The Project Gutenberg eBook of Josef Dietzgens philosophische Lehren

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Title: Josef Dietzgens philosophische Lehren

Author: Adolf Hepner

Release date: November 29, 2015 [eBook #50574]

Language: German

Credits: Produced by Alexander Bauer and the Online Distributed
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK JOSEF DIETZGENS PHILOSOPHISCHE LEHREN ***

Anmerkungen zur Transkription

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J. Dietzgen

Josef Dietzgens
Philosophische Lehren

Von Adolf Hepner

Mit einem Porträt von Josef Dietzgen

Signet

Stuttgart
Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. G. m. b. H.
1916


Alle Rechte vorbehalten.

Druck von J. H. W. Dietz Nachf. G. m. b. H. in Stuttgart.


[3]

Inhalts-Verzeichnis.

Seite
I.Einleitendes 5
II.Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit 9
III.Dietzgens monistische Erkenntnislehre 23
IV.Dietzgens Ethik 29
V.Die Religion der Sozialdemokratie 38
VI.Sozialdemokratische Philosophie 58
VII.Drei polemische Abhandlungen 69
VIII.Briefe über Logik 76
IX.Erkenntnistheoretische Streifzüge 120
X.Das Akquisit der Philosophie 139
XI.Dietzgens pädagogische und Lebensweisheit 158

[4]


[5]

I.
Einleitendes.

Nicht alles ist Gold, was unter dem Namen »Philosophie« bisher geglänzt hat. Und nicht einmal ist alles Gold, was die wirklichen Philosophen aus dem Schachte ihres tiefen Geistes hervorgeholt und vor der wißbegierigen Menschheit ausgebreitet haben. Gar vieles war von vornherein gegenstandslos, anderes ist von der Zeit überholt, als abgetan durch die moderne Wissenschaft zu betrachten, und von manch hochanspruchvollem Satze darf man sagen: »Lasciate ogni speranza! Laßt die Hoffnung draußen, ihn zu verstehen!«

In noch höherem Grade gilt dies von den Darstellern der philosophischen Systeme. An Lehrschriften der Philosophie besitzen wir eine Unzahl – strotzend von Gelehrsamkeit, von mehr oder minder verständlichen Theorien und Begriffsdefinitionen – über das Denkergebiet aller Zeiten sich erstreckend. So unentbehrlich diese Bücher auch für das philosophische Fachstudium sind – den, der nicht von Hause aus besondere Vorliebe für die Wissenschaft der Wissenschaften hegt, vermögen sie in den seltensten Fällen zu verlocken, sich ihr mehr als dilettantisch zu widmen.

So kommt es denn, daß nur wenige Intellektuelle, deren Berufswissenschaft kein eingehendes Studium der Philosophie erfordert, ihr ein mehr als oberflächliches Interesse zuwenden.

Die Philosophen und ihre Erklärer haben zum allergrößten Teil für die Ausprägung ihrer Gedanken eine Redeweise gewählt, deren Aneignung für viele weit schwieriger ist als das Erlernen irgendeiner europäischen Sprache. Hierdurch verleideten[6] sie den Lesern die Lust zum Eindringen in die Wege und Irrwege der Erkenntnisforschung, so daß die Gedankenoperationen der Philosophen eine Terra incognita (ein unbekanntes Land) für diejenigen blieben, die der bescheidenen Ansicht sind, daß klares Denken nicht durch unklare Wiedergabe der Gedanken bezeugt wird.

Zugegeben, daß das Sichten des Urwalds der menschlichen Erkenntnis eine außergewöhnlich schwierige Arbeit war und an die Pioniere dieser Bemühungen nicht Ansprüche gestellt werden dürfen, die der moderne Literaturgeschmack gezeitigt hat. Immerhin sollten die Philosophen unserer Tage wenigstens sich bemühen, in gefälligerem Sprachgewande vor uns zu erscheinen als die meisten ihrer großen Vorgänger.

Daß Anmut des Ausdrucks mit Schärfe und Klarheit desselben wohl vereinbar ist, daß speziell die Würde der Philosophie durch Herabsteigen des Weltweisen vom hohen Kothurn der Schwerverständlichkeit keine Einbuße erleidet – zeigen unter anderem die Schriften Josef Dietzgens.

Eine Charakteristik des Mannes und seines Lebens liest man besser in der von Eugen Dietzgen den nur drei Bände umfassenden »Sämtlichen Schriften«[1] seines Vaters beigegebenen Biographie. Ich will lieber gleich ans Thema gehen und die wissenschaftliche Arbeit unseres Autors, die in seine letzten zwanzig Lebensjahre (1868 bis 1888) fiel, skizzieren.

Dietzgens erste und Hauptschrift, die er in seiner Petersburger Periode als technischer Fabrikleiter einer Lohgerberei verfaßte und auf eigenes Risiko herausgeben ließ, trägt den schlichten Titel: »Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit« und den weiteren Vermerk: »Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft«. Mit dem letzten Wort im ersten Titel wollte Dietzgen vermutlich andeuten, daß er weder »Materialist« im Sinne der französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts, die den »Stoff« zum Fetisch machten,[7] noch der »Ideenlehre« Hegels verfallen ist, der alles aus dem »Gedanken« ableitete. Aus dem Nebentitel erfahren wir deutlich, daß Dietzgens Weise von der des Königsberger Weisen erheblich abweicht.

Was Dietzgen von den früheren Philosophen in sich aufgenommen, brauchte er nicht ausdrücklich aufzuzählen, da das Neue und Originelle, das in seiner Behandlung des Gegenstandes sich mit dem Alten, Bekannten organisch verknüpft, dem sachkundigen Leser sich direkt offenbart. Man vergleiche zum Beispiel, wie Dietzgen vom dogmatischen Monismus Spinozas fortzuschreiten wußte zu einem erkenntniskritisch nachgewiesenen und erfahrungsmäßig kontrollierbaren Monismus, und man vergleiche ferner die Leibnizsche Lehre, daß keine absoluten Gegensätze im Weltall vorhanden sind, mit der Dietzgenschen. Leibniz wußte aus mystischer Befangenheit gegenüber dem persönlichen Gottesdasein keine erfahrungsmäßig nachweisbare Brücke zwischen dem Relativen und Absoluten zu finden und daher auch keine Versöhnung zwischen gedanklicher und sinnlicher Wirklichkeit aufzudecken; hier blieb er in einem absoluten Gegensatz noch stecken. Dietzgen geht mit Kant in der Erkenntnistheorie die schon vor Kant wegbar gemachte »a posteriori«-Strecke, das heißt er hält es mit Kant darin, daß Erkenntnis nur durch Erfahrung möglich; er verläßt Kant aber bei dessen »a priori«-Rückschritten, das heißt bei dessen Lehre, daß es auch Erkenntnisse ohne Erfahrung gibt.[2] Ebenso kritisch-induktiv steht Dietzgen der Philosophie Hegels gegenüber. Während dieser den Seinzusammenhang zum Entwicklungsprodukt der absoluten Erkenntnis macht, weist Dietzgen umgekehrt das Denken als ein relatives Entwicklungsresultat des absoluten Naturzusammenhangs nach. Aus diesem Grunde[8] bleibt Hegels Dialektik[3] eine idealistisch-mystische Entwicklungslehre gegenüber der naturmonistischen Dialektik Dietzgens, welche induktiv nachweisbar fortschreitet bis zum letzten Vermittler aller Widersprüche, dem Universalzusammenhang.


[9]

II.
Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit.
(Erkenntnislehre.)

In seinem »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« zeigt Josef Dietzgen, »was die Philosophie positiv Wissenschaftliches gefördert hat«, und zwar, wie er sich ausdrückt, »langstielig und größtenteils unbewußt«. Er will »die allgemeine Natur des Denkprozesses enthüllen, weil diese Erkenntnis uns die Mittel an die Hand gibt, alle die allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens wissenschaftlich zu lösen und zu einem fundamentalen Standpunkt, zu einer systematischen Weltanschauung zu gelangen, welche das langerstrebte, aber nie erreichte Ziel der spekulativen Philosophie war«.

Unser Autor behandelt zunächst »die reine Vernunft oder das Denkvermögen im allgemeinen«, die allgemeine Natur des Denkprozesses, in dessen Erkenntnis, wie er in einer späteren Schrift mit Recht sagen darf, »das Fundament aller Wissenschaft liegt«. Dann geht er zum »Wesen der Dinge« über unter begründeter Abweisung von Kants »Ding an sich«, das heißt der Kantschen Theorie, daß hinter dem von uns Wahrgenommenen, hinter seiner Erscheinung, noch ein »Ding an sich« steckt. Dietzgen zeigt, daß eine Erscheinung nur vorhanden ist, sofern sie unserem Denkvermögen, beziehentlich unseren Sinnen sich offenbart; ein »Ding an sich«, das außerhalb der Erscheinungswelt existieren sollte, führt zum Köhlerglauben. Dietzgen weist Kants »Ding an sich« überzeugend auf als nichts Übersinnliches, beziehentlich von der Sinnlichkeit Unabhängiges (wie Kant das »Ding an sich« auffaßte), vielmehr erstens als absolut identisch mit dem Universum, dem einzigen »Ding an sich«, das alle anderen Dinge in sich trägt und nur absolut »an sich« durch dieses[10] »in sich« ist; und zweitens als relativ identisch mit dem allgemeinen Bild der Vorstellung oder dem Begriff, die der Mensch mittels Denkens aus dem sinnlich Besonderen entwickelt. Dietzgen behandelt dann »die Praxis der Vernunft in der physischen Wissenschaft« – Ursache und Wirkung, Geist und Materie, Kraft und Stoff – und im Schlußabschnitt die »praktische Vernunft oder Moral« – das Weise, Vernünftige, das sittlich Rechte, das Heilige.

In folgendem gebe ich, und zwar in Dietzgens Wortlaut, das Wesentlichste seiner Erörterungen und Befunde über den Denkprozeß:

Der Mensch denkt zunächst nicht, weil er will, sondern weil er muß; allgemeiner Zweck des Denkens ist die Erkenntnis … Der Denkakt vollzieht sich in Kontakt mit anderen, mit sinnlichen Erscheinungen und ist dadurch selbst eine sinnliche Erscheinung geworden, die in Kontakt mit einer Hirnfunktion den Begriff des »Denkvermögens« erzeugt.

Mit der reinen Denkkraft, ohne die Hilfe der Objekte (oder der Erfahrung darum), die allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens zu erforschen, dieser vergeblichen Mühe widmete sich die spekulative Philosophie. Wissenschaftliches Denken heißt nur das Denken, welches das Wirkliche, Sinnliche, Natürliche zum bewußten Gegenstand hat. Sowenig es ein Denken, eine Erkenntnis gibt ohne Inhalt, sowenig existiert ein Denken ohne Gegenstand oder ohne Objekt, ohne ein anderes, das gedacht oder erkannt wird. Objektloses Denken ist eine Unart der »spekulativen« Philosophie, welche Erkenntnisse ohne Begattung mit einem sinnlichen Gegenstand erzeugen will.

Denken ist eine Arbeit und bedarf wie jede andere Arbeit ein Objekt, an dem es sich äußert. Das Denken erstreckt sich allgemein auf alle Objekte.

Das Denkvermögen erforscht aller Dinge Wesen, wie das Auge alle Sichtbarkeit. Wie nun das Sichtbare im allgemeinen in der Theorie des Gesichts, so ist das Wesen der[11] Dinge im allgemeinen in der Theorie des Denkvermögens zu finden.

Das Denkvermögen trennt Ursache und Wirkung.

Wir erkennen wohl alle Objekte, aber kein Objekt läßt sich ganz erkennen, wissen oder begreifen.

Denken ist eine Tätigkeit des Gehirns, wie Gehen eine Tätigkeit der Beine. Wir nehmen das Denken, den Geist ebenso sinnlich wahr wie den Gang, wie wir die Schmerzen, wie wir unsere Gefühle sinnlich wahrnehmen. Das Denken ist uns fühlbar als ein subjektiver Vorgang, als innerlicher Prozeß … Aus einem immateriellen, unfaßbaren Wesen wird nunmehr der Geist zu einer körperlichen Tätigkeit. Seinem Inhalt nach ist der Denkprozeß verschieden in jedem Augenblick und bei jeder Persönlichkeit, seiner Form nach bleibt er überall derselbe. Beim Denkprozeß unterscheiden wir, wie bei allen Prozessen, zwischen dem Besonderen oder Konkreten und dem Allgemeinen oder Abstrakten.

Hierauf erläutert Dietzgen den Begriff des Denkvermögens. Wie die Analyse des Begriffs überhaupt in der Erkenntnis des Gemeinschaftlichen, dem Allgemeinen der besonderen Teile seines Gegenstandes besteht, so ergibt die Analyse des Denkvermögens »das letztere als Fähigkeit, aus dem Besonderen das Allgemeine zu erfassen«.

Ist die Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen die generelle Methode, die Art und Weise überhaupt, mit welcher die Vernunft Erkenntnisse fördert, so ist die Vernunft vollständig damit erkannt als die Fähigkeit, dem Besonderen das Allgemeine zu entnehmen.

Die Vernunft besteht »rein« in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Erkenntnisse können nicht wahr an sich, sondern nur relativ, nur mit Bezug auf einen Gegenstand, nur auf Grund äußerlicher Tatsachen wahr sein; ihre Aufgabe besteht in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Das Besondere ist das Maß (Bedingung, Voraussetzung) des Allgemeinen.

[12]

Gedanken, Begriffe, Theorien, Wesen, Wahrheiten stimmen darin überein, daß sie einem Objekt angehören. Objekte sind Quanta der mannigfaltigen Sinnlichkeit. Ist das Quantum des Seins, das Objekt, das erkannt, begriffen oder verstanden werden soll, durch den Sprachgebrauch eines Begriffs vorher bestimmt oder begrenzt, so besteht die Wahrheit in der Entdeckung des Allgemeinen dieser also gegebenen sinnlichen Quantität.

Entwicklung des Allgemeinen ist die Aufgabe der Vernunft. Der Unterschied zwischen dem scheinbar und wahrhaft Vernünftigen reduziert sich auf den Unterschied zwischen dem Besonderen und Allgemeinen.

Das Allgemeine ist die Wahrheit. Das Allgemeine ist das, was allgemein ist, das heißt Dasein, Sinnlichkeit. Sein ist das allgemeine Kennzeichen der Wahrheit, weil das Allgemeine die Wahrheit kennzeichnet. Nun ist aber das Sein nicht da im allgemeinen, das heißt das Allgemeine existiert in der Wirklichkeit oder Sinnlichkeit nur auf besondere Art und Weise. Die Sinnlichkeit hat ihr wahres sinnliches Dasein in den flüchtigen, vielgestaltigen Erscheinungen der Natur und des Lebens. Demnach erweisen sich alle Erscheinungen als relative Wahrheiten, alle Wahrheiten als besondere zeitliche Erscheinungen.

Gegenüber dem Denkvermögen werden alle Eigenschaften zu wesenhaften Dingen, alle Dinge zu relativen Eigenschaften.

Der Unterschied zwischen Mittel und Zweck reduziert sich auf den Unterschied zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Und alle abstrakten Unterschiede reduzieren sich auf diesen einen Unterschied, weil die Abstraktions- oder die Unterscheidungskraft selbst sich reduziert auf das Vermögen, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen zu unterscheiden.

Wir werden später sehen, wie Dietzgen mit der »Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen« manche der bisher strittigsten Fragen, manches der schwierigsten Probleme löst.

[13]

Verweilen wir noch einen Augenblick beim »Denken«. Dietzgen sagt: Das Denkvermögen ist der Vermittler aller Gegensätze, weiß in aller Verschiedenheit Einheit zu finden.

Das Bewußtsein generalisiert den Widerspruch; es erkennt, daß alle Naturstücke in Widerspruch leben, daß alles, was da ist, das, was es ist, nur durch Mitwirkung eines andern, eines Gegensatzes ist. Die Wissenschaft des Denkvermögens löst, durch Generalisation des Widerspruchs, alle besonderen Widersprüche auf. Gegensätze bedingen sich wechselseitig; Wahrheit und Irrtum sind wie Sein und Schein, wie Tod und Leben, wie alle Dinge der Welt, nur komparativ, nur dem Maße, dem Volumen oder Grade nach verschieden.

Die letzten drei Sätze enthalten in Kürze die grundlegende, monistische Lehre von der physischen und psychischen Relativität aller Dinge im Universum, ihrer Abhängigkeit vom Universum und voneinander; die Lehre vom Universalzusammenhang des Kosmosinhalts – eine Lehre, die sich wie ein roter Faden in zahlreichen Variationen durch alle Schriften unseres Autors zieht. Diese Wiederholungen der an praktischen Beispielen demonstrierten Lehre erweisen sich nicht nur als sehr nützlich, sondern erscheinen mir durchaus notwendig zur Verbreitung und Festigung der monistischen Weltanschauung, die sich gegen die traditionelle dualistische doch nur sehr mühselig durchringt.

Der aufmerksame Leser wird hier schon bei der flüchtigen Erwähnung des »Universalzusammenhangs alles Kosmosinhalts« diesen Gedanken auf das soziale Gebiet zu übertragen und die hohe Bedeutung der Dietzgenschen Lehre für die sozialistische Propaganda zu würdigen wissen, insbesondere wenn er aus der Naturwissenschaft mit dem kosmischen Universalzusammenhang vertraut ist.[4] Die Relativität der Erkenntnis, des Wissens, der Werte, speziell der Wahrheit,[14] des Rechts und der Sittlichkeit ist zwar Weisen aller Zeiten bekannt gewesen. Schwerlich aber hat vor Dietzgen ein Denker – und es sind bald dritthalbtausend Jahre, seit Heraklit die erste Anregung hierzu gegeben – das Ineinanderfließen der Dinge so klar und überzeugend gelehrt und auf alles Dasein ohne Ausnahme angewandt; schwerlich hat ein Denker vor Dietzgen den im Universalzusammenhang liegenden Grundgedanken des Monismus auf das ökonomisch-soziale Gebiet übertragen.

Aber der stärkste Gehalt des Dietzgenschen Naturmonismus (in des Autors Darlegungen der Einheitlichkeit alles Seins) liegt meines Erachtens in seiner Erläuterung des Zusammenhangs des Geistes mit dem Weltall:

Die Frage nach dem Wesen des Geistes ist ein populäres Objekt, das nicht nur von Philosophen vom Fach, das von der Wissenschaft überhaupt kultiviert ist, sagt Dietzgen, und er fährt also fort:

Wir unterscheiden zwischen Sein und Denken. Wir unterscheiden den sinnlichen Gegenstand von seinem geistigen Begriff. Gleichwohl ist doch auch die unsinnliche Vorstellung sinnlich, materiell, das heißt wirklich. Ich nehme meinen Schreibtischgedanken ebenso materiell wahr, das heißt als ein wirkliches Gefühl, wenn auch ein innerliches, wie ich den Schreibtisch selbst äußerlich fühle. Allerdings wenn man nur das Greifbare materiell nennt, dann ist der Gedanke immateriell. Dann ist aber auch der Duft der Rose und die Wärme des Ofens immateriell. Wir nennen besser vielleicht den Gedanken sinnlich, oder noch besser wirklich. Der Geist ist wirklich, ebenso wirklich wie der greifbare Tisch, wie das sichtbare Licht, wie der hörbare Ton. Der Geist ist nicht weiter vom Tisch, vom Licht, vom Ton verschieden, wie diese Dinge untereinander verschieden sind.

Wir leugnen nicht die Differenz, wir behaupten nur die gemeinschaftliche Natur dieser Dinge. Wenigstens wird mich der Leser nun nicht mißverstehen, wenn ich das Denkvermögen[15] ein materielles Vermögen, eine sinnliche Erscheinung nenne.

Jede Funktion des Geistes setzt einen Gegenstand voraus, von dem sie erzeugt ist, der den geistigen Inhalt abgibt.

Der Geist ist eine körperliche Tätigkeit, Denken eine Funktion des Gehirns.

Durch Entlarvung des »reinen Geistes« enthüllen wir den letzten Urheber alles Spuks.

Die Materie, das heißt das fühlbare Sein überhaupt, ist die Schranke des Geistes; er kann nicht über sie hinaus. Sie gibt ihm den Hintergrund zu seiner Beleuchtung, aber sie geht nicht auf in der Beleuchtung.

Man hat sich gewöhnt, materielle und geistige Interessen als absolute Gegensätze zu unterscheiden, obwohl die materiellen Interessen nur der abstrakte Ausdruck für unser Dasein sind … Das Höhere, Geistige, Ideale ist nur eine besondere Art der menschlichen Interessen; geistige und materielle Interessen unterscheiden sich, wie zum Beispiel Kreis und Viereck; letztere sind Gegensätze und doch nur verschiedene Klassen der allgemeineren Form … Der christliche Gegensatz von Geist und Fleisch ist im Zeitalter der Naturwissenschaft praktisch überwunden. Es fehlt die theoretische Lösung, die Vermittlung, der Nachweis, daß das Geistige sinnlich und das Sinnliche geistig ist, um die materiellen Interessen vom bösen Leumund zu befreien.

Ähnlich beschwert sich Dietzgen an anderer Stelle unseres Buches über das Nichtverständnis des Denkprozesses in den Kreisen der Naturwissenschafter:

Die Praxis der Vernunft, den Gedanken aus der Materie, die Erkenntnis aus der Sinnlichkeit, das Allgemeine aus dem Besonderen zu erzeugen, ist in der physischen Forschung auch allgemein, jedoch nur praktisch anerkannt. Man verfährt induktiv und ist sich dieses Verfahrens bewußt, aber man verkennt, daß das Wesen der Naturwissenschaft das Wesen des Wissens, der Vernunft überhaupt ist. Man mißversteht[16] den Denkprozeß. Man ermangelt der Theorie und gerät daher nur zu oft aus dem praktischen Takte. Das Denkvermögen ist der Naturwissenschaft immer noch ein unbekanntes, geheimnisvolles, mystisches Wesen. Entweder sie verwechselt materialistisch die Funktion mit dem Organ, den Geist mit dem Gehirn, oder denkt idealistisch das Denkvermögen als ein unsinnliches Objekt außerhalb ihres Gebiets gelegen.

Um die Dinge ganz zu nehmen, müssen wir sie praktisch und theoretisch, mit Sinn und Kopf, mit Leib und Geist ergreifen. Mit dem Leibe können wir nur das Leibliche, mit dem Geiste nur das Geistige ergreifen. Auch die Dinge haben Geist. Der Geist ist dinglich, und die Dinge sind geistig. Geist und Dinge sind nur in Relationen (in ihren Beziehungen zum Gesamtzusammenhang, auch Natur und Universum genannt) wirklich.

So schrieb Dietzgen 1868, Jahrzehnte vor der monistischen Rebellion von Ernst Mach und seiner Physikerschule, gegen den Dualismus.[5]

Allerdings unterstützen die modernen Physiker die Lehre, daß wir die geistigen Vorgänge objektiv sinnlich wahrnehmen, durch naturwissenschaftliche und physiologische Beweise, die zu Dietzgens Zeit nicht vorhanden waren. Siehe zum Beispiel[17] Verworn, Die Mechanik des Geisteslebens, 1910, der ebenfalls von Dietzgen keine Kenntnis hatte. So erhält denn unseres Autors philosophische Genialität durch die spätere, von ihm unabhängige, naturwissenschaftliche Forschung eine glänzende Anerkennung, wenn auch die Philosophen vom Fach sich noch lange besinnen werden, einem Manne, der »nur Lohgerber« gewesen, ein Wort der Würdigung, sei es auch oppositioneller, in ihrem Hörsaale zu widmen.[6]

Für sehr bedeutend halte ich Dietzgens Behandlung der »Kraft- und Stoff«-Frage mittels der Lehre von der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Ich lasse daher das Wesentlichste in des Autors Wortlaut hier folgen:

Der Idealismus sieht nur die Verschiedenheit, der Materialismus nur die Einheit von Körper und Geist, Erscheinung und Wesen, Inhalt und Form, Stoff und Kraft, Sinnlichem und Sittlichem – alles Unterschiede, die in dem einen Unterschied des Besonderen und Allgemeinen ihre gemeinschaftliche Gattung finden …

Wie verhält sich das Abstrakte zum Konkreten? So stellt sich das gemeinschaftliche Problem derjenigen, welche in spiritueller Kraft, und derjenigen, welche im materiellen Stoff den Impuls der Welt, das Wesen der Dinge, das Nonplusultra der Wissenschaft finden zu können glauben … Wir haben da zwei Parteien, welche mit differenten Worten sich in einer unbestrittenen Sache herumzanken. Um so lächerlicher ist der Streit, je ernsthafter er genommen wird. Wenn jener die Kraft vom Stoffe unterscheidet, so will er damit nicht leugnen, daß die wirkliche Erscheinung der Kraft unzertrennlich an Stoff gebunden ist. Wenn der Materialist behauptet, daß kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff ist, so will er damit nicht leugnen, was der Gegner behauptet, daß Kraft und Stoff different sind. Der Streit hat seinen guten Grund,[18] seinen Gegenstand, aber der Gegenstand kommt im Streite nicht zum Vorschein. Er wird von den Parteien instinktiv verhüllt, um sich nicht die gegenseitige Unwissenheit gestehen zu müssen. Jeder will dem andern beweisen, daß dessen Erklärungen nicht ausreichen – ein Beweis, der von beiden hinreichend dargetan wurde. Büchner gesteht in den Schlußbetrachtungen zu »Kraft und Stoff«, daß das empirische Material nicht ausreiche, bestimmte Antworten auf transzendente Fragen zu geben, um diese Fragen positiv beantworten zu können; dagegen, sagt er ferner, »reicht es vollkommen aus, um sie negativ zu beantworten und die Hypothese zu verbannen«. Mit anderen Worten heißt das: die Wissenschaft der Materialisten reicht zu dem Beweise aus, daß der Gegner nichts weiß.

Der Spiritualist und Idealist glaubt an ein geistiges, das heißt gespenstiges, unerklärbares Wesen der Kraft. Die materialistischen Forscher sind ungläubig. Eine wissenschaftliche Begründung des Glaubens oder Unglaubens ist nirgends vorhanden. Was der Materialismus voraus hat, besteht darin, daß er das Transzendentale, das Wesen, die Ursache, die Kraft nicht hinter der Erscheinung, nicht außerhalb des Stoffes sucht. Darin jedoch, daß er einen Unterschied zwischen Kraft und Stoff verkennt, das Problem leugnet, bleibt er hinter dem Idealismus zurück. Der Materialist pocht auf die tatsächliche Untrennbarkeit von Kraft und Stoff und will für die Trennung nur einen »äußerlichen, aus den systematischen Bedürfnissen unseres Geistes hervorgegangenen Grund« (Büchner) gelten lassen. Die Trennung der Kräfte von den Stoffen ist aber keine »äußerliche«, sondern eine innerliche, das heißt wesentliche Notwendigkeit, welche allein uns befähigt, die Erscheinungen der Natur zu erhellen und zu verstehen.

Die erste Vermittlung des Gegensatzes zwischen Idealismus und Materialismus vollbrachte die Phantasie durch den Glauben an Geister, welche sie allen natürlichen[19] Erscheinungen als deren geheimes ursächliches Wesen substituierte.

Wenn es uns gelungen ist, den Dämon des reinen Geistes zu erklären, wird es uns nicht schwer, den besonderen Geist der Kraft überhaupt durch die generelle Erkenntnis ihres Wesens auszutreiben und somit auch diesen Gegensatz zwischen Spiritualismus und Materialismus wissenschaftlich zu vermitteln.

Am Gegenstand der Wissenschaft, am Objekt des Geistes ist Kraft und Stoff ungetrennt. In der leibhaften Sinnlichkeit ist Kraft Stoff, ist Stoff Kraft. »Die Kraft läßt sich nicht sehen.« Ei doch! Das Sehen selbst ist pure Kraft. Das Sehen ist so viel Wirkung des Gegenstandes als Wirkung des Auges, eine Doppelwirkung, und Wirkungen sind Kräfte. Wir sehen nicht die Dinge selbst, sondern ihre Wirkungen auf unsere Augen: wir sehen ihre Kräfte. Und nicht nur sehen läßt sich die Kraft, sie läßt sich hören, riechen, schmecken, fühlen. Wer wird leugnen, daß er die Kraft der Wärme, der Kälte, der Schwere zu fühlen vermag? …

Ebenso wahr, wie sich sagen läßt, ich fühle den Stoff und nicht die Kraft, läßt sich umgekehrt sagen, ich fühle die Kraft und nicht den Stoff. In der Tat, am Objekt, wie gesagt, ist beides ungetrennt. Vermöge der Denkkraft aber trennen wir an den neben- und nacheinanderfolgenden Erscheinungen das Allgemeine vom Besonderen. Aus den verschiedenen Erscheinungen unseres Gesichtes zum Beispiel abstrahieren wir den allgemeinen Begriff des Sehens überhaupt und unterscheiden ihn als Sehkraft von den besonderen Gegenständen oder Stoffen des Gesichtes. Aus sinnlicher Vielfältigkeit entwickeln wir mittels der Vernunft das Allgemeine. Das Allgemeine mannigfaltiger Wassererscheinungen, das ist die vom Stoffe des Wassers unterschiedene Wasserkraft. Wenn stofflich verschiedene Hebel gleicher Länge dieselbe Kraft besitzen, ist es wohl augenscheinlich, daß hier die Kraft nur so weit vom Stoffe verschieden ist, als sie das Gemeinschaftliche verschiedener[20] Stoffe darstellt. Das Pferd zieht nicht ohne Kraft, und die Kraft zieht nicht ohne Pferd. In der Tat, in der Praxis ist das Pferd die Kraft, ist die Kraft das Pferd. Aber dennoch mögen wir die Zugkraft von anderen Eigenschaften des Pferdes als etwas Apartes unterscheiden, oder mögen das Gemeinschaftliche verschiedener Pferdeleistungen als allgemeine Pferdekraft abtrennen, ohne uns deshalb einer anderen Hypothese schuldig zu machen, als wenn wir die Sonne von der Erde unterscheiden; obgleich in der Tat die Sonne nicht ohne Erde, die Erde nicht ohne Sonne ist.

Die Sinnlichkeit ist uns nur durch das Bewußtsein gegeben, aber das Bewußtsein setzt dennoch die Sinnlichkeit voraus. Die Natur, je nachdem wir sie, vom Standpunkt des Bewußtseins, als bedingungslose Einheit oder, vom Standpunkt der Sinnlichkeit, als unbedingte Mannigfaltigkeit gelten lassen, ist grenzenlos vereint und grenzenlos getrennt. Wahr ist beides: Einheit und Vielheit, doch jedes nur unter gewissen Voraussetzungen, relativ. Es kommt darauf an, ob wir vom Standpunkt des Allgemeinen oder des Besonderen, ob wir mit geistigen oder mit körperlichen Augen umschauen. Mit geistigen Augen gesehen, ist der Stoff Kraft. Mit körperlichen Augen gesehen, ist die Kraft Stoff. Der abstrakte Stoff ist Kraft, die konkrete Kraft ist Stoff. Stoffe sind Gegenstände der Hand, der Praxis. Kräfte sind Gegenstände der Erkenntnis, der Wissenschaft.

Die Wissenschaft ist nicht beschränkt auf die sogenannte wissenschaftliche Welt. Sie reicht über alle besonderen Klassen hinaus, gehört dem Leben in seiner ganzen Breite und Tiefe. Die Wissenschaft gehört dem denkenden Menschen überhaupt. So auch die Trennung zwischen Kraft und Stoff. Nur die stumpfsinnigste Leidenschaft kann sie praktisch verkennen. Der Geizhals, der Geld anhäuft, ohne seinen Lebensprozeß zu bereichern, vergißt, daß die vom Stoffe verschiedene Kraft des Geldes das wertvolle Element ist; er vergißt, daß nicht der Reichtum als solcher, nicht die schlechte[21] goldene Materie, sondern ihr geistiger Gehalt, die ihr inwohnende Fähigkeit, Lebensmittel zu kaufen; es ist, was das Streben nach ihrem Besitz vernünftig macht. Jede wissenschaftliche Praxis, das heißt jedes Tun, welches mit vorausbestimmtem Erfolge, mit durchschauten Stoffen agiert, bezeugt, daß die Trennung von Stoff und Kraft, wenn auch mit dem Gedanken vollzogen, also ein Gedankending, doch deshalb keine leere Phantasie, keine Hypothese, sondern eine sehr wesentliche Idee ist. Wenn der Landmann sein Feld düngt, geht er insofern mit reiner Düngkraft um, als es gleichgültig ist, in welchem Stoffe, ob in Kuhmist, Knochenmehl oder Guano sie sich verkörpert. Beim Abwägen eines Warenballens wird nicht der Stoff der Gewichtsstücke, nicht das Eisen, Kupfer oder der Stein, sondern die Schwerkraft pfundweise gehandhabt.

Allerdings, keine Kraft ohne Stoff, kein Stoff ohne Kraft. Kraftlose Stoffe und stofflose Kräfte sind Undinge. Wenn idealistische Naturforscher an ein immaterielles Dasein von Kräften glauben, welche gleichsam im Stoffe ihren Spuk treiben, die wir nicht sehen, nicht sinnlich wahrnehmen und dennoch glauben sollen, so sind es in diesem Punkte eben keine Naturforscher, sondern Spekulanten, das heißt Geisterseher. Doch ebenso kopflos ist andererseits das Wort des Materialisten, das die intellektuelle Scheidung zwischen Kraft und Stoff eine Hypothese nennt.

Damit diese Scheidung nach Verdienst gewürdigt sei, damit unser Bewußtsein die Kraft weder spiritualistisch verflüchtigt, noch materialistisch verleugnet, sondern wissenschaftlich begreift, dürfen wir nur das Unterscheidungsvermögen überhaupt oder an sich begreifen, das heißt seine abstrakte Form erkennen. Der Intellekt kann nicht ohne sinnliches Material operieren. Um zwischen Kraft und Stoff zu unterscheiden, müssen diese Dinge sinnlich gegeben, müssen sie erfahren sein. Auf Grund der Erfahrung nennen wir den Stoff kräftig, die Kraft stofflich. Das zu begreifende[22] sinnliche Objekt ist also ein Kraftstoff, und da nun alle Objekte in ihrer leiblichen Wirklichkeit Kraftstoffe sind, besteht die Unterscheidung, welche das Unterscheidungsvermögen daran vollbringt, in der allgemeinen Art und Weise der Kopfarbeit, in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Der Unterschied zwischen Stoff und Kraft summiert sich unter den allgemeinen Unterschied des Konkreten und Abstrakten. Den Wert dieser Unterscheidung absprechen, heißt also den Wert der Unterscheidung, des Intellekts überhaupt verkennen.

Benennen wir die sinnlichen Erscheinungen Kräfte des allgemeinen Stoffes, so ist dieser einheitliche Stoff nichts weiter als die abstrakte Allgemeinheit. Verstehen wir unter der Sinnlichkeit die verschiedenen Stoffe, so ist das Allgemeine, welches die Verschiedenheit inbegreift, beherrscht oder durchzieht, die das Besondere erwirkende Kraft. Ob Kraft, ob Stoff genannt, das Unsinnliche, das, was die Wissenschaft nicht mit den Händen, sondern mit dem Kopfe sucht, das Wesenhafte, Ursächliche, Ideale, höhere Geistige ist die Allgemeinheit, welche das Besondere umfaßt.


[23]

III.
Dietzgens monistische Erkenntnislehre.

Zeige man mir, wer vor oder nach Dietzgen (1868) das »Stoff- und Kraft«-Problem besser oder auch nur ebenso mustergültig behandelt hat – in rein philosophischer und sprachmeisterlicher Beziehung. Dietzgens allgemein verständliche Lösung eines der allerschwierigsten Menschheitsprobleme gehört zu den erstklassigen Kunstwerken der »Kopfarbeit«.

Zur Wertung von Dietzgens Arbeit dürfte das Nachstehende wohl am Platze sein:

Daß sinnliche Erfahrung der Erkenntnis zugrunde liegt, haben schon viele Philosophen des Altertums angenommen und außerdem vermutlich ungezählte Millionen nachdenklicher Menschen, die vor Lockes und David Humes Untersuchungen über den menschlichen Verstand (1690 respektive 1748) an Tieren und kleinen Kindern das allmähliche Wachsen des Intellekts der jungen Lebewesen mit Interesse beobachtet haben, wie die meisten von uns heute. Gleichwohl wurde uns keine Theorie der Bewußtseinsbewegung, keine Theorie der menschlichen Erkenntnis aus jener Zeit hinterlassen.

Schuld daran war in erster Linie die aus den frühesten Perioden überkommene Vorstellung vom Doppelwesen des Menschen, seiner Zusammensetzung aus Leib und Seele. Für »Seele« hielt man des Menschen Empfindungs- und Denkvermögen, einschließlich Ausdrucks unserer Empfindungen und Gedanken durch Sprache oder Gebärde oder einen Willensakt. Die »Seele« hieß auch der »Geist«, ein Ausfluß göttlichen Geistes, und deshalb mußte die Seele nach des Menschen Tode fortleben, unsterblich sein; daher gab es ein »Jenseits«.

[24]

Zum Unterschied von der Menschenseele erhielt das Empfindungs- und Denkvermögen der (ebenfalls »von einem Gott erschaffenen«) Tierwelt die Bezeichnung »Instinkt«.

Die »Unsterblichkeit der Seele« erstreckte sich über die gesamte Menschheit; das eine Stunde nach seiner Geburt verstorbene Kind hat ebenso Anteil daran wie die Seele der Kannibalen, obwohl das Menschenkind in seinen ersten Daseinstagen viel weniger »Seele«, das heißt Intellekt verrät als manches sich rasch entwickelnde Tier, und obwohl die Menschen im Urzustand der Wildheit und Wildnis mit dem Tier mehr Ähnlichkeit haben als einer »im Ebenbild Gottes« gedachten Kreatur.

Aus der Anatomie und Physiologie von Mensch und Tier kannte man zwar schon lange das mehr oder minder Gemeinsame beider; aber die kardinalen Verschiedenheiten von Mensch und Tier gestatteten immerhin die Voraussetzung einer göttlichen Menschenseele – als Ursache des Denkvermögens – in der »Krone der Schöpfung«.

Die erste naturwissenschaftliche Begründung der Deszendenz- oder Abstammungslehre durch Lamarck ist nur wenig über hundert Jahre alt. Bis dahin mußte die Tradition des Seelenglaubens, also die Annahme, daß der Mensch nur infolge des ihm eingeflößten göttlichen Geistes zu denken vermag, den Wert der Locke-Humeschen Erkenntnislehre als sekundär, wenn nicht gar unwesentlich erscheinen lassen.

Was liegt daran, wie der Denkprozeß sich vollzieht, wenn er ganz und gar eine göttliche Gnadenerscheinung ist?

Zudem lag vor hundert Jahren die Anatomie und Physiologie des Gehirns noch sehr im argen. Zwar ist das Gehirn als Sitz des Denkvermögens seit mehr als 2200 Jahren anerkannt, wenn auch Aristoteles den Sitz der Seele in das Herz verlegte und der hebräische Pentateuch ins Blut. Aber der Stand der Gehirnanatomie und -physiologie zu Lamarcks Zeit gestattete noch keine genaue Vorstellung von der Mechanik des Geisteslebens: wie die Dinge der Außenwelt, die[25] durch unsere Sinnesorgane mit uns in Beziehung treten, bestimmte Vorgänge in unserem Nervensystem veranlassen. Gegen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts kannte man erst sieben, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts neun, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zwölf Paare von Gehirnnerven. Die Ganglienzellen und Nervenfasern, elementare mikroskopische Bestandteile der Nervenzellen, kennt man erst seit etwa siebenundsiebzig Jahren.

»Die Nervenfasern«, sagt Professor Verworn in seinem oben genannten Buche: Die Mechanik des Geisteslebens, »haben die Funktion, gewisse Vorgänge, die sich in den Zellen der Sinnesorgane und in den Nerv- oder Ganglienzellen abspielen, zu übertragen nach anderen Ganglienzellen und peripherischen Organen, wie den Muskeln, den Drüsen usw. Man kennt jetzt seit vierzig Jahren die Lokalisation in der motorischen Sphäre des Gehirns so genau und kann die Reizung so fein lokalisieren, daß man mit Sicherheit eine Bewegung im Daumen oder im Augenmuskel oder im Fußgelenk vorhersagen kann. Im Anschluß daran sind noch weitere Zonen auf der Großhirnrinde bekannt geworden, die mit unseren Sinnesempfindungen im engsten Zusammenhang stehen.

Klinische Erfahrungen der Psychiater ergaben, daß Krankheitsprozesse, die bestimmte Teile der Gehirnoberfläche zerstört hatten, von Ausfallssymptomen im Bewußtsein der betreffenden Menschen begleitet waren, und durch Experimente an Tieren – Exstirpationen gewisser Zonen der Gehirnrinde – lokalisierte man die Seh-, Hör-, Fühl-, Geruchs- und Geschmackssphäre.

Vorstellungen sind Bewußtseinsbewegungen, die ihren Ursprung im engsten Anschluß an Sinnesempfindungen haben. Ohne Sinnesempfindungen keine Vorstellung. Wir können direkt die Vorstellungen als Erinnerungsbilder von Empfindungen bezeichnen.«

Dietzgens »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« ist somit, obwohl bald fünfzig Jahre alt, ein hochmodernes Buch.

[26]

Dietzgen behandelt den Geist, das Denkvermögen als »Organ des Allgemeinen«, das heißt der Natur, und weil der Geist ein Stück Natur, ist er, wie unser Autor sich in einer späteren Schrift ausdrückt, kein größeres Naturwunder als der Magnetismus, die Elektrizität usw.

Nach dem heutigen Stande der Naturwissenschaften und in Verbindung mit unserer Erkenntnis, daß Kraft Stoff und Stoff Kraft ist, darf man Dietzgens Satz, daß das »Denken eine Eigenschaft der Generalnatur« ist, ohne Vorbehalt unterschreiben.

Wenn nun das Denkvermögen das »Organ des Allgemeinen« ist, muß es uns in erster Linie darum zu tun sein, das Allgemeine herauszufinden, das heißt namentlich was allgemein der Menschheit frommt, allen zugute kommt; wir sollen mithin Zustände ermöglichen, unter denen die Allgemeinheit oder doch die größte Zahl der Menschheit sich wohlbefinden kann.

Dietzgens Naturmonismus begnügt sich demnach nicht mit der Anschauung von der Einheitlichkeit des Weltalls minus Mensch; dieser mit seinem Körper und Geist gehört, wie jedes andere Naturstück aus Stoff und Kraft, in die Betrachtung des monistischen Weltorganismus hinein. Wie durch das Denkvermögen, als »Organ des Allgemeinen«, beziehungsweise des Universalzusammenhangs, die Widersprüche überhaupt vermittelt werden – durch Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen –, sollten wir dieselbe monistische Denkmethode ganz speziell zur Lösung der Ungereimtheiten der sozialen Welt anwenden. Dann erst haben wir den Sozialmonismus erreicht. Daraus nun, daß es dem richtigen Denken in erster Linie darum zu tun sein muß, das Allgemeine herauszufinden – auf das soziale Gebiet angewandt: das allgemein Nützliche zu ermitteln –, zieht Dietzgen (in seiner Vorrede) einen Schluß, der auf einen für unseres Autors Betrachtungsweise noch nicht vorbereiteten Leser verblüffend wirken mag, aber gleichwohl jedes wirklichen Monisten Billigung[27] finden muß: daß die wahren Träger des »Organs des Allgemeinen« nicht in den von Sonderinteressen beherrschten Kreisen zu suchen sind, vielmehr in den Reihen der nach Beseitigung aller Vorrechte hinstrebenden Arbeiterklasse.

Dietzgen sagt: »Ich entwickle in dieser Schrift das Denkvermögen als Organ des Allgemeinen. Der leidende, der vierte, der Arbeiterstand ist insoweit erst der wahre Träger dieses Organs, als die herrschenden Stände durch ihre besonderen Klasseninteressen verhindert sind, das Allgemeine anzuerkennen. Wohl bezieht sich diese Beschränkung zunächst auf die Welt der menschlichen Verhältnisse. Aber solange diese Verhältnisse nicht allgemein menschlich, sondern Klassenverhältnisse sind, muß auch die Anschauung der Dinge von diesem beschränkten Standpunkt bedingt sein. Objektive Erkenntnis setzt subjektiv theoretische Freiheit voraus. Bevor Kopernikus die Erde sich bewegen und die Sonne stehen sah, mußte er von seinem irdischen Standpunkt abstrahieren. Da nun dem Denkvermögen alle Verhältnisse Gegenstand sind, hat es von allem zu abstrahieren, um sich selbst rein oder wahr zu erfassen. Erst eine historische Entwicklung, welche so weit fortgeschritten ist, um die Auflösung der letzten Herr- und Knechtschaft zu erstreben, kann soweit der Vorurteile entbehren, um das Urteil im allgemeinen, das Erkenntnisvermögen, die Kopfarbeit wahr oder nackt zu erfassen. Erst eine historische Entwicklung, welche die direkte allgemeine Freiheit der Masse im Auge haben kann – und dazu gehören wohl sehr verkannte historische Voraussetzungen – erst die neue Ära des vierten Standes findet den Gespensterglauben soweit entbehrlich, um den letzten Urheber alles Spuks, um den reinen Geist entlarven zu dürfen. Der Mensch des vierten Standes ist endlich >reiner< Mensch. Sein Interesse ist nicht mehr Klassen- sondern Masseninteresse, Interesse der Menschheit. Die Tatsache, daß zu allen Zeiten das Interesse der Masse mit dem Interesse der herrschenden Klasse verbunden war,[28] daß nicht nur trotz, sondern gerade mittels ihrer stetigen Unterdrückung durch jüdische Patriarchen, asiatische Eroberer, antike Sklavenhalter, feudale Barone, zünftige Meister, besonders durch moderne Kapitalisten und auch selbst noch durch kapitalistische Cäsaren die Menschheit stetig >fortgeschritten< – diese Tatsache nähert sich ihrem Ende. Jetzt ist diese Entwicklung an einem Standpunkt angekommen, wo die Masse selbstbewußt wird. Sie ist damit so weit gekommen, daß sie nunmehr sich unmittelbar selbst entwickeln will.«


[29]

IV.
Dietzgens Ethik.

Das Schlußkapitel von Dietzgens »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« behandelt die Ethik: »Praktische Vernunft« oder Moral. (Seite 61 bis 87, 1. Band der Sämtlichen Schriften.)

Siebenunddreißig Jahre später erschien Kautskys »Ethik« (und materialistische Geschichtsauffassung) – das erste und bis jetzt einzige deutsche sozialistische Werk auf diesem Gebiet.[7] In der Vorrede sagt Kautsky: »Ich fuße bei meiner Entwicklung der Ethik auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung – auf jener materialistischen Philosophie, wie sie einerseits Marx und Engels und, in anderer Weise, aber in gleichem Sinne, Josef Dietzgen begründet haben.«

Kautskys Arbeit in allen Ehren, aber sie ist im Grunde keine erkenntniskritisch begründete, sondern eine historisch-ökonomisch orientierende Darlegung, daher macht sie die Lektüre Dietzgens zu einer notwendigen Voraussetzung. Bei Kautsky erfahren wir nicht – wie bei Dietzgen – die philosophische Methode, durch welche man zur Erforschung der Sinnlichkeit als Grundlage der Moral gelangt. Dietzgen kommt zu seinem Befunde – zum Erkennen des Vernünftigen, Weisen, Rechten, Sittlichen – durch »Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen«. Das gelingt ihm mit seinem Schlüssel – wie im vorangegangenen Kapitel die Lösung des »Stoff-und-Kraft«-Problems – sozusagen spielend. Unter tunlichster Beibehaltung des logischen Zusammenhangs lasse ich die Hauptstellen des Moral-Kapitels[30] (in Auswahl von etwa einem Achtel des Originals) hier folgen:

Das menschliche Bedürfnis gibt der Vernunft das Maß zur Ermessung des Guten, Rechten, Schlechten, Vernünftigen usw. Was unserem Bedürfnis entspricht, ist gut, das Widersprechende schlecht. Das leibliche Gefühl des Menschen ist das Objekt der Moralbestimmung, das Objekt der »praktischen Vernunft«. Auf die widerspruchsvolle Verschiedenheit menschlicher Bedürfnisse gründet sich die widerspruchsvolle Verschiedenheit moralischer Bestimmungen. Weil der feudale Zunftbürger in der beschränkten und der moderne Industrieritter in der freien Konkurrenz prosperiert, weil sich die Interessen widersprechen, widersprechen sich die Anschauungen, und es findet der eine mit Recht dieselbe Institution vernünftig, welche dem andern unvernünftig ist. Wenn die Vernunft einer Persönlichkeit rein aus sich das Vernünftige schlechthin zu bestimmen versucht, kann sie nicht anders, als ihre Person zum Maß der allgemeinen Menschheit machen. Wenn man der Vernunft das Vermögen zuspricht, in sich selbst die Quelle der moralischen Wahrheit zu besitzen, verfällt man in den spekulativen Irrtum, ohne Sinnlichkeit, ohne Objekt Erkenntnisse produzieren zu wollen … Sinnliche Bedürfnisse sind das Material, aus welchem die Vernunft moralische Wahrheiten anfertigt. Unter sinnlich gegebenen Bedürfnissen von verschiedener Dringlichkeit oder verschiedenem Umfang das Wesentliche, Wahre vom Individuellen zu scheiden, Entwicklung des Allgemeinen ist die Aufgabe der Vernunft. Der Unterschied zwischen dem scheinbar und wahrhaft Vernünftigen reduziert sich auf den Unterschied zwischen dem Besonderen und Allgemeinen.

Wie die Aufgabe der Physik die Erkenntnis des wahren, so ist die Aufgabe der Weisheit die Erkenntnis des vernünftigen Seins. Überhaupt hat die Vernunft zu erkennen, was ist – als Physik, was wahr, als Weisheit, was vernünftig ist. Wie wahr mit allgemein, so übersetzt sich vernünftig[31] mit zweckmäßig, so daß wahrhaft vernünftig soviel wie allgemein zweckmäßig heißt. Wie das Wahre, das Allgemeine die Beziehung auf ein besonderes Objekt, auf ein gegebenes Quantum der Erscheinung, bestimmte Grenzen unterstellt, innerhalb deren es wahr oder allgemein ist, so setzt das Vernünftige oder Zweckmäßige gegebene Verhältnisse voraus, innerhalb deren es vernünftig oder zweckmäßig sein kann. Das Wort expliziert sich selbst: Der Zweck ist das Maß des Zweckmäßigen. Nur auf Grund eines gegebenen Zweckes läßt sich das Zweckmäßige bestimmen. Ist erst der Zweck gegeben, dann heißt die Handlungsweise, welche denselben am weitesten, breitesten, allgemeinsten verwirklicht, die vernünftige, der gegenüber jede minder zweckmäßige Weise unvernünftig wird.

Fordert demnach unsere Aufgabe die Ermittlung des Menschlich-Vernünftigen schlechthin, so verdienen ein solches Prädikat nur Handlungsweisen, welche ohne Ausnahme allen Menschen, zu allen Zeiten und unter allen Verhältnissen zweckmäßig sind – folglich widerspruchslose und insofern nichtssagende, unbestimmte Allgemeinheiten. Daß physisch das Ganze größer ist als der Teil, daß moralisch das Gute dem Schlechten vorzuziehen, sind solche allgemeine, deshalb bedeutungslose, unpraktische Kenntnisse. Der Gegenstand der Vernunft ist das Allgemeine, aber – das Allgemeine eines besonderen Gegenstandes. Die praktizierende Vernunft hat es mit dem Einzelnen, Besonderen zu tun, mit dem Gegensatz des Allgemeinen, mit bestimmten, besonderen Kenntnissen … Vernünftig im allgemeinen ist nur das, was jede Vernunft anerkennt. Wenn die Vernunft einer Zeit, Klasse oder Person vernünftig heißt, wovon anderwärts das Gegenteil anerkannt ist, wenn der russische Adelige die Leibeigenschaft und der englische Bourgeois die Freiheit seines Arbeiters eine vernünftige Institution nennt, so ist etwa keine von beiden schlechthin, sondern jede nur relativ, nur in ihrem mehr oder minder beschränkten[32] Kreise vernünftig … Die »absolute Wahrheit« ist der Urgrund der Intoleranz.

Die heidnische Moral ist eine andere als die christliche. Die feudale Moral unterscheidet sich von der modern bürgerlichen wie Tapferkeit und Zahlungsfähigkeit …

Jedes wirkliche Recht ist ein besonderes. Recht nur unter gewissen Umständen, für gewisse Zeiten, diesem oder jenem Volke. »Du sollst nicht töten« ist Recht im Frieden, Unrecht im Kriege; Recht für die Majorität unserer Gesellschaft, welche ihrem dominierenden Bedürfnis die Mucken der Leidenschaft geopfert wissen will, doch Unrecht dem Wilden, der nicht so weit gekommen, ein friedliches, geselliges Leben zu schätzen, der deshalb das angeführte Recht als unrechte Beschränkung seiner Freiheit empfindet.

Wollte ein Gesetz, eine Lehre, eine Handlung absolut recht, Recht überhaupt sein, so müßte sie dem Wohle aller Menschen, unter allen Verhältnissen, zu allen Zeiten entsprechen. Dieses Wohl ist jedoch so verschieden wie die Menschen, ihre Umstände und die Zeit. Was mir gut, ist einem anderen schlimm, was in der Regel wohl, tut ausnahmsweise leid; was einer Zeit frommt, hemmt eine andere. Das Gesetz, welches Anspruch darauf machen wollte, Recht überhaupt zu sein, dürfte nie und niemanden widersprechen. Keine Moral, keine Pflicht, kein »kategorischer Imperativ«, keine Idee des Guten vermag den Menschen zu lehren, was gut, was böse, was recht, was unrecht sei. Gut ist, was unserem Bedürfnis entspricht, böse, was ihm widerspricht. Aber was ist wohl gut überhaupt?

Der Unterschied zwischen guten und bösen, rechten und schlechten Bedürfnissen findet, wie Wahrheit und Irrtum, wie Vernunft und Unvernunft, seine Auflösung in dem Unterschied des Besonderen und Allgemeinen. Die Vernunft vermag aus sich so wenig positive Rechte, absolut moralische Maximen zu entdecken wie irgend eine andere spekulative Wahrheit. Erst wenn ihr sinnliches Material gegeben ist, wird sie der Zahl nach das Allgemeine und Besondere, dem[33] Grade nach das Wesentliche und Unwesentliche zu ermessen wissen. Die Erkenntnis des Rechten oder Moralischen will, wie die Erkenntnis überhaupt, das Allgemeine.

Die Moral ist der summarische Inbegriff der verschiedensten einander widersprechenden sittlichen Gesetze, welche den gemeinschaftlichen Zweck haben, die Handlungsweise des Menschen gegen sich und andere derart zu regeln, daß bei der Gegenwart auch die Zukunft, neben dem einen das andere, neben dem Individuum auch die Gattung bedacht sei. Der einzelne Mensch findet sich mangelhaft, unzulänglich, beschränkt. Er bedarf zu seiner Ergänzung des anderen, der Gesellschaft, und muß also, um zu leben, leben lassen. Die Rücksichten, welche aus dieser gegenseitigen Bedürftigkeit hervorgehen, sind es, was sich mit einem Worte Moral nennt.

Die Unzulänglichkeit des einzelnen, das Bedürfnis der Genossenschaft ist Grund oder Ursache der Berücksichtigung des nächsten, der Moral. So notwendig nun der Träger dieses Bedürfnisses, so notwendig der Mensch immer individuell ist, so notwendig ist auch das Bedürfnis ein individuelles, bald mehr und bald minder intensiv. So notwendig der nächste verschieden ist, so notwendig sind die erforderlichen Rücksichten verschieden …

In diesem Satze ist eine so bündig überzeugende Klärung des Pflichtbegriffes enthalten, wie sie vor Dietzgen keinem Denker erkenntniskritisch gelungen ist.

Besagt sie doch, daß es namentlich die Berücksichtigung der Gebote der beiden uns regierenden Hauptmächte ist, solche der Gesellschaft und Natur, die das Pflichtverhalten des Menschen bedeuten und bestimmen, und zwar aus dessen wohlverstandenem Eigeninteresse heraus, sobald er seine organische Abhängigkeit von Gesellschaft und Natur einsieht.

Solche Berücksichtigung mag gewiß häufig genug mit unseren momentanen Wünschen kollidieren, aber sie ist es, die unser[34] dauerndes Interesse fördert, zumal wenn wir freiwillig und bewußt das besondere und flüchtigere Bedürfnis dem allgemeinen und dauernderen Wohlergehen unterordnen. Kein mystisches »inneres Gefühl«, auch kein »kategorischer Imperativ« klärt uns über unsere Pflicht auf, wohl aber Einsicht in das »Allgemeine«, das heißt in die Zusammenhänge und Gesetze der Gesellschaft und Natur, deren Anordnungen wir nicht einmal unbewußt ohne empfindliche Strafe verletzen können, während bewußtes Zuwiderhandeln uns außerdem notwendig Einbuße an Selbstachtung bringt, sofern wir Gebote übertreten, welche der jeweiligen sozialen Entwicklungsstufe entsprechen.

Dietzgens Ethik entspricht offenbar den Anschauungen vieler Vertreter der modernen Intelligenz und speziell der allermeisten wissenschaftlichen Sozialisten – mit Ausnahme der auf den Kantschen »kategorischen Imperativ«[8] eingeschworenen Revisionisten –, wenn auch der philosophische Weg, auf dem[35] unserem Autor seine Schlüsse sich ergaben, einem großen Teile derselben fremd geblieben ist. Bekannt ist, daß man vor langer Zeit schon in Deutschland durch das Wort »Mitleid« die Ethik auf den Egoismus zurückführte: »Wir haben Mitgefühl mit dem Elenden, weil wir beim Anblick seiner Leiden mitleiden – durch die Reflexion, daß auch wir in seine Lage geraten könnten.«

In starrer Opposition gegen diese utilitarische oder Zweckmäßigkeitsmoral finden wir die kantische Ethik (Pflicht) und die des religiösen Idealismus (Liebe).

In Wirklichkeit aber stellen Zweckmäßigkeit (rationeller, begrenzter Egoismus oder legitimes, persönliches Interesse), Pflicht, Liebe zusammen das Moralgebilde dar. Indem (nach Dietzgen) die Moral so beschaffen sein soll, daß »neben dem Individuum auch die Gattung bedacht ist«, betätigt, wer dieser Morallehre nachlebt, die von Kant verlangte »Pflicht«, und indem er ihr dauernd und gern nachkommt, nimmt sie ganz automatisch den Charakter der »Liebe« an.

Ich erlaube mir daher zu sagen:

Für die Moral ist die Zweckmäßigkeit die Wurzel, die Pflicht der Baum und die Liebe die Frucht.

Am deutlichsten läßt sich der Dreistufenpfad der Moral »Egoismus, Pflicht, Liebe« im Verhältnis der Eltern zum[36] Kinde erkennen: Ursprung der Freude am Kinde ist die natürliche, elterliche Eigenliebe, der gewiß niemand sich zu schämen braucht; sofort tritt das Pflichtgefühl an die Eltern heran, und bei Ausübung der Pflicht verwandelt sich die Eigenliebe der Eltern in wahre Liebe. So vermag überall – wenn auch nicht so rasch wie in diesem Falle – die in Zweckmäßigkeit wurzelnde Moral durch das Medium der Pflicht sich zu hehrer Sittlichkeit, zur Tugend, zur Güte, zur Liebe auszuwachsen.

Es ist keine beleidigende Insinuation, wenn dem Schönsten und Erhabensten – das bisher der Urzeugung in Engelsregionen glaubte sich rühmen zu dürfen – Abkunft aus niederem Stande aufgezeigt wird; daß es in zweckmäßigem Egoismus, im Eigeninteresse des Menschen seine Wurzel hat und dem Mutualismus, der Gegenseitigkeitspflicht, sein Höhendasein verdankt.

Entrüste man sich nicht über diese neue Ethikformel, die Moraltrilogie »Egoismus, Pflicht, Liebe«!

Auch der Brotfrucht Wurzeln stecken nicht in balsamisch gedüngtem Boden.

Mit dieser einfachen Korrektur der Kantschen und der religiösen Moralbegründung dürfen wir uns hier begnügen, da die letztere, als eine theologische, unserer gegenwärtigen Betrachtung allzu fern liegt, und der Nachweis von Kants teils fehlerhafter, teils widerspruchsvoller Argumentierung seines Sittengesetzes längst von kompetenten Autoren (auch in Kautskys »Ethik«) geliefert worden ist.

Nur aus des Monistenführers Ostwald »Sonntagspredigt« vom 20. Dezember 1913 »Die wissenschaftlichen Grundlagen der Ethik« möchte ich einige Zeilen hier anführen, weil sie eine wohlbegründete Entschuldigung für Kants Irrtum enthalten:

»Kant glaubte auch die Quelle der Ethik in einem inneren Sittengesetz zu finden, welches dem Menschen a priori eigen ist, und hat damit allerdings in etwas versteckter Weise diese[37] Quelle gleichfalls in einen irrationalen, der wissenschaftlichen Forschung nicht zugänglichen Punkt gelegt. Es läßt sich darum erklären, daß jenem großen Denker das Entwicklungsgesetz der Lebewesen nicht nur nicht bekannt war, sondern daß er sogar eine ausgesprochene Abneigung dagegen hatte, das menschliche Denken unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung zu betrachten. So behauptete er das absolute Vorhandensein des inneren Sittengesetzes bei dem Menschen und begnügte sich mit diesem Vorhandensein, ohne weitere Nachforschungen darüber anzustellen, woher es stammte.«

Unsere Revisionisten aber kennen das Entwicklungsgesetz.


[38]

V.
Die Religion der Sozialdemokratie.

»Die Religion der Sozialdemokratie« betitelt sich eine Reihe von durch Gedankenfülle und vielfach durch Schönheit der Sprache sich auszeichnenden sieben Artikeln, sogenannten »Kanzelreden«, die zuerst in dem von Liebknecht redigierten Leipziger »Volksstaat« 1870 bis 1875 erschienen und seitdem Verbreitung in Zehntausenden von Exemplaren gefunden haben. Das auf fünf Jahre verteilte Entstehen dieser Abhandlungen schließt naturgemäß Anlage nach einem systematischen Plane aus; es sind daher in ihren Fortsetzungen teilweise Ergänzungen des Früheren und zu diesem Zwecke Exkurse auf verwandtes Nebengebiet enthalten. »Die Religion der Sozialdemokratie« wird dem Leser um so mehr Vorteil und Genuß gewähren, je tiefer die Ideen des Sozialismus bereits Wurzel in ihm geschlagen haben und je emanzipierter er sich vom sogenannten »positiven Glauben« weiß. Denn er begegnet in diesen »Kanzelreden« Gedanken, die zum Teil im Unterbewußtsein jedes freidenkerischen und geschulten Sozialisten schlummern und nur der Erweckung durch den Laut eines Zauberworts bedürfen, das aus dem Munde eines philosophischen Hellsehers kommt. Darin liegt der wesentliche Reiz von Dietzgens »Kanzelreden« für die Massen der sozialistischen Arbeiter; um Dietzgen aber in allen seinen Gedankengängen gründlich zu verstehen, sollten Sozialisten unbedingt mit seiner im »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« niedergelegten Denklehre sich vertraut machen – wenn auch die populären Schriften unseres Autors als Einführung in das genannte Hauptwerk benutzt werden dürfen.

Dietzgen führt in den »Kanzelreden« aus, sagt sein Sohn im Geleitwort von 1906, »daß die Religion ein geschichtlich[39] notwendiges Gedankenbild ist, welches aus dem menschlichen Bedürfnis nach materieller und geistiger Befriedigung und nach einer diesem Glücksstreben entsprechenden Gesellschaft und Welt entstehen mußte, und zwar auf jeder Kulturstufe, auf der der Mensch in Ermanglung von hinreichendem, erfahrungsmäßigem Wissen und Können gegenüber den natürlichen Zusammenhängen sich nicht anders als mit phantastischer Spekulation helfen konnte. Er weist an der natürlichen Begrenzung des Denkvermögens nach, daß alle Religion und jeder Glaube an Übernatürliches auf phantastischer Spekulation beruhen, die ihrerseits wiederum in ihrer Eigenart bestimmt wird durch den Entwicklungsgrad der sozialen Produktivkräfte und Lebensbedingungen.«

Das Wort »Religion« in Verbindung mit »Sozialdemokratie« ist natürlich nicht im landläufigen Sinne desselben zu verstehen; denn die Tendenzen der Sozialdemokratie enthalten, wie Dietzgens einleitende Worte lauten, den Stoff zu einer neuen Religion, die nicht, wie alle bisherige, nur mit dem Gemüt oder Herzen, sondern zugleich auch mit dem Kopf, dem Organ der Wissenschaft, erfaßt sein will.

Und die Moral dieser neuen Religion faßt er am Schluß des zweiten Artikels in folgenden Satz zusammen: Sie verlangt, und ihr ganzes Wesen beruht auf diesem Verlangen, daß wir die Gegensätze der Liebe und Selbstsucht miteinander versöhnen, daß sich die Gesellschaft aus dieser Versöhnung konstituiere, daß der Mensch dem Menschen die Hand reiche, um mit vereinter Kraft und Arbeit die Natur zur reichlichen Hergabe unserer Lebensmittel zu zwingen.

Da die Sozialdemokratie eine »neue Religion« ist, bedient sie sich zur Erreichung ihres Zweckes naturgemäß anderer Methoden als die alte Religion. Dies führt unser Autor in folgendem aus:

Die Religion, ganz im allgemeinen, hat den Zweck, das bedrängte Menschenherz vom Jammer dieses irdischen Lebens zu erlösen. Sie hat das bisher nur in idealer, träumerischer[40] Weise vermocht, durch Anweisung an einen unsichtbaren Gott und an ein Reich, das nur von Toten bewohnt ist. Das Evangelium der Gegenwart verspricht, unser Jammertal endlich in realer, wirklicher, greifbarer Weise zu erlösen. »Gott«, das ist das Gute, Schöne, Heilige, soll Mensch werden, aus dem Himmel auf die Erde kommen, aber nicht wie einst, auf religiöse, wunderbare Art, sondern auf natürlichem, irdischem Wege. Wir verlangen den Heiland, wir verlangen, daß unser Evangelium, das Wort Gottes, Fleisch werde. Doch nicht in einem Individuum, nicht in einer bestimmten Person soll es sich verkörpern, sondern wir alle wollen, das Volk will – Sohn Gottes sein.

Die Religion war bisher Sache des Proletariats. Jetzt, umgekehrt, fängt die Sache des Proletariats an, religiös zu werden, das heißt eine Sache, welche die Gläubigen mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Gemüt ergreift.

Im alten Glauben diente der Mensch dem Evangelium, im neuen Glauben ist das Evangelium dazu da, der Menschheit zu dienen. Das Evangelium der Neuzeit fordert eine Umkehr unserer ganzen Denkweise. Nach der alten Offenbarung war das Gesetz das Erste, Höchste, Ewige und der Mensch das Zweite. Nach der neuen Offenbarung ist der Mensch das Erste, Höchste, Ewige und sein Gesetz, das Zweite, zeitlich und wandelbar.

Wir sind heute nicht dazu da, dem Gesetze zu dienen, sondern das Gesetz hat den Zweck, uns zu dienen, nach unseren Bedürfnissen modifiziert zu werden. Der Alte Bund verlangte Geduld und Ergebung in unsere Leiden; der Neue Bund fordert Energie und Tatkraft. An die Stelle der Gnade setzt er die bewußte Werktätigkeit. Das alte Buch nannte sich »Autoritätsglaube«, das neue setzt die Wissenschaft, die revolutionäre, auf sein Titelblatt.

Glauben und Wissen, das sind die beiden Gegensätze, welche den Alten und Neuen Bund trennen. Einen weiteren[41] Unterschied zwischen der alten und der neuen Religion konstatiert Dietzgen wie folgt:

Beten und Fasten sind die Heilmittel, welche das Christentum empfiehlt wider die angeborene Hilflosigkeit des Menschen … Arbeit heißt der Heiland der neueren Zeit.

Wie Christus schon eine große Anzahl Proselyten gemacht hatte, bevor sich seine Kirche organisierte, so hat auch der neue Prophet, die Arbeit, schon seit Jahrhunderten gewirkt, bevor sie in der Gegenwart daran denken kann, sich auf den Thron zu setzen und das Zepter in die Hand zu nehmen.

Mit den Attributen der Gottheit, mit Macht und Wissenschaft, ist sie nunmehr ausgerüstet. Aber nicht auf unbefleckte, wunderbare Weise ist sie dazu gekommen. Sie ist unter Schmerzen geboren, unter Kampf und Qual und Sorgen groß gewachsen. Obgleich sie es ist, welche den Menschen so weit kultiviert hat, welche jetzt mit der Verheißung kommt, ihn vollständig aus aller Knechtschaft zu erlösen, und ihn das ersehnte Land Kanaan wirklich schon aus der Ferne mit Augen sehen läßt, so liegt doch heute noch die Dornenkrone des Elends auf ihrem Haupte, das Kreuz der Verachtung auf ihren Schultern.

Doch unsere Hoffnung auf Erlösung ist nicht auf ein religiöses Ideal, sondern auf einen massiven materiellen Grundstein gebaut.

Was das Volk berechtigt, an die Erlösung von tausendjähriger Qual nicht nur zu glauben, sondern sie tatkräftig zu erstreben, das ist die feenhaft produktive Kraft, die wunderbare Ergiebigkeit seiner Arbeit.

Die Befreiung vom Joche sklavischer Arbeit, die Befreiung von Not, Elend und Sorge, von Hunger, Kummer und Unwissenheit, die Befreiung von der Plage, Lasttier der »höheren Gesellschaft« zu sein, – diese Freiheit, und zwar für die Masse, für das Volk, das ist der heilige Zweck, den zu erfüllen die so[42] unendlich reich gewordene menschliche Arbeitskraft den Beruf hat.

Vom Beten und Dulden sind wir übergegangen zum Denken und Schaffen. Das Resultat dieser veränderten Methode steht vor Augen in den Errungenschaften der Industrie, deren Seele die produktive Kraft unserer Arbeit ist.

Das Volk verlangt nach der realen Erlösung, weil endlich die Bedingungen dazu vorhanden sind. Armut, Hunger und Elend der Vergangenheit waren vielfach durch Mangel an Lebensmitteln verursacht. Gegenwärtig, und seit Dezennien schon, ist es umgekehrt überschüssiger Reichtum, wie er sich in Geld-, Handels- oder Industriekrisen offenbart, der die Arbeitskraft des Volkes brachlegt. Mögen dann die Speicher noch so gefüllt und die Magazine mit Waren gepfropft sein, das Volk hungert und friert, weil die besitzenden Klassen, mit Produkten übersättigt, seine Arbeitskraft nicht kaufen oder unterkaufen.

Die Kultur war bisher Zweck und der Mensch Mittel. Jetzt gilt es die Dinge umzukehren, den Menschen zum Zweck und die Kultur zum Mittel zu machen. Die erste Bedingung, das Werk der Entwicklung fortzusetzen, ist die Freiheit des Volkes, seine Teilnahme am Konsum.

Die Sozialdemokratie unterscheidet sich von der bisherigen kopflosen Wirtschaft, welche ohne Ziel und Maß produziert, gerade dadurch, daß sie den Volkshaushalt mit Bewußtsein organisiert. Bewußte planmäßige Organisation der sozialen Arbeit nennt sich der ersehnte Heiland der neueren Zeit.

Die dreieinige Gottheit des Christentums hat die Not des Volkes nur dadurch lindern können, daß sie gelehrt hat, daraus eine Tugend zu machen. Daß diese Lehre zu ihrer Zeit heilsam war, sei nicht verkannt. Wo der Mensch noch die Fähigkeit und Mittel nicht besitzt, sein Kreuz abzuwerfen, ist der Geist ergebener Resignation nicht nur ein göttlicher Balsam, sondern auch eine triftige Zuchtrute, die wohl vermag,[43] ihn vorzubereiten für die sinnige Verstandesarbeit der Kultur.

Wirklich und leibhaftig aber wird der Zweck der Religion erst durch materielle Kultur, durch Kultur der Materie erreicht. Arbeit nannten wir den Heiland, den Erlöser des Menschengeschlechts. Wissenschaft und Handwerk, Kopf- und Handarbeit sind nur zwei verschiedene Gestalten derselben Wesenheit. Wissenschaft und Handwerk sind wie Gott-Vater und -Sohn, zwei Dinge und doch nur eine Sache.

Das im letzten Satze enthaltene Thema wird in nachstehendem weiter behandelt:

Ähnlich wie unkultivierte Völker das politische und soziale Gesetz als ein übernatürliches Gnadengeschenk abgöttisch verehren und damit sich der Macht begeben, es dem Laufe der Entwicklung nach zu gestalten, ähnlich betrachtet heute eine verehrungssüchtige, untertänige, knechtische Anschauungsweise die Kopfarbeit der Wissenschaft als ein höheres Wesen, nicht als den Diener, sondern als den Götzen der Kultur. Die Menschen sollen nicht zur Wissenschaft hinaufsehen, sondern sie zu sich herabziehen. Wir sollen die geistige zu einem Instrument der materiellen Arbeit machen. Die erfahrungsmäßige Resultatlosigkeit der spekulativen Forschung, die erwiesene Unfruchtbarkeit der reinen Vernunft belehre die Gelehrtenzunft, daß leibliche Sinnentätigkeit zur Wissenschaft erfordert ist. Umgekehrt lerne der Handwerker an den bewunderten Resultaten der modernen Industrie, daß nur der Verbindung mit der Wissenschaft die Wunder der Arbeit zu danken sind.

Die gegenseitige Durchdringung der beiden Arbeitsformen hat im Verlauf der Jahrhunderte endlich die Menschheit auf den Punkt gebracht, wo nunmehr der Grundstein zum Tempel der Sozialdemokratie niedergelegt ist. Alle unsere materiellen Reichtümer haben, ebenso wie alle in der Literatur deponierten geistigen Errungenschaften, nur mittels gemeinschaftlicher Arbeit der verschiedensten Generationen, Geschlechter,[44] Länder und Völker produziert werden können. Sie sind also, wenn auch individuelles Eigentum, doch ein generelles, ein gemeinschaftliches, ein kollektives Produkt.

Dann zu seinem eigentlichen Thema zurückkehrend, sagt Dietzgen:

Die Lehre unserer sozialdemokratischen Kirche betrachtet den aufgehäuften Reichtum, den materiellen sowohl wie den geistigen, als ihren Grundstein und lehrt, zu glauben, daß dieser schwere Stein wohl nicht ohne, aber auch nicht durch einzelne Herren oder vornehme Geschlechter, sondern mit überaus angestrengter Kopf- und Handarbeit des gesamten Volkes zutage gefördert ist. Schelme und Narren nennen dies Evangelium rohe Gleichmacherei. Nein! Die Gleichheit der Sozialdemokratie ist keine phantastische Gleichheit, welche ihren Gegensatz, die Verschiedenheit, ausschließt. Unsere menschliche Natur hat uns allen das gleiche Bedürfnis gegeben, auf diesem Erdboden unseren Hunger zu stillen, unseren Leib zu kleiden, alle unsere verschiedenen Kräfte zu entwickeln. Die Menschenkinder haben von Natur alle das gleiche Verlangen, ihr Leben zu verbringen in tätiger Lust, ohne Elend und Knechtschaft. Die Gleichheit des Verlangens ändert die Verschiedenheit nicht, welche jeden von uns mit Kräften und Talenten eigener Art ausgerüstet hat. Wie also der Gegensatz zwischen Gleichheit und Mannigfaltigkeit in der Natur der Dinge faktisch vereint und überwunden ist, so soll auch das soziale Leben der Zukunft die Menschen gleich machen an gesellschaftlichem Rang und Wert, ihnen den gleichen Anspruch geben auf Genuß des individuellen Lebens, ohne deshalb die Verschiedenheit aufzuheben, welche jedem seine besondere Aufgabe zuteilt, jedem gestattet, nach seiner eigenen Fasson selig zu werden.

Solange die Natur als unbezwingbares Verhängnis, als allmächtige Gottheit gewaltet hat und die Menschheit mit Armut knechtete, durfte einzelnen oder einzelnen Klassen die Herrschaft gestattet sein, um als Führer zu dienen. Nun aber[45] ist das Volk durch die errungene reiche Ergiebigkeit seiner Arbeit auf dem Punkte angekommen, wo es verlangt, daß alle Herrschaft endige. Es fühlt sich berufen, die geschichtliche Entwicklung der Dinge fortzusetzen, ohne Beihilfe unumschränkter Führer.

Wir fordern von der Gesellschaft, und vermöge des geschichtlich erworbenen Reichtums können wir es fordern, daß sie uns nicht nur die Arbeit, sondern das »tägliche Brot« garantiere, daß sie die Hungrigen speise, die Nackten kleide, die Kranken pflege, kurz, alle Werke der Liebe und Barmherzigkeit übe. Wir verlangen von der Gesellschaft, daß sie nicht nur menschlich heiße, sondern menschlich sei. An Stelle der Religion setzt die Sozialdemokratie Humanität, welche fortan nicht mehr auf einer moralischen Satzung, sondern auf der Erkenntnis ruhen wird, daß nur in der sozialen brüderlichen Arbeit, in der ökonomischen Gemeinschaft der Erlöser lebt, der uns vom leibhaftigen Bösen befreien kann. Die wahre Erbsünde, an der das Menschengeschlecht bisheran leidet, ist die Selbstsucht. Moses und die Propheten, alle Gesetzgeber und Moralprediger haben zusammen nicht vermocht, es davon zu befreien. »Die Sünde sitzt im Fleische, wie der Nagel in der Mauer«, sagt die Bibel. Keine schöne Redensart, keine Theorie und Satzung konnte sie ausmerzen, weil die Konstitution der ganzen Gesellschaft an diesem Nagel hängt. Die bürgerliche Gesellschaft fußt auf dem selbstsüchtigen Unterschiede von Mein und Dein, fußt auf dem sozialen Krieg, auf der Konkurrenz, auf der Überlistung und Ausbeutung des einen durch den anderen.

Hieraus ergibt sich der oben bereits zitierte Moralsatz, daß die Gesellschaft sich auf einer neuen Grundlage konstituieren muß, welche die Gegensätze von Liebe und Selbstsucht miteinander versöhnt und die Gemeinsamkeit der Arbeit wie des Genusses involviert.

Hiermit schließt der zweite Abschnitt; der dritte nimmt das zu Beginn des ersten behandelte Thema wieder auf, daß die[46] Religion wie die Sozialdemokratie die Tendenz nach Erlösung hat, um einen neuen Gesichtspunkt zu eröffnen: wie die Sehnsucht nach Erlösung die Ursache der Religion war, so hat sie auch im Laufe der geschichtlichen Entwicklung, durch die neue Auffassung von »Erlösung« im Sinne der Sozialdemokratie, zur Auflösung der Religion geführt.

Dietzgen sagt: Wir sahen die Sozialdemokratie in ihrer Tendenz nach Erlösung darin weiter gehen als die Religion, daß sie die Erlösung nicht im Geiste, sondern nur mittels des menschlichen Geistes recht eigentlich im Fleische, in der fleischlichen, materiellen Wirklichkeit sucht. Das Bedürfnis der Erlösung, die erbärmliche Not des anfänglichen unkultivierten Menschen ist der Urschleim der Tiefe, aus dem sich die Religion erzeugte. Die unbeholfene Rat- und Hilflosigkeit in einer Welt von Drangsal treibt den Menschen, anderwärts Allmacht und Vollkommenheit zu suchen, treibt zur Verehrung von Tieren, Gestirnen, Bäumen, Blitz, Wind, einzelnen Menschen usw. Die nachfolgende unvermeidliche Erfahrung, daß alle diese Dinge selbst macht- und hilflos sind, veranlaßte den Fortschritt, das höchste Wesen, statt in einem nahen, greifbaren, demnach in einem geistigen Wesen zu suchen, das weitab über den Wolken thront. Von dieser, also der Erfahrung entrückten Gottheit sich näher zu unterrichten, war schwieriger. Die neuere Wissenschaft jedoch, welche hinter so manches verborgene Mysterium gekommen ist, hat endlich auch das Geheimnis der Religion offenbart.

Es ist die Natur der Materie, welche sie, ohne Ansehen der Zeit, zu stetiger Entwicklung getrieben hat und forttreibt; durch Feuer- und Wasserepochen hindurch zur Bildung des ersten Lebens, das mit den geringsten Pflanzen, mit den niedrigsten Tieren begonnen hat und weiter hinaufsteigt in unaufhörlicher Veränderung und Erweiterung der Formen, bis zur selbsttätigen Zeugung des Menschengeschlechts. Und derselbe Naturinstinkt, der die Welt, hat dann auch sein höchstes Produkt, das mit Vernunft begabte[47] genus homo, geschichtlich entwickelt. Was immer nun in diesem geschichtlichen Prozeß zeitweilig eine hervorragende Stelle eingenommen, sei es Tier, Pflanze, Gestirn, Mensch oder Gesetz, wurde von dem religiösen Gefühl schwärmerisch vergöttert. Gott, das ist der Inhalt der Religion, hatte also keinen bleibenden, ewigen, sondern einen veränderlichen, zeitlichen Charakter.

Die Religiösen pochen darauf, daß alle Völker, wilde wie zahme, Religion haben, an Gott glauben. Sie halten deshalb dafür, daß der Glaube dem Menschen angeboren sei, und wollen darin einen Beweis seiner Wahrheit finden. Aber wahr ist nur, daß der Unerfahrene leichtgläubig und um so leicht- und vielgläubiger, je unerfahrener und unkultivierter er ist. Ein Blick belehrt, daß nicht eine, sondern viele Religionen da sind, nicht Gott, sondern Götter geglaubt werden. Weil nur nach und nach dem Menschen die Welt verständlich wird, vergöttert er das Mannigfaltigste, heute die Sonne und morgen den Mond, bald den Hund, wie die Perser, bald die Katze, wie die Ägypter.

Die Essenz der Religion besteht darin, diejenige Erscheinung des Natur- und Menschenlebens, welche je nach Zeit und Umständen von eminenter Bedeutung ist, zu personifizieren und im Glauben auf eine so hohe Säule zu stellen, daß sie über alle Zeit und Umstände hinwegsieht.

Wie unsere Zeit so nahe daran ist, die Religion gänzlich aufzugeben, wird augenfällig an den vagen, im höchsten Grade konfusen Ideen, die sie über Gott und seine Eigenschaften hegt. Während von allen anderen Dingen die Menschen nur darum wissen, daß sie sind, weil sie vorher wissen, wie und was sie sind, wollen sie vom Dasein einer göttlichen Persönlichkeit überzeugt sein, ohne irgend zu wissen, welcher Art sie ist, ob menschlicher oder unmenschlicher Gestalt, ob klein oder groß, ob schwarz- oder blauäugig, ob Mann oder Weib. Ist es nun aber nicht schmählich kopflos, von jemand wissen zu wollen, daß er ist, wenn ich zugleich eingestehen[48] muß, gar nichts davon zu wissen, wo, wie und welcher Art er ist? Je weiter die Gottesidee in der Entwicklung zurück ist, um so leibhaftiger ist sie, je moderner die Form der Religion, um so konfuser, um so erbärmlicher sind die religiösen Ideen. Die geschichtliche Entwicklung der Religion besteht in ihrer allmählichen Auflösung.

Im vierten Abschnitt wird der zu Beginn der sozialdemokratischen Agitationsära häufig und heute noch von religiösen Anhängern der Arbeitersache manchmal verteidigte Satz, daß »Christus der erste Sozialist gewesen«, einer interessanten Kritik unterzogen:

Sozialismus und Christentum sind so verschieden wie Tag und Nacht. Wohl haben beide übereinstimmendes. Aber was stimmt nicht überein? Was ist unähnlich? Tag und Nacht gleichen sich durchaus darin, daß sowohl das eine wie das andere ein Stück der allgemeinen Zeit ist. Der Teufel und der Erzengel, obgleich der erste eine schwarze und der zweite eine weiße Haut hat, sind doch wieder sehr gleich, indem jeder von ihnen überhaupt in einer Haut steckt. Es ist die spezielle Kapazität unseres Kopfes, alle Mannigfaltigkeit unter einen generellen Hut zu bringen. Ob Christentum und Sozialismus noch so viel Gemeinschaftliches haben, so verdient doch der, der Christus zum Sozialisten macht, den Titel eines gemeinschädlichen Konfusionsrats. Es ist nicht genug, das Gemeinschaftliche der Dinge zu kennen, auch der Unterschied will verstanden sein. Nicht was der Sozialist mit dem Christen gemein, sondern was er eigen hat, was ihn auszeichnet und unterscheidet, sei Gegenstand unserer Beachtung.

Neuerdings ist das Christentum Religion der Knechtseligkeit genannt worden. Das, in der Tat, ist seine treffendste Bezeichnung. Knechtselig ist allerdings alle Religion, aber das Christentum ist die knechtseligste der knechtseligen. Nehmen wir ein christlich Wort von der Straße. An meinem Wege steht ein Kreuz mit der Inschrift: »Barmherzigkeit, huldreichster Jesu! H. Maria bitt für uns.« Da haben wir die[49] unmäßige Demut des Christentums in ihrer vollen Erbärmlichkeit. Denn wer so seine ganze Hoffnung auf Erbarmen baut, ist doch in Wahrheit eine erbärmliche Kreatur. Der Mensch, der vom Glauben an den allmächtigen Gott ausgeht, vor den Schicksalen und Mächten der Natur sich in den Staub wirft und nun im Gefühl der Ohnmacht um Erbarmen winselt, ist kein brauchbares Mitglied unserer heutigen Welt. Wenn die modernen Christen andere Leute sind, wenn sie den Unwettern, die überlegene Mächte herabdonnern, kühn in die Augen sehen und nun durch tatkräftige Arbeit das Unheil zu heilen suchen, so bekunden sie mit solcher Tat ihren Abfall vom Glauben. Obgleich die Christen ihren Namen, ihre Gesangbücher und frommen Gemütsschmerzen beibehalten, sind sie doch in ihrem Tun und Treiben vollendete Antichristen. Wir religionslose Sozialdemokraten wollen das klare Bewußtsein der Sachlage voraus haben. Wir wollen Wissen und Willen, in der Theorie wie in der Praxis tatkräftige Widersacher der lammfrommen, gottseligen Ergebenheit sein. Das Christentum fordert Entsagung, während heute rüstige Arbeit zur Befriedigung unserer materiellen Bedürfnisse gefordert ist. Gottvertrauen ist die vornehmlichste Qualität eines Christen, Selbstvertrauen, das gerade Gegenteil, zu einer erfolgreichen Arbeit nötig.

Eine Charakterisierung der Würde geistiger wie körperlicher Arbeit gibt unser Autor im zweiten Teil dieses vierten Abschnitts:

Nachdem von der Wissenschaft alles Himmlische materialisiert wurde, blieb den Professoren übrig, ihre Profession, die Wissenschaft zu verhimmeln. Die akademische soll anderer Qualität, anderer Natur sein, wie zum Beispiel die Wissenschaft des Bauern, des Färbers oder Nagelschmieds. Die wissenschaftliche Agrikultur zeichnet sich von der gewöhnlichen Bauernwirtschaft nur dadurch aus, daß ihre Regeln, ihre Kenntnisse der sogenannten Naturgesetze genereller oder umfassender sind.

[50]

Das sozialistische Bedürfnis nach gerechter, volkstümlicher Verteilung der wirtschaftlichen Produkte verlangt die Demokratie, verlangt die politische Herrschaft des Volkes und duldet nicht die Herrschaft einer Sippe, die mit der Prätension des Geistes nach dem Löwenanteil schnappt. Um diesen anmaßlichen Eigennutz in vernünftige Schranken zurückweisen zu können, ist es geboten, das Verhältnis des Geistes zur Materie klar zu verstehen. Der eminente Wert der Kopfarbeit wird von den Handarbeitern noch vielfach verkannt. Ein unfehlbarer Instinkt bezeichnet ihnen die tonangebenden Federfuchser unserer bürgerlichen Zeit als natürliche Widersacher. Sie sehen, wie das Handwerk der Beutelschneiderei unter dem Rechtstitel der geistigen Arbeit betrieben wird. Daher die leicht erklärliche Neigung, die geistige Arbeit zu unter- und die körperliche zu überschätzen. Diesem brutalen Materialismus ist entgegenzuwirken. Physische Kraft, materielle Überlegenheit war von jeher das Vorrecht der arbeitenden Volksklassen. Mangels geistiger Ausbildung haben sie bisher sich übertölpeln lassen. Die Emanzipation der Arbeiterklasse fordert, daß letztere der Wissenschaft unseres Jahrhunderts sich ganz bemächtige. Das Gefühl der Entrüstung über die Ungerechtigkeiten, welche wir erleiden, reicht trotz unserer Überlegenheit an Zahl und Körperkraft zur Befreiung nicht aus. Die Waffen des Geistes müssen Hilfe leisten. Unser Körper ist mit seinem Geist derart verbunden, daß physische Arbeit absolut unmöglich ist ohne geistige Zutat. Der simpelste Handlangerdienst erfordert die Mitbeteiligung des Verstandes. Andererseits ist der Glaube an die Unkörperlichkeit der geistigen Arbeit eine Gedankenlosigkeit. Auch die reinste Forschung ist unleugbar eine Anstrengung des Körpers. Alle menschliche Arbeit ist geistig und körperlich zumal. Am Produkt der Arbeit läßt sich nie ermitteln, wieviel davon der Geist und wieviel der Körper geschaffen hat; sie schaffen in solidarischer Gemeinschaft, einer nicht ohne den anderen. Mag sich eine Arbeit als geistig oder körperlich charakterisieren,[51] das Produkt, ich wiederhole, ist von Geist und Körper zumal geschaffen. Da läßt sich der Beitrag der Idee nicht separieren vom Beitrag des Materials. Wer könnte in einem Gemüsegarten die Teile bestimmen, die der Spaten, der Arm des Gärtners, der Boden, der Regen und der Dünger gefördert hat?

Große Männer, die die Leuchte der Erkenntnis vorantragen, mögen wir ehren, aber nur so lange und so weit auf ihre Sprüche bauen, als dieselben materiell in der Wirklichkeit begründet sind.

So weit 1 bis 4 der Kanzelreden.

Die Stücke 5 und 6 sind weniger »populär« gehalten, weil wesentlich philosophischen Charakters; sie behandeln der »neuen Religion«, der Sozialdemokratie Denkweise, im Gegensatz zur altreligiösen, der »primitiven Weltweisheit«:

Wer das phantastische, das religiöse System der Welterklärung absetzen will, der muß doch wieder ein System, diesmal ein rationelles, an die Stelle setzen.

Wir nennen uns Materialisten. Wie die Religion ein genereller Name ist für mannigfache Konfessionen, so ist auch der Materialismus ein dehnbarer Begriff.

Philosophische Materialisten kennzeichnen sich dadurch, daß sie die leibhaftige Welt an den Anfang, an die Spitze und die Idee oder den Geist als Folge setzen, während die Gegner nach religiöser Art die Sache vom Wort (»Gott sprach, und es ward«), die materielle Welt von der Idee ableiten. Wir dürften uns ebenso füglich auch Idealisten nennen, weil unser System auf dem Gesamtresultat der Philosophie fußt, auf der wissenschaftlichen Erforschung der Idee, auf der klaren Einsicht in die Natur des Geistes. Wie wenig die Gegner kapabel sind, uns zu begreifen, bezeugen denn auch die widerspruchsvollen Namen, die man uns gibt. Bald sind wir grobtastige Materialisten, die nur nach Hab und Gut ausgehen, bald, wenn von der kommunistischen Zukunft die Rede ist, werden wir unverbesserliche Idealisten genannt. In[52] der Tat sind wir beides zugleich. Sinnliche, wahrhaftige Wirklichkeit ist unser Ideal, das Ideal der Sozialdemokratie ist materiell.

Dietzgen reklamiert nun als Bedingung sozialdemokratischer Denkweise dreierlei: die von Bacon gelehrte »induktive Methode« der Forschung – des Schlusses vom Besonderen aufs Allgemeine; ferner Gedankenaufbau auf Grundlage sinnlichen Materials; drittens die Voraussetzung gegebenen Anfangs der Welt – unter Abweisung der metaphysischen Frage Kants nach »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit«, und unter Ablehnung der transzendentalen Deduktion, das heißt apriorischer Grundlegung der objektiven Erfahrung durch den reinen Geist. Dietzgen sagt:

Anwendung der induktiven Methode auf alle Probleme vom Anfang bis zum Ende der Welt, also die systematische Anwendung der Induktion macht die sozialdemokratische Weltanschauung zu einem System. »Du sollst«, lautet das Gesetz, »nicht anfangen zu grübeln ohne Material, du darfst deine Schlüsse, Regeln, Erkenntnisse nur auf Tatsachen, auf sinnliche Wahrheit bauen. Zum Denken gehört ein gegebener Anfang.« Wir also fangen wohl an zu grübeln, aber grübeln nie über den Anfang. Wir wissen ein für allemal, daß alles Denken mit einem Stück der weltlichen Erscheinung, mit gegebenem Anfang anfangen muß, daß also die Frage nach dem Anfang des Anfangs eine gedankenlose Frage ist, die dem allgemeinen Denkgesetz widerspricht. Wer vom Anfang der Welt redet, setzt den Weltanfang in die Zeit. Da darf man fragen, was war vor der Welt? »Nichts war«, sind zwei Wörter, von denen eines das andere ausschließt. Daß jemals etwas gewesen sei, was nicht war, kann nur ein schlauer Tollpatsch sagen, der viereckige Kreise zieht. Nichts kann nur heißen: nicht dies oder jenes.

Unsere Dränger, die Mächtigen und Besitzenden, »Kulturkämpfer« und Fortschrittsmänner, Liberale und Freimaurer sind auch Fürsprecher der Induktion – nur soweit sie ihnen[53] zum Kram paßt. Sie teilen alles: Die Leute in Herren und Diener, das Leben in Dies- und Jenseits, die Person in Leib und Seele und die Wissenschaft in Induktives und Deduktives.

Das Teilen ist gut und recht, wenn dabei System, wenn das Geteilte unter einem Hut gehalten, wenn die Verschiedenheit als eine nur graduelle bekannt ist. Auch die Sozialdemokraten haben Leib und Seele. Unser Leib ist die Summe der leiblichen und die Seele Summe der seelischen oder geistigen Eigenschaften. Aber, wohlgemerkt! die empirische Erscheinung ist das einhellige Material, die gemeinsame Rubrik für Leib und Seele, für Körper und Geist. Seele oder Geist ist uns ein Attribut der Welt und nicht, wie umgekehrt der Pfaff will, die Welt ein Attribut oder Machwerk des Geistes.

Nach religiösem System ist der liebe Gott »letzter Grund«. Idealistische Freimaurer glauben alles mit der Vernunft begründen zu können. Befangene Materialisten suchen in heimlichen Atomen den Grund alles Bestehenden, während die Sozialdemokraten alles induktiv begründen. Wir besitzen die prinzipielle Induktion, das heißt wir wissen, daß nicht rein deduktiv, aus der bloßen Vernunft irgendeine Belehrung zu schöpfen, sondern nur mittels Vernunft aus der Erfahrung Kenntnisse zu holen sind.

An Stelle der Religion setzt die Sozialdemokratie systematische Weltweisheit.

Diese Weisheit findet ihre Begründung, ihren »letzten Grund« in den faktischen Verhältnissen. Die Erfahrung, daß sowohl die feudale wie die liberale und klerikale Gerechtigkeit und Freiheit und politische Wahrheit und Weisheit nach dem leiblichen Interesse der betreffenden Parteien modelliert ist, hat uns das Verständnis nahegelegt, daß sich überhaupt die Weisheit nicht aus dem Kopfe, sondern nur mittels des Kopfes aus empirischem Material ziehen läßt.

Zufolge dessen modellieren wir mit Bewußtsein, mit systematischer Konsequenz unsere Begriffe über Gerechtigkeit[54] und Freiheit nach unseren leiblichen Bedürfnissen, nota bene sind es die Bedürfnisse des Proletariats, der großen Volksmasse. Das faktische leibliche Bedürfnis einer »menschenwürdigen« Existenz ist der »letzte Grund«, womit wir die Rechtmäßigkeit, Wahrheit, Vernünftigkeit der sozialdemokratischen Bestrebungen erweisen. Im System der Induktion geht der Leib dem Geiste, das Faktum dem Begriffe voran. Wie die Wärme kalt und die Kälte warm, beides sich nur dem Grade nach unterscheidet, so relativ ist das Gute bös und das Böse gut. Alles sind Relationen desselben Stoffes, Formen oder Arten der physischen Empirie (Erfahrung).

Mancher möchte fragen: Wie ist es möglich, empirisches Material als Grundbestandteil aller Objekte der Wissenschaft nachzuweisen? Gibt es denn da keine Dinge, wie das Wesen Gottes, reine Vernunft, sittliche Weltordnung usw.?

Gott, reine Vernunft, sittliche Weltordnung und viele andere Dinge bestehen nicht aus empirischem Material, es sind keine Formen der physischen Erscheinung, wir leugnen deshalb auch ihr Dasein. Jedoch die Begriffe dieser Gedankendinge sind faktisch vorhanden; sie mögen wir sehr wohl unserer induktiven Forschung als Material unterbreiten.

Im Schlußartikel, dem siebten, befaßt sich unser Autor mit dem viel ventilierten Religionsthema der »sittlichen Weltordnung«:

Sitte und Ordnung muß sein, nicht weil, wie der Pastor sagt, diese Dinge vom Himmel stammen, sondern weil sie ein allgemeines, lebhaftes Bedürfnis sind. Da wir Sozialdemokraten alle unsere Gedanken mit leibhaftigen oder empirischen Tatsachen begründen, soll auch das Sittengesetz nicht weiter gelten, als es sich materialistisch fundiert findet.

Die Sittlichkeit beruht auf dem sozialen Trieb des Menschengeschlechts, auf der materiellen Notwendigkeit des gesellschaftlichen Lebens. Weil die Tendenz der Sozialdemokratie vornehmlich auf ein soziales, auf ein gesellschaftliches Leben in höherem Grade gerichtet ist, darum kann sie nicht anders,[55] als ganz wahrhaftig eine moralische Tendenz sein. Sacken und Packen und der dazu benötigte juristische Apparat nennt sich »sittliche Weltordnung«. Menschen, die über Nacht reich werden, haben ein anderes Sittengesetz als solche, die noch das Brot kümmerlich im Schweiße des Angesichts kneten. Heute weiß man nicht, ob fünf, fünfundzwanzig, hundert oder fünfhundert Prozent ein »ehrlicher Verdienst« ist. Die kapitalistische Wirtschaft wirkt zersetzend auf die Moral und das Vermögen. Wie in der Türkei kauft man in höheren Ständen sich der Frauen, soviel man Geld hat. Vielweiberei und Mätressenwirtschaft werden Sitte, sind ein sittliches Faktum. Und in der Tat und in der Wahrheit ist die »freie Liebe« nicht minder sittlich wie auch die christliche Beschränkung auf nur ein einziges Ehegesponst. Was uns an der Vielweiberei empört, ist nicht so sehr die reiche Mannigfaltigkeit der Liebe, als die Käuflichkeit des Weibes, die Degradation des Menschen, die schandbare Herrschaft des Mammons.

In der Weltgeschichte, liebe Mitbürger, geht es mit der Moral wie in der Natur mit dem Stoff: die Formen ändern sich, aber das Wesen bleibt.

Hier muß ich kurz und bündig auseinandersetzen, was das eigentliche Wesen der Sittlichkeit, was wahre Moral ist. Die Feinde schlachten, braten und verspeisen, heißt dort moralisch, und hier: sie lieben und ihnen Gutes tun. Wie sollen wir nun unter solchen Widersprüchen die Kastanien der Wahrheit aus dem Feuer holen? Einfach, indem wir aus dem Verschiedenen das Allgemeine, indem wir extrahieren, was unter allen Umständen moralisch, sittlich oder recht ist. Es kann das nichts Spezielles, es muß das Generelle, das Abstrakte des gesamten moralischen Materials sein. Mittels eines solchen induktiven Verfahrens findet sich, daß die sittliche Weltordnung im allgemeinen aus den Rücksichten besteht, verschieden je nach Zeit und Umständen, welche das gesellschaftliche Bedürfnis der Menschen erheischt. Ferner findet sich die unleugbare Tatsache, daß dieses Bedürfnis[56] mit der Kultur sich entwickelt, daß der soziale Trieb des Menschen wächst, daß die menschliche Assoziation breiter und inniger, daß die Moral moralischer wird.

Kein Orakel des Himmels, kein Gewissen der Brust und keine Deduktion des Kopfes darf uns die sittliche oder irgend eine andere Wahrheit dozieren. Auf diesen idealen Wegen findet sich nur die bekannte Schnapperei nach »dem wahren Jakob«. Das einhellige wissenschaftliche Resultat wird induktiv gewonnen; es gründet sich immer auf empirische Tatsachen, hier auf das exakte Faktum, daß Menschen einander dienstlich sind. So ewig wie einer des anderen bedarf, so ewig ist dem einen recht, was dem andern billig. Je mehr sich die gegenseitige Bedürftigkeit der Menschen entwickelt, um so extensiver und intensiver wird ihre Verbindung, um so rücksichtsvoller die Moral, um so größer und wahrer die Moral.

Die religiöse Wahrheit ist eine ideale Phantasterei. Sie hat die Nächstenliebe auf Gottesglauben und sittliche Freiheit gründen wollen. Und was haben wir davon? Den sozialen Krieg. Wir wollen umgekehrt den ewigen Frieden bezwecken mittels einer brüderlichen Gestaltung der politischen Ökonomie. Wie in der Familie, wo der Mann den Kohl baut, die Frau ihn kocht und die Kinder das Reisig herbeiholen, wie da die häusliche Liebe gegründet ist auf die häusliche Wirtschaft, die geistige auf die materielle Eintracht, so wird sich auch bei uns die wahre Nächstenliebe erst einfinden, nachdem die Erwerbsverhältnisse sozialistisch gestaltet sind. Gewiß hat die Natur schon dem Menschen die Nächstenliebe ins Herz gepflanzt. Aber dies Herz ist ein durchaus unzuverlässiger Kompaß, und Wille und Erkenntnis, überhaupt der ganze ideale Apparat ist ohne materielle Basis ein sehr niedriger Wegweiser. Es müßte sonst besser stehen mit der Nächstenliebe unserer herrschenden Klassen.

Mit der faktischen Welt stimmt die sozialdemokratische Moraltheorie überein, sie anerkennt im politischen Staate[57] den berechtigten Wächter und Hüter der Sittlichkeit, aber fühlt sich auch berufen, dem Staat auf die Finger zu sehen, daß er nicht aus einer vergänglichen und veränderlichen Institution einen ewigen und heiligen Popanz mache, daß er nicht statt dem sittlichen Fortschritt eine unsittliche Reaktion, statt kommunistischer Moral egoistische Laster treibe. Indem die Sozialdemokratie alle Privatinteressen dem Allgemeinen, der sozialistischen Organisation unterordnet, bekundet sie wahre, echte Moral.

(Dieses Schlußkapitel der Kanzelreden ist beiläufig als eine populäre Erweiterung des Schlußkapitels vom »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« zu betrachten.)


[58]

VI.
Sozialdemokratische Philosophie.

»Sozialdemokratische Philosophie« betitelt sich die nun folgende Artikelserie (aus dem »Volksstaat« von 1876), der sich drei Aufsätze (aus dem »Vorwärts« von 1877 bis 1878) anschließen.

Unter »sozialdemokratischer Philosophie« versteht Dietzgen die auf sinnlicher Erfahrung beruhende Erkenntnis – im Gegensatz zur spekulativen Philosophie, zur Metaphysik, zum Übersinnlichen und auch zur Ideologie, wie zur »phantastischen Projektmacherei« der frühen französischen und englischen Sozialisten zu Ende des achtzehnten und im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts.

Erst unserem Marx und Engels hatte – sagt Dietzgen – die Philosophie das Fundamentalprinzip offenbart, daß in letzter Instanz sich die Welt nicht nach Ideen, sondern umgekehrt die Ideen sich nach der Welt zu richten haben. Marx war der erste, welcher erkannte, daß das Menschenheil im großen und ganzen nicht von irgendwelchem erleuchteten Politiker, sondern von der Produktivität der sozialen Arbeit abhängt.

Da diese teils mechanischer, teils geistiger Art ist, fragt es sich: wer von beiden ist Primus?

Wir erkennen in Wissenschaft und Bildung überaus wertvolle Mittel, aber nur Mittel, während die Ergiebigkeit der leiblichen Arbeit der höhere Zweck ist. Die Bildung wirkt dann allerdings sehr erheblich zurück auf die produktive Verwendung der Arbeit.

Der unwiderstehliche Weltprozeß, der die Planeten geballt, aus ihren feuerflüssigen Substanzen Kristalle, Pflanzen, Tiere und Menschen nacheinander hervorgetrieben, treibt ebenso unwiderstehlich zu einer rationellen Verwendung unserer Arbeit,[59] zur stetigen Entwicklung der Produktivkraft.[9] Die Produktion verlangt unter allen Umständen in rationeller Weise betrieben zu werden. In allen Kulturepochen, mögen sie noch so verschieden sein, muß man, so will es die Vernunft der Dinge, in möglichst kurzer Zeit das Massenhafteste leisten. Dieser von der materiellen Leiblichkeit uns angetane Trieb ist also das Allgemeine, das Ursächliche, ist Grund oder Fundament aller sogenannten höheren, geistigen Entwicklungen, Bildungen und Fortschritte. Weil die fortentwickelte Produktivkraft heute nicht weiterkommen kann, darum muß dem Volke Teil gegeben werden am Konsum, Absatz muß verschafft, die Sittlichkeit, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vervollkommnet werden.

Auf dem Mechanismus des Fortschritts beruht die Zuversicht der Sozialdemokratie. Wir wissen uns unabhängig vom guten Willen. Unser Prinzip ist ein mechanisches, unsere Philosophie materialistisch. Doch ist der sozialdemokratische Materialismus viel reicher und positiver begründet als irgend ein Vorgänger. Die Idee, seinen Gegensatz, hat er mittels klarer Durchschauung in sich aufgenommen, hat die Welt der Begriffe bemeistert, den Widerspruch zwischen Mechanik und Spirit überwunden. Der Geist der Verneinung ist in uns zugleich positiv, unser Element ist dialektisch.[10]

[60]

Im zweiten Artikel erklärt unser Autor, wie die »sozialdemokratische Philosophie« aus der bürgerlichen, von der sie »legitim abstammt«, sich entwickelt hat:

Wer sind wir, woher kommen und wohin gehen wir? Sind die Menschen Herren und Gebieter, sind sie die »Krone der Schöpfung« oder hilflose Kreaturen, allem Winde, Wetter und Ungemach unterworfen? Wie verhalten wir oder wie sollen wir uns verhalten zu den Dingen und Menschen der Umgebung? Das ist die große Frage der Philosophie wie der Religion. Das Charakteristikum der Philosophie ist es, die »große Frage« dem religiösen Gemüt entwunden und sie dem Organ der Wissenschaft, dem Erkenntnisvermögen zur Lösung heimgegeben zu haben. Indem die Philosophie die große Lebensfrage wissenschaftlich lösen wollte, verdrehte sich ihr die Sache, die sie nicht anzugreifen wußte, und die wissenschaftliche Lösung, die Theorie der Kopfarbeit, wurde ihr zum eigentlichen Gegenstand, zur Lebensfrage.

Aber schockweise sind die Belege, daß das Verständnis kein helles, kein konsequentes ist, daß die Professoren und Privatdozenten ganz konfus sind in betreff der Aufgabe, des Zweckes oder der Bedeutung der Philosophie.

Zum Beweis zitiert Dietzgen einen Philosophen von anerkanntem Ruf, Herrn v. Kirchmann, der 1876 in einem Vortrag die Philosophie als das beste Schutzmittel für die zurzeit herrschende Autorität und die bürgerliche Moral erklärte.

[61]

Diese Philosophie kann also die Frage »Woher kommen wir?« sicherlich nicht beantworten, zumal sie auf materiallosem oder voraussetzungslosem Denken beruht. Ohne Material, wie die Spinne ihre Fäden aus dem Hintern, ja noch weit material- oder voraussetzungsloser, will der Philosoph seine spekulative Weisheit aus dem Kopfe ziehen. So haben denn die philosophischen Hirngespinste auch weniger realen Zusammenhang als die Spinngewebe.

Einer der Professoren – sagt unser Autor im dritten Artikel – verlangt von den Sozialisten »statt vager und unklarer Andeutungen ein klares Bild von dem Zustand der Gesellschaft, wie er nach ihrer Ansicht sein müßte und nach ihren Wünschen eintreten soll. Namentlich nach seinen praktischen Konsequenzen ausgeführt.«

Wir sind keine Idealisten, die sich einen Zustand der Gesellschaft erträumen, »wie er sein muß und soll«. Wenn wir unsere Gedanken über die künftige Gestaltung spinnen, nehmen wir Material zur Hand. Wir denken materialistisch. »Der liebe Gott hatte die Welt im Kopfe, bevor er sie machte, seine Ideen waren souverän und hatten sich nach nichts Vorhandenem zu richten.« Dieser Aberglaube an die Souveränität der Idee spukt den Philosophen im Kopfe; er liegt dem Verlangen zugrunde, daß wir die künftige Welt in all ihren Details erst projektieren sollen, bevor wir die gegenwärtige angreifen und »zerstören«. Fourier, Cabet usw. haben diese Verkehrtheit begangen. Wir behandeln die Zukunft nicht wie spekulative Philosophen, sondern wie praktische Männer, bauen keine Luftschlösser und machen keine Rechnungen ohne die Wirte. Es ist kopflos, in ein Geschäft, in ein Unternehmen, in die Welt zu rennen ohne Projekt; aber noch kopfloser und nur die Art sanguinischer Phantasten ist es, wenn man die näheren Bestimmungen sich nicht reserviert.

Daß die kleine Wirtschaft wenig leistet und der Privatbesitz en gros die Arbeiter ausbeutet, ist eine empirische Spezialkenntnis, welche aus der Erfahrung induziert und nicht[62] aus der philosophischen blauen Allgemeinheit uns in den Kopf geregnet ist. Daraus folgt als »praktische Konsequenz« die Forderung des genossenschaftlichen, des staatlichen oder kommunalen Betriebes.

Aber der Arbeitszwang – »die Beschränkung der persönlichen Freiheit verträgt sich nicht mit dem idealen Staate«. Der Arbeitszwang ist ein Naturgesetz und ist nur so lange eine Beschränkung unserer persönlichen Freiheit, als ein Herr Prinzipal vorhanden ist, der die Früchte unserer Arbeit eigennützig einsackt. Sollte wohl der gut salarierte Beamte seinen vorschriftsmäßigen Dienst als »Beschränkung der persönlichen Freiheit« empfinden?

Dietzgen nimmt nun im vierten Artikel das im zweiten begonnene Thema wieder auf »Woher kommen wir?«, das Rätsel des Daseins, das Religion und Philosophie zu lösen sich die Aufgabe gestellt.

Die religiöse Schöpfungsgeschichte ist der Philosophie zu kindisch; sie wendet sich deshalb an den menschlichen Geist; aber solange der, vom religiösen Dunst umnebelt, sich selbst mißversteht, fragt und hantiert er verkehrt, voraussetzungslos, spekulativ oder in die unbestimmte Allgemeinheit.

Die »Voraussetzungslosigkeit« seiner Methode weiß der Philosoph damit zu begründen, daß er auf die vielen Possen oder Täuschungen der Sinne hinweist, die uns mannigfach in der Irre herumführen. Folgedessen fragt er: Was ist Wahrheit und wie kommen wir zur Wahrheit?

Seine Philosophie sucht nicht, wie alle besonderen Wissenschaften, an bestimmten grünen und empirischen Wahrheiten, sondern wie die Religion an einer ganz besonderen Art von Wahrheit, an der absoluten, blauen, voraussetzungslosen oder übergeschnappten. Was aller Welt wahr ist, was wir sehen, fühlen, hören, schmecken und riechen, unsere leibhaftige Empfindung, ist ihr nicht wahr genug. Naturerscheinungen sind nur Erscheinungen oder »Schein«, und davon will sie nichts wissen.

[63]

Weil der Philosoph, vom religiösen Wahne befangen, über die Naturerscheinung hinaus will, weil er hinter dieser Welt der Erscheinung noch eine andere Welt der Wahrheit sucht, mittels deren die erstere erklärt werden soll, darum hat er sich die voraussetzungslose Methode angeschafft, welche Gedanken ohne bestimmtes Material spinnt oder, mit anderen Worten, in die unbestimmte Allgemeinheit fragt. Erst ein unbefangener Grübler, der das Cartesianische Experiment (»Cogito, ergo sum«, ich denke, daher existiere ich) wiederholt, findet, daß, wenn sich im Kopfe Gedanken und Zweifel umtreiben, es die leibliche Empfindung ist, welche uns das Dasein des Denkprozesses versichert.[11] Der Philosoph verdrehte die Sache, er wollte die unleibliche Existenz des abstrakten Gedankens bewiesen haben; er vermeinte, die übergeschnappte Wahrheit einer religiösen oder philosophischen Seele wissenschaftlich beweisen zu können, während in der Tat er die gemeine Wahrheit der leiblichen Empfindung konstatierte. Aus der Empfindung des profanen Daseins wollte Cartesius ein höheres Dasein herleiten. Sein Malheur ist das Generalmalheur der Philosophie, sie ist idealistisch.

Idealisten im guten Sinne des Wortes sind alle braven Menschen. Die Sozialdemokraten erst recht. Unser Ziel ist ein großes Ideal. Die Idealisten im philosophischen Sinne dagegen behaupten, was alles wir sehen, hören, fühlen usw., die ganze Welt der Dinge rund um uns sei nicht vorhanden, es seien Gedankenspäne. Sie behaupten, unser Intellekt sei die einzige Wahrheit, alles andere sollen »Vorstellungen«, Phantasmagorien, traumhafte Nebelbilder, Erscheinungen im bösen Sinne des Wortes sein. Was immer in der äußeren Welt wir wahrnehmen, behaupten sie, sind keine objektiven Wahrheiten, keine wirklichen Dinge, sondern ist subjektives Getriebe unseres Intellektes.

Die Dinge der Welt sind nicht »an sich«, sondern besitzen alle ihre Beschaffenheiten nur durch den Zusammenhang.[64] Im Zusammenhang mit dem Sonnenlicht und mit unseren Augen sind die Wälder im Sommer grün. In einem anderen Lichte und unter anderen Augen möchten sie dann blau oder rot sein. Flüssig ist das Wasser nur im Zusammenhang mit einer gewissen Temperatur, in der Kälte wird es hart und fest, in der Hitze unsichtbar; läuft gewöhnlich bergab, und wenn es an einen Zuckerhut herankommt auch bergauf. Es hat »an sich« keine Eigenschaften, kein Dasein, sondern erhält dasselbe durch den Zusammenhang. Wie dem Wasser ergeht es allen anderen Dingen.

Die ganze Wahrheit und Wirklichkeit beruht auf dem Gefühl, auf der leiblichen Empfindung. Seele und Leib oder Subjekt und Objekt, wie der alte Witz neuerdings heißt, ist von demselben irdischen, sinnlichen, empirischen Kaliber.

Die Wahrheit nicht auf das »Wort Gottes« und nicht auf überkommene »Prinzipien«, sondern unsere Prinzipien auf die leibliche Empfindung gründen, das ist die philosophische Pointe der Sozialdemokratie.

Der liebe Gott formte des Menschen Leib aus einem Lehmklumpen, und die unsterbliche Seele hauchte er hinein. Seit dieser Zeit besteht der Dualismus oder die Zweiweltentheorie. Die eine, die leibliche, materielle Welt, ist Dreck, und eine andere, geistliche oder geistige Geisterwelt, ist Gotteshauch. Dieses Histörchen wurde von der Philosophie säkularisiert, das heißt dem Zeitgeist angepaßt. Das Sichtbare, das Hör- und Fühlbare, die leibliche Wirklichkeit wird immer noch wie dreckiger Lehm behandelt; dem denkenden Geiste dagegen hängt man das Reich einer überspannten Wahrheit, Schönheit und Freiheit an. Wie in der Bibel »die Welt« einen üblen Beigeschmack hat, so auch in der Philosophie. Unter allen Erscheinungen oder Objekten, welche die Natur bietet, findet sich nur eines, welches sie ihrer Aufmerksamkeit würdigt, den Geist nämlich, den alten Gotteshauch; und das nur darum, weil derselbe ihrem vertrackten Sinne wie ein unnatürliches, wie ein überweltliches, metaphysisches Ding erscheint.

[65]

Es soll der Odem Gottes als eine Wahrheit demonstriert werden. Zwar ist der Name in Verruf: von der unsterblichen Seele darf vor aufgeklärten, liberalen Leuten keine Rede sein. Man tut materialistisch nüchtern, spricht vom Bewußtsein, Denk- oder Vorstellungsvermögen. Aber daß dies ein Ding von gemeiner und nicht übergeschnappter Natur ist, darf kein »Gebildeter« denken, das denken nur sozialistische Volksaufwiegler. Anderen ist die überschwengliche Natur des menschlichen Geistes ein ausgemachtes Dogma.

Wir fühlen in uns das leibhaftige Dasein der denkenden Vernunft, und ebenso und mit demselben Gefühl empfinden wir außer uns die Lehmklumpen, die Bäume und Sträucher. Und das, was wir in uns, und das, was wir außer uns fühlen, liegt nicht weit voneinander. Beides gehört zur sinnlichen Erscheinung, zum empirischen Material.

Die sozialdemokratische Gleichheit der Natur, des Leibes und der Seele ist es, welche den »Philosophen« nicht in den Kopf will. Das Erfahrungsmäßige nennen wir Wahrheit und machen es allein zum Objekt der Wissenschaft.

Seit Kant sich die Kritik der Vernunft zur Spezialität gemacht, ist konstatiert, daß unsere fünf Sinne allein nicht ausreichen, um Erfahrungen zu machen, daß der Intellekt dabei sein muß. Und ferner hat die Kritik der Vernunft dargetan, daß der alte Gotteshauch künftig nur im Gebiet der materiellen, das heißt erfahrungsmäßigen Welt funktionieren darf, daß die Vernunft ohne unsere fünf Sinne keinen Sinn und Verstand hat und also ein Ding ist von demselben gemeinen Zusammenhang wie andere Dinge.

Jedoch ist es dem großen Philosophen zu schwer geworden, die Geschichte vom Lehm ganz zu vergessen, den Geist aus der geistlichen Nebelkappe ganz zu erlösen, die Wissenschaft total von der Religion zu emanzipieren. Die »dreckige« Anschauung von der Materie, das »Ding an sich« hat alle Philosophen mehr oder minder gefangen gehalten im idealistischen Schwindel, der einzig und allein auf dem Glauben[66] an die metaphysische Natur des menschlichen Geistes beruht. Abgötterei, Religion und Philosophie sind drei wenig verschiedene Arten von einer Sache, welche sich Metaphysik nennt.

Der Schub, durch welchen Kant die Metaphysik zum Tempel hinausbrachte, und das Hintertürchen, das er ihr offen ließ, sind bündig in einen einzigen Satz gefaßt, er lautet: Unsere Erkenntnis beschränkt sich auf die Erscheinung der Dinge. Was sie an sich sind, können wir nicht wissen. Gleichwohl müssen auch die Dinge etwas »an sich« sein, denn sonst würde der ungereimte Widerspruch folgen, daß Erscheinung wäre, ohne etwas, was erscheint.

Nicht zu leugnen: wo Erscheinungen sind, da ist auch ein Etwas, was erscheint. Aber wie wäre es, wenn dies Etwas die Erscheinung selbst wäre, wenn einfach Erscheinungen erschienen? Es läge doch durchaus nichts Unlogisches oder Vernunftwidriges vor, wenn überall in der Natur die Subjekte wie die Prädikate von derselben Art wären. Warum soll denn das, was erscheint, von einer durchaus anderen Qualität sein wie die Erscheinung? Warum können die Dinge »für uns« und die Dinge »an sich«, oder Schein und Wahrheit, nicht von demselben empirischen Stoffe, von derselben Natur sein? Das Interesse der Sozialdemokratie fordert, daß sie mit der Weltweisheit dieselbe Prozedur vornimmt, daß sie die Gesamtgattung der Gedanken in zwei Arten teilt, in glaubensbedürftige, idealistische Faselei und nüchterne, materialistische Denkarbeit.

Wir können mit unserem Intellekt die materielle Welt nur formell beherrschen. Im Kleinen mögen wir ihre Veränderungen und Bewegungen nach dem Willen lenken, aber im Großen ist die Substanz der Sache, die Materie en général erhaben über alle Geister. Es gelingt der Wissenschaft, die mechanische Kraft in Wärme, Elektrizität, Licht, chemische Kraft usw. zu verwandeln, und es mag ihr gelingen, alles Stoffliche und alles Kräftige, eines in das andere überzuführen und als verschiedene Formen eines einzigen Wesens[67] darzustellen; aber doch vermag sie nur die Form zu verwandeln, das Wesen bleibt ewig, unvergänglich und unzerstörbar. Der Intellekt kann die Wege der physischen Veränderungen ablauschen, aber es sind materielle Wege; der stolze Geist kann ihnen nur nachschleichen, sie aber nicht vorschreiben. Das religiöse Gebot: Du sollst Gott über alles lieben, das heißt in sozialdemokratischem Deutsch: Du sollst die materielle Welt, die leibliche Natur oder das sinnliche Dasein lieben und verehren als den Urgrund der Dinge, als das Sein ohne Anfang und Ende, welches war, ist und sein wird von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Wie das Verständnis der Ökonomie, so ist auch unser Materialismus eine wissenschaftliche, eine historische Errungenschaft. Wie wir uns scharf unterscheiden von den Sozialisten der Vergangenheit, so auch von den ehemaligen Materialisten. Mit den letzteren haben wir nur gemein, die Materie als Voraussetzung oder Urgrund der Idee zu erkennen. Die Materie ist uns die Substanz und der Geist die Akzidenz, die empirische Erscheinung ist uns die Gattung und der Intellekt eine Art oder Form derselben, während alle religiösen und philosophischen Idealisten in der Idee die erste, die ursächliche oder substantielle Kraft erblicken.

Es ist nicht genug, wie die alten Materialisten tun, alles aus wägbaren Atomen abzuleiten. Die Materie ist nicht nur schwer, sondern auch duftig, hell und klingend, warum nicht intelligent? Wenn das Riech-, Sicht- und Hörbare spiritueller ist als das Tastbare, wenn also der Komparativ natürlich, warum nicht der Superlativ? Die Schwere läßt sich nicht sehen, Licht nicht riechen und der Intellekt nicht betasten, aber empfinden läßt sich alles, was da ist. Den Geist oder unsere Gedanken fühlen wir doch wohl ebenso physisch wie Schmerzen, Licht, Wärme oder Steine. Das Vorurteil, daß die Objekte des Tastgefühls begreiflicher seien als die Erscheinungen des Gehörs oder des Gefühls überhaupt, verleitete die alten Materialisten zu ihren atomistischen Spekulationen,[68] verleitete sie, das Tastbare zum Urgrund der Dinge zu machen. Der Begriff der Materie ist weiter zu fassen. Es gehören dazu alle Erscheinungen der Wirklichkeit, auch unser Begriffs- oder Erkenntnisvermögen.

Das Ganze regiert den Teil, die Materie den Geist, wenigstens in der Hauptsache, wenn auch nebensächlich wiederum die Welt vom Menschengeist regiert wird. In diesem Sinne also mögen wir die materielle Welt als höchstes Gut, als erste Ursache lieben und ehren.

Damit ist denn ganz und gar nicht bestritten, daß unter den Objekten der Welt wir unserem Intellekt den ersten Rang zuerkennen mögen.


[69]

VII.
Drei polemische Abhandlungen.

Die nun folgenden, einander ergänzenden drei Aufsätze: »Das Unbegreifliche« (Vorwärts 1877), »Die Grenzen der Erkenntnis« (Vorwärts 1877), »Unsere Professoren auf den Grenzen der Erkenntnis« (Vorwärts 1878) sind zwar in polemischer Form gehalten, lediglich aber Illustrationen der im vorhergehenden niedergelegten erkenntniskritischen Lehren, insbesondere Beispiele von Metaphysik und ihrer Abwehr.

Im ersten Artikel sagt Dietzgen:

Es ist viel Unbegriffenes vorhanden, wer will es bestreiten? Daß aber in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Gelehrten noch allen Ernstes von den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens sprechen und an das effektive Dasein von wunderbaren Dingen oder Wundern glauben, die nicht mir oder dir, sondern dem Menschengeschlecht über den Horizont gehen, das darf ein Ungläubiger wunderbar, unbegreiflich und unerklärlich finden.

Die Fähigkeit des menschlichen Intellektes ist so unbegrenzt, daß sie im Fortschritt der Zeit stets neue Ermittlungen macht, welche regelmäßig alle vergangene Gelehrsamkeit im Lichte der Stümperei erscheinen lassen.

Bekanntlich ist der Intellekt ein Organ, mit dem wir wahrnehmen. Von den anderen Wahrnehmungsorganen, von Augen, Ohren usw., unterscheidet er sich als der wesentlichste Faktor. Ohne Augen läßt sich noch hören, schmecken und riechen, aber ohne Bewußtsein, ohne Spiritus im Kopfe ist die Welt zu Ende. Ein Bewußtsein jedoch, das keine Sinne hätte, würde auch nichts wissen. Also gehört eins zum anderen. Der Intellekt mag Hauptmann sein, aber er ist das nur in Verbindung mit den Gemeinen, mit unseren fünf Sinnen und den Dingen der Welt.

[70]

Allerdings gibt es Unverständliches, Unbegreifliches, es gibt Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, aber nur in dem hausbackenen Sinne, wie es Unsichtbares und Unhörbares, wie es Grenzen für Auge und Ohr gibt. Jedes Ding hat seine natürliche Grenze, so auch der Intellekt. Wenn das Auge keine Musiktöne, keine Wohlgerüche oder die Schwere der Körper nicht zu sehen vermag, so ist das eine verständige Grenze des Auges, aber keine Grenze in dem unverständigen Sinne der Metaphysik, welche mit dem Namen Grenze oder Schranke einen Mangel ausdrückt. Mangelhaft ist das Exemplar einer Sache im Verhältnis zu anderen Exemplaren derselben Gattung; aber generaliter sind die Dinge vollkommen. Ein vollkommeneres Holz, wie das Holz im allgemeinen auf der Erde ist, kann auch in der Metaphysik nicht wachsen.

Um dem gruseligen Gerede vom Unbegreiflichen, von den »Grenzen unseres Naturerkennens« ein Ende zu machen, sollen wir uns klar werden über die Frage: Was heißt erkennen, erklären, begreifen? Ich wiederhole: eine überspannte Idee vom Intellekt, unverständige Anforderungen an unser Begriffsvermögen, also erkenntnistheoretische Unwissenheit ist der Grund alles Aberglaubens, aller religiösen und philosophischen Metaphysik.

Genau so wie der Bauer das Prinzip der Mechanik, genau so mißversteht unsere Professoralweisheit das Prinzip der Intelligenz. Alles Erkennen, Begreifen oder Erklären ist ein nur ganz formelles Tun. Die Erscheinungen der Welt und des Lebens sind erkannt oder erklärt, wenn wir sie einteilen in Klassen, Gattungen, Familien, Arten usw. und also das, was zueinander gehört und nacheinander folgt, in ein formelles wissenschaftliches Schema bringen.

All unsere Vernunft, unser ganzes Erkennen oder Erklären kann nicht mehr und darf nicht mehr wollen. Wer vom Intellekt mehr verlangt, gleicht dem unwissenden Mechanikus, der das Perpetuum mobile sucht.

[71]

Im zweiten Artikel entscheidet Dietzgen die noch heute sehr vielen hervorragenden Führern des Sozialismus unklare Sache, ob sich die Sozialdemokratie um den Streit »Metaphysik oder keine?« überhaupt zu kümmern brauche.[12]

Dietzgen sagt:

Allerdings gibt es viele wissenschaftliche Disziplinen, die das sozialistische Streben nach Befreiung der geknechteten Menschheit weniger tangieren. Aber die philosophische Frage, die Frage, ob etwas Metaphysisches, »etwas Höheres« hinter oder über der Welt haust, welches zu begreifen für unseren Intellekt zu monströs, das zu erklären den menschlichen Verstand übersteigt, also die Spezialfrage der Philosophie nach den »Grenzen der Erkenntnis«, berührt ganz fühlbar die Knechtschaft des Volkes.

Die Sozialdemokratie erstrebt keine ewigen Gesetze, keine bleibenden Einrichtungen oder festgeronnenen Formen, sondern im allgemeinen das Heil des Menschengeschlechts. Geistige Erleuchtung ist das unentbehrliche Mittel dazu. Ob das Erkenntnisinstrument ein begrenztes, das heißt[72] ein untergeordnetes, ob die wissenschaftlichen Erforschungen wahre Begriffe, Wahrheit in höchster Form und letzter Instanz liefern, oder ob nur armselige »Surrogate«, welche das Unbegreifliche über sich haben – die Erkenntnistheorie also ist eine eminent sozialistische Angelegenheit.

Alle Herrschaften, welche die Völker ausgebeutet haben, stützten sich bis heute auf eine höhere Mission, auf eine Abstammung von Gottes Gnade, auf heilige Salben und metaphysischen Weihrauch. Und wenn sie auch die Aufklärung, die religiöse Freiheit, den politischen Fortschritt und die kritische Philosophie im Munde führten, so wußten sie doch sehr wohl, daß ohne »etwas Höheres«, etwas Unbegreifliches, ohne etwas Metaphysisches, und wäre es auch nur eine »sittliche Weltordnung«, die Zügel nicht mehr haltbar sind, welche das Volk in Rand und Band und die Herrschaften in Besitz und Würde erhalten.

Nicht als wenn die Sozialdemokratie die Gegnerin der sittlichen Weltordnung wäre. Auch wir wollen die Welt sittlich ordnen; aber wir wollen die Ordnung nicht von oben, sondern von unten haben, das heißt, wir wollen sie selbst machen. Wer mit dem sozialdemokratischen Programm die Befreiung der arbeitenden Klasse durch die Arbeiter selbst erstrebt, der muß das närrische Harren und Hoffen, das philosophische Spintisieren und Forschen, insofern es auf eine andere Welt gerichtet ist, gründlich ablegen.

Und zum Thema des »Unbegreiflichen« oder der »Grenze der Erkenntnis« zurückkehrend, sagt Dietzgen:

Der Welt ist wohlbekannt, daß nicht nur der Geist, das Bewußtsein oder die Empfindung, sondern alle Dinge »im letzten Grunde« unbegreiflich sind. »Wir sind nicht imstande, die Atome zu begreifen, und wir vermögen nicht, aus den Atomen und ihrer Bewegung auch nur die geringste Erscheinung des Bewußtseins zu erklären,« sagt Lange in seiner »Geschichte des Materialismus«, oder ein anderer: »das Wesen der Materie ist schlechthin unbegreiflich«. Dies Kausalitätsbedürfnis[73] nennt sich mit anderem Namen auch »Trieb des Forschens«, der, unbändig, es nicht unterlassen kann, auch dem »Unbegreiflichen« an den Federn zu rupfen.

Dagegen behaupten wir, was sich möglicherweise begreifen läßt, ist nicht unbegreiflich. Wer das Unbegreifliche begreifen will, treibt Eulenspiegelei. Wie mit dem Auge nur das Sichtbare, mit dem Ohr nur das Hörbare, so kann ich mit dem Begriffsvermögen nur das Begreifliche greifen. Und wenn auch die sozialdemokratische Philosophie lehrt, daß alles, was da ist, vollkommen zu begreifen ist, so soll doch auch das Unbegreifliche nicht geleugnet sein. Das sei anerkannt.

Die sozialdemokratische Philosophie ist mit der »zünftigen« einverstanden: »das Sein läßt sich auf keine Weise im Denken auflösen«, auch kein Teil des Seins. Aber wir erkennen es auch nicht als Aufgabe des Denkens, das Sein aufzulösen, sondern nur formell zu ordnen, die Klassen, Regeln und Gesetze zu ermitteln, kurz das zu tun, was man »Naturerkennen« nennt. Alles ist begreiflich, insofern es zu klassifizieren ist, alles ist unbegreiflich, insofern es sich nicht in Gedanken auflösen läßt. Dies können, sollen und wollen wir nicht, und bleiben ihm darum fern. Wohl aber können wir das Umgekehrte: das Denken in Sein auflösen, das heißt, das Denkvermögen als eine von den vielen Arten des Daseins klassifizieren.

Der rationelle Forschungstrieb will das Dasein regeln, die Gesetze des Daseins ermitteln. Wo er über das Dasein hinaus soll, soll er über seine und über alle Natur hinaus. In dieser Zumutung besteht Überschwenglichkeit, die sie von der Religion geerbt hat. Philosophie und Religion verkennen die »letzten Gründe« aller Begreiflichkeit: nämlich die Empirie oder Tatsache. Auf sinnliche Tatsachen und Erfahrungen sollen sich wesentlich die Gedanken gründen. Wer umgekehrt auf den Geist oder die Logik Tatsachen gründen will, darf das nur formell verstehen. Der letzte Grund, warum der Stein fällt oder die Wärme sich ausdehnt,[74] ist die Tatsache, und das Gesetz der Schwere und das Gesetz der Wärme sind Abstraktionen, sind formelle Gründe. Nicht nur läßt sich das Sein nicht im Denken auflösen, sondern es versteht sich klar, daß das philosophische Begehren nach solcher Auflösung eine idealistische Überspannnug ist.

Das nämliche Thema wird im dritten Aufsatz, in einer Polemik gegen die Professoren v. Nägeli und Du Bois-Reymond, behandelt. Letzterer hatte einen anregenden Vortrag über das Naturerkennen und »die letzten Gründe« mit den Worten geschlossen: »ignoramus et ignorabimus« (wir wissen nicht und werden nicht wissen), während ersterer das Nichtwissen oder Nichterkennen für ganze Gebiete des Naturlebens voraussetzt: »Über die Beschaffenheit, die Zusammensetzung, die Geschichte eines Fixsterns letzter Größe, über das organische Leben auf seinen dunklen Trabanten, über die stofflichen und geistigen Bewegungen in diesen Organismen werden wir nie etwas wissen.«

Dietzgen erwidert hierauf:

Jawohl, die Natur ist dem menschlichen Geiste überlegen, sie ist sein unerschöpfliches Objekt. Aber unser Forschungsvermögen ist nur insoweit beschränkt, als sein Objekt, die Natur, unbeschränkt ist. Wir können an kein Ende kommen, weil kein Ende vorhanden. Wo aber ein Ende ist, da kommen wir möglicherweise hin. Kein Professor kann wissen, wie vieles von den Fixsternen und ihren Trabanten wir und unsere Nachkommen noch ausforschen, wie unendlich tief wir in die Vergangenheit, in die Zukunft und in die kleinsten Teilchen hineindringen.

Das Forschen kommt an kein Ende, weder objektiv noch subjektiv, das heißt, die Unendlichkeit der Welt läßt es nicht zu und die Unendlichkeit des Intellekts auch nicht. Daß aber doch wieder der Intellekt nur ein beschränkter Teil der Welt ist, wird der sozialdemokratische Materialist nie leugnen. Nur wollen wir aus dem Dualismus heraus. Nur eine, nur eine[75] einzige Welt erkennen wir an, »wovon uns die sinnlichen Wahrnehmungen Kunde geben«. Wir halten dafür, daß wo wir nichts sehen und hören, nichts fühlen, schmecken und riechen, da auch nichts wissen können.

Ich will hier nochmals positiv auf die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis zurückkommen. Wir können mit diesem Vermögen nur erkennen; singen und springen und hundert andere Dinge können wir damit nicht; insofern ist die Vernunft beschränkt. In ihrem Element aber, im Erkennen ist sie unbeschränkt, und so unbeschränkt, daß sie mit ihrer Arbeit nie ans Ende kommt. Alles Erkennbare steht ihr offen. Das Unerkennbare, das den Sinnen absolut Unerreichbare ist für uns nicht vorhanden, und ist auch insofern »an sich« nicht vorhanden, als wir ohne Phantasterei nicht einmal davon reden können.

Wer das »geistige Bedürfnis« hat, etwas von Erscheinungen zu erfahren, »die uns verborgen bleiben«, uns unserer Natur nach verborgen bleiben müssen, der hat kein geistiges, sondern ein mystisches Bedürfnis. Die elektrischen Erscheinungen sind nicht zufälliger gefunden worden wie der Tabak. Und es ist ein starker Tabak für einen Naturforscher, von Erscheinungen zu sprechen, die niemand wahrgenommen hat und niemand wahrnehmen wird. Es ist möglich, daß Mephisto in Gestalt einer unsichtbaren Fledermaus mich umschwirrt; was ich aber nicht weiß, macht mich nicht heiß, und sollte auch die Naturforscher nicht heiß machen.


[76]

VIII.
Briefe über Logik.

Die »Briefe über Logik« – »Speziell demokratisch-proletarische Logik«, Teil I 1883 bis 1884, Teil II 1884 – sind ein ganz besonders eigenartiges Erzeugnis, kein Lehrgebäude der Logik im Routinestil, sondern eine, zum Teil (namentlich in den ersten Briefen) mit etwas persönlichem Einschlag versehene, Denklehre, die sich an des Autors im »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« niedergelegte Erkenntnistheorie anschließt und sie ergänzt, wie bei Dietzgen jede spätere Schrift die früheren in etwas erweitert.

Dietzgens Logik hat demnach ganz und gar einen erkenntnistheoretischen Charakter. Und, richtig eingeschätzt, ist der erste, aus 24 Stücken bestehende Teil, der in diesem achten Abschnitt behandelt wird, eine philosophische Epopöe des Universalzusammenhangs, ein Heldenplädoyer des wahren Monismus, das der modernen Weltanschauung eine festere Grundlage schafft als irgendein anderes der zahlreichen, sonst trefflichen Bücher aus diesem Gebiete, obwohl Dietzgens Briefe nicht eigentlich nach einem systematischen Plan angelegt sind.

Dietzgens Vorzug vor allen anderen philosophischen und vor den naturwissenschaftlichen Lehrern des Monismus besteht in seiner eindringlichen Darlegung des organischen Zusammenhangs des Geistes, des Intellekts, mit dem All, dem Gesamtdasein.

Aus diesem Grunde betrachte ich den ersten Teil seiner »Logischen Briefe« als die nächst dem »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« wichtigste seiner Schriften.

Diese Serie von 24 und 18 Artikeln sollte zwar in erster Linie der Unterweisung des »auf die Hochschule des Lebens«[77] nach Amerika gesandten Sohnes dienen, war aber gleichwohl auch für gelegentlichen Druck verfaßt.

Die Definition, Zweck- und Grenzbestimmung der Logik sind bei den Philosophen verschieden; Dietzgens Logik hat, hiervon abgesehen, einen sehr bestimmt ausgeprägten Sondercharakter als »speziell demokratisch-proletarische Logik«.

Was mit dieser Bezeichnung gesagt sein soll, erläutert Dietzgen im ersten Brief:

Der Gedanke, auf den sich die proletarischen Forderungen stützen, der Gedanke von der Gleichheit alles dessen, was ein Menschenantlitz trägt, dieser, wenn ich so sagen darf, letzte proletarische Gedanke findet seine volle Begründung durch eine letzte Einsicht in die bis dato sehr verworrenen Probleme der Logik. Schließlich verdient die Logik auch schon deshalb den proletarischen Beinamen, weil ihr Verständnis die Überwindung aller Vorurteile fordert, welche die Bourgeoiswelt im Leime halten.

Im zweiten Briefe wird gesagt, was die Logik ist und was sie will:

Die Logik will den Menschengeist über dessen eigenes Tun und Treiben unterrichten, sie will unseren inneren Kopf zurechtsetzen. Forschungsobjekt der Logik ist der Gedanke, die Natur des Gedankens und die rechte Ordnung desselben.

Der Menschenschädel besorgt das Denken so unwillkürlich wie die Brust das Atmen. Mit dem Willen jedoch können wir das Atmen eine Zeitlang anhalten, können nach Belieben es schneller und langsamer gehen machen. So kann auch der Wille die Gedanken regieren; wir können irgendein beliebiges Objekt zum Gegenstand unseres Denkens nehmen und sind dennoch bald zu überzeugen, daß die Macht des Willens und die Freiheit des Geistes nicht weit her sind, nicht weiter reichen wie die Freiheit der Brust.

Wenn also die Logik uns den Kopf zurechtsetzen will, so muß sie sich doch sagen lassen, daß er von Natur schon zurechtsitzt.

[78]

Es ist mit ihr wie mit anderen Wissenschaften: sie schöpfen die Weisheit aus der geheimnisvollen Quelle platter Erfahrung. Die Agrikultur zum Beispiel will den Landmann lehren, wie er den Acker bauen soll; aber die Äcker wurden doch schon bebaut, ehe noch irgendeine landwirtschaftliche Akademie ihre Vorlesungen eröffnet hatte. So verstehen auch die Menschen das Denken, ohne je etwas von der Logik gehört zu haben. Durch den Gebrauch jedoch vergrößern sie das angeborene Denktalent, sie machen Fortschritte, lernen es mit der Zeit immer mehr benutzen, und wie nun der Landmann zu einer Wissenschaft der Agrikultur, so kommt der Denker zur Logik, zum klaren Bewußtsein über sein Denktalent und zur kunstmäßigen Verwendung desselben.

Erstaunlich ist es, daß ein so naheliegendes Objekt nicht längst allgemein erkannt wurde, und daß darüber nach Studien, die Jahrtausende andauerten, noch viel zu lehren und zu erklären blieb. Aber Du weißt auch, daß, wie oft das Kleine groß und das Große klein, so oft das Nächste verborgen und das Verborgene zunächst ist.

Im letzten Dietzgenschen Satz werden wir an eine der Hauptlehren unseres Autors erinnert, uns vor allem Überschwang zu hüten, da im Weltprozeß, im Universalzusammenhang das Höchste und Erhabenste ein Element des Allgemeinen und aus dessen Bestandteilen sich zusammensetzt.

Dies wird im dritten Brief wie folgt erörtert:

Eine hohe Macht über das Gemüt hat nicht nur die Harmonie der Töne, auch die Harmonie der Farben, jede Kunst und jede Wissenschaft hat dieselbe Gewalt. Ja, das schlichteste Handwerk und das Prosaischste aller Prosa, die Jagd nach Gut und Geld, kann den Menschen hinreißen, seine ganze Seele in den einen Abgott aufgehen zu lassen. Allerdings ist nicht zu bestreiten, daß Künstler, Erfinder und Forscher den würdigsten und hinreißendsten Gegenstand anbeten. Auch sei anerkannt, daß ohne den Einsatz unserer ganzen Seele für ein einzelnes keine großen Erfolge zu erreichen sind.

[79]

Dennoch sollst Du wissen, daß der Gegenstand, der eine Menschenseele so beherrscht, seine Hoheit und Erhabenheit mit allen Gegenständen teilt, und also zugleich immer auch ein gemeiner Gegenstand ist. Ohne solche dialektische Läuterung des Bewußtseins ist alle Anbetung Fetischdienst.

Die tatsächliche Erfahrung also, daß man alles und jedes zu einem Fetisch machen kann, muß Dich klärlichst überzeugen, daß kein einzelnes, sondern nur das All wahrer Gott oder die Wahrheit und das Leben ist.

Ist das nun Logik oder Theologie?

Beides zugleich. Wenn Du näher zusiehst, wirst Du erkennen, daß alle großen Logiker sich vielfach mit Göttern und Gottheit befassen, und umgekehrt alle ehrbaren Theologen ihre Sache auf logische Ordnung gründen wollen. Die Logik ist ihrer ganzen Natur nach metaphysisch.

(Unter »metaphysisch« versteht Dietzgen hier: ausdehnbar ins Unendliche, wie aus dem Schluß dieses Briefes hervorgeht:)

Den Unterschied zwischen der metaphysischen Logik einerseits, welche ihre Sache bis auf die Unendlichkeit ausdehnt, welche die logische Ordnung bis in den Himmel hinein, bis auf »die letzten Fragen alles Wissens« zu ermitteln sucht, und zwischen der formalen Logik andererseits, welche sich ein begrenztes Gebiet setzt und sich mit der Forschung nach der logischen Ordnung in der physischen Welt begnügt – diesen Unterschied möchte ich Deiner besonderen Aufmerksamkeit empfehlen.

Nach dieser Grenzbestimmung der formalen Logik erörtert Dietzgen im vierten Brief ihren Hauptzweck:

Die große Volkssache war bisher überall das Lasttier einer kleinen vornehmeren Minorität … Du erkennst doch an, wie die Entlastung, die Freiheit der Völker von tierischer Arbeit, von Elend und Not das Höchste ist, was der Menschengeist erstrebt. Du wirst auch nicht verkennen, daß der Gedanke das wichtigste Instrument zur Erreichung dieses hohen Zieles ist. Die Denkleistungen treten in den Kulturergebnissen klar zutage.[80] Das intellektuelle Getriebe stellt sich mächtiger und prächtiger durch das Räderwerk der Kulturgeschichte als durch irgendein Gedankenwerk en miniature dar.

Wir wollen hier einfach die Tatsache des organischen Zusammenhanges von Denken und Sein, von Natur und Geist konstatieren. Die Tatsache des Weltzusammenhanges widerspricht dem ungeschulten Vorurteil. Letzteres trägt sich mit der Vorstellung, daß die Erde, der Baum darauf und über ihnen die Wolke und Sonne, daß alles separate Gegenstände seien. Daß aber eines am anderen hängt, Erde, Baum, Wolken und Sonne nur im Zusammenhang, nur im Gesamtweltzusammenhang sein können, was sie sind, bedarf schon einer geschulten Denkweise.

Da ist ein Wassertröpfchen. Sieh, wie verschieden es ist, je nachdem es mit Verschiedenem zusammenhängt. Was es ist, kann es nicht sein ohne eine gewisse Temperatur. Je nach Veränderung derselben würde es Eis- oder Dampfform annehmen; im Fett verbleibt das Tröpfchen kompakt, es verteilt sich im Salz unendlich, läuft gewöhnlich bergab und am Zuckerhut bergan. Je nach der spezifischen Schwere einer Flüssigkeit, mit der es in Kontakt kommt, schwimmt es oben oder sinkt unter. Ohne Zusammenhang mit der Erde, ihrer Temperatur und Schwerkraft, würden der und die Tropfen im Bodenlosen verschwinden und kein Dasein haben. Also ändern sich die Formen der Dinge, je nach ihrem Zusammenhang, und sie sind, was sie sind, nur als Teile des Gesamtdaseins.

Was vom Wassertröpfchen, gilt von allen Dingen, allen Kräften und Materien und auch von unserem Gedanken. Der Menschengeist lebt und webt nur im Zusammenhang mit der anderweitigen materiellen Welt – und es bildet die Anerkennung der organischen Einheit alles Daseins den Angelpunkt meiner Logik.

Der Gedanke, der Intellekt, ist leibhaftig vorhanden, er existiert, und sein Dasein hängt als ein Teil des Gesamtdaseins[81] mit der ganzen Welt einheitlich zusammen. – Das ist der Kardinalpunkt der nüchternen Logik.

Die Tatsache, daß die Gedanken mit den anderen Teilen der Welt von demselben weltlichen Stoff, daß sie Stücke der gemeinen Natur und keine überschwengliche Essenz sind, hat schon Cartesius mit den berühmten Worten ausgesprochen: »Cogito, ergo sum.«

Wohl verlegt die formale Logik den Geist in viele Teile – da gibt es Vorstellungen, Begriffe, Urteile, Schlüsse; und teilt die Abteilungen wieder in Unterabteilungen, die Vorstellungen in verschiedene Arten, die Begriffe in konkrete und abstrakte, benennt die Urteile sehr mannigfaltig und verzeichnet drei, vier oder mehr Schlußfiguren – aber wie sich der gesamte Geist zur Welt verhält, wie er mit dem Gesamtdasein zusammenhängt, ob er ein Teil davon oder ob er von überschwenglicher Herkunft – das will sie unerörtert lassen, und das gerade ist der interessanteste Teil, der Teil, welcher den Intellekt und die Lehre vom Intellekt mit allen anderen Lehren und Dingen in logischen Zusammenhang bringt.

Bis hierher hat unser Autor, der dartun wollte, daß der Intellekt mit der Volksentwicklung zusammenhängt, nur den organischen Zusammenhang des Geistes mit dem Gesamtdasein konstatiert.

Er setzt daher letzteres Thema auch im fünften Briefe fort:

Die Zusammenfassung der Tiere vom kleinsten bis größten in ein Reich erschien vor Darwin als eine Ordnung, welche der Gedanke allein vollzogen, als Gedankenordnung, während sie nunmehr als Naturordnung dargelegt ist.

Was der Zoologe dem Tierreich angetan, muß der Logiker dem Dasein überhaupt, dem unendlichen Kosmos antun; er muß nachweisen, daß die ganze Welt, daß alle Formen des Daseins, den Geist eingerechnet, logisch oder einartig verbunden, verwandt, verschweißt sind.

Ein gewisser bornierter Materialismus glaubt, alles sei getan, wenn er den Zusammenhang zwischen Denken und[82] Hirn konstatierte. Gewiß hängt der Gedanke mit dem Hirn zusammen, so innig wie das Hirn mit dem Blute, wie das Blut mit dem Sauerstoff usw.; aber der Gedanke hängt auch überhaupt mit allem Dasein so innig zusammen, wie die ganze Physik zusammenhängt.

Daß der Apfel nicht nur mit dem Stiel am Baume hängt, sondern auch an Sonnenschein und Regen, daß die Dinge nicht einseitig, sondern allseitig verbunden sind, das soll die Logik Dich speziell vom Geiste, vom Gedanken lehren.

Im Anschluß an diese seine Lehre von der Weltnatur des Gedankens erörtert Dietzgen nun die Frage vom Verhältnis des Gedankens zur Wirklichkeit:

Die alte Logik hat eine Medaille prägen lassen mit der Vorschrift: Der Gedanke soll mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

Wir schreiben jetzt auf die Rückseite: 1. der Gedanke ist selbst ein Stück der Wirklichkeit und 2. die Wirklichkeit ist außerhalb des Gedankens zu voluminös und kann auch mit dem kleinsten Stückchen nicht hinein.

Gewiß, wie ein Konterfei, so soll auch der Gedanke mit seinem Objekt übereinstimmen. Aber was soll einem Maler diese besondere Einschärfung seiner Aufgabe nutzen?

Hast Du je ein Porträt oder eine Kopie gesehen, die nicht in etwas mit dem Original übereinstimmte? Ich bin überzeugt, das ist Dir ebensowenig vorgekommen wie ein Bild, das seinem Gegenstand vollkommen ähnlich war. Über das relative Wesen aller Gleichheit, Ähnlichkeit und Übereinstimmung ernstlich nachzudenken, möchte ich Dir besonders empfehlen. Der weitaus größte Teil der Menschenwelt ist in diesem Punkte barbarisch gedankenlos. Daß zwei Tröpfchen Wasser nur mehr oder weniger ähnlich und unähnlich sind, daß das ganze Dasein ebenso übereinstimmend wie different ist, will schwer in den logisch ungeschulten Kopf hinein.

Dem Denker ergeht es wie dem Maler: sie suchen beide ein Konterfei der Wirklichkeit und Wahrheit.

[83]

Die Wirklichkeit, die Wahrheit, die Gesamtnatur steht auf der Kanzel und predigt: »Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst dir kein geschnitztes Bild machen, dasselbe anzubeten.« Du sollst also von der Wahrheit viel zu erhaben denken, als daß Du glauben dürftest, sie könne vom Maler oder Denker in ein, wenn auch noch so gut getroffenes Konterfei gesteckt werden.

Der Geist, das Denkvermögen hängt also – fährt Dietzgen im sechsten Briefe fort – mit dem Gesamtdasein der Welt zusammen, ist ein unabtrennbarer Teil des Universums, der wirklichen Wahrheit.

Das Christentum lehrt: Gott ist ein Geist, und wer ihn anbeten will, muß ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten.

Und unsere Logik lehrt: der Geist ist ein Stück des Gesamtdaseins; wer den Geist vergöttert, ist ein Götzendiener, denn er betet ein Stück an und verkennt die ganze Wahrheit. Die Wahrheit selbst ist identisch mit dem Gesamtdasein, mit der Welt, wovon alle Dinge nur Formen, Erscheinungen, Prädikate, Attribute oder Vergänglichkeiten sind. – Und ob Du auch an Weisheit zunähmst bis an das Ende Deiner Tage, so ist doch der Born der Weisheit, der Kosmos, unerschöpflich. Ja, so unerschöpflich ist auch das kleinste Weltteilchen, daß der Genialste nicht imstande ist, die Kenntnisse zu fassen, welche im winzigsten Objekt stecken. Mit dem größten Mikroskop kann man keinem Wassertröpfchen ans Ende sehen, und der weiseste der Menschen ist nicht einmal fähig, die Schusterei auszulernen.

Daraus ersiehst Du, wie durch vermehrte Spezialkenntnisse der kunstgerechte Gebrauch unseres Intellektes nur in den betreffenden Details gefördert wird. Deshalb kann es auch nicht befriedigen, wenn gewisse Logiker uns lehren, wie viele Arten von Begriffen, Urteilen und Schlüssen im Intellekt stecken. Es sind das logische Spezialkenntnisse. Zunächst aber handelt es sich für den Studiosus der Logik nicht sowohl[84] um Ansammlung wahrer Begriffe, als vielmehr darum, den Generalbegriff der Wahrheit erhellt zu sehen.

Vielleicht findest Du Anstoß daran, daß eine Wissenschaft, welche das Begriffsvermögen zum Gegenstand hat, von dieser Sache abweicht und andere Dinge, wie das Dasein oder die Wahrheit, heranzieht. Doch würde eine Logik, die sich auf die Analyse des Denkvermögens beschränkt, gegenüber derjenigen, die das Denkvermögen in seiner lebendigen Arbeit darstellt, eine beschränkte Logik sein. Wenn die Augenkunde nur die verschiedenen Teile des Auges behandelte, dagegen von der Funktion und den äußeren Dingen, die damit zusammenhängen, von dem Lichte und den Gegenständen, kurzum, vom Gesicht des Auges absehen wollte, wäre sie wohl mehr Augenanatomie als Augenkunde. Jedenfalls bietet eine Lehre, welche das Auge in seiner lebendigen Tätigkeit, nicht nur das subjektive Gesichtsvermögen, sondern auch das davon untrennbare objektive Gesichtsvermögen darstellt, eine umfassendere Belehrung, eine höhere Erhellung des Menschenkopfes.

Was kann eine Logik viel helfen, welche die Gedanken einteilt in analytische und synthetische, von induktiven und deduktiven Erkenntnissen und noch zehn anderen Arten spricht und dann die Frage ablehnt, wie sich der Gedanke und die Erkenntnis zur Wahrheit verhält, und wie wir dazu gelangen.

Hat sich doch bis heute die gesamte Weltweisheit um die Frage gedreht, wie unser Kopf zu erhellen ist, wie er der Wahrheit beikommen kann.

Diese Welt, die wir hören, sehen und riechen, in der wir leben und atmen, ist die Welt der Wahrheit oder die wahre Welt.

Aber auch mitten in dieser wahren Welt steckt eine ganz vertrackte Geschichte, eine Menschenrasse mit verdrehter Logik. Die hat sich von einzelnen mißmutigen, hypochondrischen Momenten verleiten lassen, die köstliche Wahrheit dieser Welt anzuschwärzen und überschwenglicherweise die Wahrheit[85] »transzendent« zu suchen, in der philosophischen Metaphysik oder religiösen Phantastik, was beides in einen Topf gehört. Aller Streit dreht sich um Seinsformen. Das Dasein selbst aber bleibt unbestreitbare Wahrheit.

Sofern ich Dich bisher überzeugte, daß das Weltall die Wahrheit ist, bleibt jetzt besonders noch die Frage: wo denn Phantasmen, Irrtum und Unwahrheit Platz finden. Wenn das All die Wahrheit, dann wäre ja alles wahr, und scheint es durchaus widerspruchvoll, daß Irrtum und Unwahrheit in der Wahrheit oder Welt Raum finden könnten. Ich will nur flüchtig andeuten, wie ohne allen Widerspruch das Unkraut zum Kraute gehört.

Das Thema, mit dem der sechste Brief eröffnet wird – der Zusammenhang des Geistes mit dem Gesamtdasein der Welt – wird von einem anderen Gesichtspunkt aus auch im siebten Briefe behandelt, dem des »Ursprungs der Sprache«.

Die Sprache ist kein fertig fixes Ding, sondern ein flüssiges, welches aus rohen Anfängen sich zu einer erhabenen Höhe emporgeschwungen. So wenig wir vorwärts an ihr vollendetes Ende sehen können, läßt sich rückwärts der Punkt finden, wo sie ihren Anfang genommen. Darum sucht man nicht mehr den zeitlichen Ursprung, sondern den begrifflichen. Man möchte eine feste Marke haben, wo man sagen könnte, so weit heißt das Sprachähnliche nur Gegröle, Geschrei, Getöne, und hier beginnt der wohlartikulierte Laut, der den Namen »gesprochenes Wort« verdient.

Nun besteht ein anderes Moment, welches die Sache noch mehr verwirrt; da heißt es: die Sprache setzt Verstand voraus.

Und dann wieder ist auch der Intellekt kein fixes Ding, sondern ein flüssiges Werden, das sich erst an, aus und mittels der Sprache entwickelt. So will es einerseits scheinen, als ob der Geist die Sprache erzeuge, und andererseits, als ob umgekehrt die Sprache den Geist, den Verstand erzeuge. Wo ist da nun Anfang und Ende, und wie Ordnung im Zusammenhang zu finden?

[86]

Für uns hier geht aus der Sache hervor, daß nicht nur das Wort, daß auch die Laute, Töne und Gesten, ja alle Dinge einen Sinn haben und eine Sprache sprechen. Nicht nur die Sprache, sondern die Welt hängt mit dem Geiste, mit dem Gedanken zusammen. Wohl aber ist der Sprachzusammenhang ganz geeignet, uns an einem Beispiel den Gedankenzusammenhang der Welt zu zeigen.

Die Einheit alles Seins ist unzweifelhaft klar durch die Tatsache erwiesen, daß ein Name ausreicht, um das All zu benennen. Die Sprache bedarf wohl eines Namens für das All; bedarf aber auch unendlich vieler Namen, um das All zu spezifizieren. Die Sprache oder vielmehr der mit der Sprache zusammenhängende Geist will mittels der Sprache das Unbegrenzte begrenzen. Der instinktive Sprachgebrauch tut es mehr oder minder; die bewußte Wissenschaft verfährt in exakter Weise. Und so erklärt denn die Moral der Geschichte, daß die Dinge der Welt, auch Geist und Sprache, zusammenhängende und ineinander verfließende Wellen eines Stromes sind, der weder Anfang noch Ende hat.

Die Logik, die ich lehre, und der Gedanke, der ihr Objekt ist, sind Teile der Welt, der unendlichen, und ist jeder Teil als ein Stück des Unendlichen auch ein unendliches Stück. Jedes Stück hat teil an der unendlichen Natur des Ganzen.

Ich möchte nur verständlich machen, wie ohne Widerspruch die ganze Mannigfaltigkeit des Daseins von einer Natur ist, und wie diese Ein-Natur sich in mannigfaltige Formen zerteilt. Die Welt hängt zusammen, und der Zusammenhang ist in Abteilungen getrennt.

Befassen wir uns zunächst mit dem Zusammenhang unseres Intellekts. Denn die abstraktesten Unterschiede, wie Anfang und Ende, Wort und Sinn, Leib und Seele, Mensch und Tier, Kraft und Stoff, Wahrheit und Irrtum usw., setzen zu ihrer Aufklärung logische Aufklärung über den Zusammenhang unseres Intellekts voraus.

[87]

Diese erfolgt im achten Brief:

Die formalen Logiker sind ebenso einfältig wie schelmisch, wenn sie nur noch in hergebrachter Weise den Intellekt oder den Gedanken als isoliertes Ding abhandeln und den notwendigen Zusammenhang ihres Objekts mit der wahren, das heißt empirischen Welt von der logischen Disziplin ausschließen. Die Formalen behandeln den Intellekt als eine Sache »für sich«, während ich mich in den mannigfachsten Wendungen ergehe, um darzutun, daß er nicht für sich ist, sondern mit allem und dem All zusammenhängt.

Die formale Logik lehrt, daß unser Intellekt alle Dinge nur auseinanderhalten und nicht konfundieren darf. Sie hat darin recht und verfehlt doch das Ziel einer klaren Weltanschauung, weil sie der überschwenglichen Ader gestattet, die Bedeutung der Unterschiede und Unterscheidungen zu übertreiben. Sie verkennt die paradoxe beziehungsweise dialektische Natur der Dinge, die nicht nur auseinanderliegen, sondern auch zusammenhängen. Es gilt zu begreifen, daß – ganz allgemein – die Einteilung der Welt nur eine Formalität ist. Wir sind wohl berechtigt, Oben und Unten, Links und Rechts, Anfang und Ende, Gold und Blech, Gutes und Böses auseinanderzuhalten, aber müssen uns auch darüber instruieren, wie die Mannigfaltigkeit eine Einheit, das Veränderliche beständig und das Beständige veränderlich ist. Die formale Logik hat einen ungerechten Namen; sie ist nicht formal, sondern überschwenglich; sie trägt sich mit dem gemeinen Vorurteil, daß es kontradiktorische Dinge oder Widersprüche gebe, das heißt essentielle Unterschiede, die keine Verbindung, keine Brücke, keine Gemeinschaft miteinander haben. Sie lehrt: Widersprüche können nicht sein, und widerspricht sich selbst, indem sie an dem Glauben festhält, daß unvereinbare Widersprüche existieren. Sie lehrt: was sich widerspricht, ist nicht denkbar, ist nicht wahr, und bezeugt damit, daß sie über die Formalität der Widersprüche, über die wahre Widerspruchlosigkeit und über die universale Wahrheit schlecht[88] orientiert ist. Gold ist kein Blech – das ist wahr genug. Wer Gold Blech oder Blech Gold nennt, widerspricht sich. In der Welt der Wahrheit ist beides getrennt; aber nicht so getrennt, daß nicht auch Gold und Blech eine gemeinschaftliche, nämlich metallene Natur hätten. Gold und Blech sind ungleiche Metalle und besitzen doch metallische Gleichheit. Daß das Gleiche different und das Differente gleich ist, daß es sich überall nur um ein Mehr oder Minder handelt, nur um formelle Differenzen, das wird von der »formalen« Logik verkannt, verkannt von allen, welche die Wahrheit in irgendeiner logischen Schablone oder einem Fetisch und nicht im ewigen, allgegenwärtigen Dasein der einen untrennbaren Welt suchen.

Das krasseste und auch wohl das lehrreichste Beispiel von der rechten Bedeutung der Widersprüche ist in dem Gegensatz von Wahrheit und Unwahrheit gegeben. Diese beiden Pole liegen wohl noch weiter auseinander wie Süd- und Nordpol, und doch hängen jene wie diese innig zusammen. Der landläufigen Logik darf man es kaum zumuten, ihr eine scheinbar so widersinnige Einheit vordemonstrieren zu wollen, wie die ist, welche in der Wahrheit und Unwahrheit enthalten.

Die Welt ist die Wahrheit, und Irrtum, Schein und Lüge stecken in ihr, sind Teile der wahren Welt, wie die Nacht ein Teil des Tages ist, ohne die Logik zu konfundieren. Wir dürfen in ehrbarer Weise von echtem Scheine und wahrer Lüge sprechen, ohne Widersinn. Wie auch der Unverstand noch Verstand hat, so lebt auch die Unwahrheit immer noch und unvermeidlich in der Wahrheit, weil letztere das Allumfassende, das Universum ist.

Die Wahrheit, welche das Universum ist, die kosmische Welt- oder Universalwahrheit wird Dich die Widersinnigkeit der abnormen Demut erkennen lassen, die in der zwieschlächtigen Lehre von den zwei Geistern enthalten ist. Gewiß hat der Philosoph Kant einen höheren Intellekt wie[89] Peter Simpel; aber dennoch besitzen auch alle Geister eine Generalgeisternatur, unter welche keine Intelligenz hinabsteigen, welche keine übersteigen darf, ohne den Namen, ohne Sinn und Verstand zu verlieren. Es ist nicht möglich, von einem anderen, höheren Denkvermögen, als dem durch Erfahrung bekannten menschlichen auch nur zu sprechen, ohne aus der Logik heraus in die Widersinnigkeit zu fallen. Unzweifelhaft besitzt die tierische Brut etwas dem Intellekt ähnliches; unzweifelhaft darf der Tiergeist vom Menschengeist mittels eines besonderen Namens, etwa durch den »Instinkt«, getrennt werden; unzweifelhaft wird unsere Vernunft durch Kultur von Generation zu Generation erhöht; aber daß irgendwo und jemals ein Begriffsvermögen existieren sollte, welches außer dem Weltzusammenhang steht – das ist ein durchaus sinnloser Begriff und eine verstandlose Sache. So notwendig wie alles Wasser eine Natur, eine nasse Natur, so notwendig hat jede Intelligenz und jeder Gedanke die generale Gedankennatur und muß verstandesgemäß ein Teil, ein bestimmter Teil der einen, gemeinen, empirischen Welt sein.

Diese Lehre von der Relativität der Gegensätze und von der Auflösung des Widerspruchs wird im neunten Brief durch Beispiele illustriert:

Man macht dem Sozialisten den Vorwurf, er hetze das Volk auf; er verspreche mehr, wie er leisten könne, und bringe dadurch den Unfrieden in die Menschenbrust. Tatsächlich wohnt und muß beim Frieden auch immer der Unfriede wohnen. Ein Volk, dessen Friede nicht mit dem entgegengesetzten Unfrieden verquickt oder durchtränkt ist, wäre ein Schlaraffenvolk. Dank dem Unfrieden in der Brust sind die Völker strebsam und bewegt: Bewegung ist die Essenz der Welt, und die bewegte Volkswelt ist nicht denkbar, ohne daß die Menschen begehrlich sind. Der Entwicklung oder Kultur wegen müssen die Völker immer mehr begehren, wie sie zunächst erlangen. Andererseits ist es mit der Begehrlichkeit[90] nicht genug. Man darf nicht mehr begehren, als man zu erreichen vermag, nicht mehr versprechen, als man geben kann. Darum soll der logische Sozialist gleichzeitig wissen, daß auch im Zukunftsstaat die Bäume nicht in den Himmel wachsen, daß der Friede, den wir erstreben und erhoffen, immer ein mit Unfrieden verquickter Friede sein wird. Die Zukunftsmusik, wenn auch harmonischer wie die Musik der Gegenwart, wird doch ewig mit der Disharmonie behaftet bleiben.

Um im wahrhaften Zusammenhang zu denken, darfst Du kein Ding als selbständiges Ding ansehen, sondern alles nur als fließende Eigenschaft der einen Substanz, welche das Ding aller Dinge, die Welt, die Wahrheit und das Leben ist.

Unsere Logik ist also Wahrheitslehre. Die Wahrheit ist nicht oben, nicht unten, nicht zu Jerusalem und nicht zu Jericho, weder im Geiste noch im Gebein, sondern im All.

Unsere Logik ist Erkenntnislehre. Sie lehrt, daß Du nicht mit Grübelei, sondern nur im Zusammenhang mit der Erfahrung, im Gesamtzusammenhang nach Erkenntnis forschen darfst.

Da nun der Mensch mit der Erfahrung auch Irrtümer erfährt, so war die Wissenschaft jahrhundertelang von der Frage beherrscht, ob Wahrheit und Erfahrung nicht zweierlei, ob vielleicht nicht unsere ganze Erfahrung ein Gaukelspiel der Sinne sei. Cartesius antwortete darauf: Nein, der Glaube an das allervollkommenste, allerwahrhaftigste Wesen kann solche Betörung nicht zulassen. Wenn wir nun den Gottesbegriff durch den Wahrheitsbegriff ersetzen, dann sind wir wieder sicher, daß die Welt der Erfahrung kein Schemen, sondern allerwahrhaftigste Wirklichkeit ist.

Wie unser Gesicht das Sichtbare nie und nirgends erschöpft, das Auge also sein Objekt schaut, aber nicht durchschaut, so kann der Intellekt das absolute All, die Wahrheit oder Gottheit nicht auskennen oder ausgründen; aber was wir kennen[91] und ergründen, sind leibliche Wahrheiten, sind Stücke der Generalwahrheit. Was die Erkenntnis erkennt, ist nicht die Wahrheit selbst und doch wahre Erkenntnis.

Wir gelangten also zu dem Resultat, beginnt der zehnte Brief, daß der Gedanke ein Weltteil ist. Das Weltall ist der Mutterschoß, wie überhaupt der Dinge, so auch des Intellekts.

Daß außer dem Weltall nichts existiert, oder im All alles enthalten, alle realen und phantastischen Existenzen, daß das All alles, weder süß noch sauer, weder groß noch klein, sondern eben alles und jedes – dieser Satz ist so selbstverständlich, wie der so lang und oft wiederholte Satz der Identität: A = A.

Die Logik soll Dich also lehren, daß alles, was das Unterscheidungsvermögen unterscheiden mag, von einer Art ist, alles Krethi und Plethi, aber das Ganze über allem Plebs eine himmelhohe Erhabenheit. Mit dem frivolen Atheismus, wie ihn die Aufklärer gebracht, ist es nicht genug. Dürre Gottesleugnung erzeugt immer wieder irgendeinen Götzendienst.

Mit dem Allerhöchsten, Unendlichen oder Absoluten muß die Logik beginnen. Alles kunstgerechte, daß heißt zusammenhängende Denken muß davon seinen Ausgang nehmen. Das naturwissenschaftliche Forschen nach endlichen Ursachen, nach dem Ei, woraus das Küchlein gekrochen, nach der Henne, woraus das Ei gekommen, nach den verwandten Organismen, welche durch Zuchtwahl und Anpassung à la Darwin die Henne entwickelt, – das sind überaus schätzbare Forschungen, ohne welche wir nie den Weltprozeß verstehen könnten; aber dennoch dürfen solche Erkenntnisse dem denkenden Menschen nicht genügen. Die Logik verlangt, verlangt von jedem, daß er nach dem Allerhöchsten, nach der Ursache aller Ursachen forscht. Wer das Bedürfnis hat, sein Bewußtsein in logische Ordnung zu bringen, will und muß wissen, wie das Endliche und Unendliche, das Relative und[92] Absolute, die speziellen Wahrheiten und die Generalwahrheit ineinanderstecken.

Logisches Denken in dem Maße, wie es die Wissenschaft verlangt, heißt weiter nichts, als den letzten Grund, den absoluten Hinterhalt kennen, auf den alle Gedanken sich stützen. Dieser Hinterhalt ist das Weltall, welches den Menschenkopf, den äußeren und inneren, als Zubehör anhängen hat. Der jahrtausendealte Streit zwischen den Materialisten und Idealisten stellt die Frage: ob der Geist weltlich oder die Welt geistig ist. Unsere Antwort lautet klipp und klar: beides gehört zusammen, ist in Summa ein Ding, und das Ding aller Dinge. Der Geist und die Welt sind zwei Attribute der einen Natursubstanz. Wenn man sie einander entgegensetzt, verhalten sie sich wie Fleisch und Fisch, welcher letztere nach Lazar Geiger von afrikanischen Stämmen ganz trefflich »Wasserfleisch« genannt wird. Demnach sind Geist und Welt, wie Fleisch und Fisch, von verschiedener und doch von einer Art.

Nicht nur ist die Welt das Objekt, sie ist auch das Subjekt der Erkenntnis, sie erkennt, sie zerlegt mittels des Menschenkopfes ihre eigene Mannigfaltigkeit. Unsere Weisheit ist Weltweisheit in dem doppelten Sinne: die Welt ist das, was gewußt, unterschieden, analysiert wird, und die Welt ist es, welche das Wissen, Unterscheiden usw. mittels unseres Intellekts praktiziert. Wenn ich also den Menschengeist Weltgeist, Geist des Allerhöchsten nenne, so bitte ich wohl zu bemerken, wie damit gar nichts mystifiziert sein, sondern nur dargetan werden soll, daß sich das Denken oder die Intelligenz nur im Weltzusammenhang betätigen läßt, daß es keine Sache abnormer und überschwenglicher Art, sondern ein Ding ist wie andere Dinge.

Die Idee des Weltzusammenhanges wird im elften Brief weiter behandelt und speziell auf das soziale Gebiet übertragen:

Allen naturgeschichtlichen Einteilungen soll logischerweise das Bewußtsein von der absoluten, universalen Einheit, vom[93] Zusammenhang aller Dinge zugrunde liegen. Darum haben fromme Leute durch ihren Herrgott, in dem alles lebt und webt, was fleucht und kreucht, mehr Logik wie gewisse Freidenker, denn sie fangen mit Gott an und hören mit Gott auf. Vollkommen logisch aber vermögen sie nicht zu denken, weil sie das Böse und den Teufel, Krankheit, Elend und Sünde, kurzum die Leidigkeit und Vergänglichkeit mit ihrem ewigen vollkommenen Allvater in keinen rechten Zusammenhang bringen können.

Die Ein-Natur, die unendliche, ist der Logik Quintessenz. Über dies Ding der Dinge kann weder die Naturwissenschaft (im engeren Sinne) noch die Metaphysik und formale Logik Aufschluß geben, sondern nur eine Denklehre, welche Geist und Natur, alle Gegensätze und Widersprüche als Formalitäten des All-Einen erkennt. Wie sollte nun jemand, der mit der großen Masse der Bevölkerung auf gespanntem Fuße lebt, sich eins fühlen können mit dem Allgemeinen? Wer eine spezielle Klasse zum echten Volk macht, hat keinen Begriff, weder für das allgemeine Volk noch für die absolute Allgemeinheit.

Die proletarische Logik lehrt nicht nur Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, sondern die universelle Gleichheit, welcher, wohlgemerkt, die Verschiedenheit so wenig widerspricht, wie die mannigfaltigen Töpfe und Krüge der Gefäßeinheit widersprechen. Wir erkennen, daß jedes Ding, jede Person ein Stück der unendlichen Welt ist und an ihrer unendlichen Natur teil hat.

Unsere Logik, welche die Wahrheit, die Weltwahrheit zum Objekt hat, ist eine Denklehre des Universums, eine universale Denklehre oder Weltanschauung. Sie lehrt, daß der Zusammenhang aller Dinge die Wahrheit und das Leben, das Echte, Rechte, Gute und Schöne ist. Alles Hohe, was Menschenherz erhebt, alles Süße, was Menschenbrust durchbebt, ist die Weltnatur oder das Weltall. Aber dann bleibt immer die kitzlige Frage: Wohin mit dem Negativen, dem[94] Häßlichen, Bösen, wohin mit dem Irrtum, dem Scheine, dem Stillstand, der Krankheit, dem Tode und dem Teufel?

Jawohl, die Welt ist vergänglich, böse und leidig; aber das sind doch nur akzidenzielle Erscheinungen, nur Formen und Fransen der Welt. Ihre Ewigkeit, Wahrheit, Güte und Schönheit ist substantiell, wesenhaft und positiv. Ihr Negatives ist das Dunkel, welches dem Lichte zur Verherrlichung dient, daß es überwinde und um so glänzender strahle.

Solcher hohen optimistischen Lehre sind die Wortführer der herrschenden Klasse nicht zugänglich, weil sie den umgekehrten pessimistischen Beruf haben, das Elend und die Knechtschaft zu verewigen.

Der zwölfte Brief kehrt zum Beginn des zweiten zurück: was die Logik ist, was sie will und wie sie es will? Die Beantwortung der Frage erfolgt im Geiste der Briefe zehn und elf, das heißt im Sinne des Universalzusammenhangs:

Logik, die Lehre eines kunstgemäßen Denkens, verlangt zunächst wahrheitsgemäßes, das heißt vernunftmäßiges Denken. Die Logik handelt von Vernunft und Wahrheit.

Vernunft und Wahrheit sind keine von den übrigen Dingen getrennte, sind keine Dinge an sich. Solche Dinge gibt es überhaupt nicht. Die proletarische Logik unterscheidet sich von der herrschenden dadurch, daß sie Vernunft und Wahrheit nicht hinter Tempelvorhängen, auch nicht in den Köpfen der Gelehrten, sondern im leibhaftigen Zusammenhang sucht und findet.

Wir erkennen nicht nur, daß Vernunft und Wahrheit mit der Welt verbunden, sondern auch, daß das Weltganze die allerhöchste Vernunft und Wahrheit oder das Wesen ist, nach dem Religion und Philosophie lange gesucht, das allervollkommenste Wesen – von Plato das Wahre, Gute und Schöne, von Kant Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, von Hegel das Absolute genannt.

»Erkennen« ist ein mysteriöses Wort.

[95]

Erlaube mir, das Erkenntnisvermögen mit einem photographischen Apparat zu vergleichen, mittels dessen Du Dir ein Bild der Weltwahrheit zu machen gedenkst. Da siehst Du gleich, wie von diesem Objekt nur ein ganz nebelhaftes Bild abzunehmen ist. Der Gegenstand erscheint zu grenzenlos, zu unendlich groß und erhaben, als daß er sich kopieren ließe. Und doch ist ihm beizukommen. Wenn auch kein klares Bild der Wahrheit, können wir doch weltwahre Bilder klar machen, das heißt wir können das Unendliche stückweise konterfeien. Du kannst mittels Deines Intellekts die Unendlichkeit durch Begrenzung fassen.

Die absolute Wahrheit gibt sich uns in relativen Erscheinungen. Das vollkommene Wesen ist aus unvollkommenen Teilen zusammengesetzt. Arme und Beine, Kopf und Rumpf sind getrennt und jedes für sich nur ein Kadaverstück und doch im Zusammenhang durchaus lebensfähig. In der Weltwahrheit ist alles enthalten; sie ist das vollkommene Sein, enthält das gesamte Dasein vollkommen, somit auch das Unvollkommene. Falsches, Leidiges, Schlechtes und Häßliches steckt im Wahren, Guten, Schönen mitten drin. Das Gesamtdasein, das ist die absolute Wahrheit, ist aus Relativem, das Ganze aus Stücken, aus Erscheinungen oder Scheinbarkeiten zusammengesetzt. Und auch unsere Erkenntnis oder unser Denkapparat ist ein unvollkommenes Stück des vollkommenen Wesens. Von diesem Absoluten liefert er nur ein dämmeriges, unzulängliches Porträt, und von allen Teilen der Weltwahrheit doch treffliche Bilder, allerdings nur Bilder, aber treffliche.

Es gibt gute und schlechte, treffende und unzutreffende, wahre und irrige Gedanken und Erkenntnisse; aber absolut zutreffende gibt es nicht. Alle Vorstellungen und Begriffe sind unvollkommene Bilder des allervollkommensten Weltwesens, welches unerschöpflich ist sowohl im großen wie im kleinen, im ganzen und in allen Teilen. Jedes Stück der Natur ist ein Naturstück des Unbegrenzten.

[96]

Die Lehre der Sophisten, daß sich alles be- und verstreiten läßt, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der unserigen, welche besagt, daß das All die Wahrheit und alle Teile wahre Stücke, also Rauch und Nebel, Verstand und Phantasie, Erträumtes und Reales, Subjekt und Objekt wahrhaftige Einteilungen der Welt – nicht die Wahrheit und doch wahr sind. Es ist deshalb angezeigt, auf den Unterschied der sophistischen und logischen Denkweise aufmerksam zu machen.

Das geschieht im dreizehnten Brief:

Ist die ganze Welt nur ein Ding oder ein Sammelsurium unendlich vieler Dinge?

Ich sehe durchs Fenster den Fluß und die Straße, Brücke, Häuser und Bäume. Jedes ist ein Ding für sich, und doch hängt alles untrennbar aneinander. Die Eigenschaften der Welt werden vom Intellekt als Subjekte behandelt; aber es soll das intelligente Subjekt auch wissen, daß sein Tun und Treiben, sein Unterscheiden und Erkennen eine Formalität, eine formelle Zerstücklung des Absoluten ist, welches trotz aller Einteilung stets das ungeteilte Ganze bleibt.

Die Erscheinungen der Wahrheit und des Lebens rubrizieren, heißt erkennen, heißt den Intellekt gebrauchen und den Kopf erhellen.

Jedoch bleibt nun wohl zu erwägen, wie weit wir in der Spezifikation zu gehen haben, um die Rubrik zu finden, welche völlige Klarheit und Bestimmtheit in die Erkenntnis bringt. Es ist sehr zu beachten, daß sowohl das Subjekt, welches erkennt, wie das erkannte Objekt als Stücke des Absoluten, auch absolute unendlich detaillierte Stücke sind, die sich nimmer auskennen, nimmer erschöpfen lassen.

Es lassen sich neue Erkenntnisse nur mittels alter erwerben. Das heißt: Altes und Neues und die Erkenntnis, die ich als Klassifikationsvermögen kennbar zu machen suche, haben ihre Existenz nur im Zusammenhang des gesamten Daseins.

[97]

Einteilung, regelrechte Einteilung ist die Sache der Logik oder Denkkunst. Dazu gehört in erster Instanz das erweckte Bewußtsein vom ungeteilten All, vom Universum und seiner universalen Einheit. Dieses Bewußtsein ist mit anderen Worten zugleich auch das Bewußtsein von der nur formalen Bedeutung aller wissenschaftlichen Teilung.

Die Einheit aller Welt ist wahr und ist die Wahrheit allein und einzig. Daß die alleinige und einzige Weltwahrheit voller Unterschiede steckt, ja ebenso absolut verschieden wie absolut gleich ist, widerspricht einer verständigen Einheit und Gleichheit ebensowenig, wie es sich widerspricht, daß die Käuze mit den verschiedensten Visagen doch alle dasselbe Kauzgesicht tragen.

Der rote Faden, der sich durch diese Vorträge schlängelt, betrifft folgende Punkte: Der Denkapparat ist ein Ding wie alle gemeinen Dinge, ein Stück oder Akzidenz des Weltganzen; er gehört zunächst in die allgemeinste Kategorie des Seins und ist ein Apparat, der durch kategorische Einteilung oder Unterscheidung ein detailliertes Bild der menschlichen Erfahrung zustande bringt. Um ihn kunstgerecht zu verwenden, will klar erkannt sein, daß die Welteinheit durchaus mannigfaltig und alle Mannigfaltigkeit eine Monas bildet.

Das Rätsel der alten eleatischen Philosophie war: Wie steckt das Eine im Vielen, wie das Viele im Einen?

Der vierzehnte Brief handelt vom »Absoluten« und dem Verhältnis des Intellekts zu ihm im Weltzusammenhang:

Das Absolute ist die bare Summe alles dessen, was war, ist und sein wird.

Sowohl die Subjekte wie Objekte aller Wissenschaft gehören dem Absoluten an, das mit trivialem Namen »Welt« heißt.

Alle anderen Wissenschaften haben begrenzte Stücke, haben Relatives zum Gegenstand, während die Wissenschaft des Geistes von allen Objekten, das heißt vom Unbegrenzten[98] handelt. Ich will die Lehre vom Intellekt vortragen und handle von aller Welt, vom Weltall, weil ich darzustellen habe, nicht wie sich der Geist in der Schusterei oder Astronomie, sondern wie er sich generaliter verhält.

Der Intellekt ist ein spezielles Stück wie jedes andere wissenschaftliche oder praktische Objekt. Aber er ist auch dasjenige Stück, dem es mit der Stückelei nicht genug, der sich und alles einzelne als Attribut oder Prädikat des absoluten Subjektes, der sich und alle Welt im Weltzusammenhang weiß.

Seit Jahrhunderten hat man viel davon gehandelt, ob im Intellekt angeborene Ideen versteckt sind oder ob er einem unbeschriebenen Blatte Papier gleiche, dem die Erfahrung Kenntnisse aufprägt. Es ist das die Frage nach Ursprung und Quell der Erkenntnis. Woher kommt die Vernunft, wo holen wir unsere Begriffe, Urteile und Schlüsse? Mittels Grübelei aus dem Innern des Kopfes, aus der Offenbarung oder aus der Erfahrung? Alles, was wir erfahren, samt dem Intellekt, der erfährt, sind Offenbarungen des Absoluten. Alles, wovon wir wissen, ist Erfahrung. Wenn nun auch der Geist ein leeres Blatt ist, so ist zur Beschreibung doch dies innere Papier ebenso wesentlich wie die äußere Welt, welche Hand, Tinte und Feder zu diesem Schreibprozeß hergibt; das heißt, alle Erkenntnis stammt aus dem Weltzusammenhang. Dem Intellekt sind keine Kenntnisse, aber doch das Bewußtsein, das Weltbewußtsein angeboren.

Die Wissenschaft vom Intellekt hat sich von alters her an eine wunderbare Tatsache gestoßen. Sie fand Kenntnisse vor, die dem Geiste von außen zugekommen, sogenannte Erfahrungskenntnisse; aber sie fand auch solche, welche scheinbar angeboren sind, sogenannte Erkenntnisse a priori.

Unsere Logik fragt: Stammt die Weisheit geheimnisvoll aus dem Innern des Menschenkopfes oder kommt sie nach Art aller Erfahrung aus der äußeren Welt? – Die Zusendung von oben wollen wir schon außer Frage lassen.

[99]

Da lautet die Antwort: Zum Wissen, Erkennen, Begreifen, Denken gehört Inneres und Äußeres, Subjekt und Objekt, Kopf und Welt.

Aber wie erklären sich nun die wunderbaren, anscheinend aprioristischen Kenntnisse, welche alle Erfahrung übersteigen? Antwort: Der Intellekt hat nicht nur die Fähigkeit, im allgemeinen zu wissen, sondern auch Spezielles vom Ganzen zu trennen und namhaft zu bestimmen. Indem wir zum Beispiel den Begriff des Minerals fassen, sehen wir ab vom Unterschied zwischen Gold und Blech. Wenn wir dann weiter klassifizieren, indem das Goldige und Blechige als besondere Arten dem Mineral untergeordnet werden, wissen wir nun genau, wie Gold und Blech verschiedene Arten sind von derselben Mineralnatur. Wir wissen, was die Namen bedeuten, und solange sie ihren Sinn behalten, wissen wir, daß »in Himmel und Hölle« Gold kein Blech, Blech kein Gold ist.

So ist denn der Unterschied zwischen angeborenen und erfahrenen Kenntnissen ein nur formeller. Beide verschiedene Arten sind dennoch von ein und derselben Art, beide Mischlinge des Inneren und Äußeren. Die Erkenntnis a priori hört auf, Wunder zu sein, wenn erkannt ist, daß sie mit den Kenntnissen a posteriori aus demselben Quell der Erfahrung stammt, welche das eine Mal wie das andere Mal nur mit Hilfe des Intellekts zustande kommt. Demnach ist also der mit der Welt verbundene Intellekt die Urquelle aller Wahrheit, und ist sowohl die äußere Natur wie unser inneres Begriffsvermögen ein Stücklein der einen Generalnatur, welche die Wahrheit und das Absolute ist.

Am Schlusse dieses Briefes kündigt Dietzgen an, daß er im nächsten (fünfzehnten) die Kausalität behandeln wolle; statt dessen geht er auf Kants Aprioritätenlehre und »Ding an sich« ein, zeigt, wie Kant in den Irrtum dieser Theorien verfiel und wie sein Schluß von der »Erscheinung« auf eine absolute Wahrheit, die, vom Scheine getrennt, dahinter versteckt sei, auf fetischmäßiger Auffassung der Wahrheit beruht.[100] Die Erkenntnis, daß das gemeine Wesen der Welt Wahrheit ist, ist die erste Bedingung zu einer kunstgerechten Handhabung des Schlußvermögens.

Damit gelangt unser Autor zur Erörterung der Kausalität im sechzehnten Brief:

»Alle Dinge haben ihre Ursache.« – Wer ist, was ist »alle Dinge«? Es sind Anhängsel, Zubehör des All-Einen. Es ist dem Intellekt angeboren, zu wissen, daß die Welt ein Ding ist, daß alle Dinge nicht nur irgendeinem, sondern alle einem Subjekt angehören. Das Bewußtsein der Kausalität ist nichts weiter wie das Bewußtsein vom Weltzusammenhang.

Alle Dinge sind ein Ding, hängen zusammen, stehen untereinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung, von Grund und Folge, von Gattung und Exemplar. Alle Dinge haben ihre Ursache, heißt, sie haben eine Mutter. Daß nun jede Mutter ihre Mutter hat, endigt in der Weltmutter oder Mutterwelt, in der absoluten, die selbst absolut mutterlos und doch alle Mütter »aufgehoben« in sich enthält.

Ursachen sind Mütter, Wirkungen sind Töchter. Nicht nur hat jede Tochter eine Mutter, Groß- und Urgroßmutter, sondern auch Vater, Groß- und Urgroßvater. Der Ursprung oder der Familienzusammenhang der Tochter ist nicht ein-, sondern allseitig. So haben auch die Dinge nicht eine, sondern viele, unendlich viele Ursachen, welche in die Generalursache zusammenfließen.

Dein Intellekt, dem die Wissenschaft angeboren ist, daß alles seine Ursache hat, wird sich demnach instruieren lassen, daß alle Ursachen der Welt in der absoluten Weltursache begründet sind und zugrunde gehen. Es ist die Quintessenz der Logik, nicht nur den wahren Begriff des Intellekts zu ermitteln, sondern mittels des Intellekts den Begriff der Weltwahrheit, des Weltganzen klarzumachen.

Personen und Dinge, Ursachen und Wirkungen sind keine selbständigen Einzelheiten, sondern relative Selbständigkeiten,[101] das heißt Zusammenhänge oder Verhältnisse des Absoluten. Der Intellekt ist uns angeboren, und durch ihn und mit ihm das Bewußtsein vom Sein schlechthin, wenn auch nur so angeboren, wie dem Kinde die Zähne, die erst nach der Geburt hervorwachsen. Jedes Stück, das uns zum Bewußtsein kommt, wird als Stück des All-Einen gewußt. Insofern das wunderbar, ist das Bewußtsein von der Kausalität erstaunlich. In der Tat ist die Wissenschaft von der kausalen Abhängigkeit aller Dinge mit der Wissenschaft von der Farbe aller Rappen und Schimmel eine angeborene Weisheit. Jedoch ist wohl zu beachten, daß sowohl in jeder erworbenen Wissenschaft etwas Angeborenes, wie in jeder angeborenen etwas Erworbenes steckt, so daß beide Arten ineinanderfließen und eine Kategorie bilden.

Im Eingang des siebzehnten Briefes erklärt unser Autor:

Da die Aufgabe der Philosophie in Erforschung der Logik aufgeht, aufgeht in der Ergründung des Intellekts und seiner Denkkunst, wirst Du, als in der Sache begründet, erkennen, daß meiner Darstellung eine gewisse Systematik fehlt; sie hat so recht keinen Anfang und kein Ende, weil ihr Objekt, der Intellekt, mit dem Weltganzen verknüpft ist, welches eben das Anfang- und Endlose ist, das kein Vor und Nach, kein Oben und Unten hat. Jedoch ist leicht zu bemerken, daß Denkkunst und Weltweisheit identisch sind. Wenn nun auch der allgemeine Zusammenhang für alle Dinge und Themata gilt, so gehört seine Erwägung doch speziell nur in die Logik, die von allen Denkobjekten summarisch handelt. Meine Sache also (die Denkkunst) beginnt überall, obgleich sie doch nur eine Spezialität ist.

So knüpft Dietzgen denn an Zitate aus Trendelenburg an, um an ihnen die Notwendigkeit gleichzeitigen philosophischen und empirischen Denkens darzutun:

»Es bleibt immer der Trieb alles menschlichen Erkennens darauf gerichtet, das Wunder der göttlichen Schöpfung durch ein nachschaffendes Denken zu lösen. Wenn diese Aufgabe[102] im einzelnen begonnen wird, so treibt das Einzelne von selbst weiter; denn mit derselben Macht, mit welcher alles aus dem Grunde hervorgestiegen, weisen die Dinge rückwärts zu dem Grunde wieder hin.«

Diese Zitate geben das Problem, das zu lösen ist: sollen wir den Intellekt philosophisch, sollen wir ihn empirisch gebrauchen? Man will aus dem Einen und Vielen klug werden, welches identisch ist mit der Forschung nach systematischer Weltanschauung oder dialektischer Kunst.

Da will zunächst konstatiert sein, daß das Denken in jeder Weise, ob philosophisch, ob empirisch, von einer Art, daß in beiden Formen dieselbe Sache enthalten ist. Rosen sind andere Blumen wie Nelken, doch steckt die Blumennatur in den einen wie in den anderen, und so auch die Denknatur gleichmäßig in der philosophischen wie empirischen Betrachtungsweise. Das Auseinanderhalten ist recht genug, doch darf die Einheit nicht verloren gehen.

»Die Philosophen«, heißt es weiter bei Trendelenburg, »wollen aus dem Ganzen das Einzelne erkennen; die Empiristen durchsuchen das Einzelne in seiner Zerstreuung.« Beide Forschungsarten sind verschiedene Exemplare einer Gattung, die beide einseitig sind, wenn sie ihren Zusammenhang verkennen. Der Empirist, der das Einzelne in der Zerstreuung sucht, verfährt philosophisch, wenn er seine Einzelforschung als Beitrag zum Ganzen gelten läßt, und der Philosoph, der aus dem Ganzen das Einzelne erkennen will, verfährt empirisch, wenn er, wie recht, alles Einzelne als Zubehör des Ganzen betrachtet.

Die Philosophen fehlen, wenn sie den Intellekt für den einzigen Born der Erkenntnis und Wahrheit halten; er ist nur ein Stücklein davon und bedarf zu seiner Ergänzung der anderweitigen Welt. Die Empiristen fehlen, wenn sie Wahrheit und Erkenntnis einzig in der anderweitigen Welt suchen, ohne das geistige Instrument zu beachten, mittels dessen sie ihre Schätze heben.

[103]

Schon der Gedanke, daß etwas sein könnte, was nicht die Generalnatur alles Daseins hat, ist kein Gedanke, ist ein Gedanke ohne Sinn oder Unsinn. Das Weltganze ist das être suprême, von dem wir allerdings nur einen vagen Begriff haben. Den detaillierten »rechten« Begriff davon haben wir nicht; derselbe erwächst uns jedoch im Verlauf der Wissenschaft, kann aber nie vollkommen sein, weil das Detail sich in die Puppen verliert und das absolute Sein ein unendliches Werden ist.

Und nun Einzelnes? Wir kennen es genauer und doch nicht genau, weil auch der kleinste Teil des Unendlichen unendlich ist. Atome sind von aller Wissenschaft noch immer vergeblich gesucht worden. Was unsere Erkenntnis kennt, waren immer Prädikate oder Erscheinungen der Wahrheit. Aber wahre Erscheinungen, wovon wir wahre Kenntnis haben.

Die Welt zum Ausfluß des Gedankens machen – nach Hegel –, ist eine verkehrte Logik; den Intellekt und seine Produkte als Attribute des Weltsubjektes erkennen, ist erste Bedingung rationeller, demokratischer Denkkunst.

Das Thema wird im achtzehnten Brief fortgesetzt und vertieft:

Wichtige Entdeckungen auf naturwissenschaftlichem Gebiet, das Wärmeäquivalent von Robert Mayer, die Entstehung der Arten von Darwin usw. stimulieren die Sache, so daß Naturwissenschaft und Philosophie mit zwei Bergleuten verglichen werden könnten, welche von zwei Seiten an einem Tunnel graben und dem lichten Durchbruch derart nahe sind, daß gespannte Ohren hüben und drüben die Hammerschläge pochen und die Werkzeuge krachen hören.

Das Bild hat viel Wahres, aber führt leicht auch zu Mißverständnissen. Durch Vivisektion der Frösche und Kaninchen, durch Bohren am Gehirn wird die Physiologie den Geist nicht erforschen. Kein Mikroskop und Teleskop wird das Wesen von Vernunft und Wahrheit aufdecken oder die Kunst der Unterscheidung enthüllen.

[104]

Ebensowenig wird es in der Sprachwissenschaft den Lazar Geiger, Max Müller, Steinthal und Noiré gelingen, mittels irgendeiner Ursprache »die letzten Fragen alles Wissens« zu lösen.

Jedoch soll die werte Mitarbeiterschaft dieser Herren nicht bestritten, sondern nur darauf hingewiesen sein, daß der Vergleich mit dem Tunnel mächtig hinkt. Von den logischen Formen gilt auch, was Marx von den ökonomischen sagt: »Bei der Analyse kann weder das Mikroskop dienen, noch chemische Reagenzien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen.«

Die Sache wird zum Durchbruch kommen; aber nicht indem jede Partei einseitig vorangräbt, sondern weil die Bergleute außer der Arbeitszeit miteinander verkehren und ihre Erfahrungen einander mitteilen. Auch verbleiben wohl die Philosophen der entscheidende Teil, da sie die Spezialisten in der Logik und als solche bereit sind, alles, was dem Werke dient, zu verwenden, von welcher Seite immer es sich darbieten mag. Die andere Partei dagegen hat ihre aparten Spezialitäten und fördert die Logik mehr nebensächlich und unwillkürlich.

Dietzgen bespricht im Anschluß hieran den naturwissenschaftlichen »Monismus« seiner Zeit, der zum Teil noch in unserer sich breit macht, wie den von Noiré, der im Grunde ein unklarer Dualist war, indem er »Bewegung und Empfindung« für die einzig wahren Attribute der Welt erklärte, ohne zu erkennen, daß die Empfindung doch nur eine Art der Bewegung ist.

In der »Einleitung und Begründung einer monistischen Erkenntnistheorie«, bemerkt Noiré mit höhnischem Akzent, »daß er nicht in der Lage sei, neuen Aufschluß über das Absolute zu geben«.

Der naturwissenschaftliche Monismus hat vom Universum einen viel zu beschränkten Begriff. Mit seinem »alles ist Bewegung« ist sowenig und soviel gesagt wie mit dem[105] Salomonischen »alles ist eitel«. Alles ist krumm und gerad, alles groß und klein, alles zeitlich und ewig, alles Wahrheit und Leben. Aber wie nun der Unterschied in die Welt, wie Ruhe in die Bewegung, Verstand in den Unverstand kommt, davon ist nichts gesagt.

Um das Unterscheiden logisch zu praktizieren, will gewußt sein, daß das All, das Universum oder Absolute die Ursache seiner selbst und der Urgrund aller Dinge ist, welcher alle Unterschiede, auch den der Kausalität und den zwischen Geist und Natur, »aufgehoben in sich enthält«.

Der Begriff des Absoluten oder des Weltganzen wird nun im neunzehnten Brief erörtert:

Das Weltganze ist ein landläufiger Begriff, der jedem bekannt und wovon scheinbar wenig zu sagen bleibt. In der Tat ist es der Begriff aller Begriffe, das Wesen aller Wesen, die Ursache seiner selbst, das keine fremde Ursache und kein fremdes Wesen neben sich hat. Durch Erwägung, wie unablässig die Menschheit außer der Welt eine Weltursache, einen Weltanfang und eine überschwengliche Wahrheit gesucht hat, muß Dir einleuchten, daß sie den Begriff des Weltganzen nicht erfaßt, das Universum nicht begriffen hat, und ist dann der Nachweis, daß es die Ursache aller Ursachen, Anfang aller Anfänge und Wahrheit aller Wahrheiten ist, nicht gerade eine überflüssige Arbeit.

Ich behaupte, die Kenntnis des menschlichen Begriffsvermögens und die Kunst seiner Verwendung sind untrennbar vom Weltbegriff. Nicht so, als dürfe innerer Geist und äußere Welt nicht unterschieden werden, sondern es sind beide nur als formelle Unterschiede des wesentlich Ununterschiedenen, des absoluten Weltganzen zu fassen.

Das Universum begreifen, heißt sich Klarheit verschaffen, wie dies Wesen aller Wesen keinen Anfang, keine Ursache, keine Wahrheit und keine Vernunft außer und neben sich, sondern alles in und bei sich hat. Das Universum begreifen, heißt erkennen, daß man die sogenannten[106] logisch-metaphysischen Kategorien, wie Anfang und Ende, Ursache und Wirkung, Sein und Nichtsein usw., unlogisch anwendet, den Intellekt mißbraucht und durchaus unerbaulich wird, wenn man damit über die weltliche Unendlichkeit hinausfährt ins Überschwengliche.

Um Dir also Sinn, universellen Sinn anzueignen, wirst Du Dich um die Erkenntnis bemühen, wie das Universum alles Relative einschließt, während es im ganzen das Absolute oder die erbauliche Gottheit verkörpert.

Und der Begriff des Absoluten als des Weltganzen involviert, daß mit solchen Dingen, die man Gegensätze und Widersprüche nennt, es sich ganz anders verhält, als die Logik der Götzendiener wähnt und doziert. Daß Seele und Leib, Wahrheit und Irrtum, Leben und Tod usw. nicht unvereinbare Antipoden sind, die sich abstoßen. Diese Lehre vom Satze des Widerspruchs ist eine ganz beschränkte Kirchturmsweisheit, welche statt Klärung nur Wirrsal in die Köpfe bringt. Gewiß ist das Tote vom Lebendigen, das Vergängliche vom Ewigen, schwarz und weiß, krumm und gerad, groß und klein verschieden und entgegengesetzt. Aber auch das Allerentgegengesetzte und Widersprechendste geht ebenso leicht in eine Gattung, Familie oder Art hinein wie Zwillinge in einen Mutterschoß. Was Männchen und Weibchen nicht hindert, in einem Neste zu hocken, hindert auch die krasseste Verschiedenheit nicht, trotz der Entzweiung zugleich eins und dasselbe, das heißt zwei Stücke von einem Kaliber zu sein.

Und wolltest Du gegen die Wahrheit des absolut vollkommenen Weltwesens einwenden, daß es mit dieser Vollkommenheit nicht weit her sei, wegen der vielen handgreiflichen Unvollkommenheiten, die anhängen, so würde ich bitten, nicht spitzfindig zu sein, sondern gesunden Sinnes anerkennen zu wollen, daß die Weltmängel so logisch zur Vollkommenheit gehören wie die bösen Begierden zur Tugend, die eben erst durch die Probe der Überwindung zur Tugend wird.[107] Der Begriff einer Vollkommenheit, die nicht das Unvollkommene zu überwinden hätte, wäre ein läppischer Begriff.

Hieran schließt sich nun, im zwanzigsten Brief, eine Erörterung des Begriffs des Absoluten, der zur logischen Erkenntnis unumgänglich ist:

Der Begriff Weißkohl und Kohl schlechthin, der Gemüse- und Pflanzenbegriff usw. sind, wenn auch Spezial-, doch zugleich Generalbegriffe; sie sind das eine wie andere nur relativ. Gegenüber den verschiedenen Kohlarten, die er einschließt, ist der Kohlbegriff generell oder abstrakt; gegenüber dem Gemüsebegriff ist er speziell und konkret. Und so steht es mit allen Begriffen, sie sind konkret und abstrakt zugleich; nur der letzte, der Weltbegriff ist weder konkret noch abstrakt, sondern absolut; er ist der Begriff des Absoluten.

Der absolute Weltbegriff besteht zunächst aus zwei Teilen, aus der Welt und dem Begriff. So besteht das Wasser aus zwei Stoffen, deren jeder für sich ganz eigentümlich und kein Wasser ist. Ergo ist der Weltbegriff ein weit erhabeneres Subjekt als alle Teile, aus denen er besteht. Um diesen Punkt vor die Augen zu rücken, mag ich das aus Welt und Begriff zusammengesetzte Subjekt mit einem besonderen Titel ehren, es »Universum« nennen, damit es so von seinen Elementen namentlich getrennt sei.

Ich erkläre jetzt, ohne daß ein Sophist das Wort verdrehen kann, daß der weltumfassende Gedanke oder das Universum das Absolute ist, welches alles und alles einschließt, während Welt und Begriff als gesonderte Teile nur Einteilungen oder Relatives darstellen.

Wir wollen den Gedanken erkennen, aber nicht den leeren, sondern den universellen weltumfassenden Gedanken, den Gedanken im philosophischen Sinne, wo es kein bloßer Gedanke, sondern die lebendige Wahrheit, das Universum, Absolute oder Allerhöchste ist.

Der absolute Begriff ist der Begriff des Absoluten, des Allerhöchsten; davon gilt nicht nur alles Wahre, Schöne[108] und Gute, was man dem lieben Gott nachsagt, er ist auch dasjenige Wesen, welches allem Denken die erforderliche Logik, Halt und Gestalt gibt.

Wie die menschlichen Handlungen ihre wahre Begründung nicht im nächsten Zweck, sondern im allgemeinsten, im Wohlergehen, und als sittliche Handlungen ihre Berechtigung nur aus dem menschlichen Gesamtheil schöpfen, so finden alle Weltdinge ihre Begründung nicht in der nächsten Umgegend, sondern im unendlich weiten Universum. Nicht der in die Erde gelegte Samenkeim ist, wie der Bauer denkt, die Ursache, daß das Pflänzchen sprießt und wächst und grünt, sondern Erde, Sonne, Wind und Wetter, kurz die ganze Natur gehört dazu, welche letztere den Samenkern einschließt.

Wenden wir diese Einsicht auf unser Spezialobjekt, auf das Denkvermögen an, so ist dasselbe kein menschlich beschränktes, allerdings auch kein überschwengliches, sondern ein kosmisches Universalvermögen. Wenn Du jetzt den Begriff des Absoluten erfaßt hast, verstehst Du die Göttersprache und verstehst, wie der Intellekt für sich allein ein wichtiges Partikelchen, aber im Zusammenhang mit dem Universum ein universeller absoluter Bestandteil, ein Bestandteil des Absoluten ist.

Wie das Auge Gesichtsinstrument, ist der Intellekt Begriffsinstrument. Wie Brillen und Gläser Gesichtsmittel des Auges, so sind Sinne, Erfahrungen, Experimente Begriffsmittel des Intellekts.

Man weiß, daß Augen, die um die Ecke, durch ein Brett oder Nelkenduft sehen wollen, so unverständig sind wie schwarze Schimmel. Daß wir das Unsichtbare nicht sehen können, hindert unsere Augen nicht, ein universales Instrument zu sein, welches alles (alles Sichtbare) sehen kann.

Sofern das, ist Dir auch die Professorenweisheit klar, welche zerknirscht, wie die Methodisten, auf dem Bauche liegt und wie diese O Herr! O Herr! so à la Du Bois-Reymond:[109] »Ignorabimus« ruft. Allerdings ist der Menschengeist ein Ignorant in dem Sinne, daß er beständig lernt, da in der Natur ihm ein unerschöpflich Material vorliegt. Auch ist an jedem Naturstückchen etwas Unbegreifliches, wie an jeder Nelke etwas Unsichtbares. Die relative Beschränktheit und Unbeschränktheit der Vernunft wird nur durch den Begriff des Absoluten verständlich.

Die letzten vier Stücke (21 bis 24) sind eine Zusammenfassung des bisherigen Entwicklungsganges der Erkenntnislehre und enthalten ihre Nutzanwendung. Brief 21 beginnt:

Die demokratische proletarische Volkslogik forscht nach dem Allerhöchsten. Das Volk weiß, es muß dienen, aber fragt sich, wem? Dem Baal oder dem Nabuchodonossor? Wo, wer, was ist das Allerhöchste, dem sich alles unterordnet, das System, Konsequenz, Logik in unser Denken und Handeln bringt? Zunächst fragt sich noch: Auf welchem Wege kommen wir zu seiner Erkenntnis? Da mit keiner überschwenglichen Offenbarung gedient ist, bleiben nur zwei Wege: Vernunft und Erfahrung.

Es ist nun der Fehler der landläufigen Denkweise, daß man aus diesen Wegen zwei macht, während es in der Tat nur eine, die gemeine Straße ist, welche mittels erfahrungsmäßiger Vernunft oder vernunftmäßiger Erfahrung dahin führt, wo wir erkennen, wie das Allerhöchste, dem alles dient, nichts Besonderes, kein Teil oder Partikel, sondern das Universum selbst mit allen Teilen ist.

Sokrates und seine Schule wandelten den aparten Weg der Vernunft, um das Allerhöchste, das Wahre, Gute, Schöne, wie sie es nannten, zu suchen. Die platonischen Dialoge wissen es überaus prächtig ins Licht zu setzen, daß nicht Gesundheit, nicht Reichtum, nicht Tapferkeit noch Frömmigkeit »der Güter Höchstes«, sondern wie es bei allen Dingen nur auf die Einsicht, nur auf den Gebrauch ankomme, den der Mensch davon macht. Je nachdem sind sie bald gut, bald schlecht, es sind nur relative Güter. Liebe und Treue,[110] Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit sind wohl gut, aber nicht das Gute; sie haben nur »teil daran«. Man sucht nach dem, was unter allen Umständen absolut gut, wahr und schön ist.

So finden denn die Sokratiker heraus, daß nur die Einsicht oder der Intellekt die Umstände ermitteln könne, die zum Absoluten führen.

Aus der alten Philosophie ist endlich nach mehr als zweitausendjähriger Vermittlung durch Zwischenglieder die heutige demokratisch-proletarische Logik entstanden, welche erkennt, daß die Vernunft ein Instrument ist, das zum Allerhöchsten führt, unter der Bedingung, daß sie nicht grübelt, sondern aus sich herausgeht und mit aller Welt sich verbindet. Solche Verbindung ist eben das Allerhöchste, die unvergängliche, ewige Wahrheit, Güte, Schönheit und Vernunft. Alle anderen Dinge haben, platonisch zu reden, »nur teil daran«.

Wenn auch vielfach noch mit phantastischem Anhängsel behaftet, waren die Sokratiker doch auf dem besten Wege zur wahren Logik, indem weder Gesundheit noch Reichtum, noch irgendein anderes Gut oder Tugend ihnen genügte, da sie nicht die wahren Erscheinungen, sondern die Wahrheit selbst zu kennen begehrten. Sie, die Wahrheit, ist das Universum, und muß der Mensch sie als solche, als die alleinige kennen, um seine Vernunft vernünftig gebrauchen zu können, vernünftig im höchsten, klassischen Sinne des Wortes.

Plato und Aristoteles haben ganz vorzüglich daran gearbeitet. Auch die neueren Philosophen, Cartesius, Spinoza, Kant. Haupthindernis für alle war das hartnäckige Vorurteil, daß der Mensch die Vernunft im Kopfe habe. Wenn er auch dergleichen hat, dann ist es doch nicht die vernünftige Vernunft. Der im Hirnkasten eingeschlossene Intellekt hat nicht, wie die Alten wähnen, die Weisheit bei sich; letztere kann deshalb auch nicht durch Grübeln geschöpft werden.

Du wirst den Ausdruck »grübeln« nicht mißverstehen. Ich bin kein Gegner sinnigen Nachdenkens, sondern will nur aufmerksam machen, wie man auf den verkehrten Weg geraten[111] ist, das Denken vom Sehen, Hören, Fühlen, den Geist vom Körper zu trennen. Wie die Christen das Heil außer dem Fleische, so suchten die Philosophen die Vernunft oder Erkenntnis außer dem Zusammenhang mit der anderweitigen Welt, außerhalb der Erfahrung. Besonders die Forschung nach der Beschaffenheit des Intellekts glaubte in sich kriechen zu müssen.

Dabei ist zu erwägen, daß die Sokratiker, welche das Absolute unter dem Namen des Guten suchten, insofern beschränkt waren, als sie dasselbe nur von der moralischen, spezifisch menschlichen Seite erfaßten und nicht zuletzt auch von der kosmischen. Wie Gesundheit und Reichtum zusammengehören, und auch das noch viel zu wenig ist für das Menschenheil, wie dazu alle sozialen und politischen Tugenden erfordert sind, so steckt das Gute noch nicht im Zusammenhang aller Menschen, sondern geht darüber hinaus und hängt mit aller Welt zusammen. Ohne letztere ist der Mensch nichtig. Er hat keine Augen ohne Licht, keine Ohren ohne Geräppel, keine Moral ohne Physik. Der Mensch ist nicht so sehr das Maß aller Dinge, als vielmehr sein mehr oder minder großer und intimer Zusammenhang mit allen Dingen das Maß aller Menschlichkeit ist. Nicht die beschränkte Moralität, sondern das Universum, das Allerhöchste, ist das Gute im allerhöchsten Sinne des Wortes, ist das absolute Gut, Recht, Wahrheit und Vernunft.

Die absolute Ein-Natur alles Daseins ist die unbedingte Grundlage einer verständigen Vernunftanwendung.

Unsere Volkslogik ist tolerant und nicht fanatisch. Die Volkslogik will nicht vernünftig sein ohne Leidenschaft, aber auch nicht leidenschaftlich ohne Vernunft. Sie hebt nicht den Unterschied auf zwischen Freund und Feind, zwischen Wahrheit und Lug, zwischen Verstand und Unverstand, sondern beschwichtigt den Fanatismus, der das Unterscheiden übertreibt. Sie stellt den Lehrsatz an ihre Spitze: Es gibt nur ein Absolutes, das Weltall.

[112]

Halte wohl fest, daß der Begriff eines Weltalls, das irgend etwas außer oder neben sich hat, womöglich ein noch verrückterer Begriff ist wie ein hölzernes Eisen. Daran erkennst Du zugleich, wie alle Verschiedenheit eine gemeinschaftliche Natur hat, welche nicht zuläßt, daß der Unterschied zwischen zwei Dingen oder Meinungen überschwenglich groß sei. Weil das Universum das einzige höchste Wesen ist, darum sind alle Unterschiede, auch alle Meinungsunterschiede höchst unwesentlich.

Und nun kommt die Moral von der Geschichte. Die Menschenvernunft, das Spezialobjekt der logischen Forschung, partizipiert am Generalwesen; sie ist kein Wesen für sich; als isoliertes Wesen ist sie durchaus nichtig und unvermögend, irgendeine Erkenntnis zu produzieren. Nur im Zusammenhang, nicht nur mit dem materiellen Gehirn, sondern mit dem Universum überhaupt ist der Intellekt lebens- und arbeitsfähig. Nicht das Gehirn denkt, sondern der ganze Mensch gehört dazu; und nicht nur der Mensch, sondern der Universalzusammenhang ist zum Denken erfordert. Die Vernunft offenbart keine Wahrheit. Die Wahrheiten, welche sich uns mittels der Vernunft offenbaren, sind Offenbarungen des Generalwesens, des Absoluten.

Sokrates zeigt, daß er nur noch einen beschränkten, einen anthropomorphistischen und keinen kosmischen Begriff vom »Besten und Guten« und von der Vernunft hat. Er war von dem Vorurteil beherrscht, von dem die unkultivierten Gottgläubigen noch immer beherrscht sind, daß die Vernunft älter sei als die übrige Welt, daß sie der herrschende und vorausgegangene Planmacher sei. Unsere Vernunftlehre dagegen kennt den Geist, den wir im Kopfe haben, nur als Ausfluß des Weltgeistes. Letzteren jedoch darfst Du nicht als nebulöses Ungetüm, nicht als Monstergeist, sondern als das leibliche Universum erkennen, welches trotz allem Wechsel und aller Variation ewig eins, wahr, gut, vernünftig, das Allerwirklichste und Allerhöchste ist.

[113]

Nachdem das glänzende Dreigestirn Sokrates – Plato – Aristoteles erloschen, hüllte sich der philosophische Himmel in dunkle Wolken. Die Heiden traten von der Bühne ab, und das Christentum und die Dogmen seiner Kirche beherrschten die Logik der Menschen, bis endlich am Anfang der neueren Zeit hin und wieder ein wissenschaftliches Lichtlein aufgeht. Namentlich sind es Cartesius und Spinoza, die unter den ersten leuchtend auftreten, die ihren Geist natürlich nur schwer und relativ zu emanzipieren vermögen. Spinoza ist in seinem Kampfe wider den beschränkten und für den universellen Geist besonders interessant.

Das wahre, höchste und beständige Gut entdeckt Spinoza in der »Erkenntnis der Einheit«, in der die Seele sich mit der ganzen Natur befindet. »Dies ist also«, sagt er weiter, »das Ziel, nach dem ich strebe …«

»Zu diesem Zwecke hat man sich der Moral, Philosophie und der Lehre von der Erziehung der Knaben zu befleißigen und damit die ganze Arzneiwissenschaft zu verbinden, weil die Gesundheit wesentlich zur Erreichung dieses Zieles beiträgt. Auch die Mechanik darf nicht übergangen werden, weil vieles Schwere durch die Kunst leicht gemacht wird. Vor allem aber ist ein Weg zur Verbesserung des Verstandes aufzusuchen.«

Da sind wir denn wiederum beim Angelpunkt unseres Themas angekommen. Wer, was ist der Intellekt, wo kommt er her, wo führt er hin? Antwort: Er ist ein Licht, das nicht in sich hinein, sondern aus sich heraus die ganze Welt beleuchtet. Darum ist die Wissenschaft, welche das Denkvermögen zum Gegenstand hat, wenn auch eine beschränkte, dennoch eine universelle Disziplin oder universelle Weltweisheit.

Wenn Sokrates nach der Tugend und nach dem »Besten« und Spinoza nach steter und höchster Heiterkeit sucht, und solche Weisheit nur auf den engeren Kreis menschlichen Getriebes ausgeht, sich also zur kosmischen Welt noch nicht so[114] recht erhoben hat, so laß Dich das nicht beirren. Das Mittel und das Instrument, mit dem sie zum Zwecke streben, ist der Intellekt. Es liegt nahe, daß die intellektuelle Forschung zur Erforschung des Intellekts führen mußte, zur »Verbesserung des Verstandes«, zur »Kritik der Vernunft«, zur »Logik« und so schließlich zu der Erkenntnis, daß das Denkvermögen ein unabtrennbarer Teil des monistischen Weltalls, des Absoluten ist, welches letztere allem Denken Halt, Sinn und Verstand gibt.


Über die aus fünfzehn Briefen bestehende (1883 bis 1884 verfaßte) zweite Serie der »Logischen Briefe« ist an dieser Stelle nur zu sagen, daß sie eine Kritik von Henry Georges »Fortschritt und Armut« ist, des in der ersten Hälfte der achtziger Jahre von den Gebildeten aller Nationen am meisten gelesenen populär-nationalökonomischen Buches, das noch heute die Bibel der Singletax-Ideologen genannt werden darf, das heißt der politischen Theoretiker, die den Schäden des Kapitalismus durch eine »einzige Steuer« (auf den Bodenwert) beizukommen wähnen. Dietzgen schrieb diese Kritik des Henry George, um seinem Sohne, und den späteren Lesern, Einblick in die politische Ökonomie zu verschaffen, ihn hierbei in die Marxsche Theorie einzuführen und gleichzeitig »die veritable Logik zu demonstrieren«.

Der erste Teil meiner Briefe, sagt er, erläuterte die Logik am menschlichen Geiste; der zweite Teil soll sie an der menschlichen Arbeit erläutern. Der Geist oder die Denktätigkeit ist das allgemeine Gebiet, welches nicht nur mit allem, was menschlich, sondern mit dem Universum zusammenhängt. Das Objekt dieses zweiten Teiles, die Arbeit, ist nicht minder universell und in ihrem kosmischen Zusammenhang ein vorzügliches Erläuterungsmittel unserer Spezialität, der Kopfarbeit.

Weiter bemerkt er: Die Quintessenz aller Denkkunst ist der Einheitsbegriff, der Begriff, wie es barer Unsinn ist, sich mit[115] der Meinung zu tragen, daß es zwei unterschiedene Dinge geben könne, die nicht zugleich gemeinschaftlicher Natur seien. Diesen Begriff von der Einheit aller Differenz hat Henry George nicht erfaßt. Er bringt deshalb Differenzen in die politische Ökonomie, die der Auflösung bedürfen. Ich stelle mir also die Aufgabe, nachzuweisen, daß nicht im ökonomischen Sachverhalt, sondern in der Anschauung des Autors von »Fortschritt und Armut« Widersprüche oder Differenzen enthalten sind, die mit Hilfe besserer Logik leicht zu ordnen.

Die Ökonomie handelt von der Erzeugung und Verteilung des Reichtums. Der wesentlichste Produzent oder Hauptfaktor desselben ist die menschliche Arbeit. Daß diese Arbeit nicht in der Luft hängt, sondern mit zwei Beinen auf der Erde steht, daß sie nicht arbeiten kann ohne Gegenstände, Materialien, Mittel und Werkzeuge, ist selbstverständlich. Wenn jemand lehrt, die Arbeit ist der Schöpfer des Reichtums, und es kommt ein anderer mit: »Nein! Die Arbeit kann nichts schaffen, wenn nicht die Natur und ihre Reichtümer schon vorhanden sind«, so ist klar, wie dieser andere nur behauptet, was niemand bestreitet.

Nachdem wir ein für allemal wissen, daß es in der Welt nichts Besonderes gibt, welches absolut ist, wenn wir wissen, wie das Absolute ein Name für das All oder Universum ist, welches gleich dem lieben Gott keinen neben sich hat, dann wissen wir auch, daß die Arbeit nur relativ »schaffen«, nur in Verbindung mit den Materialien der Natur und den Errungenschaften der Geschichte Reichtümer zeugen kann.

Es ist dies der Kernpunkt, weshalb ich mit dem Verfasser von »Fortschritt und Armut« hadere. Dieser ist Gegner des Satzes: Arbeit allein schafft Reichtümer. Er behauptet, die Natur, die den sauren Wein mit der Zeit süß und aus dem Kalb eine Kuh macht (3. Kapitel, 3. Buch), arbeite mit. Das bestreiten wir nicht; wir widerstreiten nur, daß Kapitalien, die von Natur aus »mitarbeiten«, deshalb auch von Natur aus berufen sind, an den Früchten der Arbeit zu partizipieren.[116] Der Streit um die Erzeugung der Reichtümer ist in der Tat nur ein Streit um ihre Verteilung.

Der bisherige Fortschritt in der Kunst, Reichtümer zu zeugen, ist zugleich ein Fortschritt in der Armut der arbeitenden Klasse. Das Büchlein zeigt dies so deutlich und mannigfaltig, daß darüber kein Wort weiter zu verlieren ist. Wenn auch der Arbeiter des neunzehnten Jahrhunderts ebenso gut und wenn er auch besser genährt ist als der des achtzehnten, siebzehnten und sechzehnten, so ist doch evidentermaßen sein Anteil am Arbeitsertrag viel kleiner. Es handelt sich darum, diesem Widerspruch zu steuern. Henry George ist ein Parteigänger der irischen Landliga, welche sich mit der Hoffnung trägt, die Verwandlung des Grund und Bodens in Gemeineigentum würde die »soziale Frage« lösen.

Die ebenso lehrreiche wie interessante Polemik Dietzgens gegen George im einzelnen gehört aber, da sie keine theoretische, sondern angewandte Logik ist, nicht in den Rahmen dieses Buches. Wer durch die vorliegende Darstellung der Lehre und Weltanschauung Josef Dietzgens sich angeregt fühlt, der »Logischen Briefe« ersten Teil in der Gesamtausgabe zu lesen, wird sicherlich auch dem zweiten Teil sein Interesse zuwenden, selbst wenn er noch jenseits des Marxschen Sozialismus seinen Standpunkt hat. Denn auch bei Behandlung von Fragen der politischen Ökonomie bekundet unser Autor seine Originalität und zeigt uns Gesichtspunkte wie kein anderer marxistischer Sozialist, Karl Marx selbst eingeschlossen, von dem Dietzgen seine Ökonomie fertig übernommen zu haben mehrfach freudig bekennt.

Hier ein Beispiel. Dietzgen sagt im dritten Brief der zweiten Serie:

Bekanntlich wird von der Naturwissenschaft alles auf Bewegung reduziert. Licht, Töne, Wärme, Stoff und Kraft, alles ist Bewegung. So berechtigt sie dazu ist, so berechtigt ist die Ökonomie, alles als Arbeit zu fassen. Alles ist Bewegung, alles ist Arbeit. Auch ist alles Natur. Alles ist das[117] All oder Universum, wovon jeder Teil universell ist, jeder Teil die Generalnatur des Ganzen und das Ganze die Generalnatur eines jeden Teiles hat. Der Begriff des Universums ist der Kardinalbegriff der Logik. Es, das Universum, ist der Inbegriff aller Dinge. Das Unterabteilen oder Unterscheiden der universellen Einheit ist der logische Springpunkt. Er lehrt: Du sollst keinen Unterschied übergroß machen, Du sollst keinen überschwenglichen, keinen metaphysischen Unterschied glauben. Alles ist unterschieden, aber nur so mäßig, daß die Natur von allem in allem enthalten, daß, burschikos ausgedrückt, alles ein einziger Schwamm ist, im Verstand auch Unverstand und im Unverstand immer noch Verstand steckt.

Also in solchem Sinne ist die ganze Welt eine Arbeit und die menschliche nur ein spezieller Teil der universalen. Es wäre logische Beschränktheit, das Objekt der Ökonomie nicht bis »in die Puppen« generalisieren zu wollen; es wäre konfus, bei solcher Generalisation es bewenden zu lassen und nicht zur Unterabteilung, nicht zur Spezifikation fortzuschreiten. Die menschliche Arbeit ist eine Unterabteilung, die wieder untergeteilt ist in urwüchsig kommunistische Arbeit, Sklavenarbeit, Fronarbeit und Lohnarbeit. Letztere ist derjenige partikuläre Teil, der uns speziell interessiert, den ich, der Logik wegen, Dir im Zusammenhang mit dem Universum zeige.

Die Arbeit der Konkurrenzgesellschaft teilt sich – in freie Arbeit, die sich selbst lohnt und meist von Nichtstuern geleistet wird, und in – »freie Arbeit« (mit Gänsefüßchen), die sich nicht lohnt, sondern gelohnt wird und Lohnarbeit heißt.

Daß so von der Arbeit, die sich selbst lohnt, gesagt wird, sie sei verrichtet von Nichtstuern,[13] klingt paradox und ist doch[118] verständlich, wenn Du aufmerkst, wie vom Ertrag der nationalen Arbeit die effektiven Arbeiter für den Kopf einen erbärmlichen und die Industrieritter einen solch riesigen Anteil davontragen.

Zunächst jedoch laß uns absehen von den Unterabteilungen der Konkurrenzarbeit und im Auge behalten, daß sie mit aller menschlichen Arbeit und mit der Natur zusammenhängt, davon Teil oder Abteilung ist. Es ist das besonders um deswegen hervorzuheben, weil ökonomische Konfusionsräte, wenn später vom Werte die Rede ist, diesen natürlichen Zusammenhang als Mittel brauchen, um unsere Werttheorie konfus zu machen, welche namentlich von Marx in glänzender Weise klargelegt wurde.

Arbeit schafft Produkte. Naturarbeit schafft wildwachsende Bäume, Gräser, Sonnenstrahlen und andere kostenlose Dinge, während Menschenarbeit – natürlich mit Hilfe der Natur – kostenreiche Produkte schafft. So gibt es denn keine reinen menschlichen Arbeitsprodukte, sondern all unsere Arbeit muß sich mit dem Naturmaterial gleichsam chemisch verbinden. Derart gewinnt die menschliche Arbeit materielle Form und läßt sich aufspeichern. Aufgespeicherte Arbeit nimmt in der Ökonomie einen hohen Rang ein, besonders weil sie als Mittel dient, die lebendige Arbeit immer ergiebiger zu machen.

Die Einteilung der menschlichen Arbeit in gegenwärtige, lebendige und in vergangene, tote, aufgespeicherte Arbeit ist[119] eine logische Operation, die zur ökonomischen Erhellung dient. Die tote Arbeit liegt nicht nur in materiellen Stücken umher, sondern hat auch geistige Formen. Die Errungenschaft an größerer Einsicht in den Naturprozeß, die verbesserten Arbeitsmethoden usw. usw. sind alle aufgespeicherte Arbeit. Du darfst nicht glauben, daß zwischen geistiger und körperlicher Arbeit kein Unterschied sei, aber auch nicht glauben, derselbe sei so exakt, daß man irgendein materielles Stück Arbeit haben könne, das nicht mit dem Geiste verquickt, oder irgendeine intellektuelle Einsicht, die nicht stofflich geworden. Nicht nur Papier und Druckerschwärze, auch alle Instruktionen, welche der Meister dem Lehrling mündlich erteilt, sind aufgespeicherte Arbeiten unserer Vorfahren.

Meine Logik, die in der ersten Serie den Zusammenhang von Geist und Bein behandelte, handelt in diesem zweiten Teile vom geistigen und körperlichen und anderweitigen Arbeitszusammenhang, den sie in Gattungen und Arten, in Abteilungen und Unterabteilungen trennt und teilt, um das Ganze als ein Ungeteiltes darzustellen.


[120]

IX.
Erkenntnistheoretische Streifzüge.

Die »Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie« (Chicago 1886) erschienen zuerst in der »Sozialdemokratischen Bibliothek« (Hottingen-Zürich 1887). Genaue Kenntnis des »Wesens der menschlichen Kopfarbeit« und der »Logischen Briefe« erster Teil ist unbedingtes Erfordernis zu leichtem Verständnis und vollem Genuß dieser Schrift.

Der erste Abschnitt behandelt die Frage, ob wir alles erkennen können? Der Autor wählt als Überschrift dieses Abschnitts den »oft zitierten Dichterspruch«: »Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist.«

Vollständig lautet das Zitat:

»Ins Innere der Natur – Dringt kein erschaffener Geist.«
»Glücklich, wem sie nur – Die äußere Schale weist.«

Es stammt von dem im Jahre 1777 verstorbenen Dichter (und Botaniker, Zoologen, Anatomen) Albrecht v. Haller.

Goethe hat (in »Gott und Welt«) sehr ergrimmt folgendes darauf erwidert:

Allerdings.

Der Physiker.

»Ins Innere der Natur
O du Philister! –
Dringt kein erschaffener Geist
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern;
Wir denken: Ort für Ort
Sind wir im Innern.
[121] »Glücklich, wem sie nur
Die äußere Schale weist
Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen,
Ich fluche drauf, aber verstohlen;
Sagt mir tausend, tausend Male:
Alles gibt sie reichlich gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale;
Alles ist sie mit einem Male.
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist.

Auch das nächstfolgende Gedicht Goethes »Ultimatum« bezieht sich hierauf.

Ich weiß nicht, ob Dietzgen durch Goethes Polemik gegen Haller angeregt wurde, an des letzteren Ausspruch anzuknüpfen; im übrigen ist es völlig gleichgültig, da unseres Autors Anschauungen über die pantheistischen des Altmeisters weit hinausgehen.

Mit dem angeblich von einem höheren Geist »erschaffenen Geist« des Menschen, dem geistigen Organ, das dem Menschen von Natur im Kopfe angewachsen ist, hat es Dietzgen hier zunächst zu tun, und sodann mit dem Thema des Eindringens unseres Intellekts ins Innere der Natur. Unser Autor sagt:

Wie die Fetischdiener die gemeinsten Dinge, Steine und Hölzer, verhimmeln, so ist auch der »erschaffene Geist« verhimmelt und mystifiziert worden; zuerst religiös und danach philosophisch. Was die Religion Glaube und übernatürliche Welt, das nannte die Philosophie Metaphysik. Bevor die Philosophie in das Innere des erschaffenen Geistes eindringen konnte, mußte ihr von der Naturwissenschaft durch praktische Betätigung erwiesen werden, wie das geistige Instrument des Menschen die bezweifelte Fähigkeit wohl besitzt, das Innere der Natur erhellen zu können.

Auch die unbekannteste Welt und die geheimnisvollsten Dinge gehören mit allen bekannten Gegenden und Gegenständen[122] in eine und dieselbe Kategorie, nämlich in den universellen Naturverband. Der »erschaffene Geist« macht keine Ausnahme von diesem wissenschaftlichen Gesetz.

Der alte religiöse Vorstellungskreis ist der Erkenntnis hinderlich, daß die Natur nicht nur eine nominelle, sondern eine wahrhaftige Monas ist, welche nichts anderes, auch keinen unerschaffenen Geist, weder über sich, noch in sich, noch neben sich hat. Der Glaube an einen unerschaffenen, monströsen, religiösen Geist hindert die Erkenntnis, daß der Menschengeist von der Natur selber geschaffen und erzeugt wurde, also deren eigenes Kind ist, demgegenüber sie keine besondere Sprödigkeit kennt.

Dennoch ist die Natur spröde; sie erschließt sich nie auf einmal und nie ganz und gar. Sie kann sich nicht ganz hingeben, weil sie unerschöpflich ist an Gaben. Dennoch ist der »erschaffene Geist«, dies Kind der Natur, eine Lampe, welche nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere der Natur erhellt. Inneres und Äußeres sind gegenüber dem physisch unendlichen und unerschöpflichen einzigen Naturwesen verzopfte Begriffe. Ebenso ist der »erschaffene Geist« ein verzopfter Begriff, insofern derselbe auf einen unerschaffenen großen, monströsen, metaphysischen Geist hinweisen soll, der seinen Sitz über den Wolken hat.

»Der große Geist« der Religion ist die Ursache von der Verkleinerung des Menschengeistes, welcher sich der Dichter schuldig macht, der letzterem die Fähigkeit abspricht, in das »Innere der Natur« einzudringen. Und zugleich ist doch der unerschaffene, monströse Geist nur ein phantastisches Abbild des »erschaffenen« physischen Geistes.

Die Erkenntnistheorie in ihrer entwickeltsten Gestalt vermag diesen Satz gründlichst zu beweisen. Sie zeigt uns, daß der »erschaffene Geist« seine sämtlichen Vorstellungen, Gedanken und Begriffe der einen monistischen Welt entlehnt, welche die Naturwissenschaft »physische« Welt nennt. Die gute Mutter Natur hat ihm etwas von ihrer Unerschöpflichkeit[123] angeerbt. Er ist so unbeschränkt und unerschöpflich an Erkenntnissen, wie sie unbeschränkt ist in der Willfährigkeit, ihre Brust zu öffnen. Beschränkt ist das Kind nur durch den unbeschränkten Reichtum der Mutterliebe: es kann die Unerschöpfliche nicht erschöpfen.

Der »erschaffene Geist« dringt mit seiner Wissenschaft bis in das Allerinnerste der Natur, aber darüber hinaus kann er nicht dringen, nicht weil er ein beschränkter Geist ist, sondern weil die Mutter eine unendliche Natur, eine natürliche Unendlichkeit ist, die nichts außer sich hat.

Die wunderbare Mutter hat ihrem natürlichen Kinde das Bewußtsein angeerbt. – Der erschaffene Geist kommt mit der Anlage zur Welt, sich bewußt zu werden, daß er das Kind seiner guten Mutter Natur ist, welche ihm die Fähigkeit anerschaffen, sich von allen anderen Kindern seiner Mutter, von allen seinen Geschwistern treffliche Bilder zu entwerfen.

Die von der philosophischen Wissenschaft im Laufe der Jahrhunderte zusammengetragenen Kenntnisse vom »erschaffenen Geiste« gipfeln in der Lehre, daß dieser Geist eine Kraft, eine Naturkraft ist, wie die Schwerkraft, wie Wärme, Licht, Elektrizität usw.; und dann auch neben seiner allgemeinen Natur, ganz wie die anderen Kräfte, ein spezielles Naturell besitzt, welches ihn allein auszeichnet und kennbar macht. Prüfen wir diese Spezialnatur des »erschaffenen Geistes« näher, so findet sich, daß ihm die, wenn man will »wunderbare« Eigenschaft angeboren ist, ohne weiteres und mit zweifellosester Sicherheit zu wissen, daß zwei Berge nicht ohne Tal sind, der Teil kleiner ist als das Ganze, Kreise nicht viereckig und Bären keine Elefanten sind.

Solche Wissenschaft ist uns durch die objektive Untersuchung des »erschaffenen Geistes« gegeben.

Der überschwengliche Geist ist ein phantastischer Begriff.

Ebenso phantastisch ist denn auch der Naturbegriff derjenigen, welche von einer Natur reden wollen, die dem »erschaffenen Geist« ihr Inneres verschließt. Die Natur ist das[124] Unendliche. Wer das begreift, begreift auch, wie man bei ihr nicht vom Inneren oder Äußeren reden kann. Alle diese Bezeichnungen gelten nicht von der Natur überhaupt, welche das Absolute ist, sondern nur von ihren Teilen, von ihren Produkten, ihren Kindern, den einzelnen Dingen.

Wollen wir uns ein rechtes Bild machen von der Natur und ihrem »erschaffenen Geiste«, so müssen wir dem letzteren vor allem das Bewußtsein beibringen, daß er sich nicht über seine Mutter erheben darf, wie er damals getan, als er noch von einem über- und außernatürlichen Geist gefabelt. Ein rechter Begriff vom Menschengeist ist nur zu gewinnen, wenn wir uns das klare und deutliche Bewußtsein von der Universalität der Natur aneignen. Unser Geist ist ihr eigenes Produkt. Sie hat ihm die Gabe und die Bestimmung angeerbt, sich Einsicht von ihr und allen ihren Erscheinungen zu verschaffen. – »Von allen«, sage ich und spreche im verständig-mäßigen Sinne des Wortes, ohne zu verkennen, wie unerschöpflich die Natur in der Produktion ihrer Erscheinungen ist, und wie der »erschaffene Geist«, sofern er ein Stück der Natur, trotz all seiner Universalität im Begreifen, doch nur ein beschränktes Naturgeschöpf sein kann.

Wer sich die Resultate der Naturwissenschaft betrachtet, kann die Natur keiner mysteriösen Verschlossenheit beschuldigen, und wer dabei die Resultate der Philosophie in Betracht zieht, kann nicht verkennen, daß der Menschengeist berufen ist, alle möglichen Rätsel zu lösen. Das Unmögliche aber hat weder Sinn noch Verstand und darf also kein Objekt unserer Betrachtung und Beachtung sein.

So innig wie das Gesichtsvermögen mit Licht und Farbe, oder das subjektive Tastvermögen mit der objektiven Tastbarkeit, so innig hängt der »erschaffene Geist« mit dem Rätsel der Natur zusammen. Diesen Zusammenhang der Dinge übersehen zu haben, ist der Fehler jener rückständigen Erkenntnistheoretiker, welche derart über Geist und Natur im unklaren schweben, daß sie Rettung jenseits der Wolken suchen.

[125]

Die überschwengliche Verkleinerung des Geistes, dem man abspricht, das Innere der Natur erhellen zu können, und ebenso die überschwengliche Mystifizierung der Natur, deren Inneres unbegreiflich sein soll – beide entspringen einer Denkweise, welche naturwüchsig jahrtausendelang den Menschen beherrscht hat, während die philosophische Bemühung es endlich dahin gebracht, daß nunmehr umgekehrt der Mensch seine Denkweise beherrscht, wenigstens so weit, daß er mehr regel- und kunstgerecht die ihm aufgegebenen Rätsel zu lösen weiß.

Es ist ein Gesetz der natürlichen Logik und der logischen Natur, daß jedes Ding in seiner Gattung bleiben muß, daß sich die Gattungen und ihre Arten zwar verändern können, aber nicht so übermäßig, daß sie aus der Generalgattung, aus der natürlichen, herauswachsen. Es kann deshalb keinen Geist geben, der so tief in das Innere dringt, daß er die Natur zusammenklappen und gleichsam in die Tasche stecken könnte.

Im zweiten Abschnitt »Die absolute Wahrheit und ihre natürlichen Erscheinungen« schildert Dietzgen, wie er durch das Studium von Feuerbach und Marx' ersten Schriften in seinem Streben unterstützt wurde, einen Maßstab zur Beurteilung dessen, was wahr und recht ist, zu erlangen.

Zur näheren Erkenntnis der Natur der absoluten Wahrheit ist vor allem dem eingewurzelten Vorurteil entgegenzutreten, als sei dieselbe geistiger Natur. Nein: die absolute Wahrheit läßt sich sehen, hören, riechen, fühlen, allerdings auch erkennen; aber sie geht nicht auf in Erkenntnis; sie ist kein purer Geist. Die absolute Wahrheit hat keine besondere Natur, vielmehr die Natur des Allgemeinen; die allgemeine natürliche Natur und die absolute Wahrheit sind identisch. Es gibt keine zwei Naturen, eine körperliche und eine geistige; es gibt nur eine Natur, worin alle Körper und alle Geister enthalten sind.

Das Universum ist identisch mit der Natur, mit dem Weltall und der absoluten Wahrheit.

[126]

Was wir erkennen, sind Wahrheiten, relative Wahrheiten oder Naturerscheinungen. Die Natur selbst, die absolute Wahrheit, läßt sich nicht erkennen, nicht direkt, sondern nur mittels ihrer Erscheinungen.

Da die menschliche Erkenntnis nicht das Absolute ist, sondern nur ein Künstler, der sich von der Wahrheit Bilder macht, wahre, echte, rechte und treffende Bilder, so ist doch selbstredend, daß das Bild den Gegenstand nicht erschöpft und der Maler hinter seinem Modell zurückbleibt. Es ist niemals etwas Geistloseres von der Wahrheit noch von der Erkenntnis gesagt worden, als das, was die gebräuchliche Logik seit Jahrtausenden davon sagt: Wahrheit sei die Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand. Wie kann das Bild mit seinem Modell »übereinstimmen«? – Annähernd, ja. Welches Bild stimmt nicht annähernd mit seinem Gegenstand? Mehr oder minder treffend ist doch jedes Porträt. Aber ganz getroffen und ganz trefflich – abnormer Gedanke!

Also nur relativ können wir die Natur und ihre Teile erkennen; denn auch jeder Teil, obgleich nur eine Relation der Natur, hat doch auch wieder die Natur des Absoluten, die mit der Erkenntnis nicht zu erschöpfende Natur des Naturganzen an sich.

Die wissenschaftliche Erkenntnis darf nicht nach absoluter Wahrheit begehren, weil letztere, die absolute Wahrheit, ohne weiteres sowohl sinnlich als geistig gegeben ist. Was wir zu erkennen verlangen, sind die Erscheinungen, die Besonderheiten der allgemein gegebenen Wahrheit. Sie gibt sich uns in ihren Spezialitäten willfährig. Was unsere Erkenntnis zu besorgen hat, sind treffliche Bilder, Erkenntnisbilder. Dabei handelt es sich nur um relative Trefflichkeit oder Vollständigkeit. Mehr darf der Menschenverstand nicht wollen. Ein Verlangen nach einer anderen absoluten Wahrheit ist eine von der Geschichte der menschlichen Erkenntnis überwundene Schwärmerei; während die Bescheidenheit, die sich mit Erkenntnis[127] relativer Wahrheiten begnügt, vernünftige Bildung genannt wird.

Die Philosophie hat wie die Religion in dem Glauben an eine überschwengliche absolute Wahrheit gelebt. Die Auflösung des Problems liegt in der Erkenntnis, daß die absolute nichts weiter als die generalisierte Wahrheit ist, daß dieselbe nicht im Geiste wohnt, dort wenigstens nicht mehr zu Haus ist als anderswo, sondern im Objekt des Geistes, welches wir mit dem Generalnamen »Universum« bezeichnen.

Wie unser Auge alles sehen kann, wenn auch mit Hilfe von Gläsern, und doch nicht alles, denn es kann weder Töne noch Gerüche, überhaupt nichts Unsichtbares sehen, so kann unser Erkenntnisvermögen alles erkennen und doch nicht alles. Das Unerkennbare kann es nicht erkennen. Das ist aber auch überschwenglich oder ein überschwengliches Begehren.

Wenn wir erkennen, daß die absolute Wahrheit, woran Religion und Philosophie im Überschwenglichen oder Transzendenten gesucht haben, realiter als leibliches Universum vorhanden ist, und der Menschengeist nur ein leiblicher oder realer oder wirklicher und wirkender Teil der Generalwahrheit ist, der den Beruf hat, andere Teile der Generalwahrheit wahrhaft abzubilden, so ist damit das Problem des Beschränkten und des Unbeschränkten vollkommen gelöst. Absolutes und Relatives ist nicht überschwenglich getrennt, beides hängt zusammen, so daß das Unbeschränkte aus unendlichen Beschränktheiten zusammengesetzt ist und jede beschränkte Erscheinung die Natur des Unendlichen an sich hat.

Der dritte Abschnitt »Materialismus kontra Materialismus« zeigt den Unterschied des sozialdemokratischen oder dialektischen Materialismus vom metaphysischen, speziell französischen des achtzehnten Jahrhunderts und den Gegensatz dieser beiden Richtungen zum metaphysischen deutschen Idealismus von Kant, Fichte, Schelling, Hegel.

Der Idealismus leitet die Körperwelt aus dem Geiste ab, nach dem Vorgang der Religion, wo der große Geist über[128] den Wassern schwebt und nur zu sagen hat »es werde!«, auf daß es ward. Solche idealistische Ableitung ist metaphysisch. Jedoch waren die letzten berühmten Ausläufer des deutschen Idealismus sehr abgeschwächte Metaphysiker. Von dem außerweltlichen übernatürlichen, himmlischen Geiste hatten sie sich ziemlich emanzipiert, aber nicht von der Schwärmerei für den diesseitigen natürlichen Geist. Sie mühen sich unendlich ab, über das Verhältnis zwischen unseren geistigen Vorstellungen und den materiellen Dingen, welche vorgestellt, begriffen und gedacht werden, ins klare zu kommen.

Die metaphysischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts und ihre heutigen Nachzügler unterschätzen den Menschengeist und die Forschung nach seiner Beschaffenheit und seiner rechten Anwendung ebensosehr, als die Idealisten diese Dinge überschwenglich hochstellen. Sie, die Materialisten, erklären zum Beispiel die Naturkräfte als Eigenschaften des tastbaren Stoffes und speziell die geistige Kraft, die Gedankenkraft, als eine Eigenschaft des Hirns. Die Materie oder das Materielle, das heißt das Wägbare und Tastbare, ist in ihren Augen die Hauptsache der Welt, das Primäre oder die Substanz, und die Denktätigkeit, gleich allen anderen untastbaren Kräften, nur sekundäre Eigenschaft. Mit anderen Worten, den alten Materialisten ist die Materie das erhabene Subjekt und alles Weitere untergeordnetes Prädikat.

Im dialektischen Materialismus haben die Stoffe nicht mehr zu bedeuten als die Kräfte, die Kräfte nicht mehr als die Stoffe.

Das unterscheidende Merkmal zwischen den mechanischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts und den durch die Schule der deutschen Idealisten gewitzigten sozialdemokratischen Materialisten besteht darin, daß letztere den bornierten Begriff der Materie von der nur tastbaren und wägbaren Materie auf alle vorkommenden Materialien erweiterten: auf das Sichtbare, Riechbare, Hörbare und, da schließlich die ganze Natur Material der Forschung und demnach alles materiell genannt werden darf, sogar den[129] Menschengeist; denn auch dieses Objekt dient der Erkenntnistheorie als Material.

Wir neueren Materialisten sind nicht der beschränkten Meinung, daß die wäg- und tastbare Materie die Materie par excellence sei; wir halten dafür, daß auch der Blumenduft, auch Töne und Gerüche Materien seien. Wir fassen nicht die Kräfte als ein bloßes Anhängsel, als pures Prädikat des Stoffes auf und den Stoff, den tastbaren, als das »Ding«, welches alle Eigenschaften dominiere. Wir denken von Stoffen und Kräften demokratisch. Da sind die einen soviel wert als die anderen; alle einzelnen sind nichts als Eigenschaften, Anhängsel, Prädikate oder Attribute des großen Natur-Ganzen. Da ist nicht das Hirn der Matador und die geistige Funktion der untergeordnete Diener. Nein, wir modernen Materialisten behaupten, daß die Funktion ebensoviel und ebensowenig ein selbständiges Ding ist als die tastbare Hirnmasse oder als irgendeine andere Materialität. Auch die Gedanken, ihr Herkommen und ihre Beschaffenheit sind ebenso reale Materien und erforschungswerte Materialien als irgendwelche.

Materialisten sind wir, weil wir aus dem Geiste keine »metaphysische« Monstrosität machen. Die Denkkraft ist uns ebensowenig ein »Ding an sich« als die Schwerkraft oder der Erdkloß. Alle Dinge sind nur Zusammenhänge des großen Universalzusammenhangs, welcher allein dauerhaft, wahrhaft, bleibend, keine Erscheinung, sondern das einzige »Ding an sich« und die absolute Wahrheit ist.

Weil wir sozialistische Materialisten nun einen zusammenhängenden Begriff von der Materie und dem Geiste haben, sind uns auch die sogenannten geistigen Verhältnisse, wie die der Politik, der Religion, der Moral usw., materielle Verhältnisse, und die materielle Arbeit, ihre Stoffe und die Magenfrage sehen wir nur insofern an als die Unterlage, als die Voraussetzung und den Grund aller geistigen Entwicklung, als das Tierische der Zeit nach früher ist als das[130] Menschliche, was nicht hindert, den Menschen mit seinem Intellekt hoch und höher zu schätzen.

Der sozialistische Materialismus zeichnet sich dadurch aus, daß er den Menschengeist nicht unterschätzt, gleich den Materialisten alter Schule, und auch nicht überschätzt, gleich den deutschen Idealisten, sondern in seiner Schätzung mäßig verfährt und den Mechanismus wie die Philosophie mit kritisch-dialektischem Auge ansieht, als Zusammenhänge des untrennbaren Weltprozesses und -progresses.

»Darwin und Hegel« betitelt sich der vierte Abschnitt.

Dietzgen will »dem beinahe verschollenen Hegel, der bei der Nachwelt seine verdiente Anerkennung finden wird«, die ihm gebührende Würdigung als Vorläufer Darwins zollen:

Darwin ist ein genialer Ausarbeiter der Hegelschen Erkenntnistheorie. Letztere ist eine Entwicklungslehre, die nicht nur die Entstehung der Arten alles animalischen Lebens, sondern auch die Entstehung und Entwicklung aller Dinge umfaßt; sie ist eine kosmische Theorie der Entwicklung überhaupt. Die ihr bei Hegel noch anklebenden Dunkelheiten fallen der Person des Philosophen so wenig zur Last, als dem Darwin zur Last fällt, daß er über seine »Entstehung der Arten« nicht das letzte Wort gesagt hat.

Der Darwinsche Gegenstand ist ein ebenso unendlicher und unausforschlicher wie der Hegelsche. Der eine suchte nach der Entstehung der Arten, der andere nach der Erklärung des menschlichen Denkprozesses. Das Resultat beider ist die Entwicklungslehre. Sie haben die monistische Weltanschauung auf eine Höhe gehoben und mit positiven Entdeckungen unterstützt, die vorher unbekannt waren.

Die Darwinsche Entwicklungslehre beschränkt sich auf die Tierarten; sie beseitigt die Klüfte, welche die religiöse Weltanschauung zwischen den Klassen und Arten der Geschöpfe aufrichtet. Darwin emanzipiert die Wissenschaft von dieser religiösen Klassenanschauung und weist die göttliche Schöpfung in bezug auf diesen speziellen Punkt aus der[131] Wissenschaft hinaus. In diesem Punkt setzt er an die Stelle der transzendenten überschwenglichen Schöpfung die hausbackene Selbstentwicklung. Um zu zeigen, daß Darwin nicht aus den Wolken gefallen, erinnern wir an Lamarck, der bekanntlich Darwin die Priorität streitig macht. Damit wird keineswegs das Darwinsche Verdienst geschädigt, indem Lamarck nur auf den philosophischen Lichtblick, Darwin aber auf spezialisierten Nachweis Anspruch hat.

Hegel gebührt das Verdienst, die Selbstentwicklung der Natur auf umfassendster Grundlage aufgestellt, die Wissenschaft in generellster Weise von der Klassenanschauung emanzipiert zu haben. Darwin kritisiert die überkommene Klassenanschauung zoologisch, Hegel universell.

Hegel lehrt die Entwicklungstheorie; er lehrt, daß die Welt nicht gemacht wurde, keine Schöpfung, kein unveränderliches Sein, sondern ein Werden ist, das sich selbst macht. Wie bei Darwin die Tierklassen ineinanderfließen, so fließen bei Hegel alle Klassen der Welt, Nichts und Etwas, Sein und Werden, Quantität und Qualität, Zeit und Ewigkeit, Bewußtes und Unbewußtes, Fortschritt und Bestand, unvermeidlich ineinander. Er lehrt, daß Unterschiede überall bestehen, aber nirgends übertriebene, »metaphysische« oder überschwengliche Unterschiede. Dinge, die »wesentlich« voneinander unterschieden sind, gibt es nach Hegel nicht. Das Unterscheiden zwischen wesentlich und unwesentlich ist nur auf relativer Stufenleiter zu verstehen. Es gibt nur ein absolutes Wesen, das ist der Kosmos, und alles, was da drin und drum und dran hängt, sind flüssige, vergängliche, wandelbare Formen, Akzidenzen oder Eigenschaften des Generalwesens, welches in Hegelscher Sprache den Namen des Absoluten führt.

Hegel hat die Entwicklungslehre viel universeller vorgetragen als Darwin. Wir wollen deshalb einen nicht dem andern vorziehen oder subordinieren, sondern einen mit dem andern ergänzen. Wenn uns Darwin lehrt, wie die Amphibien und Vögel keine ewig separierten Klassen, sondern Lebewesen[132] sind, die aus einander hervorgehen und ineinanderfließen, so lehrt Hegel, wie alle Klassen, wie die ganze Welt ein lebendiges Wesen ist, die nirgends feste Grenzen hat, so daß selbst das Kennbare und Unkennbare, das Physische und Metaphysische ineinanderfließt, und etwas absolut Unbegreifliches eine Sache ist, die nicht in die monistische, sondern in die religiöse, dualistische Weltanschauung gehört.

Hegel hat viel Verwandtschaft mit dem alten Herakleitos, welcher den Beinamen »der Dunkle« führt. Beide lehren, daß die Dinge der Welt nicht feststehen, sondern fließen, das heißt, sie entwickeln sich; und beide verdienen auch den dunklen Beinamen.

Die Arbeiten von Darwin und Hegel, ob noch so verschieden, haben den Kampf wider die Metaphysik, wider das Unsinnliche und Unsinnige gemein. Indem wir uns vorsetzen, sowohl den Unterschied als die Gemeinschaft der genannten Forscher klarzustellen, können wir nicht umhin, die große Seeschlange ernstlich in den Kreis der Erörterung zu ziehen. Der Spaß wird aber erschwert durch die vielen Namen, die im Laufe der Geschichte dem Ungeheuer beigelegt wurden. – Was ist Metaphysik? Sie ist dem Namen nach eine wissenschaftliche Disziplin – gewesen, die ihre Schatten in die Gegenwart wirft. Was sucht sie, was will sie? Natürlich Aufklärung! – aber worüber? – Über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit; – das klingt in unseren Tagen gar pastoral. Und nennen wir ihren Inhalt mit dem klassischen Namen des Wahren, Guten und Schönen, so ist dennoch gar viel daran gelegen, daß wir uns und dem Leser klarmachen, was denn eigentlich die Metaphysiker suchen und wollen; ohne das läßt sich weder Darwin noch Hegel, weder was sie geleistet, noch was sie zu leisten unterlassen und was daher der Nachkommenschaft zu leisten obliegt, hinlänglich ermessen und darstellen.

»Was die Metaphysiker suchen und wollen«, erklärt uns der fünfte und letzte Abschnitt »Das Licht der Erkenntnis«:

[133]

Wo Erleuchtung hernehmen? Moses hat sie vom Berg Sinai geholt; aber nachdem Juden und Christen länger als dreitausend Jahre gebetet: »Du sollst nicht stehlen«, stehlen sie heute noch wie die Raben; das heißt die Offenbarung hat sich nicht bewährt. Dann kamen die Philosophen und wollten die Erleuchtung aus dem Innern des Kopfes, a priori, wie sie es nennen, herausspekulieren. Was aber der eine zutage förderte, wurde vom andern verworfen. Die Naturwissenschaft beschritt einen dritten, den induktiven Weg, sie schöpfte die Weisheit aus der Beobachtung; sie endlich erwarb wahre, wirkliche, dauerhafte Wissenschaft, eine Wissenschaft, die alle Welt akzeptiert, die niemand bestreitet, niemand bestreiten kann und mag. Daraus folgt denn unzweifelhaft klar, daß wir die Erleuchtung auf dem betretenen naturwissenschaftlichen Wege zu suchen haben.

Dennoch gibt es viele Leute, viele auch mit gelehrtester Ausrüstung, welche mit diesem Lichte sich nicht zufrieden geben. Sie sprechen vom »metaphysischen Bedürfnis«, bemühen sich unablässig, darzutun, daß alles naturwissenschaftliche Erklären und Erkennen, wie fruchtbar auch in den einzelnen Disziplinen, doch im großen und ganzen unzureichend ist. »Das Wesen der Materie«, heißt es da, »ist schlechthin unbegreiflich; alle mechanische Naturerklärung erstreckt sich nur auf die an diesem rätselhaften Substrate wahrzunehmenden Veränderungen und läßt unser Kausalitätsbedürfnis im letzten Grunde unbefriedigt.«

Der Materialismus, der das Erkennen und Erklären der verschiedensten wissenschaftlichen Materien wohl zu praktizieren weiß, hat es bisher unterlassen, die Materie der Erkenntnis zu erklären. Das Erkenntnis- oder Erklärungsvermögen ist die einzige in der Welt vorhandene Kraft, welche immer noch verhimmelt wird. Sie ist in der Welt und soll nicht weltlich, nicht physisch, nicht mechanisch sein. Was denn? Metaphysisch! Und niemand kann doch Aufklärung geben, was das heißt. Alle Bestimmungen, die wir erlangen, sind[134] negativ. Das Metaphysische ist nicht physisch, nicht handgreiflich und nicht begreiflich. Was sollte es anders sein als ein Gefühl, das begnadete Idealisten mit sich herumtragen, ohne zu wissen, wo es sitzt.

Alles will der Mensch wissen, und doch hat man etwas, was nicht zu wissen, nicht zu erklären, nicht zu begreifen ist. Dann resigniert man und zeigt hin auf die Beschränktheit des menschlichen Instruments. »Zwei Stellen sind es,« sagt Lange, »wo der Geist haltmachen muß. Wir sind nicht imstande, die Atome zu begreifen, und wir vermögen nicht, aus den Atomen und ihrer Bewegung auch nur die geringste Erscheinung des Bewußtseins zu erklären … Man mag den Begriff der Materie und ihrer Kräfte drehen und wenden, wie man will, immer stößt man auf ein letztes Unbegreifliches … Nicht mit Unrecht geht daher Du Bois-Reymond so weit, zu behaupten, daß unser ganzes Naturerkennen in Wahrheit noch kein Erkennen ist, daß es nur das Surrogat einer Erklärung gibt … Das ist der Punkt, an welchem die Systematiker und Apostel der mechanischen Weltanschauung so unachtsam vorübergehen: – die Frage nach den Grenzen des Naturerkennens.« (F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, 2. Band, S. 148 bis 150.)

Die Sozialdemokraten aber hat Lange nicht gründlich gekannt, sonst würde er gewußt haben, daß von ihnen auch in diesem Punkt die mechanische Weltanschauung komplettiert ist.

Wo soll es hinführen, wenn unser Wissen und Erkennen, wenn das in den letzten Jahrhunderten von der Wissenschaft mit so großem Erfolg angewendete Geistes-Instrument nur noch ein »Surrogat« sein soll? Wo sitzt denn der wahre Jakob? Und wenn wir alle Folianten der Philosophie durchstöberten, würden wir darüber keine positive Angabe finden, weil gerade die Philosophen es sind, welche den Glauben an einen persönlichen Herrscher des Himmels und der Erde soweit zerstört haben. Die unphilosophische religiöse Welt besaß in der Tat höheren Orts einen wahren Verstandeskasten,[135] welcher dem dreckigen Lehm ein Häuchlein hatte mitgeteilt, und waren sie deshalb berechtigt, den heiligen vom profanen Geiste, die echte Substanz von ihrem Surrogat zu unterscheiden. Aber wie solche Unterscheidung von denen zu verteidigen ist, welche den großen All- und Ur-Geist den Köhlern überlassen haben, das ist unerfindlich.

Der metaphysische Gedanke von den »Grenzen der Erkenntnis« darf nur ein klein wenig auf seinen Inhalt geprüft werden, um sofort als gedankenlose Phrasenmacherei erkannt zu werden. »Die Atome sind nicht zu begreifen, und das Bewußtsein ist nicht zu erklären.« Nun aber besteht die ganze Welt aus Atomen und Bewußtsein, aus Materie und Geist. Wenn beides unverständlich ist, was bleibt dann dem Verstande zu begreifen und zu erklären übrig?

Das Licht der Erkenntnis macht den Menschen zum Herrn der Natur. Mit seiner Hilfe vermag er im Sommer das Eis des Winters und im Winter die Früchte und Blumen des Sommers darzustellen. Aber stets bleibt die Herrschaft beschränkt. Alles, was man kann, kann man nur mit Hilfe der natürlichen Kräfte und Materialien. Die Natur mit bloßen Worten, mit einem »es werde!« unbeschränkt beherrschen wollen, kann nur dem Phantasten einfallen. Wie Kinder und Naturvölker unbeschränkt herrschen, so möchten unsere kindischen Gelehrten unbeschränkt erkennen. »Das System des Begnügens mit der gegebenen Welt«, meint Lange, »steht im Widerspruch mit den Einheitsbestrebungen der Vernunft, mit Kunst, Poesie und Religion, in welchen der Trieb liegt, sich über die Grenzen der Erfahrung hinauszuschwingen.« – Nun sind Kunst und Poesie als Phantasien bekannt, wenn auch als schöne und anbetungswürdige, und wenn die Religion und der metaphysische Trieb nicht mehr sein und in dieselbe Kategorie gehören wollen, so hat kein Verständiger etwas dagegen einzuwenden. Der Mensch mag den metaphysischen Trieb, über alle Grenzen zu schnappen, wirklich haben, wenn er nur einsieht, daß es ein unwissenschaftlicher[136] Trieb ist. Das Licht der Vernunft hat durchaus seine Grenzen, wie alle Dinge, wie Holz und Stroh, wie Technik und Verstand, also verständige Grenzen, die jeder Teil haben muß, wenn er keine Narretei sein will.

Wie der Mensch alles machen kann, so kann er auch alles erkennen – innerhalb verständiger Grenzen. Wir können nicht schaffen wie der liebe Gott, der die Welt aus Nichts gemacht. Wir müssen uns am Gegebenen, an den vorhandenen Kräften und Stoffen halten und ihren Eigenschaften Rechnung tragen; sie lenken und leiten, sie formen, nennen wir schaffen; die vorhandenen Materialien in Ordnung und Regel bringen, generalisieren oder klassifizieren, die mathematischen Formeln der natürlichen Wandlungen abstrahieren – das nennen wir erkennen, begreifen, erklären.

Demnach ist unsere ganze geistige Erleuchtung eine formelle Geschichte, eine mechanische Wirtschaft. Wie in der technischen Produktion die Naturerscheinungen leiblich verwandelt, so sollen in der Wissenschaft die Naturwandlungen geistig erscheinen. Wie die Produktion das überspannte Schöpfungsbedürfnis, so läßt die Wissenschaft oder das »Naturerkennen« das überspannte Kausalitätsbedürfnis im letzten Grunde unbefriedigt. Aber sowenig ein verständiger Mensch darüber lamentieren wird, daß wir zum Schaffen ewig Materialien bedürfen und aus Nichts und frommen Wünschen nichts machen können, sowenig wird derjenige, der Einsicht in die Natur des Erkennens hat, damit über die Erfahrungen hinausfliegen wollen. Zum Erkennen oder Erklären bedürfen wir, wie zum Schaffen, Material. Demnach kann keine Erkenntnis Aufklärung geben, wo das Material herkommt oder anfängt. Die Erscheinungswelt oder das Material ist das Primitive, das Substantielle, das weder Anfang, Ende noch Herkommen hat. Das Material ist da, und das Dasein ist materiell (im weiteren Sinne des Wortes) und das menschliche Erkenntnisvermögen oder Bewußtsein ist ein Teil dieses materiellen Daseins, welches wie alle anderen[137] Teile nur ein bestimmte, begrenzte Funktion, das Naturerkennen, ausüben kann.

Warum sollte nicht, wie das Erkennen, so auch das Blech, die Bretter und das Rindfleisch verhimmelt werden? Die Aufgabe der Radikalen besteht in dem Nachweis, daß auch der letzte subtilste metaphysische Rest von »etwas Höherem« mit dem abgeschmacktesten Aberglauben in dieselbe Rumpelkammer gehört.

Formen, Veränderungen oder Wandelbarkeiten bietet die Welt. Wem das zu wenig ist, der sucht Ewiges über den Sternen, wie die Religion, oder hinter den Erscheinungen, wie die spekulative Philosophie. Die »kritischen« Philosophen aber haben dunkel geahnt, daß das, was man sucht, ein Sparren ist, den die Bildung aus dem Menschenkopf zu entfernen hat. Die Forschung nach der Substanz haben sie deshalb aufgegeben und ihr Interesse dem Organ der Forschung, dem Erkenntnisvermögen zugewandt. Da hat man recht kritisch gearbeitet. Wenn vormals hinter jedem Busch und Strauch »etwas Höheres« stecken mußte, so ist das jetzt doch, wenigstens in den maßgebenden Kreisen, bis in die letzte Heimlichkeit, bis hinter die unerfindlichen Atome und bis hinter das noch heimlichere Bewußtsein verdrängt.

Dort sind die »Grenzen unseres Erkennens«, und dort steckt der Sparren. Sich davon zu befreien, ist um soviel schwerer, weil seit den Forderungen des vierten Standes unsere offiziellen Gelehrten angewiesen sind, eine konservative, reaktionäre Politik zu verfolgen.

Wenn nun die zeitgenössischen Philosophen mit dem Geschichtschreiber des Materialismus (F. A. Lange) an der Spitze herankommen und sagen, die Welt bietet Erscheinungen, das sind die Objekte des Naturerkennens; letzteres hat es mit den Veränderungen zu tun, wir aber suchen an einer höheren Erkenntnis oder an ewigen, wesenhaften Objekten, dann ist klar, daß es mystizistisch Unersättliche sind, welche mit sämtlichen Körnern eines Sandhaufens sich nicht begnügen[138] wollen, sondern hinter allen Körnern extra noch einen körnerlosen Sandhaufen suchen.

Wer mit dem Jammertal der Erscheinungswelt so durchaus zerfallen ist, mag sich mit der unsterblichen Seele in einen feurigen Wagen setzen und gen Himmel fahren. Wer aber hier bleiben und an das Heil des wissenschaftlichen Naturerkennens glauben will, soll sich mit der materialistischen Logik vertraut machen. Da lautet

§ 1: Das intellektuelle Reich ist nur von dieser Welt.

§ 2: Die Operation, welche wir Erkennen, Begreifen, Erklären nennen, soll und kann nichts als diese Welt des sinnlichen, zusammenhängenden Daseins klassifizieren nach Gattungen und Arten, sie soll und kann nichts als das formale Naturerkennen praktizieren. Anderes Erkennen gibt es nicht.

Aber dann kommt der »metaphysische Trieb«, der mit dem »formalen Erkennen« sich nicht begnügt und nun, er weiß selbst nicht wie, erkennen will. Ihm ist es nicht genug, mit dem Verstand die Erfahrungen zu klassifizieren. Was die Naturforschung Wissenschaft nennt, ist ihm nur ein Surrogat, ein armes, begrenztes Wissen; er verlangt nach unbegrenzter Vergeistigung, so daß die Dinge rein aufgehen sollen im Verständnis. Warum will denn der liebe Trieb nicht einsehen, daß er nur eine überspannte Forderung stellt? Die Welt geht nicht aus dem Spiritus hervor, sondern umgekehrt. Das Sein ist keine Art des Intellekts, sondern der Intellekt eine Art des empirischen Daseins. Dasein ist das Absolute, das überall und ewig ist; das Denken nur eine besondere beschränkte Form desselben.

Der Trieb, über die Erscheinungen hinauszugehen bis zur Wahrheit und zum Wesen, ist wissenschaftlicher Trieb. Aber er darf nicht überschnappen; er muß seine Grenzen kennen. Er soll seine Wahrheiten und Wesenheiten nicht separieren von der Erscheinung; er darf nur nach subjektiven Objekten, nach relativer Wahrheit forschen.


[139]

X.
Das Akquisit der Philosophie.

Das »Akquisit der Philosophie« ist 1887 – in Dietzgens letztem Lebensjahr – in Chicago geschrieben. In der Vorrede erzählt unser Autor, wie er in den vierziger Jahren aus der Lektüre von Zeitungen und Schriften der extremen Lager – der preußischen Reaktion und der freidenkerischen Revolutionäre – zur Erkenntnis kam, daß »der Geist beider Heerlager aus dem Akquisit der Philosophie, zunächst aus der Hegelschen Schule stammte«. Damit wollte er wohl sagen, daß die fundamentalen Prämissen der Gerlach, Stahl und Leo das historisch Gewordene als Bleibendes zur Voraussetzung hatten, während dasselbe für Feuerbach, Marx und Engels etwas fortschreitend Veränderliches war; das eine wie das andere läßt sich »hegelisch« etikettieren, je nachdem man es mit dem Sein oder dem Werden hält; in Hegel ist Raum für Konservativismus wie für Fortschritt.

Nach Dietzgens Vorhaben sollte das »Akquisit der Philosophie« eine verbesserte Auflage des »Wesens der Kopfarbeit« sein – alter Wein in einem neuen Schlauch; darin hat er sich wohl getäuscht; das »Akquisit« ist zwar eine Fortsetzung und Ergänzung, aber kein Ersatz seines ersten Werkes, das vielmehr sein Hauptwerk geblieben.

Im ersten Abschnitt »Die Erkenntnis als Spezialobjekt« (der Philosophie) sagt er: Im griechischen Altertum hatte das Wort Philosophie (Weisheitsliebe) eine andere Bedeutung als heute. Bei den Griechen war es gänzlich unentschieden, ob der Philosoph (Weisheitsliebender) Mathematiker oder Astronom, ob er sich die Arzneiwissenschaft, die Redekunst oder die Lebenskunst zum Gegenstand seiner Forschungen machte. Die Fächer lagen da ineinandergerollt wie der Embryo[140] im Mutterschoß. Als die Menschheit noch wenig wußte, konnte man schon ein Weiser sein; aber heute muß man sich spezialisieren, muß man sich einer speziellen Wissenschaft befleißigen, weil das Forschungsgebiet zu reich geworden ist. Der Philosoph ist heute kein Weiser mehr, sondern ein Spezialist.

Die Philosophie hat auch heute noch die Erkenntnis zu ihrem Gegenstand; aber nicht mehr die unbestimmte, welche alles erkennen will, sondern – wie soll ich es populär ausdrücken? – sie hat die Erkenntnis als solche, die Methode der Erkenntnis zu ihrem Zwecke erwählt, sie will erkennen, wie es gemacht wird, andere Objekte mit dem Lichte des Verstandes zu durchleuchten. Um es recht deutlich zu sagen: nicht mehr die Erkenntnis, die alles wissen will, wie zur Zeit des Sokrates, sondern der Verstand als Spezialobjekt, das Denk- oder Erkenntnisvermögen ist zum Forschungsgegenstand der Philosophie geworden.

Die heutige Erkenntnistheorie ist eine wirkliche Wissenschaft. Die Altväter zum Beispiel suchten die Erkenntnis à la Sokrates und Platon, mit Verachtung der äußeren Erfahrung, in den Eingeweiden des Menschenkopfes. Sie glaubten durch Grübeln die Wahrheit zu erforschen.

Schon Aristoteles hatte mehr Sinn für die äußere Welt.

Mit der alten Kultur ging natürlich auch die alte Philosophie unter, bis sie vor einigen hundert Jahren, im Anfang der neueren Zeit, endlich wieder frisch auflebte.

Von Aristoteles bis Bacon hat die Philosophie geschlafen, wenigstens kein merkliches Akquisit gefördert. Erst nachdem die gesamte Kultur die menschliche Erkenntnis so weit gefördert hat, daß nunmehr das intellektuelle Licht von allen Disziplinen der Wissenschaft ausstrahlt, wird sich die Philosophie ihres Spezialobjektes bewußt und vermag ihr Akquisit aus dem Wuste der Vergangenheit herauszuschälen.

Das Akquisit der Philosophie, die erforschte Erkenntnis oder das erforschte Erkenntnisvermögen, ist daher neben den[141] Gütern der Wissenschaft ein ebenso wertvoller Schatz der Menschheit wie die Methodik der modernen Produktion neben den materiellen Gütern des Nationalreichtums.

Im zweiten Abschnitt wird Dietzgens aus den früheren Schriften bekannter Hauptlehrsatz »Das Erkenntnisvermögen hängt mit dem Universum verwandtschaftlich zusammen« erörtert:

Die Technik der Erkenntnis wurde von der gesamten Kulturbewegung zutage gefördert – als philosophisches Akquisit. Die gesamte Kulturbewegung hat den Philosophen auf die Strümpfe geholfen.

Die Geschichte der Philosophie ist ein saures Ringen mit der Frage: was ist und was tut, aus welchen Teilen besteht und welcher Natur ist die Erkenntnis oder Intelligenz, die Vernunft, der Verstand usw?

Das vornehmlichste Akquisit bei der Lösung dieses Problems ist die sich in unseren Tagen immer heller und präziser geltend machende Erkenntnis, daß die Natur des menschlichen Intellekts mit der Gesamtnatur von einer Gattung, von einer Art oder einem Geschlecht ist; der Menschengeist ein bestimmter, begrenzter Teil des unbegrenzten Kosmos, der Natur oder des Universums ist.

Wie ein Stück Eichenholz die zwieschlächtige Eigenschaft besitzt, neben seiner eichenen Spezialnatur nicht nur an der allgemeinen Holznatur, sondern auch an der unendlichen Allgemeinheit der Generalnatur teilzunehmen, so ist auch der Intellekt eine begrenzte Spezialität, welche zugleich die Eigenschaft besitzt, als ein Teil des Universums selbst universal zu sein und sich seiner und aller Universalität bewußt zu werden. Die unendliche universelle, kosmische Natur steckt im Intellekt, im menschlichen sowohl als im tierischen, wie sie im Eichenholz, in allen anderen Hölzern, in allen Stoffen und Kräften steckt. Die weltliche, monistische Natur, welche vergänglich und unvergänglich, begrenzt und unbegrenzt, speziell und generell zugleich ist, befindet sich in allem und[142] alles befindet sich in dieser Natur – die Erkenntnis oder das Vermögen der Erkenntnis macht davon keine Ausnahme.

»Inwiefern ist der Intellekt beschränkt und unbeschränkt?« lautet die Überschrift des dritten Abschnitts.

Die Erkenntnis ist ein Vermögen neben anderen, und alles, was neben anderem liegt, ist davon beschränkt und begrenzt. Wir können alles erkennen, aber wir können auch alles betasten, sehen, hören, riechen und schmecken; wir haben auch das Vermögen herumzuwandeln und dergleichen Vermögen noch mehr. Eine Kunst beschränkt die andere, und doch ist jede in ihrem Gebiet unbeschränkt. Die verschiedenen menschlichen Vermögen gehören zusammen und machen zusammen den menschlichen Reichtum aus.

Der Verstand des Menschen ist beschränkt, wie sein Gesicht beschränkt ist. Das Auge kann durch eine Glasscheibe hindurchsehen, aber nicht durch ein Brett; gleichwohl werden wir es für keine Beschränktheit irgendeines Auges halten, wenn es die Bretter nicht durchschauen kann. Diese drastischen Gleichnisse sind zeitgemäß, weil es gelehrte Herren gibt, die mit der bedächtigsten Miene von der Welt den Finger an die Nase legen und auf die Beschränktheit unseres Intellekts in dem Sinne aufmerksam machen, als sei das Erkennen, das auf dieser Erde wissenschaftlich produziert wird, nur so ein nominelles, aber gar kein eigentliches Wissen und Kennen. Der menschliche Intellekt wird so zum »Surrogat« irgendeines »höheren« Intellekts herabgewürdigt, der ahnungsvoll in dem kleinen Kopfe eines Heinzelmännchens oder in dem großen eines allmächtigen Wolkenschiebers nicht entdeckt, aber »geglaubt« werden soll. Jetzt ist der Intellekt erkannt als eine begrenzte, beschränkte, natürliche Erscheinung, Kraft oder Potenz, welche nicht unermeßlich, wohl aber gleich allen anderen Kräften und Stoffen ein Teil des Unermeßlichen, Ewigen und Unbegrenzten ist.

Die Kenntnis des Universums, des Unbegrenzten ist uns sowohl angeboren als durch Erfahrung gegeben. Angeboren[143] ist dem Menschen diese Kenntnis, ähnlich wie ihm die Sprache angeboren ist, nämlich in der Keimform, und die Erfahrung gibt uns das Unbegrenzte in negativer Weise; wir erfahren nirgends und von keinem Dinge Anfang oder Ende. Ganz im Gegenteil hat uns die Erfahrung positiv darüber aufgeklärt, daß alle vermeintlichen Anfänge und Enden nur Zusammenhänge des unendlichen, unermeßlichen, unerschöpflichen und unauskenntlichen Universums sind. Gegenüber dem kosmischen Reichtum ist der Intellekt allerdings ein armer Schlucker, was ihn nicht hindert, andererseits das vollkommenste Instrument zu sein, um die begrenzten Erscheinungen des unbegrenzten Naturwesens in klarster und deutlichster Weise konterfeien zu können.

Das Thema wird im vierten Abschnitt »Von der Allgemeinheit der Natur« fortgesetzt:

Was sich in der Natur widerspricht, soll unser Kopf auflösen. Wenn er so viel Selbstkenntnis besitzt, zu wissen, daß er keine Ausnahme von der allgemeinen Natur, sondern ein natürliches Stückchen desselben Stoffes ist (trotzdem er sich »Geist« nennt), so weiß er und muß er zugleich wissen, daß seine Klarheit sich von der natürlichen Verworrenheit, daß sich die Lösung des Rätsels vom Rätsel selbst nur ganz mäßig unterscheiden kann. Nur durch mäßige Unterscheidung lösen sich die Widersprüche, nur durch die erkenntnistheoretische Wissenschaft, daß überschwengliche Grundverschiedenheiten eben nur Überschwenglichkeiten sind.

Behufs dessen müssen wir uns vergegenwärtigen, daß es nur ein Wesen gibt und alle anderen sogenannten Wesen als unwesentliche Formen des Generalwesens zu erkennen sind, welches letztere mit den Namen Natur oder Universum bezeichnet wird.

Ursprünglich also zu Übertreibungen im Unterscheiden geneigt, hat man das menschliche Erkenntnisvermögen für ein Wesen von anderer Natur angesehen als die natürlichen Wesen, welche neben und außer dem Intellekt existieren. Nun[144] ist aber zu bemerken, daß jedes Stückchen der Natur ein »anderes« individuelles Naturstückchen ist, und ferner, daß jeder andere und anders geartete individuelle Teil trotzdem und zugleich auch kein anderer, sondern ein gleichartiges Stück der Generalnatur ist. Die Sache ist gegenseitig: das allgemeine Naturwesen besteht nur mittels der unendlich vielen individuellen Spezialitäten, und diese wieder bestehen nur in dem, mit dem und durch das allgemeine kosmische Gesamtwesen.

Unser Intellekt ist ein Teil des Unerschöpflichen und hat also auch teil an seiner unerschöpflichen Natur. Der Naturteil, welcher den Namen Intellekt führt, ist nur insofern beschränkt, wie der Teil kleiner ist als das Ganze.

Der fünfte Abschnitt »Wie das Erkenntnisvermögen ein Stück der Menschenseele ist« knüpft an die Theorie des Psychophysikers Fechner an, nach der alle leblosen wie lebenden Wesen eine Seele haben:

Fechner ist ein Dichter, und der Dichter sieht Ähnlichkeiten, die der nüchterne Kopf nicht sieht; dabei müssen wir aber zugeben, wie der nüchterne Kopf, der überall nur die Unterschiede sieht, ein sehr erbärmlicher Kopf ist.

Wenn der Unterschied zwischen Menschen und Steinen nicht so groß ist, daß solch ein genialer Kopf wie Fechner sie als gemeinsam beseelt mit Fug und Recht darstellen kann, so wird doch auch – was Fechner noch entgangen – der Unterschied zwischen Leib und Seele nicht so groß sein, daß gar keine Ähnlichkeit, keine Gemeinschaft stattfände. Ist die Luft und der Duft nicht ein ätherischer Leib?

Alle Dinge sind so ähnlich, daß ein guter Dichter aus allem alles machen kann. Kann das vielleicht auch die Naturwissenschaft? Ah! Diese Herren sind auch auf dem besten Wege. Sie machen das Trockene flüssig und das Flüssige gasförmig, machen aus der Schwerkraft Wärme und aus der Wärme wieder Triebkraft; aber dabei vergessen sie nicht den Unterschied der Dinge, wie es unserem Fechner passiert ist.

[145]

Es ist nicht genug, zu wissen, daß der Leib beseelt und die Seele beleibt ist, nicht genug, zu wissen, daß alles eine Seele hat, es wollen auch die Menschen-, Tier-, Pflanzen- usw. Seelen in ihren Einzelheiten und Eigentümlichkeiten gehörig getrennt, eingeteilt, markiert und unterschieden sein; man hüte sich nur, den Unterschied zu übertreiben und exorbitant zu machen, damit er nicht sinnlos werde.

Wir machen es uns nicht zur Aufgabe, der Allerweltsseelentheorie weiter zu folgen. Fechner erklärt selbst: »Von vornherein ist zu gestehen, die ganze Seelenfrage ist und bleibt eine Glaubensfrage.«

Jedoch steht seit Cartesius fest, wenigstens in der philosophischen Welt, daß das Bewußtsein der menschlichen Seele von ihrem Dasein das Sicherste ist, das sie weiß. Die positivste Wissenschaft von der Welt ist die erfahrungsmäßige Wahrnehmung der denkenden Seele von sich selbst. Dieses Subjekt ist das evidenteste Objekt, das sein kann, und das Leben und Treiben dieses Seelenstückchens, das sich Bewußtsein oder Erkenntnisvermögen nennt, trefflich geschildert zu haben, ist das Akquisit der Philosophie.

Hieran reiht sich als sechster Abschnitt das Thema »Dem Bewußtsein ist nicht nur die Möglichkeit oder das Vermögen überhaupt zu wissen, sondern auch das Bewußtsein von der Universalität der Generalnatur angeboren«.

Im geschichtlichen Verlauf der Philosophie ist namentlich viel Disput darüber gewesen, wie unsere Kenntnisse zustande kommen, ob und was davon angeboren und was durch Erfahrung erworben ist. Ohne angeborene Fähigkeit war auch mit aller Erfahrung keine Kenntnis zu sammeln, und ohne alle Erfahrung mußte das beste Vermögen leer bleiben. Die zustande gebrachte Wissenschaft auf allen Gebieten ist also die Folge einer Wechselwirkung von Subjekt und Objekt.

Ohne daß etwas Objektives zu sehen vorhanden wäre, könnte auch kein subjektives Gesichtsvermögen da sein. Ein Gesichtsvermögen besitzen, bedeutet zugleich die faktische Ausübung[146] der Gesichtsfunktion. Man hat nicht das Vermögen zu sehen, ohne daß man etwas sieht. Zwar läßt sich beides trennen, doch nur in der Theorie, nicht in der Praxis, und es ist und soll die theoretische Trennung von dem Bewußtsein begleitet sein, daß das getrennte Vermögen nur ein von der Ausübung abgeleiteter Begriff ist. Vermögen und Ausübung stecken ineinander und gehören zusammen.

Der Mensch bekommt erst ein Bewußtsein, ein Vermögen zu wissen, nachdem er etwas weiß, und es wächst die Kraft mit der Ausübung.

Wenn wir jetzt behaupten, daß der Begriff des Universums ein angeborener Begriff sei, darf der geneigte Leser nicht schließen, daß wir deshalb das alte Vorurteil pflegten, wonach der Menschenverstand oder die Vernunft gleichsam eine Büchse sei, mit Begriffen gefüllt über das Wahre, Schöne, Gute und dergleichen Dinge. Nein, der Intellekt kann seine Begriffe, Vorstellungen, Urteile usw. nur selbsttätig durch Produktion hervorbringen, wozu die anderweitige Welt das Material hergeben muß; aber dies Produzieren setzt die angeborene Fähigkeit dazu voraus. Das Bewußtsein, das Wissen vom Sein, muß gegeben sein, bevor ein anderes spezielleres Wissen praktiziert werden kann.

Das Bewußtsein ist per se das Bewußtsein des Grenzenlosen. Das dem Menschen angeborene Bewußtsein ist die Wissenschaft des unbegrenzten Daseins. Wenn ich weiß, daß ich da bin, weiß ich mich als ein Stück des Daseins. Daß nun dies Dasein, diese Welt, wovon ich wie jedes andere Partikelchen nur ein Stück bin, eine unbegrenzte Welt sein muß, werde ich allerdings erst gewahr, wenn ich den Begriff des Seins mit einem gewitzigten Denkinstrument analysiere. Begriffs-, Erkenntnis-, Denkvermögen heißt vor allem das Vermögen, den Universalbegriff zu fassen. Der Intellekt kann keinen Begriff bilden, keine Vorstellung haben, denen nicht die Vorstellung oder der Begriff des Universums mehr oder weniger dunkel oder hell zugrunde liegt.

[147]

Daß unserem Denkvermögen die Denkfähigkeit, die universale, angeboren, ist doch keineswegs unbegreiflicher als auch, daß die Kreise rund, zwei Berge mit einem zwischenliegenden Tale, Wasser flüssig und Feuer brennend auf die Welt gekommen. Alle Dinge besitzen gewisse Beschaffenheit per se; sie sind damit geboren. Bedarf das noch einer Erklärung? Die Blumen, welche den Pflanzen mit der Zeit, und die Kräfte und Weisheit, welche den Menschen mit den Jahren anwachsen, sind nicht erklärlicher als die angeborenen Eigenschaften, und die angeborenen nicht wunderbarer als die später erlangten. Die beste Erklärung vermag den Wundern der Natur nicht die natürliche Wunderbarkeit zu nehmen.

Ich und mancher meiner Leser finden in unseren Köpfen das tatsächliche Bewußtsein, daß die Generalnatur, wovon der Intellekt ein Stück ist, eine endlose, unbegrenzte Natur ist. Diesen Begriff von der Universalität nenne ich »angeboren«, obgleich er ein erworbener ist. Ich versuche nämlich beim Leser geltend zu machen, wie der Unterschied, den man gemeiniglich zwischen angeborenen und erworbenen Eigenschaften, Fähigkeiten und Besitzungen macht, kein so extravaganter ist, daß nicht das Angeborene der Erwerbung bedürfe und das Erworbene eine angeborene Natur voraussetze.

Die Philosophie hat sich darum bemüht, den Intellekt zu erkennen. Bei der Darstellung ihres Akquisits haben wir zu erläutern, daß die Erkenntnis, die philosophische sowohl als jede andere, nicht aus dem isolierten Erkenntnisvermögen, sondern aus der Gesamtnatur entspringt. Die Gebärmutter unserer Kenntnisse und Erkenntnisse ist nicht nur im Menschenkopf, vielmehr in der Gesamtwelt zu suchen, welche nicht nur Universum heißt, sondern auch universal ist.

Das menschliche Bewußtsein ist zunächst ein individuelles. Jedes menschliche Individuum hat sein eigenes. Jedoch ist es eine Eigentümlichkeit meines, deines und jedes anderen Bewußtseins, nicht nur das Bewußtsein des betreffenden[148] Individuums, sondern das Generalbewußtsein des Universums zu sein – wenigstens seinem Beruf und der Möglichkeit nach. Nicht jedes Individuum hat sich die Universalität der Generalnatur klar gemacht – woher käme sonst der vertrackte Dualismus? Woher die Notwendigkeit, daß erst die bändereiche Philosophie uns belehren mußte, wie eine Grenze, ein Ding oder eine Welt, außerhalb der universalen, ein unsinniger Gedanke, ein Gedanke ist, der sich mit Sinn und Verstand gar nicht verträgt? Wir mögen deshalb wohl die positive Erklärung abgeben, daß unser Bewußtsein, unser Intellekt nur »sozusagen« der unserige, eigentlich und wahrhaft jedoch ein Bewußtsein, ein Intellekt ist, welcher der universellen Welt oder Generalnatur angehört.

Wenn nicht zu leugnen, daß Sonne, Mond und Sterne eine Zubehör der endlosen, unermeßlichen Welt sind, so ist diese Eigenschaft doch auch unserem Bewußtsein nicht abzusprechen. Da also dies intellektuelle Vermögen dem Unermeßlichen angehört und sein Kind ist, dürften wir es nicht wunderlich finden, daß dies der Universalität angehörige Begriffsvermögen mit der Möglichkeit des Universalbegriffs zur Welt kommt. Und wer das nicht mehr wunderlich findet, muß es doch wohl erklärlich finden, muß finden, daß diese Tatsache des Bewußtseins erklärt ist.

In logischem Anschluß hieran handelt der siebte Abschnitt »von der Verwandtschaft, auch Identität genannt, zwischen Geist und Natur«.

»Es gibt ein Naturgesetz der Analogie, welches erklärt, daß alle Dinge, die das Universum vereinigt, zu derselben Familie gehören, daß sie durch die Verwandtschaft verbunden sind, welche die größte Mannigfaltigkeit individueller Unterschiede verträgt und selbst durch den Abstand der Extreme nicht aufgehoben wird.« Wenn wir diese Worte bis in ihre letzte Konsequenz begreifen, so ist damit das bisherige Akquisit der Philosophie erkannt. Sie belehren uns, wie wir den Intellekt gebrauchen sollen, um uns ein treffliches Bild vom Universum[149] zu machen. Wenn alle Dinge verwandt, alle, ohne Ausnahme, Sprößlinge des Universums sind, so müssen doch auch der Geist und die Materie zwei Ellen Zeug von einem Stoffe sein; es darf auch der Unterschied zwischen dem menschlichen Erkennen und anderen menschlichen und natürlichen Funktionen zu keinem überschwenglichen, keinem extravaganten, keinem toto coelo-Unterschied aufgebauscht werden.

Philosophie nennt sich die Bemühung, den menschlichen Denkprozeß zu erhellen. Diese Arbeit ist unsagbar erschwert worden durch das unvermeidliche Mißverständnis der soeben beschriebenen universalen Verwandtschaft. Vor allem sollte, so verlangen die Überschwenglichen, das Denken und dessen Produkt, der Gedanke, nicht in die familiäre Physik, nicht in die physische Natur gehören, sondern das Geschöpf einer anderen Natur sein, welche den mysteriösen Namen Metaphysik führt.

Auch die Materialisten sind einseitig versessen auf ihre »Materie« wie die Idealisten auf ihre »Idee«. Streit und Zank ist Wirrsal, nur Friede bringt Licht. Der Gegensatz zwischen dem Materiellen und Ideellen findet in dem Akquisit der Philosophie seine Versöhnung, welche lehrt, daß wir in allen Unterscheidungen mäßig sein müssen, weil weder unser Denkinstrument, noch die anderweitige Natur zu extravaganten Unterschieden berechtigt. Um Licht in die Streitfrage zu bringen, bedarf es nur der Einsicht, daß die Ideen, welche die Natur in den Menschenköpfen entwickelt, wenn auch kein Material für unsere Hände, so doch ein Material für unsere Erkenntnis sind.

Stoffe, Kräfte, Ideen, Vorstellungen, Begriffe, Urteile, Schlüsse, Kenntnisse und Erkenntnisse wollen gemäß der Aufklärung, welche die Philosophie zutage förderte, als Verschiedenheiten oder Mannigfaltigkeiten einer monistischen Gattung erkannt sein. Die Verschiedenheit dieser Dinge widerspricht ebensowenig der Einheit, als die Einheit der Verschiedenheit widerspricht.

[150]

Um den Wurm und den Elefanten, das niedrigste und das höchste Tier, Vegetabilisches und Animalisches, Anorganisches und Organisches als Glieder einer Art oder Gattung verständnisinnig zu verbinden, ist die Allmählichkeit, die Stufenordnung der Natur, sind die Übergänge, die Mitteldinge und Mittelbegriffe vornehmlich zu beachten. Die Embryologie, welche zeigt, wie das animalische Leben des höchsten Tieres die Stufen der Tiergattung durchläuft, hat das Verständnis der gemeinschaftlichen Art aller Tiere besonders gefördert.

Was Darwin für die Tierwelt begreifen lehrte, daß es innerhalb derselben keine grundverschiedenen Arten gebe, lehrt die Philosophie in betreff des Kosmos. Die Erkenntnis des letzteren wird gehindert durch die Gewohnheit, zwischen Materie und Geist einen unmäßigen Unterschied zu machen.

Vorstehende Lehre erhält einen prägnanten Ausdruck im Titel des achten Abschnitts »Die Erkenntnis ist materiell«.

Gemäß der neueren Naturwissenschaft löst sich das ganze Dasein in Bewegung auf. So viel ist ohnehin längst bekannt und notorisch, daß selbst die Felsen nicht stillstehen, sondern immer in Tätigkeit, im Entstehen und Vergehen sind.

Die Erkenntnis, der Intellekt, ist ein tätiger Gegenstand, eine gegenständliche Tätigkeit, wie der Sonnenschein, wie der Wasserfluß, wie der wachsende Baum, wie der verwitternde Stein oder irgendein anderes Naturphänomen. Auch ist die Erkenntnis, ist das Denken, welches im Menschenkopf, gleichviel ob willkürlich oder unwillkürlich, vorgeht, eine Wahrnehmung, eine Wahrnehmung von ebenso unzweifelhafter Gewißheit, als die allermateriellste. Daß wir die erkennende, denkende, intellektuelle Tätigkeit durch den inneren Sinn und nicht durch den äußeren wahrnehmen, kann unsere Behauptung von der sinnlichen Wahrnehmbarkeit der Sache nicht im geringsten erschüttern. Ob der Stein äußerlich vorhanden und das Denken innerlich – was ändert diese kleine Differenz an der unverrückbaren Tatsache, daß beide Wahrnehmungen[151] gleicher Art, und zwar sinnlicher Art sind? Warum soll nicht die Denktätigkeit mit der Herztätigkeit in dieselbe Kategorie gehören? Und wenn der Herzschlag auch ein innerer und der Zungenschlag der Nachtigall ein äußerer, was kann uns hindern, diese beiden so sehr differenten Schläge unter der höheren Einheit natürlicher oder materieller Vorgänge zusammenzufassen? Wenn also die Herzfunktion mit dem Namen einer materiellen beehrt werden darf, warum nicht die Hirnfunktion?[14]

Nicht nur Tastbarkeiten sind »Dinge«, auch Sonnenstrahlen und Blumendüfte gehören in diese Kategorie, und Erkenntnisse nicht minder. Aber alle diese »Dinge« sind nur relative Dinge, insofern sie Eigenschaften des Einen und Absoluten sind, welches das einzige Ding, das »Ding an sich« ist, einem jeden wohlbekannt unter dem Namen Universum oder Kosmos.

Dietzgen betrachtet nun im neunten Abschnitt, um sich mit der schulmäßigen Logik abzufinden, die »vier logischen Grundgesetze«, das Gesetz der Identität, des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten und des zureichenden Grundes. Er bedient sich hierzu eines Lehrbuchs des berühmten Wiener Pädagogen Dittes, des damals freigeistigsten unter den führenden Schulmännern deutscher Zunge. Zu den traditionellen »vier logischen Grundgesetzen« bemerkt Dietzgen unter anderem:

Wenn das erste Gesetz lehrt: die Dinge sind sich selbst gleich, so lehrt nun die Dialektik in ihrem ersten Paragraph: die Dinge sind nicht nur sich selbst gleich und einerlei vom Anfang bis zum Ende, sondern haben auch die widerspruchvolle Natur, einerlei und doch durchaus mannigfaltig zu sein. Insofern es ein Denkgesetz ist, daß wir uns mittels des Gedankens ein möglichst treffliches Bild von den Dingen machen, müssen wir uns auch von dem Denkgesetz belehren lassen, wie alle Dinge und Vorgänge ohne Ausnahme keine[152] von jedem Standpunkt aus sich gleichbleibende Dinge sind, sondern der Farbe jener Seide gleichen, die, obschon sie sich selbst gleich oder einerlei bleibt, dennoch sehr ungleich in den verschiedensten Schattierungen schillert. Die Dinge, wozu das denkende Ding oder der menschliche Intellekt mitgehört, sind sowenig nur einerlei, von Anfang bis Ende, daß sie in der Tat und Wahrheit gar keinen Anfang und kein Ende haben, sondern als Naturerscheinungen, als Erscheinungen der endlosen Natur scheinen sie nur Anfang und Ende zu haben, während es in Wahrheit nur Verwandlungen sind, die zeitweise aus dem Unendlichen auftauchen und wieder darin verschwinden.

Die anfang- und endlose natürliche Wahrheit oder wahre Natur ist so widerspruchvoll beschaffen, daß sie nur in Erscheinungen sich äußert, welche dennoch durchaus wahr sind. Der alten Logik erscheint dieser Widerspruch unsinnig. Sie steift sich auf ihr erstes, zweites und drittes Gesetz, auf ihre Einerleiheit, ihre Widerspruchlosigkeit und auf das ausgeschlossene Dritte, welches entweder krumm oder gerade, entweder kalt oder warm sein muß und alles Dazwischenliegende ausschließt. Sie hat recht! Im Hausgebrauch muß man mit Gedanken und Worten so entschieden verfahren. Jedoch ist es zugleich zweckmäßig, sich vom Akquisit der Philosophie belehren zu lassen, wie es in der Wirklichkeit und Wahrheit nicht so exakt, nicht so ganz idealiter zugeht. Die logischen Gesetze denken von den Gedanken und ihren Formen und Anwendungen ganz richtig; aber sie erschöpfen das Richtige des Denkens und seiner Gedanken nicht; es entgeht ihnen das Bewußtsein von der Unerschöpflichkeit aller natürlichen Schöpfungen, wozu das Objekt der Logik, das menschliche Erkenntnisvermögen mitgehört. Dies Objekt ist nicht vom Himmel gefallen, sondern ist ein endlicher Teil des Unendlichen, welcher tatsächlich die widerspruchvolle Natur besitzt, in, mit und an seinem besonderen logischen Naturell das allgemeine Naturwesen zu haben, welches über[153] alle Logik erhaben ist. Die unendliche Natursubstanz ist ein durchaus bewegliches Element, darin alles Feste auftaucht und untergeht und deshalb wohl vorübergehend etwas Festes und zugleich schließlich doch nichts Festes ist.

Erwägen wir nun noch kurz das vierte Grundgesetz der Logik, demnach alles und jedes seinen zureichenden Grund haben muß. Auch dieses Gesetz ist wohl achtbar und ehrenswert; aber dennoch sehr unzulänglich, indem zu der Frage, wie wir die Welt zu denken haben und wie das höchst entwickelte Denkvermögen beschaffen ist, nunmehr die Antwort gehört: die Welt, worin alles seinen zureichenden Grund hat, ist dennoch mitsamt dem Bewußtsein oder Denkvermögen, wie ein anfang- und endloses, so auch ein grundloses, das heißt ein in sich und durch sich selbst begründetes Wesen. Der Satz vom zureichenden Grunde gilt nur für die menschliche Bildmacherei. In unseren logischen Weltbildern muß alles seinen zureichenden Grund haben; das Original jedoch, der universale Kosmos hat keinen Grund, er ist sich selbst Grund und Folge, Ursache und Wirkung. Zu verstehen, daß alle Gründe auf dem Grundlosen fußen, ist eine erhebliche dialektische Kenntnis, welche den Grundsatz von der Notwendigkeit des zureichenden Grundes erst ins rechte Licht rückt.

Formaliter muß alles seine Ursache und seinen Grund haben; realiter jedoch hat jedes Ding nicht einen Grund, sondern unendlich viele Gründe. Nicht nur Vater und Mutter ist der Grund und die Ursache meines Daseins, sondern auch Groß- und Urgroßeltern, nebst der Luft, die sie geatmet, der Nahrung, die sie genossen, der Erde, auf der sie gewandelt, der Sonne, welche die Erde bescheint, usw. Kein Ding, kein Prozeß, keine Veränderung ist der zureichende Grund eines anderen, vielmehr begründet sich alles und jedes mittels des Universums, welches absolut ist.

Indem die alte Logik das Denken dem anderweitigen Sein gegenübersetzte, hat sie den Zusammenhang der Gegensätze vergessen, vergessen, wie das Denken als eine Form,[154] eine Art, eine Individualität ist, welches in die Gattung des Seins gehört, wie der Fisch in die Gattung des Fleisches, die Nacht in die Gattung des Tages, die Kunst in die Natur, das Wort zur Tat und der Tod zum Leben gehört.

Weil also die alte Logik mit ihren vier Grundsätzen zu borniert war, mußte von ihrer Fortentwicklung die Dialektik erzeugt werden, welche das Akquisit der Philosophie ist. Diese also erweiterte Denklehre begreift das Universum als das wahrhaft Universale oder Unendliche, worin alle Widersprüche im Mutterschoß der Versöhnung schlummern. Ob die neue Logik mit der alten einen Namen oder die aparte Benennung der Erkenntnistheorie oder Dialektik führen soll, ist ein Wortstreit, der einfach durch Opportunität zu entscheiden ist.

Die Abschnitte zehn und elf, »Die Funktion der Erkenntnis auf religiösem Gebiet« und »Die Kategorie der Ursache und Wirkung ist ein Hilfsmittel der Erkenntnis«, lehnen an Aussprüche des Psychologen Lazarus an, dessen Arbeiten (wie auch die von seinem Kollegen und Schwager Steinthal) Dietzgen sehr wertschätzte, weshalb er gegen manches Unzutreffende in Lazarus' Aussprüchen polemisierte. Doch von größerer Bedeutung ist für uns der zwölfte Abschnitt »Geist und Materie – was ist das Primäre?«

Das Akquisit der Philosophie gipfelt in dieser Erkenntnis, daß die Welt mannigfaltig und daß die Mannigfaltigkeit eins ist in ihrem gemeinschaftlichen weltlichen Naturell. Die Wissenschaften müssen uns ihre Objekte in dieser widerspruchvollen Weise darstellen, weil eben alle Dinge in diesem Widerspruche tatsächlich leben. Was die Museumszoologen und Herbariumsbotaniker auf dem räumlichen Gebiet der Tier- und Pflanzenwelt getan haben, akzeptieren die Darwinianer unter Zuziehung der zeitlichen Mannigfaltigkeit derselben Gebiete; die einen wie die anderen kategorisieren, klassifizieren, systematisieren. Dasselbe tun die Chemiker mit Kräften und Stoffen und Hegel mit den kategorischen Verhältnissen von Sein und Nichts, Quantität und Qualität, Substanz und[155] Akzidenz, Ding und Eigenschaft, Ursache und Wirkung usw. Er läßt alles ineinander überlaufen, werden, fließen, sich bewegen, und tut sehr recht daran. Die ganze Welt bewegt sich und gehört zusammen.

Was jedoch Hegel verfehlte und wir zusetzen, besteht in der weiter gewonnenen Einsicht, daß der Fluß und die Beweglichkeit der namhaft aufgeführten Denkkategorien nur ein Exempel ist für die notwendige Beweglichkeit und den Ineinanderfluß aller Gedanken und Begriffe, welche selbst nur ein Exempel und Abbild des universalen Lebens sind, sein sollen und wollen.

Die idealistischen Philosophen, die alle wesentlichen Beiträge zu dieser schließlichen Spezialkenntnis geliefert haben, sind doch alle noch mehr oder minder in dem Wahne befangen, der Denkprozeß sei der wahre Prozeß und das wahre Original, die Natur oder das materielle Universum, nur ein sekundäres Phänomen. Jetzt ist nun zu begreifen, daß der phänomenale kosmische Zusammenhang, die universale lebendige Welt, die Wahrheit und das Leben ist.

Die zwei folgenden Abschnitte – dreizehn und vierzehn – sind der Frage gewidmet, »Inwieweit die Zweifel an der Möglichkeit einer klaren und deutlichen Erkenntnis überwunden sind« und »Über den Unterschied zwischen zweifelhaften und evidenten Erkenntnissen«.

Ad 1 gelangt Dietzgen zum Resultat:

Das Universum ist da, und zu seinem Dasein gehört alles; nichts oder kein Ding ist davon ausgeschlossen, am wenigsten die Erkenntnis. Letztere ist also nicht nur möglich, sondern ein Faktum, welches dazu noch durch den Begriff des allervollkommensten Wesens bewiesen wird.

Das muß uns doch über den Zweifel der Kritiker und speziell auch über den Kantschen Kritizismus oder besser Dualismus hinweghelfen. Kant hat das Dogma von der Möglichkeit der Erkenntnis nicht so unbesehen hinnehmen, sondern untersuchen wollen. Er hat dann entdeckt, daß wir rechtmäßig[156] erkennen können unter der Bedingung, daß wir mit der Erkenntnis auf dem Felde der gemeinen Erfahrung bleiben, das heißt im physischen Universum, und nicht ins metaphysische Himmelreich abschweifen. Er hat aber nicht erkannt, daß die metaphysisch-himmlische Gegend, von der er abrät, zu unserer Zeit eine abgetane Sache sein würde.

Er läßt diese überschwengliche Möglichkeit noch bestehen und rät wohl ab, mit der Erkenntnis dorthin zu gehen, aber nicht, daß wir auch mit der Ahnung dort wegbleiben sollen. Kant haspelt zwischen dem »Ding als Erscheinung« und dem »Ding an sich«. Jenes ist irdisch und läßt sich erkennen, dies ist übermenschlich und darf geglaubt und geahnt werden. Mit dieser Lehre macht er wiederum die Erkenntnis, das Objekt der neueren Philosophie, zu einem problematischen Wesen, das uns auffordert, darüber weiter zu philosophieren.

Das ist geschehen, und ist es jetzt das Akquisit der Philosophie, »klar und deutlich« zu wissen und von der Erkenntnis zu erkennen, daß sie nicht nur ein Stück ist in dieser Welt der Erscheinungen, sondern ein wahres Stück der Generalwahrheit, welch letztere keine andere Wahrheit über sich noch neben sich hat und das allervollkommenste Wesen ist.

Ad 2. Um aus dem Erkenntnisproblem klug zu werden, müssen wir davon ablassen, den Blick auf einzelne Meinungen, Gedanken, Kenntnisse oder Erkenntnisse zu richten; wir müssen uns vielmehr den Erkenntnisprozeß im großen ganzen ansehen. Da gewahren wir die Entwicklung vom Zweifel zur Evidenz, von den irrigen zu wahren Erkenntnissen. Da gewahren wir aber auch, wie töricht es gewesen, von dem Gegensatz zwischen Wahrheit und Irrtum eine so überspannte Vorstellung gehabt zu haben.

Wer die Erkenntnis sucht, die wahre und evidente, findet sie nicht in Jerusalem, nicht in Jericho, auch nicht im Geiste; in keiner Einzelheit, sondern im Universum.

Da geht das Erkannte aus dem Unerkannten so allmählich und stufenweise hervor, daß gar kein Anfang zu ermitteln;[157] sie wird und erwächst, ist halb irrig und halb trefflich und wird evident und evidenter; aber sowenig es jemals eine absolut irrige, sowenig kann es jemals eine absolut wahre Erkenntnis geben; absolut, fest, unvergänglich und unerschütterlich ist nur das Weltganze, aber keine Spezialität.

Ein Schlußwort unseres Autors ist der Bejahung des Seins gewidmet:

Das Begreifen, das Vermögen zu begreifen, war der modernen Menschheit von abergläubischen Altvordern als Ding einer »anderen Welt« überkommen. Der Wahn einer »anderen Welt« jedoch ist ein metaphysischer Wahn, der den Begriff des Seienden in Mißhelligkeiten brachte.

Das philosophische Akquisit versichert und beweist uns, daß es nur eine Welt gibt, daß diese Welt der Inbegriff alles Seins ist, daß dies Dasein wohl unendlich viele Arten hat, aber alle Arten dennoch von einer gemeinsamen natürlichen Natur sind. So hat die Philosophie den Begriff des Seienden zu einem einhelligen Begriff gemacht und mit der metaphysischen Mißhelligkeit auch die Metaphysik überwunden.

Das Sein, das allgemeine, hat nur eine Qualität: die natürliche des allgemeinen Daseins. Zugleich aber ist diese Eigenschaft der Inbegriff aller besonderen Qualitäten. Wie der Begriff des Krautes alle Kräuter umfaßt, auch die Unkräuter, so umfaßt der Begriff des Seienden nicht nur alles, was ist, sondern auch, was nicht ist, was einstmals war und künftig sein wird.


[158]

XI.
Dietzgens pädagogische und Lebensweisheit.

Der dritte Band von Josef Dietzgens Sämtlichen Schriften führt den Titel »Erkenntnis und Wahrheit«, weil er eine erweiterte Ausgabe des gleichnamigen Buches ist, das Eugen Dietzgen im Jahre 1908 – zum zwanzigsten Todestag seines Vaters – erscheinen ließ; es ist eine Sammlung von Briefen, Zeitschriftartikeln und kleinen Aufsätzen vermischten, teils philosophischen, teils nationalökonomischen, teils feuilletonistischen Inhalts; ein anderer Teil ist speziell der Propaganda des Sozialismus gewidmet. (»Zehn Briefe über Sozialismus an eine Jugendfreundin«.) Eine auszugsweise Wiedergabe des dritten Bandes in der vorliegenden Publikation erübrigt sich, weil unseres Autors naturmonistische Denklehre und Weltanschauung, deren Verbreitung dieses Büchlein dienen soll, in den die ersten zwei Bände umfassenden Schriften enthalten und in den sie resümierenden Abschnitten dieses Buches dargelegt ist. Wer die ersten zwei Bände studiert hat, wird an den vermischten Schriften des dritten Bandes um so größeres Vergnügen finden, als die Lektüre desselben dem mit des Autors Philosophie nunmehr Vertrauten keine schwere Denkarbeit fortan auferlegt, sondern ihn befähigt, die Wirksamkeit von Josef Dietzgens Lehren in ihrer Anwendung auf das allgemeine Denkgebiet wie auf die Lebenspraxis, einschließlich der politischen Taktik, zu beobachten.

Wenn der Marxist Josef Dietzgen nationalökonomische Themata behandelt, über die soziale Frage spricht und über den Sozialismus, ist es naturgemäß etwas anderes und etwas mehr – zumindest durch die philosophische Beleuchtung –, als was der Nurmarxist zu geben hat, wenn ihm weder Poesie die Flügel beschwingt, noch Philosophie den Horizont erweitert. Der Monismus des Alls, der Universalzusammenhang,[159] wie ihn Dietzgen lehrt, ist bisher von der sozialdemokratischen Partei so gut wie gar nicht fruktifiziert worden, obwohl unser Autor am Schluß seiner Vorrede zum »Akquisit« ausdrücklich darauf hingewiesen hat, wie »der Zusammenhang und Ineinanderfluß der Dinge auch auf die Frage von >mein und dein< einen mächtigen und klärenden Bezug hat«. So vernachlässigte man bisher in der sozialdemokratischen Partei eins der ausgiebigsten Mittel zur Vertiefung sozialistischer Erkenntnis: die Übertragung der monistischen Lehre auf das soziale Gebiet, auf das Verhältnis der Menschen zueinander.

Kein Autor ist besser geeignet, als Dietzgen, Sozialisten zu Monisten – wenn sie es noch nicht sind – und aus Monisten Sozialisten zu machen. Letzteres gilt nicht zum wenigsten vom dritten Band, dessen sämtliche Stücke, was kaum besonders hervorgehoben zu werden braucht, in der Auffassung wie im Stil sich durch die Originalität, die unserem Autor überhaupt zu eigen ist, auszeichnen und Anregung zum Selbstdenken reichlichst bieten.

Als von einer in hervorragender Weise wertvollen Gabe darf hierbei die Rede sein von den »Privatbriefen Josef Dietzgens an seinen Sohn in Amerika« (1880 bis 1884), die den dritten Band eröffnen, nebst dem Geleitwort Eugen Dietzgens hierzu. Es ist anzunehmen, daß jeder, der für den Philosophen Josef Dietzgen Interesse gewonnen hat, sich freuen wird, daß ihm Gelegenheit geboten ist, den merkwürdigen Menschen etwas näher kennen zu lernen, aus dessen »Autodidaktenfeder« die unvergleichlich schönen und erhabenen Preisungen der Einheit des Alls geflossen sind. In Verbindung mit dem den ersten Band einleitenden Lebensabriß Josef Dietzgens durch seinen Sohn Eugen geben jene Privatbriefe des Vaters an ihn ein völlig klares Bild des seltenen Mannes, der seine Handwerker-Mußestunden der Lösung schwierigster philosophischer Probleme erfolgreich gewidmet hat; und sie zeigen uns nicht nur das unablässige Ringen[160] des Philosophen um die Erkenntnis, sondern auch den Menschen Josef Dietzgen und besonders ihn als Familienvater und Musterpädagogen; wir sehen, wie er seine und der Seinigen Existenzfrage ventiliert und sie in großzügiger Weise zu lösen versteht – kurz, einen Denker, den die Theorien nicht für die Praxis verdorben hatten.

Josef Dietzgen, der Arbeiterphilosoph, war dreimal in Amerika; von Juni 1849 bis Herbst 1851, von 1859 bis 1861 und von Ende Juni 1884 bis zu seinem am 15. April 1888 erfolgten Tode.

Im Frühjahr 1880 schickte er seinen ältesten Sohn Eugen, nachdem dieser mit dem Reifezeugnis für die Prima das Progymnasium seiner Heimat Siegburg absolviert hatte, als »Quartiermacher« für die Familie nach den Vereinigten Staaten. Der junge Mann wäre lieber daheim geblieben, um das Gymnasialabiturientenexamen zu machen, die Universität zu beziehen und Gymnasiallehrer zu werden. Der Vater aber riet ihm, nach Amerika auf »die Hochschule des Lebens« zu gehen; dort könnte er sich eine bessere Existenz gründen und zugleich die jüngeren Geschwister mitversorgen helfen, um deren Zukunft Josef Dietzgen sehr besorgt war, weil sein kleinbürgerliches Geschäft, eine Lohgerberei, von Jahr zu Jahr durch kapitalistische Konkurrenz uneinträglicher wurde. Eugen sollte in Amerika irgendeinen kaufmännischen oder technischen Erwerbszweig erlernen; in einigen Jahren wollte der Vater mit den anderen Kindern nachfolgen und ihn eventuell mit dem Rest seines Vermögens bei Begründung eines eigenen Geschäfts unterstützen.

Dieser Plan wurde mit glänzendem Erfolg durchgeführt.

Aus den Briefen des Vaters an den Sohn (1880 bis 1884) sollen hier einige der wichtigsten Stellen mitgeteilt werden. Wir lernen aus ihnen den ganzen Josef Dietzgen kennen: wie er schafft, für seine Familie sorgt, seine Kinder erzieht, und wie er das Martyrium des philosophischen Forschers trägt, der in seiner schwierigen Denkarbeit durch die Notwendigkeit,[161] zunächst die materielle Existenz der Seinigen sicherzustellen, sich zeitweilig gehindert sieht, aber keine der beiden unerläßlichen Aufgaben über der anderen vergißt.

Voll Rührung und Bewunderung liest man diese Briefe, die uns die pädagogische Kunst und die Lebensweisheit Josef Dietzgens zeigen, in zweiter Linie aber auch allen denen von Nutzen sein werden, die – ohne die väterliche Fürsorge eines so weisen Ratgebers – das Experiment unternehmen, im fernen Ausland ihr Glück zu suchen.

Der hier vorliegende Auszug bildet etwa den vierten Teil der im dritten Band der »Sämtlichen Schriften Josef Dietzgens« abgedruckten »Privatbriefe an den Sohn in Amerika«.

27. Mai 1880.

Hoffentlich sind bei Ankunft dieses die Gemütsmucken so ziemlich überwunden und die Seele wieder frisch. Ohne alles Weh kann so etwas nicht hergehen. Gefühle hat und muß der Mensch haben, aber sie müssen dem Verstand unterworfen werden. Wenn Dir also, lieber Eugen, für den Augenblick die Fremde nicht blitzt und schimmert und wenig Anregung bieten will, wenn Dir die fremden Menschen nicht gefallen wollen und nur immer an die Lieben und Bekannten traurig erinnern, die Du zurückgelassen, dann vertreibe Dir und kannst Du Dir die Traurigkeit recht schnell mit dem Gedanken vertreiben, daß es eben nur Stimmung, vorübergehende Stimmung ist; daß das, was Dir monatelang ein guter Plan geschienen hat, nicht durch eine momentane Gemütsfarbe schlecht werden kann.

Schiffe Dich nur getrost auf meine Verantwortung ein. Wenn Du Dir Land und Leute angesehen und dann zurückverlangst, werde ich jederzeit alles tun, was möglich ist, um Deine Wünsche zu befriedigen. Wenn mich aber meine Hoffnung nicht trügt, wirst Du Quartiermacher für uns alle sein. Sieh her! Der Gedanke, daß Du eine Mission hast, muß Dir Mut machen. Und es ist eine ernste Mission. Was[162] hilft uns alle Schönheit des Vaterlandes, wenn es das tägliche Brot nicht geben will. Mit diesem Gedanken mußt und kannst Du der Fremde, den fremden Menschen, dem fremden Sonnenschein, den fremden Häusern, Zimmern und Eckchen, worin Du Dich kauern mußt, Poesie, Romantik abgewinnen. Ich habe immer viel davon gehabt, und Du hast auch davon, ich weiß es, hast von mir davon geerbt. Poesie und Romantik verklären das Leben unendlich, verklären den Genuß wie die Entbehrung. Nimm sie zur Hilfe, lieber Eugen, und lebe wohl und schreibe oft und ausführlich.

23. Juni 1880.

… Du mußt auch wissen, daß die Leute in den großen Städten und im bewegten Leben ihren Nebenmenschen nicht so sanguinisch entgegenkommen wie die Dorfbewohner. Diese lieben und verehren den Fremden, und jene vermuten einen Gauner, bis er sich selbst ehrsam gemacht hat … Einen Rat, den ich nicht oft genug wiederholen kann, den Dir aber auch die Verhältnisse jeden Tag predigen: nur möglichst wenig Prätension! Davon bringen alle Grünen zu viel nach Amerika.

… Man muß auch zu genießen verstehen, dann ist das Genuß, was sonst Widerwärtigkeit. Du müßtest nur wissen, wie elende dreijährige Handlangerdienste die Lehrlinge hier in Deutschland leisten müssen, um Dich als Amerikaner glücklich zu fühlen. Ich bin der Meinung, daß Du dort Deine Lehre in der Hälfte der Zeit absolvierst.[15]

4. Juli 1880.

… Daß Du Dich einsam fühlst in diesem interessierten großstädtischen Getriebe, ist sehr natürlich. Ich hoffe aber sehr, daß sich dies auch in kurzer Zeit bessern wird; und[163] bis zur Ankunft dieses, denke ich, wirst Du schon hin und wieder Bekanntschaft machen, die Dein Gemütsleben stärkt und die Trennung von Deinen Lieben in der Heimat erleichtert. Gerade solche Trennung und entferntes Voneinanderleben läßt den gemütvollen Menschen den Wert eines innigen Familienlebens empfinden; es soll uns alle in dem Vorhaben bestärken, dasselbe zu pflegen und recht fest zusammen zu streben. Aber zu diesem Zweck will durchaus die ökonomische Frage – diesmal die Familienökonomie – befriedigend gelöst sein. Mit diesem Gedanken, daß Du mir helfen willst dazu, werden wir hoffentlich unseren Zweck und unsere Wiedervereinigung erreichen …

Du mußt Dir etwas angelegen sein lassen, K.[16] für Dich einzunehmen. Darfst nicht verlangen, daß er entgegenkommen oder sich irgend bequemen soll; nur immer denken: die Reihe ist an mir. Also nähere Dich wiederholt und unablässig; und scheint es Dir, als würdest Du abgewiesen, glaube nicht daran. Aus seinen Briefen hast Du ja ersehen, daß er mir gewogen, und bin ich überzeugt, wenn für irgend einen, tut er auch etwas für Dich, um meinetwillen. Diesen Glauben mußt Du haben, daran nicht kleinmütig werden, dann wirst Du auch reüssieren. Du darfst die Charaktere der Menschen nicht ändern wollen, sondern nur suchen, Deinen eigenen geschmeidig dem notwendigen Bedürfnis zu akkomodieren …

Dein ganzes Lernen kann zunächst in nichts bestehen wie im Umgang, besonders mit Englisch redenden Menschen. Pflege speziell den Verkehr mit K.s Kindern und den Damen im Hause.

Auch wenn Du zurückkehrst, wird der Amerikanismus sein Gutes haben. Man lernt dort wenigstens gewöhnlich den deutschen Humbug der Vornehmtuerei verachten und sein Glück nicht im Dekorum, sondern in sich selbst suchen. Wenn wir hier nur über das lächerliche Dekorum weg wären, dann könnten wir alle hier und überall leicht und glücklich leben.

[164]

Meine Überzeugung ist und bleibt: wenn Du nur kurze Zeit Dich im amerikanischen Geschäft umgesehen, wirst Du Deine Kenntnisse und Lebensstellung nicht mit einem hiesigen Gymnasiallehrer vertauschen wollen.

1. August 1880.

Kommt nun der Herbst, wirst Du drüben auch das schönste Klima der Welt kennen lernen.

Weil Du die antiamerikanischen Reden des Bodenseers so gläubig und antiamerikanisch aufgenommen, glaubte ich schließen zu müssen, daß Deine Stimmung antiamerikanisch geworden. Ich habe vor einigen Jahren eine Reisebeschreibung über die Vereinigten Staaten gelesen, in der alles, was ich selber dort erfahren und das mein Wohlgefallen erregt hatte, ganz wahrheitsgetreu geschildert und doch im abfälligsten Sinne beurteilt wurde. Die Sache hat mich damals königlich amüsiert, und erzähle ich es nur, um zu sagen und zu zeigen, wie natürlich es ist, daß alle Objekte subjektiv angeschaut werden. So ist es auch mit dem Kaufmannsstand: hüben wie drüben. Übrigens solche Leute wie Deine Reisegefährten, die großartig auftreten und nichts hinter sich haben, da ist Europa voll von, und ich bin überzeugt, daß der insoweit ehrenhaftere Charakter des Amerikaners, der die Bläherei nicht kennt, aber auch nichts davon ahnt, daß irgendeine Arbeit oder ein Erwerb unehrenhafter sein könnte wie die gedankenlose Wichtigtuerei, bei näherer Bekanntschaft Dir besser zusagt.

10. August 1880.

Die Welt ist überall schön, und wenn Du Dich ein wenig heimisch in Amerika gemacht, wird es Dir sicherlich dort gefallen. Deine Aufgabe ist gar nicht groß; nur sorgen, daß Du lernst, in irgendeiner Weise Dein Brot verdienen, dann habe ich die Kraft, Dir das weitere Verdienen leicht zu machen, und da ich Dich nun bis dahin unterstütze, so ist ja gar keine Ursache zum Zagen. Von ein paar Wochen der Einsamkeit im Menschenmeer von New York mußt Du Dich nicht unterkriegen[165] lassen. Mit Mut und Sparsamkeit haben wir beide zusammen alle Mittel, um die Verhältnisse zu bändigen.[17] Leiste Dir etwas mehr Zerstreuung, benutze die Abende, um Bekannte aus der hiesigen Gegend, deren es genug dort gibt, aufzusuchen. Nimm Anteil an allem und an allen, an der Welt und nicht nur an Siegburg oder an irgendeinem anderen Krähwinkel.

29. August 1880.

Der Schritt, den wir beide getan, war in Anbetracht unserer Verhältnisse notwendig. Wenn Du Dir das zu Herzen nimmst, kannst Du sehr leicht sentimentale »Gedanken« – wäre ich da oder dort, hätte ich dies oder das ergriffen – aus dem Sinn schlagen. Die Welt ist überall schön und poetisch, und die Erwerbsverhältnisse sind in Amerika weit schöner wie hier; sie aber bilden die Grundlage alles Hohen und Schönen.

5. September 1880.

Noch ist unser Vermögen so viel, daß, wenn wir uns als Proletarier betrachten, es leicht wird, uns eine ganz erträgliche Proletarierexistenz zu schaffen. Wenn wir uns aber zur begüterten Klasse zählen und danach wirtschaften wollen, geraten wir in eine Lage, aus der es keine Rettung gibt. Meine Kinder sind für diese Erkenntnis zu kurzsichtig, darum habe ich die Pflicht, entsprechend zu handeln. Du sollst mir helfen, lieber Eugen, und wenn Du die Vereinigten Staaten kennen gelernt hast, wirst Du sagen, daß Du kannst … Auch was Ohm Philipp vorgeschlagen, wäre nicht gänzlich[166] verfehlt. Wenn Du dort in ein paar Monaten die Schriftsetzerei erlerntest, könnten wir uns ganz leicht irgendwo ein Zeitungsunternehmen erwerben. Kurz, Mannigfaltiges sehen und lernen laß nur Deine Aufgabe sein; dann wirst Du nach zwei bis drei Jahren selber sagen, daß Du besser daran bist wie ein deutscher Gymnasiallehrer. Das sind ja doch meist arme, höchst einseitige, geknechtete Menschen, die über ihre erbärmliche Gelehrsamkeit kaum hinaussehen.

26. September 1880.

… Sehe mit Vergnügen, daß Du Dich daran gemacht, praktisch anzugreifen (in K.s Fabrikgeschäft). Daß Dir die Handarbeit für den Anfang schwer wird und Energie kostet, kann ich mir lebhaft denken. Nur Mut und Ausdauer! Wenn Du die rechte Einsicht hast, wie wertvoll es für das Leben der Zukunft ist, nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit Hand und Arm in die Räder der Volkswirtschaft eingreifen zu können, wie solche mannigfaltige Übung für die verschiedensten Lebenslagen geschickt macht, eine wie große Unabhängigkeit daraus resultiert, dann muß Dir das die Pein versüßen. Du hast ein gutes Beispiel an Haug. Wenn der nur im Polytechnikum und nicht auch in der Werkstätte gebildet wäre, würde es ihm nicht so leicht werden, von Siegburg nach Philadelphia überzusiedeln. Du sollst gewiß nicht das Taglöhnern lernen, sondern nur die Fähigkeit, ein halbes Handtagewerk zu leisten; das macht geschickt, hundert Dinge anzugreifen, denen der beste Federfuchser wie ein Tölpel gegenübersteht …

3. Oktober 1880.

Laß Dir nur ja recht angelegen sein, K. in jeder Beziehung zu befriedigen und ihn und seine Angehörigen[18] möglichst für Dich einzunehmen. In solchen Verhältnissen mußt Du etwaige Widerwärtigkeiten und Antipathien durch ernsten[167] Willen zu überwinden suchen mit dem Gedanken, daß alles Unangenehme wenigstens ebensoviel subjektiv als objektiv ist. Man kann ja sowenig die Verhältnisse als die Menschen nach Wunsch ändern, sondern muß sie nehmen, wie sie eben sind, und aus allem das Beste zu machen streben …

Immer in der Gegenwart an alle Möglichkeiten der Zukunft denken, aber doch die Gegenwart und dreimal die Gegenwart warm halten …

Offenheit und Zutraulichkeit im Verkehr mit K. glaube ich Dir nicht genug empfehlen zu können. Niemals verschlossene Zurückhaltung; die führt zu nichts Gutem; lieber Bruch.

16. Oktober 1880.

Dein Gedanke, eventuell auch Anstreicher und Dekorateur werden zu können, hat mich froh gemacht. Der Reichtum aller Länder entwickelt sich stark und der Amerikas doppelt schnell; das sichert dem dekorativen Bedürfnis eine steigende Zukunft. Die Kunst soll dem Menschen dienen, mithin praktische Verwendung finden. Wenn Du Dich auf solchem gleichsam handwerkmäßigem Wege zum Künstler ausbilden kannst, das wäre ein rechter Weg. Aber nur ja nicht voreilig! Der kaufmännische Weg, auf dem Du gegenwärtig wandelst, gehört mit dazu und würde auch dazu später unberechenbare Vorteile gewähren. Ebenso der Umgang mit der Färberei in K.s Fabrik.

Versäume nichts, wo es etwas zu lernen gibt. Auch den mechanischen, maschinellen Teil betrachte nicht als außerhalb der Sphäre. In der modernen Industrie hängt alles mit den Maschinen zusammen. Denke nicht, ich mute Dir zuviel zu. Nur ein paar Handtäste, eben wissen, wie man eine Sache angreift, ist oft von großem Wert.

Nun möchte ich Dir noch warm empfehlen, unter allen Umständen wahre Bildung, nicht die mit Gänsefüßchen, nicht die »Bildung«, hochzuhalten und besonders in Amerika nicht zu vergessen, daß man schachern soll für das Leben, aber[168] nicht leben für den Schacher. Auch im Urteil gegen und über Deine Umgebung nie hart, sondern stets human zu sein. Um liebenswürdig zu handeln, muß man liebenswürdig denken; Tugenden und Fehler stecken immer ineinander; auch der Bösewicht ist ein guter Kerl, und der Gerechte sündigt des Tages siebenmal.

Mich verfolgt seit früher Jugend ein logisches Problem, »die letzten Fragen alles Wissens«. Das sitzt mir wie ein Stein im Kopf. Wenn im Laufe meiner vergangenen Jahre die Not herantrat, konnte ich es auf ein paar Jahre verlieren; aber nach hergestellter Ordnung der Dinge kam es immer wieder, und immer verstärkter und klarer, so daß mir erst in den letzten Jahren die Überzeugung gewachsen ist, es sei meine Lebensaufgabe, sowohl innerer Seelenfriede wie die sittliche Pflicht fordern Hingabe und Arbeit für dasselbe. Daher kommt es auch, daß ich immer danach strebe, einen Associé zu finden, der mir helfen soll, die ökonomische Bürde zu tragen. Daher meine Unfähigkeit, das Detailgeschäft hier ohne Hilfe zu betreiben. Mein Sinnen geht überall dahin, den Kopf leer zu halten, damit ich dem Problem nachhängen kann. Seit den letzten Jahren bin ich gar übel daran, es steht mit mir auf und geht mit mir schlafen, und die leiblichen Sorgen gestatten mir doch keine Ruhe, um viel daran zu tun.

23. November 1880.

Du hast sicher noch zuviel des verkehrten europäischen Spleens im Kopf. Eugen! Eugen! sei klug! Ich helfe gern, doch hilf Du auch. Verschiedenen Arbeiten einen verschiedenen Rang beilegen und nicht das für das Höchste halten, was just der Zweck erfordert – ohne weitere Rücksicht –, das ist ein heilloser europäischer Spleen, der noch von der alten Gewohnheit herrührt, das Volk in Herren und Knechte einzuteilen. Ich merke, Du bist unwillig und räsonierst in Dir über Dinge, die doch gar natürlich sind und nicht anders sein können. Daß K. seinen Sohn protegiert und ihm mehr[169] glaubt wie Dir, auch dessen Fehler leichter übersieht wie die Deinigen, ist gar zu natürlich. Du läßt Dich zuviel von Deinen Sympathien und Antipathien mitnehmen. Dem muß man widerstehen. Wenn K.s Sohn auch mürrisch und launisch ist, laß ihn sein; es ist nicht Deine Aufgabe, ihn zu ändern, sondern zu ertragen und das möglichst Beste daraus zu machen.

Du scheinst auch überempfindlich zu sein. Denke doch, daß die Leute uns nichts schuldig sind und es immerhin für den Anfang angenehmer für Dich ist, unter Bekannten als unter Wildfremden zu sein. Ist K. einsilbig und verschlossen, nun, das ist eben seine Weise; die legt er ja nicht an, Dich zu verletzen, und kannst nicht verlangen, daß er sie um Deinetwillen ablegt. Ich weiß, die Amerikaner sind übermäßig von sich eingenommen und sehen auf Europa und speziell auf die Deutschen übermütig herab. Das kränkt anfangs, aber Du mußt überwinden und das Heilmittel in Dir, nicht an anderen suchen. Stolz und selbstbewußt, das ist recht und dabei doch zart sein. Dir selber nichts vergeben und anderen alles.

Das kleine mobile Vermögen, das ich noch besitze, sind Blutstropfen, die wohl müssen zu Rat gehalten werden. Wenn Du von K. aufbrichst, darf es nicht im Trotz geschehen; nicht Dich überwerfen mit K., kein unartiges Wort: suaviter in modo, fortiter in re! Wenn Du so handelst, bin ich bei Dir bis zum letzten Cent. Aber nur nicht rappelig! Versuch es noch ernstlicher mit dem jungen K. als bisher. Nimm Dir vor, durch ein hartes Wort Dich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Ist er unartig, die Unartigkeit fällt auf ihn zurück – sei Du deshalb doppelt artiger. Zeige Dich immer unabhängig, dabei nie beleidigt; Du mußt Deinen Stolz demütigen um der Sache willen, und ihn doch behalten und ihn gebrauchen, wenn Du die Macht hast; aber nie etwas wollen, was man nicht kann. Das Recht ist nur ein Begriff, aber das Faktum die Wahrheit – also immer nach dem Faktischen handeln, nie nach[170] Gefühlen und Reizbarkeiten. Sprich Dich mit K. aus. Sage ihm alles, was Du auf dem Herzen hast, mit Abwälzung alles Kleinlichen. Strebe unabhängig und selbständig nach Deinem Zweck, welcher vorerst nur dahin geht, eine Stellung zu haben, worin Du 6 oder 8 Dollar wöchentlich verdienst; kannst Du das nicht beim jetzigen Prinzipal, bei K. erreichen, dann gebe Dir wohl den Anschein der Geduld, aber strebe ungeduldig danach, anderweitig Dein Heil zu versuchen, und benachrichtige mich zur rechten Zeit, daß ich Dir Geld schicke.

5. Februar 1881.

Bemühe Dich nur, Deinen Prinzipalen gegenüber und bei Deinen Mitgehilfen alle etwaigen Antipathien zu überwinden. Lasse Dir angelegen sein, nicht nur durch Leistungen, sondern auch durch artige Worte Dich festzusetzen in Deiner Stellung. Wenn letzteres zu guten Leistungen hinzukommt, ist es ungemein wirksam. Wenn Du nach höherem Lohn strebst, so tue das nur, insofern alle anderen Verhältnisse zusagen, mit der größten Delikatesse. Wenn Du die deutsche Demut mit der amerikanischen Independenz in geschickter Weise zu verbinden weißt, das macht den Kapitalkerl!

Ein ordentliches Salär ist eine schöne Sache, jedoch rate ich, lasse Dir noch mehr angelegen sein, in das Geschäft, das Du da gefunden, nun auch richtig hineinzukommen: vom Verkäufer im Innern auch zum Verkäufer nach außen zu gelangen, Waren, Kundschaft und Buchführung kennen zu lernen. Aber Eile mit Weile!

30. März 1881.

… Mit dem Gedanken, daß der erste Verkäufer nicht mehr versteht und tut wie Du und doch ein vierfaches Salär erhält, darfst Du Dir Deine Stellung nicht verleiden lassen. Wie mancher Sekondeleutnant ist ein ebenso tüchtiger und noch viel kapablerer Militär wie der General, und muß doch seine Zeit abwarten. Wenn auch noch etwas Geld draufgeht, laß Dich nicht kümmern, der sichere Gang ist der vorzüglichere.[171] Du solltest der Prinzipalität in Bescheidenheit die Vorstellung machen, daß Du Dir gerne gerade bei ihr eine Zukunft erarbeiten möchtest, daß sie Dir aber wenigstens genug zahlen möchte für Dein notdürftiges Auskommen, denn es sei Dir peinlich, jetzt noch um Geld nach Hause zu schreiben, und Deine Kasse sei zur Neige. Wenn Du es dann bis zu 15 Dollar wöchentlich gebracht hast und findest die Vorrückung zu langsam, so wirst Du leichter bei irgendeinem Konkurrenten der Firma ankommen. Das längere Fungieren aber scheint mir erste Bedingung. Bist Du einmal außer Stellung, so ist es zehnfach schwerer ankommen.

25. April 1881.

… Das Schwerste ist jetzt überwunden. Nach drei Monaten trägst Du nochmals auf Gehaltserhöhung an, und schon nach zwei, wenn Du fühlst, daß Du an Fähigkeiten und Leistungen Fortschritte machst, würde ich die Prinzipale in bescheidenster Weise bitten, Dein ernstes Streben mit ein paar Dollars wöchentlich zu encouragieren. Aber es so machen wie diesmal, mußt Du künftig vermeiden. Ich merke schon, Du hast von mir geerbt; mir wird es auch schwer, den Stolz zu beugen und mit guten Worten und Bitten das zu erbetteln, was ich für mein Recht halte. Aber der richtige, der erfolgreiche Weg ist es nicht, wenn man – so wie Du getan – und ich habe es auch schon mehr so gemacht – dem guten Freunde die Pistole auf die Brust setzt. Nimm Dir ernstlich vor, solche delikate Fragen nächstens weniger ernst und dringlich, sondern mit lächelnder Lippe und jüdischer Zähigkeit zum Austrag zu bringen.

15. Juli 1881.

Strebe möglichst mit Behaglichkeit. Ein beruhigtes, wenn auch frugales Unterkommen, welches Interesse für alles Schöne, Wahre und Gute übrig läßt, ist jeder auch noch so fruchtbaren Jagd nach Geld und Gut vorzuziehen. Ich hoffe wohl und freue mich, wenn das amerikanische Klima[172] Dich so weit ansteckt, daß Du erwerbslustig und -fähig wirst, weil das Erwerben das Sine qua non von allem ist; aber ich hoffe, daß Du Dein besseres Sein darin nicht aufgehen läßt.

3. August 1881.

Du mußt vor allem streben, Dich und Deine subjektiven Anschauungen beherrschen zu lernen und Deiner Zukunft oder Vernunft – wie man es nennen will – die momentanen Gefühle zu opfern. Die Klugheit erfordert durchaus, sich der Kunst zu bemeistern, allen Persönlichkeiten, auf deren Umgang Du angewiesen bist, liebenswürdig zu erscheinen, ohne deshalb auf den eigenen Charakter und die eigenen Rechte zu verzichten. Dabei halte immer fest, daß ein Recht, wozu die Macht fehlt, Dich in Besitz zu setzen, nur ein ideales Recht ist, dem die »Wirklichkeit« fehlt, das man also nicht hat oder doch nur im Kopfe hat, aber erst durch zweckmäßige Handlung verwirklichen kann.

Deine Gedanken hängen wohl immer noch mehr und lieber an der Vergangenheit wie an der Zukunft? Das kommt aber daher, daß Du in der Heimat ganz und gar ein nur ideales Leben geführt hast. Du hast die Menschen und Verhältnisse hier nur von der schönen, gemütlichen Seite gesehen.

Ich würde bedauern, wenn es anders wäre, aber auch wenn Du den Revers zu spät sähest. Was in Amerika so offen zutage liegt: der abgöttische Tanz um das eigene Ich, das ist hier noch mehr verbrämt mit Sitten und Phrasen, mit Überbleibseln der Vergangenheit. Aber unter der Maske der Verwandtschaft, Freundschaft, der Lieb und Treu kommt doch auch hier immer nackter und nackter das wahre Gesicht des Eigennutzes zum Vorschein. Die Bande der Familie, der Freundschaft und Liebe werden täglich mehr zu losen Bändchen, zu Flitter an der Frage nach »barer Zahlung«. Ich bin kein Pessimist. Die bösen Erfahrungen, die ich mit Geschwistern, Verwandten und Freunden gemacht, haben mir nie die Liebe rauben können, – aber nur darum nicht, weil[173] ich weiß, daß es so kommen muß, daß die einzelnen Menschen keine Schuld tragen, sondern nur die bösen Verhältnisse, daß nur die kapitalistische Produktion das Gift bringt. Darum ist denn auch mein Haß nicht gegen die Eigennützigen gerichtet, sondern gegen den Eigennutz; darum erwarte ich keine Besserung von der Moralpredigt, sondern von der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse. Der handgreifliche, fortwährende Aufschwung der Produktion erlöst die Menschen von der Armut, von der Erbsünde und vom Teufel.

17. September 1881.

… Was Dich für das Geschäft (in dem Du jetzt arbeitest: Instrumente für Ingenieure und Architekten) schätzenswert macht, sind besonders – denke ich – die guten Vorkenntnisse, welche Dich befähigen, leichter mit den mathematischen Instrumenten Dich bekannt zu machen; und ohne eingehende Bekanntschaft mit dem Gebrauch und Zweck der Dinge kann man unmöglich ein guter Verkäufer werden. Ich erinnere mich aus meinem früheren Geschäft in Winterscheid, daß die Reisenden kamen und Kaffee verkauften. Wenn ich dann fragte, wo der Kaffee herkommt, dann wußten sie nur, daß er in Amsterdam gekauft war und Cheribon, Java und Menado genannt wurde; aber wie die Holländer dazu gekommen, ob er privatim aufgekauft wurde an den Produktionsplätzen, oder ob es eine Aktiengesellschaft sei, welche die Auktionen in Holland veranstaltete, oder ob die Sache Regierungsangelegenheit, davon wußten die Pomadenhengste nie etwas. Und ich habe mich damals schon sehr über solche Unwissenheit mokiert, da sich die Leute doch gerade diese und keine andere Sache zum Geschäft machten. Möchte Dir deshalb anraten, Dich eingehend nach dem Gebrauch, nach Herkommen, Geschichte und allem, was Du über Deine Geschäftsartikel erfahren kannst, angelegentlichst zu erkundigen. Nur wenn man etwas weiß, kann man auch etwas sprechen, das nicht fade und trivial ist …

[174]

22. September 1881.

So angenehm, wie unter guten Umständen das Leben in einem kleinen deutschen Landstädtchen ist, so heillos verpestet ist die Luft darin, wenn der »Kampf ums Dasein« gefordert wird.

Du schreibst, daß Du gern an das ideale Leben zurückdenkst, das Du hier geführt. Es wäre schade, wenn es anders wäre, doch auch schade, wenn eine krankhafte Sehnsucht Dir den Reiz der Gegenwart verkümmerte und Dein Streben erschlaffte. Muß gestehen, ich habe in diesem Punkte so etwas Furcht und Sorge um Dich und freue mich deshalb ungemein, wenn ich aus Deinen Briefen zuweilen sehen kann, daß Dein Gemüt heiter und Deine Stimmung durchgehends energisch ist. Sentimentale Augenblicke hat jeder. Du mußt Dir einmal klar vorstellen, worin der Reiz des hiesigen Lebens denn eigentlich besteht. Von den Leuten nach Herkommen, Stand und Aufführung gekannt zu sein und dadurch Achtung, Vorzug, Teilnahme und Entgegenkommen zu genießen, das ist gleichsam eine Würze des Lebens, die einen Pulsschlag hineinbringt, der gewiß nicht zu verachten ist. Aber solche Ingredienzien sind auch nur wirksam, wenn der Stoff gut ist, dem sie beigemischt werden. Um diesen Stoff zu erhalten – erhalten im Sinne von konservieren und erwerben – bist Du hinausgegangen, und wenn Du nun auch von der Würze einstweilen viel entbehren mußt, so sollst Du doch nicht verkennen, daß man, wenn nur der Lebensstoff gegeben ist, sich das andere auch anderswo leicht verschaffen kann.

25. November 1881.

Vivat der Stadtreisende! Soeben die briefliche Nachricht empfangen, daß sich Deine Andeutungen per Postkarte bestätigt haben.

Jetzt, lieber Junge, sind wir wieder alle auf dem Damm. Wenn man weiß zu erwerben, ist dies mehr wert als Vermögen.

[175]

Über den neuen Wirkungskreis, den Du errungen, freue ich mich noch mehr wie über die Gehaltsaufbesserung, doch ist auch letztere ganz erfreulich.

Was wird das für eine Freude sein, wenn Du einmal heimkehrst und wir uns alle wiedersehen! Das Schönste aber, was ich mir denken kann, ist, wenn Du uns alle mitnehmen kannst, ohne daß wir beladen sind mit einer ängstlichen Sorge um die Zukunft. Aber auch jetzt bin ich schon froh. Das Glück haben nicht viele Familien, daß sie stets zusammenbleiben können.

Unser Gehilfe Knöfel ist nach der Heimat gewesen. Hat von dort geschrieben, ob er zurückkehren könne. Ich habe ihm dann einen annehmbaren Vorschlag gemacht. Er ist wiedergekommen, hat vier Tage gesoffen und zwei gearbeitet, und sich nun entschlossen, nach Amerika zu gehen. Wahrscheinlich wird er nach sechs oder acht Tagen von hier abreisen. Wenn er nach New York kommt, wird er Dich jedenfalls aufsuchen. Sein Geist ist stark, aber das Fleisch ist schwach. Ich glaube, daß er drüben seine paar hundert Mark verduseln und dann ein guter Arbeiter sein wird.

22. Dezember 1881.

… Daß die Amerikaner angespannter arbeiten wie die Leute hier, weiß ich wohl aus eigener Erfahrung; aber was die Entschädigung durch Vergnügen anbelangt, dünkt mir doch, daß diese Sucht hier noch schlimmer ist. Die Bierbank und öde Gesellschaft ist wohl nirgends mehr gepflegt wie in unserem deutschen Philisterium. New York und die Großstädte machen eine Ausnahme, sonst im Innern des Landes ist nach meiner Erfahrung der Amerikaner ein sehr ernster Mann, der mehr die Einsamkeit liebt und pflegt wie irgendeine andere Nation.

Leider lebt in aller Welt die Volksmasse noch immer in einer geistigen Wüste. Mit der Tatsache, daß Du an Deiner inneren Ausbildung mehr arbeiten möchtest, als Dir die[176] Stellung vergönnt, mußt Du Dich eben abfinden, so gut es angeht. Es ist das ein Weltleiden. Darum war bisher auch alle geistige Entwicklung hauptsächlich das Werk der bevorzugten Klassen, und fand die aristokratische Konstitution der Gesellschaft früher auch ihre Berechtigung darin, daß die Masse arbeiten mußte, damit die wenigen Muße hatten zur Förderung der Kultur. Jetzt darf auch die Masse Muße fordern, weil eben die Kultur so weit gediehen ist, daß der nötige Proviant in einem Viertel der alten Zeit beschafft werden kann.

Das Reisen im Staate New York muß Dir doch Vergnügen machen. Die Natur ist da ja wirklich besonders schön, namentlich zwischen Albany und Buffalo sind sehr schöne felsige Gebirgspartien. Aber auch die Gegend am Hudson hat mir gefallen. Empfehle Dir, Washington Irvings »Sketchbook« zu lesen, und wenn Du etwas Ernstes studieren willst, rate Dir sehr an, Dich mit der Literaturgeschichte aller Zeiten und Völker zu beschäftigen. Die englische Literatur, die Dir am leichtesten zugänglich, ist wohl die schönste von allen; aber natürlich hat jedes Volk seine besonderen reizvollen Eigentümlichkeiten. Mit Zeitungen und dergleichen rate ich Dir nicht, die schöne gute Zeit zu vertrödeln.

1. Januar 1882.

Lege auch einen Abschnitt aus der »Kölnischen Zeitung« bei, aus dem Du lernst, wie überfüllt alles und wie schwer hier das Fortkommen für die jungen Leute ist.

Du kannst Dir kaum denken, wie deprimierend das auf den Charakter der jungen Leute wirkt, so bis an die dreißig Jahre herumzulungern, äußerlich den hoffnungsvollen Mann spielen zu müssen, und inwendig einen Placken an den anderen setzen, um nur die Blöße decken zu können. So sind viele Siegburger Apotheker geworden und finden sich nicht besonders wohl dabei. Ohne die Fonds, eine eigene Apotheke erwerben zu können, soll das Fach sehr schlechte Stellungen bieten.

[177]

»Homo sum«[19] habe in den Weihnachtstagen gelesen und mich recht dabei amüsiert. Verstand dadurch auch um so viel besser die Philosophie Deines letzten Briefes. Es ist mir sehr lieb, wenn Du Dich derart über Deine innersten Gedanken öfters aussprichst. Dergleichen vermindert den Raum, der zwischen uns liegt.

Der Anachoret Paulus hat mir viel Vergnügen gemacht, aber auch die Episode zwischen Polykarp und Vater und Mutter.

Die freiwillige Armut und Abstinenz hat gewiß ihre gute Seite, nur mußt Du Dich erinnern, daß sie aus der heidnischen Völlerei hervorgegangen, und daß die Armut so einseitig ist wie die Völlerei, die Wahrheit oder Vernunft nun aber die Umfassung beider Extreme erfordert, nicht: entweder – oder, sondern: sowohl – als auch. Sowohl reich wie arm. Wir wollen unsere Begierden mäßigen, unsere Lebensart auf das einfachste reduzieren, ohne zu vergessen, daß solche Reduktion den Zweck hat, uns reicher zu machen, reicher sowohl an materiellen wie an geistigen Gütern. Beide Güterarten gehören durchaus zusammen und sind nur Formen oder Arten eines Guts, des Guten schlechthin.

16. Januar 1882.

Ich wünschte besonders, daß der Eindruck, den »Homo sum« auf Dich gemacht, etwas haften bliebe, das heißt die Erkenntnis, daß eine gewisse Abstinenz zur Erreichung einer befriedigenden Seelenstimmung unumgänglich ist. Du sollst die Welt und das Vergnügen nicht meiden, aber auch die Einsamkeit nicht. Der Wechsel zwischen beiden gewährt den höchsten Genuß.

Der Kunstsinn liegt bei Euch drüben in Amerika noch im argen; hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch sehr gehoben und wird voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten[178] riesig steigen, weil nirgends der Reichtum so zunimmt wie dort. Und Reichtum muß und wird immer danach streben, seinen Genuß durch die Kunst zu erhöhen. Deshalb glaube ich, daß eine kunsthandwerkmäßige Ausbildung für eine amerikanische Zukunft zweckmäßig sein könnte …

20. Februar 1882.

Möchte jetzt gern einmal von Dir hören, ob Du auch schon das erworben hast, was ich immer als mein bestes Akquisit von meiner ersten amerikanischen Tour betrachtet habe: das Gefühl, mit einem Lande und mit Verhältnissen bekannt geworden zu sein, wo man die hier allgemein so schwer drückenden Sorgen für das tägliche Brot auf die leichte Schulter nehmen kann. Wenn das ist, dann hast Du viel, unendlich viel, etwas gewonnen, was ein Vermögen wert ist.

3. April 1882.

Deine letzten Nachrichten haben mir nicht nur viel Sorge gemacht, sondern waren mir besonders unerfreulich, weil ich sehe, daß Du einen so großen Leichtsinn hast, wie ich nie vermutet habe. Die zwölf Dollar pro Woche, die Du errungen, waren nötig zur Existenz, und so das Notwendige aufs Spiel setzen, um ein übriges zu gewinnen, ist unverantwortlich. Ich wünsche nur, daß die Sache sich besser gestaltet, wie meine Liebe zu Dir mich fürchten läßt. Also fünfzig Dollar Schulden hast Du schon bei Sorge und zehrst wahrscheinlich auf Kredit! Das kann nur gut enden, wenn Du nicht manchen Tag nach einem neuen Unterkommen zu suchen brauchst. Denke und hoffe optimistisch, aber handle pessimistisch. Wenn Du etwas von meiner Kraft hättest, dann würdest Du sofort Deine Ausgaben auf das Allernotwendigste einschränken, buchstäblich von Brot und Wasser leben und möglichst schnell in Arbeit treten, gleichviel ob man zwanzig oder nur drei Dollar dafür zahlt. Solche Handlungsweise würde von Verstand zeugen, aber große Ansprüche[179] machen, die man nicht zu erringen und zu bestreiten weiß, ist eine törichte, eitle Kaprice. Weißt Du auch, daß ich froh wäre, wenn ich den Wert von zwölf Dollar wöchentlich nicht nur für mich, sondern für uns alle hier zu verzehren hätte? Solange Du mir nicht sagen kannst: »ich habe hundert Dollar für einen Notpfennig zurückgelegt«, so lange schelte ich dich leichtfertig.

18. April 1882.

… In solchen Lebenslagen wie gegenwärtig mußt Du auf die gewohnheitsmäßige Befriedigung Deiner Lebensbedürfnisse verzichten können, nach Pittsburg und dem Westen per Emigrantenzug fahren und aus der Tasche von Wurst und Brot zehren. Ich habe das xmal wochenlang getan und bin dabei so heiter geblieben, als wenn ich an der Table d'hote gespeist hätte. Im Gegenteil. Die Kraft der Entsagung ist ein wirksames Gegenmittel gegen die Bedrückung des Gemüts, welche die sorgenvolle, prekäre Lage notwendig mitbringt.

26. April 1882.

Wir haben die Karte empfangen, worin Du Dein neues Engagement anzeigst. Es hat also gut gegangen; aber doch wünschte ich, daß Du so viel Freiheit über Dich selbst gewönnest, um einzusehen, daß man zeitweise seinen Gefühlen mehr Zwang antun muß.

… Dein stolzer, unabhängiger Sinn ist mir sehr lieb und wert, aber um ihn zu realisieren, um wahrhaft unabhängig zu werden, mußt Du auch das dialektische Gegenteil, den unterwürfigen Sinn üben und pflegen. Es ist das wohl ein Widerspruch, aber ein durchaus sinniger, wie das reale Leben ihn überall fordert.

Dafür, daß Du mich so fleißig über die Einzelheiten Deiner Krisis unterrichtet hast, bin ich Dir noch besonders dankbar. Es hat mich das wohl für einzelne Tage und Stunden recht besorgt gemacht, auch wohl eine schlaflose Nacht verschuldet, aber im ganzen sehe ich doch, daß die Situation[180] nicht so schlimm ist, daß Deine Aussichten mannigfaltiger sind, wie ich sie mir anfangs vorstellte. Laß uns nur recht fest zusammenhalten, und wir werden alle Hindernisse überwinden …

14. Juni 1882.

Herrschaft über die Natur ist der Adel des Menschen. Ursprünglich Tier, wird er Mensch und Herr erst dadurch, daß er dem Naturwalten hinter die Schliche kommt. Der Zweck aller Kultur geht dahin, die natürliche Abhängigkeit zu besiegen und Herr zu werden. Nur innerhalb gewisser Schranken kann das gelingen. Auch wenn die Menschheit das Errungene in der Zukunft verzehnfacht und verhundertfacht, verbleibt sie in natürlicher Abhängigkeit. Die menschliche Herrschaft kann immer nur eine vernünftig beschränkte sein.

Was also die Aufgabe des ganzen Geschlechts, ist auch Deine persönliche, individuelle Aufgabe: Du willst und sollst Herr Deines Geschicks werden. Obgleich Du Momente hast, wo Du Dich jetzt schon als solcher fühlst, wirst Du auch Momente haben, wo Du Deine Untertänigkeit empfindlich merkst. Also bist Du soviel Knecht wie Herr, jedes relativ, das heißt einer, der sich emporarbeiten will, der dies Streben als hoch und hehr erkennt, ohne zu verkennen, daß er nie einen absoluten Gipfel erreichen kann.

Wenn nun die Menschheit des geistigen Scharfsinns zum Kulturfortschritt bedarf, so kannst Du im Verkehr mit den Widerwärtigkeiten der List nicht entraten. Weder der Wunsch, frei, noch das empfindliche Gefühl, Knecht zu sein, kann Dich aus Stricken und Banden erlösen: es gehört die »kluge« Tat dazu.

Die Sklaverei (im wörtlichsten Sinne) nennt Hegel eine »List der Vernunft« und meint damit, sie sei notwendig gewesen, um die Menschen mit der Peitsche zur Arbeit anzuhalten, weil sie ursprünglich eben Tiere sind, die der Zuchtrute bedürfen. Und Aristoteles erklärt bekanntlich, daß erst,[181] wenn die Weberschiffchen ohne Menschenhand und von selbst hin und her schnellten, an Abschaffung der Sklaverei zu denken sei. Jetzt erst, wo die Weberschiffchen angefangen haben, von selbst zu laufen, und die Ziegelsteine fast ohne Arbeit gebacken werden, heute also, wo der Reichtum überhandnehmen will und die tierische Plackerei immer mehr durch die Kultur beseitigt werden kann, ist die Forderung nach allgemeiner Freiheit berechtigt.

Ich halte diesen breiten Sermon, weil ich Dir eindringlich zureden möchte, in der jetzigen Periode Deines individuellen Lebens List, Klugheit und Verschlagenheit nicht gering zu achten. Nur dadurch kannst Du ein »freier Mann« werden, der seine Absicht jedem offen und ehrlich ins Gesicht sagen darf. Um eben die Geradheit zu erreichen, ist Dir einstweilen die Hinterlist eine sittliche Notwendigkeit. Ich fürchte immer, Dein Naturell möchte Dich verleiten, im Freiheitsdrang die Notwendigkeit der Beschränkung und Abstinenz zu übersehen.

23. August 1882.

Ich für meinen Teil bin zwar eingenommen für das Land (der Vereinigten Staaten), aber nicht, weil ich die dortigen Verhältnisse so sympathisch finde, sondern weil mir die hiesigen schändlich versumpft und beengt vorkommen. Dort hat man der absoluten Gewalt der Natur, der eisernen Notwendigkeit in die Augen zu sehen und mit ihr zu kämpfen, hier sind es Schrullen und Vorurteile, feudale und chinesische Zöpfe und anerzogene Nichtswürdigkeiten, die den Geist versklaven. Doch daraus, daß so viele verfehlte Existenzen dort herumlaufen, sollst Du Dir kein Vorurteil wider das Land und seine Verhältnisse bilden. Was meinst Du wohl, wie viele unbefriedigte Leute es denn hier gibt? Den prekären Zuständen, wie sie dort herrschen und wie sie die Großindustrie mitbringt, gehen wir hier eiligen Schrittes entgegen. Amerika ist uns darin wohl sehr voraus. Dafür hat es aber auch durch den Reichtum seiner Natur und primitiven[182] Kultur viel mehr Zwischenräume für den Mittelstand, dem wir angehören und in dem wir uns möglichst lange erhalten wollen. Mit der Zeit muß derselbe allerdings nolens volens hier wie dort ins Proletariat hinabsteigen. Aber unterdessen haben auch die untersten Volksklassen so viel gewonnen, daß die Sache weniger betrübt ist. Wir gehören deshalb praktisch zur Mittelklasse und theoretisch zum Proletariat. Soll ich mich hier tatenlos hinuntersinken lassen, wenn ich vorsehe, daß drüben die Kampfverhältnisse günstiger sind?

Ich möchte Dir gern meine Überzeugung übertragen, damit Du wo mit dem Leibe auch mit der Seele stehest. Das Staatsproletariat ist eine erbärmliche Sklaverei. Zwar ist das sicherste hier wohl der Staatsdienst, aber ich fürchte, Du siehst ihn mit zu idealen Augen. Wenn Du als Gymnasiallehrer hier Deinem Herrn und Meister so viel Opposition gezeigt hättest wie bei K. & E., dann wärst Du am Ende Deines Lateins, aber gründlicher am Ende wie dort, wenn Du auch vollkommen mit den New-Yorker Herren zerfällst. Zudem ist es viel leichter, einen herrischen Privatmann mit einem schmeichelhaften Worte zu befriedigen, als ein herrisches System, das nur mit Deiner völligen Unterwerfung auf Lebensdauer zufrieden ist. Lieber Eugen, besieh Dir Dein Verhältnis genau, und dann wirst Du – nach meiner Ansicht der Sache von hier aus – jubeln, daß Du so weit vorgerückt bist …

25. November 1882.

… Richte Deine Aufmerksamkeit weit mehr auf den sicheren, steten Gang als auf großen Erfolg. Auch sitzt in dem vielen Hab und Gut gar nicht das Glück; eine bescheidene Existenz ist alles, wonach wir streben wollen. Im Hinblick auf den Reichtum, welchen die menschliche Entwicklung uns ganz von selbst in den Schoß wirft, dürfen wir dem Gang der Dinge mit der größten Genügsamkeit zusehen. Ich meine damit die Produktivkraft der Arbeit, welche sich durch die industriellen Fortschritte stetig mehrt; damit mehrt sich also[183] auch das lebendige Vermögen des einzelnen, mittels seiner Arbeit die Bedürfnisse zu befriedigen, wenn auch sein totes Vermögen, sein »Kapital« sich nicht mehrt. Weil man aber durch die Abhängigkeit vom Kapitalisten sehr leicht aufs Trockene und ins Elend versetzt werden kann, darum ist es von allerhöchster Bedeutung, so viel Stock (Vorrat. D. H.) zu besitzen, um unter allen Umständen seine Arbeitskraft in Gang erhalten zu können. Deshalb ist es für uns jetzt so überaus wichtig, sorgsam zu wachen, daß unser kleiner Fonds erhalten bleibt. Ich freue mich ungemein auf Deine Herkunft im nächsten Sommer, damit wir uns gründlich verständigen …

9. März 1883.

… Eine besondere Freude macht es mir, daß ich es fertig gebracht, gemäß Deinen Auslassungen, Dich für meine heiligsten Gedanken, für meine neue und hohe Weltanschauung zu interessieren. Dadurch hat uns die Trennung und Entfernung nicht entfremdet, sondern im höchsten Grade genähert. Bleibe, lieber Eugen, der Wissenschaft anhänglich! Werde kein Bücherwurm, aber ein Liebhaber der Bücher zum Zweck ihrer praktischen Anwendung im Leben!

15. März 1883.

… Der Familienzusammenhang ist mir wie Dir teuer und wert und möchte ich uns allen gewiß die Freude des Wiedersehens gönnen. Jedoch geht das materielle Gedeihen allen Gemütsbedürfnissen vor. Besser, wir sind in fünf Weltteile zerstreut, wenn es jedem gut geht, als im Elend vereinigt. Bedenke wohl und ernstlich, wie der Unbemittelte, besonders im alten Europa, ein elender Sklave ist. Du lebst an einer Stelle, wo der Pulsschlag der Welt recht fühlbar ist, und begreifst meine Vorsicht leicht; Deine Geschwister hier leben idyllisch, sanguinisch wie die Kinder der Welt vor dem Jüngsten Tage. Ich kann ihnen keine Angst anpredigen, weil ich realiter zu nachgiebig bin, und weil ihre Umgebung, die Siegburger Dorfgemütlichkeit, die wahre Not des Lebens zu sehr verhüllt.

[184]

19. September 1883.

In Ermangelung eines sozialen Staates wollen wir (Vater und Kinder) wenigstens unter uns Kommunisten sein in beschränktem Maße, für den Notfall, und nicht utopistisch. Du sollst – nach meiner Denkart – im allgemeinen, im großen ganzen egoistisch für Dich und Deine Zukunft sorgen, aber nebenbei auch der allgemeinen Menschenliebe Rechnung tragen. Die faktischen Weltverhältnisse beruhen noch auf dem Egoismus gar ausschließlich, und über das Faktische darf sich auch kein Idealist hinwegsetzen, sonst ist er Utopist …

16. November 1883.

Du sprichst von dem unmoralischen Ton in der Familie M., der Dich und auch Eduard S. chokierte. Ich kann mir dabei nichts anderes denken, als daß die Ablösung der Bande, welche Bürgermeister, Pastor und Nachbarschaft dem Dorfmenschen auflegen, verstärkt durch die Fesseln ökonomischer Dürftigkeit und das Gefühl niedriger sozialer Stellung, daß der Wegfall dieser Banden die Emporkömmlinge dort drüben außer Rand und Band bringt. Ob sie sich da nun mit äußerem Flitter behangen, bleibt ihnen doch das Gefühl der Niedrigkeit, welches sie sich durch Anmaßung ausreden möchten. Ist es so? Nun, das sollte Dich nicht antipathisch stimmen. »Alles erklären, heißt alles verzeihen.« Wenn Du von Dir ein höheres Bewußtsein hegen kannst, so freue Dich dessen, aber halte auch gewärtig, daß Du in dieser so sehr verbesserungsbedürftigen Welt immer Resignation üben und Dein Licht in etwa unter den Scheffel halten mußt.

6. Dezember 1883.

… Wenn ich nicht gerade dem Elend ins Auge sehen muß, und nur eben, wenn noch so arm, leben kann, bin ich durch mein heiteres Gemüt ungemein reich und besitze eine unverwüstliche Munterkeit.

Auch Deine entschiedene Sprache, mit der Du von neuen Geschäftsunternehmungen abrätst, hat mir wohl getan. Mir[185] tut nichts wohler, als wenn Ihr alle mitratet bei Gestaltung der Zukunft; nur muß es kein Rat sein, wie ihn Deine Schwestern gewöhnlich im Vorrat haben, die alles abweisen, aber nichts Neues an die Stelle setzen; immer bleiben wollen, wie sie sind, ohne der Zukunft Rechnung zu tragen. Sie raten nur negativ: »Tu nicht! Tu nicht!«

Im Briefe vom 22. November sagst Du: »Bin schlimmsten Falls niemals um mein Brot verlegen.« Dies Wort hat mich sehr erfreut. Wenn Du Dich etwas mit der politischen Ökonomie bekannt gemacht hast, wirst Du einsehen: was heute ein Kapital ist, ist morgen keins mehr. Ich bin Kleinbürger von Geburt und Stand. Wenn ich kein Betriebskapital habe, bin ich am Ende meines Lateins. Darum möchte ich sehen, daß meine Kinder sich nicht auf ein kleines und unzulängliches Kapitälchen, das mit der Entwicklung der Dinge immer noch unzulänglicher wird, stützen sollten, sondern auf ihre Arbeitskraft. Im Anschluß an konkurrenzfähiges Kapital sich eine günstige Lohnstellung suchen, ist zeitgemäßer als die kleine unzulängliche Selbständigkeit. Ich spreche Dir ja meine Gedanken in den »Logischen Briefen« aus.

25. Januar 1884.

Ich will Dich gewiß nicht abhalten, wenn Du die Gelegenheit hast, ein eigenes Geschäft zu akquirieren, sondern nur anraten, den unvermeidlichen Drang dahin zu mäßigen durch die Erkenntnis, daß das Kleingetriebe dem Untergang gewidmet ist; der dienende Anschluß an eine große Firma ist freier, leichter, lohnender wie die Kleinkrämerei. Solche Selbständigkeit ist doch eine sehr relative, besonders wenn die Konkurrenz ihr das Leben sauer macht. Ich glaube gern, daß Du von meinem Charakter ein gut Stück geerbt hast, wodurch es Dir schwer wird, auf Gleichberechtigung zu verzichten. Indes ist das nun einmal nicht anders in unseren Tagen des Privatbesitzes und daraus folgenden Standesunterschiedes. Wer kein großes Vermögen hat, kein Kapitalist ist, ist unfrei geboren.

[186]

Ich glaube, wir, ich, Du und Deine Geschwister, werden am besten fahren, wenn wir in etwa resignieren und uns als das betrachten, was wir auch in der Tat sind, als Proletarier, die der Regel nach nicht imstande sind, sich aus ihrer Klasse herauszuarbeiten, sondern ein hoffnungsvolles Leben nur finden können im politischen Streben nach der Emanzipation der gesamten Arbeiterklasse. Der Mensch tut gut, nicht zu hoch hinauszufliegen und sein Streben mit seinen Mitteln in Einklang zu halten. Demnach schlage ich vor, daß wir unser kleines Vermögen nicht gebrauchen, um Reichtümer zu erwerben – insofern diese zu den Trauben gehören, die zu hoch hängen –, sondern als Notanker für unabsehbare Unglücksfälle.

Bei solcher Lage der Dinge müssen wir »dienen«. Nun sind nach meiner Erfahrung die Vereinigten Staaten der Ort, wo die Bitterkeiten des Unvermeidlichen noch am leidlichsten sind.

17. März 1884.

Auf Deinen Brief aus Buffalo, worin Du gegen meinen Rat polemisierst, Resignation zu üben wider den Trieb, ein reicher Mann zu werden, hätte ich viel zu sagen, was aber doch überflüssig ist, indem Du, trotz Deiner Polemik, mich doch verstanden hast.

Ich will Dich gewiß nicht veranlassen, absolut zu resignieren, sondern möchte nur, daß der Begriff der ökonomischen Entwicklung diesen Trieb insoweit mäßige, als zu erkennen ist, daß der Regel nach nichts zu holen ist; wenn Dir aber das Glück zwischen die Beine läuft, werde ich gewiß einverstanden sein, wenn Du recht wacker für ein Stück Kapital arbeitest.


Fußnoten

[1] Verlag der Dietzgenschen Philosophie. München 1911.

[2] Siehe hierzu die Abhandlung Eugen Dietzgens »Dietzgen und Kant« im Vorwort (S. 4 bis 40) zu seinem »Dietzgen-Brevier für Naturmonisten«. München 1915, Verlag der Dietzgenschen Philosophie.

[3] Dialektik = Entwicklungslehre durch Aussöhnen aller Gegensätzlichkeit in einer Einheit und durch Fortschreiten im stets neu sich bildenden Gegensatzkampf zur immer höheren Aussöhnung und Einheit.

[4] Die gründlichste philosophische Unterweisung über den »Universalzusammenhang« findet der Leser in den »Logischen Briefen«, 1. Teil, 2. Band, der »Sämtlichen Schriften Josef Dietzgens«.

[5] Auf die nahe Verwandtschaft des erkenntnistheoretischen Standpunktes von Dietzgen mit den Anschauungen von Ernst Mach und seiner Anhänger hat Max Adler schon 1907 in der Neuen Zeit aufmerksam gemacht. Machs Lehrkern habe Dietzgen schon 1868 gleichsam vorweggenommen. (Christian Eckert in Schmollers Jahrbuch, Heft 1, 1914.)

Später (1911 und 1913) hat Gustav Eckstein in Aufsätzen der Leipziger Volkszeitung und des Vorwärts die erkenntnistheoretische Harmonie von Dietzgen und Mach beziehungsweise Stallo gewürdigt.

Es steht übrigens fest, daß die genannten Gelehrten zur Zeit der Veröffentlichung ihrer Theorien von Dietzgen nichts wußten. Bis vor fünf Jahren war der bloße Name Josef Dietzgen an den Universitäten nur sehr wenigen bekannt.

[6] Eine Ausnahme machte inzwischen Dr. K. Österreich in seiner Ausgabe des 4. Bandes (1916) von Überweg-Heinzes Geschichte der Philosophie.

[7] In dem von mir übersetzten Buche von Morris Hillquit, New York, »Der Sozialismus, seine Theorie und seine Praxis« (München 1911, E. Reinhardt) behandelt das dritte Kapitel »Sozialismus und Ethik«, Seite 28 bis 50.

[8] Kant sagt: »Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, das ist Glückseligkeit) das Tun und Lassen, das ist den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt bestimmen, und daß diese Gesetze schlechterdings (nicht bloß hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischer Zwecke) gebieten und also in aller Absicht notwendig sind.« – Sein »kategorischer Imperativ« lautet: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«

Woran Sozialisten, angesichts der aus den Verschiedenheiten der Klasseninteressen resultierenden Differenzen der »Maxime des Willens«, die im vorigen Zitat gedachten »reinen moralischen Gesetze« – die jeder normale Mensch angeblich aus seinem Innern (ohne sinnliche Erfahrung) schöpft – zu erkennen vermögen, ist ein Rätsel, dessen Lösung die Revisionisten uns bisher vorenthalten haben. Wenn Kants ethisches Grundgesetz richtig wäre, müßten doch die Wilden schon unsere wichtigsten heutigen Moralanschauungen gehabt haben – ganz zu schweigen von der Sklavenhalterzeit, von der feudalen und von der kapitalistischen Welt. Steht doch sogar der letzteren moralisches Empfinden – soweit es den Gütererwerb durch Verelendung der Massen betrifft – in krassem Gegensatz zu dem unsrigen.

Professor Oswald Külpe sagt in seiner Darstellung und Würdigung Kants (Aus Natur und Geisteswelt, 146. Band, Seite 121) in bezug auf Kants Moralgebot: Liebe aus Neigung kann nicht geboten werden, sondern nur die praktische Liebe, das Wohltun aus Pflicht, wenn selbst unbezwingliche Abneigung der Ausführung dieser Pflicht entgegensteht. Auf solche Beispiele zielt das bekannte Epigramm von Schiller:

Gern dien' ich den Freunden, doch tu ich es lieber mit Neigung,
Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut.

[9] In den letzten Jahren haben allerdings die Ergebnisse der Erdbebenforschungen die alte Theorie von ehedem »feuerflüssigen« Gehalt des Erdinnern erheblich diskreditiert.

[10] Dialektik im Sinne Dietzgens heißt soviel wie die Erkenntnislehre, welche sich gründet auf der erfahrungsmäßig nachgewiesenen Versöhnung des Kardinalgegensatzes zwischen Materie und Geist in der Einheit des natürlichen Universalzusammenhanges. Dieser bildet die absolut einheitliche Gattung, innerhalb welcher alle Gegensätze notwendig nur relativ gegensätzliche Arten sind.

Durch solche Überwindung der Gegensätzlichkeit zwischen Materialismus und Idealismus verwandelt sich die bislang mit Recht als sophistisch diskreditierte Dialektik in eine streng monistische Logik und Entwicklungslehre, die auf erfahrungsmäßig kontrollierbare und daher wissenschaftlich überzeugende Weise fortschreitend immer besser mit jeder dualistischen Unlogik zu räumen versteht.

Noch Hegels Dialektik (Entwicklungslehre im stets sich erneuernden Gegensatzkampf zur immer höheren Einheit) nahm ihren letzten Ausgang von unvermittelter Begriffsarbeit, welche sich mit ihrem objektiven Arbeitsmaterial in keiner Einheit zu versöhnen vermochte, weil ihr die Erkenntnis der genannten letzten Einheit mangelte und daher auch nicht zur Überwindung des Gegensatzes zwischen Objekt und Subjekt fortschreiten konnte.

[11] Ich existiere, daher denke ich.

[12] Erst neulich wurde in den »Sozialistischen Monatsheften« erklärt, es sei ganz und gar nicht Aufgabe der Partei, diese oder jene Weltanschauung zu fördern.

Ähnlich gleichgültig verhält sich Kautsky gegenüber einer durch erfahrungsmäßige Erkenntniskritik begründeten Weltanschauung und Denkmethode für die proletarische Bewegung, indem er im »Kampf« vom 1. Juli 1909 schreibt: »Marx hat keine Philosophie, sondern das Ende aller Philosophie verkündet. Der Marxismus will dem Proletariat die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung beibringen, wie das Kommunistische Manifest sagt. Der Ausgangspunkt dabei ist die Erkenntnis, daß nicht das Bewußtsein der Menschen ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewußtsein bestimmt. Ob man diese Auffassung auf den Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts oder den Machismus oder den Dietzgenschen dialektischen Materialismus oder sonstwie stützt, ist ja für die Klarheit und Einheitlichkeit unseres Denkens nicht ganz gleichgültig, aber eine Frage, die für die Klarheit und Einheitlichkeit der Partei ganz belanglos ist.«

[13] Mit großem Erfolg haben die Aufsichtsräte deutscher Aktiengesellschaften ihren Lohn, Tantieme genannt, in den letzten Jahren, und ganz besonders wieder 1913/14, erhöht. Auf Grund der Einnahmen aus der Tantiemesteuer berechnet die »Frankfurter Zeitung« für das Fiskaljahr 1913/14 versteuerte Tantiemen von 88,38 Millionen Mark gegen 79,38 Millionen für das Jahr 1912/13, 71,50 Millionen für 1911/12, 65,39 Millionen für 1910/11, 59,30 Millionen für 1909/10 und 41,01 Millionen Mark für 1908/09. Seit 1908/09 hat sich die Jahreseinnahme der Aufsichtsräte mehr als verdoppelt, die Aufsichtsratstantiemen sind erheblich schneller gestiegen als die Dividenden der Aktionäre. Von einer Steigerung der Arbeitsleistung der Aufsichtsräte kann dabei keine Rede sein, schon weil das Aufsichtsratsamt in den meisten Fällen überhaupt mit keiner ernsthaften Arbeit verknüpft ist. (»Vorwärts«.)

[14] Siehe hierzu das Zitat aus Verworn, Seite 25.

[15] Lehrlingskontrakt (wie in Deutschland) kennt man in den Vereinigten Staaten nicht; auch gibt es keine »unentgeltliche« Lehrzeit; jeder Lehrling erhält Bezahlung und avanciert nach Maßgabe seiner Fähigkeiten und der eintretenden Vakanzen.

[16] Freund des Vater Dietzgen, in dessen Geschäft und Fabrik Eugen als Volontär aufgenommen wurde.

[17] An manchen Stellen dieser Korrespondenz ist zu beachten, daß J. D. die Vereinigten Staaten vor Einsetzen der großkapitalistischen Periode kennen lernte, als sie tatsächlich das Eldorado des Kleinbürgertums waren. Dies hat sich inzwischen sehr verändert, so daß der Unterschied zwischen der Union und Deutschland von Jahr zu Jahr geringer wird. Auch heute noch sind zu Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs die Chancen zum Fortkommen drüben bessere als in Europa, dafür aber um so verzweifelter und schlechter während einer Periode wirtschaftlichen Niedergangs.

[18] Der junge Dietzgen wurde vom Fabrikherrn K., einem alten Freunde und Gesinnungsgenossen Josef Dietzgens, in Pension genommen.

[19] Von Georg Ebers. Der Sohn hatte geschrieben, daß er dies Buch gelesen.


Verlag der Dietzgenschen Philosophie in München

Durch jede Buchhandlung (nicht von der Verlagsfirma direkt) beziehbar:

Josef Dietzgens sämtliche Schriften

Drei Leinenbände M. 12.– München 1911.

Erster Band: Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit und Kleinere Schriften. Ein Abriß von Josef Dietzgens Leben von Eugen Dietzgen. Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. (Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft.) Die Religion der Sozialdemokratie. Sozialdemokratische Philosophie. Das Unbegreifliche. Die Grenzen der Erkenntnis. Unsere Professoren auf den Grenzen der Erkenntnis.

Zweiter Band: Das Akquisit der Philosophie. Einführung in die Denklehre und Weltanschauung Josef Dietzgens von Eugen Dietzgen. Briefe über Logik, speziell demokratisch-proletarische Logik. (39 Briefe.) Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie. Das Akquisit der Philosophie.

Dritter Band: Erkenntnis und Wahrheit. Aus Josef Dietzgens Privatbriefen an seinen Sohn in Amerika. 22 Aufsätze und 10 »Briefe über Sozialismus an eine Freundin«.

Von den Einzelschriften sind noch vorrätig:

Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. M. 1.50, gebd. M. 2.–

Erkenntnis und Wahrheit. M. 2.–, gebd. M. 2.50.

Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie. Brosch. M. 1.–

Sozialdemokratische Philosophie. Brosch. 75 Pf.

Die Religion der Sozialdemokratie. Brosch. 50 Pf.

Die Zukunft der Sozialdemokratie. Brosch. 50 Pf.


Verlag der Dietzgenschen Philosophie in München

Ernst Untermann: Dialektisches

Volkstümliche Vorträge aus dem Gebiete des proletarischen Monismus.

Aus dem Inhalte heben wir hervor: 1. Was die Handlungen der Menschen bestimmt und warum sich die Dinge ändern. – 2. Der menschliche Geist ist ein natürliches Produkt des Weltalls. – 3. Marxismus, Darwinismus, dialektischer Monismus. – 4. Tier- und Menschengesellschaften. – 5. Biologische und ökonomische Arbeitsteilung. – 6. Antonio Labriola und Josef Dietzgen. Ein Vergleich zwischen dem historischen Materialismus und dem dialektischen Monismus.

142 Seiten, broschiert M. 1.–, gebunden M. 1.20.

Henriette Roland-Holst:
Josef Dietzgens Philosophie

gemeinverständlich erläutert in ihrer Bedeutung für das Proletariat.

München 1910. 91 Seiten, broschiert M. 1.–

Diese Schrift dürfte sich vorzüglich eignen zur Einführung in die Denklehre und Weltanschauung des Arbeiterphilosophen. Die Verfasserin sagt in ihrer Vorrede unter anderem: »Ich habe mich in dieser Arbeit darauf beschränkt, erstens das Verhältnis Dietzgens zum historischen Materialismus und dessen Grundlagen zu untersuchen, zweitens die Bedeutung seiner Lehren für den politischen, sozialen und geistigen Kampf des Proletariats zu skizzieren. Ich habe geglaubt, dieser Untersuchung eine verhältnismäßig ausführliche Zusammenfassung der Grundgedanken des dialektischen Materialismus, die, soweit ich weiß, bisher fehlt, vorausschicken zu müssen. Soviel wie möglich habe ich mich dabei an die eigenen Worte Dietzgens gehalten, damit seine klare, populäre, durchaus originelle und anregende Darstellungsweise dem Leser tunlichst erhalten bleibe.«

Dietzgen-Brevier für Naturmonisten

Herausgegeben und beantwortet von Eugen Dietzgen.

Mit ausführlichem Sachregister.

München 1915. 429 Seiten, elegant in Leder gebunden M. 4.–


Inhalt der Internationalen Bibliothek.

(Die fehlenden Nummern sind vergriffen.)

1 Dr. S. Tschulok, Entwicklungstheorie. (Darwins Lehre.) Mit 49 Abbildungen im Text. Gebunden M. 3.–

2 Karl Kautsky, Karl Marx' Oekonomische Lehren. 14. Aufl. Geb. M. 2.–

5 Karl Kautsky, Thomas More und seine Utopie. 3. Auflage. Geb. M. 3.–

6 A. Bebel, Charles Fourier. Sein Leben und seine Theorien. 3. Aufl. Geb. M. 2.50.

8 J. Stern, Die Philosophie Spinozas. Mit Porträt Spinozas. 3. Aufl. Geb. M. 2.–

9 A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus. 140. Tausend. Gebunden M. 3.–

10 Lillagaray, Die Geschichte der Kommune von 1871. 4. Auflage. Illustrierte Ausgabe. Gebunden M. 3.–

11 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. 14. Auflage. Gebunden M. 1.50.

12 Karl Marx, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends«. 5. Aufl. Geb. M. 2.–

13 Karl Kautsky, Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teile. 11. Auflage. Gebunden M. 2.–

14 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. 4. Auflage. Gebunden M. 2.50.

16 Dr. F. B. Simon, Die Gesundheitspflege des Weibes. 8. Auflage. Mit 34 Abbildungen im Text und einer farbigen Tafel. Gebunden M. 2.50.

17 Franz Mehring, Die Lessing-Legende. 3. Auflage. Gebunden M. 3.–

18 Dr. H. Lux, Etienne Cabet und der Ikarische Kommunismus. Gebunden M. 2.–

21 Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. 8. Auflage. Gebunden M. 3.–

24 Karl Marx, Revolution u. Konter-Revolution in Deutschland. 3. Auflage. Gebunden M. 2.–

26 a, b, c Dr. A. Dodel, Aus Leben und Wissenschaft. Gesammelte Vorträge und Aufsätze. In drei Teilen.

26 a – Leben u. Tod. 4. Aufl. Geb. M. 2.–

26 b – Kleinere Aufsätze und Vorträge. 4. Auflage. Gebunden M. 2.–

26 c – Moses oder Darwin? Eine Schulfrage. 11. Auflage. Gebunden M. 1.50.

27 Lindemann (C. Hugo), Städteverwaltung und Munizipal-Sozialismus in England. 2. Auflage. Mit einem neuen Vorwort. Gebunden M. 2.50.

30 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Oekonomie. 3. Auflage. Gebunden M. 2.50.

33 Leo Deutsch, Sechzehn Jahre in Sibirien. Mit 7 Porträts und 6 Illustrationen. 10. Tausend. Gebunden M. 3.50.

35 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. Aus dem nachgelassenen Manuskript »Zur Kritik der politischen Oekonomie« von Karl Marx. Herausgegeben von Karl Kautsky. Erster Band. 2. Auflage. Gebunden M. 6.–

36 – –, Zweiter Band, erster Teil. 2. Auflage. Gebunden M. 5.–

37 – –, Zweiter Band, zweiter Teil. 2. Auflage. Preis gebunden M. 5.50.

37 a – –, Dritter Band. Gebunden M. 8.–

38 Karl Kautsky, Ethik und materialistische Geschichtsauffassung. 6. und 7. Tausend. Gebunden M. 1.50.

39 Hillquit, Geschichte des Sozialismus in den Vereinigten Staaten. Gebunden M. 3.–

40 K. A. Pashitnow, Die Tage der arbeitenden Klasse in Rußland. Uebersetzt von M. Nachimson. Gebunden M. 3.–

41 Leo Deutsch, Viermal entflohen. 4. und 5. Tausend. Gebunden M. 2.–

42 Peter Maßlow, Die Agrarfrage in Rußland. Die bäuerliche Wirtschaftsform und die ländlichen Arbeiter. Uebersetzung von M. Nachimson. Gebunden M. 3.–

43 Paul Louis, Geschichte des Sozialismus in Frankreich. Aus dem Französischen übertragen von Hermann Wendel. Gebunden M. 3.–

44 Ed. Bernstein, Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution. Illustrierte Ausgabe. Gebunden M. 4.–

45 Karl Kautsky, Der Ursprung des Christentums. Eine historische Untersuchung. 5. und 6. Tausend. Gebunden M. 5.75.

46 L. B. Boudin, Das theoretische System von Karl Marx. Aus dem Englischen übersetzt von Luise Kautsky. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Karl Kautsky. Gebunden M. 3.–

47 K. Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus. 4. Auflage. Erster Band: Kommunistische Bewegungen im Mittelalter. Gebunden M. 3.–

48 – –, Zweiter Band: Der Kommunismus in der deutschen Reformation. Geb. M. 3.–

49 Ph. Buonarroti, Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit. Uebersetzt und eingeleitet von Anna und Wilhelm Blos. Gebunden M. 2.50.

50 Karl Kautsky, Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft. Gebunden M. 2.–

51 Paul Louis, Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in Frankreich (1789 bis 1912). Autorisierte Übersetzung von Hedwig Kurucz-Eckstein. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Dr. G. Eckstein. Gebunden M. 3.–

52 Joseph Salvioli, Der Kapitalismus im Altertum. Studien über die römische Wirtschaftsgeschichte. Nach dem Französischen übersetzt von Karl Kautsky jun. Mit einem Vorwort von Karl Kautsky. Gebunden M. 3.–

53 Max Adler, Marxistische Probleme. Beiträge zur Theorie der materialistischen Geschichtsauffassung. Gebunden M. 3.50.

54 Laufenberg, Der politische Streik. Gebunden M. 2.50.

55 Emile Vandervelde, Neutrale und sozialistische Genossenschaftsbewegung. Gebunden M. 1.50.

56 Max Adler, Wegweiser. Studien zur Geistesgeschichte des Sozialismus. Gebunden M. 2.50.

57 Gust. Noske, Kolonialpolitik und Sozialdemokratie. Gebunden M. 2.–

58 A. Hepner, Josef Dietzgens Philosophische Lehren. Gebunden M. 2.50.


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde korrigiert.

Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

Korrekturen:

S. 64: vertrakten → vertrackten
derselbe ihrem vertrackten Sinne wie ein unnatürliches

S. 108: ihr → ihre
menschlichen Handlungen ihre wahre Begründung

S. 143: Ende → Enden
daß alle vermeintlichen Anfänge und Enden

S. 144: kam → kann
beseelt mit Fug und Recht darstellen kann