The Project Gutenberg eBook of Die Heiligen

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Title: Die Heiligen

Author: Bernhard Kellermann

Illustrator: Magnus Zeller

Release date: July 28, 2013 [eBook #43339]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE HEILIGEN ***

Umchlagsllustration

Die Heiligen

von
Bernhard Kellermann

Titelillustration

1922
S. Fischer / Verlag
Berlin

Erste bis zwölfte Auflage
Illustriert von Magnus Zeller
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung
Copyright 1922 by S. Fischer, Verlag, Berlin

 

Schon vor Tagesgrauen erhob sich der Advokat von seinem Lager. Und im gleichen Augenblick begannen all die tausend kleinen Vögel, die in seinem Zimmer mit ihm lebten, zu zwitschern und zu trillern.

„Schon so früh wach, ihr Kleinen!“ flüsterte der Advokat. Er sprach nie laut. „Nun, guten Morgen! Pst! Pst!“

Und die tausend kleinen Vögel zwitscherten zur Antwort und verstummten gehorsam.

Der Advokat legte sich einen dicken wollenen Schal um die Schultern, denn er fror immerfort, er schlüpfte in wattierte Stiefel, zog Handschuhe an, setzte sich eine gefütterte Kappe auf den kahlen Schädel und trat ins Freie.

Es war noch Nacht, und alle Dinge sahen unwirklich und verzaubert aus. Zuweilen neigten sich die Gräser mit einem plötzlichen Ruck, ganz wie Schlafende sich neigen, die träumen, daß sie fallen, und dann spürte der Advokat einen kurzen warmen Hauch, der ebenso unvermittelt verschwand wie er kam. Am Himmel oben trieb eilig ein Gemisch von grauem und schwarzem Gewölk dahin, und im Zenit waren drei gelbe Sterne sichtbar, die in einer Richtung standen und wie ein fliegender Speer durch das Gewölk zu schießen schienen. Der Advokat betrachtete eine Weile aufmerksam den fliegenden Speer, und irgendein Gedanke rang in seinem Kopf. Dann eilte er mit kleinen, schlürfenden Schritten und so leise wie möglich über die sandbedeckten Wege des Anstaltsgartens dahin.

„Pst, stille!“ flüsterte er, wenn er an Büschen vorbeikam, in denen es sich regen wollte.

Wo die Gemüsegärten anfingen, stand ein alter Pumpbrunnen, der nicht mehr benutzt wurde, und hier begann der Advokat seine Tätigkeit. Er stellte die Gießkanne unter das Rohr und zog den Schwengel, immerfort bestrebt, keinen Lärm zu machen. Da der Brunnen wenig Wasser gab und der Advokat langsam und vorsichtig pumpte, war die Kanne erst nach halbstündiger Arbeit gefüllt. Darauf schleppte sie der kleine Advokat keuchend und hüstelnd bis zu den Blumenbeeten und fing an, die Blumen unter glückseligem Lächeln und leisen Koseworten zu begießen. „Nicht so hastig, ihr Kleinen,“ flüsterte er, „meine Kinderchen, wie ihr schluckt! Guten Morgen!“

Da aber wurde es in einem Holunderbusch lebendig. Hunderte von kleinen Vögeln streckten auf einmal die Köpfe aus dem Laub und zwitscherten dem Advokaten zu.

Er hob erschrocken die Hand. „Ruhig, still, um Gottes willen!“ sagte er. „Immer wollt ihr die ersten sein! Jeden Morgen. Pst!“ Und im Busch wurde es augenblicklich still.

Der Advokat ging lautlos von Beet zu Beet und begoß seine Blumen. Manchmal hielt er aufatmend inne und blickte zum Himmel empor, wo noch immer der goldene Speer durch das Gewölk schoß, ohne je von der Stelle zu kommen. Dann dachte er lange nach und schüttelte den Kopf. Aus dem Pavillon der Schwerkranken drang ein langgezogenes Heulen, das in regelmäßigen Intervallen in ein jammerndes Weinen überging. Der Advokat aber hörte es nicht. Er hörte nur, daß drinnen in den Büschen die Vögel die Flügel schüttelten und die Schnäbel wetzten.

Eine übernächtige Wärterin ging fröstelnd an ihm vorüber.

„Schon so früh bei der Arbeit?“ sagte sie und wandte ihm das bleiche Gesicht zu.

Der Advokat stellte die Gießkanne ab, verbeugte sich und zog die Mütze. „Man muß sich daranhalten,“ flüsterte er, „die Kleinen warten nicht.“

Hierauf begoß er die Beete, die sich am Hauptgebäude entlangzogen, andächtig und hingegeben. An den offenen Küchenfenstern, die sehr niedrig lagen, machte er halt und suchte mit den Augen die Fensterbretter ab. Er schüttelte enttäuscht und niedergeschlagen den Kopf. Ja, sie hatten es wiederum vergessen, ihm Brotkrumen für seine Vögel herauszustellen! Wer konnte sich auf diese Mägde verlassen?

Er suchte ein paar kleine Kieselsteine am Wege und warf sie, einen nach dem andern, mit leisem Kichern in die schwarze Küche hinein: Sollten sie es nur lernen, aufmerksamer zu sein! Oh, er würde es ihnen schon beibringen, die Brotkrumen regelmäßig aufs Fensterbrett zu stellen. Es gab ja genug Kiesel auf den Wegen. Und wenn sie sich noch so oft beschwerten!

Die Gießkanne war leer, und der Advokat machte im Morgengrauen den Weg zum Pumpbrunnen zurück.

Der Advokat war seit dem Tode seiner Frau ein Freund der Blumen und Vögel geworden. Als sie starb, in der Agonie, sagte sie: „Man muß die Blumen begießen. Die Vögel müssen ihr Futter haben.“ Das waren ihre letzten Worte, und der Advokat hörte sie Tag und Nacht in seinen Ohren wiederklingen. Er hörte sie aus jedem Windhauch, aus dem Gespräch zweier Menschen heraus, ja sogar aus der Stille vernahm er sie. Im Zimmer seiner Frau stand ein schwarzer schwerer Wäscheschrank (an den er sich merkwürdigerweise noch heute erinnerte), und auch dieser schwarze breite Schrank wiederholte ihm die letzten Worte seiner Frau, obschon er keinen Laut von sich gab. Der Advokat lebte still und einsam weiter und begoß die Blumen in den Vorfenstern und gab den Vögeln in den Bauern Futter und Wasser. Die Blumen gingen ein, und die Vögel starben, einer nach dem andern. Der Advokat aber bemerkte es nicht. Ihm schien es vielmehr, als ob die Vögel munter in ihren Bauern hüpften und zwitscherten. Sie brüteten, und es wurden ihrer immer mehr. Und der Advokat hatte seine kindliche Freude daran. Endlich waren es Hunderte, die ihm von früh bis spät in die Ohren zwitscherten, Tausende. Sie lebten in den Wänden, an der Decke, überall. Und der Advokat konnte nicht verstehen, daß die andern sie weder sahen noch hörten.

 

Als die Sonne aufging, hatte der Advokat schon ein gutes Stück seiner Tagesarbeit hinter sich und kehrte in den Pavillon zurück, der wie ein Landhaus im grünen Garten lag.

Unter der Türe, leicht gegen den Pfosten gelehnt, stand lächelnd Michael Petroff, ehemals Offizier in der russischen Armee, und begrüßte ihn mit einem heiteren, hellen: „Guten Morgen, mein Freund!“

Der Advokat in seinem wollenen Schal, der Halsbinde, den wattierten Stiefeln, verneigte sich und zog die Kappe.

„Guten Morgen, Herr Kapitän!“

Sie verbeugten sich einigemal, denn sie hatten die größte Hochachtung voreinander, dann erst reichten sie sich die Hand.

„Haben Sie gut geschlafen, Herr Advokat?“ fragte Michael Petroff und beugte sich etwas herab, wobei er liebenswürdig lächelte.

„Geschlafen? Ja, ich danke.“

„Auch ich verbrachte die Nacht vorzüglich!“ fuhr Michael Petroff fort und ließ ein helles, fröhliches Lachen hören. „Vorzüglich, in der Tat. Ich träumte —“, setzte er hinzu und blickte lächelnd, das rechte Auge halb zusammengekniffen, in den Garten hinaus. „Ja! — Und nun treten Sie ein in mein Bureau, mein Freund. Es gibt Neuigkeiten. Bitte!“ Er legte die Hand auf die Schulter des kleinen Advokaten und ließ ihm mit einer kleinen Verbeugung den Vortritt.

Kapitän Michael Petroff war ein schlanker, großer Mann, mit stahlblauen, heiteren Augen und einem kleinen blonden Schnurrbart, der wie sein blondes, seidenweiches gescheiteltes Haar zu erbleichen begann. Er war peinlich sauber gekleidet und sorgfältig rasiert. Sein Kinn war rund und schön geformt, etwas zu zart, sein Mund von außerordentlich schöner und weicher Zeichnung, wie der Mund eines Knaben.

„Bitte!“ sagte Michael Petroff und lud den Advokaten mit einer Handbewegung ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

„Ich störe. Störe ich nicht?“ flüsterte der Advokat und blieb stehen.

„Nein! Sie, wie sollten Sie —?“ Und Michael Petroff drängte den Advokaten auf das Sofa. Der kleine Advokat nahm scheu und mit einem dankbaren Blick Platz. „Sie haben ja so viele Arbeit — ich weiß —“, sagte er und deutete mit dem Kopf auf den Schreibtisch, der überladen war mit Akten, Zeitungen und Manuskripten.

„Es gibt zu tun, ja!“ versetzte Michael Petroff mit einem merkwürdigen Lächeln auf den schönen knabenhaften Lippen. „Aber für seine Freunde hat man immer Zeit. — Hier, nun hören Sie! Ich habe heute ein Memorandum an die hessische Regierung entworfen —,“ Michael Petroff wippte lächelnd ein Papier in der Hand — „die hessische Regierung wird auf das nachdrücklichste — auf — das — nachdrücklichste — ersucht, den Prozeß eines Lehrers zu revidieren!“

Hier blickte Michael Petroff auf seinen Gast, und seine Stirn legte sich urplötzlich in vier tiefe Falten. „Dieser Lehrer,“ fuhr er fort, „wurde zu vier Jahren, sage vier Jahren, Gefängnis verurteilt. Er hatte zehn Mäuler zu stopfen und unterschlug Kassengelder. Voilà tout! Was sagen Sie dazu, wie. Hahaha, sehen Sie, so ist die Welt! Ich fordere in meinem Memorandum nicht allein eine Revision des Prozesses, sondern auch dringend die Erhöhung der Beamtengehälter. Ich forderte — ich, Kapitän Michael Petroff, und ich werde auch Stellung im ‚Unparteiischen‘ nehmen. Sie werden sehen, mein Freund!“ Michael Petroff ließ einen kühnen, triumphierenden Blick über den kleinen kahlköpfigen Advokaten hingehen, der nickend zuhörte, ohne recht zu verstehen, was der Kapitän wollte.

„Sie tun viel Gutes!“ flüsterte er und nickte, und über sein kleines, fahles, verwüstetes Gesicht glitt ein kindliches Lächeln. Und nach einigem Nachdenken setzte er hinzu: „Sie sind ein guter Mensch, das ist es!“

Michael Petroff schüttelte den Kopf. „Ich tue meine Pflicht!“ versetzte er ernst. Und indem er die Hand auf das Herz legte und seine hellen, stahlblauen Augen aufleuchten ließ, fügte er hinzu: „Meine heilige Pflicht!“

Kapitän Michael Petroff, früher Offizier in einem Petersburger Regiment, betrachtete es als seine Lebensaufgabe, die Gerechtigkeit auf Erden zu vertreten. „Tribunal des Rechts und der Gerechtigkeit“ nannte er sich. Er war auf zwei große Tageszeitungen abonniert, die er jeden Tag nach Fällen durchsuchte, in denen seiner Ansicht nach jemand ein Unrecht geschehen war. Und jeden Tag fand Michael Petroff Fälle! Fälle, nichts als Fälle! Diese Fälle schnitt er aus, ordnete sie nach dem Datum und begann hierauf sie zu verarbeiten.

Er saß oft bis spät in der Nacht in seinem Bureau, wie er sein Zimmer nannte, oder in seiner Redaktion, wie er sein Zimmer zuweilen im Flüsterton seinem Vertrauten gegenüber bezeichnete. Da saß er und schrieb mit einer sauberen gestochenen Hand seine Eingaben, Proteste, Memoranden und übergab sie täglich um sechs Uhr dem Chefarzt Doktor März, der ihre Beförderung ein für allemal übernommen hatte. Doktor März nahm die Schriftstücke bereitwillig entgegen und legte sie in ein besonderes Fach, um sie gelegentlich als Material für sein Werk über Graphomanie zu benützen.

Die wenigen Stunden, die ihm diese Tätigkeit übrig ließ, verwandte Michael Petroff auf die Redaktion seiner Zeitung. Und diese Zeitung war die Ursache, daß er sein Zimmer zuweilen im geheimen Redaktion nannte. Diese Zeitung erschien nicht regelmäßig, sondern wenn sie gerade fertig wurde. Gewöhnlich erschien sie im Jahre einmal, manchmal aber auch, wenn ihn seine nervösen Zustände zur Eile antrieben, zweimal.

Michael Petroffs Zeitung war das genaue Abbild einer gewöhnlichen Tageszeitung, vom Kopf an, wo die Bezugsbedingungen vermerkt waren, und die Stadt, in der sie erschien — die Michael Petroff willkürlich wählte — bis auf die fingierten Namen der Herausgeber und Redakteure. Sie enthielt, wie jede andere Zeitung, Annoncen, die Michael Petroff höchst einfach aus anderen Zeitungen herausschnitt, einen Leitartikel, ein Feuilleton.

Der ganze redaktionelle Teil aber beschäftigte sich — mit Ausnahme weniger Artikel, die zur Maskierung eingeschoben waren — mit der Frage: Ist die Internierung Michael Petroffs, Kapitän der russischen Armee, berechtigt? Die Überschriften der einzelnen Artikel lauteten in jedem Jahre anders, wenn sie auch einen ähnlichen Sinn hatten! Das Ultimatum der russischen Regierung! — Ein Brief des Zaren an den Chefarzt Doktor März! — Die Zeitung erschien auch in jedem Jahr unter einem anderen Namen. Michael Petroff nannte sie „Weltauge“, „Europas Gewissen“, „Das Bajonett“.

Aus seinen Petitionen machte Michael Petroff kein Geheimnis, über seine Zeitung aber sprach er nur zu seinem Vertrauten, dem Advokaten. Und es ist möglich, daß er, obschon von Natur aus gesellig und äußerst gutherzig, nur deshalb den kleinen Advokaten so sehr ans Herz geschlossen hatte, weil er mit ihm über seine Zeitung plaudern konnte.

„Einen Augenblick, mein Freund!“ sagte er. „Es gibt Neuigkeiten. Ich möchte Ihnen gerne das Neueste mitteilen, bleiben Sie.“

Er trat zur Türe und räusperte sich, während er lauschte. Dann trat er hinaus auf den Korridor, hustete, kam befriedigt zurück. Er zog die Redaktionsschublade, deren Schlüssel er am Halse trug, auf, lachte hell und heiter und begann: „Das Neueste, hören Sie! Es kann seine Wirkung unmöglich verfehlen. Hören Sie nur die Überschrift: Doktor März verhaftet!“

„Doktor März verhaftet?“ flüsterte der Advokat ängstlich, und sah mit schlaffem Mund zu Petroff empor.

Michael Petroff lachte.

„Verhaftet? Nein, natürlich nicht. Ich führe in dem Artikel aus, daß die Verhaftung des Doktor März bevorstände und er sich ihr nur entziehen könnte, wenn er Michael Petroff augenblicklich freigäbe!“

Der Advokat nickte. „Ich verstehe“, sagte er und lächelte, da er Petroffs heitere Miene sah. Und doch dachte er gar nicht an Petroffs Artikel, sondern daran, daß er den Vögeln Wasser hinstellen müsse. Er wurde unruhig und machte Miene aufzustehen.

„Einen Augenblick noch, ich bitte Sie!“ drängte Michael Petroff. „Ja, die Idee ist prächtig, in der Tat“, fuhr er lebhaft fort, und seine Wangen färbten sich vor Freude mit einem flüchtigen Rot. „Ich erkläre in dem Artikel ausdrücklich, daß Doktor März ein Ehrenmann sei, ein hochgeachteter und allgemein geschätzter Arzt, so daß seine Handlungsweise in diesem speziellen Falle allgemeines Überraschen errege. Ich bitte Sie, mein Freund, was wird er tun, wenn er diesen Artikel liest? Hahaha, Sie werden etwas erleben, lieber Freund. Ich werde ihm ja nicht böse sein, ganz und gar nicht. Nun — endlich, endlich! werde ich sagen, lieber Doktor, haha! Aber sehen Sie weiter, was der ‚Unparteiische‘ schreibt. Sehen Sie sich einmal diesen Titel an, bitte sehr!“

„Welchen —?“

„Nun, diesen hier!“

„Ein — Fragezeichen?“

„Ja! Haha — nichts als ein Fragezeichen! Und darunter: Wo ist Michael Petroff? Ein öffentlicher Aufruf! Aber sehen Sie hier, im kleinen Feuilleton: Michael Petroff, Kapitän der russischen Armee, hat soeben ein sechsbändiges Werk über Sternschnuppen beendet. Die gesamte Fachpresse rühmt den Scharfsinn und die Klarheit des epochemachenden Werkes. Hahaha, sagte ich Ihnen nicht, daß es Neuigkeiten gäbe, mein Freund!“

Der Advokat saß zusammengekauert auf dem Sofa und dachte angestrengt nach, wobei er den Atem anhielt.

„Ich begreife nicht —?“ flüsterte er und schüttelte langsam den Kopf.

„Was begreifen Sie nicht?“

„Daß er Sie festhält.“

Michael Petroff sah den Advokaten erstaunt an. Dann beugte er den Kopf herab und flüsterte: „Ich sagte es Ihnen doch schon, daß meine Verwandten ihn bezahlen!“

„Sie bezahlen?“

„Ja, natürlich!“ antwortete Michael Petroff heiter. „Unsummen. Millionen!“

„Oh!“ Nun verstand der Advokat.

„Ja, sehen Sie, so ist es auf der Welt!“ sagte Michael Petroff und schnippte mit den Fingern.

Aber der Advokat konnte doch nicht recht begreifen.

„Ich verstehe nicht,“ begann er von neuem, „Doktor März ist ja so gütig. Ich wohne hier, lebe hier, habe mein Essen und bezahle nichts. Er hat noch nie Geld von mir verlangt. — Ich habe ja kein Geld, Sie wissen“, schloß er noch leiser und ängstlich.

Michael Petroff legte ihm wohlwollend und wichtigtuend die Hand auf die Schulter. „Sie arbeiten ja im Garten,“ sagte er, „begießen die Blumen. Wie sollte er es also wagen, Geld von Ihnen zu fordern? So einfach ist das. Vielleicht haben Sie aber auch Verwandte da draußen, die für Sie bezahlen?“

„Verwandte?“

„Ja. Da — draußen!“ Auf den schönen knabenhaften Lippen Petroffs erschien ein grausames Lächeln. Sollte er diesem kleinen alten Mann in dem wollenen Schal erklären, wo er sich befand? Sollte er diesem kleinen alten Mann mit dem grauen faltigen Gesicht vielleicht erklären, daß es ein „Da draußen“ gab — wo sie zum Beispiel eben in einen Schnellzug einsteigen oder sich die Hände waschen, um sich an den Tisch zu setzen? Er wippte sich auf den Zehen, und plötzlich verlor er die Vorstellung seiner Körperlichkeit: er kam sich vor wie ein riesiger in die Wolken ragender Turm, der auf den kleinen, kahlköpfigen Mann, der nur ein paar dünne Haarbüschel über den Ohren hatte, herabblickte. Eine Lust erfaßte ihn, den Advokaten zum Weinen zu bringen.

Da aber verbeugte er sich plötzlich leicht vor dem Advokaten und sagte: „Vergeben Sie Michael Petroff!“ Er machte ein paar Schritte durchs Zimmer, dann wandte er sich in ganz dem gleichen Ton wie vorhin an seinen Gast: „Wird es schönes Wetter bleiben, heute?“

„Ich glaube — ich weiß es nicht“, erwiderte der Advokat unsicher.

„Nun, wir wollen Kricket spielen, heute nachmittag. Sie frieren?“

„Ja“, flüsterte der Advokat und zog die Halsbinde enger.

Michael Petroff sah ihn mit schräg geneigtem Kopf an. „Ich kann nicht begreifen, daß Sie heute frieren können.“ Und er lachte fröhlich. „Kommen Sie,“ sagte er dann, „wir wollen —“ er hielt inne, denn er wußte nicht, was er wollte — „wir wollen — ja, wir wollen Freund Engelhardt besuchen. Kommen Sie! — Der Arzt war heute nacht bei ihm“, schloß er geheimnisvoll.

„Der Arzt?“

„Ja. Er ist krank, unser Freund. Hm, hm.“ Michael Petroff schloß sorgfältig das Manuskript der Zeitung ein, setzte eine große graue englische Reisemütze auf, warf einen Blick in den Spiegel, und sie verließen zusammen das Zimmer. Michael Petroff lachte leise, tief innen in der Kehle. An der Türe Engelhardts angelangt, blieben sie stehen und klopften lauschend. —

Für Michael Petroff gab es im Jahr zwei große Tage.

Der eine war sein Geburtstag, am 16. Mai. Michael Petroff vergaß ihn nie. Am 16. Mai ging er mit wichtiger Miene und Blicke werfend umher und sagte zu jedem, den er traf: „Heute ist mein Geburtstag. Danke für die Glückwünsche!“ Vor Tisch kam dann stets der Pfleger und bat ihn, zu Doktor März zu kommen, der ihm zu gratulieren wünsche.

Dann begab sich Michael Petroff mit leichten Schritten ins Sprechzimmer des Doktor März, schüttelte ihm die Hand und dankte für den wunderbaren Strauß weißer Rosen, den Doktor März ihm überreichte.

Michael Petroff ahnte nicht, woher der Strauß weißer Rosen kam. Er wußte nicht, daß an jedem Geburtstag hinter der Portiere des Sprechzimmers seine Gemahlin und seine Tochter standen, die alljährlich die weite Reise machten, um ihn zu sehen. In den ersten Jahren war die Gattin des Kapitäns blond gewesen, dann war sie allmählich grau geworden und jetzt war sie weiß, obgleich sie noch verhältnismäßig jung war. Früher war sie allein gekommen, seit drei Jahren war aber stets eine junge Dame in ihrer Begleitung, die immer schrecklich weinte, wenn sie kam und ging. Die junge Dame hatte nur ein Ohr und verbarg diese Verunstaltung durch die Frisur. Das andere Ohr hatte ihr Michael Petroff abgeschnitten, als sie noch ein Kind war, damals, als sein Leiden ausbrach.

Michael Petroff plauderte und lachte fröhlich mit dem Chefarzt und brachte die Rosen seinem Freunde, dem Advokaten.

„Hier sind Blumen! Ich tue nichts damit!“

Der Advokat nahm mit vor Freude geweiteten Augen die Rosen entgegen, vorsichtig wie etwas Zerbrechliches.

Der zweite große Tag Michael Petroffs war der Tag, an dem die Zeitung erschien.

Die Zeitung wurde in der Stadt gedruckt. Michael Petroff hatte den Portier des Sanatoriums für diese Kommission gewonnen. Der Portier lieferte das Manuskript an den Drucker ab und überbrachte Michael Petroff die gedruckten fünfundzwanzig Exemplare. In diesen Tagen befand sich Michael Petroff in der ungeheuersten Spannung. Er ließ die Zeitung den Ärzten und in erster Linie Doktor März zustellen und wartete aufgeregt die Wirkung ab. Er arbeitete in dieser Zeit nicht, sondern ging den ganzen Tag über im Garten und im Haus umher. Wenn er einem Arzte begegnete, so blieb er stehen und sandte ihm einen triumphierenden Blick zu, während seine Lippen ein siegessicheres Lächeln umspielte.

Nach einigen Tagen aber fragte er die Ärzte: „Hören Sie, haben Sie da nicht eine Zeitung erhalten?“

„Eine Zeitung?“

„Ja! Ich erhielt sie ja auch. ‚Das Bajonett‘?“

„O ja, ich erinnere mich. Ich werde nachsehen.“

„Tun Sie das, ja. Es könnten Dinge darin stehen, die Sie interessieren. Hahaha!“ Und er klopfte dem Arzt auf die Schulter und sah ihn vielsagend an.

Schließlich aber fragte er den Chefarzt selbst.

„Jaja,“ entgegnete dieser, „diese Zeitung habe ich allerdings gelesen, mein lieber Kapitän. Eine merkwürdige Sache. Ich habe mich auch sofort erkundigt. Die Redakteure waren aber nicht aufzufinden, trotz aller Bemühungen. Sie existieren gar nicht. Oder nicht mehr. Ich weiß nicht recht, was ich von dieser Zeitung halten soll, mein lieber Kapitän.“

Dann ging Michael Petroff einige Tage niedergeschlagen umher, und seine Depression konnte sich bis zur Melancholie und zur Tobsucht steigern. Aber nach einigen Tagen hellte sich sein Gemüt stets wieder auf. Er begrüßte seine Freunde, bat sie wegen seines verdrießlichen Benehmens um Entschuldigung und machte sich augenblicklich daran, eine neue Zeitung zu entwerfen. Diesmal mußte es ihm gelingen! Aufgepaßt, Doktor März! Dies war Michael Petroff, Kapitän der russischen Armee.

 

Freund Engelhardt, dem Michael Petroff und der Advokat einen Besuch abstatten wollten, war ein etwa fünfzigjähriger, ergrauter Mann, der sich erst seit einem Jahr in der Anstalt des Doktor März befand.

Er war Schuhmacher von Beruf und saß sein ganzes Leben lang, jahraus, jahrein unter seiner Glaskugel und klopfte Leder. Er war nicht verheiratet, lebte sehr zurückgezogen, und da er fleißig und sparsam war, hatte er sich sogar ein hübsches kleines Vermögen erworben. Da saß er unter seiner Glaskugel und hämmerte und nähte, und nichts ereignete sich. Aber allmählich war ihm diese Glaskugel merkwürdiger und merkwürdiger erschienen. Sie funkelte ihn an, blendete ihn, so daß er zuweilen vorübergehend eine gewisse uneingestandene Angst vor ihr empfand. Sie schien zu wachsen, immer größer und größer zu werden, und ein Tag kam, da sträubten sich die Haare Engelhardts vor Entsetzen. —

Nun litt er an dem wunderlichen und entsetzlichen Wahn, daß er der Mittelpunkt des Universums sei, dessen Aufgabe darin bestand, das Weltall im Gleichgewicht zu halten. In ihm liefen die tausendfältigen Kräfte des Alls zusammen, und er fühlte mit einer marternden Kontinuität, wie die Planeten und Sonnen um ihn ihre Bahnen schwangen, wie es sauste und wetterte da draußen. Wenn eine Kette von Schlittschuhläufern sich um einen in der Mitte dreht, so empfindet der in der Mitte, mit welch ungeheurer Energie die beiden wirbelnden Flügel um ihn kreisen, und er muß all seine Kräfte auf das Festhalten seines Standortes konzentrieren. Ähnlich war das Empfinden Engelhardts, und da die Anstrengung ohne jede Unterbrechung währte, so erschöpfte ihn seine Wahnidee dergestalt, daß er in einem Jahr um Jahrzehnte gealtert war. Wenn auch — wie er sagte — das Weltengebäude vom allmächtigen Schöpfer so wunderbar gefügt war, daß es in alle Ewigkeit in den vorgezeichneten Kreisen und Spiralen (so sagte er) lief, so litt er doch über seine Kräfte unter den geringsten Störungen da draußen. Im Winter hatte er vierzehn Tage schlaflos verbracht, da ein heranschwirrendes Gestirn an ihm zerrte; merkwürdigerweise war in dieser Zeit ein Komet aufgetaucht, dessen Erscheinen die ganze astronomische Welt überraschte. Damals war unter merkwürdigen Erscheinungen der Pfleger Schwindt gestorben, und Engelhardt hatte — nach seiner eigenen Aussage — dessen Seele in sich gesaugt, so daß er zu neuen Kräften kam, die den ganzen Frühling und Sommer anhielten. Jetzt aber ermattete er wiederum von Tag zu Tag mehr unter seiner Aufgabe, und die Kräfte verfielen rapid. Die Sternschnuppen und Meteorschwärme rissen an ihm, so daß ihn Schwindel erfaßte, und besonders der Mond hatte in dieser Zeit eine schreckliche Macht über ihn. Er saugte an seinen Kräften, und Engelhardt hatte das Empfinden, als ob jeden Augenblick der Boden unter ihm einsinken könne und er in die Tiefe sause, und das Weltall über ihm zusammenstürze. —

Als Michael Petroff und der kleine Advokat bei Engelhardt eintraten, nachdem sie eine lange Weile vergebens an die Türe gepocht hatten, fanden sie ihn im Bette liegen, die behaarten abgemagerten Hände schlaff auf dem Kissen. Er hatte die Augen senkrecht in die Höhe gerichtet, und zwar so stark nach oben gedreht, daß man das Weiße sah, und schien irgendeinen Punkt an der Decke zu fixieren. Sein Gesicht war von gleichmäßig gelblicher Tönung und erweckte den Eindruck, als sei es von Porzellan. So glatt war die Haut und so scharf traten die Kanten der Knochen hervor. Die Stirn war ungewöhnlich groß im Verhältnis zu dem kleinen Gesicht und dem kleinen Mund, der wie zum Pfeifen gespitzt schien und eine Menge feiner, der Mundöffnung zuströmender Linien zeigte. So sehr war der Schuhmacher in einem Jahre abgemagert, daß der Kragen seines bunten Hemdes fingerbreit von seinem dünnen Hals abstand.

„Guten Morgen!“ sagte Michael Petroff leise und heiter. „Freunde kommen!“ Der Advokat blieb scheu an der Türe stehen.

Engelhardt erwiderte nichts. Ein Zittern durchlief seinen Körper, und seine dünnen behaarten Hände zuckten zuweilen, ganz als ob er einem elektrischen Strom von wechselnder Stärke ausgesetzt wäre.

Michael Petroff lächelte und ging näher. „Wie befinden Sie sich, lieber Freund?“ sagte er leise und voller Anteilnahme, indem er sich über Engelhardt beugte. „Der Arzt war heute nacht bei Ihnen?“

Engelhardt rollte den Kopf auf dem Kissen hin und her. Er war erschöpft nach einer schlaflosen Nacht und den Beruhigungsmitteln, die ihm der Arzt verabreicht hatte.

„Schlecht!“ antwortete er tonlos.

„Schlecht?“ Michael Petroff zog besorgt die Brauen in die Höhe. „Es geht ihm nicht gut, unserm Freunde!“ wandte er sich an den kleinen Advokaten, der immer noch an der Türe stand.

„Haben Sie Schmerzen?“ Michael Petroff beugte sich wieder über den Kranken und näherte das Ohr seinem Munde.

„Ja“, erwiderte Engelhardt tonlos und matt und murmelte in Petroffs Ohr. Es hörte sich an, als bete er.

Michael Petroff richtete sich auf und sah den kleinen Advokaten an. „Er sagt, er sei mit seinen Kräften zu Ende, unser Freund. Er braucht eine neue Seele, — wie damals im Winter, als der Pfleger starb, erinnern Sie sich?“ Und in das Ohr des Leidenden rief er hinein, unnötig laut: „Ich werde mit dem Doktor reden, Freund Engelhardt. Das ist des Doktors Sache. Er wird Ihnen eine Seele verschaffen, so oder so!“

Der kleine Advokat aber hüllte sich plötzlich enger in seinen Schal. Ihn fröstelte. Für gewöhnlich blieben nur wenig Eindrücke in seinem Gedächtnis haften, aber er erinnerte sich noch deutlich an den Tod des Pflegers Schwindt, — wie Michael Petroff zu ihm ins Zimmer kam und ihm geheimnisvoll ins Ohr flüsterte: „Der Pfleger ist gestorben. Engelhardt holte sich seine Seele, sehen Sie!“ Nun ergriff ihn Schrecken bei dem Gedanken, daß Engelhardt am Ende seine Seele fordern könnte, und nichts fürchtete er mehr als den Tod.

Der Tod lebte in seinem kranken, wirren Kopf als eine Gestalt, die unsichtbar bis auf die Hände war. Plötzlich, oh, so plötzlich! würde er neben ihm stehen, dicht an seiner Seite. Und eine entsetzliche Kälte würde von ihm ausströmen, mit einemmal würden alle Blumen bereift umsinken und die Millionen rascher Vögel erstarrt aus der Luft stürzen, und er selbst würde in einen kleinen Schneehaufen verwandelt werden.

Der Advokat zog den Kopf ein, so daß sich sein dünner grauer Bart über der Halsbinde sträubte, und richtete die kleinen Mausaugen furchtsam auf Michael Petroff und zitterte.

Michael Petroff sah ihn erstaunt an. „Was haben Sie nur, lieber —?“ sagte er gedehnt und lächelte. „Sie ängstigen sich? Ja, weshalb, ich bitte Sie? Ich werde sofort zu Doktor März gehen und ihm Freund Engelhardts Anliegen vortragen. Er wird nicht zögern, wie ich ihn kenne, und alles ist in Ordnung. — Ich würde Ihnen ja gerne meine Seele zur Disposition stellen, Freund Engelhardt, aber ich brauche sie selbst noch — ich habe eine Mission zu erfüllen, Sie wissen — ich bin Napoleon, der jeden Tag eine Schlacht schlägt, ich bin —“ Aber er hielt plötzlich inne und lauschte.

„Hören Sie, da ist der Doktor ja!“ flüsterte er. „Er wird sogleich hier sein —“

 

Doktor März war in den Pavillon eingetreten. Man hörte ihn auf dem Korridor mit jemand sprechen, und alle drei im Zimmer des Schuhmachers lauschten. Die Stimme des Arztes allein war imstande, ihren Gedanken eine andere Richtung zu verleihen und flößte ihnen Hoffnungen, unbestimmte, aber ungeheure Hoffnungen ein. Sie wirkte auf sie ähnlich wie eine Stimme auf Verirrte wirkt, die sich in einer unbewohnten Öde verloren glaubten. Und doch sprach Doktor März nicht viel, er war vielmehr ein Meister im Zuhören geworden, der stundenlang am Tage den Klagen, den Beschwerden und hundert Bitten seiner Patienten lauschte. Aber seine wenigen Worte hatten die Kraft, aufzumuntern, zu trösten, zu erfreuen, und die Stimmung seiner Patienten für den ganzen Tag zu beeinflussen.

Der Advokat fror auf einmal nicht mehr, Michael Petroff lächelte aufgeregt, und Engelhardt hatte den Punkt an der Decke losgelassen und richtete die Augen auf die halb offenstehende Türe. Er hatte den Blick so stark konzentriert, daß seine kleinen blendenden Augen zu schielen schienen.

„Hören Sie, der Rajah spricht mit ihm!“ sagte Michael Petroff und hob lauschend den Finger.

„Sie werden keineswegs bewacht, lieber Freund“, sagte die ruhige Stimme des Arztes.

Und eine fast noch ruhigere tiefe Stimme antwortete: „Ich hörte die Wache die ganze Nacht vor meiner Türe auf und ab gehen, mein Herr! Ich hörte auch die Trommel bei der Ablösung.“

„Lieber Freund,“ entgegnete der Arzt, „Sie haben geträumt.“

„Nein!“ fuhr der Mann fort, den Michael Petroff Rajah genannt hatte, „ich entschuldige Sie, mein Herr. Sie tun nur Ihre Pflicht, ich weiß es. Allein der Takt sollte es Ihnen verbieten, Ihre Maßnahmen in einer solch auffallenden Weise zu treffen. Ich habe Ihnen mein Ehrenwort gegeben, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. Sagen Sie das der englischen Regierung, in deren Namen Sie mich hier festhalten. Ich habe ebensowenig Waffen in meinem Zimmer verborgen. Ich ersuche Sie, zu revidieren.“

„Ich weiß es recht wohl, mein Freund!“

„Ich ersuche Sie, trotzdem zu revidieren.“

Der „Rajah“ gab sich erst zufrieden, nachdem ihm der Arzt eine sofortige Revision versprochen hatte.

Während des Gesprächs war Doktor März im Rahmen der Türe erschienen und hinter ihm der „Rajah“. Doktor März war ein kleiner, in einen hellgrauen Anzug gekleideter Herr mit gerötetem bartlosen Gesicht und einem raschen, prüfenden und dabei doch sanften Blick, und der „Rajah“ stand groß und dunkel hinter ihm und füllte fast die ganze Türe aus. Der „Rajah“ hatte einen langen schwarzen Bart und ein dunkelbraunes kühnes Gesicht, aus dem das Weiße der Augen abstach.

Der „Rajah“ war ein einfacher Volksschullehrer, der einige Jahre in Indien an einer deutschen Schule gewirkt hatte. Während eines langwierigen Fiebers hatte sich in ihm die Basis zu einer Wahnvorstellung gebildet, die nach der Rückkehr in seine Heimat gänzlich Besitz von ihm ergriff. Er wähnte, ein indischer Fürst zu sein, den die englische Regierung ins Exil geschickt hatte.

Er war ein sehr stiller und verschlossener Kranker, der nie mit den anderen Patienten sprach. Seine Haltung drückte unermeßliche Ruhe und einen anscheinend ganz natürlichen Stolz aus. Tagelang würdigte er keinen Menschen eines Blickes. Er ging im Garten hin und her, ganz langsam, betrachtete mit verächtlicher Miene Blumen und Bäume und saß jeden Abend, wenn es das Wetter erlaubte, abseits auf einer Bank und blickte in die sinkende Sonne, der er sein gebräuntes Gesicht zuwandte, bis sie verschwand. Und während er in die sinkende Sonne blickte, brannten seine schwarzen Augen von einem dunkeln, sehnsüchtigen Schmerz. Da sah er Palmen, die in der Sonne zerschmolzen, so daß man nur ihre mit Feuerrändern versehenen Kronen, nicht aber die Stämme sah, — Elefanten, die würdig dahinschritten, den kleinen braunen Treiber im Nacken, — goldstrotzende Tempel, braune halbnackte Volkshaufen, die mit Zweigen in der Hand dahinhüpften und helle Schreie ausstießen, — und da sah er auch sich, wie er den großen Dampfer betrat, der ihn ins Exil bringen sollte, und das braune Volk warf sich weinend auf dem Kai nieder. Ein heißer ungeheurer Schmerz erfüllte die Seele des „Rajah“, und er stand auf und schob die breiten Schultern etwas höher, als trage er eine schwere Last. Und er trug sie! Nie klagte der „Rajah“, nie zeigte er Niedergeschlagenheit, nie zeigte er auch nur im geringsten, was in ihm vorging.

Auch in seinem Zimmer verhielt er sich ruhig. Nur selten hörte man ihn sprechen, und nur manchmal — im Schlaf — stieß er einen gedehnten, singenden Ruf aus, wie ihn die Straßenverkäufer im Orient hören lassen.

Als Doktor März eintrat, verbeugte sich der kleine kahlköpfige Advokat, die Mütze in der Hand, und drückte sich schüchtern an die Wand. Er empfand eine grenzenlose Dankbarkeit für den Arzt, der ihn hier still und ruhig bei seinen Blumen und Vögeln leben ließ, ohne je Bezahlung von ihm zu fordern. Er wagte es heute nicht einmal, Doktor März um Brosamen für seine Vögel zu bitten und sich über die nachlässigen Mägde in der Küche zu beschweren, obgleich er es sich fest vorgenommen hatte.

Den „Rajah“ dagegen, der düster, und unnahbar im Gang stand, vermochte der Advokat nicht ohne Scheu und eine innere leise Angst zu betrachten. Um ihm seine Ergebenheit auszudrücken, verneigte er sich tief gegen ihn, und da der „Rajah“ ihn nicht beachtete, verbeugte er sich nochmals, während er die Lippen flüsternd bewegte. Allein der „Rajah“ würdigte ihn keines Blickes. Einen Augenblick lang dachte der Advokat daran, näher zu treten und dem „Rajah“ die Hand zu küssen. Denn er erinnerte sich einer Begebenheit, die sich scharf seinem Gedächtnis eingeprägt hatte: An einem Abend hatte er den „Rajah“ im Korridor getroffen und ihm seine Verbeugung gemacht. Sie waren ganz allein. Da kam der „Rajah“ auf ihn zu und sagte mit tiefer, gedämpfter Stimme „Getreuer“ und streckte ihm die Hand zum Kusse hin. „Warte!“ sagte der „Rajah“ weiter. „Ich will dir meine Gunst bezeugen. Ich habe ja nicht mehr viel von den Schätzen übrig, die ich mit ins Exil nahm, aber — hier, nimm, nimm!“ Und der „Rajah“ hatte ihm einen kleinen grauen Stein in die Hand gedrückt.

Michael Petroff dagegen betrachtete Doktor März mit einem lächelnden und forschenden Blick, während er sich höflich gegen die Türe zurückzog. Er beugte den Kopf dabei etwas in den Nacken, neigte ihn ein wenig auf die Seite, und sah den, Arzt an, als ob er eine ganz besondere Nachricht von ihm erwarte und als ob er genau wisse, daß Doktor März heute eine ganz besondere Nachricht für ihn habe. So zuversichtlich sah er ihn an, und ein Lächeln umspielte seinen schönen Knabenmund.

Engelhardt aber, dessen Brauen vor Schmerz wie mit Klammern in die Höhe gespannt waren, hatte sich im Bett halb aufgesetzt und trug dem Arzt seine Leiden und Wünsche vor. Er sprach in der Kehle, rasch, murmelnd und fast unverständlich, und seine Stimme klang wie das ferne Kläffen eines Dorfhundes, das man in einer stillen Nacht hört.

Daß er zu Ende sei mit seinen Kräften, — der Mond saugt! — daß ihn in der Nacht Tausende von Menschen auf den Knien angefleht hätten, sie nicht der Vernichtung preiszugeben, — daß nur eine neue Seele ihm wieder Stärke verleihen könne, — daß er fühle, wie er sich mehr und mehr nach links neige und das Weltall jeden Augenblick zusammenstürzen könne: all das stieß er wirr und kaum verständlich heraus, die kranken Augen hilfesuchend auf Doktor März geheftet.

Doktor März hörte ernst zu, auch Michael Petroff und selbst der „Rajah“, der unter die Türe getreten war. Und da alle so ernst zuhörten — besonders der „Rajah“, der seine großen glühenden Augen auf Engelhardt gerichtet hatte — so wurde der kleine Advokat wieder von seiner früheren Angst gepackt. Es war ihm, als sänken seine Beine, in den Boden hinein, wie in einen Sumpf, aber gerade in dem Moment, da die Angst wie eine große schwarze Finsternis über ihn sinken wollte, setzte sich ein Vogel zwitschernd auf das Fensterbrett, und der Advokat war wie verwandelt.

„Ich komme!“ flüsterte er hastig.

„Bleiben Sie doch!“ sagte Michael Petroff leise zu ihm und griff nach seinem Arm. „Wohin denn?“

„Er rief mich!“ entgegnete der Advokat und schlüpfte rasch hinaus.

„Wie er eilt!“ dachte Michael Petroff und hörte sich selbst im Innern lachen. Und später sagte er zu Doktor März, indem er ihm vertraulich die Hand auf die Schulter legte: „Dieser Advokat ist gewiß ein kluger und gebildeter Mann, — und doch glaubt er, daß die Vögel ihn rufen! Unter uns, Doktor, haben Sie nie den Gedanken gehabt, daß es mit ihm nicht ganz in Ordnung ist —?“

 

Nach Tisch ergingen sich wie gewöhnlich die Patienten des Doktor März im Garten. Sie trotteten in kleinen Trüppchen hintereinander her, immer um das große Blumenbeet herum, in gleichen Abständen, schweigsam, in Gedanken versunken. Nur der „Erfinder,“ ein junger Mann, blieb zuweilen stehen, stemmte die Hand in die Seite, legte den Finger an die Stirn und fixierte einen Punkt am Boden.

Der Advokat begoß seine Blumen und lauschte verzückt auf das Zwitschern der tausend und abertausend Vögel, die in den Büschen und Wipfeln hüpften. Michael Petroff war in ganz ausgezeichneter Laune. Es gab da Neuigkeiten —! Man höre, man höre! Er rauchte, jeden Zug genießend, eine Zigarette, die ihm Doktor März verehrt hatte. Die Zigarette schwang er zwischen den kokett gespreizten Fingern in großem Bogen, als zöge er grüßend den Hut, und so oft er einen Zug nahm, blieb er stehen und blies den Rauch senkrecht in die sonnige Luft empor und sah zu, wie der blaue Rauch zerging. Aus allen Dingen strömte ihm Entzücken zu. Selbst das Gehen empfand er als eine Lust. Er machte kleine Schritte, drückte die Knie durch und fühlte mit Vergnügen die elastische Behendigkeit, mit der sich seine zuweilen leise knackenden Zehen und seine Ballen in den dünnsohligen Schuhen vom Boden abstießen, während seine Fersen den Weg nur flüchtig berührten, und das Spielen seiner Knie. Blieb er aber stehen, so spannte er die Muskeln seiner Schenkel durch Eindrücken der Knie an, und empfand wiederum Vergnügen über die Festigkeit, mit der er dastand, wie eine Statue. Er war überzeugt, daß nichts ihn hätte umwerfen können. Lächelnd und Seligkeiten mit den Blicken austeilend ging er dahin, er grüßte jeden, und so oft er einen Bekannten traf, erzählte er ihm das große Ereignis, das heute eingetreten war.

„Hören Sie, mein Freund!“ rief er dem kleinen Advokaten zu, der in einer Rasenfläche stand und sich mit der Gießkanne über ein Tulpenbeet beugte, um die Blumen in der Mitte zu begießen. „So kommen Sie doch heraus! Es gibt Neuigkeiten! Nun, so kommen Sie doch endlich!“

Er wartete in liebenswürdiger Ungeduld, bis der Advokat fertig war und auf den Weg trat, um mit der leeren, grünen Kanne zum Brunnen zu gehen. „Ich will Ihnen erzählen, was sich heute ereignete,“ begann er dann rasch, „Seine Majestät der König von Sachsen haben geruht —“

„Verzeihen Sie,“ unterbrach ihn flüsternd der Advokat und fing an zu gehen, „es ist heiß, ich habe es eilig. Die Blumen vertrocknen.“

„Ich gehe mit Ihnen zum Brunnen,“ fuhr Michael Petroff gut gelaunt fort und ging rasch neben dem eilenden Advokaten her, „ich kann es Ihnen ja ebensogut im Gehen erzählen. Ich sage also heute zum Doktor: ‚Nun, Doktor, für mich haben Sie heute nichts?‘ ‚Nein,‘ sagt er, ‚lieber Kapitän, leider nichts.‘ ‚Gar nichts,‘ sage ich und fasse ihn am Arm, ‚seit Wochen ist keine einzige Antwort eingelaufen? Wirklich nichts, Doktor?‘ Er sieht mich an und denkt nach. ‚Ach ja,‘ sagt er, ‚ich hätte es beinahe vergessen. Es ist ein Schreiben eingelaufen. Es betrifft diesen Tischlergesellen, Sie wissen, lieber Kapitän?‘ ‚Tischlergesellen? Doktor? Ich erinnere mich nicht‘ — ich ziehe mein Taschenbuch heraus, in das ich alle ausgehenden Schriftstücke eintrage: ‚Woher kam die Antwort? Aus Sachsen? Ah,‘ sage ich, ‚dann betrifft es jenen Schlächtergesellen, den man zum Tode verurteilt hatte.‘ ‚Ja,‘ sagt der Doktor, ‚ganz richtig, ein Schlächtergeselle war der Bursche.‘ Und nun hören Sie, lieber Freund: Seine Majestät der König von Sachsen haben geruht, ihn auf meine Petition hin zu begnadigen. Ich werde noch heute ein Dankschreiben an Seine Majestät entwerfen.“

„Wie sie heute sticht, die Sonne“, antwortete der Advokat auf Michael Petroffs Erzählung und begann den Pumpenschwengel zu ziehen. „Die Blumen sehen alle so matt aus.“

„Hahaha!“ Michael Petroff lachte. „Sie hören ja gar nicht zu? Wie?“

Nein, der Advokat hörte nicht zu. Er sah in die Kanne, ob sie voll wäre.

Michael Petroff betrachtete ihn eine Weile mit zur Seite geneigtem Kopf, dann lachte er still vor sich hin und ging rasch weiter. Er blickte über den Garten und suchte nach jemand, dem er die frohe Botschaft erzählen könnte.

Da entdeckte er den „Rajah“, der im Gemüsegarten, zwischen zwei Salatbeeten hin und her ging. Seiner Gewohnheit gemäß war der „Rajah“ allein und da, wo sonst niemand war.

Michael Petroff wippte sich auf den Zehen und dachte einen Augenblick daran, mit einem einzigen Sprung über die Beete zu setzen, die ihn, etwa hundert Schritt breit, von dem „Rajah“ trennten. Er brauchte sich ja nur ein bißchen in die Höhe zu schnellen und wäre dort. Aber er befürchtete unhöflich gegen den „Rajah“ zu sein, ihn vielleicht zu erschrecken, und unterließ es.

Der „Rajah“ ging so stolz und würdevoll einher wie gewöhnlich, aber heute war er unruhig und nachdenklich. Die Worte Engelhardts, der das Weltall im Gleichgewicht hielt, daß es nicht in Trümmer stürze, hatten seinen Sinn gefangen genommen. Er dachte darüber nach, und nach langem unerbittlichen Nachdenken war er zu dem Schlusse gekommen, daß es nur noch eines gäbe — eines — —

Da trat Michael Petroff an ihn heran.

„Erlauben Sie, daß ich störe!“ sagte er höflich und zog die graue englische Reisemütze. „Kapitän Michael Petroff!“

Der „Rajah“, sah ihn mit seinen schwarzen brennenden Augen ernst an.

„Was willst du?“ fragte er ruhig.

Michael Petroff lächelte. „Ich möchte Ihnen gerne eine freudige Neuigkeit mitteilen“, begann er. „Heute morgen also sage ich zum Doktor: ‚Nun, Doktor, haben Sie nichts für mich, heute —?‘“ — Und er erzählte freudestrahlend dieselbe Geschichte, die er heute schon dutzendmal erzählt hatte.

Der „Rajah“ hörte schweigend zu, während er Michael Petroff nachdenklich betrachtete. Dann sagte er: „Ich möchte gerne mit dir sprechen.“

„Ich stehe Ihnen zur Verfügung!“

Der „Rajah“ ließ seine Augen langsam und würdevoll über den Garten schweifen.

„Wollen wir zu jener Bank gehen!“

„Mit Vergnügen.“

Der „Rajah“ setzte sich und lud Michael Petroff mit einer herablassenden Handbewegung ein, ebenfalls Platz zu nehmen.

„Ich sehe dich immerfort schreiben —“ begann er.

Michael Petroff lüftete die Mütze: „Michael Petroff, Kapitän der russischen Armee“, sagte er höflich.

Der „Rajah“ sah ihn an und fuhr hierauf mit der gleichen Ruhe und Hoheit fort: „Wenn du schreibst, so mußt du wissen. Und gewiß hast du Weisheiten über Menschen und Dinge aus den heiligen Büchern geschöpft, die uns andern verschlossen bleiben, und dein Leben gemäß den Vorschriften deiner Kaste in Meditationen verbracht. Gut, so lege mir die Worte des Fakirs aus, der nach dem unerforschlichen Ratschluß der Götter das Weltengebäude auf den Schultern trägt! Sprich!“

Michael Petroff lächelte geschmeichelt und verbeugte sich gegen den „Rajah“. Er verstand zwar nicht alles, was der „Rajah“ sprach, aber er fühlte Hochachtung und Verehrung aus seinen Worten. Er fand, daß er gewissermaßen die Verpflichtung habe, den „Rajah“ in das Geheimnis seiner Zeitung einzuweihen, aber zu seiner eigenen Überraschung fragte er: „Sie meinen Freund Engelhardt?“

„Du hörtest, was er sagte?“

„Ja!“

„So sprich!“ Es zeigte sich, daß der „Rajah“ kein einziges Wort, das Engelhardt zu Doktor März sagte, vergessen hatte; Michael Petroff dagegen wußte nahezu nichts mehr und zog sich den Unwillen des „Rajahs“ zu.

„Pardon!“ entschuldigte er sich. „Es gehen mir so viele Dinge durch den Kopf.“

„Was aber wird geschehen, wenn er keine neue Seele erhält?“ fragte der „Rajah“ weiter.

„Oh, der Doktor wird wohl Sorge tragen.“

„Auch Fakire sind nur Menschen. Was wird geschehen, wenn ihm die Kräfte versagen? Wird die Welt einstürzen?“

„Sie wird einstürzen!“ erwiderte Michael Petroff und mußte lachen.

„Weshalb lachst du da?“ sagte der „Rajah“ ruhig, und seine dunkeln Augen funkelten. „Was wirst du tun, wenn sie einstürzt?“

„Ich?“ Michael Petroff lächelte und deutete auf den Pavillon, der durch die Büsche schimmerte. „Wenn dieses Haus dort einstürzt,“ fuhr er fort, „so werde ich mich rasch davon machen und in meine Heimat zurückkehren. Meine Heimat ist Rußland. Sie kennen Rußland? Sie können Deutschland auf der Hand forttragen, Rußland aber nicht einmal auf dem Rücken. So groß ist meine Heimat.“

Der „Rajah“ dachte lange und angestrengt nach. Dann sagte er, langsam und mehr für sich selbst: „Wenn die Welt einstürzt, wird dann auch mein Reich einstürzen? Die Berge mit den Tempeln, die Wälder und Städte, wird all das zerstört werden?“

Michael Petroff nickte und lächelte schadenfroh. „Ich glaube wohl!“

Auch der „Rajah“ nickte nun. Er neigte einigemal langsam sein Haupt. „All meine Untertanen werden zu Grunde gehen?“ fragte er und nickte. Er stand auf und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er ernst und sah Michael Petroff an. „Das soll nicht sein! Wir wünschen es nicht.“

Der Rajah ging. Langsam und würdevoll schritt er in der Sonne dahin dem Pavillon zu.

Michael Petroff sah ihm nach. Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Was für ein wunderlicher Mensch er doch ist!“ sagte er und lachte. Und als er sein Lachen hörte, lachte er nochmals laut und fröhlich und schnippte mit den Fingern dazu. „Hahahaha!“

 

Der „Rajah“ aber trat in Engelhardts Zimmer und teilte ihm mit, daß er gesonnen sei, ihm seine Seele zu überlassen. „Wenn die Götter mein Opfer annehmen wollen.“

Engelhardt, der wie tot auf dem Bett lag, öffnete die Augen und sah ihn an.

„Wollen Sie?“ keuchte er und seine Hände und sein Gesicht zuckten.

„Ja.“

„Drei Tage will ich noch kämpfen!“ keuchte Engelhardt.

Der „Rajah“ zog die Türe zu. Er begab sich in sein Zimmer und schrieb mit großen, fliegenden Buchstaben, die alle in verschiedene Richtungen flatterten, einen kurzen Brief an Doktor März.

„Euer Hochwohlgeboren,“ so schrieb er, „der Himmel hat es beschlossen. Wir sollen den blauen Fluß nicht mehr sehen. Wir sollen die überschwemmten Reisfelder nicht mehr sehen und nicht mehr die weißen Elefanten, deren Zähne goldne Ringe tragen. Der Himmel hat es beschlossen und wir gehorchen. Sagen Sie der englischen Regierung, daß wir erhaben sind über das Gefühl der Rachsucht und Bitterkeit. Sagen Sie der englischen Regierung, daß wir gesonnen sind, unsere Untertanen zu retten und unsere Seele preisgeben, wenn den Göttern das Opfer gefällt.“

Der „Rajah“ klingelte dem Pfleger und übergab ihm ruhig und voll Würde das Schreiben. Dann entkleidete er sich und legte sich zu Bett, bereit zu sterben.

 

Am Abend, als es dunkelte, kam der Advokat verstört in das Zimmer Michael Petroffs gestürzt, ohne anzuklopfen, ohne unter der Türe zu warten, wie er es sonst zu tun pflegte.

„Helfen Sie mir, Kapitän!“ flüsterte er und flüchtete sich in die Arme des erstaunten Michael Petroff. Der Advokat zitterte vor Entsetzen.

„Was in aller Welt —?“ rief Michael Petroff erstaunt und erschrocken aus.

„Er steht im Gange!“ flüsterte der Advokat.

„Wer? Was haben Sie?“

„Engelhardt! Er steht vor der Türe des ‚Rajah‘. Er holt sich seine Seele.“

„Was sagen Sie da?“ Michael Petroff lachte leise.

„Ich sah ihn stehen. Lassen Sie ihn nicht zu mir kommen, oh, du guter Gott!“

„Pst!“ unterbrach ihn Michael Petroff. „Ich werde nachsehen.“

Der Advokat umklammerte seine Füße. „Er wird hereinkommen, oh, mein Gott, mein Gott!“

„Lieber Freund,“ versetzte Michael Petroff, „fassen Sie sich. Er soll nicht hereinkommen. Ich verspreche es Ihnen. Aber ich will sehen!“

Der kleine Advokat kauerte auf dem Boden und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Michael Petroff aber ging hinaus. Nach einer Weile kam er zurück. Er sah etwas blaß aus, aber er lachte, um sich Mut zu machen.

„Ja,“ sagte er gedämpft, „da steht er an seiner Türe und lauscht. Weshalb zittern Sie so, lieber Freund?“

„Verlassen Sie mich nicht!“ flüsterte der Advokat, immer noch die Hände vor dem Gesicht.

Der „Rajah“ lag auf dem Bett, die großen Augen mit einem glänzenden Blick in die Ferne gerichtet, und regte sich nicht, über sein gebräuntes Gesicht war eine hoheitsvolle Ruhe und Gelassenheit ausgegossen. Er weigerte sich aufzustehen und wies jede Nahrung zurück. Doktor März maß die Temperatur und fand sie einigermaßen niedrig, den Puls etwas langsam, irgendwelche Symptome einer gesundheitlichen Störung oder Anzeichen einer nahenden Krankheit konnte er aber nicht entdecken. Er redete dem „Rajah“ mit freundlichem Ernst zu, aufzustehen und zu essen, da der „Rajah“ ihm aber nicht antwortete, ließ er ihn in Ruhe. Er war an die Launen seiner Patienten gewöhnt und wußte, daß sie ebenso rasch gingen, wie sie kamen.

Dagegen machte ihm Engelhardt ernstlich Sorge. Er hatte trotz aller Dauerbäder und Beruhigungsmittel die Nacht wiederum schlaflos und erregt verbracht. Nun lag er in einer Art Halbschlaf und zitterte und zuckte unter der Anstrengung, die sein schrecklicher Wahn von ihm forderte. Er vernahm Stimmen, das Geschrei von Millionen von Menschen, die die Hände nach ihm rangen und ihn anflehten, sie nicht der Vernichtung preiszugeben, er hörte das Läuten der Glocken, die Bittgesänge von Prozessionen, die Gebete der Kaiser und Könige, Bischöfe und Päpste. Seine Haut war trocken und spröde, sein Puls hüpfend und unstet. Doktor März saß lange Zeit neben seinem Bett und beobachtete ihn, während er, zuweilen blinzelnd, sein ganzes Wissen und alle seine Erfahrungen blitzschnell in Gedanken durchflog. Dann verließ er Engelhardt mit einer nachdenklichen und ratlosen Miene.

Nach einer Stunde aber war er schon wieder bei ihm.

Die Patienten des Pavillons wurden von einer sonderbaren Nervosität ergriffen, die sich stets bei ihnen einstellte, wenn die häufigen Besuche des Arztes darauf hindeuteten, daß jemand schwer krank war. Sie gingen mit behutsamen Schritten, sprachen nur halblaut, und manche verließen das Zimmer überhaupt nicht. Der kleine Advokat wagte kaum sich zu regen und bat die tausend Vögel, die mit ihm im Zimmer lebten, recht ruhig zu sein, als er ihnen Brosamen und Wasser auf den Tisch stellte. Wieder und wieder zwang ihn eine unbekannte Macht durch das Schlüsselloch zu sehen. Da stand er lange Zeit, die Hand in der Art der Kinder auf das linke Auge gepreßt und spähte mit dem rechten durch das Schlüsselloch hinaus auf die weiße Wand des Korridors. Sobald aber ein Vorübergehender den Ausblick verdeckte, fuhr er erschrocken zurück. Wenn er hinaus zu seinen Blumen mußte, so öffnete er lautlos und langsam die Türe und ging rückwärts, die Augen auf Engelhardts Türe gerichtet, bis zu den Stufen. Hier drehte er sich rasch um und eilte hinab, immer in der Furcht, daß ihn plötzlich eine Hand am Rockkragen festhalten werde.

Michael Petroff war der einzige, dem die allgemeine Unruhe nichts anhaben konnte. Er saß an seinem Schreibtisch, schnitt seine Fälle aus, numerierte, registrierte, klebte, schrieb. Er schüttelte lächelnd den Kopf über die Furcht des kleinen Advokaten, versprach ihm aber für alle Fälle seinen Schutz.

„Seien Sie ganz ruhig, lieber Freund!“ sagte er gönnerhaft. „Solange ich lebe, haben Sie keine Ursache, sich zu beunruhigen!“ Und mit wichtiger Miene fügte er hinzu: „Ich war bei ihm. Er erzählte mir, daß der ‚Rajah‘ ihm seine Seele versprochen habe. Nun, was weiter? Voilà tout. Sie aber verlassen sich auf Michael Petroff!“

„Ich danke Ihnen!“ flüsterte der Advokat und griff nach Michael Petroffs Hand, um sie zu küssen.

„Nicht das! Wozu?!“ wehrte Michael Petroff ab, fühlte sich aber doch geschmeichelt und geehrt.

Der Advokat verließ ihn ruhiger. In der Nacht aber hörte er Engelhardt rufen und verkroch sich zähneklappernd unter die Bettdecke. Nun war es ihm, als sei er in die Erde eingegraben, in einen hohen Berg und vermochte vor Angst kaum zu atmen. Da aber sah er plötzlich einen ungeheuren Schwarm von Vögeln, die pfeilschnell in einer leichten Biegung über den Himmel glitten. Er winkte und rief empor: „Wohin? Wohin?“ — „Komm mit! Komm mit!“ zwitscherten die Vögel zur Antwort. „Nach Wien! nach Wien!“ und sie glitten in die Ferne. Der Advokat sah ihnen nach und schlief ein.

 

Die Kräfte des „Rajahs“ schwanden zusehends, obgleich Doktor März ihm künstlich Nahrung zuführen ließ. Rasch wie die Dämmerung in den Tropen erlosch er. Sein braunes Gesicht und seine braunen Hände hatten eine graue, fahle Färbung angenommen, wie trockene Gartenerde, und seine mächtige breite Brust hob und senkte sich rasch und lautlos unter der Decke. Seine Lider, die fahler aussahen als das Gesicht, waren halb über die Augen gesenkt, aber sobald jemand ins Zimmer trat, hoben sie sich langsam, und ein großer glänzender Blick traf fragend den Eintretenden.

Der Puls wurde dünn und fliehend, und Doktor März saß fast die ganze Zeit am Bett des Kranken. Der rasche Verfall seiner Kräfte war ihm unverständlich und besonders besorgt machte ihn das unerklärliche, rapide Nachlassen des Herzens. Er saß und blinzelte zuweilen, beobachtete, dachte, versuchte alles nur Denkbare, — und am Abend wußte er, daß der „Rajah“ nicht mehr zu retten war.

„Wie geht es ihm, Doktor?“ fragte Michael Petroff, der im Korridor dem Arzt aufgelauert hatte, und deutete mit dem Kopf auf die Tür des „Rajah“.

„Nun, nicht schlecht!“ antwortete Doktor März zerstreut.

Michael Petroff lachte leise hinter ihm her. Dann ging er sofort ins Zimmer des Advokaten.

„Der ‚Rajah‘ stirbt!“, sagte er mit einem triumphierenden Blick.

Der Advokat sah ihn furchtsam von unten herauf an; er entgegnete nichts.

„Ja!“ Michael Petroff setzte sich in einen Rohrstuhl und zog die Beinkleider etwas in die Höhe, damit sich die Knie nicht herausdrückten. „Ich frage eben den Doktor. Er sagt: nicht schlecht. Nun, das heißt, der ‚Rajah‘ stirbt. Als Heinrich starb, Heinrich, der die lustigen Lieder sang, über die Sie so lachen konnten, mein Freund, was sagte da der Doktor? Nicht schlecht! Und Heinrich starb. Ja, ich verstehe mich auf Ärzte.“

Der kleine Advokat hüllte sich in seinen Schal. Ihn fröstelte.

„Er saugt ihm die Seele aus dem Leib“, fuhr Michael Petroff mit wichtiger Miene fort. „Er versteht seine Sache, dieser Engelhardt. Wie machte er es damals mit dem Pfleger Schwindt? Genau so, sehen Sie!“

Und Michael Petroff ging, sich fröhlich die Hände reibend. Er fühlte sich angeregt von all dem, was um ihn vorging, von all den Dingen, die er durchschaute. Es gab da Neuigkeiten —! In vorzüglicher Laune setzte er sich an den Schreibtisch, um seinen Artikel: Doktor März verhaftet! durchzufeilen.

 

In dieser Nacht, gegen drei Uhr, starb der „Rajah“.

Die Nacht war warm und still und so hell vom Mond, daß man im Freien lesen konnte. Die Patienten waren unruhig, sie räusperten sich, gingen auf und ab und sprachen mit sich. Zuweilen aber wurden sie alle still: das war, wenn Engelhardt zu schreien anhob. Ich kann nicht mehr! Und dazwischen deklamierte er laut die Ansprachen, die die Könige und Fürsten, die vor ihm knieten, an ihn richteten.

Der kleine Advokat hatte es nicht gewagt, sich niederzulegen. Er saß angekleidet auf dem Sofa, in all seine Decken gehüllt. Und doch fror er, daß ihm die Zähne klapperten. Wenn Engelhardt zu schreien anfing, bewegte er betend die Lippen und schlug das Kreuz.

Michael Petroff aber hatte sich, unbekümmert um alles, zu Bett gelegt. Er lag, die Arme unter dem Kopf, und dachte über einen geeigneten Titel seiner Zeitung nach. Denn diesmal wollte er den Doktor überrumpeln, packen, — ja, warte nur! Was aber sollte ein Titel wie der „Unparteiische“ sagen, bitte schön? War damit diesem hartgesottenen Doktor beizukommen? Wie? O nein, nein, ganz und gar nicht. Der Titel mußte nach Feuer und Schwefel riechen, wie ein Schwert, das geschwungen wird, mußte er sein, wie die Öffnung eines Gewehres, das auf den Doktor gerichtet war. — Doktor März mußte erschrecken, wenn er den Titel las! Und nach langem Nachdenken entschloß sich Michael Petroff, seine Zeitung diesmal „Schwert des Erzengels“ zu nennen. Er sah diesen Erzengel deutlich dahinfahren, schräg, mit fürchterlich wehenden Gewändern und erschreckend verzerrter Miene, das Schwert mit beiden Händen ein wenig nach hinten geneigt in die Höhe haltend. Und dieses Schwert, das rasiermesserscharf und hinten sehr breit war, schlitzte das Firmament auf, und ein dampfender blutroter Streifen wurde sichtbar. Dieser rote dampfende Streifen erfüllte Michael Petroff mit einem starken Wollustgefühl. Er setzte sich auf und sagte: „Warte nur, haha!“

Plötzlich aber legte er die Hand über die Augen. Ein dunkler, wehmütiger Schmerz hatte ihn überfallen, und er wußte nicht warum.

„Michael Petroff —?“ sagte er leise, „Michael Petroff —?“ und Tränen traten in seine Augen. So, die Hand über den feuchten Augen und einen dunkeln Schmerz im Herzen schlief er ein.

Er lag in tiefem Schlaf, als ihn ein Pochen an der Tür weckte: „Ich bin es, der Pfleger, erschrecken Sie nicht.“

„Was gibt es?“

Der Pfleger trat ein und sagte halblaut: „Herr Doktor März läßt Sie ersuchen zu kommen. Der Lehrer möchte Sie sprechen.“

„Der Lehrer?“

„Der ‚Rajah‘, Sie wissen ja.“

„Sie wissen nicht, was er von mir will?“

„Nein, Doktor März läßt Sie ersuchen.“

„Gut, ich komme.“

Michael Petroff erhob sich und machte langsam und sorgfältig Toilette. Der Pfleger kam zurück und bat ihn, sich beeilen zu wollen. Michael Petroff band sich sorgfältig die Krawatte. „Ich komme ja schon,“ sagte er unwillig, „ich kann doch nicht halb angekleidet einen Besuch machen.“

Endlich war er fertig; er besah sich noch rasch im Spiegel, strich den Schnurrbart zurecht und ging hinaus.

„Herr Kapitän!“ flüsterte der kleine Advokat durch die Türspalte, denn das Klopfen und Sprechen in Petroffs Zimmer hatte ihn noch ängstlicher gemacht. „Ich flehe Sie an —!“

„Ich habe Eile“, antwortete Michael Petroff und schritt den Korridor entlang. Er hörte Engelhardt in seinem Zimmer deklamieren: „Wir stehen zu dir, zerstöre nicht den Dom der Welt, gepriesen sei dein Name!“ Und mit veränderter, keuchender Stimme fuhr Engelhardt fort: „Ich kämpfe, ich kämpfe —!“ Oben im ersten Stock ging ein Schritt hin und her, ruhelos, immer auf und ab, wie das ferne Stampfen einer Maschine.

Da öffnete der Pfleger die Tür zu dem Zimmer des „Rajah“ und Michael Petroff trat ein.

„Guten Morgen!“ sagte er laut und heiter, als sei es lichter Tag und der „Rajah“ nicht dem Tode nahe. „Guten Morgen, Doktor! Hier bin ich. — Guten Morgen — Fürst!“ fügte er nach einem Blick auf den „Rajah“ leiser hinzu. „Michael Petroff, Kapitän der russischen Armee.“

Der Anblick des „Rajah“ hatte Michael Petroff betroffen gemacht. Der „Rajah“ saß aufrecht im Bett, die großen schwarzen Augen auf ihn gerichtet. Ihm zu Häupten brannte eine verschleierte elektrische Lampe, aber trotz des Halbdunkels leuchtete das von schwarzen Haupt- und Barthaaren umrahmte Gesicht des „Rajah“ wie dunkles Gold, ja, es glänzte. Und gerade dieses Glänzen hatte Michael Petroff betroffen gemacht, so daß er leiser sprach und die Anrede „Fürst“ gebrauchte. Er hatte eigentlich nie ernsthaft darüber nachgedacht, wer der „Rajah“ war. Er war ein Fürst, der irgendwo ein großes Reich besaß, in der Verbannung lebte, nun, Michael Petroff glaubte es, ohne sich dabei etwas zu denken. In diesem Augenblicke jedoch begriff er, daß der „Rajah“ ein Fürst war, und er veränderte vollkommen seine Haltung.

„Sie beliebten mich rufen zu lassen?“ sagte er, etwas verwirrt und unsicher, und verbeugte sich.

Der „Rajah“ wandte das Antlitz Doktor März zu.

„Mein Herr,“ sagte er mit ruhiger tiefer Stimme, deren Klang getrübt war, „ich danke Ihnen. Sie hätten mir, der ich Ihr Gefangener bin, diese Gunst verweigern können, ich weiß es.“

„Lieber Freund —“, antwortete der Arzt, aber der „Rajah“ beachtete ihn gar nicht mehr.

„Ich habe dich rufen lassen,“ wandte er sich an Michael Petroff, „damit du meinen letzten Willen niederschreibst.“

„Zu Ihrer Verfügung“, erwiderte Michael Petroff mit einer leichten Verbeugung.

„So schreibe, was ich dir sage.“

Michael Petroff betastete verwirrt seine Taschen. „Ich eile,“ sagte er, „ich werde sofort —“ und verließ rasch das Zimmer, um in seinem Bureau Papier und Blei zu holen.

„Michael Petroff —?“ flüsterte stehend der kleine Advokat. „Sie verlassen mich —?“

„Der Rajah befiehlt!“ entgegnete Michael Petroff ungehalten und eilte an den ausgestreckten kleinen Händen des zitternden Advokaten vorbei, zurück in das Sterbezimmer.

„Hier bin ich, Verzeihung“, stammelte er atemlos.

„So schreibe!“ sagte der „Rajah“.

Michael Petroff setzte sich zurecht und der „Rajah“ begann:

„Wir, Rajah von Mangalore, verbannt von der englischen Regierung, die wir sterben, erhaben über das Gefühl der Rachsucht für unsere Feinde, um unsere Untertanen zu erretten, geben unserem Volke kund:

Gruß dir, unser Volk! Gruß euch, Palmenwäldern, die die Tempel unserer Väter beschatten! Gruß dem blauen Fluß, der unser Land erquickt!“ —

Michael Petroff, der eifrig und hingegeben niederschrieb, was der „Rajah“ diktierte, blickte auf, da der „Rajah“ eine Pause machte. Da sah er, daß aus den glänzenden schwarzen Augen des „Rajahs“ zwei große Tränen rannen, die über seine leuchtenden fahlen Wangen liefen und in den Bart sickerten.

Der „Rajah“ hob die Hand zu einer erhabenen Gebärde. Dann fuhr er fort, bis ans Ende gleich ruhig und hoheitsvoll:

„Wir erlassen eine allgemeine Amnestie! Alle unsere Kerker und Gefängnisse sollen sich öffnen und in Asche gelegt werden. Fortan werde kein Blut mehr vergossen!“

„Oh, Herr — — Fürst!“ flüsterte Michael Petroff und schrieb.

„Es gebe keine Arme mehr in unserem Land, und niemand soll mit der Schale betteln gehen. Das Vermögen in unseren Kammern sei zu gleichen Teilen unter das Volk verteilt. Es gebe fortan weder Kasten noch Stände. Jedermann sei dem andern gleich und alle seien Brüder und Schwestern.

Die Greise sollen ihre Hütte haben, um darin zu sterben, und den Kindern vermachen wir die Wiesen, darauf zu spielen. Den Kranken schenken wir Gesundheit und den Unglücklichen Schlaf, tiefen Schlaf. Es soll keine Kriege mehr geben und keinen Haß mehr zwischen den Völkern, gleichviel welcher Farbe, so bestimmen wir es. Die Richter seien weise und gerecht, und wer Unrecht tat, dem soll man sagen: geh und sei glücklich, denn das Schlechte kommt aus dem Unglück hervor.

Den Menschen vermachen wir die Erde, daß sie sich darin teilen vermögen, den Fischen das Wasser und Meer, den Vögeln den Himmel und den Tieren die Wälder und die Auen, die darin versteckt liegen!

Dich, unser Volk, aber segnen und küssen wir, die wir sterben.“

Der „Rajah“ hob die Arme segnend empor und sank in die Kissen zurück.

Alle im Zimmer blieben still und sahen auf ihn, dessen Brust rasch und unmerklich ging und dessen Lider über die Augen herabgesunken waren und wie helle Flecke in seinem Gesicht erschienen.

Doktor März trat leise an das Bett heran.

Da lächelte der „Rajah“. Er bog den Kopf zurück, öffnete die Lippen, und es sah aus, als wollte er singen. Aber nur ein feiner singender Ruf, der ganz hoch ausklang, kam über seine Lippen, so fein und fern, als rufe der „Rajah“ schon aus weiter Ferne. Es war der Ruf der Straßenverkäufer im Orient.

Der „Rajah“ war tot.

Michael Petroff stand auf den Zehenspitzen und blickte mit halboffenem Mund in das fahle, unverständlich schöne Gesicht, das aus den schwarzen Haaren schimmerte. Ein beschämendes Gefühl erfüllte ihn. So lange hatte er mit dem Toten gelebt, ohne zu denken, wer er war. Er hätte niederknien mögen bei dem Bett des Toten und flüstern: „Fürst, mein Fürst!“ Aber er wagte es nicht, sich zu nähern, er fürchtete sich und stahl sich aus dem Zimmer.

 

Als Doktor März nach einer geraumen Weile auf den Korridor heraustrat, überraschte ihn die Ruhe des Pavillons. Kein Laut war zu hören. Der dumpfe Schritt oben, der stundenlang hin und her gegangen war, war verstummt. Und Engelhardt hatte aufgehört zu schreien und zu stöhnen.

Doktor März trat an die Türe des Schuhmachers. Es war totenstill darinnen. Er öffnete und lauschte: Engelhardt — schlief! Tief und regelmäßig ging der Atem . . . Doktor März schüttelte den Kopf und verließ nachdenklich den Pavillon. Auf der Treppe zum Garten zündete er sich eine Zigarre an und stülpte den Rockkragen hinauf. Ihn fröstelte.

Nun schläft er, dachte er, während er durch den nächtigen Garten ging, dessen Büsche lange fahle Schatten warfen. Ist irgendein Zusammenhang zwischen dem Tod des Lehrers und dem Schlaf Engelhardts anzunehmen? Und er dachte weiter an einen Kollegen, der auf jeden Fall einen Zusammenhang konstruieren würde, und daran, daß er sich jetzt auf eine Tasse starken Kaffees freue, — da blieb er leicht erschrocken stehen: im Mondlicht bewegte sich ein kleiner vermummter Mensch. Es war der Advokat.

Der kleine Advokat hatte die ganze Nacht zitternd und frierend in seinem dunklen Zimmer verbracht. Aber als der erste Hahn krähte, hatte er sich aus dem Pavillon geschlichen, um seine Blumen zu begießen.

„Pst, pst!“ flüsterte er den tausend Vögeln zu, die in den Büschen zu zwitschern begannen, sobald er sich näherte. „Schlaft noch ein wenig, ihr Kleinen!“

Und als er die Blumen begoß, hatte er die Nacht, den „Rajah“ und Engelhardt, der eine Seele brauchte, vergessen und lächelte. „Guten Morgen, ihr Lieblinge,“ sagte er leise und nickte, „da bin ich, da habt ihr mich wieder.“

Im Zimmer Michael Petroffs aber brannte Licht.

Michael Petroff saß an seinem Schreibtisch, lächelnd und gutgelaunt, und schrieb eifrig. Denn der Eindruck, den der Tod des „Rajahs“ auf ihn machte, hatte sich ebenso rasch verflüchtigt, wie die Tränen, die er um ihn geweint hatte. Nun arbeitete er an einem Artikel, den er als einen ungeheuer wertvollen Beitrag für seine Zeitung betrachtete. Und das gab ihm die heitere, leichte Laune.

Mit den saubersten Buchstaben schrieb er:

„Telegramm! Der Rajah von Mangalore — gegen dessen Exilierung wir bei der englischen Regierung telegraphisch Protest erhoben haben — ist heute nacht um drei Uhr sanft entschlafen. Wir hatten die Ehre, bei seinem Hinscheiden gegenwärtig zu sein und den letzten Willen des hohen Herrn aufzuzeichnen. Er sei unseren Lesern mitgeteilt:

„Wir, Rajah von Mangalore, verbannt von der englischen Regierung, die wir sterben, erhaben über das Gefühl der Rachsucht für unsere Feinde, um unsere Untertanen zu erretten, geben unserem Volke kund . . .“

Erst als die Sonne aufging, begab sich Michael Petroff zur Ruhe.

Werke von
Bernhard Kellermann


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Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig