The Project Gutenberg eBook of Keltische Knochen/Gedelöcke: Erzählungen

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Title: Keltische Knochen/Gedelöcke: Erzählungen

Author: Wilhelm Raabe

Release date: August 11, 2014 [eBook #46561]

Language: German

Credits: Produced by Norbert H. Langkau, Jens Sadowski and the
Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KELTISCHE KNOCHEN/GEDELÖCKE: ERZÄHLUNGEN ***

Wilhelm Raabe
Bücherei
Erste Reihe
Band 9

Wilhelm Raabe
Bücherei

Erste Reihe:
Kleinere
Erzählungen

Neunter Band

Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt für Litteratur und
Kunst / Hermann Klemm

Wilhelm Raabe
Keltische
Knochen

Gedelöcke

Erzählungen

Dritte Auflage
11.-16. Tausend

Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt für Litteratur und
Kunst / Hermann Klemm

Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz
Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig

Keltische Knochen

Festgeregnet!…… Wem steigt nicht bei diesem Worte eine gespenstische Erinnerung in der Seele auf? eine Erinnerung an eine Stunde — zwei Stunden — einen Tag — zwei, drei, vier — acht Tage, wo er oder sie ebenfalls festgeregnet war — festgeregnet an einer Straßenecke, unter einem Torwege, bei einem Freunde oder einer Freundin, in einer Dorfkneipe, auf dem Brocken, dem Inselsberge, dem Rigi oder dem Schafberge?

Es ist eine leidige Vorstellung — festgeregnet! Grau, greinend und griesgrämlich kriecht sie heran, streckt hundert fröstelnd-kalte, feuchte Fangarme nach dem warmen Herzen aus und ist so schwer los zu werden, wie alles andere Unbehagliche, Unbequeme, Ungelegene in der Welt.

In Ischl spazierten die schönen Damen auf der Esplanade im glänzendsten Sonnenschein, als wir ausfuhren, und sämtliche arme Hämorrhoidarier, Drüsen- und Skrofelkranke hatten ihren Jammer in die freie Luft getragen: auch die königlich-kaiserliche Familie fuhr spazieren.

In der Nähe von Laufen, im heiligen Bezirk der schönen, holdseligsten Maria im Schatten zog die allerschönste, aber auch allereigensinnigste Dame Natur den Nebelschleier über das Gesicht, und als wir auf dem See schifften, wurde dieser Schleier und unsere Hoffnung auf einen schönen Tag vollständig zu Wasser. Es scheint eben in den angenehmsten Gegenden am liebsten zu regnen; aber vielleicht war auch der fromme Dichter, welchen wir mit uns führten und welcher jedenfalls unter dem Zeichen des Wassermannes geboren war, schuld daran.

Wir waren unserer drei, und trotz allem war der Dichter der Edelste von uns; er hieß leider Krautworst und war aus Hannover, sagte natürlich beides nicht gern, sondern stellte sich meistens als den Verfasser der Lebensblüten vor und dar; sonst nannte er sich auch wohl, glänzenden aber ebenfalls von der Prosa ihres Namens oder Geburtsortes erdrückten Beispielen folgend, Roderich von der Leine. Er hatte uns in Linz im Erzherzog Karl aufgegabelt, hielt krampfhaft wenigstens an mir fest, schwärmte für Linz und ließ nicht selten geheimnisvolle Andeutungen fallen, daß er daselbst etwas erlebt habe. Seine öftere Geistesabwesenheit und Zerstreutheit gab Anlaß zur Vermutung, daß er dieses Erlebte poetisch zu verwerten im Begriff sei; seine lyrischen Wehen hatten oft etwas Beängstigendes für mich; affizierten jedoch den dritten in unserm Bunde weniger. Dieser dritte war, ohne sich dafür zu geben, ein Geheimnis, und ebenso verschlossen, wie der Poet offenherzig und mitteilungswütig war. In die Fremdenbücher zeichnete er sich kurz als Zuckriegel; ich hegte aber einigen Zweifel, ob dies wirklich sein Name sei; bis er in Wien in den drei Raben höchst unmotivierterweise in einen Streit geriet, der ihn und mich vor die königlich-kaiserliche Polizei führte und ihn zwang, mit seinem Paß herauszurücken. Er hieß in der Tat Zuckriegel, ohne sich dessen zu schämen, und war Prosektor an einer kleinen norddeutschen Universität, hatte jedoch in seinem Äußern sowohl, als in seinem Innern sehr viel vom Scharfrichter. Nur ein schlechter Charakter, gleich dem seinigen, konnte es über sich gewinnen, einen so guten Menschen wie den Dichter durch ein ewig wiederholtes Auftischen des gehaßten Familiennamens Krautworst an allen Nervenenden zu zupfeln und zu kitzeln.

Zuckriegels Reisezweck war, die Knochen des unbekannten Volkes am Rudolfsturm über Hallstadt zu besuchen und womöglich einen Schädel und einige sonst überflüssige Gebeine für seine osteologische Sammlung zu stehlen oder, wie er sich euphemistisch auszudrücken beliebte, an sich zu nehmen.

Er liebte es, irgend etwas an sich zu nehmen, wie zum Beispiel den besten Platz im Wagen, die besten Stücke an der Wirtstafel, sämtliche Zeitungen nach Tisch, und so weiter. Auf der Fahrt über den Hallstädter See hatte er im „Einbaum“ die Bank dicht hinter dem breiten Rücken und den Röcken des lieblichen Schiffermädchens eingenommen und saß sehr geschützt gegen den Regen, welchen der Wind uns ins Gesicht trieb.

Unser Kleeblatt hatte in Ischl trotz dem prächtigen Sommerwetter arg gelitten: der fromme Dichter an den reizenden Toiletten der Damen; Zuckriegel an sich selber und an einem amerikanischen Reverend nebst Familie, welche, nur durch eine dünne Wand von ihm getrennt, ihn durch nächtliche unendliche Gebete und näselnden Lobgesang sehr erbost hatten; ich hatte mich durch die Inschrift am Kurhause: In sale et in sole omnia consistunt verleiten lassen, das entsetzliche salzige Gesöff und seine Wirkung auf meine gottlob gute Konstitution zu versuchen, und hatte mich nicht vergeblich in die Gefahr begeben.

Die Inschrift an der Hygiea:

„Man nennt als größtes Glück auf Erden

Gesund zu sein —

Ich sage nein!

Ein größres ist, gesund zu werden“

gab mir nur einen mittelmäßigen Trost; das „Gesundwerden“ nach diesem höllischen Schoppen war längst nicht so angenehm als der behagliche Zustand vor meinem fürwitzigen Anlecken an den Becher der Hekate. Wir mieteten den Einspänner, setzten Roderich von der Leine neben den Kutscher auf den Bock, fuhren, wie gesagt, an der holdseligen Jungfrau Maria im Schatten und — Regen vorüber und durch Goisern und Sankt Agatha zur Gosaumühle, wo wir feucht abstiegen, und wo Zuckriegel sich in einen Wortwechsel mit dem Kutscher verwickelte, in welchen wir beiden andern uns nicht einmischten, weil wir dem Rosselenker recht geben mußten, und dieser sich selber zu helfen wußte.

Wir mieteten den Einbaum, das heißt einen Kahn mit einer dicken Jungfrau und einem Jungen, und wurden von jener Schifferin, welche der Dichter der Lebensblüten „sich poetischer gedacht“ hatte, über den See gerudert, und ich für mein armes Teil bedauerte in diesem Augenblick nicht mehr, daß der Tag dunkel war, denn er paßte zu der Gegend. Wären meine beiden Begleiter, der Junge und das Schiffermädchen, nicht gewesen, so würde höchstwahrscheinlich der Schatten Virgils aus den schwarzen Wassern emporgestiegen sein, um sich mir als Führer auf dem fernern Wege gegen die gebräuchliche Taxe anzubieten.

Ja, das Wasser des Sees war schwarz; schwarz waren die steilrechten Felsen, die sich im schwarzen Gewölk verloren; es konnte niemand von uns drei Touristen wissen, ob nicht hinter dem düstern Nebelvorhang die erweiterte Hölle mit allen seit dem vierzehnten September Dreizehnhunderteinundzwanzig hinzugekommenen großen und kleinen Missetätern ihren Anfang nehme und in Roderich von der Leine ihren neuen Schilderer erwarte. Der Name des Menschen, Krautworst, konnte dabei nicht hinderlich sein; denn Dante bedeutet in deutscher Zunge auch nichts weiter als „Hirschleder“; aber Krautworst selber war hinderlich, denn die wunderlich ergreifende Szenerie machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn; ihn fror, er sprach vom Wechseln der Strümpfe, von rheumatischem Zahnschmerz und jammerte nach einer Tasse Tee.

Zuckriegel war schon ein anderer Mann: die Nähe der keltischen oder sonstigen Gebeine und der Sitz hinter dem walfischhaften Rücken unseres weiblichen Charons stimmten ihn milde; er glich in diesem Augenblicke weniger einem Scharfrichter als einem vazierenden Metzger; ob sein Sitz ihn auch erotisch stimmte, kann ich nicht bestimmt behaupten, stellenweise schien es so.

Nach einer Fahrt von zwei Stunden gewannen wir die Überzeugung, daß hinter dem Nebel- und Regenvorhang nicht l’inferno seinen Anfang nehme und seinen Eingang habe; sondern daß daselbst Hallstadt liege oder vielmehr klebe, und daß die Taxe für die Fahrt nicht unbillig zu nennen sei. Der Einbaum schoß beim Seeauer ans Land; und wie erotisch Zuckriegel durch unsere solide Schifferin gestimmt sein mochte, er fühlte sich keineswegs dadurch gehindert, beim Zahlen mit ihr in Konflikt zu geraten.

Von einem weiblichen Kellner geleitet, stiefelten wir durch den triefenden Garten selber triefend in das gastliche Haus, und Roderich bestellte zähneklappernd eine Tasse heißester Kraftbrühe. Hinter ihm rauschte der See, jedoch ohne ihn als Opfer haben zu wollen; im Gegenteil schien er herzlich froh, ihn losgeworden zu sein. Ich trank Kaffee, Zuckriegel aber entschloß sich zu einem starken Grog, dessen Bereitung er dann in der Küche selbst überwachte, da er diesen abgelegenen Erdenwinkel nicht mit Unrecht der richtigen Mischung dieses angenehmen Getränkes nicht gewachsen glaubte. Seinen Anzug wechselte er nicht; er blieb, wie er war, und fing nur in der Atmosphäre der geheizten Gaststube an, leise zu dampfen. Der Poet erschien nach einer Pause, während welcher man ihn nicht vermißte, wie ausgewechselt. In blendendem Weiß vom Kopf bis zu den Füßen war er von Ischl ausgefahren, jetzt stellte er sich von den Füßen bis zum Kopfe karriert dar, und wenn es seine Absicht war, in Hallstadt Aufsehen zu machen, so war dieses Kostüm wahrlich geeignet, ihn seinen Zweck erreichen zu lassen; auf einem nach der Kirchturmspitze ausgespannten Seile würde es das Natürlichste von der Welt gewesen sein. Sämtliche in der Gaststube anwesende Augen sprangen fast aus ihren Höhlungen, und die Kellnerin sprang mit einem recht unzivilisierten Aufkreisch in die Küche, worauf einen Moment später ein seltsames Gedränge von plattgedrückten Nasen an den Scheiben des dunklen Schiebfensters neben dem Ofen zu sehen war. Der Poet konnte mit dem Eindruck, welchen er hervorbrachte, zufrieden sein. Er war es auch, und setzte die Gaststube zum zweiten Male dadurch in Verwunderung, daß er seine Kraftbrühe wie jeder andere, gewöhnliche, nicht karrierte Mensch trank; jedermann schien das Gegenteil erwartet zu haben.

Der Himmel zeigte jetzt, daß er es gut mit uns gemeint habe; wenn er während der Fahrt nur leise auf uns herabtröpfelte, so tat er jetzt, da er uns unter Dach und Fach wußte, seinen Gefühlen keinen Zwang mehr an und zog seine Reserveschleusen. Es war zwei Uhr, und es regnete entsetzlich; der Wirt freute sich unseres Daseins in seinem Etablissement, und ein Autochthone tröstete uns aus einem fernen Winkel, daß wir nicht die ersten seien, die bei solchem Wetter in Hallstadt anlangten, und daß wir wahrscheinlich auch nicht die letzten sein würden, die bei ebensolchem Wetter es wieder verließen. Den Faust kannte der Eingeborene nicht und verwunderte sich deshalb zum drittenmal über den karrierten Dichter, welcher hohläugig und mit hohler Stimme rezitierte:

„Jammer! Jammer! von keiner Menschenseele zu fassen, daß mehr als ein Geschöpf in die Tiefe dieses Elends versank, daß nicht das erste genug tat für die Schuld aller übrigen!“

Frech setzte der Prosektor das Geschäft fort und fragte mit den Worten Mephistos:

„Warum machst du Gemeinschaft mit uns, wenn du sie nicht durchführen kannst?… drangen wir uns dir auf oder du dich uns? Fahren Sie fort, Herr Krautworst und sehen Sie nicht so mürrisch aus! ich habe Sie doch nicht kontrekarriert?“

Herr Krautworst fuhr nicht fort, er ärgerte sich sehr über das Zitat Zuckriegels, konnte jedoch nichts dagegen machen und besann sich erst fünf Minuten später, als der Prosektor dem Wirt das Küchenbulletin abverlangte, auf den empörten Ausdruck Fausts: „Fletsche deine gefräßigen Zähne mir nicht so entgegen! mir ekelt’s!“

Es war zu spät, auch dieses Zitat noch anzubringen; — und wir speisten zu Mittag und es gelang mir, einen mit Messer und Gabel bewaffneten Frieden zwischen dem Manne der Wissenschaft und dem Manne der Poesie herzustellen. Als aber nach Tisch der Prosektor bemerkte:

„Wahrhaftig, es regnet wahrhaft musenalmanachartig; das ist ein Wetter für einen Dichter, Herr Krautworst! wenn es mir nur nicht meine Knochen fortschwemmt!“ da schob der Poet den Stuhl zurück, griff nach dem Regenschirm, hing das Plaid über die Schultern und schritt mit einem vernichtenden Blick auf den Spötter aus der Tür. Es war, als ob Prometheus dem Geier mit titanenhafter Verachtung den Rücken zeige. „Um Gottes willen, halten Sie ihn fest!“ rief mir Zuckriegel zu. „Jetzt habe ich ihn in die rechte Stimmung versetzt; in einer halben Stunde ist er mit seinen gereimten Linzer Erlebnissen wieder da. Geben Sie Achtung, ob er sich nicht rächt; halten Sie ihn, bringen Sie ihn zurück, ich will Abbitte tun.“

„Sie lobe ich mir als Reisegefährten,“ sprach ich und ging dem guten Roderich nach. Solus cum solo war der Prosektor bei solchem Wetter doch nicht zu ertragen, die Last war zu schwer für die Schultern eines einzelnen Menschen. Von der Tür aus sah ich noch, wie er sich so gleichmütig als lang auf drei Stühlen ausstreckte und seine Reiselektüre, einen Band von Avé-Lallemants Geschichte des deutschen Gaunertums, durch deren Studium er sich mit Eifer auf sein großes Unternehmen vorbereitete, hervorzog; — durch einen dunkeln niedern Gang gelangte ich ins Freie, oder das, was man in Hallstadt das Freie nennen kann, und traf am Ausgang auf den Hospes, den ich fragte, was man bei solchem Regen „am Hallstädter See sehen“ könne?

„Hallstadt!“ sagte der Wirt, und er hatte recht, dreifach recht; Hallstadt ist bei jedem Wetter eine Merkwürdigkeit. Nirgends in der Welt vielleicht gibt es so viel Treppen auf so engem Raume als hier. Der Flecken macht den Eindruck, als sei er von einer Riesenhand, tüchtig durcheinander gerüttelt und geschüttelt, an den lotrecht aus dem schwarzen See aufsteigenden Felsen geworfen und kleben geblieben. Zwei Monate im Jahre soll ihn die Sonne nicht erreichen, und ich glaube es gern. Wo die Dächer aufhören, fangen die Straßen an; in keiner Stadt der Erde muß es so gefährlich sein, sich einen Rausch zu trinken, wie hier. Man schwindelt, wenn man empor-, und man schwindelt, wenn man hinuntergeht; — man fühlt sich selbst ohne Rausch keineswegs sicher auf seinen Füßen, und das Entzücken, mit welchem man zwischen zwei grauen Hauswänden, oder durch sonst eine Lücke in dem Mauer- und Felsenwerk auf den Spiegel des Sees und die Steierschen Alpen am jenseitigen Ufer sieht, ist stets von einer gewissen Beklemmung, einer nahen Cousine des Alpdrückens, begleitet. Die Häuser haben in Hallstadt das Recht, betrunken zu sein; die Vorsehung wacht über sie und behütet sie an den unmöglichsten Orten vor Schaden; wenn aber, was ebengenannte Vorsehung jedenfalls verhüten wird, einmal eins von diesen Häusern einfallen sollte, so wird es unzweifelhaft seine sämtlichen Genossen mit sich in den Abgrund reißen, und das ganze Nest wird zusammenfallen wie ein Kartenhaus, jedoch mit mehr Gepolter. Sehr richtig bemerkt Baedecker, daß in Hallstadt weder Pferd noch Wagen zu finden ist, und es kann einen nur wundern, daß der große Tourist hiesigen Orts danach gesucht hat. Ich erblickte nicht einmal einen Esel; als ich aber, vom Hospes auf den Mühlbach des Ortes aufmerksam gemacht, von zarter Hand zurechtgewiesen, an das romantische Wasser gelangte, stand Roderich von der Leine mit der Brieftasche in der Hand und dem Silberstift an den melodischen Lippen in einem dunklen Torbogen neben dem Gesprüh und Geplätscher, umgeben von einem achtungsvollen, aber erstaunten Kreis älterer und jüngerer Hallstädter von beiden Geschlechtern. Da ich weder ihm noch mir die Stimmung verderben wollte, so verschob ich die Besichtigung dieses berühmten Mühlbaches auf eine andere Stunde und ließ den Dichter für jetzt im unbestrittenen Besitz des Wasserlaufes; — man soll weder Diana noch den Poeten im Bade stören, so verlockend die Gelegenheit dazu sein mag.

Scheu wich ich zurück und geriet auf Umwegen zu der neuerbauten Kirche der Protestanten, die ihren Zweck erfüllte und deren Entstehung nach langem Kampfe mich sehr befriedigen mußte, welche ich jedoch, da sie verschlossen war, links liegen ließ, um mich zu der katholischen Kirche zu wenden.

Die katholischen Kirchen sind immer geöffnet, und den Weg zu ihnen findet man auch, wenn man ihn recht sucht, wozu Roderich von der Leine, oder wie ich ihn hier nennen darf, Krautworst aus Hannover, merkwürdige Belege aus seinem Erfahrungskreise liefern konnte.

Treppen, Treppen, Treppen! Hinauf, hinunter, hinauf! Feuchte, mit üppigen, sehr gesunden Mauerpflanzen bedeckte Mauern, tröpfelndes überhängendes Gebüsch aller Art — ein Kirchhof mit prächtigem, beperltem Grün, alten und neuen Denksteinen, Kreuzen, verregneten natürlichen und künstlichen Blumen, Goldflittern und Bändern, ein Kirchhof mit Aussicht über eine niedere Mauer, ein Kirchhof mit einer Aussicht über den wunderbarsten See auf das „Tote Gebirge“! — ich freute mich, daß ich kein Gedicht zu machen brauchte und keinen Ruf aufrecht zu erhalten hatte, wie der Verfasser der Lebensblüten; sondern nach einem trunkenen Blick auf all die keusch vom Regen verschleierte Schönheit ruhig meinen Regenschirm und meine ästhetischen Fühlhörner einziehen konnte, um auch das Innere des trefflichen alten Kirchleins zu besichtigen. In welchem Jahre und von welchem Künstler der Altarschrein geschnitzt ist, weiß ich nicht, und es geht mich auch gar nichts an, und das alte Weib, welches davor kniete, ging’s ebenfalls nichts an. Ich setzte mich in einen dämmerigen Kirchstuhl und hörte dem Murmeln der Alten und dem Klingen der Tropfen draußen vor den Spitzbogenfenstern und dem Rauschen des Regens in den Bäumen zu und duldete es ohne Widerstreben, daß Zuckriegel und Krautworst in meiner Seele allmählich immer mehr zu mythischen Personen wurden, und ich selber ein Ding ohne Bedeutung für das reale Leben, die Geschäftswelt und die Schreibstube. Ich entschwand mir selber in dieser märchenhaften Minute, verwahre mich übrigens ernstlich gegen jeden Gedanken an Einschlafen; ganz genau und ohne jedes schreckhafte Auffahren wußte ich, was es bedeuten sollte, als die Alte nach beendigtem Gebet auf mich zu humpelte und mir die offene, knöcherne Pfote unter die Nase hielt. Ich habe es nicht geträumt, daß sie Dominika Schönrammer hieß und ihr Sohn Seppel Schönrammer, und daß sie mir zur Begründung ihres Anspruchs an mein gutes Herz und meinen Geldbeutel die ängstliche und tränenvolle Mitteilung machte, wie genannter Seppel augenblicklich nicht daheim, sondern drüben — hinter den Bergen, — drunten — in Italien sei, um dem Kaiser das Land zu verteidigen.

Nun wußte ich auf einmal wieder, daß wir Achtzehnhundertneunundfünfzig schrieben, und daß ich nur deshalb Wien verlassen und mich in die Berge geflüchtet hatte, um den Jammer wenigstens stundenlang von der Seele loszuwerden. Dies liederliche Wien! bei allem Elend konnte es einem doch noch Spaß machen durch die Art, wie es sich unter den sich häufenden Kalamitäten zu trösten suchte. Während das junge kräftige Kind Italia seine Windeln sprengte und der alten grämlichen Wartefrau Austria das Saugfläschchen an die Nase warf, studierte Wien, bekanntlich nicht die sittlichste Stadt der Welt, die statistisch-moralischen Tabellen Frankreichs, zog Trost aus der Auflockerung aller sittlichen Bande in der gallischen Nation, und erwartete sein Heil von der Abnahme der Bevölkerung, welche unausbleiblich die Folge solcher greulichen Verderbnis war. Was für einen Orden jener kluge Mann erhalten hat, der zuerst dem denkenden Österreichertum dieses treffliche und einleuchtende Theorem in die Hände gespielt hat, kann ich leider nicht sagen. Verdient hat er einen.

Aber Seppel? Seppel Schönrammer?! Können wir uns diesen Joseph Schönrammer entgehen lassen? Ein Kirchhof mit der Aussicht auf den Hallstädter See, eine arme, alte Mutter unter dem weinenden Himmel — eine bleiche, liebliche, ländliche Braut, welche die Stufen der Kirche emporsteigt, um der Jungfrau Maria eine geweihte Kerze zu bringen und der alten Mutter für das Leben des Sohnes bitten zu helfen, — — drei Seiten Manuskript, welche, die pekuniären Vorteile ganz beiseite gelassen, die Aktien unseres schriftstellerischen Verdienstes in jeder milden Frauenbrust hochsteigen lassen würden, — — o Roderich von der Leine, o Rodrigo, Rodrigo!

Es ist traurig, nicht nur für die Damen, sondern auch für mich: eine novellistische Rührung kann an dieser Stelle nicht statuiert werden. Seppel schien den schmelzenden Gefühlen der Liebe bis dato gänzlich fremd geblieben zu sein; auf diesem „unberührten Klavier“ war der „erste einweihende Silberton“ noch nicht erklungen. Seppel Schönrammer ließ keine in Angst und Schmerz vergehende Braut hinter sich zurück; aber sakrisch geflucht hat er, als er mit Knappsack, Kuhfuß und Feldkessel ausziehen mußte, um das zu schützen, was andere zusammengeheiratet hatten. Böse Ahnungen in betreff des Feldkessels bewegten seine sonst sehr ahnungslose Brust; ach, sie erfüllten sich, der Blechtopf sollte leer bleiben wie Seppels Herz und Schädel und nur durch hohles Geklapper auf dem Tornister seine Unentbehrlichkeit zur Kriegsausrüstung des tapfren österreichischen miles impeditus auf dem Marsche wie in der Feldschlacht dartun.

Wenn ich nun auch nicht hoffen darf, durch diese Episode meines Hallstädter Aufenthalts meine Leser und Leserinnen zu rühren, so rührte mich selber doch die Erzählung der Alten tief, und ich schenkte ihr einen von jenen Guldenzetteln, welche die Regierung, wenn auch nicht über den Bedarf, so doch über die Verabredung hatte drucken lassen.

Mit den besten Wünschen für einander und den Joseph in der Lombardei nahmen wir Abschied; nach einem letzten Blick über die Mauer des Kirchhofs verließ ich ihn und stieg wieder abwärts dem Seeauer zu, getrieben von dem Bedürfnis, mich zu erkundigen, wie Zuckriegel während meiner Abwesenheit seines Daseins Last ertragen habe. Es regnete selbstverständlich ruhig weiter.

Mein trefflicher Ortssinn, der mir nirgend so sehr zu statten kam wie in Hallstadt am Hallstädter See, führte mich ohne viele Umwege zum Wirtshaus zurück, und durch die bereits erwähnte Hinterpforte und den dunkeln Gang gelangte ich wohlbehalten zur Tür der Gaststube. Aber lauschend stand ich still; — Zuckriegel hatte drinnen die höchsten Register seiner Stimme gezogen, und eine andere Stimme sang die Antistrophe mit ihm zu gleicher Zeit, was von ausgezeichnet unharmonischer Wirkung war. Das Küchenpersonal drängte sich verschüchtert-exaltiert auf dem Gange; ich aber, der ich bereits wußte, daß unser Reisegenosse sehr gern und sehr leicht in einen Wortwechsel geriet, öffnete die Stubentür und trat ein. Starr, zweifelnd blieb ich auf der Schwelle stehen und sperrte den Mund auf, ohne die Türe zu schließen.

Ich habe im Wiener Prater einen Tausendkünstler gesehen, der ein lebendiges Kaninchen an den Hinterbeinen packte, es in der Mitte durchriß und dem erstaunten und begeisterten Publiko nunmehr in jeder Hand ein lustig zappelndes Tierchen präsentierte. Ein ganz ähnliches Experiment schien mit dem Prosektor Zuckriegel vorgenommen worden zu sein; — er war zum zweitenmal in der Gaststube beim Seeauer vorhanden und — zankte sich bereits aufs heftigste mit seinem Doppelgänger. Das Buch vom deutschen Gaunertum war verächtlich zu Boden geworfen, ebenso zwei von den Stühlen, auf welchen der nicht nur große, sondern auch lange Mann seine Mittagsruhe gehalten hatte. Mit ihren Brieftafeln in den Händen gestikulierten beide streitende, hagerne, lederfarbene, grau in grau kolorierte Gesellen aufeinander ein und suchten sich gegenseitig zu überschreien. Der Fremde dampfte, wie Zuckriegel gedampft hatte, — ein Beweis, daß er vor noch nicht langer Zeit eingetroffen sein konnte.

„Um Gottes Willen, Herr Prosektor! meine Herren! meine Herren!“ rief ich beschwörend, zwischen die beiden erhitzten Kämpfer springend. „Mäßigen Sie sich doch, Herr Zuckriegel! Was gibt es denn? was ist denn vorgefallen?“

„Und ich sage Ihnen, Sie irren sich durchgängig!“ schrie Zuckriegel. „Ich widerlege Ihre Aufstellung Punkt für Punkt; — — wollen Sie mich endlich ruhig anhören?“

„Nein!“ krächzte sein ihm so ähnliches Gegenpart. „Weshalb sollte ich Sie ruhig anhören, da Sie mich nicht aussprechen lassen wollen? Beharren Sie nur auf Ihrer Meinung; — — ich werde gegen Sie schreiben; ich werde der Welt Ihre Hypothesen vorlegen und in der rechten Beleuchtung zeigen.“

Zuckriegel schoß auf und nieder, wie der Kerl mit dem langen Halse im Puppenkasten. Sein Hals entwickelte eine grauenerregende Dehnbarkeit; er mußte jedenfalls aus einem elastischeren Stoffe als Gummielastikum bestehen. „Schreiben Sie, schmieren Sie! Ich werde Sie niederschreiben, ich werde Sie platt schreiben wie eine Bettwanze. Ich werde Ihren krassen Ignorantismus vor der Welt ausklopfen, daß die Motten herausfliegen sollen; ich werde —“

Ich faßte den empörten Reisegenossen um den Hals und schob ihn zurück; ich schob auch den nachrückenden grauen Fremdling zurück und hielt die beiden Streithähne mit meinem triefenden Regenschirm auseinander.

„Herr Prosektor,“ sagte ich, „ich bitte jetzt höflichst, mir diesen Herrn vorzustellen — Herr Prosektor, ich bitte Sie, sich zu beruhigen — mein Herr, lassen Sie mich den Neutralen spielen, lassen Sie mich den Friedenskongreß eröffnen —“

„Ich bin Professor Steinbüchse aus Berlin,“ sprach der Fremdling. „Professor der Altertumskunde Steinbüchse, auf einer wissenschaftlichen Reise zu den neuentdeckten Leichenfeldern am Hallstädter See im Salzkammergut begriffen.“

„Ah!“ sagte ich, aber Zuckriegel schrie:

„Er behauptet, es seien keltische Knochen; jedes Kind sieht —“

„Ein Kind sieht hier germanisches Gebein,“ schrie Steinbüchse, „aber jeder unver—“

„Halt, halt, halt, meine Herren!“ schrie auch ich jetzt mit aller Kraft meiner Lungen. „Keinen neuen Friedensbruch! keine unnötigen Anzüglichkeiten! keine gelehrten Redeblumen! Bitte, Herr Professor, kommen Sie soeben von diesen fraglichen Knochen zurück?“

„Ich bin auf der Reise dorthin begriffen.“

„Also haben Sie eben diese Knochen noch gar nicht gesehen?“

„Nur durch das Medium der öffentlichen Blätter.“

„Und Sie sind auch noch gar nicht oben am Rudolfsturm gewesen, Herr Zuckriegel?“

„Bei diesem Wetter? Müßte doch ein Narr sein! Die Knochen schwimmen nicht fort, und ich kann warten. Lag ruhig auf dem Rücken und las den Avé-Lallemant, als ich überfallen wurde von diesem — — —“

Der Rest der Rede ging in einem undeutlichen Gemurmel verloren, ich glaube etwas von „böotischem Hochstapler“ vernommen zu haben; heiser wie ein vermittelnder neutraler Gesandter auf einer Friedenskonferenz rief ich:

„Reichen Sie sich die Hände, meine hochverehrten Herren. Ohne Umstände — seien Sie Brüder, wie Sie Kollegen sind. Die Wissenschaft schreitet am besten durch das heitere Bündnis aller Kräfte fort. Lassen Sie uns friedfertig zusammen zu Abend essen und morgen früh frisch, fromm, froh emporsteigen zu diesen geheimnisvollen Gebeinen, und den Streit an Ort und Stelle zum Austrag bringen.“

Durch mehrere verhängnisvolle Augenblicke sahen sich die beiden Gelehrten grimmig an; dann aber zeigte Steinbüchse, daß er noch nicht ganz dem Prosektor ähnlich sei; er erklärte sich bereit, Frieden und den Mund zu halten bis morgen früh; setzte jedoch hinzu, daß er morgen früh bei jedem Wetter zum Rudolfsturm hinaufklettern werde.

Knurrend nahm Zuckriegel sein Gaunerbuch wieder vom Boden auf, zu einem weitern Zugeständnis in bezug auf diese so mühsam errichtete treuga Dei ließ er sich nicht herab. Daß der fromme Dichter in diesem Augenblick ins Zimmer hüpfte, trug mehr als alles übrige dazu bei, die Gemüter zur Ruhe zu bringen; der besänftigende Zauber der Poesie trat einmal wieder so recht klar zutage.

Roderich von der Leine war sehr naß, so naß, daß er sich am besten selbst auf die Leine zum Trocknen gehängt hätte. Aber er dachte nicht daran. Seine Sehorgane rollten in dem bekannten schönen Wahnsinn; auch er hielt seine Brieftasche in der Hand, und es tröpfelte aus ihr. Die Geburt war vollendet, der Verfasser der Lebensblüten hatte seine Linzer Erlebnisse unter dem Einfluß des erfrischenden Gestäubes des Hallstädter Mühlbachs in Reime gebracht; Zuckriegel stöhnte schwer.

Ich stellte den Professor Steinbüchse und den Dichter einander vor, und der Professor offenbarte eine neue Unähnlichkeit mit dem Prosektor; er war höflich, er war duldsam, ja er war sogar zuvorkommend gegen den Poeten und bat ihn herzlich, sich doch ja nicht durch seine Gegenwart abhalten zu lassen, sein Gedicht vorzutragen. Vielleicht war und tat er das alles nur, weil er die Grimassen, das Schnauben, Achselzucken, all die kläglichen Windungen Zuckriegels bemerkte und deutete.

„Ja, lesen Sie, tragen Sie vor,“ sagte ich, nicht ohne den Spuren des Professors zu folgen.

„Würde es nicht besser sein, wenn Sie erst den Anzug wechselten?!“ seufzte Zuckriegel. „Sie können sich leicht sehr arg erkälten, Herr Krautworst. Es wäre doch recht schade, wenn Sie durch jugendliche Unbesonnenheit sich selbst um-, und die Nachwelt um Ihre noch unerschaffenen unsterblichen Werke brächten.“

Da die weißen Gewänder noch immer naß in der Küche am Herde hingen, so hätte Rodrigo sich nur in das Kostüm Adams werfen können, wenn er den zärtlichen, besorglichen Ratschlägen Zuckriegels hätte Folge geben wollen. Die innere Aufregung hob ihn übrigens über alle rheumatischen, katarrhalischen Befürchtungen hinweg:

Den hohen Göttern war er eigen,

Ihm durft nichts Irdisches sich nahn.

„Wollen Sie nicht wenigstens andere Strümpfe anziehen? ich würde sehr dazu raten. Junge Dichter sind so schon sehr zu Kongestionen nach dem Cerebralsystem geneigt,“ sagte Zuckriegel in wahren Flötentönen.

Der Dichter schüttelte nur zerstreut das Haupt; er blätterte heftig in seinem Notizbuche.

„Nun denn, in drei Teufels Namen, so lassen Sie’s laufen!“ schnauzte Zuckriegel, zum Äußersten und um seine Kosten in Hinsicht auf die vorige Höflichkeit und Milde gebracht.

Roderich von der Leine wendete sich zu uns:

„Haben Sie bereits den Mühlbach gesehen, meine Herren?“

„Nein,“ sagte ich, und auch Steinbüchse hatte noch nicht das Vergnügen gehabt.

„Sie müssen ihn sehen!“ rief emphatisch der Poet. „Originell, — romantisch im höchsten Grade. Da ist ein alter dunkler Bogen mit einer Nische und einem Bilde, einem Bilde des heiligen — wenn ich nicht irre, des heiligen Sebastian drin; ich habe über zwei Stunden dort gestanden.“

„Den Mühlbach sah ich nicht; Sie aber sah ich, liebster Freund, wollte Sie jedoch nicht stören.“

Dankend neigte Roderich das Haupt gegen mich, dann aber fuhr er mit der Brieftafel ruckartig gegen die Nase und begann, anfangs schüchtern, dann aber immer mutiger, mit den bekannten Seitenblicken auf die Zuhörerschaft:

„Grau verschleiert schaun die Berge

Auf die fremde Stadt herein,

Unablässig rieselt’s nieder,

Und ich gähne kläglich drein.“

„Grade wie ich!“ knurrte Zuckriegel, der die verdrießliche Nase wieder in seinen Avé-Lallemant gesteckt hatte.

„Gott, o Gott, ach woll es wenden,

Gott, Erbarmen habe du!

Sende mir in diesem Trübsal

Einen deiner Engel zu!“

„Mir auch! ich bitte dringend!“ seufzte Zuckriegel.

„Goldgelockt, mit blauen Augen,

Schlank und weiß von Angesicht

Laß ihn sein, um mich zu trösten; —

Flügel, — Flügel braucht er nicht.“

„Ich aber könnte sie gebrauchen!“ seufzte Zuckriegel.

„Von dem Dome summt die Glocke,

Und die frommen Christen schleichen

Durch den Schmutz der Stadt zur Messe;

Gott, o Gott, laß dich erweichen!“

„Was solch ein Mensch doch alles verlangt. Selber kennt er kein Mitleid,“ brummte Zuckriegel.

„Einen Engel send hernieder

Oder einen Sonnenstrahl,

Lasse mich nicht untergehen

Hier in dieser Jammerqual!“

„Auch mich nicht; ich flehe inständigst darum!“ sagte Zuckriegel; der Dichter aber machte uns darauf aufmerksam, daß sein Gedicht durch feine Einschnitte gegliedert sei, daß nunmehr eine neue Bilderreihe anhebe. Er fuhr fort:

„Bläulich ringelnd, sanft verwehend

Schwindet der Zigarre Duft;

Unablässig rieselt’s nieder,

Und ich schnappe wild nach Luft.“

Zuckriegel ächzte: „Ich nicht weniger.“

„Aus dem Fenster halben Leibes

Häng’ ich jetzt und hör’ die Tropfen

Drunten in der engen Gasse

Auf die Regenschirme klopfen.“

Zuckriegel wußte ganz genau, auf was er am liebsten klopfen würde.

„Und das Auge schläfrig müde,

An dem Hause gegenüber,

Von dem Keller bis zum Dache,

Kriecht’s hinauf und senkt sich wieder.“

Zuckriegels Auge kroch auch unheilverkündend an dem Poeten in die Höhe und senkte sich erst wieder, als jener weiter sprach:

„An des Metzgers Tür dem Hammel,

Ausgeweidet, halbzerfetzt,

Ach, wie gleicht ihm schauderhaftig

Meine arme Seele jetzt!“

Zuckriegel brummte: „Ein schauderhaftiger Vers, sonst aber der einzige, der bis jetzt meine ganze Billigung hat.“ Laut rief er: „Herr Krautworst, ich mache Ihnen mein Kompliment über Ihre Kenntnis des menschlichen Innern. Bitte, tragen Sie die letzten Reime noch einmal vor; — wem glich Ihre arme Seele in jenem denkwürdigen Moment und Seelenzustande?“

„Abteilung drei!“ sagte Roderich von der Leine, den Prosektor verachtend.

„Hinter hohen Spiegelscheiben

In dem blanken Messingbauer

Kreischt ein grüner Papageie

Und erweckt mir neue Schauer.“

„Aber es scheint doch eine gute Schule gewesen zu sein!“ akkompagnierte Zuckriegel.

„Eine Dam in rotem Sammet

Füttert ihn mit Zuckerbrocken.

Merci! kreischt er, klettert, flattert: —

Alle meine Pulse stocken;

Denn ein neues Bild ist er mir

Aus dem wildbewegten Leben;

Denn mit Flattern, Mercisagen

Hab’ auch ich mich abgegeben.“

Die Verachtung Zuckriegels stieg zu einem solchen Grade, daß er sie während der folgenden Verse nur noch durch Gesten, die nahe an Verrenkungen grenzten, auszudrücken vermochte.

„Und ’ne Dam in rotem Sammet

Reicht’ auch mir einst Süßigkeiten;

Merci! merci! rasend werd’ ich,

Denk’ ich heute jener Zeiten.

O du grüner Papagoye

In dem blanken Silberringe,

Häng dich auf an deiner Kette:

Sauer werden süße Dinge.“

„Sehr!“ seufzte Zuckriegel und fügte mit wahrhaft sezierenden Blicken hinzu: „Ja, wenn er sich nur hängen wollte!“

„Vierte Abteilung!“ sagte der Dichter.

„Und von neuem schläfrig gähnend,

Heb’ ich jetzt die Augenlider;

Hoch und höher schweift das Auge,

Nah dem Dache haftet’s wieder.

Nah dem Dache — Gott, was seh’ ich?

Gott, o Gott, kann’s möglich sein?

In des Regens trostlos Plätschern

Schießt ein Sonnenstrahl herein!

Nah dem Dach ein offen Fenster,

Ganz von Bohnenblüt umwoben!

Gott, o Gott, du hast gerettet!

Dank dir, Dichtergott dort oben!“

„Meine Komplimente an ihn,“ grunzte Zuckriegel, „aber er hätte etwas Besseres tun können.“

„Nah dem Dach ein offen Fenster,

Und darin ein Engelsköpfchen,

Blaue Augen, weiße Arme,

Rosig Mündlein, goldne Zöpfchen!

Nah dem Dach der ganze Himmel;

O wie fern dem Erdenschmutz!

Nah dem Dach die ewge Wonne!

Schöne Heilge, deinen Schutz,

Deinen süßen Schutz erfleh’ ich, —

Nicht mit Winken — kaum mit Blicken;

Schöne Heilge, schöne Selge,

Willst du nicht hernieder nicken?“

„Sie wäre doch rein verrückt, wenn sie dem Narren den Gefallen täte!“ grunzte Zuckriegel, sich ganz in die Situation versetzend.

„Ach, sie hebt sich von dem Sitze;

Elfenhaft, im Blütenkranz,

Um den Mund ein Engellächeln

Steht sie hold im Sonnenglanz.

Alle Teufel! Tod und Hölle!

Gott, o Gott, was soll das wieder?

Schönster Engel! Süße Heilige!

Gott, sie läßt den Vorhang nieder.“

„Brava! Brava!“ schrie Zuckriegel, grinsend in die Hände klatschend; doch mit einem triumphierenden Blick auf ihn sprach Roderich von der Leine:

„Abteilung fünf!“ und der Prosektor versank wieder hinter dem deutschen Gaunertum.

„Unablässig rauscht’s herunter,

Und ich seufze klagend drein;

Grau verschleiert sehn die Berge

Auf die fremde Stadt herein.

Und das rote Reisehandbuch

Greif’ ich auf und sink’ zurück

Schwer und mit gelösten Gliedern

In den Sessel, und der Blick

Sucht die Stelle, wo es lautet:

‚Linz ist eine schöne Stadt,

Die schlecht Pflaster, einige Menschen

Und auch ein Theater hat.‘

Linz, o Linz am Donaustrande,

Ewig, Linz, gedenk’ ich dein;

Deinem Ruhme und Theater

Will ich diese Verse weihn.

Linz, o Linz am Donaustrande,

Linz in Oberösterreich,

Denk’ ich deiner, wird das Auge

Feucht, und wird das Herze weich.

Jener weiße, kleine Vorhang

Vor dem Fenster nah dem Dach, —

Denk’ ich sein, was wird da alles

In dem dummen Herzen wach!

Alle Götter und Göttinnen

Sind dem Dichter stets zur Seit,

Geben ihm durch Blut und Flammen,

Durch den Regen das Geleit.

Jenen weißen, kleinen Vorhang,

Liebchen, Liebchen, laß ihn zu;

In der holden Götterdämmrung,

Liebchen, lieblicher bist du!“

Bedeutungsvoll klappte der Dichter seine feuchte Brieftasche zusammen, und es begab sich etwas, das einem Wunder glich. Zuckriegel warf das Buch vom deutschen Gaunertum zum zweitenmal auf den Boden, doch diesmal nicht im Zorn. Er erhob sich, schritt auf den Poeten los, drückte ihm mit verdächtiger Zärtlichkeit die Hand und sagte nun wiederum in seinem Flötenton:

„Herr Krautworst, ist dieses Poem wirklich von Ihnen? Haben Sie wirklich das selbst gemacht, Sie jugendlicher Heinrich Heine, oder wie der Mensch heißt?! In der Tat, wenn Ihre bis jetzt mir leider gänzlich unbekannten Kneipenblüt — nein, Lebensblüten sämtlich aus ähnlichem Stoff zugeschnitten und verarbeitet sind, so bitte ich Sie höflichst, mir ein Freiexemplar derselben zu schicken. Hier ist meine genauere Adresse — portofrei, wenn ich so frei sein darf, Sie darum zu ersuchen. Wenn später einmal die Rückenmarksdarre —“

„Herr,“ schrie Roderich jetzt außer sich vor Zorn, „Herr, ich bin so frei, Sie zu ersuchen, mich ungeschoren zu lassen; Ihre Unverschämtheit überschreitet allmählich alle Grenzen!“

„Ruhig, ruhig, mein junger Freund,“ lächelte Zuckriegel, „Sie haben freilich ein treffliches Gedicht hervorgebracht. Genial! Ein funkensprühendes kleines Meisterwerk! Unser Lob muß Ihnen sehr schmeichelhaft sein; aber ich bitte, sehen Sie nicht zu verachtend von der Höhe, auf welche unsere Bewunderung Sie erhebt. Ich weiß, daß dem furor poeticus etwas zu gut zu halten ist; in unserer Abteilung für Geistesabwesende hatten wir —“

Professor Steinbüchse und ich erkannten zu gleicher Zeit, daß es die höchste Zeit sei, einzuschreiten. Wir überhäuften den Dichter mit ernstgemeinten und eben so ernst ausgesprochenen Lobeserhebungen. Ich machte ihn außerdem noch darauf aufmerksam, wie der Poet im schönen kalten Egoismus die Menschen nur als einen Ton, der für ihn zum Kneten und Formen geschaffen sei, ansehen müsse. Ich überzeugte ihn, daß der Prosektor nur als „Stoff“, niemals als „beleidigen könnendes“ Wesen für ihn Bedeutung und Inhalt haben könne; — Roderich von der Leine maß seinen Wert an Zuckriegels Unwert, und in erträglicher Harmonie aßen wir vier für einander geschaffene Charaktere zu Nacht. Aber nach Tisch erhob sich eine ungeheuerliche Schwierigkeit.

Als wir uns nämlich nach unsern Schlafgemächern erkundigten, verkündigte der Hospes, daß er uns nur zwei Kammern zur Verfügung stellen könne, und daß die Herren sich drein finden müßten, zu zwei und zwei in einem Zimmer zu schlafen; die Betten aber seien ausgezeichnet und ließen nichts zu wünschen übrig; beide Kammern seien auch nur durch eine Wand voneinander getrennt und hätten beide die Aussicht auf den See.

„Worauf ich huste!“ sagte Zuckriegel. „Herr Krautworst, wir beide schlafen zusammen, — und am liebsten unter einer Decke. Wir haben uns noch nicht völlig gegeneinander ausgesprochen und werden nunmehr die angenehmste Gelegenheit dazu haben; ich pflege gewöhnlich erst gegen Morgen einzuschlummern.“

Roderich sah auf den Prosektor wie die böse Stiefmutter auf das Faß voll scharfer Nägel und Ottern, in welches sie gesteckt werden sollte. Entsetzen, Abscheu, Ekel und Angst malten sich in seinen weichen Zügen.

„Wir übernachten natürlich zusammen,“ flüsterte ich ihm zu. „Sie sollen gerächt werden, wie Sie es nur wünschen können; Steinbüchse und Zuckriegel werden zusammengepackt.“

Der Dichter drückte mir gerührt unter dem Tische die Hand und verließ ihn — nämlich den Tisch — so eilig als möglich, um für mich und sich unter dem Vorleuchten des Wirtes Besitz von dem einen Schlafgemach zu ergreifen.

„Na, Professor, so müssen wir beide doch wohl zusammenkriechen, ich rieche es,“ sagte Zuckriegel, einen hohnlächelnden Blick auf mich schießend. „Wir wollen aber die süßen Hoffnungen dieser beiden jungen Männer zuschanden machen; wir wollen den abgeschlossenen Waffenstillstand nicht brechen; schnarchen wollen wir.“

„Versteht sich,“ sprach Steinbüchse, vollkommen von der Festigkeit seines Willens und Charakters überzeugt. „Ich denke einen guten Schlaf zu tun,“ setzte er mit Wallensteinschem Glauben an die Sterne hinzu, und ich gestehe, daß ich mit Bedauern anfing, an den Vorsatz der zwei Gelehrten zu glauben.

Wir wünschten uns gegenseitig eine angenehme Nachtruhe, und als ich mein Schlafgemach erreichte, fand ich den Verfasser der Lebensblüten bereits behaglich in seinem Federbett eingekapselt. Nur sein mit einem roten seidenen Tuch umwickeltes unsterbliches Haupt sah aus dem Kissen hervor.

„Was beginnen sie? Sind sie zu Bett?“ fragte er.

„Jeder hat noch ein Glas Punsch bestellt. Ich fürchte, die Nacht wird ruhiger vergehen, als wir hoffen.“

„Ich glaube an das Gegenteil; — schlafen Sie wohl, liebster Freund; ich will Sie wecken, wenn’s Zeit ist.“

„Meinen besten Dank im voraus. Gute Nacht!“

Dumpf hörte ich noch im ersten Schlummer den Dichter zitieren:

Quam iuvat immites ventos audire cubantem,

Et dominam tenero detinuisse sinu;“ —

aber ich ruhte, „vom Geplätscher in den Schlaf gerauscht“, zu sicher, um die üppigen lateinischen Schulreminiszenzen Roderichs noch weiter zu verfolgen; der See und der Regen übten denselben beruhigenden Einfluß auf mich, wie der letztere einst auf den Elegiker Albius Tibullus.

Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht; aber mir hatte schon längere Zeit geträumt wie dem Ritter Don Quixote, daß ich mich im Lager des Agramant befinde und gleich dem König Sobrino berufen sei, die ausgebrochene Verwirrung zu lösen, als ich plötzlich durch das Geflüster Roderichs von der Leine geweckt wurde:

„Liebster Freund! bester Freund! Sie haben sich! Sie liegen sich in den Haaren! Horchen Sie! Hören Sie! ah!“

Eben noch hörte ich Messer Ludovico Ariosto beim Schreiben seines rasenden Rolands lachen und sah ihn sich den dünnen Bart streichen; nun lag ich wieder beim Seeauer am Hallstädter See im warmen Bett, eine Stunde nach Mitternacht, hörte den Regen vor dem Fenster, sah beim trüben Schimmer des Nachtlichts den hannoveranischen Dichter aufrecht auf seinem Lager sitzen und vernahm hinter der dünnen Bretterwand der Kammer ein Kampfgetöse, das nur von dem Aufeinanderfahren der Geister Steinbüchses und Zuckriegels herrühren konnte.

Wie viele Gläser Punsch die beiden Trefflichen noch getrunken hatten, mußte die Rechnung des folgenden Tages ausweisen; jedenfalls hatten sie genug und warfen sich die Knochen der Kelten und Germanen in einer Weise an die Köpfe, welche den unbefangenen Lauscher ergötzten, aber den befangenen, wie Roderich von der Leine, aufs höchste entzücken mußte.

Ob die beiden Helden bereits im Zank die Kammer beschritten hatten, oder ob der gelehrte Zwist sich erst von den Betten aus angesponnen hatte, weiß ich nicht; Rodrigo behauptete das erstere; ich jedoch kann nicht recht daran glauben; denn Zuckriegel war nicht der Mann, der sich ruhig auf den Rücken legte, ehe er den Gegner darauf hingestreckt hatte, und Steinbüchse, wenn auch in andern Dingen etwas weicher, milder, menschlicher, gab dem anatomischen Vorschneider auf dem Felde der Wissenschaft an hartnäckiger Behauptung seiner Meinungen wenig oder nichts nach.

Jetzt fühlte ich mich nicht mehr berufen, als Vermittler einzuschreiten, sondern vergnügte mich königlich, und das Gesicht des Verfassers der Lebensblüten in der gedämpften Beleuchtung des Nachtlichtes war auch der Betrachtung wert.

Diesmal vernahmen die Horcher hinter der Wand nicht ihre eigene Schande; die beiden bepunschten Mitglieder der universitas litterarum sagten sich die entsetzlichsten Grobheiten mit wahrhaft klassischer Naivität. Je schwieriger es für sie wurde, sich gegenseitig zu überbieten, desto genialer wurden ihre Eräußerungen, und kein Wort des einen war zu hoch, daß nicht der andere ein noch höheres darauf setzte. Sie spuckten sich moralisch ins Gesicht, und ich bin überzeugt, daß Zuckriegel mehrmals nur um die Breite eines Haares von dem Schicksal, auf Jahrmärkten vor einem moritätlichen Orgelbilde abgesungen zu werden, entfernt war.

„Jetzt beißt er in den Bettpfosten! So wahr ich lebe, bester Freund, er beißt vor Wut in den Bettpfosten!“ jauchzte der fromme Dichter in verhaltener Lust.

„Und der andere hat sich die Decke in den Mund gestopft. Wahrhaftig, lieber Freund, sie werden beide morgen am Gallenfieber krank liegen, wenn wir nicht mit dem Stiefelknecht an die Wand klopfen.“

„Um alles in der Welt nicht!“ bat der Poet. „Stören Sie ihre Kreise nicht! Gallenfieber? Bah, sehen Sie nur in die Jahrbücher für Philologie, in ihre medizinischen Zeitschriften. Sie können viel vertragen, ohne Schaden an ihrer Gesundheit zu leiden. Hören Sie nur, da geht der Berliner wieder ins Zeug. So ist’s recht! Faß ihn, Professor — drauf! drauf! Hurrah, der Hieb saß! Das nenne ich ausgeschmiert!“

Ein Gepolter hinter der Wand folgte auf und unterbrach den Jubel des Dichters; auf das Gepolter erscholl ein dumpf dröhnender Fall, mit beiden Füßen fuhren Roderich und ich diesseits aus unseren Betten; denn nun schien es doch wieder Menschen- und Christenpflicht geworden zu sein, das Blutvergießen zu verhindern. Aber eine höhere Macht war bereits eingeschritten.

Wohl sang Professor Steinbüchse aus Berlin Io triumphe; doch Prosektor Zuckriegel faßte ihn nicht mit seinem guten Gebiß an der Kehle. Wohl war Prosektor Zuckriegel vom Lager aufgesprungen, um den Gegner zu packen; doch der Geist besiegte den Geist, der wackere Anatom hatte viel zu viel Punsch getrunken; er maß den Boden seiner ganzen Länge nach und schnarchte wie ein Kind an der Brust seiner Mutter, nur etwas lauter.

Noch fünf Minuten gluckste der Professor triumphierend, dann entschlummerte auch er, alle Register seines Nasen-, Kehlkopf- und Gaumen-Systems ziehend. Nun hielten die beiden Würdigen doch das sich selber und mir gegebene Versprechen; sie schnarchten, allein erst nach dem Kampfe.

Diesseits der Wand horchten wir noch eine Weile, aber da das Sägen, Blasen und Raspeln immer regelmäßiger, wenn auch nicht melodischer wurde, so überließen auch wir uns dem balsamischen Schlaf. Roderich entschlief mit einem Ach der unsäglichsten Befriedigung. So war Zeus’ Wille für heute vollendet; wie sich aber die Dinge am nächsten Morgen gestalten sollten, das lag ebenfalls auf dem Schoß des Wolkenversammlers. — Warum regnete er uns fest am Hallstädter See? —

Ich hatte mir vorgenommen, früh wieder aufzuwachen, um beim ersten Erscheinen Zuckriegels und Steinbüchses zugegen zu sein und pflichtmäßig als höflicher und auch jüngerer Mann mich nach der Nachtruhe der beiden Herren zu erkundigen. Als ich aber die Augen aufschlug, merkte ich, daß auch ich meine moralischen Kräfte gleich den beiden Gelehrten ein wenig überschätzt hatte, und als ich halbbekleidet zum Fenster eilte, um mich auch durch den Augenschein zu überzeugen, daß der Regen noch nicht zu Ende sei, erblickte ich zu meinem höchsten Erstaunen unter zwei Regenschirmen vier graue Beine, welche einander entgegen vor dem Gartenpavillon auf- und abliefen. Und als der Wind zu gleicher Zeit aus den Regenschirmen zwei Tulpen bildete, da sah ich mit zweifelnder Verwunderung, daß sie es waren — sie — Zuckriegel und Professor Steinbüchse.

Der Dichter suchte höchstwahrscheinlich in seinem tiefen Morgenschlummer einen Reim auf Mensch; denn er stöhnte fürchterlich und griff ängstlich mit krampfhaftem Zucken der Hände auf der Bettdecke umher. Ich fühlte mich nicht berufen, ihm aus dem Dilemma zu helfen; in beflügelter Eile machte ich Toilette, um mich den beiden grauen Lustwandlern im Garten anzuschließen und zu erkunden, welch ein Geist diese Peripatetiker nach solcher stürmischen Nacht in solcher Weise neben- und gegeneinander am nebelverhangenen Ufer des Hallstädter Sees auf- und abführte.

Ich eilte die Treppe hinab, rief nach dem morgendlichen Kaffee, trat dann, ebenfalls unter aufgespanntem Regenschirm, in den Garten und schloß mich mit unbefangenster Miene den zwei Weltweisen an, um ihnen das, was ich ihnen freilich nicht geben konnte, zu bieten, nämlich einen guten Morgen.

Sie sahen verstört, übernächtig und verdrießlich genug aus: aber bewundern mußte sie jeder denkende Mensch; und ich, der ich für jedes geniale Sichfinden in die Stunde und ihre Verhältnisse einen feinen und freien Blick habe, ich fühlte plötzlich eine Achtung für sie, von welcher ich bis dahin keinen Begriff gehabt hatte.

Wie sank Roderichs von der Leine kleinliche, aber unversöhnliche Gereiztheit vor der wahrhaft großartigen Charakterentfaltung dieser beiden Männer der Wissenschaft auf ihr rechtes Maß herab! Zuckriegel und Steinbüchse hatten sich auch gegenseitig gereizt, hatten sich schöne Dinge gesagt; aber was war ihre Persönlichkeit gegenüber den hohen Zwecken ihres Daseins am Hallstädter See? Die gelehrten Leidenschaften, welche nächtlicherweise die Seelen der zwei streitbaren Helden so furchtbar gegeneinander empört hatten, lagen geduckt, so weit es möglich war, am Boden. Die spirituosen Wolken, welche das Gehirn der Kämpfer füllten, hatten sich bis auf einen leichten, schleierartigen Dunst verzogen; Zuckriegel war zu groß, die Brausche seiner Stirn an dem Professor zu rächen, und Steinbüchse aus Berlin war zu geistig-klar, um sich zu erinnern, daß er um Mitternacht ein „blödsinniger Esel“ genannt worden sei. Von den Erinnerungen des letzten Tages und der vergangenen Nacht waren nur die vertraulichen Mitteilungen der behaglichen Abendstunden, als der Punsch noch nicht gewirkt hatte, übrig geblieben: Steinbüchse hatte Zuckriegel ins Ohr geflüstert, daß auch er gekommen sei, um auf dem Leichenacker des unbekannten Volkes am Rudolfsturm sich nach „etwas Brauchbarem umzusehen“, und im Fall man es nicht willig, billig oder gegen gute Worte ablassen werde, sich „seines gelehrten Rechtes“ zu bedienen. Da nun des Professors Blick mehr auf bronzene Fibulae, Nadeln, Schwertgriffe und Pfeilspitzen gerichtet war, der Prosektor aber nur Knochen, Knochen, Knochen für seine Sammlung gebrauchen konnte, so kamen die beiden lüsternen Gemüter einander hier in keiner Weise ins Gehege. Sie hatten sich also über ihren dampfenden Gläsern innigst die Hände geschüttelt, und um einander die Jagd nicht zu verderben, gegenseitig geschworen, nur in Gemeinschaft darauf ausgehen zu wollen, und sich in allen Fährlichkeiten des Unternehmens mit Beredsamkeit, List, ja mit Gewalt gegenseitig beizustehen. Die Vorgänge der Nacht konnten an diesem Feldzugsplane nichts ändern, und so liefen die gelehrten Verschwörer nach eingenommenem Kaffee im Garten am See auf und ab, und sahen sich bei jedem neuen Vorüberstreifen mit finstern Blicken und Widerwillen, aber doch ohne Mordlust an.

Um neun Uhr wollte man aufbrechen zu diesem neuen Argonautenzug, Raub der Helena oder Raubzug ohne Umschweife. Es schlug eben acht, ich hatte also vollkommen Zeit, in Behaglichkeit ebenfalls Kaffee zu trinken und das Erwachen des Poeten zu erwarten.

Gegen halb neun Uhr erschien Roderich von der Leine, dieses Mal wieder in seinem weißen Kostüm. Jetzt hing der karrierte Anzug auf der Leine am Küchenherde, und wurde von vielen Gebirgsbewohnern, die in ebengenannter Küche sonst nichts zu suchen hatten, angestarrt, betastet und grinsend bewundert.

Die Begrüßung zwischen dem Dichter und den beiden andern Herren hatte ihre Reize für den aufmerksamen Beobachter; aber Zuckriegel hatte seine Galle und Bosheit in der Nacht so reichlich ausgeströmt, daß er am frühen Morgen verhältnismäßig matt war; seine Stimmung war ungefähr die einer Brillenschlange, welcher der fromme, aber schlaue Hindu einen Flanellappen vor die Zähne geworfen hat, und welche ihr Gift daran losgeworden ist. Als ich jedoch dem trefflichen Jüngling Hannovers meine Absicht, die beiden Gelehrten auf ihrem gefahrvollen, aber ruhmreichen Wege zu begleiten, mitteilte, da fuhr er, ohne der Zuckriegelschen Mildigkeit zu trauen, erschreckt vom Stuhle auf, warf ihn und den Milchtopf um, zog mich in einen Winkel und flüsterte:

„Ich bitte, ich beschwöre Sie! Was wollen Sie tun? Bleiben Sie bei mir, gehen Sie nicht mit diesen zwei seelenlosen Ungeheuern. Ich habe es mir überlegt, man kann Hallstadt nicht verlassen, ohne den Schleierfall, den Sprattenfall, den Waldbachstrub gesehen und einen entzückten Blick auf den Dachstein und das Karlseisfeld geworfen zu haben. Man würde uns auslachen, wenn wir ohne diese Erinnerung heimkehrten; — ich flehe Sie an, rennen Sie nicht in Ihr Verderben, gehen Sie mit mir; ich habe Ihnen noch so vieles zu sagen, wir sympathisieren so vortrefflich miteinander. Auf dem Wege nach dem Rudolfsturm regnet es ebenso sehr wie im Echerntal, o kommen Sie mit mir!“

Wenn mich etwas dazu hätte bringen können, den glänzenden Fußstapfen des göttlichen Sängers zu folgen, so wäre es die letzte so unbeschreiblich wahre Bemerkung gewesen. Aber mein Entschluß stand fest; ich wollte mich lieber auf dem Wege nach den unbekannten Knochen als nach dem Waldbachstrub auswaschen lassen. Ich ziehe überhaupt der schönen Natur eine schöne Menschenseele weit vor, und um Zuckriegels und Steinbüchses Gesellschaft an diesem Morgen hätte ich alle landschaftlichen Herrlichkeiten des Salzkammergutes samt dem himmlichsten Sonnenscheine mit tausend Freuden fahren lassen, und alle Singvögel und frommen Tiere des Waldes gratis zugegeben.

Ich entzog mich also mit bedächtigem Hauptschütteln den umschlingenden Armen des Verfassers der Lebensblüten und sagte:

„Teuerster Freund, ich kann Sie nicht zwingen, uns zu folgen, aber ich wollte, ich könnte es. Wann wird Ihnen ein besserer Stoff zu einem Lustspiel wieder vor die Füße laufen?“

Roderich von der Leine stutzte, sah auf, sah auf mich, sah auf die beiden Gelehrten, welche eben in grimmiger Entschlossenheit ihre Reisetaschen packten und Platz für ihre Beute darin ließen; — einen Augenblick glaubte ich, sein Schicksal an das unsrige gebunden zu haben; aber im nächsten Moment sank er wieder in sich zusammen und seufzte:

„Ich kann es nicht! Ich vermag es nicht! Ich kann diesen Menschen nicht länger ertragen. Heute beim Erwachen nach dem Triumph der Nacht glaubte ich fest, daß es mir möglich sein würde; aber ich habe mich getäuscht; ich bin der Vogel, und er ist die Schlange, welche mich mit ihren giftigen Blicken verzaubert. Ich kann den Kerl nicht einmal mehr von hinten ansehen.“

Da ich sah, daß alle weitern Überredungsversuche vergeblich sein würden, überließ ich den nervenschwachen Dichter seinen einsamen Wegen und wandte mich zu den beiden wissenschaftlichen Abenteurern; ihre wahrhaft antike Ruhe erfüllte mich mit neuer Bewunderung.

Niemals hatten zwei determiniertere Strauchdiebe sich die Korbflaschen vom Hospes mit Rum füllen lassen, als diese beiden akademischen Raubgenossen. Leonidas in den Thermopylen, Curtius, als er in den Schlund sah, ehe er hinabsprang, und aus neuerer Zeit Blücher, als er auf dem Wege von Ligny nach Waterloo sagte: „Es ginge eigentlich nicht, aber es muß gehen!“ mochten ähnlich geblickt haben wie Zuckriegel und Steinbüchse in diesem feierlichen Moment. Auch ich reichte meine Reiseflasche dem Wirte, und dann — dann brachen wir im ahnungsgrauen Morgennebel und hartnäckigsten Platzregen todesmutig auf, und Roderich von der Leine sah uns fröstelnd in unwillkürlicher widerwilliger Bewunderung nach. Vielleicht war er in seiner Hinfälligkeit einen Augenblick lang sogar neidisch auf den gehaßten, aber stahlherzigen anatomischen Reisegegner.

Da Zuckriegel und Steinbüchse jetzt die ersten Schritte in die wunderlichen Gassen Hallstadts taten (sie hatten es bis jetzt nicht der Mühe wert gehalten, die Nase aus dem Gasthaus herauszustecken), so äußerten sie ebenfalls einiges Erstaunen über die Treppen, und Steinbüchse versicherte, so etwas kenne man gottlob in Berlin nicht. Im steilen Zickzack lief aber die Treppe von den letzten Häusern aus weiter den Berg hinan, bis sie nach einer Viertelstunde in einen ebenfalls im Zickzack laufenden dichtbeschatteten Fußweg überging. Der Pfad nach dem Rudolfsturm ist schwer zu verfehlen, selbst für zwei Gelehrte, deren Gedanken außerhalb ihres Pfades laufen.

Munter, aber stumm stampften Steinbüchse und Zuckriegel zu; unterhaltend war ihre Gesellschaft bis jetzt noch nicht. Beide hatten die Hüte so tief als möglich auf die Nasen herabgezogen, beide hatten die Regenschirme so dicht als möglich auf die Filzdeckel herabgezogen, beide taten nicht einen einzigen Fehltritt, obgleich der Weg sehr aufgeweicht und schlüpfrig vom Regen war. — Beide sahen aber auch nichts von dem, was man durch die Lücken und Einschnitte in der triefenden Waldung erblicken konnte, nämlich den großartigsten Teil des Seekessels mit allen kochenden, wallenden Nebeln und Dünsten. Ihre Gedanken waren bei den Knochen und jeder überdachte bei sich die verschiedenen Strategeme großer Feldherren, die auch ausgezogen, um etwas „an sich zu nehmen“ oder sich „ihres Rechtes zu bedienen“.

So eilte ich denn den beiden wundervollen Burschen von Zeit zu Zeit ein wenig voraus, um dann das Recht zu haben, an der passenden Stelle stehen zu bleiben und die sich immer mehr erweiternde Aussicht zu genießen. Wenn die beiden Regenschirme dann allmählich sich zu mir emporarbeiteten, stieg auch ich weiter. Plötzlich fiel auf halbem Weg, nicht des Menschenlebens, sondern des Saumpfades, mein Blick auf eine sehr nasse Bank, über welche eine, wie es schien, nicht neue Inschrift zum Lesen und Nachdenken aufforderte; — die beiden Regenschirme waren wieder ganz in meiner Nähe, und ich stand und las:

„Hier hat gerast der hochlöbliche römische König Maximilian, als er gangen ist, die Salzperg zu besehen, den fünften Tag Januarii Anno Fünfzehnhundertundvier.“

„Wer hat hier gesessen? Wo hat wer gesessen? Wann hat wer hier gesessen?“ schrie in demselben Augenblicke Professor Steinbüchse aus Berlin, tigerhaft heranspringend und mich ohne weitere Umstände beiseite schleudernd, ehe ich antworten konnte:

„Kaiser Maximilian der Erste, sonst auch der letzte Ritter von Anastasius Grün in Wien.“

Professor Steinbüchse überzeugte sich von der Wirklichkeit des Faktums, notierte die Inschrift in seinem Taschenbuch und setzte sich auf die nasse Bank, um auch diesen Eindruck an und in sich aufzunehmen. Zuckriegel aber schritt verachtungsvoll vorüber, ohne einen Blick auf die ewig denkwürdige historische Stelle zu werfen.

„Mir ganz einerlei, wer da gesessen hat, ob Sie, Kollege, oder der König Maximilianus; wenn ich nur meinen Schädel bekomme,“ sagte er.

Diese Bemerkung trieb auch den Professor frisch wieder vorwärts, und nach einer halben Stunde weitern Kletterns erreichten wir den Rudolfsturm und damit den Schauplatz der größten Abenteuer.

An die Rippen pochte das Männerherz, als wir vor dem vom Kaiser Albrecht errichteten Gemäuer standen und die Glocke des jetzt darin hausenden königlich-kaiserlichen Salzinspektors zogen, um zuerst in das in dem Turm angelegte kleine Museum von aufgefundenen Altertümern, Ammoniten und sonstigen Merkwürdigkeiten eingelassen zu werden. Eine Maid beaufsichtigte uns dabei, und es interessierten mich vorzüglich in dieser Sammlung die keltischen oder urgermanischen Punschbowlen, welche mit vielem Geschick und Geschmack gearbeitet, aber leider sehr verrostet waren. Hier versuchten wir noch nicht zu stehlen, denn es wäre doch zu gewagt gewesen; aber Zuckriegel benutzte den Moment, in welchem die Aufmerksamkeit der Gebirgsmaid ganz von dem Vergnügen an dem über ein grün angelaufenes priapisches Scheusal in Entzücken geratenen Steinbüchse in Anspruch genommen war, um mich am Knopf zu fassen und mir zuzuzischeln:

„Mein Bester, von Ihnen allein hängt’s jetzt ab, ob ich den Zweck meiner Reise erreichen soll. Jedenfalls wird uns dieses Frauenzimmer zu der Gräberstätte führen; — Sie sind ein hübscher, gewandter Mensch — merken Sie auf — Sie sind mein Freund, Sie sind — die Person guckt her! — kurz, führen Sie sie ab — halten Sie ihre Aufmerksamkeit nur einen kurzen Augenblick fest — ich werde Ihnen ewig dankbar sein; — das Mädchen ist gar nicht übel; lassen Sie sich einen Kuß, nur einen einzigen Kuß geben, wenn wir an den Knochen der Vorwelt stehen. Auf einen Kuß kann es Ihnen doch nicht ankommen, wenn es einen so erhabenen Zweck wie die Osteologie gilt.“

„Man sieht doch, daß Sie aus Ihrer Reiselektüre etwas gelernt haben; aber wollen Sie mich denn ohne alle Gewissensbisse Ihrem wissenschaftlichen Drange, Ihren wüsten Begierden opfern?“ fragte ich vorwurfsvoll.

„Keineswegs, Verehrtester! Was riskieren Sie? Ich reiße mit meinem Schädel aus; Steinbüchse mag für sich selber sorgen, und es würde weder Sie noch mich kränken, wenn man ihn am Kragen nähme. Sie selber, Bester, kommen als unbeteiligter, harmloser Tourist unschuldig, kühl und langsam nach. Am Seeufer, beim Seeauer treffen wir wieder zusammen und feiern den Sieg, und zu allem übrigen schicke ich Ihnen auch gleich nach meiner Heimkehr meine Abhandlung über die Schädelbildung der ältesten, alten, neuen und neuesten Völkerstämme. Was sagen Sie dazu? Können Sie noch widerstehen?“

„Nein!“ sagte ich. „Hier haben Sie meine Hand darauf; an mir soll’s nicht liegen, wenn Sie Ihres Herzens Wunsch nicht durchsetzen. Lassen Sie uns denn gehen.“

„Nun, mein reizendes Kind,“ sagte Zuckriegel kosend, indem er leise wie eine Blindschleiche zu der bergbewohnenden Schönen schlüpfte, „nun, mein Engel, diese angenehmen Kleinigkeiten haben wir jetzt zur Genüge betrachtet; wie wär’s denn nunmehr mit den Gräbern, meine Rose an den Gräbern?“

Er wollte, um sich mehr einzuschmeicheln, der Holden die Wangen streicheln, doch sie wich böse vor seiner Prosektorhand zurück und suchte aus ihrer unter der Schürze hängenden Ledertasche einen verrosteten Schlüssel hervor, indem sie mit einem Trinkgelderblick uns aufforderte, ihr zu folgen.

„Eine wirklich allerliebste Türhüterin an der Pforte der Unterwelt, Herr Kollege!“ sagte Zuckriegel sehr laut zu dem Gelehrten aus Berlin; aber Steinbüchse flüsterte nur:

„Jetzt gilt es! Versäumen Sie ja den günstigen Augenblick nicht. Können Sie laufen?“

„Mit meinem Schädel wie eine telegraphische Depesche.“

„Ich auch! Das übrige liegt in der Hand der Götter,“ sagte Steinbüchse selbstbewußt, und durch Sumpf und Moos, tropfende Brombeerstauden und sonstige Hindernisse wanden wir uns dem Leichenacker zu.

Man hat eine eigentümliche Vorrichtung getroffen, um die aufgedeckten Gräber mit ihren Gerippen zu konservieren und sie dem neu- oder wißbegierigen Publikum gegen eine Gratifikation vorweisen zu können. Über das vorsichtig aufgegrabene und in seiner Lage unverrückt erhaltene Skelett ist ein hölzerner Kasten in die Erde gesenkt, ein sargähnlicher Kasten mit einer Klappe und einem großen Vorlegeschloß. Publikus versammelt sich um diesen Kasten, die Gebirgsmaid versucht längere Zeit vergeblich, den rostigen Schlüssel in das Schloß zu zwingen; endlich springt der Deckel auf, Publikus reckt den Hals, stellt sich auf die Zehen und gibt seine Befriedigung, sein Interesse, seinen Abscheu und selten sein Mitleid in Worten und Gesten kund. Publika kreischt natürlich auf, weil sie keine Gerippe sehen kann.

Diese armen toten Krieger, Weiber, Jünglinge und Jungfrauen! Es ist nicht angenehm, sich nach so vielen Jahrhunderten ruhigen, ungestörten Schlafes von einem so verzerrten, verkümmerten, närrischen Geschlecht wecken und angaffen lassen zu müssen. Wie wäre es, wenn plötzlich solch ein tausendjähriges zerfallendes Gebein sich rasselnd zusammenraffte, aufrichtete, den Schlaf aus den hohlen Augenhöhlen riebe und ärgerlich nach dem Bronzeschwert griffe, um unter die Hämorrhoidarier, die Krinolinen, Professoren und gähnenden Reisebummler zu fahren?

Das würde ein lustiges Laufen und Springen bergab werden; was würde das neunzehnte Jahrhundert alles verlieren auf dem Schlangenwege nach Hallstadt hinunter! Was würde der alte Kelte oder Germane alles aufraffen können an Brillen, falschen Locken, Schnupftabaksdosen, Sonnen- und Regenschirmen, Gummischuhen, Plaids, Lorgnetten! Hussah, was für eine Reiseerinnerung würde das sein, meine Herren und Damen, wenn man wieder sicher auf der Eisenbahn oder zu Hause säße und des vorweltlichen Spukes gedächte!

Aber ich schweife ab; ich habe ja auch noch von einem Bergunterlaufen und Springen zu erzählen, bei welchem ebenfalls mancherlei auf dem Wege verloren wurde, was der verfolgende Rächer der Toten von Rechts wegen für gute Beute erklärte. —

Das Mädchen vom Rudolfsturm kniete neben ihrem Kasten und mühte sich mit steigendem Verdruß an dem widerspenstigen Schloß.

Zuckriegel griff nach der Hand Steinbüchses, drückte sie bedeutsam und ermutigend, ließ sie fahren und flüsterte:

„Bruder! Kollege! Jetzt gilt’s! Mut, Mut! Jeder greift nach dem, was er packen kann — ohne Unterschied der Wissenschaft! Bruder, unten am Berg sortieren und teilen wir brüderlich!“

Mir rief er laut zu:

Memento! cedo tibi puellam!“ zu deutsch: „Achtung, mein Bester! führen Sie die Jungfrau abseits!“ —

Mit einem Krach öffnete sich jetzt das Schloß; die Maid schlug den Deckel des Kastens zurück, mit gierig funkelnden Blicken schossen die zwei Gelehrten vor, — da lag der Kelte oder Urgermane wohlerhalten, ruhig und behaglich auf der linken Seite, das Schwert zur Seite, auf der Brust eine grüne Spange, die einer plattgesessenen Sofasprungfeder ungeheuer ähnlich sah. Es war, als spiele ein schlaues Lächeln um das entblößte Gebiß des Skeletts, ein Ausdruck, wie: Komm und küß mich! und Zuckriegel hätte letzteres mit Wonne getan.

Nun aber geschah es wieder einmal, daß ein wohlerdachter, fein zurecht gelegter Angriffsplan von der Hast und Gewalt des Augenblicks über den Haufen geworfen wurde. Die Gier der beiden wissenschaftlichen Leichenräuber litt es nicht, daß ich meinem Versprechen, die Aufmerksamkeit der Jungfrau durch Liebenswürdigkeit zu fesseln, nachkommen konnte.

Mit einem Schrei, der aus dem Tierreich zu stammen schien, stürzten sich Zuckriegel und Steinbüchse auf den Kelten und griffen zu. Einen Schrei stieß aber auch das Mädchen vom Rudolfsturm aus:

„Hilfe! Räuber! Diebe! Heilige Jungfrau! Maria und Joseph! Maxerl! Herr Inspektor! Franzel! Hilfe um Gott und Jesu, s’ gehet mit’s G’ripp durch!“

Und aus dem Loche sprangen Steinbüchse und Zuckriegel, der erste nach des Geschickes Willen mit dem Schädel des Kelten in der einen Hand und mit zwei riesigen Armknochen und einem Rippenstück im andern Arm! der zweite hatte das Bronzeschwert, die Brustspange und verschiedene sonstige antiquarische Kleinigkeiten gegriffen. Über Moos, Gestein und Gestrüpp flogen sie, die Regenschirme zurücklassend und die Hüte verlierend. Ich sank, halb ohnmächtig vor Entzücken, auf den nächsten Baumstumpf.

Aber ringsumher regte es sich. Von allen Seiten strömten auf den Hilferuf der Jungfrau rüstige Nachkommen des fraglichen Kelten oder Germanen herzu, einige mit Äxten, andere mit mächtigen Knüppeln. Einige atemlose Worte der Maid genügten, um sie den Spuren der Räuber, deren flatternde Rockschöße eben in der Tiefe des Waldes verschwanden, nachzusenden. Fern verhallte der Lärm der Flucht und Verfolgung, und ich ließ mich, ohne Widerstand zu leisten, als verdächtigen Spießgesellen der Knochendiebe durch den Regen vor den erstaunten Salzinspektor führen.

Nicht leicht wurde es mir, meine Unschuld an dem unglaublichen Vorfall zu beweisen. Man sprach davon, mich in Eisen nach Salzburg transportieren lassen zu wollen; man sprach in immer höherem und schärferem Ton, doch ich hielt gut, blieb kühl und gelassen und verwies auf meine Papiere, welche mich als einen anständigen Menschen und harmlosen Touristen und keineswegs als einen Gelehrten oder Leichenräuber darstellten. Es wäre auch sehr merkwürdig gewesen, wenn sich vor der hohen sittlichen Entrüstung, die auch ich über den schändlichen Vorgang an den Tag legte, die Zorneswogen des verständigen Mannes und Beamten, der mich verhörte, nicht gesänftigt hätten. Auch die zurückgelassenen Regenschirme und Hüte, sowie das seidene Taschentuch Steinbüchses, welches von einem loyal gesinnten Dornstrauch festgehalten war, trösteten. „Verehrter Herr,“ sagte ich, „Ihr antediluvianischer Leichenacker scheint sehr ausgedehnt zu sein; lassen Sie einen andern Urgermanen bloßlegen und Ihren Kasten mit Klappe, Schloß und Riegel darauf setzen. Was liegt Ihnen an dem einen Kelten? Daß Sie durch ruhiges Nachsehen der Wissenschaft, der Osteologie und Altertumskunde vielleicht einen unendlichen Dienst leisten, muß Sie außerdem warm anmuten.“

„Wir wollen sehen, was die Leute zurückbringen,“ sprach der Beamte. „Eher lasse ich Sie nicht los, Herr …“

Ein rauhes Siegesgeschrei vor der Pforte des Rudolfsturmes unterbrach ihn; — die Verfolger brachten alles zurück, Schädel und Armknochen, Rippen, Schwert und Spangen, und außerdem die Perücke Zuckriegels und die Brille Steinbüchses. Steinbüchse und Zuckriegel selbst hatten sie laufen lassen.

„S’ habet alles hinter sich g’worfen, und d’ Atzel und d’ Brill habet s’ verloren!“ jubelten die Unholde.

„So,“ sprach der fröhlich lächelnde, sehr befriedigte Beamte, „jetzt wollen wir dem Abgeschiedenen das Seinige zurückerstatten, und dann, mein lieber Herr, bitte ich, meine gehorsamsten Empfehlungen an Ihre gelehrten Freunde zu bestellen. Die zurückgelassenen Gegenstände verbleiben natürlich den Leuten für ihre gehabte Mühe. Küß’ die Hand und bitt’ mir auf ein andermal die Ehr aus.“

Damit empfahl sich der Inspektor und ging, seinen Kelten wieder zusammenzuflicken. Ich ging auch und stieg langsam nach Hallstadt hinunter, mußte aber alle fünf Minuten stehen bleiben, um meiner inneren Heiterkeit Luft zu machen, und der Phantasie Freiheit zu lassen, sich das demnächstige Wiederfinden beim Seeauer auszumalen. —

Unter der Hinterpforte des Gasthauses stand Roderich von der Leine und sah, wie es schien, sehr aufgeregt in den Regen hinaus. Er hatte sich nach seinem Ausflug zum Waldbachstrub wieder ins karrierte Kostüm werfen müssen und erwartete mich mit prickelnder Ungeduld. Als er meiner ansichtig wurde, begann er, mit erhobenen Händen winkend, einen Tanz des Entzückens.

„Da sind Sie! da sind Sie endlich! O Freund, was für eine Geschichte! Herrlich! prachtvoll, o ich kann nicht mehr!“ schrie er mir entgegen.

„Wo sind die beiden andern Herren?“ fragte ich mit möglichster Gefaßtheit, doch der Dichter war zu aufgeregt, um einen klaren Bericht erstatten zu können; nur das verstand ich zu meinem Leidwesen, daß der Professor Steinbüchse aus Berlin bereits, „naß wie ein Kater und in einer alten Mütze des Wirts“, einen Einspänner gemietet habe und außer sich vor Wut nach der Gosaumühle abgefahren sei.

„O, wie haben sie sich noch gefaßt! O, was haben sie noch einander gesagt! O, wie sahen sie aus!“ schrie Roderich, und ich schritt, von ihm gefolgt, in die Gaststube.

Da saß Zuckriegel! Ein Bild äußerster, menschlicher Wut und ohnmächtigster Empörung. Er hatte seinen Anzug nicht gewechselt, und nur um den kahlen Kopf einige bunte Taschentücher gewickelt. Als er mich erblickte, stieß er ein zischendes Geheul aus und umfaßte besagten Kopf mit beiden Händen; zähneknirschend, wutwimmernd spie er mir, sozusagen, die Fragen entgegen:

„Wissen Sie’s? Haben Sie’s gehört? Wissen Sie, wie’s abgelaufen ist?“

„Nur im Umriß, Herr Prosektor.“

„O der Halunke, der Halunke, der niederträchtige Berliner Halunke! Ich sage Ihnen, wir wären durchgekommen; ich sage Ihnen, wir hätten das Unsrige davongetragen, ohne den Jammermann! Was tut er in seiner erbärmlichen Angst, als uns das nachsetzende pecus an einer Stelle etwas näher rückt? Meinen Schädel wirft er den Verfolgern vor, höchstwahrscheinlich, um sie aufzuhalten, und damit ich mich mit seinem rostigen Blechwerk desto sicherer rette. Wütend werfe ich natürlich auch das alberne Käsemesser mit demselben Recht zum Henker und heiße ihn im Rennen und in meiner Verzweiflung und Raserei einen Hornochsen oder dergleichen. Da schleudert die Bestie auch meine Armknochen und Rippen von sich und schreit: Hornochse? da! da! so mag denn alles zum Teufel gehen! Ich werfe ihm natürlich das andere alte Eisen an den Kopf, und hinter uns brüllen die Lümmel wie der Satan; denn sie scheinen zu wissen, daß sie nun alles wiederhaben, was wir mit so vieler Mühe aus ihrer verdammten Wildnis ihnen abgeholt hatten. Sie ließen uns laufen, und — hier — hier sitze ich, und meine Atzel ist auch zum Teufel. Herrgott, Herrgott, wenn es doch eine ewige Gerechtigkeit gäbe! Oleum et operam perdidi, das Öl auf dem verruchten Wege nach dem Rudolfsturm und die Gelegenheit, den Berliner Ignoranten und Hasenfuß durchzuprügeln, eben jetzt. Den Tag vergesse ich nicht, und wenn ich tausend Jahre alt würde; — wenn ein Objekt, auf das ich von Rechts wegen als tot Ansprüche hätte, mir unter dem Seziermesser, vor dem ersten Schnitt wieder aufleben würde, könnte ich keine blutigeren Tränen weinen. Ach, es gibt keine Gerechtigkeit — keine Gerechtigkeit in der Welt!“

Der Prosektor Zuckriegel legte den Kopf auf das Buch vom Gaunertum, welches er bei seinem Ausmarsch zu den keltischen Grabstätten auf dem Tische hatte liegen lassen, und war von jetzt an für uns tot. Wir nahmen ihn wie ein Paket wieder mit nach Ischl, wo wir im schönsten Sonnenschein anlangten. Roderich von der Leine verfiel hier natürlich wieder dem schönen Geschlecht, und ich setzte die Fahrt nach Salzburg allein fort.

Auch Salzburg lag im schönsten Sonnenschein in seinem Kessel und brätelte; aber man hing soeben die Verlustlisten der ersten italienischen Gefechte an die Straßenecken, und das warf einen bösen Schatten über die reizende Stadt.

Ich hatte freilich keinen Verwandten oder Bekannten, für welchen ich zu sorgen brauchte, in der österreichischen Armee, aber es fiel mir auf die Seele, als ich die unheilvollen Reihen der Toten und Verwundeten überblickte, daß ich füglich ein Interesse an dem tapfern Jüngling aus Hallstadt, Seppel Schönrammer, nehmen könne. Es würde mir sehr leid getan haben, wenn ihn der Tod in der Blüte seiner Jahre dahingerafft hätte; glücklicherweise stand sein Name jedoch nur unter den Leichtverwundeten. Der junge Held hatte nur eine unbedeutende Kontusion von einem Schuß durch den Feldkessel in den Tornister bekommen. Er mußte sich also beim Eintritt dieses nicht allzu bedeutenden Unglücks bereits auf dem Rückzuge befunden haben.

Gedelöcke

I.
Von der Stadt Kopenhagen und dem Kurator Herrn Jens Pedersen Gedelöcke.

Teilweise auf der Insel Seeland und teilweise auf der Insel Amager liegt, wie mancher Schuljunge, aber nicht jeder Gelehrte weiß, die Stadt Kopenhagen, die Hauptstadt des Königreichs Dänemark, wohl versehen mit Fortifikationes sowohl auf der Land- wie auf der Seeseite, eine feine und schöne Residenz, und seit uralten Zeiten durch mannigfache Handels- und sonstige Interessen mit Deutschland im, wenn auch nicht zärtlichen, so doch recht angenehmen und freundnachbarschaftlichen Verhältnis. In dieser Stadt lebte zu Ende des siebenzehnten und zu Anfang des achtzehnten Säkulums christlicher Zeitrechnung ein Mann des Namens Jens Pedersen Gedelöcke, und daß er ebendaselbst starb, ist uns insofern erfreulich, als uns das Faktum den Hauptstoff zu gegenwärtiger in Wahrheit ungeschminkter, unverbrämter, unbefranzter, kurz ungelogener Relation geliefert hat. Denn wäre er nicht gestorben, so hätte man ihn auch nicht begraben können, und wäre er nicht begraben worden, und zwar mehr als einmal, so wäre auch nicht Anno 1731 zu Cölln an der Spree die Historia von seinem „sonderbaren Glauben, Leben, erstaunenden Tode und merkwürdigen Begräbnis“ zum erstenmal in Druck ausgegangen, und wir hätten dieselbe nicht im Jahre 1865 zu Stuttgart auf dem Trödelmarkt um neun Kreuzer „Furchtlos und trew“ erstehen und zu eifrigem nächtlichen Studium nach Hause tragen können. Da wäre es uns denn auch ganz gewiß nicht beigefallen, anderer Skribenten Zeugnis und Meinung über den kuriosen Kasum einzuholen, um der Sache auf den Grund zu gehen, sintemalen es einen solchen Kasum gar nicht gegeben hätte. Und wenn uns somit viele und arge Mühe erspart worden wäre, so würde das liebe deutsche Publikum im ganzen und großen doch den meisten Schaden davongetragen haben, denn wahrlich kein Autor hätte ihm diesen Gedelöcke erfunden; der heutige lichte Tag, so über alle Maßen duldsam und ohne Vorurteile, würde es nicht gelitten haben.

Doch was stehen wir an der Tür? Jens Pedersen Gedelöcke führte während seines Lebens den Titel eines Kurators und wird also wohl auch einer gewesen sein, und daß er über andere Sorgen die für seinen Leib nicht außer acht ließ, ist über allen Zweifel erhaben, und wurde, solange er sich des Daseins erfreute, durch seine wohltuende Erscheinung verbürgt. Denn wenn er von Statur mehr klein als groß war, so schob er doch ein ungemein behaglich Bäuchlein vor sich her; und daß er nicht durch das Leben hastig und atemlos lief, oder mit Würdigkeit und Bedachtsamkeit langsam schritt, sondern es zierlich, ja gewissermaßen tänzelnd durchtrippelte, mußte ebenfalls für ein nicht zu verachtendes Zeichen innerlichster Satisfaktion genommen werden. Er trug, wie es sich für ihn ziemte, ein wohlanständiges, halbgelehrtes schwarzes Habit, eine wohlfrisierte, tadellose Perücke und den Hut unter dem Arm. Er legte sowohl im Gehen wie in der Konversation das rundliche Haupt ein wenig auf die rechte Schulter, und ein gewisses Blinzeln der kleinen, doch sehr hellen Augen ließ vermuten, daß er a priori wie a posteriori den Kreis seiner Erfahrungen wohl zu erweitern wisse, und das Fältchen in den Mundwinkeln deutete darauf hin, daß er seinen lieben Nachbarn, Freunden und Verwandten nicht alles kommuniziere, was er im Geiste bewege. Man wußte in der Stadt Kopenhagen, daß er mit dem königlichen Professor der Geschichte, Herrn Ludwig Holberg, in einem sehr lebhaften Verkehr stehe, und was dieses zu bedeuten hatte, das konnte jedermann sagen, der sich an dem großen Gelehrten und kurieusen Humoristen ergötzte oder ärgerte; denn des Mannes Neigung und Freundschaft waren nicht so leicht zu gewinnen, und es erhielten sie nur diejenigen, welche auch wieder etwas dagegen zu bieten hatten. Wenn aber sehr große Leute auf den Kreuzwegen wie Wegweiser stehen, damit alles vorüberwandelnde Hornvieh sich bequem und ohngehindert daran reiben könne, so gehörte Gedelöcke nicht zu den sehr großen Leuten, denn an ihm rieb sich niemand ungestraft, weder im Hause noch in der Gasse, und in der Kneipe gar nicht. Er hatte ein feines Erbteil Mutterwitz mit auf den Lebensweg bekommen und zahlte gern und mit großer Freigebigkeit einem jeglichen, der dessen zu begehren schien, davon aus, — einerlei ob ein mehr oder weniger selbstbewußter Schädel aus dem Wehr-, Lehr- oder Nährstande in der gegnerischen Perücke steckte. Am liebsten hatte er’s, wenn er einem Mitgliede der höhern oder auch niedern Geistlichkeit in solcher Art einen kleinen Überschuß über das antagonistische Guthaben auf den Tisch zählen konnte, und die Konsequenzen davon hatte er ebenfalls zu tragen.

Es verdichtete sich allmählich der Nebel um den Leuchter und das Licht seiner Existenz, und wenn die hüpfende Flamme dadurch vergrößert wurde, so erschien sie doch auch ungewisser, undeutlicher. Was anfangs nur die nächste Nachbarschaft sich kaum ins Ohr zu flüstern wagt, das schreien plötzlich die Ziegel von den Dächern, und der, welchem der Verdruß auf den Kopf fällt, wundert sich wohl gar noch darob. Die Gerüchte aber, so anfingen, über den Kurator in Umlauf zu geraten, waren im Anfange, ehe sie sich zu der letzten, bestimmten Berüchtigung zusammengezogen hatten, sehr verschieden und wechselnd in den Mäulern der Leute, je nach der Persönlichkeit, welche sich mit Herrn Jens Pedersen Gedelöcke im Widerspruch fand.

Die, welche sich sehr weise dünkten, sprachen von alchymistischen Narreteien, von den blanken Reichstalern, die auf der Suche nach dem Philosophenstein und Menstruum universale sich im Rauchfange des Kurators verflüchtigten, und zitierten mit bedächtlichem Kopfschütteln:

„O schädlich Acidum, das Seelen corrodiret!

Sal sulphur und Mercur zur Höll’ praecipitiret!

Er suchet Sol im Koth und Lunam in der Erden;

Wie kann das ewig Licht ihm dort zu Theile werden?“

Die Giftigeren wollten wissen, er schlage seine Frau, Mette, geborene Niels, sei ein stinkender Geizteufel, welcher um desto ärger daheim die Zähne fletsche, je manierlicher und kompläsanter er in den Gassen einhertrete. Die Giftigsten aber hielten einander an den Rockknöpfen fest oder steckten über dem Kaffeetisch die Dormeusen zusammen und zischelten einander zu: Der Kurator Jens Pedersen Gedelöcke sei auch ein Zeichen, daß nicht nur dem dänischen Zion, sondern dem ganzen Universo die letzte und höchste Stunde nahe, ein Zeichen, wie die soeben von den Astronomis entdeckten Flecken am Sonnenball, so nach der Opinion aller frommen und nachdenklichen Leute ad prognostica propinqua des jüngsten Tages gehörten. Diese guten Nachbarn und lieben Freunde wußten ganz genau und erfuhren immer besser: der Kurator streife allgemach sein Christentum ab, wie die Schlange ihre Haut; er gehe zu seinem größten Seelenschaden nur noch mit den verstockten Juden, ihren Lehrern, Rabbinern und Büchern um, zum Tische des Herrn sei er schon seit Jahren nicht mehr gegangen, den Sonntag halte er nicht mehr heilig, wohl aber der Juden Sabbat, und vor dem Fleisch der Schweine habe er einen unchristlichen Ekel. Es waren bald nur wenige Leute in der guten Stadt Kopenhagen, welche nicht an sich oder andere die Frage stellten, ob dieses nicht unerhört sei, und ob nicht zum allgemeinen Salut und zur Abwendung von Gottes Zorn das hochlöbliche Polizeigericht sich der Sache anzunehmen habe?

Daß dieses dritte Gerücht den meisten Anklang und Widerhall in der Stadt fand, war nicht zu verwundern; die besten Freunde hielten dagegen nicht stand, und wäre auch wohl schon früher von oben her ein Einsehen getan, wenn solches bei Lebzeiten seiner königlichen Majestät Herrn Friedrichs des Vierten tunlich gewesen wäre. Dieser Monarch aber war zur Betrübnis aller gottseligen Leute nicht so leicht dazu zu bringen, in solchem Falle einen Spezialbefehl ergehen zu lassen; er war ein feiner, lustiger und polierter Herr, welcher seine Freude am Leben hatte, und jeglichen Untertan für das Heil seiner Seele selber sorgen ließ. Wie konnte er, der sogar das Privilegium für das erste dänische Nationaltheater gab und den „politischen Kannegießer“ selbst darin belachte, welcher von seinen französischen Komödianten mit sehr merkwürdigem Gusto den Tartüffe des Monsieur Molière agieren ließ, — dazu gebracht werden, einem Untertan ins Haus zu rücken, weil die Nachbarschaft behauptete: der Mann verrichte seine Andacht mit Gebärden, Neigungen des Hauptes und in einem leinenen Kragen, welche dem lutherischen christlichen Ritus und Zeremonial ein Greuel seien? Er tat’s nicht, und der Kurator blieb in dem, was er tat, und dem, was er unterließ, insoweit unangefochten; aber es war ein Glück für ihn — Herrn Jens Pedersen Gedelöcke, — daß er, — als königliche Majestät in dem Jahre 1730 das Zeitliche segnete, über jegliche Anfechtung sich ebenfalls schleunigst erhob. Herr Christianus des Namens der Sechste stieg auf den dänischen Thron, der „dänischen Komödie Leichenbegängnis“ wurde aufgeführt; die dänische Welt veränderte in jeder Weise ihr Gesicht; doch das ist unsere Geschichte.

II.
Von den Herren Doktores Primus et Sekundus, imgleichen der Frau Mette Gedelöcke und dem ehrwürdigen Herrn Hieronymus Moekel von der Trinitatiskirche.

Es war an einem Nachmittag im unfreundlichen Monat Februar des Jahres 1731, als zwei Ärzte, zu gleicher Zeit eilends herbeibeschieden, vor der Tür des Kurators anlangten und beim gegenseitigen Anblick die perückenbedeckten Häupter erhoben und jenes Lächeln erzwangen, welches so viel schwerer zu prästieren ist, als ein Fußtritt oder ein Faustschlag. Die Namen der beiden Herren sind unsern genauesten Nachforschungen entgangen; so wollen wir denn jenen, der in einer Sänfte durch die strömenden Regenfluten heranschwankte, den Doktor Primus, und jenen, welcher in seiner stattlichen Karosse eine halbe Minute später anlangte, den Doktor Sekundus nennen. Sie waren beide glänzende Lichter in ihrer Kunst und Wissenschaft, und es war eine Freude, ihren gelahrten Diskussionen zuzuhören, vorausgesetzt, daß der Hörer ihnen nicht selber die Zunge zu zeigen hatte. Wenn Herr Jens Pedersen Gedelöcke sie beide zu sich gebeten hatte, so konnte dies für ein Zeichen genommen werden, daß es freilich zum Schlimmsten und Letzten gekommen sei, denn er wußte sonst ziemlich genau, was er tat; es fand sich aber, daß sie nicht auf seine eigene Einladung kamen.

Die beiden gelehrten Herren begrüßten einander auf dem Hausflur des Kurators, wie es sich schickte, mit einem bonus dies, Collega! einem Serviteur! und quid agis? —, neigeten längere Zeit an der untersten Stufe der Treppe um den Vortritt die Häupter gegeneinander, hoben und senkten deprezierend die Achseln und schritten sodann in gleicher Linie nebeneinander aufwärts zum Zimmer des Patienten, vor dessen Türe sie Madame mit betrübtem Kompliment in Empfang nahm, und zwar mit dem Finger auf dem Munde, zum Zeichen, daß Fürsicht und Stillschweigen das erste sei, was sie von den Herren erbitte. Aus dem Krankenzimmer vernahm man einen merkwürdigen Gesang, und auf den Zehen schreitend führte die Frau Mette Gedelöcke die beiden Doktoren in ein Nebengemach, allwo sie zu ihrer nicht geringen Verwunderung den Pfarrherrn der Trinitatiskirche, Herrn Hieronymus Moekel, in tiefes kummervolles Nachsinnen und in einen sehr großen Armstuhl versunken, bereits vorfanden. Da geschah wiederum jenes würdige und zierliche Begrüßen, welches von dem achtzehnten Jahrhundert zu solcher Blüte und Vollkommenheit gebracht worden ist, dessen Wissenschaft und Ausübung aber im neunzehnten Säkulum leider verloren ging und im zwanzigsten vielleicht wiedergefunden wird. Die beiden hochpreislichen Fakultäten taten einander alle gebührenden Ehren an, während die hochbetrübte Hausfrau mit dem Nastuch vor den Augen dazu knixte und sich mit Wimmern und Geschluchz um die große Ehre und Hilfsbereitschaft, so ihr und ihrem Hause von den Herren erwiesen wurden, einmal über das andere bedankte. Erst als der Sitte und dem decoro in jeder Weise genug getan war, konnte, unter fortwährendem Horchen auf den fremdartigen Gesang hinter der Wand, die Konversation auf das Wichtigere geleitet werden, und der Doktor Primus tat dieses, indem er bemerkte:

„Brauche ich Madame leider kaum zu befragen, wie es dem Herrn Eheliebsten am heutigen Tage ergehe. Solches ist das rechte Wetter, die salia zu koagulieren, solches ist die Witterung derer Podagristen; aber der Herr Kollega werden mir beifallen, wenn ich Madame die Versicherung gebe, daß der Patienten Ungebärdigkeit nicht das Schlimmste ist, was der Medikus auf seinem Wege zu sehen und hören wünschet. Und Madame darf sich keine unnötigen Sorgen machen, des Herrn Kollegen Sekundi Tinctura solis wird auch heut schon das Acidum obtundieren; der Herr Ehegemahl befindet sich in guter Hand.“

„Die da sündigen, werden dem Arzt in die Hände fallen,“ sprach der Herr Hieronymus, das Haupt mit drohender Betrübnis senkend, während die Doktoren schnell die Köpfe in die Höhe warfen, und der gelahrte Herr Sekundus die Gelegenheit nahm, mit einer neuen tiefen Reverenz sich bei Seiner Ehrwürden nach dem Verlauf des jüngsten Konsistorialessens und der darauf erfolgten Indigestion zu erkundigen, worauf Herr Hieronymus das Gespräch abermals näher zum Zweck führte:

„Messieurs belieben doch Platz zu behalten. Madame hat uns zu einer wichtigen Konsultation zusammenberufen in dieses Haus, allwo leider der Arzt des Leibes und der Arzt der unsterblichen Seele zu gleicher Zeit zu tun haben. Wahrlich, Madame hat als ein fromm christlich Eheweib gehandelt und ihre Bürde mit Tränen auf sich genommen. Dieses ist ein Haus worden, dessen Lieblichkeit zu übelm Geruch sich wandelte, ein Haus, dessen Tür belagert ist von unheiligen Geistern, so mit Zähnefletschen, Schweifringeln und Schlagen, mit verhaltenem Gebell und Geheul bei Tag und Nacht Einlaß begehren, löblicher Stadt und allem christlich lutherischen Volk zum Skandalum, zum allerschrecklichsten Ärgernis. Ja, die Herren wissen bereits, daß der böse Feind allbereits eingedrungen ist und neben dem Lager des Hausherrn sitzet und sich über ihn beuget und die Zähne mit Triumph blecket. Es klinget ein absonderlicher Sang in unser Ohr; aber Madame möge reden, und Messieurs mögen hören und uns sodann ihre treffliche Opinion mitteilen.

„Ich bitte!“ fiel der Doktor Primus vorerst dazwischen. „Es ist vor allem weitern die Frage zu stellen, ob wir hieher berufen seien als Medici oder als Theologi? Was saget der Herr Kollega?“

„Ich stimme dem Herrn Kollega bei und stelle mit ihm dieselbe Frage.“

„Messieurs,“ rief der Pfarrherr mit großem Ernst, „wir sind hier in der dänischen Stadt Kopenhagen, allwo kein Inquisitionsgericht Sitzung hält über die Meinungen, doch weiß hochehrwürdiges königliches Konsistorium sich auch verpflichtet vor Gott und Seiner Majestät, unserm königlichen Herrn Christian dem Sechsten. Man spreche, wie man zu sprechen weiß; es wird an andern liegen, die Conclusiones zu ziehen.“

„Ihr Herren, ihr liebe Herren,“ jammerte die Frau Mette, „in ganz Kopenhagen, auf ganz Seeland gibt’s keine unglücklichere, geschlagenere Seele, denn meine. Sie weisen in der Kirche und in den Gassen mit den Fingern auf mich: ‚Sehet, da gehet das Weib des christlichen Juden!‘ — ich weiß mir am Ende nicht mehr zu helfen, und kann’s nur ertragen, weil mich der Herr Jesus Christus darzu erschaffen hat. Ich bin von lutherischen frommen Eltern allhier geboren, und mein Mann ist aus Helsingör und auch von christlichen Eltern geboren, solches ist ja von der Kanzel abgelesen bei unserer Trauung. Ich will auch in meinem lutherischen Glauben sterben; aber die Zungen der Leute bringen mich vor der Zeit um, und — drinnen liegt er, und der Juden Vorsänger, Meister Henrich Israel, sitzet neben seinem Bett und muß ihm psalmodieren, und es wird von Tage zu Tage schlimmer, wie er mit seiner ewigen Seligkeit umgehet, und kein christlich Wort mehr annehmen will, und mit den Rabbinern und jüdischen Schriftgelehrten mehr Gemeinschaft pflegt als mit seinem ehrlichen Eheweibe, so ihm doch bei Tag und Nacht den Fuß in Wolle schlagen und des Herrn Doktors Sekundi preiswürdige Medikamente eingeben muß. Ich habe es getragen, getragen, getragen; aber es hat alles sein Ende, und so habe ich es zuletzt zum Herrn Hieronymus Moekel von Trinitatis getragen, und vor seiner Weisheit, Tugend und Gottesfürchtigkeit meine Last abgeleget —“

„Und Madame hat gar wohl daran getan,“ fiel der Pfarrherr wieder ein; „und die Herren belieben wohl Achtung zu geben und auf jenen Gesang hinter der Wand mit Bedacht zu horchen. Wahrlich, es handelt sich hier darum, christliche Gemeinschaft der Heiligen und ein reines Evangelium vor einem großen und unersetzlichen Schaden und einem stinkenden Ärgernis zu bewahren. Messieurs haben den Herrn Kuratorem dem Leibe nach in allen frühern Morbis und Hinfälligkeiten behandelt; nunmehro aber handelt es sich um eines angesehenen und wohlbekannten Mannes besseres Teil, und die Herren mögen wohl in Obacht nehmen, daß ihr Wort gewogen wird vor einem hochwürdigen Konsistorio, vor königlicher Majestät erhabenem Thron und zuletzt droben mit der allerletzten Wagschale. So sprechen denn die Herren und sagen, ob der Kurator Herr Jens Pedersen Gedelöcke mentis compos, bei gesunden Sinnen sei und ein verlorener, verruchter Sünder, einer so die Schafe lässet und sich zu den Böcken gesellet; — oder ob ihn des Herrn Hand mit Wahnsinn geschlagen und nur das Irrenhaus mit einem Hirntollen abzurechnen habe?!“

„Herr Hieronymus und liebwerte Madame,“ sprachen beide Doktoren mit bedächtigem Kopfneigen; „es ist unsere feste Überzeugung und Meinung, daß der Herr Jens Pedersen Gedelöcke nur am Podagra laborieret, und daß, wenn es, was der Himmel verhüten möge, zum Schlimmsten gehen sollte, viel mehr Expektanz vorhanden ist, die Krankheit steige ihm in den Magen, denn in den Kopf; als welchen letzteren es nach unserer Bekanntschaft in dieser erleuchteten Stadt Kopenhagen kaum einen zweiten gleich hellen gibt.“

„So ist dieses Haus auserlesen, für alle Zeiten im feurigen Lichte des Verderbens zu scheinen!“ rief der geistliche Herr mit erhobenen Händen; „und von dem Manne hinter der Wand wird’s heißen:

Die, so den großen Gott und seiner Botschaft spotten,

Verschlingt der Schwefelpfuhl wie Kor- und Satans Rotten!

Es ist der Juden Vorsinger, Henrich Israel, so ihm jetzo seine Leibstücklein vorpfeifet, — wahrlich ein Psalm für einen, so in der reinen Lehre geboren, erzogen und aufgewachsen ist. Wehe, wer wird ihm singen, wenn die Seele den körperlichen Leib verlassen hat? O Frau, Fraue, wahrlich ist Ihr ein schwer Schicksal auferlegt worden!“

Der ehrwürdige Herr redete sich in immer größere Emotion, die Frau Mette rang mit Wimmern und Winseln die Hände, und beide Doktoren hatten das Kinn auf den Stockknopf gestützt und starrten ins Graue. Da schwieg die Stimme Judäas, und still ward’s auch im betrübten Konklave, als ein hager und gelb Gesicht sich in die leise geöffnete Tür schob und ein breiter Mund sich vernehmen ließ:

„Madame, der Herr Kurator wünscht die pläsierliche Kompanie, so allhier bei Ihr versammelt ist, auch bei sich zu bekomplimentieren!“

Sotane Visage eignete Herrn David Bleichfeld, dem Famulo des Herrn Pedersen Gedelöcke, und zog sich ebenso schnell zurück, als sie sich langsam vorgeschoben hatte.

III.
Von dem Famulo Herrn David Bleichfeld.

In einem ziemlich großen, dunkelgrün ausgeschlagenen Gemach stand das Bett des Kurators, zu Häupten vor allem bösen Zugwind durch eine spanische Wand geschirmet, auf welcher allerlei chinesisches Volk Tee trank, auch in Gartenhäusern sich erlustierte oder mit großen Sonnenschirmen spazieren ging. Von dem Kurator selber erblickte man wenig mehr, als die mächtige Zipfelmütze, das rote, indische Tuch, mit welchem die Stirn umwunden war, und die blaue Nase, welche eine nicht geringe Ähnlichkeit mit der einer dänischen Bulldogge hatte, deren Konterfei dem Bett gegenüber an der Wand zu sehen war. Beim Eintritt der Gattin, des geistlichen Herrn und der beiden Ärzte erhob sich die Nase um ein weniges; der Famulus schob dem Kranken noch ein Kissen unter den Kopf, worauf die hohe Nachtmütze mit recht freundlichem Nicken den Besuch begrüßte, und der Kurator sprach:

„Ei guten Tag Messieurs; ich gratuliere mir zu dieser schönen Gesellschaft. Davide, setze Er Stühle; mon coeur, frage, womit wir aufwarten können; ein Gläschen spanischen Weines wird eine Annehmlichkeit um diese Zeit des Tages sein, wie ich selber eine häufige Erfahrung davon habe.“

Der Doktor Primus räusperte sich mit einem würdigen Lächeln, und der Doktor Sekundus klärte seine Kehle auf dieselbe Weise, allein Herr Hieronymus sprach mit abwehrender Handbewegung:

„Wir danken dem Herrn Kuratori, doch gelüstet unserer Zunge nicht nach irdischem Wohlschmack. Diese zwo Herren führt ihr leiblicher und mich mein geistlicher Beruf hieher.“

„Ei, ei,“ sagte Jens Pedersen Gedelöcke. „Ehrwürden verpflichtet mich immer mehr; doch — was saget mon coeur, meine Eheliebste? Welch einen Beruf wendet sie für?“

„O Jens!“ rief die Frau Mette, „du weißt, daß es immerdar nur meine Liebe und meine Sorge für dein irdisch und ewig Heil ist, welche mich bei dir festhält!“

„Ei, ei, ei!“ wiederholte der Kurator und setzte hinzu: „Davide, was stehet Er und gaffet! Sein Gesicht wird dummer von Tag zu Tage; — lasse er den Hispanischen bringen, die Herren Doktores werden mir nicht den Trost in meinem Jammer versagen.“

„Man muß denen Patienten ihren Willen lassen, Herr Hieronymus,“ sprach der Doktor Sekundus mit einem freundlichen Lächeln zum Pastor der Trinitatiskirche, und der Doktor Primus sah dem Famulo mit einem beifälligen Kopfneigen bis zur Türe nach. Dann, als der Wein gekommen war, ein jeglicher, — selbst der Pfarrherr — sein Spitzglas auf dem Knie hielt, und David Bleichfeld wiederum das Zimmer verlassen hatte, erhob sich der Kurator Gedelöcke auf den linken Ellenbogen, blickte im Kreise umher und verglich im Innersten die drei schwarzen Herren und die in ein trübes Grau gekleidete Gattin mit drei Raben und einer ältlichen Mantelkrähe, und sich selber in seinem Leiden mit einem podagristischen Mops, welcher sich bewußt war, was er im Leben genoß, und deshalb die Kondolenzvisite mit Geduld und Humor annehmen konnte. Mit großer Gewalt, Beredsamkeit und Salbung rückte Ehrn Hieronymus Moekel von der Trinitatiskirche dem wunderlichen Heiligen auf den Leib, und die Frau Mette begleitete jeglichen Angriff mit leisem Gewimmer und lautem Beifall; die beiden Ärzte aber hielten sich mehr passiv und an den Spanischen, bis sich der Kampf auf ein Terrain wälzte, das weniger Gelegenheit gab, sich zu kompromittieren. Was den Famulus David Bleichfeld anbetraf, so stund derselbe draußen vor der Türe, hatte seine lange dürre Gestalt rechtwinklig eingeklappt und wechselte mit dem Auge und dem Ohr vor dem Schlüsselloch und begleitete das Spiel im Innern des Gemaches außerhalb desselben mit den verwunderlichsten Grimassen, Gesten und den allerkuriosesten Paraphrasen, Noten und Zitaten. Da er ein recht gelehrter Mensch war und seinen Herrn liebte, so wollen wir uns mit dem begnügen, was er aus der Unterhaltung der andern abzog; sintemalen es auch wohl nicht lohnen würde, ein jedes Wort der Konversation dem eiligen, atemlosen Publiko von neuem vor die Nase zu rücken.

„Philister über dir, Simson!“ murmelte der Horcher an der Wand. „Heißa, jetzt haben sie ihn zwischen den Kneifzangen, wie den Stürzebecher auf dem Markt zu Hamburg. Horch, da ist der Pfarrherr schon auf dem Wege gen Damaskon, und das Gleichnis vom schnaubenden Saulo passet wie die Faust aufs Auge. Drauf, pro libertate christiana, gebt es ihm, Herr Kuratore. Ha, ha, an den Tod gläubet Ihr, sintemalen er alle Eure Vorfahren verschlucket hat? Ein hohes Konsistorium hätte es Euch nicht zugetraut, aber ein alter Heide und Ägyptier bleibt Ihr doch und nehmet Eure Gerippe auf Eure Gastmähler nur deshalb mit, um bei ihrem Anblick desto vergnügter das Leben zu genießen! Noch ein Gläschen Alikante, Herr Doktor Primus? Ist es keine ratio theologica, daß man die, so in der christlichen Kirche christlich gelebet, auch in der Versammlung der Kirchen, welche der Tempel ist, ehrlich begrabe? O Gedelöcke, Gedelöcke, du willst nicht durch die Gewölbe und Steinplatten verdampfen und jeglicher frommen Nase zum Ärgernis und Leibesschaden werden?! O Gedelöcke, welch ein heidnischer Jud bist du, da es dir einerlei ist, ob die Auferweckung der Auferstehung vorgehe: ist es dir nicht bekannt, daß geschrieben stehet: resuscitatio est causa resurrectionis? — Also um 9976 Meilen ist das Firmament jüngsthin eingesunken, Herr Doktor Sekundus? — Das ist freilich ein erfreulich Zeichen des kommenden Jüngsten Gerichtes; aber Er ist doch ein heimlicher Jude, Herr Jens Pedersen Gedelöcke, und wird dahin fahren, wohin Ihn der Herr Hieronymus von der Dreifaltigkeit dirigieret. O, ruchlose Seele, ist die Hölle nicht so heiß, wie man sie machet? Gedelöcke, Gedelöcke, wie hast du den rechten Weg verfehlet mit deinem metaphorischen Feuer; — wo Rauch ist, Apokalypse, vierzehntes Kapitel am zehnten und elften Vers — da ist auch Flamme — Lukas im sechzehnten Stück, Vers vierundzwanzig! Was soll’s nunmehro mit unserm Meister Henrich Israel? O ha, anjetzo fangen wir an und ziehen erst die rechten Register. O Gedelöcke, o Herr Kuratore, jetzt geht’s mit Ihme um die Ecke und kopfüber in den Pfuhl der Verdammnis; einen guten Stilum magst du schreiben, mit dem Mund magst du spitz und scharf auf den rechten Fleck zufahren; aber besser wär’s dir doch gewesen, so du nicht der Gelehrten, Weltweisen und verführerischen Rabbinen Schriften studieret hättest, sondern bei der lautern Milch des Evangelii geblieben wärest! Das ist keine Sache für einen gläubigen Christen, daß er seinen Braten immerdar beim jüdischen Schlachter einkaufe; wer aber das Schwein und alles, was von ihm kommet, verachtet, der mag sich wahren, daß er nicht selber —“

Der Famulus schnellte im jachen Schreck zurück und in die Höhe; im Gemache seines Herrn hatte sich urplötzlich ein gewaltiger Tumult erhoben. Stühle wurden mit Gepolter zurückgeschoben; die Glocke des Kurators läutete gellend Sturm; die Stimme der Madame mischte sich schneidend in das dumpfe Gebrumm der Mediziner und den rollenden geistlichen Donner: Gedelöckes Stimme aber klang klar gleich einem Trompetenstoß durch die Schlacht:

„Davide! Davide! wo steckt Er? Davide, eile Er herbei; komme Er seinem geschlagenen Herrn zu Hilfe, Davide, Davide!“

Mit einem Sprunge stand der Gerufene im Krankenzimmer.

„Drauf, Davide,“ schrie der Kurator. „Führe Er die Herren die Treppe hinunter, und sorge Er, daß niemand Schaden leide. Da — da, bei Moses und allen großen und kleinen Propheten, bei der schönen Judith und dem grausamen Feldhauptmann Holofernes, beim Bel zu Babel, beim Drachen zu Babel, bei der keuschen Susanne im Bade, die Herren werden’s verzeihen, daß ich ihnen nur meine Nachtmütze auf den Weg mitgebe.“

Herr Jens Pedersen Gedelöcke saß hochrot und tiefblau vor Ärger und Aufregung im Bett und ließ seinem Worte die Tat im nämlichen Moment folgen. In bedrohlichster Nähe flog die Zipfelmütze des Kranken an der Nase des Pastors vorüber, und Herr Hieronymus Moekel erhob die Hände, um den Himmel zum Zeugen dieser Verruchtheit aufzurufen, schüttelte den Staub von den Füßen und verließ das Haus des Kurators mit dem festen Entschluß, draußen noch einige Worte in dieser Angelegenheit zu reden. Die beiden Ärzte folgten dem Beispiele des geistlichen Herrn, nachdem noch der Doktor Sekundus in seiner Eigenschaft als Haus- und Leibarzt des Kurators versucht hatte, eine versöhnlichere Stellung ihm gegenüber einzunehmen. Die Frau Mette verschloß sich mit ihren Krämpfen und Konvulsionen in ihr Kämmerlein, und der heillose Sünder und Verächter jedes menschlichen und göttlichen Rechtes, Jens Pedersen Gedelöcke, ließ sich von seinem Famulus die Kissen zurechtschieben und sprach tiefaufatmend:

„Schenke Er Ihm auch ein Glas Spanischen ein, Davide, daß ich doch Einen anständlichen Menschen derer Gottesgabe genießen sehe. Tausend lappländische Donnerwetter!“

„Ihr zeitliches und ewigliches Heil und Wohlsein, Herr Kurator!“ sprach der Famulus, mit tonloser Gravität das gefüllte Glas an die Lippen führend.

„Ich danke Ihm, Monsieur Bleichfeld,“ sagte Gedelöcke. „Hoffentlich hat Er nach Seiner Gewohnheit an der Tür das Notwendige erhorchet; — Herr Ludovikus hat keine bessere Komödie aufführen lassen, und Er hat’s gratis gehabt, Davide. Ei, ei — riechet Er noch den Schwefel? — hat der Pfaff mir eingeheizt, wie der König Nebukadnezar den drei Männern im feurigen Ofen! Jetzt sage Er mir selber, Davide, bin ich ein Jud oder keiner? Ich will Ihm alles glauben.“

„Ich halte Ihn so wenig für einen Juden, Monsieur, als für den Verfertiger der Berleburger Bibel oder sonst einen Chiliasten!“ sprach der Famulus mit Überzeugung. — —

Der Regen fuhr in immer heftigeren Strömen hernieder; im Innern des Hauses des Kurators Gedelöcke vernahm man keinen Laut. Die Mägde und der Knecht kauerten verschüchtert um den Küchenherd, und Madame mit ihrem Töchterlein rührte sich nicht; — auf den großen Sturm war das tiefste Schweigen gefolgt. Ein schwarzer Kater stieg wie der Geist des Hauses langsam vom Bodenraum herab, schritt über den Gang und kratzte oder klopfte vielmehr an der Türe des Kurators.

„Öffne Er dem Mutz, Davide,“ sagte Herr Jens; „das Vieh wird auch kommen, um wegen der Emotion und des Tumultes zu kondolieren. Hierher, mein Kater, mein guter Kerl, ja, ja, es ist eine tugendsame und fromme Welt. Ja, ja, mein armer Mutz, die Totenkäuze waren da, und es stehet dahin, wie lange Er mir noch den Magen wird wärmen dürfen.“

Mit Geschnurr sprang der Schwarze auf das Bett seines Herrn, der ihm ganz zärtlich den Pelz streichelte, und als das Tier sich zum behaglichen Schlummer zusammengerollt hatte, plötzlich recht ernsthaft gegen seinen Famulus begann:

„Davide, es ist eine alte Geschichte und nicht viel Besonderes daran; aber Er weiß, was ich an Ihm getan habe; wie ich Ihn von der Gasse in mein Haus nahm, Ihn wärmte, kleidete und fütterte und Ihm seine Kollegia umsonsten verschaffte. Ich weiß auch, daß Er mir zugetan ist von ganzem Herzen, und Ihm ist’s nicht unbekannt, welch ein Trost mir Seine längliche Figur und hohe Sapienz zu jeder Zeit gewesen ist. Zur Lustigkeit ist Er nie geneiget gewesen; also wird Er auch anjetzt wohl ein bedächtiges Wort mit Ihme reden lassen. Famule, es ist aus und zu Ende mit dem königlich dänischen Untertan Jens Pedersen Gedelöcke, und der Kurator überläßt der Welt Cura und Gaudium denen, so nach ihm kommen. Ihm, Davide, habe ich meine Bibliotheka und zweitausend Reichstaler vermacht. Madame und das Kind werden das Ihrige erhalten — lasse Er das Heulen, Davide! der Meister Henrich Israel ist ja gar nichts gegen Ihn! — meine Seele gebe ich dem, welcher sie dem Erdenkloß einblus; was den Erdenkloß selber aber anbetreffen mag, das ist in diesem mit meinem Handsiegel pitschierten Skriptum enthalten, und lege ich solches mit Vertrauen in Seine Hände, auf daß Er es, sobald der Kurator Gedelöcke, Sein alter Patron, abgelaufen ist, und Zeiger und Pendulum still stehen, an die richtige Adresse abliefert. Was darauf zu tun ist, das wird sich finden, und mag auch Er, Davide, Seine Stimme in consilio haben als ein treuer Diener und ein prudenter Kopf. Den Mutz vermache ich Ihm auch und weiß, daß Er fein lieblich mit ihm umgehen und sich keine Winterkappe aus seinem Pelz machen lassen wird. Nun gebe Er mir auch ein Glas Spanischen, einem jeglichem, so etwas dagegen zu sagen weiß, zum Trotz; — pereat materia peccans cum titulo pleno! Lege Er mir die Kissen zurecht, und lasse Er mich ein Stündlein allein; wenn der Mensch es also kühl gegen den Magen heraufsteigen spüret, so hat er so mancherlei zu bedenken, daß ihm seine allerbesten Freunde zum Überfluß werden mögen.“

„Herr Kuratore,“ sprach der Famulus; „ich liebe Ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele; Er ist mir mehr als ein Vater gewesen, und sein Vermächtnis rühret mich mehr als zu sagen ist. Ich verhoffe, daß ich Ihm noch lange Jahre mit Kopf und Hand und Herzen, mit der Feder und mit dem Maule zu Diensten sein darf; diesen Brief aber werde ich zur richtigen Stunde, wenn es nicht anders sein kann, an den Herrn Obristen von Knorpp abgeben, verlasse Er sich drauf.“

Optime!“ sprach Gedelöcke, das Gesicht der Wand zukehrend. „Es ist eine kuriose Welt; bestelle Er mein Kompliment an den Benediktus, Davide; das Regiment ist auf dem Marsch von Altona her.“

IV.
Von dem Herrn Obristen Benediktus von Knorpp.

Von den soeben beschriebenen Stunden an flossen natürlich nunmehr alle die verschiedenen bedenklichen Gerüchte über den Kurator in der einen entsetzlichen Gewißheit von der grausamen, abscheulichen und verruchten Apostasie des Mannes zusammen, und mit schauderndem Wohlbehagen sah ihm die Stadt Kopenhagen in die Fenster. Nun kamen die absonderlichsten Histörchen zu Haufen hervor wie die Regenwürmer beim Laternenschein, und hundert Leute, welche den Kurator in ihrem Leben nicht gesehen hatten, erinnerten sich an Dinge und Worte aus jeder Epoche seines Daseins, die wohl geeignet waren, die allgemeine christliche Betrübnis zu begründen und zu steigern. Die Herren Doktores segneten ihren abtrünnigen Patienten nach jeglicher Krankenvisite; denn wenn auch ihre Kunst sie dann und wann im Stiche lassen mochte, Jens Pedersen Gedelöcke ging ihnen nimmer aus, und wie nützlich und annehmlich ein solcher stets frischer Gesprächsstoff sein mag, das weiß der wohl, so selber eines solchen in seinem Beruf bedürftig ist. Auch der ehrwürdige Hieronymus zog nach bestem Vermögen seinen Vorteil aus dem halsstarrigen rationalistischen Sünder und wußte ihn an jedem Sonntag in seiner Trinitatiskirche in einer andern und stets feurigeren Beleuchtung als abschreckend Exempel auf die Kanzel zu bringen, und fand nur einen Dorn an der Rose, nämlich den frommen Eifer der Kollegen, so den Kuratorem zu eigenem Gebrauch entlehnten, ohne das ius primae possessionis im geringsten zu achten. Was den Famulus David Bleichfeld anbetraf, so konnte derselbe nicht mehr über die Gasse gehen, ohne daß sich Mann und Weib an seinen Mantel oder Rockschoß hingen, um ihn mit Fragen, Kopfschütteln und guten Ratschlägen bis aufs äußerste zu torquieren.

Im Hause selber hockte Frau Mette im Sack und in der Aschen, hielt ihr Töchterlein zwischen den Knien, genoß wie die Stadt Kopenhagen den kitzelnden Schauder des unerhörten Zustandes und nahm dazwischen in zerknirschter Gehobenheit die wunderlichsten Kondolenzbesuche an. Es kamen Leute aus den höchsten wie aus den niedrigsten Ständen zu ihr: gottesfürchtige Kammerherrn und Hofdamen vom erleuchteten Hofstaat Seiner Majestät des Königs Christians des Sechsten; theologisierende Geheimeräte, mystische Schuster, wohlmeinende Bürgerfrauen, besonders aber viele Pastorenwitwen mit den gedruckten oder ungedruckten Predigten ihrer Seligen, also mehr als ein inspiriertes Waschweib. Die hohe und niedere Geistlichkeit hielt das Haus blockiert, wie der Türk den Russen Anno Eilf am Pruth; im Schoß der Universität summte und brummte es wie in einem Bienenkorb, der sich zum Ausschwärmen rüstet, und es war kein Teetopf, kein Bierkrug und keine Bettgardine, hinter welchen nicht das Pro und Contra in Sachen Gedelöcke mit Eifer abgewogen wurde.

Gedelöcke selber verbiß seine leiblichen Schmerzen hinter verriegelter Tür, ließ sich von seinem getreuen Famulo das Buch Koheleth, welches wir den „Prediger“ Salomonis nennen, vorlesen, schlug noch einen Hauptsturm der Kopenhagener Prediger ab und machte am ersten Ostertage des durch ihn so denkwürdigen Jahres 1731 sein Wort wahr, und ging mit dem Gefühl, als ob ihm ein eiskalter Teller auf den Magen gedrücket werde, hinüber in eine bessere Welt, um vor einer andern Stelle als dem dänischen Oberkonsistorio und dem Kopenhagener Polizeimeister und obern und untern Publiko von seinem Leben, Taten und Meinungen Rechenschaft zu geben. Er ersoff, verstockt wie Pharao, elendig im Roten Meere seiner Sünden, wie der Pastor Hieronymus Moekel sagte. Er zeigte, daß er zur richtigen Zeit seinen Abtritt zu nehmen wußte, wie der Professor Ludwig Holberg mit einem noch vieles andere sagenden Achselzucken bemerkte. Er schlug sich dreimal an die Brust und rief: „Ich weiß, daß ein allmächtiger Gott ist!“ und verschied — wie Monsieur David Bleichfeld später auf dem Polizeiamt berichtete.

Nun weiß man aus der Geschichte, daß um die Stunde, da der großmächtige, grausame Tyrann und verruchte Königsmörder Olivier Cromwellius, so sich auch den Protektor von England heißen ließ, den Atem verhauchte, ein erschrecklich Unwetter sich erhob, welches viele Fensterscheiben und Schornsteine zerschlug, auch manchen Baum umwarf und sonst vielerlei betrübtes Unheil anrichtete: um die neunte Abendstunde des ersten Ostertages 1731, als der Kurator Gedelöcke seine Rechnung abschloß, entstand nur ein trockenes Wehen, das kaum den Staub und die Abfälle in den Gassen von Kopenhagen umherwirbelte, aber späterhin so gut wie das engelländische Sturmwetter zu den „Zeichen“ gerechnet wurde. Es rasselte der Wind ein wenig an dem Fenster, als klopfe eine Hand an die Scheiben. „So lasse ich dich dem, welchem du angehören willst, Jens Pedersen Gedelöcke!“ rief der Prediger von der Dreifaltigkeitskirche und entfernte sich mit seinem Küster Jesse Brägge; das Gesinde stürzte fort, die Frau verbarg sich mit dem Töchterlein in ihrem Gemache. Niemand harrte bei dem toten Manne aus, als sein Famulus und sein Kater, welcher letztere später natürlich ebenfalls zu den „Zeichen“ gezählt wurde. Und als David Bleichfeld eine halbe Stunde nach dem Tode des Patrons in sein Kämmerlein hinaufstieg, um aus dem verborgensten Schubfach seines Schreibpultes das an den Herrn Obristen von Knorpp gerichtete Schreiben des Kurators hervorzunehmen, hielt der Kater die Leichenwache fürs erste ganz allein.

Mehr instinktartig und mechanisch, als in klarer Überlegung dessen, was geschehen müßte, richtete der Famulus den letzten Auftrag seines Herrn aus; aber selbst die Gewißheit, nur der letzten Grille des Verstorbenen Vorschub zu leisten, würde ihn auf seinem Wege nicht aufgehalten haben.

Er verließ das Haus und trug das versiegelte Papier in beiden Händen vor sich her durch die finstern Gassen. An einer Ecke traf er auf die ehrwürdigen Herren von der Trinitatis- und der Frauenkirche, welchen ein Diener mit der Laterne vorleuchtete. Sie hielten den Verstörten an und sprachen, indem sie eine längere Zeit hindurch an seiner Seite schritten, heftig und hitzig auf ihn ein, ohne daß er sie anfangs verstand. Als er aber allmählich ihre Meinung und die Wege, welche sie gingen, begriff, da schob er das Schreiben Gedelöckes hastig in die Brusttasche und knöpfte mit zitternden Fingern jeden Knopf darüber zu; noch hastiger nahm er sodann seinen Abschied von den zwei Pastören und beschleunigte seine Schritte dergestalt, daß er fast gänzlich außer Atem vor der Wohnung des Obristen Benediktus von Knorpp anlangte und vor übermächtiger Aufregung und Mangel an Luft kaum imstande war, daselbst Einlaß zu begehren und seinen Namen zu nennen.

Da stand er denn auf dem Hausflur und murmelte: „Ah, so ist es gemeint! so ist es — o, ich konnte es mir denken! o, Jens Pedersen Gedelöcke! o, Herr Kurator! o, mein guter, guter Herr und Patron!“ und aus dem obern Gestock des Hauses drang ein rauher kriegerischer Gesang herab, welcher sein erschüttert Gemüte auch wenig kräftigte und festigte. Nun führte ihn eine uralte, hexenartige Dienstmagd die Treppe hinauf; nun trat er aus der Kühle in die Hitze, nun stand er zwischen gepackten Soldatenkoffern in einem dichten Nebel von Tabaksqualm, und das Lied von der Schlacht bei Kiöge paßte fürtrefflich zu dem Manne, so in hohen schwedischen Stiefeln, mit der Tonpfeife im Munde zwischen dem Fenster und dem hohen Steinkrug auf dem Tische hin- und herschritt und jedesmal, wann er die Nase und den Schnauzbart in dem Kruge versenkte, wußte, was er tat.

„Der Herr Obrister sind heute mittag von Altona angelanget und gehen übermorgen mit dem Regiment nach Frederikshall,“ hatte die Wirtschafterin auf der Treppe dem Famulo mitgeteilt, und der Herr Obrister kommandierten sich selber „Halt!“ und „Front“, standen stocksteif vor dem Boten des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke und schnarrten:

Bonsoir, Monsieur Bleichfeld; ist Er’s denn, oder ist Er’s nicht? Bei allem, was lebet, wie siehet Er aus, Herr Studio! Ist Ihm der General Stenbock, der König Karl oder der Teufel selbst begegnet? Was bringet Er mir von Sich oder Seinem Herrn?“

„Der Herr Kurator lassen sich dem Herrn Obristen allergehorsamst rekommandieren; — vor einer Stunde sind Sie sanft entschlafen.“

„Halt!“ schrie der Kriegsmann, beide Hände wie Klauen dem zusammenknickenden Famulus auf die Schulter schlagend, und ihm die scharfe dünne Habichtnase so nahe als möglich unter die Augen rückend: „Ruhe im Glied! Was hat Er gesaget, Monsieur?“

Der Famulus wiederholte stotternd seine Nachricht, die hellen Tränen liefen ihm dabei jetzo über die hagern Backen, und der Kriegsmann ließ seine Schulterblätter frei, leerte im jähen Schrecken und Schmerz seinen Krug bis zum Grunde, setzte sich auf den nächsten Holzschemel und seufzte in tiefster Zerknirschung:

„O David Bleichfeld, das verdirbt mir mehr als diesen Abend! O Bleichfelde, mit diesem Wort hat Er mir mehr in der Hand zerbrochen, als diese tönerne Pfeife, und Famule — holla — ich kenne den Jens Pedersen — und ich glaube Ihm noch nicht, Monsieur David! Er ist geschickt worden, mich anzulügen zum Willkommen, Kamerade — sehe Er mir noch mal in die Augen.“

Noch einmal packte der Kriegsmann den Unglücksboten und sah ihm in das klägliche Gesicht. Als er ihn aber zum zweiten Male frei ließ, zweifelte er nicht länger, sondern seufzte:

„O Jens, Jens, du halsstarriger, widerborstiger, närrischer Bursch, so hast du mir denn den letzten Schabernack gespielt und bist vom Posten abgezogen, ohne Losung und Rapport zu hinterlassen. O du fahnenflüchtiger Bösewicht, die Hand hättest du wenigstens mir noch einmal drücken sollen! Monsieur Bleichfeld, ich sage Ihm, das hat mir nicht geschwanet, daß ich zu einem solchen Feste aus Holstein einrücken solle. O Jens, eine solche Freundschaft wie die unsrige ist nie erhöret worden, und nimmer haben zwo menschliche Kreaturen in solchem Hader, Ekel und Widerwillen miteinander gelebet, denn wir zwei beide! Monsieur Bleichfeld, seit wir uns vor unserer Väter Türen zu Helsingör um Ball und Kreisel die Köpfe blutig schlugen, seit wir in Rosenborg-Have Anno 1695 um die Mamsell Spegelmann einander in die Haare gerieten, sind wir wie zwo Zwillingsbrüder gewesen und haben kein Jahr verstreichen lassen, ohne uns gegenseitig aufs Eis zu führen, und nun ist er fortgegangen, Meister Bleichfeld, und hat seinen alten Kumpan allein im dänischen Dreck gelassen! Ich habe schon längst in Altona auf seine diesjährige Schnurre gewartet; aber solches geht doch über allen Spaß, — ohne ein Aviso, — ohne ein Wort zum Abschied —“

„Nicht ohne ein Wort zum Abschied, Herr Obrister!“ rief der Famulus, das Schreiben seines Patrons hervorziehend. „Dieses ist für Euch, Herr von Knorpp, und mir auf die Seele gebunden. Leset und lasset mich Eurer Opinion, Eures Rates und Trostes genießen; es ist seine letzte Meinung also gewesen.“

Mit eilfertiger, ein wenig zitternder Hand hatte der Oberst nach dem wohlversiegelten Brief gegriffen, ihn mehrfach von jeder Seite beaugt und endlich erbrochen.

Da saß er am Tisch, die Skriptur auf Armeslänge von sich abhaltend, und das wechselnde Spiel der Muskeln auf seinem runzligen, zähen, verwetterten Ledergesicht war wohl eines feinen und gewandten holländischen Pinsels würdig. Betrübnis, Erstaunen, Zornigkeit und helle Wut zerrten in solcher blitzesschnellen Folge Stirn und Nase, Schnauzbart, Kinn, Backen und Mundwinkel durcheinander, daß der kummerbelastete Famulus ob des mirakulosen Anblicks betroffen Schritt für Schritt zurücktrat, und zuletzt, als der Kriegsmann mit einem wilden Fluch und einem donnernden Faustschlag auf den Tisch verkündete, daß dieses das Tollste und Heilloseste sei, was ihm seit dem Travendahler Frieden vorgekommen, — wie von dem Faustschlag selber getroffen zusammenfuhr und schier in sich selber verschwand.

„Weiß Er, David Bleichfeld, was er mir hier schreibt?“ schrie der Obrist und brüllte, als der Famulus den Kopf schüttelte: „Er wendet sich an mich und an Ihn, Davide, um sechs ungehobelte Bretter und ein stilles Loch in der Erde! Er weiß, was für schwarzes Gevögel ihm über dem Kopfe fliegt und herabstoßen will! Wir beide sollen ihn begraben, Monsieur, bei Nacht und Nebel, still und fein säuberlich, Monsieur. Er hat uns seinen armen stinkenden Leichnam vermacht, Meister David Bleichfeld. Seinem Hausdrachen trauet er nicht über die Gasse und noch viel weniger bis auf den Kirchhof, und was den ehrwürdigen Herrn Hieronymus Moekel anbetrifft, so — — Himmel und Hölle, bei allen Gruben, an denen ich je auf einem dänischen champ de bataille gestanden habe, Jens Pedersen Gedelöcke, es soll geschehen, wie du es wünschest, und sollte ich das Haus mit meinen Füsilieren im Sturm nehmen müssen!“

Auch der Famulus las nunmehro das Schreiben des Kurators und rief sodann: „O Herr Obrister, er hat recht, und Eile tut wahrlich not! Der Herr Oberprediger von Trinitatis ist freilich schon auf dem Wege, ein hochehrwürdiges Konsistorium ist bereits zusammenberufen, und was die Dunkelheit dieser Nacht gebiert, das wird am Morgen gar schön und propre daliegen —“

„Und übermorgen segeln wir auf alt Norge!“ rief der Kriegsmann, den Dreimaster auf die Perücke stülpend; „Gewehr über! Marsch auf der ganzen Linie! O Jens, Jens, wie magst du von deiner Wolke herablachen, denn also hast du mich in deinem ganzen Leben noch nicht zum Narren gehalten; aber wer zuletzt lacht, — ach Gott, es ist eine elende, nichtsnutzige Welt, marsch, Meister David, lasse Er die schwarzen Vögel nur zu Haufen fliegen; wir holen meinen Regimentsfeldscher Herrn Snorro Skalholt aus seinem Garnisonsspital; dann können wir ihnen die Volte zu drei schlagen, und, Monsieur David Bleichfeld, wann Er übermorgen mit mir und meinem Regiment an Bord des Själland gehen will, so soll Er mir hochwillkommen sein, und zu überlegen wär’s!“

„Jawohl, zu überlegen wär’s!“ seufzte der Famulus; aber der Gedanke an das Testament des Kurators Gedelöcke, an die herrliche Bibliothek und die zweitausend dänischen Reichstaler legte sich ihm wie ein spanischer Reiter in den Weg; mit einem Ruck der Verzweiflung zog er den Hut in die Stirn, folgte unsicheren Schrittes dem Kriegsmann, welcher bereits die Treppe hinunterstapfte, und fand sich zwanzig Minuten später vor dem Spital der Kopenhagener Garnison unter dem Fenster des isländischen Doktors, welches der lange Oberst, auf den Zehen stehend mit dem Stockknopf grad erreichte.

„Wach ist er; aber Danziger Goldwasser ist auch ein liebliches Getränke,“ sprach der Herr von Knorpp. „Da werden wir ihm doch wohl die Scheibe einschlagen müssen. Hallo, holla, da ist er!“

Auf das wiederholte Gepoch wurde mit einem grimmigen Getöse das Fenster in der Höhe aufgerissen, und, beleuchtet von einer flackernden Kerze, schob sich der dickste Kopf der dänischen Monarchie in die Nacht vor.

„Ist das nicht wie ein Nordlicht?“ fragte der Oberst, seinen Ellenbogen dem Begleiter in die Seite stoßend. „Gut Freund, Meister Snorro Skalholt! Steige Er hernieder, Kamarado, man hat eine Arbeit für Ihn!“

Eheu, dux legionarius!“ schnarrte die Erscheinung im Fenster, das zerwühlte, flachsartige Haar zurechtschüttelnd. „Seid Ihr es, Herr von Knorpp? Was habet Ihr für Euern Gehorsamsten? Mit oder ohne Messer, Obrister?“

„Herunter mit dir, Island!“ schrie der Kriegsmann. „Das weitere wird man dir schon auf dem Wege sagen!“ Das Fenster schloß sich; der Doktor Snorro Skalholt trat in die Gasse und erfuhr, um was es sich handle. Fürderhin lachte er nur von Zeit zu Zeit grimmig in den Bart und rieb sich die Hände unter dem Mantel. Bereit, auch das Äußerste für ihre Pflicht zu nehmen, erreichten die drei Verbündeten das Haus des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke.

V.
Von dem isländischen Regimentsfeldscherer Herrn Snorro Skalholt und von Mynheer van der Tromp, weiland zu Leyden.

Halt!“ kommandierte wiederum der Obrist. „In keinem Scharmützel, in keinem Treffen bin ich mit einem solchen Gefühl im Magen in die Schlachtlinie gerückt, und Er, Skalholt, lasse Er das abscheuliche Gegrunz und Gelach; hätt’ Er den Gedelöcke gekannt, wie wir, es würde Ihme auch schwüler ums Herz sein.“

„He, he, he, ich lache nicht über den Herrn Kurator, monsieur le colonel; mich lächert Mynheer van der Tromp, den wir zu Leyden stahlen zur Ehre der Wissenschaft. Lasset mich sehen, — Lemort, Hotton, Boerhave und ich teilten uns in ihn; — ja, ja, die drei andern sind als große lumina, als weltberühmte Lichter ausgegangen, und ich bin ein armer Feldscher worden; aber was hat der Mensch von aller Gloria, wann er tot ist? Barbati praecedant, marschiere Er voran, Herr von Knorpp, doch trete Er leise auf: Mevrouw van der Tromp bot fünfhundert holländische Dukaten dem, so ihr ihres Eheliebsten Leib retourniere, und wir loffen schier an der Wand hinauf vor Ärger; denn wir hatten ihn allbereits verwürfelt und ausgeteilet, jeglichem nach seiner Fortun.“

„Das ist ja eine recht jokose Historia, Meister Snorro,“ sprach der Oberst Benediktus. „Courage, Monsieur Bleichfeld!“

„Eine recht jokose Historia!“ murmelte der Famulus und schoß in die halbgeöffnete Haustür, in welcher niemand ihm und seinen Begleitern entgegentrat.

„Niemand zu sehen und zu hören?“ sagte der Obrister. „Wahrlich, das siehet öde und kalt aus. O Jens, Jens, du hast uns sonsten hier in anderer Weise salutieret! Haben sie denn alle Reißaus genommen? Brr, im Schwedenlager vor Frederikshall, Anno Achtzehn konnt’s nicht kühler sein; — o Gedelöcke, Gedelöcke, was ist aus deinem lustigen Quartier geworden!“

Nichts regte sich in dem großen weitläuftigen Hause. Auf einer Treppenstufe stand eine schwelende Küchenlampe, und dem Famulo schlugen die Knie aneinander vor innerlichem Frost, als er die Hand nach dieser Lampe ausstreckte, um den beiden Herren den Weg zu zeigen. Auch in dem obern Gestock rührte und regte sich nichts, außer den Mäusen hinter dem Wandgetäfel; die Tür des Sterbezimmers stand gleich der Haustür ein wenig geöffnet, doch brannte kein Licht in dem Gemache, und die kleine qualmende Flamme, welche David Bleichfeld auf Armeslänge zitternd vortrug, schien die Finsternis nur dichter und undurchdringlicher zu machen.

„Nun, Mann, da wir soweit sind, so rücket weiter,“ sagte der Oberst, doch nicht mit der gewohnten rauhen Kommandostimme. „Die Toten beißen nicht, und den Lebendigen kann man die Zähne weisen; — da!“

Der isländische Regimentsdoktor hatte den zaudernden Famulus durch einen jähen Stoß in das Gemach gedrängt; der Schein der Lampe fiel über das Bett des Kurators, und aus dem Lehnstuhl neben dem Bette erhob sich fauchend der Kater Mutz und sah mit grünleuchtenden, wilden Augen auf die Eintretenden. Unter dem weißen Laken, so man über den Leichnam geworfen hatte, guckte nur der rote Zipfel der Nachtmütze Gedelöckes hervor; der Lichtschein tanzte über dem Tische mit den Arzneigläsern, Schalen und Bechern; auf der spanischen Wand grinsten die bunten Chinesen wie phantastische Kobolde, und in dem kuriosen Gezweig schienen die kuriosen Vögel in dämonischer Lustigkeit mit den Flügeln zu schlagen. Schon aber hatte Herr Snorro Skalholt die Leinwand von dem Gesicht des Toten gezogen, und während die beiden andern noch in Betrübnis und Grauen bewegungslos standen, betastete er mit gierig-kundiger Hand den Leichnam, wandte sich um und sprach:

„Herr Obrister von Knorpp, der Mann spielt Euch sicher keinen Possen mehr.“

„Ich wüßte nichts, so mir schwerer einginge!“ seufzte der Oberst. „O Jens, Jens, das gehet noch über die Mamsell Spegelmann im Garten zu Rosenborg, — ah, bah, hab’ ich damals meinen Willen gehabt, so sollst du jetzo den deinigen haben, Jens Pedersen Gedelöcke! Vorwärts im Schritt; — gebet Euer Wort dazu, Ihr Herren!“

„Messieurs sind also fest entschlossen, mit hier vorliegendem Korpus per fas et nefas denen, so ein mehreres Recht daran haben möchten, die elatio, will sagen, die Leichaustragung vor der Nase hinweg vorzunehmen?“ fragte der Doktor Snorro, sich von der Inspektion des Leichnams aufrichtend.

Per fas et nefas, es war seine Meinung, und es soll so geschehen!“ rief schluchzend der Famulus, und der Oberst von Knorpp streifte stumm, mit grimmigem Ernst, die weiten Ärmelaufschläge zurück, zu jedem Anpacken mit Fäusten und Zähnen bereit.

„So ist mein Avis,“ sagte der Regimentsfeldscher, „die Herren halten allhier gute Wacht mit Ober- und Untergewehr; ich aber bringe vom Spital die Vespillones, will sagen, meine Bahrträger. Da gehen wir dann mit dem Herrn Kurator fein still und sittsam die Treppe hinunter, machen an der Tür dem Haus unser Kompliment, und hab’ ich ihn, will sagen, den Herrn Kuratorem, im Spital, so —“

Der Doktor brach ab und zeigte nur sein Gebiß; der Herr von Knorpp und Herr David Bleichfeld gaben nickend ihre Beistimmung kund, jedoch mit der geheimen Reservation einer kleinen Unterschiedlichkeit zwischen den allerletzten Schicksalen Mynheers van der Tromp und des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke. Auf den Zehen schlich der Isländer aus dem Zimmer; der Obrister setzte sich zu Häupten des Lagers nieder, und der Famulus hielt Wacht an der Tür, nachdem er vorher noch eine Wachskerze, die er auf einem Nebentische fand, angezündet hatte. Schnurrend aber ging der Kater jetzo, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Freunde seines toten Herren gekommen waren, von einem der beiden Männer zu dem andern und rieb knisternd sein Fell an ihren Schienbeinen und Waden, bis er plötzlich ganz improviso mit einem Satz dem Obristen auf das Knie sprang und gravitätisch daselbst seinen Posten behauptete. Hätte der Kurator sich aufrichten und einen Blick in das weite, dunkle Gemach, auf den rotröckigen Herrn Benedikt von Knorpp, den schwarzen, bleichgesichtigen, zähneklappernden David Bleichfeld und den Mutz werfen können, er würde dessen gewiß merkwürdiglich froh geworden sein.

Von Zeit zu Zeit unterbrach ein langes Geseufz, ein dumpferes Knurren und Brummen des Kriegsmannes die Stille der Nacht. Der Wind zischte vor den Fenstern, es rieselte der Ruß im Schornstein hernieder, einmal wurde draußen auf dem Gange eine Tür schnell geöffnet und noch schneller wieder zugeschlagen.

„Da lob’ ich mir jeglichen Posten über jeder Flattermine,“ murmelte der Obrister, und der Famulus lobte noch manche andere Dinge und Zustände, welche behaglicher waren, als dieses mitternächtliche Harren auf den isländischen Doktor Snorro Skalholt und seine Bahrträger. Endlich um zwölf Uhr weniger zehn Minuten legte der Herr von Knorpp die Hand ans Ohr, und David schlich zum Fenster und flüsterte:

„Da sind sie! der Himmel sei gepriesen!“

„Amen!“ sprach der Obrist. Taktmäßige Schritte mehrerer Männer ertönten in der stillen Gasse und hielten vor dem Hause des weiland Kurators Gedelöcke an.

„Courage, Famulissime!“ flüsterte der Herr von Knorpp. „Jetzo fasset einmal all Euern dänischen Heldenmut zusammen; denket an den ehrwürdigen Herrn Hieronymus Moekel und das hochehrwürdige königliche Konsistorium; nehmt das Licht und haltet es hoch, ich nehme den Kurator! Courage, Jens Pe — wollte ich sagen David Bleichfeld! O Jens, Jens Pedersen Gedelöcke, ich hab’ schon manch einen also aufgegriffen vom Feld, aber keinen mit mehr Ärgernis und Jammer als dich! Komm, Alter, es war doch ein ander Ding, als wir in Rosenborg-Have uns im Sonnenschein unsere Meinung und die Mamsell Spegelmann um die Köpfe schlugen!“

Er hatte während dieser Stoßseufzer das Leinentuch fest um den Leichnam geschlagen und erhob denselben nun mit einem wilden Ruck von dem Pfühle. Im höchsten Schrecken fuhr David Bleichfeld gegen die Wand, und zischend, mit emporgesträubtem Pelz, schoß der Kater auf und sah mit allen Zeichen des Entsetzens von einem hohen Eckschrank seinem toten Herrn nach.

„Horch, Island auf der Treppen! Hinaus, Monsieur, in des Satans Namen! — Leuchtet vor, — Courage!“ rief der Obrist, keuchend unter seiner absonderlichen Last; der Famulus riß die Tür auf, und der Herr von Knorpp sprang mit dem Leichnam auf den Korridor hinaus. In demselben Momento aber wurde auch die Tür der Frau Mette am Ende des Ganges geöffnet, und eine Magd, ein Teebrett mit Tassen und Töpfen in den Händen tragend, trat herfür, um einen Augenblick versteinert die verwunderliche Gruppe anzustarren und mit dem nicht ungerechtfertigten gellenden Gekreisch: „Er holt ihn! er holt ihn! er hat ihn! Der Teufel! der böse Feind! der Teufel holt den Herrn! der Teufel holt den Herrn Kurator!“ zu Boden zu stürzen. Auf sie und die Trümmer ihres Porzellans sank mit eben solchem Geschrei die herzugeeilte trauernde Wittib.

„Da haben wir’s, Jens Gedelöcke, da hast du’s! drin sind wir! Vorwärts, Monsieur Bleichfeld. Zehntausend finnische Nordlichter, wird das morgen einen Lärm geben in der Stadt Kopenhagen! Greift zu, Herr Snorro, und vorwärts im Galopp!“

„Ja, vorwärts im Galopp, das sagte Hermann Boerhave auch, als wir Mynheer van der Tromp durch die Hoftür zwängten,“ murmelte der Isländer. „De drommel, das war im Jahr Neunundachtzig, Obrister!“

Der Famulus sagte nichts; denn zuletzt trug er doch am schwersten an dem Gewicht seines guten toten Patrons. Wie Frau und Magd im obern Stockwerk des Hauses, so schrien nun Knecht und Köchin im Erdgeschoß auf und stürzten im fernsten Winkel übereinander; aber vor der Tür warteten ein Gefreiter und vier Füsiliere mit der Spitalbahre: „Viktoria, heran ihr Leute!“ rief der isländische Feldscher. „Packt auf und sehet euch nicht um; greift aus, Herr von Knorpp, greift aus, Monsieur Bleichfeld, in meinem Quartier mögen wir das weitere besprechen.“

Schnell nahmen die Träger die Bahre auf, und im eilenden Laufe wurde der Leib des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke durch die Gassen geführet. Weit ausschreitend, eröffnete der Obriste Herr Benediktus von Knorpp den Zug, und der Famulus mit dem Isländer beschlossen ihn. Scheu wich zur Seite, wer dem gespenstischen Wesen begegnete, und mehr als ein guter Kopenhagener Bürger, an welchem das „Ding“ vorübergefahren war, sprach nachhero mit absonderlicher Inbrunst sein Vaterunser und zog die Bettdecke hoch über die Nase hinauf. Am andern Morgen in der grauesten Frühe, vor Eröffnung der Festungstore, rasselte ein Fuhrmannswagen gegen das Ostertor heran, und ein tief in seinen Mantel gehüllter Mann wies dem wachthabenden Korporal den Passierzettel vor, worauf die Gitter ohne Anstand geöffnet wurden, und das Fuhrwerk ohngehindert seinen Weg durch die Osterbrogade fortsetzen durfte. Am Garnisonskirchhof hielt der Wagen abermals, drei Männer stiegen herab und trugen mit Hilfe des Fuhrknechts einen schlecht gezimmerten königlich dänischen Soldatensarg im tiefsten Schweigen durch den dichten Nebel über den Gottesacker zu einer Grube, an deren Rand der Totengräber mit seinem Gehilfen bereits wartete.

Im tiefsten Schweigen wurde der Sarg in die Erde hinabgesenkt; wie die drei Männer mit die Stricke gehalten hatten, so griffen sie auch mit zu den Schaufeln, und in kürzester Frist war die traurige Arbeit vollendet. Nachdem sich die Totengräber entfernt hatten, blieben die drei Leidträger allein an dem neuen Grabe; der Famulus des Herrn Kurators Jens Pedersen Gedelöcke, David Bleichfeld, schluchzte laut hinter dem vorgehaltenen Hute; der isländische Doktor Snorro Skalholt murmelte etwas von Mynheer van der Tromp, und der Obriste Herr Benediktus von Knorpp drückte mit einem Faustschlag den befiederten Dreimaster tief in die Stirn und sprach:

„So hast du denn wenigstens ein ehrlich Soldatengrab gekriegt, Jens, und Gott schenke dir und uns allen eine fröhliche Urständ! Wir haben unser Bestes getan, Messieurs, und für jetzt das Beste gewonnen; aber — Bleichfelde, nehme Er Vernunft an; gehe Er morgen mit mir und meinen Füsilieren nach Norwegen. Bringe Er Seinen eigenen Leichnam in Sicherheit, Famule; gehe Er mit uns nach Friedrichshall; die Kommodité soll seit der schwedischen Berennung Anno Achtzehn mächtig zugenommen haben; ich geb’ Ihm meine Parol, auf Fort Güldenlöwe soll Er sitzen wie in Abrahams Schoß, und wir wollen lachen über das Krächzen und Flügelschlagen jenseits des Wassers.“

„Seine, meine Bibliotheka!“ seufzte der Famulus. „Die zwotausend Reichstaler lass’ ich hinter mir wie einen Sack Nüsse; aber hat er Raum an Bord für Opera omnia Lutheri, Melanchthonis, Brentii, Walleri, Erasmi, Clerici, Calvini, Cocceii, Launoii …“

„Hör Er auf, hör Er auf!“ schrie der Obrist.

„Hat er Platz für des Cornelii a Lapide Bibelkommentare, sechszehn Folianten? Hat Er —“

Herr Benediktus von Knorpp hielt sich beide Ohren zu, und stiefelte eilig über die Gräber der Kirchhofspforte zu, und verdrießlich folgte ihm der isländische Doktor. Der arme Famulus stand allein an dem traurigen Grabe des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke, schlug die Hände zusammen und rief:

„O mein guter Patron, mein Freund, mein Vater, was werden sie aus mir machen? Was soll ich ohne Ihn anfangen in dieser ärgerlichen giftigen Welt? O Herr Kurator, Herr Kurator!“ Auf den Zaun des Garnisonfriedhofes aber legten sich zwei hagere, haarige, knochige Fäuste, eine lange, schwarze Gestalt hob sich auf den Zehen, und eine spitzige, gerötete Nase roch in den Nebel hinein.

„Ei, ei! so, so, Monsieur Bleichfeld,“ sprach Meister Jesse Brägge, der Küster der Trinitatiskirche. „Solches wird man freilich ein Begräbnis Jojakims nennen! o profanatio, was werden wir dazu sagen im hochwürdigsten Konsistorio! Hat man Ihn, Monsieur? Ei, ei, ei, das war freilich ein lieblich Werk und wird einen guten Geruch geben.“

VI.
Von der Stadt Friedrichshall, der Feste Friedrichstein und dem dänischen Postschiff.

Im Norwegenschen Amt Smaalehnen, Stift Christiania, an der Mündung des Tistedal-Elfs in den Idefjord, Swinesund, liegt die Stadt Friedrichshall und daneben auf einem dreihundertundfünfzig Fuß hohen Felsen die in alle Zeiten berühmte und berüchtigte Feste Friedrichsstein mit ihren beiden Forts Oberberg und Güldenlöwe, vor welchem letztern, wie jedermann weiß, in der Nacht vom elften auf den zwölften Dezember 1718 der tapfere König Karolus, des Namens der Zwölfte, von einer Falkonetkugel durch den Kopf getroffen, das Leben ließ, und Schwedens Macht und Herrlichkeit ein jäh und schrecklich Ende nahm. Wir setzen den Fuß auf diesen hochtragischen Boden im Herbste des Jahres 1731, als Herr Benediktus von Knorpp Kommandante auf Friedrichsstein war, und noch sind nicht alle Spuren der schwedischen Belagerung in der öden, felsigen Umgebung verwischt. In diesen wenig bevölkerten, rauhen Gegenden hielt es schwer, selbst nur das Notwendigste wieder aufzurichten, und überall zeigten noch die Rudera verbrannter oder zerschossener Gehöfte, die zu Laufgräben und Schanzen aufgewühlte Erde, wie Bellona hier Hof gehalten hatte. Wie Trauerflor überzog das dunkle Gewölk den Himmel, mit klagendem Getön fuhr der Wind über Land und Sund: immer noch schwebte über den schwarzgrünen spiegelnden Wellen, dem düstern regungslosen Felsen und den Ruinen das Gespenst des gloriosen, wilden, nutzlosen Daseins, das hier in dieser Einöde, nach so gewaltigem Lärm und Leuchten in der Welt, in nichts versank; — noch immer schien die königliche Leiche mit der blutigen Stirn unter den Mauern von Güldenlöwe zu liegen, und die frostige, graue Landschaft nur die Trauerdekoration des schwedischen Niederfalls zu sein.

Auf einer Bastion der Festung, von welcher aus man eine weite Aussicht über den Swinesund, die Stadt und die Berge hatte, stand an ein Wallgeschütz gelehnt der Kommandant, und neben ihm sein Regimentsdoktor Herr Snorro Skalholt der Isländer; während eine Schildwacht, ohngefähr zwanzig Schritte ab, mit geschulterter Muskete auf und nieder ging. Beide, der Gouverneur wie der Feldscherer, gähnten sehr, und dann sprach der Herr von Knorpp:

„Daß man am Abend, wann man die Nachtmütze über die Ohren ziehet, seine Kinnladen noch beieinander findet, ist doch ein Mirakul, Meister Snorro; und wann man hier vom Parapet herunterguckt, pfui Teufel, man möchte der ganzen zahmen, lumpigen, lausigen Welt auf den Kopf speien. Aus Wams und Hosen möchte man fahren vor Ungeduld! ’s war doch eine andere Zeit, als vor dreizehn Jahren der tolle Karl sein Hauptquartier da drüben zu Tistedalen hatte.“

„Gebe Er Frieden, Kommandante; was hilft Ihm der Skandal und Lärmen? Die Jahre ziehen einem jeden zu seiner Zeit die Stiefeln aus,“ sagte der Isländer. „Sollte doch vermeinen, Er hab’ der wilden Wirtschaft genug gehabt in den dreißig Jahren, welche hindurch Er mich hinter sich fortschleppt! Man wird eben alt und kahl und — plus le singe s’élève, plus il découvre — Ihr wisset wohl, was. Sat, satis! was fehlet dem bescheidenen, friedlichen Sinn und Gemüt allhier auf dieser hochgelobten königlichen dänischen jungfräulichen Feste Friedrichsstein? Lasse Er mir und lasse Er ihm selber Ruhe, das Postschiff kommt heut auch von Christiania, und ich für mein Teil verlange nicht mehr von dem theatro mundi zu erfahren, als was es uns in seinem Neuigkeitensacke mitbringt.“

„Jawohl, das Postschiff, das ist auch solch ein leidig Labsal,“ brummte der Oberst. „Was spinnen und haspeln sie anders, als ihre elende pragmatische Sanktion! Wann der richtige Tanz darob beginnt, Meister Snorro, werden wir zwei beide wohl still genug liegen. Na, wie ist’s mit dem Schiffe, Mann?“

Diese letzte Frage galt der Schildwacht, welche salutierend den Kolben der Muskete auf den Boden stieß und prompt rapportierte:

„Lief vor einer Viertelstunde allbereits in den Fjord!“

Bon,“ sagte der Kommandant, „steiget hernieder, Doktor, ich glaub’, wir haben für diesmal genug von diesem angenehmlichen point de vue; man kennt die Kuriosität zur Genüge. Was gibt es, Korporal?“

Der aus dem Innern der Festung emporsteigende Unteroffizier richtete sich ordonnanzmäßig und griff an den Hut:

„Hab’ dem Herrn Gouverneur zu vermelden, daß von der Stadt ein Subjektum sich heraufgeschleppt hat, so mit dem Boot von Christiania angelangt sein will, und am Tor in Ohnmächtigkeit verfallen ist. Sitzet miserabel jetzt in der Kommandantur, winselt nach dem Herrn Gouverneur, — halten zu Gnaden, ein erbarmungswürdig Stück Menschheit, — nennet sich Monsieur David Bleichfeld, und —“

Mit offenem Munde blickte der Korporal Peter Pomperson seinem Vorgesetzten und dem Doktor Skalholt nach.

„Bleichfeld?! Gedelöcke?!“ hatte der Oberst geschrien, und schon hallten seine Schritte in dem nächsten bedeckten Wege, und der Isländer folgte ihm im Trabe auf den Fersen.

Gegen alle soldatische Würde langten in hastiger Atemlosigkeit die beiden Herren in der Behausung des Gouverneurs an, und David Bleichfeld, der Famulus des weiland Kurators Jens Pedersen Gedelöcke, wankte ihnen entgegen, wahrlich ein Bildnis des Jammers und aller Perdition des Leibes und der Seele!

In Lappen und Fetzen hing dem Armen sein schwarz Schulmeisterhabit um die Knochen, im Frost schlugen die Knie aneinander, der bitterste Mangel starrte aus den geröteten, tief eingesunkenen Augen, und zu einem grimmen Hohn ward der Versuch der ausgemergelten Kreatur, dem Obristen und dem Doktor Skalholt entgegenzulächeln. Abermals sank der Exfamulus David Bleichfeld in Schwachheit zusammen.

„Packt ihn!“ rief der Isländer. „Greifet dem Jammer sanfte unter die Arme, Herr von Knorpp! Ins Bett mit ihm! Den Grütztopf ans Herdfeuer, agite, agite! Das nennet man in extremis sein! He, he, he, Meister Bleichfelde, haben sie Euch das Fell über die Ohren gezogen? Habt Ihr Haare gelassen? Greifet zu, Herr Kommandante, habet Ihr Euch nicht gleich vorgestellet, daß es also kommen werde? Es ist ein bös Ding, in der Wespen Nest zu greifen, und es ist doch ein gut Ding um diese sichere und edle Feste Friedrichsstein. Bringet den Narren zu Bett, Herr Obrister von Knorpp!“

VII.
Von dem Teufel, dem Herrn Polizeimeister und Seiner glorwürdigen königlichen Majestät, Christiano dem Sechsten.

Erst am folgenden Tage hatte sich der Famulus insoweit erholet, daß er, durch Kissen unterstützet, aufrecht im Bett sitzen und seine kläglichen Erlebnisse seit dem zweiten Ostertage dem Gouverneur von Friedrichshall und dem trefflichen Doktor Snorro Skalholt kommunizieren konnte.

„O meine lieben Herren,“ seufzte er, „wie sind die Wasser über meinem Haupte zusammengegangen, wie haben sie mich geducket in die Tiefe!“

„Und die allmächtige Bibliotheka?“ fragte der Kommandant.

„Ist versunken mit allem, was an Fleisch und Philosophie, Mut und Lebendigkeit an mir war, und ist nichts übrig geblieben, als was Messieurs vor Ihnen sehen; — horch, was war das?“

„Der Wind im Schornstein und des Kapitäns Storlands zahmer Bär. Fürchtet Euch nicht vor Gespenstern; man fordert denenselben schon am Tor die Parol ab. Referier Er weiter, Famulissime; nehme Er sich aber fortan Seinen eigenen Weg und Seine Zeit —“

„Und nehme Er noch einen Schluck Schiedam,“ fügte der Doktor bei; und David Bleichfeld ließ das Gesicht in die Hände sinken; befolgte dann auch des Herrn Skalholt räsonnabeln Rat und erzählte weiter; hatte aber seinen eigenen Weg doch nicht ganz für sich allein: wie es denn auch von dem Obristen Benediktus von Knorpp nicht zu verlangen war, daß er während der lamentabeln Historia stillsitze und sich mit Wort und Gebärde nicht rege.

„Herr Gouverneur und Herr Doktor,“ sprach der Famulus, „es ist wohl das beste, daß ich dem Faden nach erzähle; mein Gedächtnis ist gar schwach geworden durch die übermenschliche Trübsal und große Verfolgung; aber so wird sich wohl eins aus dem andern geben: wo lieget der Kurator Herr Jens Pedersen Gedelöcke begraben, Herr Obrister?“

„Auf dem Garnisonskirchhof vor dem Ostertor,“ antwortete der Gefragte; aber der Famulus schüttelte sich fast den Kopf ab; der Kommandant fuhr mit einem sehr bedenklichen Fluch in die Höhe, und der Feldscher rückte mit Gekrach seinen Stuhl näher an das Bett und horchte mit weit vorgestrecktem Halse.

„Jawohl auf dem Garnisonskirchhof!“ winselte der Famulus. „Ein jeglich alt Weib hatte den Teufel, so den Herrn Kuratorem fortgeführet, rumoren hören in der Nacht; ein schweflicht Leuchten war über die Stadt hingezogen, und das Gewässer im Kallebrostrand wie im Sund hat gesiedet und gebrodelt wie die Suppe im Hafen. Vom Drei-Kronen-Fort aus hatte man den Bösen auf einem schwarzen Gaul hoch in der Luft gesehen, und den Herrn Kuratorem hatte er wie einen Sack vor sich über den Sattelknopf geworfen, und bis nach Schoonen hinüber konnte man den feurigen Hufschlag in den Wolken verfolgen. Das war gut, und wenig war dagegen zu sagen, und ich lag im Fieber in meinem Kämmerlein, und die Wittib mit dem Kind und alles Gesinde war vom Hause geflohen, ich hatt’ es allein mit dem Mutz, des seligen Herrn Kater. Und das Fieber hatte mich, und war ich wie der Vogel Strauß, so den Kopf in den Sand stecket, und hatte eine große Furcht. Das Volk in der Gasse stund zu Haufen, steckte die Köpfe zusammen, flüsterte und deutete mit den Fingern, und als ihr Herren vielleicht mit Skagen in Sicht segeltet, da klopften der geistliche und weltliche Arm a tempo an meine verriegelte Tür, und der Herr Polizeimeister kam in Persona, begleitet von Herrn Hieronymus Moekel und dem Küster Jesse Brägge; da war ich wie der Maulwurf auf dem Spaten! Sie drangen herein im Namen königlicher Majestät und riefen Wehe über mich im Namen summi episcopi und in ihrem eigenen Namen, und Ihn, Herr Obrister von Knorpp, und Ihn, Herr Snorro, hätten sie gar zu gerne zurückgehabt; aber ich hab’ den Kelch allein saufen müssen bis zur Hefen. Die halbe Stadt Kopenhagen ist vors Verhör gezogen, und die geistlichen Herren haben natürlich das letzte und das höchste Wort gehabt und klar dargetan, daß Jens Pedersen Gedelöcke nicht als ein gläubiger Christ, sondern als ein ungläubiger Jud gestorben sei, daß ihm nicht gebühre ein christlich Begräbnis, und also ist das Zeugenverhör und Gutachten vom hochlöblichen Polizeigericht Königlicher Majestät untertänigst unterbreitet, und am Dreiundzwanzigsten Maji ist Königlicher Majestät allergnädigste Resolution dem Herrn Polizeimeister zugestellet worden.“

„Da haben wir’s! Himmel und Hölle, jetzt sehe ich es kommen! O Gedelöcke, Gedelöcke!“ schrie der Obrist.

„O Mynheer van der Tromp, welch ein gutes Los ist Euch zuteil worden!“ sprach grinsend der isländische Doktor. „Weiter, weiter, Monsieur Bleichfelde, auch ich sehe es kommen, und es brauet dick in der Höhe. Wäre dem Herrn Ludovico Holbergio nicht der Fuchsschwanz hintenan gebunden, er könnte ein fein Stücklein darüber in Reime bringen.“

„Und am fünfundzwanzigsten Maji,“ fuhr der Famulus fort, „bei Sonnenaufgang holten sie mich herfür aus dem Loch und stießen mich mit den Kolben durch die Gassen, und ganz Kopenhagen schwarmete vor, zur Seiten und hinterher, schrie Zeter und warf nach mir mit Kot und Steinen. Da hatten nach allergnädigstem hohen königlichen Befehl der Herr Polizeimeister die Ältesten der jüdischen Nation zu ihme beschieden, und wurde ihres Volkes eine Menge von denen Polizeibedienten und Stadtwächtern zusammengeholet aus ihren Häusern, Schulen und Synagogen, und mußten sie auch die Trauerkutschen zahlen. Deren hielten eine Menge vor dem Polizeihaus, und als nun das neue Leichgeleit beieinander war, da zogen sie mich in die erste Kutsch als fürnehmsten Pullatum oder Leidträger, und der Juden Älteste setzeten sie zu zwei oder drei in die nachfolgenden Wagen mit Polizeibedienten zur Wacht untermenget. Dann führete die Miliz mit Ober- und Untergewehr die junge Judenschaft nach, und mit einer besonderen Wacht kam der Fuhrmann, so mit uns den Herrn Kuratorem zum Garnisonskirchhof fuhr; der Scharfrichter zu Pferde und seine Knechte mit dem Schinderkarren beschlossen den Zug. So zogen wir wieder zum Ostertor hinaus, und als wir auf dem Kirchhof ankamen, da war der Herr Polizeimeister schon angelanget, und es marschierte ein Kommando Grenadiers unter einem Oberoffizier heran. Da wurden drei Kreise um das Grab geschlossen, so wir unserm Freund und Patron dem Kurator Jens Pedersen Gedelöcke gemacht hatten; der erste von den Grenadiers, der zweite von den Wächtern mit ihren Morgensternen, der dritte und Hauptkreis von denen Beamten und Offizieren. Und wie alles in der Ordnung war, da wurde unter Trommelschlag das Gewehr präsentiert und vom Polizeimeister allergnädigste hohe königliche Resolution verlesen, wie daß Jens Pedersen Gedelöcke, der, obwohl vorhero ein Christ, als ein Jude starb, nicht würdig und wert sei, auf christlichem Gottesacker zu ruhen unter denen christlichen Kriegesleuten, und daß er, Jens Pedersen Gedelöcke, derowegen von den Ältesten der jüdischen Nation sollte wiederum aufgegraben, nach ihrem eigenen Kirchhof transportieret und daselbsten von neuem beigesetzt werden; — mit Hilfe des Scharfrichters und seiner Knechte, wann sie — die Juden — es nicht alleine verrichten könnten und wollten. Da wurden die Schaufeln dem Rabbiner vor die Füße auf das Grab geworfen, und wie es geschrieben stand, ist es geschehen, der Sarg ist aufgewühlet und mit Hammer und Zange eröffnet, und sie haben mich herzugerissen, den Leichnam zu erkennen, und unter Hohn und Spott, Lachen und Geschrei, ist der Kurator fortgetragen bis zu dem jüdischen Leichenwagen, so auf vieles Flehen und Bitten anstatt des Schinderkarrens zugestanden war. Nun mußte der Rabbi als fürnehmster Sorgmann hinter dem Wagen gehen, dann trieben sie paarweise das andere verspottete Volk nach dem Alter, und die Miliz und die Polizeibeamten schritten zur Seiten, auf daß keiner ausweiche, und die Wächter mit den Morgensternen beschlossen den Kondukt. So ist mein teurer Herr zum zweiten Male beigesetzet worden auf dem Judenkirchhof und sein Testament kassieret. In böser Krankheit hab’ ich im Spital gelegen, und als ich des Bewußtseins wieder mächtig war, haben sie mich mit Schande aus der Stadt gejaget, und in Christiania hab’ ich wieder krank gelegen, und nun bin ich hier —“

„Heule Er nicht, Bleichfelde,“ sprach der Obriste Benediktus von Knorpp, welchem die Pfeife längst ausgegangen war. „Wir wollen Ihn schon wieder auf die Beine bringen; was aberst den Jens Pedersen betrifft, so möcht’ ich selbsten grad heraus heulen; denn niemalen sind vier so anständige und wackere Gesellen, wie er und ich, und Er, Meister David, und Er, Doktor Snorro, so heillos und miserabel abgetrumpfet und mit der Nasen in den Sumpf gestoßen worden! O Gedelöcke, Gedelöcke; — was saget Er, Snorro?“

Ehe der isländische Doktor seine Opinion kundmachen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und wieder stand der Korporal Peter Pomperson da, griff an den Hut und rapportierte —

VIII.
Zum Beschluß:

Vermelde dem Herrn Gouverneur zu Gnaden, daß wiederum ein Subjektum von der Stadt heraufgestiegen ist. Kam mit dem Schoner Margareth von Göthaborg, sitzet mit seinem Sack und mit Zähneklappen auf der Trepp und nennet sich mit seinen Namen Henrich Israel, weiland der Juden Vorsinger zu Kopenhagen.“

Dieses Mal tat der Doktor Snorro einen langen Pfiff; der Famulus David Bleichfeld schnellte gleich einem Lachs aus seinen Kissen auf, und der Obrist von Knorpp ächzte:

„Herein, herein, ich lasse alles über mich ergehen, und wo man mich in meinen Sünden vergraben wird, ist mir auch einerlei: Marsch, Korporal, bringe Er den Juden.“

Der Korporal trat ab, und nach einer Minute vernahm man draußen ein Zerren und Schlurfen und eine weinerliche Stimme, so sich höchlichst entschuldigte der großen Störung und Molesten halber; dann wurde die Türe zum zweiten Male geöffnet, und von der kräftigen Faust Peter Pompersons vorgestoßen, flog der Meister Henrich Israel in das Gemach:

„Gott Abrahams und Jakobs, welch ein Schicksal!“

Es vermag aber keine Feder das gegenseitige Anstarren zu schildern.

„Seid Ihr es? Seid Ihr’s im Fleisch und Gebein, Meister Israel?“ rief der Exfamulus. „Wie sehet Ihr aus? Wer hat denn Euch also mitspielen können? Eheu, eheu, welch ein Schauspiel, welch eine Wehmut!“

„Meine eigene Mutter möcht’ mich wohl nicht wiedererkennen; — was haben die Herren nötig, — feine Seif’, Haarband, den Zopf zu wickeln? Tausend Lieblichkeiten; — soll ich aufmachen den Kasten? soll ich aufbinden den Sack?“

„Wer schicket Ihn dergestalt durch das Land?“ fragte der Doktor Skalholt. „Was ist aus seinem Vorsingertum worden? wer hat Ihn also in den Klauen gehabt?“

Des armen Teufels Standhaftigkeit hielt nicht länger; in lautes Weinen brach der wandernde Krämer Henrich Israel aus, und mit Händeringen rief er:

„Bin ich noch länger Vorsinger an der Synagog’ zu Kopenhagen, wie ich es bin gewesen an die zwanzig Jahr? Nein, ich bin es nicht. Der arme Jüd hungert und friert auf der Landstraß’; sie haben ihn ausgestoßen um den Kurator Jens Pedersen Gedelöcke; sie haben ihm den Ehrenrock ausgezogen und ihm den Bettelsack angehängt. Gott meiner Väter, weil er ein Gelehrter im Tempel war und Bescheid wußt’ im Gesetz und reden konnt’ darüber, haben sie ihn gestoßen vom Stuhl und seinem Gesang ein Ende gemachet —“

„Hoho, ich riech’s, ich riech’s,“ rief der Kommandant, „da haben wir das Schwanzende! Auf Ihn, Henrich Israel, ist’s zu allerletzten ausgegangen, und weilen er mit dem Kurator den Mosen und die Propheten traktieret und ihm vorgesungen hat, hat seine Nation Ihm den Greuel in den Schuh geschoben, und ist über Ihn hergefallen mit den Fingernägeln! Denn sintemalen nun der Jens begraben lieget auf der Jüden Kirchhof —“

„Lieget er begraben auf der Jüden Kirchhof?“ schrie der Meister Israel im höchsten und kläglichsten Diskant. „Mit nichten lieget er auf der Jüden Kirchhof! Auf dem freien Felde liegt er, und das Vieh weidet über seinem Grabe.“

Der Exfamulus hatte seine Bettdecke von sich geschleudert und stand mit den nackten Füßen auf dem Boden; der Obriste Benediktus von Knorpp hatte seine tönerne Pfeife an die Wand geworfen und hielt den Exvorsinger an der Gurgel; der isländische Doktor Snorro Skalholt aber — griff ruhig nach dem Krug Schiedammer und sprach mit Gelassenheit:

Simplex sigillum veri, sagte mein Freund, Herr Hermann Boerhavius zu Leyden; verzähle Er weiter, Monsieur Israel.“

Mit einem tiefen Seufzer hatte der Obrist die Kehle des unglücklichen Hebräers losgelassen und war kraftlos auf den nächsten Stuhl gefallen; der Famulus des weiland Kurators Jens Pedersen Gedelöcke hatte die Füße von den kalten Platten wieder in die Höhe und die Decke über sich gezogen; der Exvorsinger von Kopenhagen sprach mit Zittern weiter:

„Bin ich nicht gekommen deshalb über Fels und Wasser, durch die Wüste und den Wald, zu sagen, wie es ausgegangen ist mit dem Herrn Kuratore? Mein, wie konnten sie ihn lassen liegen unter ihren Vätern, da er doch nicht ein Jüd war, sondern ein christlicher Mann, wie es keinen bessern gab im Königreich Dänemark und Norwegen?! Wohl haben sie mich aufgegriffen, um daß ich den Spott über sie gebracht hätt’, und sind über mir zu Gericht gesessen, weilen mich der Verstorbene für seinen Freund hielt und mit mir das Gesetz und die Zeremonien beredete. Es war ein groß Wehklagen und Wimmern in unserm Volk ob der Unreinigkeit, so auf es geleget war; und alt und jung hat im Sack und in der Asche gesessen bei Tag und Nacht und zum Herrn geflehet, wie die Väter vordem fleheten gegen den Antiochus, gegen Assyria und Babylon, gegen den König aus dem Land Chitim und die Stadt Rom. Und der Gott Abrahams hat den Jammer angesehen und sein Volk erlöset aus der Schmach um hundert Dukaten, die hat man erleget an den Konvent, so auch das Seidenhaus genennet ist. Ist um solche hundert Dukaten eine neue Resolution ergangen, des Sinnes, daß, weilen auch die Jüden des weiland Kuratoris Jens Pedersen Gedelöcken Leichnam nicht wollten, sie ihn zum zweiten Mal wieder aufgraben dörften und zum dritten Mal ihn beisetzen zweihundert Schritte von ihrem Totenacker auf dem allgemeinen Feld. Haben die Rabbiner und Ältesten mich herfürgezogen aus dem Winkel und mir die Schaufeln auf die Schulter geleget und mich hingeführet zu dem Ort der Unreinigkeit; da hab’ ich mit Tränen die steinichte Erd aufgegraben, und mit Stricken ist der vermoderte Sarg aufgezogen und dann zum dritten Mal verscharret. Da hat die Stadt wiederum ihr Gaudium gehabt; ich aber bin mit Tränen hinausgegangen aus der Gemeinde, und sie haben mir nachgespieen in das Elend. Ich bin ausgestoßen worden aus der Gemeinschaft meines Volkes; wenn ich läge, wo der Herr Kurator lieget, so würde es besser um mich bestellet sein.“

„Hat einer hierzu noch irgend etwas zu sagen?“ rief der Doktor Snorro Skalholt, und als niemand den Mund auftat, sprach er selber:

„Wenn ich in Bedacht nehme, wie alt der Mensch werden kann, ohne aufzuhören, ein Esel zu sein, so möchte ich mir selber zu einem Greuel werden. Da bin ich jung geworden zu Reikiawik im alten, klugen Island, und war auch meine Frau Mutter eine merkwürdig gescheite Frau. Da hab’ ich studieret mit dem weltberühmten Boerhavius zu Leyden auf der glorreichsten Universität, und sie haben mir ins Testimonium geschrieben, daß es nichts Geringes sei um mein Ingenium, hab’ mir auch sonsten zu Paris, Bologna und in Teutschland mit Finessen, Schlauheit und guter Kapazität fortgeholfen; bin mit offenem Aug’ an die dreißig Jahr hinter diesem hier gegenwärtigen Herrn Benediktus von Knorpp, pro tempore Gouverneur von Friedrichshall, hergezogen, einerlei ob zur Viktoria oder Retirade. Hab’ mir fortgeholfen bis zu dem heutigen Tage, sintemalen ich mich immer ans Messer gehalten hab’ und niemalen an die Fiduz auf die Menschheit. O Jens Pedersen Gedelöcke, wie hat die Narrheit dem Snorro Skalholt das Bein gestellet! Pardauz, da stolpert der Tropf über deinen Leichnam und schlägt hin auf die kluge Nase, daß es krachet. Ja, der kluge, kluge Snorro Skalholt, dem Mynheer van der Tromp und ganz Holland nicht zu viel waren, wie hat er sich durch Ihn und für Ihn übertölpeln lassen, Herr Gedelöcke! O Kommandante, wie sind sie über uns gekommen, Christen und Juden, der Herr Hieronymus Moekel wie Meister Jakob Jakobson, der Oberrabbiner! Pfui, Pfui, das ist noch siebenmal schlimmer denn die Bataille bei Helsingborg, wo wir so wacker vor dem Stenbock liefen; — was saget Er jetzo zu diesem stillen Winkel hinter den Leuten, Obrister von Knorpp? Hat Er Lust, seine fürwitzige Nase noch einmal hinauszuschieben in die Welt nach solcher Blamage?“

„Tornea und Wardoehuus wären mir lieber!“ stöhnte der Gouverneur von Friedrichshall. „O Jens, Jens, o Jens Pedersen Gedelöcke, du magst wohl lachen da drüben; aber unsereinem wird’s doch schwarz vor den Augen, und wer nicht rabiat wird, wie der alte Benedikt Knorpp, der setzet sich in die Jammerecke wie dort der David, oder ziehet mit Winseln durch das Land, wie der dort mit dem Bettelsack. Holla, an die Gewehre; auf Schloß Friedrichsstein bin ich Gouverneur, und wer sich hinter mich stellet, der soll fürs erste fein sicher stehen. O Gedelöcke, Gedelöcke, es war doch ein lustiger Sommertag in Rosenborg-Have; — rücke Er an den Tisch, Monsieur Henrich Israel, stelle Er den Stock hinter den Ofen; — o Jens Pedersen Gedelöcke, wer lange lebt, kann vieles erleben; schiebe Er den Krug herzu, Meister Snorro, die Welt will einmal Fangball spielen, und wir können’s nicht hindern; morgen geb’ ich’s ihm manu propria schriftlich, daß er mit meinem abgelegten Pelz nach Seiner Kunst und Begierde anfangen mag, was Ihm beliebet!“

Hierauf sah der isländische Feldscherer Snorro Skalholt zum ersten Mal in dieser Historie aus wie ein Mensch; und mit sonderbarer Vergnüglichkeit schmunzelnd sprach er:

„Kommandante, da hat er doch endlich einmal einen verständigen Einfall! Hätt’s Ihme fast nicht mehr zugetrauet.“

Anmerkungen zur Transkription

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