The Project Gutenberg eBook of Pfarre und Schule: Eine Dorfgeschichte. Zweiter Band

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Title: Pfarre und Schule: Eine Dorfgeschichte. Zweiter Band

Author: Friedrich Gerstäcker

Release date: July 25, 2014 [eBook #46410]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK PFARRE UND SCHULE: EINE DORFGESCHICHTE. ZWEITER BAND ***

Pfarre und Schule.

Eine Dorfgeschichte
von
Friedrich Gerstäcker.


Zweiter Band.


Leipzig,
Georg Wigand's Verlag.
1849.

Inhalt des zweiten Bandes.

Seite
Erstes Kapitel.
Die Kaffeegesellschaft 1
 
Zweites Kapitel.
Plan und Gegenplan 47
 
Drittes Kapitel.
Marie und Sophie 61
 
Viertes Kapitel.
Die Wilddiebe 79
 
Fünftes Kapitel.
Das Gefängniß 96
 
Sechstes Kapitel.
Ein Republikaner 115
 
Siebentes Kapitel.
Wie es in Horneck aussah  134
 
Achtes Kapitel.
Das Geständniß 154
 
Neuntes Kapitel.
Die Schulvisitation 170
 
Zehntes Kapitel.
Die Verabredung 206
 
Elftes Kapitel.
Wahlert und Kraft 220
 
Zwölftes Kapitel.
Die Begegnung 251

Erstes Kapitel.
Die Kaffeegesellschaft.

Die kleine Gesellschaft bestand bis jetzt erst aus vier Personen, und zwar aus der Frau Oberpostdirector von Gaulitz – erst seit wenigen Monaten vermählt – aus des Pastors rosigem Töchterlein Sophie, und den beiden Schwestern des Herrn Geheimeraths Seiffenberger aus der Residenz, und das bis jetzt nur über Putz- und Modesachen geführte Gespräch hatte schon einen recht erfreulichen Aufschwung genommen.

Indessen eilten aber, um den freundlichen kleinen Zirkel zu vermehren, zwei andere Damen rasch dem Rittergute zu – nämlich unsere alte Bekannte »Fräulein Schütte nebst Mutter«, wie sie Poller bald darauf so eigenthümlich als bezeichnend anmeldete.

»Aber Anna,« keuchte die Mutter endlich, die fortwährend ein nicht unbeträchtliches Stück hinter ihrer flüchtigeren Tochter zurückgeblieben war, »Du läufst ja, daß man gar nicht zu Athem kommen kann – wenn Du so rennen willst, so geh' allein, ich bin's nicht länger im Stande.«

»Komm nur, Mutter,« bat aber Anna, als jene, dem Wort die That folgen lassend, wirklich stehen blieb, um nur einmal ordentlich Athem zu schöpfen – »es ist wahrhaftig schon drei Uhr vorbei, und Oberpostdirectors sollen immer so früh Kaffee trinken – die werden gar nicht wissen, wo wir bleiben.«

Die Mutter setzte sich wieder langsam in Bewegung, und Anna, ihren Schritt auch etwas mäßigend, daß sie an ihrer Seite blieb, fuhr – augenscheinlich nur ihre bisherigen Gedanken laut aussprechend – fort:

»Nein Mutter, ich kann mich gar nicht darüber zufrieden geben, daß sich der alte Oberpostdirector doch noch hat von der jungen hübschen Frau scheiden lassen, um das ungebildete Ding, seine Wirthschaftsmamsell, zu heirathen – das ist auch ein alter Sünder, der noch einmal, und hoffentlich auf dieser Welt schon, wenn er es am wenigsten erwartet, seinen Lohn kriegt. Na, die kann sich gratuliren, denn besser wie er seine anderen Frauen behandelt hat, wird er's mit der auch nicht machen. Ueberhaupt die Frommen, das ist so die rechte Art – vor den Leuten beten sie, und zu Hause sind's nachher Tyrannen, und Gott weiß was für Hallunken. – Wenn ich nicht so neugierig wäre, zu sehen, wie sie sich zusammen vertragen, ich käme dem Herrn wahrhaftig mit keinem Fuße über die Schwelle.«

»Hat denn seine Frau ihr jüngstes Kind wirklich hergeben müssen?« frug die Mutter, und griff fast unwillkürlich nach der Tochter Arm, die eben schon wieder in größeren Schritten vorauseilen wollte.

»Nun natürlich,« erwiederte diese, »weißt Du denn das nicht? Nicht des Kindes wegen, denn das wird dem alten Geizhals wohl kaum am Herzen liegen, aber der Welt wegen – der gute Mann, sollen die Leute sagen, kann nicht ohne sein Kind leben – was für eine Vaterliebe – siehst Du Mutter, ich wünsche keinem Menschen gern 'was Böses, aber wenn ich den Schuft könnte hängen sehen –«

»Schrei nur nicht so,« sagte die Mutter, »Deine Stimme hört man so über drei Straßen hinüber – da oben steht wahrhaftig der Oberpostdirector am Fenster.«

Und sich freundlich verbeugend und grüßend traten sie in's Haus, wo ihnen Frau von Gaulitz mit höflichem Willkommen entgegen kam und sie den anderen beiden Damen, Fräulein Melinde und Josephine Seiffenberger, Töchter des Herrn Geheimenraths Seiffenberger, vorstellte.

Gegen diese beiden Damen verneigte sich Anna Schütte auf das Förmlichste, dann flog sie aber, wie aus einer Pistole geschossen, Sophie Scheidler um den Hals, nannte sie ihr liebes herziges Soph'chen und rief, sich darauf im ganzen Zimmer umschauend:

»Nein aber, wie Sie reizend wohnen, Frau Oberpostdirector – das ist zu herrlich, zu göttlich – ach, so einen Stuhl habe ich mir schon lange gewünscht – nein der ist doch zu wonnig – und die Aussicht – ach die Berge da im Hintergrunde – das möcht' ich malen können – und der wunderschöne Flügel – das ist wohl ein Bretschneider? – spielen Sie denn auch?«

Frau von Gaulitz wurde blutroth, antwortete aber nach kurzem Zögern:

»Ein Bischen – nur sehr wenig – aber bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen? – Louise, schenk doch den Damen ein.«

»Den Augenblick, meine Gnädige,« sagte Anna, ließ sich vor dem geöffneten Flügel nieder und griff einige Accorde – »nein, was das Instrument für einen reizenden Ton hat – wundervoll.«

Und ohne vorherige Warnung legte sie sich plötzlich in die Tasten und raspelte der auf's Aeußerste erstaunten Zuhörerschaft mit unzähligen falschen Griffen – armer Karl Maria – Webers Aufforderung zum Tanz herunter. Die beiden Geheimenrathstöchter und Frau von Gaulitz waren auch über die Ausführung wirklich entzückt, lobten wenigstens das Spiel auf das Angelegentlichste, und fragten nur, ob Fräulein Schütte nicht auch singen könne.

»Nur wenig,« entschuldigte sich diese, »ich bin lange heiser gewesen, und muß mich jetzt noch sehr schonen.«

»Nun nach dem Kaffee erfreuen Sie uns vielleicht mit einem Liede,« sagte der Oberpostdirector, der fest entschlossen war, nach dem Kaffee einige wichtige und unaufschiebbare Geschäfte zu haben.

Die Neuangekommenen nahmen nach dieser Wendung und auf nochmaliges Nöthigen ihre Sitze ein. Fräulein Schütte erhielt den Platz zwischen den beiden Geheimenrathstöchter und Freundschaft war auch bald unter diesen dreien geschlossen. Im Anfange schweifte dabei das Gespräch, da man sich ja doch nicht näher kannte, natürlich nur über allgemeine und ziemlich gleichgültige Dinge hin, Wetter und Jahreszeit, beabsichtigte Lustfahrten und die reizende Lage der hiesigen Gegend mußten den Grundstoff liefern, zu dem die verschiedenen Parteien die Variationen ausarbeiteten; nicht lange dauerte es aber, so fing es an, auf einzelne Individuen oder Punkte seinen Stachel hinzulenken, und wurde dadurch, wie sich das von selbst versteht, nur interessanter.

»Sie sind also voriges Jahr auch in Dresden gewesen?« frug Melinde auf eine von Fräulein Schütte geäußerte Bemerkung.

»Ei ja wohl, beinahe fünf Monate, mein Fräulein – es ist doch eine herrliche Stadt – und so billig – nein Sie glauben gar nicht, wie billig und doch angenehm man dort wohnen kann.«

»Wo haben Sie denn eigentlich gewohnt, es wundert mich, daß uns nie das Vergnügen zu Theil geworden.«

»In der Pirnaischen Gasse, im Ploßfeld'schen Hause – Sie kennen es wohl?«

»Das Ploßfeld'sche Haus? – ei gewiß, das ist dasselbe, Josephine, wo früher Mehlheims wohnten.«

»Ach, die,« sagte Fräulein Josephine mit einem so bedeutungsvollen, wenn auch etwas höhnischen Lächeln, daß es augenblicklich die vollkommene Aufmerksamkeit der Familie Schütte erregte.

»Was sind das für Mehlheims?« frug Anna rasch.

»Kennen Sie die Mehlheims nicht?« sagte Fräulein Melinde erstaunt – »Professor Mehlheims, die erst vor zwei Jahren von Breslau zu uns kamen? – Sie stammen aus Dresden.«

»Nein, von denen habe ich nie gehört«

»Hm, das wundert mich, lieber Gott, sie ist eine Schwester der Regierungsräthin Hertig – die kennen Sie doch.«

»Hertig? Hertig? Sind die etwa mit den Hertigs in Plauen verwandt?«

»Das weiß ich nicht, aber ihre Mutter war eine geborene Jähn, von Assessor Jähn's die Tochter.«

»Ach, die kenne ich ganz gut,« fiel hier die Frau Commerzienräthin ein, »die haben uns einmal ein halbes Jahr lang schräg über gewohnt – also mit denen sind die Mehlheims verwandt; aber was wollten Sie denn vorhin erzählen?«

»O gar nichts von Bedeutung weiter,« sagte Melinde, »ich meine nur, sie hatten alle Ursache aus dem Logis zu ziehen, denn in solchem Schmutz und Unrath hätten sie doch nicht länger fortbestehen können.«

»Aber das begreif' ich gar nicht,« fiel hier der Oberpostdirector, der sich bis dahin am Gespräch mit keiner Sylbe betheiligte, sondern nur manchmal aus dem Fenster nach dem erwarteten Pastor geschaut hatte, ein – »gerade die Professorin Mehlheim ist als eine vortreffliche Frau und gute Wirthin bekannt, und ich selbst bin schon oft bei ihnen gewesen, und weiß, daß ich mich sogar über die dort herrschende Sauberkeit sehr gefreut habe.«

»Lieber Herr Oberpostdirector,« fiel ihm hier die jüngste Fräulein Seiffenberger in's Wort – »Sie können sich darauf verlassen, bei Mehlheims ist eine schauerliche Wirthschaft – ich weiß das aus ganz sicherer Quelle, und was die Professorin selber als Wirthschafterin betrifft, so nehmen Sie mir das nicht übel, davon versteht sie gar Nichts. Nein, die gelehrte Dame will sie gern spielen, den ganzen Tag sitzt sie auf dem Sopha, und liest Bücher und Journale und draußen in Küche und Speisekammer geht's drunter und drüber, und die Kinder dürfen Alles herrichten, wie es ihnen gerade Spaß macht.«

»Unser Mädchen hat auch, ehe sie zu uns zog, bei Mehlheims gedient,« sagte die Schwester, »und uns schöne Geschichten von dort erzählt – den Wein konnte sie nur so wie sie wollte aus dem Keller nehmen, da war sie förmlich daran gewöhnt.«

»Aber die Mädchen reden auch manchmal mehr, als sie sollen und verantworten können,« sagte Sophie Scheidler, »man darf wahrlich nicht Alles glauben, was die sagen; ich weiß, was nur allein hier in Horneck schon für häßliche Sachen aus solchem unbegründeten Nacherzählen entstanden sind.«

»Nun da kommen wir wieder auf unser Kapitel, liebes Sophiechen,« nickte ihr Anna zu – »das weiß der liebe Gott, die Noth, die man mit den Dienstboten jetzt hat, ist entsetzlich – unsere Rieke, das ist soweit ein ganz gutes Mädchen, aber das Klatschen – das liebe Mundwerk steht ihr den ganzen Tag nicht still, und schickt man sie gar einmal aus, so kann man sich nur fest darauf gefaßt machen, daß sie in der ersten Stunde nicht wieder kommt.«

»Das machen sie alle so,« nahm hier Fräulein Melinde die Sache auf, »ich hatte einmal ein Mädchen, das durfte ich Abends gar nicht aus den Augen lassen, und selbst im hellen Sonnenschein verging kaum ein Tag, wo sie nicht irgend ein Bruder aus der Provinz, manchmal Soldat, manchmal Civil, besucht hätte. Und kein Fertigwerden mit ihr; zum Aufwasch brauchte sie manchmal drei volle Stunden.«

»Nun ich dächte« fiel ihr hier Josephine in's Wort, »darin leistete unsere jetzige auch etwas – denken Sie sich, neulich Abends nach dem Essen hatte sie Nichts mehr zu thun, als das Bißchen Messing und Kupferzeug zu putzen, den Vorsaal und die Küche zu scheuern, und uns noch eine Kleinigkeit von Taschentüchern und Kragen zu waschen, und wissen Sie bis wie lange sie dabei das theure Oel verbrannt hat? – bis Morgens um zwei Uhr – das ist denn doch wahrhaftig zum krank ärgern, und da hilft auch kein Reden und Sagen.«

»Der muß es aber bei uns wie im Himmel sein,« nahm hier Fräulein Melinde die Unterhaltung wieder auf, – »denn vorher war sie bei der Frau Hauptmann Kohlwitz in Dienst gewesen, und die sollen Dienstleute wirklich wie die Sclaven behandeln.«

»Nun, den Ruf hat sie wenigstens,« fügte, wenn das irgend noch nöthig gewesen wäre, Fräulein Schütte als Bestätigung hinzu – »wissen Sie, meine Gnädige, – ach, die Frau Oberpostdirector war ja nie in Dresden – wissen Sie, Fräulein Seiffenberger, wie der Hauptmann damals das Duell mit dem alten Bergcommissar hatte – ich war gerade in der Zeit auf ein paar Tage zu Besuch oben, da kam eine gute Freundin von der Frau Hauptmann manchmal zu uns, und die hat uns entsetzliche Geschichten von ihr erzählt –«

»Und kleiden thut sich die Frau,« setzte Fräulein Josephine hinzu – »das ist fabelhaft, man kann ihr doch recht gut nachrechnen, was ihr Mann eigentlich zu verzehren hat, denn das Gerücht mit dem amerikanischen Onkel war doch ein Bißchen gar zu plump, und sollte wahrscheinlich die Gläubiger etwas geduldiger machen, – und trotzdem giebt sie allein mehr für seidene Kleider und Hüte aus, wie – das weiß ich aus ganz sicherer Quelle – ihr monatliches Wirthschaftsgeld beträgt.«

»Wissen Sie denn, wer jetzt – erst etwa vor zwei Stunden, in Horneck eingetroffen ist?« frug Fräulein Schütte plötzlich, aber mit leiser Stimme, als ob sie irgend ein wichtiges Geheimniß mitzutheilen habe. Die Frage verfehlte ihre Wirkung denn auch keineswegs, die Damen fuhren blitzesschnell mit den Köpfen zusammen, und ein erstauntes »wer denn?« lief durch die Reihe.

»Die Frau Ministerin von Herchenthal mit Mutter und Tochter?« rief triumphirend Anna und ein erstauntes »ist es denn möglich?« war ihr Lohn.

»Was muß aber da nur vorgegangen sein?« frug Fräulein Melinde rasch.

»Vorgegangen?« sagte Sophie Scheidler – »weshalb soll da gerade etwas vorgegangen sein; die Frau Ministerin – ist seit drei Jahren jeden Sommer herausgekommen.«

– »Aber nicht mit der Mutter, mein Herz,« fiel ihr Anna Schütte rasch in's Wort – »nicht mit der Mutter und einem Reisewagen voll Koffer, als ob sie ihre Winterquartiere beziehen wollten; und nicht Anfang April, sondern Ende Mai, wenn die Tage ganz warm und schön waren. Nein, richtig ist die Sache nicht, darauf wollte ich mein Leben einsetzen.«

»Das geschieht ihr aber ganz recht« versicherte in's Blaue hinein und ungewiß, auf was sich das »nicht richtig« eigentlich bezöge, Fräulein Josephine und hielt der Wirthschaftsmamsell zum fünften Mal ihre Tasse hin – »einen solchen Hochmuth wie die Leute gehabt haben – nein das ist ganz unglaublich; ich wünsche keinem Menschen etwas Böses, aber das gesteh ich, das könnte mir ordentlich einen frohen Tag bereiten, wenn ich erführe, daß es denen einmal nach Verdienst gegangen wäre.«

»Was will denn die aber auf dem Lande?« frug Melinde – »von der Wirthschaft versteht sie denn doch nicht so viel. Kaskelts, die dicht neben an gewohnt haben, und ihnen gerade in den Hof sehn konnten, versicherten mich oft es sei wirklich traurig wie es bei Denen zu gehe – einen Hasen haben sie einmal drei ganze Wochen vor dem Küchenfenster hängen gehabt, bis er gar nicht mehr zu genießen war, denken Sie sich, den hatten sie rein vergessen und was die allein den vier kleinen Bologneser Hunden füttern, die sich die Frau Ministerin hält, davon könnten zwei arme Menschen anständig leben. Das sollte denn doch wahrhaftig nicht sein, und selbst in der theueren Zeit hat sie nicht einen einzigen abgeschafft.«

Eine kurze Unterbrechung entstand hier durch das Eintreten des Pastors, der übrigens keinen Theil an der Unterhaltung nahm, sondern sich mit dem Oberpostdirector in die Ecke des Zimmers auf ein kleines Seitensopha setzte, und dort mit diesem einiges sehr angelegentlich zu besprechen schien. Das so interessante Gespräch der Damen wurde aber auch jetzt, als ob sie die Gegenwart des geistlichen Herren scheuten, mit etwas leiserer Stimme, sonst jedoch mit keineswegs vermindertem Eifer, fortgesetzt. Die beiden liebenswürdigen Schwestern Seiffenberger schienen sich übrigens der Unterhaltung mehr und mehr zu bemächtigen und Fräulein Schütte wurde einsylbiger als man das sonst wohl von ihr gewohnt war – sie brannte nämlich darauf irgend ein brillantes Gesangstück vorzutragen und hoffte bis jetzt nur noch immer auf eine erneute Einladung als zündende Lunte – obgleich sie im entgegengesetzten Fall dennoch fest entschlossen war, von selber los zu gehn.

Die Dämmerung brach indessen an, es wurde dunkel in dem, von ein paar hohen Kastanienbäumen stark beschatteten Gemach – der Oberpostdirector und Pastor waren in ihrer düsteren Ecke kaum noch zu erkennen, ebenso verschwammen Fräulein Schüttes Umrisse, die vom Tisch aufgestanden – leise zu dem Fortepiano geschwebt war und sich dort schwärmerisch sinnend auf dem kleinen gestickten Sessel niedergelassen hatte, mit dem fahlen Hintergrund der Tapete.

Da öffnete Poller die Thür, schaute herein und sagte:

»Der Herr Schriftsetzer Strohwisch wünschen die gnädige Frau zu sprechen.«

»Schriftsetzer?« riefen Fräulein Melinde und Josephine wie aus einem Athem – »hahaha – das ist göttlich – das ist himmlisch – Schriftsteller meinen Sie – das ist eine reizende Verwechselung – Herr Strohwisch ist humoristischer Schriftsteller – das hätte sich ja gar nicht besser treffen können, der liefert charmante Sachen.«

»Wird mir sehr angenehm sein« sagte, während aus der Ecke in der der Oberpostdirector saß, ein leiser Seufzer emporstieg, Frau von Gaulitz zum Bedienten gewandt. Dieser verschwand – die Thür that sich auf und herein trat, im schwarzen Frack und mit den unausweichbaren papageigrünen Glacéhandschuhen, unter denen hervor ein Stück der derben, fest zusammengepreßten blutrothen Hand sichtbar wurde, in großcarrirten Unaussprechlichen, die Haare allem Anschein nach noch kürzer als gewöhnlich geschnitten, ebenso die Nase, wenn das möglich gewesen wäre, noch stumpfer, die Augenbrauen noch mehr heraufgezogen, die Augen noch stierer und größer, die Stirn noch schmaler, die weit abstehenden Ohren noch feindlicher gegen einander gesinnt – die Sporen noch klirrender, die Reitpeitsche noch graciöser in der Hand, Feodor Strohwisch, mit einem freundlichen Lächeln auf den breiten Zügen.

Die Begrüßung war kurz, Strohwisch schien nicht gewohnt lange Complimente zu machen – ubi bene, ibi patria, ob sich das patria nun eben so wohl um ihn herum fühlte, galt ihm ziemlich gleich.

Fräulein Schütte hatte er übrigens in ihrer dunklen Ecke noch gar nicht erkennen können, und selbst nach dem Sopha, auf dem die beiden Herren saßen warf er, als diese sich aus ihrer Stellung nicht bewegten, einen mistrauischen Blick, ohne jedoch im Stande zu sein, die Identität ihrer Personen zu bestimmen.

Frau von Gaulitz wollte Licht bringen lassen, dem widersetzten sich aber die beiden Damen Seiffenberger »o es war jetzt zu reizend, zu herrlich hier in dem düsteren dämmernden Stübchen, – wie schauerlich schön wehte und rauschte die Kastanie draußen vor dem Fenster, und wie wunderhübsch war das, daß man von einander nur die Umrisse der Gestalten, gar nicht einmal die Gesichtszüge erkennen konnte.« Frau von Gaulitz fügte sich, und Feodor Strohwisch wurde bald der Mittelpunkt des Gesprächs, indem er den Faden der Unterhaltung, den bis dahin die Damen Seiffenberger und Schütte in Händen gehalten, fast allein für sich usurpirte.

Vor allen Dingen berichtete er ziemlich ausführlich über den Zustand des Wetters draußen, und gab seine Vermuthungen an, was er davon für morgen erwarte, wunderte sich über das »famose« Frühjahr und versicherte der älteste Mann in Horneck wisse sich, wie er das aus dessen eigenem Munde vernommen, einer solchen Jahreszeit gar nicht zu erinnern.

»Denken Sie sich« fuhr er dann zur Bestätigung des Gesagten fort, »oben in der Schenke sitzt Alles, bis noch zu diesem Augenblick, im Freien – Anfang April – das ist fabelhaft. – Aber was mir da einfällt – ich habe eben drüben etwas gehört, das ich hier in Horneck wahrlich nicht erwartet hätte.«

»Und das wäre?« frag Fräulein Melinde rasch.

»Eine Sängerin, wie ich sie selbst in den ersten Städten Europas (Schäker – die größte Stadt die er je gesehen, war Dresden) nicht getroffen. Ein Mädchen – zwar, allem Anschein nach in höchst mittelmäßigen Umständen, auch etwas zu bleich und krankhaft von Aussehn, um gerade schön genannt zu werden, aber eine Stimme – famos – glockenrein, und weich wie Sammet – und eine Höhe! – Sie sang zuerst ein paar ernste Sachen – recht brav, das muß man sagen; aber später trug sie ein humoristisches Lied vor – nein, meine Damen, ich habe nie etwas Aehnliches gehört!«

»Aber warum erfährt man das erst jetzt?« frugen Melinde und Josephine »warum giebt sie nicht irgend eine Matinee, ein Concert.« –

»Es ist liederliches Gesindel, das im Lande umherzieht« – mischte sich hier der Pastor in's Gespräch, und Feodor schnellte von seinem Sitze auf, um sich nach der Ecke hin, aus welcher die Stimme tönte, zu verbeugen – »sie wollten auch heute, am Sonntag Morgen schon singen, das hab ich mir aber verbeten; die Welt wird wahrlich immer schlimmer. – Das hätte einmal in einer früheren Zeit einem Christenmenschen einfallen sollen, an einem Sonntag komische Lieder zu singen, – er wäre gesteinigt worden; jetzt findet man das aber ganz in der Ordnung.«

»Und es ist ein böses Zeichen für die gottesfürchtige Gesinnung des Ortes,« pflichtete ihm hier der Oberpostdirector seufzend bei, »daß so etwas auch in unserem Orte einzureißen scheint oder die Menschen nur überhaupt Gefallen daran finden.«

»Bitte um Verzeihung, meine Herrn,« setzte sich aber hiergegen Feodor Strohwisch – der auch nach der zweiten Stimme hin seine Verneigung gemacht, zur Wehr, denn das hieß seine Existenz zugleich angegriffen – »von gemeiner Komik darf und kann hier nicht die Rede sein, der Humor aber ist das Salz und die Würze des Lebens, und eben so wenig wie wir an einem Sonntag das Salz entbehren mögen, eben so wenig ist das glaub ich, mit dem Humor der Fall – hahahahaha!«

Fräulein Schütte hatte sich auf die Tasten niedergebogen, um diese besser erkennen zu können, legte dann die Finger einzeln aber geräuschlos auf, und griff jetzt schwärmerisch einige Moll Accorde. Einer von diesen klang nicht ganz rein und Feodor warf einen mistrauischen Blick nach der, von geheimnißvollem Dämmerschein umflossenen Gestalt hinüber, schien aber gegenwärtig auf ein viel zu interessantes Kapitel gerathen zu sein, um davon so leicht wieder abspringen zu können.

»Ist denn die Sängerin allein oder in Begleitung hier?« frug Sophie.

»Ein alter Mann, wahrscheinlich ihr Vater ist bei ihr« – sagte Feodor, »er trug einzelne Piecen sehr hübsch vor, und accompagnirte besonders das letzte Lied reizend – nun – wo hab' ich es denn eigentlich – hin – gesteckt? – na das wäre ein schöner Spaß« – Er befühlte sich am ganzen Körper in immer größerer Hast, wie Einer, nach dem geschossen ist, und der nur noch nicht recht weiß, ob ihm die Kugel in der Schulter oder im Beine sitzt.

In dem Augenblick ging die Thüre auf, und Poller trat mit der großen Schraubenlampe herein, die er mitten auf den Tisch stellte und zugleich das Kaffeegeschirr mit fortnahm.

»Haben Sie etwas verloren?« frugen die beiden Fräulein Seiffenberger besorgt.

»Bitte – bemühen Sie sich nicht – es muß sich schon wieder finden – es war nur das humoristische Gedicht, das von dem Mädchen so wundervoll vorgetragen wurde – ich glaubte es wäre vielleicht für Sie interessant zu – ah, hier ist es – nein doch nicht – das ist etwas anderes – nun das schadet Nichts – hahahaha – das ist auch ein so kleines scherzhaftes Ding was ein sehr guter Freund von mir gemacht hat – prachtvoller Humor darin – es kommt mir immer, wenn ich es so ansehe vor, wie eine Schachtel voll Knallerbsen – hahaha!«

»Hihihi« kicherten die beiden Fräulein Seiffenberger und die Frau Oberpostdirectorin – und die Mollaccorde wurden weicher und wehmüthiger – Feodor saß übrigens den Rücken dem Clavier zugewandt, und konnte deshalb die Spielende nicht sehn.

»Ach bitte, tragen Sie uns etwas vor« bat Melinde.

»Ich habe schon einiges von Ihnen gelesen« setzte Josephine hinzu – »nein, zu reizend; todt könnte man sich darüber lachen – ›Possen aus Nossen‹ war, glaub' ich, der Titel – ist dieß auch von Ihnen?«

»Von mir? – nein« – lächelte Feodor verlegen, und eine eigenthümliche Bescheidenheitsröthe verlieh seinem Antlitz etwas Zinnoberartiges – »ein sehr guter Freund von mir – er ist noch – er ist noch Dilettant – Sie – Sie werden Nachsicht mit ihm haben müssen.«

»O bitte, bitte lesen Sie« baten die Damen.

»Aber es eignet sich in der That gar nicht zum Vorlesen« versicherte Feodor – »es sind nur einzelne, epigrammatisch gehaltene abgerissene Strophen, ohne Zusammenhang – es sollte – wie mir mein Freund gesagt hat, ein Versuch sein, einen Vers auf das ernsthafteste, tragischeste zu beginnen, und dann urplötzlich ganz humoristisch zu schließen – es ist das eine ungeheuer schwere Aufgabe, und ich weiß wirklich nicht« –

»Oh bitte, bitte« – lautete die einzige Antwort.

»Nun, wenn Sie denn nicht anders wollen, aber zürnen Sie mir nicht, wenn ich Sie langweile – ahem – ahem!« –

»Wollen Sie sich die Lampe nicht etwas weiter hinübernehmen?« frug Frau von Gaulitz.

»Oh ich danke, meine Gnädige – ich kann herrlich hier sehen – also ahem – wenn Sie denn Nachsicht mit mir haben wollen – ahem:«

Feodor rückte noch einige Male räuspernd auf dem Stuhl herum, hielt das Manuscript etwas gegen das Licht und begann dann mit ernster, feierlicher Stimme, die ein ernsthaft schmachtender Blick nach des Pastors Töchterchen hinüber aber Lügen strafte:

»Das Warum wird offenbar
Wenn die Todten auferstehen! – –
Wer versetzt den Mantel muß,
Wenn es kalt, im Fracke gehn!« [1]

»Hahaha.«

»Hahaha« lachten die Damen Seiffenberger und von Gaulitz und auch Poller, der in der Thüre stehn geblieben war, verzog den breiten Mund von einer Seite zur andern. Der humoristische Schriftsteller fuhr fort:

»Zwei Seelen und ein Gedanke
Zwei Herzen und ein Schlag – –
Ich glaube Ritzebüttel
Ist kleiner doch als Prag.«

»Hahahaha – sehr gut vortrefflich!«

»Wo Muth und Kraft in deutscher Seele flammen
Fehlt nicht das blanke Schwert beim Becherklang – –
Rauch nie Cigarrn zwei Stück für einen Dreier
Sie machen sicher nur Gestank.«

»Sehr wahr – sehr wahr« kicherten die Damen Seiffenberger – Feodor lächelte und fuhr fort:

»Alles war im Anfang gut auf Erden.
Alles wird durch Weisheit wieder gut –
Drum versäume ja nicht aufzukrämpeln
Deinen alten abgeschabten Hut.«

Ich will die Geduld des Lesers nicht durch noch mehr von diesen Versen auf die Probe stellen. – Die Damen, Fräulein Scheidler und Schütte ausgenommen, amüsirten sich übrigens vortrefflich und riefen, als der junge Mann das Gedicht seines sehr guten Freundes beendigt, wie im Chor: –

»O, das ist sehr drollig – das ist allerliebst!«

»So abgerissen,« lachte Fräulein Josephine – »erst glaubt man Wunder was für ein ernster wehmüthiger Vers kommt, und dann schließt es so pikant und reizend – ha ha ha ha!«

»Der Ernst verleiht dem Humor gerade den höchsten Reiz,« versicherte Feodor, während er das Gedicht in die Westentasche zurückschob. »So hätten Sie nur zum Beispiel sehen sollen, mit welchem unerschütterlichen Ernst das junge Mädchen heute mein – das humoristische Lied sang – es war zu komisch, und ich – ha wahrhaftig – da ist es – nun hab' ich es doch in allen Taschen gesucht –«

Ein paar angeschlagene Accorde ließen den Sehnsuchtswalzer ahnen – aber kurz abgebrochen wurden sie, als ob ein furchtbarer Schmerz selbst jedes Sehnen unterdrücke.

»Sie wollten uns ja ein Lied singen, mein Fräulein,« sagte aber jetzt der Oberpostdirector, der nicht mit Unrecht eine Fortsetzung solch literarischer Thätigkeit fürchtete.

»Ach ja, liebe Anna,« bat auch Sophie, zu ihr tretend, »Du kannst gewiß irgend ein kleines Lied auswendig, singe nur etwas.«

Feodor hatte die zweite Auflage seiner Humoristik schon wieder zum vollständigen Angriffe bereit, da aber die Bitte zum Singen auch von einer der Damen, noch dazu von Fräulein Scheidler unterstützt wurde, so konnte er dagegen doch nicht gut ankämpfen – er legte das Papier vor sich nieder, und nahm sein Taschentuch heraus.

»Ich weiß nicht – meine Stimme ist heute so belegt,« sträubte sich Anna, und Strohwisch fuhr bei den Lauten blitzesschnell herum – das war seine Hausgenossin mit ihrer gellenden Stimme – ha, selbst bis hierher verfolgte ihn sein Geschick.

»Es wird schon gehen,« ermunterte sie aufstehend der Oberpostdirector, und schien nur eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um das Zimmer zu verlassen.

»Vielleicht könnten Sie uns irgend ein geistliches Lied singen?« schlug mit gewinnendem Lächeln der Pastor vor.

Feodor war bei der Nachfrage nach einem Liede fast unwillkührlich wieder mit der Hand an die Tasche gefahren, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch einen Schatz von solchen in ihren Falten barg, dieser letzte Vorschlag ließ ihn aber in Verzweiflung davon abstehen. Weiteres Ueberlegen half jedoch auch gar Nichts, denn Fräulein Schütte schien plötzlich zu einem Entschluß gekommen zu sein; sie rückte sich wenigstens den Stuhl zurecht – präludirte ein wenig, und –

»Robert, Robert, mein Geliebter,
Mein Herz lebt nur – lebt allein durch Dich«

schwoll mit steigender Bewegung durch die stillen Räume des Saales.

Die Gnadenarie stöhnte Strohwisch leise vor sich hin, und sank vernichtet in seinen Stuhl zurück. Und die Gnadenarie war es auch wirklich, die Anna, trotz der belegten Stimme, in schmetternden Tönen, bald einen Viertelton zu hoch, bald einen halben zu tief, aber regelmäßig aus dem Tact, und fast bei jedem Satze stecken bleibend, vortrug.

»Wenn ich nur meine Noten hätte,« entschuldigte sie sich fortwährend dabei – Feodor aber nahm gar keine Entschuldigung an – bleich und lautlos saß er am Tisch, und nur einmal flüsterte er leise mit unter der Decke gefalteten Händen: »Ich leide unschuldig!«

Unten im Hof aber war es indessen lebhaft geworden, und der Oberpostdirector an's Fenster getreten, wo er hinter den zur Seite geschobenen Rouleaux hervor hinabsah. Dunkle Männergestalten schritten dicht bei einander über den gelben Kies.

»Sie haben ihn,« sagte er, die Gesellschaft ganz vergessend, gegen den Pastor gewandt, wenn aber auch Sophie Scheidler den Kopf wandte, so schien doch sonst Niemand die Bemerkung gehört zu haben, der Pastor aber verließ rasch mit dem Gutsherrn das Zimmer.

»Sie haben ihn?« flüsterte Sophie, und unwillkührlich überlief ein kaltes Frösteln ihre Glieder – »wen? – großer Gott, wenn es möglich wäre.«

Sie glitt rasch an's Fenster, und sah hinaus – gegenüber, wo das kleine Gebäude stand, in welchem zu Zeiten, obgleich sehr selten, Missethäter eingesperrt wurden, standen eine kleine Gruppe Menschen, ihr Vater trat mit dem Oberpostdirector eben zu ihnen; dieser gab einige Befehle.

»Das ist Tyrannei, und wird seine Strafe finden – der Tag des Gerichts ist nahe!« donnerte eine Stimme vom Hofe aus, daß sie selbst hinter dem geschlossenen Fenster die Worte deutlich verstehen konnte. Auch die Uebrigen mußten etwas davon vernommen haben, denn die Fräulein Seiffenberger drehten sich rasch nach dem Fenster um, und Frau von Gaulitz trat zu Sophien, um hinaus zu sehen. Nur Anna Schütte ließ sich nicht stören.

»Wie? Dein Herz, wie? Dein Herz hat vergessen,
Was Du heiß, was Du heiß einst mir schwurst!«

tönte ihre gellende Stimme durch das ganze Haus; selbst die Mägde, die eben mit den Aeschen, in denen sie ihre Abendsuppe geholt, aus der Küche kamen, blieben erstaunt stehen, und horchten hinauf, »wem denn da oben etwas fehle.« Feodor aber saß noch immer in dumpfes düsteres Brüten versenkt.

Gleich darauf schloß sich die Thür wieder drüben, Schlüssel klapperten, und der Oberpostdirector kam mit dem Pastor in das Haus zurück.

»Ach Gnade, Gnade für Dich selber, für Dich selber,
Und Gnade – und Gnade, Gnade für mich – Gnade – Gnade – Gnade für mich!«

schloß Anna ihre schmetternde Bravourarie, und »herrlich!« »göttlich!« riefen die Fräulein Seiffenberger wie aus einem Munde.

»Wirklich schön!« sagte Herr Strohwisch, und machte einen schwachen Versuch zu applaudiren – »sehr schön, mein Fräulein – ich habe – ich habe auch schon früher das – Vergnügen gehabt, Sie singen zu hören –«

Weitere Complimente wurden unnütz, denn Melinde wie Josephine gingen auf Fräulein Schütte zu, preßten sie in die Arme, küßten sie, und nannten sie einen »süßen melodischen Engel.«

Der Oberpostdirector trat mit dem Pastor in's Zimmer, »so will ich Ihnen das andere kleine Gedicht noch vorlesen – mit Musik macht es sich freilich besser – alle meine Gedichte sind fast componirt – wundervoll – schön!«

»Um Gotteswillen, Vater, was ist da draußen eben geschehen?« frug aber Sophie, die neue Kriegserklärung gar nicht beachtend, in Todesangst ihren Vater, so wie dieser die Schwelle nur überschritten hatte.

»Nichts, mein Fräulein, beruhigen Sie sich,« nahm da Herr von Gaulitz die Antwort auf – »Nichts, was Sie ängstigen dürfte, im Gegentheil etwas Freudiges – wir haben den Burschen aufgespürt, der von der Residenz aus steckbrieflich verfolgt ist, und Sie selber sogar gestern im Walde angefallen hat.«

Sophie hatte eine Stuhllehne erfaßt, und es bedurfte aller ihrer Geistesgegenwart, sich in diesem Augenblick nicht zu verrathen.

»Den haben Sie erwischt?« rief da Anna Schütte fröhlich dazwischen – »Gott sei Dank, jetzt kann man doch wieder vor die Thüre gehen, ohne fürchten zu müssen, angefallen zu werden. Was geschieht nun mit dem erschrecklichen Menschen?«

»Aber er hat uns ja gar nicht angefallen!« betheuerte Sophie, denn gewaltsam raffte sie sich zusammen, da sie recht gut fühlte, wie es jetzt an der Zeit sei, dem Unglücklichen, was er auch sonst immer verbrochen haben mochte, wenigstens von dieser Anklage zu reinigen – »nur vom Waldrand her, wo er wahrscheinlich gesessen, trat er auf uns zu, als ihn auch schon das Blei des Jägers traf – und er ist – er ist verwundet.«

»Der klare Schrot wird ihm nicht viel gethan haben,« meinte der Oberpostdirector; »das bleibt sich aber auch gleich, und es soll mir seinetwegen lieb sein, wenn ihm das nicht härter in's Gewicht fällt. Ich habe bei der Sache aber weiter Nichts zu thun, als daß ich ihn in die Stadt an's Criminalgericht liefere, das mag nachher meinetwegen sehen, was es mit ihm anfängt.«

»Was hat er denn eigentlich verbrochen?« frug Strohwisch, der seufzend den Gedanken aufgab, heute noch und unter solchen Verhältnissen zum Vorlesen zu kommen – »hat er gestohlen?«

»Das kaum,« sagte von Gaulitz, »dem Ministerium scheint nur sehr viel an seiner Gefangennehmung zu liegen, es muß wohl ein sehr gefährlicher Mensch und Demagoge sein – nun, wild genug sieht er aus, und es ist mir lieb, daß wir ihn hinter Schloß und Riegel haben. Aber bitte, meine Damen, setzen Sie sich doch, Sie brauchen sich wirklich nicht mehr zu fürchten, – er ist ganz unschädlich. – Wir haben Sie gewiß in Ihrer Arie gestört, mein Fräulein.«

»Ich hatte sie gerade beendet – aber – bester Herr Oberpostdirector, könnte man den Menschen denn wohl einmal zu sehen bekommen? – ich habe noch nie einen ordentlichen Räuber –« sie zögerte einen Augenblick, und der Pastor fuhr lächelnd fort –

– »in aller Sicherheit hinter einem Gitter wie ein wildes Thier betrachten können.«

»Aber Anna!« sagte Sophie vorwurfsvoll –

»Nun liebes Kind, ich weiß wirklich nicht, ob man mit einem solchen Menschen Mitleiden zu haben braucht,« vertheidigte sich die junge Dame – »wenn Einer einmal erst steckbrieflich verfolgt ist, dann muß es ein schlechter Mensch sein.«

»Bitt' um Verzeihung, mein Fräulein,« fiel hier Strohwisch ein – »das kann in jetziger Zeit dem Besten passiren: ein sehr guter Freund von mir hat einmal auf die politischen Steckbriefe ein Gedicht gemacht, das –« er fing schon wieder an, in den Taschen zu suchen – »das – in – der – That – es wird Sie vielleicht – vielleicht interessiren –«

Es klopfte in dem Augenblick stark an die Thür, und auf ein fast unwillkührliches lautes »Herein« des Dichters, der jedoch erschreckt danach zusammenfuhr, und »tausendmal« um Entschuldigung bat, öffnete sich die Thür, und ein junger Mensch, der Bote, den Herr von Gaulitz heute in die Stadt geschickt hatte, trat herein:

»Nehmen Se's nich vor ungut, Herr Oberpostdirecter,« sagte dieser, »daß ich so g'rad hereinfalle, aber 's war keener nich von den Bedienten da, und da dacht' ich, de Sache hätte Eile.«

»Nun, Christoph, was giebts?« frug der Gutsherr rasch – »bringst Du Briefe?«

»Ja, zwee – eenen an den Herrn Oberpostdirecter, un eenen an den Herrn Paster – es sieht wild in der Stadt aus.«

»Was? – Wie so?« sagte von Gaulitz, indem er an den Tisch trat und den Brief erbrach.

»De Minister haben se fortgejeggt,« lachte der Bursche, »reene fort – eben wie ich zum Thore 'naus wulle, gung der Spectakel los.«

»Um Gott,« fuhr der Oberpostdirector erschreckt auf – »das wäre bös –«

»Ja, Se kennen sich druff verlassen, – in der Schenke han ich's en ooch schonst verzählt – na, die fungen en scheenen Cravall an – herr jes!«

Der Pastor hatte indessen seinen Brief ebenfalls geöffnet, von Gaulitz bat ihn aber mit leiser Stimme, ihm auf sein Zimmer zu folgen, und die beiden verließen nach nur kurzer, hastiger Entschuldigung die Gesellschaft.

Auch Christoph wollte sich mit vielen Bücklingen entfernen, um seine Neuigkeit wahrscheinlich im Dorfe weiter zu tragen, der kam aber schön an. Die drei Damen Seiffenberger und Schütte nahmen ihn in die Mitte, Strohwisch besetzte die Thür, und er mußte nun erzählen, bis er, wie eine total ausgepreßte Citrone, der auch der letzte Tropfen Saft genommen, trotz den gewaltigsten Anstrengungen nichts weiter mehr herausgeben konnte. Erst dann überließen sie ihn, matt und erschöpft seinem Schicksal.

»Herr Pastor,« sagte der Oberpostdirector indessen, als der Bediente das Licht auf den Tisch gestellt, und das Zimmer verlassen hatte – »die Sache in der Residenz scheint allerdings schlimm zu stehen, und die Revolution auch in unser kleines Ländchen ihre Bahn gefunden zu haben; nur von dem Sturz des Ministeriums las ich hier noch kein Wort – ich hoffe, der Bursche hat in all seiner Aufregung die Sache am Ende gar schlimmer angesehen, als sie wirklich war.«

»Auch in meinem Briefe steht keine Sylbe davon,« versicherte der Geistliche, – »für mich aber ist hier eine sehr fatale Nachricht enthalten. Denken Sie nur, unser Gefangener ist der Sohn unseres Generalsuperintendenten Wahlert, der sich freilich, wie mir der Hofprediger Bellmann hier schreibt, nach dessen letzten politischen Umtrieben von ihm losgesagt, und ihm förmlich das Haus verboten hat – aber, Du lieber Gott, Elternliebe läßt sich nicht so ohne Weiteres und mit solchem jungen Menschen zu gleicher Zeit vor die Thüre setzen; die bleibt zu Haus, und nagt und mahnt, und holt ihn am Ende doch wieder herein. Der Generalsuperintendent ist, besonders bei Hofe, außerordentlich einflußreich, und ich weiß in der That nicht, ob er es uns später danken würde, dazu beigetragen zu haben, sein einziges Kind aufzufangen.«

»Aber freigeben kann ich ihn doch wahrhaftig auch nicht wieder,« sagte von Gaulitz nach kurzem Ueberlegen, während er mit schnellen Schritten und verschränkten Armen im Zimmer auf- und abgegangen war; »erstlich ist mir das Sprengen des Ministeriums vollkommen unglaublich; wer weiß, was der holzköpfige Bursche in der Stadt gehört und sich dabei in seinem eigenen vernagelten Gehirn zusammengestellt hat – und dann – wirklich den Fall gesetzt, es wäre dem so, wer bürgt mir nachher dafür, daß die heute Gestürzten nicht morgen schon wieder die Zügel, und dann sicherlich noch viel gewaltiger als vorher in Händen haben? – Ich kann, man mag mir nun sagen was man will, noch immer an keine wirkliche, ordentliche Revolution glauben; der Geist des Militairs ist noch der alte, und läßt man den Regierungen nur Zeit, daß sie sich ein wenig von ihrem ersten Schreck erholen können, so werden sie sicherlich das verlorene, oder hier und da fast muthwillig selber aufgegebene Terrain bald wieder gewinnen. Deßhalb muß ich mir also den Rücken in jedem Fall frei halten, und jetzt vor allen Dingen suchen, authentisch-officielle Berichte über den wahren Stand der Dinge in der Residenz zu erhalten. Daß den Ministern, wären sie wirklich gestürzt, Nichts daran liegen würde, einen unruhigen Kopf mehr oder weniger unter Riegel zu wissen, versteht sich wohl von selbst, sind sie aber nicht gestürzt, und war das ein bloßes, vielleicht absichtlich ausgesprengtes Gerücht, – denn die freie Presse leiht ja jetzt zu jeder Schändlichkeit bereitwillig die Hände – und hätt' ich mich dann verleiten lassen, den Gefangenen wieder frei zu geben – so könnt' ich in schöne Verlegenheit hineingerathen.«

»Frei geben dürften Sie ihn auf keinen Fall«, meinte der geistliche Herr, der eine ganze Weile sinnend am Fenster gestanden und in die dunkle Nacht hinausgeschaut hatte, sich jetzt aber plötzlich wieder gegen den Gutsherrn wandte – »wer würde Sie dagegen tadeln können, wenn der Gefangene, durch die Hülfe irgend eines Anderen, vielleicht guten Freundes, von hier entwischte

Von Gaulitz blieb vor dem Pastor stehen und sah ihn ein paar Minuten forschend und scharf in die kleinen schwarzfunkelnden Augen, schüttelte aber nach kurzem Ueberlegen mürrisch den Kopf, setzte seinen unterbrochenen Spaziergang wieder fort Und sagte:

»Nein – nein – das geht nicht – das geht wenigstens jetzt noch nicht – erst muß ich die gewisse Bestätigung dieser Nachricht bekommen, und mit der – werde ich wohl auch Instructionen über mein künftiges Benehmen erhalten. Das alte Staatennetz ist viel zu vortrefflich und dauerhaft gewebt, als daß es so mit einem Male, und schon bei dem ersten gewaltsamen Ruck aus allen Fugen reißen sollte – eine Masche kann wohl manchmal nachgeben – doch das läßt sich restauriren – und die ausgebesserten Stellen halten nachher gerade am Besten. Ich will ohne Zögern einen zuverlässigen Boten in die Stadt zurückschicken; der kann dann recht gut vor morgen früh wieder hier sein, und nachher weiß ich, wie ich zu handeln, was ich zu thun habe, und woran ich bin.«

»Aber der General-Superintendent.«

»Es ist eine böse Geschichte – aber ich kann's nicht ändern – daß mir auch das alberne Volk den Menschen gerade heute Abend einbringt – das verdank' ich Niemandem, als diesem Ohrwurm, dem Poller – so lange hat der Schuft gebohrt und spionirt und wieder gebohrt, bis ich mich verlocken ließ. Ich weiß nicht, was ich jetzt darum gäbe, mit der ganzen Sache gar Nichts zu thun gehabt zu haben. Doch zum Spioniren ist er gut, und darum soll er mir auch ohne weiteres Zögern in die Stadt hinein.«

Der Oberpostdirector schritt rasch der Thüre zu, als ein wunderlich murmelndes Geräusch sein Ohr traf, und ihn fest an die Stelle bannte – auch der Pastor hob erschreckt den Kopf, trat zum Fenster und öffnete schnell den Flügel.

Draußen wogte und tobte eine wilde, stürmende Menschenschaar in das noch offen stehende Thor des Rittergutes herein, junge Bauerburschen und Handarbeiter aus dem Dorfe, und an der Spitze des Zuges wer anders als Doctor Levi, das gesinnungstüchtige Nordlicht der Freiheit mit bis obenhin zugeknöpftem Rocke und fest und entschlossen in die Stirn gedrücktem Hut.

»Hurrah – Freiheit – Freiheit oder'n Dot – 'raus mit'n Gefangenen – Postdirecter 'raus – Hurrah – Republik soll leben – hoch!!! – Hurrah – Postdirecter abdanken – freien Schnaps – hurrah – alle eine Metze Erdbirn' und zwee Pfund Fleesch – hurrah den Gefangenen 'raus!« Das waren die wildverworrenen Schreie und Ausrufungen, die von dem Menschenhaufen zu den am Fenster Stehenden heraufdrangen. In demselben Augenblicke glitt aber auch schon die bleiche, zum Tode entsetzte Gestalt des jungen Poller in's Zimmer und rief, fast athemlos vor innerer Angst und Aufregung:

»Sie kommen, Herr Oberpostdirector, sie kommen – sie wollen ihn wiederholen – das ganze Dorf ist unten, und sie haben geschworen, sie wollen das Schloß in Brand stecken, wenn sie'n nicht gleich mitkriegen.«

»Unsinn!« sagte Herr von Gaulitz, dem es, was auch seine sonstigen Eigenschaften sein mochten, keineswegs an persönlichem Muth gebrach – »Du bist eine Memme, daß Du gleich beim ersten Lärmschuß das Hasenpanier ergreifst – wer ist unten?«

»Das ganze Dorf!« rief der Erschrockene.

»Sind auch die Eisenbahnarbeiter vom Sellsberge dabei?«

»Es kriwwelt und wimmelt von lauter Gesindel.«

»Das ist ja gar nicht möglich,« sagte der Pastor, »Christoph hat die Nachricht vor kaum einer Stunde mitgebracht und auf die hin ist sicherlich erst die ganze Aufregung entstanden.«

»Herr Oberpostdirector!« rief in diesem Augenblicke der alte Poller, der ohne Weiteres das Zimmer aufriß und herein prallte – »Sie wollen mit dem Herrn Oberpostdirector sprechen – die ganze Gemeinde ist da.«

»Ist denn das ganze Haus verrückt geworden?« sagte der Herr von Gaulitz, dem Alten rasch und zornig entgegen gehend – »was ist das für eine Manier, zu mir in's Zimmer zu kommen – weiß er nicht besser, was sich schickt?«

»Bitt' um Verzeihung, Ew. Gnaden – aber – das Volk – der Schrecken – Besorgniß um Ew. –« stotterte der Alte.

»Wer ist noch draußen auf dem Vorsaale?« unterbrach ihn der Gutsherr rasch und heftig.

»Fritz – der Jäger,« lautete die Antwort.

»Er soll hereinkommen – schnell!«

Wenige Secunden später stand Fritz auf der Schwelle und sein monotones

»Zu Befehl Ew. Gnaden« – machte den jetzt wieder hastig im Zimmer auf- und abgehenden erst auf den Gerufenen aufmerksam. Er wandte sich nach ihm um und frug:

»Wie steht's draußen, Fritz? – Was sind das für Schaaren, die da lärmend und schreiend auf mein Gut ziehen – was wollen sie?«

»Sie scheinen's selber nicht so recht zu wissen,« lachte der junge Jäger – »der Doctor führt sie an und eigentlich wollen sie, glaube ich, den Gefangenen befreien, die wirklichen Bauern aus dem Dorfe sind's aber nicht – eine Parthie junge Bursche meistens und Neugierige, sie wählen unten gerade eine Deputation, um sie herauf zu schicken.«

»Ah gut – laß sie kommen,« sagte der Herr von Gaulitz rasch – »geh' hinunter Fritz, und führe sie herauf zu mir – Du bist doch wenigstens noch vernünftig, und weißt was Du sprichst, das Volk hier scheint aber das Bißchen Verstand vollendes verloren zu haben – hinaus mit Euch – halt da, Du, Karl – Du wartest draußen, ich habe noch einen Auftrag für Dich.«

Die beiden Poller glitten, zwischen Furcht vor ihrem Herrn und den aufgebrachten Volkshaufen draußen schwankend (denn die Bewohner von Horneck haßten sie, wie sie recht gut wußten, gründlich) aus dem Zimmer. Fritz aber führte gleich darauf den Doctor Levi mit zwei anderen »Vertrauensmännern«, dem Schneider aus dem Dorfe und dem Böttcher, in's Zimmer, und Levi hielt denn auch, mit seiner ganzen liebenswürdigen Bescheidenheit und ohne weitere Vorrede eine Ansprache an den Rittergutsbesitzer, in der er diesen darauf aufmerksam machte, wie die Tyrannei gestürzt und ihre Helfershelfer der Spreu gleich in alle Winde »zerstiebt« wären, wie das souveraine Volk jetzt eine Weile selber regieren wolle und ihn, den Reactionair auffordere, den Vorkämpfer der Freiheit, den schändlich und heimtückisch gefangenen Wahlert, augenblicklich wieder in Freiheit zu setzen. Sie – die Deputation – wären einstimmig vom Volke erwählt, das unten auf Antwort harre, und den »Bayonetten« zum Trotz seine Foderung mit seinem Heldenblute unterstützen wolle – er rechne auf unbedingte Unterwerfung.

Der Pastor stand in der einen Fenstervertiefung und rieb sich schmunzelnd die Hände – der Sohn des General-Superintendenten wurde frei und er selber damit jeder Verantwortlichkeit enthoben.

Doctor Levi aber, wie Pastor Scheidler, schienen sich Beide in ihren Berechnungen sowohl, wie in der Person des Gutsherrn etwas getäuscht zu haben – so rasch war dieser nicht eingeschüchtert und auch Menschenkenner genug, um an den noch scheu und unschlüssig dastehenden Gestalten der übrigen Deputationsmitglieder zu erkennen, wie der Geist des Aufruhrs sich nur für den Augenblick kaum weiter erstrecke als auf die Unverschämtheit des Doctor Levi, der, wie er früher ganz uneigennützig die »Emancipation« der Juden gepredigt, jetzt plötzlich ein weiteres Feld für seine Rednergabe fand und der gewöhnlichen Redeweise nach, »in deutscher Politik machte«. Diesen daher keines Blickes oder Wortes würdigend, schritt der Oberpostdirector auf den Schneider und Böttcher zu und sagte, sie bei ihren Namen anredend:

»Schickt Euch das ganze Dorf, Merzbach und Hantlich, oder seid Ihr nur auf eigene Veranlassung oder Aufreizung dieses – Menschen zu mir gekommen?«

»Herr Oberpostdirector!« rief der Beleidigte.

»Ruhig Herr,« sagte aber dieser mit so unerschrockener und finsterer Autorität, daß dem Böttcher und Schneider nur noch unbehaglicher zu Muthe wurde und der erstere endlich mit artigem Tone sagte:

»Die Leute im Dorfe meinen, Herr Oberpostdirector, Sie könnten den armen Teufel nun wohl wieder laufen lassen, der unter der vorigen Regierung 'was verbrochen hätte, denn wir kriegten nun doch wohl andere Herren Minister, die –«

»Das Volk fordert seine Befreiung!« schrie Levi, fuhr aber erschreckt zurück, als sich der Gutsherr rasch nach ihm umwandte, ihn vorn an der Brust faßte, und ausrief –

»Wenn die Einwohner von Horneck etwas verlangen, so werden sie einen solchen Quacksalber nicht zu mir schicken, geschieht das aber doch, so hat sich der auch so ordentlich und anständig zu betragen, wie es – an seiner Stelle – ein Einwohner aus dem Dorfe gethan haben würde – sonst werde ich andere Maßregeln mit ihm ergreifen.«

»Das ist Hand an einen Gesandten des Volks gelegt!« schrie der Doctor entrüstet und auch wohl in etwas um seine eigene Sicherheit besorgt, »ich protestire hiermit feierlichst gegen –«

»Fritz!« rief der Gutsherr dazwischen – »hinaus aus meinem Zimmer mit dem Menschen!«

»– Gegen jede Gewaltthat, die nicht an mir, sondern an dem souverainen Volke geschieht, und ich verwahre mich im Voraus gegen –«

Er konnte seine Rede nicht mehr vollenden; Fritz, der den fatalen Menschen aus mehr als einem Grunde nicht leiden mochte (denn er war in letzter Zeit besonders viel um die Schulwohnung geschlichen und hatte das arme Lieschen schon mehrmals mit seiner zudringlichen Freundlichkeit gequält) faßte ihn einfach, trotz alles Sträubens, beim Kragen und verschwand mit ihm ruhig aus der Thür.

Die übrigen beiden Deputirten wußten indessen gar nicht, wie sie sich bei der Sache verhalten sollten, denn von der Unverletzlichkeit eines Gesandten oder Deputirten hatten sie bis dahin einen nur höchst unvollkommenen Begriff, der denn auch durch das, was eben erst vor ihren leiblichen Augen geschah, keineswegs verstärkt oder bestätigt werden konnte. Herr von Gaulitz trat aber, ohne ihnen lange Zeit zum Ueberlegen zu lassen, rasch auf sie zu, und redete sie nun mit so freundlichen und artigen Worten an, daß sie die Behandlung ihres Wortführers ganz darüber vergaßen.

Er versicherte ihnen, daß der Gefangene nicht auf Befehl der Minister, sondern dem Gesetze nach verhaftet, und vorher auch durch das Gesetz steckbrieflich verfolgt wäre – daß ferner das Gesetz doch fortbestehen müsse, ob sie nun dies oder ein anderes Ministerium hätten – versprach ihnen aber auch, noch in dieser Nacht einen Boten nach der Residenz zu schicken und dort anfragen zu lassen, was der Eingebrachte verbrochen habe – sei dies dann nur politischer Natur, so gebe er ihnen die heiligste Versicherung, daß er augenblicklich in Freiheit gesetzt, und jedem beliebigen Verlangen, daß sie also an ihn stellen könnten, dadurch auch genügt werden würde. Uebrigens sei die Nachricht von der Abdankung des Ministeriums keineswegs gegründet, und sie könnten die Folgen leicht selber ermessen, die, im anderen Falle, aus einem gesetzlosen Auftreten von ihrer Seite entstehen möchten.

Die beiden Männer fanden das ganz vernünftig – sie hätten eben so gesprochen, wenn sie Herr von Gaulitz gewesen wären – der Doctor war überhaupt ein Krakehler, der ihnen nur vorgelogen hatte, was dem armen Gefangenen Alles geschehen solle – der Herr von Gaulitz möchte es nicht »vor übel nehmen«, daß sie so frei gewesen wären, bei ihm anzufragen – sie wollten's den Leuten unten schon sagen, wer recht hätte und wie die Sache eigentlich stände.

Und damit gedachten sie sich höflich grüßend zurückzuziehen – von Gaulitz war aber nicht der Mann, einen einmal gewonnenen Vortheil unverfolgt aufzugeben – eine Flasche mit Wein und Gläser standen auf dem Ecktische – ein paar freundliche Worte von ihm nöthigten die Beiden, nur noch einen Augenblick zu warten – rasch war eingeschenkt und fünf Minuten später verließen der Schneider und Böttcher das Zimmer und waren entzückt über ihren Gutsherrn.

»Nein, was das für ein Mann ist«, flüsterte der Schneider, als sie, von dem Bedienten geleitet, die breite Treppe hinabstiegen – »ich soll morgen mit meinem Maas hinaufkommen.«

»Und wegen der Brauereiarbeit hat er schon mit dem Brauer das Nöthige besprochen«, versicherte schmunzelnd der Böttcher – »die Kröte von einem Doctor fängt doch überall Krawall an.«

Draußen vor der Thüre erwartete sie übrigens noch ein ziemlich stürmischer Auftritt – der Doctor hatte die unten Versammelten durch die Erzählung dessen, was ihm geschehen sei, in nicht geringe Aufregung versetzt, und einen wirklichen Sturm auf das Haus konnte nur die Erscheinung der beiden anderen Deputirten verhindern. Mit dieser änderte sich aber auch freilich der Stand der Dinge um ein Bedeutendes – die beiden Männer berichteten, wie sie empfangen seien und welche Versicherungen man ihnen gewährt hätte – klagten über den Doctor, der gegen den Gutsherrn aufgetreten wäre, als ob er einen Holzhacker vor sich habe, setzten hinzu, der Herr Oberpostdirector wisse es auch ganz bestimmt, daß die Nachricht mit dem Ministerium gar nicht wahr wäre, und nur, wenn der Gefangene gestohlen oder sonst ein fürchterliches Verbrechen begangen hätte, dann sollte er in die Stadt geliefert, sonst aber augenblicklich wieder auf freien Fuß gesetzt werden.

Ein donnerndes Hurrah, das man dem Gutsherrn brachte, war die Antwort; die rasenden Demonstrationen des auf's Aeußerste empörten Doctors wurden nicht weiter beachtet, ja dieser sogar, als er später eben in der Schenke seine Absicht mit Gewalt durchsetzen wollte und durch Schimpfwörter die Bauerburschen reizte, von diesen gefaßt, geprügelt und hinausgeworfen.

Zweites Kapitel.
Plan und Gegenplan.

Die Nacht war ruhig vorüber gegangen und Horneck lag so friedlich in dem Purpurglanz der heiter und rein aufsteigenden Sonne, als ob keine Leidenschaften in ihm getobt hätten, kein lodernder Funke in seine gemüthliche Stille geschleudert wäre der nun heimlich und versteckt fortglimmen mußte, bis ihn die Zeit – und wie bald vielleicht zu prasselnder Flamme emporfachen sollte.

Auf dem Gute herrschte übrigens keineswegs solche Ruhe, sondern eher belebte eine eigenthümliche, ganz ungewöhnliche Regsamkeit die Herrenwohnung und die daran stoßenden Bedientenstuben. Der Oberpostdirector selbst hatte den ganzen Morgen geschrieben und gesiegelt und der junge Poller war noch in der Nacht wieder in die Stadt geschickt, von wo her er mit Tagesanbruch auf weißschäumendem Roß zurückkehrte, und zugleich mit einer Depesche der Regierung die Nachricht brachte, es sei das beabsichtigte Militair wirklich nach Sockwitz gelegt und der Nachbarstaat auch für den schlimmsten Fall um weitere Hülfe angesprochen worden.

Der Inhalt der Depesche lautete übrigens wie die Sachen jetzt standen, nichts weniger als erbaulich.

Das Ministerium stand noch und jenes Gerücht vom verflossenen Abend bezog sich nur auf eine Demonstration – respektive Katzenmusik – die man den Ministern als Mistrauensvotum gebracht, und wobei der Ruf laut geworden, daß sie zum Besten des Landes abdanken sollten, die Aufregung in der Stadt schien aber eine solche bedenkliche Höhe erreicht zu haben, daß es blos eines Anlasses es bedurfte, um den Ausbruch unvermeidlich zu machen. In der That fehlte es auch nur an einer Persönlichkeit, um dem allgemeinen Strom der Gährung sein richtiges Bett anzuweisen und ihn dorthin zu lenken, wo er dem alten Systeme verderblich werden mußte – die fehlte aber bis jetzt in der Residenz; es war keiner unter den Männern, die sich bis dahin zu Volksrednern aufgeschwungen hatten, denen das Volk auch mit jenem blinden zuversichtlichen Vertrauen geglaubt hätte, das unumgänglich nöthig dazu ist, eine Masse zu begeistern und im wilden Todesverachtenden Sturm mit fortzureißen. Die Kraft lag noch in der weiten Menge zersplittert und wenig Gefahr drohte von den zerstreuten Pöbelhaufen.

Ein solcher Führer aber, wie er diesen Massen gerade fehlte, um sie zu dem gefährlichen Feind zu machen, der dem Absolutismus die trotzige Stirn geboten, wäre eben dieser Wahlert gewesen, den jetzt ein tückischer Zufall der Horneckschen Gerichtsbarkeit in die Hände gespielt; es mußte deshalb aber auch dem Ministerium, das ein rauher Wind hätte umstoßen können, besonders daran liegen, gerade diesen Menschen unschädlich zu machen und deshalb lautete auch der Befehl, den der Oberpostdirector in der durch Erpressen gesandten Depesche erhielt, so bestimmt und unumgehbar, den Gefangenen ohne weiteres Zögern und unter sicherer Bedeckung an das nächst gelegene, in Sockwitz bezeichnete, Militairpiket, spätestens bis zum nächsten Abend abzuliefern. Um Aufregung zu vermeiden, wollte man nicht gern Soldaten nach Horneck hineinschicken, und der Transport des Gefangenen sollte deshalb am liebsten in einer Kutsche bewerkstelligt werden.

Das wie und weshalb war Alles klar genug angegeben, aber wie stand es nachher in Horneck selbst? Würden sich die Bewohner des kleinen Ortes, denen der Gutsherr gestern Abend erst das feste Versprechen gegeben hatte, den Gefangenen nicht auszuliefern, bis seine Schuld als grobes Verbrechen auch wirklich erwiesen wäre, damit begnügen, und ließ sich nicht im Gegentheil erwarten, daß die Befolgung der erhaltenen Instruktionen gerade für den Gutsherrn von sehr fatalen Folgen sein konnte?

Der Herr von Gaulitz saß hier in einer recht unbequemen Klemme und sah auch in der That keinen Ausweg, der ihn hätte beide ihm drohende Schwierigkeiten gleich glücklich vermeiden lassen. Lieferte er den Verhafteten aus, so zog er sich den Haß eines großen Theils des Dorfes zu und in der jetzigen Zeit, wo die Leute doch einmal aufgeregt waren, und überall in der Nachbarschaft das böse Beispiel vor sich hatten, ließ es sich gar nicht bestimmen, wie weit das später führen würde und könnte. Lieferte er ihn aber nicht aus, oder ließ er ihn gar entkommen, so war auch Nichts wahrscheinlicher, als daß er für die Folgen zu haften hätte, die daraus entstünden – und welch fürchterlicher Art konnten diese Folgen sein – der fromme Oberpostdirector schauderte, wenn er daran dachte – Anarchie im ganzen Lande – den Rittergutsbesitzer »fortgejagt« wie der »gemeine Mann« in seiner politischen Unschuld meinte, die Königreiche zu Stücken geschlagen, und in ein großes deutsches Reich geschmolzen, kurz alles Bestehende umgedreht und durchgeschüttelt, wodurch alles Nicht-Bestehende natürlich oben hin kommen mußte, und eine Convulsion, in welcher die Gesetzlichkeit vernichtet und die Masse der »gutgesinnten« Staatsbürger, was gar nicht ausbleiben konnte, zum Besten der schlechteren, d. h. ärmeren, ruinirt wurde.

Es blieb, wie die Sachen einmal standen, wirklich keine Wahl, denn hiergegen erschien der Zorn der Hornecker, und vielleicht noch dazu eines nur kleinen Theils, gering – vielleicht ließen sich aber auch selbst diese noch beschwichtigen, und davon überzeugen, daß die Gefangenhaltung des gefährlichen Menschen selbst zu ihrem eigenen Nutzen mit geschehen sei und sich in ihren segensreichen Folgen offenbaren werde. Jedenfalls blieb der Versuch statthaft, und im allerschlimmsten Fall – ei da lag ja in Sockwitz Militair und zum »Schutz des Eigenthums« konnte das leicht und rasch heran beordert werden.

Herr von Gaulitz hatte seinen Entschluß gefaßt; noch heute – und sobald die einbrechende Nacht des Gefangenen Transport begünstigen konnte, sollte er fort – aber selbst der Geistliche durfte Nichts davon erfahren, denn wer weiß, welche Schritte dieser gethan hätte, um seines General-Superintendenten Sohn zu befreien, oder doch wenigstens jeden Schein der Mitwirkung von seinen Schultern abzuwälzen – der jetzt – und Herr von Gaulitz schien auch deshalb gar nicht böse zu sein, – noch jedenfalls darauf lastete. – Die nöthigen Vorkehrungen zu treffen war also das einzige was ihm vor der Hand übrig blieb, und diese auszuführen rief er den alten Poller zu sich in seine Studierstube und gab ihm dort die nöthigen Aufträge und Befehle.


Hatte sich aber auch am letzten Abend das Dorf mit der vom Rittergutsbesitzer erhaltene Auskunft hinsichtlich des Gefangenen begnügt, und war selbst Levi, der sonst stereotype »Vorkämpfer der Freiheit« wie er sich selber nannte, durch die erlittene Mishandlung außer Stand gesetzt augenblicklich für die gute Sache zu wirken, ja vielleicht auch – und wer hätte ihm das verdenken können, beleidigt ob solchen Undanks des souverainen Volkes, so lebte doch noch ein Wesen in Horneck, das mit thätigem Eifer nach dem Schicksal des jetzt wirklich Bedrohten forschte, und zu seiner Rettung selbst entschlossen schien das Aeußerste zu wagen.

Es war dieß aber Niemand Anderes, als die Tochter des armen alten Musikanten Meier, die bekannter mit den Leuten auf dem Gut, besonders mit dem Charakter des Gutsbesitzers selbst war, als es sich von der armen Tochter eines herumziehenden Spielmanns hätte erwarten lassen sollen. Sie wußte aber auch deshalb, in wie gefährlichen Händen der Unglückliche wäre und daß sie keine Zeit mehr zu versäumen habe, seinem Schicksal nachzuforschen.

Ein Vorwand, auf das Gut hinunter zu gehn, wäre allerdings leicht gefunden gewesen; sie sah sich mit ihrer Existenz überhaupt einzig und allein auf weibliche Arbeiten angewiesen, und hätte leicht eine Entschuldigung gehabt, zu diesem Zweck die Damen des Rittergutes aufzusuchen. Dennoch zögerte sie in eigentlicher Scheu, den Schritt zu thun, ja mied sogar, als sie am nächsten Morgen dort unten vorüber ging, die Nähe des Gutes; als sie Pferdegetrappel hinter sich hörte. Sie trat zur Seite und warf fast unwillkürlich den Blick zurück – es war der Oberpostdirector, der rasch, und ohne auf sie niederzusehn, an ihr vorüber und zwar in das Dorf hineinsprengte, und wie von einem plötzlichen Entschluß bestimmt blieb sie stehn, zögerte sinnend einen Augenblick, schien noch zu schwanken, und kehrte dann, raschen Schrittes, den Weg zurück, den sie eben gekommen, bog links, die erst gemiedene Straße in das Schloß selbst hinein und betrat, immer noch wie furchtsam, aber doch nicht unschlüssig mehr, die herrschaftliche Wohnung. Welche Mühe sie sich aber auch gab, die ersehnten Erkundigungen einzuziehen, es gelang ihr nicht. – Herr von Gaulitz hatte entweder seine Pläne sehr geheim gehalten, oder die arme Fremde fand, selbst bei der Dienerschaft, die sich sonst freundlich genug gegen sie betrug, kein Zutrauen. Auch die gnädige Frau, die sie endlich um Arbeit ansprach, schien ihre versteckten Fragen nicht zu verstehn, und hielt sie dabei mit rasch herbeigeholter Arbeit und verschiedenen Aufträgen weit länger zurück, als sie überhaupt beabsichtigt haben mochte, im Schloß zu weilen.

Da wurden unten, auf dem Pflaster, die klappernden Hufe des rückkehrenden Oberpostdirectors laut – Marie wollte sich rasch entfernen – ehe sie aber einen schicklichen Vorwand fand, hörte sie im nächsten Zimmer eine Thür aufgehn und eine heftige Stimme rief:

»Ich sage Dir, Poller, die Kutsche muß bis heut Abend neun Uhr fertig sein und angespannt im Hofe stehn – Du haftest mir dafür; und jetzt fort – keinen Widerspruch weiter – ich will den Burschen noch in dieser Nacht aus meinen vier Pfählen haben, sonst stürmen sie am Ende das Nest und stecken es mir über dem Kopfe an. Nimm die alten Glieder ein wenig zusammen, und rühre Dich.«

In dem Augenblick wurde die Thüre aufgerissen, Herr von Gaulitz trat hastig herein und wollte durch das Zimmer seiner Frau gehn, als er nur eben noch sah, wie sich die Gestalt der Fremden rasch aus der gegenüberliegenden Thür entfernte.

»Was für ein Frauenzimmer war das?« frug der gestrenge Herr, indem er, den finsteren Blick auf seine Frau geheftet stehen blieb – »was wollte sie hier, und was hat sie da zu horchen?«

»Es ist das arme unglückliche Geschöpf, von dem uns Herr Doctor Strohwisch gestern Abend erzählte,« erwiederte schüchtern seine Frau – »das arme Kind kam heut Morgen zu mir, mich um Arbeit zu bitten, und da ich gerade viel auszubessern und nachzusehen habe, versprach ich ihr Arbeit. Sie hatte die Thür schon in der Hand als Du hereintratst.«

»Ja – aber sie ging nicht – sie horchte wahrscheinlich nach dem, was ich in der Nebenstube sprach,« brummte in augenscheinlich höchst übler Laune der Herr Oberpostdirector. »Sonderbare Leute suchst Du Dir übrigens zu Deiner Beschäftigung aus – ich sollte doch wenigstens erwarten können, daß Du Dir anständig gekleidete und reinliche Menschen in's Haus nähmst – aber Gott bewahre.«

»Du hättest nur sehen sollen, wie sauber sie ging,« unterbrach ihn Frau von Gaulitz, »wie sorgfältig war ihr Haar gekämmt und geflochten – wie schneeweiß der kleine zerrissene Kragen, den sie um den Hals trug, und ihre Hände sahen ebenfalls fein und zierlich aus – das arme Kind muß jedenfalls früher einmal bessere Verhältnisse gesehen haben.«

»Ach was – Unsinn!« polterte der Oberpostdirector, dem es an einer Gelegenheit fehlte, seinem Unmuth Raum zu geben, so daß er sie endlich vom Zaune brach, – »Gesindel ist's, das sich hier schon seit ein paar Tagen im Dorfe herumtreibt, und das ich durch den Gerichtsdiener wahrscheinlich schon morgen werde wieder hinausschaffen lassen – Lumpenpack ist's, das in die Häuser schleicht, um sich eine Gelegenheit zum Stehlen auszusuchen. Und auf mich hörst Du dabei gar nicht – wie oft hab' ich Dir schon gesagt, Dich nicht mit solchem Pack einzulassen, aber Du scheinst ein ordentliches Wohlgefallen daran zu finden, nicht nur meine Wünsche zu vernachlässigen, sondern Dir auch nach wie vor die möglichst schlechteste Gesellschaft auszuwählen. Dadurch wirst Du Dein eigenes Benehmen wahrhaftig nicht bessern, und nur ein klein wenig mehr Manieren annehmen, und mit solchen Vorbildern mag ich es dann nur ganz aufgeben, eine Frau heranzubilden, die den Kreisen, in die ich sie hineinzog, wenigstens keine Schande macht, und das ist doch beim Himmel das Bescheidenste, was ich in aller Welt verlangen kann.«

»Aber bester Gaulitz!«

»Ach was – das Bitten und Weinen hilft mir Nichts! Wie hast Du Dich gestern Abend wieder betragen, es war ja doch ein Schimpf und eine Schande, und ich habe mich selbst vor dem Pastor bis in meine innerste Seele hinein geschämt.«

»Aber was hab' ich denn in aller Welt gethan?« bat zitternd und hocherröthend die Frau.

»Was Du gethan hast?« wiederholte der Zürnende, der sich jetzt einmal in das rechte Gleis hineingearbeitet hatte, »gar Nichts hast Du gethan, und das ist es gerade was mich so ärgert – wie ein Stock hast Du da gesessen und kein Wort gesprochen, und nur manchmal laut aufgelacht, wenn der – Strohwisch seine faden unanständigen Reime vorlas; wenn Du Dich in gebildeten Kreisen bewegen willst, so mußt Du Dir auch Mühe geben zu lernen, wie man sich in solchen bewegt. Hier auf dem Lande möcht' es noch gehen, denn gewöhnlich wird hier nicht jeder Schritt und Tritt so beobachtet, wie in der Residenz, aber gerade gestern war es mir um so fataler, da diese alten Schachteln, diese Geheimenraths-Fräuleins Seiffenberger Deine Beschreibung haarklein in ihre wässrigen Theegesellschaften hineinbringen – ich sah recht gut, wie sie Dich immer von der Seite betrachteten, dann zusammen flüsterten und mit einander lachten.«

»Lieber Gaulitz,« bat die Frau.

»Sei ruhig und ärgere mich nicht jetzt auch noch mit Deinem Wimmern und Winseln!« rief ihr Gatte, »daß mich doch der« – – Er brach plötzlich ab – riß die Thür auf, verließ das Zimmer und warf sie hinter sich mit wilder Gewalt in's Schloß zurück.

Seine Frau schlich auf's Sopha, sank in die eine Ecke desselben, und barg ihr Gesicht schluchzend in den Händen.


Marie verließ langsam und sinnend den Hof. Die wenigen Worte, die sie von des Gutsherrn Lippen gehört, gingen ihr im Kopfe herum, und es war kaum möglich, daß sie noch eine andere Bedeutung haben konnten, als die eine – »die Kutsche muß bis heute Abend neun Uhr fertig sein und angespannt im Hofe stehen – ich will den Burschen noch in dieser Nacht aus meinen vier Pfählen haben, sonst stürmen sie am Ende das Nest, und stecken es mir über dem Kopfe an!«

Wie mit feurigen Buchstaben waren ihr die Sätze in das Hirn eingebrannt. Wahlert gefangen – noch in dieser Nacht den Gerichten überliefert. – Was, um Gott, konnte der Unglückselige nur so Entsetzliches verbrochen haben? – Aber das durfte nicht geschehen – nimmer, so lange sie noch Kraft zum Denken – Kraft zum Handeln behielt.

Langsam war sie den Weg hinangeschritten, der zur Pfarrerwohnung führte, – dabei mußte sie an des Stellmachers Werkstätte vorüber, und dort – ein eigenes wunderliches Gefühl von Schreck und Freude durchzuckte ihren Körper – dort stand die Kutsche, und der Meister war mit Gesellen und Lehrburschen emsig beschäftigt, neue Speichen in eins der arg mitgenommenen Hinterräder zu setzen, und die sonst schadhaften Stellen wieder auszubessern. – Also hatte sie recht gehört, – in diesem Fuhrwerk sollte der Gefangene seinen Henkern ausgeliefert werden, und doch – doch war es den Männern von Horneck gestern versprochen worden, den Eingebrachten, wenn er nicht ein schweres und bösartiges Verbrechen begangen hätte – ohne Weiteres in Freiheit zu setzen.

Großer allmächtiger Gott – wie ihr das Herz schlug vor Angst und Zagen – wenn nun – wenn sie nun den Wagen so hätte wieder beschädigen können, daß es unmöglich gewesen wäre, ihn zu gebrauchen? – Oder wenn sie jetzt hinauf ins Dorf ging, und den Bauern die Nachricht brachte, daß der Gutsherr sein ihnen verpfändetes Wort im Begriff stehe zu brechen – oder wenn sie gar den Herrn von Gaulitz um Erbarmen – Hilf Himmel, wie ihr die tollen wirren Gedanken im Kopfe herum sausten und schwirrten, und es ihr unmöglich machten, zu einem festen geregelten Entschluß zu kommen – fast ihrer unbewußt und mechanisch verfolgte sie den Weg, den sie früher zu gehen beabsichtigt, und stieg zur Pfarre hinauf, von deren Fenstern ihr die funkelnden Strahlen der Sonne warm und glühend entgegenspiegelten.

Drittes Kapitel.
Marie und Sophie.

Herr Pastor Scheidler saß daheim in seiner Wohnstube, und in dem breitlehnigen, weich gepolsterten Armstuhle, der zwischen dem Ofen und Fenster in warmer, und doch dem Lichte nicht abgeschlossener Nische stand. Nicht weit von ihm entfernt, an dem Fenster, das nach dem gegenüber liegenden kleinen Friedhof hinausschaute, hatte Sophie, des Pastors ältestes Töchterlein, ihren Nähtisch stehen, säumte neues, selbst gesponnenes Tischzeug, oder besserte die Wäsche aus, die unsere alte Bekannte Rieke – oder auch Grethe, wie sie der Pastor noch ziemlich hartnäckig nannte, da ihr letztes Mädchen Grethe geheißen – eben in dem weißgescheuerten Korbe hereingeschafft hatte.

»Aber Vater, was hast Du nur«, brach endlich Sophie das lange, lange Schweigen, denn Vater wie Tochter schienen sich an diesem Morgen beide ihren Gedanken vollständig überlassen zu haben, da keines mit dem anderen, wohl seit einer guten halben Stunde, auch nur ein einziges Wort gesprochen – »Du starrst so still und finster vor Dich hin, ist Dir etwas Unangenehmes widerfahren?«

Der Vater antwortete eine Zeit lang nicht, und es war, als wenn er eben bei sich überlege, ob er der Tochter auch das, was ihn eigentlich drücke, mittheilen solle und könne – endlich schien er aber doch zu einem Entschlusse gekommen, rückte sich das schwarze Käppchen zurecht, wechselte seine Stellung vom linken auf den rechten Ellbogen, und sagte, zur Tochter gewandt, die über ihre Arbeit hinüber seinem Blicke begegnete.

»Du magst's auch wissen, was mir im Kopfe herum geht – hast vielleicht einen guten Rath für mich, wenn's Dich auch selber nicht groß interessiren kann.«

»Nun Väterchen?« sagte die Tochter gespannt.

»Du weißt, daß sie gestern einen Gefangenen eingebracht haben.«

Sophie ließ ihre Arbeit in den Schooß sinken und hätte sie ihr Vater in diesem Augenblicke angesehen, so mußte er bemerken, was für eine Veränderung bei der bloßen Erwähnung jenes Mannes in ihren Zügen vorging – so aber haftete sein Blick schon wieder brütend an dem Sonnenstrahle, der in die Stube zwischen dem am Fenster hinaufschlängelnden Epheu hereinfiel und in den fliegenden feinen Staubkörnern allerlei wolkenartige Gestalten bildete –

»Ja,« flüsterte die Tochter.

»Der Gefangene,« fuhr der alte Pastor fort, »ein junger hitz- und tollköpfiger Bursche, voll überspannter Pläne und Leidenschaften ist der einzige Sohn unseres General-Superintendenten.«

»Ist es möglich?« rief Sophie erstaunt und überrascht.

»Ja – es ist allerdings eine wunderliche Geschichte,« bestätigte der Vater, »aber nichtsdestoweniger wahr und mir um so fataler, da der General-Superintendent weiß, auf welch' vertrautem Fuße ich mit dem hiesigen Gutsherrn und Gerichtshalter stehe, und – welchen Einfluß ich bis jetzt auf ihn ausgeübt. Ich habe den Oberpostdirector aber in meinem ganzen Leben noch nicht so starrköpfig und eigensinnig gefunden, wie gerade in diesem Falle; allen meinen vernünftigen Vorstellungen leiht er ein taubes Ohr und ich komme in der That in die äußerste Verlegenheit, wenn er den jungen Menschen wirklich den Gerichten überliefert und einer Strafe preisgiebt, die er sicherlich verdient hat, deren selbst nur theilweise Ursache ich aber doch unter keiner Bedingung sein möchte – ich wollte lieber den König als den General-Superintendenten zum Feinde haben.«

»Aber er wird ihn nicht ausliefern,« sagte Sophie, und der Ton ihrer Stimme, der Blick, den sie dabei auf ihren Vater heftete, das Alles verrieth, wie sie dennoch das Gegentheil von dem fürchtete, was ihre Lippen sprachen – »er hat es ja erst gestern Abend noch den Leuten aus dem Dorfe, die bei ihm waren, versprochen – er wird nicht wortbrüchig werden, ei denke doch Vater, wie er immer die Bibelsprüche im Munde führt, und oft schon, daß ich es mit eigenen Ohren gehört, zu Leuten, die sich wegen irgend etwas verschworen, sagte: ›Eure Rede sei ja ja und nein nein, und was darüber ist, das ist von Uebel‹ – er dürfte ja nicht einmal seiner eigenen Rede so entgegenhandeln.«

Der Pastor schüttelte, als wenn er an solche Gründe nicht so recht glauben wolle, den Kopf, stand aber endlich auf und sagte:

»Ich werde den heutigen Tag noch abwarten, bis dahin muß sich auch der Zustand in der Residenz entschieden haben und dann – was will die Dirne da draußen – die Grethe läßt mir doch auch Jeden herein, das ist ein Wettermädel.«

»Ach, lieber Vater, das muß die Sängerin – die Tochter des alten Musikanten sein!« rief Sophie, rasch von ihrem Sitze aufstehend – »Herr Hennig hat uns heute Morgen bei der Zeichnenstunde von ihr erzählt – Du lieber Gott, wie elend und ärmlich sie aussieht – das arme Mädchen – und die Kleider, wie abgetragen – was sie nur wollen mag.«

»Ein Almosen,« sagte der Vater mürrisch – »derlei Volk will Nichts als Almosen, darauf kannst Du Dich verlassen – ich gehe jetzt in mein Zimmer hinauf, um noch ein paar Briefe zu schreiben – halt' Dich mit der Dirne nicht lange auf, und schicke sie nur zur Mutter in die Küche – die wird sie schon abfertigen.«

Der Pastor stieg langsam die Stufen hinauf und Sophie öffnete indessen der Fremden, die nur einmal schüchtern angeklopft hatte und dann geduldig harrend vor der Pforte stehen blieb, die Thür.

Die Tochter des armen Musikanten war aber keineswegs, wie der Geistliche so lieblos geurtheilt, hierhergekommen, ein Almosen zu erbitten, nur Arbeit wollte sie, Arbeit im Hause des Wohlstandes, um das karge Leben nothdürftig zu fristen und dem Vater, dem es Mühe kostete, allein durch die Welt zu kommen, nicht auch noch zur Last zu fallen. Ihre Sprache war dabei edel und bescheiden und das ganze Wesen und Benehmen der Unglücklichen machte einen so tiefen und wehmüthigen Eindruck auf das weiche Herz der Jungfrau, daß sie sich lang und freundlich mit ihr unterhielt, ihr endlich Arbeit versprach und in der Stube Brod und eine Tasse Warmbier anbot, »weil es gerade dastand«, wie sie sagte, im Grunde aber, weil die Augen des armen Kindes so glanzlos und tief in ihren Höhlen lagen, daß sie sich des Gedankens nicht erwehren konnte, das Mädchen habe heute noch keine Nahrung zu sich genommen, und hungere, sei aber zu stolz, selbst das zu erbitten, was der erschöpfte Körper, sollte er nicht erliegen, bedurfte.

Marie hatte sich im Anfange der freundlichen Sorge fast theilnahmlos hingegeben, wie aber die süße Blume, die dem starren und stürmischen Nordwest still doch hartnäckig getrotzt und die Blüthe fest und krampfhaft jeder äußeren Gewalt verschlossen hielt, ihren duftenden Kelch rasch und sehnend dem milden wärmenden Sonnenstrahle öffnet, und über den linden Kuß des Zephyrs die thauige Freudenthräne weint, so schmolz endlich die zarte Schonung, die in jedem der an sie gerichteten Worte lag und sich selbst in den Gaben zeigte, die Sophien's Hand ihr bot, jene Rinde um das in Leiden gestählte, erstarrte Herz. Wohl kämpfte sie noch eine Zeit lang gegen jede Schwäche an, die ihren kalten resignirenden Ernst zu bewältigen drohte, und als sie fühlte, wie ihr die verrätherischen Thränen in die Augen traten, wandte sie sich ab und suchte die perlenden Zeugen des Schmerzes vor dem forschenden Blicke Sophiens zu verheimlichen.

Reines und heiliges Mitleid sieht aber scharf, wo es helfen und heilen kann, und Sophie glaubte gar bald den Kummer errathen zu haben, der in der Brust der Fremden so fest verschlossen, aber deshalb wohl noch mächtiger und erschütternder geruht hatte, weil ihr keine Seele lebte, der sie ihr Leiden anvertrauen konnte.

»Marie,« sagte sie nach einer ziemlich langen Pause, und ergriff des Mädchens Hand – »Marie – fehlt Ihnen etwas, das in meinen Kräften stünde, Ihnen zu verschaffen?«

Die Leidende blieb eine ganze Weile stumm und regungslos stehen, dann schüttelte sie leise den Kopf.

»Marie –« fuhr des Pastors Tochter schüchtern fort – »ich meine es gut mit Ihnen – ich meine es wahrlich gut mit Ihnen – wenn ich nur wüßte was – was Ihnen fehlte. – Sie sind – Sie sind nicht glücklich.«

Ein zweites leises Schütteln sollte wieder die einzige Antwort sein, und noch weiter ab drehte sie das bleiche Angesicht, aber nicht länger ließ sich der also heraufbeschworene Schmerz bewältigen – stärker und immer stärker drängte er herauf aus dem vollen, o so übervollen Herzen und endlich – endlich brach er sich mit unwiderstehlicher Gewalt in wildem, aber nicht linderndem Thränenstrom die stürmische Bahn, denn nicht freiwillige Thränen waren es, die den heißen Augenhöhlen entquollen und sie konnten deshalb das Herz auch nicht erleichtern und das Uebermaß der aufgehäuften Fluth drängte sie in's Freie, daß die Gefäße, die sie bis jetzt gehalten nicht vor der gährenden Kraft zerbersten und zertrümmern sollten.

Aber die starre Hülle, die ihr Inneres umschlossen, schien ebenfalls mit den vordringenden Thränen gefallen zu sein; ihre Gestalt zitterte, die Hand, die Sophie in diesem Augenblick ergriff, bebte wie im Fieberfrost, und rasch und plötzlich – dem aufblitzenden Gedanken gehorchend, wandte sie sich, barg ihr Antlitz auf der Hand der erschreckten Jungfrau – und schluchzte laut.

»Marie« flüsterte diese, »mein armes armes Kind, was kann ich für Sie thun – womit Ihnen helfen – sind Sie in so großer Noth? – ach ich will gern –« sie schwieg; denn plötzlich fiel ihr ein, daß sie ja erst am vorgestrigen Abend ihre ganze kleine Baarschaft weggeschenkt hatte und nicht einmal im Stande war auch nur ein Almosen zu geben – »ja – mein Vater wird – er muß helfen,« fuhr sie, rasch sich sammelnd, fort »mein Vater ist auch gut und mildthätig, nur zu viel hat er aber in letzterer Zeit geben müssen und dadurch erscheint er manchmal härter – weinen Sie nicht mehr, liebe Marie, wenn Sie hier in Horneck bleiben, können Sie sich darauf verlassen, daß ich Alles thun werde, was in meinen Kräften steht, Ihnen zu helfen und beizustehn.«

»Ich bin es überzeugt« flüsterte die Fremde mit einem innigen Händedruck – »Sie sind gut und freundlich – aber – verzeihen Sie den Ausbruch eines Schmerzes, den Sie, eben durch Ihre Güte selbst hervorgerufen – es war das erste herzliche Wort, was ich seit langer langer Zeit gehört, und wenn es auch wohl, o so unendlich wohl that, und so süß und tröstend in meine Seele klang, so beschwor es doch wieder Bilder herauf, die besser, o weit besser in tiefster Seele begraben geblieben wären.«

»Sehn Sie« suchte Sophie jetzt die Leidende zu trösten und zu zerstreuen; »wenn Sie hier wohnen bleiben und mit der Nadel gut umzugehen wissen, so kann sich Ihr Leben vielleicht noch ganz glücklich gestalten. Besonders im Sommer hat es uns bis jetzt immer an Näherinnen gefehlt, denn die Stadtleute, die hier herausziehn, brauchen viel neue Kleider und zerreißen sich die alten fortwährend an aufgestellten Eggen, Dornhecken, Disteln und andern ländlichen ›Unbequemlichkeiten,‹ wie sie's nennen. Ich will Sie Schüttens empfehlen – die kommen überall herum und Sie können sich darauf verlassen, daß Sie dann in kurzer Zeit bekannt und was noch viel besser sein wird, auch beschäftigt sind.«

»Wie freundlich Sie sind« sagte, mit herzlichem Dank im Blick, die Fremde – »Sie sollen auch sehn, ich werde sicherlich Alles thun, was in meinen Kräften steht, Ihr gütiges Fürwort zu verdienen; jetzt aber haben Sie mir auch Muth gemacht Ihnen ganz zu vertrauen und – eine Bitte ist es – eine Frage vielmehr, die ich mit aller Kraft meiner schwachen Beredsamkeit an Ihr Herz legen möchte, daß Sie dieselbe bei Ihren Herrn Vater befürworten möchten.«

»Und die lautet?«

»Sie betrifft nicht mich selbst« sagte Marie und schaute dabei mit dem jetzt von einem eigenen Feuer belebten, aber sonst festen und ruhigen Blick in das Auge der Jungfrau – »sondern einen Unglücklichen, der durch eine eigene Verkettung von Umständen gerade in diesem Augenblick so nothwendig der Hülfe fremder Menschen bedarf, denn seine Freunde – waren zu schwach ihm zu helfen.«

»Und wer ist es?« frug Sophie, Mariens Hand ergreifend – »wenn ich nur zu helfen vermag, es soll gewiß mit inniger Freude geschehen – gewiß Ihr Vater?«

»Nein – nicht der – nicht jetzt wenigstens, sondern ein Fremder – jener Unglückliche, der gestern Abend gefangen auf das Schloß – aber um Gott – was ist Ihnen? – Sie werden todtenbleich – Sie – – Sie kennen ihn?«

»Ich? – ja – Sie haben doch wohl von unserem Begegnen im Walde gehört,« sagte des Pastors Tochter rasch gefasst und sich mit Gewalt sammelnd – »er sollte uns räuberisch angefallen haben, hieß es im Dorfe, und der dazu kommende Jäger verwundete noch außerdem den armen Menschen. – Mir hat es recht von Herzen leid gethan, daß das um meinetwegen geschehen war und – es geht mir jedesmal wie ein Stich durch die Seele, wenn ich an jenen Tag denke. – Doch, wie kann ich ihm helfen – was kann mein Vater für ihn thun – wie – ja – wer ist er eigentlich, und – welchen Antheil nehmen Sie an seinem Schicksal?«

Der Fremden forschender Blick hatte fest und unverwandt auf der Sprechenden geruht – erst jetzt senkte sie ihn, und antwortete seufzend:

»Welchen Theil ich an seinem Schicksal nehme? – Er ist unglücklich – unglücklich, weil er den Armen zu nützen suchte, und mit freier und kühner Rede gegen Macht und Reichthum auftrat. Er selbst stammt von achtbaren Eltern – sein Vater ist Generalsuperintendent und ein reicher angesehener Mann; deshalb aber hassen die Großen des Reichs diesen Vorkämpfer der Freiheit so aus Herzensgrund, weil sie ihm nicht den Vorwurf machen können, Mangel und Noth oder ein verfehltes Leben habe ihn zu seiner politischen Meinung getrieben; deshalb sind sie wahrscheinlich so eifrig bemüht, ihn gefangen zu halten, weil sein Beispiel nicht ein zündender Strahl werden soll, der das Verderben bis in die Mitte der Gewaltigen schleudert, und den Thron stürzen könnte, der dem Heile des Volkes den Weg zur Freiheit sperrte. Für das Proletariat wirkte er mit allen Kräften, deren er fähig war, diesem eine menschliche Stellung unter den Menschen einzuräumen, die Aufgabe hatte er sich gestellt. Sollen die Armen da nicht an ihm hängen, die, denen er sein ganzes Leben, seine ganze Existenz geopfert? – Sollten sie ihn in der Noth verlassen, da er nur um sie in Noth gekommen?«

Sophie lauschte schweigend, mit halb weggewandtem Kopfe, aber mit freudigem Lächeln auf den lieben Zügen den Worten, die ihr so hold und süß klangen, weil sie das Lob des – sie wagte den Gedanken noch nicht auszudenken, aber ein Gefühl war es, das sie ergriff, als ob sie in sonniger Morgenstunde den feierlich erhebenden Tönen der Orgel lausche und die Seele ihr von des Chorals Accorden getragen, höher und höher hinauf zu dem lichten Dom des Allliebenden emporschwebe.

Marie verwandte keinen Blick von ihr, und ein eigenthümlicher Ausdruck von Spannung, Erstaunen und Zweifel lag dabei in den Zügen der Fremden. Endlich brach Sophie wieder das Schweigen und sagte leise:

»Und droht dem Manne Gefahr?«

»Ja,« war die rasche Antwort des Mädchens, deren ganzes Streben sich bei der Frage wieder blitzesschnell auf das eine fest und treu gehaltene Ziel geheftet – »ja – noch in dieser Nacht.«

»In dieser Nacht?« rief Sophie erschreckt, und ihre Wangen färbte ein höheres Roth, als sie sich so scharf und forschend beobachtet sah – »aber wie wäre das möglich – der Oberpostdirector –«

»Ist ein Schurke,« erwiederte eintönig die Fremde – »und Niemand kennt das vielleicht besser als ich – doch wie dem auch sei, er wäre zu Allem fähig, wo es den eigenen Nutzen oder Vortheil gilt, und ich weiß, daß sein Plan dahin geht, den Gefangenen heute Abend um neun Uhr an das nächste Militairpiket wahrscheinlich abzuliefern. Das zu vereiteln ist vielleicht nur ihr Herr Vater im Stande – er ist Geistlicher des Ortes – seine Pflicht als solcher geböte ihm schon, ein Menschenleben zu retten, wenn es in seiner Macht steht – sein Herz wird aber diese Pflicht zu einer doppelten machen, – wenn nicht gar – Mitleid für den Sohn seines Vorgesetzten – er kann dem Gefühl den Namen geben, und kein Mensch wird ihn tadeln dürfen, wenn er seine Stimme auch zu Gunsten eines Mannes erhob, den das Gericht verfehmt hatte und dessen Spuren die Häscher, wie der Jäger dem wilden Thiere, folgten.«

»Und noch in dieser Nacht? – Aber der Gutsherr hat ja versprochen ihn in Freiheit zu setzen, sobald er nicht ein schweres Verbrechen begangen – erst muß er hören, was der Unglückliche gefehlt, – eher darf er nicht richten; und ihn jetzt, in dieser Zeit ausliefern, wäre so gut wie ein Richterspruch.«

»Der Herr von Gaulitz hat schon Vieles versprochen aber Lüge ist sein Lächeln, und teuflische Hinterlist sein Wort – aus der Bibel citirt er die Sprüche Jesu, aber schwarz ist das Herz, das unter der gleißnerischen Zunge schlägt.«

»Doch vielleicht – vielleicht ist es ja nicht einmal so gefährlich,« sagte Sophie plötzlich, und ein Hoffnungsstrahl durchglühte dabei ihre Seele – »wer weiß denn ob sie ihn, wie die Sachen jetzt stehen, nicht augenblicklich wieder freilassen, so wie er die Residenz betritt, – möglicher Weise ist es viel besser, er wird dorthin abgeliefert.«

»Sie haben recht,« antwortete das Mädchen, und ihr Blick suchte mit ängstlicher Gier den Ausdruck der ihr halb abgewandten Züge zu erforschen – »vielleicht lassen sie ihn frei, und so mag denn der Gutsherr seinen Willen haben – man kann das wenigstens glauben, und – fällt es anders aus – wird er vielleicht gar – doch nein, das wäre ja nur eine Möglichkeit, und die – haben wir nicht voraussehen können.«

Sophie hatte in peinliches Sinnen versenkt dagestanden – die Worte des Mädchens schnitten ihr wie Messer in die Seele, und immer klarer wurde sie sich bewußt, daß auf Hülfe, wenn einmal in den Händen des wirklichen Gerichts, nicht mehr zu hoffen sei, und eine Rettung des Unglücklichen von hier jedenfalls ausgehen müsse. Aber wie – der Kopf schwindelte ihr von all' dem Sinnen und Denken – überall unübersteigliche Schwierigkeiten, überall gehemmt und beschränkt, und die Zeit mit jeder Secunde dem entscheidenden Momente rasch, furchtbar rasch entgegenstrebend.

»Nein – nein« sagte sie endlich, mit halblauter Stimme – sie schien in diesem Augenblick die Gegenwart der Fremden ganz vergessen zu haben – »es darf nicht sein – darf nicht geschehn? – aber wie es verhüten? – mein Vater muß da helfen. Ja, Marie – Sie haben recht« fuhr sie da plötzlich laut, und sich der Gegenwart der Fremden erinnernd fort. »Mein Vater ist gut – er wird nicht zugeben, daß ein armer Verfolgter ungerecht leiden soll – selbst wenn er nicht der Sohn eines ihm befreundeten Mannes wäre, – ich will mit ihm sprechen – verlaß Dich auf mich, was in meinen – was in seinen Kräften steht, wird er thun und meine Schuld soll es sein, wenn ich die Sache nicht mit Bitten unterstütze – sind Sie nun zufrieden gestellt, Marie?«

Sophie hatte ihre ganze Fassung wiedererlangt, und streckte mit milder Freundlichkeit dem erfreuten Schützling die Hand entgegen, Marie begegnete ihrem Blick, schaute ihr lange lange in das blaue seelenvolle Auge, ergriff dann die gebotene Rechte, preßte einen heißen innigen Kuß darauf und verließ plötzlich und ohne eine Sylbe noch zu erwiedern, Zimmer und Haus.

Sophie war allerdings über dieses schnelle Abschiednehmen etwas erstaunt, andere Gedanken drängten ihr aber in das zum Zerspringen volle Herz, und ohne weiteres Zögern suchte sie vor allen Dingen ihren Vater auf, von dem sie ja wußte, daß er die Befreiung des Sohnes des Generalsuperintendenten selbst wünsche und setzte diesen von dem eben Gehörten in Kenntniß.

Hierin hatte sie sich auch nicht getäuscht; ihr Vater schien durch die Botschaft, an deren wirkliche Genauigkeit er nur noch immer nicht glauben wollte, sehr beunruhigt, verlangte dann, allein gelassen zu werden, schritt lange in seinem Studierzimmer auf und ab, und ging endlich, mit der Bemerkung, man möge nicht auf ihn mit dem Essen warten, wenn er etwa zur rechten Zeit nicht zurück sein sollte, auf das Gut hinunter.

Aber schon lange vor Essenszeit kehrte er, und zwar in anscheinend höchst übler Laune, heim – allen Fragen Sophiens wich er dabei aus; versicherte erst, den Gutsherrn gar nicht getroffen zu haben, sagte dann, er sei ihm unterwegs begegnet und nicht im Stande gewesen, ausführlich mit ihm zu sprechen, weshalb er auch gegen Abend noch einmal hinuntergehen wolle, und schloß sich dann gleich nach Tische in sein Zimmer ein, das er auch nicht eher wieder verließ, als bis die Sonne schon hinter den goldglühenden Schwarzholzsaum versunken war und die Abendglocke ihre letzten zitternden Klänge als Gruß dem scheidenden Tagesgestirn nachgesendet hatte.

Viertes Kapitel.
Die Wilddiebe.

Ehe wir aber dem Pastor Scheidler auf seinem Abendgange weiter folgen, müssen wir uns noch einmal, um die Nachmittagszeit des nämlichen Tages auf das Hornecker Feld und zwar auf den östlich vom Dorfe liegenden Landstrich begeben, den dort, wie wir schon gesehen haben, einige ziemlich tief in den Hügelhang eingeschnittene Schluchten durchzogen, während hinter diesen wieder die Gegend flacher und der Boden niedriger, aber auch fruchtbarer wurde, und einzelne breite Rapsflächen theils mit frisch umgehackten Sturzen, theils mit noch unberührt daliegenden Weizenstoppeln abwechselten.

An der Ostseite der letzten schmalen Schlucht, dicht unter den Büschen, die hier schon ziemlich hoch den Rain überragten und die Gesichter der Niederung zugewandt, deren breite Fläche vom Fuße der flachen Hügel auslief, saßen drei in die gewöhnliche Bauerntracht gekleidete Bursche, und schienen eben ihr Frühstück oder Mittagsessen beendet zu haben, denn der Eine, der Müllerbursche aus der Rauschenmühle, wickelte ein übrig gebliebenes Stück Brod und Käse in das blaubaumwollene Tuch ein, das zwischen ihnen auf der Erde ausgebreitet gewesen, steckte es in die Tasche und griff nach einer neben ihm liegenden einläufigen alten rostigen Muskete mit Feuerschloß, deren Pfanne er sorgfältig prüfte, frisches Pulver aufschüttete, das Gewehr dann auf seine Knie legte und mit selbstzufriedenem Lächeln sagte:

»So, nun kann's wieder losgehen – ich hab' nichts dawider – wenn wir nur noch einen kriegten, daß Jeder seinen Hasen mit zu Hause nehmen könnte. – Hol's der Henker, 's ist doch beinahe zu viel Arbeit um so einen Bissen Fleisch; seit Tagesanbruch liegen wir nun draußen, und erst zwei lumpige Stück; denn von den vieren, die ich angeflickt habe, werden wir wohl nichts weiter zu sehen kriegen – der zweite ärgert mich, das war ein ausgezeichneter Schuß.«

»He he he,« lachte der eine Bauerbursche, »der schlengerte das eene Hingerbeen nich schlecht hin un widder. Aber wie kunnte die Krete noch auskratzen – das sach emal kurjos aus, wie Krautsch hinger em her den Rain nungersterzte. Aber – weiter derfen mer wohl nich an's Dorf nan, denn sunst kennten se uns knallen hiaren.«

»Dunnerwatter!« fiel ihm hier Krautsch, ein anderer Bursche aus demselben Dorfe in's Wort – »un was wärsch, wenn se's hiarten? – Laß Fritze Holken nur raus kommen, dem wullten mer heeme leichten, der sille an uns denken – das Aas das. – Härrje, was ich vor ne Bosheet uf den Grienrock hawe; wenn mer nur erscht de Volksbewaffnung kreihn, wie's uns der Docter versprochen hat – aber hernagens!«

»Habt Ihr denn die beiden Hasen gut versteckt?« frug jetzt der Müllerbursche, der die einzige Flinte trug, seine Begleiter, und stand, die Flur rings überschauend, von seinem Lagerplatze auf – »vor Dunkelwerden können wir mit dem Wild doch nicht gut in's Dorf hinein.«

»Die stäcken dort in den Bischern, wo das hohe Gras schteiht – die sin so gut verschteckt, die fingen mer selwer kaum widder. Aber wo wollen mer denn nu jagen? noch emal durch'n Raps? – do sitzt noch eener drinn.«

»Nein, ich dächte, wir trieben eimal die kleine Schlucht hier selber ab,« sagte der Müllerbursche Gottfried Wensche oder »Friede«, wie ihn die anderen Beiden kurzweg nannten, »in dem dichten Grase und unter den Brombeeren liegen sie unmenschlich gerne, und wenn ich mich oben an die Spitze stelle und Ihr blos durchgeht und klappert, so fährt gewiß noch so ein Braunpelz heraus, und dem will ich's besser auf die Ohren brennen, als dem letzten.«

»Gut, dann wull'n mer hier nunger giahn,« sagte Krautsch, drückte sich den alten Hut in die Stirn und hob seinen Treiberstock auf – »hernagens klappern mer von ungen heruff.«

Die beiden Bauerburschen schlenderten, während Müllers Friede oben an der Schluchtspitze seinen Platz nahm, von wo er rechts und links am Buschrand hin schießen konnte, draußen auf dem Sturze an der Ostseite der Schlucht hinunter.

An der Westseite hin glitten aber zu gleicher Zeit die Gestalten des alten und jungen Holke, die Flinten auf dem Rücken, den Hund an der Leine, und als sie eine Stelle erreicht, wo ein kleiner Graben, eine Art Wasserfurche, von den Feldern aus in die Schlucht hineinführte, folgten sie dieser und sahen sich bald von dichten Büschen und steilen Seitenwänden der »Delle« vollkommen gedeckt.

»Wär's nicht besser, Vater, wir warteten, bis sie wieder schössen,« flüsterte der Fritz, und zog den Hund an sich, der rechts in die Büsche hineinwindete, »wenn wir wenigstens gerade aus bis an den Rand gehen, können wir die ganzen Felder übersehen.«

»So viel sich von oben aus erkennen ließ,« erwiederte ihm der Vater mit eben so unterdrückter Stimme, »haben sie hier im Busche Halt gemacht, und der Henker weiß jetzt, ob sie noch drin stecken oder hinaus in's Freie gegangen sind; fast glaub' ich aber, wir haben sie noch hier unten, denn Hektor will absolut da hinein und der thut Nichts umsonst.«

»Horch,« sagte Fritz leise und faßte des Vaters Arm – »klang das nicht, als ob ein Treiber mit seinem Stocke an einen Busch geschlagen hätte?«

Die Beiden horchten einen Augenblick in gespannter Erwartung – gleich darauf wiederholte sich das Geräusch und dem scharfen geübten Ohr der Jäger mußten die wohlbekannten Laute bald entdecken, was die »Wilddiebe« eigentlich beabsichtigten.

»Bei Gott, wir sind mitten im Treiben drin,« schmunzelte der Alte mit einem Blicke wilder Zufriedenheit – »hoho, meine Burschen, Ihr kommt mir heute gerade recht – Fritz, das ist ein kapitaler Spaß – in so einer Lage hab' ich mich auch noch nicht befunden – ein paar alte Füchse im Kessel – ob wir durchbrennen?«

»Vorgehen werden wir auf keinen Fall dürfen,« sagte Fritz – »wer weiß, was für Aasjäger sich vorgestellt hat, und wenn der die Büsche sich regen sieht, haut er am Ende hin.«

»Die dreie haben nur eine Flinte,« meinte hierauf der Alte – »der Schmied hat's ganz genau gesehen, er konnte nur nicht recht genau erkennen, wer es war, oder wollt's auch vielleicht nicht gern sagen. Jedenfalls liegt der mit der Flinte, da sie von unten auf trieben, oben in der Spitze, wo er beide Seiten bestreichen kann und bis dahin, wo die Haselbüsche aufhören, können wir also recht gut vor; dort ist ja wieder so ein Graben ausgestochen und über den Erdaufwurf hin kann er uns nicht bemerken – ich kenne den Platz genau, denn ich habe mich erst vor vierzehn Tagen etwa gerade da hindurch an den Fuchs angeschlichen, der draußen stand – Hektor ruhig – Strick Du, kannst Du nicht Frieden halten, wenn's auf Hochwild geht?«

»Aber schießen werden wir doch nicht, Vater?« sagte der Sohn, »ich möchte nur ungern, und dann auch nur in Selbstvertheidigung, Menschenblut vergießen.«

»Es wird wohl ohne das abgehen,« brummte der alte Waidmann, »wenn sich Einem auch das Herz dabei umdreht, wie die Canaillenbrut wieder heute Morgen auf dem Revier herumgeknallt hat; der Herr Schütze soll nur eine einfache Muskete führen, und vielleicht können wir ihn gerade anspringen, wenn er die einmal abgeschossen hat – Zündpatronen wird er wohl nicht laden, und ehe er seinen alten Schießprügel wieder vollstopft, behalten wir Zeit genug, ihm das weitere Jagdplaisir abzuschneiden – hol mich der Böse, die klappern das Holz ganz regelrecht durch, das sind alte Hallunken.«

Das Treiben kam in der That immer näher und Holke winkte seinem Sohne jetzt mit der Hand, ihm so leise als möglich zu folgen; gebückt schlichen sie dabei in dem Bett des kleinen, nur wenige Zoll tiefen und mitten durch die Schlucht rieselnden Baches hin, bis sie sich bis beinahe an den Graben, der hier von beiden Seiten der Mitte zu lief, hingepürscht hatten. Die Treiber konnten kaum hundert Schritte hinter ihnen sein. Hier mußten sie über einen schmalen gelben Rasenfleck, den jedoch dichte und undurchsichtige Büsche rings umschlossen, und als sie eben die Zweige vorsichtig auseinander bogen, um hindurch zu schlüpfen, fuhr aus dem warmen buschigen Grase ein Hase, sprang über den niederen Erddamm und floh gerade die Spitze hinaus und der Stelle zu, wo sich Müllers Friede so vortheilhaft aufgestellt hatte.

»Der kam apropos,« lachte mit vorsichtig gedämpfter Stimme der Alte, »jetzt paß einmal auf, ob sie nicht drauf pulvern.«

Noch während er sprach, krachte der laut donnernde Schuß der alten Muskete durch die Büsche, und das laute Klagen des Hasen verrieth gleich darauf, daß die arme Creatur waidwund oder in die Hinterläufe geschossen sei.

»Jetzt spring hinauf, Fritz,« rief da der Vater schnell – »mach rasch, mein Junge, und nimm dem Schufte die Flinte ab, ich will hier hinaus, daß ich die anderen Canaillen abfange, oder doch wenigstens zu sehen kriege, wenn sie etwa durchbrennen sollten. – Allo faß, Hektor?«

Der Alte brach, die Büsche links und rechts zurückwerfend, durch das Dickicht der Stelle zu, wo er das freie Feld am schnellsten erreichen konnte, um dadurch den flüchtigen Wilddieben den Weg abzuschneiden; Fritz aber glitt rasch und behende der Stelle zu, wo er den Schuß gehört hatte; Hektor verrieth indeß eher, als er es im Anfang gewollt, seine Nähe. Kaum hörte der Hund, der sonst folgsam und klug genug war, die klagenden Töne des angeschossenen Hasen, als er blitzeschnell seitab durch die Sträucher brach und jetzt plötzlich dicht vor dem entsetzten Müllerfrieden, der eben emsig bemüht war, den im Kreise herumschnellenden zu erfassen, aus dem Strauch fuhr, Lampen im Genick packte, todtbiß und dann stolz und freudig aushob, ihn seinem Herrn zu aportiren. »Alle Teufel!« rief der Müller überrascht, und fuhr mit der ungeladenen Flinte im Anschlag – denn das laute Rascheln der Büsche verrieth ihm jetzt den unwillkommen Zeugen seines Jagdfrevels – in die Höhe; »zurück da oder ich schieße – zurück sag ich!«

Fritz war aber nicht der Mann, der sich von so lächerlicher Drohung hätte zurückhalten lassen.

»Haha,« rief er – »hast wohl zwei Patronen eingeladen und erst eine ausgeschossen – na drück ab, aber dann her mit der Flinte« und ohne weiter einen Augenblick zu zögern sprang er gegen den entdeckten Wilddieb an. – Dieser, der wohl einsah, daß er dem Jäger nicht mehr mit der Schußwaffe drohen könne, faßte seine Muskete rasch am Lauf und hob den Kolben, den Angreifer damit zu Boden zu schlagen, dieser aber, gewandter als er selber, unterlief ihn, ehe er den Streich führen konnte, ließ dicht vor ihm sein eigenes Gewehr in das Gras niederfallen und traf den Müller zu gleicher Zeit mit der festgeballten Faust so kräftig in den Magen, daß der große starke Mann zusammenbrach als ob ihn ein Blitzstrahl getroffen hätte und die Muskete machtlos seiner Hand entsank.

Dieser Sieg hätte aber für den Jäger beinah von sehr bedenklichen Folgen sein können, denn die beiden Bauerburschen stoben keineswegs, wie der alte Holke vermuthete, rechts und links in das Feld hinaus, sobald sie fanden, daß sie entdeckt wären, sondern Krautsch besonders rannte in wilder Wuth dorthin, wo er seinen Kameraden zurückgelassen, und mit diesem jetzt den ihm verhaßten Jägerburschen anscheinend ringen sah. So dicht kam er dabei heran, daß er in demselben Augenblick den Kampfplatz erreichte, wo Fritz sein geladenes Doppelrohr hingeworfen hatte und sprang nun mit wildem Jubelruf, während der Jäger seinen Genossen zu Boden schlug, darauf zu.

Fritz wandte rasch den Kopf und sah kaum die eigene Waffe schon fast in des Gegners Gewalt, als er auch, jetzt wohl wissend, daß es das Aeußerste gelte, die Muskete aufgriff, vorsprang und mit dem schweren Kolben den schützend vorgestreckten Arm des Wilddiebes so kräftig traf, daß er gelähmt an seine Seite sank. Nichts destoweniger wäre der Sieg dennoch zweifelhaft gewesen, denn der dritte, sonst keineswegs feige Bauerbursche flog in diesem Augenblick heran – noch im Zuspringen hörte er aber einen Anruf an seiner Seite, wandte den Kopf und sah hier plötzlich zu seinem Entsetzen auch noch den alten Jäger mit auf ihn selber gerichteter Flinte dastehn.

Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Gedanke an den Flüchtling auf den derselbe Jäger ja erst vor wenigen Tagen ebenfalls geschossen, und ehe er noch wirklich im Stande war einen eigenen Entschluß zu fassen, trieb ihn das Gefühl der Selbsterhaltung zauberhaft rasch aus dem Bereich der dunkeldrohenden Rohre. Wie er in die Schlucht kam, wußte er eigentlich selbst nicht, nur dessen erinnerte er sich später, daß er fortwährend durch die dicksten Büsche gesetzt und sporenstreichs und athemlos, ohne auch nur ein einziges Mal umzuschauen, ob die Verfolger wirklich hinter ihm wären, zu Hause gerannt sei.

Mit dem jetzt allein stehenden Krautsch, dem noch dazu, für den Augenblick wenigstens, der rechte Arm vollkommen gelähmt war, wurde Fritz indessen bald und noch ehe sein Vater ihm weiter zu Hülfe kam, fertig. Er hatte seine Flinte wiedergewonnen, und stand jetzt dem mit fest zusammengebissenen Zähnen wüthend zu ihm aufblickenden Bauer, wie dem sich gerade von dem gewaltigen Faustschlag erhebenden Müllerburschen fest und trotzig entgegen.

»So, Ihr Lumpenpack« fuhr die Beiden aber jetzt der alte Förster an, der nun auch herbei kam, dem noch immer ruhig aportirenden Hektor den Hasen abnahm und diesen neben die alte Muskete in's Gras warf – »so – also Ihr seid's, die Ihr hier draußen auf fremden Revieren und nicht einmal auf Euren eigenen Feldern, herumknallt und Gottes Creaturen, die jetzt hochtragend gehn und nicht einmal genießbar sind, die Glieder verschießt. Nicht arme Tagelöhner seid Ihr, die es vielleicht aus Armuth und Hunger thun könnten, sondern reiches Lumpenpack, das zu faul zur Arbeit ist, und am lieben Wochentage stiehlt und raubt. – Pfui über solche Bande – ich wollte mich doch in Euere Seele hinein schämen.«

»Wartet iär grienreckigen Holzlaifer iär!« knirschte aber der seiner Wuth kaum mächtige Bauer durch die fest zusammengebissenen Zähne sie an – »wartet nuar – eire Zeit kummt ooch noch, un dann soll mer der Deibel das Licht halten, wenn ich nich meine Rechnung so gut im Kopp behalte, wie der Wirth in der Schenke dringe – gebt dem Müller sain Gewähr widder ruas.«

»Hier liegt der Hase, den er geschossen und das Gewehr ist mein,« sagte der alte Holke ruhig, ohne sich um des Burschen ohnmächtigen Zorn weiter zu kümmern. »Ihr aber könnt Euch drauf gefaßt machen, daß die Sache damit noch nicht abgethan ist; heutigen Tages noch werdet Ihr angezeigt und daß der Herr von Gaulitz kein Federlesens mit Euch machen wird, darauf dürft Ihr Euch verlassen. Hier Hektor – was hat der Hund?«

»Er steht« – sagte Fritz und ging mit gehobener Flinte der Stelle zu.

Hektor stand gerade da, wo die Haselbüsche anfingen, vor einem kleinen niederen aber dichten Gewirr von Gras, Dornen und Sträuchern fest und regungslos, den Kopf versteckt, den rechten Vorderlauf emporgehoben, die Augen unverwandt auf den dunkeln Busch gerichtet, und allem Anschein nach mit größter Spannung die Luft einschnopernd, die von dort herüberwehte und jedenfalls von höchstem Interesse für ihn sein mußte. Nur als sich sein junger Herr ihm näherte, beurkundete er seine Freude durch ein leises, aber auch nur ganz leises Schwanzwedeln.

Müllers Friede hatte sich noch immer nicht ganz von dem erhaltenen Schlage erholt, und auch Krautsches Arm schmerzte diesen sehr, dennoch machten die Beiden, als sie sahen, wie der Hund vor dem Strauche blieb und Fritz ihm nach ging, einen Schritt gegen den Ort zu, wo die Muskete lag. Aber auch nur einen Schritt, denn des alten Holke Flinte fuhr rasch genug herauf, und er rief ihnen mit seiner derben herausfordernden Stimme trotzig zu:

»Zurück, Ihr Schufte, oder ich will verdammt sein, wenn ich Euch die Beine nicht mit dem klaren Schrot so voll spicke, daß Ihr das Laufen auf vier Wochen wenigstens an den Nagel hängen könnt; fort mit Euch, denn es juckt mich schon im Zeigefinger, und ich dächte, Ihr wüßtet, daß ich nicht gerade viel Spaß verstehe.«

»Allo faß!« rief Fritz indessen, der sich mit einem rasch nach rückwärts geworfenen Blick bald überzeugte, wie sein Vater die beiden Burschen leicht allein im Respect erhalten konnte – »en avant, Hektor! en avant, mein Hund.«

Hektor hatte anfänglich, wie sich gar nicht verkennen ließ, keineswegs die Absicht gehabt, so ohne Weiteres einzuspringen, da er den Jäger aber jetzt dicht bei sich sah, und die fortwährend aufmunternden Worte hörte, that er ein Uebriges – wedelte erst einmal aus Leibeskräften mit dem braun und weißen Stumpfschwanz, als ob er gerne gesagt hätte, »na, wenn's nicht anders ist,« und sprang dann plötzlich zu. – Aber weder Schnepfe noch Huhn fuhr heraus – kein Hase sprang aus der schützenden Decke hervor, Hektor jedoch hatte sich keineswegs geirrt, sondern das, auf was er mit so unverrückbarer Aufmerksamkeit gezeigt, mit den scharfen Zähnen erfaßt, und einen armen schwer mißhandelten, und über und über mit Schweiß bedeckten Lampe, dem alle vier Läufe zerschossen und der Kopf breit geschlagen war, zog er bald darauf aus Dornen und Gras hervor.

Als ihn Fritz an den Löffeln empor hob, brachte Hektor einen zweiten kaum besser bedachten hervor, und des alten Holke Ingrimm machte sich in schweren gewichtigen Flüchen und Drohungen Luft; die Bauern aber, die sich auf die Art auch das gehoffte und schon, wie sie meinten, in Sicherheit gebrachte Wildpret entzogen sahen, schimpften und wetterten nicht minder, und es wäre vielleicht schon hier zu neuen Thätlichkeiten gekommen, hätte der dritte Mann sie nicht so feige allein und im Stich gelassen, so aber war doch die Uebermacht und noch außerdem das gute Recht auf der Jäger Seite zu stark gegen sie, und ein Angriff mußte deshalb sicherlich nur höchst unglücklich für sie enden.

Die Jäger schienen auch etwas derartiges gar nicht zu fürchten, Fritz steckte zwei, sein Vater einen Hasen in die Tasche, der erste schulterte dabei noch die alte Muskete, und raschen Schrittes wanderten sie dem Dorfe zu, um die Anzeige der ertappten Wilddiebe zu machen, und endlich einmal ein paar von den Schuften zur Strafe zu bringen, die des alten Holke Ingrimm, besonders in der letzten Zeit schon so oft rege gemacht, und ihm die Galle aufgerüttelt hatten.

Die Bauern blieben noch eine lange Weile in der Schluchtspitze zurück, und sprachen dabei fleißig, um ihren Aerger zu ertränken, der grünen Flasche zu, die der Müller neben dem Pulverhorn in seiner Rocktasche trug; viele Pläne wurden geschmiedet, Rache zu üben für die erlittene schmähliche Behandlung – Pläne, wie sie nur das schwärzeste Herz gebären und ersinnen konnte. Als die Flasche dann geleert war, gingen sie auf dem schmalen Fußpfad hin, der nicht weit von der Schlucht vorbei nach der Rauschenmühle herniederführte, bis zu dieser hinab, um dort ihr begonnenes Gelage fortzusetzen, und der Beschluß sollte dann noch Abends spät, als die Nacht schon hereingebrochen war, und andere ordentliche Menschen ihre Heimath aufsuchten, in der Hornecker Schenke gemacht werden, wo heute die Bauern wieder zum Lesekränzchen zusammenkamen und sie die schändliche Ungerechtigkeit zu schildern gedachten, die ihnen von den »grünröckigen großen Herrn Dienern« angethan worden.

Fünftes Kapitel.
Das Gefängniß.

Das Gefängniß von Horneck war ein niedriges kleines aber sehr festes Gebäude, das dicht an eine Reihe von Ställen und darauf befindlichen Getreide- und Heuböden stieß, auch dieselbe Gestalt wie diese hatte, und sich im Aeußeren durch nichts als die starken Eisengitter an den kleinen hohen Stallfenstern von ihnen unterschied.

Nur zwei Stuben oder Kammern, wie man es nun nennen wollte, befanden sich übrigens in diesen zur Aufbewahrung von Verbrechern bestimmten Mauern, und wurden durch einen schmalen Gang, der zu der hinteren Bodentreppe führte, geschieden; die eine von diesen bewohnte der »Voigt« vom Gut, der auch zugleich bei solchen Gelegenheiten die Schließerstelle versehen mußte, und die andere wurde für gelegentlich Eingebrachte offen gehalten, oder sollte doch wenigstens offen gehalten werden. Da es übrigens nur äußerst selten vorkam, daß in Horneck irgend ein wirklicher Verbrecher eingesperrt wurde, so benutzte der Voigt die Gefangenstube auch gewöhnlich zum Aufbewahren der aus der Mühle zurückkommenden Kleie, und selbst jetzt lag ein mächtiger Haufen von dieser, der in der Eile nicht hatte hinausgeschafft werden können, in der einen Ecke zusammengeschaufelt und angekehrt, und in der anderen befand sich ein kleiner Tisch und Stuhl; auf dem ersteren stand ein Wasserkrug und eine Schüssel mit eingebrockter Kürbissuppe, wie sie das Gesinde bekam, und ein Stück trockenes schwarzes Brod, aber kein Messer, sondern nur in der Schüssel ein hölzerner Löffel. In der einen Ecke lag noch eine zusammengeklappte Matratze mit wollener Decke.

In dem kleinen Raume schritt der Gefangene mit untergeschlagenen Armen hastig auf und ab, blieb manchmal an dem Fenster stehen, neben das er seinen Stuhl gerückt hatte, um nur hinausschauen zu können, lauschte auf das von draußen zu ihm hereintönende Geräusch, und setzte dann finster und brütend seine einförmige Wanderung fort.

»Das also ist Dein Dank, Du blinde Menge, zu deren Heil ich meine ganze Existenz in die Wagschale warf, das der Lohn für alle Aufopferung von meiner Seite, für die reine uneigennützige Treue, mit der ich mich Deinem Dienste weihte. Aber nicht zurechnungsfähig bist Du, armes verblendetes, irre geleitetes Volk – Jahrhunderte lang in Schmach und Knechtschaft gehalten, weht Dich der neue Freiheitstraum so plötzlich, so unerwartet an, daß Du Dein Glück noch gar nicht zu fassen vermagst, daß Du nicht begreifen kannst, welche Gewalt Dir plötzlich in die Hand gelegt, und wie es in Deiner Macht jetzt stehe, die, die Dich bis dahin gedrückt und in Schande und Schmach zu Boden gehalten, mit einem kräftigen Schlage zu vernichten. Erwache, mein deutsches Volk, erwache! – Der Morgen der Freiheit hat wirklich getagt; im schönen Frankenlande krähte der gallische Hahn seinen weit durch die deutschen Gauen schallenden Gruß, und im Norden, Süden und Westen greifen die Völker schon zu den Waffen, und die erstehende Sonne sieht ihr flammendes Bild tausend und tausendfältig von blitzenden Sensen und Schwertern zurückgeworfen.«

»Nicht reif seist Du, mein herrliches Volk, die schwerste Pflicht, die Pflicht der Selbstbeherrschung auszuüben, rufen Deine Feinde, die Männer mit Orden und Bändern, die Schranzen und Knechte sclavischer Disciplin – wie das Feuer seist Du, winseln sie in heuchlerischem Mitleid, dessen Kraft gezähmt und in Schranken gehalten werden müsse, um nicht unendliches Elend über unser schönes Vaterland zu bringen. Auf, auf, meine deutsche lodernde Flammensäule, zum Himmel empor sende Deinen rothen Feuergruß, und durch die Schaaren derer, die Deinem freien göttlichen Lichte hemmend entgegentreten, durch die Schatten der alten giftigen Nacht, deren Schleier der Bundestag so fest und furchtbar in seinen Krallen hielt, öffne Dir die freie herrliche Bahn. – Kein Brand wirst Du sein, der sengend Städte und Dörfer in Asche legt und die Wohnung des friedlichen Landmannes dem Boden gleich macht, sondern wie die segensreiche Gluth sollst Du über die Felder und Fluren ziehen, die auf den dürren Steppen das trockene holzige Gras im raschen Flug verzehrt, und den frischen grünenden Graskeimen Raum giebt zum fröhlichen Wachsthum und Gedeihen.«

»Glück auf, mein Volk! Wenn auch der Einzelne darüber untergeht, tausend Andere werden erstehen, und Dich mit weitausdröhnendem Jubelruf den Reihen Deiner Feinde entgegenführen. Nur zusammen haltet dann, wie der Schranzen Schwarm bis jetzt zusammenhielt. – Die Linke fasse in des Nachbars Gürtel, die Rechte schwinge hoch das breite Schwert, und Gottes Ungewittern gleich werft Euch vernichtend und verderbend den Massen des schon moralisch erdrückten Gegners in die Fronte.«

»Und Du, Sonne, die Du da drüben so bleich und trübe, von dämmernden Nebeln umdrängt, zur Ruhe gehst, steige rothglühend im Osten über ein freies Volk wieder herauf – und wenn Du dann auch mein Grab beschienest, ich wollte nicht klagen, dürfte mein Herz dann nur mit seinem letzten Blute den Boden eines freien einigen Deutschlands düngen!«

Er war bei diesen Worten wieder auf den Stuhl getreten, hatte den einen Arm, um sich oben zu halten, durch das Fenstergitter gezogen, und lehnte, nach der scheidenden Sonnenscheibe hinüber schauend, die heiße fieberische Stirn an die kalten starren Eisenstäbe seines Kerkers.

So stand er lange und träumend, – das Abendgeläute war schon lange mit dem frischen Hauch der von den Bergen wehte, in weiter Ferne verklungen; düstere Dämmerung lagerte sich auf der Erde, die Sterne blitzten matt und trübe durch eine dünne Nebeldecke nieder, die sich über das ganze Firmament gezogen; drüben aus dem Dorfe herüber funkelten die Lichter der stillen friedlichen Wohnungen, das Feuer der Schmiede sah er deutlich durch die Obstbäume, die zwischen dieser und dem Schloß die steile Aufdachung des Hügels deckten, niederscheinen, sah die Funken sprühen, und hörte die regelmäßigen Schläge der schweren Hämmer. Der heimkehrende Knecht, der nach Frauen Art seitwärts auf dem müden geduldigen Ackergaul kauernd vorüber zog, sang sich mit leiser Stimme ein kleines Lied – ein Gruß an den Schatz, den er »bei sich zu Hause« gelassen, und aus der Rauschenmühle kehrte der mit den gewichtigen Mehlsäcken beladene Rüstwagen zurück und hielt nicht weit von der Thüre des Gefangenen an, so daß dieser, in einer Art Halbtraum, in dem sein Ohr die äußeren Eindrücke nur dumpf und unbestimmt vernahm, hören konnte, wie die einzelnen Säcke langsam und in regelmäßigen Zwischenräumen die steile Treppe, welche zu den Getreideböden und Vorrathskammern führte, hinauf getragen wurden. Dann spannte der Knecht die Pferde aus, die allein zu ihrem Stall hinüber trabten, der Wagen wurde unter den Schuppen zurück geschoben – das Gesinde ging zum Essen in die Gesindestube, und lautlose Stille lag auf dem weiten Gebäu des Gutes.

Wahlert wußte selber nicht, wie lange er so und in dieser Stellung mit seinem Arm an dem Gitter verweilt, den Blick auf die bleich funkelnden Sterne gerichtet, als leise und vorsichtig der Schlüssel in das Schloß seiner Thüre geschoben und eben so geräuschlos aufgeschlossen wurde. Erstaunt wandte er den Kopf, denn sein Wärter war sonst stets rasch und rücksichtslos zu ihm herangetreten, und eine eigene frohe Ahnung durchschauerte ihn – vielleicht nahte ein Rettungsbote und die wieder aufsteigende Sonne sah auch ihn frei und fröhlich wie die aufwirbelnde Lerche über die dampfenden, vom Nebel umschleierten Berge ziehen. –

Eine dunkle Gestalt glitt in's Zimmer und blieb wie schüchtern an der Thüre stehen, die sich wieder hinter ihr schloß.

»Wer ist da – seid Ihr es, Voigt?« frug Wahlert, und trat von dem Stuhle herunter in die Stube.

»Herr Wahlert,« lautete die ängstlich zitternde Antwort – »ich komme, Sie zu retten!«

»Heiliger Gott, diese Stimme!« rief der Gefangene und preßte sich, kaum seinen Ohren trauend, die ihm den Klang der süßen Laute verriethen, die heiße brennende Stirn – »Sophie –«

»Um Gottes Willen, sprechen Sie leise,« flüsterte das arme, an allen Gliedern bebende Mädchen – »und nur wenige Secunden sind mir vergönnt, deshalb bleibt mir auch keine Zeit, mein Hiersein zu entschuldigen. Nur Mitleid für Sie trieb mich her. Heute Abend um neun Uhr sollen Sie von hier fortgeschafft und den Militairgerichten überliefert werden – was Sie verbrochen haben, weiß ich nicht – will es nicht wissen – nur die eine Frage beantworten Sie mir – wahr und redlich, als ob Sie vor Gottes Throne ständen, aber auch ohne Bedenken und ohne Rücksicht auf mich und die Ursache, die mich vielleicht bestimmte, dieselbe an Sie zu richten. Ist Ihr Leben bedroht, wenn man Sie der Militairgewalt überliefert?«

»Jedes Geheimniß falle, das zwischen mir und Ihnen stehen könnte,« rief da Wahlert, und ergriff die bittend gegen ihn ausgestreckte, sich seinem Drucke nicht entziehende Hand – »kennen Sie mein Vergehen, so sind Sie auch selber im Stande, zu verstehen, was mich bedroht. – Man hat eine Correspondenz aufgefangen, die ich mit Frankreich unterhalten, von dort her unsere deutschen Brüder zu Hülfe zu rufen und die fröhliche rothe Fahne der Republik auf Deutschlands Berge zu pflanzen. In diesem Augenblicke haben die Freunde vielleicht schon einen Einfall in Baden gewagt, oder stehen wenigstens in Waffen an der Grenze, ich aber, der jetzt hier wirken und schaffen sollte, daß auch wir, die wir unter dem Drucke der Tyrannei geschmachtet, denen die treue Bruderhand reichen, die Heerd und Arbeit verlassen haben, uns zu Hülfe zu eilen, ich bin hier von Kerkermauern umschlossen und kann, darf nicht hinaus in's Freie.«

»Und glauben Sie, daß nach diesem Vergehen Gefahr – vielleicht Ihr Leben bedroht?«

»Mein Leben? – ich fürchte kaum – allerdings sind die Beweise gegen mich klar genug und dem alten Regime wäre das Aeußerste zuzutrauen, wo es ja auch vielleicht die eigene Erhaltung gilt –«

»Dann fliehen Sie – fliehen Sie, so rasch Sie können, und verlassen Sie Deutschland so lange noch der Frieden nicht wieder hergestellt ist, und die Gemüther sich beruhigt haben – ich wußte den Schließer zu gewinnen – er dankt mir Alles, was er auf dieser Welt besitzt, und will selbst seine Stelle daran setzen, mir zu dienen – fort – fliehen Sie so lange Ihnen noch Zeit dazu vergönnt ist, hält erst der Morgen vor der Thür, wo Ihnen jedenfalls Bedeckung mitgegeben wird, dann ist es zu spät und Sie sind verloren.«

»Und soll ich, ein flüchtiger, mit Steckbriefen verfolgter Verbrecher diesen Ort verlassen? Soll ich das einzige Land meiden, wo ich bis jetzt gekannt bin, wo ich wirken und das gute Werk fördern kann? – Soll ich meinen Feinden die Freude machen, daß sie mich wie einen entsprungenen Sträfling für vogelfrei erklären und auf mich fahnden lassen dürfen. Lebte noch Recht und Gerechtigkeit, so müßte das Volk mit eisernem Arm meinen Kerker brechen, und auf seinen Schultern den in's Freie tragen, der mit Herz und Kopf sich ihm allein geweiht, so aber schlafen sie selbst noch in der Residenz, das Ministerium, dem Millionen fluchen, steht fest und unerschüttert, und seine Macht ist noch wie vorher unge–«

Er schwieg plötzlich, denn ein kleines Paket fiel schwer aber weich durch die Gitterstäbe des offenen Fensters auf die Kleien in's Zimmer.

Wahlert wie Sophie standen mehrere Secunden still und regungslos, und deutlich konnten sie dabei hören, wie sich draußen Jemand leise aber rasch entfernte.

»Was war das?« flüsterte der Gefangene endlich und hob das Päckchen vom Boden auf – »kommt das von Freundeshand?«

Rasch löste er den Faden, der es umschlossen hielt – es enthielt zwei starke Feilen, einen Geldbeutel, einen kleinen Brief, ein dünnes Wachsstöckchen und eine schmale Schachtel Zündhölzchen. Leise nannte er die Artikel, als er sie einzeln betastete und in seine Tasche schob – nur den Brief und das Feuerzeug behielt er noch in der Hand.

»Dürft' ich es wagen, Licht zu machen,« flüsterte er, »so könnte ich wenigstens lesen, was mir mein unbekannter freundlicher Helfer schreibt – doch halt – geh' ich hier dicht an die Wand unter das Fenster, so kann man den Schein von außen unmöglich erkennen, oder wird doch wenigstens glauben, daß mein Gefängnißwärter einmal bei mir sei.«

Rasch trat er an den bezeichneten Platz, bog sich so weit als möglich über, öffnete den kleinen zusammengefalteten Zettel, zündete dann eines der Streichhölzchen an, und las bei dem mattflackernden Schein desselben:

»Fliehen Sie so rasch und schnell Sie können – um neun Uhr ist es zu spät – sind Sie in Freiheit, so verbrennen Sie diese Zeilen. Scheidler – Pastor.«

»Mein Vater!« rief Sophie erstaunt.

»Hm,« murmelte Wahlert, als er das verlöschte Schwefelholz auf die Erde warf und Feuerzeug wie Brief in die Tasche schob – »der Geistliche des Orts interessirt sich für mich, den Republikaner? – Verdanke ich das meiner Gesinnung oder meiner – Geburt.«

»Das Ministerium sollte gestürzt werden,« rief da Sophie, der es ein schmerzliches Gefühl war, daß der Mann, der sich selbst so uneigennützig für Andere geopfert, gerade diese Ursache, und ach, mit viel Grund, in ihres Vaters Handlungsweise suchen sollte – »er wird seinem Freunde, dem Gutsherrn und Gerichtshalter, die unangenehme Nothwendigkeit ersparen wollen, seine Pflicht zu thun – überhaupt scheint auch wieder, aus einer mir unbekannten Ursache, das Dorf in Aufregung zu sein; als ich hierher eilte, standen eine Menge Menschen vor der Schenke, und der Diaconus war kaum im Stande, den wilden tobenden Lärm in Schranken zu halten.«

»Das Ministerium gestürzt? Das Dorf in Aufregung?« rief da Wahlert und richtete sich plötzlich rasch und fröhlich empor – »hei mein Volk, da schlägt der Freiheit Stunde, und hast Du so die Ketten der Lethargie abgeschüttelt, dann brauch ich auch nicht wie ein schuldbewußter feiger Missethäter zu entfliehen.«

»Mamsell Sophiechen!« rief in diesem Augenblicke draußen vor der Thür die warnende Stimme des alten Voigt – »Mamsell Sophiechen, was Sie thun wollen, thun Sie schnell – oben im Dorfe ist ein merkwürdiger Spektakel und eben ist die Kutsche in's Gut gebracht. Wenn Sie noch lange machen, können Sie am Ende selbst nicht mehr heraus.«

»Herr Wahlert,« flüsterte Sophie in Todesangst – »bauen Sie nicht – trotzen Sie nicht auf die Menge, auf die Bauern von Horneck. – Für politische Größe haben sie keinen Sinn – wo ihr materieller Nutzen nicht in's Spiel kommt, wo sie nicht einen wirklichen leicht begreiflichen Vortheil zu erringen hoffen, sind es die entsetzlichsten Egoisten – und ein Nutzen, wie die ihn im Stande sind zu verstehen, kann ihnen aus Ihrer Befreiung nicht erwachsen. Als sie sich neulich zusammenrotteten, bedurfte es nur weniger Worte des Gutsherrn, den Sturm zu beschwören – der Doctor Levi, der sich ihrer Gleichgültigkeit mit Gewalt entgegenstemmen wollte, wurde mißhandelt, und die heutigen Zeitungen melden, wie die Bewohner der Residenz sich schon wieder den Verfügungen der Residenz unterzuordnen scheinen, wonach es denn wahrscheinlich wäre, daß sich die Minister am Ende doch noch hielten. O fliehen Sie, fliehen Sie, wenn nicht um sich zu retten, doch um des Volkes willen, dem Ihr Streben gilt – fliehen Sie, ohne einen Augenblick weiteren Zögerns – die Minuten schwinden in rasender Schnelle und bald, o Gott, wie bald könnte es zu spät sein.«

»Zu spät, allerdings ein bedeutungsvolles Wort,« lächelte Wahlert, »aber nicht für mich – ist das alte Reich der Residenz aus seinen Fugen gerüttelt, ja, wäre es selbst einmal noch nicht vollkommen gestürzt, dann wird es dieser Oberpostdirector wahrlich nicht wagen, mich irgend einem Gericht zu überliefern; ja, thäte er es, er fände keins, das sich in diesem Augenblicke seinen Anforderungen fügte – nein, kocht und gährt es schon hier in dem stillen Orte, dann ist auch kein Zweifel mehr, daß des Volkes freier Sinn den Mann, der seinethalben hier in Banden liegt, mit kräftig muthiger Hand befreien wird. Ein Gewaltstreich muß aber erst, und zwar vom Volke aus, geschehen sein, ehe die Flamme des Aufruhrs sich erheben und furchtbar vorwärts schießen kann über das weite Land – unser Vaterland ist nun einmal zerstückelt und in jedem kleinen Theile desselben muß leider die Revolution auf's Neue geboren werden – unsere Aufgabe aber ist es dann, das junge, seiner kaum bewußte Kind in Blitzesschnelle zum Riesen heranzubilden, und auf seinen Schultern lagern wir nachher in sicherer Ruhe, wenn seine Keule unter und neben uns die Throne zu Boden schmettert und nur unser Geist die gigantische Kraft des Kolosses zu leiten braucht.«

»Sie tödten mich und sich mit diesem starren Trotz,« bat die Jungfrau – »Sie kennen den Gutsherrn nicht, dessen boshaft trotziger Geist das Aeußerste daran setzen würde, seinen einmal ausgesprochenen Willen durchzuführen – verlassen Sie nur jetzt wenigstens den Hof – um meinetwillen, Wahlert – wenn nicht um Ihret-, nicht um Ihres alten Vaters willen –«

»Sophie,« flüsterte der junge Mann, und das wilde, unzähmbare Herz, das bei der früheren Nachricht vom Sturz des Ministeriums schon tausend und tausend kühne und luftige Pläne gebaut, zitterte vor dem weichen Tone dieser sanften Stimme und beugte sich der holden Angst des süßen Kindes – denn diese Angst füllte ja die reine heilige Brust für ihn – für ihn lebte die schlanke Gestalt und schmiegte sich zagend, verzweifelnd an sein Herz, als er den Arm mit leisem beschwichtigenden Trost um ihre Achseln legte.

»Sophie,« flüsterte er endlich und drückte einen Kuß auf ihre bleiche Stirn – »Sie schaffen mir den Kerker zu einem Himmel um, und machen mir die Stunde, die, ehe Sie kamen, meine trübste war, zu einem seeligen Augenblick. Ich glaubte, ich wäre stark und mein einmal gefaßter Entschluß nicht mehr zu ändern – ich bin aber nur wie ein schwankendes Rohr, das ein Hauch ihrer Lippen bewegen kann. – Gut, ich will fliehen, süßes Kind, will Ihrem Rathe folgen, so mit Gott denn und seiner kräftigen Hülfe. Er wird ein freies wackeres Volk nicht verlassen, und wenn er seine Engel schickt, kann seine Hand nicht irre leiten. So leben Sie denn wohl – zum zweiten Male wohl, wo Sie mir als rettender Schutzgeist erscheinen und möge Germania's Fylgia die That Dir lohnen, die Du an einem ihrer treuesten Söhne gethan. Schütz Dich Gott, mein süßes Kind.«

Mit fieberhafter Angst hatte Sophie indessen mehr und mehr der Thüre zugedrängt, denn ihr scharfes Ohr vernahm draußen Klänge, die ihr das Blut in den Adern erstarren machten – das Rasseln eines leichten Wagens wurde laut – Rosse stampften, und dicht vor der Thür des Hauses hielt er an.

»Großer allmächtiger Gott, es ist zu spät,« stöhnte die Jungfrau, und nur Wahlert's Arm hielt sie in diesem Augenblicke aufrecht, daß sie nicht vor Angst und Schmerz zusammenbrach.

Ein lautes Klopfen an der Thür bestätigte ihre Worte.

»Hallo da –« rief eine Stimme, die sie bald an den gellenden Tönen als die des jungen Poller erkannte – »hallo, Voigt – seid Ihr schon zu Bett? – Aufgemacht! – Droben im Dorfe ist der blanke Satan wieder los!«

Die kleine Thüre des Gefängnisses öffnete sich zu gleicher Zeit und das bestürzte Gesicht des alten Voigt wurde drinnen sichtbar.

»Sehn Sie, wie ich Sie nicht umsonst gewarnt habe, Mamsell,« rief er mit bitterer Angst im Ton, aber zu leisem Flüstern unterdrückter Stimme – »jetzt nur fort und in meine Stube, sonst Gnade mir und Ihnen der liebe Herr Gott.« Und ohne eine weitere Antwort des armen Kindes abzuwarten, ergriff er ihren Arm und zog sie rasch durch die geöffnete Thür nach seiner Stube hinüber.

»Aber was wird aus ihm?« bat mit leisem Flehen die Jungfrau – »wenn er nur durch Euer Fenster –«

»Jetzt, wo die Gerichtsdiener vor dem Hause stehen?« zischte in unbegrenztem Erstaunen der Greis – »na, weiter fehlte mir gar Nichts.«

»Hallo da, Voigt!« schrie die piepige Stimme noch einmal draußen, und ungeduldiger als vorher – »was zum Teufel hast Du da drinn zu flüstern und zu fispern – aufgemacht – der Herr Oberpostdirector kommt eben die Treppe drüben herunter und der – ich dächte, Du wüßtest das, wartet nicht gern lang.«

»Fort – fort – jetzt ist's zu spät!« flüsterte der alte Voigt und schob das zitternde Mädchen ohne Weiteres in seine Stube, deren Schlüssel er abzog, drückte die Gefängnißthüre in's Schloß und öffnete dann rasch den anderen Eingang.

Er stellte sich hier schlaftrunken, als ob er eben erst erwacht und von seinem Lager aufgesprungen wäre, die Männer dort nahmen aber gar keine weitere Notiz von ihm – mit einigen kräftigen Flüchen, daß er sie so lange hatte warten lassen, traten sie in den Gang, ließen sich, auf Befehl des Herrn von Gaulitz selber, der in diesem Augenblicke ebenfalls am äußeren Eingang erschien, die Gefängnißthüre öffnen, und führten gleich darauf den Gefangenen heraus an den Wagenschlag.

Wahlert warf hier den Blick im Kreis herum, und der warnenden Worte des holden Pastorkindes gedenkend, schien er im ersten Moment gar nicht übel Lust zu haben, einen Versuch zu machen, ob er nicht das Freie gewinnen, oder doch wenigstens die Leute aus dem Dorfe dadurch herbeiziehen und vielleicht einen Aufruhr zu seinen Gunsten anfachen könne, die Gerichtsbeamten aber, die ihn umstanden, sahen zu entschlossen und kräftig aus, um ihm auch nur die geringste Hoffnung auf günstigen Erfolg zu geben – das große Thor war dabei ebenfalls noch verschlossen, und der dabei stehende Wächter harrte erst des Zeichens, es zu öffnen und dem Wagen den Durchgang zu gestatten, während in das kleinere eben mehrere Ackerknechte hereinkamen und ihm auch da die Flucht abschnitten.

Rasch trat er da zum Schlag und hob den einen Fuß, um hineinzusteigen – nur noch einmal wandte er den Kopf und frug den Oberpostdirector, der in diesem Augenblicke dicht neben ihm stand:

»Und wo führen Sie mich hin?«

»Werdet's schon noch zeitig genug erfahren!« lautete aber die barsche Antwort, die beiden Gerichtsdiener schoben ihn in den Wagen und sprangen selbst nach, der Schlag flog zu, der Kutscher, der schon oben auf dem Bocke saß, knallte mit der Peitsche – auf knarrte das Thor, die rüstigen Rosse zogen an und mit Windesschnelle rasselte die leichte Karosse, von den kräftigen Thieren gezogen, über den Plan hinaus, den Berg aufwärts.

Sechstes Kapitel.
Ein Republikaner.

Müllers Friede und Krautsch waren, wie schon früher erwähnt, nach der Rauschenmühle gegangen, um dort den Aerger über die verlornen Hasen, wie das fatale Gefühl gar bald vielleicht wegen Wilddiebstahls vor Gericht geladen zu werden, in spirituosen Getränken zu ersäufen. Dort fanden sie Gesellschaft genug, und auch solche, die gern mit ihnen in ein und dasselbe Horn stieß; der wachsende Grimm, der dadurch immer neue Nahrung, nirgends aber einen Widerstand fand, reizte die tollen Burschen, von dem übermäßig genossenen Kartoffelbrandtwein kräftig dabei unterstützt, zu immer größerem Uebermuth. Der Zorn, der Anfangs in allgemeinem Fluchen und Schwören seinen Ausbruch gefunden, lenkte sich in eine bestimmtere Bahn, und zwar gegen die Jäger und den Rittergutsbesitzer. Der alte Holke war schon manchem von diesen trotzigen Gesellen störend bei ungesetzlichem Forst- oder Wildfrevel in den Weg getreten; kaum Einer befand sich hier, der nicht schon entweder einmal vier oder sechs Wochen gesessen, oder schwere Strafe hatte zahlen müssen, und als endlich Einer im wilden Rausch den Vorschlag machte, noch einmal wie neulich, hinunter auf's Gut zu ziehn und den Herrn von Gaulitz aufzufordern, seine beiden Jäger zu entlassen, stimmte die Masse jubelnd ein, und man vereinigte sich nur noch darin, erst in der Hornecker Schenke die Gleichgesinnten aufzufordern, sich ihnen anzuschließen.

Etwa funfzehn junge Burschen marschirten solcher Art mit ihren Flaschen in der Linken und großentheils tüchtigen Knitteln in der rechten Faust, Horneck zu, und wurden hier mit Jubel von einer nicht geringen Zahl zu jedem Exceß Bereiter empfangen. Diese, die noch immer den Anhang des Dr. Levi bildeten, rückten den würdigen kleinen Mann denn auch ohne Zögern vor's Quartier, und forderten ihn auf, noch einmal ihr Führer und Sprecher zu sein. Der kleine Doctor mochte aber doch wohl ein Haar darin gefunden haben, sich an die Spitze der Hornecker Bauern zu stellen – Hornecker Fäuste hatten ihm wenigstens viel zu nachdrücklich zu verstehn gegeben, was sie sich unter der Freiheit dächten. Ueberdieß war auch noch das Gerücht zu ihm gedrungen in Sockwitz liege Militair, und er wollte es deshalb wahrscheinlich nicht darauf ankommen lassen, vielleicht ebenfalls als Rädelsführer aufgegriffen und dahin abgeliefert zu werden. »Die Aristokraten leisteten noch zu vielen Widerstand, Horneck war noch nicht reif für männliche That,« und Levi's Fenster blieb dunkel, seine Thüre verschlossen, als von unten herauf der laute Ruf nach ihm an sein Ohr drang.

Längere Zeit stürmte und lärmte indeß die Menge vor dem kleinen Haus und durch Neugierige vermehrt war die Schaar schon zu einem nicht unbeträchtlichen Haufen angewachsen; diesem fehlte aber ein Führer, Jemand, der die Ordnunglosen hätte leiten und zu einem bestimmten Ziel hinführen können. Viele schrien eben nur, weil sie sich selber gern wollten einmal schreien hören, Andere standen ganz erstaunt und wunderten sich, daß noch immer kein Gerichtsdiener kam, der sie sammt und sonders einsteckte, und befanden sich dabei fortwährend auf dem Sprung, um bei erstem Anzeichen irgend einer Gefahr ungesäumt ihr Heil in der Flucht zu suchen. Auch in den benachbarten Straßen vertheilten sich schon Einzelne und die drohende Fackel des Aufruhrs schien auch dießmal für Horneck ruhig und unschädlich verlöschen zu sollen.


Als Marie die Pfarre verlassen hatte, kehrte sie in die kleine enge Wohnung zurück, die ihr Vater für sie Beide der Ersparniß wegen in Horneck gemiethet hatte – aber auch hier litt es sie nicht lange – draußen, draußen entschied sich jetzt das Schicksal eines Mannes, an dem ihr Herz mit all seinen geheimsten und innersten Fasern hing, und draußen mußte sie sein, sollte sie nicht hier in den eng umschlossenen Räumen vor Qual und innerer Seelenangst vergehen. Aber auch nicht oben im Dorfe ließ es ihr Ruhe; mit der Dämmerung schlich sie wieder hinunter zum Hof und wußte sich endlich in dem Wagenschuppen, hinter dort aufgeschichteten Reisigbündeln zu verbergen, von wo aus sie das dicht vor ihr liegende Gefängniß wie die Thüre des Herrnhauses zugleich und vollkommen übersehen konnte.

Von dort aus erkannte sie des Pastors Tochter, die im dunkeln Gewande in die Thür des Gefängnisses schlüpfte; von Gefühlen gefoltert, die ihr das Blut in rasender entsetzlicher Schnelle durch die Adern jagten, harrte sie in ihrem Versteck der Rückkunft des Mädchens, der Rettung des Gefangenen – ihr war auch der helle Schein nicht entgangen, der, wenn auch nur für einen Augenblick, den inneren Steinfries des begitterten Fensters erhellte – die Minuten wurden ihr zu langsam hinschwindenden Stunden und immer noch zögerten die Unseligen – zögerten, wo der nächste Moment ihr Verderben besiegeln konnte.

Da – heiliger Gott wie ihr das Herz schlug vor Angst und Schrecken, da rollte die leichte Kutsche des Herrn von Gaulitz, durch des Stellmachers Gesellen geschoben, in den Hof – hinten aus dem Stallgebäude wurden die Pferde vorgeführt, um eingespannt zu werden – Gerichtsdiener erschienen – an dem Herrenhaus blieben sie kurze Zeit plaudernd stehn – noch war es möglich – wenn er jetzt herauskam und im Schatten des Gebäudes – gerad' an dem Schuppen vorbei, hingeschlichen wäre, hätte er das Thor erreichen können, ehe man ihn vermißte und einmal im Freien brauchte er nicht zu fürchten in der Nacht eingeholt zu werden. – Jetzt gingen die Männer auf die Gefängnißthüre zu – ha – ein dunkler Schatten – Heiland der Welt es war zu spät – jener Schatten gehörte der schleichenden tückischen Gestalt des jungen Poller – dem feilen Werkzeug des zu Allem fähigen Gutsherrn – er pochte an die Thüre, und das Schicksal Wahlerts war entschieden.

»Zu spät,« stöhnte sie, und barg einen Augenblick das Antlitz in den Händen, dann aber, wie von einem jähen Gedanken durchzuckt, fuhr sie empor, glitt aus ihrem Versteck hervor, warf noch einen scheuen Blick nach der Gruppe zurück, die jetzt die Thüre, hinter welcher Wahlert gefangen saß, fast umzingelt hielt, und floh raschen Laufes in das Dorf hinauf und der Stelle zu, von woher noch immer einzelne Laute der durch die Straße lärmenden Schaar zu ihr hernieder tönten.

Die Straße, in der Doctor Levi wohnte, kam eben ein Schwarm jubelnd und »ein freies Leben führen wir« singend herunter – an der Spitze war Krautsch und Müllers Gottfried – Beide angetrunken und Beide wieder im Begriff, zur Schenke zurück zu ziehen, und sich dort bei einem »frischen Glas« zu bereden, was jetzt weiter zu thun sei.

Diesen trat Marie mit den bleichen erregten Zügen in den Weg, und des vor der ungewöhnlichen Erscheinung zurückschreckenden Müllers Arm ergreifend, rief sie ihnen mit strenger befehlender Stimme zu:

»Seid Ihr Männer, daß Ihr Einen, der nur gelebt hat, um Euer Wohl zu sichern, aus Eurer Mitte heraus den Henkersknechten überliefern laßt? – Unten aus dem Schloßhof wird in diesem Augenblick der Gefangene im verschlossenen Wagen fortgeschafft, um einem Militaircommando in Sockwitz überliefert zu werden – kein Verbrechen hat er begangen, als daß er den Arbeiter und den gedrückten Proletarier vertrat, kein Verbrechen als das, ein Feind der Faulenzer in den Städten und der Fürsten auf ihren schimmernden Thronen sich genannt zu haben, und wenige Knechte der Polizei können ihn heraus holen, selbst aus Eurer Mitte.«

»Es ist schändlich – es ist niederträchtig!« schallte von mehreren Lippen der Marien jetzt Umdrängenden – »das sollte man nicht leiden!«

»Nein,« sagte der Müller mit lallender Zunge – »Hol mich der Deibel, ich wollte ich hätte die Kerle hier.«

»Nachens wullen mer nunger!« fiel da Krautsch mit Autorität in die Rede – »un da soll 'en der Bese das Licht haalen.«

»Nachher ist es zu spät –« bat Marie mit flehender Stimme – »nur wenige Secunden noch, und der Wagen passirt jene Straße dort, der einzige Platz, wo Ihr im Stande wäret ihn aufzuhalten – den Augenblick versäumt, und Ihr selber habt den gemordet, der Euer einziger Retter sein könnte.«

»Eenzige Retter?« knurrte Krautsch, und wollte das Mädchen bei Seite drängen – »wird nich gleich in's Gras beißen – weg da Mamsell – jetzt missen mer erscht in die Schänke, un sähn wie mer Holkens Fritze fangen – där Hund is der erschte, der dran glooben muß – Gott verdamm' mich.«

»Ja – den Jäger müssen mer haben,« bestätigten ein paar Andere – »uffhängen wullen mern – un hernachens sull er die Flinte widder 'raus gäben, die er Krautschen abgenommen hat.«

»Der Jäger Fritz?« rief Marie, und ein glücklicher Gedanke schoß ihr durch's Hirn – »der ist im Wagen mit dem Gefangenen – der soll ihn gerade Euren Feinden überliefern – beim ewigen Gott! dort kommt er schon die Straße herauf – rasch, oder er entgeht Euch und Eurer Rache.«

»Der Jäger in der Kutsche dringe?« schrien die Bauern, und schauten nach dem ziemlich langsam den gerade hier etwas steilen Weg herauf kommenden Fuhrwerk.

»Den soll a Gäwitter verschlahn!« rief Krautsch, und schwang seinen riesigen Prügel – »hurrah!« und ohne eine weitere Antwort abzuwarten, ja ohne nur nachzusehen, ob ihm die Uebrigen seiner Begleiter folgten, warf er sich in trunkenem tollkühnen Muthe dem Wagen entgegen, und fiel mit lautem und gellenden Jubelgeschrei den Pferden in die Zügel. – Die Uebrigen stürmten jetzt auch heran, und die Pferde, scheu gemacht, schreckten zurück; dadurch wurde aber der Wagen seitwärts abgeschoben, die linken Räder kamen auf höheren Boden als die rechten standen, und die Kutsche, die sich einige Secunden auf den ersten balancirte, schlug dermaßen um, daß sie im Anfange förmlich auf die Decke zu stehen kam, und nur erst, als die Federn der einen Seite zusammenbrachen, wieder zurück auf die Flanke fiel.

Die Schaar, durch das plötzliche Gelingen dieser ersten Gewaltthat noch mehr gereizt, und durch den, von wilder Rachlust beseelten Bauer angefeuert, warf sich jetzt mit Blitzesschnelle auf den Kutschenschlag, und riß die darin Befindlichen hervor.

Armer Fritz, wie wäre es Dir ergangen, hätten Dich Deine trunkenen Feinde in diesem Augenblick in ihre Gewalt bekommen – wer weiß, zu welcher rohen Gewaltthat die Rotte reif gewesen, denn der Bauer hat sich bis jetzt und bei solchen Gelegenheiten, was auch sonst sein Charakter seien mochte, fast stets wilder noch als die reißende Bestie des Waldes gezeigt. Hier aber sollte ihnen keine Gelegenheit geboten werden, ihre Wuth wenigstens an dem ersehenen Opfer auszulassen; Fritz war schon vor Dunkelwerden und gleich nach der Anzeige der ertappten Wilddiebe mit seinem Vater über die Rausche zurückgefahren, und nur zwei bleiche, zum Tod erschreckte, und durch den Sturz halb betäubte Gerichtsdiener zogen sie aus dem aufgerissenen Wagenschlag heraus.

Während aber nun der eine Theil der Aufrührer den befreiten Wahlert umtobte, und ihm zujauchzte und jubelte, suchten die anderen noch in voller Wuth nach dem Jäger, den ihnen der Fremden List versprochen hatte – und die einmal zur Gewaltthat Getriebenen wären auch jetzt fast weiter gegangen, denn ein Opfer, schien es, wollten sie haben, und die Mißhandlung der unglücklichen Diener der Gerechtigkeit, die ihnen gerade in die Hände gefallen, wäre kaum genügend gewesen.

»Auf's Schloß hinunger!« rief da eine Stimme – »da stäckt der Jiager – brännt dem Lump der Härrschaft doch das ganze Näst iberm Schädel ab!«

»Auf's Schloß, auf's Schloß!« tobten die Rasenden, und wilde Drohungen und Schmähreden über die Wortbrüchigkeit des Gutsherrn, über den Druck unter dem sie geschmachtet, über Jäger und Beamte wurden laut – nach Bränden schrie ein Theil, nach Brechstangen und Aexten ein anderer; aus den nächsten Häusern wurden schon die verlangten Werkzeuge herbeigeschleppt, und die wüthende Schaar wälzte sich langsam, aber mit jedem Schritt anwachsend, und mit dem lauten Gebrüll »die Republik soll leben!« den Hügel hinunter und dem Schlosse zu.

Um den Befreiten hatte man sich nach dem ersten Jubelruf kaum noch mehr gekümmert, und dieser fühlte sich jetzt von einer weiblichen Hand ergriffen, die ihn mitten aus dem Gedränge heraus auf die Seite zog.

»Eilen Sie in die Stadt!« sprach dabei eine Stimme, vor der er wie von einem jähen Schlag getroffen zusammenzuckte – »noch steht der alte Staat, aber das Volk ist in Gährung, nur an einem Kopfe fehlt es zu klugen Rathschlägen, nur an einem Arme, das Banner der Freiheit voran in die Reihen der Feinde zu tragen. Heute Nachmittag erst ist wieder ein Bote aus der Stadt zurückgekehrt – auf allen Lippen ist dort Ihr Name, ein neues Ministerium zu bilden und das Reich zu retten vor Untergang und Verderben – fort, in Ihren Händen liegt jetzt das Wohl des Landes – treten Sie dort frei und unerschrocken auf, und Ihre Feinde, die jetzt noch mächtig sind, sinken in den Staub. – Wirken Sie wie bisher für die Armen, und das Volk wird Sie segnen!«

»Marie« – sagte Wahlert mit tiefer schmerzlicher Rührung im Ton, und wandte leise das bleiche leidende Angesicht des Mädchens gegen den hellen Sternenschein – »Du hier und – also? – Meine arme Marie.«

Des alten Musikanten Tochter zitterte an allen Gliedern, auf einen Augenblick stand sie wie unschlüssig zögernd, dann aber rief sie, rasch sich sammelnd, »fort, fort!« – und wandte das Angesicht wieder ab von dem verrätherischen Schein – »die Rasenden stürmen unten das Schloß, und Ihr Name darf nicht mit der Mitwissenschaft dieses Frevels befleckt sein – vielleicht wäre es sogar noch möglich, sie zurück zu halten – o eilen Sie, eilen Sie um Ihret- – um – Sophiens willen.«

»Sophie? – Ha – wie kommt der Name auf Deine Lippen?« frug Wahlert mehr erstaunt als erschreckt.

»Sie ist unten im Schloß!« sagte eintönig Marie.

»Die Hand der Bauern wird sich nicht gegen ihres Pastors Tochter erheben,« rief Wahlert rasch, »aber wie dem auch sei, Du hast recht, das Entsetzliche darf nicht geschehen, nicht Mord noch Brand die Bahn bezeichnen, die der Freiheit Spuren hinterlassen. – Dank Dir für den Wink, und auf jetzt, einem freien herrlichen Ziel entgegen.«

Mit flüchtigen Sätzen flog er den Hügel hinab der Stelle zu, von wo wüstes Toben und Geschrei zu ihm herüberdrang, und eben im günstigen Augenblick kam er, um die entfesselte Wuth der Rasenden zu zähmen, die sich im wilden Ansturm über den friedlichen Hof ergießen wollte. Das Schloß des Thores war gesprengt, und mit lautem Jubelruf schwang Krautsch, der Führer der Schaar eine gewichtige Brechstange um das bloße, von wirrem struppigen Haar umflatterte Haupt, als Wahlerts Riesenstimme, die mit dem kräftigen Wohlklange ihres Organs den leisesten Schall seiner Worte schon über Tausende von gespannten Zuhörern hingesandt, sein dröhnendes »Halt« zwischen die Massen donnerte.

Wie von einem Zauber gebannt blieben sie stehen, und aller Blicke wandten sich der kühnen edlen Gestalt zu, die sich rasch auf die niedere Mauer des dicht an das Schloß stoßenden Obstgartens schwang.

»Zurück, Ihr Männer von Horneck!« rief der Mann, und sein Arm streckte sich aus über die lautlos zu ihm aufschauende Rotte – »zurück! – wollt Ihr Mord und Verwüstung tragen in ein friedliches Haus, und die Kraft die Euch gegeben ward zum ersten Mal, wo Ihr sie fühlt in Eurem Arm, nicht nützen, sondern gleich mit schmachvoller That entweihen? Der Republik bringt Ihr ein freudiges Hoch, und während das Wort über die Lippe klingt, schändet Eure Hand den Namen, den der Lufthauch noch nicht entführt. Heilig sei Euch das Eigenthum – gegen den Arm, der das Schwert wider Euch geführt, nicht wider das Schwert selber braucht Eure Kraft – die Wurzel reißt aus dem Boden, die jene giftigen Schößlinge getrieben, nicht die Schößlinge schneidet ab, denn mit jedem Frühling würden ihr neue entwuchern. Fest zusammen steht wie ein Mann, wie ein Herz, aber macht nicht wahr was Eure Feinde von Euch sagen, daß gerade Ihr es wäret, die unter Republik und Freiheit nur Mord und Plünderung verständen, daß gerade Ihr es wäret, die, blind und taub gegen jedes ruhige Wort, nur dem wie wild gewordenen Stiere folgten, der Euch zu roher gesetzloser That den blutigen Feuerbrand voraus trüge. Macht zu Schanden die Lügen und Verläumdungen, die jene heimlich bohrende Reaction gegen Euch ersonnen und ausgestreut, daß Ihr nicht reif wäret, ein freies Volk zu sein, nicht reif zu menschlichen Rechten und Gerechtsamen, nicht reif zu selbstständigem Handeln und Regieren – machet die Lügen zu Schanden, Ihr bedürftet einer strengen starken Hand, die Euch den Zügel fest und eisern im Gebiß erhielte, wenn Ihr nicht, wie das ungebändigte Roß, toll und rücksichtslos über die Felder toben und Saat und Erndte in den Boden hineinstampfen und verwüsten solltet.«

»Zeigt, daß Ihr wirkliche Republikaner seid – stellt jenen schmähenden Lügenzungen den kalten besonnenen Mannes-Ernst und Stolz entgegen, aber weicht auch zurück vor einer That, die Euern Namen mit Schmach bedecken und Euere Feinde triumphiren lassen würde – gönnt ihnen die Freude nicht, Euch schwach gesehen zu haben, gebt ihnen nicht die Waffen gegen Euch selbst, durch solche That in die Hände. Verachtung dem, der Euch bisher in starrem Joch gehalten – Verachtung dem, der bisher sich nicht entblödete, der Henkersknecht eines schurkischen Systems zu sein, das nur, wie ein künstliches Maschinenwerk, die Kraft des Einzelnen nicht aufkommen ließ, und ihn, hob er sich dennoch, unter die tausend geschäftigen, wirbelnden, schwirrenden Räder warf – aber dorthin die Stirn gerichtet, dorthin die Lanzen eingelegt, dorthin den Geist und Arm gestählt zu freiem Wort und freierer That, wo die Hand ruht, die bis jetzt den Mechanismus dieser furchtbaren Räder gelenkt – gegen die Wurzel den Streich geführt, und kommt dann die Zeit, wo Deutschland Eueres Armes bedarf, dann Freunde, dann Brüder heran zum fröhlichen Siegeslied, zum schönen Waffentanz, und gebe dann Gott, daß er mir erlaubt, Euch, Mitbürger unseres schönen herrlichen Vaterlandes, das schwarz-roth-goldene Banner in luftigem Windeswehen und vom scharfen Stahl geschützt, voran zu tragen.«

»Zu Hause jetzt mit Euch, ihr Leute, zu Hause, und bald, bald hoff' ich, grüßen wir uns wieder im freien einigen Reich.«

Ein laut donnernder stürmischer Beifallsruf folgte den Worten des Redners, und zu ihm hin drängte die Menge nach der Mauer hinüber, dem aber wollte er entgehen. Rasch sprang er hier herunter und wollte unbemerkt an den Gartenmauern und Häusern in das Dorf hinein schlüpfen, um von da aus die große, nach der Residenz führende Hauptstraße zu erreichen, als ein kleiner Bursche seinen Arm ergriff und ihm zuwinkte, seitab durch die Obstbäume, die den schmalen Weg begrenzten, zu folgen. Da die Richtung ungefähr die rechte war, säumte er auch nicht, und befand sich bald auf einem Fußweg, der ihn durch eine hier an das Dorf stoßende kleine Lichtung nach wenigen hundert Schritten schon auf die weiß in die Dunkelheit hinein schimmernde Chaussee brachte.

Dort an einem Kirschbaum stand ein ungesatteltes Pferd angebunden, weiter aber war Niemand zu sehen, und der kleine Junge sagte lachend:

»So – nu setzt üch uff, un immer grad naus, un denn kennt är nich fählen.«

»Aber wem ist das Pferd?« frug Wahlert erstaunt.

»S'is vun der Herrschaft,« kicherte der Kleine, »aber das macht nischt; wenn er an's Thor kimmt, läßt er'n Rappen widder loofen un vor Morgen is der lange im Stall.«

Es war augenscheinlich eines der Pferde, die ihn seinem Kerker hatten entgegenführen sollen, und jetzt stand es hier, bestimmt, ihn zu Freiheit und Ehre zu tragen – der Wechsel schien überraschend und Wahlert konnte, besonders nach der letzten Versicherung des Knaben, daß das Pferd seinem Eigenthümer keinesfalls verloren gehen würde, der Versuchung nicht widerstehen. Als ein gewandter Reiter schwang er sich rasch auf des geduldigen Thieres Rücken, dem Knaben ein kleines Geldstück zuwerfend, drückte er seinem Gaul die Schenkel in die Flanken, und fort klapperten in luftiger Schnelle über die harte stubengleiche Chaussee die Hufe des munteren Renners, als er den kühnen nächtlichen Reiter seinem Ziele entgegentrug.

In Horneck verlief sich indessen die Menge nicht sogleich, als es nach dem ersten Eindruck der Rede wohl den Anschein hatte; die Gemüther waren zu erregt, um sobald in das alte Bett ruhigen Gleichmuths zurückzukehren; aber der unbändige Zorn, der ihren Geist noch vor wenigen Minuten zu wilder, gefährlicher That getrieben, war beschworen – der Ruf an ihr Ehrgefühl hatte seine segensreiche Wirkung nicht verfehlt. Aber Luft mußte die Stimmung haben, Luft auf eine oder die andere Art – war's nicht im Bösen, so doch im Guten, und Krautsch selbst, dem der starke Trank jetzt mehr und mehr den Sinn verwirrte, brachte das erste gemüthliche Lebehoch auf Herrn von Gaulitz aus.

Einmal im Zug und die Bahn schien leicht gefunden – an demselben Abend bekamen noch – zu seinem nicht geringen Schrecken – der Pastor, der Schulze, der Wirth und die mißhandelten Flurschützen, die man in ihre Wohnungen geschafft hatte, jeder eine unbestimmte Anzahl von Vivats, ja selbst auf die Jäger hätte sich dieses Wohlwollen ausgedehnt; das Haus derselben lag aber leider am anderen Ufer der Rausche und der Fluß selbst zu weit von der Schenke ab, nach der sich die jetzt vollkommen harmlose Schaar in später Nachtstunde noch zurückzog, dort einen sogenannten »Schlaftrunk« nahm, und dann, höchst zufrieden mit dem genossenen Abend, die eigene Heimath – so gut das eben ging – aufsuchte.

Siebentes Kapitel.
Wie es in Horneck aussah.

Acht Monate waren seit den, im letzten Kapitel berührten Umständen verflossen; in Deutschland hatte es in loderndem Freiheitsmuth gekocht und gegährt, und an allen Orten und Enden waren die züngelnden Flammen vorgebrochen. An allen Orten und Enden standen aber jetzt auch die Fürsten wieder bereit, die für das ganze so morsche, und doch noch nicht zusammengebrochene Staatsgebäude schon kaum mehr gefährliche Feuersbrunst, wo sie sich nur zeigen würde, mit vollen kältenden Wasserfluthen zu empfangen und zu unterdrücken. – Die Gluth, welche, auf einen Punkt concentrirt eine Welt hätte zusammenschmettern müssen, knisterte und knatterte jetzt in nutzlosen Sprühteufeln und Raketen zwischen den Füßen der lächelnd zuschauenden Potentaten herum und die Revolution lag, wie ein verwundeter Leu – furchtbar noch in ihrem Tod und der Erinnerung an die Kraft, die einst diesen jetzt machtlosen Körper belebt, mit ausquellenden Adern sterbend am Boden.

Sterbend? – und tagte nicht noch in Frankfurt am Main das deutsche Parlament? – saßen nicht dort noch die Männer des Volks, die eben aus der Revolution hervorgegangenen Vertreter des deutschen Vaterlandes zusammen, und schmiedeten sie nicht noch rüstig fort an den künftigen deutschen Rechten eines einigen Reiches?

Ja, die Vertreter des Volkes saßen noch zusammen, und der Sturm und Kanonendonner von Wien, und die tausend und tausend blinkenden Bayonette Berlins waren nicht im Stande gewesen einen direkten Einfluß auf den ruhigen Geist einer Versammlung zu üben, die den besten Saft und Mark von Deutschlands treusten Herzen in sich schloß, wo aber war das Volk selber, das einige deutsche Volk, das seine Gesandten nach der alten Reichsstadt geschickt hatte und aus ihren Händen ihr künftiges Heil erwartete? Von ehrgeizigen tollen Hitzköpfen an allen Orten erregt und aufgewühlt, riß es auf der einen Seite nieder, während auf der anderen gebaut wurde. Gewissenlose Menschen, meist in Verhältnissen lebend, in denen sie, bei einem Umsturz alles Bestehenden, nie etwas verlieren und immer nur gewinnen konnten; herumziehende politische Comödianten, die von Stadt zu Stadt reisten und in Volksversammlungen – und Gott weiß es, was Alles unter Volksversammlungen verstanden wird – die Jugend mit ihren tausend und tausendmal wiederholten und wiedergekäuten Phrasen aufreizten, Subjekte, die »im Großen nichts verrichten konnten und es nun im Kleinen anfingen,« machten die so heiß von Deutschland ersehnte und endlich so herrlich realisirte Hoffnung des deutschen Parlamentes zum Kinderspott. Kaum sahen sie ihre aus der Majorität der Wähler hervorgegangenen Gesandten eingesetzt, als sie in machtlosem Ingrimm, nicht selber mit da oben tagen zu können, an dem Gebäude zu rütteln anfingen, das erst eben errichtet worden. Anstatt jetzt wie ein Mann zusammenzustehn und den Beschluß der Männer, die das Wohl des Vaterlandes nach besten Kräften berathen sollten, mit ihren eigenen Leibern zu schützen, wenn etwa die Reaction sich gegen die, schon durch diese Wahl bewiesene Souverainetät des Volkes auflehnen sollte, damit die Vertreter der Nation auch Vertrauen faßten zur deutschen Stärke und Einigkeit, wiegelten sie die rohe ungebildete Masse gegen sie auf, verdächtigten ihre Beschlüsse, oft noch ehe sie ausgesprochen worden, reizten zu Mistrauensadressen, die von Leuten mit unterschrieben wurden, denen es bis jetzt noch nicht einmal klar geworden, was eigentlich die Männer in Frankfurt sollten, riefen, das Werk überstürzend, die Gleichgesinnten zu einem neuen Parlamente auf, säten also Haß und Unfrieden und verlangten Heil und Segen davon zu erndten.

War es den in ihren Grundvesten schon erschütterten Thronen da zu verdenken, daß sie, in der Uneinigkeit der Völker die eigene Macht wieder zu befestigen suchten? und wurden ihnen nicht gerade von den blind und wahnsinnig sich überstürzenden Demokraten die schon fast verlorenen Zügel selber, ja ohne nöthigen Versuch einer Reaction, wieder in die Hand gedrückt?

Die wenigen ehrgeizigen gewissenlosen oder auch blinden Menschen, die entweder nicht sehen wollten, daß Deutschland noch nicht reif zur Selbstregierung sei, und daß es an intellektuellen Kräften fehle, das Ruder einer Republik fest und sicher durch den Sturm der bewegten Zeiten zu führen, oder die selbst verblendet genug waren, sich für fähig zu halten, das siegestrunkene, aber unselbstständige Staatsschiff zu leiten, oder die endlich, welche wirklich mit treuem und ehrlichem Herzen für eine große deutsche Republik geschwärmt, und in all ihrem Dichten und Träumen nur nicht bedacht hatten, daß man zu einer Republik auch Republikaner bedürfe, reizten das Volk, das unter Selbstregierung nur Freiheit von Steuern und Gesetzen verstand, zu wilden und durch Worte nicht mehr zu bändigenden Schritten an. In Versammlungen, wo die gewöhnlichen und alltäglichen Phrasen ihnen nicht schmeichelten, sie nicht freie und zu jeder Regierungsform reife Menschen nannten, wurde jedes parlamentarische Gesetz mit Füßen getreten, die Freiheit der Wahlen selbst durch Terrorismus beschränkt, den Abgeordneten der Ständekammern, die frech genug waren nach eigenem besten Gewissen handeln zu wollen, mit allem gedroht, was nur versprach, eine Wirkung auf etwas zaghafte Gemüther auszuüben. Kurz ein so verworrener Zustand trat ein, daß selbst ein großer Theil der früheren Freiheitsschwärmer, wenigstens alle die, welche nur etwas kälteres Blut besaßen, zurückschraken, wenn sie bedachten, daß sie mit diesen Horden einen Weg gehen sollten, und die ungeheuere Zahl der ruhigen Bürger, die bis dahin einem Fortschritt keineswegs abgeneigt gewesen, und sicherlich für eine höchst liberale Vertretung ihrer selbst gestimmt hätten, plötzlich in Todesangst gerade zum Extrem übergingen, um jetzt, da sie glaubten, daß es noch eine Wahl für sie gäbe, lieber den alten, wenn auch faulen Zustand zurückzuführen wünschten, ehe sie solche Menschen an der Spitze einer nicht Regierung, sondern Zerrüttung Deutschlands sähen.

Berlin war in Belagerungszustand erklärt und die Nationalversammlung aufgelöst worden; vom Stephansthurm zu Wien flatterte die schwarzgelbe Fahne und Fürst Windisch-Grätz durfte es wagen, sogar ein Mitglied der für unverletzlich erklärten Nationalversammlung Frankfurt's hinzurichten – bedarf es eines weiteren Commentars, um den Zustand Deutschlands zu schildern?

»Die Reaction hat für den Augenblick gesiegt und der neue Frühling muß uns auch eine neue, aber blutigere Siegespalme bringen« riefen zähneknirschend die Democraten, oder die, die sich Democraten nannten – denn der Name ist leider Gottes in letzter Zeit wahrhaft gemishandelt worden. –

»Der Anarchie sind die Hände gebunden,« schmunzelten auf der anderen Seite die platt gesichtigen schwänzelnden Hofmenschen, die Speichellecker der Fürsten und sogenannten Großen – »ein gesetzlicher Zustand ist zurückgekehrt« – und Adressen reichten sie ein an die Generäle, die das Machtschwert in den Händen hielten, den Belagerungszustand nur noch ja und um Gotteswillen ein wenig zu verlängern, oder wenn es anginge, viel zu verlängern – vielleicht – o süßer Gedanke – ihn ganz fortbestehen zu lassen – o wie wohl sich dieses knechtische Geschmeiß unter dem Schutze der Kanonen fühlte.

Und der jungen Freiheit wurden indessen die Flügel beschnitten, Presse und Vereinsrecht beschränkt und die wenigen Errungenschaften des Frühlings verkümmert und gekürzt; das Volk aber wüthete indessen gegen sich selbst und brach seine Kraft in unnützem schimpflichen Streit und Unfrieden.

So stand es in Deutschland – aber auch in Horneck, der kleinen, in mancher Hinsicht für sich abgeschlossenen Welt, hatte sich Vieles verändert. »Was seine äußere politische Gestaltung nämlich betraf, so war auch Horneck,« wie der Pastor nämlich mit wohlwollendem Lächeln meinte, »in höchst merkwürdiger Weise mit der Zeit fortgeschritten,« und diese »würdige Weise« bestand denn auch allerdings in einer »Errungenschaft« – die sie aber gern schon wieder los gewesen wären und diversen anderen »Versprochenschaften«, nach einem neueren, durch die Zeit gebornen Ausdruck.

Die Errungenschaft war der Communalgardendienst, denn nach den verschiedenen tumultuarischen Auftritten vor dem Schlosse, ja besonders der gewaltsamen Befreiung des Gefangenen wegen, hatte Herr von Gaulitz der Gemeinde angezeigt, daß er, »zum Schutz des Eigenthums« Militair requiriren werde. Dagegen war aber Doctor Levi mit aller Kraft seiner lispelnden Beredtsamkeit aufgetreten – der Schrei »Volksbewaffnung« ging damals durch das Land, und »Volksbewaffnung« mußte auch den Bewohnern von Horneck werden – es war das ein Recht, was sie zu fodern, keine Gunst, die sie zu erbitten hatten, und Militair – verweigerte das Dorf.

Die Rede gefiel den Bauern ungemein, denen an der Einquartierung aus mehr als einem Grunde gar nichts gelegen war, sie foderten Volksbewaffnung und erhielten sie mit der Vorausbedingung, »daß sie dann auch für die Ruhe des Ortes haften müßten«, was, wie die Bauern meinten, sich von selbst verstände.

Doctor Levi meinte aber gerade das Gegentheil, für die Ruhe eines Ortes könne keine Gemeinde haften, denn man wisse gar nicht, was jeder Tag für neue Ereignisse gebären möge, die gerade Unruhe im wahren Sinne des Wortes verlangten, und da sei ein solch' gegebenes Versprechen nachher etwas sehr Unpolitisches. So schön er aber auch diese seine Ansicht motivirte, so blieb er doch damit in einer höchst bedeutenden Minorität und die Bürgerwehr wurde in Horneck, dem Grundsatze nach, daß alle Bürger im Staate einander gleich, also auch gleich berechtigt seien zum Besten und Schutz ihres Vaterlandes Waffen zu tragen, organisirt. Um übrigens wahrscheinlich den Grundsatz der Gleichheit besser ausführen zu können, theilte sich die kleine Gemeinde, die ohnedies kaum eine ordentliche und vollzählige Compagnie stellen konnte, in zwei, weil die Bauern und Häusler (solche, die kein Bauerngut haben, sondern nur, gewöhnlich vom Gut gepachtet, ein Haus bewohnen) doch unmöglich Seite an Seite in Reih und Glied stehen konnten. Es machte sich dabei wie zufällig, daß die Bauern, die »mit vieren fuhren«, den ersten, die hingegen, die nur mit zwei Pferden fahren konnten, den zweiten Zug bildeten, die Offiziersstellen bekamen natürlich solche anvertraut, die, wenn sie das Commando auch noch nicht verstanden, doch angesehene Leute im Dorfe waren, und ihrer Compagnie keine Schande machten. Sie hätten wohl einen unter sich gehabt, der sich zum Hauptmann ganz vortrefflich geeignet hätte, es war das ein alter gedienter Soldat, der die Feldzüge von Dreizehn als Corporal mitgemacht, und das Commando aus dem Grunde verstand, das war aber leider ein ganz armer Schlucker, der keine Hufe Landes besaß, und deshalb mußte allerdings von ihm abgesehen werden.

Doctor Levi hatte übrigens später Horneck verlassen, um dem Demokratencongreß in Berlin beizuwohnen, war aber vorher noch nach Wien gegangen, und dort im Belagerungszustand verschollen, wenigstens drang keine Kunde von ihm nach Horneck.

Den Verlust hätten die Hornecker nun allerdings verschmerzen können, ein weit schmerzlicherer stand ihnen aber in der Versetzung ihres Diaconus bevor, dem Pastor Scheidler, aus »Wohlwollen für den Diaconus«, wie er selber sagte, eigentlich aber wohl aus einem anderen Grunde, eine kleine Pfarre in einem ganz abgelegenen Winkel des Rauschenthales verschafft hatte. Der Diaconus war nämlich, um die Sache gleich beim rechten Ende anzufassen, für die Bauern in Horneck ein klein bischen zu gescheut, und – denn das allein wäre kein Fehler gewesen, wenn er es nur gut zu benutzen verstand – als Hauptmißgriff zu offen mit den Leuten. »Denken Sie sich nur, Herr von Gaulitz,« hatte der durch solche Unvorsichtigkeit auf's Höchste bestürzte Geistliche einst zum Gutsbesitzer gesagt, »der Mensch (er meinte den Diaconus) kommt neulich mit einigen Bauern zusammen, die fragen ihn, nach ihrer albernen Weise ›auf's Gewissen‹, was es mit der Trennung der Schule von der Kirche für eine Bewandtniß habe, und ob es wahr sei, daß die Kinder dann gar keinen Religionsunterricht mehr kriegten und »so« aufwüchsen, und der Leichtsinnige redet ihnen das nicht allein gänzlich aus, sondern vertheidigt auch noch die Trennung – ja was sage ich Trennung – das Auseinanderreißen der beiden so innig verbundenen Institute – ja Herr von Gaulitz, versichert den holzköpfigen Bauern gar, daß ihre Kinder dann eine bessere Erziehung bekommen würden, weil der Mann, der sie lehrte, frei seinem eigenen Plane folgen könne, von den Kindern, wenn er sich Achtung und Liebe zu verschaffen wüßte, auch wirklich geachtet und geliebt würde, und nicht der untergeordnete Diener des Geistlichen, wie das jetzt für den ganzen Stand eine wahre Schmach gewesen, mehr sei. – Der Mensch ist wahnsinnig, denn er wüthet gegen das eigene Fleisch und Blut.«

Der Herr von Gaulitz lächelte jedoch damals und erwiederte nur ruhig:

»Mein lieber Pastor, derlei Sachen kennen wir besser; der Diaconus ist jetzt noch ein sehr freisinniger, vielleicht ein für seinen Stand etwas zu freisinniger Mann, aber das giebt sich, Herr Pastor, das giebt sich – nur ein halbes Jahr Pastor und die Saiten haben einen ganz anderen Klang.«

Nach diesem Vorfalle versteht es sich übrigens von selbst, daß der Pastor Scheidler aus allen Kräften dahin wirkte, den Diaconus, der ihm auch die Zeitungen viel zu radical, ja nach seiner Meinung sich selbst zum Republikanismus hinneigend, auslegte, aus Horneck fortzubringen. Die geheimen Conduitenlisten, die er mehr als regelmäßig an das hohe Consistorium einsandte, gaben ihm dazu die beste Gelegenheit. In der aufgeregten Zeit, wo gerade das hohe Consistorium überhaupt, von jeder Seite her den ersten Schlag erwartete, und fortwährend auf dem Sprunge stand, sich in seine ursprünglichen Bestandtheile aufzulösen, gehörte eben auch nur ein Wink, eine Andeutung dazu, um dessen guten Willen und Hülfe im höchsten Grade zu erwerben, und der Diaconus fand sich bald, allerdings als selbstständiger Pfarrer, aber auf einem so ärmlichen, traurigen Winkelchen der Erde, daß es selbst seinen, gewiß bescheidenen Erwartungen nicht entsprach und er einer geraumen Zeit bedurfte, sich nur nothdürftig daran zu gewöhnen.

Eine andere in Horneck vorgefallene Aenderung aber, eine höchst traurige, hatte in der Schule selbst stattgefunden, und zwar nicht für die Schule, sondern für den armen, in ihrem Dienst ergrauten Lehrer derselben, den alten Papa Kleinholz. Der Geist hätte in dem alten Manne vielleicht noch mit den unbedeutenden Beschäftigungen, die ihm oblagen, wie Buchstabiren und Lesen Schritt gehalten, aber der Körper, durch Mangel und Noth geschwächt, von den dürftigen Kleidern nicht einmal warm gehalten, und in der dunstigen Schulstube, die ihm zum steten Aufenthalte dienen mußte, endlich ganz untergraben, hielt nicht mehr aus.

Er wurde bettlägerig und so krank, daß durch die stete Transpiration des Leidenden der Aufenthalt unten in der Schulstube selbst für die Kinder unangenehm, ja sogar schädlich werden mußte, und Hennig sah endlich kein anderes Mittel, als daß er selbst dem alten Manne sein kleines Dachkämmerchen einräumte und hinunter in die dunstige Schulstube zog. Zwar erholte sich Papa Kleinholz, wohl am meisten durch Lieschens aufopfernde und unermüdliche Sorgfalt und Pflege, nach einiger Zeit in etwas, so daß sein Zustand wenigstens nicht mehr als lebensgefährlich gelten konnte, aber an Schulehalten war nicht zu denken – der böse Husten ließ ihn keine zehn Worte hinter einander sprechen; anstrengen oder ärgern durfte er sich nun gar nicht – und Schulmeister sein und sich nicht ärgern, zwei unmöglich von einander zu trennende Sachen!

Eine Weile ließ das der Pastor geschehen, und Hennig nahm sich mit so warmem Eifer der Schule an, daß die Eltern nicht über Vernachlässigung ihrer Kinder klagen durften, da die Arbeiten jetzt ganz auf eines Lehrers Schultern ruhten, wo früher, wenn auch nur dem Namen nach, zwei gewaltet und gelehrt hatten; nach einem halben Jahre aber durfte der Geistliche, wie er meinte, dem hohen Consistorium nicht länger verheimlichen, daß Vater Kleinholz unfähig geworden sei, dem schweren Amt eines Schullehrers mit Erfolg vorzustehen, und deshalb – o wie dem alten armen Lehrer das Herz zuckte, als er das so lange gefürchtete Schreckenswort ausgesprochen hörte – emeritirt werden müßte. – Emeritirt, mit einem Dritttheil seines Gehalts und – sieben Kindern – acht Personen, unter denen sieben kräftig und gesund waren, und Tag für Tag ihre richtigen Portionen Essen verlangten, wenn sie eben nicht geradezu hungern sollten, von fünfzig Thalern jährlich zu ernähren – der Gedanke kam ihm furchtbar vor, und er barg das bleiche Haupt in den spärlichen Kissen, und schluchzte wie ein kleines unglückseliges Kind.

»Das also ist Dein Lohn, Du armer alter Mann – seit sieben und vierzig Jahren hast Du Dich nach besten Kräften und Gewissen für die Kinder abgearbeitet und gemüht – bist Du nicht im Stande gewesen, das zu leisten, was man von einem Manne, der die Jugend zu wackeren selbstbewußten Staatsbürgern heranziehen sollte, vielleicht berechtigt sein durfte zu erwarten, so kann nicht Dir die Schuld dafür beigemessen werden, sondern denen, in deren Interesse es in früherer Zeit gelegen, das Volk in Unwissenheit und Knechtschaft aufwachsen zu lassen, Du thatest Dein Möglichstes, Du hast Dir Nichts, Nichts auf der weiten Gotteswelt vorzuwerfen, Du hast Kummer und Noth die langen langen Jahre hindurch, immer wachsend mit jedem neugeborenen Kind, und zu größter Höhe anschwellend bei der Mutter Tod, ohne Murren, ohne ein einziges hartes beschuldigendes Wort gegen die, welche den Gehalt der Lehrer unter den eines Ackerknechtes stellten, ertragen und nur jetzt, jetzt, da Deinem bleichen vom Kummer durchfurchteten Antlitz auch noch die scharfe Dornenkrone des letzten Entsetzlichen in die Stirn gedrückt wird, da bricht Dir der Schmerz das arme gequälte und zum Zerspringen volle Herz und Du klagst nicht das Schicksal – nicht die Tyrannei der Menschen an, nein Du beklagst nur Dein und der Deinen Loos und bist unsäglich elend.«

Hennig, der in des alten Mannes Stelle eingetreten war, that allerdings was nur in seinen Kräften stand, um dessen Lage zu erleichtern, ja überließ sogar dem alten Manne einen großen Theil dessen, was er selbst mehr bekam, so wenig das auch immer sein mußte; er selbst hatte jetzt aber auch mehr Auslagen, denn seine Kleider, die bis dahin ausgereicht, wurden alt, und er mußte sich neue schaffen, da ihm der Pastor schon mehr als einmal zu verstehen gegeben hatte, der Bauer halte etwas darauf, daß sein Schulmeister einen anständigen Rock trage und seinem Dorf keine Schande mache. Allerdings erwiederte er darauf, »wenn der Bauer das will, weshalb giebt er denn auch nicht dem, der seine Kinder zu ordentlichen rechtlichen Menschen heranbilden soll, so viel, daß es ihm möglich ist, den Magen auch nur einen Tag über dem Rücken zu vergessen?« Er änderte damit aber Nichts, und da ihm selber daran lag, nicht gerade abgerissen in der Pfarre zu erscheinen, mußte er endlich wohl in den saueren Apfel beißen, und sich in die für seine Casse erschöpfende Auslage fügen. Nichts destoweniger ließ er den alten greisen Schullehrer nicht hungern, das Verhältniß zwischen ihnen bestand nach wie vor, und wären die theuren Medicinen nicht gewesen, so hätte Hennig der wirklich Sohnesstelle am kranken Kleinholz vertrat, diesen selbst durch die schwere Winterszeit glücklich durchgeschleppt, so aber reichten selbst die vereinigten Kräfte Beider nicht aus – des alten Mannes karges Stückchen Gnadenbrod war schon auf ein Vierteljahr vorher verzehrt, selbst Hennig einige Thaler in Schulden hineingerathen, und der emeritirte Lehrer sah sich endlich, so ungern er das auch that, dazu gezwungen, um eine Unterstützung, d. h. um eine Erhöhung seiner sogenannten Pension einzukommen, wenn er nicht in Noth und Elend vergehen wollte.

Er baute dabei seine feste unerschütterte Hoffnung auf den »Herrn Pastor Scheidler« – der hatte ihn ja früher oft und oft versichert, er werde wenn er, der Schulmeister, später einmal nicht mehr so recht fort könne, schon Alles thun was in seinen, des Herrn Pastors Scheidler, Kräften läge, ihn zu unterstützen, und die Zeit war jetzt wirklich und in vollem Maaße gekommen. Er konnte nicht allein nicht mehr recht fort, sondern lag sogar ganz und gar, und gab es jemals eine Periode, wo er der Unterstützung von Seiten des Geistlichen bedurfte, so schien das die jetzige.

Er reichte deshalb sein Bittgesuch bei diesem ein, kroch selber, mehr als er ging, auf die Pfarre hinüber, um die Bevorwortung desselben dem Herrn Pastor noch einmal recht dringend an's Herz zu legen, und sank an dem Abend, zwar erschöpfter als je, aber auch nicht wenig beruhigt von dem gütigen Empfang und Wort seines Vorgesetzten, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder mit fast freudiger Hoffnung auf sein Lager nieder.

Was Hennig selbst betraf, so hatte er sich, besonders in letzterer Zeit ungemein eifrig mit der neuen Gestaltung der Schule beschäftigt, und Lieschen, die doch recht gut wußte, wie er Pastors Sophiechen so recht aus innerster Seele liebe, konnte sich gar nicht genug darüber wundern, daß der Schulmeister, wie Hennig jetzt, als in diese Würde eingetreten, schlichtweg hieß, nur allem Anschein nach darauf los arbeitete, sich den Vater seiner Liebsten zum ingrimmigsten Feind zu machen. Das war, das allerwenigste gesagt, nicht im mindesten politisch von ihm, und er hätte das seiner Liebsten schon nicht zu Leide thun dürfen.

In der That hatte Lieschen, von ihrem Standpunkt aus, vollkommen recht und Hennig selber fühlte, wie er sich dadurch ein späteres Hinderniß mit eigenen Händen aufbaue, ein anderes, weit gewaltigeres mußte aber erst hinweggeräumt werden, und dann hoffte er auch dieses, als das viel unbedeutendere mit fröhlichem Herzen zu beseitigen. Wie die Verhältnisse jetzt nämlich standen, blieb es sich, in Bezug auf seine Aussicht, Pastors liebliches Töchterlein je als sein liebes Weib nicht in diese Schulwohnung, aber doch wohl in eine bessere Stellung einzuführen, ganz gleich, ob ihm der Vater gewogen war oder nicht, denn an eine Verbindung seiner Tochter mit nur einem Schulmeister dachte dieser so wenig wie das Mädchen wahrscheinlich selbst, das, wenn es den jungen Mann auch wirklich gern sah, doch viel zu genau die ärmlichen, drückenden, abhängigen Verhältnisse kannte, in denen ein deutscher Schullehrer zu leben gezwungen sei, um irgend eine Neigung zu spüren, eine solche Existenz je mit ihm zu theilen. Ja, Hennig hätte ihr das, wäre sie selbst dazu geneigt gewesen, nicht einmal zumuthen, es nicht einmal dulden mögen, und seinem schönen Ziel, der Schule eine unabhängige Gestalt zu gewinnen und den Lehrerstand zu heben, lag jetzt noch ein neuer, ihn zu voller Aufopferung treibender Beweggrund unter, da er mit diesem auch vielleicht die Hoffnung seines eigenen Herzens erreichen konnte. Stand er erst einmal als unabhängiger Lehrer, mit liberalem und zum Leben genügenden Gehalt nicht mehr unter, sondern neben dem Geistlichen, – war ihm die Jungfrau selber dann nur nicht abgeneigt – (und grüßte sie ihn nicht gerade immer so freundlich wie keinen weiter im ganzen Orte?), so vergaß der Pastor auch bald den Unwillen, den er jetzt nur über das Streben des Lehrers fühlte, und sicherlich nicht auf das Errungene ausgedehnt hätte.

Daß Sophie einen Fremden, ja gar den Flüchtling liebe, aus dessen Händen er sie einst selber befreit, konnte er dabei natürlich nicht ahnen, still und unberührt stand der Stern noch für ihn am Himmel seines Glücks, und jeder Abend, der ihn träumend auf seinem Lager fand, schloß ihm die müden Lider mit dem leisen, hoffenden Gebet – Sophie!

Achtes Kapitel.
Das Geständniß.

Nöthig möchte es jetzt sein, einen, wenn auch nur flüchtigen Blick auf das Leben Wahlerts, den wir zuletzt bei seiner glücklichen Flucht aus den Händen des Gerichts gesehen, zu werfen.

Marie hatte ganz recht gehabt, als sie ihn damals in der Stunde der Befreiung zugerufen, »nur an einem Kopf zu klugen Rathschlägen, fehle es in der Residenz, nur an einem Arm, das Banner der Freiheit voran, in die Reihen der Feinde zu tragen« – seiner Ankunft, seines donnernden Wortes hatte es nur bedurft und das Volk, das schon von außen angeregt, und in Gährung gehalten war, brach aus in einem gewaltigen und deshalb fürchterlichen, weil fester geregelten Sturm. Das Ministerium fiel und Männer des Volks wurden jauchzend auf dessen Schultern zu dem erledigten Ehrenposten getragen.

Wahlert besonders hatte man vor Allen im Auge, die Stellung eines Ministerpräsidenten auszufüllen, dieser aber weigerte sich das Amt, das ihn in seiner schwierigen Verantwortung an den einzigen Ort fesseln und seine ganze Thätigkeit auf dieß eine kleine Land concentriren würde, anzunehmen. Wohl war er von schönster Hoffnung für ein einiges freies Vaterland beseelt, wohl hielt er seine Landsleute für eben so reif und tüchtig wie Frankreichs heißblütigeres Volk, im jetzt zusammenberufenen deutschen Parlament die Souverainetät derer zu erklären, die man bis dahin gewagt hatte, Unterthanen zu nennen, und die – das viel schlimmere, es wirklich gewesen waren, aber dennoch konnte er sich nicht verhehlen, daß der bei weitem größte Theil der Anregung noch zu sehr und unausgesetzt bedürfe, während wiederum eine kleine Schaar, wie ein paar rennlustige Pferde, das Zeichen zum Auslauf gar nicht erwarten konnten und nur in einem fort Zaum und Halter zersprengten, Seil und Markpfahl niederwarfen, und an Mähne und Nüstern zurückgehalten werden wollten, um nur nicht in ihrem blinden unverständigen Eifer da zu verderben, wo sie zu nützen, da einzustürzen, wo sie zu bauen suchten.

Kaum sah er also die Dinge in der Residenz wieder einen geordneten ruhigen Gang gehn – denn Frieden mußte im Reiche herrschen, bis die Nationalversammlung in Frankfurt das Wort gesprochen, das die Throne stürzen und die acht und dreißig Scepter mit einem Schlage zerbrechen sollte – so zog er auf seinen fröhlichen Pilgerflug durch das Land aus, nicht um die Einheit des deutschen Volkes zu befördern, denn dessen bedurfte es nicht mehr – es fühlten Alle, daß nur in Einigkeit ihre Kraft lag, – sondern immer mehr zu befestigen und mit jener heiligen Liebe für das Vaterland zu beseligen, die sie freudig für dieses selbst das eigene Leben opfern ließe.

Eine Zeitlang hörte man Nichts mehr von ihm in Horneck, einmal hieß es nur, er sei in Wien gewesen, habe dort auf den Barrikaden der äußeren Vorstädte gegen die schwärmenden Kroatenhaufen gekämpft und wäre dann, als die Truppen in die Stadt eingezogen, mit Lebensgefahr zwar, aber doch glücklich nach Berlin entkommen – das Gerücht hatte wenigstens in der Pfarre – vielleicht nach einem Brief aus der Residenz – seinen Ursprung gefunden. Jetzt waren wieder wohl zwei volle Monate vergangen und der Mann, der damals die stillen Bewohner von Horneck zum ersten Mal ein wenig aus ihrer Lethargie emporgerüttelt hatte, schien vergessen.

Vergessen? – ja, von der großen Menge vielleicht, vor deren Augen Wahlert, wie ein leuchtender Strahl nur einmal vorüber gezuckt und dann verschwunden war, zwei Herzen aber schlugen in Horneck, für die keine Stunde des langen, langsam schwindenden Tages verging, an dem sie nicht still und sehnend seiner gedacht und nicht gebeten hätten, daß Gott sein theures liebes Haupt beschützen möge.

So vollkommen eines jene beiden Wesen aber auch in diesem einen Gefühl, dieser heimlichen, heiligen Liebe für den Fernen sein mochten, so verschieden gestellt waren sie in jeder andern Hinsicht des Lebens, und Sophie, des Pfarrers Töchterlein, hatte noch nie auch nur eine Sylbe gegen Marie, des armen Musikanten Tochter, von dem erwähnt, was sie doch, o wie gern, in das Herz einer wirklichen Freundin ausgeschüttet hätte. Und dennoch war Marie fast täglich in ihres Vaters Hause, wo besonders in letzter Zeit viel für die Kinder zu nähen und arbeiten gewesen, dennoch schien Sophie in jeder anderen Hinsicht volles Vertrauen zu dem armen leidenden Mädchen gefaßt zu haben, und behandelte sie eher wie eine Verwandte als eine Fremde, die eine Lohnarbeit bei ihr gesucht und gefunden. Nur in diesem Punkte blieb ihr Mund gegen das ernste, so wehmüthig schauende Kind verschlossen, denn seit jenem Tag, an welchem eben Marie ihr die Kunde von der drohenden Gefahr des Geliebten gebracht, war es ordentlich, als ob eine ihr selbst unbewußte Scheu sie hindere, auch nur den Namen Wahlerts vor ihr auszusprechen.

Marie, die sich, ihrem äußeren Aussehn nach, etwas wohler zu befinden schien als früher, und auch durch Sophiens Hülfe anständiger gekleidet ging, brach das Schweigen über den Abwesenden eben so wenig; kein Wort kam, selbst jenen Abend betreffend, über ihre Lippen und was die Herzen in ihrer stillen Tiefe auch bergen mochten, der Mund gab dem Gefühle keine Worte.

In den letzten Tagen des November 1848 war es, daß die beiden Mädchen auch einmal wieder zusammensaßen und an einem warmen Rock für Sophiens Mutter nähten, denn das Haidekraut blühte gar so schön und roth draußen, und das kündete strenge Kälte, der man doch wenigstens begegnen mußte; als der Pastor plötzlich mit einem Brief in der Hand in's Zimmer trat, und der Tochter ankündigte, daß er Nachricht von dem jungen Wahlert, dem Sohn des Herrn Generalsuperintendenten erhalten habe – es gehe ihm gut, und er hoffe bald Horneck wieder zu sehn – er bemerkte gleich darauf die Fremde, brach kurz ab, ging zu seiner Tochter hin an's Fenster und verließ mit dieser, die es aber wohl vermied ihr Antlitz Marien zuzuwenden, das Zimmer.

Marie ließ die Hände in den Schooß sinken, saß mehrere Minuten mit todtenbleichen erregten Zügen da, und starrte still und schweigend vor sich nieder.

»Er kehrt nach Horneck zurück!« flüsterte sie endlich leise mit kaum sich bewegenden Lippen – »nach Horneck wo« – sie brach plötzlich ab, barg nach kurzem Sinnen das Antlitz in den Händen und gab sich mit so peinlicher Spannung ihren Gedanken hin, daß man, wie ihr das Herz auch laut und stürmisch schlug, kaum doch ihr Athmen bemerken konnte, hätte nicht das Zittern ihres ganzen Körpers ihr Leben verrathen, die Gestalt selbst mußte einer todten regungslosen Statue gleichen.

Endlich schien es, als ob sie sich gewaltsam zu sammeln suche – sie stand auf, legte ihre Arbeit auf den Stuhl, auf dem sie gesessen, und trat an das Fenster, das auf den stillen Friedhof hinausschaute.

»Weshalb quäle ich mich denn eigentlich immer und immer wieder nur mit meiner eigenen unbegründeten Furcht,« flüsterte sie endlich und strich sich die Hand fest und schnell über die bleiche, marmorkalte Stirn – »Furcht! – und darf ich da auch noch fürchten? ist mir denn überhaupt auch nur eine Hoffnung geblieben? – Er erschrak, als er damals meine Stimme hörte – er verachtet die – Dirne.« – Sie schauderte zusammen, und dicht an die Scheibe gepreßt, daß ihr Hauch das Glas deckte, fuhr sie nach kurzer Pause fort – »Soll ich hier sein Wiederkehren erwarten? – Darf er mich – darf er mich gerade in diesem Hause? – und warum nicht?« sagte sie plötzlich laut, und richtete sich schnell und fast stolz empor – »klang seine Stimme nicht weich und liebend, als er mich mit dem alten traulichen Du anredete, und mich seine arme Marie nannte? – o heiliger Gott, wie gern wäre ich ihm damals an's Herz gesunken und hätte gerufen Franz, Franz, Du hast mir böses schmerzliches Unrecht gethan – unglücklich ist Deine Marie, aber schuldig nie – nie – die Angst um ihn erstickte damals jedes Gefühl für mich selbst – ich weiß nicht einmal mehr, was ich sprach – Sophiens Name –«.

Ihre Hand fuhr krampfhaft nach dem Herzen und ein kurzer schmerzlicher Husten zwang sie, sich niederzusetzen.

Ehe sie sich vollkommen erholte, trat der Pastor wieder ein, und wollte, als er den Husten hörte, das Zimmer wieder verlassen, Marie bezwang sich aber gewaltsam, der geistliche Herr kam näher, ließ sich, ohne das Mädchen, das still ihre Arbeit aufnahm, weiter zu beachten, auf dem Sopha nieder und las die Zeitung.

Von diesem Tage an fühlte sich Marie wieder unwohler wie vorher; als sie Abends ihre ärmliche Heimath erreichte, bekam sie einen leichten Fieberanfall und mußte am nächsten Tage das Bett hüten; der Vater, der in der Woche doch nichts zu thun hatte, und nur Sonntag Abends mit in der Schenke zum Tanze aufspielte, that ihr die kleinen Handreichungen, deren sie etwa bedurfte, kochte das frugale Mahl, eine einfache Kartoffelsuppe, und ließ sie dann mit sich und ihren Gedanken allein, bis er Abends nach zehn Uhr aus der Schenke, wo er so lange bei einem Glase einfachen Bieres gesessen, zurückkehrte.

Drei Tage vergingen so, und im Dorfe wurde es bald bekannt, daß der Doctor Wahlert, derselbe, den die Wilddiebe damals aus der Kutsche gerissen und befreit hatten, und von dem nachher so entsetzlich viel in der Zeitung gestanden, wieder nach Horneck gekommen sei und in der Pfarre wohne. Marie war schon um vieles wohler, ging aber doch noch nicht zu ihrer Arbeit hinauf – der Vater stellte sie mehrmals deshalb zur Rede, sie gab aber ausweichende Antworten, schützte noch peinlichen Kopfschmerz vor und blieb.

So brach der vierte Morgen an – es war der letzte Tag im November und ein Donnerstag; das helle Tagesgestirn schien still und feierlich in das ärmliche Gemach des alten Musikanten, und neben dem Fenster, auf dem einzigen hölzernen Stuhle, der in der Stube stand, saß Marie, und schaute träumend nach den gegenüberliegenden grauen Strohdächern einer langen Reihe alter, halbverfallener Scheunen hinüber, als es plötzlich rasch und lebhaft an die Thüre pochte, und sich diese, selbst vor dem einladenden »Herein«, schnell öffnete.

»Fräulein Scheidler!« rief das Mädchen, überrascht von ihrem Stuhle aufstehend.

»Hab' ich Sie doch beinahe gar nicht gefunden, liebe Marie!« sagte Sophie, freundlich ihre Hand ergreifend, »Wie geht es Ihnen? – Sie sehen viel besser, ordentlich roth und wohl aus – warum haben Sie sich so lange nicht bei uns sehen lassen? Sie waren doch nicht ernstlich krank? – Ach, ich wäre so gern schon früher einmal herüber gekommen, aber – aber wir haben Besuch im Hause, und da giebt es so viel zu thun, so viel zu besorgen, daß man wirklich manchmal gar nicht weiß, wo Einem der Kopf steht.«

»Ich hörte eben, daß sie Besuch hätten,« sagte Marie leise, »und fürchtete eben zu stören, auch –«

»O nicht im Mindesten, gutes Kind,« unterbrach sie rasch und erröthend das liebe Mädchen, »wir – wir werden Ihre Hülfe überdies vielleicht recht bald und ziemlich bedeutend in Anspruch nehmen – ich habe einige recht nothwendige Arbeiten vor.«

»Ich bin wirklich unwohl gewesen,« fuhr Marie, den Antrag zu vermeiden suchend, fort – »so unwohl, daß ich fürchte, kurze Zeit wohl noch der Ruhe pflegen zu müssen, ehe ich es wieder wagen darf, eine bedeutendere Arbeit zu unternehmen.«

»O Sie dürfen mich nicht im Stiche lassen,« bat Sophie – »ja nicht, liebe gute Marie, ich habe ganz fest auf Sie gerechnet – nicht wahr, Sie machen es möglich? –«

»Könnte ich da nicht vielleicht« – sagte Marie zögernd – »die Arbeit zu mir in's Haus bekommen? – Vielleicht ging es hier.«

»Aber Sie haben da – Sie haben da gar keine Bequemlichkeit«, erwiederte Sophie, und warf einen halb scheuen, halb mitleidigen Blick in dem kleinen, leeren, unbehaglichen Gemach umher. –

»Ich kann mich hier niederlegen, wenn mich das Sitzen angreift,« entgegnete das Mädchen – »ich bin ungestörter – und werde schneller arbeiten.«

»Nun gut, wir wollen uns darüber nicht streiten,« beruhigte sie Sophie – »machen Sie das, wie Sie wollen, liebes Kind – aber – kann ich Ihnen nicht vielleicht mit irgend etwas –«

»Ich danke Ihnen herzlich,« unterbrach sie, ihre freundliche Meinung verstehend, Marie, »ich habe, durch Ihre Güte, für jetzt Alles, was wir brauchen – und das ist genug – Ihnen geht es gut jetzt – Sie sehen recht wohl und fröhlich aus.«

»Mir geht es recht gut, liebe Marie, ich danke Ihnen,« sagte Sophie freudig – »mein Leben scheint sich auch ganz gut und glücklich zu gestalten – das wenigstens, was meinen Himmel bis jetzt getrübt, ist verschwunden.«

»So?« frug mißtrauisch und schnell des Musikanten Tochter – »plötzlich verschwunden? –«

»Seit gestern,« erwiederte fröhlich lächelnd Sophie auf die Frage – »rathen Sie einmal, Marie, was ich jetzt bin?«

»Was Sie jetzt sind?« wiederholte erstaunt und mit stockenden Herzschlägen Marie – »was Sie jetzt sind? ich begreife die Frage nicht?«

»Nun, die ist doch einfach genug,« lachte Sophie – »blos was ich bin, sollen Sie rathen, und rathen deshalb, weil Sie's eben noch nicht wissen.«

»Nun denn, des Herrn Pastor –«

»Ach lari fari,« unterbrach sie scherzend die Jungfrau – »das will ich nicht wissen, mehr – höher hinauf.«

»Höher hinauf – die Wohlthäterin des halben Dorfes.«

Sophiens Hand lag im Nu auf des Mädchens Lippen.

»Das ist gegen die Abrede,« rief sie rasch, »ordentlich gerathen, aber höher hinauf.«

»Ich bin es nicht im Stande,« sagte Marie mit leiser, eintöniger Stimme.

»Glaub' es,« tönte die fröhliche Antwort, »denn es kommt mir selbst überraschend genug, und so will ich es Ihnen denn rund heraus und einfach sagen, aber – vorher die Hand darauf, Sie sprechen zu keinem Menschen mit einer Sterbenssylbe davon?«

Marie reichte ihr schweigend die Hand.

»Nun denn, wissen Sie, was ich bin? – Ich bin Braut – nun Herr Gott, was erschrecken Sie denn so, das ist doch Nichts so Erschreckliches?«

»Nein – in der That nicht,« erwiederte Marie mit erzwungenem Lächeln – »da wünsche ich – wünsche ich Ihnen recht herzliches Glück – recht herzlichen Segen. Aber – mit wem?«

»Mit wem? nun mit Wahlert –«

»O!« rief Marie, und sprang rasch nach dem Fenster, an dessen Gesims sie sich festhielt.

»Was ist da?« frug Sophie und folgte ihr – »was gab es da?«

»Das Kind dort – wäre – wäre beinahe unter den Wagen gekommen – das unvorsichtige,« sagte Marie und deutete, während es sich wie ein schwarzer Flor um ihre Augen zog, nach der Straße hinunter.

»Welches? Der Knabe da?« frug erstaunt Sophie – »nun seh' Einer den kleinen kecken Kerl an, da steht er noch ganz ruhig und schaut hinter dem Wagen her, als ob gar Nichts vorgefallen wäre – aber ich habe Ihr Versprechen, Marie?«

»Ich will schweigen wie das Grab,« erwiederte die Arme.

»Aber nur nicht so ernst – der Brautstand ist eine fröhliche Zeit, und da muß man auch fröhliche Gesichter um sich haben. Also mit meinem Brautkleide lassen Sie mich nicht sitzen, morgen komm ich wieder herunter und da wollen wir das Nähere darüber besprechen – oder Sie kommen zu mir herauf. – Ach ja, liebe Marie – nicht wahr Sie kommen? Sie haben den Doctor Wahlert ja auch schon früher gesehen und sich selbst für ihn interessirt, weil er die Rechte des armen Mannes so vertrat.«

»Aber Wahlert,« sagte Marie endlich gesammelt, und mit fester, jedoch noch immer leiser, fast furchtsamer Stimme, als ob sie sich scheue, selbst den Namen des, ach so heiß geliebten Mannes auszusprechen – »Doctor Wahlert war ja von seinem Vater, dem Generalsuperintendenten, verstossen – der Vater hatte sich losgesagt von dem Sohne, und wollte ihn nicht wiedersehen, bis er seine politische Meinung geändert habe, und hat er das gethan?«

»Ei bewahre, mein liebes Kind,« erwiederte ihr freundlich Sophie, »das thut er nie, doch müde ist er geworden des nutzlosen Ankämpfens gegen Menschen, die, wie er uns gestern sagte, aus ihren Schreibstuben heraus oder hinter der Hobelbank vorgesprungen sind, und nun blind in's Geschirr hinein politisiren, und alle befehlen, aber keiner gehorchen wolle – müde ist er's, für ein Volk zu kämpfen, das nicht einmal selbst den eignen Arm zu seinem Schutze erheben will und in einem kleinen Theil ihn unterstützt, in einem anderen ihn anfeindet. Ja seine eignen Freunde sind gegen ihn aufgetreten, weil er nicht die Republik mit Bürgerblut beginnen wollte, sondern sie auf den Volkswillen zu gründen strebte. Er wird ganz traurig, wenn er nur von unseren Verhältnissen reden hört, und will jetzt nach Amerika auswandern.«

»Nach Amerika,« flüsterte leise Marie.

»Sein Vater hat ihm selber den Vorschlag gemacht, den er mit Freuden ergriff – denken Sie sich nur, Marie – ich gehe mit nach Amerika – hätten Sie dazu den Muth?«

Marie konnte sich nicht mehr helfen, sie barg das Antlitz in den Händen und lehnte sich, um nicht zu stürzen, an das Fensterbret.

»Nun so fürchterlich ist es auch nicht auf der See,« lachte aber Sophie, die in ihrer Fröhlichkeit die Bewegung des armen Mädchens, das sie unbewußt mit furchtbaren Martern quälte, gar nicht verstand – »aber ich stehe hier und plaudere, wo ich schon lange wieder oben sein sollte, sein Sie nicht böse, Marie – aber lieber Himmel, Sie sind wirklich krank – sehn Sie nur, wie blaß – nein ich schicke Ihnen das Kleid herunter, und dann schneiden wir es hier zusammen zu. Adieu Marie – auf ein frohes Wiedersehn.«

Sie sprang, noch einen Gruß zurückwinkend, die steile dunkle Treppe flüchtig hinab, und Marie blieb in dem kalten leeren Gemach still und allein zurück.

Neuntes Kapitel.
Die Schulvisitation.

Die erste Morgen- und Religionsstunde des Freitag Vormittags war eben vorüber, die Kinder bekamen eine kurze Rastzeit verstattet, um sich erst ein wenig zu sammeln, und die untere Klasse mußte dann in dem einen Theil der Stube still und ruhig auf ihren Plätzen sitzen und zuhören, während der Lehrer mit der ersten seinen zweiten Unterricht, Verstandesübungen, vornahm. Hennig brachte diese Stunde stets nach dem Religionsunterricht, da er diesem, den Schulgesetzen zu Folge, eine volle Stunde zu widmen verpflichtet war, Kinder aber, die noch das eigentliche Wesen Gottes – das wenn wir ihn, den Allliebenden, erst einmal im eigenen Herzen erkennen lernen, uns mit einem so heiligen, süßen aber auch stolzen Gefühl durchschauert – nicht selbst begreifen und empfinden können, sondern nur dadurch in einer gewissen Scheu und Ehrfurcht gehalten werden, daß man ihnen sagt, Gott habe sie erschaffen und sähe Alles was sie Gutes und Uebles thäten, fühlen darin allerdings, sobald ihnen die Gottheit vorgeführt wird, und die Aufforderung zum Gebet zu ihm den Allmächtigen an sie ergeht, einen gewissen Reiz, ja ich will sogar zugeben, ein ahnungsvolles Leben – eine volle Stunde ist aber der Lehrer wohl selten im Stande, sie aufmerksam und gespannt auf das zu erhalten, was sie immer nur glauben, nie begreifen können, und der zu sehr erregte Geist erschlafft.

Zweckmäßig dennoch dünkte ihm eine freiere Unterrichtsstunde, auf die sich die Kinder jedesmal freuten, und der sie sich mit aller Liebe und Aufmerksamkeit hingaben. Hennig sprach hierin nämlich von allerlei, was entweder aus Geschichte und Geographie zufällig zur Sprache kam, oder sonst in das wirkliche Leben eingriff, und that dann Kreuz- und Querfragen an die Kinder, die sie ihm nach besten Kräften beantworten mußten. Allerdings kam da oft wunderliches Zeug genug zur Sprache, denn viele der Knaben waren mit einer so hartnäckigen und fabelhaften Dummheit gesegnet, daß, wenn nur irgend Wahrheit in Sprichwörtern liegt, ihnen ihr künftiges Glück in der Welt gar nicht hätte entgehen können; oft lag aber auch ein tiefer, ich möchte sagen instinktartiger Sinn in anscheinend verkehrten Antworten, und anstatt dann, wenn sie nicht auf die Fragen paßten, darüber hinzugehn, wie das leider fast stets von den Schullehrern geschieht, ging er vielmehr selbst auf die Sache ein, forschte nach der Ursache, die den Knaben zu solcher Antwort geführt und berichtigte oder ermunterte, wie es nun gerade der Fall verlangte.

Eine Störung trat übrigens, gerade vor dem Beginn der Stunde ein, ein Bauer trat in die Schulstube, und schleppte seinen Jungen, einen dicken, runden, schmutzigen, vierschrötigen, blondhaarigen und blauäugigen, etwa fünf Jahr alten Bengel, der sich verschämt und ängstlich an seine Rockschöße klammerte, und mit Händen und Füßen gegen jede Bildung und Cultur auf das Entschiedenste anstrampelte, hinter sich her zum Schulmeister hin, faßte seinen Jungen ohne weitere Umstände beim Kragen, stellte ihn mit dem verdrossenen und verweinten Gesicht ruhig vor den Schulmeister hin und sagte:

»Hiar, Schulmeester – hiar bring ich main Aelsten, der Bängel hat sich schonst lange gäwinscht in die Schule zu kummen – macht mer was Gescheit's aus'em – ufgenummen hat'en der Herr Paster schunst – er is nur noch en Bischen verschreckt.«

»Schon gut, Schönel« sagte Hennig, »ich will mein Bestes versuchen – komm Kind, fürchte Dich nicht, es geschieht Dir Nichts – sei brav und setze Dich da drüben auf die Bank – komm – sieh mir einmal in's Gesicht.«

»Ich will aber niche!« heulte der Junge.

Die anderen lachten. –

»S'is en Wetterbängel« grinste der Vater, und freute sich augenscheinlich über die Charakterfestigkeit seines Sohnes – »kumm, Gottlob – stiah uff sunst krichste 'ne Schälle, daß de Dich rimm und rimm driahst.«

Gottlob schien sich jedoch auf seine Unverletzlichkeit zu verlassen, er zog, da er doch mit einem Beine, seines Schwerpunktes wegen, auf der Erde bleiben mußte, das andere bis ans Knie herauf, drückte sich selber, so weit die breite Faust seines Vaters das zuließ, hinunter, und deckte sich das Gesicht mit dem linken Arm und Ellenbogen.

»Kriate!« sagte sein Vater und hielt die angedrohte Schelle, der sein Sohn auch nicht die mindeste Blöße gab, zurück, schüttelte denselben aber mit solcher Kraft, daß ihm alle Glieder am Leibe zitterten, und in diesem Augenblick wirklich nur noch die engen drallen Kleider, die lederne Hose und blaue Jacke, die kleinen Gelenke zusammen zu halten schienen. Gottlob mußte übrigens an derlei Behandlung schon gewöhnt sein, denn er verblieb, wie aus Blei gegossen in seiner Stellung, und biß nur die Zähne recht fest auf einander, als ob er fürchtete, daß ihm die aus dem Munde fliegen könnten. Hennig legte sich endlich ins Mittel, nahm den Jungen seinem väterlichen Freund und Schützer ab, und trug ihn mehr als er ihn führte auf eine Bank. Dort setzte er ihn hin, redete ihm zu, ein guter Junge und hübsch artig zu sein, und versicherte ihn, daß er in dem Fall auch nicht das Mindeste von ihm zu fürchten habe.

»So is's rächt, Schulmeester,« sagte der Bauer, und schaute wohlgefällig auf seinen heulend dasitzenden Jungen hin – »er werd sich's schonst märken, denn Märks hot er,« und er machte dabei die Bewegung einer Maulschelle, ging dann auf seinen Zögling zu, drückte ihm ein riesiges Butterbrod, das er eingewickelt in der Rocktasche getragen, in die Hand, klopfte ihm freundlich auf den Kopf, versprach ihm auf den Mittag Klöse, wobei die übrigen Jungen einen neidischen Blick auf den Glücklichen warfen, und verließ das Zimmer.

Gottlob blieb von da an still und regungslos, aber auch ohne den Kopf aus dem Arm zu nehmen, auf seinem Platz sitzen, und Hennig ließ das gern geschehen, da er sich doch erst, wie er meinte, an die Schulluft gewöhnen müsse.

Die bis dahin durch diese Unterbrechung gestörte Stunde begann jetzt damit, daß der Lehrer einige Fragen aus der biblischen Geschichte an die Ersten der Klasse that, und sie darauf hinzuleiten suchte, wie Manches, was uns jetzt sonderbar oder vielleicht lächerlich in den alten Gebräuchen und Handlungen vorkomme, durch damalige Verhältnisse bedingt, und dem dortigen Land und Klima anpassend gewesen wäre. Die Antworten, die er freilich manchmal auf seine Fragen erhielt, lauteten oft komisch genug, die Kinder gewöhnten sich aber doch daran, ihnen fern liegende Sachen zu bedenken, und fingen dabei auch nach und nach an einzusehen, daß die Leute in der biblischen Geschichte, die sie sich eigentlich wie lauter Heilige und höchst merkwürdige Wesen gedacht, doch auch nur Menschen mit Tugenden und Fehlern, wie es jetzt deren auch gab, gewesen wären.

Als er so die erste Klasse eine Zeitlang geübt, wandte er sich auch an die Kleineren, und überraschte diese plötzlich mit der, etwas aus der Luft gegriffenen Frage:

»Hört einmal, Ihr da drüben, – Noah hatte drei Söhne, Sem, Ham und Japhet, das wißt Ihr doch?«

»Ja,« lautete die einstimmige, schnell bereite Antwort.

»Nun gut – also wer war nun der Vater von Noahs drei Söhnen – eben von den Sem, Ham und Japhet?«

Die Jungen sahen sich verlegen unter einander an – schwiegen aber.

»Was? – Ihr habt Euch nicht einmal so viel aus der biblischen Geschichte gemerkt, die wir Euch jetzt eine volle halbe Stunde vorgepredigt haben,« sagte Hennig lächelnd – »nun, wartet einmal, ich will Euch die Sache mit einem Beispiele klarmachen. Unseren Nachbar, den Bauer Schultze, kennt Ihr doch Alle mit einander, wie heißt der? –«

»Gottlieb Schultze.«

»Nun gut, der hat, wie Ihr wißt, drei große erwachsene Söhne, den Friedrich, den Jürgen und den Caspar; wer ist also der Vater von Friedrich, Jörge und Caspar Schultze?«

»Gottlieb Schultze,« schrie die ganze kleine Klasse wild und stürmisch durch einander –

»Seht Ihr wohl? Das war recht geantwortet; nun wollen wir uns also wieder zur ersten Frage wenden – Noah hatte drei Söhne, und zwar Sem, Ham und Japhet – wer war also nun der Vater von Noah's drei Söhnen?«

»Gottlieb Schultze!« jubelte der ganze Chor wieder in wilder und lauter Freude, den Nagel jetzt voll und prächtig auf den Kopf getroffen zu haben.

Ein allgemeines Gelächter der ersten Klasse folgte dieser Antwort, die Kleinen saßen verdutzt, und Gottlieb Schönel, der natürlich glaubte, die ganze Klasse hätte weiter Nichts zu thun, als sich um ihn zu bekümmern, und das Lachen gelte auch nur einzig und allein seiner kleinen Person, rückte verdrossen auf seinem Sitz herum, und fing von Neuem an zu heulen.

Die biblische Geschichte hatte durch diese Antwort übrigens einen entschiedenen Stoß bekommen, denn Noahs oder seiner ganzen Familie Name durfte z. B. gar nicht mehr erwähnt werden, ohne daß die halbe Klasse anfing zu kichern, und die andere Hälfte gerade so aussah, als ob sie sämmtlich den bedeutendsten Theil ihres Frühstücks darum gegeben hätte, wenn sie nur einmal so recht von Herzen herausplatzen könnte.

Der Lehrer sprang deshalb auf etwas ganz anderes, und zwar den jetzigen Zustand über, in welchem sich in Deutschland die arbeitende Klasse befände, entwickelte darin, wie Arbeit überhaupt nothwendig sei, die menschliche Gesellschaft unter sich zusammen zu halten, und bewies den Kindern, daß Jeder im Staat, vom König herab bis zum unbedeutendsten Gänsejungen – Gottlob bezog das wieder auf sich, und zog ein nettes Register – einen gewissen Theil und eine bestimmte Arbeit, die auch wieder ihrerseits den Andern zu gute käme, verrichten müßte. Er ließ nun abwechselnd die Knaben auch ihrerseits die Gründe angeben, weshalb sie glaubten, daß es nöthig und nützlich für sie sei, zu arbeiten, und weshalb es besonders schon das Billigkeitsgefühl verlange, ebenfalls etwas für andere zu thun, da Andere doch unausgesetzt für uns selber beschäftigt wären.

Die Knaben schienen das im Anfang nicht recht begreifen zu wollen, es war ihnen unklar, wie sie, besonders aus Billigkeitsgefühl für Andere, zum Beispiel Holz hacken sollten. Hennig aber fuhr fort:

»Arbeitet denn Euer Vater nicht, um einen Euch allgemein bekannten Fall zu setzen, fortwährend für Euch, daß Ihr Speise, Trank und Kleidung habt? – Ist es deshalb nicht recht und billig, daß Ihr auch für ihn mit Hand anlegt, und Alles thut, was in Euren Kräften steht, ihm wieder dafür zu helfen? Arbeitet nicht auch z. B. der Schneider für Dich, Christian?«

»Ja,« sagte der Junge, und schlenkerte dabei vergnügt mit den Beinen.

»Gut, also versteht es sich von selbst, daß Du für ihn, oder andere Menschen, die es bedürfen, ein Gleiches thust; es ist dies das Band, wodurch die menschliche Gesellschaft mit einander verbunden wird, und im Stande ist, als ein geselliges Ganzes zu existiren.«

»So arbeitet also auch der Schuhmacher für Dich, Leberecht?«

»Ne!« grinste Leberecht, und verzog das Maul von einem Ohre bis zum anderen. – Die Anderen lachten laut auf.

»Nein? – und weshalb nicht?« frag Hennig, selber lächelnd –

»Vater hot' en de letzten Stiebeln noch nich bezahlt.«

Hennig mußte sich Mühe geben ernsthaft zu bleiben, bewies aber auch dem Knaben dadurch gleich um so verständlicher, daß nun sein Vater ebenfalls für den Schuhmacher arbeiten müsse, bis er mit dem, was er leiste, einen gleichen Werth dessen erreicht habe, was für ihn oder seinen Sohn geleistet worden.

Gottlob hatte indessen mehrere Male, zur nicht geringen Belustigung der übrigen Schuljugend, versucht heimlich zu desertiren, fand aber, auf einen Wink des Lehrers, die beiden schmalen Pässe, die zur Stubenthür führten, stets so stark vertheidigt, daß an einen gewaltsamen Durchbruch gar nicht zu denken war. Auf seine Bank zuletzt ganz ernsthaft hingewiesen und jetzt sogar, wenn er gar nicht gehorchen wolle, mit einer Züchtigung bedroht, saß er eine Weile still und verdrossen da, ließ die Unterlippe bis weit auf's Kinn herunter hängen, wischte sich den thränenfeuchten Schmutz auf eine immer bedenklichere Weise im Gesicht herum und presste das »Butterbrod,« dessen papierne Hülle schon lange heruntergefallen, so fest zusammen, daß es weit auseinanderklaffte, und vor Schmerz das inwendig aufgestrichene Pflaumenmuß (der Name Butterbrod war nämlich, obgleich all' die Mußbrödte so genannt wurden, nur eine Schmeichelei) preiszugeben schien. Endlich mußte er aber zu einem Entschluß gekommen sein; er stand auf, sah sich ein paar Mal mit wildem schüchternen Blick im Kreise um, ging dann in einer Art verzweifelten Trotzes auf den, lächelnd zu ihm niederschauenden Lehrer zu, blieb vor ihm stehen, hielt ihm sein Brod entgegen, und sagte weinerlich aber ziemlich laut:

»Hier, Herr Hennig – hier hast De meine Bemme, aber laß mich giahn.«

Armer Gottlob, auch selbst dieser Versuch der Bestechung gelang Dir nicht, Du wurdest fürchterlich ausgelacht und mußtest auf einem kleinen Bänkchen links am Fenster den übrigen Theil der Morgenstunde ruhig und schweigsam mit ausharren.

Wieder mit seinen Fragen wechselnd, kam Hennig jetzt auch auf die Bewegung der Erde um ihre eigene Axe und um die Sonne herum zu sprechen, und darüber waren denn freilich die Begriffe der Knaben noch sehr verworren. Er wollte ihnen das allerdings damit beweisen, daß er anführte, wie ein in einen Reif gestelltes Glas Wasser ebenfalls um den Kopf geschwenkt werden könne, ohne einen einzigen Tropfen Wasser zu verlieren, ein paar der Knaben hatten das aber schon versucht und meinten, sie hätten das Glas mit dem Wasser durch die Fensterscheibe »geschlengert«. Er mußte es ihnen – und hierfür fing sich auch Gottlob an zu interessiren – endlich vormachen, und wie er das bewiesen, frug er den ihm nächst Sitzenden, woher seiner Meinung nach das Drehen der Erde herrühre.

Müller saß mäuschenstill, antwortete keine Sylbe und starrte nur in eifrigem Nachdenken stier vor sich nieder. –

»Nun, Müller, was glaubst Du, ist die Ursache, daß sich die Erde dreht?« frug der Lehrer noch einmal.

»Hahaha,« sagte der endlich – »ich wißt's wohl.«

»Nun heraus mit der Sprache; wenn Du's weißt, brauchst Du Dich doch nicht zu scheuen, es zu sagen? Also was dreht die Erde?«

»Das Wasser« – erwiederte verschämt der Knabe.

»Hm,« erwiederte ihm Hennig lächelnd, während die anderen Schüler hochaufhorchten, als ob ihnen jetzt auf einmal ein großes Geheimniß klar geworden wäre – »das klingt gar nicht so übel, und Du hast das für Dich, daß Dir hier im Dorfe wohl kaum einer den Gegenbeweis würde liefern können. Was aber hat Dich auf den Gedanken gebracht, und wie willst Du mir für diese Vermuthung einen Grund angeben?«

»Ih nu siahn Se, Herr Hennig –« sagte der Junge und sah verschämt vor sich nieder, »unsere Rausche, die fließt gerade su, wie mein Vater sin Mühlwehr, un das treibt ooch en Rad, wo's driber hinleeft. – Nu leeft doch die Rausche über de Erde hin un Sie han uns neilich verzehlt, daß es noch veele greßere Flisse gebe, un daß das Meer ooch so flesse wie de Rausche, nur daß man's draußen nich so siahn kennte, un da – da han ich mir gedacht, das triebe de Iharde.« (Erde.)

»Die Erklärung ist allerdings gar nicht so übel,« erwiederte ihm Hennig, »dennoch aber nicht richtig, denn –«

Die Thüre wurde in diesem Augenblicke aufgerissen und einer der Schüler, der vor wenigen Minuten darum gebeten hatte, einmal herausgehen zu dürfen, stürzte wieder herein und schrie mit verdutztem und erschrecktem Gesicht:

»Der Härr Suprindent un der Härr Paster!«

Die Jungen fuhren sämmtlich wie durch einen elektrischen Schlag getroffen, von ihren Sitzen in die Höhe, des Lehrers donnerndes »Ruhe!« bannte sie aber bald wieder auf ihre Plätze nieder, und der, der mit solcher Nichtachtung jeder Sitte und jeden Respects hereingebrochen war, mußte zu seinem Entsetzen und gerade in solchem entscheidenden Augenblicke auf dem Strafplatze neben dem Ofen stehen bleiben.

Im gleichen Angenblicke ging aber die Thüre auf und der Superintendent, welchem die gewöhnliche Schulinspection oblag, trat mit dem, sonst so ernsten und stolzen, jetzt aber auf einmal ungemein freundlichen und geschmeidigen Pastor in's Schulzimmer. Er grüßte den Schullehrer höchst herablassend, aber nur mit etwas vornehmem Kopfnicken, winkte den Kindern, die sich erst niedergesetzt, und die, wie aus der Pistole geschossen, von ihren Sitzen wieder emporfuhren und in den gewöhnlichen monotonen Lauten ihr »Guten Morgen Härr Suprindent!« – und dann nach kaum athemlanger Pause in demselben Tone »guten Morgen Härr Paster!« riefen, freundlich sich niederzulassen, und sagte dann, die Hand gegen den von seinem niederen Katheder herunter tretenden Schullehrer schwenkend, ziemlich ernst:

»Fahren Sie fort, Herr Hennig – lassen Sie sich nicht stören rrrrrr.« – Der Herr Superintendent schnarrten ein wenig hinter jedem Satze und die Jungen hätten gern gelacht, nur der Respect und die übergroße Angst verboten das.

»Die Stunde ist beendet, Herr Superintendent,« erwiederte aber Hennig, »ich glaube sogar, daß ich schon einige Minuten darüber gehalten habe.«

»Ah – und was ist Ihre nächste Lection? – dürft' ich um Ihren Unterrichtsplan bitten – rrrrr?«

»Mit Vergnügen,« sagte Hennig, schob den schrägen Deckel seines Schreibpultes empor, nahm ein zusammengelegtes Papier heraus und übergab es dem frommen Herrn.

»Hm – gut – nicht übel – hm – ja – Verstandesübungen – Verstandesübungen rrrrrrr – Verstandesübungen – die haben Sie ja alle Tage, und Religionsstunden nur eins, zwei, drei, vier Mal – etwas ungleich vertheilt, Herr Hennig, etwas ungleich vertheilt – Sie ändern das vielleicht – rrrrrre!«

Hennig biß sich auf die Lippen, erwiederte aber Nichts. –

»Sie haben also jetzt Schreibestunde?«

Der Lehrer verneigte sich.

»Bitte, dürft' ich Sie einmal um die Schreibebücher ersuchen – ah, da kommen sie schon; sehr schön, mein Knabe – leg' sie nur daher – wie heißt Du – rrrrrrr?«

»Iche?« – lautete die Gegenfrage als Antwort.

»Ja, Du.«

»Berner's Christoff.«

»Hm – gut – das ist die erste Klasse, nicht wahr – rrrrrr? – hm, hm, hm, das sieht nicht zum Besten, hm, hm – sehr flüchtig geschrieben – hm – sehr flüchtig, und gar nicht sauber – rrrrrrrr! – hm – wem gehört denn das Buch hier – rrrrr? – Hans Müller? – Hans Müller, komm einmal her zu mir! – wer hat denn hier den Kleks auf die Zeile gemacht, he – rrrrrr? – und wer denn da, rrrrrrrr? – und wer denn da, rrrrrrrrrrrr? – Hans Müller, stell' Dich einmal dahinter an den Ofen zu dem anderen bösen Knaben, und bleib da stehen, bis ich wieder fort bin, rrrrrr – und wie ist das geschrieben – rrrrrrr? – sieht das nicht aus, als ob die Hühner und Gänse darauf herumgekrappelt hätten, he – rrrrrrrr?«

Hans Müller stand wie aus den Wolken gefallen – Herr Hennig hatte ihn bis jetzt vor allen Uebrigen, gerade seines Schreibens wegen, immer gelobt und ausgezeichnet, und jetzt –

»Nun wird es – he?« – fuhr ihn da der gestrenge Herr Superintendent an – »Herr Hennig, ich muß gestehen, daß ich mehr Gehorsam in ihrer Schule erwartet hätte, rrrrrrr – wir haben noch keine Emancipation Herrrrrrrr, daß wir jetzt schon oben hinausthäten, als ob wir alleiniger Meister in der Schule wären, rrrrrr – noch keine Emancipation Herr Hennig, noch keine Emancipation, und werden sie auch, mit Gottes Hülfe, im Leben nicht kriegen – rrrrrr. – Hm – das sieht etwas besser aus, aber auch eine unbestimmte flüchtige Hand – keine Methode – keine Methode – muß besser werden, viel besser werden, hm, hm, hm rrrrrrrrr.«

Die Schreibbücher wurden einer höchst scharfen Kritik unterworfen, beinahe in jedem sah Sr. Ehrwürden etwas zu tadeln und zu rügen, und nur Einer – ein Einziger fand Gnade vor seinen Augen, und dieser – Hennig konnte ein Lächeln, das sich auf seine Lippen stahl, kaum zurückhalten, als der Herr Superintendent dem dümmsten Jungen seiner Klasse so freundlich die runde apfelrothe Backe streichelte. Es war der älteste in der Klasse, ein Bengel, der, trotz Ermahnungen und Schlagen, in seinem dreizehnten Jahre kaum eine erkennbare, aus Nichts als Grundstrichen bestehende Schrift schrieb, das aber gefiel dem frommen Herrn; er sah darin eine feste männliche Hand, klopfte dem Jungen – sein Vater war zufällig der reichste Bauer in Horneck und stand mit dem Herrn Superintendenten in ziemlich naher Geschäftsverbindung – freundlich auf die Schulter, und ermahnte ihn, in Fleiß und Eifer so fortzufahren wie bisher, rrrrrrrrrrrrr.

Als dies beseitigt war, flüsterte der Pastor dem frommen Herrn etwas in's Ohr, dieser nickte beifällig mit dem Kopfe, wandte sich dann an den Schullehrer und sagte:

»Dürfte ich Sie bitten, Herr Hennig – Ihr Buch – ich wünschte eine kleine Religionsstunde zu halten – hm.«

»Wir haben heute Morgen schon Religionsunterricht –«

»Ich weiß es, ich weiß es – bitte – so schön – hm.« –

Und der Herr Superintendent ließ sich, die Klemmbrille fest auf die Nase gedrückt, hinter dem Katheder nieder, faltete die Hände über den aufgeschlagenen Katechismus, warf einen andächtigen Blick zur getünchten Decke empor – hustete und räusperte sich und sprach dann mit weicher, andächtiger Stimme:

»Betet, lieben Kinder – Vater unser, der Du bist im Himmel –«

»Geheiliget werde Dein Name!« fiel das Chor, den gewonnenen Anlauf rasch benutzend, ein, und das Gebet des Herrn sagten sie mit so richtigem Ausdruck und so guter ruhiger Ordnung her, daß sich der Herr Superintendent nicht erwehren konnte, einige Male beifällig mit dem Kopfe zu nicken.

Nachdem dies beendet, ging er auf den Katechismus über, und that hier die wunderlichsten Kreuz- und Querfragen, so daß die Schüler, in dem Fach überdies nicht ganz fest, da Hennig es nicht für nöthig hielt, mit dem Auswendiglernen einer Masse von Sprüchen zu quälen und zu ermüden, anfingen, ängstlich zu ihrem Lehrer aufzuschauen und eins um's andere mit Glanz feststaken. Die Stirn des Herrn Superintendenten umfinsterte sich dabei mehr und mehr, auch der Herr Pastor schüttelte ein paar Mal sehr bedenklich mit dem Kopfe und einem losbrechenden Unwetter wurde wohl nur durch ein paar gute Antworten der ersten Mädchenklasse vorgebeugt, von denen besonders die eine, des Wirths Tochter aus Horneck, eine so fatale Rückfrage that, daß sich der Herr Pastor und der Superintendent verlegen dabei ansahen, und rasch auf ein anderes Kapitel übersprangen.

»Gott ist ewig!« sagte der Herr Superintendent und wandte sich damit an einige Kleineren in der Klasse – »wißt Ihr was das heißt – Du da – hm.«

»Er hat keenen Anfang gehabt,« sagte der, auf dem sein Blick ruhte, indem er mit Zittern von seinem Sitze aufstand – »so kann er auch kein Ende haben, und was keinen Anfang und kein Ende nich hat, das ist ewig.«

»Gut – hm,« nickte der fromme Herr und wandte sich gleich darauf mit freundlichem Blick zu demselben, dessen Schreiben er vorher gelobt. –

»Nun sage mir einmal, Peter Schwelbe, wenn also Gott keinen Anfang gehabt haben soll, wann ist er denn da eigentlich geboren?«

Der Junge sah stier und verdutzt vor sich hin, kratzte sich erst mit der Rechten, dann mit der Linken in dem struppigen Kopf, wischte sich die Nase mit dem Aermel, sah erst den Superintendenten und dann den Ofen an und sagte endlich:

»Davon haben wir keene Kenntniß niche.«

»Sieh, lieber Schwelbe,« entgegnete darauf der Superintendent, ohne, wie er das bei anderen Fragen gleich gethan, zu dem Nachbar überzugehn, »wenn Gott gar keinen Anfang gehabt hat, was kann er denn auch also nicht sein? –«

»Das wissen wir noch nicht!« erwiederte Peter abermals unerbittlich, während sich die kleineren Jungen unter einander zuflüsterten:

»Geboren – geboren – geboren.«

»Geboren, Peter, geboren kann er nicht sein,« sagte der Herr Superintendent und nickte dem Bengel wohlwollend zu, als ob er die Frage beantwortet habe. »Ah Du da – hm – der Nächste – Du zeigst mir wohl einmal Dein – hm – Dein Thema von der letzten Predigt – komm, schnell« – und er streckte den Arm gegen den verdutzt dasitzenden Jungen aus und winkte dazu mit den Fingern. »Nun? – hm – wird's bald – hm, rrrrrr?« wiederholten Sr. Ehrwürden, »ich habe doch deutlich genug gesprochen – Dein Thema rrrrr – wo hast Du's?«

»Sie entschuldigen,« nahm sich hier Herr Hennig des Jungen an, »ich lasse die Knaben das Thema in der Kirche nicht aufschreiben, weil –«

»Sie lassen das Thema nicht aufschreiben, Herr Hennig, rrrrrrrr?« sagte, sich in unbegrenztem Erstaunen nach ihm umwendend, der fromme Herr – »Sie lassen das Thema nicht aufschreiben? rrrrr.«

»Ich habe gefunden, daß –«

»Ich bitte, daß Sie gar Nichts finden – hm – Herr Hennig, rrrrrr« – unterbrach ihn aber mit scharf verweisender Stimme der Superintendent – »gar Nichts finden, hm – rrrrrrrr – sondern den von mir – hm – von mir verordneten Regeln – ja Regeln rrrrr – folgen, wie sie Ihnen vorgeschrieben sind rrrrr. – Ich hoffe, daß ich das nächste Mal ein Thema finde, Herr Hennig – rrrrrr – hm – hm – daß ich das nächste Mal ein Thema finde rrrrrrrr.«

Der Superintendent schwieg einen Augenblick und sah mit etwas erhitztem Angesicht die ängstlich dasitzenden Knaben an, endlich wandte er sich wieder an den, von dem er das Thema zuerst gefordert und sagte:

»Also weißt Du auch gar nicht, was gestern gepredigt worden ist? rrrrr und«

»O ja,« fiel der Junge, der sich hier auf festem Grunde wußte ein – »das weeß ich!«

»So? – hm – und was? hm – wenn man fragen darf rrrr?«

»Wie viel es nütze,« sagte der Knabe, einer der besten Köpfe in der Klasse – »wenn wir den Ausspruch des Gamaliels, Apostelgeschichte 5, 34-42. ›Menschenwerk vergeht, Gotteswerk besteht‹ zu unseren Grundsätzen nehmen.

a. dann werden wir vielen Zweifeln entgehn.

b. wir werden uns vor so manchen verkehrten Urtheilen bewahren.

c. wir werden unsere Tugend vor vielen Gefahren schützen.«

»Hm – gut – hm – gut geantwortet,« sagte der Herr Superintendent, vielleicht nicht einmal ganz zufrieden, bei dieser Gelegenheit keinen weiteren Anlaß zum Tadel gefunden zu haben. Die übrigen Knaben, die er frug, waren übrigens fast eben so taktfest und er begann jetzt, biblische Sprüche zu examiniren, von denen ihm die Kinder immer gleich aus dem Kopfe die Quellen angeben mußten. Hierin fand er sie ebenfalls wieder nicht besonders geübt, denn Hennig hielt es für nützlicher, seinen Zöglingen den Sinn der Sprüche als den Ort, wo sie in der Bibel standen, einzuprägen, der Herr Superintendent waren aber anderer Meinung, fuhren jetzt die Kreuz und Quer im alten und neuen Testament herum und citirte und tadelte so lange, bis zufällig ein kleiner Bursche aus einer Ecke heraus einen der von dem gestrengen Examinator angegebenen Sprüche nachschlug und augenblicklich triumphirend – natürlich aber in aller Unschuld, verkündete, daß der bezeichnete Spruch nicht da – sondern da und da zu finden wäre.

Die Knaben flüsterten unter einander, der Herr Superintendent aber, der sich nicht wenig ärgerte, hier eine so fatale Blöße gegeben zu haben, und den Eindruck doch gern verwischen wollte, ging rasch auf die biblische Geschichte über, in der er sehr bewandert war, und sogar ohne Buch die Fragen scharfsinnig genug stellen konnte, um selbst den Pastor und Schulmeister, worauf es jetzt besonders angelegt war, in Erstaunen zu setzen. Zu seiner Ueberraschung fand er die Kinder jedoch darin viel fester als er erwartet, und bekam ganz gute Antworten. Das böse Geschick trieb ihn jedoch, mit unerbittlicher Strenge gerade auf einen Punkt hin, an dem er scheitern mußte – ein unglücklicher Zufall brachte ihm die Familie Noah auf die Lippen und kaum war die Frage heraus, wer Japhets Vater gewesen, als die ganze Classe in ein unwiderstehlich schallendes Gelächter ausbrach.

Der Herr Superintendent stand erstaunt und schoß dabei einen so strengen, Unheil kündenden Seitenblick auf den Lehrer dieser Schule, daß Hennig, wäre er von anderem Stoff als er gerade war, gewesen, jedenfalls hätte in die Erde sinken müssen, so aber biß er selbst, das Komische des ganzen Auftritts mehr, als irgend einen bedeutungsvollen Ernst fühlend, die Lippen zusammen und sah still vor sich nieder.

Der Pastor glich einer Statue stummen Entsetzens, und stand da, wie wenn der Himmel sich jetzt wirklich unmittelbar genöthigt sehen würde, auf sie alle herunterzukommen, und mit Mann und Maus in der Schulstube zusammen zu quetschen und zu begraben.

»Herr Hennig,« brach sich da endlich der bis jetzt nur allem Anschein nach, durch seine Ueberraschung zurückgehaltene Zorn und Unwille des frommen Herrn die Bahn, und damit auch eine Pause, in der selbst die ausgelassensten der Schuljugend das fürchterliche Vergehen, dessen sie sich schuldig gemacht, zu begreifen anfingen, und still und verlegen, bald den Herrn Pastor, bald ihren Lehrer anschauten. »Herr Hennig – dürft ich Sie vielleicht um eine Erklärung dieses Auftritts, rrrrrrr – an dem Sie sich selbst, wie mir fast vorkommen will, zu ergötzen scheinen, ersuchen rrrrrrrrrr?« – und er sprach das letzte Wort mit einem so beißenden Nachdruck, daß Hennig bald merken mußte, in wie hohem Grade sein mächtiger Vorgesetzter über ihn erbittert sei.

»Herr Superintendent,« nahm er deshalb um nicht selber noch muthwillig den Groll zu erhöhen, das Wort, »die Kinder sind ungezogen gewesen, während des Religionsunterrichtes zu lachen, gerade heute und bei dieser Frage würden Sie es aber auch entschuldigen, wenn Sie den »Verstandesübungen« mit beigewohnt hätten, wo Einer von den Kleineren eine, ebenfalls sich auf Noah beziehende Frage so komisch beantwortete, daß wir Alle lachen mußten. – Die neue Nennung des Namens ruft dies jetzt in das Gedächtniß der Kinder zurück, und es ist wohl natürlich, daß sie dabei nicht ernsthaft bleiben konnten; kam mir doch selbst das Lachen an, und mußte ich mir Mühe geben, es zu unterdrücken.«

»Das ist recht hübsch von Ihnen, Herr Hennig, sehr hübsch, Herr Hennig – rrrrrr – und Sie mögen das, wie ich gar nicht bezweifeln will – wenn Sie allein mit den Kindern sind, Herr Hennig rrrrrrrr, auch so halten – obgleich es mir – der guten Sache wegen, versteht sich, eigentlich lieber wäre, wenn es nicht geschähe – rrrrrr – in meiner Gegenwart aber, und in den wenigen Minuten, die ich hier in Ihrer Schulstube gegenwärtig bin, rrrr, möcht' ich mir das in Zukunft höflichst verbeten haben, Herr Hennig – rrrrrrrrrr.«

»Herr Superintendent, ich versichere Sie –«

»Und noch außerdem möchte ich Ihnen bemerken, Herr Hennig, daß ich in Ihrer Classe überhaupt, und mit großem Misfallen eine Unaufmerksamkeit finden muß, die nie, am allerwenigsten aber in einem Religionsunterricht statt finden sollte – rrrrrrr.« –

»Herr Superintendent –«

»Wir haben noch keine Emancipation, Herr Hennig, rrrr« – unterbrach ihn der fromme Herr, der fest entschlossen schien, den Schullehrer gar nicht zu Worte kommen zu lassen, »auf's Neue wir haben noch keine Emancipation, sage ich Ihnen, und es thut mir ungemein leid, rrrrrr – Nichts günstigeres über Sie und die Ihnen anvertraute Schule an ein hohes Consistorium berichten zu können – wir haben noch keine Emancipation, Herr Hennig rrrrrrrrrrr.«

»Wollte Gott wir hätten sie, Herr Superintendent,« fiel ihm aber jetzt Hennig, dem das Blut auch überzuwallen begann, vor all den Kindern so unwürdig behandelt zu werden, in's Wort – »dann hätte dieser Auftritt, der nur bestimmt zu sein scheint, den Lehrer um die Achtung der Kinder zu bringen, nie und nimmer statt finden können. –«

»Herr Hennig!« riefen der Herr Superintendent und der Herr Pastor in einem Chor, voll starren staunenden Entsetzens. –

»Wollte Gott wir hätten sie« wiederholte aber, jetzt von seinen Gefühlen ganz hingerissen und bewältigt, und unbekümmert um irgend einen der Vorgesetzten, der junge Mann, »daß der Geist des Lehrers frei und stark die von ihm erfaßte Bahn festhalten und verfolgen könnte, und segensreich auf das Schicksal seiner ihm anvertrauten Zöglinge, auf das Schicksal künftiger Geschlechter einwirken dürfte – kein Heil ist für Deutschland zu erwarten, so lange der Lehrer unter die Oberaufsicht von Leuten erniedrigt wird, die vom Schulwesen Nichts verstehn, und sich doch ein Urtheil über ihn anmaßen, und in deren Händen es noch überdieß liegt durch heimliche Conduitenlisten den so schon genug Unterdrückten noch gänzlich zu verderben, indem sie Beschuldigungen auf ihn häufen, oder ihn durch Anklagen verdächtigen, gegen die er sich nicht vertheidigen kann, weil er sie nicht einmal erfährt, und erst in ihrer verderblichen Wirkung kennen lernt.« –

»Herr Hennig rrrrrrr« – riefen aber jetzt der Herr Superintendent, der in seinem Grimm und Staunen bald roth und bald blaß geworden war, und dem also Aufgeregten, der nicht einmal seinen Stand mehr achtete, und es, mit einer Kühnheit, die ihm beispiellos dastand, wagte, vor der ganzen Schule in solcher Art gegen ihn aufzutreten, auch am Ende gar noch etwas Schlimmeres – vielleicht gar Thätlichkeiten zutraute – »Herr Hennig, rrrrrrr – wir werden uns rrrrrrrr – wir werden uns wieder sprechen, rrrrrrrrr – 'pfehle mich Ihnen Herr Hennig – rrrrrrrrr – 'pfehle mich Ihnen Herr Hennig – rrrrrrrrrrrrr.«

Durch den Schwarm der ängstlich und schnell Raum gebenden Knaben brach er sich Bahn, und verließ, von dem Pastor gefolgt, rasch die Schule. – Etwa hundert Schritt von deren Thür entfernt, hielt sein Wagen, denn er war mit Willen nicht ganz vorgefahren, um den Lehrer besser überraschen zu können. Nach einigen, mit Pastor Scheidler nur noch flüchtig gewechselten Worten, stieg er ein, rief dem Kutscher den Namen des Orts zu, den er besuchen wollte, und rollte gleich darauf, von den neugierigen Blicken der Dorfbewohner verfolgt, den Weg entlang, der auf das nur etwa anderthalb Stunden entfernte Bachstetten zuführte.

Hennig war indessen, die sich schüchtern zusammendrängenden Kinder nicht weiter betrachtend, in dem engen Raum, der ihm vor den Bänken frei blieb, mit raschen Schritten und verschränkten Armen auf und abgegangen, als sich die Thür wieder öffnete, und Pastor Scheidler noch einmal herein trat. Er blieb jedoch auf der Schwelle stehn und als Hennig zu ihm auf, und die Kinder nach ihm umschauten – sagte er zu diesen mit freundlicherer Stimme als sie es vielleicht erwartet:

»Ihr könnt zu Hause gehn – es wird gleich zwölf schlagen – haltet hübsch Ordnung.«

Still und geräuschlos glitten Knaben und Mädchen, denen es anfing unheimlich in dem Raum zu werden, an ihm vorüber, ins Freie hinaus und der Pastor wandte sich, als auch der Letzte das Zimmer verlassen, mit wohl ernsten, aber nichtsdestoweniger herzlichen Worten an den gereizten jungen Mann, der im Anfang schon eine zweite Strafpredigt erwartet hatte, und – jedes eigene Interesse hintenansetzend, fest entschlossen schien, sich keiner gewaltigen Hand mehr zu beugen, jetzt aber, durch die freundliche Stimme erst überrascht, bewegt wurde – einen Augenblick schwieg und dann, ihre sonstige Stellung ganz vergessend, des Pastors Hand ergriff und mit leiser, fast bittender Stimme sagte:

»Sein Sie mir nicht böse, Herr Pastor, daß ich mich eben von meiner Heftigkeit so hinreißen ließ, gegen den Herrn Superintendenten so harte Worte auszustoßen. Ich will allerdings nicht leugnen, daß sie ernstlich gemeint waren, ich müßte sonst, wollte ich das, mein eignes Selbst mit abschwören, aber sie sollten den alten Herrn nicht beleidigen, und ich fürchte fast, daß das geschehen ist – darf ich auf Ihre Güte rechnen, darin ein freundliches Wort für mich einzulegen?«

»Lieber Hennig,« erwiederte ihm hierauf der Pastor – »Sie haben ein Versehen gemacht, das Ihnen, fürchte ich, nicht so leicht vergeben werden wird, als Sie jetzt zu denken scheinen – der Herr Superintendent fuhr in äußerster Entrüstung fort, und – es thut mir leid, es sagen zu müssen – er hatte in der That recht.«

»Herr Pastor.«

»Ja ja, lieber Hennig, ich habe sonst, wie Sie recht gut wissen, nur sehr wenig gegen die Art einzuwenden, wie Sie Ihre Schule halten – gar nichts dabei gegen Ihren eignen Fleiß und Eifer, die Unaufmerksamkeit Ihrer Classe war aber heute wirklich auffallend, und ich kann es dem Herrn Superintendenten gar nicht verdenken, daß er ein paar tadelnde Worte darüber sprach, ja ich glaube, es ist sogar, was er gethan, nur seine Pflicht und Schuldigkeit gewesen.«

»Herr Pastor,« nahm da Hennig ernst und ruhig das Wort, »ich glaube, daß Sie es gut mit der Schule – und auch mit mir meinen; ich will es wenigstens hoffen, denn ich habe gerade Ihnen noch nie Gelegenheit zum Gegentheil gegeben. Das Herz in der Brust thut Einem aber weh, wenn man sich nun das ganze Jahr in der Schule müht und quält, seine besten Kräfte, seine besten Lebensjahre daran wendet, etwas Tüchtiges und Ordentliches aus den Kindern zu ziehen – wenn man den richtigen Saamen in ihre Seele gelegt, und dafür auch deren leiseste fernste Seelenkräfte kennen gelernt hat, und nun einen Mann hereinkommen sieht, den Gott – Sie verzeihen mir den Ausdruck – zufällig zum Superintendenten gemacht, der von der Schule nur wenig, von der Behandlung der Kinder gar Nichts versteht, seine eigenen selbstsüchtigen Ansichten mit herein bringt, überall anstößt, von den Kindern heimlich ausgelacht wird, da sie, bei den Blößen, die er giebt, bald durchschauen müssen, was eigentlich hinter ihm steckt, und der denn doch Macht und Gewalt genug hat, gerade den, den die Schüler am höchsten achten sollten, ihren Lehrer, in den Staub nieder zu treten und zu vernichten. Gerade der Uebermuth, Herr Pastor, ist es, der endlich selbst einem armen Dorfschulmeister hat den Nacken heben, und das unerträgliche Joch fühlen lassen, und das muß abgeschüttelt werden, Herr Pastor, oder nicht allein wir, das wäre das wenigste, und Deutschland brauchte nicht zu trauern, nein, die ganze künftige Generation geht zu Grunde, und muß zu Grunde gehen. Der Fluch komme dann auf die Häupter derer, die es verschuldet.«

»Daß die Kinder unaufmerksam wurden,« fuhr er nach einer Pause von wenigen Secunden fort, »ist kein Wunder – sie waren abgespannt – der Religionsunterricht vorher, dann die Verstandesübungen, dann wieder Religionsunterricht, wo soll da die Aufmerksamkeit herkommen? Danach aber fragt der Superintendent nicht – wie sein Wort die Dienste des Lehrers fesseln kann, glaubt er auch den Geist der Kinder in der Hand zu haben; der aber ist leicht und fröhlich, und wenn ihn die Krause auch schrecken kann, fassen und unterdrücken wird sie ihn nur langsam und nur – nach einem systematischen Mordplan – dem er endlich unterliegen muß.«

»Sie gebrauchen etwas starke Ausdrücke, lieber Hennig, aber ich will das Ihrer jetzigen Aufregung zu Gute halten, und Ihnen einen Vorschlag machen, der vielleicht nicht allein die ganze eben vorgefallene Geschichte mit dem Herrn Superintendenten, und zwar selbst bei diesem in Vergessenheit bringt, sondern Ihnen auch von wesentlichem Nutzen sein kann. Ich wenigstens weiß nichts auf der Welt, was ich Ihnen abschlagen könnte, wenn Sie nur dieß eine Mal diesem, meinem Rathe folgen wollten.«

»Und der wäre?« sagte Hennig aufmerksam werdend und gespannt – »ich habe doch sonst in allen Stücken, Herr Pastor, gerade Ihrem Rathe so gern und willig Folge geleistet.«

»Ja – allerdings – in fast allen Stücken – nur in dem einen nicht, und doch könnte gerade dieses eben jetzt die Folge recht böser und unangenehmer Folgen für Sie sein – Sie verstehen was ich meine?«

Der Lehrer nickte traurig und schweigend mit dem Kopfe, und sagte endlich, nachdem er lange und sinnend vor sich niedergestarrt:

»Aus dem Herzen soll ich all' meine Hoffnung, mein festes heiliges Vertrauen auf eine Zukunft reißen, elend und arm soll ich, mich selbst verachtend, dastehen in der Welt, und – dafür wollen Sie ein hastig gesprochenes Wort vergessen, und mir wieder gnädige – Herren sein.«

»Herr Hennig!«

»Zürnen Sie mir nicht, Herr Pastor, daß ich nicht anders handle, als ich es eben thue – wäre ich hier schwankend, wer bürgte Ihnen dann dafür, daß ich in meinem Eifer, in meiner Liebe zu den mir anvertrauten Kindern nicht auch schwankend würde? Lassen Sie mich auf meiner Bahn fortschreiten, und Alles über mich ergehen, was da ergehen soll – ich fürchte überdieß, daß ich den Leidenskelch noch nicht geleert. – Mag der Herr Superintendent sein Aeußerstes thun, was jedenfalls geschehen wird, wenn ich ihm nicht morgen spätestens zu Füßen falle und um Verzeihung bitte – mag er die Blitze des Consistoriums auf mich herab beschwören, ich bleibe meinen Ansichten treu, und gerade Sie, Herr Pastor, zu dessen besten Eigenschaften seltne Charakterfestigkeit gehört, werden mir darüber am wenigsten zürnen dürfen.«

»Ich weiß nicht recht,« sagte der geistliche Herr, keinesfalls mit dem Resultat zufrieden, und halb verlegen lächelnd, »ob die ›beste Eigenschaft‹ eine Schmeichelei oder eine – Grobheit für mich sein soll, will sie jedoch im besten Sinne nehmen. Damit kommen Sie übrigens nicht durch, Hennig – damit kommen Sie nicht durch. – Wenn ein vernünftiger Mensch mit dem Kopfe absolut durch eine Wand fahren will, so prüft er wenigstens vorher, ob sie aus Stein oder Lehm besteht, und ist das erstere der Fall, so giebt er es auf – oder er ist eben kein vernünftiger Mann mehr. Sie, lieber Hennig, wollen mit dem Kopfe durch eine solide Steinwand brechen, erlauben Sie mir aber die Bemerkung, daß der Stein doch noch etwas härter ist, als Ihr Kopf, und das Resultat kann da, nach allen Gesetzen der gesunden Vernunft, auch nicht im Mindesten mehr zweifelhaft sein. Ich meine es gut mit Ihnen, und würde Ihre Beförderung zu einer besseren Stelle mit Freuden gesehen haben, stoßen Sie aber jede Hand, die Ihnen Hülfe bietet, gewaltsam von sich, so wundern Sie sich auch nicht, wenn sich Ihr Schicksal, wenigstens nicht in nächster Zeit so günstig gestalten sollte, als Sie es vielleicht wünschen. Ich will Sie jetzt mit Ihren Gedanken allein lassen – überlegen Sie sich noch einmal, was ich Ihnen gesagt – auch nicht einmal ein Zugeständniß verlange ich dann von Ihnen, nur Ihr Betragen, nur Ihre ganze Handlungsweise mag mir in nächster Zeit beweisen, ob Sie zur Vernunft gekommen sind, ob Sie den Versuch mit der Mauer noch wirklich machen wollen.«

Er verließ die Schule, und Hennig stand in dem öden, leeren Raum allein.

Zehntes Kapitel.
Die Verabredung.

Der Abend brach an, die Sonne sank hinter den glühenden Gipfeln der Bäume in ihr rosenbestreutes Bett und hier und da funkelte einer der klaren blitzenden Sterne nach dem andern von dem mattblauen Himmelsgewölbe nieder.

Auf dem Hofe des Rittergutes zu Horneck sah es ziemlich still und leer aus, die Knechte waren noch in der Schenke oben, oder saßen in der Gesindestube – die Mägde melkten die Kühe, um recht bald fertig zu sein, und den Tanz nachher nicht zu versäumen, und die Brennerei und andere Gebäude standen fest verschlossen. Nur im Zimmer der Herrschaft brannte helles Licht und eine laute Stimme schallte manchmal von dort herüber über den stillen Hof, daß Eines oder das andere vom vorübergehenden Gesinde wohl einen Augenblick stehen blieb, zuhorchte, dann mit dem Kopfe schüttelte und weiter ging.

Die breite steinerne Treppe, die, von zwei Seiten und in der Mitte zusammenlaufend, zur Eingangsthüre der herrschaftlichen Wohnung hinaufführte, stieg jetzt ein Mann hinauf, der wohl schon eine Viertelstunde unten im Schatten der Kastanien gestanden und der Stimme gelauscht hatte. Er blieb auch auf den Stufen noch einige Male stehen, und schien überhaupt gar nicht so recht entschlossen, ob er weiter gehen oder vielleicht gar lieber wieder umkehren solle. Endlich entschied er sich aber doch wohl für das erstere, sprang schnell die noch wenigen Stufen hinauf, öffnete rasch die Thüre und sah gerade wie von dem Schlüsselloch links – nach derselben Stube hinein, aus der das laute Sprechen tönte, eine dunkle Gestalt blitzesschnell zurück und der in die Gesindestuben niederlaufenden Treppe zufuhr.

»Poller!« rief aber der eben Gekommene, und der junge Bursche, der hier so unversehens beim Horchen ertappt worden, wandte sich rasch um und blieb stehen.

»Poller – pst!« wiederholte aber der Erstere, »auf ein Wort!«

»Hallo, Krautsch,« sagte mit überraschter, aber unterdrückter Stimme der Horcher, und kam mit geräuschlosen Schritten auf diesen zu – »was zum Teufel führt Dich denn eigentlich hierher – laß Dich nur um Gottes Willen nicht – und besonders heute nicht von dem gnädigen Herrn blicken, der ist schon wüthend genug auf Dich wegen Deines Wilddiebstahls, eine Sünde, die Du einmal nicht lassen kannst, und heute kämst Du ihm außerdem gerade recht.«

»Nu, was giehts denn grade hinte an en Sonndag?« frug Krautsch – »hot he sich mit Jemand gezankt?«

»Mit Jemand? – nein, die, welche Ursache hätte gegen ihn zu zanken, thut den Mund nicht mehr auf, so gut sie auch sonst die Zunge zu brauchen wußte!«

»Was? – habt' Ihr ene Leiche im Haus?« rief Krautsch erstaunt.

»Nein, fürchte Dich nicht,« lachte Poller – »'s ist nur die neue Frau von Gaulitz, die jetzt Schläge kriegt nach Noten.«

»De Frau von Gaulitz Schläge? – Papperlapapp,« sagte ungläubig der Mann – »ja, wenn unse Eeener verheirath' is, und seiner Olen eimal ene im Vertrauen sticht – aber die gnädige Frau von Gaulitz –«

»– Wird von dem alten Schuft mißhandelt, daß es eine Art hat,« ergänzte Karl Poller in nicht gerade ehrerbietiger Weise des Freundes Rede – »Die Geschichte spielt übrigens schon ein paar Monate – ja seiner ersten Frau, einer wirklichen Dame, hat er's nicht besser gemacht, und da braucht sich die jetzige, seine frühere Haushälterin, denn auch nicht zu wundern, daß es ihr nicht besser geht – na, verdient hat sie's – wenn auch nicht gerade um ihn.«

»Verdient? – wie so?« frug Krautsch neugierig.

»Hm,« meinte Poller wichtig – »das sind Familiengeheimnisse, die besser ›unter uns‹ bleiben – man hat auch seine Rücksichten zu nehmen. – Aber was führt Dich eigentlich auf's Schloß her, willst Du wirklich den gnädigen Herrn selbst sprechen.«

»Ne, ich danke,« brummte der Wilddieb, »där mechte mer schiane uf de Hucke steigen – ich wulle Dich sprächen – he Karl, wie stiahts denn egentlich mit meiner Geschichte – han ich was zu ferchten, un is es verleicht besser, ich bin emal Morgens ganz wegg?«

»Besser jedenfalls,« erwiederte ihm vorsichtig Poller – »außerdem liegt der Wilddiebstahl nicht allein gegen Dich vor, sondern ich weiß aus ganz sicherer Quelle, daß, der Teufel mag errathen woher, noch eine andere Klage gegen Dich aufgetaucht ist, die – doch Du wirst schon wissen, was ich meine.«

»Dunnerwetter!« rief, aber mit ganz leiser, erschreckter Stimme der Bursche – »das wiare en schiane Geschichte, aber Mosje Poller, in där stiaken mer nich alleene drin – zu där sein noch angere Personen nethig, die nachens eben so dusemang fortmachen kennten wie unser Ener.«

»Sprich nicht so laut,« flüsterte Poller – »ich weiß wohl, es ist eine verfluchte Bescheerung und ich werde Dich darin nicht im Stiche lassen; ich kann's aber am besten noch abwarten, denn hier sitz ich an der Quelle, und bin jeden Augenblick im Stande, zu erfahren, wie die Sachen stehen. Ist's nachher Zeit, nun zum Henker noch einmal, dann müßt's ja keine Eisenbahnen geben, und so viel, daß man nicht gerade gleich verhungert, nun dazu wird wohl noch Rath werden.«

»Here, bei dem Verhungern,« flüsterte Krautsch, »fällt mer en verflucht guder Gedanke in – wie wärsch denn nu, wenn mer –«

»Pst!« sagte Poller, und horchte aufmerksam nach der Thür herüber, hinter der der Lärmen gerade von Neuem auszubrechen schien – »jetzt geht's wieder los, na der klopft seine eine Hälfte in der Nacht noch windelweich – so einen Mann wünscht' ich mir auch, wenn ich eine Frau wäre – alt, geizig wie ein Harpar, häßlich wie die Nacht, ein Tyrann wie ein Tiger und ein frommer Betbruder dabei, der so voller Bibelverse steckt, wie ein alter Käse voller Maden.«

»Jetzt sagt sie wuhl was?« flüsterte Krautsch, hinüberhorchend.

Poller erwiederte Nichts, sondern schlich nur, während im Innern die klagende Stimme der Frau laut wurde, vorsichtig wieder auf seinen alten Platz zur Thüre, und legte erst das Auge und dann das Ohr so dicht als möglich an das Schlüsselloch an.

»Ich bitte Dich um Gottes Barmherzigkeit Willen, Gaulitz, schlage mich nicht mehr,« flehte die Frau, »was habe ich Dir denn zu Leide gethan, daß Du Alles das, was Du mir früher geschworen, so ganz vergessen hast, und mich jetzt wie eine Verbrecherin behandelst – wohl bin ich schuldig und heute – heute seh' ich ein, was ich an ihr begangen, aber Du wahrlich solltest doch der letzte Mann auf der weiten Gotteswelt sein, der mich darum mißhandelte.«

»Hinaus mit Dir – hinaus und in die Gesindestube hinunter, wohin Du gehörst,« rief aber jetzt, durch diesen Vorwurf wohl um so mehr gereizt, da er so sicher gezielt war, daß er das schlummernde Gewissen des Mannes im innersten Herzen traf, der Oberpostdirector – »in die Gesindestube mit Dir und –«

»Hülfe!« schrie die Frau, und ehe Poller, der in diesem Augenblicke gerade versucht hatte, einen Blick in das Innere zu gewinnen, im Stande war, zurückzufahren, flog die Thür auf und traf den Horchenden mit solcher Gewalt an die Stirn, daß er rücklings zur Erde geschleudert wurde. Krautsch behielt eben noch so viel Zeit, sich in die Fensterbrüstung zu drücken. Poller aber fühlte sich, ehe er im Stande war, wieder in die Höhe zu springen und zu entfliehen, in der kräftigen Faust des Oberpostdirectors, der den Stock, den er eben in der Hand hielt, derb auf Kopf und Schultern niederfallen ließ und den armen Teufel so lange bearbeitete, als er nur noch einen Arm möglicher Weise rühren konnte.

»So – Canaille!« rief er endlich, als er erschöpft inne halten mußte, »da –« und er stieß ihn verächtlich mit dem Fuße von sich – »das hast Du für's Horchen und ich will Dich lehren, Deine Ohren wieder an Zimmerthüren zu legen, hinter denen ich spreche – thust Du's, dann sei versichert, daß ich Dich Jesum Christum noch besser erkennen lehre.«

Damit trat er zurück, warf die Thüre hinter sich mit aller Gewalt in's Schloß und ließ den Mißhandelten fast bewußtlos vor Schmerz und Wuth auf der Erde liegen.

Dieser raffte sich endlich mit leisem Stöhnen und einem bitteren, zwischen den Zähnen hervorgemurmelten Fluch auf und wandte sich, als ob er die hintere Treppe hinunter gehen wollte, Krautsch aber glitt in diesem Augenblicke aus der Fenstervertiefung vor, faßte den Freund am Arm und zog den nicht Widerstrebenden, ohne weiter ein Wort mit ihm zu wechseln, zur vordern Thür hinaus, die steinerne Treppe, dem Thore zu, hinunter, und vor das Gut, in den dicht daran stoßenden in dieser Abendzeit sonst von keinem Menschen betretenen Obstgarten hinaus.

»Nun, was hast Du? – was soll?« knurrte Poller endlich, mürrisch und erzürnt genug, als sein Freund hier, und an der höchstgelegensten Stelle, von wo aus sie nach allen Richtungen hin das Nahen eines Dritten leicht erblicken konnten, stehen blieb und lauschte, ob sie auch wirklich allein und von Niemandem behorcht seien – »was soll die Allfanzerei, Gott verdamm mich, ich fange an, es satt zu kriegen, vor dem ›gestrengen Herrn‹ da drinn Versteckens zu spielen. Hol' ihn der Teufel, ich will mich nicht weiß brennen, aber geniren würd' ich mich, die Sonne auf mich niederscheinen zu lassen, wenn ich ein so niederträchtiger und hundsföttischer Schurke wäre wie der Herr Oberpostdirector.«

»Willst Du Dich rächen,« flüsterte ihm Krautsch leise und vorsichtig in's Ohr. Poller fuhr rasch nach ihm herum, und schaute ihm fest und fragend in das schlau blinzende tückische Angesicht.

»Ob ich's will,« sagte er nach einigen Secunden, »aber wie? – weißt Du ein Mittel? – verrathen darf ich ihn nicht – ich stecke selbst zu verdammt tief mit in alle den Geschichten, sonst gäb' es Nichts leichteres auf der weiten Gotteswelt, als den Burschen Hals über Kopf in's Zuchthaus zu schicken.«

»Zuchthaus?« meinte Krautsch verächtlich – »da sägst Du dernach aus, so 'ne hohe Perschon in's Zuchthaus zu kriegen, als ob die nich Winkelzige genug kennten, drim herim zu gehn – ene Krahe hackt der angeren de Oogen noch lange nich aus, un wo mer sich hier nich selber hilft, da husten Enen die Angeren erscht recht was – ne Poller, aber ich weeß Der en Mittel – machst De mit?«

»Nun heraus mit der Sprache – erst muß ich's jedenfalls wissen, ehe ich 'was Bestimmtes dazu sagen kann – he?«

»Ich habe schonst oben im Hause davon angefangen, als der Spektakel losgung – Du meentest doch 'was von Verhungern –«

»Hm – und weiter.«

»Nun siehst De,« fuhr Krautsch eben so leise fort – »wir zwee Beede haben das Heifige gerade nich – wenn mer aber so en Platz wißten, wo mer mit eenem Ruck – verstehst De mich – so was zesammen derwischen kennten. –«

»Nun? –«

»Nu? – ih nu, denn meen ich, mer ließen uns de Zeit nicht lange währen, en griffen zu. – Merkst De noch nix?«

»Hm – nun sprich aus,« sagte Poller sinnend, und seinen Freund dabei etwas mißtrauisch von der Seite anschauend.

»Da is weiter nischt mehr groß auszesprechen,« brummte aber der Bursche – »wenn De mich alleweile noch nich verstiahst, so hast'n Brät vorm Kopp – Willst es aber absolut deitsch haben, so kannst' es ooch kreihn – wie viele Geld hat der Postdirecter neilich mit heeme gebracht?«

»Wie viel? – hm – wenn wir Beide es hätten, könnten wir für unser künftiges Leben zufrieden sein.«

»Na also, un worum kennen wir Beede das nich etwa kreihn? Das mecht ich wissen. –«

»Das geht nicht,« sagte Poller nach kurzem finsteren Brüten – »am Tage ist das Zimmer, wo das Geld liegt, fest und sicher verwahrt, und liegt so von den übrigen Wohnungen umgeben, daß an ein Einbrechen gar nicht zu denken wäre, und in der Nacht schläft jetzt, seit es auf dem Gute ist, der Oberpostdirector selbst darin, und hat immer zwei geladene Pistolen neben sich über dem Bette hängen. Das Einzige wäre –«

»Nu – 'raus mit das Eenzige.«

»Das Einzige wäre, wenn er einmal wieder in dieser Zeit sein gewöhnliches Reißen bekäme und das Bett den Tag über hüten müßte; dann ging es allenfalls, dann sind wir, ich und mein Alter, die einzigen Personen, die zu ihm hinein dürfen, und nachher – Gift und Tod, das müßte eine Wonne sein, dem alten schurkischen Geizhals den so heilig gehaltenen Mammon von der Seele reißen zu können, und das wäre allerdings eine Rache. Ich glaube, er ließ, wenn ihm die Wahl gegeben würde, zehntausendmal lieber sein Leben als sein Geld, und verdammt will ich sein, wenn er es da nicht auch ganz richtig taxirt. – Wart Bursche, den Karl Poller hast Du nicht umsonst wie einen Hund geschlagen und getreten, und gedenken thut Dir's der, so lange er ein Glied rühren und einen Plan ausbrüten kann.«

»Also wenn er im Bette liggt, nachens kennten mer ankommen?« frug Krautsch.

»Die Leute wären nur immer noch zu sehr im Weg,« brummte Poller leise vor sich hin – »wenn man nachher etwas auffinden könnte, sie alle hinten nach den Scheunen hinzulocken.«

»Hm, das wäre nu grade keene Kunst niche,« lachte der Mann – »en kleen Bischen Feier in's Untertenne mißte ungeheier schiahn aussähn – nachens sterzten se sicher Alle hinger.«

»Brandstifter?« sagte Poller erschreckt – »alle Wetter nein – das geht doch nicht – da steht Kettenstrafe drauf und zehn oder funfzehn Jahre mit einer Kette am Bein Straßen zu kehren – nein, damit wäre der Spaß doch ein Bischen zu theuer erkauft.«

»Papperlapapp!« sagte mit heiserem Lachen Krautsch, »wenn mer sich derwischen läßt, so hat mer's nich wegen Brandstiften, sondern wegen's d'Erwischen lassen verdient – mer werd aber nich so dumm sin – mir kommen weck, davor sin mer sicher.«

»Ich weiß doch nicht – die Sache ist mir zu gefährlich, das will ich gerade nicht sagen, klingt aber zu bös und – könnte Einen in verdammte Verlegenheiten bringen – ich will mir's lieber noch eine Weile überlegen – wir können morgen wieder einmal darauf zurückkommen.«

»Zurückkommen?« brummte Krautsch ärgerlich – »wenn se mich vor- und die angere Geschichte rauskreihn, nachens, dächt' ich, sprächen mer Beede nich sehre mehr von Zerickkommen, un da mer nu noch da sin, wär's meiner Six de rechte Zeit. Nu, Poller, machst De mit?«

»Du willst das Feuer anlegen, und mich nachher – laß einmal sehen – ja – an der Blutbuche neben der kleinen Waldwiese treffen und wenn wir dann im nächsten Dorf leicht einen Wagen kriegen könnten, der uns auf den Bahnhof bis Tagesanbruch führte –?«

»Na ob – ich bin en merkwirdiger Feierwerker – aber wie wärsch denn, wenn mer die Sache gleich morgen machten? da han se ja Treibjagd uff'n Feldern.«

»Nein morgen geht es noch unter keiner Bedingung – den Tag würd' ich schon bestimmen – also Du besorgtest das, und nachher?«

»Dann theelen mer.«

»Gleiche Hälften?«

»Nu verstäht sich – worum denn niche?«

»Hm – ja, versteht sich – – – ich will mir die Sache doch lieber noch einmal erst überlegen.«

Poller wollte sich abwenden, um zum Schloß zurückzugehen, Krautsch frug ihn lachend, ob er sich vielleicht noch eine zweite Tracht Prügel und einige Fußtritte holen wolle – der Oberpostdirector scheine gerade dazu in der rechten Laune gewesen zu sein. – Poller ging mit untergeschlagenen Armen bis ans Thor des Obstgartens, blieb da stehen, kehrte wieder zurück und flüsterte dann mit dem ihn lächelnd Erwartenden wohl noch eine halbe Stunde auf das Angelegentlichste zusammen, dann glitt er leise und vorsichtig wieder in das Thor des Schloßhofs hinein, dessen kleine Pforte noch aufstand und erreichte auch, ohne vermißt zu sein, die Stube, die er mit seinem Vater theilte, während Krautsch durch den Obstgarten hinging und am anderen Ende desselben über die niedere Lehmmauer stieg, die ihn von der in's Dorf hineinführenden Straße trennte.

Elftes Kapitel.
Wahlert und Kraft.

Treibjagd in Horneck – ei, was für ein fröhliches frisches Leben da gleich über die Leute kommt, die sonst so still und stolz ihre Bahn gehen; ist es denn nicht gerade, als ob sie mit den Wasserstiefeln und der Pelzmütze auch den Philister aus- und den vernünftigen Menschen auf einmal angezogen hätten, und nun mit ihres Gleichen, das heißt, mit anderen zweibeinigen Söhnen Gottes, mögen sie ein paar tausend Thaler mehr oder weniger im Vermögen haben, als sie selber, so freundschaftlich und vertraut verkehren, als wie gerade mit – »eben ihres Gleichen?«

Auf der Jagd hört jeder Standesunterschied auf, die verschiedenen Herren Barone, Grafen und Rittmeister von so und so sind eben nicht Barone, Grafen und Rittmeister mehr, sondern einfach, mit den Bauern, Jägern, Pachtern etc. etc. »die Herren Schützen,« und die Hasenfelle kehren sich eben so wenig an den Stand, sondern brennen durch, wo sie ein »Loch« sehen, mag das nun durch einen Grafen oder Bauer gemacht sein.

»Auf der Jagd hört jeder Standesunterschied auf, lieber Leser? Bitte um Verzeihung, wenn Du das glaubst, bist Du noch nie mit in Horneck auf der Jagd gewesen, denn gerade da wäre Dir der Unterschied der zwischen ›von‹ und ›nicht von‹ gemacht wurde, um so mehr aufgefallen, da Du ihn in der einfachen, sonst so gemüthlichen Dorfkneipe doch sicherlich nun und nimmer vermuthet.«

Herr von Gaulitz, dem die Jagd gehörte, hatte nämlich zu dieser, der ersten Treibjagd in diesem Jahr, eine sehr große Schützenzahl eingeladen, da die Aufhebung der Jagdgerechtigkeit zu nahe bevorstand, um nicht wenigstens jetzt noch Alles todt zu schießen, was irgend vorkam. An Schonen konnte gar kein Gedanke mehr sein, denn daß er, wie ihm die Bauern geneigt waren, die Jagd unter keiner Bedingung von denen in Pacht bekam, und wenn er sie wirklich hätte außergewöhnlich hoch bezahlen wollen, lag auf der Hand. Die Losung hieß daher, da auch einige Stücken Holz sollten mit abgetrieben werden, »Rikke und Bock,« und wenn Fasanen vorkamen, »Hahn und Henne.«

»Druff uf Alles was rauch is,« sagten die Bauern – »ich wäre mich aber hiten un en Reh schießen; die loofen mer gut genung bis zum nächsten Jahre rim, un nachens han ich se sälber – nur rächte Lecher machen.«[2]

Da es aber nun außer aller Frage war, daß der Herr Oberpostdirector von Gaulitz eben die Sprößlinge altadliger Geschlechter mit den »Schützen« – die er nun doch einmal gezwungen war einzuladen, damit sein Treiben nicht zu klein, und die Rehe und Hasen nicht verscheucht würden, ehe nur einmal zum Eindrücken abgeblasen wäre – nicht in eine und dieselbe Stube sperren und mit einem und demselben Frühstücke versehen konnte, so war der Wirth der Hornecker Schenke angewiesen worden, das gewöhnliche Gastzimmer für die »Schützen und Treiber,« oder mit anderen Worten für Alles, was zu Fuß oder in Droschken kam, und das grüne Zimmer, zu dem auch noch ein besonderer Eingang von außen führte, für die »Herrschaften,« oder alles das, was in eigenen Equipagen oder zu Pferde kam, herzurichten. In der Gaststube gab es dabei Eierbier, Franzbrödchen, Bratwürste und richtigen Korn; in der grünen Stube dagegen Wein, Caviar, Schweizerkäse, Franzbrödchen und Gänse- und Schweinebraten.

Und vor der Thür standen die Treiberjungen in ihren abgerissenen Jacken und Hosen – denn zur Jagd wurde natürlich immer das Schlechteste angezogen – mit großen rauhgeschnittenen Stöcken in der Hand, die Hände in die Jacken vorn gesteckt, und die schmutzigen Mützen bis über die Ohren gezogen, und schauten sehnsüchtig hinein nach den wohlbesetzten Tischen und zechenden Gästen, nach den lockenden Braten und gut duftenden Würsten. O, was hätten sie d'rum gegeben, nur ein einziges Mal so recht aus vollen Kräften und mit unbeschränkter Quantität hineinbeißen zu dürfen in all' das Wonneausströmende – nur ein einziges Mal auch sich mit so fettigem Mund und Seligkeit strahlenden Zügen, in der rechten Hand eine Gänsekeule, in der linken ein Glas blinkenden Rothwein dastehen zu sehen, wie den kleinen dicken Mann in dem grünen Rock und der flachen Mütze – aber nein – laufen durften Sie mit, und Hasen schleppen – angeschossenen nachjagen, bis sie nicht mehr konnten, und Jagdtaschen tragen und Hunde führen, aber sonst brauchten sie nichts – das Stückchen Schwarzbrod, was sie in der Tasche trugen, war ihre einzige Nahrung – und auch das fror manchmal, wenn der Nordwind so recht über die harten Sturzäcker und durch ihre dünnen Kleider pfiff – außerdem bekamen sie auch wohl noch einen Schnaps und fünf Silbergroschen auf den Tag. –

Aber den Anblick hatten sie frei – sie konnten doch wenigstens sehen, wie der lange Herr da mit dem großen Schnurrbart und dem riesigen Muff um den Leib, ein halbes Franzbrod nach dem anderen die unermüdliche Kehle hinabsandte, und nur manchmal die Brod- und Fleischteller verließ, um eine verhältnißmäßige und angemessene Quantität Flüssigkeit nachzuspühlen – oder jener beleibte Herr mit dem Pfaffengesicht – nur ein Buchhändler aus der Residenz, aber Einer, der sich gern mit zur »Aristokratie« zählte, oder sich wenigstens unter jeder Bedingung dazu hielt – unbestimmte Massen in zu diesem Zwecke besonders mitgebrachtes Papier einwickelte, und –

»Wollt Ihr fort da, verdammte Jungen!« fuhr sie in dem Augenblick eine grimme Baßstimme an, und die armen Teufel stoben wie Spreu vor einem plötzlichen Sturmwind aus einander – es war der Rittmeister von Gaulitz, ein Vetter des Gutsherrn, der, einen wilden Blick um sich herwerfend, und zornige Flüche dabei in den fuchsrothen Bart murmelnd, aus der Thüre stolzirte, um sich draußen in frischer Luft von dem etwas zu eifrig eingeladenen Frühstück ein wenig zu verschnaufen. Die Treiber zogen sich etwas ängstlich vor der breitkräftigen Gestalt in einen entfernteren Theil der Hausflur zurück, und die Thür zu den »Herrschaften« wurde geschlossen.

Lebendiger und wo möglich noch weniger ceremoniell ging es in der Gaststube zu, wo sich die eingeladenen Revierjäger aus der Umgegend, die Bauern, Verwalter etc. etc. mit Amtsschreibern, Steuerbeamten, Controleuren etc. etc. versammelt hatten, und zwischen ihnen durch die Treiber mit ihren langen Stecken manchmal hin und herschritten, und bald hier von dem einen Schnaps, bald von dem eine Tasse Eierbier eingeschenkt bekamen.

Besonders um einen Tisch in der Mitte hatte sich eine muntere Gruppe gebildet, deren Glanzpunkt ein kleiner wohlbeleibter Bauer mit rother, in's bläuliche spielender und ungewöhnlich großer Nase war. Die kleine dicke Gestalt sprudelte von einer Art trockenen Humors, und das ganze Aussehen des Mannes gab jedem, was er sagte, etwas nur um so mehr, und oft unwiderstehlich Komisches. Je öfter ihn die Umstehenden zu necken suchten, mit desto schärferer Münze zahlte er sie zurück, bis das Gespräch endlich ernster und ernster, und auch auf den jetzigen wie den künftigen Zustand der Jagd gelenkt wurde.

»Nun Beukel, und was macht Ihr denn, wenn Ihr die Jagd auf Eueren eigenen Aeckern und Wiesen wirklich in Wald und Teich freibekommt, schont Ihr?« frug den Bauer einer der Revierjäger.

»Nich 's Kalb im Mutterleibe« schwur Beukel und schlug mit der schweren Hand donnernd auf dem Tisch – »die Freude dauert doch am Ende nicht lange – und nachher ärgerte man sich erst recht, wenn man den Großmüthigen gespielt hätte.«

»Na das wird eine schöne Aasjägerei werden – nachher kann unser Einer nur die Flinte an den Nagel hängen.«

»Habt sie auch lange genug auf fremder Leute Grund und Boden herumgeschleppt« meinte Beukel – »dem Bauer schmeckt sein Hase auch.«

»Daß er dran erstickte« murmelte der Jäger leise vor sich hin.

»Ne ne,« lachte aber der Bauer, der die kaum hörbaren Worte doch verstanden hatte, »der erstickt schon nicht dran, überhaupt wissen die armen Leute jetzt noch gar nicht einmal, daß Hasenbraten gut schmeckt, und es wäre doch recht schön, wenn sie das bei der Gelegenheit auch einmal erführen.«

»Bei der Gelegenheit nun schon nicht« sagte ein Förster, der hinter Beukels Stuhl stand und seine Pfeife stopfte.

»Bei der Gelegenheit nicht? – und weshalb? Wenn der Gutsbesitzer nicht mehr alle Hasen allein schießen darf, und die kleinen Leute auch hinausgehn können, und ihr Stück Wild hereinholen, wirds da nicht etwa besser für die Armen? – die großen Herren haben ihnen doch wahrhaftig bis jetzt auch Nichts geschenkt.«

Die Bauern, die um den Tisch herum standen, lachten, der Förster ließ sich aber nicht irre machen und brummte dagegen:

»Die kleinen Herrn aber noch viel weniger und dann hat's mit der Jagdfreiheit auch einen anderen Haken. Daß sie Einer den Andern auf dem Felde todtschießen werden, wenn jeder mit seinem Kuhfuß draußen 'rum laufen und knallen darf, versteht sich von selbst und ist jetzt auch schon genug dagewesen, das schadet aber auch Nichts, die Art Schützen mag sich unter einander selbst aufreiben, und ordentliche Jäger werden ihnen schon nicht zu nahe kommen, aber der arme Mann ist gerade der, der unter der Jagdfreiheit zu leiden hat – nicht etwa die ›großen Herrn‹ wie sich's der Bauer immer auf allen Bierbänken rühmt.«

»Der arme Mann?« sagte Beukel erstaunt und drehte sich nach dem Förster um, »na um die Erklärung gäb' ich auch ein Töpfchen Bier.« –

»Dem armen Mann thats wuhl guat, wenn de Raichen Hasenbraten fraßen?« frug ein anderer dabei stehender Bauer lachend, und die Uebrigen stimmten mit ein.

»Gewiß thats ihm gut« fiel aber hier der Förster mit Wärme ein, »denn während der Reiche Wildpret verzehrte, konnte er kein anderes Fleisch essen, und Rindfleisch z. B. behielt einen Preis, den dann und wann auch wohl einmal ein armer Mann bestreiten und bezahlen konnte. Wie wird das aber jetzt werden, wenn das Wild, wenn Hasen und Rehe alle weggeschossen sind, heh? – Wir wollen einmal die Residenz nehmen; zu ganz geringem und durchschnittlichen Maasstab gerechnet sind dorthinein bis jetzt jährlich doch wenigstens 20000-25000 Hasen geschafft und darin consumirt worden – ebenso eine verhältnißmäßige Quantität Rehe, Hühner, Birkwild, Fasanen, etc. Wer verzehrt dieß Alles? – Die Reichen und fehlt ihnen das Wild, so sind die natürlich die Letzten, die ohne Fleisch leben; können sie kein Wildpret, keine Hühner, Rehe und Hasen bekommen, ei so essen sie Rind- Kalbs- oder Schweinebraten, diese 20000 Hasen und die vielen tausend Pfund anderes Wild fehlen aber jetzt, dafür wird anderes Fleisch also verbraucht, und dieses muß natürlich bei einem so gesteigerten Bedarf auch ebenso verhältnißmäßig im Preise steigen. Wird der Arme nun noch im Stande sein, sich dann und wann ein Huhn in seinen Topf oder ein Pfund Rindfleisch zu kaufen? – Fragt einmal übers Jahr wieder nach, und Ihr werdet hören, wie sie in den Städten darüber schimpfen.«

»Ah bah, in den Städten mögen sie's thun« lachte Beukel, »so schöpfen wir auf dem Lande doch wenigstens das Fett von der Suppe.«

»Wir? – die schöpfen es, welche die Schüssel schon bis jetzt immer vor sich gehabt« sagte ärgerlich der Jäger – »die armen Häusler und Tagelöhner, die kein eignes Feld haben, kriegen immer noch nichts. Uebrigens schöpft nur – ein, höchstens zwei Jahr habt Ihr noch ein paar Rebhühner zu schießen, und nachher wird Sturm geläutet, wenn sich einmal ein Hase auf dem Felde draußen blicken läßt.«

»Treiber vor!« tönte eine Stimme draußen auf der Diele, und die Treiber, die sich in der Stube befanden, bewegten sich langsam der Thüre zu, um sich draußen zu präsentiren und hinaus zu der Stelle geführt zu werden, von wo das erste Treiben ausgehen sollte.

»Wo hören wir denn eigentlich wieder auf?« frug da ein Verwalter aus der Nachbarschaft, »wenn wir nicht hierher zurückkommen, möcht' ich auch meinen Mantel fortschicken.«

»In Skorditz« sagte der alte Holke, der in diesem Augenblick in's Zimmer getreten war und die Anwesenden zu überzählen schien – »gleich neben der Windmühle.«

»Die Skorditzer Bauern haben gesagt, wenn die Schützen auf ihre Felder kämen, schlügen sie Generalmarsch im Dorfe und rückten aus« meinte ein Bauer aus Horneck, der mit dem Verwalter an einem Tische saß.

»Die Skorditzer Bauern können zu – Grase gehn,« brummte Holke, ohne sich in seinem Zählen irre machen zu lassen – »sechs und zwanzig, – sieben und zwanzig, – acht und zwanzig, – denen ist auch zu wohl, und sie wollen erst einmal versuchen wie's thut, wenn man einen Haufen Militair im Orte hat – neun und zwanzig – dreißig – hol sie der Teufel alle mit einander – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben und dreißig im Ganzen – hm wird wohl langen – ist Fritz noch nicht dagewesen?«

»Er war erst vor einer Viertel Stunde bei den Treibern draußen, Herr Förster,« sagte das Schenkmädchen mit freundlichem Gruß und stellte ein Glas gewärmten Bieres vor ihn hin – »vielleicht ist er hinüber zur Herrschaft gegangen – soll ich einmal nachsehn?«

»Nein, danke schön – es wird bald ausgeblasen!«

Er goß das Bier mit raschem Zuge hinter, strich sich den grauen großen Bart aus und verließ mit einem »Gleich wirds fortgehn,« das Zimmer wieder.

»Die Bauern wollen's nicht leiden, daß wir in Skorditz jagen?« frug ein Controleur aus der Stadt und schnallte sich den neben ihm liegenden Muff dabei um.

»Ne,« sagte einer der Treiber, der noch hinter seinem Stuhle stand und eben im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, »se han gesaiht se werren erscht alle de Jiagers met Schtung un Stiel usrotten, ähe se se uf ehre Fälder liaßen – das sin Mordskerle – die ferchten sich vor'n Deibel nich.« –

Er schüttelte lachend mit dem Kopf und sprang schnell hinaus als draußen das Signal zum Sammeln geblasen wurde – die meisten der Jäger standen ebenfalls auf, dem Ruf Folge zu leisten, während die älteren, und mit dem gewöhnlichen Gang des Treibens schon mehr vertrauten, noch ruhig bei ihrem Glase oder Warmbier sitzen blieben, den »Schwarm« erst ablaufen zu lassen, und nachher mit aller Gemüthsruhe einzurücken.


Die Jäger zogen mit den Treibern in einem dichten, nur hier und da durch einzelne Ausläufer umgebenen Trupp, einen engen Dorfpfad, der von niederen Mauern eingeschlossen zwischen den höher liegenden Gärten hinführte, dem Felde zu, und etwa zweihundert Schritte hinter ihnen kamen, zwei und zwei mit einander plaudernd, hier und da auch Einer allein in stillem Ernst die »Herrschaften.« Den Schluß bildeten einzelne Nachzügler, oder später Gekommene.

Dieser schmale Gartenweg lief ziemlich südöstlich aus dem Dorfe hinaus, und weiter oben, gerade nach Norden hinauf lag die größere, schon öfter erwähnte, und unfern von da in's Holz, nach Sockwitz laufende Fahrstraße, von der aus man gerade die Felder, auf denen das erste Treiben gehalten werden sollte, überschauen konnte.

Auf dieser hin schritt langsam, in schwarzem Filzhut und braunem mit Schnüren besetzten Burnus, ein Mann, hielt dann und wann an, die rege Gruppe der Jäger zu beobachten, die gerade ihren Sammelplatz auf einer flachen Wiese erreicht hatte, und von dort, um das ganze Treiben zu umzingeln, nach rechts und links Schützen und Treiber abwechselnd aussandte, und blieb endlich an dem nämlichen Steine stehen, an welchem wir dem alten Schulmeister Kleinholz gleich im Anfang unserer Erzählung begegneten.

Eine Viertelstunde mochte er so gestanden haben, und das Treiben unten, das auch einzelne der kleinen Schluchten mit umschloß, war ziemlich zugezogen, als auf der Straße von Sockwitz her ein anderer Mann im einfach braunen, etwas abgetragenen Ueberrock, den schwarzen alten Filz ebenfalls auf dem Kopf, langsam den Weg niederschritt, und eben grüßend an dem jungen Mann vorübergehen wollte, als dieser, der vorher nur einen flüchtigen Seitenblick nach ihm hinübergeworfen, sich rasch umdrehte, und ihm die Hand entgegenstreckend, ausrief:

»Kraft!«

»Wahlert?« – sagte der Schullehrer, unser alter Bekannter, noch von der Versammlung her, erstaunt. »Sie hier in Horneck? – Was um des Himmels willen hat Sie hergeführt – Ihre Freiheit ist doch nicht mehr bedroht?«

»Nicht mehr hier – was in Berlin der Fall wäre, möchte eine andere Frage sein,« lächelte der junge Mann – »ja ja, lieber Freund, so wechseln die Schicksale, erst wie ein gemeiner Verbrecher von Steckbriefen und Häschern verfolgt, dann nach mir geschossen, wie nach einem wilden, reißenden Thiere – dann gefangen – wieder befreit – der Abgott des Volkes, von Fürsten gesucht, im Rath der erste zur Ministerpräsidentschaft berufen, aus der Nacht mit einmal zum höchsten strahlenden Lichtesglanz emporgeschleudert – und jetzt? – ein flüchtiger, oder doch wenigstens geflüchteter Demagog, ein mißliebiger Republikaner, der mit seinen schönen Träumen endlich wahrscheinlich – auswandern muß, um sie, wenn auch nicht mehr in Deutschland, doch wenigstens in Deutschen realisirt zu finden.«

»Auswandern?« frug Kraft erstaunt – »weshalb denn gerade auswandern

»Es wird Nichts in Deutschland,« sagte Wahlert, finster vor sich niederblickend, »jetzt wenigstens noch nicht, bis nicht eine frische Anregung von außen kommt, und die jetzt vorzubereiten, das sei das Werk derer, die wie wir es ehrlich mit dem Vaterlande meinen.«

»Anregung von Außen« wiederholte Kraft, traurig dabei mit dem Kopfe schüttelnd; »ach, lieber Wahlert, so lange wir in Deutschland nicht selber im Inneren reif zu einer Selbstregierung sind, da hilft uns auch keine Anregung von Außen, komme sie, woher sie wolle; sie kann die Ordnung wieder zerstören, die Gesetze umstoßen, das ungebildete Volk reizen, und zum wilden zerstörenden Aufruhr locken, ihm aber die Kraft und Einigkeit und besonders die Einsicht geben, deren es, ach leider so nothwendig bedarf, um seine schlimmsten Feinde zu erkennen, und keinen Unterschied mehr zwischen schleichenden Reaktionairen oder bramarbasirenden Wühlern zu machen, das kann eine Anregung von außen nicht, das muß Fleiß und Ausdauer im Inneren wirken.«

»Reif, reif und immer nur reif,« sagte Wahlert unwillig, »sind auch Sie Einer von denen, die das Wort zum Mantel brauchen, ihre eigene Furcht darunter zu verstecken? – Reif – weshalb soll der Deutsche nicht eben so gut reif zur Freiheit sein, wie ein anderes Volk – weshalb ist er plötzlich reif und ein Republikaner, wenn er über die See und nach Nordamerika kommt? reift ihn etwa die Seeluft oder wird dort ein besonderer chemischer Proceß vorgenommen, der ihn in mistbeetartiger Schnelle die hier noch nicht besessene Reife giebt?«

»Sein Sie nicht böse auf mich, meiner Aeußerung wegen,« sagte Kraft freundlich, »Sie wissen aber noch von früherer Zeit wohl her, wo ich in der Residenz als Lehrer Ihres Vaters Haus besuchte, daß ich frei und derb mit meiner Meinung herauskomme, und nicht ›meine Furcht unter einem Mantel‹ verstecke.«

Wahlert reichte ihm schweigend und das rauhe Wort abbittend, die Hand, der alte Lehrer fuhr aber lächelnd fort:

»Lassen Sie's gut sein, Sie sind ein junger Brausekopf, und ich sehe das lebendige Leben eben so gern in dem jugendlichen Körper, wie den Geist im Champagner und den Uebermuth im jungen Roß, nur einen Irrthum will ich auf ihrer Seite berichtigen, einen Irrthum, der besonders in dem letzten Semester auf eine traurige Weise ausgebeutet worden ist, Unerfahrene zu überrumpeln und einen Beweis für etwas zu liefern, das sich auf eine andere Art eben nicht beweisen ließ. Sie wissen, lieber Wahlert, daß ich, ehe ich in die Residenz zurückkehrte, von wo aus ich gleich, durch des Herrn Generalsuperintendenten Vermittelung und Fürsprache –«

»Weil Sie seinem Sohne aus der Flut das Leben gerettet –«

»– Eher vielleicht, weil er mich passend für die Stellung hielt,« fuhr Kraft fort – »die Stelle in Bachstetten bekam, mich eine Zeit lang in Amerika herumgetrieben hatte. Wir haben oft darüber zusammen gesprochen, und ich suchte Ihnen stets von unseren Landsleuten in Amerika eine so günstige Meinung beizubringen wie nur möglich – ich liebe mein Vaterland und dessen Söhne und wäre der Letzte, der einer ungerechten Beschuldigung gegen sie Worte gäbe, wollen Sie mir aber mit denen beweisen, daß die zurückgebliebenen Bewohner unseres Deutschlands ebenfalls reif wären, so rennen Sie da in einen Irrthum hinein, den Sie nie schmerzlicher einsähen, als wenn Sie selbst nach Amerika kämen.«

»Daß der Deutsche unfähig sei, sich in einer Republik zu regieren, das wolle Gott verhüten, daß ich das behaupte – es hieß, ihm sein gesundes Herz, seine Fähigkeiten absprechen und leugnen, er ist aber eben nur fähig dazu, und wie das Kind, das den künftigen Gelehrten noch im ersten innersten Keime mit sich herum trägt, und nicht einmal lesen kann, ehe es ihm von älteren Leuten gelehrt wurde, so muß auch der Deutsche vor allen Dingen noch lernen, sich selbst zu regieren, ehe er diese schwere Kunst, soll es nicht zu seinem Verderben zu früh geschehn, in Ausführung bringen kann.«

»Aber Amerika – die Amerikaner selber –«

»Sind mir der Beweis dessen, was ich hier gesagt – Amerika schüttelte damals das englische Joch ab, proclamirte die Republik und wurde damals der blühendste Staat der Welt; sind aber dessen damalige Verhältnisse mit den unseren hier in jetziger Zeit auch nur im Entferntesten zu vergleichen? Nein, wahrlich nicht – Amerika war vom ersten Augenblicke an, wo die Separatisten-Colonie in den Schiffen Mayflower und Speedwell zu Plymouth im Jahre 1592 landeten, eine Republik. Schon an Bord des ersten Fahrzeuges entwarfen und unterzeichneten sie ein Instrument, das zur nöthigen Gründung und Bestätigung ihrer künftigen Einrichtungen dienen sollte, und in jenem einfachen Document wurde schon, und zum ersten Male, das große Princip einer freiwilligen Conföderation von unabhängigen Männern ausgesprochen, die einen Staat gründeten, ›nicht der Regierenden, sondern der Regierten wegen‹. Dort begann sie auf einem freien, noch unentweihten Feld ihre staatliche Einrichtung, und wenn auch England sein Scepter darüber hielt, so bestand doch die ganze Botmäßigkeit, die es über seine amerikanischen Colonien ausüben konnte, nur eigentlich in der Einsetzung von englischen Gouverneuren, in dem Vorbehalt, ihm mißliebige Gesetze ändern oder annulliren zu können, und in der Auflage von Steuern und Taxen. Der freien Entwickelung des Volkes konnte vom Mutterland aus nicht entgegengearbeitet werden, die in Amerika Gebornen wuchsen, von heißer Liebe für ihr Vaterland beseelt, und mit nur geringen Sympathien für Alt-England auf, und wie ihnen endlich der Druck von dort her zu beengend und unerträglich wurde, da schüttelten sie eben nur das über das Meer her aufgelegte Joch ab und – waren frei. Sie hatten kaum etwas weiteres zu thun, als in die Stelle der vertriebenen Gouverneure eigene einzusetzen, die Verfassung, die sie sich gaben, wurde nur wenig verändert, in Rhode-Island zum Beispiel fast gänzlich beibehalten und kein Mensch wird hiernach die Amerikaner als ein Volk zum Beispiel aufstellen können, das rasch von der Monarchie zur Republik übergegangen wäre.«

»Was aber nun die Deutschen betrifft, die dort hinüber auswandern, und von denen auch Sie leider, lieber Wahlert, vor wenigen Minuten dieselbe Phrase gebrauchten, die im Munde der sogenannten Republikaner bei den unteren Schichten unserer Gesellschaft so vieles Glück macht, ›ob die Deutschen, die nach Amerika gingen, etwa auf der See Republikaner würden, daß sie es drüben so ganz auf einmal, und hier doch gar nicht gewesen wären‹, so will ich Ihnen nur darauf einfach antworten, ›sie werden es auf der See, und auch selbst drüben nicht, bis sie nicht ihre gehörige Lehrzeit bestanden haben‹. Denn wollen Sie das nur zum Beweis gelten lassen, daß sie wählen, so macht doch wahrlich die Abgabe seiner Stimme den Republikaner noch nicht.«

»Wie aber wollen Sie beweisen, daß die herüber gekommenen Deutschen nicht Republikaner im edlen Sinne des Wortes seien?« frug Wahlert begierig, »sind nicht eben die Deutschen ihres Vaterlandes und ihres ehrlichen, treuen und umsichtigen Charakters wegen, gerade in Nord-Amerika allgemein geachtet und geliebt?«

»Wollte Gott, ich könnte die Frage mit Ja beantworten, dann säße ich nicht hier im Vaterlande und äße das schwere sauere Brod – und eben auch nur Brod, eines Dorfschulmeisters, der sich noch glücklich schätzen muß, durch einen freundlichen Gönner eine der wenigen guten Stellen von – 200 Thaler jährlichen Gehalt bekommen zu haben, und dafür jetzt Aerger und Verdruß, Sorge, Entbehrungen und Beschwerden das ganze geschlagene Jahr in vollem Maße einärntet.«

»Wie soll ich das verstehen?« frug Wahlert erstaunt.

»Es ist einfach genug,« sagte Kraft, »und ich will es Ihnen, da es doch genauen Bezug auf unser jetziges Gespräch hat, mit kurzen Worten mittheilen. Auch ich kam damals mit all den schönen Hoffnungen von Deutschthum nach den Vereinigten Staaten, und glaubte in der That, der Name ›ein Deutscher‹ werde dort schon gewissermaßen allein als ein Freipaß zur ehrenvollsten Aufnahme gelten – Großer Gott, wie hatte ich mich getäuscht. Nur kurze Zeit hielt ich mich in Neu-York auf, das ganze Wesen und Treiben der Deutschen dort gefiel mir nicht, auch schien mir eine Art Haß zwischen diesen und den Amerikanern zu bestehen. Nach Cincinnati zog es mich, der ›Königin des Westens‹, dort im Westen, mußte auch der Deutsche, seines Fleißes und sittlichen Betragens wegen, geachtet sein – so dachte ich, und was fand ich? – ›You shall call me a dutchman‹ – ›Du sollst mich einen Deutschen nennen, wenn das und das wahr ist‹, – lautete das Sprichwort der Amerikaner und leider nicht nur der niederen Klassen. God damn the dutch tönte es wohl hundert Mal des Tags in meine Ohren, und das Herz, glaubte ich, sollte mir brechen vor Weh und Scham. – Ich zog in die Wälder, trieb mich viele Jahre in den dünnen Ansiedlungen der weißen Pioneere, – Jahre lang zwischen den halbcivilisirten Indianern herum, und kehrte endlich, eines geselligen Verkehrs bedürftig, nach den Vereinigten Staaten zurück. Und was fand ich dort? – gerade zur Zeit der Wahlkämpfe traf ich in Philadelphia ein – auch Deutsche brauchten ihr Recht, das Recht der freien Wahl, das Recht eines freien Bürgers – und wie brauchten sie es? Kaufen ließen sie sich von Whigs oder Demokraten, nicht wer das meiste bot, denn schlecht waren sie eigentlich nicht, nein, wer das erste bot, wer ihnen zuerst in den Weg kam und sie zu überreden wußte, dem überließen sie sich. Keinen Begriff hatten sie von dem, was die Wahl eigentlich bedeute, was sie für einen Einfluß auf sie selbst, auf das ganze Land, ausüben könne – ›ach was‹ hört ich Viele sagen, ›ob ich den oder den Wisch in den Kasten stecke, darum bleibt Amerika doch stehn und wir kriegen auch nicht mehr Lohn.‹ Anderen machte ich Vorwürfe über ihr schändliches schaamloses Betragen und erhielt die Antwort: ›Geht zum Teufel – wir sind hier freie Amerikaner, und können stimmen wie wir wollen.‹«

»Und das waren meine Landsleute, das waren die Männer, die ich mir als ›Republikaner‹ geträumt, für die ich geschwärmt, die ich zum Beispiel für Andere, gerade wie Sie es gethan, aufgestellt hatte. Und von solchen Menschen könnten wir in Deutschland eine Besserung der Zustände erwarten? – Lange kämpfte ich damals mit mir selbst, was ich thun, wie ich handeln sollte, endlich war mein Entschluß bestimmt – nach Deutschland kehrte ich zurück und in Deutschland lag ferner, so lange diese schwachen Kräfte noch ausreichten, mein Wirkungskreis. Das Volk, oder wenigstens den kleinen mir anvertrauten Theil desselben, wollte ich heranziehn nach besten Kräften, wollte Männer aus ihnen machen, Männer, die wissen, was sie sich und ihrem Vaterlande – seien sie nun darin geboren oder aus freier Wahl hervorgezogen – schuldig sind – wollte mit einem Worte würdige Republikaner heranbilden, die ihre Zeit begriffen und verstanden. Was ich dabei unter Republik verstehe, vertrüge sich auch recht gut mit einer constitutionellen Monarchie, wenn diese Form, der Masse wegen, beibehalten werden müßte, aber ein König oder Kaiser würde dann auch nur der Präsident der Staaten sein und die Macht in der Majorität – im Volke ruhen.«

»Das, mein guter Herr Wahlert, ist meine Politik und ob ich recht gehabt, mag die Zeit lehren. Unser – Deutschlands Heil liegt nicht in der Gegenwart, obgleich ich gar nicht leugnen will, daß die letzte Revolution heilsam, ja sogar nöthig war, die starre Rinde erst einmal zu brechen, die uns mit ihren Banden umschlossen hielt – die Freiheit mußte geboren werden, ehe sie überhaupt bestehen konnte, jetzt aber haben wir sie heranzubilden und zu pflegen nach besten Kräften, daß sie in der aufwachsenden, von ihr beseligten Jugend eine starke, einige Stütze finde und nachher, lieber Wahlert, nachher wollen wir wieder von der Abänderung der jetzigen Staatsform sprechen. Ist dann die Majorität des Volks, mit ihrem vollen Bewußtsein für Republik, ei lieber Gott, wer will sie ihr dann vorenthalten können, und ist sie es nicht? Gut, dann wird sie auch wissen weshalb, und sich der Majorität zu fügen, ist selbst Pflicht des Republikaners. – Wenn er nämlich wirklich auch ein Republikaner im Herzen ist, und sich nicht blos in eitlem prahlerischen Dünkel den Namen und die rothe Cokarde beilegt, zugleich aber gegen die Titel und Orden, die doch in dem Fall nur ganz dasselbe sind, in phrasenreichen Reden donnerte. Und Sie schweigen?«

Wahlert stand, den linken Fuß auf den Stein gehoben, den linken Ellbogen auf das Knie, in die Hand den Kopf und die rechte auf seinen Stock gestützt, still und schweigend wohl mehrere Minuten da und sagte endlich leise:

»Manchmal, in recht trüben, schweren Stunden, haben mich ähnliche Gedanken überkommen, und ich zweifelte dann, wenn ich mich hie und da einmal in meinen Hoffnungen getäuscht, in meinen liebsten Plänen verlassen sah, an der Ausführung des hohen herrlichen Ziels. Aber nein, nein, es kann, es darf nicht sein,« rief er, sich plötzlich hoch und freudig emporrichtend – »nur ängstliches Alpdrücken ist das, was uns jetzt Herz und Seele manchmal beengt, noch nicht hineinfinden können wir uns in den Gedanken an so Göttliches. – Es ist wahr, in der Volksversammlung jauchzt die Menge nur dem Redner zu, der ihm die schwülstigsten Phrasen, die gröbsten Schmeicheleien in den Bart wirft – mit Mismuth und Aerger hab' ich beobachtet, wie in den Versammlungen der Demokraten besonders, wo leider am wenigsten die Intelligenz vertreten war, einige Wenige die Debatte leiteten und die Masse nur dazu da zu sein schien, beim Abstimmen ihrer Führer Meinung zum Beschluß zu erheben – aber das sind einzelne Misgriffe, die von selber in ihr Nichts zurückfallen werden. Das Volk selbst, das heißt der Kern des Volks, der Landmann, der Bürger weiß was er will und das einzige was wir jetzt zu thun haben ist, ihn dazu anzutreiben, daß er auch will, was er weiß.«

»Gut« sagte Kraft ernst – »so gehn Sie denn hier im Lande herum und betrachten Sie sich das, was sie den Kern desselben nennen – kommen Sie zu dem Bauer, Gärtner, Häusler, zu dem Knecht und Tagelöhner, gehen Sie selbst zu den bemittelteren Bewohnern in Horneck und Bachstetten und wie die umliegenden Ortschaften alle heißen, und dann sagen Sie mir wieder, ob das Republikaner sind, die Sie da finden, ob Sie sich getrauen, mit dem Volk eine Republik zu gründen. Sie wissen selbst am Besten, wie Sie hier von den ›Arbeitern,‹ weil Sie denn einmal den Titel wollen, förmlich einem wilden Thiere gleich gehetzt wurden. – Ja ich weiß schon, damals konnten die Leute es Ihnen noch nicht ansehn, daß Sie Ihr Leben und Vermögen blos seinem Wohl geopfert und Alles verlassen hatten was den Menschen an die Heimath fesseln kann, nur um die Undankbaren von ihren Fesseln zu befreien und – glücklich zu machen. Aber jetzt – jetzt wissen sie das Vorgegangene, jetzt wissen sie, daß man Sie damals nur verfolgte, weil Sie Ihre Meinung zu frei geäußert und die Massen versucht hatten, zur Erkenntniß ihrer selbst zu bringen. Jetzt wissen sie, daß kein Verbrechen auf Ihnen lastet, jetzt wissen sie, daß Sie nur stets des armen Mannes Bestes gewollt und erstrebt, und blind folgte Ihnen die Schaar, wohin Sie die Fahne trügen. Treten Sie ihr aber einmal mit festem Wort entgegen, versuchen Sie den Strom zu dämmen, der im Begriff ist, sein Ufer zu überschwemmen, und Alles ist vergessen, was früher geschehn, gethan, – ›Reaktionair!‹ brüllt die Menge, und einmal verdächtigt, könnten Sie selbst die besten heiligsten Motive vor ihrem Fluch nicht schützen. Die eigenen Führer sind die ersten, die von den siegestrunkenen Republikanern, wollten sie die Republik jetzt proklamiren und nachher dem Mord und der Plünderung Einhalt thun, an die Laternenpfähle geknüpft würden. –«

»Doch ich predige da tauben Ohren und es ist mit der Politik, wie mit der Religion; zwei, die verschiedener Meinung sind, kommen zusammen, zanken und disputiren sich Stunden lang, gerathen in Eifer, werden oft bittere Feinde und wissen doch voraus, daß sie nie des Anderen Meinung ändern können. – Dort unten scheint indeß das Treiben zusammengekommen zu sein; wie die armen Hasen springen, und selbst noch mit zerschossenen Läufen ihren Feinden, den Hunden, und den noch weit ärgeren, den Menschen zu entgehn suchen – arme Thiere, Ihr seid eingekesselt, und ringsherum rücken die todtbringenden Rohre zusammen – wählt Euch einen sicheren Schützen zum letzten Sprung, der es bald mit Euch vorüber macht, mit zerschossenen Gliedern die kalte Nacht im Felde zu liegen und dann nicht sterben zu können, muß gar traurig sein.«

»Haben Sie einen besonderen Zweck, der Sie heute nach Horneck führt, lieber Kraft?« frug Wahlert endlich nach ziemlich langer Pause, »daß ich hier sei, konnten Sie doch kaum wissen, und schienen auch erstaunt mich zu sehn.«

»Allerdings« erwiederte der Lehrer »mein Besuch gilt auch eigentlich nur dem armen alten Kleinholz, der vor längerer Zeit schon emeritirt wurde und jetzt in fürchterlichster Noth, sich an das Ministerium um Zulage gewandt hat. Er wollte aber dabei meinem Rath nicht folgen und sich direkt an den Minister wenden, sondern zog den Weg durch den Pastor und zwar mit dessen Bevorwortung vor, Pastor Scheidler meinte er, oder der ›Herr Pastor Scheidler,‹ wie er sagte, hätte ihm schon in früherer Zeit versprochen, Alles aufzubieten, was in seinen Kräften stünde, ihn in der Noth zu unterstützen und auf dessen Bericht hin, der in dem gewöhnlichen steifen amtlichen Styl gehalten wird, kann ich mir nicht denken, daß das Ministerium viel thun wird – es kommen zu viel derartige Eingaben. Doch es ist ja möglich, und ich wollte nur einmal sehn ob es dem armen alten Mann etwas besser geht, und ich ihm vielleicht einige Unterstützung bringen kann.«

»Steht sich der alte Schullehrer hier im Orte so schlecht?« frug Wahlert, »es ist doch ein so großer Ort, und sollte sicherlich gerade den Mann hegen und pflegen, der all seine Bewohner vielleicht groß, und viele zu braven wackeren Menschen herangezogen hat.«

»Du lieber Gott, darüber ließe sich so Manches sagen« erwiederte ihm Kraft seufzend. »Mit funfzig Thalern soll der Mann auskommen, sieben gesunde Kinder ernähren – und nicht betteln gehn, – es ist lächerlich – aber recht traurig. Doch leben Sie wohl, lieber Wahlert – ich habe geschwatzt und geschwatzt und die schöne Zeit damit versäumt, Wasser in die Rausche zu tragen. – Gott bessere es – vielleicht sehn wir uns heut' Abend im Dorfe wieder, ich werde in der Schenke übernachten und erst morgen früh nach Bachstetten zurückkehren.«

Und einen herzlichen Händedruck mit dem jungen Manne wechselnd, schritt er rasch auf dem breiten, mit gelbem Kies überworfenen Weg entlang, dem Dorf zu, das er in kurzer Zeit gerade da erreichte, wo der kleine Fußpfad nach Schule und Kirche hinüber und zwischen Sturz- und Stoppelfeldern hin, rechts abführte.

Zwölftes Kapitel.
Die Begegnung.

Wahlert stand noch eine lange Zeit, und schaute erst mit stierem, aber an Nichts haftendem Blick nach der Richtung hinaus, die sein alter Lehrer genommen, und dann, als dieser hinter den Gebäuden und Obstbäumen verschwunden war, in das Thal hinunter, wo die Treiberjungen eben die geschossenen Hasen auf einem Rain zusammenschleppten, und in eine Reihe legten, und die Schützen indeß in langer Linie auf einem schmalen Stoppelfeld weiter in's Revier hinunter gingen, das zweite Treiben zu beginnen. Endlich richtete er sich empor aus seinem dumpfen Brüten, stützte einen Augenblick noch die Stirn in seine linke hohle Hand, warf dann plötzlich, wie in neu erwachendem Stolz und gekräftigten Entschluß den Kopf zurück, und schritt mit verschränktem Arm rasch, und weder rechts noch links mehr schauend, in den Wald hinein.

Es war ein schöner, aber auch düsterer Morgen, links neben den Feldern hin breiteten sich weite Flächen rosig blühender Haidedecken, hier und da mit grünen Kieferbüschen wie überstreut. Dazwischen herauf aber ragten graue schroffe Felsblöcke, halb eingehüllt in den blüthengeschmückten Teppich, und einzelne entlaubte Eichen schüttelten darüber hin ihre dürren Aeste. Weiter drüben jedoch, wo das fruchtbarere Land begann, wechselten gelbe Stoppeln mit grün schimmernden Rapsflächen ab, und hier und da füllte die, in den wellenförmigen Boden eingerissenen Schluchten, junger kräftiger Baumschlag von Birken und Buchen.

Ueber diese hin lag, gerade den Gipfel des entferntesten Hügels krönend, das kleine Dörfchen Skorditz, bis auf dessen Fluren die Hornecker Jagdgerechtigkeit reichte, und ein langer, scharf gegen den Horizont abstechender Pappelnkamm, zog sich von einem Ende desselben bis zum anderen, die ganze Häuser und Baumgruppe wie mit einem Diadem umschließend, hinüber.

Wahlert hatte eben eine breit ausgehauene Waldschneuse erreicht, durch die hin er, auf die eine Seite wie durch ein Perspectiv nach Skorditz hinübersehen konnte, während er auf der anderen, von einer kleinen Anhöhe begünstigt, einen weiten, von Wald umschlossenen Wiesenplan überschaute. Es war dieselbe Stelle, in deren Nähe er damals, gerade als er die Schneuse überspringen wollte, die beiden jungen Damen getroffen, angeredet, und von dem dazukommenden Jäger so rauh behandelt war, und das Gedächtniß jener Tage mochte ihm wohl recht peinlich, und doch in ihren Folgen auch süß und tröstend durch die Seele ziehen. Er lagerte sich in das weiche, duftige Haidekraut, und schien eine lange Zeit vollkommen in seinen Gedanken und Erinnerungen verloren.

»Wunderliches Schicksal,« murmelte er vor sich hin, während sein Blick die Stelle überflog, wo er damals seine jetzige Braut zuerst gesehen, »konnt' ich wohl denken, als ich die schlanke, liebe Gestalt auf mich zugleiten sah, daß jenes holde, herzige Wesen für den Mann Mitgefühl, und dann Liebe empfinden sollte, der mit zerrissenen Kleidern, mit wirrem Bart und Haar, bleich und verstört, einem Räuber ähnlicher als einem Unglücklichen, in ihren Weg sprang? – Aber bestimmt denn auch das Kleid den Werth des Menschen? Bleibt nicht das Herz sich gleich im Bettlerrock, wie unter –« Er hielt plötzlich inne, schaute erst einen Augenblick still und starr vor sich nieder, und barg dann mit tiefem Seufzer das Antlitz in den Händen. Ein bleiches, schmerzdurchschauertes Bild zog mit vorwurfsvollen Blicken an seiner inneren Seele vorüber, und strafte die Worte Lügen, die sein Mund gesprochen.

Leichte Schritte wurden gehört, den Weg aus dem Holz heraus kam eine Frauengestalt, in ein einfach dunkles Gewand gekleidet; sie hatte einen alten Shawl fest um sich hergeschlagen, und in der rechten Hand hielt sie einen Strauß von Kornblumen, wie sie noch draußen auf den Rainen blühten. Langsam kam sie die Straße herab, und als sie die Stelle erreichte, wo der junge Mann auf der kalten Erde lag, und die Stirn noch immer in das buschige, blumige Haidekraut hineingepreßt hielt, da blieb sie stehen, und schaute halb neugierig, halb ängstlich zu ihm nieder.

»Sind Sie krank, Fremder?« sagte sie endlich mit gedämpfter mitleidiger Stimme – »kann ich etwas helfen?«

Wahlert hob rasch den Kopf empor, sah das bleiche Mädchen dicht vor sich, über ihn hingebeugt, und strich sich schnell mit der Hand über die feuchte Stirn, als wenn er sich erst wirklich überzeugen wolle, ob er wache oder noch fort träume in seinen wilden, wehdurchzuckten Phantasien.

»Marie?« – sagte er emporspringend, und mit noch immer zweifelnder, kaum verständlicher Stimme – »Du hier? – im Wald – allein?«

Ueber des Mädchens Züge hatte sich Todtenblässe gebreitet, und die beiden hellrothen Flecke glühten in eigenthümlichem fieberhaften Feuer, aber sie sprach kein Wort – kein Laut des Erstaunens kam über ihre Lippen, den Mann hier zu finden, dessen Anwesenheit im Dorf ihr schon Herz und Seele mit peinlich quälender Angst erfüllt hatte.

So standen sich die Beiden viele Minuten lang schweigend gegenüber, es war fast, als ob sich Jedes scheute, den Zauber zu brechen, der über dem Begegnen lähmend ruhte. Marie war die erste, die sich sammelte.

»Guten Tag, Herr Wahlert!« sagte sie leise, und wandte sich zum Gehen –

»Marie,« bat da der junge Mann, und ergriff die Hand, die sich nur schwach dagegen sträubte, der seinigen zu begegnen, – »wie geht es Dir – Du siehst bleich, krank und – leidend aus, (er konnte das Wort dürftig, das ihm auf den Lippen lag, nicht aussprechen) kann ich etwas für Dich thun?«

»Sie?« sagte das Mädchen, und schaute ihn erstaunt mit ihren großen, fast geisterhaften, dunkeln Augen an – »Sie? – Was können Sie für mich thun, Herr Wahlert? Sie, der Bräutigam Sophiens, der im Begriff steht, sein Vaterland und seine Familie zu verlassen, um in fernen Zonen an der Seite der Geliebten eine neue Heimath zu suchen?«

»Und sollen wir so auf immer scheiden?« frug Wahlert, von dem weichen Ton der Jungfrau schmerzlich berührt, »Du gabst mir damals die Freiheit wieder, Marie, als mich die Häscher dem Kerker entgegenführten – rettetest vielleicht dadurch mein Leben, denn es lag ihnen in der Zeit viel daran, mich gerade unschädlich zu wissen.«

»Und jetzt sind Sie von keiner Gefahr mehr bedroht?« frug mit monotonen Lauten das Mädchen.

»Hier von keiner, das Volk hat gesiegt, und Glück und Wohlstand wäre ihm verbürgt, wenn es jetzt, o nur jetzt, fest und treu zusammenhielte.«

»Glück und Wohlstand,« murmelte Marie, und wickelte sich fröstelnd fester in ihren Shawl ein – »Glück und Wohlstand – und wenn es fest und treu zusammenhielte« – wiederholte des Musikanten Tochter die Worte des jungen Mannes mit schmerzlicher Bitterkeit – »was aber kann der eine Theil dafür, wenn sich der andere kalt und – treulos von ihm abwenden – von ihm losreißen will? – Was verschuldete er, um in Unglück und Elend hinausgestoßen zu werden – während der Andere das Glück einer Welt in seine Arme zieht? Glück und Wohlstand für Alle – für Alle, nur nicht für die Elenden und in den Staub Getretenen, nur nicht für –«

Das Mädchen, dessen Wangen bei den letzten Worten eine fliegende Gluth wie mit überirdischem Glanz übergoß, und ihr für Momente mit dem feurigen Strahl der großen Augen, fast die frühere Schönheit wieder auf ihr Antlitz zurückzauberte, hielt plötzlich inne, strich sich mit der einen Hand die in die Stirn gefallenen Haare zurück, wandte sich dann ab und sagte mit leiser, wieder ganz ruhiger Stimme:

»Es ist besser, wir scheiden so, und kein Wort wird weiter unter uns gewechselt – ich will keinen Stachel der Reue in Ihre Seele drücken, jetzt, wo Sie die Pflicht übernommen, ein treu an Ihnen hängendes Mädchenherz mit starker, nicht schwankender Hand durch's Leben zu führen – nur eines noch, eines liegt mir auf der Seele, und selbst Gott könnte nicht von mir verlangen, daß ich das Bewußtsein sollte mit in mein Elend – mit in mein Leben hineinziehn.«

»Marie, was ist Dir, Du bist fürchterlich erregt?« sagte mit Mitleid in Ton und Blick der junge Mann.

»Sie glaubten mich schuldig,« fuhr die Unglückliche, sich wieder zu ihm hinwendend und seinem Auge mit festem offnen Blick begegnend, fort – »ich bin es nicht

»Nicht?« rief Wahlert erschreckt und schaute mit ängstlicher Spannung auf das erregte Antlitz der einst, ach so heiß Geliebten – »nicht schuldig? – aber großer Gott – wie kam es da – weshalb – wie ist mir denn, mir wirbelt der Kopf vor Allem, was sich mir toll und sinnverdrehend hineinwirft – nicht schuldig – und Dein Kind?«

Marie barg das Antlitz eine Zeit lang in den Händen und große schwere Thränen drängten sich zwischen ihren Fingern hindurch.

»Mein armes Kind!« flüsterte sie leise.

»Du sprichst in Räthseln.«

»Deren Lösung Ihnen das Herz brechen würde,« erwiederte Marie, jetzt plötzlich sich gewaltsam zusammenraffend – »genug – genug – nur nicht als Schuldige, Treulose wollte ich in Ihrem Gedächtnisse leben, der Gedanke war mir zu fürchterlich in all' dem Leide, das überhaupt auf meinem Pfade liegt. – Sie wissen, daß ich Sie nie belogen, und werden mir glauben – jetzt leben Sie wohl und – glücklich – recht glücklich, und wenn Sie manchmal der armen Marie gedenken, sei es – in – in Mitleid – aber nicht in Haß.«

Mit flüchtigen Schritten eilte sie davon, wenige Secunden später aber stand Wahlert auch an ihrer Seite und ihren Arm ergreifend, und sie fest dadurch an die Stelle bannend, rief er rasch und heftig:

»Marie, nicht so – beim ewigen Gott, nicht so – ruht hier ein dunkles Geheimniß, so muß ich es lösen, und will es wissen – sprich, wenn noch ein Strahl von Liebe für mich in Deinem Herzen lebt, sprich.«

»Aus eben dem Grunde sollte ich schweigen,« sagte die Unglückliche – »weshalb dieselbe Last auf ein zweites Herz übertragen, wenn das erste dadurch nur um ein so geringes erleichtert wird – es wäre Sünde. Gehe wie bisher Deine Bahn, kalter, erbarmungsloser Mann, und schaue, mit Deinem Ziel im Auge, nicht nach den Blumen zurück, die Du zertreten hinter Dir läßt.«

»Du bist grausam, Marie, und folterst mich durch Dein Schweigen – nur die beiden Fragen beantworte mir, wenn Du den Frieden meiner Seele höher achtest, als den Stein, den Dein Fuß aus Deiner Bahn wirft – wer ist der Vater Deines Kindes?«

»Meine Schmach,« stöhnte Marie und barg Stirn und Augen in ihrer Linken.

»Du schweigst?« flüsterte Wahlert, und der eigene Laut seiner Stimme machte die Jungfrau erschreckt zu ihm aufschauen.

»Und auch jetzt noch Mißtrauen?« sagte sie und warf noch einen Blick auf den vor ihr Stehenden mit leisem Vorwurf im Ton – »so sei es denn, und dies Geständniß möge mir Gott zur Sühne meiner Sünden rechnen – der Oberpostdirector von Gaulitz.«

»Der Bube!« zischte Wahlert zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch.

»Sie wissen,« fuhr Marie, jetzt wieder hochroth von Schaam übergossen, und von Wahlert abgewandt, fort – »daß die traurigen Verhältnisse meines Vaters mich zwangen, mein Brod mir außer dem Hause zu verdienen; – Sie lernten mich dort kennen – lieben. Mein unseliges Verhängniß wollte aber, daß jene herrliche Frau, bei der ich fast wie ein eigenes Kind gehalten wurde – starb – ich mußte meine Stellung aufgeben und ein böser Geist führte mich in das Haus des Oberpostdirectors von Gaulitz als Wirthschafterin. Sie selbst waren kurze Zeit vorher auf Reisen gegangen. Jener weißhaarige Bösewicht hielt nicht lange mit seinen schändlichen Anträgen zurück – ich wies sie mit Abscheu von mir und wollte sein Haus verlassen – die letzte Nacht – heiliger Gott, ersparen Sie mir das Geständniß – ein höllischer Saft, den ich unbewußt trank, muß mir die Besinnung geraubt haben – am andern Morgen war ich verrathen und – elend.«

»Teufel der,« rief Wahlert, mit dem Fuße stampfend.

»Ich floh zu meinem Vater,« sagte Marie mit kaum hörbarer Stimme, »und hoffte von Stunde zu Stunde auf Ihre Rückkehr – Sie kehrten zurück, aber nicht zu mir. Ein Brief, den ich an Sie, mit der ganzen Erzählung der an mir verübten That – mit der Bitte, um Hülfe, um Gerechtigkeit sandte – kam uneröffnet wieder in meine Hände. Mein Kind starb, in der Residenz fand ich bei anständigen Leuten, da ich nicht einmal die Mittel besaß, mich ordentlich zu kleiden, kein Unterkommen mehr – mit meinem Vater, dessen rohe Vorwürfe mir täglich die Seele zerfleischten, zog ich von da an durch das Land – und wir sangen vor den Thüren der Leute – um unser Brod.«

»Marie,« rief da, von wildem Schmerz ergriffen, Wahlert, und schwere Thränen rollten seine bleichen Wangen herab, »arme, mißhandelte, unglückselige Marie, o sprich – giebt es ein Mittel auf der weiten Gotteswelt, Dir nur in etwas das Leiden zu vergüten, was Du erduldet, denn von jetzt an sollst Du wenigstens keine Noth mehr leiden – keine Sorge mehr kennen – von jetzt an –«

»Nicht um Almosen zu betteln, hab' ich Ihnen mein Schicksal erzählt,« sagte das Mädchen und richtete sich stolz empor – »nicht Ihr Mitleiden wollte ich wecken – nicht Ihre Reue, nur gerechtfertigt – nicht schuldig, nicht sündhaft wollte ich in Ihrer Erinnerung – neben Sophien meinen Platz gewahrt wissen. – Leben Sie wohl, Wahlert, – leben Sie glücklich – mich sehn Sie nimmer wieder.«

»Marie!« rief Wahlert, und streckte bittend die Arme nach ihr aus.

»Denken Sie an Sophien,« sagte die Unglückliche ernst, den Arm gegen ihn erhebend; dann drehte sie sich ab von ihm und wanderte still und ohne sich wieder nach ihm umzuschauen, aber mit raschen festen Schritten, die Straße entlang dem Dorfe zu.

Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.

Fußnoten

[1]: Diese und die nachstehenden Verse sind wörtlich einem kleinen Liederbuche entnommen: »Faxen aus Sachsen, zweites Heft« Englische Kunstanstalt von A. H. Payne in Leipzig.

[2]: »Löcher machen,« beim Treibjagen nicht die richtige Entfernung von seinem Nebenmann halten, daß eine zu große Lücke oder ein Loch entsteht.

Hinweise zur Transkription

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Abschnitte, die abweichend in Antiqua gesetzt wurden, sind in der Transkription in kursiver Schrift dargestellt.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen:

Seite 13:
"«" entfernt
(fest entschlossen war, von selber los zu gehn.)

Seite 14:
"dem" geändert in "den"
(mit den unausweichbaren papageigrünen Glacéhandschuhen)

Seite 22:
"»" eingefügt
(»Wo Muth und Kraft in deutscher Seele flammen)

Seite 22:
"«" eingefügt
(Sie machen sicher nur Gestank.«)

Seite 22:
"»" eingefügt
(»Alles war im Anfang gut auf Erden)

Seite 24:
"erlegte" geändert in "er legte"
(er legte das Papier vor sich nieder)

Seite 33:
"»" eingefügt
(auf- und abgegangen war; »erstlich ist mir das Sprengen)

Seite 51:
"Staatsbüger" geändert in "Staatsbürger"
(und die Masse der »gutgesinnten« Staatsbürger)

Seite 52:
"-" eingefügt
(seines General-Superintendenten Sohn zu befreien)

Seite 68:
"Fieberforst" geändert in "Fieberfrost"
(bebte wie im Fieberfrost)

Seite 72:
"deßhalb" geändert in "deshalb"
(deshalb sind sie wahrscheinlich so eifrig bemüht)

Seite 75:
"»" eingefügt
vielleicht lassen sie ihn frei)

Seite 77:
"," eingefügt
(in das blaue seelenvolle Auge, ergriff dann)

Seite 77:
"ihn" geändert in "ihr"
(andere Gedanken drängten ihr aber in das)

Seite 81:
"»" eingefügt
(»un was wärsch, wenn se's hiarten?)

Seite 81/82:
"»" eingefügt
(ihn die anderen Beiden kurzweg nannten, »in dem dichten Grase)

Seite 91:
"." eingefügt
(um des Burschen ohnmächtigen Zorn weiter zu kümmern.)

Seite 120:
"«" entfernt
(durch die Straße lärmenden Schaar zu ihr hernieder tönten.)

Seite 123:
"etzt" geändert in "jetzt"
(der Bauer hat sich bis jetzt und bei solchen Gelegenheiten)

Seite 140:
"«" eingefügt
(und diese »würdige Weise« bestand denn auch allerdings)

Seite 145:
"nnd" geändert in "und"
(nur ein halbes Jahr Pastor und die Saiten haben)

Seite 148:
"brechtigt" geändert in "berechtigt"
(vielleicht berechtigt sein durfte zu erwarten)

Seite 154:
"«" eingefügt
(der Freiheit voran, in die Reihen der Feinde zu tragen«)

Seite 160:
"«" eingefügt
(er verachtet die – Dirne.« – Sie schauderte zusammen)

Seite 161:
"ei" geändert in "sei"
(nach Horneck gekommen sei und in der Pfarre wohne)

Seite 168:
"e nsterbret" geändert in "Fensterbret"
(lehnte sich, um nicht zu stürzen, an das Fensterbret)

Seite 174:
"anf" geändert in "auf"
(ging dann auf seinen Zögling zu)

Seite 176:
"«" eingefügt
(Alle mit einander, wie heißt der? –«)

Seite 178:
"»" entfernt
(Die Knaben schienen das im Anfang)

Seite 179:
"zn" geändert in "zu"
(heimlich zu desertiren, fand aber)

Seite 196:
"«" eingefügt
(noch keine Emancipation, Herr Hennig, rrrr« – unterbrach ihn)

Seite 196:
"»" eingefügt
(zu Worte kommen zu lassen, »auf's Neue)

Seite 203:
"«" eingefügt
(und mir wieder gnädige – Herren sein.«)

Seite 220:
"«" eingefügt
(»die Herren Schützen,«)

Seite 225:
"«" entfernt
(eine Tasse Eierbier eingeschenkt bekamen.)

Seite 228:
"eine" geändert in "ein"
(frug ein anderer dabei stehender Bauer lachend)

Seite 239:
"sie" eingefügt
(die Verfassung, die sie sich gaben, wurde nur wenig verändert)

Seite 242:
"«" eingefügt
(und können stimmen wie wir wollen.‹«)

Seite 245:
"Versammlung" geändert in "Versammlungen"
(wie in den Versammlungen der Demokraten besonders)

Seite 258:
"»" eingefügt
(»ich bin es nicht.«)

Seite 262:
"Denkeu" geändert in "Denken"
(»Denken Sie an Sophien,«)