornister, erregtes Durcheinanderrufen, aus den Stützen gerissene Gewehre und die dröhnenden Schritte der Davoneilenden.

Da fiel Heinrichs Blick auf das wie tot am Boden liegende Linchen. Er trat zu ihr, nahm die Ohnmächtige in die Arme und legte sie auf das Sofa. Dann eilte auch er hinaus.

Auf dem Kasernenhof hatten sich inzwischen die Kompagnien gesammelt. Zwar glichen sie noch aufgestörten Ameisenhaufen, und von allen Seiten liefen noch Soldaten herbei. Aber die energisch dazwischen tretenden Kompagniekommandanten brachten bald Ordnung in das Durcheinander. Kommandorufe fuhren in den Lärm, und die einzelnen Züge der Kompagnien richteten sich.

In der Mitte des Kasernenhofes hielt Oberst von Friederici.

»Bitte zu melden!« klang seine Stimme über alles hinweg.

Die Bataillonskommandanten wurden ungeduldig; noch waren einige Kompagnien nicht in Ordnung.

[147]

»Herr Hauptmann von Carlowitz, die fünfte Kompagnie melden!« – »Rasch, achte!« – »Ihre Meldung fehlt noch, Herr Hauptmann von Falkenstein!«

Die Hauptmänner eilten vor und wieder zurück. »Zweites Bataillon – Achtung! Schultert – – Kontermandiert! – – Augen – rechts!«

Endlich standen die Bataillone, und der Oberst empfing die Meldungen.

»Die Herren Offiziere!« rief er, worauf die Hufe der galoppierenden Pferde der Stabsoffiziere und Adjutanten mit kurzem Dröhnen den Exerzierplatz schlugen, während die Hauptmänner und Leutnants schnellen Schritts vor die Front liefen.

Während nun der Regimentskommandeur zu den ihn umgebenden Offizieren sprach, hielt vor der Kaserne auf dampfendem Pferde ein Generalstabshauptmann und klopfte mit dem Säbelkorb an das wegen der Unruhen geschlossene, eisenbeschlagene Tor. Der Wachthabende öffnete, und der Reiter ritt in die Torhalle.

»Wo ist Herr Oberst von Friederici?«

»Dort,« erwiderte der Unteroffizier und zeigte in die Richtung.

Aber schon hatte der Fragende seinen Braunen gespornt und flog auf die dichte Gruppe in der Mitte des Kasernenhofes zu. Kurz vor dem Regimentskommandanten parierte der Generalstäbler sein Pferd und legte die Hand an den Helm:

»Befehl des Herrn Kriegsministers! Das Regiment soll mit einem Bataillon unverzüglich das Königliche Schloß besetzen. In einer Stunde sollen drei Kompagnien[148] nach dem Zeughaus marschieren; der übrige Teil des Regiments soll gleichzeitig ins Schloß folgen!«

Der Oberst dankte und wandte sich – ohne noch eine Frage an den Überbringer des Befehls zu richten – in vollkommener Ruhe wieder zu seinen Offizieren.

»Das I. Bataillon nach dem Schloß abrücken. Die 5., 9. und 10. Kompagnie marschieren in einer Stunde unter Herrn Hauptmann von Falkenstein nach dem Zeughaus ab. Die übrigen Kompagnien des Regiments folgen dem I. Bataillon unter Herrn Major von Egidy zu derselben Zeit in das Schloß! Ich reite mit dem I. Bataillon.«

Nun folgten noch ein paar kurze Weisungen der Bataillonskommandanten. Dann senkten die Hauptmänner die Degen und eilten zu ihren Kompagnien zurück.

Leutnant Allmer stand mit tiefernstem Gesicht vor der 4. Kompagnie. Die Mannschaften harrten in stummer Erwartung. In der Kompagnie nebenan ging Feldwebel Mißbach aufgeregt hinter dem dritten Glied entlang und rückte an den Tornistern herum.

Da kam Oberleutnant Wetzig zurück.

»Die 4. Kompagnie besetzt das Prinzenpalais!« rief er. »Ich erwarte von euch die größte Aufmerksamkeit und während des Marschierens peinliche Ordnung. – – Lieber Allmer,« sagte er leise zu Kurt, »nun aber frischen Mut. Jetzt wird's Ernst!«

»Sie können unbedingt auf mich rechnen, Wetzig,« antwortete Kurt bedeutungsvoll und ging auf den Flügel seines Zuges.

Da ertönten die Kommandos. Die Kompagnien nahmen über, schwenkten ein und traten an.

Als sich das Bataillon mit dem Regimentsstab an der[149] Spitze dem Hauptportal näherte, riß Heinrich mit den beiden andern Unteroffizieren vom Kasernendienst die großen Torflügel auf. Im gleichen Augenblick zuckte der Stab des Bataillonstambours nieder, und der Tambourzug schlug ein. Betäubend hallten die Wirbel von den Mauern der hohen Torhalle zurück.

Vor dem Kasernentor stand eine gedrängte Menge, deren Vorderste beim Nahen der voranmarschierenden Spitze von zehn Unteroffizieren beiseite flogen.

Eine Stunde darauf rückten auch die beiden andern Bataillone ab.

Jetzt rief der als Kasernenkommandant zurückgebliebene Hauptmann Zimmermann die diensthabenden drei Unteroffiziere zu sich und verteilte sie auf die verschlossenen Tore. Heinrich erhielt die Aufsicht über das Hauptportal und mußte sich in der von der Mannschaft verlassenen Wachtstube am Fenster nach der Hauptstraße aufstellen.

Die Allee war menschenleer; alles war aus Neugierde mit dem Regiment fortmarschiert.

Heinrich lehnte die brennende Stirn an die Fensterscheibe. Sein Kopf schmerzte zum Zerspringen. Wenn er an den Auftritt mit seinem Vater zurückdachte, stieg ihm die Schamröte ins Gesicht. Jetzt galt ihm sein Leben nichts mehr! Diese Schmach konnte er nie vergessen! Warum mußte der Signalist auch gerade in dem Augenblick Alarm blasen, wo er den Säbel funkeln sah! Eine Sekunde später, und es wäre alles vorbei gewesen. Aber er konnte nicht lügen! Wer es auch sei, der ihn fragte, er würde antworten, daß er es mit dem Volke hielt!

[150]

Heinrich verfiel in dumpfes Grübeln. Er dachte an seine freudlose Jugend, an seine verstorbene, liebevolle Mutter, an Linchen, die sich aufzehrte vor Leid, und an die zahllosen Zornausbrüche des Vaters und seine grausamen Bestrafungen, mit denen er im Herzen seines Sohnes alle kindliche Liebe schon frühzeitig getötet. Hatten die Kinder nur ein einziges Mal eine weiche Regung bei ihm entdeckt? Nein! Nie! Dienst und Pflicht und Schuldigkeit, – wie hallten diese Worte jetzt in seinem Ohre wider.

Wenn ihn das Schicksal doch auf einen anderen Lebensweg gestellt hätte! Mit welcher Freudigkeit würde er alles getan haben, was man ihm auferlegte. Nur Soldat durfte er nicht werden! Diesen Beruf hatte ihm sein Vater schon in früher Jugend verleidet. Wie ihn die Luft der Kaserne doch fast zum Ersticken brachte! – Und von den Lippen des jungen Korporals kam ein gepreßter Schrei ohnmächtiger Wut.

Er wandte sich vom Fenster ab, und seine Augen glitten durch die leere Wachtstube. Die Pritschen waren in die Höhe geschlagen und die Bänke davor ausgerichtet. Wenn er bloß wüßte, wie es der Madam ging! Und gleichzeitig gedachte Heinrich der zahllosen Wohltaten, die ihm die Gute erwiesen. Das liebe Haus auf der Brüdergasse stand vor seinen Augen, und er sah die heimlichen Winkel, in denen er mit Valentine so oft Versteck gespielt, und die dämmerigen Kanzleistuben mit den hohen Aktengestellen an der Wand und den alten, mit zahllosen Tintenflecken bedeckten Schreibtischen.

Heinrich fühlte, wie er weich wurde; seine Augen gingen ihm über. Dort hätte ihn der Vater lassen müssen,[151] da wäre ein zufriedener und rechtschaffener Mensch aus ihm geworden!

Wenn er wenigstens hätte mit ausziehen und kämpfen dürfen! Vielleicht würde eine Kugel Mitleid mit ihm haben!

Doch nein, es war gut so. Nicht gegen die fechten, deren Sache er innerlich unterstützte. Denn die Männer, zu deren Bekämpfung die Soldaten ausgezogen, waren trotz allem doch im Recht! Darauf konnte er blind schwören! Hätte sich andernfalls ein solcher Ehrenmann wie Advokat Marschall mit an ihre Spitze gestellt? Deshalb war es gut so, daß er dazu bestimmt worden war, hier zu bleiben, anstatt zu kämpfen. – Aber, halt – – kämpfen?

Heinrich klammerte sich am Fensterbrett fest. Ein jäher Gedanke war in ihm erwacht, fürchterlich und doch berauschend schön – – – Noch einmal: kämpfen? – – Ja, – kämpfen! Aber nicht gegen sie, – nein, mit ihnen!

Das Blut jagte durch seine Adern, und die Gegenstände in der Wachtstube tanzten vor seinen Augen. Wie, wenn er jetzt heimlich aus der Kaserne entwich? Ein Stockwerk höher lagen die von ihren Inhabern verlassenen Leutnantsstuben. Dort würde er Zivilkleidung finden!

Wenn er nach Altstadt flüchtete und sich der Bürgerpartei anschlösse und sagte: Hier bin ich, ich will an Eurer Seite fechten – –

Du brichst den Eid! flüsterte ihm eine Stimme zu. Du begehst Fahnenflucht! Du verläßt deinen Posten vor dem Feinde!

[152]

Der junge Mann schlug mit der Faust auf den Fensterstock, daß die Scheiben klirrten und seine Knöchel bluteten.

Ja und abermals ja! schrie eine andere Stimme in ihm den Warner nieder. Wie würde sich Herr Marschall freuen – und die Madam – und Valentine –

Da eilte er schon zur Tür, öffnete und beugte sich vorsichtig hinaus, – alles war still. Er trat auf den Korridor und klinkte die Tür leise wieder zu. Dann sprang er die Treppenstufen hinauf und stand nun vor den Offizierswohnungen. Dort befand sich die Stube vom Leutnant Allmer, die kannte er. Mit ein paar Sätzen war er an der Tür und glitt hinein. Das Zimmer war unaufgeräumt, wie es sein Bewohner in der Eile des Alarms verlassen hatte. Der Kleiderschrank stand weit geöffnet; ein grauer Zivilanzug hing vornan, darüber lag auf einem Brett ein kleiner, runder Hut.

Mit zitternden Händen riß Heinrich die Knöpfe seines Waffenrocks auf, warf die Uniform ab und fuhr in den Anzug. Er war ihm zu eng, aber was tat das! Zwei Minuten später, als er das Zimmer betreten, stand er wieder auf dem Korridor.

Die Sinne aufs äußerste anspannend, lief er die Treppen hinunter bis ins Kellergeschoß und jagte dann durch den langen Gang, um das hintere Tor nach der Ritterstraße zu erreichen. In der Kaserne herrschte eine tiefe, befremdende Stille. Als er das Ende des Korridors erreicht hatte, sprang er die Halbtreppe hinauf, nach dem Ausgang auf den Kasernenhof. Hier war das Kompagnierevier seines Vaters. Unwillkürlich warf er einen Blick hinein.

Da hörte er leises Geräusch. Und wie er sich umwandte,[153] sah er einen Menschen, bei dessen Anblick ihm das Herz fast stillstand: an der leeren Gewehrstütze lehnte totenblaß Linchen. Heinrich war wie gelähmt. Stumm trafen sich die Augen der Geschwister. Plötzlich streckte das Mädchen flehentlich die Hände nach dem Bruder aus und sank lautlos auf die steinernen Fliesen nieder, während sich Heinrich blitzschnell umwandte und davonschoß. Er hörte noch, wie hinter ihm ein menschlicher Körper dumpf auf die Steinplatten aufschlug, – dann sprang er auf den Kasernenhof hinaus.

Mit wenigen Sätzen war er an demselben Tor, das er in jener unheilvollen Nacht überstiegen, kletterte mit Hilfe der wagrechten Balken hinauf und sprang auf die Straße hinunter. Nun rannte er am Gerichtsamt vorbei, um das Arresthaus herum und die Hospitalstraße hinunter bis zur Glacisstraße.

Hier stand dicht am Elbufer ein niedriges Haus, aus dessen Fenstern ein alter Herr und ein schönes, junges Mädchen mit bleichem Gesicht verwundert auf den Eilenden blickten.

»Hallo,« rief Heinrich im Näherkommen dem Fährmann zu, »schaff mich hinüber!«

In der nächsten Sekunde sprang er ins Boot, und der Staken des weißhaarigen Schiffers stieß ins Wasser.


[154]

Kampf an der Ecke Wallstraße-Scheffelgasse.

Neuntes Kapitel

Am jenseitigen Ufer dehnte sich die Wiese bis zum Eliasfriedhof. Heinrich ging langsam darüber hinweg. Die große Erregung und das anhaltende rasche Laufen hatten ihn außer Atem gebracht. Hier war er in Sicherheit!

Wohl fühlte er sein Gewissen schlagen, wenn er an den Schritt dachte, den er getan. Aber er war frei! Das war ein köstliches Gefühl, wie er es noch nie empfunden hatte. Er hätte es nicht ausgehalten, sein Leben lang in der Kaserne zu verbringen. Nein, er hätte es nicht gekonnt, und wenn er sich die ewige Seligkeit damit verdient hätte! In den letztvergangenen Tagen war er fast tiefsinnig geworden. Die meisten seiner Kameraden waren immer fröhlich und gern Soldat. Er hatte sie nie begriffen!

Jetzt näherte er sich den ersten Häusern der großen Ziegelgasse. Da sah er am oberen Ende der schmalen Gasse einen hohen Bau, der den Weg sperrte. Es war die äußerste Barrikade in der Pirnaischen Vorstadt.

[155]

Als Heinrich die Barrikade erreicht hatte, umringten ihn ein paar finsterblickende Bewaffnete und erkundigten sich nach seinem Begehr.

»Kämpfen will ich,« sagte er.

Die Züge der Barrikadenmänner hellten sich auf, als sie das hörten. Solche athletische Burschen wie diesen konnten sie noch viele brauchen.

»Geh auf den Altmarkt,« entgegnete einer, »dort ist andauernd Appell. Da kannst du dich melden.«

Damit ließen sie ihn vorbei. Bald hatte Heinrich den Elbberg erreicht. Hier bemerkte er am Brühlschen Garten wieder eine Barrikade.

Den Platz vor der Synagoge bedeckte eine aufgeregte Menschenmenge. Auf dem Moritzmonument stand ein Mann, der die Zuhörenden zum Kampf anfeuerte. Aus seinen Reden erfuhr Heinrich, daß der Aufstand seine ersten Opfer schon gefordert hatte. Als das Volk versucht, in das Zeughaus einzudringen, hätten die Soldaten geschossen. Vier Tote seien auf dem Platz geblieben. »Männer,« rief der Sprecher, »es ist Bürgerblut geflossen! Mag nun dies Blut über die kommen, die es verschuldet, die frevelhaft die göttlichen Rechte des Volks mit Füßen getreten haben!«

Die Menge schrie Beifall und setzte sich stadtwärts in Bewegung. Auch Heinrich wurde mitgerissen. Vor den Haupttoren des Zeughauses staute der Strom. Hier stand bereits Kopf an Kopf eine unübersehbare Anzahl von Menschen. Aus den geöffneten Fenstern des gegenüberliegenden Kuffenhauses sahen bewaffnete Turner heraus, die Gewehre im Anschlag.

Da kam durch die Rampische Gasse ein hoher Leiterwagen,[156] gezogen von Männern in grauen Hüten mit roten Federn. Auf dem Wagen lag ein alter Mann mit entblößter Wunde, – einer der vier Gefallenen. Man hatte ihn vor dem Königlichen Schloß zur Schau gestellt und währenddessen die Fenster über dem Georgentor mit kurzen Knüppeln eingeworfen. Jetzt wurde er unter großem Tumult nach dem Klinikum auf dem Zeughausplatz gebracht.

Als der Tote vom Wagen gehoben wurde, brach die Menge in ein Wutgeheul aus. Heinrich sah, wie eine große Anzahl der Umstehenden plötzlich nach Deichsel und Rädern griff und den Wagen im Sturmschritt gegen das mittlere Haupttor des Zeughauses rollte. In demselben Augenblick, in dem die Torflügel durch die Wucht des Anpralls dröhnend aufsprangen, krachte aus dem Innern ein Kartätschenschuß in den nachdrängenden, dichten Haufen hinein.

Im Nu war das Geheul verstummt; nur ein paar Wehlaute gellten. Und als sich der Rauch verzogen hatte, war das Pflaster mit etwa zwanzig Gefallenen bedeckt. Die meisten lagen regungslos. Einige wälzten sich unter heftigen Zuckungen herum und wimmerten leise. Heinrich fühlte einen heftigen Schlag am Kopf, daß er taumelte und in die Knie sank.

Eine kurze Weile mochte er so gelegen haben. Da weckte ihn das stärker als vorher abbrechende Wutgeschrei der Menge, die jetzt das Straßenpflaster aufriß und einen Hagel von Steinen gegen das Zeughaus richtete. Gleichzeitig krachten aus den Fenstern des Kuffenhauses in rasender Geschwindigkeit die Gewehre der Turner. Der Tumult war unbeschreiblich.

[157]

Da sprang Heinrich in die Höhe. Eine unbändige Wut flammte in ihm auf. Gierig griff er nach den umherliegenden Steinen und schleuderte sie nach dem Zeughaus. Aber das befriedigte ihn nicht. Als er neben sich einen Turner das Gewehr auf das von der Zeughausbesatzung schnell wieder verrammelte Tor richten sah, sprang er hinzu, riß ihm die Waffe aus der Hand und schoß sie über aller Köpfe hinweg ab. In diesem Augenblick fühlte Heinrich eine unwiderstehliche Schwäche. Er griff mit den Händen in die Luft und sank zu Boden. Wie im Traum merkte er noch, daß man ihn aufhob und forttrug. Dann schwand ihm das Bewußtsein.

Als Heinrich aus seiner tiefen Ohnmacht erwachte, war es stockfinster. Endlich gewöhnte sich aber sein Auge an die Dunkelheit, und er sah eine kleine Öllampe hängen, die nur ein schwaches Licht verbreitete.

Er lag in einem Bett, das in einem großen Raum stand, der zwei Reihen von Betten enthielt. Zuerst wußte er nicht, wie er hierher gekommen war, bis sich die Erinnerung langsam einstellte. Der Lärm vor dem Zeughaus gellte ihm mit einem Male wieder in den Ohren, und nun entsann er sich deutlich, daß ihm nach dem Schuß, den er abgegeben, die Sinne geschwunden waren.

Heinrich sah sich um. Neben ihm lag ein alter Mann, der ihn neugierig betrachtete.

»Sie müssen einen ganz grimmigen Schlag vor den Kopf bekommen haben,« sagte dieser leise. »Ist Ihnen jetzt wieder wohl? Sie liegen in der Klinik.«

Heinrich sah den Sprecher fragend an. Was dieser redete, war ihm unklar.

[158]

»Na,« fuhr der Nachbar gutmütig fort, »Sie sind wieder bei sich, das sehe ich nun schon. Mit mir ist es auch schneller gegangen, als ich geglaubt hätte. Gerade wie ich mich nach dem ersten Stein bückte, wurde ich umgestoßen und mit Füßen getreten. Eine Weile hält man das für eine so gute Sache wie die unsrige schon aus. Endlich wurde mir's aber doch zuviel, und ich konnte nicht mehr aufstehen. So bin ich hierher gekommen. Als man Sie hereinbrachte, dachte ich, es sei ein Toter.«

Mit schwerer Zunge versetzte Heinrich:

»Jetzt erinnere ich mich, daß ich plötzlich einen starken Schmerz an der Schläfe verspürte.«

»Es wird ein Prellschuß gewesen sein,« gab der alte Mann leise zurück. »Seien Sie froh, daß es nicht ärger gekommen ist. Ihre Kugel war eben noch nicht gegossen.«

Die Morgendämmerung drang durch die Fenster in die Krankenstube hinein.

»Aber es war doch heller Tag, wie es passierte,« sagte Heinrich verwundert. »Und nun habe ich die vielen Stunden bis zum Morgen geschlafen?«

Der Nachbar lächelte.

»Welcher Tag war es denn, als Sie den Treffer kriegten?«

Heinrich besann sich.

»Welcher Tag? Nun, gestern – Donnerstag.«

»Heute ist Sonnabend,« versetzte der alte Mann nickend, »Ihre Ohnmacht hat also sechsunddreißig Stunden gedauert.«

Heinrich machte ein erstauntes Gesicht. Und nun erfuhr er, was sich inzwischen zugetragen hatte.

[159]

»Der König ist gestern bei Nacht und Nebel heimlich auf die Festung Königstein entwichen,« erzählte der Nachbar, »und mit ihm sind die Minister geflohen. Da das Land jetzt also buchstäblich ohne Regierung ist, hat sich auf dem Rathaus aus der Mitte der Bürger eine provisorische Regierung gebildet. Nun gilt es nur noch, den Truppen klarzumachen, was es heißt, daß ihr Kriegsherr und seine ersten Ratgeber sie preisgegeben haben. Wenn die Soldaten vernünftig sind und die neue Regierung anerkennen, dann ist alles in Ordnung. Sachsen wird Republik, und alle deutschen Länder werden auf uns neidisch sein, daß wir das so rasch und ohne große Opfer erreicht haben. Freilich,« schloß der Erzähler nachdenklich, »sicher ist es noch nicht, ob die Truppen mit uns gemeinschaftliche Sache machen.«

Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, und ihre Strahlen machten die Schläfer munter. Heinrich sah, daß alle Betten belegt waren. Wie ihm sein freundlicher Nachbar mitteilte, waren es Aufständische, die bei dem Zeughaussturm verwundet worden waren. Einige mußten schwer leiden. Sie lagen regungslos in den Kissen und stöhnten leise.

Als der Morgenkaffee ausgeteilt wurde verbreitete sich die Neuigkeit, daß gestern abend die leichte Infanterie aus Leipzig angekommen sei, und vor einer Stunde wäre aus Chemnitz ein Bataillon vom Leibregiment eingetroffen.

Diese Kunde verursachte große Enttäuschung unter den Verwundeten. Denn man hatte schon allgemein damit gerechnet, daß jede Stadt ihre Truppen am Abmarsch hindern würde, damit die Dresdner Garnison nicht verstärkt werde.

[160]

Der alte Mann neben Heinrich war aber ein Feuerkopf.

»Nun, so mag es gehen, wie es will,« eiferte er. »Wir werden endlich doch triumphieren. Glauben Sie mir, junger Freund, unsere gerechte Sache muß siegen! – Fühlen Sie sich kräftig genug, die Klinik wieder zu verlassen?«

Heinrich streckte die Glieder und bejahte. Die allgemeine Kampfesstimmung hatte auch ihn erfaßt. Und wozu wäre er denn sonst aus der Kaserne entflohen?

»Dann werde ich Ihnen ein Gewehr verschaffen,« versetzte der Alte. »Verstehen Sie, damit umzugehen?«

Heinrich erklärte, daß er es könne, verschwieg aber, wo er es gelernt hatte.

Da traten zwei Ärzte in den Saal. Der ältere von ihnen war der Leiter der Klinik, Professor Richter. Sie gingen von einem Bett zum andern, maßen die Temperatur der Fiebernden, erneuerten die Verbände und gaben der begleitenden Pflegerin Verhaltungsmaßregeln.

Als sie zu dem alten Mann traten, erklärte dieser, daß ihm nichts mehr fehle, und daß er die Klinik verlassen würde.

Jetzt wandte sich der Professor zu Heinrich und untersuchte ihn.

»Schwere Gehirnerschütterung,« sagte er zu seinem Begleiter, »die eine tiefe Ohnmacht zur Folge hatte. Der Mann muß eine Riesennatur haben, sonst wäre er nicht so glimpflich davongekommen. Sie sind entlassen.«

Mit diesen Worten wollte er sich zum nächsten Kranken wenden, als sein Blick auf Heinrichs Gesicht haften blieb. Sinnend betrachtete er ihn eine kurze Weile. Dann beugte er sich zu ihm nieder und fragte leise:

[161]

»Sind Sie nicht Heinrich Mißbach?«

Heinrich schwieg. Aber er fühlte, daß er rot wurde.

Professor Richter schüttelte den Kopf und maß den Liegenden mit einem vorwurfsvollen Blick. Heinrich konnte den Blick nicht aushalten und schlug die Augen nieder. Er kannte den Professor seit vielen Jahren und wußte, welch hohe Achtung er im Marschallschen Hause genoß.

Mittlerweile hatte sich der alte Mann angekleidet, und Heinrich beeilte sich, ebenfalls rasch fertig zu werden. Der Boden des Klinikums brannte ihm unter den Füßen.

Als sie auf den Zeughausplatz traten, war es neun Uhr vorbei. Aus der Richtung des Königlichen Schlosses drang das Knattern von Gewehrfeuer herüber. Der Platz war mit einem lärmenden Menschenhaufen bedeckt, aus dessen Mitte unaufhörlich wilde Drohungen und Flüche schallten. Das Zeughaus lag wie ausgestorben. Seine Tore waren geschlossen. Der Wandputz war durch die vielen Gewehrschüsse stark beschädigt, und die eingeschossenen Fenster hatte die Besatzung mit Bohlen und großen Kisten verrammelt.

Der alte Mann führte Heinrich durch die kleine und große Schießgasse, die beide mit starkbesetzten Barrikaden versperrt waren, bis zu seiner Wohnung am oberen Ende der Moritzstraße, dicht neben dem Gewandhaus. Auf dem kleinen, mit Messing eingefaßten Porzellanschild an der Tür stand der Name Dietze. Heinrich war verwundert, als er die gut bürgerlich eingerichteten Stuben sah.

Herr Dietze setzte schnell ein einfaches Frühstück auf den Tisch. Während sie aßen erfuhr Heinrich, daß sein[162] Gastgeber lange Jahre einen Kaufmannsladen bewirtschaftet hatte. Als im vorigen Jahr seine Frau gestorben war, hatte er das Geschäft verkauft und ein zurückgezogenes Leben geführt. Durch den Ausbruch des Aufstands war er aus seiner Ruhe aufgejagt worden. Rasch hatte er seine Hausmagd entlohnt und die Wohnung verschlossen. Dann war er auf die Gasse geeilt, um sich den Turnern anzuschließen. Kaum hatte er aber den Zeughausplatz erreicht, als er auch schon zu Boden gerissen wurde und unter die Füße der Drängenden geriet.

»Das ist sicherlich eine Vorbedeutung,« schloß der alte Mann. »Aber mag kommen, was will, ich habe vorgesorgt. Sehen Sie, junger Freund, ich besitze ein gemütliches Heim und einige Tausend Taler erspartes Geld. Ich könnte meine alten Tage hinbringen, ohne Not zu leiden. Aber ich mag hier nicht ruhig sitzen, während draußen um die Freiheit gekämpft wird. Was tut es auch, ob ich ein paar Jahre früher oder später sterbe. Ich habe weder Kind noch Kegel. Niemand wird Kummer haben, wenn mir etwas zustößt. Vor ein paar Tagen bin ich auf dem Bezirksamt gewesen und habe mein kleines Vermögen bei Heller und Pfennig den Kindern vermacht, deren Väter im Kampfe fallen werden. Alles hab' ich bedacht. Ich bin immer für Ordnung gewesen.«

Diese Rede machte auf Heinrich einen tiefen Eindruck. Während des Essens hatte er wiederholt an die kranke Frau Marschall gedacht, und er war entschlossen gewesen, alsbald nach der Brüdergasse zu gehen. Jetzt wagte er nicht, dies zu tun. Der alte Mann hätte ihm nicht geglaubt und ihn für feig gehalten.

[163]

Nun führte Herr Dietze Heinrich in die Schlafkammer, wo er aus dem Kleiderschrank zwei Gewehre hervorzog.

»Hier,« sagte er, indem er Heinrich eins gab, »das soll Ihre Waffe sein. Ich schenke sie Ihnen.«

Heinrich war überrascht. Das Gewehr war ein nagelneuer Hinterlader. Er öffnete das Schloß und zog die Kammer zurück, um den Mechanismus zu prüfen. Die Militärgewehre waren älteren Systems, und ihre Treffsicherheit konnte mit der Wirkung dieser Gewehre längst nicht wetteifern.

Herrn Dietze war die Überraschung Heinrichs nicht entgangen.

»Eine schöne Büchse, nicht?« fragte er stolz. »Noch bevor es Ernst wurde, habe ich die Gewehre beim Büchsenmacher Gründig gekauft. Sie sollen ausgezeichnet schießen, versicherte er mir.«

Nun stopfte sich Heinrich noch die Taschen voll Patronen, und dann verließen sie die Wohnung wieder.

»Wir gehen zu der Barrikade auf dem Zeughausplatz,« sagte Herr Dietze in Kampfstimmung. »Wenn die Truppen angreifen sollten, geht es an der Brühlschen Terrasse sicher zuerst los.«

Sie liefen den Weg, den sie gekommen, wieder zurück und meldeten sich bei dem Kommandanten der Barrikade, unweit des Gondelhafens. Dieser Freischärler war ein wüst aussehender Kerl, der dem Branntwein stark zugesprochen hatte. Er begrüßte die beiden Ankommenden mit Handschlag und brachte ein Hoch auf sie aus, in das die Barrikadenbesatzung begeistert einstimmte, worauf Herr Dietze mit einem Hoch auf die Freiheit antwortete.

Hier erfuhren sie auch, daß die Führer des Aufstandes[164] mit dem Zeughauskommandanten eine Konvention abgeschlossen hatten, nach der die Kommunalgarde die Wache des Zeughauses und die Posten besetzt hielt, während die Truppen das Innere des Gebäudes bewachten.

Plötzlich nahm der Lärm des Gewehrfeuers im Zentrum der Stadt erheblich zu. Die Besatzung der Barrikade brach hierüber in laute Jubelrufe aus, die sich unter den auf dem Zeughausplatz müßig Herumstehenden fortpflanzten.

Da kam die Nachricht, daß der Kriegsminister den Befehl über das gesamte Militär dem Generalleutnant von Schirnding übertragen habe. Diese Kunde bereitete den Freischärlern, soweit sie diesen alten Veteranen aus den Freiheitskriegen von ihrer Dienstzeit her kannten, einiges Unbehagen. Denn der General galt als ein umsichtiger und außerordentlich energischer Offizier.

Aber bald war die anfängliche Beklemmung wieder gewichen, und die Besatzung harrte voll Ungeduld des Angriffs der Truppen. Besonders waren es die Turner, deren Kampfbegierde kaum noch zu zügeln war. An der hinteren Seite der Barrikade waren große Fässer aufgestellt, über die starke Bretter führten. Auf dieser Laufbrücke stand die Besatzung, die Gewehre über den oberen Barrikadenrand hinweggeschoben. Aber nirgends war ein Soldat zu sehen.

Unter den Harrenden ging gerade wieder einmal die frisch gefüllte Schnapsflasche herum, als plötzlich das Kommando erscholl:

»Achtung!«

Diesen Ruf hatte unwillkürlich Heinrich ausgestoßen, der mit dem zu seiner Linken stehenden Herrn Dietze[165] das Trinken verschmäht und wachsam nach dem Gondelhafen geschaut hatte. Die Aufrührer blickten überrascht auf und erkannten, wie eine Kompagnie leichter Infanterie die niedrige Terrassentreppe heruntereilte. Im nächsten Augenblick schlugen die auf kurze Entfernung abgefeuerten Kugeln der Soldaten in die Barrikade ein und fast gleichzeitig tönte es aus hundert Kehlen: »Hurra!«

Jetzt krachten wie eine geschlossene Salve die Gewehre der überrumpelten Barrikadenbesatzung in die Stürmenden hinein. Aber die Soldaten kehrten sich nicht an die Wirkung der Schüsse. Mit verblüffender Kühnheit rannten die Schützen unter dem rasselnden Gewehrfeuer quer über den Platz, allen voran ihr Hauptmann mit gehobenem Säbel. In wenigen Sekunden waren sie an der Barrikade und kletterten an ihr empor.

Gerade als die ersten schwarzen Tschakos vor den Augen der Besatzung am oberen Rand der Barrikade auftauchten, sprang der Kommandant auf die Brüstung und schickte sich an, die Gewalt des Sturmes im letzten Augenblick durch eine Ansprache zu beschwören.

»Soldaten! –« rief er, da traf ein schwerer Kolbenstoß seine Brust und warf ihn rücklings in die Tiefe. Heinrich schoß sein Gewehr auf den vor ihm hochkommenden Kopf ab, daß dieser blitzschnell wieder verschwand. Dann stand die Brüstung voll Soldaten. Ein Schützenkorporal, dessen Augen wie die einer Katze funkelten, ergriff Heinrichs Gewehr an der Mündung, um es ihm zu entreißen. Heinrich ruckte heftig zurück, – da flog der kleine Korporal im Bogen über ihn hinweg und schoß mit dem Kopf voran auf das Pflaster hinunter.

[166]

Heinrich stand gerade im Begriff, sich gegen einen andern Angreifer zu wenden, als er zu seiner Linken einen dumpfen Schlag und einen entsetzlichen Schrei hörte. Er fuhr herum und sah Herrn Dietze mit weit aufgerissenen Augen zusammensinken. Der Hut war ihm herabgeflogen, Schädel und Stirn waren gespalten, das Gesicht mit Blut überströmt.

Schon riß der Soldat auf der Barrikadenkrone, der den furchtbaren Schlag getan, das mit beiden Händen gefaßte Gewehr wieder in die Höhe, als Heinrich ihm in grenzenlosem Zorn seine Gewehrmündung in den Leib rannte. Der Getroffene verfärbte sich im Augenblick leichenblaß. Die emporgehobene Waffe entglitt den sie umklammernden Händen, und der Schütze fiel langsam um und rollte von der Barrikade auf die Straße hinunter.

Jetzt bemerkte Heinrich, daß er nur noch allein auf der Barrikade stand. Seine Mitkämpfer rannten in voller Flucht über den Zeughausplatz hinweg, als wenn der unwiderstehliche Ansturm sie fortgeblasen hätte. Da knirschte er eine Verwünschung, sprang hinab und eilte ebenfalls zurück. Die ihm nachgesandten Kugeln pfiffen wirkungslos an ihm vorbei.

Auf dem mittlerweile überraschend schnell leer gewordenen Platz stand vor dem Zeughause Professor Richter mit dem Heinrich ebenfalls bekannten Advokaten Heintz, beide die dreifarbige Kokarde am Hut und ohne Waffen.

Heinrich hielt in seinem raschen Lauf inne, trat an Doktor Richter heran und sagte atemlos:

»Herr Professor, eilen Sie rasch davon, die Schützen werden auf Sie schießen.«

[167]

Professor Richter sah eine Sekunde lang in das ihm wohlbekannte Gesicht des Burschen, bis er antwortete:

»Warten Sie drüben am Kuffenhaus auf mich. Ich habe mit Ihnen zu sprechen. Jetzt aber fort!«

Da hörte Heinrich von hinten her den Gleichtritt heranrückender Schützenkompagnien, vor deren Front die ausgeschwärmte Sturmmannschaft lief. Er eilte hinüber zu der Kuffenhausbarrikade, die von ihren Verteidigern schon preisgegeben war, und verbarg sich dahinter.

Als die Kompagnien die Mitte des Zeughausplatzes erreicht hatten, trat Professor Richter grüßend an den Führer heran. Der Major kommandierte Halt und ließ die Gewehre abnehmen. Bevor jedoch Professor Richter das Wort ergreifen konnte, fuhr Advokat Heintz den Major in barschem Ton an:

»Wie können Sie hier vorrücken, Herr! Das ist neutraler Boden. Sie mißachten die Konvention!«

Heinrich sah, wie dem bereits ergrauten Offizier das Blut ins Gesicht stieg, und vernahm, wie dieser mit mühsam erzwungener Ruhe antwortete:

»Ich handle nach meinem Befehl!«

»Aber die Konvention, die die Zeughausbesatzung mit der Kommunalgarde abgeschlossen hat?«

Der Offizier zuckte mit den Achseln.

»Nun, so wird die Kommunalgarde doch wenigstens die Wache und Posten besetzt halten dürfen?«

Der Major verneinte bestimmt.

»Dann fordere ich entschieden, daß die Kommunalgarde ihre Posten vor dem Abmarsch ordnungsgemäß einziehen darf!«

»Dagegen habe ich nichts einzuwenden,« antwortete[168] der Major kühl. »Sorgen Sie bitte dafür, daß dies rasch geschieht. Im übrigen lehne ich es ab, mit Ihnen weiter zu verhandeln.«

Mit diesen Worten wandte er dem Advokaten den Rücken und rief die vor ihren Kompagnien stehenden Hauptmänner zu sich heran. Advokat Heintz aber eilte in den Zeughof, und wenige Minuten darauf rückte die zweiundachtzig Rotten starke Kommunalgardenbesatzung durch die Rampische Gasse ab.

Jetzt vernahm Heinrich die Stimme des Majors:

»Die Barrikade neben der Frauenkirche ist stark besetzt. Die 3. Kompagnie rückt sogleich durch die Rampische Gasse vor und nimmt die Barrikade!«

Der Offizier, an den der Befehl gerichtet war, salutierte mit dem Säbel. Da schritt Professor Richter schnell auf den Major zu und sagte in verbindlicher Haltung:

»Herr Major von Reitzenstein, bitte erlauben Sie mir, der Sturmkolonne voranzueilen. Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, die Besatzung der Barrikade zum Abzug zu bewegen.«

Diese ruhigen Worte machten Eindruck. Professor Richter war den Offizieren hinlänglich als besonnener Mann bekannt. Zudem wußten sie um den ehrenvollen Ruf, den er als Leiter der chirurgischen Klinik genoß. Eine kurze Weile schwankte der Major, dann hatte er sich entschieden. Wenn die Barrikadenbesatzung abzog, blieb unnützes Blutvergießen erspart. Denn der Sturm durch die lange und schmale Gasse würde viele Opfer kosten.

»Versuchen Sie es immerhin, Herr Professor,« versetzte der Major. »Ich werde mit dem Vorrücken noch zehn Minuten warten.«

[169]

Heinrich hatte mit verhaltenem Atem dieser laut geführten Unterhaltung zugehört. Jetzt trat er hinter der Barrikade vor und rannte Professor Richter nach, der die Rampische Gasse hinablief. Als er ihn erreicht hatte, sagte dieser zu ihm:

»Suchen Sie den Advokaten Marschall, Heinrich. Er soll morgen in aller Frühe, wenn es noch ruhig ist, seine Frau, sorgfältig in Betten verpackt, nach dem Trompeterschlößchen fahren lassen. In der Brüdergasse ist sie nicht mehr sicher, man hat dort was vor. Ich würde im Laufe des Vormittags nach ihr sehen.«

Diese Worte versetzten Heinrich in große Bestürzung, und stotternd fragte er nach dem Befinden der Kranken. Aber Professor Richter wehrte mit der Hand ab und eilte zu der Barrikade hin, über deren oberen Rand die im Anschlag liegenden Verteidiger hinwegsahen. Heinrich blieb während des Laufens immer an der Seite des Professors.

Endlich hatten sie die Barrikade erreicht.

»Wer ist hier der Kommandant? Ich will ihn sprechen!« rief Professor Richter keuchend.

Da stieg hinter der Brüstung ein hochgewachsener, hagerer Mann langsam herauf, der einen eng zugeknöpften, schwarzen Schößenrock trug. Sein Gesicht war bleich und eingefallen und wurde von einem langen, kohlschwarzen Bart eingerahmt. Die tiefliegenden Augen glühten in politischem und religiösem Fanatismus. Der Mann war ein Pastor. Als die schrillen Töne der Sturmglocken über das sächsische Land schallten, hatte er Kanzelrock und Barett an den Nagel gehangen und war zum Kampf nach der Hauptstadt geeilt.

[170]

»Was wünschen Sie, mein Herr?« fragte der Kommandant mit tiefklingender Stimme und in unverfälschter oberlausitzer Mundart.

Professor Richter antwortete:

»Ich ersuche Sie dringend, Ihren Leuten die Weisung zu geben, die Barrikade sofort zu räumen. Auf dem Zeughausplatze stehen drei Kompagnien der leichten Infanterie, die in wenigen Minuten zum Sturm vorrücken werden.«

»Sie sollen kommen,« versetzte der Hohläugige gelassen. »Wir harren ihrer schon längst.«

»Es wäre Wahnwitz, wenn Sie den Angriff abwarten wollten! Gegen diese Übermacht können Sie nichts ausrichten.«

»Es verlangt uns danach, für die Freiheit zu sterben; Gott wird mit uns sein und unser Auge schärfen und unsern Arm stark machen!«

»Aber Sie opfern sich mit ihren tapfern Männern umsonst. Der Ansturm der Truppen wird Sie über den Haufen werfen.«

»Wer den Sieg erringen soll, steht bei dem droben!« antwortete der Lange mit mühsam gebändigter Leidenschaft.

Das Pathos dieser Worte befremdete Professor Richter, und er ahnte den Geistlichen in dem Sprecher.

»Nun, mein Herr!« rief er ungeduldig, »wenn Sie den Namen des Allmächtigen so geflissentlich im Munde führen, dann kennen Sie sicher auch das göttliche Wort: Wer unnütz Blut vergießt, des Blut soll auch vergossen werden.«

[171]

Der Mann auf der Barrikade stand wie eine Bildsäule, die Rechte auf das Gewehr gestützt, die freie Hand in die schwarzrotgoldene Binde geschoben, die den hageren Leib umschloß.

»Das Vaterland hat seine Söhne gerufen,« antwortete er mit unerschütterlichem Gleichmut, »sie sind gekommen und bereit, für sein Heil zu sterben. Wer für die höchsten Güter der Menschheit kämpft, erwirbt sich die Liebe des himmlischen Vaters!«

Professor Richter fuhr erbittert auf. Der Mann war ein Schwätzer, und die Sekunden waren zu kostbar, sie für die Bekehrung eines Fanatiker hinzugeben.

»Leute!« schrie er der Barrikadenbesatzung zu, die dem Wortwechsel aufmerksam zugehört hatte, »ich muß euern Mut ehren. Aber besonnenen Männern ziemt es, von einer nutzlosen Tollkühnheit abzustehen. Ihr habt die Pflicht, euer Leben nicht in den Wind zu schlagen! Setzt es dort ein, wo Ihr dem Vaterland damit nützen könnt. Seid vernünftig und räumt die Barrikade!«

Der tiefe Eindruck dieser Rede auf die Barrikadenmänner war offensichtlich. Was der da unten sprach, traf den Nagel auf den Kopf.

Professor Richter bemerkte ihr Schwanken.

»Die Kindschen Häuser,« rief er, »und die beiden Hotels an der Moritzstraße sind längst noch nicht stark genug besetzt. Das sind Stützpunkte, die wir behaupten müssen! Geht dorthin und verstärkt die Besatzung. Aber zögert nicht mehr! Die Truppen können jeden Augenblick angreifen.«

Der Kommandant fühlte die starke Wirkung dieser Worte auf seine Leute. Und er las auf ihren Mienen,[172] daß der Warner sie überzeugt hatte. Nur wenige schienen noch unschlüssig zu sein.

Da feuerte er mit zündender Rede noch einmal zum Bleiben an. Aber seine Stimme wurde niedergeschrien. Und aus der Mitte der Erregten trat einer in Turnerkleidung an die Brüstung und rief hinab:

»Wieviel Kompagnien, sagten Sie, stünden auf dem Zeughausplatz?«

»Drei! Eure Barrikade mit der geringen Besatzung ist für einen solchen Ansturm zu schwach.«

»Der Mann hat recht; wahrhaftig, er hat recht,« wandte sich der Turner an seine Kameraden. »Wozu sollen wir uns umsonst opfern? Auf dem Neumarkt werden unsere drei Dutzend Gewehre besser gebraucht. Auf, Brüder, ziehen wir nach Hotel Rom!«

Diesen Worten wurde lärmend zugestimmt. Die Mutigen waren klug genug, die Nutzlosigkeit ihres Ausharrens einzusehen, und den weniger Herzhaften kam der Abzug von dieser gefährlichen Stelle gelegen. Lieber aus den Fenstern eines verrammelten Hauses herausschießen, als einen Sturm auf freier Barrikade abwehren.

»Nach Hotel Rom!« schrie es durcheinander, und die Besatzung kletterte von der Barrikade herab.

Um die Lippen des Mannes mit dem Asketengesicht spielte ein verächtliches Lächeln; – schweigend lief er seinen Leuten nach. Auch Heinrich schloß sich den Zurückgehenden an, nachdem er gesehen, wie Professor Richter die Rampische Gasse zurückeilte, an deren Ende der zum Angriff schreitende vorderste Schützenschwarm soeben sichtbar wurde.

Kaum hatte der Trupp der abziehenden Freischärler[173] den Neumarkt betreten, als er schon von der Bildergalerie her lebhaft beschossen wurde. Sogleich begannen einige zu laufen.

Da klang die erzürnte Stimme des Geistlichen im Insurgentengewand:

»Ein Feigling, wer läuft! Will das streitende Bürgertum sich zum Gespött der Knechtenden machen?«

Diese Worte brachten wieder so viel äußerliche Ruhe in den Haufen, daß die Männer ohne Hast weitermarschierten, ungeachtet der vielen vorbeischwirrenden Kugeln. Wenn eine solche dicht über sie hinwegpfiff, zog jeder unwillkürlich den Kopf ein, obwohl alle wußten, daß das Geschoß bereits vorbeigeflogen war, wenn sie sein Pfeifen hörten.

Jeder Einzelne fühlte die ungeheure Nervenanspannung, die das langsame Vorwärtsschreiten in dem Kugelregen verursachte. Aber keiner wagte zu laufen. Zwar konnten sie ihren Führer nicht sehen, denn er ging hinter ihnen. Doch fühlte jeder seine Nähe, und sein dämonischer Einfluß beugte die Männer unter seinen Willen und zwang sie, der hohen Gefahr kaltblütig die Stirn zu bieten.

»Es ist ein Unsinn,« rief Heinrich, »unter Feuer stehende Abschnitte im Schritt zu passieren. Das tut nicht einmal das Militär!«

Der Kommandant warf dem Rufer aus seinen flackernden Augen einen mißbilligenden Blick zu, verschmähte es aber, zu antworten.

Da erhielt der Trupp plötzlich auch von hinten starkes Feuer, das die leichte Infanterie abgab, die inzwischen die verlassene Barrikade besetzt hatte. Heinrich hörte[174] deutlich das Kommando: »Zug – Fert'g! – An! – Feuer! – Ladet – Gwehr!« – – Und eine Sekunde darauf schlugen auch von der Brühlschen Terrasse her Kugeln in ihrer Nähe ein, die die Münzgasse entlang fegten.

In den scheinbar gleichgültig dahinschreitenden Männern zitterte jeder Nerv. Unter dem gräßlichen Eindruck, den dieses furchtbare Kreuzfeuer ausübte, brach die nur noch mühsam aufrecht erhaltene Ruhe endlich doch zusammen. Das ging über Menschenkraft! Und als plötzlich einer der Marschierenden inmitten des Haufens stolperte und mit einem markerschütternden Schrei vornüberfiel, da rannten alle wie auf ein Signal in wilder Flucht über den Platz hinweg, bis sie Stadt Rom erreicht hatten.

Nur der hagere Kommandant im schwarzen Schößenrock ging mit erhobenem Haupt und die Schritte absichtlich verkürzend in unerschütterlicher Ruhe weiter, obwohl die Kugeln wie Hagelkörner an ihm vorbeiflogen. Sein bleiches Gesicht trug den Ausdruck unsäglicher Verachtung.

So erreichte er unbeschadet das Hotel.


Zehntes Kapitel

In Stadt Rom angekommen, stellte sich Heinrich sogleich an eines der Fenster dieses stark besetzten Hauses und begann kaltblütig nach der Bildergalerie auf der gegenüberliegenden Seite des Neumarkts zu schießen. Aus den Fenstern des Johanneums und vom äußersten Flügel des Brühlschen Palais her wurde lebhaft zurückgeschossen.

Dem Hotel Stadt Rom gegenüber stand an der andern[175] Ecke der Moritzstraße mit dem Neumarkt das Hotel de Saxe. Dieses mächtige Haus war gleichfalls von Freischärlern besetzt, welche aus allen Stockwerken feuerten. Die Straße zwischen beiden Hotels sperrte eine hohe Barrikade. Aus den Kindschen Häusern, die von der Frauengasse bis zum Jüdenhof den Platz begrenzten, krachten die Gewehre der Aufrührer unaufhörlich hinüber nach den Truppen auf der am Ende der Münzgasse sichtbaren Brühlschen Terrasse und im Coselschen Palais neben der Frauenkirche.

Heinrich merkte bald, daß die Kugeln der Truppen wenig Wirkung hatten. Er kannte ihre Perkussionsgewehre ja ganz genau und wußte, daß die Entfernung für sie sehr groß war, während die Geschosse aus den weittragenden Büchsen der bürgerlichen Kämpfer die Stellungen der Truppen mit unverminderter Kraft erreichten.

Als Ziel hatte sich Heinrich das letzte Fenster der Bildergalerie an der Ecke der Augustusstraße gewählt. Da schien es ihm mit einem Mal, als ob er die Leute in diesen Fenstern kenne. Er sah scharf hinüber. Es war kein Irrtum, – die Mannschaften seiner Kompagnie standen dort!

Eben hatte der Soldat Kießling seiner Visitation das Gewehr erhoben und zielte herüber. Heinrich sah den Feuerstrahl aus der Mündung blitzen und hörte trotz des unaufhörlichen Krachens ringsum deutlich den Knall des Schusses, als wenn nur dieses eine Gewehr abgefeuert worden sei.

Im nächsten Augenblick dröhnte das steinerne Fenstergewände dicht neben seinem Kopf, zerborstenes Blei[176] spritzte umher, und ein großes Stück Sandstein fiel auf das Fensterbrett vor ihm nieder.

Heinrich rieb sich den Staub aus den Augen. Da sah er, wie Soldat Kießling sein Gewehr gleichmütig wieder lud und von neuem anlegte. Schnell riß Heinrich den Kolben an die Backe und drückte ab. Krachend fuhr der Schuß hinaus. Im nächsten Augenblick sank drüben dem Zielenden das Gewehr vom Kopfe herab und fiel zum Fenster hinunter, während Kießling eine Schmerzensbewegung machte und auf seine herabhängende rechte Hand starrte.

Da wurde der Verwundete vom Fenster gezogen, und ein anderer Soldat trat an seine Stelle. Heinrich biß die Zähne aufeinander und machte das Gewehr wieder fertig. Langsam hob er die Waffe und zielte scharf auf den eben Herangetretenen.

Plötzlich ließ er das Gewehr sinken. Er konnte nicht schießen! Der jetzt dort stand, war Korporal Johne, ein vortrefflicher Mensch. Johne war der Einzige gewesen, mit dem er jederzeit treue Kameradschaft gehalten hatte.

Heinrich trat vom Fenster zurück und sicherte das Gewehr. Auf seine Kompagnie mochte er nicht zielen. Es gab hier genug Schützen, die aus Mangel an Fensterplätzen nicht zum Feuern kamen. Er konnte sich eine andere Stelle aussuchen. Übrigens wurde es auch Zeit, daß er zu Marschalls ging.

Bei diesem Gedanken fühlte Heinrich, wie ihm das Blut ins Gesicht trat. Denn er war sich dessen bewußt geworden, daß er Professor Richters Auftrag im Eifer des Gefechts bald vergessen hätte.

[177]

Die Mauern von Stadt Rom und den Nachbarhäusern der kleinen Kirchgasse waren von den Verteidigern durchgeschlagen worden. Heinrich hing das Gewehr über die Achsel und verließ auf diesem Wege das Hotel. Als er die Badergasse erreicht hatte entschloß er sich, die Barrikade bei Stadt Gotha aufzusuchen, von deren Stärke er im Hotel Rom schon gehört hatte. Dort war er auch in Marschalls nächster Nähe.

Auf dem Altmarkt war das Gewühl so dicht, daß Heinrich nur langsam durchkommen konnte. Aus den Dörfern im Plauenschen Grunde kamen gerade Wagen mit Lebensmitteln an. Auch zwei große Scharen auswärtiger Turner, die mit nicht endenwollenden Jubelrufen empfangen wurden, marschierten in geschlossener Ordnung nach dem Rathaus.

Beim Betreten der Schloßgasse hörte Heinrich die Kugeln der im Thronsaal des Schlosses aufgestellten Truppen pfeifen. Er lief schnell bis zur Rosmaringasse und meldete sich beim Barrikadenkommandanten.

»Sie können gleich hinaufsteigen, mein Sohn,« versetzte dieser, ein älterer, anscheinend den höheren Ständen angehörender Herr. »Zeigen Sie, ob Sie auch schießen gelernt haben.«

Heinrich kletterte die Leiter empor und trat hinter die Brüstung. Er staunte über die Größe und Festigkeit dieser Barrikade. Sie reichte fast bis zum zweiten Stock des Hotels und war ganz aus Pflastersteinen und Granitplatten gebaut. Auf der Plattform lagen die Verteidiger Mann an Mann und schossen unaufhörlich nach dem Schloß, aus dessen Fenstern über dem Georgentor das Feuer heftig erwidert wurde. Zu Füßen der liegenden[178] Schützen kniete eine zweite Reihe, und über diese hinaus ragten die Köpfe des hinter der Barrikade auf Laufbrettern stehenden dritten Gliedes.

Das unaufhörliche Krachen der Gewehre von den in drei Etagen feuernden Schützen in der schmalen Schloßgasse mit ihren hohen Häusern war ohrenzerreißend und machte eine mündliche Verständigung auf der Barrikade nahezu unmöglich.

Heinrich stellte sich in die hinterste Reihe, legte die Gewehrmündung auf eine der quer gezogenen Latten und schoß so lange, bis er keine Patrone mehr hatte.

Da sah er ein paar große hölzerne Eimer stehen, woraus jeder, der sich verschossen hatte, seine Munition ergänzte. Und da fast alle Freischärler die erst vor kurzem in den Handel gekommenen Hinterlader besaßen, paßten die Patronen für jedes Gewehr.

Plötzlich bemerkte Heinrich, wie in der Tiefe des Georgentores einige Soldaten sichtbar wurden. Und sein scharfes Auge erkannte eine Kanone, deren Umrisse in dem Hintergrund des dunklen, durchgangartigen Tores nur schwer zu sehen waren.

Noch zielte er darauf, als das Geschütz unter donnerartigem Krachen abgefeuert wurde. Im nächsten Augenblick schlug der Vollkugelschuß in die Vorderwand der Barrikade ein, den festen Bau erschütternd.

Eine kurze Weile stockte auf der Barrikade das Feuer, und man hörte, wie der heftige Luftdruck Hunderte von Fensterscheiben des Schlosses und der ihm zunächstliegenden Häuser der Schloßgasse zertrümmerte und wie die herabfallenden Stücke auf dem Straßenpflaster zersplitterten.[179] Dann nahm die Barrikadenbesatzung das Feuer mit vermehrter Heftigkeit wieder auf.

Bald krachte das Geschütz drüben noch einmal, und als Antwort schrien bei den Freischärlern ein paar Stimmen verzweifelt auf. Diesmal war es ein wohlgezielter Kartätschenschuß gewesen, der dicht über die Brüstung hinweggestrichen war.

Das erste Opfer war ein blutjunges Bürschlein, – zart wie ein Mädchen. Laut stöhnend wurde er an Heinrich vorübergebracht. Seine Brust war durch einen Steinsplitter vom Herzen bis zum Hals aufgerissen. Der junge Mann, fast noch ein Knabe, blickte aus stieren Augen und stammelte wirre Worte. Plötzlich rief er gellend: »Mutter, – – Mutter!« dann fiel sein Kopf zurück.

Nach ihm wurden zwei Tote hinabgelassen und hierauf noch ein Verwundeter, ein bartloser Student mit den Farben der Leipziger Saxonen. Heinrich sah, wie dieser die Hand lächelnd auf den Unterleib preßte und heldenhaft jeden Schmerzenslaut unterdrückte. Aber von seinen Lippen floß Blut, so biß er darauf.

Aufs äußerste erbittert, richteten jetzt alle die Gewehre auf den Eingang des Georgentors, und ein Triumphgeschrei brach aus, als das Geschütz plötzlich zurückgezogen wurde.

Dafür feuerten die Truppen aus den Fenstern des Thronsaales nun um so heftiger, und die Zahl der Verwundeten auf der Barrikade wurde immer größer. Auch hörte man jetzt in der Richtung des Neumarkts Kanonenschüsse, und das Gewehrfeuer, das vom Zwinger herüberschallte, steigerte sich von Minute zu Minute.

[180]

Der Barrikadenkommandant war auf die Brüstung gestiegen. Hier stand er, auf den blanken Säbel gestützt, furchtlos inmitten des dichten Kugelregens und feuerte die Verteidiger zu immer rascherem Schießen an.

Plötzlich hörte Heinrich, wie in seinem Rücken eine Stimme in den betäubenden Lärm hineinschrie:

»Herr Kommandant, Herr Kommandant! Ich habe Ihnen eine Meldung abzustatten!«

Der Gerufene vernahm die Stimme und ging zu dem auf der Leiter Stehenden zurück.

»Was bringen Sie?« fragte er, sich zu ihm hinabbeugend.

»Die Wache auf dem Kreuzturm hat vor einer halben Stunde mit dem Fernrohr beobachtet, wie ein Bataillon vom Berliner Alexanderregiment auf dem Neustädter Bahnhof ausgeladen worden ist.«

Der Kommandant fuhr erzürnt auf.

»Fremde Truppen im Land? Das ist Verrat am eigenen Volk! – Aber laßt sie nur kommen,« fügte er lächelnd hinzu, »wir werden ihnen schon heimleuchten! Wie steht es auf dem Neumarkt?«

»Die Unsrigen halten sich vortrefflich. Die beiden Hotels werden jetzt von der Augustusstraße her mit Kanonen beschossen. Aber die Kugeln richten wenig Schaden an. Die Verluste der Truppen sind größer als die unsern.«

»Bravo, bravo!« rief der Kommandant. »Und wie sieht's im Zwinger aus?«

»Das Leibregiment hat den Wall und den Mathematischen Salon besetzt. Dort sitzen sie wie in einer Mausefalle. Das Feuer vom Turmhaus an der Ostra-Allee[181] und von der Spiegelfabrik am Postplatz räumt furchtbar unter ihnen auf.«

»An dieser Stelle steht das Gros der Turner,« versetzte der Kommandant frohlockend. »Ein wackres Korps, diese Turnerschaft, schlägt sich ausgezeichnet!«

»Die provisorische Regierung läßt Ihnen den gemessenen Befehl zugehen, Herr Kommandant, Ihre Barrikade um jeden Preis zu behaupten. Stadt Gotha bilde den Schlüssel für unsere ganze Stellung. Sie könnten so viel Scharfschützen und Munition fordern, wie Sie wollten. Von der unbegrenzten Hingabe der auf Ihrer Barrikade Kämpfenden hinge unser aller Schicksal ab, denn die Schloßgasse bildet das Einfallstor in unsere Stellung.«

Mit diesen Worten stieg der Bote die Leiter wieder hinunter.

Der Kommandant blieb eine Sekunde lang wie betäubt stehen. Dann richtete er sich ruckartig auf und wandte sich zu seinen Leuten, deren Gewehre unaufhörlich die blutige Arbeit verrichteten. Mit einer ungestümen Bewegung riß er die auf der Mitte der Barrikade aufgepflanzte schwarzrotgoldene Fahne in die Höhe, stieg mit jugendlicher Behendigkeit auf einen umgestürzten Patroneneimer und schrie mit der ganzen Kraft seiner Stimme in den Höllenlärm hinein:

»Brüder! Ihr kämpft auf dem bedeutungsvollsten Punkte der ganzen Stellung. Die Geschichte wird die Namen derer, die hier gefochten, einst mit Ehrfurcht nennen! Die Blicke aller Mitkämpfenden sind voll Bewunderung auf uns gerichtet. Die provisorische Regierung erwartet von euch, daß jeder sein Herzblut daran[182] setzt, diesen Ehrenplatz nicht in die Hände des Feindes fallen zu lassen. Die große Stunde der Entscheidung ist gekommen! Es lebe die Einheit und Freiheit Deutschlands! Es lebe die deutsche Reichsverfassung!«

So stand der Mann in grauem Haar mit dem feurigen Mut eines Jünglings, des Eisenhagels spottend, hoch über seinen Leuten, die wallende Fahne der Freiheit in der Faust. Und das hundertstimmige Jauchzen der von seiner Begeisterung Hingerissenen vereinte sich mit dem scharfen Pfeifen der Kugeln und dem stärker anschwellenden Rollen des Gewehrfeuers zu einer schauerlichen Musik, deren rasende Weise wie ein entfesselter Orkan gegen die Mauern der Häuser fuhr und – zurückgeworfen – den Kampfeslärm ins Ungemessene steigerte.

Noch war der begeisterte Jubel nicht verhallt, als der Mann auf der Tonne plötzlich wankte und dann schwer auf die Plattform der Barrikade niederfiel. Das dreifarbige Panier sank mit ihm nieder, seinen Körper bedeckend.

Erschrocken eilten die Nächstliegenden hin und richteten ihn auf. Mitten in der Stirn hatte er ein kreisrundes Loch, aus dem einige Tropfen hellroten Bluts sickerten. Friedlich, als wenn er schlummere, lag er vor ihnen. Seine Züge trugen noch das Lächeln der Begeisterung, aus der er so plötzlich abberufen worden war.

Die Männer tasteten nach seinem Herzen, – alles umsonst! Erschüttert hoben sie den entseelten Körper auf und trugen ihn behutsam hinab. Auf der Barrikade aber tobte der Kampfeslärm unvermindert fort, und ein anderer stellte sich auf den frei gewordenen Platz. –

Heinrich hatte diesen Vorgang aus unmittelbarer Nähe[183] beobachtet. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er den Mann zu Tode getroffen liegen sah. Das war der Krieg in seiner ganzen Entsetzlichkeit – der Bürgerkrieg! Und er dachte daran, was für eine schwere Schuld die Regierenden traf. Denn sie nur allein – das stand bei Heinrich außer Zweifel – hatten den Aufstand herbeigeführt.

Da fühlte er mit einem Mal eine große Abspannung. Und er erinnerte sich, daß er nichts wieder gegessen, seitdem er mit Herrn Dietze zusammen gefrühstückt hatte. Der Gedanke an den gräßlichen Anblick, den dieser gutmütige, alte Mann, von der Barrikade sinkend, geboten hatte, vermehrte sein Übelbefinden. Aber Heinrich schämte sich seiner Schwachheit und feuerte weiter.

Bald merkte er jedoch, wie ihn eine neue Schwäche anwandelte. Doch was war das? Narrte ihn seine Einbildung? Hatte er unter den an den Fenstern des Thronsaales stehenden Soldaten nicht soeben ein wohlbekanntes Gesicht gesehen? Die Helle des Tages war schon gewichen, – er mußte sich getäuscht haben! Aber sein Auge war außergewöhnlich scharf, das wußte er.

Heinrich nahm das Gewehr bei Fuß, legte beide Hände wie einen Schirm über die Augen und sah mit äußerster Anstrengung seiner Sinne nach dem Schloß. Da fielen plötzlich seine Arme herab, und kaltes Grausen kam über ihn. Nein, – jetzt war kein Zweifel mehr: er hatte unter einem der Tschakos ein breites Gesicht mit einem starken, weißen Schnurrbart gesehen.

Die dort im Thronsaal feuerten, waren Soldaten der 3. Kompagnie seines Regiments, und an jenem Fenster stand sein Vater – –

[184]

Hastig wandte sich Heinrich um und stieg die Leiter hinab. Es war die höchste Zeit, daß er zu Marschalls ging!

War er betäubt von dem Höllenlärm, in dem er so lange gestanden? Oder verwirrte ihn die entsetzliche Entdeckung so, die er eben gemacht? Heinrich schwankte, daß er fast auf die Straße sank. Mit Mühe ging er ein Stück zurück und setzte sich auf einen Fensterstock.

Endlich hatte er sich wieder soweit erholt, daß er seinen Weg fortsetzen konnte. Bei Marschalls würde er zu essen bekommen, das mußte ihn von neuem stärken. Da fiel ihm die Kranke ein, und dieser Gedanke beflügelte seine Schritte.

Er ging die große Brüdergasse entlang und durch das Gäßchen nach der kleinen Brüdergasse. Nun stand er vor dem Hause. Heinrich klinkte an der Tür; sie war verschlossen.

Er klopfte an, vergeblich. Er klopfte stärker und wiederholte es fünf-, sechsmal – niemand öffnete. Die Fensterladen im Erdgeschoß, wo die Kanzlei lag, waren geschlossen. Auch an sie klopfte er. Aber es kam niemand, um nachzusehen, wer Einlaß begehrte.

»Hallo!« schrie Heinrich, »Anna, Anna, – Valentine …«

Keine Antwort. Seine Stimme ging fast unter in dem Getöse des ohne Unterbrechung fortdauernden Feuergefechtes. Vier Häuser entfernt befand sich Stadt Gotha. Die kleine Brüdergasse traf die Schloßgasse im rechten Winkel. Die Barrikade stand dicht hinter der Ecke, daß er sie nicht sehen konnte. Aber die hin und her schwirrenden Kugeln sah er. Ihre Bahnen bildeten plötzlich erscheinende,[185] dunkle Fäden, die ebenso rasch wieder abrissen, wie sie auftauchten, wenn das Geschoß am Ausgang der Gasse vorbeigeflogen war. Als wenn Geisterhände an einem ungeheuern, unsichtbaren Webstuhl arbeiteten.

Nur das unaufhörliche Krachen der Gewehre belehrte ihn, daß es keine Einbildung war, was er sah, und die lauten Rufe, mit denen die Schießenden ihre blutige Arbeit begleiteten, verstärkte den grausigen Eindruck.

Heinrich blickte verzweifelt an dem Hause hinauf. Es sah aus, als wenn es von seinen Bewohnern verlassen sei. Auch hinter den Fenstern der nebenliegenden Häuser konnte er keine menschliche Seele entdecken. Ob Marschalls schon geflüchtet waren? Und wohin? Diese Ungewißheit quälte ihn fürchterlich.

Da riß er sein Gewehr von der Schulter und schlug mit dem Kolben wiederholt heftig an die Tür, daß sie dröhnte. Aber es blieb alles still. Der dumpfe Schall im Hausflur bildete die alleinige Antwort.

Eine geraume Weile noch blieb Heinrich auf der Mitte der Gasse stehen, scharf zu den Fenstern hinaufspähend. Dann begann es zu dunkeln. Enttäuscht warf er sein Gewehr über die Schulter und entfernte sich langsam. Morgen in aller Frühe, bevor das Gefecht von neuem beginnen würde, wollte er wieder hier sein.

Nun ging er das schmale Gäßchen wieder zurück bis zur Wilsdruffer Gasse. Hier waren die Gasflammen angezündet, und eine dichtgedrängte Menge wogte auf und ab. Die meisten Männer waren bewaffnet, etliche angetrunken. Sie sangen Freiheitslieder oder stießen unflätige Rufe aus.

[186]

Aus einigen Häusern schleppten Freischärler und Turner unter wildem Geschrei Kommunalgardisten und angesehene Bürger heraus, nachdem sie in deren Wohnungen eingedrungen waren und die Besitzer mit Drohungen oder Gewalt zum Mitgehen veranlaßt hatten.

»Auf die Barrikaden mit den Hunden!« schrien sie und stießen die zu Tode Geängstigten vor sich her.

Heinrichs Blick fiel auf einen Greis, der augenscheinlich aus dem Bett geholt worden war und dem man keine Zeit gelassen hatte, die Oberkleider anzuziehen.

Zwei Frauen hielten ihn umschlungen: eine ehrwürdige, alte Dame und ein junges, bildschönes Mädchen. Sie weinten laut und beschworen die Bedränger, ihren Gatten und Vater freizulassen. Er sei krank und könne vor Fieber kaum stehen. Da faßten rohe Fäuste nach den Bittenden und rissen sie zurück. Die alte Dame rang die Hände ineinander und schrie verzweifelt auf, während das sich heftig sträubende Mädchen im Gedränge zu Boden geworfen wurde.

»Verfluchte Hexe!« brüllte ein zerlumpter Freischärler der zitternden Greisin geifernd ins Gesicht, »sollen wir uns die Knochen allein entzweischießen lassen? Hat nicht Ihr Mann noch in der vergangenen Woche im Tivoli den Krieg für Recht und Freiheit gepredigt? Nun haben wir den Kampf! Jawohl, Maulhelden spielen! Und wenn's dann losgeht, in's Bett kriechen!«

»Vorwärts, du alter Sünder!« schrie ein anderer dem Greise zu, der inmitten einer drohenden Rotte stand und ohnmächtig auf die gemißhandelten Frauen sah.

Da traf ein heftiger Kolbenstoß den Rücken des alten Mannes, daß er wankte. Dann rissen ihn die Freischärler[187] mit sich fort. Die gellenden Wehrufe der alten Dame schallten ihnen hinterdrein.

Heinrich drängte sich zu dem noch immer mitten im Gewühl auf der Gasse liegenden jungen Mädchen. Ein ekelhaft aussehender Kerl kniete auf ihrer Brust und rang mit ihr.

»Lassen Sie augenblicklich das Mädchen los,« sagte Heinrich, sich niederbeugend, mit wutbebender Stimme.

Der Freischärler hielt die sich mit letzter Kraft Wehrende an den zarten Handgelenken gepackt und preßte ihr die Hände auf die Kehle. Als er die drohenden Worte vernahm, sah er auf und maß Heinrich mit funkelnden Augen. Im nächsten Augenblick empfing der Kniende einen Faustschlag gegen die Schläfe, daß er wie leblos auf das Pflaster sank.

»Stehen Sie auf,« sagte Heinrich und richtete die Zitternde in die Höhe. »Wo wohnen Sie?«

»Meine Mutter!« rief das Mädchen in den Tönen der Verzweiflung.

Heinrich sah sich um. Da bemerkte er die alte Frau, die inzwischen niedergesunken war und in Gefahr schwebte, von der Menge zertreten zu werden. Rasch schlang er den Arm um das Mädchen und bahnte sich mit seiner ganzen Kraft einen Weg durch das Gedränge. Nachdem er die Ohnmächtige erreicht hatte, nahm er sie in seine Arme und hob sie auf.

»Gehen Sie voran,« rief er dem Mädchen zu, »ich folge Ihnen!«

So gelangten sie zu einem vornehmen Bürgerhaus in der Wilsdruffer Gasse, in dessen erstem Stock sich[188] die Wohnung befand. Heinrich legte die alte Frau behutsam auf das Sofa und wandte sich zum Gehen.

Da eilte ihm das Mädchen nach, ergriff seine Hände und küßte sie wortlos viele Male und unter heftigen Tränen. Heinrich fühlte, wie ihm die Bewegung die Kehle zuschnürte. Er dachte an Frau Marschall.

»Geben Sie Ihrer Mutter Wasser,« sagte er mit Anstrengung, »dann wird sie wieder aufwachen. Und schließen Sie das Haus zu.«

Damit ging er.

Auf der Gasse wurde er sogleich wieder vom Strom der Menge erfaßt und fortgeschoben. In einem der letzten Häuser vor dem Altmarkt sah er einen verschlossenen Laden, an dessen Tür mit Kreide geschrieben war: Heilig ist das Eigentum! Vor diesem Laden standen zwei Männer, unter deren Axtschlägen das Holz der Tür in Splitter flog. Jetzt fiel die Tür krachend ein, und ein paar heruntergekommene Gesellen, die auf diesen Zeitpunkt schon ungeduldig gewartet hatten, stürmten hinein. Im Nu war darin alles durcheinandergeworfen, und die Plünderer ergriffen die Goldwaren und Schmuckgegenstände und stopften sie in ihre Taschen, worauf sie hohnlachend den Laden wieder verließen. Ein anderer Haufe drängte hinein.

Mit grimmiger Enttäuschung erkannten diese Neugekommenen, daß alle Kästen bereits ausgeraubt waren. Einen lästerlichen Fluch ausstoßend, strich einer der Gesellen ein Schwefelholz an und warf es in einen Haufen Papier. Zischend fuhr die Flamme hoch auf und griff mit gieriger Gefräßigkeit um sich. Eine Minute später glich das Innere des Ladens einem Feuermeer.

[189]

Heinrich fühlte, wie ihn die Wut schüttelte, und er wandte sich ab. Wieder riß ihn der Strom fort bis zum Altmarkt. Hier standen die Menschen wie eingekeilt Schulter an Schulter.

»Wo bleiben die Zuzüge?« rief es von allen Seiten. »Brot fehlt! Geld wollen wir haben! Waffen! Waffen! Munition! Waffen!«

Ein sinnbetäubender Lärm hob an. Alles schrie durcheinander. Einige forderten dazu auf, das Rathaus zu stürmen. »Dort sitzen die Schufte und tun sich gütlich! Wir können unterdessen umkommen wie Hunde!«

Ein alter Kommunalgardist versuchte, die ärgsten Schreier zu beruhigen.

»Die provisorische Regierung,« meinte er begütigend, »arbeitet die ganze Nacht durch. Habt nur Vertrauen, Mitbürger, sie wird schon alles gut hinausführen.«

»Was, der Schwarzgelbe will Fisematenten machen und uns nasführen?« brüllte ein zerlumpter, riesenhafter Kerl, trat hinzu und schlug den Kommunalgardisten mit der Faust ins Gesicht, daß diesem das Blut aus dem Munde brach und er zur Seite taumelte.

»Es lebe die Menschlichkeit!« schrien Tausende von Stimmen. »Hoch die Freiheit! Nieder mit der Regierung! Tod dem König! Tzschirner, Tzschirner … hooch!«

Da trat der Gerufene auf den Balkon des Rathauses.

»Nieder mit dem Verräter!« empfingen ihn wütende Rufe. »Zerreißt das Aas in Kochstücke!« und wieder: »Hoch, Tzschirner! … hooch!«

Die Parteien gerieten zusammen. Brüllend wie Tiere schlugen sie mit Knüppeln und Fäusten aufeinander ein, zerkratzten und zerbissen sich die Gesichter und[190] rissen sich die Kleider in Stücken vom Leibe. Die am Boden sich wälzenden Knäuel gerieten in Gefahr, unter die Füße der drängenden Menge zu kommen.

Da – ein Trompetenstoß! Der Tumult verringerte sich. Alles horchte.

Advokat Tzschirner, das Oberhaupt der provisorischen Regierung, beugte sich über das Balkongeländer und rief mit gemachtem Pathos über die Köpfe der wie durch einen Zauberspruch plötzlich still gewordenen Menge hinweg:

»Mitbürger! Der Kampf ist uns schnöde aufgezwungen worden! Aber die heilige Sache siegt! Die Gerechtigkeit muß triumphieren! Das langmütige sächsische Volk hat seine besten Söhne auf die Barrikaden gesandt, um die Einheit und Freiheit Deutschlands zu erkämpfen. Bewundernd richtet das ganze gesittete Europa seine Augen auf euch! Die ohnmächtig zusammengebrochene Regierung hat fremde Truppen herangezogen, – ein Schrei der Entrüstung zittert durch die gebildete Welt. Aber ihr werdet den Kampf mit um so größerer Tapferkeit fortführen, ihr, die Helden der Freiheit! Durch Nacht zum Licht! Tod den Bedrückern! Tod den Blutsaugern! Tod den Tyrannen! Es lebe das geeinte, freie und große deutsche Vaterland! Es lebe die Menschlichkeit! Es lebe die Revolution!«

Die Wirkung dieser Rede war unbeschreiblich. Während Tzschirner zurücktrat und sich die tropfende Stirn trocknete, brach auf dem Altmarkt ein ohrenzerreißendes Geschrei aus. Tausende von Stimmen jubelten, kreischten und brüllten durcheinander. Der Sprecher hatte alle Gemüter entflammt. Wäre er unter der Menge gewesen,[191] so hätte man ihn vor Begeisterung zerrissen. Die Männer fielen in Verbrüderung einander um den Hals und küßten sich. Wer so unvorsichtig war, zu dem Gehörten Bedenken zu äußern, wurde blutig geschlagen. »Hoch die Revolution! Hoch Deutschland! Nieder mit den Volkstyrannen!«

Heinrich empfand einen heftigen Widerwillen gegen den wüsten Auftritt und wollte den Altmarkt verlassen. Als er versuchte, sich durch das Gedränge einen Weg zu bahnen, stand plötzlich hochroten Gesichts und mit rollenden Augen ein Freischärler vor ihm, der ihn schon eine Weile argwöhnisch betrachtet hatte.

»Warum stimmst du nicht in den Beifall ein?« schrie dieser ihn an.

Heinrich empfand nicht übel Lust, den Mann an der Kehle zu fassen. Aber er verlor seine Besonnenheit nicht.

Da holte der Kerl drohend mit dem Gewehrkolben aus. Heinrich schoß das Blut in die Schläfen. Wenn ihn jetzt die Beherrschung verließ, schlug er seinem Bedränger mit der Faust die Stirn ein. Im nächsten Augenblick würden ihn freilich die Umstehenden, die schon eine drohende Haltung annahmen, in Stücke zerreißen.

»Gib Beifall,« zischte der Freischärler, sinnlos vor Wut.

»Hoch! hoch!« rief Heinrich und zwang sein Gesicht zu einem Lächeln.

Da ließ der Mann von ihm ab, und der Kreis, der ihn umgab, öffnete sich.

Die schmetternden Klänge eines Horns hallten durch den Tumult. Alles lauschte nach der Richtung, aus der die Töne kamen. Auch Heinrich sah neugierig dahin. Da erkannte er, wie von der Seegasse her ein neuer[192] Trupp auswärtiger Kämpfer vor das Rathaus marschierte. Die Ankommenden waren über und über mit Staub bedeckt und durch einen anstrengenden Gewaltmarsch sichtlich sehr ermüdet. Aber die Mehrzahl hatte ihre straffe Haltung bewahrt, und der Anblick der Menge und deren jauchzender Beifall richtete auch die Mattgewordenen wieder auf. Alle trugen Gewehre über den Schultern und auf dem Rücken gepackte Ränzel.

Dem Äußeren nach zu urteilen, waren es Handwerker, bärtige Männer mit ernsten Gesichtern und schwieligen Händen, die daheim in der Werkstatt das Schurzfell abgebunden und Hobel und Hammer beiseite gelegt hatten, um das Werkzeug mit der Waffe zu vertauschen.

»Willkommen, Brüder! Woher des Wegs?« wurde ihnen von allen Seiten entgegengerufen.

»Von Schneeberg und Aue und Eibenstock!«

»Wo seid ihr heute früh aufgebrochen?«

»Seit Freiberg in einem unterwegs! Ihrer fünfzig treffen morgen noch ein.«

Die Menge raste in Verzückung.

Der Führer, ein hochgewachsener Mann, mochte seines Zeichens Schmied sein. Wie er, seine breiten Schultern leicht wiegend, in ungebeugter Haltung den Marschierenden voranschritt, zeigte er nicht die geringste Müdigkeit. In dem ernsten Gesicht zuckte kein Muskel. Das laute Beifallrufen schien keinen Eindruck auf ihn zu machen.

Jetzt ließ er seine Schar – wohl an die hundert Mann – vor dem Rathaus halten und Gewehr abnehmen. Auf dem Balkon stand Oberstleutnant Heinze, der Kommandant der Freischärler, und begrüßte die Angekommenen unter jubelnder Zustimmung der Menge.

[193]

Als der Wortschwall nicht enden wollte, riß dem ruhigen Handwerksmeister aus dem Erzgebirge die Geduld, und er rief mit kerniger Stimme dem Sprecher hinauf:

»Wie steht es um die Sache! Willigt die Regierung in die Verfassung ein?«

»Die bisherige Regierung hat aufgehört zu existieren,« antwortete der Oberstleutnant. »Es gibt keine anderen Machthaber in Sachsen, als die provisorische Regierung des die Knechtherrschaft niederwerfenden Volks!«

Bei diesen Worten lief eine Bewegung durch die Angekommenen.

»Wenn die Minister nicht mehr sind,« rief der Mann wieder, »mit wem verhandelt ihr denn dann?«

»Es gibt nichts mehr zu verhandeln,« antwortete es von oben herab. »Die Würfel sind gefallen! Wir kämpfen gegen die schandwürdigen Söldlinge der Tyrannei, die in dem Blut ersticken sollen, das um ihretwillen vergossen worden ist.«

Während dieser Wechselrede war es auf dem weiten Platz merkwürdig still geworden. Jeder bemühte sich, die gesprochenen Worte zu erhaschen.

»Das klingt aber doch ganz anders,« rief der Führer wieder, »als eure gedruckten Proklamationen, die ihr uns sandtet. Da hieß es, eine große bewaffnete Kundgebung sei unternommen, um den König von dem ernsten Willen des Volks zu überzeugen.«

»König?« – – – Kommandant Heinze lachte spöttisch auf. »Der König ist mitsamt seinen Ministern geflohen. Das Feld gehört uns! Und wir wollen den mit Bürgerblut gedüngten Acker bestellen, daß die Saat der[194] Freiheit herrlich aufgeht. Nieder mit allen Knechtenden des Volks! Hoch die menschenbeglückende Freiheit! Hoch die Revolution!«

Ein Sturm brauste über den weiten Platz. Hüte und Fäuste wurden in die Luft geworfen, und das Tosen von abertausend Stimmen schlug wie schäumende Brandung gegen die Häuser: »Hoch die Freiheit! Hoch die Reichsverfassung! Hoch die Revolution!«

Der starke Mann unter dem Balkon des Rathauses stand eine Sekunde lang wie versteinert. Dann wandte er sich zu seinen Leuten. Seine starke Stimme bebte in tiefer Bewegung, als er ihnen zurief:

»Ich brauche euch nach diesen Worten nichts mehr zu sagen! Ihr wißt jetzt alles …«

Ein einziger Ruf der Zustimmung aus hundert Kehlen unterbrach ihn.

»Die Gewehre übernehmen! Zweimal linksschwenkt marsch!«

Da flogen die Flinten auf die Schultern, und die ermüdete Schar trat mit neu erwachter Kraft den Weg wieder an, den sie vor wenigen Minuten gekommen war.

Bis zu diesem Augenblick hatte die Menge das Schweigen gewahrt, das nach dem Beifallsturm von neuem eingetreten war. Jetzt aber brach ein wahres Höllengeschrei aus, und die Abziehenden wurden mit Schmähreden und Schimpfworten überschüttet. Die Wildesten unter der Menge stellten sich der Kolonne entgegen und versuchten, ihr den Weg zu versperren. Aber die Marschierenden schlossen dicht auf, und vor ihrem energischen Ausschreiten wichen die Wutheulenden zur Seite.

Heinrich war aus unmittelbarer Nähe Zeuge dieses[195] Vorfalls gewesen, denn er hatte dicht neben dem großen Tor des Rathauses gestanden. Der Führer der Schar hatte ihm gefallen. Er mußte ein kernhafter Mann von altem Schrot und Korn sein. Auch seinen Leuten sah man die Achtbarkeit an und die knorrige Art ihrer Gesinnung. Schade, daß sie wieder abzogen! Das Toben der leidenschaftlich erregten Menge mußte jeden Vernünftigdenkenden allerdings mit Ekel erfüllen. Doch brachte eine bewaffnete Erhebung das wohl so mit sich.

Auch die überschwenglichen Worte des Kommandanten waren gerade nicht geeignet gewesen, die Abziehenden für die Sache zu gewinnen. Aber wuchert nicht auch zwischen den saftgeschwellten Halmen eines blühenden Kornfeldes allerlei Unkraut? Die braven Erzgebirgler müßten die Männer sehen, die auf den Barrikaden kämpften! Da würde ihnen das Herz aufgehen!

Andere Gedanken als diese kamen Heinrich nicht. Der junge Mann war ein reiner Tor und von der Lauterkeit der bürgerlichen Erhebung so durchdrungen, daß kein Argwohn in seiner Seele aufstieg. Er hatte niemand, der ihm die Binde von seinen Augen gelüftet hätte. So war er ein typischer Vertreter für viele. Der Advokat Marschall stand an der Spitze der Bewegung, Professor Richter, der Hofbaumeister Semper und andere Männer ohne Falsch, deren Namen mit Achtung genannt wurden. Das genügte Heinrich. Damit war bewiesen, daß das Volk berechtigt handelte! Hätte die Regierung die billigen Forderungen erfüllt, so wäre die Anwendung der Gewalt unterblieben. Anstatt aber nachzugeben, hatte sie das Volk vor den Kopf gestoßen – –

Heinrich hatte genug von dem Schreien, das seine[196] Sinne verwirrte und dessen Ende nicht abzusehen war. In seinem Magen wühlte der Hunger. Aber woher sollte er jetzt etwas zu essen bekommen! In eine abgelegene Gasse laufen, um ein noch geöffnetes Wirtshaus zu suchen, danach fühlte er kein Verlangen. Er war zu abgespannt. Seine Müdigkeit war größer als der Hunger. Die Schwäche mußte wohl noch eine Folge der Gehirnerschütterung sein, die er erlitten. Schlafen, nur schlafen!

Da sah er die hellerleuchtete, breite Hausflur des Rathauses und trat hinein. Drei Ratsdiener sperrten ihm den Weg. Er drängte den nächsten zur Seite und ging durch die Halle. Im Hintergrund entdeckte er eine Tür, die ins Freie führte.

Nun stand er auf dem Hof. Hier war es still. Der Lärm drang vom Altmarkt nur wie entferntes Summen herein. Das Schießen hatte wohl schon seit einer Stunde aufgehört. Jetzt mochte es elf Uhr sein. Der Himmel war bewölkt, und der Hof des Rathauses lag in tiefem Dunkel.

Heinrich stellte das Gewehr an die Wand und legte sich auf den Erdboden. Ah – wie das wohl tat! Und er fühlte, daß er zum Umsinken müde gewesen war. Nur jetzt nicht mehr denken, bloß schlafen.

Er versuchte, seinem Körper eine bequeme Lage zu geben, was ihm denn zuletzt auch leidlich gelang. Nur unter den zu tief liegenden Kopf hätte er gern eine Unterlage gehabt. Zwar war es empfindlich kühl, aber das würde ihn nicht sonderlich stören.

Da stieß er in seinem Bemühen, den Arm unter den Kopf zu legen, mit der Hand an etwas Hartes. Er richtete sich auf und sah sich um. Hinter ihm war ein[197] großer Haufen Steine, wie ihm schien, an der Wand aufgeschichtet. Schon halb im Schlaf beugte er sich zurück, ergriff einen und legte den Kopf darauf. So ging es besser. Doch was war das? Roch der Stein nicht wie Brot?

Vollständig ermuntert fuhr Heinrich auf und untersuchte den vermeintlichen Stein. Wahrhaftig, es war ein Brot! Hart zwar, aber doch Brot. Der wohlgesetzte Haufen war gewiß für die Verpflegung der Barrikadenkämpfer bestimmt. Da fühlte er mit einem Schlage wieder den nagenden Hunger, den er schon vergessen hatte.

Diese köstliche Entdeckung erschien ihm wie ein Wunder. Aber er grübelte nicht weiter nach, sondern zerbrach das Brot über dem Knie und fiel heißhungrig darüber her. Das schmeckte! Binnen kurzer Zeit hatte er die Hälfte aufgezehrt. Dann griff er noch einmal zurück, nahm ein zweites Brot und legte den Kopf darauf. Die Sättigung bereitete ihm Wohlbehagen, daß er sich vergnügt streckte. Madam Marschall, dachte er noch, Valentine – – – dann war er fest eingeschlafen.


[198]

Der Angriff auf das Turmhaus.

Elftes Kapitel

Als Kurt an jenem Abend von Valentine Abschied genommen und das Marschallsche Haus verlassen hatte, war das Mädchen noch eine Zeitlang in der Stube geblieben. Ihr ernstes Gesicht hatte deutlich verraten, wie der Abschied sie ergriffen. Sie wußte, daß es ein Lebewohl für immer gewesen war.

Der ritterliche Sinn des jungen Offiziers und sein vornehmer Charakter hatten auf Valentine, bald nachdem sie ihn kennen gelernt, einen tiefen Eindruck gemacht. Und sie hatte gefühlt, wie ihr Herz in seiner Gegenwart lauter schlug. So war nach kurzer Zeit für den jungen Offizier eine ungestüme Leidenschaft in ihr erwacht, die Valentine freilich vor aller Welt sorgfältig verbarg. Am ängstlichsten vor dem heimlich Geliebten selbst.

Aber warum hütete das Mädchen ihr zartes Geheimnis tief im Herzen? Warum verriet sie es selbst dann[199] nicht, als sie glückselig gewahrte, wie der Geliebte verstohlen um ihre Zuneigung warb?

Valentine war trotz ihrer Jugend bereits eine jener stillen Frauen, deren sittliche Kraft im Entsagen stärker sein kann, als die stürmischen Wallungen des Herzens. Sie wußte, daß zwischen ihr und dem Geliebten die verworrenen Zeitverhältnisse eine tiefe Kluft schufen, die sich von Tag zu Tag erweiterte.

Anfänglich war die politische Bewegung Gemeingut aller gewesen. Besonders in der königstreuen Bürgerschaft bis zu den höchsten Kreisen hinauf herrschte tiefe Verstimmung, und das sehnlichste Verlangen nach einem endlichen inneren Frieden erfüllte aller Herzen. Wohl gab es erhitzte Gemüter, die maßlose Forderungen in das Land hineinschrien. Aber sie waren in der Minderzahl, und ihr Gebaren wurde verurteilt.

Als die Partei der Gemäßigten im Laufe der weiteren Entwicklung aber sah, daß sie für ihre ruhig ausgesprochenen Wünsche bei der Regierung kein Gehör fand, als sie erkannte, wie oben die Verwirrung bis zur Kopflosigkeit wuchs, als sich die Spannung zwischen Landtag und den Regierungsvertretern stetig erhöhte und die Behörden, anstatt Nachgiebigkeit zu üben, scharfe Polizeimaßregeln ergriffen, da sah mancher wahrhaft vaterländisch Gesinnte sorgenvoll in die Zukunft, und die Anhängerschaft der Regierungsfeindlichen wuchs mit bedrohlicher Schnelligkeit.

Aber noch immer wurzelte das Programm der radikalen Partei im Boden der bestehenden monarchischen Staatsform.

Da schoß aus der Tiefe des leidenschaftlich bewegten[200] Volks plötzlich die Flamme der Unbotmäßigkeit hoch auf. Die Luft schien mit einemmal von einem berauschenden Element durchdrungen zu zu sein, das auch die Sinne der ruhig gebliebenen Kreise der Bürgerschaft allmählich umfing. Viele von denen, die bisher mit einer friedlichen Schlichtung der Wirrungen gerechnet hatten, erklärten sich jetzt für die Anwendung von Gewalt, denn sie fühlten ihr Hoffen enttäuscht und sahen keinen andern Ausweg.

Valentinens kühler Verstand hatte diese Entwicklung geahnt. Aus diesem Grunde war sie auf der Hut gewesen, daß die Stimme ihres Herzens dem Geliebten nicht verriet, wie es um sie stand. Sie kannte den ehrenhaften Charakter des jungen Offiziers nur zu gut und wußte, daß ihn seine politischen Anschauungen und die hohe Auffassung von seinem Beruf eines Tages von ihr trennen würden. Sie wollte ihn deshalb nicht an sich fesseln, um ihm und sich selbst den Schmerz der Entsagung zu erleichtern.

Noch erkannte das Auge des Unerfahrenen nicht die über aller Häuptern schwebende Katastrophe. Hofften doch selbst Männer, die das Leben reif gemacht, in blinder Harmlosigkeit so lange auf ein gütliches Ende, bis der Sturm losbrach und ihnen die Zügel der Führerschaft entriß.

Diese Empfindungen hatten Valentine unablässig erfüllt. Kurt mußte vor einem schweren inneren Kampf bewahrt bleiben! Sie war fest überzeugt, daß er von ihr gehen würde, auch wenn sich ihre Seelen gefunden. Aber er sollte sich nicht mit blutendem Herzen von ihr wenden. Deshalb kämpfte das Mädchen tagein, tagaus[201] einen verzweifelten Kampf gegen die stetig wachsende Leidenschaft in ihrem Herzen.

Lange hatte sie geschwankt, ob sie dem Geliebten nicht selbst die Augen öffnen sollte. Doch hatte Valentine dies immer wieder hinausgeschoben, weil auch sie die drohende Nähe der Gefahr nicht erkannte und ihr Herz bei dem Gedanken bebte, von ihm Abschied nehmen zu müssen. Selbst als sie wußte, daß sie für die rücksichtslose Anwendung der schärfsten Gewalt mit noch größerer Entschiedenheit eintrat, als viele Männer, hatte sie nicht vermocht, sich von Kurt zu trennen. Bis Valentine endlich nach furchtbaren Seelenkämpfen ihr Herz besiegt und den Geliebten um seinen letzten Besuch gebeten hatte, der ihren Abschied bringen sollte.

Da hatte sich während weniger Stunden jener große Umschwung der politischen Verhältnisse vollzogen, und die Binde war von Kurts Augen gefallen. Aus freiem Antrieb war er gekommen, um zu erklären, daß ihn Pflicht und politische Überzeugung zwängen, den väterlichen Freund nunmehr als Gegner zu betrachten. Und als sie sich zum Abschied die Hand gereicht, hatte Valentine noch einmal den vornehmen Charakter des Geliebten im Blick seiner Augen empfunden.

Wie auch die Zeiten sich immer gestalten würden, sie wußte, es war ein Abschied fürs Leben. In steifer Haltung, die Hand schwer auf den Tisch gestützt, hatte Valentine dem Gehenden nachgesehen. Als seine Gestalt in der Tür verschwand, war es ihr, wie wenn Eiseskälte nach ihrem Herzen zog. Und sie mußte alle Kraft aufbieten, um die drohende Schwäche zu überwinden.

Endlich hatte sie den Blick von der Tür gewandt[202] und war mit steifen Schritten zu der kranken Mutter hinaufgegangen.

Frau Marschall lag in hohem Fieber. Valentine hieß Anna gehen, um während der Nacht allein bei der Kranken zu bleiben. Wie Professor Richter angeordnet, kühlte sie unaufhörlich die heiße Stirn der Mutter mit kaltem Wasser und bot ihr für den brennenden Durst erfrischende Zitronenlimonade.

Es war gerade jene Nacht, in der die Aufrührer an dem Bau der Barrikade bei Stadt Gotha mit Anspannung aller Kraft arbeiteten.

Valentine saß neben dem Bett und wendete kein Auge von der kranken Mutter und achtete auf deren leiseste Bewegung. Die kleine Öllampe verbreitete in der Kammer einen trüben Schein. Von der nahen Schloßgasse drangen die aufgeregten Rufe der fieberhaft Arbeitenden herein. Die schweren Hammerschläge hallten von dem harten Granit laut durch die stille Nacht und bereiteten der Kranken fürchterliche Pein. Sie warf sich im Bett ruhelos hin und her und stieß in der Fieberhitze unaufhörlich wirre Worte aus.

Kurz nach Mitternacht kehrte Valentinens Vater in höchster Abspannung nach Hause zurück. Bevor er gegangen, hatte er lange geschwankt, ob er seine kranke Frau verlassen durfte, bis er es gegen Abend mit schwerem Herzen endlich doch getan hatte. Jetzt, wo die Lage so bedrohlich geworden, war es dringend notwendig, daß die besonnen Gebliebenen ihren Einfluß geltend machten. Die Stimme seines Herzens mußte schweigen, denn das Wohl und Wehe vieler stand auf dem Spiel. Und was würde man sagen, wenn er, einer der Führer[203] der Bewegung, in der entscheidenden Stunde an seinem Platz gefehlt hätte?

Die letztvergangenen Tage hatten Marschall große Aufregung und harte Anstrengung gebracht. Und die plötzliche schwere Erkrankung seines guten Weibes, das er voll Zärtlichkeit liebte, hatte ihn fast zusammenbrechen lassen.

Dazu quälten ihn die ersten bösen Zweifel, ob es recht gewesen, daß er der unaufhaltsam steigenden Erregung, soweit seine Kräfte reichten, nicht Einhalt getan hatte. Wohl wußte er sich frei von dem Vorwurf, das Feuer der Empörung frivol geschürt zu haben, – er hatte immer zur Mäßigung geraten. Aber hätte er sein Ansehen zugunsten einer ruhigeren Entwicklung nicht noch energischer geltend machen können?

Der alte Mann mit dem weichen Gemüt beugte sich über die Bewußtlose und küßte ihre heiße Stirn. Die Kranke schreckte zusammen und murmelte unverständliche Worte. Tief erschüttert sank Marschall auf einen Stuhl. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt.

Da trat Valentine hinzu und nötigte ihn, sich zur Ruhe zu begeben. Sie sah, wie gebrochen ihr Vater war, und fühlte, wie er litt. Aber er wehrte ab und wollte mit ihr wachen. Endlich gelang es ihrem Zureden, daß er sich zu Bett legte. Ihre ruhigen Worte machten ihn sichtlich gefaßter. Er bewunderte im stillen die seelische Stärke seiner Tochter und schämte sich seiner Weichheit.

Als der Vater die Kammer verlassen hatte, setzte sich Valentine wieder an das Bett. Auch auf sie stürmten Zweifel ein. Aber sie schalt sich schwächlich und verscheuchte[204] unwillig diese Anwandlung. So wie es jetzt stand, hatte es kommen müssen. Ja die Bewegung mußte weiterschreiten, – bis zum Äußersten! Sonst wäre die Tätigkeit der Führer doch nur das Spiel unreifer Knaben gewesen.

Man stritt um die höchsten Güter des Volks! Jetzt gütlich beigeben, wäre schimpflich. Ein Zurück gab es nicht mehr. Es war gut, daß alles auf des Messers Schneide stand. Willigte die Regierung nicht noch in letzter Stunde in die Forderungen, so mochte die alte Form zerbrechen. Die nächsten Tage würden den Herrschenden zeigen, daß mit der Geduld des langmütigen Volks kein Mißbrauch getrieben werden durfte. Seine Wünsche mußten erfüllt werden. Sonst trat es die bestehenden Gesetze in Grund und Boden!

Valentine schloß während der ganzen Nacht kein Auge und verrichtete ihren Dienst mit peinlicher Sorgfalt. Erst gegen Morgen wurde die Kranke ruhiger und verfiel endlich in einen tiefen Schlaf, aus dem sie auch der Lärm nicht weckte, der mit dem anbrechenden Tag auf den Gassen verstärkt wieder anhob.

Als Professor Richter gegen Mittag Frau Marschall besuchte, war sie eben erwacht. Wenngleich sie sehr schwach war, fand er ihren Zustand doch viel besser und erklärte, daß jetzt alle Gefahr vorüber sei. Advokat Marschall, der inzwischen schon wieder ein paar Stunden auf dem Rathaus gewesen war, mußte an sich halten, daß er vor dem Bett nicht niedersank. Voll tiefer Rührung strich er mit der Hand zärtlich über die bleichen Wangen der Kranken, die ihm seine Liebe mit dankerfüllten Blicken lohnte. An das Verlassen des Betts war vorläufig[205] freilich nicht zu denken. Doch sollten der Kranken kräftigende Speisen gereicht werden.

Die Gesundung ging nunmehr rasch vorwärts, denn Frau Marschall besaß eine kräftige Natur. Am nächsten Tag war sie schon ohne Fieber und konnte sich im Bett aufsetzen, und der Appetit wurde rege. Während der darauffolgenden Nacht schlief sie bis zum Morgen.

Valentine wich nicht von dem Bett der Mutter und blieb auch nachts in deren Kammer. Advokat Marschall war tagsüber immer abwesend. Ab und zu kam er atemlos nach Hause geeilt. Wenn er die weiterschreitende Besserung gewahrte, hellte sich sein sorgenerfülltes Gesicht auf, und er setzte sich neben die Kranke und plauderte zärtlich mit ihr.

Aber die beiden Frauen sahen, wie ihn die Unruhe quälte. Deshalb hielten sie ihn nicht zurück, wenn er sie nach kurzer Zeit voll Hast wieder verließ. Er vermied auch, von den Vorgängen in der Stadt zu sprechen, und empfand es mit stillem Dank, daß ihn niemand danach fragte. Mutter und Tochter schwiegen auch zueinander darüber, als ob eine heimliche Vereinbarung unter ihnen bestünde.

Frau Marschall ahnte, daß sich die Lage aufs höchste verschärft hatte und seufzte zuweilen verstohlen. In Valentine aber frohlockte es. Das Getöse auf der Straße verriet ihr, daß man das begonnene Werk nicht schmachvoll im Stich lassen wollte.

Am darauffolgenden Donnerstag kam Professor Richter erst spät abends und verordnete, daß die Kranke noch acht Tage im Bett bleibe. Sie sei sehr von Kräften[206] gekommen, und man müsse auf der Hut sein, damit kein Rückfall eintrete.

Er erzählte, das Linienregiment Albert habe das Schloß besetzt, und bei dem Versuch, das Zeughaus zu stürmen, sei das erste Blut geflossen. Stundenlang hätte er an den Verwundeten schwere Operationen vornehmen müssen, daß er ganz abgespannt sei. Auch wäre er vom Sicherheitsausschuß beauftragt worden, in Gasthäusern und Schulen Lazarette zu errichten. Für diesen Zweck müsse er Pflegepersonal anwerben und für Betten, Instrumente und Verbandzeug sorgen. Nun fehlten freilich noch die Ärzte, und die wolle er in dieser Nacht gewinnen. Die Lage sei schlimm. Schon der nächste Tag könne schwere Kämpfe bringen.

Mit diesen Worten verabschiedete er sich. Die beiden Frauen blieben wach, um den Vater zu erwarten. Als dieser eine Stunde darauf aber noch nicht zurückgekehrt war, löschte Valentine die Lampe aus und begab sich zur Ruhe.

Am Morgen in aller Frühe wurden sie durch heftiges Gewehrfeuer geweckt. Valentine kleidete sich rasch an und beruhigte die bestürzte Mutter. Dann eilte sie in die Kammer des Vaters. Sein Bett war unberührt; – er war während der Nacht nicht nach Hause gekommen.

»Der Vater ist spornstreichs auf das Rathaus gelaufen,« sagte sie zu der Kranken, um sie nicht noch mehr zu ängstigen. »Sobald sich ihm eine freie Viertelstunde bietet, kommt er nach Hause. Ich will nur gleich einmal die Anna auf die Gasse schicken, damit wir erfahren, was das Schießen bedeutet.«

[207]

Nach kurzer Zeit kam Anna mit allen Zeichen des Entsetzens zurück. Der König und die Minister seien geflohen, und der Aufstand wäre ausgebrochen. Die Truppen schössen vom Schloß aus nach Stadt Gotha und die bürgerlichen Kämpfer von der Barrikade nach dem Schloß. Soeben habe man in die Apotheke am Altmarkt die ersten Verwundeten gebracht.

Das Gewehrfeuer schwieg während des ganzen Tages nicht, und der Lärm auf der Gasse wuchs von Stunde zu Stunde.

Frau Marschall lag stumm in den Kissen, und Valentine erriet, daß die Mutter schwere seelische Qualen litt. Aber kein Wort der Klage kam von den Lippen der Kranken. Der Gedanke an den Gatten bereitete ihr fürchterliche Pein. Er war einer der Führer der Aufständischen! Und sie dachte an die große Verantwortung, die er auf sich gehäuft. Solange die Leiter der Bewegung aufgeregte Reden gewechselt hatten, war sich vielleicht keiner des furchtbaren Ernstes bewußt gewesen, der hinter ihren Worten stand.

Jetzt war das Spiel mit Worten aus, und die Flamme des Bürgerkriegs war zischend aufgefahren!

Am Nachmittag trat Herr Marschall überraschend in die Kammer. Sein Gesicht war verstört. Aber die Frauen erkannten, daß er das Schwere, was ihn drückte, mit Fassung trug. Frau Marschall wollte ihm im ersten Aufwallen ihres Herzens die Hände entgegenstrecken. Aber sie tat es nicht, weil sie glaubte, ihr Trost könne ihn nur noch mehr bedrücken.

Wie immer unterließ es Marschall, von den Kämpfen mit den Truppen zu sprechen. Dafür erzählte er, daß[208] Stadtrat Meisel und einige andere Ratsmitglieder sich heute morgen zum Stadtkommandanten begeben hätten, um mit ihm zu unterhandeln. Für diesen Abend sei eine weitere Verhandlung mit General Schulz verabredet worden, an der auch er teilnehmen wolle. Die alte Regierung bestünde nicht mehr. Wenn es gelänge, die Truppen zu bewegen, die provisorische Regierung anzuerkennen, wäre der Aufstand beendet.

Frau Marschall schöpfte bei diesen Worten Hoffnung und wünschte den Verhandlungen einen glücklichen Erfolg. Valentine aber blieb stumm.

Dann legte sich Advokat Marschall auf ein paar Stunden nieder und verließ gegen Abend wieder das Haus. Bald darauf kam Professor Richter für wenige Minuten. Er brachte einen alten, zuverlässigen Mann mit, der im Hause bleiben sollte, damit die Frauen des männlichen Schutzes nicht gänzlich entbehrten. Auch riet er, die Haustür immer verschlossen zu halten.

Den Zustand der Kranken fand Professor Richter vortrefflich. Frau Marschall war vollständig fieberfrei. Er erzählte, daß immer mehr Verwundete hereingebracht würden, und welche Schwierigkeiten es habe, genug Pflegerinnen zu finden. Für die Lazarette hätte er zur Not ausreichend bekommen. Aber hinter den Barrikaden wolle keine Samariterdienste tun. Der Transport der Verwundeten nach den Lazaretten werde so verzögert, daß oft die Verletzten erst als Sterbende gebracht würden. Viele Kämpfer wollten wegen der Verwundeten nicht aus dem Gefecht weichen. Doch gäbe es auch eine große Anzahl von Maulhelden, die schwadronierend durch die Gassen zögen und nicht Hand anlegten. Allein im Hotel[209] Stadt Rom hätten sich heute nachmittag drei Verwundete verblutet, weil man sie zu lange liegen gelassen.

Als Valentine dies hörte, richtete sie sich steil auf. Da fiel ihr Blick auf die Mutter. Und sie zwang die Worte zurück, die ihr auf der Zunge lagen.

Während sich Professor Richter zum Gehen anschickte, trat Friedchen in die Kammer. Ihr Haar war wirr und ihr Gesicht verängstigt.

»Wann wird denn nun endlich die gräßliche Schießerei aufhören, Herr Professor,« klagte sie, »man kommt gar nicht mehr dazu, seine Lektüre mit Andacht zu genießen. Wie schwer einem das bißchen Leben doch gemacht wird! Kaum hat man sich mühsam in eine gefühlvolle Stimmung hineingelesen, knallen auch schon wieder die Flinten roh dazwischen.«

Professor Richter sah verständnislos in Friedchens bekümmertes Gesicht. Zwar kannte er sattsam ihre Schrullen, aber angesichts der furchtbaren Wirklichkeit, daß nur wenige Schritte vom Hause entfernt der mörderische Kampf tobte, fand er keine Antwort. In Eile griff er nach seinem Hut und empfahl sich.

Friedchen blieb noch eine Weile sitzen und barmte über die böse Zeit. Warum die Menschen nicht mit dem zufrieden wären, was sie besäßen. Es gäbe doch keinen, der alles hätte, was er sich wünsche. Wer aber satt zu essen habe und öfters in ein gutes Buch sehen könne, der begehe wahrhaftig einen Frevel, wenn er dann noch unzufrieden sei. Was wollten denn die Leute eigentlich! Früher waren die Menschen besser! Erst seit kurzer Zeit sei alles außer Rand und Band. Nun stellten sie sich gar noch auf die Straße und molestierten die Friedfertigen mit[210] ihrem Geschieße, wodurch doch nur Unglück passiere. Man könne nicht immer bloß während der Nacht lesen, das verdürbe die Augen. Und versuchte man, tagsüber ein paar Stunden zu schlafen, so verhinderte einen wieder das ewige Geknalle daran, Ruhe zu finden.

Weder Frau Marschall noch Valentine hatten versucht, den Wortschwall zu unterbrechen. Gegen Tante Friedchens Einfältigkeit war nicht anzukämpfen.

Viele Jahre lang hatte Frau Marschall unsägliche Mühe darauf verwendet, die in ihrem Hause lebende jüngere Schwester zu ernster Arbeit zu bewegen. Vergebens. Jeden freundlichen Zuspruch hatte sie unter heftigem Weinen angehört. Jetzt ließ man sie in Ruhe.

Friedchen war harmlos und gutmütig und gab von ihrem ererbten Kapital den Armen reichlich. Sie half Wohltätigkeitsanstalten gründen und unterstützen und hielt im Kreise gleichgesinnter Kaffeeschwestern lange und verworrene Reden, mit besonderer Vorliebe über die Veredelung des Menschengeschlechts. Damit war ihre Tätigkeit aber auch zu Ende. Den übrigen Teil ihres unschuldsvollen Lebens verbrachte sie mit Lesen. Sie verschrotete die Bücher zentnerweise und die süßlichsten waren ihr die liebsten. In den Leihbibliotheken der Stadt war sie wie zu Hause. Konnte sie eines neuen Buches habhaft werden, so verschlang sie es und brauchte unterdessen weder leibliche Nahrung noch Schlaf. –

Am nächsten Vormittag trat Valentine in Friedchens Stube. Die Tante saß im Nachtgewand auf der Bettkante und war in das auf ihren Knien liegende Buch so vertieft, daß sie Valentinens Kommen überhört hatte. Es mußte ihr sehr kalt sein, denn sie war unwillkürlich ganz in sich[211] hineingekrochen. Aber ihre Augen glänzten, und auf den Wangen des übernächtig bleichen Gesichts stand ein roter Tupf.

»Guten Morgen, Friedchen! Ich dachte, du schliefest noch,« sagte Valentine.

Friedchen wachte wie aus einer fernen Welt auf und sah die Nichte verständnislos an, bis sie deren Worte begriffen hatte.

»Schlafen? Ich schlafen? Wer könnte denn bei einem solchen Buch ein Auge zutun! Du vielleicht? Ach ja, du bist doch ganz anders, als ich. Nein, Valentinchen,« setzte sie mit einem verzückten Augenaufschlag hinzu, »dieser himmlische Clauren!«

Valentine überhörte die herausgesprudelten Worte.

»Ich bin gekommen, um mit dir etwas zu besprechen,« erwiderte sie ernst.

»Rein vergessen kann man sich dabei. Clauren! Clauren!«

»Hörst du das heftige Feuern in der Stadt?« fragte Valentine.

Friedchen horchte.

»Wahrhaftig,« rief sie weinerlich, »nun schießen sie schon wieder.«

»Seit vier Stunden bereits,« versetzte Valentine trocken.

Mit diesen Worten nahm sie der Tante das Buch aus den Händen, klappte es zu und legte es auf den Tisch.

»Aber Kind, warum tust du denn das, ich möchte doch –« jammerte Friedchen.

»Weil ich mit dir sprechen muß,« unterbrach sie das Mädchen mit ruhiger Bestimmtheit. »Höre mich aufmerksam an. In einer Stunde gehe ich von Hause fort.[212] Auf wie lange, weiß ich nicht. Unterdessen sollst du die Mutter pflegen.«

Friedchen sah der Sprechenden fassungslos ins Gesicht.

»Du – gehst – fort?« sagte sie mit Grabesstimme und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Valentine nickte.

»Einige Tage werde ich nicht zu Hause sein, vielleicht auch länger. Wer kann's wissen.«

»Jetzt willst du hinaus auf die Gasse, wo es draußen so gefährlich ist? Und auf so lange Zeit? Was willst du denn eigentlich tun? Du wirst doch nicht etwa mit schießen wollen?«

»Nein,« antwortete Valentine, »ich werde nicht kämpfen. Aber die Verwundeten will ich pflegen helfen!«

Friedchen starrte die Nichte an. Auf ihrem Gesicht stand grenzenlose Bestürzung. Endlich rief sie:

»Ja, wie kommst denn du gerade dazu? Laß das doch die andern tun!«

»Es werden Pflegerinnen gebraucht, und wie Professor Richter erzählte, herrscht großer Mangel daran. Deshalb will ich ihm meine Dienste anbieten.«

Friedchen schauerte in sich hinein und zog die Zipfel der Nachtjacke über der Brust zusammen.

»Valentinchen, liebes Kind, bleib' hier und laß die draußen ihre Kranken allein warten,« wimmerte sie. »Warum haben sie angefangen.«

Da setzte sich das Mädchen neben die Zusammengesunkene und legte den Arm um ihre zuckenden Schultern.

»Denkst du nicht daran, daß der Vater einer von denen ist,« sagte sie mit tiefernster Stimme, »die das Volk so[213] weit gebracht haben? Aber wie du ihn kennst, wirst du auch überzeugt sein, daß er nicht leichtsinnig gehandelt hat. Jetzt ist keine Zeit, zu klagen; nun kämpfen sie. Denk' an alle die armen Verwundeten, Friedchen, die nichts davon verstehen, ob die Führer des Aufstands unrichtig gehandelt haben. Sie setzen einfach ihr Leben ein, weil ihnen der Kampf heilig gilt. Manche Mutter draußen im Lande wird sich um ihren Sohn ängstigen, der voller Begeisterung alles im Stich ließ – auch sie. Und während sie in Sorge vergeht, liegt er vielleicht schwer getroffen und hilflos hier auf der Gasse. Jetzt gilt es, Schmerzen zu lindern und nicht danach zu fragen, wie alles gekommen ist.«

Tante Friedchen schluchzte laut und nickte wiederholt.

»Du hast recht, Kind,« sagte sie weinend, »aber ich kann wirklich nicht mit dir gehen. Huh, mir graust, wenn ich nur daran denke, einen verwundeten Menschen pflegen zu müssen. Ich kann nun einmal kein Blut sehen.«

»Bleibe ruhig daheim,« tröstete Valentine, »du sollst ja die Mutter pflegen.«

»Ja, das will ich tun,« rief Friedchen entschlossen, »meiner armen Schwester soll es wahrhaftig an nichts fehlen, während du fort bist. Nur verlange nicht, daß ich dich begleite. Aber du könntest doch etwas mitnehmen für die Kranken, damit sie nicht zu frieren brauchen.«

Dabei griff sie mechanisch um sich und deutete unsicher auf ihren wollenen Unterrock.

»Oder Geld,« setzte sie hastig hinzu, als sie Valentinens stumme Ablehnung sah. »Ich werde dir alles mitgeben, was ich zu Hause habe.«

[214]

Valentine stand auf.

»Kleide dich nur rasch an,« versetzte sie, sich zur Tür wendend, »und komm herunter. Unterdessen will ich's der Mutter sagen.«

Als Friedchen eine halbe Stunde darauf in die Kammer der Kranken trat, stand Valentine schon zum Fortgehen bereit am Bett der Mutter, die die Hand ihrer Tochter mit beiden Händen umfaßt hielt. Keins von ihnen sprach ein Wort; ihre Blicke ruhten zum letztenmal stumm ineinander. Sie dachten wohl daran, daß sie sich nicht wiedersehen würden.

Valentine hatte ihren Wunsch nur mit wenigen Worten zu erklären brauchen. Die Kranke hatte ein paarmal tief geatmet, dann war sie wieder still geworden. Sie verstand alles! Eine köstliche Ruhe war über sie gekommen. Wie Valentine hoch aufgerichtet neben dem Bett gestanden und sie angesehen, wußte die Kranke, daß eine tiefe Wandlung im Innern ihres Kindes erfolgt war. Die Mutter hatte immer einen kühlen Hauch verspürt, wenn Valentine in den letzten Wochen mit männlichem Sinn davon gesprochen, daß das Volk aufstehen müsse. Jetzt sprach ihr Herz. Und was Valentine zur Ausführung ihres Entschlusses drängte, war ja der Gedanke an den Vater!

»Mein mütterlicher Segen begleitet dich, mein Kind,« sagte Frau Marschall und küßte Valentinens Lippen.

»Gott behüte dich, Mutter,« antwortete diese mit zuckendem Mund, »grüße den Vater!«

Dabei glitt ihre Hand schmeichelnd über das schmale Gesicht der Liegenden und über das glattgestrichene, silberglänzende Haar.

[215]

Wortlos reichte Valentine der Tante die Hand. Friedchen war so ergriffen, daß sie unter fließenden Tränen nur ein paar kurze Abschiedsworte stammeln konnte. Dann wandte sich Valentine zum Gehen.

An der Türe blieb sie plötzlich stehen und blickte zu dem Bett zurück. Während einer knappen Sekunde sahen sich Mutter und Tochter noch einmal stumm in die Augen. Der ganze furchtbare Ernst des Abschieds lag in diesem Blick. Die Kranke erkannte die bange Herzensnot der Tochter, und ein trostreiches Lächeln verklärte ihr stillfriedliches Gesicht. Da lächelte auch Valentine und nickte der Mutter zum letztenmal zu. Im nächsten Augenblick schloß sich die Tür hinter ihr.

Frau Marschall schaute eine lange Weile regungslos auf die leere Stelle. Dann schauerte sie zusammen, wandte ergebungsvoll das Gesicht nach der Wand und sagte mit schwacher Stimme:

»Friedchen, laß mich jetzt allein.«


Zwölftes Kapitel

Während des ganzen Tages hielt das Gewehrfeuer ununterbrochen an. Die Kranke lag fast immer mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und antwortete kaum auf Friedchens Plaudern. Da regte sich das Zartgefühl in Friedchens Brust, und sie erwähnte fortan die Abwesende nicht mehr.

Herr Marschall war tagsüber nicht nach Hause gekommen. Und nachdem gegen Abend Anna mit großer Entrüstung erzählt hatte, daß der fremde Mann, den[216] Professor Richter mitgebracht, soeben heimlich auf und davon gegangen sei, waren die Frauen allein im Hause. Friedchen und Anna horchten ängstlich, wenn auf der Gasse ein schreiender Haufe vorüberzog und wagten nicht, an die Fenster zu treten.

Die Dunkelheit war hereingebrochen, und Friedchen stand gerade im Begriff, die Lampe anzuzünden, als es mit einem Male an der Haustür klopfte. Es war der hungernde Heinrich, der Einlaß begehrte. Geschwind blies Friedchen das Streichholz aus und blieb vor Schreck eine Weile regungslos stehen. Gleichzeitig kam Anna eilends aus der Küche herbei und lehnte entschieden ab, die Tür zu öffnen und nachzusehen. Übrigens würde sie hier in der Kammer während der Nacht auf einem Stuhle schlafen.

Bald darauf klopfte es noch mehrere Male. Friedchen und Anna drängten sich geängstigt aneinander und jammerten leise.

»Möchtest du nicht einmal zum Fenster hinaussehen?« fragte Frau Marschall die Schwester.

Friedchen wehrte mit beiden Händen ab und flüchtete in eine Ecke der Kammer. Zu sprechen wagte sie nicht.

Da dröhnte die Tür unter den Kolbenstößen des vor dem Hause ungeduldig Wartenden.

Anna bedeckte das Gesicht mit der Schürze, während Friedchen sich auf das andere Bett warf und einen Weinkrampf bekam. So blieben die drei Frauen, kaum wagend sich zu rühren, in dumpfem Schweigen beieinander, bis in der Nacht Herr Marschall nach Hause kam.

Jetzt machte Anna Licht und begleitete Friedchen in die nebenliegende Kammer, wo sich beide in ihren Kleidern auf ein Sofa legten.

[217]

Frau Marschall bemerkte die seelische und körperliche Erschöpfung ihres Mannes.

»Setz' dich noch eine Weile zu mir, Hermann,« bat sie in weichem Tone, »bevor du zu Bett gehst.«

Advokat Marschall ließ sich neben dem Bett seiner Frau nieder. Seine Kraft war zu Ende. Regungslos starrte er vor sich hin. Endlich sah er müde auf.

»Wo ist Valentine?« fragte er.

Mit unendlicher Schonung erzählte die Kranke des Mädchens Entschluß. Da bedeckte der alte Mann die Augen mit beiden Händen, lehnte sich zurück und blieb eine lange Zeit stumm. Valentine! Sein Kind, an dem sein ganzes Herz hing! Jetzt stand auch sie unter den Kämpfenden! Daß sie gegangen, nur um die Leidenden zu pflegen, vermochte er kaum zu glauben. Er kannte ihren aufflammenden Sinn – –

Als er heute den langen Zug der Verwundeten gesehen und ihr Wimmern und die bittern Anklagen und Verwünschungen gehört, hatte ihm das Herz brechen wollen.

O! wie fürchterlich lastete doch die Verantwortung auf ihm!

Als auch er sich dafür erklärte, daß das Volk die Erfüllung seiner Forderungen erzwingen müsse, hatte er mit vielen Anderen geglaubt, die Regierung würde den Kampf nicht annehmen, sondern nachgeben. Statt dessen blieb sie fest. Und nun dieser entsetzliche Zustand!

»Leg' dich nieder, lieber Mann,« sagte Frau Marschall sanft und streichelte seine Hand.

Da stand der Schwergeprüfte auf, beugte sich über seine Frau und ließ es geschehen, daß sie ihre Arme um seinen Hals schlang und ihn wie ein Kind herzte und[218] wieder und immer wieder küßte. Mit übermenschlicher Kraft mußte er an sich halten, daß er nicht vor Verzweiflung laut aufschrie.

Advokat Marschall konnte trotz seiner großen Müdigkeit keinen Schlaf finden. Von schweren Gewissensbissen gepeinigt, warf er sich im Bett hin und her. Im Hause war es totenstill. Auch von der Gasse drang kein Laut herein. Die alte Standuhr in der Wohnstube verkündete feierlich die abgelaufenen Stunden. Aus ihren gemessenen Perpendikelschlägen hörte er eine Stimme heraus, die heftige Anklagen gegen ihn ausstieß. Ab und zu hallte von fernher ein einzelner Schuß durch die schweigende Nacht. Sonst herrschte lautlose Stille.

Auf den Gassen war es menschenleer. Nur hinter den Barrikaden lagerten um eine einsame Laterne herum in der empfindlichen Kälte der Frühlingsnacht die todesmatten Schläfer, das Gewehr im Arm. Vielleicht gaukelten liebliche Bilder vor ihrer Seele, und sie sahen sich im Traum in der Heimat friedlich mit ihren Lieben vereint. Nur wenige Stunden noch. Dann flammte über der Dreikönigskirche purpurn das Frühlicht auf, und die Blutarbeit begann wieder.

Aus den Wassern des Stroms stiegen die Nebelfrauen herauf und fegten durch das Elbtal, ihre langen Gewänder hinter sich herschleifend. Dann fuhren sie über das hartgeprüfte Land. Wo sie eine Mutter oder Gattin wußten, die bleich hinter dem Fenster wachte und mit verhärmten Augen nach ihrem Teuern in die Nacht hinaussah, ließen sie ihre Schleier gleich Leichentüchern auf- und niederwallen. Vor jenem Felsen aber, auf dem hoch droben Sachsens König einsam weilte, liehen sie sich[219] die Kräfte des Sturms. Hohle Klagelieder singend, umflatterten sie die schweigende Feste, schlugen an das eiserne Tor und rüttelten an den Fenstern.

An dem dunkeln Nachthimmel funkelten die Sterne in hellem Glanz, unbekümmert um den Hader der törichten Menschlein tief drunten, die sich voll Erbitterung zerfleischten, als wäre ihnen nie das Wort erklungen: Friede auf Erden!

Und wie in den zur Verteidigung hergerichteten Häusern und hinter den Barrikaden die bürgerlichen Kämpfer, so lagerten vor den Mauern des altehrwürdigen Königschlosses der Wettiner, im Zwinger und auf der Brühlschen Terrasse die stark erschöpften Truppen. Die heftigsten Vorwürfe waren ihnen von den Gegnern zugeschleudert worden, daß sie sich nicht scheuten, auf ihre Brüder und Väter zu schießen. Aber sie hielten ihren Treuschwur!

Das Andenken an diese braven Soldaten wird nicht untergehen. Mit helleuchtender Schrift ist in das Buch der Geschichte eingeschrieben: Sie waren Helden!

Und während im Rathaus, wo sonst für das Wohl der sächsischen Hauptstadt gewirkt wurde, bis zum frühen Morgen die Leitenden der bürgerlichen Kämpfer sich berieten, waren drüben im Blockhaus die Führer der Truppen vereinigt. An ihrer Spitze stand jener Mann von eisernem Willen, der für die Niederwerfung des Aufstands mit schärfster Gewalt eintrat: Kriegsminister Rabenhorst.

Advokat Marschall lag, von fürchterlichen Seelenqualen gepeinigt, schlaflos auf seinem Lager. Er konnte in der Dunkelheit, die in der Kammer herrschte, seine Frau[220] nicht sehen. Aber ihre Atemzüge verrieten ihm, daß auch sie wachte.

»Schläfst du?« fragte er einmal leise.

»Zerquäle dich nicht, mein guter Hermann,« antwortete Frau Marschall mild, »schlaf!«

Da schwieg er und starrte mit weitgeöffneten Augen in die pechschwarze Finsternis hinein.

In dieser Nacht hielt Advokat Marschall Gericht über sich. Und als er das Soll und Haben seiner irdischen Rechnung lange betrachtet und sorgfältig verglichen hatte, blieb trotz eines ansehnlichen Guthabens eine Schuldsumme als Rest. Diese Erkenntnis raubte ihm alle Hoffnung. Und er wußte nunmehr, daß sich in seinem Lebenskelch nur noch eine schale Neige befand.

Endlich ging diese furchtbare Nacht ihrem Ende zu.

Als die ersten Morgenstrahlen Marschall aus seinem kurzen Schlummer weckten, bedeckte kalter Schweiß seinen Körper. Da gedachte er seiner Pflicht, die ihn aufs Rathaus rief. Entschlossen stand er auf und kleidete sich an. Seine leisen Hantierungen weckten seine Frau.

»Wie geht dir's?« fragte er zärtlich und trat an ihr Bett.

Frau Marschall sah ihren alten, treuen Lebensgefährten mit einem Blick voll unaussprechlicher Liebe an.

»Du solltest bis zu Mittag im Bett bleiben,« erwiderte sie. »Tu mir's zuliebe, Hermann!«

Marschall schüttelte den Kopf und sagte mit Nachdruck:

»Jetzt, wo alles auf dem Spiel steht, gehöre ich auf meinen Platz.«

Da versuchte es Frau Marschall nicht noch einmal, ihren Mann zum Bleiben zu bewegen.

[221]

Inzwischen hatte Anna Kaffee gekocht und brachte ihn herein.

»Der schöne Sonntagmorgen,« sagte sie, das Fenster öffnend, »heute werden wir die Glocken vom Kreuzturm wohl nicht zu hören kriegen.«

Als unmittelbare Antwort darauf krachte von der Schloßgassenbarrikade her ein Schuß, dem alsbald weitere folgten. Nach wenigen Minuten war das Gewehrfeuer wieder zu seiner vollen Stärke angewachsen, um bis in die sinkende Nacht anzuhalten.

Frau Marschall hatte beim Rollen des ersten Schusses verstohlen geseufzt. Als sie aber sah, wie ihr Mann verstört auffuhr, haschte sie nach seiner Hand und zog sie auf das Deckbett nieder.

»Bleibe noch eine Weile bei mir,« bat sie weich. Daß sie aber plötzlich eine große Bangigkeit verspürte, verschwieg sie ihm. Da schlugen die Uhren von den Kirchtürmen die vierte Morgenstunde.

»Hier riecht es ja so sengrig,« sagte Anna, als sie wieder hereinkam, um das Kaffeegeschirr zu holen.

Auch Advokat Marschall verspürte jetzt den Geruch. Er ging zum Fenster und sah eine Sekunde lang die Brüdergasse nach dem Zwinger hinab. Und als er sich wieder umwandte, war sein Gesicht kreidig. Mit ungeheurer Anstrengung sagte er:

»Die Rasenden! Jetzt haben sie das Opernhaus angezündet. Es steht über und über in Flammen.«

Frau Marschall faltete stumm die Hände und schloß die Augen.

»Wenn der Heinrich hier wäre,« sagte sie tief atmend.

[222]

»Aber gute Madam,« rief Anna im Hinausgehen, »der Heinrich is ja bei's Militär und muß mit schießen.«

Advokat Marschall fuhr sich mit den Händen an den Kopf und stöhnte:

»Bevor ich gestern abend vom Rathaus fortging, habe ich Tzschirner noch das Versprechen abgenommen, daß die provisorische Regierung keine gewalttätige Handlung unternehmen dürfe. Und jetzt diese fluchwürdige Freveltat.«

Ein fürchterlicher Zorn stieg in dem gutmütigen Mann herauf und erstickte alle weiteren Worte. Wie sinnlos schritt er in der Kammer auf und ab, mit den Armen durch die Luft schlagend.

»Weil wir nicht mehr die Herren der Bewegung sind!« stieß er mit abgerissenen Worten heraus. »Das fremde Gesindel, das sich eingeschlichen hat und dem nichts heilig ist! Dieser Bakunin …«

Hier brach die Stimme.

»Ich wollte, der Heinrich käme und brächte mich weit fort von hier,« sagte Frau Marschall, als ob sie bete.

Da klopfte es. Die Kranke ließ die zitternden Hände auf das Deckbett fallen und starrte mit verhaltenem Atem nach der Tür. Kam er? – Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und Anna stürzte schreiend herein.

»Sie haben das Haus aufgebrochen!« rief sie mit gerungenen Händen.

In der offenen Tür standen ein gutgekleideter Mann mit einer blutigroten Schärpe um den Leib und hinter ihm zwei verdächtige Gestalten. Advokat Marschall schoß wie ein gereizter Stier auf die Männer zu und herrschte sie an:

[223]

»Was wollt ihr hier? Wie könnt ihr in mein Haus eindringen?«

Der Schärpenträger trat auf die Schwelle und erwiderte in anmaßendem Ton und mit fremdartiger Aussprache:

»Wir sollen das Haus anbrennen.«

»Waas? Mein Haus in Brand stecken?«

Advokat Marschall taumelte.

»So ist es,« versetzte der Sprecher, »es kann gleich losgehen. Wir haben ein Faß Öl und ein Faß Pech mitgebracht. Das schütten wir im Treppenflur aus und brennen es an.«

»Ihr Wahnsinnigen!« rief Marschall außer sich, »was soll denn das heißen?«

Da nahm ein anderer in unverfälscht Leipziger Mundart das Wort und antwortete mit einem Klang von gutmütigem Bedauern in der Stimme:

»Sie, mei Gudster, härnse mal. Um Ihr'n ald'n Gasten handelt sich's ja garnich. Dadriewer gennse beruhigt sein. Awer der Wind steht grade so scheene. Wenn's Haus anfangen dud ze brenn', dann bläst'rs Feier hinden nachdn brinzlichen Balläh. Un dadruff hammersch ja bloß abgesähn. Nich edwa uff Ihr Haus. I, Gudd behiede, uff Ihr Haus nich!«

»Wer hat euch diesen Auftrag gegeben!« rief Marschall mit drohender Stimme. »Etwa Tzschirner?«

»Ach, Tzschirner,« versetzte der Fremde mit der roten Schärpe wegwerfend. »Tzschirner, – diese Drahtpuppe! Der einzige, der zu befehlen hat, ist Bakunin! Von ihm erhielten wir die Weisung.«

Advokat Marschall schlug sich mit beiden Fäusten vor die Stirn.

[224]

»Bakunin!« schrie er auf, und die Speichelflocken flogen ihm vom Munde. »Bakunin! Und diese Kreatur bestimmt jetzt unser Geschick! Hahaha! Während auf den Gassen sächsisches Blut in Strömen vergossen wird im Dienst der Revolution – die unsere bürgerliche Bewegung schon längst erdrückt hat – führt ein herzugelaufener Landfremder das Regiment und übt eine Schreckensherrschaft aus, gegen die der Zustand, den wir abschütteln wollten, eine wahrhaft goldene Zeit gewesen ist. O, welch ein entsetzlicher Hohn …!«

»Wir sind nicht hier, um Ihre Klagelieder anzuhören,« antwortete der Mann an der Tür kalt, »sondern um unsern Auftrag auszuführen. Unten harren noch mehr von den Unsrigen. Wenn Sie nicht augenblicklich von hier fortgehen, müssen Sie die Folgen tragen.«

Diese Worte trafen Marschall wie Keulenschläge.

»Sofort verlaßt ihr mein Haus, Brandstifter!« donnerte er die Männer an.

In diesem Augenblick trat im Nachtgewand und mit verschlafenem Gesicht aus der nebenliegenden Kammer Friedchen verwundert herein.

»Aber, Kinder, wer schreit nur so?« fragte sie unschuldsvoll. »Da wird man ja aus dem besten Schlaf geweckt.«

Anna schoß zu ihr hin.

»Um Gottes willen, bloß still, Fräulein,« raunte sie ihr zu, »die Männer schlagen unsern Herrn sonst noch tot.«

Da erkannte Friedchen blitzartig die Situation. Mit einem Aufschrei lief sie ans Fenster und verkroch sich hinter Anna, die ihr dahin gefolgt war.

[225]

»Nun, habt ihr mich verstanden?« schrie Marschall noch einmal.

Die Männer rührten sich nicht.

»Kennt ihr mich nicht?« herrschte er sie an. »Ich stehe der provisorischen Regierung nahe und befehle euch, auf der Stelle aus meinem Hause zu gehen!«

Da trat der Leipziger wieder vor und sagte:

»Machense nu mal weider geene Mährde un nähmse Vernumft an. Das Haus wärd ähm angebrannt! Dadervon beißt änne Maus gee Fädchen ab.«

Advokat Marschall erkannte, daß er machtlos war, und seine ohnehin schon gänzlich untergrabene Willenskraft brach plötzlich zusammen. Verzweifelt fuhr er mit den Händen in sein weißes Haar, das feucht an den Schläfen klebte. In sein verstörtes Gesicht schoß ein Ausdruck, wonach er sich in der nächsten Sekunde auf die Männer stürzen oder weinen mußte.

»Aber ihr seht ja,« stammelte er mit erstickter Stimme, »daß meine Frau krank zu Bett liegt. Sie kann bei Lebensgefahr das Haus nicht verlassen.«

»Auf ein Leben mehr oder weniger kommt's jetzt nicht an,« sagte der Schärpenträger verächtlich. »Was ist denn nun schon weiter dabei, wenn eine alte Frau stirbt, wo so viel junges Blut dahin ist. Wer fragt nach unserm Leben!«

Frau Marschalls Pulse flogen, und ihre runzligen Hände zuckten ohne Rast auf dem Deckbett hin und her.

»Der Heinrich muß kommen,« stammelte sie und wandte in unaussprechlichem Schmerz die Augen von ihrem seelisch völlig gebrochenen Mann, weil sie seinen Anblick nicht mehr ertragen konnte.

[226]

»Erbarmt euch, gute Leute!« bat Marschall jetzt in ergreifendem Tone, »erbarmt euch um der christlichen Liebe willen und wartet so lange mit eurem Beginnen, bis ich vom Rathaus zurück bin …«

»Tod und Teufel, alter Heulknochen!« schrie der Fremde. »Wir haben unsere beste Zeit verschwatzt. Jetzt wird angefangen!«

Kaum waren diese Worte gesprochen, als die in der Tür stehenden drei Gestalten plötzlich wie Strohpuppen beiseite geworfen wurden und ein Mann mit dunkelrotem Gesicht in die Kammer trat. In demselben Augenblick flog Anna aus ihrer Ecke, unter Tränen lächelnd, auf den Eingetretenen zu und warf ihm die Arme um den Hals.

»Heinrich!«

Darauf herrschte eine kurze Weile tiefes Schweigen in dem Raum.

Frau Marschall fand zuerst wieder Worte.

»Ich wußte es ja, daß er kommen würde,« murmelte sie.

Heinrich drängte das an ihm hängende Mädchen sanft von sich. Sein Atem keuchte vor Eile und Zorn.

»Herr Advokat,« stieß er in fliegenden Worten heraus, während seine Augen drohend auf den Brandstiftern ruhten, »Sie brauchen bloß ein Wort zu sagen, und ich werfe diese Lumpenhunde die Treppe 'nunter, daß sie die Hälse brechen, – einen nach dem andern!«

Während er dies sagte, wichen die drei Eindringlinge unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Die athletische Gestalt Heinrichs und seine nur mühsam gebändigte Wut ließen ahnen, daß er ein furchtbarer Gegner sein mußte.

Mit diesem heftigen Ausbruch hatte sich Heinrichs Zorn aber auch schon wieder verflüchtigt, und sein schwerblütiges[227] Temperament kam obenauf. Und als er noch dazu Frau Marschall sah, deren Augen starr an ihm hingen, erhielt er seine volle Besonnenheit wieder.

»Herr Advokat,« sagte er, »die Madam muß fort …«

»Aber meine Frau ist doch krank und kann nicht aus dem Bett,« stöhnte Marschall verzweifelt auf.

»Das werden wir schon machen,« antwortete Heinrich, der jetzt wieder in seiner ganzen Pomadigkeit war. »Herr Professor Richter hat mir's gestern aufgetragen, daß die Madam fort soll. Wenn es für sie gefährlich wär', hätte er's nicht verlangt. Ich hab' einen Wagen mitgebracht, der die Madam nach dem Trompeterschlößchen fährt. Aber wir dürfen keine Minute mehr verlieren; unten im Hause spielt die Brut schon mit Feuer.«

Während der letzten Worte war er zu der Kranken getreten, hob sie samt dem Unterbett und der Zudecke wie ein Spielzeug in die Höhe und schritt mit ihr zur Tür.

Da rief draußen die Stimme des Leipzigers:

»Härnse, mit der Frau gennse nich mehr iewer die Drebbe gehn, 's Geländer brennt schoon. Die andern Leide gomm' noch nunter, aber de Beddn fangn glei Feier.«

In der Tat zeigte sich auf dem Flur dicker Qualm, der bereits in die Kammer eindrang. Bei diesem Anblick verlor Advokat Marschall alle Beherrschung und fing laut an zu schluchzen.

»Mein Haus! – mein Vaterhaus!« klagte er ergreifend, das Gesicht mit den Händen verhüllend.

Während diesem allen schallte von der nahen Barrikade her unaufhörlich das sinnbetäubende Krachen der Gewehre in die Kammer.

Heinrich legte die Kranke wieder auf das Bett und rief:

[228]

»Anna, die Wäscheleine!«

Das Mädchen flog. In einer halben Minute war die Leine zur Stelle. Mit ein paar raschen Griffen schlang Heinrich sie um die Betten und verknotete sie fest.

In diesem Augenblick erschien Friedchen wieder, die inzwischen in die Nebenkammer gehuscht war. Ihre Kleider waren in Unordnung und die halb aufgelösten Zöpfe hingen über das verängstigte Gesicht herunter. Unter dem einen Arm trug sie Bürzelchen, ihren dicken Mops, der – aus dem Schlafe gerissen – ärgerlich dreinsah, und mit dem Ellbogen des andern Arms preßte sie einige zerlesene Leihbibliotheksbücher an sich.

»Schnell vor das Haus, Herr Advokat,« rief Heinrich, »ich lasse die Madam hinunter.«

Mit diesen Worten hob er das Bündel auf und trug es zum Fenster.

Noch stand Marschall wie angewurzelt, als im Treppenhaus eine Stimme schrie:

»Die Leute da oben, vorwärts! In einer Minute brennt die ganze Treppe.«

Da faßte Anna ihren Herrn am Arm und riß ihn fort. Das bepackte Friedchen fegte hinterdrein. Bürzelchen bellte zornig.

Jetzt ließ Heinrich die in Betten gehüllte Kranke recht vorsichtig hinab. Inzwischen war Marschall unter dem Fenster angekommen, fing mit dem Kutscher das Bündel auf und legte es behutsam auf den Tafelwagen. Frau Marschall lächelte ihren Mann an und sagte:

»Es geht mir ganz gut, Hermann. Sorge dich nicht.«

»Rasch fort,« rief Heinrich, der unterdessen an der[229] um das Fensterkreuz geschlungenen Wäscheleine herabgeglitten war.

In diesem Augenblick hörte er hinter sich eine müde Stimme sagen:

»Ich konnte es zu Hause nicht mehr aushalten, Heinrich. Bist du mir böse?«

Und als er sich umwandte, sah er in das gramerfüllte Gesicht seiner Schwester.

»Linchen!« rief er und riß sie stürmisch an sich. Dann hob er sie rasch auf den Wagen, auf den schon Friedchen und Anna geklettert waren.

Die Gasse war menschenleer. Nur die Männer, die den Brand in das Haus gelegt hatten, standen gaffend um den Wagen herum. Aus der Tür drang dicker Qualm. Im Treppenhaus brannte es jetzt lichterloh.

»Kutscher, fort!« schrie Heinrich mit Aufbietung seiner ganzen Stimme, da in dem fürchterlichen Lärm des nahen Gewehrfeuers fast jeder Laut unterging.

Der Mann verstand den Zuruf und sprang auf den Bock.

»Fahren Sie mit, Herr Advokat,« rief Heinrich dem wie betäubt Stehenden ins Ohr und setzte ihn kurzerhand auf den Wagen.

Heinrich war gerade im Begriff, sich selbst hinaufzuschwingen, als aus der Seitengasse am Taschenbergpalais plötzlich ein Schwarm Soldaten hervorbrach, voran ein Offizier. Blitzschnell erkannte ihn Heinrich. Es war der Oberleutnant von Döring. Die Brandstifter wirbelten beim Anblick der Soldaten nach der andern Seite davon, wie Spreu vor dem Gewittersturm.

[230]

»Heinrich, die Kompagnie!« rief Linchen schrill durch den Lärm.

Da schlug der Kutscher wie unsinnig auf das Pferd ein, daß der Wagen mit großer Schnelligkeit durch die Soldaten hindurchrasselte. Heinrich hatte im letzten Augenblick sein Gewehr vom Wagen gerissen. Er durfte es nicht wagen, hinaufzuspringen. Sie hätten ihn erkannt und herabgeschossen. Linchen hatte richtig gesehen, es war die Kompagnie seines Vaters.

Er hörte noch den Oberleutnant rufen:

»Die Löschmannschaften vor!«

Dann wandte er sich um und lief schnell nach Stadt Gotha zu. Da knallten von hinten her Schüsse, und die Kugeln pfiffen an ihm vorüber. Trotzig hielt er im Laufen inne und ging, unbekümmert um die Gefahr, in langsamem Schritt weiter, bis er bei Stadt Gotha um die Ecke bog.


[231]

Erstürmung der Hotels des Saxe und Stadt Rom.

Dreizehntes Kapitel

Nun stand Heinrich dicht neben der hohen Barrikade, von der die Verteidiger wie tags zuvor in drei Etagen Schuß auf Schuß abgaben. Schnell wollte er durch den schmalen Zwischenraum zwischen Barrikade und Stadt Gotha hindurchlaufen, als er wenige Schritte vor sich die drohende Mündung einer Kanone erkannte und den durchdringenden Ruf: Achtung! aus dem Feuerlärm heraus hörte. Geschwind prallte er beiseite und sprang mit Geistesgegenwart in die Nische des Hoteleingangs.

Da zerriß auch schon das Krachen des Schusses die Luft, und ein Hagel von Eisenstücken brauste unmittelbar an seinem Gesicht vorbei. Heinrich wurde von der Erschütterung zu Boden geworfen und verlor für einen Augenblick die Besinnung. Noch halb unbewußt sprang er auf und eilte hinter die Barrikade. Hier blieb er stehen und lehnte sich erschöpft an das Haus.

Da erdröhnte der zweite Schuß aus der Kanone. Unwillkürlich blickte Heinrich die Schloßgasse entlang und[232] sah, wie von dem mittleren Durchgang des Georgentores ein schweres Stück des steinernen Bogens auf die Erde geschleudert ward.

Heinrich hatte infolge der starken Erschütterung noch immer das Gefühl des Taubseins. Da wurde seine Aufmerksamkeit durch vielstimmige Rufe erregt. Und als er sich umwandte, sah er, wie vom Altmarkt her eine zweite Kanone an Stricken gezogen im Sturmlauf herangefahren wurde. Es war, wie das andere Geschütz, ein starker Böller, wie Heinrich deren schon bei Festschießen gesehen hatte. Das Rohr war aus Bronze gegossen und reich verziert.

Unter rasendem Jauchzen, das den nervenzerreißenden Lärm des Gewehrfeuers noch übertönte, wurde das schon geladene Geschütz von starken Fäusten auf die Barrikade gehoben und sogleich auf das Königliche Schloß gerichtet. Ein gewaltiger Donnerschlag! – Klirrend zersplitterten noch die letzten Fensterscheiben in den umliegenden Häusern, und ein tumultartiges Gejubel brach aus.

Der offenbar zu stark geladen gewesene Böller machte wie ein aufs Blatt geschossener Hirsch einen Luftsprung, überschlug sich und fiel mit den Rädern nach oben auf die Plattform der Barrikade nieder. In das Rollen der Gewehrschüsse mischte sich stürmisches Triumphgeschrei: oberhalb des Georgentores hatte sich wiederum ein großes Stück Mauerwerk gelöst.

Heinrich konnte das hirndurchbohrende Getöse nicht mehr ertragen. Er fühlte, daß er sich erst eine Weile erholen mußte, bevor er wieder auf die Barrikade stieg. Langsam schritt er die Schloßgasse entlang nach dem Altmarkt.

[233]

Obwohl es erst fünf Uhr morgens war, bot sich dasselbe Bild wie am Abend vorher. In der Rosmaringasse, auf dem Altmarkt und in der Wilsdruffer Gasse wogten starke Menschenmassen, die erregt schrien und Lieder revolutionären Inhalts sangen. Durch die Menge drängten sich Männer, die wahrhaft feierlich nach ihrer Barrikade gingen, als ob es sich um die Vollbringung eines die Menschheit beglückenden Werkes handele. Den Hauptteil der Masse bildeten aber Tagediebe mit wahrhaften Galgengesichtern, denen der friedliche Bürger schon in ruhigen Zeiten gern ausweicht, und die gar nicht daran dachten, ihr kostbares Leben einzusetzen.

Einige dieser Gesellen trugen zu ihrer sonstigen zerfetzten Kleidung einen sorgfältig gearbeiteten, schwarzen Gehrock oder einen glattgebügelten Zylinderhut. Andere brüsteten sich mit goldenen Uhren und kostbaren Ringen oder zeigten ein schweres Stück Silbergeschirr herum. Die Herkunft dieser Gegenstände war Heinrich offenbar; sie waren beim Plündern erbrochener Häuser erbeutet worden.

»Sind das die Freiheitskämpfer,« fragte er sich im stillen, »die das Land glücklich machen sollen und von denen du geträumt hast, als du aus der Kaserne entwichst?«

Da krampfte der junge Mann zähneknirschend die Faust um den Gewehrlauf und hätte dem Erstbesten von diesem Gelichter am liebsten den Kolben vor den Kopf geschlagen.

Plötzlich dachte Heinrich an Valentine. Und er wunderte sich, daß er das Mädchen vorhin im Hause ihrer Eltern nicht gesehen hatte. – Wo war sie? War ihr[234] etwas zugestoßen? Dieser Gedanke beunruhigte ihn. Denn er sorgte sich um alles, was bei Marschalls vorging.

Heinrich beschloß, sich nach Valentine zu erkundigen und dieserhalb auf das Rathaus zu gehen, wo er den Advokaten anzutreffen hoffte. Von ihm konnte er ja auch erfahren, ob die Madam das Trompeterschlößchen wohlbehalten erreicht hatte. Um ihre Pflege war ihm nicht bange. Er wußte, daß Linchen bei der Kranken war.

Am Rathauseingang sperrte eine dichte Kette von Ratsdienern den Zutritt. Als Heinrich den Advokaten Marschall nannte, dem er eine wichtige Nachricht zu überbringen habe, ließ man ihn ungehindert durch.

In dem geräumigen Flur stand eine Anzahl Pulverfässer. Von einigen war der Deckel abgeschlagen, und der Inhalt lag in Haufen auf den Steinfliesen. Etwa ein Dutzend Männer war mit Patronenanfertigen beschäftigt.

Heinrich hatte starke Nerven. Als er aber die Sorglosigkeit sah, mit der diese Männer inmitten der Pulvermassen arbeiteten, und als er gar bemerkte, daß etliche offene Pfeifen und selbst Zigarren rauchten, fühlte er einen Schauer. Schon der Inhalt weniger Fässer würde vollauf genügen, das Rathaus in die Luft zu sprengen.

Da fiel sein Blick durch die offene Tür auf den Hof, wo er in der letzten Nacht geschlafen hatte. Der große Haufen Brote war verschwunden. An seiner Stelle stand jetzt die Ratsspritze, deren gewaltiger Bauch gerade mit Spiritus gefüllt wurde.

Heinrich trat hinzu und erfuhr aus den Reden der Umstehenden, daß noch einmal der Versuch unternommen[235] werden sollte, das Prinzenpalais in Brand zu stecken. Man wollte sich unter dem Schutze der Nacht heranschleichen und durch eingeschlagene Fenster den Spiritus hineinspritzen und brennende Pechkränze hinterdreinwerfen. Ein anderer erzählte von einem Plan, nach dem Freiberger Bergleute das Schloß unterminieren und mit Hilfe allen entbehrlichen Pulvers dem Erdboden gleichmachen wollten.

In der Mitte des Hofes standen wieder Pulverfässer. Daneben hingen über offenen Feuern große eiserne Kessel, in denen Pech gesiedet wurde. Wenn der Wind in die lodernden Holzscheite fuhr, schlugen die Flammen hoch auf, und die knisternden Funken wurden über den Hof und über die offenen Pulverfässer hinweggeweht.

Heinrich faßte sich an die Stirn. War das Wirklichkeit, was er da sah? Oder äffte ihn ein närrischer Traum?

Dort lief zwischen den Feuerstellen der Musikdirektor Röckel herum und stellte die Leute an. Jetzt ging dieser zu den Arbeitern, die lange eiserne Stäbe mit einem Maschinenmesser durchschnitten. Die so gewonnenen kurzen Eisenzylinder hatte Heinrich schon verwenden sehen: sie bildeten die furchtbare Munition für die Burgker Kanonen an der Schloßgassenbarrikade. Hatten denn diese Männer hier alle Besinnung verloren? Ein einziger der umherstiebenden Funken in das Pulver – –

Starrköpfig schritt Heinrich die Rathaustreppe hinauf. Mochte kommen, was wollte. Er ging der Gefahr nicht aus dem Weg! Auf den Barrikaden würde er freilich einen schöneren Tod sterben, als wenn er mit dem Rathaus in die Luft flöge. Nun, lange brauchte er sich hier nicht aufzuhalten, dann wollte er wieder kämpfen.[236] Nur nach Valentine und Frau Marschall mußte er noch fragen.

Das Innere des Rathauses glich dem Hauptquartier einer geschlagenen Armee. Auf den Treppen und Korridoren herrschte ununterbrochenes Laufen und Hasten, und dumpfes Stimmengewirr erfüllte die Luft.

Freischärler mit Gewehren, andere mit Piken, einige sogar mit Sensen eilten hin und her oder standen in lebhaft verhandelnden Gruppen zusammen. Überall Wirrwarr und Aufgeregtheit. Jeder ordnete an, keiner gehorchte.

Männer mit roten Schärpen und den bekannten breiten Hüten, worauf kühn geschwungene Hahnenfedern wippten, an der Seite einen schleppenden Reitersäbel, erteilten mit hochtrabenden Worten und unter herrischen Gebärden Weisungen, denen drei andere gleichzeitig widersprachen. Die Befehle wurden abgeändert, erweitert, eingeschränkt, – jedesmal wiederholte sich der Einspruch der Empfänger. Erneute Änderungen und Gegenbefehle. Bis zuletzt keiner mehr wußte, woran er war. Da wurde alles widerrufen. Die Gruppen gingen entrüstet und schimpfend nach allen Seiten auseinander, und die Rotschärpen suchten sich wichtigtuerisch einen neuen Kreis, wo sich das alte Spiel des langen Schwadronierens wiederholte.

Als Heinrich den großen Rathaussaal betrat, fand er diesen ebenfalls mit Menschen gefüllt. Hier sah er auch noch Kommunalgardisten. Auf die Gasse wagte sich diese Bürgerwehr schon lange nicht mehr, da sie überall tätlich angegriffen wurde.

Schreiber liefen in Eile vorbei, die ihres Amtes entsetzten[237] Stadträte standen beratend beieinander und Freischärler stolzierten herum in lächerlichen Phantasieuniformen und mit mittelalterlichen Spießen, die aus bürgerlichen Waffensammlungen entwendet waren. Auch verängstigte Frauen waren da, die Nachricht über ihre Männer zu erhalten hofften, kommende und abgehende Boten und verhaftete vornehme Bürger, von einem Wall von Pikenmännern umgeben. Den Grund ihrer Festnahme kannte zumeist weder der Verhaftete noch sonst jemand.

Wohin Heinrich blickte, sah er aufgeblasene Mienen, Wichtigtuerei und Kopflosigkeit. Überall wurde geschrien, gelacht, geraucht und auf den Fußboden gespuckt. Schnaps- und Weinflaschen gingen herum, und die Verhafteten wurden verhöhnt und mit unflätigen Reden bedacht.

Da bemerkte Heinrich einen Schreiber des Advokaten Marschall, der jetzt wohl im Dienst der provisorischen Regierung stand. Von ihm erfuhr er, daß Marschall noch nicht hier sei, aber schon längst erwartet würde. Heinrich beschloß, ebenfalls zu warten, und drängte sich in eine Ecke des Saals.

Hier stand im Halbkreis eine Anzahl Kommunalgardisten, hinter denen an einem langen Tisch ein einzelner Mann saß. Vor ihm war eine große Landkarte von Sachsen ausgebreitet und daneben ein Plan von Dresden, den er sorgfältig studierte. Der Mann gefiel Heinrich nicht. Er hatte ein bleiches Gesicht, das ein ungepflegter, schwarzer Bart umrahmte, und eine leichtgekrümmte, scharfgeschnittene Nase.

Jetzt trat ein Offizier in einer wunderlich aufgeputzten Uniform zu dem Sitzenden und sprach mit ihm.

[238]

»Wer sind denn diese beiden?« fragte Heinrich einen älteren Kommunalgardisten.

Der Angesprochene, ein biederer Dresdner, legte seinen Mund an Heinrichs Ohr und raunte ihm zu:

»Derde schtehd, is Owerschtleidnand Heinze, der Kommandand unsrer Streidkräfde, un derde sitzd, is Bakunin.«

»Bakunin?«

Der Schwarzgelbe nickte geheimnisvoll und in sichtlicher Ehrfurcht, und als er bemerkte, daß seine Mitteilung auf Heinrich wenig Eindruck machte, belehrte er ihn mit väterlichem Wohlwollen:

»Das is Sie ä sehr bedeidender Mann, junger Freind! An dänn kann keener ran, der dirichierd Sie nämlich de Refoluzjon ganz alleene. In dänn sein' Händn liechen alle Ziechel.«

»Ich denke, die provisorische Regierung bilden Tzschirner, Heubner und Todt?« fragte Heinrich erstaunt.

»Nich mähr,« entgegnete der Wackere redselig. »Uff Dod is schon garnich mähr ze rechnen, der is heide nachd ausgerissen wie Schafläder. Heibner war glei vun vornerein bloß ä kleenes Binkdchen, un wie 'r sich uffblies, worde änne große Null draus. Freilich, was Tzschirner is, der is ja nich von Babbe! Nee, das kännde mr weeßknäbbchen ni sagen. Aber Bakunin is'n ieber. Er is zwar bloß ä Bole …«

Heinrich war überrascht.

»Ein Fremder leitet in diesen schweren Stunden unsere sächsische Sache?« fragte er ungläubig. »Das ist doch eine himmelschreiende Schmach!«

Der Kommunalgardist erschrak heftig und sah sich schnell um.

[239]

»Ei, Herrcheeses!« entfuhr es ihm. »Härnse, seinse bloß dadermid mucksmeischenschtill! Wär wärdn in so änner äffendlichen Umgäwung sulche Rädn fiehrn?«

Hiermit hatte er seinen Schreck aber schon verwunden. Er machte ein dummschlaues Gesicht und fügte hinzu:

»Ich sag nich so un nich so. Nachher heeßt's allemal glei: Bietsch had so oder so gesagd!«

Und als er bemerkte, wie sich Heinrichs Entrüstung nicht verringerte, setzte er tröstend hinzu:

»Bakunin kennse ieberallhin holn, wose refoluzjoniern wulln. Das is ähm nu so seine Spezjaledäd, wie m'r im Läb'n ze sagen pflächt. Dadermit had'r was los. Allebunnähr!«

Heinrich hörte gespannt nach dem Tisch hin. Da hörte er den Kommandanten sagen:

»Diese roten Punkte auf dem Stadtplan – rund um den Kreuzturm – stellen die Barrikaden dar. Durch sie halten wir in Altstadt die wichtigsten Straßeneingänge besetzt. Es sind einhundertacht, alle nach Sempers Angaben gebaut.«

Die Männer beugten sich über die Karte und Bakunin machte eine Bemerkung, die Heinrich nicht verstand.

»Allerdings hat das Leibregiment den Zwingerwall gestürmt,« antwortete, sich aufrichtend, der Kommandant, »aber es wird nicht lange dauern, dann haben wir ihn wieder. Sie können sich dort unmöglich halten; das Feuer der Unsrigen an der Ostraallee wird die Truppen dezimieren. In einer Stunde lasse ich den Wall mit dem Bajonett nehmen.«

Während sich Bakunin von neuem in den Stadtplan vertiefte, trat erhitzten Gesichts ein Turner an den[240] Kommandanten heran und meldete, das Turmhaus und die Gebäude an der Ostraallee könnten nicht mehr lange gehalten werden. Die Verteidiger erlitten unter dem Feuer der Truppen die schwersten Verluste, und die Kompagnien auf dem Zwingerwall zögen schon Verstärkungen heran, vermutlich, um das Turmhaus zu stürmen.

Oberstleutnant Heinze hieß den Boten mit einer heimlichen Bewegung schweigen. Dazu sah er verstohlen auf Bakunin, der jedoch so in den Stadtplan vertieft war, daß er die Meldung nicht gehört hatte. Nun versprach der Kommandant der Turmhausbesatzung sofortige Verstärkung. Aber er verlangte, daß das Gebäude um jeden Preis behauptet werden müsse. Hierauf verschwand der Bote eiligst.

Jetzt sah Bakunin wieder auf.

»Wir können unsere Stellungen also überall halten?« fragte er.

Der Kommandant lächelte überlegen.

»Halten?« erwiderte er, »vorgehen werden wir. Heute mittag soll der Zwinger in unserm Besitz sein. Die Geschütze auf der Barrikade bei Stadt Gotha werden den Schloßflügel über dem Georgentor binnen kurzem in Trümmer geschossen haben. Bis dahin wird es auch gelungen sein, das Taschenbergpalais in Brand zu setzen. Darauf ziehe ich alle Reserven zusammen und nehme das Schloß im Sturm.«

Heinrich starrte den Kommandanten an. Das Schloß stürmen? Der Mann war ein Großsprecher und verstand sicherlich nicht, was es hieß, einen so gewaltigen und stark besetzten Bau anzugreifen. Und von Reserven[241] sprach er? Meinte er damit das verkommene Gesindel, das sich in den Gassen herumtrieb?

Unterdessen empfing Bakunin eine Reihe von Meldungen und gab den Boten kurze schriftliche Befehle mit oder beschied sie mündlich.

Da trat Stadtrat Meisel heran und bat um die Erlaubnis, die in den Häusern zwischen Stadt Gotha und dem Schloß wohnenden Familien auszuquartieren und in der Lüttichaustraße unterzubringen. Diese Häuser der Schloßgasse seien aufs ärgste bedroht.

Bakunin zuckte geringschätzig mit den Achseln.

»Was – Häuser,« antwortete er wegwerfend, »laßt sie in die Luft fliegen! Meinetwegen mögen die Bewohner sie räumen. Aber die Barrikadenbesatzung soll deshalb das Feuer nicht für eine Minute unterbrechen.«

Stadtrat Meisel wandte sich eilends ab.

»Das ganze Erzgebirge ist im Aufstand,« hob der Kommandant wieder an. »Zu jeder Stunde können wir bedeutende Zuzüge erwarten.«

Bakunins Gesicht verriet, daß er an die Verstärkungen nicht recht glaubte.

»Tzschirner soll sogleich Boten über das ganze Land gehen lassen,« befahl er, »mit der strengen Aufforderung an die Ortsbehörden, alle Kampffähigen bewaffnet und auf schnellen Wagen nach der Hauptstadt zu senden.«

Kommandant Heinze verbeugte sich und trat ab.

Neue Boten kamen und gingen. Unermüdlich empfing Bakunin ihre Meldungen, erteilte Befehle und gab Anordnungen. Ratsmitglieder gingen ab und zu, ebenso Schreiber, die seinen Namen unter Aufrufe setzen ließen[242] und Briefe brachten, worin über die Stimmung auf dem Lande berichtet wurde.

Dazwischen beriet Bakunin mit Führern des Aufstands die Lage. Mit scharfem Verstand erfaßte er sofort das ihm Vorgetragene, stellte Kreuz- und Querfragen, hieß den Sprechenden schweigen und schickte ihn fort, wenn es ihm beliebte. Keiner war so kaltblütig und für ein so rücksichtsloses Vorgehen wie er. Bewunderung und Scheu lagen auf den Mienen der mit ihm Sprechenden. Viele zitterten vor ihm.

Jetzt stand der Ratswachtmeister Meyer vor dem Gewaltigen.

»Sie haben sich geweigert,« sagte dieser mit einem lauernden Blick, »die Pulverfässer in den Flur des Rathauses bringen zu lassen!«

Der Wachtmeister ließ sich nicht einschüchtern.

»Die Leute gehen mit dem Pulver leichtsinnig um,« versetzte er, »das Rathaus ist in Gefahr. Der Stadtrat hat angeordnet …«

»Angeordnet!« brauste Bakunin auf. »Der Stadtrat ist jetzt eine Null!«

»Ich will die Vorräte hinüber ins Chaisenhaus bringen lassen …«

»Die Fässer bleiben hier!«

»Die provisorische Regierung hat es angeordnet,« fuhr der Wachtmeister beharrlich fort und griff in die Tasche. »Hier ist der schriftliche Befehl, unterzeichnet von Herrn Tzschirner selbst.«

Bakunin schlug dem Wachtmeister das ihm vorgehaltene Blatt aus der Hand und maß den Widerspenstigen mit kaltem Blick.

[243]

»Hören Sie,« sagte er gelassen, aber in einem Ton, der verriet, daß er vor nichts zurückschrecke, »ich habe Sie schon lange beobachtet. Sie sind ein ganz Gefährlicher! Noch ein Wort und dann …«

Der Wachtmeister verbiß seine Wut. Aber seine starken Schultern zitterten. Am liebsten hätte er sich auf den Verhaßten gestürzt und ihn erwürgt.

Da entdeckte Bakunin mit einem Seitenblick Tzschirner im Saal und rief ihn heran.

»Sie wollen das Pulver fortbringen lassen?« fragte er stirnrunzelnd.

»Ich glaubte …«

»Wir dürfen es der Menge nicht preisgeben. Nirgends steht es geschützter als im Rathaus!«

Tzschirners Unsicherheit wuchs.

»Die hohe Gefahr, in der das Rathaus und wir alle schweben,« versetzte er.

Bakunin lächelte heimtückisch.

»Ich fürchte die Gefahr nicht …«

Tzschirner sah das Blatt, das seine Unterschrift trug, auf dem Tisch liegen. Er griff danach, knüllte es zusammen und warf es auf den Fußboden.

»Es ist gut, Meyer,« sagte er zu dem Wachtmeister, »Sie können gehen. Lassen Sie die Fässer hier. Wir müssen das Pulver jederzeit zur Hand haben.«

Der Wachtmeister entfernte sich widerwillig, und die beiden Männer sprachen weiter miteinander, ohne den Vorfall noch einmal zu erwähnen.

»Wie ich höre,« versetzte Bakunin, »zieht sich die Bürgerschaft vom Kampf immer mehr zurück. Wir[244] müssen die angesehensten Bürger der Stadt verhaften lassen, um ihnen zu zeigen, daß wir die Gewalt besitzen, sie zum Kampf zu zwingen.«

»Ich habe schon eine große Anzahl von Verhaftungen vorgenommen,« erklärte Tzschirner.

»Sicher noch zu wenig. Das hochmütige Bürgerpack muß eingeschüchtert werden, sonst wirkt das böse Beispiel auf andere. Auch Frauen müssen Sie festsetzen lassen! Das zwingt den Starrsinn der Männer weit besser, als wenn wir sie selbst einsperren.«

Jetzt wandte sich Heinrich zum Gehen. Was er hier gehört, wühlte sein Innerstes auf. Die Luft im Saal erschien ihm mit einem Mal erstickend. Er vermochte nicht mehr länger auf Herrn Marschall zu warten. »Kämpfen, kämp … fen!« schrie in ihm eine Stimme.

Als er auf den Altmarkt trat, sah er Professor Richter auf das Rathaus zuschreiten. Rasch lief er zu ihm hin und fragte nach Frau Marschall. Professor Richter war noch nicht bei ihr gewesen, lobte aber, als er die Umstände erfuhr, Heinrichs Entschlossenheit, mit der er die Kranke aus dem brennenden Hause gerettet hatte.

Dann erkundigte sich Heinrich nach Valentine. Die wäre seit gestern abend im Hotel Stadt Rom, beschied ihn der Professor, wo sie den Verwundeten die erste Hilfe spende. Damit ließ er den jungen Mann stehen und eilte weiter.

Hocherfreut, Valentine endlich zu sehen, schlug Heinrich den Weg nach dem Neumarkt ein. Als er gestern das Hotel verließ, hätte er nicht gedacht, daß er heute dahin zurückkehren würde. Am liebsten hätte er freilich auf der Schloßgassenbarrikade gefochten. Aber nun Valentine[245] in Stadt Rom weilte, wollte er auch dahin. Er würde in ihrer Nähe kämpfen, und sie legte Verbände an. Vielleicht auch ihm einen? – – Was tat's!


Vierzehntes Kapitel

Nachdem Valentine das elterliche Haus verlassen hatte, war sie nach dem Zeughausklinikum gegangen, um Professor Richter ihre Dienste anzutragen. Dort traf sie ihn auch. Als Valentine bat, sie als Pflegerin zu behalten, lobte der Professor ihren Opfersinn und wies sie an, ihn sogleich durch die Krankensäle zu begleiten, da gerade die Verbände der Verwundeten gewechselt würden.

Wie Valentine die schweren Verletzungen sah, schien es ihr freilich, daß sie ihre Kraft überschätzt habe. Aber sie war zu stolz, Schwäche zu zeigen, und gewöhnte sich allmählich an den Anblick. Aufmerksam achtete sie auf die Handreichungen der andern Pflegerinnen und bemühte sich, es ihnen nachzutun. Ihr starker Wille und ihre natürliche Geschicklichkeit für praktische Verrichtungen halfen ihr bald über die ersten Schwierigkeiten hinweg.

Professor Richter rief Valentine an seine Seite und zeigte ihr, wie Blutungen zu stillen und Wunden zu reinigen und zu verbinden seien. Mit vielem Bedacht ging Valentine ihm zur Hand und empfand heimliche Befriedigung, als ihre Versuche, es selbst zu tun, glückten und als der Arzt seine Zufriedenheit aussprach. Da verlor sich die anfängliche Zaghaftigkeit, und ihre Handgriffe[246] wurden sicherer. So half sie während des ganzen Nachmittags.

Am Abend brachte Professor Richter das Mädchen nach dem Hotel Stadt Rom, wo sie fortan selbständig Hilfe leisten sollte. Gerade an dieser Stelle wurden viele Kämpfer verwundet, da das Haus vom Johanneum und von der Frauenkirche her andauernd mit starkem Feuer überschüttet wurde.

In dem Hotel fand Valentine denn auch eine erhebliche Anzahl Verletzter vor, die der ersten Hilfeleistung harrten. Mit unendlicher Geduld ging sie an die ernste Arbeit und wurde nicht müde, den Schwerverwundeten Trost zuzusprechen und die Verletzungen nach den Weisungen des Professors zu behandeln.

Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, als das Feuer schwieg. Da erst konnte Valentine auch an sich denken.

Zwar empfand sie große Müdigkeit. Aber ein köstliches Frohgefühl bewegte ihre Brust und ließ sie die Abspannung vergessen. Das Bewußtsein, die Leiden der Unglücklichen zu mildern, machte ihr Herz höher schlagen. Manche bleiche Lippe hatte der jungen Samariterin bebend Dank gestammelt und manches tränenerfüllte Auge ihren Trostspruch stumm gelohnt, wenn der fliegende Atem den Schwerverwundeten der Sprache beraubte.

Valentine fühlte jetzt deutlich, welche Wandlung sich in ihrem Innern vollzogen hatte.

Noch vor wenigen Tagen, als die Bewegung immer drohender wurde bis der Aufstand ausbrach, hatte sie bedauert, ein Weib zu sein, das nicht in die Reihen der Kämpfenden treten konnte. Als aber das Gefecht[247] begonnen und sie von den ersten Verwundeten gehört, als Professor Richter erzählt hatte, wie schnell die Zahl der Opfer des Kampfes wachse, und als sie sich endlich bewußt geworden war, wie furchtbar schwer die Verantwortung auf den Leitern der blutigen Erhebung ruhte, da hatte sich alle Härte und Schroffheit gleichsam über Nacht aus ihrem Herzen gestohlen! Und zu dem allen wußte sie sich mitschuldig. Hatte sie doch nicht nur insgeheim, sondern auch mit vorschnellem Wort den Eintritt der Katastrophe herbeigewünscht. Jetzt aber, wo die Entsetzlichkeit des Krieges ihr vor Augen stand, erhob sich laut die Stimme ihres Herzens. Und sie mußte helfen, lindern und Barmherzigkeit üben, bis ihr die Kraft versagte!

Nachdem mit Einbruch der Dunkelheit das Gewehrfeuer endlich geschwiegen, war in Stadt Rom sehr bald tiefe Ruhe eingetreten. Von den ersten Morgenstunden bis in die sinkende Nacht hinein hatten die Männer im Feuer gestanden. Jetzt machte sich die hohe Abspannung geltend. Nur einige verlangten nach Nahrung. Die meisten waren zum Umsinken müde und legten sich nieder, wo sie gerade standen. In allen Zimmern waren die Fußböden mit Schläfern bedeckt.

Die Hotelbetten waren schon beim Ausbruch des Kampfes in zwei nach dem Hofe zu gelegenen Stuben gebracht worden. Hier lagen die Verwundeten, zu deren Pflege eine Magd des Hotels Valentine beistand.

Als das Feuer eingestellt war, meldeten sich noch ein paar Leichtverletzte, die im Eifer des Kampfes ihre Wunden nicht beachtet hatten. Bestürzt sah sich Valentine um. Sie hätte auch ihnen gern Lagerstätten angewiesen,[248] aber alle vorhandenen Betten waren bereits belegt. Und sie bangte für den nächsten Tag, der ihr wieder neue Verwundete bringen würde.

Da erfuhr sie von der Magd, daß in den Zimmern nebenan ein vornehmer Gast wohne. Der Besitzer des Hotels habe ihm wiederholt eindringlich vorgestellt, wie sein Leben aufs höchste bedroht sei. Aber der Fremde hätte sich geweigert, das gefährdete Haus zu verlassen. Vielleicht würde er auf das anstoßende Zimmer, in dem sich noch zwei Betten befänden, zugunsten der Kranken verzichten.

Schnell entschlossen ließ sich Valentine nach dem Zimmer dieses Gastes führen. Auf ihr Klopfen trat ein weißhaariger Diener in Livree, mit Kniehosen, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen heraus, die Tür hinter sich schließend.

Valentine brachte ihre Bitte vor. Der Glattrasierte, seiner Sprache nach ein Österreicher, versicherte, daß auf das Zimmer nicht verzichtet werden könne. Die Schilderung des Mangels an Raum und Betten für die Verwundeten beantwortete er mit bedauerndem Achselzucken. Da verlangte das Mädchen mit bestimmten Worten, daß er sie zu seinem Herrn führe. Eine kurze Weile blieb der Befrackte unschlüssig, dann öffnete er geräuschlos die Tür und verschwand hinter ihr.

Während Valentine voll Unruhe wartete, mußte sie an den seltsamen Gast denken, der es verschmähte, ein sicheres Quartier aufzusuchen. Da erschien der Diener von neuem und bat sie, einzutreten.

In dem großen Raum brannte eine einzige Kerze, die nur die nächste Umgebung notdürftig erhellte. Am[249] Tisch saß ein Herr im Alter von etwa fünfzig Jahren und von vornehmem Aussehen. Beim Eintreten Valentinens wandte er sich im Stuhl nach der Tür und nahm einen grünen Augenschirm von der Stirn.

Valentine schritt unbefangen zu dem Sitzenden hin, der sie während ihres Näherkommens aufmerksam betrachtete. Plötzlich stand er auf, machte dem Mädchen eine Verbeugung und lud sie mit einer stummen Handbewegung zum Sitzen ein.

Der Fremde hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht von ernstem Ausdruck. Sein Schnurrbart und das Haar an den Schläfen waren grau. Er schien das Bedürfnis zu haben, seine Augen zu schonen. Denn während er Valentine fragend ansah, legte er die Hand an die Stirn, um selbst das dämmrige Kerzenlicht noch zu dämpfen.

»Ich pflege hier im Hause die Verwundeten,« begann Valentine ohne Umschweife. »Und da es mir morgen an Raum fehlen wird, die Verletzten unterzubringen, so bitte ich Sie, mein Herr, mir ein Zimmer von den Ihrigen abzutreten.«

»Sehr gern,« antwortete der Fremde ohne zu zögern. »Kann ich Ihnen sonst noch helfen? Brauchen Sie Betten? In meinen Zimmern befinden sich noch einige, die ich Ihnen zur Verfügung stelle.«

Valentine hatte dieses bereitwillige Entgegenkommen nicht erwartet. Auf ihrem Gesicht prägte sich freudige Überraschung aus. Der Fremde schien es zu bemerken. Gleichsam, als ob er sie verhindern wolle, ihrem Empfinden Ausdruck zu geben, fragte er rasch:

»Möchten Sie sich das Zimmer einmal ansehen?«

»Wenn Sie es erlauben …«

[250]

Der Fremde stand auf und winkte dem in respektvoller Entfernung unbeweglich stehenden Kammerdiener.

»Die Kerze, Pepi.«

Gleichzeitig setzte er sich den Augenschirm wieder auf die Stirn. Der Diener leuchtete voran, und sie betraten das Zimmer. Es war ein großer, nüchterner Raum, in dem außer dem notwendigen Gerät zwei Betten und ein breiter Divan standen.

»Hier kann ich zehn Verwundete unterbringen,« sagte Valentine, sich erfreut umsehend.

»Wieviel leere Betten stehen noch in unsern Zimmern?« fragte der Fremde den Diener.

Der Weißhaarige sann einen Augenblick nach.

»Ihrer fünf oder sechs,« antwortete er.

Sich wieder an Valentine wendend, sagte der Fremde:

»Vielleicht lassen Sie die Betten morgen vormittag durch Ihre Leute hierher bringen.«

»Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, mein Herr,« antwortete Valentine.

Der Fremde überhörte diese Worte.

»Erhalten Ihre Verwundeten ausreichend Essen?« fragte er.

»Die Küche des Hotels liefert es ihnen. Was ich heute abend sah, war gut.«

»Haben Sie Wein?«

Valentine verneinte.

»Ich werde mit dem Wirt sprechen.«

»Sie sind sehr gütig,« sagte Valentine in freudiger Bewegung.

Damit verließen sie wieder das Zimmer. Während[251] der Fremde Valentine bis zur Tür begleitete, sprach er in seiner angenehmen, ruhigen Art:

»Wenn es Ihren Schützlingen noch an etwas Unentbehrlichem fehlt, sagen Sie mir's bitte. Vielleicht kann ich helfen.«

Valentine dankte noch einmal und verließ sodann das Zimmer.

Als sie wieder zu ihren Kranken kam, fand sie einen Arzt vor, der nach den Verwundeten sah. Er lobte die verständig angelegten Verbände und gab dem Mädchen Verordnungen für die Schwerverwundeten. Dann entfernte er sich eilig, da er noch an andern Orten nachsehen müsse. Am nächsten Vormittag, versprach er, wiederzukommen.

Nachdem er gegangen und Valentine noch die Wünsche einiger Kranken erfüllt hatte, setzte sie sich mit dem jungen Mädchen zusammen an den kleinen Tisch, der zwischen den beiden Fenstern stand.

Valentine fühlte sich erschöpft. Aber ihre Befriedigung war größer als die Abspannung. Sie lehnte sich in den Stuhl zurück und ihre Gedanken eilten zu dem alten Haus in der kleinen Brüdergasse – – –

Das Krankenzimmer wurde durch zwei Kerzen beleuchtet. Ein starker Geruch von Arznei und Verbandmitteln herrschte darin. Die meisten Kranken schliefen. Einige warfen sich unruhig in den Betten hin und her und stöhnten laut. Wenn einer etwas verlangte, huschte die Magd mit unhörbaren Schritten zu ihm hin.

Auch an den Fremden mußte Valentine denken. Sein ruhiges und bestimmte Wesen hatte ihr Vertrauen eingeflößt. Vor allem pries sie aber seine Bereitwilligkeit,[252] mit der er sogleich auf ihren Wunsch eingegangen war. Er stammte sicherlich aus höheren Kreisen und verurteilte den Aufstand. Aber für ihre Verwundeten besaß er doch ein warmes Herz. Das hatte sie aus dem Ton seiner Stimme herausgehört.

Was aber Valentinens weiblichem Empfinden besonders wohlgetan hatte, war die ritterliche Art, mit der er ihr begegnet war.

Da klopfte es leise an die Tür, und das junge Mädchen ging, um nachzusehen. Valentine hörte draußen eine Männerstimme gedämpft sprechen, worauf die Magd ihr winkte. Als Valentine auf den Korridor trat, stand der weißhaarige Kammerdiener vor ihr.

»Fräulein, mein Herr würde sich freuen, wenn Sie mit ihm zur Nacht speisen wollten.«

Diese unvermutete Einladung überraschte Valentine. Als sie gegen Abend den Kranken das Essen gereicht, hatte sie im Eifer nicht daran gedacht, selbst etwas zu genießen. Jetzt verspürte sie Hunger. Sie zauderte einen Augenblick, dann sagte sie zu. Rasch gab sie dem jungen Mädchen noch ein paar Weisungen und schritt alsdann dem Diener hinterdrein.

Der Weißkopf öffnete die Tür weit und ließ Valentine eintreten. In der Mitte des Zimmers brannte jetzt eine Hängelampe, die mattes Licht verbreitete. Der Fremde kam Valentine entgegengeschritten.

»Junge Menschen, die Gutes tun,« sagte er, »unterlassen gern, an sich selbst zu denken. Ich vermutete dies auch bei Ihnen. Deshalb bat ich Sie, mir beim Nachtmahl Gesellschaft zu leisten.«

[253]

Valentine war ein wenig verwirrt. Aber die natürliche Freundlichkeit des fremden Herrn half ihr, die Verlegenheit bald zu überwinden.

»Sie haben nicht unrecht,« antwortete sie mit schwachem Lächeln. »Die Verrichtung meiner gegenwärtigen Pflichten ist mir noch zu ungewohnt, daß ich an alles dächte.«

»Der Mensch darf nie auf sich selbst vergessen,« scherzte er. »Sie können Ihren Kranken nur dann gute Dienste leisten, wenn Sie mit Ihrer Kraft richtig haushalten.«

Während der letzten Worte bot der Fremde Valentine den Arm und führte sie zum Tisch. Hier setzte er sich ihr so gegenüber, daß die Lampe in seinem Rücken war.

Während des Essens blieb die Unterhaltung einsilbig. Der Fremde bemerkte des Mädchens Erschöpfung und vermied es, sie zu Antworten anzuregen. Er erzählte, daß er aus Wien hierhergekommen sei, um eine Dresdner Berühmtheit wegen seines Augenleidens zu befragen. Der Arzt habe ihm eine sofortige Operation dringend angeraten, zu der er sich auch entschlossen. Der Eingriff sei geglückt. Heute habe ihm der Arzt gesagt, daß er andernfalls hätte erblinden müssen.

Valentine hörte voll Teilnahme zu und beglückwünschte den Fremden zu dem Erfolg und lobte seinen raschen Entschluß.

»Vorsicht ist eine gute Eigenschaft,« sagte der Fremde, »aber beherzt sein, ist viel besser, – oft alles! Sie haben sicherlich auch nicht lange geschwankt, bevor Sie sich zu Ihrem gegenwärtigen Beruf entschlossen.«

Valentine errötete.

»Nein, ich hatte keine Zeit, mich lange zu besinnen,«[254] entgegnete sie. »Wer erst einmal zaudert, kommt meist zu spät zur Ausführung.«

Der Fremde pflichtete diesen Worten lebhaft bei.

Hierauf stockte die Unterhaltung von neuem. Zerstreut hörte Valentine auf die ruhigen Worte des Fremden. Ihre Gedanken waren anderswo. Sie schweiften wieder zu den Eltern, zu ihren Kranken und zu den Todesmatten in den Vorderzimmern des Hotels, die jetzt in bleiernem Schlafe von den furchtbaren Anstrengungen der letzten Tage ausruhten und die Schrecken des Kampfes auf ein paar Stunden vergessen hatten.

Da hob der Fremde seinen geschliffenen Kelch, gefüllt mit rotem Burgunder.

»Auf daß meine Tischgenossin am heutigen Abend Befriedigung an ihrem schweren Beruf finden möge – und daß die Ereignisse ihre Hilfe bald wieder entbehrlich machen möchten.«

Valentinens Gesicht war während der letzten Worte bleich geworden. Ihre harten Züge erschienen wie gemeißelt. Sie neigte die Stirn und warf dem Fremden einen Blick voll Dankbarkeit zu.

Dann ergriff auch sie ihr Glas und sprach:

»Dem Wohltäter meiner Schutzbefohlenen!«

Dabei zitterte ihre Hand so stark, daß der Wein über den Rand des Glases hinaustrat und ein paar Tropfen wie leuchtende Rubinen auf das Tischtuch herabfielen.

Jetzt räumte der Kammerdiener das Geschirr ab, und der Fremde lud Valentine ein, sich mit ihm an den Kamin zu setzen, in dessen hoher Wölbung die Buchenscheite flammten und knisterten. Dann brannte er sich eine dunkle Virginiazigarre an, die ihm der Weißkopf[255] gereicht, schlug die Knie übereinander und lehnte sich in den bequemen Stuhl zurück.

»Über den deutschen Ländern schwebt gegenwärtig ein Verhängnis,« begann er, den Rauch in einem wagerechten Strahl von sich blasend. »Die Luft ist mit dem Geruch frischen Bluts angefüllt und die heiligen Altäre des Volks sind verbrannt oder in Trümmer zerschlagen. Wie lange diese Verwirrung anhalten mag, ist heute noch nicht abzusehen. Wenn die entflammten Gemüter erst wieder ruhig geworden sind, wird sich ein Alp auf vieler Brust legen.«

Hier schwieg der Fremde eine Weile. Endlich sprach er weiter:

»Neben vielem materiellen Gut sind auch hohe sittliche Werte zerstört worden. Man wird diesen Schaden noch mit Bangigkeit abschätzen und erkennen, daß es eiserner Beharrlichkeit bedarf, wieder aufzurichten, was man mit einem Handstreich stürzte. Aber die Zeit der schmerzlichen Betrachtung ist noch nicht da; noch spotten ja die Gewalten jeder Fessel. Wo aber nichts anderes geschieht, als den aufbäumenden Volkswillen niederwerfen und festschnüren, entsteht bloß neue Verbitterung. Der Unterliegende beugt widerwillig den trotzigen Nacken. Die Tore des Herzens öffnen sich aber nur dem großmütigen Sieger!«

Der Fremde machte von neuem eine Pause und hüllte sich in eine Rauchwolke. Valentinens Augen hingen an seinem Mund. Jetzt fuhr er wie im Selbstgespräch fort:

»Es ist nicht das erstemal, daß ich mich in dem Hexenkessel der Empörung befinde. Noch sind nur wenige Monate verflossen, als ich in Wien Augenzeuge der[256] Schrecken des Volksaufruhrs gewesen bin, – freilich nicht als friedlich Außenstehender wie heute. Zu der unmittelbaren Umgebung des Grafen Latour gehörend, beobachtete ich, wie die Männer des Zentralausschusses und die knabenhaften Doktrinäre der akademischen Legion um die Konstitution feilschten, sah den bestialisch zugerichteten Leichnam dieses unerschrockenen Mannes an einen Laternenpfahl aufknüpfen und kämpfte in der Leopoldstadt mit den Truppen Windischgrätz. Die Erstürmung jeden Hauses glich einer Schlacht. Die mit bewunderungswürdigem Heldentum kämpfenden Verteidiger wurden von den aufs äußerste erbitterten Soldaten blind niedergemacht. Es war ein Gemetzel ohnegleichen!«

Der Fremde brach kurz ab. Valentine bemerkte den tiefen Eindruck, den die lebhafte Erinnerung auf den Erzähler machte. In seinem ernsten Gesicht zuckte es verstohlen, und die vom Feuer abgewendeten Augen waren halb geschlossen.

»Und was war die Ursache dieser Menschenschlächterei?« hob er mit halblauter Stimme wieder an, – »das Volk verlangte Freiheiten und verbriefte Rechte darauf. Jeder unparteiisch Urteilende mußte eine Änderung der Verhältnisse gutheißen. Nur Starrköpfe waren es, die jede Konzession ablehnten.

Aber das Volk verscherzte sich selbst die Zuneigung der Billigdenkenden unter den Vertretern der staatlichen Autorität! Waren anfangs seine Forderungen gerecht, so wuchsen sie bald ins Maßlose. Jedes Zugeständnis stachelte die Begehrlichkeit an, und selbst die Besonnenen verstiegen sich zu unerfüllbarem Verlangen. Nachgiebigkeit[257] wurde als Schuldbewußtsein betrachtet, Wohlwollen als Schwäche. – Sie hätten fürs erste das Wenige nehmen sollen, das man ihnen bot.«

Der Fremde machte eine unwillige Handbewegung.

»Und nun wiederholte sich das alte Schauspiel, das aber, solange es Menschen gibt, immer wieder von neuem seine Auferstehung feiern wird: während die ehrenhaften Elemente noch schwankten, kamen die Dilettanten des Lebens, die Stümper, und vergifteten das letzte, was noch gesund geblieben war. Der massive Unverstand drängte die ehrlichen, wenn auch in traumhafte Wünsche verlorenen Führer beiseite. Der Pöbel gewann die Oberhand. Und damit ist noch immer der Kampf der Geister erdrosselt worden. Das schonungslose Ringen der blindwütigen Gewalten trat an seine Stelle. – So war es in Wien, und so ist es jetzt hier!«

Da richtete sich Valentine aus ihrer zusammengesunkenen Haltung auf. Eine helle Röte färbte ihre bleichen Wangen, und ihre Augen leuchteten in seltsamem Glanz. Und während sie sprach, fielen von den Wimpern Tränen in ihren Schoß.

»Um wieviel besser,« begann sie mit unsäglicher Bitterkeit, »waren an der Donau die Fordernden daran, wenn man ihnen wenig bot. Hier bot man ihnen nichts! Nur Tröstungen auf später! Seit dreißig Jahren erfüllt aller Herzen das unstillbare Sehnen nach einem geeinten deutschen Vaterland. Der Schmerz über die Zerrissenheit der deutschen Stämme bereitet selbst dem einfachen Mann tiefes Weh, und Schamröte färbt sein Gesicht, wenn er vernimmt, wie andere Völker mit unserer Uneinigkeit Spott treiben. Die hundertmal wiederholten Bitten des[258] Volks fanden keine Erhörung! Auf wessen Seite liegt nun die Schuld, wenn nach allem fruchtlosen Mühen der Bürger zur Waffe greift und sein Zorn sich gegen die richtet, die aus Bangnis um ihre Vorherrschaft im Staat sich einem Wandel widersetzen? Den innern Frieden des Volks zu wahren und zu fördern, ist die heilige Pflicht der Obrigkeit. Warum verschließen die Regierenden den maßvollen Wünschen ihr Ohr? Warum weigern sich die Könige, die Reichsverfassung anzuerkennen? Die Männer, die in der Paulskirche in Frankfurt das schwere Werk schufen, sind die Besten des deutschen Volks, und ihre Beweggründe sind rein und selbstlos!«

Valentine hatte mit edler Wärme gesprochen. Ihre Stimme besaß einen metallischen Klang, und das Beben der Lippen verriet ihre tiefe Bewegung. Jetzt lehnte sie sich zurück und sah regungslos und mit weitgeöffneten Augen in die Flammen.

Der Fremde betrachtete das Mädchen verstohlen. Endlich erwiderte er:

»Die Entwicklung der inneren politischen Zustände des deutschen Volks seit den Freiheitskriegen hat die Hoffnungen nicht erfüllt, mit denen man nach Beendigung jener großen Tage dem Morgenrot einer neuen Zeit entgegenjubelte. Große Umwälzungen in der Geschichte der Deutschen haben sich immer langsam vollzogen. Unser Volkstum gleicht einem knorrigen Eichbaum, der nur widerstrebend das hergibt, was er besitzt. Und um seine Krone stattlich zu entfalten, bedarf es langer Jahre, währenddessen schwere Stürme über ihn hinbrausen und bis ins Innerste erschüttern. Aber sein Stamm ist fest und sein Mark gesund. Die Ungunst der[259] äußeren Gewalten kann sein Wachstum wohl für eine Zeit hemmen, sie vermögen aber nicht, den Baum zu entwurzeln.«

Hier wich der Fremde von dieser Betrachtung ab und fuhr unvermittelt fort:

»Bei aller Anerkennung der Ideale, um derentwillen die Waffen jetzt erhoben worden sind, gilt dieser Kampf doch nur einer von vornherein aussichtslosen Sache. Denn es ist Wahnwitz, wenn die Sachsen ihren König zwingen wollen, die Reichsverfassung anzuerkennen, solange Preußen damit zögert. Überhaupt dieses Wort: Reichsverfassung! Es ist zum Schlagwort der Masse geworden, zum Zuckerbrot, mit dem die Führer sie gelockt, und zur Geißel, mit der man sie ausgepeitscht hat. Die bürgerlichen Kräfte reichten zu einer machtvollen Erhebung nicht aus, deshalb kam die Hilfe der Menge gelegen. Zu derselben Stunde aber, in der der große Haufe aufstand, verloren die Verständigen die Führung, und die schrankenlose Willkür entriß ihnen die Zügel. Es war nicht mehr die Sache der Gasse, sondern der Gosse. Jetzt denkt man gar nicht mehr an jene maßvollen Forderungen. Ein verheerender Sturm ist losgebrochen! Der Pöbel herrscht, und der Kampf gilt dem Umsturz!«

Valentine schwieg und blickte wie geistlos in das Feuer. Sie atmete schwer. Die züngelnden Flammen erschienen ihr wie verzerrte Fratzen, die sie mit höhnischem Lächeln ansahen und ihre blutigroten Arme nach ihr ausstreckten.

Da trat der Fremde an ihre Seite und legte ihr teilnehmend die Hand auf die Schulter.

»Mein liebes Fräulein,« sagte er in väterlichem Tone,[260] »Sie sind ein Kind des Landes, und seine Not geht Ihnen zu Herzen. Aber Sie sollen Tröstung in Ihrem Wirken finden, das ihnen Gelegenheit gibt, die Wunden zu heilen, die dieser ruchlose Aufstand geschlagen. Wohltun und Barmherzigkeit üben, sind die edelsten Vorrechte des Weibes. Das tiefe Leid, das Ihre Seele erfüllt, wird durch das erhebende Bewußtsein gemildert werden, nichts gemein zu haben mit denen, die so lange geschürt, bis das Elend und der Jammer hereinbrachen.«

Das blasse Gesicht Valentinens wurde bei diesen Worten marmorweiß, und ihre Augen schlossen sich. Eine Weile verharrte sie unbeweglich, während der Fremde mit erregten Schritten im Zimmer auf und ab ging. Dann erhob sie sich mit Anstrengung, murmelte ein paar Dankesworte für die genossene Gastfreundschaft und verließ das Zimmer.


[261]

Dekoration

Fünfzehntes Kapitel

Im Hotel herrschte lautlose Stille. Mit eiserner Beherrschung erfüllte Valentine bei ihren Kranken noch die letzten Verrichtungen für die Nacht. Dann wies sie die Magd an, sich zur Ruhe zu begeben. Das junge Mädchen mit dem blassen, schmalen Gesicht und den großen, stillen Augen beharrte jedoch darauf, die Nacht im Lehnstuhl inmitten der Kranken zu verbringen und bat sie, sich selbst auszuruhen. Da ging Valentine in das von dem Fremden überlassene Nebenzimmer und legte sich unausgekleidet auf ein Bett.

In derselben Nacht, in der in dem kleinen Bürgerhaus auf der Brüdergasse, worin jahrzehntelang ohn' Unterlaß der köstlichste Frieden treu gehegt worden war, die beiden alten Leute von furchtbaren Seelenqualen gepeinigt keinen Schlaf fanden, wachte ihr Kind an einer der Stätten dem Morgen entgegen, wo während des Tages der blutige Kampf am erbittertsten getobt hatte.

[262]

Die Rede des Fremden hallte Valentine unaufhörlich im Ohre wider, und die fürchterliche Wahrheit seiner Worte grub sich ihr tief ins Herz. Wesenlose Schattengestalten stiegen in der Dunkelheit vor ihren Augen herauf, umwandelten gespenstisch ihr Lager und setzten sich zu ihr auf das Bett. Das sind die unerbittlichen Geister der Zwietracht und des Hasses, hörte Valentine eine Stimme sagen, die auch du hast beschwören helfen.

Und sie dachte an ihre glückliche Kindheit, an ihren geliebten Vater, der, wie sie jetzt wußte, aus seinem Traum, die Menschheit zu beglücken, verhängnisvoll erwacht war, und an die stille Mutter, die bei diesem allen unsäglich litt.

Grenzenlose Traurigkeit zog in des Mädchens Herz und lähmte ihr die Kraft, zu wollen und zu hoffen. Wie sah doch jetzt alles ganz anders aus! Eine einmütige Kundgebung gegen die Weigerung der Regierung, ein flammender Protest des ganzen Landes, der den Ernst des Volkswillens offenbarte, hätte das Äußerste sein dürfen, wozu ein wirklicher Freund des Volkes raten konnte. Was darüber hinaus geschehen, war schreckenvoll!

Valentinens scharfer Verstand erkannte jetzt deutlich, daß der Fremde recht hatte. Das Wort Reichsverfassung hatte als schmetternde Fanfare gedient, bestimmt, das Volk in die Höhe zu reißen, als Losung, um den schon lange im Lande weilenden, aber noch gefesselten Geist der Empörung mit einem Schlage zu befreien. Der Aufstand war eine Machtprobe! Die Regierung sollte erfahren, daß man sie zu allem zwingen könne.

Und selbst wenn diese Probe gelang, was war ihr Erfolg? Sollte der König, sofern er bei seiner Weigerung[263] blieb, zur Abdankung gezwungen und die Republik ausgerufen werden? – Nein! An dem monarchischen Grundpfeiler des sächsischen Staates hatte wohl kaum einer der Führer, die am Anfang an der Spitze der Bewegung standen, rütteln wollen!

Valentine stöhnte auf unter einer zermalmenden Schuld. Auch sie hatte den Kampf herbeigesehnt, sie – ein Weib! Wie jene gutgesinnten, lebensreifen Männer, hatte die Bewegung auch sie mit fortgerissen. Die sonst nicht leicht für eine gemeinsame Idee zu sammelnden Sachsen – hier, wo es der Verwirklichung einer der großen Sehnsuchten des deutschen Volkes galt, – hatten sich alle einmütig zusammengefunden. Nur war das Land, in das sie ihre Blicke mit heißem Verlangen richteten, ein Traumland – – –

Aber die nüchterne Wirklichkeit ist unduldsam gegen die Träger nationaler Hochziele, wenn sie eine gewaltsame Änderung der Machtverhältnisse im Lande herbeiführen wollen. Der graue Alltag haßt die leuchtenden Farben am Himmel der Idealisten und nennt diese Schwärmer.

Auch an die Männer dachte Valentine, die ihr Leben freudig einsetzten und die kaum verstanden, wie rechtlos der Kampf war. Und wieder trat das reine Bild des Vaters vor ihr Auge. Ein furchtbarer Alp legte sich auf sie. Und sie hörte eine Stimme aus der Tiefe ihres starken Herzens heraufschallen: seine Schuld!

Da schrie das Mädchen in namenlosem Weh auf. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie bete, und ihre Augen suchten angstvoll nach einer Tröstung.

So hatte Valentine bis gegen Mitternacht gelegen. Da hörte sie, wie im Nebenzimmer ein Kranker wiederholt[264] um einen Trunk Wasser bat. Entschlossen riß sie sich aus ihren qualvollen Träumen, sprang vom Bett auf und machte eine Bewegung, als wenn sie alle Schwäche von sich abwerfen wolle.

Sie ging in die Krankenstube und sah die junge Magd in tiefem Schlaf. Da reichte sie dem Fiebernden das Glas und ordnete mit liebevoller Schonung sein Lager. Dann setzte sie sich auf den Holzstuhl zur Seite des schlafenden Mädchens und horchte gespannt auf die Atemzüge der Kranken.

Als die ersten Schimmer des jungen Tages hereinbrachen, wurden die Schläfer im Hotel Stadt Rom wach. Das Schweigen der Nacht zog auf den Flügeln der scheidenden Finsternis von dannen, und dumpfes Stimmengewirr und Poltern hob an, denen alsbald Waffenlärm und das Getöse des Gewehrfeuers folgten. Um die vierte Stunde rollte mit dem letzten Glockenschlag der Frauenkirche wieder der erste Schuß durch die feierliche Stille des Sonntagmorgens.

Auf den im Frührot schimmernden und von der heraufsteigenden Sonne golden gefärbten Dächern der Häuser am Neumarkt saßen die Amseln und pfiffen unermüdlich in die neu erwachte Frühlingspracht hinein. Beim Krachen der ersten Schüsse aber schwiegen die munteren Sänger und flogen erschreckt davon, dem Menschen die entweihte Stätte des Friedens überlassend.

Valentine hatte die Betten aus den Zimmern des Fremden in das neue Krankenzimmer bringen lassen. Es währte auch nicht lange, bis wieder Verwundete ihre Hilfe suchten. Doch waren es zum Glück nur leichte Verletzungen, die von Streifschüssen oder von ermatteten[265] Kugeln herrührten. Als aber am Brühlschen Palais ein Geschütz auffuhr und seine Geschosse dröhnend in das Mauerwerk des Hotels einschlugen, wurden auch Schwerverwundete hereingetragen.

Deshalb atmete Valentine auf, als der junge Arzt wieder erschien, der bereits am Abend vorher die Kranken besucht hatte. Er sah todmüde aus, als wenn er während der ganzen Nacht kein Auge zugetan hätte. Rasch legte er die nötigen Verbände an und bezeichnete die Kranken, die er im Laufe des Vormittags nach der Klinik bringen lassen würde.

Nachdem er gegangen war, widmete sich Valentine wieder ihren Pflegebefohlenen. Unermüdlich ging sie von einem zum andern, reichte den Begehrenden Nahrung und versuchte, den Schwerleidenden ihre Qualen mit tröstenden Worten zu erleichtern. In ihrem Herzen hatte sich alle Weichheit befreit, und ein unendliches Mitgefühl für ihre Kranken war in dem Mädchen erwacht.

Von den Vorderzimmern tönte unausgesetzt das Krachen der Gewehre herein. Valentine sah, welche Pein der Lärm manchem Verletzten bereitete. Und es tat ihr weh, daß sie die Schwerleidenden nicht davor bewahren konnte.

Da deutete die Magd nach der Tür, und als sie hinsah, bemerkte sie den weißhaarigen Kopf des Dieners in dem Spalt.

»Mein Herr läßt noch einmal bitten,« flüsterte der Alte.

Als Valentine in das Zimmer des Fremden trat, saß dieser mit dem grünen Schirm über den Augen vor einem geöffneten Koffer. Um ihn herum standen Reisekörbe,[266] und den Fußboden und die Stühle bedeckten Kleider und allerhand Gegenstände.

Bei ihrem Eintreten stand der Fremde auf und führte Valentine zum Kamin, zu dessen beiden Seiten sie sich niedersetzten.

»Das ist noch die einzige Stelle, wohin die Brandung nicht reicht,« sagte er, auf die wirr durcheinanderliegenden Sachen zeigend. »Wie Sie sehen, ziehe ich aus.«

»Ich habe mich gewundert, daß Sie diesen schreckenvollen Ort nicht schon längst verlassen haben,« antwortete Valentine.

Der Fremde zuckte mit den Achseln.

»Die erst vor kurzem vorgenommene Operation meiner Augen verbot eine frühere Übersiedelung. Heute hat mir der Arzt diese erlaubt. Ich werde im Kurländer Haus Wohnung nehmen. Der Wagen, mit dem ich dahin fahre, wird verdunkelt; – so wird es wohl ohne Schaden gehen.«

Valentine machte einen Versuch zu lächeln.

»Wissen Sie auch,« sagte sie, »daß mir Ihr Fortgehen Freude bereitet?«

»Sie müßten keine treue Sorgerin Ihrer Schutzbefohlenen sein,« antwortete der Fremde, »wenn Ihnen der Zuwachs an Krankenzimmern nicht willkommen wäre. Ich verstehe das. Leider finden Sie nur noch zwei Betten vor. Aber wollene Decken kann ich Ihnen dalassen.«

Valentine dankte durch Neigen des Kopfes.

»Der nicht aussetzende Feuerlärm tagsüber,« fuhr der Fremde fort, »war ja bisweilen recht störend. Aber ich saß doch in diesen Hinterzimmern ziemlich sicher. Jetzt befürchte ich freilich, daß diese Sicherheit nicht mehr lange dauern würde.«

[267]

Und als er bemerkte, daß Valentine ihn fragend ansah, fügte er hinzu:

»Die Leute, die vorn an den Fenstern stehen, sind mutige Männer. Ich habe mich vorhin überzeugt, mit welcher Kaltblütigkeit sie schießen. Es ist nur schade, daß sie nicht für eine bessere Sache kämpfen. Sicherlich werden sie auch tapfer aushalten, wenn Mann gegen Mann steht. Und das wird, wie ich vermute, nicht mehr lange ausbleiben.«

»Glauben Sie, daß die Truppen angreifen werden?« fragte Valentine, sich jäh aufrichtend.

»Wenn ich richtig urteile,« erwiderte der Fremde, »haben sie schon zu lange damit gezögert. Vielleicht fühlten sie sich zum Angriff noch nicht stark genug. Aber wie ich hörte, sind jetzt preußische Truppen zu Hilfe gekommen. Auch das Geschützfeuer, mit dem sie das Haus in Trümmer legen werden, weist auf ein baldiges Vorgehen.«

Valentine fühlte ihre Pulse heftig arbeiten. Seit diesem Morgen hatte sie der heimliche Wunsch erfüllt, die Kämpfenden möchten Frieden schließen. Ihr Herz krampfte sich zusammen, wenn sie an die Qualen ihrer Verwundeten dachte, und sie sah die Schuld der für den Aufstand Verantwortlichen ins Riesengroße wachsen.

»Ich liebe den Anblick der in Wut geratenen Soldateska nicht,« erklärte der Fremde, »und vor ihren Taten empfinde ich Grauen. Man kann es wohl verstehen, wenn – in einem Kampf wie hier – die aufs höchste gereizten Truppen die Gebote der Menschlichkeit vergessen. Weh denen, die ihnen aber dann gegenüberstehen! Alle Mannszucht geht in ihrer Wildheit unter. – Doch[268] Ihnen droht nichts, mein Fräulein,« setzte er beschwichtigend hinzu. »Der Soldat bekämpft nur seinen Gegner. Bleiben Sie für alle Fälle ruhig bei Ihren Kranken.«

Valentine erhob sich und ging zur Tür. Der Fremde folgte ihr.

»Es würde mir leid tun, wenn ich Sie erschreckt hätte,« sagte er.

Valentine machte eine verneinende Gebärde.

»Es ist besser, ich weiß alles,« versetzte sie mit leiser Stimme.

Und als ihre Hand schon auf der Türklinke lag, fragte sie noch:

»Wann werden Sie das Haus verlassen?«

»Nach dem Mittagessen,« erwiderte der Fremde.

Valentine zögerte einen Augenblick. Dann reichte sie ihm die Hand und sah ihm ins Auge.

»Leben Sie wohl,« sagte sie, wobei ihre sonst sichere Stimme zitterte, »und haben Sie herzlichen Dank!«

Der Fremde umschloß Valentinens Hand mit warmem Druck.

»Ich fühle, wie Sie leiden,« erwiderte er. »Der Grund Ihrer tiefen Traurigkeit ist aber, wenn ich recht vermute, noch etwas anderes, als das Schicksal Ihrer Kranken. Die Zeit mag Ihnen helfen, den Kummer zu überwinden. Ihre starke Seele wird sich obenauf ringen. Ein Nacken wie der Ihrige ist zu stolz, daß er sich vor dem Gram beugte. – Leben Sie wohl!«

Valentine sah noch einmal in die von dem grünen Schirm beschatteten, gütigen Augen des Fremden. Dann ging sie.

[269]

Als sie auf dem Korridor ein paar Schritte getan hatte, fühlte sie eine Schwächeanwandlung, die sie zwang, stehen zu bleiben. Da regte sich der Trotz in ihr, und sie ging mit erhobenem Haupte weiter.

Vor der offen stehenden Tür eines der Vorderzimmer stockte ihr Fuß unwillkürlich, und sie mußte hineinschauen. Es war mit Verteidigern gefüllt, die in fiebernder Ungeduld nach den Fenstern drängten. Wenn einer der Schützen zurücktrat, entspann sich jedesmal ein Streit um den freigewordenen Platz. Das Krachen der Schüsse wurde von den Wänden zurückgeworfen und erfüllte das Zimmer mit betäubendem Lärm.

Unter den Verteidigern befanden sich Jünglinge, Männer und Greise. Die meisten standen wohl im Alter zwischen dreißig und vierzig. Welche unter ihnen beobachteten eifrig die Wirkung der Schüsse und brachen in lauten Triumph aus, wenn sie einen Treffer melden konnten. Andere befanden sich in leidenschaftlicher Aufregung und gaben ihren Unmut durch heftige Worte und Gebärden kund, wenn sie während einer längeren Zeit nicht zum Schießen kamen. Wieder andere standen beiseite, luden sorgfältig und warteten geduldig, bis sie ans Fenster treten konnten. Einigen der Männer sah es Valentine an Kleid und Haltung an, daß sie höheren Gesellschaftsschichten angehörten. Ausnahmslos leuchtete aus aller Augen Kampfeslust.

Plötzlich brach in der Mitte des Zimmers einer der Schützen lautlos zusammen. Die Umstehenden sprangen hinzu und richteten ihn auf. Auch Valentine war unbewußt zu dem Verwundeten geeilt. Rasch wurde ihm die Weste aufgeknöpft und das blutige Hemd beiseite[270] geschoben, – seine linke Brust war von einer Kugel durchbohrt. Das Herz hatte schon aufgehört zu schlagen. Da legten ihn die Männer schweigend im Hintergrund des Zimmers längs der Wand nieder. Es lohnte nicht, sich weiter um ihn zu kümmern! Schwankenden Schritts ging Valentine auf den Korridor zurück.

Vor dem Krankenzimmer stand ein Mann in einem hellen Anzug, das Gewehr am Riemen über die Schulter gehängt. Wie Valentine ihn in dem Halbdunkel stehen sah, tat sie unwillkürlich einen tiefen Atemzug. Diese Gestalt und dieser Anzug – – – Beides war ihr bekannt, obwohl es nicht zueinander zu gehören schien.

»Heinrich,« entfuhr es ihr im Näherkommen.

Nun erkannte sie ihn; es war Heinrich. Mit einem verlegenen Lächeln, wie es ihm auf dem Gesicht zu stehen pflegte, wenn er in seiner Schwerfälligkeit nicht die rechten Worte fand, kam er heran.

Mechanisch trat Valentine einen Schritt zurück, und ihr Auge streifte den grauen Anzug. Wie ein Blitz kam ihr die Erkenntnis, daß es der Zivilanzug des Leutnants Allmer war. Er hatte ihn bei seinem letzten Besuch getragen.

»Wie kommst du denn hierher, Heinrich?« fragte jetzt Valentine wieder gefaßt. »Und in dieser sonderbaren Verkleidung?«

Heinrich machte eine unbeholfene Bewegung.

»Schilt mich, soviel du magst,« murmelte er, »aber ich konnte nicht anders!«

Und als er bemerkte, wie die Augen des Mädchens noch immer in Verwunderung auf ihm hafteten, stieß er gequält heraus:

[271]

»Ach, Valentine, du weißt ja, mit welchem Widerwillen ich immer die Uniform getragen habe …«

Valentine antwortete nicht.

Da merkte Heinrich, wie das Gefühl dumpfer Verzweiflung in ihm heraufstieg und ihm die Kehle zuschnürte, daß er nicht schlucken konnte. Sein Herz klopfte mit starken Schlägen. Er vermochte Valentinens starren Blick nicht länger zu ertragen und sah zur Seite.

»Ich hätte nimmermehr auf die bürgerlichen Kämpfer schießen können,« murmelte er, »eher hätte ich die Waffe gegen mich selbst gerichtet. Valentine,« setzte er in schlichter Geradheit hinzu, »wer innerlich so an euch hängt, wie ich, der kann nicht anders! Die Luft in euerm Hause« – hier schwoll seine Stimme mit jedem Wort immer mehr an – »ist für mich der Lebensatem! Ich wäre um keinen Preis zu bewegen, mich in Widerspruch zu euch zu setzen. Nicht länger leben oder desertieren. Etwas anderes gab es für mich nicht!«

Valentine war überwältigt von dem Geständnis der Anhänglichkeit Heinrichs an ihr Elternhaus. Gleichwohl traf sie der leidenschaftliche Ausbruch wie ein Schlag vor die Stirn. Dieser schwache und doch so prächtige Mensch, wie er hier vor ihr stand, der seine Pflicht vergaß und seinen Eid brach aus Treue zu denen, die ihm wohlgetan und von denen er sich geliebt wußte – – – seine Schuld, sagte sich das Mädchen, würde einst andern zugeschrieben werden!

Er ist ein Mann, vernahm Valentine eine innere Stimme, der Gut und Böse unterscheiden kann. Die Tugenden sind das Verdienst des Gerechten und die Sünden die Schuld des Sündigen!

[272]

»Heinrich,« sagte Valentine mit gepreßter Stimme, »mußtest du das tun? Hast du dich auch wirklich recht geprüft, bevor du diesen verhängnisvollen Schritt tatest?«

Heinrichs Finger glitten unstet am Gewehrriemen auf und nieder.

»Aber, Valentine,« antwortete er mit ungekünstelter Einfalt, »ich habe mich ja doch nie mit Gedanken über Politik ernsthaft beschäftigt. Wenn man so ein einfacher Mensch ist, wo soll es denn da auch herkommen! Hierzu sind ja die Studierten da. Ich habe das bürgerliche Leben von Kind auf viel lieber gehabt, als das Soldatenleben. Und als mich mein Vater in die Uniform hineinzwang, da ist allmählich ein Widerwillen gegen das ganze Soldatenhandwerk in mir herangewachsen, daß ich schon längst schwermütig geworden wäre, wenn ich euch nicht gehabt hätte. Und wie ich sah und hörte, was für politische Anschauungen dein Vater besaß, da hab' ich gleich gewußt, wie ich zu denken hatte. – Ach, Valentine, du weißt das alles ja schon, du kennst mich ja so gut. Warum quälst du mich denn so …?«

Valentine stieg es zum Halse herauf, und sie griff an den Kragen ihres Kleides, als wenn sie ihn aufreißen müsse.

Heinrich trat dicht an sie heran und erzählte in seiner ungelenken Sprechweise, wie es noch glücklich gelungen wäre, ihre Eltern aus dem Hause herauszubringen, und daß er gehört habe, wie die Madam, in ihren Betten bequem auf dem Wagen liegend, zum Herrn Advokaten gesagt habe, es ginge ihr ganz gut, er brauche sich nicht zu ängstigen.

Da schossen Tränen in die Augen des Mädchens. Mit[273] einer ungestümen Bewegung warf sie ihre Arme um Heinrichs Hals, preßte ihn an sich und küßte ihn viele Male. Heinrich wurde rot bis unter die Haarwurzeln und ertrug Valentinens Küsse mit geschlossenen Augen.

Als Valentine die Umarmung gelöst hatte, sah sie Heinrich ohne Verwirrung ins Gesicht.

»Was wirst du nun tun?« fragte sie.

Heinrich nahm langsam das Gewehr von der Schulter und stellte den Kolben hart auf den Boden.

»Schießen,« antwortete er mit düsterer Entschlossenheit, »und zwar bleibe ich hier im Hause.«

»Glaubst du, daß die Truppen angreifen?« fragte das Mädchen hastig.

»Das müssen sie,« versicherte er, »wenn sie nicht wollen, daß man sie verhöhnt und ihnen Mutlosigkeit vorwirft.«

»Und wann denkst du, daß sie kommen werden?«

Heinrich zuckte gleichmütig mit den Achseln.

»Das weiß keiner, Valentine. Aber herankommen werden sie bestimmt!«

Valentine wandte sich rasch zum Gehen.

»Meine Kranken …« rief sie zurück. »Laß dich wieder einmal sehen, Heinrich!«

Im nächsten Augenblick war sie hinter der Tür verschwunden.


Sechzehntes Kapitel

Während des ganzen Vormittags wurde der Kampf auf beiden Flügeln und im Zentrum mit stetig wachsender Heftigkeit geführt. Die beiden Hotels auf dem Neumarkt[274] erhielten von der Augustusstraße und von der Frauenkirche her wirksames Geschützfeuer, das die in allen Stockwerken des Hauses Stadt Rom eingebauten Erker vollständig in Trümmer schoß. Die Kindschen Häuser an der Westseite des Platzes wurden von den Truppen in der Münzgasse und im Coselschen Palais mit starkem Gewehrfeuer überschüttet.

Auf beiden Seiten wurde mit größter Tapferkeit gefochten. Von dem Donnersturm der Revolution, dessen schauerliche Melodie am gräßlichsten beim Ausbruch des Aufstands durch die Gassen geklungen hatte, war nichts mehr zu spüren. Die Parteien kämpften wie die ordentlichen Streitkräfte zweier sich feindlich gegenüberstehenden Völker. Die Kaltblütigkeit, mit der die Aufrührer vor allem auf den stark beschossenen Punkten aushielten, wurde selbst von ihren Gegnern bewundert.

Der Zorn der Truppen über die Hartnäckigkeit der Aufständischen steigerte sich schließlich bis zur Wut. Zahlreiche Kompagnien hatten während der letzten Nächte, zum Teil bei strömendem Regen, auf dem Pflaster der Gassen und Plätze gelegen, und ihre Verluste wuchsen andauernd. Zudem wußten die sächsischen Soldaten, daß die meisten Gewehre der Aufrührer ihren Armeegewehren älterer Konstruktion in der Feuerwirkung überlegen waren. Aus all diesen Ursachen bemächtigte sich der Truppen tiefe Erbitterung, und sie erwarteten voll Sehnsucht das Signal zum Bajonettangriff. Endlich wurde der Befehl zum Sturm gegeben.

Es war zwei Uhr nachmittags. Die nicht im Feuer stehenden sächsischen und preußischen Truppen waren auf dem Schloßplatz zusammengezogen worden, wo sie in[275] fieberhafter Spannung mit der Front nach dem Georgentor harrten.

Bei diesen Truppen befand sich auch Kurt Allmer. Der Zufall hatte es gefügt, daß die 4. Kompagnie immer an besonders gefährdeten Stellen gekämpft hatte.

Mit heimlicher Bewunderung hatten die Soldaten die Kaltblütigkeit ihres Leutnants während des heftigsten Feuers und seine vollkommene Verachtung jeder Gefahr beobachtet. Wiederholt hatte Kurt das Gewehr eines Verwundeten selbst zur Hand genommen und stundenlang geschossen. Während des größten Teils der Nacht war er munter geblieben, hatte die Posten unausgesetzt revidiert und mit ihnen gewacht, da das Gerücht von einem heimlichen Angriff der Empörer umlief.

Kurt fühlte sich stark erschöpft. Sein Gesicht war von den Anstrengungen der letzten Tage bleich, sein Auge matt. Bisweilen war die Erinnerung in ihm schmerzlich erwacht, und seine Gedanken hatten sich während des Kampfes in das gemütliche Haus des alten Kriegsrats gestohlen – zu Ursula. In diesen ernsten Tagen, wo er ohne Unterbrechung dem Tod ins Auge sah, empfand er es deutlich, wie sein ganzes Herz an diesem herrlichen Mädchen hing.

Nun war Ursula für ihn verloren! – Vielleicht urteilte sie zu hart über sein Vergehen. Doch stand es ihm nicht zu, seine Schuld zu wägen. Und schuldig fühlte er sich! Ob Ursula noch einmal milder über das Unrecht denken würde, das er ihr zugefügt? Vielleicht! Aber ihr Verzeihen würde ihn nicht mehr erreichen – –

Kurt Allmer war in tiefster Seele von der Gewißheit[276] erfüllt, daß er vor einem großen, unabwendbaren Schicksal stand.

Die Truppen auf dem Schloßplatz verhielten sich schweigend. Eine innere Unrast zeigte sich auf den Gesichtern der Soldaten. Zu ihrer Linken, am anderen Ende der Augustusstraße, hielt noch immer das Geschütz, und seine Schüsse gegen Stadt Rom krachten in kurzen Pausen.

Vom Neumarkt, durch die breiten Gänge des Georgentores und vom Zwinger herüber hörte man das starke Gewehrfeuer.

Die Offiziere standen vor der Front. In ihrer Mitte hielten zu Pferde Oberst Sichart und ein paar Stabsoffiziere.

Da kam aus der Richtung des Grünen Tores der Oberbefehlshaber der militärischen Streitkräfte, Generalleutnant von Schirnding, mit seinem Stabe herangesprengt. Der Anblick des alten Veteranen aus den Tagen von Leipzig in schneeweißem Bart und mit den jugendlich blitzenden Augen wirkte auf die Truppen wie ein elektrischer Strom. Jeder Mann reckte sich unwillkürlich höher, und aller Augen richteten sich auf die Heranreitenden.

Jetzt hielt der Generalleutnant vor der Front. Oberst von Sichart drängte sein Pferd an den Kommandierenden heran und empfing den Befehl zum Angriff – – –

Zwei Kolonnen! Die erste unter Major von Hausen stürmt Hotel de Saxe! Die zweite unter Hauptmann von Budritzky vom preußischen Alexanderregiment nimmt Hotel Stadt Rom! Beide Sturmkolonnen werden aus Truppenteilen der sächsischen und preußischen Armee gebildet! Der Angriff hat sofort zu erfolgen!

[277]

Aus den Reihen der mit verhaltenem Atem den Worten des Kommandierenden lauschenden Mannschaften erschollen ein paar gedämpfte Jubelrufe. Die Begeisterung ließ die harte Disziplin für einen Augenblick vergessen. Jeden der an dieser Stelle harrenden Soldaten überfiel eine fieberhafte Erregung. Nur jetzt nicht zurückbleiben müssen! Das wäre ein Unglück – eine Schande!

Die beiden Führer formierten ihre Kolonnen. Kurt Allmer horchte mit zusammengepreßten Lippen auf die mit lauter Stimme gegebenen Befehle. Da glänzten seine Augen, und in sein bleiches Gesicht schoß eine helle Röte, – die 4. Kompagnie wurde genannt.

Hauptmann von Budritzky teilte ein: an die Spitze der zweiten Kolonne sächsische und preußische Zimmerleute und Pioniere mit Sägen und Äxten. Hinter ihnen das 2. Peloton der 3. Kompagnie Albert unter Leutnant von Schwerdtner; dazu Feldwebel Mißbach. Hierauf das Gros der Sturmkolonne: die erste Sektion der 4. Kompagnie Albert unter Leutnant Allmer und ein halber Zug der preußischen 11. Füsilierkompagnie.

Oberleutnant Wetzig und Leutnant von Schönberg nickten Kurt lächelnd zu. Sie waren der ersten Kolonne zugeteilt.

Nun erfolgten kurz und ruhig die Kommandos. Die Kolonnen marschierten – von den enttäuschten Blicken der zurückbleibenden Kompagnien begleitet – im Paradeschritt durch die Augustusstraße bis zu ihrer Biegung in den Neumarkt. Hier wurde noch einmal gehalten. Das an dieser Ecke stehende Geschütz gab rasch noch einige Schüsse auf das Hotel de Saxe ab. Dann wurde es zurückgezogen. Gleichzeitig schwieg auch der Verabredung gemäß[278] das Gewehrfeuer der Truppen auf der Terrasse und an der Frauenkirche.

In diesem Augenblick brach die erste Kolonne vor und setzte sich nach dem Neumarkt hin laufend in Bewegung. Sofort nahm das Feuer der Aufrührer an Heftigkeit zu.

Als die Kolonne das Hotel Stadt Berlin am Anfang des Neumarkts erreicht hat, gerät sie ins Stocken. Ein Hagel von Kugeln schlägt in sie ein, und die ersten Verwundeten stürzen auf das Pflaster. Dann stürmen die Soldaten wieder vorwärts. Einige Leute aber weichen zurück.

Leutnant Allmer sieht das. Er verläßt seinen Platz bei der noch hinter dem Johanneum gedeckt stehenden zweiten Kolonne, springt mit schnellen Sätzen vor und zwingt die Zaudernden mit erhobenem Säbel, der Kolonne nachzulaufen. Da fällt sein Blick auf den Soldaten Engler seiner Kompagnie, der mit zerschmettertem Oberschenkel auf dem Platze liegt. Rasch ruft Allmer einen der Vorwärtseilenden zu sich und trägt mit ihm den Schwerverwundeten zurück.

Unterdessen stürmt die Kolonne unter dem vernichtenden Feuer über den weiten Platz hinweg. Die zu Boden Gestürzten bezeichnen den Weg, den sie gegangen. Da strauchelt unmittelbar vor dem Brunnen der seinen Leuten mit hochgeschwungenem Säbel voraneilende Major von Hausen und stürzt zu Boden. Die Kolonne stürmt über ihren gefallenen Führer hinweg und verschwindet in dem von den Vollkugeln des Geschützes eingeschossenen Tor des Hotels de Saxe.

Noch hat der letzte Mann das Tor nicht erreicht, als[279] der von einem Prellschuß ans Knie getroffene Major von Hausen sich erhebt und mit langen Sprüngen der Kolonne nacheilt.

Jetzt läßt der Artilleriehauptmann Grünwald das Geschütz wieder vor dem Brühlschen Palais auffahren und richtet es selbst gegen Stadt Rom. Ein paar wohlgezielte Schüsse schnell hintereinander, dann stürzt die zweite Kolonne vor.

Am Jüdenhof, von wo die Stürmenden an den Kindschen Häusern entlang müssen, geraten sie ins Kreuzfeuer. Leutnant Allmer wirft vom Flügel aus einen Blick über seine Leute. Mit keuchendem Atem und geschlossenen Augen stürmen sie vorwärts, – durch den Eisenhagel hindurch.

»Schlag' fester!« knirscht er dem Tambour an seiner rechten Seite zu.

»Bumm – bummbumm! – – – bumm – bummbumm!« tönt der Klang der Trommel dumpf in das Pfeifen und Rasseln und Krachen des entsetzlichen Höllenkonzerts hinein. Tambour Gebhardt, ein vierzehnjähriger Knabe, schlägt wie verzweifelt auf das Kalbfell. Da zersplittert ein Trommelstock beim heftigen Aufschlagen auf den Eisenring der Trommel. Den zweiten reißt ihm eine Kugel aus der Hand. Er hämmert mit den Fäusten drauflos. »Bumm – bummbumm! – – – bumm – bummbumm!« – Kurt Allmer schließt ebenfalls eine Sekunde lang die Augen; – eine Wolke von Eisen fliegt um die Stirnen … Von vorn und besonders von rechts, aus den kaum zehn Schritt entfernten Häusern, zischen, schwirren und heulen die Geschosse in den wie sinnlos vorwärtsstürzenden Menschenhaufen blind hinein[280] und reißen ihre Opfer wütend zu Boden. »Bumm – bummbumm! – – – bumm – bummbumm!« Leutnant Allmer bohrt seine Augen in den Nacken des vor ihm laufenden Soldaten Lucas. Da fliegt dessen Hinterkopf weg und blutiger Brei spritzt umher. Der Verwundete bricht wie vom Blitz getroffen zusammen. Allmer springt über ihn hinweg, stürzt beinahe, rafft sich aber wieder auf. Eine Hand packt ihn von hinten am Rock. Er wendet den Kopf und reißt sich los, – Soldat Löffler fällt mit zerschmettertem Unterkiefer nieder. »Bumm – bummbumm! – – – bumm – bummbumm!« – »Will denn dieser feuer- und flammenspeiende Höllenweg kein Ende nehmen?« keucht Allmer, um im nächsten Augenblick aufzuschreien: »Schlag' fester! – – fe – ster!« – »Bumm – bummbumm! bumm – – – bummbumm!« Der Tambour haut bloß noch mit der rechten Faust, die linke Hand hängt vom Knöchel an einem Fleischfetzen herab. »Bumm – bummbumm! – – – bumm – bummbumm!« klingt es nur noch matt. Das Gebrüll, Gestampfe, Geknatter und Geprassel frißt den Klang der Trommel gierig ein.

Da schreit plötzlich die schrille Knabenstimme in Todesangst auf: »Herr Leutnant! – Herr Leutnant …!« Dann gibt die junge, durchschossene Brust nichts mehr her. Der Tambour stürzt und rollt mit seiner Trommel seitwärts fort. Leutnant Allmer sieht durch Blut und Rauch, daß andere vor und neben ihm fallen … Stürze, wer mag! – – Vor … wärts! Und: »Hurra! – Hurra!« hört er seine eigene Stimme in rauhen Kehllauten rufen. Und: »Hurra! – Hurra!« fallen die Stürmenden ein. – Stadt Rom ist erreicht! –

[281]

Hier stockt der rasende Angriff. Die Fenster sind mit starken Laden verschlossen, und die schwere Tür widersteht allen Axthieben. Nur ihr oberes Feld ist von einer Kanonenkugel zertrümmert worden. Pioniere und Zimmerleute schlagen wie unsinnig mit Beilen auf Tür und Fensterladen. Ohne sonderlichen Erfolg! Die furchtbare Erregung vereitelt besonnenes Handeln.

Die keuchenden Soldaten stehen unterdessen mit Gewehr bei Fuß in kerzengerader Haltung und ohne mit den Wimpern zu zucken vor dem Haus. Jeder bohrt seine Augen auf die verrammelten Fenster; keiner wagt, sich umzusehen. Aus den Häusern zwischen Kirchgasse und Frauengasse werden die zum ohnmächtigen Ausharren Verurteilten unaufhörlich mit Feuer überschüttet. So stehen sie heldenmütig, ohne eine Hand zu ihrer Verteidigung aufheben zu können. Eine Schar, die noch vor wenigen Sekunden mit furchtbarer Gewalt vorwärtsstürmte, – jetzt regungslos wie in Totenstarre, während von rückwärts auf zehn Schritt Entfernung die Kugeln in den dichten Haufen einschlagen, daß die Todesmutigen ruhmlos fallen. Wie Wild, das vor die Büchsen der Jäger getrieben worden ist – – –

Noch hallen die Axtschläge hohl in das Knattern und Heulen der Flintenkugeln hinein, als Leutnant Allmer vom Zorn überwältigt einen furchtbaren Säbelhieb nach einer Stelle des Ladens tut, von der schon wiederholt Stücke absplitterten. Aber der Eisenhauer springt zurück, als habe er Granit berührt. Er hat den schweren Riegel getroffen, der den Laden im Mauerwerk festhält.

Verzweifelt gleiten Allmers Blicke nach dem Fenster rechts vom Tore, dessen Laden den Axthieben soeben[282] nachgegeben hat. Auf der Fensterbrüstung kniet Hauptmann von Budritzky.

»Der sächsische Leutnant dort,« ruft der Hauptmann, zurückschauend, Allmer mit zürnender Stimme durch den Tumult zu; »zum Donnerwetter, Herr, warum sind Sie denn noch nicht drin?!«

Ruft's und springt als Erster von seinen Leuten durch das Fenster hinein.

Da stößt der solchermaßen hart Angelassene knirschend den Säbel in die Scheide, ergreift sinnlos vor Wut mit beiden Händen die untere Kante des Ladens und zieht ihn aus der Fensterhöhlung, daß ihm das Blut unter den Fingernägeln hervorquillt. Ein Dutzend Hände folgt seinem Beispiel. Die schon aus den Fugen geratenen starken Bretter können dieser Kraft nicht widerstehen. Es knirscht und splittert! Noch ein gewaltiger Axthieb, dann reißt der Laden krachend mitten auseinander.

Leutnant Allmer schwingt sich auf die Brüstung. Die Nächststehenden helfen seiner Bewegung nach, daß er im Schwunge durch das Fenster fliegt. Gleichzeitig reißt Feldwebel Mißbach die vor ihm stehenden Soldaten beiseite und wirft seinen Riesenleib gegen die stark erschütterte Tür, worauf diese dröhnend aufspringt. Im Nu sind alle Soldaten im Hause verschwunden.

Die Tür des Zimmers, in das Kurt gesprungen, war verschlossen und mußte von den ihm gefolgten Zimmerleuten erst eingeschlagen werden.

Hinter den stürzenden Brettern sperrte den leeren Korridor ein einzelner Mann – hohläugig und barhaupt, den langen, dürren Leib von einer schwarzrotgoldenen[283] Binde umschlossen. Es war der geistliche Herr aus der Oberlausitz, der fanatische Barrikadenkommandant.

Furchtlos hielt er allein den in Raserei verfallenen Soldaten stand. Er hob die Arme, als wenn er auf der Kanzel stünde, und sprach in beschwörendem Tone:

»Weh' denen, die in Zorn verfallen und wider die heiligen Gebote freveln …«

Da stockte die fromme Rede. Erstaunt guckte der Mann Gottes nach seiner rechten Hand, die mit einem Mal auf dem Fußboden lag. Im nächsten Augenblick saß ihm ein halbes Dutzend Bajonette in der Brust, und der Haufe stürmte über seine Leiche hinweg.

Als Kurt die Treppe hinaufeilte, drängten sich im ersten Stock gerade die letzten Empörer durch eine Tür und warfen diese vor den heranstürmenden Soldaten ins Schloß. Auf dem Treppenabsatz kniete zusammengebrochen Feldwebel Mißbach.

Kurt hielt erschöpft im Laufen inne.

»Was ist Ihnen, Feldwebel?« rief er dem vor sich Hinstierenden zu. »Sind Sie verwundet?«

Der Kniende hob den Kopf. Seine Augen blickten irr auf den Offizier.

»Herr Leutnant,« lallte Mißbach mit schwerer Zunge, »mein Sohn ist dort drin.«

Damit wies er auf die Tür, vor der ein Haufe Soldaten aufs höchste erregt wartete, daß sie unter den gegen sie geführten Beilhieben einstürze.

Allmer blickte ungläubig auf den Knienden.

»Unsinn, Feldwebel!« sagte er bestimmt, während oben die Tür krachend in Trümmer fiel. »Ihr Sohn[284] unter den Empörern? Sie sehen Gespenster. Korporal Mißbach ist in der Kaserne. Er hatte doch Dienst, als wir ausmarschierten.«

Feldwebel Mißbach wollte antworten. Aber seine Lippen bewegten sich nur, und sein Kopf sank wieder herab.

Da verließ ihn Kurt und sprang die Stufen vollends hinauf.


Als die Stürmenden in das Hotel eingedrungen waren, stand Valentine zitternd inmitten ihrer Kranken. Ob die wütenden Soldaten die Verwundeten schonen würden? Ihre Blicke hingen voll Entsetzen an der Tür. Auf dem Korridor krachten Schüsse, und schwere Tritte stampften die Treppe herauf. Hastiges Laufen und erregte Rufe von allen Seiten.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Heinrich sprang herein.

»Um Gotteswillen!« rief Valentine, »flieh, Heinrich! Die Wände nach den Häusern der Kirchgasse sind durchgeschlagen. Rasch fort, sonst ist es zu spät!«

Heinrich schüttelte den Kopf.

»Feige Bande!« murmelte er verächtlich; »alle auf und davon. Ich stand nur noch allein.«

»Heinrich,« flehte Valentine, am ganzen Körper zitternd, »tu mir's zuliebe!« Und sie legte beschwörend die Hände auf seinen Arm. »Tu es um meiner Mutter willen, guter, lieber Heinrich!«

Ein tiefer Atemstoß kam aus Heinrichs Mund.

»Es geht nicht, Valentine,« sagte er rauh. »Als ich aus der Kaserne entlief, wußte ich, wie es kommen würde.[285] Und trotzdem tat ich's. Alle werden Mitgefühl finden, wenn man sie auch noch so hart verurteilt, – ich allein nicht! Meine Kameraden verachten mich, und die bürgerlichen Kämpfer werden mit Fingern auf mich zeigen. Ich habe nicht nur meinen Eid gebrochen, ich habe auch auf meine Kameraden – geschossen!«

Da blieb Valentine stumm und sah von dem Jugendfreund weg. Schwere Axtschläge hallten an der Tür des Nebenzimmers. Sie weckten das Mädchen aus ihrer Starrheit.

»O Gott!« rief sie. »Der Fremde wird das Haus doch verlassen haben …« Mit diesen Worten lief sie zu der Tür, die in das Nebenzimmer führte, und öffnete.

Der Fremde stand mit dem grünen Schirm über den Augen neben den geschlossenen Koffern zum Fortgehen bereit. In seiner Hand hielt er den Hut. Der greise Kammerdiener sprach erregt auf ihn ein.

Da brach die Tür unter den Axtschlägen zusammen, und ein Schwarm Soldaten mit wutentstellten und pulvergeschwärzten Gesichtern, aus denen das Weiße des Auges furchtbar leuchtete, drängte ins Zimmer. Der Weißhaarige fuhr herum und zog blitzschnell einen Revolver aus seiner Rocktasche. Den Soldaten mit einer beschwörenden Handbewegung entgegentretend, rief er:

»Zurück! Das sind die Zimmer Seiner Durchlaucht des Prinzen von Schwarzbu…«

Ein gräßlicher, dumpfer Schlag, – der Alte stürzte mit zerschmettertem Kopf nieder. Valentine sah, wie der Fremde zu den Eingedrungenen sprechen wollte. Da krachten aus den Gewehren eines sächsischen und eines preußischen Soldaten gleichzeitig zwei Schüsse. Der[286] Fremde warf die Arme in die Luft und brach rücklings zusammen. In sein schweres Aufschlagen auf den Fußboden mischte sich der gellende Schrei eines Weibes, – Valentine war in die Knie gebrochen.

Über sie hinweg sprang jetzt Heinrich, den vordersten Soldaten blitzschnell mit dem Kolben niederschlagend. Ein zweiter wuchtiger Hieb, und der nächste flog mit eingestoßener Brust seinen Kameraden in die Arme. Durch die Kraft des Streiches brach der Kolbenhals dicht hinter der Schraube ab, und der Kolben fiel zu Boden. Heinrich faßte das Gewehr an der Mündung, und sein eiserner Arm schwang die zerbrochene Waffe wie eine furchtbare Keule. Ein Dritter, – ein Vierter stürzte schwer getroffen nieder, – da stieß einer der Ergrimmten dem völlig Umringten das Bajonett tief in die linke Seite. Heinrich stand einen Augenblick wie eine Bildsäule. Dann entsank die Waffe seinen Händen. Taumelnd schlang er die Arme um seinen Angreifer und riß ihn zum dröhnenden Fall mit hin. Durch die Wucht des Niedersturzes blieb der Soldat betäubt liegen.

Nun eilten alle Soldaten wieder hinaus, nachdem noch der letzte sein Gewehr mit der Mündung Heinrich auf die Brust gesetzt und abgeschossen hatte.

Kaum eine Minute hatte das Gemetzel gedauert. Jetzt herrschte nach dem fürchterlichen Tumult tiefe Stille im Zimmer. Nur die Zeugen des grauenvollen Geschehnisses, die regungslos auf dem Fußboden herumlagen, erzählten mit stummen Worten, was sich zugetragen. Von den oberen Stockwerken hallte entfernter Lärm in das Schweigen hinein. Der Geruch von Pulver und Blut erfüllte den Raum.

[287]

Valentine kniete noch auf der Stelle, wo sie zusammengebrochen war. Ihr Gesicht war schrecklich entstellt. Die unnatürlich weit aufgerissenen Augen glitten geistlos durch das Zimmer, bis sie auf Heinrich haften blieben. Mit ungeheurer Anstrengung raffte sie sich auf, ging zu ihm hin und kauerte neben dem Sterbenden nieder. Der Schmerz zerriß ihr die Brust; aber ihre Augen blieben tränenlos.

»Heinrich,« wehklagte sie leise, »Heinrich – – –«

Da schlug der junge Mann die Augen auf und erkannte das Mädchen. Ein schwaches Lächeln trat auf seine Lippen. Und als sie seine Hand erfaßte, versuchte er, sie zu streicheln.

»Mit mir ist's aus,« flüsterte er.

Valentine preßte die Lippen zusammen, um nicht aufzuschreien.

»Ich muß schon früh sterben,« hauchte er in abgerissenen Worten. »Aber es gab eine Zeit in meinem Leben voll Sonnenschein. Das waren die Jahre in euerm Hause. Soviel Glück ist nicht jedem beschieden. Jetzt möchte ich aber nicht länger leben. Meine Stirn trägt ein … Schand – mal.«

Das Mädchen sank vollends auf den Boden nieder und legte den Kopf des Verscheidenden auf ihren Schoß.

»Heinrich, – Heinrich!« stammelte sie mit zuckendem Mund.

Ein erneutes Lächeln trat auf seine rasch verfallenden Züge.

»Ich habe es nicht verdient, so friedlich zu sterben,« sagte er, schon fast nicht mehr vernehmlich.

Ein Erstickungsanfall drohte ihn zu überwältigen.

[288]

»Valentine,« lispelte Heinrich noch einmal, »ich habe euch alle ja so unaussprechlich lieb gehabt!«

Das Mädchen faltete in grenzenloser Verzweiflung die Hände und betete laut. Als sie die Worte sprach: »… Dein Wille geschehe … und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern …,« da bewegten sich noch einmal die Lippen des Sterbenden, als ob er diese Worte mitspreche. Dann sank sein Kopf zurück.

»Heinrich!« schrie Valentine herzzerreißend auf.

Aber der junge Mann hörte diese irdische Stimme nicht mehr. Er hatte seine letzte Wanderung bereits angetreten – – –

Valentine war vernichtet. Mechanisch erhob sie sich, als sie Schritte vernahm. Ihre Augen waren umflort, daß sie den Eintretenden nicht erkennen konnte. Nur die Uniform unterschied sie.

Nicht wissend, was sie tat, hob sie den zu ihren Füßen liegenden Revolver auf, der neben der Leiche des weißköpfigen Kammerdieners lag, und richtete ihn zur Verteidigung auf den Soldaten.

Da schlug der Klang einer bekannten Stimme in ihre Seele, und sie hörte ihren Namen aussprechen. Des Mädchens Blicke bohrten sich durch den Nebel, der vor ihnen lag, – – der Revolver fiel polternd auf den Fußboden, und der erhobene Arm sank schlaff an ihrer Seite herab. Der Mann ihr gegenüber war – Kurt Allmer!

Wohl eine Minute lang verharrten beide regungslos, die Augen ineinander gesenkt. Dann neigte Valentine[289] demütig die Stirn tief herab, wandte sich um und ging mit schwankenden Schritten in das Krankenzimmer zurück. Kurts Blicke folgten ihr. Als er durch die geöffnete Tür die Verwundeten sah, beschlich ihn heimliche Befriedigung. Er hatte geglaubt, Valentine gehöre zu den Kämpfenden.

Schon wandte sich Kurt wieder nach der Tür, als seine Augen auf der Leiche eines der Gefallenen haften blieben. Er griff sich an die Stirn. War das kein Trugbild? Nein, es war Wahrheit! Feldwebel Mißbach hatte recht gesehen! Kurt wandte sich kopfschüttelnd von dem Anblick und verließ das Zimmer.

Auf dem Treppenabsatz lag Feldwebel Mißbach lang ausgestreckt, auf der Brust das Eiserne Kreuz. Sein Gesicht war dunkelrot. Kurt beugte sich zu ihm nieder und rüttelte ihn. Feldwebel Mißbach war tot! – Da ließ Kurt von ihm ab und ging langsam die Treppe hinunter. Dort der Sohn – hier der Vater! »Herzschlag …« murmelte Kurt.

Unten im Hausflur sammelte er eine Anzahl Soldaten, die sich hier inzwischen zusammengefunden hatten, um sie nach den gegenüberliegenden Häusern der Kirchgasse zu führen. Dort war unterdessen ebenfalls gestürmt worden. Der aus diesen Häusern dringende Lärm verkündete, daß darin noch ein hartnäckiger Kampf Mann gegen Mann geführt wurde.

Kurt schlang den Faustriemen des Portepees um das rechte Handgelenk. Als er hierauf mit seiner kleinen Abteilung ins Freie trat, sah er neben der Tür des Hotels den Soldaten Ullrich hilflos auf dem Pflaster liegen. Der Verwundete flehte inständig, ihn fortzutragen,[290] da aus den nahen Fenstern unausgesetzt nach ihm geschossen würde.

»Schafft ihn rasch in das Haus,« rief Kurt seinen Leuten zu und bückte sich nach dem Soldaten, um ihn selbst mit aufzuheben.

In diesem Augenblick erhielt Kurt einen furchtbaren Schlag in den Rücken, der ihn beinahe über den Liegenden geworfen hätte. Unter Aufbietung aller Kräfte richtete er sich in die Höhe und sah sich um. Es war niemand in der Nähe. Nur seine Leute liefen hastig in das gegenüberliegende Haus, nachdem sie den Verwundeten in den Torweg des Hotels gebracht hatten, wo er vor den Kugeln geschützt war.

Kurt fühlte, wie ihm die Sinne zu schwinden drohten. Da krampfte er die Finger um den Säbelgriff und ging unsicheren Schritts, den Kopf herabgesenkt, über den leeren Neumarkt zurück.

Was war doch mit ihm? Seine Beine wollten ihn ja kaum mehr tragen? Warum lief er denn eigentlich über den Platz? Schossen die Aufrührer aus den Fenstern zu seiner Linken nicht andauernd auf ihn? Natürlich schossen sie! Die Kugeln schwirrten ja in einem fort an ihm vorbei.

»Klägliche Schießerei,« murmelte Kurt. »Dankt nur Gott, daß ihr nicht bei der 4. Kompagnie Albert steht, da würdet ihr schon schießen lernen! – Aber die Beine! Herrgott nochmal, was haben doch bloß diese verflixten Beine?« Und er biß die Zähne aufeinander, um die Herrschaft über sich nicht zu verlieren. – »Taumele ich nicht?« sprach er vor sich hin. »Na, gewiß taumelst du,« antwortete er sich selbst. »Du kannst dich doch kaum mehr[291] auf den Beinen halten. – Nur erst über den Platz hinweg sein! Bloß dieser Kanaille nicht den Triumph gönnen, daß ein Königlich sächsischer Leutnant vor ihren Augen aus Mattigkeit hinstürzt. – Links, rechts. Donnerwetter, ihr Füße, seid doch nicht so widerspenstig …«

Warum hielt denn seine Hand den Säbel nicht mehr umfaßt? Schleppte er ihn am Faustriemen nicht auf dem Pflaster nach? »Links, rechts; links, rechts.« – Da, ein scharfer Erzklang! Der Säbel flog in die Höhe und fiel sogleich wieder herab, mit der Spitze von neuem nachschleifend. »Erbärmliches Geknalle,« murmelte er ingrimmig, »bloß den Säbel treffen sie. 's ist ja lächerlich! Laufe hier stundenlang auf fünfundzwanzig Schritt Distanz wie eine ganze Figurscheibe herum, und nicht ein einziger Treffer! Korporal Mißbach, die Leute müssen besser zielen! Das ist ja die reinste Patronenverschwendung!«

Kurt empfand dunkel, daß er kaum noch vorwärts kam. »Der Neumarkt nimmt heute gar kein Ende,« räsonnierte er vor sich hin. »Aber ich laufe auch wie eine Schnecke. Vorhin, auf Stadt Rom zu, – da ging's anders! Hol's der Geier – wie verfault waren wir über den Platz weg … halt – halt – hübsch langsam – nicht stolpern – links, rechts; links, rechts …«

»War es vorhin nicht genau so, als wenn mir ein Stück glühendes Eisen in das rechte Schulterblatt gestoßen würde? – Ein Schuß? Ach, Torheit! Der war über mich weg gegangen, denn ich sah doch ganz deutlich neben dem liegenden Ullrich auf dem Pflaster das Blei spritzen. – Links, rechts; links – – Verdammt nochmal![292] Jetzt zerschießt mir diese Schwefelbande gar noch meinen Paradetschako. Aber der fällt nicht 'runter, freut euch nicht zu früh! Der Kinnriemen hält fest. Ach was, mag er schief sitzen, 's ist ja schon stockfinstere Nacht! – Aber warum krieg' ich denn bloß keinen Atem mehr? Ist denn hier die Luft alle? Donnerwetter, sticht das auf der Brust, wenn ich tief Atem hole! – Mußt Kamillentee trinken und schwitzen, mein Junge, wird Tante Sidonie sagen. Hast dich gewiß wieder mal erkältet. Links, rechts – links, rechts,« preßte er zwischen den fest zusammengebissenen Zähnen hervor.

Kurt Allmer war unter dem heftigsten Feuer aus den Fenstern der Kindschen Häuser über den Neumarkt in seiner ganzen Länge hinweggelaufen1. Jetzt hatte er Stadt Berlin an der Augustusstraßenecke erreicht. Die Truppen, die in dieses Hotel inzwischen eingedrungen waren, hatten mit atemlosem Staunen zugesehen, wie er langsam über den Platz zurückkam.

1 Historisch.

Kurt taumelte so stark, daß es bei jedem Schritt aussah, als müsse er niederstürzen. Da hörte er eine Stimme wie aus weiter Ferne rufen: »Aber lieber Allmer, was ist Ihnen denn?« und eine nebelhafte Gestalt in Uniform mit Stabsoffiziersachselstücken tauchte vor seinen Augen auf.

Leutnant Allmer versuchte noch, militärische Haltung anzunehmen und die Hand an den Tschako zu legen. Aber der daran hängende Säbel zog den Arm wieder herab.

»Melde gehorsamst,« murmelte er, die Augen schließend, »ich bin … ver … wun …«

[293]

Dann sank er in ein paar ausbreitete Arme, und die Sinne vergingen ihm.


Während in Altstadt voll maßloser Erbitterung gekämpft wurde, war es in Neustadt still. Nur das unaufhörliche Krachen der Schüsse drang wie ferner Gefechtslärm über die Elbe herüber.

Auf der Augustusbrücke rollte Wagen auf Wagen, in denen die verwundeten Soldaten nach dem Hospital in der Neustadt gebracht wurden.

Gerade hielt wieder ein solcher verdeckter Wagen vor dem eisernen Tor des Militärkrankenhauses. Ein alter Herr, der in Begleitung einer jungen Dame mit bleichem Gesicht vorüberging, beobachtete, wie der diensthabende Arzt mit dem vom Kutscherbock herabgekletterten Lazarettgehilfen sprach und wiederholt mit den Achseln zuckte.

Da bemerkte der Stabsarzt die Vorbeigehenden und grüßte.

»Kein Platz mehr, Herr Kriegsrat,« antwortete er auf die Frage des alten Herrn. »Unsere Betten sind schon fast alle belegt. Wir dürfen nur noch hereinnehmen, wo voraussichtlich noch zu helfen ist. Hier ist ein Verwundeter, der einen Lungenschuß hat, durch und durch, – also hoffnungslos. – – Fahren Sie den Kranken in die Loge auf der Bautzner Straße,« wandte sich der Stabsarzt wieder an den Lazarettgehilfen, »dort wird eine Anzahl Betten für uns bereit gehalten.«

Auf das Gesicht der jungen Dame trat ein schmerzlicher Zug, und sie sprach ein paar leise Worte zu ihrem Begleiter.

»Herr Stabsarzt,« sagte dieser, »geben Sie uns den[294] armen Teufel. Er kann bei uns ebenso ungestört sterben, wie anderswo.«

Der Stabsarzt erklärte sich einverstanden.

»Fahren Sie nur geradezu,« wandte sich der alte Herr an den Kutscher. »Es sind bloß ein paar Minuten; das erste Haus in der Glacisstraße ist es.«

Der Lazarettgehilfe stieg wieder auf den Bock, und die Pferde zogen langsam an. Der alte Herr hinkte ein wenig, doch blieb er mit seiner Begleiterin dicht hinter dem Wagen.

»So, da sind wir ja schon,« sagte er, als sie die Glacisstraße erreicht hatten, und führte die junge Dame in das Haus.

»In die obere Giebelstube lassen wir ihn bringen,« sagte diese. »Dort liegt er am ruhigsten. Ich werde gleich in die Diakonissenanstalt nach einer Schwester schicken.«

Inzwischen hatte der Lazarettgehilfe mit dem Kutscher die Trage vom Wagen gehoben und brachten sie nun in die sonnenhelle Hausflur, wo sie ihre Last niederstellten.

Auf der Bahre lag mit wachsbleichem Gesicht und geschlossenen Augen ein junger Offizier vom 1. Linien-Infanterieregiment Prinz Albert. Sein Aussehen war das eines Toten. Neben ihm stand ein zerschossener Tschako. An seiner rechten Seite lag der bloße Säbel. Der Faustriemen des Portepees war um das Handgelenk geschlungen.

Die Blicke des alten Herrn richteten sich teilnahmvoll auf den Ohnmächtigen. Da zuckte der Greis in jähem Schreck zusammen und sah schnell nach seiner Enkelin. Ursula von Abendroth lehnte totenblaß an der Wand.[295] Ihre Brust bewegte sich unter heftigen Atemstößen stürmisch auf und nieder, und ihre großen Augen ruhten starr auf der Gestalt des Verwundeten.

»Liebe Leute,« stammelte der Kriegsrat in ungeheurer Erregung, von einem Fuß auf den andern tretend, »unsere Räume reichen doch nicht – ich irrte mich – und mit der Pflege wird es auch hapern – bringt Euern Kranken doch lieber nach der Loge …«

Die beiden Träger sahen verwundert auf den bestürzten Greis und dann auf das junge, schöne Mädchen, das mit einer Ohnmacht zu kämpfen schien. Schweigend traten sie wieder zu der Bahre und gingen damit langsam rückwärts nach der Tür.

In diesem Augenblick fuhr Ursula von Abendroth steil auf.

»Halt!« rief sie in leidenschaftlichem Ton, lief mit schnellen Schritten nach der nahen Tür ihres Zimmers und riß diese weit auf:

»Hier herein bringt den Verwundeten,« klang befehlend ihre Stimme durch den Hausflur, »und legt ihn behutsam auf das Bett …!«


[296]

Der verwundete Leutnant Allmer im Kugelregen den Neumarkt überquerend.

Siebzehntes Kapitel

Der Monat Juni war ins Land gezogen, und der Aufstand war längst niedergeschlagen.

Die hochgespannte Erregung hatte sich allmählich verflüchtigt; eine kühle Beurteilung der Ereignisse war aufgekommen. Die besonnenen Elemente, die den Kämpfen ferngeblieben waren, hatten längst die Oberhand gewonnen. Auch die erhitzten Gemüter beruhigten sich langsam. Man erkannte die Fehler, die gemacht worden, verstand die innere Schwäche und Unwahrheit der vermeintlichen Berechtigung zu dem blutigen Aufstand, und manch einer begriff nicht, wie ihn der Sturm hatte mit fortreißen können.

Nach dem jähen Aufflammen der Geister herrschten niedergedrückte Stimmung und Mutlosigkeit. Und man sah besorgt in die Zukunft und ahnte, daß dem heftigen Ansturm wider die Regierung ein empfindlicher Rückprall folgen würde.

Die Bewohner des Häuschens in der Glacisstraße hatten die letzten Wochen in schwerer Bangigkeit durchlebt.[297] Während draußen der junge Frühling unter tausend- und abertausendfältigem Sprießen und Blühen sein farbenprächtiges, duftendes Kleid gewoben und über das noch zuckende sächsische Land tröstend gebreitet hatte, lag im Innern des Hauses ein junges Menschenkind, das nicht leben und sterben konnte.

Wiederholt war der unbarmherzige Sensenmann an Kurts Schmerzenslager getreten und wieder gegangen. Dann waren Tage gekommen, wo sich in die Herzen der Bangenden das leise Hoffen auf die endliche Genesung des Schwerverwundeten gestohlen. Aber immer hatte sich Kurts Befinden von neuem verschlimmert, daß die zage Hoffnung wieder erstarb. Bis endlich niemand mehr zu hoffen wagte und eine dumpfe Trostlosigkeit sich aller bemächtigte.

Die Ärzte hatten immer nur mit den Achseln gezuckt und versichert, daß Menschenkunst hier umsonst sei. Alles irdische Wissen wäre machtlos, wenn sich die Lebenskraft so verzweifelt gegen den Allbezwinger wehre.

Ein neuer Tag war gekommen, wo das Fieber in dem aufs letzte ermatteten Leib des Kranken nicht mit der gewohnten Heftigkeit raste. Aber solcher Tage hatte es schon gegeben! Keiner der drei Menschen, deren Herzen um das Leben des geliebten Kranken zitterten, wagte noch zu hoffen, in der Besorgnis, die dämonischen Geister wieder wachzurufen.

Seitdem die tückische Kugel in Kurts Rücken eingedrungen und sich den Ausweg durch die Brust gebahnt hatte, war der Verwundete noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen. –

Die Sonne schien freundlich ins Zimmer, als die Augenlider[298] des Kranken ein paarmal leise zitterten und sich alsdann halb öffneten. Da unterschied Kurt die verschwommenen Umrisse einer grauen Katze, die behaglich auf einem buntgestickten Kissen lag und ihn verwundert ansah. Es war eine allerliebste Katze, nur viel kleiner, als Katzen schlechthin zu sein pflegen. Ja, eine so niedliche Katze war es, wie er noch keine gesehen hatte. Das Tierchen schien sich über seinen Anblick zu freuen, denn es ringelte den Schwanz auf und zu und begann leise zu schnurren.

Aber was war das? Neben dieser Katze entdeckte Kurt eine zweite, – eine dritte, – eine vierte! Ja, eine ganze Anzahl von Katzen sah er! Alle lagen auf Kissen und sahen ihn erstaunt und erfreut an.

Kurt schloß vor Mattigkeit die Augen. Als er nach kurzer Zeit von neuem aufsah, fiel sein Blick wieder auf die Katzen. Jetzt erkannte er einen durchscheinenden Vorhang, auf dem die Tiere in grauer Farbe aufgedruckt waren. Gleichzeitig hörte er zwei Frauenstimmen gedämpft miteinander sprechen.

Da versuchte der Kranke, den Kopf dahin zu wenden. Diese leise Bewegung schienen die Sprechenden gehört zu haben, denn ihre Unterhaltung brach ab.

Kurt musterte aufmerksam seine Umgebung und entdeckte, daß er in einem Himmelbett lag, dessen Vorhang zugezogen war. Da bewegte sich geräuschlos die eine Hälfte des Vorhangs, und ein Gesicht beugte sich über ihn.

»Bist du aufgewacht, mein Junge?« hörte er leise eine Stimme sagen, die wie zwischen Lachen und Weinen klang.

Regungslos sah er eine Weile in das Gesicht. Es war faltig und abgehärmt.

[299]

»Erkennst du mich, Kurt?« vernahm er die zage Stimme wieder.

Es dauerte noch eine Zeitlang, dann kam es wie ein Hauch von seinen Lippen:

»Tante Sidonie …«

Er merkte noch, wie es feucht auf sein Gesicht niederfiel. Dann war es ihm, als ob er in eine unermeßliche Tiefe hinabsänke. Das Bewußtsein hatte ihn wieder verlassen.

Nach einer geraumen Zeit erwachte Kurt von neuem. Gleich waren die Katzen wieder da. Jetzt konnten sie ihn aber nicht noch einmal äffen, denn er erinnerte sich deutlich seiner ersten Begegnung mit ihnen.

Er wandte den Blick zur Seite und unterschied hinter dem Vorhang einen weiblichen Kopf. Tante Sidonie konnte es nicht sein; dieses Gesicht war ja viel jünger. Es war ein feingezeichnetes Profil, was er dort sah. Er konnte die Umrisse des Kopfes gegen den hellen Hintergrund klar erkennen.

Wieder machte er eine Bewegung. Darauf klangen eilig leise Schritte, und Tante Sidonie stand vor ihm. Jetzt besaß er soviel Kraft, daß er sie genau betrachten konnte. Ihr Gesicht schien ihm schmaler als sonst. Ja, wenn ihn nicht alles täuschte, sah er darin tiefe Falten. Hatte Tante Sidonie denn Sorgen?

»Was ist mir?« fragte Kurt leise, »und wo bin ich?«

Beim Klang dieser Stimme zuckte es in Tante Sidoniens Gesicht wunderlich, und sie warf einen Freudenblick hinter sich, als ob noch jemand im Zimmer sei. Dann trug sie flink einen Stuhl herbei und setzte sich neben dem Kranken nieder.

[300]

»Weißt du nicht, Kurt,« fragte sie mit gedämpfter Stimme, »daß du während des Straßenkampfs verwundet worden bist?«

Kurt sann angestrengt nach. Straßenkampf? Verwundet? – Da zerriß der undurchdringliche Schleier, der ihm die letzte Vergangenheit verhüllte, und blitzschnell zog alles noch einmal an seinem Geiste vorüber. Die Anfänge der Bewegung traten vor seine Seele, sein Zaudern, das Marschallsche Haus, seine Erkenntnis der wahren Sachlage, der Abschied von Valentine, Ursulas Zürnen und der Kampf und der Sturmangriff auf Stadt Rom. Dann sah er Valentine Marschall mit der Pistole in der Hand, entsann sich des heftigen Schlags, den er im Rücken gespürt, – und zuletzt, schon ganz verschwommen, tauchte der weite, menschenleere Neumarkt in seiner Erinnerung herauf.

»Und wo befinde ich mich?« fragte er noch einmal.

»Du bist bei Abendroths, lieber Kurt. Das ist Ursulas Zimmer. Und Ursula ist es auch gewesen, der du es neben unserm lieben Herrgott verdankst, wenn du jetzt wieder auf dem Wege der Genesung bist.«

Das alte Fräulein machte in das Zimmer eine bejahende Handbewegung. Dann fuhr sie rasch fort:

»Denn Ursula hat dich so gepflegt, wie es ein Engel nicht besser hätte tun können.«

Da hörte Kurt leise Schritte sich hastig entfernen, und eine Tür schnappte gedämpft ins Schloß.

Er verstand das Geräusch. Eine tiefe Bewegung ergriff ihn. Tante Sidonie bemerkte es.

»Nun ist es aber für heute genug,« sagte sie. »Jetzt[301] mußt du dich ganz still verhalten, und wir dürfen nicht mehr zusammen sprechen. Morgen wieder, so Gott will.«

Kurt ergriff die Hand des alten Fräuleins und schloß die Augen. Nachdem er eine Weile still gelegen hatte, sah er wieder auf und fragte:

»Wie lange ist es her, daß ich verwundet wurde, Tante Sidonie?«

Das alte Fräulein sah ihn bittend an.

»Laß es für heute genug sein, lieber Kurt. Du bist ja noch so schwach. – Na, meinetwegen. Vorgestern waren es vier Wochen, daß sie dich als Sterbenden hierher brachten.«

Und sie beschrieb mit kurzen Worten, wie er zu Abendroths gekommen war.

Nachdem Tante Sidonie geendet, blickte Kurt lange ruhig vor sich hin. Dann kam eine unwiderstehliche Müdigkeit über ihn, und er schlief ein.

Als er nach einigen Stunden erwachte, brachte ihm Tante Sidonie ein Glas Wein. Die Freude des alten Fräuleins war unbeschreiblich. Kurt erkannte sie gegen früher kaum wieder. Alle Gemessenheit war von ihr gewichen, und auf ihrem sonst so ernsten Gesicht lag der Schimmer eines unermeßlich großen Glücks.

»Sprich noch etwas zu mir,« bat er.

»Kurt, nicht gleich so viel fürs erstemal,« sagte Tante Sidonie in zärtlicher Besorgnis. »Während du vorhin schliefst, war der Arzt da und verordnete Ruhe, – viel Ruhe!«

Kurt versuchte zu lächeln.

»Ich fühle mich gar nicht so schwach, wie du glaubst,« erwiderte er.

[302]

Da erzählte sie nach einigem Zögern, wie der Aufstand niedergeschlagen worden sei, sprach von seinen verwundeten Kameraden und von den vielen Verhaftungen und den großen Prozessen, die die Gerichte jetzt beschäftigten.

So hatte sie zuletzt alle Bekannten erwähnt. Aber noch immer sah Kurt sie fragend an. Tante Sidonie wußte die stumme Bitte in seinem Blick zu deuten. Unruhig rückte sie auf dem Stuhl hin und her. Aber die Augen des Kranken wandten sich nicht von ihr. Bis sie endlich versetzte:

»Nun, weil du mich so quälst: Advokat Marschall ist ebenfalls in Untersuchungshaft gesetzt worden. Aber man hat ihn wieder freigelassen, als man sah, daß der Arme seinen Verstand nicht mehr richtig beisammen hat. Er soll sich in seinem wieder hergerichteten Hause befinden, wo ihn seine Frau pflegt.«

Tante Sidonie schwieg und sah beiseite. Dann stand sie auf.

»In Oberschlesien haust die Cholera in erschreckender Weise,« begann sie noch einmal, »sie ist über die russische Grenze herübergekommen. Wie man sagt, sind schon ganze Dörfer ausgestorben. Täglich stehen in der Zeitung Aufrufe, daß sich Frauen zur Pflege melden möchten. Aber niemand will es tun, da der Umgang mit den Kranken fast den sicheren Tod bedeutet. Unter den Wenigen, die sich aus Sachsen gemeldet haben, stand in den ›Nachrichten‹ obenan der Name – Valentine Marschall.«

Das alte Fräulein sah, wie Kurt tiefatmend die Augen schloß.

[303]

Da blieb sie noch so lange neben ihm, bis seine ruhigen Atemzüge verkündeten, daß er schlief. Dann verließ sie auf den Zehen das Zimmer.

Am andern Morgen fühlte sich Kurt schon viel kräftiger. Als er erwachte, stand Ursula neben dem Bett und beglückwünschte ihn zu seiner endlichen Besserung. Auch der Kriegsrat kam mit strahlendem Gesicht hereingehumpelt und verließ den Kranken nicht eher wieder, bis Ursula den alten Herrn unerbittlich zur Tür hinausschob.

Von nun an machte Kurts Genesung rasche Fortschritte, und er aß und trank mit Behagen. Seine Pflege versah Ursula. Tante Sidonie saß tagsüber stundenlang an seinem Bett und vertrieb ihm durch ihr Plaudern die Zeit. Aber sie bemerkte, daß er oft zerstreut war und ihren Worten kaum folgte. In solchen Augenblicken hingen Kurts Augen, wie sie mit unbeschreiblicher Freude wahrnahm, heimlich an Ursula.

Zwischen den beiden jungen Menschen herrschte eine tiefinnerliche, stille Herzlichkeit. Tante Sidonie war eine scharfe Beobachterin und empfand deutlich, daß jeder von ihnen eine schwere Last trug.

So war eine Woche vergangen. Kurt durfte heute zum erstenmal das Bett auf ein paar Stunden verlassen.

Nun saß er auf der kleinen Veranda an der Elbseite des Hauses in dem warmen Sonnenschein. Auf seinen Wangen zeigte sich schon eine leichte Röte, das sichere Zeichen der jungen Kraft, die wieder in seinen Körper eingezogen war. Die Mattigkeit war aus seinen Augen verschwunden. Aber sie blickten nicht so heiter in den[304] herrlichen Sonntagmorgen hinein, wie es das Recht des dem Tode Entronnenen gewesen wäre.

Tante Sidonie saß neben ihm, bemüht, seine stille Traurigkeit durch ihre Unterhaltung zu verscheuchen. Endlich mochte sie jedoch überzeugt sein, daß es nutzlos war. Von da an saßen sie stumm beieinander.

Da trat Ursula auf die Veranda.

Das alte Fräulein erhob sich rasch vom Stuhl.

»Beinahe hätte ich's vergessen,« sagte sie, »ich muß ja Herrn von Abendroth …«

Mit diesen Worten eilte sie in das Zimmer.

Ursula stand regungslos hinter Kurts Lehnstuhl. Eine lange Weile drückenden Schweigens verstrich so. Kurt hörte Ursulas Atem schwer gehen. Da wandte er sich im Stuhl plötzlich um und ergriff ihre Hand. Das Mädchen zitterte, daß sie sich an den steinernen Pfeiler der Tür lehnen mußte.

Kurt wollte sprechen, aber eine tiefe Bewegung hinderte ihn daran. Endlich sagte er:

»Ursula, ich habe deine Liebe schlecht belohnt. Das tut mir bitter weh. Du aber hast das Schlimme, was ich dir zugefügt, mit Aufopferung und Großmut vergolten. Ursula, – kannst du mir verzeihen?«

Ursula war bei diesen Worten bleich geworden. Eine Sekunde lang stand sie mit niedergeschlagenen Augen stumm und unbeweglich. Dann entfuhr ihr ein gepreßter Schrei, und sie sank neben dem Sitzenden auf die Knie nieder und legte ihre Stirn in seinen Schoß.

»Liebste, steh auf,« bat Kurt tief ergriffen, »die Beschämung, die ich erleide, tötet mich sonst!«

[305]

Da hob das Mädchen den Kopf und richtete ihre in Tränen schwimmenden Augen auf ihn.

»Nein, Kurt,« sagte sie mit fester Stimme, »du darfst mich nicht um Verzeihung bitten! Ich konnte dir wohl zürnen, aber ich war grausam gegen dich, denn ich hörte nicht auf deine Worte, aus denen ich alles erfahren hätte. Als meine Heftigkeit verflogen war, bereute ich sie. Und Tante Sidonie lehrte mich vollends das bittere Unrecht erkennen, das ich dir zugefügt. Kurt, verzeihe …«

Der Sitzende beugte sich erschüttert herab.

»Sprich nicht weiter,« stammelte er mit bebenden Lippen. »Wer sich von uns schuldig fühlt, mag den andern mit doppelter Liebe für die schlimmen Tage entschädigen. Du hast mir durch deine aufopfernde Pflege das Leben noch einmal geschenkt. Geliebte! Dein soll es nun aber auch fortan gehören, – bis zu meinem letzten Atemzuge!«

»Kurt!« jubelte Ursula hell auf und warf ihre Arme um seinen Hals.

In diesem Augenblick kam Tante Sidonie zurück. Hilflos blieb sie in der Tür stehen. Zwar hatte sie in den letzten Wochen im Träumen und Wachen schon immer das Bild vor Augen gehabt, das sich ihr jetzt so überraschend bot. Aber es war ja doch nur ihre Einbildung gewesen, der höchste Ausdruck ihrer Sehnsucht. Was sie jetzt aber hier sah, war Wirklichkeit – – –

Dem alten Fräulein rannen die Tränen über die faltigen Wangen, und sie trippelte fassungslos hin und her.

»Richtig, der Herr Kriegsrat!« kam es mit einem[306] Mal wie eine innerliche Befreiung von ihren Lippen. »Ach, ich werde ja schon so vergeßlich …«

Damit schoß sie wieder hinein.


Die Sonne stand leuchtend am Himmel, über Sachsens Hauptstadt schwebte Sonntagsfrieden. Der leichte Wind trug vom Kreuzturm, halb verweht, das Geläute der Glocken herüber. Ihr eherner Mund lud alle, die die feierlichen Klänge hören wollten, zum Kirchgang ein.


Von demselben Verfasser erschien 1912:

Siebeneichen

Roman aus dem Alt-Meißner Land von

Signatur Gustav Hildebrand

Geheftet 3 M; – Elegant gebunden 4 M

Eine Reihe glänzender Beurteilungen liegen über dieses schöne, ausgereifte Werk vor, von denen wir Raummangels wegen nur einige abdrucken können. Es schreiben die

»Literarische Neuigkeiten«, Leipzig:

Das Meißner-Land hat seinen Dichter gefunden! Gustav Hildebrands Roman »Siebeneichen« versetzt uns an die rauschende Elbe, nach der alten Markgrafenstadt, und zaubert ein Bild längst vergangener Zeiten hervor, Zeiten geistiger Not, wo alles in heller Begeisterung eintrat für die geläuterte Lehre des Wittenbergers und Ringen nach Erkenntnis die Herzen erfüllte. Die Glaubenskämpfe, welche die wackeren Bürger mit ihrem stolzen Burgemeister Waltklinger an der Spitze zu bestehen hatten, geben dem Buche seinen Grundton, und herrliches Lokalkolorit durchzieht das ganze Werk, in dem ein Dichter das hohe Lied der Heimatliebe erschallen läßt. Der Roman wirkt in der Zeit literarischer Verflachung überaus erquickend, und auch in die Hände der reiferen Jugend darf dieses wahre Volksbuch unbedenklich gegeben werden.

S.-A.

»Sachsensport«, Dresden:

Ins Alt-Meißner Land führt er uns hinein, wie es sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert darstellt, von Religionswirren durchtobt, von regem Handel belebt. Zwei Männer stehen im Vordergrund: der strenge päpstlich gesinnte Amtmann Ernst von Miltitz, Schloßherr zu Siebeneichen, der stolzen meißnischen Burg, die dem Buch den Namen gegeben, und Georg Waltklinger, Meißens ehrenfester, treu evangelischer Burgemeister. Zwei Eisenköpfe, die keinen Schritt breit von ihrer Überzeugung weichen und deren Hader verdunkelnd auf dem Liebesglück ihrer Kinder, Bernhard und Sonnhild, ruht. Mit straffer Hand führt Gustav Hildebrand seine mannigfach verwickelte Handlung bis zum befriedigenden Schluß durch. Packend ist's geschildert, wie, jubelnd vom Volk begrüßt, die Reformation ihren Einzug in Meißen hält. Liebevoll, mit historischer Treue sind die alten schönen Sitten aufgezeichnet. Ein echter Dichter voll Poesie und Humor steht hinter diesem Buch, das den, der es zu lesen angefangen, nicht losläßt bis zum Schluß.

»Dorfzeitung«, Hildburghausen:

Der Verfasser versucht es, uns ein eingehendes Kulturbild aus jener großen und interessanten Zeit zu geben, in der sich die Reformation zu entwickeln beginnt und sich siegreich dem alten Glauben gegenüber durchsetzt. Der Ort der Handlung ist die alte Markgrafenschaft Meißen, die uns Hildebrand mit großer Liebe in allen Einzelheiten ihres damaligen Bildes schildert. Die Hauptträger der Handlung sind ein junges Liebespaar, der katholische Junker Bernhard von Miltitz und Sonnhild, des tatkräftigen Meißner Bürgermeisters Waltklinger liebreizendes Töchterlein, die, wie ihr Vater sich zum neuen Glauben bekennt. Vorzüglich hat der Verfasser es verstanden, in einer hie und da etwas altertümelnden Sprache uns den Geist und die Eigenart jener merkwürdigen Zeit zu schildern; mit plastischer Deutlichkeit treten uns die Hauptpersonen entgegen, die zum Teil als Vertreter der Hauptströmungen des politischen, religiösen und gesellschaftlichen Lebens jener Zeit aufzufassen sind. So verkörpert, um nur zwei Beispiele anzuführen, des Liebhabers Vater Ernst von Miltitz, der herzogliche Amtmann von Meißen, den Adel jener Tage, der voll stolzen Selbstgefühls sich höher dünkt, als die Bürger hinter den Mauern ihrer Stadt, während wir in der Person eben des Bürgermeisters Waltklinger einen Vertreter des aufstrebenden Bürgertums jener Zeit sehen, das, voll Stolz auf sein wirtschaftliches Vorwärtskommen, sich dem Adel ebenbürtig fühlt und diesem voll trotzigen Selbstgefühls die Spitze bietet. – Alle Stände des 16. Jahrhunderts ziehen in bunter Reihe an uns vorüber, der heimatlose Spielmann, das fahrende Kriegsvolk, die Juden u. a. m. Es ist ein Buch, das sich vorzüglich auch für unsere Jugend zur Lektüre eignet und das darum allen Volks- und Schulbibliotheken warm empfohlen sei.

Franz Mießner in »Leipziger Neueste Nachrichten«, Leipzig:

Das ist eine ganz prächtige Geschichte, ohne jeden übermodernen Klimbim, aber dafür voll von Heimatpoesie und echtem gutem Menschentum. Eine kulturgeschichtlich hochinteressante Zeit taucht auf. Deutscher Bürgerstolz im Kampfe mit stolzem Adel, und dazu das sieghafte Ein- und Vordringen von Luthers Lehre; Meißen, die alte Markgrafenstadt, gibt das spezielle Bild, und Schloß Siebeneichen mit seinen Bewohnern spielt eine besondere Hauptrolle. Eine zarte, sinnige Liebesgeschichte klingt glücklich aus und wirkt versöhnend zwischen dem bürgerlichen und adligen Milieu. Die beigegebenen Federzeichnungen von Josef Windisch sind ganz reizend und stimmen vortrefflich zu der feinen, unmittelbaren Schilderungskunst des Verfassers. Ein kerndeutsches Buch! Für die Familie eine prächtige Lektüre.


Einer reichgefüllten Schatzkammer
für alle Kunst- und Literaturfreunde gleicht

Rafael von Urbino

Kunstgeschichtlicher Roman in Bildern

von

Heinrich von Schoeler

300 Seiten mit 10 Kunstblättern
In vornehmem Geschenkband M. 4.50

Wie der bekannte Autor in seinem vor drei Jahren erschienenen und glänzend aufgenommenen historischen Roman »Kaiser Tiberius auf Capri« den Versuch wagte, den genialen Cäsar zu schildern, abweichend von dem Bilde, das eine unkritische Schultradition uns von ihm übermittelt hat, so bietet Dr. H. von Schoeler in seinem neuesten kunstgeschichtlichen Roman »Rafael von Urbino« ein auf der Grundlage sorgfältiger Studien gezeichnetes Bildnis Rafael Santis, das den großen Urbinaten der historischen Wirklichkeit entsprechend darstellt. – Mit Riesenfleiß zeichnet der Verfasser aus dem unermeßlich reichen Borne lebhafter Gestaltungskraft und kunsthistorischen Wissens Blatt um Blatt den Werdegang eines in rastloser Arbeit durch unermüdliche, vorbereitende Studien und konzentrierte Geisteskraft sich emporringenden Genius, der zielbewußt sein Lebenswerk der höchsten Vollendung entgegenführt. Denn Rafael Santi war das Genie, das in seinem gewaltigen Können alle zerstreuten Zeitkräfte sammelte und als zusammenfassender Geist repräsentativ für sein Zeitalter offenbarte.

Nur ein absoluter Beherrscher historischer Darstellungkunst konnte aus dem Vollen heraus ein solch großzügiges Lebensbild des genialen Künstlers und zugleich ein wichtiges Dokument der Blüte der italienischen Renaissancezeit schaffen.

Es ist kein Buch, das man nur zur Unterhaltung zur Hand nimmt. Den Künstler sowohl als den Kunstverehrer, den Lehrer wie den Schüler, kurz die Gebildeten aller Stände fesselt das verdienstvolle Werk durch seine machtvolle Gestaltenfülle und durch den hehren Ausdruck der Kunstbegeisterung eines hoch über den Parteien stehenden Historikers.


Schaffet gute Bücher ins Haus!

37.–42. Tausend

Leonardo da Vinci

Historischer Roman aus der Wende des 15. Jahrhunderts von

Dmitry Mereschkowski

Einzige autorisierte Übersetzung. Vollständige Ausgabe. 584 Seiten mit 16 Kunstbeilagen, gebunden in elegantem, modernem Leinenband.

Preis nur Mark 3.–

Einige Urteile:

Das Buch gehört zu den seltenen Schriften, deren Wirkung auf nachdenkliche Leser bleibend ist, ja deren Lektüre wie ein Schicksal in das Leben vieler einzugreifen imstande ist. Es kann nicht dringend genug empfohlen wenden. Um ihm gerecht zu werden, müßte man allerdings mehr als ein paar Ankündigungszeilen zur Verfügung haben. Hier müssen einige wenige Worte warmer Bewunderung genügen.

(Blätter für Volksbiblioth. und Lesehallen)

… Gewöhnliche Romane hat Mereschkowski nicht geschrieben, es sind gewaltige Seelen- und Kulturbilder.

(Liter. Echo, Berlin)

… so steht dieses machtvolle Werk als das bedeutendste, das Riesenfleiß und geniale Phantasie bisher einen modernen Dichter aus der Lebens- und Gestaltenfülle der italienischen Renaissancezeit hat erschaffen lassen.

(Westermanns illustr. Monatshefte.)

Kein Gelehrter, ein Romancier hat uns die beste Arbeit über Leonardo geschenkt … und so wollte ich auf das Werk verweisen, das besser als gelehrte Erörterungen in die Werkstatt seines Geistes einführt.

(Prof. R. Muther, Breslau.)

Nur ein absoluter Beherrscher schriftstellerischer Darstellungskunst konnte dieses Buch ins Leben rufen, das seinem Autor eine den bedeutendsten Erzählern ebenbürtige Stellung anweist …

(Monatsberichte über Kunstwissenschaft, München)

Mereschkowski, der jüngste der russischen Schriftsteller, ist ein würdiger Nachfolger Tolstois und Dostojewskis.

(Daily Telegraph, London.)

Ein packendes Buch, das höher steht als die besten Romane der Neuzeit, höher als es sich sagen läßt …

(Spectator, London.)

… Und ich wüßte keinen, der auch nur annähernd in dieser Anschaulichkeit die große Zeit vor uns lebendig gemacht hätte … Über das wundervolle Material eines Gelehrten ist ein Dichter geraten, der über die seltene historische Phantasie verfügt. Das ist so außerordentlich wie Mereschkowski aus dem Vollen schöpft. Und man denkt an sein Werk zurück wie an eine gefüllte Schatzkammer. Es liegt so viel Reichtum darin, daß man ihn auf einmal nicht übersehen kann.

(Carl Busse in »Liter. Monatsberichte«.)


Von Dmitry Sergejewitsch Mereschkowski erschienen ferner:

Julian Apostata

der letzte Hellene auf dem Throne der Cäsaren

Ein biographischer Roman

Deutsch von C. von Gütschow

Preis gebunden M. 4.–

»Julian Apostata bringt uns nicht nur die Erzählung des Lebens jenes letzten Hellenen auf dem Throne der Cäsaren, sondern auch eine bewegte Schilderung der damaligen zivilisierten Welt des Westens in mit dramatischer Lebhaftigkeit vor dem inneren Auge des Lesers sich abspielenden wechselvollen, interessanten Szenen.«

Mülheimer Zeitung vom 19. Dezember 1902.

Peter der Große

und sein Sohn Alexei

Historischer Roman aus Rußlands großer Zeit

Deutsch von C. von Gütschow

Preis gebunden M 7.–

»Noch kein Romanschriftsteller hat die Gabe besessen, eine längst vergangene Zeit in solcher Lebensfülle wieder wachzurufen. Es grenzt ans Wunderbare. Und darum glauben wir, daß von allen russischen Schriftstellern der Jetztzeit sich Mereschkowski am längsten halten wird.«

République française, Paris

Julian Apostata (Christ und Antichrist Band 1: Tod der Götter), Leonardo da Vinci (Christ und Antichrist Band 2: Auferstehung der Götter), Peter der Große (Christ und Antichrist Band 3: Der Antichrist) bilden eine Romantrilogie. Jeder Band hat selbständigen Wert u. ist einzeln käuflich.

Michelangelo

und andere Novellen aus der Renaissancezeit

Deutsch von C. von Gütschow

Preis gebunden M. 3.–

Inhalt: Michelangelo. – Die Liebe ist stärker als der Tod. – Die Wissenschaft der Liebe. – Der heilige Satyr.

Mereschkowski zeigt sich hier als Meister einer Kleinkunst von köstlicher Feinheit. Daß uns auch aus diesen vier Erzählungen der lebendige Odem einer reichbewegten Zeit geistigen Erwachens und eines einzig dastehenden künstlerischen Aufschwunges machtvoll entgegenweht, wird niemand wundernehmen, der des Dichters, von vielen namhaften Kritikern als eines der gewaltigsten Bücher unserer Zeit gekennzeichneten, großen biographischen Roman »Leonardo da Vinci« gelesen hat.


Henryk Sienkiewicz, Roman-Trilogie

Deutsch von Clara Hillebrand und Dr. R. Löwenfeld
6 Bände

Elegant gebunden in 6 Original-Leinenbänden M. 28.–

Daraus einzeln:

Mit Feuer und Schwert. Zweite Auflage. 2 Bände. Elegant gebunden M. 9.–

Sturmflut. Dritte Auflage. 3 Bände. Elegant gebunden M. 13.50

Der kleine Ritter (Pan Wolodyjowski). Zweite Auflage. Elegant gebunden M. 6.–

Jede der drei Abteilungen bildet einen Roman für sich

Sienkiewicz, Quo vadis?

Deutsch von Clara Hillebrand

2 Bände. Elegant geb. M. 7.–

Erste korrekte und vollständige, mit vielen Erklärungen versehene Übersetzung

Sienkiewicz, Die Kreuzritter

Deutsch von Clara Hillebrand

2 Bände. Elegant geb. M. 9.–

Sienkiewicz, Die dritte Braut

Gebunden M. 1.50

Sienkiewicz, Lilian Moris

Gebunden M. 1.50


Die Vorzüge unserer Sienkiewicz-Ausgaben sind:
Vollständigkeit, mustergültige Übersetzung, vorzügliche Ausstattung und Billigkeit.


Verlagsbuchhandlung Schulze & Co. in Leipzig


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.