The Project Gutenberg eBook of Das Meer: Roman

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Title: Das Meer: Roman

Author: Bernhard Kellermann

Release date: March 15, 2013 [eBook #42339]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS MEER: ROMAN ***

Das Meer

Roman
von
Bernhard Kellermann

S. Fischer, Verlag, Berlin
Berlin, 1917

26.—40. Auflage.
Gedruckt während der Kriegszeit auf Papier mit Holzschliffzusatz.
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright S. Fischer, Verlag, Berlin.

Das Meer

I

Wir hatten alles, was das Herz begehrt. Wir hatten Frauen die Fülle, wir hatten zu trinken, wir hatten Stürme, die mit achtzig Seemeilen Geschwindigkeit dahinfegten. Wir brauchten nichts, merci, hebe dich hinweg —

Auf unserer Insel gab es weder Baum noch Strauch. Wie ein in Schutt zerfallenes Gebirge sah sie aus, und ringsum keuchten die Klippen in der Brandung. Tag und Nacht aber donnerte es, horch! Das war das Meer. Es wehte, immerfort schrie der Wind, und wenn ein Mensch über die Heide ging, so flatterte er wie eine zerfetzte Fahne. Zu jeder Stunde bei Tag und bei Nacht schrillten die Möwen, denn ihnen gehörte Insel und Meer. Manchmal versank die Insel buchstäblich unter ihrem markerschütternden, feilenden Lärm. Wenn ich da draußen bei den Klippen schwamm, so reckten sie unruhig die weißen Köpfe, es waren ihrer drei, fünf, zehn, aber sobald ich näher kam, waren es Hunderte, Tausende. Sie umkreisten mich schrillend wie eine wetternde Wolke und mich erfaßte eine mystische Furcht, denn es waren ihrer so viele. Sie schreien noch oft in meinen Träumen.

En route! Das Großsegel donnert und wir jagen dahin. Unsere Muskeln sind hart und unsere Herzen stählern und klingend — — —

Wann aber meine Augen zum erstenmal auf Rosseherre fielen, kann ich nicht mehr sagen. Ich weiß nur, daß es an einem Posttag im Frühjahr war. Rosseherre war das einzige blonde Mädchen auf der Insel, und es ist möglich, daß sie gerade deshalb Eindruck auf mich machte. Sie war eigentlich nicht blond, sondern gelb, wenn man so sagen kann. All die andern dagegen waren schwarz und ich kannte sie alle.

Zuweilen unternahmen wir eine Expedition, Yann, der „kleine Kapitän“, Poupoul, mein Hund, und ich, und auf diesen Entdeckungsreisen machte ich ihre Bekanntschaft. Es gab auf der Insel dreimal mehr Frauen als Männer, denn die Männer machten Dienst auf den Schiffen, Gott weiß, wo sie waren. Solange sie jung waren, waren sie schön, und alten gingen wir aus dem Wege. Braun gebacken von der Sonne waren sie und das Blut glühte in ihren Wangen und Augen, als ob sie gerade aus einem heißen Ofen kämen. Sie hatten weiße, starke Gebisse und pechschwarzes Haar, das sie offen trugen bis zu den Schultern herab. Sie waren einfältigen Herzens, munter und laut und zögerten nicht lange, denn es fehlte ihnen an Zeit und Auswahl.

Yann und ich setzten in irgendeiner kleinen Bar Dampf auf, dann sah mich Yann mit feuchtglänzenden Augen an und puffte mich: „Hehe?“

„Schön!“ sagte ich. Yann und ich verstanden einander auf eine nahezu mysteriöse Art.

„Aber noch ein Glas! He, Patron, noch ein Glas, rasch!“

Wir brachen auf. Wir schlugen sofort ein derartig rasches Tempo an, als gälte es Leben oder Tod. Nicht eine Minute Zeit hatten wir zu versäumen.

„Nur keine großen Umstände gemacht, hörst du?“ sagte Yann. „Sie warten nur darauf —“

„Tiens!“ sagte ich, ärgerlich über Yanns ewige Bevormundung. „Habe ich je Umstände gemacht? Sakrenomdedü“ —

„Allons, allons!“ Yann lachte.

Es war Nacht, alles schlief. Die Leuchtfeuer suchten nach uns wie riesige Blendlaternen und wir schlichen wie Diebe zwischen den Hütten dahin. Oft mußten wir uns hinter eine niedrige Mauer ducken um nicht gesehen zu werden. „Nieder!“ kommandierte Yann. Dann pochte Yann an ein Fenster: „Mach’ auf, mach’ doch auf!“ Er pochte geduldig eine Stunde lang und raunte: „Mach’ auf, ich bin es, Yann!“ Endlich klirrte der Riegel und Yann schlüpfte ins Haus. Ich wartete. Die schwarzen Wolken wälzten sich über den Himmel, der Wind knallte in meinem Rock, ich fror. Endlich kam Yann wieder, satt und erhitzt sah er aus.

„Es ist heute nichts mit ihr.“

„Nichts?“

„Nein, wir haben einen unglücklichen Tag gewählt.“

„O, Yann!“ Und wir steuerten einen anderen Kurs. „Mach’ auf, mach’ doch auf, ich bin es, Yann.“ Wir lauschten, Poupoul knurrte. „Mach’ auf, mach’ doch auf!“ In den Fischerhütten roch es süß und kräftig wie in einem Kuhstall.

„Umarme ihn, vorwärts!“ befahl Yann. „Er ist mein Freund — Napoleon — hast du nie gehört von ihm?“

Dann hielten wir uns ein paar Striche westlich und klopften eine abseits liegende Kneipe wach um uns zu stärken. Wir brachten den Wirt um seine Nachtruhe, aber da wir die kapitale Zeche von einem Franken machten und bar bezahlten, waren wir willkommene Gäste.

„Nun wollen wir nach Stiff gehen,“ sagte Yann, „eine halbe Stunde, dort wohnt Jeanne, aber wir müssen uns in acht nehmen, sie muß herauskommen“ — Unersättlich war Yann.

„Wird sie herauskommen, Yann?“

Yann blieb stehen und rückte die Mütze ins Genick. „Wenn ich klopfe? He?“

Auf diese Weise machte ich die Bekanntschaft der Schönheiten der Insel. Wir litten keinen Mangel, das will ich nicht behaupten. Es wäre undankbar, nichts anderes.

Rosseherre aber hatte ich noch nicht gesehen,

An einem Mittwoch nun ging ich zum Hafen hinüber um zu sehen, ob der „Kommissionär“ heil hereinkäme. Das Meer war erregt.

Die Fischer standen oben auf den Felsen, turmhoch über der Bai, und blickten regungslos auf den „Kommissionär“ hinaus, nur zuweilen spien sie aus, aber ohne sich zu rühren. Sie sahen zerzaust und zerwühlt aus, ausgetrocknet von der Sonne, die Augen geschliffen vom Wind. Manche schienen gerade aus dem Wasser zu kommen, die dünnen Haare klebten an ihren Schläfen, die Kittel hingen an ihren Schultern herab. Neben ihnen stand Noel, der Kaufmann und „Inselkönig“, in einer schwarzen Lederjacke, den Feldstecher vor den Augen. Er strotzte von Wohlhabenheit, sein Gesicht war siegellackrot und sein schwarzer Vollbart knisterte vor Gesundheit. „O, lala!“ rief er und schüttelte besorgt den Kopf, denn der „Kommissionär“ gehörte ihm. Ein paar Fetzen Tuch an den Stangen watete der Kutter in der Ferne durch die sausende Dünung, unter Sturzseen begraben. Manchmal versank er bis auf die Mastspitze — fahre wohl! — nein, er tauchte wieder auf. Hinter ihm ging schräg der schwarzgraue Regen. Plötzlich hielten alle Fischer inne — wenn jetzt ein Seil riß oder der Wind nur eine Minute aussetzte — sie spien wieder aus, es gab keine Gefahr mehr. In den Nischen der Klippen kauerten Trüppchen von Fischerweibern, wie Hühner, die der Wind in einen Winkel wehte. Alles flatterte an ihnen, die schwarzen offenen Haare, die Bänder der weißen Hauben, die Röcke. Die schwarze Jeanette saß bei ihnen und blickte lächelnd zu mir empor. Ich stand bei den Fischern, regungslos wie sie, und nur zuweilen nahm ich die Pfeife aus dem Mund und spie aus, auf amerikanische Art, durch die Zähne; ich hatte es darin zur Vollkommenheit gebracht.

Der „Kommissionär“ zog die Segel ein und warf mit Gerassel seinen zerfressenen Anker aus. Eine kleine Rostwolke stieg auf und ich roch sie bis herauf. Sofort kam aus dem Hafen wie stets jenes kleine Boot heraus, das sich wie eine Kaulquappe bewegte, denn es wurde mit einem einzigen Ruder am Stern gerudert. Ein halbes Dutzend flatternde Bündel (Menschen), Ballen, ein Rudel kleiner Schweine, all das wurde mit einer Hast hineingeworfen, die Seeleute an sich haben, wenn sie schon einmal arbeiten. Im Nu war der Nachen zum Sinken voll.

Die Schweine schrien mörderisch, und die Weiber in den Felsennischen kreischten vor Lachen. Plötzlich aber begannen sie zu rufen. Sie schwenkten die Arme und schrien: „Rosseherre! Rosseherre!“

Im Schnabel des kleinen schlingernden Bootes stand ein Mädchen mit flatternden messinggelben Haaren.

Ich hatte sie noch nie gesehen. Gelbes Haar hatte sie! Und sie stand so ruhig.

Die quiekenden Schweine wurden herausgeworfen, die Ballen, der Postsack und ein ganzes Gebirge von großen Brotlaiben mit schmutziggrauer Kruste. Die Schweine liefen darüber, die gelbe Welle leckte nach ihnen und färbte einzelne dunkel, ehe Noel sie wegräumen konnte.

„Pack an, pack an!“ schrie er, und der Dorflump in seinen klaffenden Hosen, Noels Schützling, sprang mitten in das Gebirge von Brot hinein.

Rosseherre stieg geschickt zwischen zwei Wellen aus dem Nachen und klapperte rasch in ihren Holzschuhen den Steig hinauf. Je näher sie kam, desto gelber wurde ihr Haar. Sie war klein und schmal, ein Mädchen von sechzehn Jahren; sie trug eine weiße Haube, ein Tuch um die Schultern, und war schwarz gekleidet wie alle Frauen der Insel.

Wir wandten uns ihr zu. Die Fischer taten es, ohne die Füße zu regen, ihre Holzpantinen waren festgenagelt am Boden. Kedril nahm den Tabakklumpen aus dem Mund und legte ihn unter die Mütze auf den Kopf. „Da ist ja Rosseherre wieder!“ sagte er. Die andern sagten nichts. Sie spritzten den Tabaksaft mit kindlicher Freundlichkeit durch die Zähne und nickten. Man sah ja, daß sie da war.

In diesem Augenblick sah Rosseherre zu uns her. Das gelbe Haar wehte um ihr kleines kindliches Gesicht und sie strich es mit der Hand zurück. Die Weiber schrien ihr lachend etwas zu, und sie sah mich von oben bis unten neugierig an. Ich nahm die Pfeife aus dem Mund, bewegte aber keine Miene. Da kehrte Rosseherres Blick nochmals zu mir zurück und haftete an meiner Hand, an der ich einen unscheinbaren Ring trug. Dann sah sie mir rasch in die Augen. Was für ein Blick war es doch?

Die Weiber lachten breit, plapperten und gingen mit Rosseherre davon. Im Nu hatte sie der Wind um die Ecke geweht. Aber bevor Rosseherre verschwand, blickte sie nochmals zurück.

Drunten in der Bai schaukelte verlassen der „Kommissionär“; ein Matrose in rotem Hemd kletterte auf dem Deck. Der Briefträger und Chef der Post ging an die Arbeit. Bis an die Zähne bewaffnet stürzte er sich ins Feuer. Er hatte hohe Reiterstiefel an und schwang einen lächerlich kleinen Korb mit den Briefen in der Hand. Sein Dienst war mörderisch. Wohin er kam, mußte er ein Gläschen trinken. Am Abend kehrte er aber stets als Sieger zurück, schnaubend wie ein Nilpferd, in Schweiß gebadet, um in Chikels Bar zusammenzubrechen unter der ungeheuren Last von Verantwortung, Wichtigkeit und eines höllischen Dienstes, für den er acht Tage lang Kräfte gesammelt hatte.

Der Karren mit dem Schimmel kam, um die Säcke und Ballen fortzuschaffen. Dieser Schimmel stand und ging, in einer Art Kniebeuge, er hatte rote Ränder um Augen und Nüstern und war fast gänzlich haarlos. Er schlief augenblicklich ein, und der Dorflump kitzelte ihn mit einem Strohhalm aussichtslos in den Nasenlöchern.

Der Karren fuhr ab — und nun war wieder Ruhe auf der Insel für eine ganze Woche.

Ich kaufte im Dorf für zwei Sou Fische und wanderte nach „Sturmvilla“ zurück.

„Hast du gesehen, daß sie auf deinen Ring blickte?“ sagte ich zu mir. „Sie sind doch auf der ganzen Welt die gleichen. Was für gelbes Haar sie hat, oho, das ist schon fast nicht mehr erlaubt, wie, Poupoul!“

Plötzlich fiel mir ihr Blick wieder ein. Merkwürdig. Es war ein — wie soll ich sagen? — es war ein Blick wie ihn Wahnsinnige haben.

II

Der Weg führte hoch oben über die Felsen dahin, in denen das Meer ohne Aufhören wusch und schaufelte.

Tag und Nacht war es an der Arbeit. Es fand eine Spalte und fing an, einen Tunnel zu bohren. In tausend Jahren sollte er fertig sein und es ging mutig ans Werk. Ein paar Schritte weiter hämmerte es in einer Höhle und meißelte in einem Schacht. In tausend Jahren sollte der Schacht mit dem Tunnel zusammenstoßen. Dann wollte es in den großen Stürmen Spitzhacken und Picken nach oben schicken um eine Halle auszuhauen. In abermals tausend Jahren war die Decke so dünn, daß sie nach den Regengüssen einstürzte, und dann stand eine Klippe da, frei und scharf wie eine Sense, und das Meer suchte sich eine neue Aufgabe. Es hatte Zeit.

Je näher man Sturmvilla kam, desto lauter wurde das Meer. Denn hier außen war der offene Ozean und der große Strom brach sich an den Klippen. Unaufhörlich stiegen die Gischtsäulen an den Riffen empor. Zuweilen dröhnte es, als ob eine ungeheure Felsmasse ins Meer stürzte. Eine große Woge. Ich hielt nicht mehr den Schritt an, nur manchmal erschrak ich noch tief innen im Herzen.

Vereinzelte bleischwere Tropfen fielen vom Himmel. Das Gewölk schleppte sich niedrig und schwer wie schwarzer Qualm übers düstre Meer und es wurde rasch Nacht. Unsere beiden Leuchttürme begannen zu arbeiten. Im Norden Stiff. Wie ein saugender, erschreckender Mond zuckte er hinter der schwarzen Heide empor. Zweimal weiß und einmal rot. Im Süden aber begann hoch oben eine geisterhafte Sonne mit vier bleichen Strahlenbündeln wie irrsinnig zu kreisen. Das war Creach. Er schleuderte seine Lichtgarben dreißig Meilen weit in die Nacht hinaus. Es waren sausende Hiebe von Doppelblitzen. Sie flogen über die schwarze Heide, die bleichen Giebel der Hütten, liefen wie eine leuchtende Schlange an den Klippen über der Bai drüben entlang, betasteten ein Riff, eine Woge, einen Wolkensaum, ein Segel — fort, Nacht, Schwärze — und schon blendeten sie wieder auf. Mit der Nacht, da die Geräusche des Tages verstummen und das Ohr sich schärft, donnerte das Meer um so lauter, und so kam es, daß man glaubte fortwährend in einem Gewitter zu leben.

Creach leuchtete mir auf den Weg. All die Felsen, die glattgeschliffenen Elefantenschädeln und Skeletten vorweltlicher Tiere ähnlich sahen, füllten sich mit Gestalt und Leben, wenn der Lichthieb über sie hinfegte. Mitten unter ihnen stand ein bleicher, abgezehrter Mönch, der den Arm erhob und den Skeletten predigte: „Es ist noch nicht zu spät, ihr Saurier!“ In jeder Nacht stand er da und predigte, am Tage war er nichts als ein ordinärer Felsklotz. Auch mir predigte er, wenn ich vorüberkam: „Was den Sauriern gilt, gilt auch dir!“ Und er drehte sich nach mir mit dem erhobenen Arm: „Es ist noch nicht zu spät, Heide!“ Sturmvilla selbst sah wie ein bleicher Schädel aus, durch dessen zerfressene Nase ich hinein mußte.

Sie war früher ein Wächterhaus, aber nun gehörte sie Noel, dem Kaufmann, der ein Sammler alter Baracken war, die er mit großartigen Namen ausstattete: Villa de tempête, Sans-souci, Louis seize.

Ich nahm die Fische aus, schabte sie ab und briet sie in einem dick mit Butter beschmierten Papier über einem kleinen Feuer. Aus der Leber machte ich mit Butter, Salz und Essig die Sauce dazu. Dann hatten wir noch ein paar kleine Kartoffeln, herrlich!

Sturmvillas Gemächer bestanden aus einem einzigen kleinen Raum und die Hälfte davon nahm ein unförmiger pechschwarzer Kamin ein, der mich fast verschlang. Ich liebte es, davor zu sitzen und dem Feuer zuzusehen.

Die Fische zischten und draußen rumorte das Meer. Mein Ohr war fein und geschliffen und ich unterschied jede einzelne Woge. Der Strom stürzte sich gierig und wild gegen die Klippen, in der Ferne dröhnte es in gleichmäßigen Intervallen, als ob eherne Röhren ans Land rollten. Das war die Brandung in der Bai. Dazwischen unterschied ich ein fernes knatterndes Schnellfeuer. Das war das Meer bei Creach. Es hatte die Klippen in Trümmer zerschlagen und jede Woge rollte die zentnerschweren Kugeln auf und ab. Das Splittern und Krachen aber und die Schreie, was war das? Nein, ich öffnete nicht mehr die Türe. Ich sah nicht mehr schwarze Schiffsrümpfe auf- und abstampfen, ich hörte nicht mehr Ertrinkende schreien. Es waren die dunkeln Klippen, die da draußen tanzten, und ich wußte auch, woher die Schreie kamen. Es war das Wasser, das schrie, der Wind. Die Steine schrien.

Es pochte an die Türe. Ich wandte mich nicht um. Wer sollte kommen? Der Wind weinte an meinem Guckloch, er weinte von einem Schmerz, der nicht alltäglich ist, einem auserlesenen Schmerz, der das Herz eines Heiligen brach. Dann lachte er ein kleines, irrsinniges Lachen und weg war er.

Ich saß vor meinem kleinen Feuer und rauchte die Pfeife. „He, Poupoul, alter Kamerad!“ sagte ich und kraute ihm den Kopf. Was war geschehen? Nichts. Aber es lag ein Geruch wie von Abenteuern in der Luft.

Dieser gelbe Irrwisch, der heute aus dem Meer gestiegen war! Ich machte mich bereit. Nimm dich in acht, Yann —

III

Gleich am nächsten Tag zog ich auf Kundschaft aus, um Rosseherre aufzustöbern. Aber ich fand sie nicht. Nun, mochte sie in Gottesnamen bleiben, wo sie wollte, ich war nicht auf sie angewiesen. Und am übernächsten Tag hatte ich sie vergessen.

Die Möwen schrien und die Meerschwalben zogen läutend und glucksend dahin. Es wehte, die Brandung donnerte. Wir fuhren hinaus zum Fischfang. Wir fuhren hinaus um den Hummer und die Languste zu fangen, unser Boot war angefüllt mit Reusen. Kedril, der Pilot Nummer Eins, erhielt eine Depesche und wir jagten zwischen den schwarzen raschen Wogen dahin wie ein Geisterschiff. Wir brüllten wie Teufel, um das Meer zu überschreien. Kommando und Wiederholungen der Kommando. Ich bediente das Focksegel und trachtete mit dem Wind fertig zu werden. Ich stemmte die Füße gegen die Bootsrippen und oft hing ich wagrecht im Boot um das Segel zu spannen. Meine Hände waren zerschunden, meine Augen entzündet vom Salzwasser und vom Wind, die Haare klebten mir im Gesicht. Wir kreuzten acht Stunden lang zwischen den Wassergräbern, bis das trübe Licht unseres Dampfers aus der Dunkelheit blinzelte, und acht Stunden lang trillerte uns der Wind wie eine schrille Pikkoloflöte in die Ohren. Der Pilot kletterte an der schwarzen Eisenwand in die Höhe und verschwand, und nur oben tauchte sein schnapsrotes Gesicht mit der geschwollenen Backe — er verwahrte den Tabak darin — wieder im Lichtschein der Lampen auf. Lebe wohl, Pilot! Wir, der Knecht und ich, legten mit aller Kraft die Stangen gegen den Dampfer um nicht zu zerschellen, und das eiserne Ungeheuer strich davon. Dann jagten wir durch die Nacht die vielen Meilen zurück. Die Sturzseen prasselten auf unseren geölten Anzügen. Unsere Augen lagen auf der schwarzen Straße vor uns und spähten nach Gischt aus. Denn wo Gischt war, waren Klippen. Im Nebel aber legten wir uns über den Bootsrand und schnupperten ganze Tonnen von Luft durch unsere geringelten Nasen — um die Klippen zu riechen.

Wir tranken. O, wie mörderisch tranken wir! Mit der Flasche in der Hand taumelten wir an den Wänden entlang und tranken, weil wir durstig waren. All das Salz, hinab damit. Die Fischer brüllten zum Fenster hinaus. Das Meer hatte ihre Herzen wild gemacht und was sollten sie damit tun? „Brülle auch!“ schrie Yann, und ich brüllte ebenfalls zum Fenster hinaus. Es machte uns Vergnügen. —

Tagelang aber hausten wir einsam da draußen mit dem Wind und den Möwen, Poupoul und ich.

Vor meinem Hause lag ein Stein, groß und flach wie ein Tisch. Er war grau in der Sonne, bei trübem Wetter aber färbte er sich dunkel. Auf diesem Stein saß ich und sah dem Meere zu.

Die Wolken zogen am Himmel und ihre Schatten trieben übers Meer wie dunkle Inseln. Der Wind blies scharf hinein ins milchig grüne Wasser, ohne nachzulassen, und das Meer war eine Armee spitzer Wellen, der Horizont rauchte. Der Wind heulte und schrie und das Meer war getigert mit breiten zornigen Gischtstreifen, die dahinfuhren, Donner und Blitz.

Die Stunde kam und das Meer war anders.

Die Weite blendete mich. Ich stand auf, als ob ich etwas sagen wollte, ungeheure Worte schwebten mir auf den Lippen, Felsen von Worten, aber ihr Sinn war mir fremd und ich sagte nichts. Ich setzte mich wieder. Der Wind blies und fachte mein Herz an, daß es glühte, bis dahin, wo es ganz alt war. Und ich saß inmitten der Weite und Leere und der unbekannten Dinge, die in der Luft sind. So saß ich vom Morgen bis zum Abend und nun verstand ich, was mein Herz mir sagen wollte. Ja! Ich blickte in die Höhe. Gott war verreist, er hatte die Erde vorläufig allein gelassen, da sie aus den Kinderschuhen heraus war, aber die alten Götter lebten noch, denen ich räucherte, da ich übers Gebirge kam, die Steinaxt auf der Schulter. Hörst du es? Wie es sauste da droben! Die alten Götter waren da droben unterwegs.

Tausend Quadratmeilen Wasser, tausend Kubikmeilen Luft, alles gehörte mir. Nein, die da droben sollten nicht auf den Gedanken verfallen, es mit einem undankbaren, schäbigen Burschen zu tun zu haben. Ich ging und stahl einen halben Gartenzaun und machte ein Feuer an zwischen den Klippen. Ich warf Fische hinein, die ich eigenhändig gefangen hatte, mit Augen und Eingeweiden warf ich sie ins Feuer, und der Rauch schwärzte mein Gesicht. Sie sollten es sehen, wenn sie dort oben durch den Äther fuhren!

Und Tag um Tag saß ich auf dem Stein vor meinem Hause.

Draußen zogen die Dampfer vorüber.

Ich unterschied die kleinste Rauchwolke unter dem hängenden Gewölk, ja sogar ein Mast, der am Horizont wanderte, fein wie eine Nadel, konnte meinen Augen nicht entgehen. Die Rauchwolke wuchs, ein grauer qualmender Turm stand auf der Linie des Horizonts. Der Turm wölbte sich, bekam Maste, Kamine, Verdecke. Die Möwen schwangen sich von den Klippen und schossen schrillend hinaus. Und der Dampfer kämpfte sich näher. Sein Bug, sank ein und verschwand, lange, als ginge es hinab. Dann stieg der Bug in die Höhe und der Stern versank. Und wieder neigte sich der Bug. So zog er dahin. Die Gischtsäulen fuhren senkrecht am Schnabel in die Höhe, die Sturzseen strichen übers Deck. Wenn es dunstig war, so kam es vor, daß ich die Dampfer aus den Augen verlor und minutenlang suchen mußte, bis ich sie wiederfand. Bei Sturm erschienen sie wie verzweifelte Gespenster, die sich mit dem Meere schlugen. Sie sahen kahl aus, wie rasiert vom Wetter. Sie stampften auf und ab, qualmten, rollten hin und her, versanken, und oft dauerte es eine Stunde, bis sie den großen Strom passiert hatten.

Sie zogen nach Süden und Südwest. Von meinem Stein aus sah ich bis nach den heißen wimmelnden Städten Asiens, nach Südafrika, Mexiko und Südamerika, und zuweilen bis dahin, wo die Palmeninseln in einem Meer so blau wie Samt schlummern, und die Affen kletterten in unseren Tauen, sobald wir anlegten.

Ich spähte hinaus. Der Wind zerrte in meinen Haaren, die Funken stoben aus meiner Pfeife und fuhren wagrecht über die Heide. Auf einem Felsen saß ein Möwe mit gesträubten Federn und spähte hinaus wie ich.

Poupoul hockte neben mir und seine Nase ringelte sich bei all den Düften, die das Meer sandte. Er war ein pensionierter Schiffshund, ein zottiger schwarzer Pudel, groß und ein wahrer Teufel, und hatte alle Meere befahren. Ich hatte ihn drüben an der Küste gegen eine Flasche eau de vie eingehandelt. Zuweilen machte er eine kleine Exkursion, die Schnauze am Boden, ob nicht etwa Schweinsohren versteckt wären. Er trollte hin und her und lief hinab zum Meer. Das tat er auf drei Beinen, denn gewiß war es so ein erhöhtes Vergnügen. Er sprang vor und zurück, hielt den Rachen schräg und schnappte nach der Welle. Dann kam er zurück und setzte sich, wieder still neben mich.

Ein Dreimaster stand auf dem Meer. Poupouls gelbe Augen blendeten durch seine ergrauenden Haarbüschel hindurch zu mir empor.

„Ja, Poupoul, ich sehe ihn schon.“

Poupoul aber wollte wissen, ob das sein Schiff sei.

„Ja, es ist deines!“

Da heulte Poupoul kurz und heiß. Ich klopfte ihm den Pelz. „Komm!“ Wir gingen. Wir suchten eine Möwenfeder für meine Pfeife und strichen durch die Klippen. „Gott gebe, Poupoul, daß wir eine passende Feder finden!“ Die Welle klopfte. Ich sah sie an und sagte: „Und was willst du?“ Zuweilen redete ich mit den Sandkörnern, die über die Heide rollten; denn ich konnte nicht immer nur mit Poupoul reden. Auch mit den schwarzen Hammeln sprach ich, die da und dort angepflöckt waren und darauf warteten, daß ein Grashalm wuchs. Ich begrüßte sie und machte ihnen meinen Standpunkt klar.

„Daß Ihre Herren Väter Hammel waren, mit Ihrer Erlaubnis,“ sagte ich, „ist keine Schande! Nein, deswegen vertragen wir uns recht gut. Aber, daß Ihre Abkömmlinge noch in Millionen von Jahren nichts als Hammel sein werden, das macht Sie verächtlich. Sie haben sich in eine Sackgasse verrannt, Ihr Zustand flößt mir Mitleid ein. Ich bitte um Verzeihung, meine Herren!“ Ich grüßte und ging. Die Hammel sahen mir frierend und zitternd nach.

Wir hatten die Feder gefunden und gingen wieder nach Hause. Horch! Ringsum mahlte es wie tausend Wasserfälle — die große Lunge atmete. Die Möwe war unterwegs, die Meerschwalbe läutete.

Trii! — Trii! —

Döi! Döi! Gullugullugullu — döi!

Der Wind fegte und ich mußte mich an den Steinen in der Heide festhalten.

Wenn aber die Sonne schien und ich bei guter Laune war, so setzte ich mich in die Klippen und zog meine kleine Flöte aus der Tasche. Ich hatte sie bei Noel gekauft, um mir die Zeit damit zu vertreiben, sie kostete zehn Sou, besaß aber einen wundervollen Ton. Nun, ich spielte nicht für euch, keine Angst, ich spielte für die kleine Welle zu meinen Füßen, für die Fische im Meer, für den Dampfer in der Ferne, für Poupoul und mich.

Ja, herrlich klang es! Wunderbar klar hallte die Flöte in den Klippen wider. Poupoul zuckte mit den Ohren und sah mich voller Bewunderung an.

IV

Nichts geschah. Das Meer wanderte. Aber dann trappelte es draußen und ich stand auf und mein Herz klopfte. Horch, Poupoul! Was trappelt so? Geht man draußen?

„Nun, so warte doch, du schwarzer Satan, wohin? Wie dein Haar glänzt! Wie heißt du — Yvonne? Ich möchte deinen braunen Nacken küssen, Yvonne, wo der Wind dein Haar auseinanderbläst. So, siehst du, keine Angst — zurück, Poupoul! Hahaha — sie ist doch kein Hammel!“

Nun vergingen wieder viele Tage, bevor sich hier außen ein Mensch zeigte. Ich klopfte die Pfeife aus. Tock — tock — es hallte in der Heide. Aber dann tauchte ein Mann aus der Heide auf und steuerte auf mein Haus zu. Es war Kedril, der kam um mich zu seiner Hochzeit einzuladen.

„Du heiratest also, mon vieux?“

„Ja. Ich trinke zu viel. Wirst du kommen?“

„Wenn ich nicht komme, kommt niemand, Pilot!“

„Vielleicht kannst du deine Flöte mitbringen?“ (Meine kleine Flöte war auf der ganzen Insel berühmt.)

„Gewiß, mon cher!“

Auf dieser Hochzeit sah ich das gelbhaarige Mädchen wieder.

Um nichts zu versäumen, war ich schon am frühen Morgen zur Stelle. Der Tau lag noch auf den Halmen.

Ich war rasiert, mein noch in Europa gewaschener Kragen (der letzte) blendete in der Sonne. An der Hand trug ich zwei Ringe und über der Weste eine dünne silberne Kette, die ich schon seit fünf Jahren mit mir in der Hosentasche herumtrug. Gott weiß, warum. Ungeheuer vornehm nahm ich mich unter den Fischern aus, und das Aufsehen war groß.

In der Kirche knieten links die Frauen mit den weißen Hauben, rechts die Männer. Rosseherres helles Haar stach unter all den schwarzen Mähnen ab wie ein neugeprägter Louisdor unter alten Kupfermünzen. So oft sie das Kreuz schlug, bewegte sie die Lippen; sie sah weder rechts noch links. Der Priester gackerte wie eine Henne, der schweres Unrecht widerfahren ist und die ihr seelisches Gleichgewicht nicht wiederfinden kann. Er eiferte gegen die Trunksucht. Gewiß, er fuhr in Wind und Regen hinaus aufs Meer und lebte das ganze Jahr von getrockneten Fischen und Kautabak, während die Fischer in einem gepolsterten Lehnstuhl saßen und sich an der Freundschaft der Heiligen wärmten. Wir wurden langsam im Fegfeuer geröstet, dann strich ein leiser Zephir der Seligkeit über uns hin und es war zu Ende. Alle waren ergriffen. Kedril, der Bräutigam, der schon um sieben Uhr morgens betrunken war, lauschte mit ein wenig ausgestreckter Zunge und der pure Alkohol rieselte ihm aus den entzündeten Augen. Seine Braut kniete mit fettem, gewölbtem Rücken, den Kopf gesenkt, wie bereit zur Hinrichtung.

Poupoul unterhielt sich unterdessen prächtig mit Noels grünem Papagei, der auf dem Kirchplatz seine Morgenpromenade machte. Ich hörte die beiden disputieren. Auf das schallende Spottgelächter des Papageis antwortete Poupoul stets mit rasendem Kläffen.

Nach der Trauung küßten sich alle. Ein Mann machte die Runde mit einer Flasche und jeder bekam einen Schluck geweihten Wein und ein Stückchen geweihtes Brot. Der kleine Kirchplatz wimmelte von weißen Hauben; als sei soeben ein Extrablatt ausgeworfen worden, so sah es aus.

Rosseherre stand in meiner Nähe und wandte zuweilen den Kopf nach mir. Auf den ersten Blick hatte sie entdeckt, daß ich heute meine sämtlichen Juwelen angelegt hatte. Zwei alte Fischer näherten sich ihr, nahmen die flachen Tellermützen von den kahlen Schädeln und rieben ihre stachligen Gesichter gegen ihre Wange, während sie mit eingeknickten Knien standen. Rosseherre lächelte mir zu, als die Fischer sie küßten.

Nun kam die Reihe an mich. Ich nahm die Mütze ab und trat an Rosseherre heran. Sie sah mich mit ungeheuer verwunderten Augen an. Diese Augen waren graugrün und hatten gelbe Sterne in der Mitte. Sie sahen ganz anders aus als neulich. Wie hatte ich doch denken können, daß ihre Augen wahnsinnig aussähen? Nur alt erschienen sie mir. Ihre tiefroten rissigen Lippen standen voll Erstaunen offen. Dann brach sie in kindliches Gelächter aus. Sie klemmte die Hände zwischen die Knie und schüttelte sich wie ein messinggelber Pudel, der aus dem Wasser kommt.

Alle wurden von ihrer Heiterkeit angesteckt, auch ich; ich lachte um meine Niederlage zu verbergen.

„Du bist ja kein Fischer!“ sagte sie im singenden Französisch der Bretonin.

„Woher weißt du das? Nun warte, wenn nicht heute, so morgen!“

Wiederum lachten alle.

Hierauf begaben sich die Geladenen ins Grandhotel, und auch die Nichtgeladenen gingen dahin.

Das Grandhotel war eine elende gelbe Hütte, die abseits vom Dorfe stand, dicht über der Bai, und sich nicht entschließen konnte, nach welcher Seite sie umfallen sollte. Vor der krummen kleinen Tür saßen zwei Papageien auf Sardinenbüchsen. Ohne jedes Zeichen von Aufregung saßen sie da, bald auf der rechten Kralle, bald auf der linken, rollten die Liderkapseln, knarrten und zuweilen lachten sie und schrien markerschütternd: Dieb, Lump, Faulpelz!

Im Grandhotel hauste Madame Chikel, ein stämmiges Weib, à la bonheur, mit einem lauten Mundwerk, immer liebenswürdig, immer entgegenkommend, und mit Händen wie Anker. In ihrem Schatten fristete Herr Chikel sein jämmerliches Dasein, wie ein Pilz im Schatten einer Eiche. Mit seinem breitrandigen Plantagenbesitzerhut, den er sich beigelegt hatte, seinen ewigen Bandagen an Kopf, Armen und Beinen, erinnerte er auch an einen Pilz.

Zuweilen bekam Herr Chikel einen Schlag mit einer Flasche über den Schädel, zuweilen auch nur eine Serie der entzückendsten Backpfeifen. Manchmal mußte er auch seiner Gesundheit halber im Freien übernachten. Er erschien im Mondschein wie ein Bündel in der Tür und flog die Treppe hinab. Die Tür krachte ins Schloß, der Riegel klirrte. Vorsicht! Aus dem Fenster flogen Hämmer, Flaschen, und Chikel war gezwungen, sich in die Klippen zurückzuziehen, in eine Art Fort, und hier schlief er.

Herr Chikel war eine Hundeseele. Lächle ihn an, was tut er? Er zittert mit dem Bein und lächelt wieder. Lächle etwas spöttisch oder sauer, er wird spöttisch oder sauer lächeln. Ziehe die Brauen zusammen und durchbohre ihn mit Blicken, als ob du ihn töten wolltest — er wird alles nachahmen. Er war verdammt dazu, den Gemütszustand anderer widerzuspiegeln, und man konnte ihn die Skala der Empfindungen auf- und abhetzen, bis ihm der Schweiß aus den Poren brach.

Madame Chikel war ihm so sehr an Kräften überlegen, daß er mit List kämpfen mußte. Er liebte es sich mit spitzen Gegenständen zu verteidigen, mit Nadeln und Glasscherben, die er ins Bett legte; es kam ihm auch nicht darauf an etwas Petroleum in den Strohsack zu gießen und nebenher ein Streichholz fallen zu lassen. Sobald aber Madame Chikel etwas merkte, daß zum Beispiel ein Nagel durch die Sohle ihres Holzschuhs getrieben war, oder sonst etwas, schlug sie ohne Mitleid auf den Pilz ein.

In diesem, dem ersten Etablissement der Insel fand Kedrils Hochzeit statt.

Die Weiber der Geladenen brachten ihre eigenen Bestecke und Teller mit — denn das Etablissement konnte nicht so viele stellen — und das Mahl begann. Ein wirres Meergespenst erhob sich und sprach. Es sprach bretonisch. Es waren Namen, Namen, eine endlose Reihe. Da und dort schlug einer das Kreuz und auch Rosseherre zuckte plötzlich zusammen, beugte den Kopf und bewegte die Lippen. Dann sah sie auf, etwas bleich und scheu, während sie zu lächeln versuchte. Es waren die Namen all derer, die aufs Meer hinausgefahren und nicht mehr zurückgekehrt waren. Speisen und Getränke wurden aufgetischt. Es gab Fisch, Hammel und einen Kuchen uralten Rezepts, der aus Schweineblut, Mehl und Zwetschgen gebacken war. Am Anfang ging es bäurisch steif zu, dann begann die Unterhaltung. Sie begann damit, daß man allgemeinen Zweifel über die Treue von Kedrils Braut äußerte. Kedril erstickte vor Lachen.

Nach dem Mahl wurde auf der Heide getanzt.

Bumba — bumba — alle formten einen Kreis und stampften mit den Holzschuhen, als stiegen sie eine Treppe empor und sangen: bumba — bumba. Das dauerte endlos. Plötzlich aber begann eine einzelne Mädchenstimme zu schrillen und der Kreis setzte sich in Bewegung.

Es war Rosseherre, die sang. Sie sang mit der Fistel, so hoch und schrill, daß selbst eine Grille erstaunt wäre. Sie sang das bretonische Hochzeitslied:

„Gib mir doch, gib mir doch, dein klein’ Herz, mein Lieb“ —

„Gib mir doch, gib mir doch, dein kleines süßes Herz“ —

Sie wiegte den Kopf dabei und sah zum Himmel empor. Ihre Haare flogen und der Reigen drehte sich. Die Holzschuhe klapperten, die Tücher wehten, die langen Haare der Frauen, die Bänder der weißen Hauben. Auf der einen Hälfte des Reigens wehte alles einwärts, auf der andern nach außen. Die Fischer mit den Köpfen Ertrunkener und den blinkenden Augen trollten unbeholfen dahin, die braungebeizten Indianerweiber lachten und zeigten die weißen Zähne, während die Röcke über ihre dicken weißen Strümpfe emporschlugen. Um den Reigen herum standen die Kinder, grell geputzt wie Puppen, mit Ruschelköpfen, roten Backen und staunenden, strahlenden Augen.

Tief unten rauschte das Meer. Die Brandung lief und donnerte. Die Möwen schrillten und flogen über den Reigen weg, der Wind wehte. Es war Sommer, die Sonne schien, aber die Insel sah aus wie eine trostlose Öde von starrenden Felsen. In der Ferne zogen auf einem tiefblauen Streifen im Meer zwei Dampfer gegen Süden; da draußen lief die Straße vorbei, auf der die Zeit wanderte.

„Gib mir doch, gib mir doch, dein klein’ Herz, mein Lieb —“

Ich stand und folgte dem blonden Kopf Rosseherres, der im Kreise ging wie eine funkelnde Glocke, die bimmelte. Rührend sang sie —

Neben mir stand Yann, der „kleine Kapitän“, denn wir waren stets beisammen. Yanns Distelkopf war heute nicht nur gewaschen, sondern abgescheuert wie ein Deck. Man sah noch deutlich jeden Bürstenstrich. Seine hellblauen Kinderaugen waren geputzt wie Schiffslaternen. Er trug zur Feier des Tages einen eingeschrumpften weißen Kittel, einen zerknitterten Kragen, blaue Manschetten, schwarze Holzschuhe und ein dünnes Bambusstöckchen. Durch die Krawatte hatte er eine Nadel mit einem riesigen Brillanten gesteckt, der Quere nach, so daß die Nadel fingerlang herausragte. Und dazu — ha, ha, riechst du es nicht? — hatte er sich parfümiert, der Elegant. Die blaue schmucke Kapitänsmütze trug er nachlässig hinten im Genick wie etwas Nebensächliches und Lästiges.

Yann stand natürlich mit gespreizten Beinen, die Hände in den Hosentaschen, aber das war bei weitem nicht genug. Die Füße waren einwärts gerichtet, besonders der rechte, die Schenkel auf unmögliche Weise verdreht, so daß sein rundes Sitzfleisch plastisch hervortrat. Die linke Hüfte war stark herausgedrückt, dann machte Yanns Taille einen graziösen Bogen einwärts und die Brust stand vollkommen senkrecht. Diese Stellung gab einen federnden Unterbau aus Gummi und Stahl, und so konnte man in aller Gemütsruhe auf einem schwankenden Verdeck in der gröbsten See stehen. Auch ließ sich der Oberkörper nach Belieben wenden und drehen, ohne daß man je den Unterbau verändern mußte.

Yann war Kapitän eines kleinen Regierungsdampfers, der drunten auf der Reede vor Anker lag. Seine Laufbahn war die übliche gewesen: Mousse auf einem Fischerkutter, Ohrfeigen und nichts zu essen, Leichtmatrose auf verschiedenen Segelschiffen, Ohrfeigen und wenig zu essen, zwei Campagnen Stockfischfang auf den Bänken von St. Pierre, Hundefressen, ein paar Jahre Dienst auf einem Amerikadampfer, erträgliches Essen. Von da an war es rasch in die Höhe gegangen mit ihm. Er wurde geprüfter Pilot und die Regierung vertraute ihm jenen schwarzlackierten Sarg mit Dampfheizung an, hundert Tonnen, sechs Mann Besatzung. Diese Auszeichnung war ihm zu gönnen. Seine Fingerkappen waren noch heute verunstaltet vom Reffen der Segel — und da drunten bei Kap Horn waren die vereisten Segel hart wie Glas, daß das Blut aus den Nägeln sprang und man zuletzt die Ellbogen nehmen mußte — sein rechter Zeigefinger war gebogen vom Abschneiden von Tausenden von Stockfischköpfen. Seine Finger hatten tiefe Rinnen von den Angelleinen, seine Hände waren hart vom Rudern und den ewigen Tauen.

Yann war ein Tausendsasa. Er war Schneider, Schuster, Tischler, Schlosser, Koch, was war er nicht, er konnte Strümpfe stricken, Netze knüpfen und flicken, mit einem Stück Draht, das er auf der Straße fand, öffnete er dir jedes Schloß. Dieser Teufelskerl sprach Arabisch, Malaiisch, Chinesisch, was nicht, abgesehen von jenen lumpigen Sprachen wie Spanisch, Portugiesisch, Englisch usw. Von all diesen Sprachen wußte er nur fünf Wörter. Aber damit konnte er alles sagen, was nötig war die Bedürfnisse eines Seemannes zu decken, der an Land geht. Obendrein wußte er von allen Sprachen das gemeinste Schimpfwort, das er anwandte, wenn ihn die Kenntnisse verließen oder ihm etwas gegen den Strich ging. Sobald er den Fuß auf eine ferne Küste setzte, schleuderte er dem Gewürm dieses kapitale Schimpfwort entgegen. Ah, ein Eingeweihter, kein Neuling! Die Preise sanken rapid, denn Yann stieß bei jedem, auch dem demütigsten Angebot dasselbe ungeheure Schimpfwort hervor, und das gleiche Wort bekam der Glückliche an den Kopf, dem er etwas abkaufte.

So war Yann! Er war vollgestopft mit verfänglichen Scherzfragen und mit zwölf Streichhölzern konnte er schädelspaltende Probleme bewältigen. Aus einer einzigen Spielkarte konnte er etwas so unerhört Unanständiges schneiden, daß einem das Wasser aus den Augen sprang. Gib Yann zum Beispiel dein Taschenmesser. Er nimmt es in die Hand wie ein Numismatiker eine seltene Münze. Messingfalse, gut, sie rosten nicht. Er stößt es in Noels Ladentisch, wippt daran, er schneidet eine tiefe Kerbe in Noels Tisch: der Stahl ist gut, überhaupt ein hübsches Messer! Er stellt beide Klingen senkrecht zum Griff — wenn nun einer Lust hat, ich stelle mich gegen die Wand, heran — wupp! zwei Stiche auf einmal. Yann streckt die Klingen. So! Wenn nun hinten einer kommt und vorn — eins, zwei! — man schwingt den Arm, der hinten erhält das Messer in den Bauch, der vorn in die Kehle. Ein hübsches Messer, merci!

Und doch war Yann ein Gemüt. Es kam wohl vor, daß er seinen Schiffsjungen mit der Faust ins Gesicht schlug, aber er gab ihm doch sofort zehn Sou, als die Mutter dieses Schiffsjungen erkrankte. Er konnte mit Tränen in den Augen schwärmen von einem Weinchen, das er vor sechs Jahren irgendwo getrunken hatte, von Mädchen, die er genossen hatte — ah, so etwas, süß, saftig, und welch eine liebliche Stimme — ! —

Da stand er nun, duftend und herausgeputzt, vom Kopf bis zu den Zehen eine einzige ungeheure Überlegenheit und Verachtung, und sein loses Maul stand nicht einen Augenblick still.

„He, dich haben sie wohl heute aus dem Friedhof freigelassen, Großmütterchen?“ sagte er zu einer verschrumpften Greisin mit wachsgelbem Gesicht. Ein Mädchen, das guter Hoffnung war, grüßte er überaus höflich: „Bonjour, messieurs-dames!“ Für jeden hatte er eine kleine Aufmerksamkeit auf Lager. Doch man nahm es ihm weiter nicht übel und zahlte ihm mit gleicher Münze heim. Aber Yann behielt stets das letzte Wort.

„Ha! ha! ha!“ Und mit einem schallenden Lachen machte er dem niedergeschmetterten Gegner den Garaus.

Nun aber war seine Stunde gekommen. Er räusperte sich, was zum Teufel steckt mir doch in der Kehle? „Vorwärts, gehen wir hinein. Ein Gläschen, he!“

Der Reigen gefiel mir, ich blieb. Ich stand und sah Rosseherre an.

Yann lachte. „Wie kann dir das doch gefallen! Das sind ja Wilde!“ sagte er verächtlich. „Glaube nicht, daß das Franzosen sind! He! Nein, das sind Leute aus der Sintflut, ohne jede Zivilisation und Bildung, sie sterben aus. Sieh sie doch an — bumba, bumba!“ Und Yann lachte rasend um mir seinen ungleich höheren Kulturzustand darzutun. Dabei war er aus Roskoff, Yann hieß er und war selbst ein Bretone von oben bis unten, o du Schurke!

„Kennst du Rosseherre?“ fragte ich ihn. „Rosseherre? Natürlich kenne ich sie!“ Yann sah an mir vorbei. Sonst sagte er nichts. Hm! „Nun marsch!“ Er wollte trinken und da gab es kein Sträuben bei ihm.

V

Wir hatten ganze fünf Schritte zu gehen, aber Yann handhabte sein Bambusstöckchen, als ob er im Bois de Boulogne lustwandle.

Im Grandhotel ging es schon laut her. Die Fischer schwangen die Gläser in den steifen Händen, sie sprachen wie Fässer und Röhren, stießen sich gutmütig mit den Fäusten und spritzten einander ganze Duschen von Schnaps ins Gesicht, wenn sie in Gelächter ausbrachen. Alles war in Bewegung, nur Chikel, die Hundeseele, rührte sich nicht. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt nicht mitzumachen. Den bandagierten Fuß auf einem Stuhl, saß er in der Ecke und spielte Domino mit einem unsichtbaren Gegner. Sein Kopf war verbunden und nur ein kleines Auge bewegte sich hinter dem Verband, wie ein kleines glänzendes Tier in einem dunklen Käfig.

„Hallo, Chikel, neulich war dein Arm verbunden und heute bist du ganz eingewickelt?“

Yann aber sagte nichts, er postierte sich vor Chikel auf und lachte unverschämt.

„Das sind die Folgen meiner schlechten Aufführung,“ erwiderte Chikel mit einem scheuen Achselzucken und schob mit der zarten schmutzigen Hand die Dominosteine. Madame Chikel aber rief von der Bar herüber, daß man ihrem Lumpen keinen Sou in die Hand geben solle. Heute nacht hatte ihr Lump die Bretter der Bettstatt durchgesägt, so daß sie durchkrachte. „O, was für eine erbärmliche Kanaille!“

Hier Pfiff Chikel vor boshaftem Vergnügen wie eine Maus, aber augenblicklich schwieg er wieder still, da seine Gattin eine Gebärde machte.

Der Reigen war zu Ende und die Hochzeitsgesellschaft füllte die kleine Bar. Das eigentliche Fest begann. Die Bar wurde unter eau de vie gesetzt. Man schrie und betrank sich, Männer und Frauen. Ein Dudelsack winzelte und man tanzte. Es war eine Art Schottisch, aber die Hauptsache dabei war, daß man gehörig mit den Holzschuhen stampfte. Das Grandhotel tobte wie das Innere einer großen Trommel, auf die ein Rasender mit Prügeln losschlägt. Ganze Wolken von Staub stiegen von den Dielen auf.

Rosseherre kam in meine Nähe und ich trat an sie heran und bat sie um einen Tanz.

Ihr kleines Gesicht war mit einer sonderbaren Röte bedeckt, als sei es mit Ziegelmehl gepudert. Sie lachte mich an. Ihr Gebiß blitzte. Sie sagte nichts.

„Nun, Rosseherre? Willst du nicht?“

Rosseherre schüttelte den Kopf und lachte wieder. Sie war verlegen.

„Schön.“ Ich wandte mich ab und kehrte zu Yann zurück um einen geeigneteren Zeitpunkt für eine Annäherung abzuwarten.

Yann amüsierte sich prächtig. Er saß in einer Ecke, trank, applizierte den Tänzern kleine Fußtritte in die Kniekehle und kniff die Frauen. Ho! Ho! Ho! Und wie er dabei lachte! Schließlich stach er sich die Hand an seiner Krawattennadel blutig, und augenblicklich riß er Binde und Kragen ab und zerstampfte wütend diese Anhängsel der Zivilisation. Nun fühlte er sich wieder Mensch, und es war merkwürdig, er trank jetzt zweimal so rasch.

Da gab es einen kleinen Zwischenfall. Jean Louis, den sie den „Meerkönig“ nannten, ein kleiner weißhaariger Greis, sank lautlos in sich zusammen. Man trug ihn hinaus und legte ihn vor das Haus.

Rosseherre trat zu Yann. „Großvater liegt vor der Tür,“ sagte sie etwas beunruhigt.

Yann lachte. „Nun, und was weiter?“ fragte er. „Glaubst du, jemand wird kommen und ihn stehlen?“

Rosseherre lächelte. Nein, nun war sie beruhigt. Yann reichte ihr generös sein Glas.

„Das hier ist mein Freund!“ schrie er und deutete auf mich. „Umarme ihn, vorwärts!“

Das kam Rosseherre sehr komisch vor.

„Wir kennen uns schon,“ sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte und in die Augen sah, „aber Rosseherre will nichts mit mir zu tun haben, sie ist zu stolz.“

„Stolz? O, ich bin gar nicht stolz!“ rief Rosseherre singend aus und rückte verlegen an der Haube.

„Aber doch willst du nicht mit mir tanzen, Rosseherre!“

Sie lachte.

„Tanze mit ihm, tanze sofort mit ihm, er ist mein Freund,“ schrie Yann. „Tanze mit ihm!“ Das wiederholte er hundertmal, bis Rosseherre einwilligte.

Ich stampfte im Kreise wie die andern, Rosseherre im Arm. Sie war leicht und schmal und ihre Haare fielen weich über meine Hand.

„Du bist wohl drüben an der Küste gewesen, Rosseherre?“

Ach, nein, sie war nicht auf der großen Erde, sie war nur auf der Insel Molen.

„Heute in der Kirche sahst du so hübsch aus, Rosseherre. Wie eine kleine Madonna. Du hast mir gefallen, bei Gott!“ sagte ich und zog sie an mich.

Rosseherre sträubte sich nicht; sie lächelte und sah flüchtig zu mir empor.

Sie hatte viele Sommersprossen, besonders unter den Augen. Ihr Mund war voll und weich, ein Mund, der sich beim Kusse ganz ergibt. Sie hatte fast gar keine Brauen. Kindlich und unentwickelt war ihr Gesicht, trotz der merkwürdigen, alten Augen. Auf ihrer niedrigen, eigensinnigen Stirn waren die Linien vieler Falten zu sehen, wie bei allen Mädchen der Insel und selbst bei Kindern. Denn in die grausame Helle des weiten Himmels konnte man nur mit zusammengezogenen Brauen blicken.

Wir wurden langsam in der Runde geschoben. So oft wir an Yann vorbeikamen, stach er nach uns mit seinem Bambusstöckchen. Dann war der Tanz zu Ende.

Rosseherre war erhitzt und trocknete sich die Stirn mit dem Ärmel. Ich zog ein kleines, blaues Tuch aus der Tasche und reichte es ihr.

„Ein hübsches Foulard!“ rief sie aus.

Yann prüfte fachmännisch das Gewebe.

„Prima!“ sagte er.

Ich faltete das Tuch zusammen und legte es in Rosseherres kleine braune Hand.

„Nun?“

„Behalte es, wenn du willst, Rosseherre. Ich brauche es nicht.“

Rosseherre sah mich ungläubig an.

„Nun, so nimm es doch, Rosseherre!“ schrie Yann. „Er ist mein Freund!“

Rosseherre sah mich dankbar an. „Merci!“ sagte sie leise und lächelte. Sie betrachtete das Tuch nochmals von allen Seiten. „Wo hast du es gekauft? — In Paris!?“ Das konnte Rosseherre kaum fassen. Dann beugte sie sich über meine Hand und studierte die Ringe. „Wie hübsch sie sind, Yann, sieh doch!“ Ich nahm die Ringe ab und sie streifte sie über die Finger. Sie hielt sie gegen das Licht, damit sie glänzten, und ihre Augen waren voll verliebter Gier.

Nun aber mußte Yann sein Gutachten abgeben. Er zog ein derbes Messer aus der Tasche hinten, schabte vorsichtig daran und ritzte die Steine. Zuletzt spie er etwas darauf und polierte sie am Ärmel.

„Echt!“ sagte er.

Rosseherre war durstig und wollte gerne Cidre haben. „Also, Cidre, Patronne! Im Namen der Hölle, rasch, sechs Flaschen!“

Yann prüfte ihn. Er roch, leckte, zerpreßte einen kleinen Schluck auf der Zunge und je weiter seine Untersuchung vorschritt, desto strahlender wurde seine Miene. Das war ein Cidre . . .! Auch Rosseherre und ich mußten daran riechen, Yann zwinkerte vielsagend und überhäufte im nächsten Augenblick Madame Chikel mit den wüstesten Vorwürfen, uns so etwas für diesen Preis vorzusetzen. Madame Chikel war gezwungen den Preis um einen Sou pro Flasche nachzulassen, ob sie wollte oder nicht. Nun war Yann glücklich.

„Ich tue das immer,“ sagte er, „das sind ja lauter Diebe, diese Leute auf der Insel. Selbst die Priester sind Diebe hier.“ Dann zeigte er mir, wie man Cidre zu trinken habe. „Nicht schlucken, um Gottes willen nicht schlucken — so — einfach hinablaufen lassen. Durchs Schlucken verliert der Cidre vollkommen seine Blume, seine Seele. Aber wenn man getrunken hat, muß man die Zunge gegen den Gaumen pressen, das prickelt angenehm. So!“

Plötzlich schwang Yann seinen Fuß rasch unterm Tisch. „Ich wollte nur sehen, ob ihr zwei — haha!“

Wir unterhielten uns ausgezeichnet. Auch Poupoul. Es schien, als ob die Erinnerung an seine besten Zeiten in ihm erwache. Er lächelte. Einigemal wandte er mit großer Geschicklichkeit seinen Rattenfallentrick an, der darin bestand, daß er die Zähne um ein Bein schlug und festhielt ohne zu beißen.

Die schwarze Jeanette stand lächelnd neben uns und sah mit verlangenden Augen zu, wie wir tafelten.

„Hole dir ein Glas, Jeanette!“ rief ich ihr zu.

Aber da wurde Rosseherre purpurrot im Gesicht.

„Nun, ein Glas Cidre mag sie wohl haben?“

Yann sagte: „Sie ist Rosseherres Feindin.“

„Ach so!“

Da stand Jeanette mit dem Glas in der Hand. Yann sah sie an und lächelte verächtlich.

„Du hast dir das Glas geholt?“ fragte er spöttisch. „Nun, trag es wieder hübsch zurück. Ho! Ho! Ho!“

Und Jeanette öffnete verblüfft den Mund, lachte laut und herzlich und trug das Glas zurück.

Sie tröstete sich rasch. Ein kleiner stiernackiger Seemann hatte den Arm um sie gelegt und sie ging mit ihm hinaus. Unter der Türe sah sie lachend zu uns her und zeigte die Zähne.

„Siehst du,“ sagte Yann, „da geht sie hinaus, sie schämt sich gar nicht.“

Die Bar tobte. Man hätte hier einen Dampfhammer arbeiten lassen können, niemand hätte ihn gehört. Ha! Ha! Ha! Hoo! Es entstanden heulende Schwingungen infolge des Getöses und zuweilen schien es, als fliege das Grandhotel durch die Luft. Diese stillen, schweigsamen Leute, die in der Einsamkeit der Wogen beim Rauschen des Meeres arbeiteten, brüllten heute für ein ganzes Jahr. In der Ecke stand einer, den Kopf gegen die Wand gelehnt, die Augen verzückt geschlossen, und riß das Maul auf und schrie sinnlos heraus.

Die Köpfe dampften, die Arme wirbelten. Die Augen glühten wie geschmolzenes Blei in den brandroten Gesichtern. Die Frauen kreischten und quiekten. Es herrschte eine Betrunkenheit, die in Europa längst ausgestorben ist. Nur Chikel saß in seinem Winkel und spielte Domino.

Ich muß gestehen, daß ich mich hier zu Hause fühlte. Ich liebe sittsame Gesellschaften nicht. Zuweilen staut sich die Luft in meinen Lungen und dann macht es mir Vergnügen zu brüllen. Die überschüssige Kraft zuckt in meinen Muskeln und sie werden plötzlich hart wie Stein, und dann ist es hübsch einen Teller in Stücke zu schlagen. Siehst du! Wenn mich in guter Gesellschaft ein Idiot langweilt, so muß ich dazu lächeln, hier aber kann ich ihm sofort sagen, daß er in die Hölle fahren möge. Ja, bitte! Hier konnte man auch trinken, ohne sofort als Pavian zu gelten und tausend gestreckte Meilen Abstand zwischen sich und seine Umgebung zu legen.

Ha! Ha! Ha! Hooo!

Kedril hat allen Grund mit seiner Hochzeit zufrieden zu sein. Und er war es. In eine Wolke von Alkohol eingehüllt, mit Gespensteraugen, ging er mit einer Flasche in der Hand umher, wie ein Sprengwagen. Und dazu sprach dieser Mann eine vollkommen neue Sprache! Hatte sich der Geist eines Höhlenbewohners Chikels Seele bemächtigt und ritt sie?

„Was zum Teufel redet er denn?“

Yann wußte es. „Die Mondsprache,“ sagte er und begann eine Unterhaltung in diesem Idiom mit Kedril. Kedril war entzückt, er verstand, er antwortete. Ich aber war Ausländer, Kedril sah das ein.

„Wo steckt denn deine Frau, Kedril?“

„Frau? Frau? Frau?“ Kedril tanzte mit der Flasche. O, er hatte ganz vergessen —

„Wie schön der Priester heute gesprochen hat, wie?“ fuhr er fort. „Du sollst dich nicht vollsaufen, hahaha, so schön, so rührend hat er gesprochen. Morgen passiert die ‚Lady of Ireland‘, morgen abend, wirst du mitkommen? Eine Spazierfahrt. Ja, sagte ich, mein kleines Haifischchen —“ Er erzählte verworren von seinem Haifisch, den er im vorigen Sommer gefangen hatte. „Mein kleiner Haifisch, ich sehe ihn, er marschiert daher, komm heran, mein Kleiner, mit deinen hübschen Zähnchen — keine Angst, gib mit die Ehre.“ Es sah aus, als habe er ihn mit der Hand gefangen und an den Zähnen herausgezogen — ekelhaft!

„O Kedril, Pilot Nummer Eins, Haifischfänger, ich sage dir, mein Bruder, dieser Haifisch, der dich berühmt gemacht hat, war dein Verderben. Du warst der ordentlichste Mann der Insel, jetzt geht es dahin mit dir. Du hast geheiratet, wirst Kinder zeugen, Hydrocephalen, du wirst dein Boot vertrinken und deine Frau wird dich windelweich hauen. Es gibt kein Zurück mehr.“

Kedril war gerührt über meine Ansprache. Er umarmte und küßte mich. „Dank, mein Freund, du meinst es gut mit mir!“

Ich drückte ihm verstohlen ein Fünffrankenstück in die Hand. „Es soll lustig hergehen auf deiner Hochzeit, Pilot.“

Kedril prüfte die Münze zwischen den hölzernen Fingern und bohrte sich mit der Flasche in die Mauer von Rücken, die die Bar umgab.

Eine neue Epoche des Festes begann. Sie charakterisierte sich dadurch, daß es in allen Ecken klirrte und kurze Streitigkeiten aufflackerten. Sie wurden in triefender Sentimentalität ertränkt. Die beiden Papageien, die man hereingenommen hatte, turnten auf ihrer Stange und schrien begeistert.

„Und nun spiele!“ rief Yann. „Du hast doch die Flöte dabei?“

„Jawohl!“

„So spiele uns etwas.“

Ich nahm die Flöte aus der Tasche, feuchtete die Lippen an und ließ die Finger über die Löcher galoppieren. Und meine kleine Flöte sang:

Freut eu—ich des Lebens, weil no—och das Lä—ämpchen glüht —

Pflücke—et die Rose, eh’ sie—ie verblüht — —

Hoho! Bravo! Bis — bis!

Und wieder sang meine kleine Flöte:

Freut eu—ich des Lebens . . .

Der Dudelsack winselte und die Holzschuhe stampften.

Da war auch die schwarze Jeanette wieder. Sie stand mit einem jungen Fischer und sah zu uns her.

„Da ist sie wieder!“ sagte Yann verächtlich.

Wirklich, sie schämte sich nicht im geringsten.

Ich tanzte immerfort mit Rosseherre.

„Tanzt nur, tanzt nur!“ schrie Yann. Nun, wir tanzten. Wir wurden gequetscht und getreten, aber es war schön. Rosseherres kleine Brust atmete erregt. Ihr Gesicht war rot vom Cidre. So oft ich sie an mich zog, sah sie zu mir empor und lachte mich an. Martina zupfte mich am Arm und sagte: Hallo! Aber ich beachtete sie gar nicht. Es gab hier einige Mädchen, die mir großes Entgegenkommen zeigten, aber was waren sie gegen Rosseherre? Sie hatten alle dicke Bäuche, als ob sie guter Hoffnung wären, Rosseherre dagegen, ha!

„Vielleicht werde ich dir einmal einen meiner Ringe schenken, Rosseherre,“ sagte ich ihr ins Ohr. Wie hübsch ihre kleine weiße Haube war, und ihr Mieder war mit einem halben Hundert farbiger Nadeln zugesteckt.

Plötzlich aber tanzte etwas durch die Luft, tanzte und tanzte mir mitten auf die Stirn. Ein Weinglas. Ich bekam einen kleinen Riß in die Haut und blutete. Ich richtete mich auf. Im Falle es auf der Insel Sitte sein sollte mit Gläsern zu werfen, diese Sitte machte ich nicht mit, nein, merci!

„Wer hat geworfen?“ schrie ich. Rosseherre zupfte mich am Arm und ich verstand.

Es war Yann. Er lachte, und in seinen hellblauen Kinderäuglein sah ich gerade den letzten Funken Zorn erlöschen.

Deine letzte Stunde ist gekommen, kleiner Kapitän. Alle Kalenderheiligen können dich nicht mehr retten!

„Hehe!“ lachte Yann und wand sich. „Du wirst doch nicht! Hehehe, ihr sollt endlich aufhören zu tanzen.“

„Er blutet ja,“ sagte Rosseherre und reichte mir das kleine Tuch, das ich ihr geschenkt hatte.

Das beruhigte mich augenblicklich. Yann genoß ja mildernde Umstände, das Leben sollte ihm noch einmal geschenkt sein. Meine gute Stimmung kehrte zurück, denn war es nicht rührend, da stand Rosseherre mit dem Tuch in der Hand. Meine Seele, über die eben ein Taifun dahinwirbelte, lag spiegelglatt da. Ich lachte. Ja, man muß lachen über ein Rindvieh deines Kalibers, Yann! Ich bedauerte ihn sogar ein wenig. Er hatte zwei kolossale strategische Fehler gemacht. Erstens hatte er mir durch den voreilig abgefeuerten Schuß seine Stellung verraten, und zweitens hatte er Rosseherre gezeigt, daß er eifersüchtig war. Und das war der schlimmere Fehler.

Yann stand auf und legte die Hand feierlich aufs Herz. Seine treuen Kinderaugen standen voller Tränen. „Ich wollte ja nur ein wenig werfen, ein wenig, mein Freund.“

Ich reichte ihm die Hand. Auch ich hatte Tränen in den Augen. Wir umarmten und küßten uns wie es sich gehört, und somit war die Sache erledigt.

Rosseherre aber stand stumm da und ihre niedrige Stirn war in tausend kleine Falten gekräuselt, wie das Meer, wenn es zu wehen anfängt.

Ich wusch die Schramme mit Cidre aus und bestellte Wein. „Wir wollen Dampf aufsetzen! Rosseherre lache!“

Rosseherre lächelte.

Nun war alles in Ordnung.

Es schien mir nur recht und billig, daß ich mich für Kedrils Einladung revanchierte, indem ich etwas ganz Außerordentliches zur Erhöhung des Festes beisteuerte. Infolgedessen gab ich einen Cakewalk zum besten. Ich hämmerte mit den Absätzen darauf los — hang it all —

Da was no ha’r on de top of his haid

De place whar de ha’r ought to grow!

An he had no teef fo’ to eat de hoe-cake

So he had to let de hoe-cake go!

Hang up de fiddle ad de bo-oo-ow —

O-oo-ooh! Hahaha! Was war das für ein Erfolg!

Poupoul umkreiste mich kläffend, er fürchtete um meinen Verstand.

Take down de shovel and de hoe —

Kedril dankte mir gerührt. Dann stotterte er, daß Madame Chikel nichts auf Borg gäbe, und ich suchte meine Franken zusammen. Keinen Dank, Kedril, wegen Aufgabe des Geschäfts wird das Lager verschleudert.

Eine neue, glänzendere Epoche des Festes begann. Rosseherre aber tanzte nicht mehr mit mir.

VI

Es ist jammerschade, daß Kedrils Hochzeitsfest, das so glänzend und in großem Stil verlief, mit einer kläglichen Dissonanz endete: Chikel, das Lazarett, geladen mit Wut über sein freiwilliges Martyrium, fing wegen nichts Streit an. Die Hochzeitsgesellschaft knäulte sich zu einer unheilvollen Wolke zusammen, aber da fegte Madame Chikel wie ein Sturmwind hinter der Bar vor. Das Blut stieg ihr in den Kopf, sie bekam ihren Anfall von Raserei und warf uns alle zur Türe hinaus. Die Papageien erwachten bei dem Lärm und schrien aus vollen Lungen: Dieb, Lump, Dieb, Dieb —

So endete Kedrils Ehrentag.

Ich lachte noch auf dem Heimweg. Ich bellte vor Lachen, denn ich war vollkommen heiser. Hoho, wie wir alle zur Türe hinausflogen und über die Heide rollten! Kedril rollte mit einer Flasche, die er hoch hielt. Yann, Yann, wo bist du so plötzlich hingekommen? Das war nicht das langweilige, vorsichtige Europa, das waren Leute aus der Steinzeit, die alles auf Leben und Tod taten!

So sehr erschütterte mich das Lachen, daß es mir unmöglich war mich aufzurichten. Ich kroch auf allen vieren dahin und da ich dazu bellte, hielt mich Poupoul für seinesgleichen. Er tanzte wie närrisch vor mir herum und zuweilen leckte er mir das Gesicht ab. Ich drehte bei und lauschte. Dahinten gröhlte das Dorf. Es kühlte nur langsam ab. Die Nacht war schwarz wie ein Kohlenbergwerk; Creach stand mitten darin wie ein glühendes Gespenst, das Feuer durch alle Knochen spie.

Da hielt Poupoul an. Er stellte sich auf die Hinterfüße und legte mir die Pfoten auf die Schultern und kläffte. Ich umarmte und küßte ihn: „Poupoul, Seele, nun da wir beide Hunde sind!“

Und Poupoul leckte mit seiner saugenden Zunge mein Gesicht von unten bis oben ab. Aber er ging nicht weiter. Da bemerkte ich, daß wir vor einem Abgrund abgestoppt hatten: das war die Schlucht, die sie Poupons Schlucht nannten.

Meine Stirn wurde eisigkalt. Ich schwang die Zunge zwischen den Zähnen und dachte angestrengt nach. Lange. Ja! Weshalb sollte ich eigentlich auf allen vieren kriechen? Das war es. Ich stand auf. Aber da entglitt die Insel unter meinen Füßen wie eine Drehscheibe und ich verwandelte mich wieder in einen Vierfüßler. Dagegen war nichts zu tun. Ich hatte die Durchschlagskraft von Chikels Getränken unterschätzt, das war alles. Im übrigen, gingen nicht meine Vorfahren ebenfalls auf allen vieren, als sie noch der Einfachheit halber Haare trugen? Vielleicht würde es mir bei einiger Propaganda gelingen, diese Art von Fortbewegung wieder in Mode zu bringen? Die Menschen waren ja für jede Neuheit zu haben. Wie? En route, Poupoul!

Als ich den Mönch passierte, der dastand und den Sauriern predigte, erfaßte mich eine seelische Erschütterung. Ich sagte: „Ich nahe mich in Ehrfurcht, auf den Knien, Hochwürdiger.“ Aber der Mönch holte mit dem Arm aus und schmetterte mich zu Boden. Lange lag ich leblos und Poupoul stellte verzweifelte Wiederbelebungsversuche an.

Wie lange brauchten wir, Poupoul, bis wir nach Hause kamen? Aber schließlich lag ich auf dem Bett. Da kam einer von den Sauriern auf der Heide herein, ergriff das Bett mit dem Rüssel und schleuderte es hoch in die Luft. Es tanzte und wirbelte herab zur Erde, wo es krachend aufschlug. Ich erwachte. Aber da sauste ein brennendroter Komet heran und zerplatzte vor meinem Gesicht. Hehehe! Zweitausend Grillen saßen in meinem Kopf und schrillten: gib mir doch, gib mir doch — da zog mich die Melodie langsam im Kreise und ich schlief ein.

Doch ich fand keine Ruhe. Mein Blut kochte. Der Schweiß rann in Strömen über mein Gesicht. Ich stand auf. Die Türe war offen. Es war kühl, ja bei Gott, das war eine Nacht wie ein kühles Leintuch. Ich ging hinaus und fühlte wie mein Kopf kühl und klar wurde. Das Mondlicht lag auf der Heide, dick wie Schnee, und zwischen den Gräsern schwebten zarte, silberne Lichtgespinste, die zerflossen, wenn man weiter ging. Ich stieg hinab zum Meer.

Es lag wie flüssiges Silber, bebte und flimmerte, in der Nähe aber war es schwarz und glatt wie Pech. Es atmete verstohlen wie ein Dieb im Versteck und bei jedem verstohlenen Atemzug ringelte sich eine silberne Schlange im Sand. Meine Sohlen glühten, ich watete hinein und meine Füße wühlten in gleißendem Silber. Das Silber stieg mir bis an die Brust, an das Kinn — ah, nun berührte es meine Lider, es schlug über mir zusammen. Nun war es dunkel um mich her, ich aber gleißte von oben bis unten. Wie ein schimmerndes Gespenst bewegte ich mich im schwarzen Meer. Silberne Perlen stiegen unter meinen Sohlen auf. Ich nieste, und ich nieste Silber, einen Sprühregen feiner silberner Tropfen, die rasch in die Höhe stiegen. Ich blickte nach oben. Dort lag das Silber wie eine dicke Schicht. All die schweren Silberkugeln, die meine Schritte aufrührten, tanzten blitzschnell in die Höhe und vereinigten sich mit ihr.

„Das ist das Mondlicht auf dem Meere,“ sagte ich und ging weiter. Wie wunderbar ging es sich doch auf dem Grund des Meeres!

War vorhin Lärm gewesen? Nein. Aber doch war es jetzt tausendmal stiller. Solch eine Stille! Ich blieb stehen und lauschte. Diese Stille ergriff mich. Da stand ich auf dem Grund des Meeres, den Kopf geneigt, und lauschte und war glücklich. „Das ist das Nirwana!“ sagte ich und nickte. „Da sind wir nun —“

Lächelnd ging ich weiter. Es ging über endlose Dünen, Sand, Sand, mein Fuß sank ein. Das Meer war schwarzgrün wie die Urwälder, in die keine Sonne dringt. Dann durchwanderte ich einen Wald hoher geisterhafter Eisblumen. Wie bleiche Flammen standen sie und rührten sich nicht. Plötzlich aber schwankten sie, teilten sich und ich sah zwei große runde Fenster vor mir glänzen. Etwas mahlte, und nun sah ich, daß die großen runden Fenster die Augen eines Ungetüms von einem Fisch waren, der mich neugierig anstarrte und die Kiefer hin- und herschob. Hehe! Ich schnippte mit den Fingern. Das Ungetüm spreizte seine Rückenflosse, manöverierte und zog sich zurück.

Der Wald der Eisblumen war zu Ende und ich stand wieder vor einer endlosen Sandebene.

Ich suchte etwas. Was, im Namen Gottes, suchte ich doch? Da stieß ich an etwas Hartes. Es war eine kleine Schiffskanone, die im Sande lag. Sie war dick mit Grünspan bedeckt, ich pickte daran, siehe da, ganze Stücke ließen sich abbrechen. Ich ging weiter. Was suchte ich doch hier? Ich schüttelte den Kopf, ich wußte es nicht. Im Sande lag ein kleiner toter Fisch. Ich sah ihn lange an. Geheimnisvoll lag er da und sein weißer Bauch schien mir zu sagen, daß er lange auf mich gewartet habe, zu lange. Ich grub ein kleines Loch, bettete den Fisch hinein, wie es sich gehört, und schüttete Sand darüber. Oben auf das kleine Grab legte ich eine Muschel. Alles mußte seine Ordnung haben.

Dann ging ich wieder. Unruhe ergriff mich. Ich blickte um mich, ich sah in die Höhe. Ringsum war das dunkle unendliche Meer. Und plötzlich packte mich eine fürchterliche Angst, weil ich hier unten im großen Meer irrte, klein wie ein Sandkorn, und nicht wußte, warum. Ich fing an zu laufen. Das Grauen jagte mich. Die Hände ausgestreckt, mit vor Entsetzen wehenden Haaren stürzte ich durchs Meer dahin und schrie.

Plötzlich aber hielt ich inne und staunte und wurde ganz ruhig im Herzen: vor mir lag ein Wrack, grünlichgrau wie das Meer selbst.

Es war ein haushohes altes Kauffahrteischiff, bauchig, mit einer Flucht viereckiger Luken, plumpen Verdeckbauten und zersplitterten Maststumpen. Von oben bis unten war es mit einer schleimigen Lehmschicht überzogen und grüne Moosbärte hingen überall herab. Neugierig ging ich um das Wrack herum. Am Bug war eine verstümmelte Holzfigur, am Heck stand der Name: Maria A. D. 1730.

Da sah ich oben eine graue Gestalt, die sich über die Reling beugte, und mich anrief: „Hallo, bist du hier, alter Leichenschänder?“ Und der Mann lachte.

Am Lachen erkannte ich ihn. Es war Kerhuel, ein Fischer, der vor einigen Wochen mit zwei anderen ertrunken war.

„Ah, Kerhuel, du bist es!“

„Komm an Bord! Hast du Tabak bei dir? Hier ist die Leiter, Achtung!“ Eine Strickleiter hüpfte herab.

Ich geriet in große Erregung. „Ich habe Tabak, Kerhuel!“ rief ich und stieg rasch an der schleimigen Wand des Wracks empor.

„Vorwärts!“ schrie Kerhuel, dessen Augen unnatürlich hell waren. „Alle sind hier, Leman, Bec, eine tolle Wirtschaft. Rosseherre wartet schon lange auf dich!“

Rosseherre! Ach, ich war ja ausgezogen um Rosseherre zu suchen! Wie dumm — nun fiel es mir ein. Du wirst Rosseherre suchen, sagte ich zu mir, als ich ins Meer stieg.

„Hallo!“ heulte Kerhuel, die Hände am Mund. „Patron! Ein Neuer ist gekommen! Hallo, Rosseherre, der Hochzeiter ist da!“ Von allen Seiten tauchten verwilderte Köpfe aus den Luken.

Ich sah eine Pyramide von grauen Haaren vor mir. Das war der Patron. Sein Haupthaar, seine Brauen, sein Bart hingen wie Moos bis aufs Deck herab. Sein Schnauzbart flatterte, sein Bart wehte, er hatte die Lippen schon lange wieder geschlossen, als ich verstand, was er sagte: „Willkommen auf dem Meeresgrund!“

Hundert Hände streckten sich mir zum Gruße entgegen, hundert neugierige Gesichter, leuchtend von kindlicher Freude, umdrängten mich. Sie alle hatten helle weitgeöffnete Augen und die Haare hingen ihnen wie nasser Tang über die fahlen Gesichter. „Willkommen auf dem Meeresgrund!“

Ich erkannte Leman, wie immer hatte er den kurzen Stumpen einer Gipspfeife im Mund, Bec mit der Hasenscharte — hallo! Zwei Fischer, Vater und Sohn, die ich nie gesehen hatte, schüttelten mir derb die Hand.

„Das ist Rosseherres Vater und das hier ist dein Schwager, umarme sie!“ rief Kerhuel.

„Rosseherre ist hier!“ sagten die zwei und küßten mich auf beide Wangen.

Hier war ich gut aufgehoben, ich fühlte mich zu Hause. Da spürte ich einen kleinen Schlag auf der Schulter und drehte mich augenblicklich um. Das war Rosseherre! Sie sah mich an und lachte wie jemand, der sich versteckt hatte und den man endlich aufstöberte.

„Hast du den Weg doch gefunden?“ fragte sie. „Wo sind die Ringe?“

Ich antwortete ihr nicht. Ich war gelaufen durch Tangwälder, Wüsten und über Wurzelberge und nun war sie da. Ich stieß einen wilden Schrei aus, ergriff sie und hob sie hoch über den Kopf empor. Dann begann ich zu laufen. Ich rannte die schmale Treppe hinauf aufs Achterdeck, um die Taubündel herum, hinunter, an der Reling entlang, hinauf aufs Vorderdeck. Ich lief wie ein Teufel, und hinter mir her tobte die wilde Jagd. Rosseherre hielt sich an meinen Haaren fest und stieß einen durchdringenden jauchzenden Schrei aus. Ich sprang mit ihr in eine Luke hinein, kletterte blitzschnell die steilen Stufen hinab und eilte durch einen schmalen Gang. Ein Schwarm aufgescheuchter winziger Fische schoß vor uns her. Die wilde Jagd hinter uns heulte, daß es brauste. Ich rannte mit Rosseherre auf den Armen durch ein Labyrinth von Gängen und Gemächern und endlich fing ich mich in einem großen Raum am Heck. Es gab keinen Ausweg mehr. Die wilde Jagd brach tobend herein. Ich keuchte.

„Hochzeit, Hochzeit!“ schrien sie und schwangen die Mützen, indem sie uns umringten.

„Wollt ihr nicht ein wenig Platz machen!“ sagte ich lachend und wischte den Schweiß vom Gesicht.

Nein, das wollten sie nicht. „Reißt ihnen die Kleider vom Leib, ho! ho!“ Sie heulten und drängten näher. Kopf an Kopf standen sie, hundert neugierige fahle Gesichter mit nassen. Haaren und hellen Glasaugen. Sie wollten alles sehen —

VII

Ich erwachte beim kläglichen Blöken eines Hammels. Die Türe stand offen und die Sonne schien herein. Sie leckte schon nach meinem schwarzen Kamin, es war nach Mittag. Ich sprang auf, Poupoul kam herein um beim Lever gegenwärtig zu sein. Ich schämte mich ein wenig vor ihm und blinzelte ihn scheu an. Aber seine Hochachtung und Zuneigung hatte nicht im geringsten gelitten. Dann ging ich hinunter zum Meer und schwamm, bis ich eiskalt bis in die Knochen wurde. Nun war ich frisch und guter Dinge. Ich hatte heute nacht eines der tiefsten Bohrlöcher meiner Existenz erreicht — nun würde es gesetzmäßig in die Höhe gehen, immer höher, Gott weiß wohin.

Der Tag war herrlich und entfachte Mut.

Das Meer war spiegelglatt und blau wie Seide. Der Himmel war vollkommen wolkenlos und von wunderbar tiefblauer Färbung. Er flimmerte und da und dort war er durchsichtig wie Kristall: dort sausten die Windströme. Über die Insel aber hauchte nur eine kaum fühlbare Brise. Sie streifte das Meer und breitete einen großen stahlblauen Fächer darauf aus, der sich bald öffnete, bald schloß. Ein Schwarm von kleinen leuchtenden Segeln stand draußen. All die Fischer, die gestern betrunken vor dem Grandhotel rollten, waren bei der Arbeit. Es wurde Abend, der Himmel färbte sich grünlich. Das Meer wurde rot wie Wein und die leise Brise hauchte und tupfte das Meer mit fransigen metallgrünen Flecken, die wanderten.

Die kleinen Segel glitten heimwärts durch die Bai und waren bleich.

Ich ging hinunter zum Hafen und stieg in Kedrils Boot. Als es dunkelte, zogen wir das Segel auf. Unmerklich glitten wir dahin, lautlos wie ein großer Vogel, und erst nach einer Stunde hatten wir die große Bai hinter uns. Die Mondsichel gleißte. Alle großen Sterne funkelten am Himmel, die kleinen waren nicht zu sehen. Es waren tausend Stockwerke des Raums über uns. Die Mondsichel schwebte tief unten im Meer und die großen Sterne blitzten aus der Tiefe. Es waren tausend Stockwerke unter uns. Zwischen Oben und Unten war eine dünne Glasscheibe und darauf glitten wir dahin.

Die große Stille der Nacht machte uns still und jeder hing seinen Gedanken nach. Am Horizont im Süden sprühte ein Stern, halb im Meer, wie ein schwimmendes Feuer. Er sandte knisternde Strahlen nach mir — er sprach mit mir. Ihr Wesen, die ihr euch an diesem Feuer wärmt, wie nennt ihr diese Sonne? Hala? Wandelte ich einst unter Halas Strahlen oder ist es mir bestimmt auf meiner großen Reise dort vorüber zu kommen?

Du großer Geist über den Wassern: Laß mich einst unter Hala wandeln, laß meine Seele in den Bisonochsen fahren oder den Brüllaffen, einerlei — laß sie nicht sterben —

Kedril nieste. Kedril, Unreiner, weshalb niesest du zu unrechter Zeit und vermischst deinen Unrat mit dem Weihrauch, den ich dem großen Geiste emporsende?

Wir lagen und warteten auf die „Lady of Ireland“ aus Queenstown. Creach in der Ferne schwang seine Lichtwindmühle durch die Nacht und alle sieben Sekunden blendete uns sein Feuer zweimal nacheinander. Dann schien es, als wären wir hundert Schritte entfernt und blickten mitten in die gleißende Linse und erblindeten.

Das Meer pochte am Boot und das Spiegelbild der Mondsichel verzerrte sich und manchmal brach es in Stücke und Splitter. Die großen Sterne gleißten in der Tiefe wie faustgroße Brillanten, und zuweilen lösten sie sich in ein Geflimmer zitternder Funken auf, die sofort wieder zusammenschmolzen. Ich sah in das schwarze glänzende Pech hinein, durch mein mattes Spiegelbild hindurch; zuweilen wölbte es sich lautlos, als atme es. Feindselig und schaurig sah das Meer in der Tiefe aus — man glitt hinab, ohne Laut, tiefer und tiefer, es war dunkel und weich und immer noch fühlten die Füße keinen Grund . . . Plötzlich fiel mir der Traum von heute nacht ein: da drunten feierte ich Hochzeit mit Rosseherre —. Ich lachte leise.

„Siehst du das Licht?“ fragte Kedril.

Ich machte die Augen scharf. Ein rötliches Pünktchen flimmerte am Horizont, hundertfach feiner als der verglimmende Docht einer Kerze in einem dunkeln Raum.

„Verteufelt scharfe Augen hast du, Pilot!“

Die „Lady of Ireland“ rauschte heran. Ohne Laut. Das Deng-deng der Glocke auf der Brücke klang klar durch die Stille. Ein paar Schatten beugten sich herab. Kedril ging an Bord.

Wir wechselten einige Worte mit den Schatten da droben. Eigentümlich klingen menschliche Stimmen in der Nacht auf dem Meer! Wie Gespenster waren wir.

VIII

Alles traf so ein, wie ich es vorausgesehen hatte. An einem trüben Nachmittag trappelte es vor meiner Türe wie wenn ein junges Pferd vorbeigaloppierte, und als ich öffnete, sah ich ein Mädchen mit einer weißen Haube in der Heide stehen. Sie führte zwei schwarze Hammel am Strick. Ich sah bis hierher ihre Zähne, sie lachte. Der Wind flatterte in ihren Rücken, es schien, als werde sie zu mir hergeweht.

„Hier wohnst du?“ rief sie zu mir herüber und der Wind verwehte ihre Stimme, daß sie fadendünn und fern klang.

„Ja, hier, hast du es nicht gewußt? Wohin gehst du?“

Rosseherre drehte sich und lachte. „Ich bringe meine Hammel nach Hause.“

„Was sagst du?“

„Meine Hammel bringe ich nach Hause!“

Ich ging näher.

„Wie ist es dir ergangen seit Kedrils Hochzeit? Nichts Neues?“ Wir gingen Seite an Seite und kämpften uns gegen den Wind.

Rosseherre sah mich durch das Gitter ihrer wehenden gelben Haare an und lachte. „Yann hat mich vor Zorn geschüttelt. Weil ich mit dir tanzte.“

„Yann? Er sagte doch selbst, daß du mit mir tanzen sollst?“

„Aber weil du so mit mir getanzt hast.“

„So? Wie sollte ich denn sonst mit dir tanzen? Man tanzt immer so mit einem Mädchen.“

Das sah Rosseherre ein. „Yann ist immer bei schlechter Laune,“ fuhr sie plappernd fort. „Er will, daß wir heiraten. Aber Jean Louis gibt nicht die Einwilligung dazu und ohne das geht es nicht. Ich bin noch zu jung, sagt Großvater.“

„Dir eilt es wohl nicht so sehr?“

Rosseherre schüttelte den Kopf. „O, nein! Wenn ich ihn einmal geheiratet habe, so wird er anfangen zu trinken und mich schlagen, das tun sie alle.“

„Nein. Yann hat ein gutes Herz.“

Rosseherre nickte. „Sein Herz ist gut, ja. Aber er ist ein Seemann, trotzdem.“

Rosseherre erzählte tausend Kleinigkeiten, die ich alle mit Vergnügen anhörte. Ihre hohe kindliche Stimme schwang auf und ab und der Wind verwehte sie. Die ganze Rosseherre flatterte wie eine Fahne. Bei jedem Schritt schlüpften ihre kleinen runden Fersen aus den Holzschuhen. Ihre Augen waren zusammengezogen und scharf gegen den Wind gerichtet, wie die Augen einer Möwe. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, wenn ihr die eiskalten Regentropfen ins Gesicht schlugen.

Wie die Erde so braun bist du, Rosseherre, deine Haare sind gelb wie die Heideblumen und sonst bist du gemacht aus Wind und Regen und Salz!

Wir gingen auf und ab über die öde Heide. Da und dort lagen verwitterte Steinblöcke und Haufen von aufgeschichtetem Tang. Nichts war zu hören als das klägliche Blöken der frierenden Hammel, die hier und da angepflöckt waren, und der schrille Schrei einer Möwe irgendwo. Eine hungrige schwarze Kuh stand am Wege und muhte melancholisch, als wir vorbeikamen. Sie war nicht größer als ein Kalb, eine Zwergin von einer Kuh. Keine der wenigen Kühe auf der Insel war größer. Auch die Tiere taten hier nur, was unbedingt nötig war; die Hühner legten winzige Taubeneier. Am Boden zitterten kleine kurzstielige Blumen. Der Wind ließ sie nicht in die Höhe wachsen. Da sie die Nordwinde fürchteten, so hatten sie sich nur an den südlichen Rändern der Erdwälle angesiedelt. Hier lagen sie auf dem Gesicht und froren. So oft wir aus einer Mulde herauskamen, sahen wir das düster rauchende Meer und die schäumenden Klippen. Der Norden der Insel war in eine Nebelbank eingehüllt, die langsam näherkroch.

Rosseherre wußte nichts mehr, und nun erzählte ich ihr alles, was mir da drunten auf dem Meeresgrund passiert war. Ich flocht eine Menge haarsträubender Abenteuer mit Haifischen und Polypen ein um ihrer Phantasie entgegenzukommen.

Plötzlich blieb Rosseherre, stehen und sah mich erschrocken an. Ihre Augen waren grün wie der Schaum im Meer. „Du hast Vater und Bruder gesehen?“ unterbrach sie mich.

„Ich träumte das ja nur, Rosseherre.“

Rosseherres Blick flackerte und sie wurde rot. „Sie sind beide ertrunken,“ sagte sie leise. Und sie deutete über die Heide und ihre Stirn zerknitterte sich feindselig. „Da draußen!“ Eine Weile erschien sie mir merkwürdig und um vieles älter, dann aber schüttelte sie den Kopf und ging weiter. „Und was sagten sie?“

„Rosseherre ist hier. Sonst nichts.“

Rosseherre lächelte.

„Sonst sagten sie nichts?“

„Nein.“

Und ich erzählte, daß sie alle im Kreise standen und heulten, und was ich mit ihr tat. Da sah mich Rosseherre mit großen, verwunderten, lachenden Augen an und brach in ein lautes, kindliches Gelächter aus.

„Solch ein Traum — hahaha! — wie kann ein Mensch nur so etwas träumen.“

„Ja, was sagst du dazu, Rosseherre?“ rief ich aus und lachte ebenfalls und legte den Arm um ihr Mieder. „Ist das nicht eine närrische Sache gewesen?“

Rosseherre sah sich um und suchte zu entschlüpfen. „Wenn es jemand sieht!“

„Was tut es?“

Sie sah mich erstaunt an. „Yann wird dich töten?“

„Haha!“ Ich lachte. „Was tut es?“ Ich war ganz trunken von ihrer Nähe. Durch das Mieder fühlte ich die Wärme ihres Körpers und ihre kleinen zarten Rippen. Ihre Haare wehten mir ins Gesicht. Auf ihrer braunen Wange lag ein Regentropfen und fing zu rieseln an. Gerade auf diesen rieselnden Regentropfen küßte ich sie. Ihre Wange war kalt wie Eis.

„O, wie böse du bist!“ rief Rosseherre aus, rot im Gesicht.

„Was soll ich tun, da du mir gefällst, Rosseherre?“

Sie lachte und kämpfte sich tapfer durch den Wind vorwärts.

„Du hast auch Jeanette geküßt.“

„Jeanette? Die schwarze Jeanette?“

„Ja, sie hat es erzählt. Und man sagt, daß du Martina besuchst und einmal hat man dich nachts in Stiff gesehen, vor dem Hause der Witwe Bec —“

Da hatte ich es. Mein Leumund war nicht der beste.

„Hahaha, Rosseherre, Rosseherre, was die Leute doch alles zusammenlügen! Sonst hat man nichts gesagt, wie?“

Die Nebelbank war dicht vor uns. Sie kroch auf gekräuselten Rädern von Rauch über die Heide. Im Augenblick waren wir eingehüllt. Der Strick in Rosseherres Hand wurde unsichtbar und die kleinen Hammel trippelten grau und verwaschen hinter uns her. Rauch klebte in ihrer Wolle.

Plötzlich erschütterte ein furchtbarer Ton die Luft und wir erbebten. Es klang, als ob ein haushoher eherner Stier brüllte. Sein Atem riß ein Loch in den Raum, eine Röhre, durch die das Brüllen wie eine große grollende Kugel hinaus übers Meer rollte, ferne, immer ferner. Dann erhob der eherne Stier aufs neue sein Gebrüll und der Boden zitterte.

„Nun sieht uns niemand mehr, Rosseherre!“ sagte ich und küßte ihre eisige Wange, und ihre feuchten Haare kamen mir zwischen die Lippen.

Rosseherre sträubte sich nicht mehr. Aber sie lachte, als fände sie es lächerlich, daß ich sie küßte.

„Wenn dir meine Ringe gefallen, Rosseherre,“ sagte ich, „so sollst du sie haben. Komme zu mir, dann bringe ich sie dir heraus, du brauchst nicht ins Haus zu treten.“

„Weshalb aber willst du mir die Ringe schenken?“ fragte Rosseherre.

„Weil du die Schönste der Insel bist!“

„Hahaha!“

„Wirst du kommen?“

Rosseherre sah mich an. „Weshalb soll ich denn nicht kommen?“ sagte sie verwundert. „Aber du darfst dich nicht mehr mit Jeanette abgeben, hörst du? Ich hasse sie. Und Yann darf es nicht wissen!“

„Nie wird Yann etwas erfahren.“

„Nun, adieu!“ Rosseherre lief. Doch nach ein paar Schritten blieb sie wieder stehen. „Dis-donc!“ rief sie durch den Nebel. „Kannst du mir zwei Sou leihen?“

Ich lieh ihr zwei Sou. —

Die ganze Nacht hindurch brüllte das Nebelhorn von Creach. Alle drei Minuten erschütterte sein Gebrüll zweimal nacheinander mein Haus. Und in den Pausen war es so beängstigend still, als lausche alles, das Meer, die Klippen. Und auch da draußen auf den Schiffen lauschten sie; sie neigten sich über die Brücke, machten die Ohren scharf und zählten die Minuten ab und ihre Herzen klopften.

Ich saß vor meinem kleinen Feuer, rauchte die Pfeife und dachte daran, was ich Rosseherre sagen würde, wenn sie käme.

„Höre Rosseherre, kleine süße Madonna,“ wollte ich sagen, „nimm Platz, ich habe all die Zeit auf dich gewartet und mein Herz ist voller Freude dich zu sehen“ —

Ich lauschte. Ein Dampfer tutete. Ganz fern. Er tutete ängstlich und eingeschüchtert, als ob er sich vorsichtig Schritt um Schritt vorwärts taste. Der Nebel quoll wie Rauch durch die Ritzen der Türe. Ich legte Holz aufs Feuer.

„Das ist ja alles Unsinn!“ sagte ich laut. „Ich werde ganz anders mit ihr reden. So, wie man mit einem Fischermädchen spricht, basta!“

IX

Als sie aber kam, sagte ich gar nichts. „Ah, da bist du ja!“

„Ja, da bin ich,“ antwortete sie und zeigte die Zähne.

„Willst du nicht hereinkommen?“

Sie lugte neugierig durch die Türe.

„Nein, ach nein. Die Sonne scheint so schön!“

Da saß nun Rosseherre, die kleine Blume der Insel, auf dem Stein vor meiner Türe und arbeitete an einem dicken weißen Strumpf. Die Holzschuhe hingen an ihren Zehen, zuweilen strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie plapperte und ihr frischer, sechzehnjähriger Mund stand nicht einen Augenblick still.

Ich rauchte und sah ihren flinken braunen Händen mit den hellen Fingernägeln zu, und den Stricknadeln, die gegeneinanderschlugen wie ein Bündel von Masten verankerter Fischerboote bei unruhiger See.

Ein paar Schritte entfernt standen die beiden Hammel Rosseherres, schwarz wie Teufel. Der Wind spielte in ihrer Wolle. Stundenlang konnten sie ohne sich zu bewegen uns Wundertiere wie hypnotisiert anstarren und die helle Angst und Ehrfurcht blendete aus ihren schwarzgeschlitzten Bernsteinaugen. Zuweilen schnupperten sie mit ihren sanften süffisanten Kamelsschnauzen und wichen scheu zurück, denn sie fürchteten sich vor allem, dem Wind, den Insekten und selbst vor Dingen, die wir Menschen nicht sehen. Wenn Poupoul sich nur streckte oder gähnte, so rannten sie rasend vor Schrecken um ihren Pflock herum. Gewiß erschien er ihnen wie ein schrecklicher, haushoher Bär, der sie mit Haut und Haar verschlingen konnte, ohne im geringsten satt zu sein. Dann standen sie wieder auf ihren dünnen eleganten Beinchen, auf den Zehen sozusagen, und sahen uns ängstlich und neugierig an.

Auf dem Meere zog ein Dampfer. Winzige Flaggen kletterten an seinen Tauen in die Höhe, er sprach mit unserem Semaphor. Ich machte die Augen scharf und spähte hinaus: da ruderte ein Fischer verzweifelt in seinem kleinen Kahn um nicht zerschmettert zu werden. Nein, es war eine schwarze Klippe, nichts sonst, immer wieder konnte ich mich täuschen. Die Wogen wanderten vorüber, endlos, immer andere, immer die gleichen. Aus dem Meer hob sich eine weiße Tatze und schlug nach den Klippen.

Es war warm, die Insekten summten. In den letzten Tagen waren vor Sturmvilla kleine Blumen aufgeblüht, die ich noch nirgends gesehen hatte. Sie sahen aus wie winzige gedrehte Wachskerzen, rundherum liefen kleine Blüten, wächserne Glöckchen. Wir hatten es gut hier, und wie herrlich blau der Rauch meiner Pfeife war!

Rosseherre schwang ihre Holzschuhe an den Zehen und sang halblaut. Es klang wie das feine Weinen des Windes und zuweilen wie das Piepen der kleinen Vögel, die auf der Insel lebten und nur leise und schüchtern sangen, als sei es nicht der Mühe wert.

„Willst du mir nicht sagen, was du singst, Rosseherre?“

Rosseherre dachte lange nach, dann sang sie halblaut und rasch Strophe um Strophe, erst Bretonisch und dann Französisch. Sie zögerte: „O, das kann man nicht auf französisch sagen, es hört sich wie nichts an.“

„Was ist es?“

„Es ist ein Fischermädchen, das ins Kloster nach Quimper kommt. Der Fischer besucht sie und klopft ans Fenster. Mach auf, mach auf! sagt er, blick heraus. Du brauchst nur die Hand zu öffnen und ich lege einen Apfel und eine Birne hinein.“

Sie wußte ein kleines trauriges Lied, das sie oft sang, und ich vergaß es nicht wieder. Es braucht nur ein leiser Wind zu wehen und ich höre dieses Lied in den Ohren. Denn das Lied und der Wind, das ist ein und dasselbe. Ein Mädchen will einen Fischer heiraten, aber die Frauen sagen: Tu es nicht. Nichts als Kummer wirst du haben, Kind, dann stirbt er und du bist allein. — Vielleicht nicht, sagt sie und nimmt ihn. Der Fischer zieht fort nach St. Pierre zum Stockfischfang, auf viele Monate. Nun kommt eine Nacht, eijo, wie wild und dunkel sie ist! Plötzlich pocht es ans Fenster der Fischerfrau. Mach auf, ich bin’s, dein geliebter Mann. Sie öffnet das Fenster. Da steht er und auf der Hand trägt er sein Herz. Sie schreit und klagt und läuft zu den. Nachbarn: Mein geliebter Mann ist tot.

„Ist er auch wirklich tot gewesen, glaubst du?“

Rosseherre sah mich mit erstaunten Augen an. Sie antwortete gar nicht.

Am besten aber gefiel mir das Lied, das die Fischerfrauen ihren Kindern singen.

Sobald Rosseherre es begann, mußte ich lächeln.

Rosseherre sang:

Die Fischerfrau kocht den Brei und spricht: „Ach, könnt ich doch wissen, wo mein guter Mann ist. Ein Jahr lang hab ich nichts von ihm gehört.“ — Der Gnom sitzt im Kamin und äfft ihr nach —

Aber Rosseherre sagte ja nicht „Gnom“, sie sagte Lutin und das klang ganz anders. Lutin, Lutin. Und die Stimme des Lutin sang sie ganz hoch und quiekend:

Der Lutin sitzt im Kamin und äfft ihr nach: „Ach, könnt ich doch wissen, wo mein guter Mann ist. Ein Jahr lang habe ich nichts gehört von ihm.“

Die Fischerfrau seufzt und spricht: „Ach, guter Mann, komm und hilf mir doch.“

Der Lutin äfft ihr nach: „Ach, guter Mann, komm und hilf mir doch.“

Die Fischerfrau spricht: „Ach, guter Mann, der Lutin sitzt im Kamin und äfft mir nach.“

Der Lutin äfft ihr nach: „Ach, guter Mann, der Lutin sitzt im Kamin und äfft mir nach.“

Die Fischerfrau spricht: „Lutin, Lutin, ich habe keine Furcht vor dir.“

Der Lutin äfft ihr nach: „Lutin, Lutin, ich habe keine Furcht vor dir.“

Die Fischerfrau spricht: „Ach, guter Mann, hilf mir doch, der Lutin hat mir einen schwarzen Stein in den Brei geworfen!“

Der Lutin äfft ihr nach: „Ach, guter Mann, hilf mir doch, der Lutin hat mir einen schwarzen Stein in den Brei geworfen!“

Schrill und spottend klang hier Rosseherres Stimme. Ich lachte.

„Ich möchte das kleine Lied bretonisch haben,“ sagte ich, „willst du es mir aufschreiben?“

„Ja.“

„Komm herein.“

Rosseherre sah mich mit heiteren vielsagenden Augen an. Sie schüttelte das gelbe Haar. „Nein? Rosseherre, was du doch denkst!“ Ich brachte ihr ein Stück Papier und sie beugte sich darüber und kritzelte: Rosse—herre.

„Aber das Lied?“

Rosseherre lachte. Sie konnte nicht schreiben.

Der Abend kam und Rosseherre pflöckte die Hammel ab.

Dann nahm sie den Strickstrumpf unter den Arm und lief. „Kenavo!“

„Kenavo!“

Die Bänder ihrer weißen Haube flatterten. Rasch und lieblich wie die Maus im Felde bist du, Rosseherre — — —

X

An vielen Nachmittagen kam Rosseherre mit ihren Hammeln nach Sturmvilla. Yann war draußen auf dem Meer.

Und sie erzählte von den Lutins, die früher an die Fenster der Fischer klopften, in der Nacht, und schrien: märri, märri! Wie eine Katze miaute Rosseherre. Ja, und ein Lutin zerriß einen Brunnenstein, mitten durch riß er ihn, weil er in Wut kam. Sie lockten die Fischer auch in die Grotten am Meer, sie sagten: Komm, komm mit in die Grotte, Gold, Gold, ganze Haufen Gold will ich dir geben. Dann aber kam die Flut und die Fischer ertranken elend.

Ob sie je einen Lutin gesehen habe?

Rosseherre schüttelte den Kopf. „Nein,“ sagte sie und blickte mit offenem Mund zum Himmel empor. „Einmal, glaube ich, habe ich Lutins gesehen, drei Stück, die nebeneinander hockten und mir Gesichter schnitten. Aber ich muß mich wohl versehen haben. Denn es gibt keine Lutins mehr. Die Priester sind gekommen und haben Weihwasser über die Felsen gesprengt, da sind die Lutins aufs Meer hinausgefahren, ganze Schwärme. Nur einen Geist gibt es noch auf der Insel, das ist Poupon, der Mörder.“

„Poupon, der Mörder?“

Rosseherre nickte. „Ja,“ sagte sie ernsthaft, „er haust in der tiefen Schlucht, du gehst jeden Tag vorüber. Wenn das Meer wild ist, so kannst du ihn heulen hören. Hüte dich vor ihm!“

„Hüte dich?“

„Ja. Niemand geht hier vorüber. Denn Poupon hat einen bösen Charakter. Schon viele hat er hinuntergerissen. Alle machen einen Bogen. Poupon, ja, er war ein Fischer und hatte eine junge Frau. Einmal fuhr er nach der großen Erde hinüber und da kamen große Stürme und er mußte drei Wochen warten. Dann kam er zurück. Und ein Lutin setzte sich auf sein Ohr und sagte immerfort: Es war einer hier. Seine Frau setzte die Fischsuppe auf den Tisch und klopfte ihm auf die Backe, aber er stieß sie zurück und sagte: Wer war hier? Sie sagte: Keiner! und weinte.

Poupon aber wurde immer wütender; und nichts ist schrecklicher als ein Fischer, der eifersüchtig ist. Frau! sagte er, wenn es so abgeht, so werde ich sagen: Frau, ich verzeihe dir. Aber wenn es nicht so abgeht, so werde ich sagen: Schmutzige Kuh! und werde dich töten. Sie sollte aber ein Kind bekommen und Poupon erstach sie. Er kam mit einem blutigen Messer ins Dorf und tanzte vor den Häusern, und die Leute fürchteten sich. Dann, ja, dann lief er über die Heide nach Stiff, wo die Klippen so hoch sind wie zwei Kirchtürme, und stürzte sich hinab. Aber das Meer wollte ihn nicht und warf ihn zurück. Da rannte er rund um die Insel und schrie so furchtbar, daß alle es hörten und die Türen aufmachten. Er stürzte sich dort in der Schlucht ins Meer, aber das Meer nahm ihn nicht. Seitdem haust er in der Schlucht. Und sobald der Sturm kommt, stürzt er sich ins Meer und heult lauter als der Sturm, aber das Meer nimmt ihn nicht. Er kann nicht sterben.“

Nun wußte ich auch, weshalb Rosseherre stets einen großen Bogen beschrieb, sobald sie sich Poupons Schlucht näherte.

„Weshalb kann er aber nicht sterben?“ fragte ich und stellte mich dumm.

Rosseherre brach in das heiterste Lachen aus. „Weil die Frau unschuldig war! Der Lutin hatte ihn belogen. Traue nie einem Lutin, das sind schlechte Wesen.“ —

Ich ging ins Dorf und ließ mir all die Herrlichkeiten an Schultertüchern vorlegen, die Noel besaß. Ich wählte ein blauseidenes Tuch mit grellroten Rosen in den Ecken. In Noels Laden traf ich mit Martina zusammen. Sie rief mich später vor Noels Haus an, ich wollte vorübergehen.

„Du bist so lange nicht gekommen?“ sagte sie, und ich sah, daß sie trotz alle dem schöne schwarze Augen hatte.

Ich blickte an ihr vorbei, hinaus aufs Meer.

„Ich komme auch nicht wieder!“ entgegnete ich.

Martina sprach kein Wort darauf, sie sah mich verwundert an und ging.

Haha, welche Freude Rosseherre haben wird, wenn ich ihr das Schultertuch zeige! Und ihre Freude war groß. „Das ist für mich?“ sagte sie und deutete auf ihr Herz. „O nein, o nein?“

Ich hatte ein kleines Messer. Das gefiel Rosseherre und sie bekam es. Mein Bleistift gefiel ihr, eine alte Kupfermünze, ein Taschentuch. Alles hatte Wert für sie und sie bekam es. Rosseherres Gesicht war verdunkelt von einem tiefen, alten Kummer. Sie war Noel zehn Sou schuldig und er gab nichts mehr, bevor sie bezahlte. Und Rosseherre zeigte mir ihr kleines Lederbeutelchen, es waren nur drei Sou darin. Ob ich ihr vielleicht zehn Sou leihen könne? Und nun war Rosseherre fröhlich, so leicht fühlte sie sich, daß sie, immerfort ihre blitzenden Zähne zeigte.

„Rosseherre,“ sagte ich, „willst du nicht jetzt die Ringe haben, die ich dir versprach?“

Sie lächelte und schüttelte den Kopf.

„Nein?“

„Nein. Denn wenn ich sie habe, so wird niemand auf der Insel glauben, daß du sie mir so geschenkt hast.“

„Aber du brauchst sie ja nicht zu zeigen.“

„Was habe ich von Ringen, die niemand sieht?“

„Und Rosseherre —?“

Rosseherre lachte. Sie war ein Kind.

Ich aber fühlte, daß ich keine Macht über sie hatte. Durch nichts konnte ich Eindruck auf sie machen. Ich war wohl braun wie ein Fischer und meine Stimme war so rauh wie die eines Matrosen. Zuweilen sagte sie auch, daß ich wilde Augen habe. Ich hob den Stein, auf dem sie saß, ein wenig in die Höhe um ihr zu zeigen, daß ich Kraft hatte. Ich warf mich in die Brust und sagte, daß es mir Vergnügen machen würde, mit einem Schock Teufel um eines ihrer blonden Haare zu kämpfen. Nichts half.

Rosseherre, was soll ich tun, soll ich Feuer speien und Felsblöcke ins Meer schleudern wie der selige Polyphem? Hehe, Rosseherre, oder soll ich dir zeigen, daß ich stärker bin als du —

XI

Es wehte, wirre Stimmen und hohles Geschrei waren in der Luft. Das Meer warf sich unruhig hin und her und toste. Die Gischtsäulen stiegen senkrecht an den Klippen empor und der Wind schleuderte sie zischend gegen das Gestein.

Ich sah Rosseherre über die Heide kommen, aber plötzlich verschwand sie und erst nach einer Weile entdeckte ich ihre weiße Haube draußen zwischen den Klippen.

Sie saß untätig auf einem Stein und starrte ins Meer hinaus.

„Guten Tag, Rosseherre!“

Sie antwortete nicht.

„Willst du nicht zu mir kommen?“

Rosseherre zog die Stirn in tausend kleine Falten, dann sah sie mich an. Ihre Augen sahen matt und krank aus. Ich verstand, was sie sagen wollte, und ließ sie allein.

Einmal sah ich, daß Rosseherre den Kopf in die Hände nahm und ihn wiegte wie jemand, der weint. Der Wind flötete in den Felsen und peitschte das graue Meer. Sie saß im fegenden Regen.

Ich ging näher. Sie weinte nicht, sie sang mit einer hohen traurigen Stimme und wiegte den Kopf dazu.

Ich rief sie an. Sie wandte den Kopf. Ihre Wangen schienen eingefallen zu sein, sie sah gealtert aus. Ihre Augen waren ganz verändert und der Blick so fremd, als erkenne sie mich nicht.

„Weshalb sitzt du denn im Regen, Rosseherre?“

Sie bewegte die Lippen und lächelte, ein leises, krankes Lächeln. Sie sagte nichts.

Ich ging. Ich fing an zu verstehen, daß etwas nicht in Ordnung sein müsse mit ihr.

Sie saß da draußen im Regen bis es dunkelte. Später ging ich hinaus um nach ihr zu sehen. Sie war gegangen, einen andern Weg.

XII

Es ist noch Nacht. Alles ist leer, die Götter schlafen, die Tiere und Menschen, ich allein bin wach. Wie ein Geist wandere ich im düstern Morgengrauen. Stille. Nur mein Schritt pocht, wie ein dumpfer Hammer klopft es unter dem Boden. Eine lautlose Brise schleicht dahin, gesättigt vom starkriechenden Nachtschweiß des Meeres. Die Gestirne der Insel leuchten noch, übernächtig erscheinen sie. Der Mond von Stiff zuckt fahl auf und ab, weiß, weiß, rot, Creach schwingt seine bleichen Strahlenbündel atemlos im Kreise. Im Osten birst die Nacht und der Morgen dampft durch den Spalt wie blutnasses Fleisch. Ein Schauern geht über das Meer, als fröstle es. Creachs Lichthiebe fliegen wie dünne Schleier dahin, die fahlen Farben der Insel tauchen auf, das Meer färbt sich. Creach erlischt. Stiff im Norden glüht noch einmal rot, dann kommt sein Licht nicht wieder.

Weit draußen schrillt eine Möwe. Ein Schrei antwortet ihr und plötzlich erhebt sich auf den Klippen ein wirrer, feilender Lärm. Dieses gierige Schreien von Raubvogelschnäbeln begrüßt zur gleichen Stunde das Licht von Tausenden von kahlen Riffen in den Meeren.

Im Dunst des Hafens bewegten sich die Fischer wie plumpe, tappende Gespenster. Ein riesiges Segel stieg in die Höhe und zog in den Nebel hinein. Ich begrüßte Jean Louis, den „Meerkönig“, und schweigsam bereiteten wir die Fahrt vor. Wir schöpften Wasser aus, ordneten Leinen, Köder, Segel. Die Brandung donnerte. Die Welle spritzte, das Boot rieb sich knirschend am Kai. Ein Ruder polterte, Ketten klirrten, eine laute Stimme schalt drinnen im Nebel. Jemand fluchte. Es roch nach faulem Wasser und Fischen. Dann klapperten wir den Steig hinauf zu Chikel um rasch zu frühstücken. Jean Louis goß sich einen Schoppen eau de vie in die Kehle und damit war er fertig. Auf dem Meere aß er dann den ganzen Tag nichts als ein Stück Brot und am Abend trank er wieder einen Schoppen Schnaps, dann schlief er. So lebten sie.

Wir fuhren. Ein paar schattenhafte Segel zogen vor uns im Dunst. Das eisige Wasser rauchte. Über die klumpigen, niedrigen Wolken hauchte Glut und auf einmal rückten sie in die Höhe und waren leicht und schwebend. Die Sichel des Mondes wurde dünn und durchsichtig, die letzten Sterne zuckten flimmernd und plötzlich waren sie verschwunden. Das Meer färbte sich dunkelblau im Schatten der Klippen, die wie blaßrote Korallen blühten. Milchige Nebelstreifen glitten über die Insel. Sie verhüllten den Leuchtturm von Creach, und als er wieder auftauchte, blitzte sein gläserner Kopf von roten Feuerchen. Plötzlich wurde das Meer weit und licht und die Segel draußen leuchteten wie pures Gold.

Der Wind erfaßte unser Segel und das Boot legte sich zur Seite. Wir begegneten der ersten Welle von Charakter, das Boot stieg in die Höhe und glitt hinab. Das war der erste Gruß des großen Meeres! Von da draußen —

Ich machte es mir bequem im Boot und zündete eine Zigarette an. Jean Louis rauchte trocken; er riß das Papier von der Zigarette und steckte den Tabak in den Mund.

„Ein schöner Morgen, Jean Louis!“

„Hü-hü-hü!“

Der Meerkönig war nichts als ein winziges Bündel aus einer schmierigen, flachen Mütze und schmutzigen Holzpantinen. Unter der Mütze hingen ein paar dünne, weiße Haarsträhnen hervor, und ich sah nur selten sein faustgroßes, rosiges, ewig lächelndes Gesicht. Seine Jacke war von allen Seiten eingeschrumpft und die Hosen reichten nur bis zum Schienbein. Die blaue Leinwand war gebleicht, schneeweiß auf Schultern und Schenkeln, und auch die vielen Flicken waren schon längst wieder gebleicht. Die Ärmel waren mit einer Kruste bedeckt und glitzerten von Fischschuppen. Er wischte Nase und Messer daran ab. Jean Louis hatte Hände aus Holz vom ewigen Rudern und er konnte die Finger nicht mehr biegen. Seine Äuglein waren gebleicht wie sein Kittel, und doch sah er wie ein Fernrohr. Die Holzschuhe hatte er mit Stroh ausgestopft und wo das Stroh den Schmutzpanzer durchstochen hatte, klebten große Tropfen von schwarzem, trockenem Blut.

Der Meerkönig war der tapferste Mann der Insel, du kannst fragen, wen du willst. Er hatte vierzehn Menschen das Leben gerettet und so und so oft selbst Schiffbruch gelitten. In seiner Jugend hatte er wiederholt die Welt umsegelt, aber davon wußte er nichts mehr. Er war jetzt „süben-hund-sübzüg Jahre“ alt und im nächsten Sommer wurde er „acht-hund-sübzig Jahre“. Der Meerkönig war der gefürchtetste Dieb der Insel. In Nacht und Nebel fuhr er hinaus, wo die Fischer die Langustenreusen verankert hatten. Diese Körbe zog er in die Höhe, obschon sie so schwer waren, daß ein starker Mann zu tun hatte. Er nahm die Langusten heraus, ließ die Reusen wieder hinab ins Meer und legte die Langusten in seine Körbe. Wenn nun die Fischer am nächsten Tag hinausfuhren, so zeigte es sich, daß alle Langusten ausgerechnet in Jean Louis’ Reusen marschiert waren — hü-hü-hü —! O, sie hatten ihn schon dabei erwischt —

Wir überquerten den Strom. Das Boot pendelte und das Spritzwasser klatschte gegen unser Segel. Das Meer sauste und weiße Gischtbomben schlugen über die Klippen ein.

„Tas Möhr gefällt mir heute nücht!“ heulte Jean Louis.

Ich lachte vor mich hin. „Desto besser!“ sagte ich und begann, Jean Louis’ Beispiel folgend, die Leine bereit zu machen.

— — — — — — — —

Eine knappe Meile von der Insel entfernt gab es eine Kette von halbversteckten Klippen und Riffen, gegen die der Strom tobte. An dieser Kette von Riffen zogen wir entlang, hin und her, und fischten.

Die Wogen waren hier rasch und zornig, sie waren schwarzgrün und mit einer Schicht wie von Öl und Ruß überzogen. Der helle Köder stieg in sie hinab wie ein kleines grünes Licht. Das Licht sank und sank, wurde düster, und endlich erlosch es und nichts blieb als dieses bebende, dahinsausende Hügelfeld dunkler, schleimiger Wogen. Wir legten die Leine über den Finger und fühlten im Beben der Schnur den gewaltigen Hub der großen Schlagader, die Millionen Tonnen Wasser vom Golf von Mexiko bis hinauf zu den Lofoten pumpt.

Drunten in der Finsternis aber — ja, Gott gebe es, denn wir galoppierten nicht zum Vergnügen hier an den Klippen entlang — da waren sie. Ich lauschte durch die Leine hundert Meter tief ins Meer hinab — still! Ja, sie waren da! Sie schossen hinter dem fliegenden Licht her, beglotzten es von allen Seiten, ihre Rückenflossen spreizten sich vor Begierde, ihre Leiber schwollen auf, ihre Schnurrbärte bebten, sie stießen mit den stumpfen Schnauzen gegen den Köder, zerrten —. Aber noch war der rechte Augenblick nicht gekommen. Der Fisch ist argwöhnisch. Ich zog etwas an der Leine, um seine Gier zu reizen, ließ nach, machte ihn sicher und — zog an. Es war geschehen! Meine Arme wirbelten, ich lag über dem Bootsrand und arbeitete fieberhaft. Ich hatte gut hundert Arme Leine einzuhaspeln und mußte rasch sein, denn der Fisch läßt nichts unversucht. Wie ein Hund riß er an der Leine, er schmiß sich gegen den Haken, zerrte, aber ich gab nicht nach. Die Bleistückchen erschienen: und da war er. Er glotzte mich mit aufgerissenen wütenden Augen an, schüttelte sich vor Schmerz und Entsetzen und peitschte mit dem Schwanz. Ich packte ihn um den Leib, hakte die Angel aus und warf ihn ins Boot. Einen Augenblick lag er erschrocken da, dann warf er sich verzweifelt am Boden hin und her.

Und wieder stieg das kleine Licht in die Dunkelheit hinab.

Im Hafen hatte ich ein paar Krabben gekauft, für den Fall, daß die Fische wenig Lust zum Anbeißen zeigen sollten. Der Meerkönig war nicht zufrieden und so entschloß er sich, die Krabben zu opfern. Er riß ihnen die Scheren aus und schrie sie wütend an, da sie sich wehrten. „Ho! Ho! — seht doch an, diese miserable Kreatur, will sich nicht einmal die Scheren ausreißen lassen, hö!“ Er zerstampfte Scheren und Krabben und warf den Schleim als Lockspeise ins Meer.

Ich befestigte ein großes Stück am Haken. Wie ein geröstetes Huhn, das urplötzlich in die Nacht eines Gefängnisses hinabtanzt, mußte den Fischen dieser Braten vorkommen.

Es ging. Die Fische verloren den Kopf und rannten in die Angeln. Triefend naß kamen sie herauf, die Mäuler verzerrt, und starrten mit entsetzten Augen in die grausame Helle und die Gesichter dieser rasenden Teufel, denen es Vergnügen machte sie aus ihrer dunkeln, rauschenden Heimat zu reißen. Sie wurden ins Boot geworfen, das mit Blut und Schuppen besudelt war, und hier mochten sie sterben. Sie schlugen um sich, ihre glänzenden, silberweißen Leiber verfärbten sich, ein gelber Hauch lief daran entlang, sie bekamen Flecken. Ihre Flanken flogen, die roten Kiemen spreizten sich und entblößten das blutrote Fleisch, ihre goldenen Augen weiteten sich im Todeskampf. Endlich machten sie eine letzte Anstrengung, sie bogen sich wie eine Klinge und schnellten in die Höhe. Dann bekamen sie einen Fußtritt von Jean Louis und nun lagen sie still. Aber noch nach einer Stunde konnte Leben in ihnen sein.

Die Sonne stieg höher und wir fischten mechanisch und schweigsam. Das Boot schwang auf und ab und flog dahin. Ich arbeitete ernst und hingegeben. Mit großer Sorgfalt schnitt ich den Köder aus den Muscheln, die an flache Chinesenhüte kleinsten Formats erinnerten. Viele trugen Büschelchen von Moos und Tang und sahen aus wie verwegene Damenhüte der letzten Mode. Und ich lachte vor mich hin, denn allerlei Abenteuer zogen durch meinen Sinn. Ich kassierte hier außen beim Rauschen des Meeres noch einmal all die leuchtenden Blicke ein, die mich da und dort getroffen, und atmete nochmals die Wohlgerüche, mit denen die Frauen uns locken wie die Blumen die Bienen. So wie der Dichter sagt — aber da ging ein elektrischer Schlag durch die Leine und ich spürte einen Stoß im Herzen: der Fisch . . .

Alle zehn Minuten wechselte der Meerkönig das Segel, um zu wenden. Dann mußte ich mich ganz flach machen und doch riß mir das Segel jedesmal die Kopfhaut ab. Die Wogen rauschten mit einförmigem Zischen und Sausen vorüber und immerzu nagelte und schabte es am Boot. Zuweilen brauste eine rasche Woge daher, schleuderte das Boot in die Höhe und überschüttete uns mit Spritzwasser, und ich sah die Woge dahinfahren zwischen den andern, die in Unordnung gerieten. Wiederum, da zischte es und ein großer marmorierter Kreis, der knisterte und kochte, erschien: die Sohle der Woge hatte eine verborgene Klippe getroffen. Der Kreis aus weißem und grünem Marmor flog rasch weiter, kletterte über die Rücken der Wogen und noch in weiter Ferne behielt er seine Form. Die Möwen strichen mit dem Bauch über die Wogen dahin, jeder Bewegung, jeder Laune der Woge haarscharf und blitzschnell folgend, auf und ab, und schrien. Ihre Fittiche schwirrten und ihre spitzen Hakenschnäbel rissen die Luft auf. Ihnen gehörte das Meer und sie kümmerten sich nicht um die Fischer. Sie stürzten sich in den Gischt der Klippen, schlugen mit den Flügeln, als ob sie sich niederlassen wollten, stiegen senkrecht in die Höhe, wenn die Woge nach ihnen sprang, und schossen kopfüber herab, wenn die Woge vorbei war. Und das Wasser tropfte glitzernd aus ihren Schwingen. Das Meer sang und brauste einförmig; Eine Stunde verging und es war still. Dann zog ein Trupp Meerschwalben vorüber — döi — döi — gullugullugullu döi — und schon waren sie weit weg. Wie ein Faden zogen sie in der Ferne.

Ich zündete die Pfeife an. Ich kniete nieder, preßte die Knie gegen die Bootsrippen und den Kopf gegen die Wand, und nun hatte ich Festigkeit genug um ein Streichholz anzureiben.

— — — — — — — —

Vor ein paar Minuten hatte ich einen Peitschenhieb von Spritzwasser übers Gesicht erhalten, kalt wie Eis, jetzt aber bekam ich eine Schaufel Wasser in die Ärmel und dieses Wasser war lauwarm. Der Strom hatte gewechselt. Zuweilen führte er ins offene Meer hinaus, zuweilen auf die Insel, nur der Meerkönig kannte seine Geheimnisse. Die Wogen waren vorher glatt gewesen, nun waren sie mit einem Ringelpanzer bedeckt, da der Wind gegen die Strömung blies. Die versteckten Klippen, an denen wir entlang zogen, gebärdeten sich wilder. Unaufhörlich stieg der Gischt an ihnen in die Höhe wie explodierende Bomben, wehende Schleier flogen auf, die in der Sonne glitzerten und zerstoben. Man hörte dumpfe Kanonenschüsse, die mit jeder Minute stärker wurden, je höher die Flut stieg.

Jean Louis sah das Wasser an und schüttelte den Kopf.

Der Himmel bewölkte sich und die Sonne verschwand hinter einer porzellanweißen Wolke. Das Meer nahm ein düsteres und feindseliges Aussehen an. Dunkel und schwer wälzte es sich heran, und wo das Licht der weißen Wolke auffiel, rollte es wie eine Masse dicker weißer Ölfarbe dahin. Der Mast knarrte und bog sich, und die Risse in unserem Scheuerlappen von Segel wurden breit und klaffend. Wir segelten mit sechs Knoten Geschwindigkeit und das Boot federte. Es schoß bebend hinab in die viele hundert Meter langen Täler, überschnitt pendelnd die Wogen, und wenn wir oben waren, so kam es mir vor, als säße ich auf dem Dachrand eines einstöckigen Hauses und blickte hinab. Dann sah ich die keuchenden Riffe, die die Atemzüge dieser großen Lunge maßen. Das Riff entblößte sich tief hinab, die Woge saugte, gurgelte. Dann stürzte sie sich gierig in die Höhe und eine Gischtsäule stieg senkrecht über das Riff empor. Einen Augenblick lang stand sie still, dann drehte sie sich langsam, wie ein Baum aus Brillanten, und fiel in sich zusammen. Das Riff war ein Sturz von hundert schäumenden Kaskaden. Und schon tauchte das rostrote Riff wieder bebend empor, wie der Kopf eines Schwimmers, der noch vom Wasser trieft und schon in der Sonne glänzt. Manchmal sah ich auch von meiner Aussicht aus bis zum Horizont, nur einen Moment, dann tauchten wir wieder hinab.

Oft segelte der Meerkönig, ohne aufzusehen, haarscharf an die Klippen heran, aber ich hielt den Mund, denn ich wußte, er würde im letzten Augenblick das Boot herumwerfen. Der Meerkönig bewegte sich in dieser Wüstenei von Wasser so sicher wie jemand in seinem Zimmer. Er kannte hier jeden Fleck und brauchte nicht aufzusehen. Er hatte seine Punkte; sobald der und der Felsen in der Ferne zwischen dem und jenem Riff erschien, so hieß es beizudrehen. Er kannte auch die verborgenen Felsen und wenn er sagte, hier unten ist der men glas so war es sicher, daß einen Moment später die Woge den Felsen traf und das Meer weithin marmorierte. Er wußte noch mehr. Er wußte, wo in dieser und jener Stunde, bei dieser und jener Strömung die Fische sich aufhielten, wohin sie wanderten, sobald der Strom wechselte. Er wußte, welche Geschwindigkeit das Boot haben mußte, damit diese und jene Art Fische anbiß, er wußte, wann die Fische zu erwarten seien und wann sie verschwanden.

Oft mußte ich lachen, wenn ich ihn ansah. Da hockte das winzige Bündel, gleichmütig wie vor dem Kamin und rollte mechanisch hin und her, während ich mich festhalten mußte um nicht hinausgeschleudert zu werden. Er kaute, blies den Schnauzbart, und versah die Angel andächtig mit dem Köder. Es sah aus, als nähe er. Den alten Köder nahm er mit den Zähnen vom Haken und spie ihn ins Meer. Er empfing den schweren Fisch mit täppischem Lachen, den kleinen aber überhäufte er mit Schmähworten. Er fing einen winzigen Fisch, nicht größer als eine Hand, der den Köder vollständig abgefressen hatte; da wurde er purpurrot vor Zorn und schleuderte ihn so heftig ins Boot, daß das Fischlein das Maul aufriß und augenblicklich still und steif lag.

Zuweilen kauerte der Meerkönig im Boot nieder und nahm eine Konservenbüchse zur Hand. „Ent—schul—düge, mein Freund!“ heulte er. „Wür sünd auf tem Möhr!“

Eine unnötige Höflichkeit! In dieser Badewanne, die mit der gesamten Ausrüstung fünfundsechzig Franken kostete, konnte man keinen Komfort haben wie in einem Hotel.

Auf der Insel läutete es Mittag. Lockend und lieblich klang es zu uns heraus. Wir aßen ein Stück Brot und tranken aus der Wasserflasche, die Leine um den Finger gewickelt. Und wieder fischten wir. Wir versahen die Haken schweigsam mit dem Köder, rissen den Fisch ins Boot, fluchten halblaut, wenn sich die Leine verwirrte. Das Boot zitterte und schwang auf und ab. Oft hing der Meerkönig über mir, als wolle er herabstürzen auf mich, im nächsten Augenblick aber war seine Kappe tief unten und ich stand senkrecht gegen die Bank. Ich war naß bis auf die Haut, das Wasser war mir in den Nacken und die Ärmel gestürzt. Meine Haare waren zerweicht und die Augen klebten zusammen und brannten. Mein Gesicht war ausgetrocknet und heiß vom Salz, das sich wie feiner Flugsand in alle Poren fraß und die Haut steif und bewegungslos machte. Meine Hände zitterten vor Erschöpfung, und der Wind stach mich unaufhörlich wie eine eisige, spitze Nadel ins Ohr. Mein Herz aber rauschte und sauste und war voll ungestümer Wildheit wie das Meer um mich her.

Ja, ihr zu Hause, bleibt ruhig in euren Polstersesseln sitzen und lispelt kluge und feine Worte über das Leben und werdet schwindsüchtig. Laßt mir das Leben, das dumm und einfach ist, und ich will euch die Worte schenken.

Ein Segel mit einem Anker darauf zog hinter den schwingenden Linien der Wogen vorüber. Es stieg empor, pendelte, verschwand vollständig, um erst nach langer Zeit an entfernter Stelle wieder aufzutauchen. Im Nu war es verschwunden.

„Es ist Zeit!“ heulte Jean Louis. „Wir müssen gehen. Der Pilot fährt nach Hause!“

„Eine Angel wollen wir noch auslegen, Meerkönig“

Aber da kam eine große Woge und wir machten uns schleunigst davon.

— — — — — — — —

Diese Woge war die größte und schönste, die ich hier außen sah. Schon von weitem sah ich sie herankommen. Sie riß sich ihre Bahn durch all die wandernden Schaumkämme, ihr Gischt flog vor ihr einher und sie brauste und zischte wie eine Schnellzugslokomotive. So groß und ungestüm war sie, daß sie sich inmitten der andern Wogen ausnahm wie die rasende Wildsau unter den Frischlingen. Dann prallte die ungeheure Wassermasse gegen die Klippen, sie bebte zornig von oben bis unten, schwoll an und bäumte sich auf. Sie wurde lang wie fünf Häuser und hoch wie ein zweistöckiges Haus und die Wogen ringsum sahen winzig aus. Sie war schwarzgrün, aber als sie anschwoll, wurde sie grün wie Flaschenglas. Darüber bebte eine Kuppe von Türkis und auf dieser Kuppe saß ein Schmelz von gelbem Bernstein, von der Sonne durchleuchtet, und darüber ein Diadem aus schneeweißem Schaum, über der ganzen Woge aber schwebte ein breiter Schleier von Dunst, eine Wand von Dunst, in der die Farben des Regenbogens schillerten. So stand sie. Wir waren zehn Schritte von ihr entfernt und ich betrachtete erstaunt und erschreckt dieses wilde schöne Tier, das das Meer geboren hatte. Nun aber — kam sie herab!

„Hallo! Jean Louis!“

Der Meerkönig war gerade dabei das Segel zu wechseln. Er hatte es losgebunden und hielt die Leine in der Hand. Da erblickte er die Woge, die bebte und funkelte und sich vornüber neigte, getigert mit weißen Gischtstreifen, die fächerförmig herunterschossen. Er lachte idiotisch: hü-hü-hü, und hielt die Leine des Segels mit beiden Händen fest, wie die Zügel eines Pferdes, das durchgehen will. Er stemmte die Holzschuhe gegen die Bank und sein Gesicht verzerrte sich vor verzweifelter Anstrengung. Das Segel spannte sich zum Zerplatzen infolge des ungeheuren Luftdrucks, der vor der stürzenden Wassermasse herfegte.

Die Woge donnerte und brüllte, das Boot flog in die Höhe, erst langsam, dann mit jähem Ruck, und der Meerkönig verschwand in einem Schneegestöber. Hühühü! Ein dicker Wasserstrahl fuhr wie eine Rakete zischend über das Boot empor. Ich blickte durch den Riß eines grünen Fensters weit übers Meer, bis zum Horizont: dort zog in aller Ruhe ein Dampfer mit zwei braunen Kaminen und qualmte. Er fuhr gegen Südwesten. Habana, St. Thomas, Para, Rio Janeiro, Valparaiso? Glückliche Reise! Da bekam ich einen Hieb über die Augen.

Wir schöpften das Wasser aus. Vorwärts! Fort! Der Meerkönig sah totenbleich aus und ich fühlte plötzlich genau die Stelle, wo mein Herz sitzt: denn es war stillgestanden.

— — — — — — — —

Nun blieb uns nur noch übrig den Strom zu durchqueren, der den Eintritt der Bai durchschnitt. Zur Zeit der Ebbe war es nicht leicht, zur Zeit der Flut für ein kleines Boot unmöglich. Es kam vor, daß man fünf Minuten zu spät kam und dann drei, vier Stunden warten mußte, bis sich die Wut des Stromes gelegt hatte. Einmal fuhr ein Kutter vom Hafen heraus, prächtiger Wind, aber gerade mitten im Strom hörte der Wind auf und der Kutter wurde in die Klippen getrieben und zerschellte. Die Mannschaft wurde zerfetzt, so daß man sie nur noch an den Kleidern erkennen konnte; einem Matrosen fehlte der Kopf.

Wie ein Heer von kolossalen Walfischen, das auf der Flucht war, schoß der Strom dahin. Wir ritten darüber hinweg und fuhren in die Bai ein. Ich saß am Steuer, denn das war meine Arbeit.

„Diaul, Diaul!“ heulte der Meerkönig. „Ich habe hier außen schon zwei Boote verloren. Einmal kam ich mit den Trümmern ans Land, einmal saß ich vierundzwanzig Stunden auf einer Klippe bis sie mich holten. Abermals gerettet, mein Freund, wir müssen eine Kerze stiften. Eine Zehnsou-Kerze!“

Er lachte und nahm die schmierige Kappe ab. Da kam sein bleicher Schädel zum Vorschein. War das ein Mensch? Sein Schädel war bis zur Größe eines Straußeneis eingeschrumpft. Drei dünne Haarsträhnen klebten an der Glatze. Das Gesicht war eine Käferlarve, die Nase eingesunken, das Salz hatte die Augen ringsum zerfressen, so daß sie wie Wunden aussahen.

„Glaubst du denn an solche Dinge, Jean Louis?“

Der Meerkönig lachte. „Auf dem Lande glaube ich nicht an Gott,“ sagte er, „aber auf dem Meere. Auf dem Lande kann dir die Regierung helfen, aber auf dem Meere selbst der Minister nicht!“

Das leuchtete mir ein.

„Wie lange wirst du noch mit diesem Lumpen von einem Segel fahren?“ fragte ich.

„Ein neues Segel ist teuer, bei allen Teufeln, unerschwinglich!“ antwortete Jean Louis. „Ich werde Streifen darüber nähen, quer, mein Freund, quer. Vor zehn Jahren hatte ich ein kleines Malheur mit einem Segel wie diesem da.“ Und Jean Louis erzählte dieses Malheur mit seiner heiser heulenden Stimme. Er fischte bei Stiff und sein Segel zerriß in hundert Fetzen und er trieb mit dem Strom. Da verlegte er sich aufs Rudern. Er ruderte wie ein Irrsinniger, aber als er sich nach einer Weile umblickte, war die Insel schon ganz klein. Am Abend sah er noch das Leuchtfeuer von Stiff, dann sah er nichts mehr. Er spie ins Meer und sagte: Jetzt geht es dahin mit dir, Jean Louis, hühü! Der Tag kam und er war Gott weiß wo. Es war Nebel, die Dampfer heulten. Wieder wurde es Nacht und er sah eine dunstige Lichtwindmühle die Flügel werfen. Einerlei, sagte er sich, du schläfst. Er schlief. Plötzlich hörte er Tuten und lautes Gebrüll. Er erwachte und sah ein riesiges schwarzes Gebäude mit vielen Lampen vor sich, und von da droben riefen sie ihn durch das Sprachrohr an. Er ruderte heran und stieg an Bord. Mein Boot, sakrenomdedü! — Vorwärts, die Glocken klangen, die Maschinen begannen zu arbeiten und der Dampfer marschierte. Am Morgen stand der Meerkönig inmitten einer eleganten Gesellschaft von Damen und Herren, die ihn erstaunt anlachten, den alten, weißhaarigen, kleinen Meerkönig, den man mitten in der Nacht aus dem Kanal gefischt hatte. Sie stopften ihm die Tasche voll Geld und besorgten ihm ein Billett zweiter Klasse von London nach Brest. Hühü! Da war er wieder! Gehe in die Hölle, Meerkönig, da bist du ja wieder! Sie hatten schon die Totenmesse gelesen. Ein Kreuzchen mit seinem Namen stand in der Friedhofskapelle. Und er mußte acht Franken für eine Messe bezahlen, die er nicht bestellt hatte.

„Aber ich bezahlte sie!“ schrie Jean Louis und schlug an seine Brusttasche. „Nun hab ich eine Messe voraus!“

Er, Jean Louis, hatte dem lieben Gott einen Vorschuß gewährt, haha!

Dann lenkte ich das Gespräch auf Rosseherre: „Du hast ja eine so hübsche Enkelin, Jean Louis!“ sagte ich.

„Rosseherre ist meine Pflegetochter!“ heulte Jean Louis. „Meine zwei Töchter waren böse Weibsbilder und keiner hätte sie angerührt. Sie waren Kanaillen, sie prügelten mich, wenn ich getrunken hatte, und ich mußte meine kleinen Sous in den Mauerritzen verstecken vor ihnen. Sie hätten mir die kleinen Sous aus dem Maul gestohlen. Hühü — nun sind sie tot! Sie starben an der Schwindsucht. Rosseherre, mein Freund, ist meine Pflegetochter.“

„Du liebst sie wohl sehr, Jean Louis?“

„—Hühühü!“ Der Meerkönig lachte kindisch und schlug sich auf die kurzen Schenkel. „Rosseherre! — Eines nur ist schade. Sie ist nicht ganz gesund.“

„Hat sie es auch mit der Brust zu tun?“

Der Meerkönig schüttelte den Kopf. „Nein, mein Freund, sie hat es im Kopf. Sie hat es von ihrer Mutter. Die war eine Geisterseherin. Sie geht mit dem Meer. Sie hat Zeiten, da ist sie besessen und nicht bei Sinnen. Wenn sie heute sagt, der Pilot ist in der Nacht ertrunken, so kommt er nicht zurück — nie mehr!“

Ich hielt auf die rote Boje in der Reede. „Und jetzt will Yann sie heiraten?“

„Ja! Aber ich gebe meine Einwilligung noch nicht her!“ Der Meerkönig warf sich in die Brust und tat stolz.

„Höre!“ sagte ich und sah Jean Louis in die flachen, gebleichten Augen, die wie erblindet aussahen, „ich möchte dem kleinen Kapitän einen Streich spielen, er hat mir neulich ein Weinglas an den Kopf geworfen. Ich werde dir ein neues Segel kaufen, ein funkelnagelneues Segel aus bestem Material, erstklassig, wenn du deine Einwilligung noch etwas hinausschiebst.“

Jean Louis schlug sofort ein. Er wollte noch so lange warten als ich bestimmte.

„Gut, ich komme morgen zu dir und wir gehen zusammen zu Noel um die Leinwand zu kaufen. Wir können dann auch gleich die Kerze aussuchen.“

Hier aber lachte Jean Louis verschmitzt.

Nun, da wir gut angekommen seien, sei es besser, die zehn Sou in Schnaps anzulegen. Ich hatte nichts dagegen.

Jean Louis spülte die Fische ab und legte sie in den Kasten. Er schmunzelte zufrieden. Einen selten guten Tag hatten wir gehabt. Für gut drei Franken hatten wir gefischt in diesen zwölf Stunden! Wir bekamen ja nicht soviel dafür, die Händler —. Der kleine Fischhändler auf der Insel, der größere in Brest und der große Fischhändler in Paris. Sie alle hatten ungeheure Spesen, Haus, Familie, Wagen, sie alle hatten ein enormes Risiko. Der Meerkönig dagegen hatte keine Spesen und riskierte nichts als sein Leben.

Jean Louis kroch mühselig ans Land. Auf dem Lande bewegte er sich unbeholfen wie ein Krebs. Er nahm den Kasten über die Schulter, die zwei größten Fische trug er an den Zeigefingern, die er in die Kiemen einhakte, und so klapperten wir langsam den Steig hinauf zu Chikel. Der Boden wogte unter meinen Füßen, die Steine waren wie Teig.

In der Bar drängten wir die lauten Gäste zur Seite. „Platz gemacht, wir sind Fischer, kommen eben von der Arbeit!“

„Hoho! Seht sie an die krummen Hunde.“

„Hahaha!“

Es ging immer laut und fröhlich bei uns zu.

Ich gehe nach Hause. Die Steine klingen unter meinen Schritten, meine Augen sind scharf und folgen der Möwe weit hinaus übers Meer.

XIII

Am andern Tag machte ich Jean Louis den versprochenen Besuch.

„Guten Tag, Meerkönig, da bin ich wegen des Segels.“

„Hü—hü — Segel?“

Er hatte alles schon wieder vergessen.

„Hühü — da ist er jetzt — tritt ein!“ heulte Jean Louis.

Rosseherre war nicht da. Aber in der Ecke hing ein schwarzglänzender Rock. „Feinste Seide!“ sagte ich und der Meerkönig lachte geschmeichelt.

Das kleine, schmale Wohnzimmer besaß nur ein einziges viereckiges Fensterchen in einer Nische. Die Bettschränke befanden sich an den Längsseiten hinter kleinen, sauberen Vorhängen, wie Kasperltheater sahen sie aus. Ein Tisch und Bänke rings an den Wänden, das war die ganze Ausstattung. Unter eine Nische mit einer bunten Madonna aus Gips war jener Spruch geheftet, mit dem vor Augen die Fischer ihr Leben verbringen:

Ar Maro

a zo eur moment terrubl

evit ar bec’herien,

galvet int ractal dirag.

Ar Barner Souveren.

(Der Tod ist ein schrecklicher Augenblick für die Fischer, denn sie werden ganz plötzlich abgerufen vor den himmlischen Richter.)

Jean Louis goß Wein ein. Der Wein war dunkelgolden, was für ein Wein war es doch?

„Dieses kleine Weinchen stammt aus einem Schiffbruch, mein Freund!“

Der Meerkönig verschwand und brachte von irgendwoher ein kleines japanisches Lackschränkchen, das, hol mich der Teufel! tausend reizende Schubfächer hatte.

„Schiffbruch!“

Ja, früher, da waren die Schiffe gekommen, hühü! Als die Feuer und Nebelsirenen noch nicht so vollendet waren. Manchmal kamen zwei, drei in einer Nacht. Man brauchte nur aufzulesen. Aber jetzt —? Das Leben wurde immer schwerer.

Und plötzlich sah ich, daß der Tisch, an dem ich saß, ringsum mit einem Rand versehen war und seine Füße hatten unten Beschläge zum Festschrauben, was sagst du dazu!

Der Meerkönig lächelte pfiffig, gewiß hatte er noch ganz andere Reichtümer irgendwo versteckt.

Dann gingen wir zu Noel.

„Willst du also das Tuch bezahlen?“ fragte Jean Louis auf halbem Wege und pflanzte sich mit gespreizten Beinen vor mir auf.

„Ja!“

„Wirklich bezahlen?“

„Wirklich!“

„Eh bien, mon vieux, en route!“

Jean Louis trat herausfordernd an den Kaufmann heran und heulte ihm ins Gesicht: „Ich möchte Leinwand zu einem Segel kaufen, Noel!“

Der siegellackrote Noel aber hatte keine Eile. Er zuckte die Achsel und sagte leise singend, indem er mit einem spöttischen Lächeln zum Fenster hinaussah: „O, mein alter Freund, es ist mein Prinzip euch Fischern keinen Sou zu kreditieren.“

Aber Jean Louis, der kaum über die Bar sehen konnte, deutete auf mich und schrie wütend: „Mein Freund bezahlt!“ Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Der kleine Meerkönig zitterte vor Erregung an allen Gliedern.

Sofort floß Noel von Freundlichkeit und Eifer über. „Ah, das ändert die Sache!“ Er schleppte Ballen Tuch herbei, er brachte Gläser und Flaschen. Nun begann die Arbeit des Meerkönigs. Er musterte die Ballen. Er nahm die schmierige Kappe ab und setzte sie wieder auf. Dann stürzte er ein Glas Schnaps in die Kehle. Er prüfte das Gewebe zwischen den Fingern, riß, scheuerte, hielt gegen das Licht. Er nahm einzelne Fäden und zerriß sie. Nicht zu leicht, nicht zu schwer, nicht zu dünn, nicht zu dick. — Dann trank er wieder einen Schnaps und noch einen, er stotterte, taumelte gegen einen Mehlsack, er trocknete sich die Stirn und sagte, er käme morgen wieder.

Erst am dritten Tag konnte er sich entschließen, und dann dämpfte er seine Erregung mit so vielen gouttes, daß er mit dem Tuch unter dem Arm mitten in der Heide auf einen Felsen rannte, kenterte und liegen blieb.

XIV

Ich begegnete Rosseherre in der Nähe des Dorfes als es dämmerte. Sie trug einen großen Brotlaib unter dem Arm. Creach zündete gerade sein Feuer an. In seinem gläsernen Kopfe hauchte es, wie wenn jemand ein glimmendes Streichholz in den Mund nimmt und es anfacht, dann spie er kurze violette Blitze, die in die Dämmerung wie geschliffene Nadeln stachen. Das Meer war schon dunkel.

„Ihr wäret ja neulich auf ein Haar ertrunken!“ sagte Rosseherre singend und stemmte den Brotlaib gegen die schmale Hüfte.

Ich lachte. „Es war nicht so gefährlich,“ sagte ich.

Rosseherre wiegte mit kindlichem Ernst den Kopf. „Jean Louis hatte die Hoffnung schon aufgegeben! Und er kennt das Meer da draußen, niemand kennt es besser. Und dann schwimmst du bei den Klippen, es ist dir schon ganz einerlei, ob Ebbe oder Flut ist. Es gibt aber Strudel und Ströme und das Meer kann dich hinaustragen. Amorik von Creach sagt, ich kann ihm schon gar nicht mehr zusehen. Warum tust du das?“

„Ich schwimme ja nicht, wenn die Brandung sehr stark ist.“

„Du kennst das Meer nicht,“ fuhr Rosseherre fort. „Du sollst dich in acht nehmen.“

Ich lächelte. Die Besorgnis Rosseherres rührte mich. Sie war ein Kind. „In acht nehmen?“

„Ja, vor dem Meer!“

„Ich möchte wohl gerne wissen, weshalb du auf der Insel lebst?“ fuhr Rosseherre fort.

„Um das Meer zu hören und den Fisch zu fangen, Rosseherre.“

Das verstand sie nicht. „Hast du denn keine Eltern und Geschwister?“

„Nein.“

„Und keine Frau?“

„Nein.“

„Aber Freunde hast du doch?“

„Nein. Ich bin seit Jahren unterwegs und meine Freunde haben mich längst vergessen.“

Rosseherre schüttelte den Kopf. „Der Chef der Post sagt, du bist ein englischer Spion und willst herausbringen, wo sie mit ihren Kriegsschiffen auf der Insel landen können. Aber das ist nicht wahr. Vielleicht hast du etwas getan und kannst nicht in dein Vaterland zurückkehren?“

Ich lachte.

„Oder bist du in deinem Vaterland sehr unglücklich gewesen und hast es deshalb verlassen?“

„Nein, glaube das nicht, Rosseherre, ich bin im Gegenteil sehr glücklich gewesen.“

„Ja, niemand begreift, weshalb du hier lebst — hier, wo nichts ist?“

„Es gefällt mir hier.“

Rosseherre wußte nichts mehr zu fragen. Ihr Gesicht war nun ganz dunkel geworden, nur ihre Haube leuchtete noch.

„Die Nächte sind nun so schön und warm, Rosseherre,“ sagte ich, „du solltest hören wie die Grillen bei Sturmvilla in den Nächten lärmen.“

Rosseherre drehte sich ein wenig und lachte leise. Ich sah das Weiße ihrer Augen und ihre Zähne.

„Kenavo!“ sagte sie dann.

„Kenavo!“

XV

In den Nächten war nichts als die Dunkelheit, das Schlagen des Meeres, das Feilen der Grillen und meine Sehnsucht nach unbekannten und unmöglichen Dingen. Die Erde war schwarz und das Meer, und ich war allein.

Das Meer brandete und donnerte ohne Aufhören, und doch war es so still in meiner Hütte, daß ich das feine, klingende Hämmern der Spinnen in den Wänden hörte. Immerzu blitzte es. Alle sieben Sekunden fuhr zweimal nacheinander Creachs blitzendes Messer durch die Nacht, zerschnitt das kleine Fenster, zerschnitt die Hütte und mich. Ich achtete nicht mehr darauf.

In den klaren Nächten öffnete ich die Türe. Der schwüle Geruch des Meeres strömte herein. Im Rahmen der Türe stand der tiefblaue Himmel und die blitzenden Sternbilder. Ich trat vors Haus, machte ein paar Schritte in den nassen Gräsern und ließ den Blick über die unendliche Kuppel des Firmaments wandern. Zuweilen sank ein Meteor langsam und leuchtend ins Meer. Und irgendwo draußen auf dem Wasser gab es ein kleines rotes oder grünes Licht, das wanderte. Drüben über der Bai aber, an den Klippen, flogen Creachs Lichthiebe atemlos dahin wie blendend erleuchtete Expreßzüge der Hölle, die, tausend in der Stunde, in die Unendlichkeit hinausjagten. Es war totenstill ringsum und ich ging wieder ins Haus zurück. Aber horch! Hörst du nicht? Irgend etwas wanderte da draußen, bald nah, bald fern, lautlos und unsichtbar, aber ich fühlte es, während ich vor meinem Feuer saß. Es gab also noch etwas außer mir hier außen? War es ein toter Seemann, der aus dem Meere stieg und sich zu seiner Hütte schlich um durch das Fenster zu spähen? Was war es? Horch! Und zuweilen dachte ich an das sonderbare Bibelwort: der Geist Gottes schwebte über den Wassern —

Langsam drehte sich die Nacht. Neue Sternbilder erschienen in der Türe. Ich warf eine Handvoll trockenen Tang auf das Feuer. Das war alles, was ich in einer Stunde tat. Die Möwen schrillten. Ebbe, dachte ich, die Möwen ziehen auf Raub aus. Das Meer atmete erschöpft. Dann rollte das erste Dröhnen am Gestade entlang: die Flut kam zurück. Und ich saß und hielt die Pfeife im Gang und lächelte zuweilen, wenn eine schöne Vision im Feuer erschien. O, ich verstand es meine Einsamkeit auszukosten, bis auf den Grund — so allein war ich, so herrlich allein, haha! Poupoul schlief vor dem Kamin und ließ die Luft durch die Nasenlöcher wie durch Ventile abpfeifen. Wenn ich ein Wort an ihn richtete, so klopfte er mit dem Schwanzstumpen und öffnete schlaftrunken ein Auge. „Schlafe, Poupoul!“ Da kroch er näher und legte den Kopf auf meinen Fuß und schlief weiter.

Zuweilen stand ich auf und machte die Augen scharf, als ob ich auf etwas in ganz weiter Ferne blickte: es waren Menschen, die ich sah, die Menschen, die ich vor Zeiten gekannt hatte. So weit entfernt war ich nun von ihnen.

Und wieder stand ich auf und blickte in die Ferne: das waren Gedanken, die ich sah, meine alten Gedanken vor Jahren. So fern, so klein. Weit entfernt war ich nun von ihnen.

Ich ging hinaus und blickte über das schlaflose Meer: ein senkrechter Blitz spaltete die Nacht in zwei Teile wie einen Block glänzender Kohle. Auf dem Meere waren zwei ferne Stimmen, die riefen und antworteten, aber nichts war zu sehen. Ein Hauch kam um mein Haus herum und stand neben mir wie ein Geist. Es rieselte in einem Felsen, hörst du? Der Felsen altert.

Auf dem schlaflosen Meer schwang ein Funke hin und her, und weitab antwortete ein anderer: zwei Schiffe, die miteinander sprachen.

In einer Nacht begann es zu wehen. Ich hielt den Atem, an. Über mir brauste der große Raum. Von Getümmel und Kampf und einem herrlichen wilden Tod sauste es da droben. Mein Herz pochte laut. Ich ging hinaus. Der Wind schlug die Arme um mich und heulte mir in die Ohren, daß er mein Genosse sei. Er umtoste mich und plötzlich entfachte er einen wunderbaren Gedanken in meinem Kopfe. Ja! Wir wollten sehen, was an uns war, heute, jetzt! Und ich ging hinab zum Meer, entschlossen es mit ihm aufzunehmen, sei es wie es wolle. Der Wind heulte mir in die Ohren: ja, ja!

Das Meer war leuchtend schwarz und die wirbelnden Schaumkämme schneeweiß mit glühenden Feuerchen im Innern. An den Felsen zersprang die Welle zu Tausenden von Brillanten. Hinein! Ich wühlte in grünem Feuer und war selbst wie ein glühender Geist, der sich im nächtigen Meere bewegte. Da drunten leuchtete und flimmerte es wie ein schwarzer Wald voller Glühwürmchen. Feuergarben schlugen bei jedem Schwimmstoß empor und meine Arme waren bedeckt mit phosphoreszierenden Klümpchen. Ich warf mich der Woge entgegen und wenn sie herankam, hob ich die Faust aus dem Wasser und schlug sie ins Angesicht. Die Woge trug mich in die Höhe wie einen Span. Ich aber verwandelte mich in eine wirbelnde Schiffsschraube und es ging dahin. Wenn ich untertauchte, so wurde es still um mich, kam ich in die Höhe, so heulte und tobte es in meine Ohren. Auf meinem Lid saß ein leuchtendes Körperchen und ich fühlte das sanfte Licht durch das Lid hindurch.

Da war ich wieder. Ich stand und dampfte. Ich hatte mich dem Meere angeboten, aber es hatte mich nicht gewollt. Meine Brust ging ruhig und meine Arme zitterten nicht. Ich sah weit über das dunkle Meer hinaus.

Der Wind heulte und versprach mir Ehre und Reichtum und tausend schöne Frauen.

Ich aber lachte. „Merci, behalte alles!“ sagte ich. Ich brauchte nichts, so stand es. In dieser Minute war ich ohne Wunsch.

Wie schwül es nun in meinem Hause war! Ich braute Grog und suchte meine Lektüre hervor. Meine ganze Bibliothek, bestand aus einer Nummer des New-York Herald, European Edition, die ich zufällig in der Tasche mitgebracht hatte. Sie war vergilbt und roch nach Salz und stets kamen ein paar Spinnen heraus. Ich konnte sie auswendig, jeden einzelnen Artikel und selbst die Annoncen. Aber ich las sie immer wieder und geriet stets in eine gehobene Stimmung, wenn ich sie auseinanderfaltete: das war die Welt, meine Herrschaften, die Welt mit Haut und Borsten, einem Heiligenschein und roten Mörderhänden.

Ja, haha, zu amüsant war das — prost!

Auf Seite eins lag noch immer der Papst im Bett — er hütete das Bett — wegen eines leichten rheumatischen Leidens im rechten Knie, nicht im linken, hol mich der Teufel! Ich wünsche seiner Heiligkeit rasche Genesung. Auf derselben Seite rasselte ein betreßter Affengreis mit den Kinnladen und die Affen ringsumher schlugen mit den Schwänzen vor Ergebenheit. Du wirst alt Europa und beginnst zu stinken!

Es rüttelte an der Türe, es pochte, und ich wandte den Kopf. Herein! Niemand antwortete. Eine feine Stimme, wie die einer kleinen frierenden Seele, wimmerte oben an der Türe.

Da gefiel mir Bobby besser, der Nigger, den man im Staate Ohio hinrichtete. O nein, zurück, Bobby braucht keinen geistlichen Zuspruch, er geht „zu einem bestimmten Zweck in die Hölle“. Wenn es schon sein muß — prost, Bobby! — Was sagst du übrigens dazu? Zwischen Deutschland und Italien herrscht momentan große Kälte. He, dieses Genie, das Papierbrei wiederkaut und ein von Druckerschwärze schwarzes Maul hat, legt die Hand auf das Herz der Staaten und konstatiert große Kälte. Ich werde einen glühendheißen Grog trinken, Sie papierenes Rindvieh, denn bei dieser großen Kälte zwischen Deutschland und Italien klappern mir die Zähne.

Regen prasselte über mein Dach. Jemand pickte an das Guckfenster und ein Gesicht sah herein und blinzelte mit zu. Aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich war es gewohnt, daß nachts Gesichter zu mir hereinsahen. Die feine Stimme surrte jetzt am Boden, durch die Türritze. Da ließ Creach sein Gebrüll in der Ferne hören. Nebel. Ich warf Tang aufs Feuer.

Dann stürzte ich mich in die Annoncen. Im Handumdrehen engagierte ich dreiunddreißig chamber-maids, governesses nicht über zwanzig, zarte Behandlung zugesichert, und hierauf verschwand ich blitzschnell unter der Erde, um einen Küchenchef, 94 rue de Longchamps zu verpflichten. Ich raste durch die Eingeweide von Paris, stieg ans Tageslicht empor, schwang mich auf einen Autobus und segelte zwischen den Balkonen und Firmenschildern dahin, und die Leute unten trieben im Strom. Hélas! Mein Küchenchef war eben ausgegangen — also wartete ich in einem Café, hier traf ich ein hübsches Mädchen, Auto! Und es ging dahin über die glitzernden Asphaltseen von Paris —

XVI

In einer Nacht aber, als ich wieder las, sah ein Gesicht zu meinem Fenster herein und dieses Gesicht trug eine weiße Haube. Poupoul schlug an.

Ich legte den Herald beiseite und öffnete.

„Ah, du bist es, Rosseherre?“

„Ja, ich bin es,“ sagte sie ohne Atem, „ich komme — Jean Louis ist krank.“

„Was fehlt ihm denn?“

„Er spricht und lacht. Er hat Fieber. Komm und sieh!“

Wir gingen rasch über die Heide. Jean Louis lag in seinem Bettschrank und empfing mich mit lautem Lachen. Hühühü!

„Hallo, Jean Louis, kennst du mich nicht?“

Nein, er erkannte mich nicht. Eine heiße, dumpfe, alkoholgeschwängerte Luft schlug aus seinen Kissen. Rosseherre leuchtete mit einem Stümpfchen Licht, das ihr über die Finger rann, und ich sah, daß er die Augen offen hatte. Er lachte und plapperte.

„Was sagt er denn, Rosseherre?“

„Er sagt: komm heraus, mein Herzchen. Er meint den Fisch.“

Der Meerkönig war nicht nur betrunken, er hatte auch starkes Fieber, was war zu tun? Wir legten ihm Kompressen auf den Kopf und die Brust und er kicherte vor Vergnügen, als er das kalte Wasser fühlte. Rosseherre zitterte.

„Es wird nicht schlimm sein, Rosseherre.“

„Nein?“

„Ich glaube nicht.“

Dann saßen wir und warteten. Rosseherre klebte das Lichtstümpfchen am Tisch fest und der Talg floß und tropfte auf den Boden. Der Docht sank in den geschmolzenen Talg und erlosch. Nun war es ganz finster.

„Hü—hü—hü!“ lachte der Meerkönig.

Ich legte meine Hand an Rosseherres kleine Brust.

„Rosseherre?“

Sie neigte sich vor und legte die Hände um meinen Nacken.

„Une bonne pêche — mon vieux — mon vieux!“ heulte Jean Louis und lachte.

„Aber Jean Louis —?“ flüsterte Rosseherre.

„Er kann uns ja nicht sehen!“ —

„Hühü — sakrenomdedü — trente sou — quarante — hühü,“ lachte der Meerkönig in seinem Bettschrank.

Rosseherre bebte am ganzen Körper. Sie gebärdete sich unsinnig, weinte und flüsterte und bedeckte mein Gesicht mit raschen Küssen. Dann küßte sie mir Hände und Füße, hundertmal. „Me o car,“ flüsterte sie.

„Gute Nacht, Rosseherre.“

Sie begleitete mich vor die Türe.

„Gute Nacht!“ Sie lächelte und ihre Brust atmete noch rasch.

Aber als ich schon gegangen war, rief sie mich nochmals zurück.

„Höre,“ sagte sie, „könntest du mir nicht — hundert Sou leihen — ich habe eine alte Schuld.“ Sie stammelte. „Nein, nicht hundert — fünfzig — zwanzig Sou?“ — — —

Am nächsten Abend klopfte es wieder an meinem Fenster und Rosseherre stand vor der Tür. Sie war gekommen um mir zu sagen, wie es mit Jean Louis gehe.

„Es geht ihm gut, ja. Morgen wird er wieder hinausfahren.“

„Willst du nicht hereinkommen, Rosseherre?“

Rosseherre lachte. „Ja.“

„Nun, so tritt ein.“

Wie laut die Grillen doch in diesen Sommernächten um Sturmvilla lärmten! Yann hatte viel drüben an der Küste zu tun, er mußte Kohlen holen für Creach.

Wenn es Abend wurde saß ich gewöhnlich auf dem Stein vor meiner Tür, der noch heiß von der Sonne war, und spielte mir ein Lied auf meiner Flöte.

XVII

Dann kamen die großen Stürme und alles wurde anders. Die Stürme selbst waren schuld daran —

Eines Morgens erwachte ich mit einem elenden Gefühl. Das Atmen wurde mir schwer. Ich ging hinaus um zu sehen, ob nicht etwa der Himmel herabgekommen sei und in Mannshöhe über der Insel laste. Alles stand still. Die Gräser, das Meer, die Luft, über dem Meer lag die lange Rauchwolke eines Dampfers, der schon entschwunden war, auch diese Rauchwolke stand still. Ein grauer, greisenhafter Himmel blickte von oben herab. Wo war das Leben hin?

Eine Stunde später änderte sich alles. Die Möwen waren die ersten, die das Fest witterten. Sie zogen in weiten raschen Kreisen mit dem Bauch über das Meer und schrien wild. Am Horizont schob sich eine unscheinbare, bleifarbene Wolkenbank empor, aber so rasch, als steige sie aus einer Versenkung herauf, und während sie wuchs wurde sie immer dunkler, fast schwarz. Senkrechte weißliche Wolkenfetzen flogen vor ihr her. Das Meer wurde düster und runzelte sich wie die Stirn eines wilden Tieres, das die Geduld verliert. Die Fittiche der raschen Möwen flatterten kalkbleich vor der dunkeln Wolke. Die Meerschwalben zogen in Zickzacklinien um die Klippen und läuteten und gurrten. Auf einem Felsen saß ein Fischreiher, sah hinaus und schlug zuweilen mit den Flügeln.

Mein Herz aber pochte.

Plötzlich ging ein pfeifender Hieb über uns dahin und die Insel war in eine ungeheure Staubwolke gehüllt, als ginge sie in Rauch auf. Die Gräser legten sich flach auf den Boden, Steinkörner sausten durch die Luft. Da war er —

Was für ein Gesang war das, bei allen Göttern? Es war das Lied vom Chaos, als es noch nichts gab als die schwarzen Wasser und das nackte Gestein. Es war das Schlachtenlied der Urriesen, die um Erde und Meer kämpften und sich zerschmetterten —

Das Meer dröhnte schwer, die Felsen tuteten, und das Toben vereinigte sich zu einem hohlen, surrenden Brausen, das alles erschütterte. Die Luft wetterte, die Atmosphäre bebte, wie ein Riesenventilator surrte die Luft und zerrte das Fleisch von den Knochen, riß an den Augenlidern und Lippen, legte die Ohren um und bog die Nase, wohin sie wollte.

Die Küste ringsum war bis hoch hinauf mit Gischt bedeckt und sah wie beschneit aus. Die Klippen im Meer trugen wehende Generalsbüsche. Das Meer war getigert bis zum Horizont, ein paar fliegende schneeweiße Schaumkämme mit Nacht dazwischen war das ganze Meer, nichts sonst. Die Schaumkämme aber rasten gegen die Insel. Je näher sie kamen, desto lebendiger wurden sie. Es waren Reihen von Schimmeln mit wehenden Mähnen, schäumenden Mäulern und strampelnden Vorderfüßen. Sie galoppierten gegen die Klippen, stürzten in die Höhe, wieherten, schwangen die Mähnen und sanken zerschmettert rücklings ins Meer. Und augenblicklich galoppierte die nächste Reihe heran, hoi, hoi, hopp hopp! Der Wind peitschte sie und sie taten ihr Bestes, flogen heran, hinauf und zerschellten.

Das war er!

„Vater unser — das ist er! Was soll ich tun? Sag mir den Gesang, den ich anstimmen soll! Soll ich vom grasgrünen Meerteufel singen, der drunten schlief und nun emporstieg und sich dreht wie ein rasender Kreisel?“

Poupoul sprang an mir empor, und ich packte ihn am Kragen und drosselte ihn. „Nimm dich in acht, Poupoul, siehst du nicht, daß ich ein Mörder bin!“

Und ich ging dahin und schrie in den Sturm hinein —

Am Hafen unten standen Männer und Frauen, flatternde Fahnenfetzen, alle erschrocken und bleich. Eine Frau lief schreiend hin und her und rang die Hände. Ihr Mann war nachts hinausgefahren und noch nicht zurückgekehrt. Jede Woge überflutete die Granitmauern des Dammes und hob spielend die schweren Eisenringe in die Höhe, daß sie klirrten. Ganze Wände von Wasser stürzten auf uns herab. Auf dem Damm lag ein behauener Granitblock, der einer Boje als Anker dienen sollte, gut einen Meter hoch und breit. Er war der Woge im Weg und plötzlich hob sie ihn und stürzte ihn ohne viele Umstände vornüber den Damm hinab. Man hatte das Postschiff rasch in den Innenhafen gebracht; auf dem Deck liefen brüllend die Matrosen umher und zogen die Taue an. Der „Kommissionär“ war gefesselt wie ein Tobsüchtiger, mit Ketten, Drahtseilen, Tauen. Aber er wieherte vor Vergnügen, bäumte sich auf, zerriß die Fesseln und schlug das Heck der „Notre Dame de l’Isle“, die hinter ihm lag, in tausend Stücke. Draußen in der rasenden Bai ritt Yanns kleiner Dampfer an seinen Ketten. Viel Vergnügen, Yann!

Da sah ich auf einmal auch Rosseherre. Sie saß auf der andern Seite des kleinen Hafens in den Klippen. Sie sah gelb und elend aus und starrte mit hochgezogenen Brauen in die Ferne. Sie hielt einen Rosenkranz in den Händen und ihre Lippen bewegten sich.

„Hallo! Rosseherre!“ schrie ich mit aller Kraft. Aber ich hörte nicht einmal die eigene Stimme.

Plötzlich klang etwas wie ein ehernes Bellen durch den Sturm. Es läutete. — Bei Stiff war ein Schiff in Not.

Sofort machte ich mich auf den Weg. Bis Stiff hatte man eine knappe Stunde zu gehen, aber ich brauchte zwei geschlagene Stunden dazu. Ich hielt den Mantel mit den Zähnen fest und bohrte den Kopf in den Sturm. Schritt um Schritt mußte ich mir erkämpfen. Der Sturm hatte die Regentropfen zu Nadeln zugespitzt und sie spießten sich wie Eispfeile in meine Haut. Zuweilen war ich gezwungen inne zu halten und im Schutze eines Steins aufzuatmen; wenn ich nur so viel Deckung fand als für meinen Kopf nötig war und ein paar Atemzüge tun konnte! Verließ ich die Deckung, so erfaßte mich der Sturm wie ein sausender Treibriemen und riß mich mit sich. Poupoul erging es nicht viel besser. Er streckte alle zehn Schritte sein Hinterteil dem Sturm entgegen und atmete zwischen den Pfoten, den Kopf auf den Boden gepreßt. Ich sah eine Möwe, die rückwärts flog! Sie landete erschöpft, ruhte ein wenig und stürzte sich abermals dem Sturm entgegen. Sie drehte sich wie eine Schiffsschraube, aber der Wind war stärker als sie und sie mußte wiederum rückwärts fliegen. Der Sturm trug sie in die Höhe wie ein Stück Papier, sie schrie, arbeitete wahnsinnig mit den Fittichen, aber es half nichts, sie mußte dahin, wo der Sturm es wollte. In drei Stunden war sie in England. Plötzlich begann ich zu pfeifen. He! Ja, ich pfiff ohne es, zu wollen. Der Wind flötete zum Vergnügen in meinem Kehlkopf, und durch Öffnen und Schließen des Mundes konnte ich ein ganzes Konzert pfeifen, über die triefende Heide aber zog Rauch. Ich stand still. Eine wagrechte dicke Rauchwolke zog rasend mit dem Sturm dahin. Brannte es? Brannte ein Schiff da drunten? Nein, es war Wasserdampf. Die Insel war hier turmhoch, aber der Sturm blies so heftig, daß er den Wasserstaub aus den Schächten und Kaminen der Klippen riß, wie Rauch aus einem Schlot, und forttrug. Drei, vier solcher Rauchsäulen fegten quer über die Insel.

Da war endlich Stiff. Sein kleiner gelber Leuchtturm schwamm verkrümmt in einer Wasserblase, die Hütte der Markonistation kauerte wie ein zerzaustes, graues Tier in der fegenden Heide. Selbst in der Sonne sah Stiff so trostlos, öde und bedrückend aus, daß sich der Herzschlag verlangsamte. Heute aber war es eine unterweltliche Wüstenei, die Grauen verbreitete. Und wie böse stand die schwarze Flagge über dem Semaphor! Der Sturm stieß mich hier wie ein Bündel vor sich her, er trug mich streckenweise, und es gelang mir schließlich nur noch, mich auf allen vieren von Stein zu Stein vorwärts zu bohren. Ohne Atem und fast seekrank vor Erschöpfung erreichte ich die Markonistation. Ich hämmerte gegen den eisernen Laden.

Herr Boucher war hier, Gott sei Dank! Er warf sich gegen die Türe. „Ziehen Sie doch!“ schrie er.

„Ich ziehe ja!“ antwortete ich. Die Türe schnappte wieder zu. Sollten wir, zwei Männer, nicht imstande sein eine lumpige Türe zu öffnen? Herr Boucher steckte einen Prügel durch die Türspalte, ich zog und die Türe flog krachend gegen die Hanswand. Da lag sie nun, wie angeschraubt. Wir arbeiten wie Teufel, der Regen peitschte uns das Gesicht, der Sturm riß uns das Fleisch von den Knochen — — endlich.

„Es soll ein Schiff in Not sein, Herr Boucher?“

„Sehen Sie durch dieses Guckloch. Da drunten ist es. Sehen Sie es nicht? Ein Fischerboot.“

Ja, nun sah ich es. Ein winziges Segel zuckte da drunten in der Tiefe zwischen den Schaumkappen.

„Nun?“

„Sie sind verloren. Sie können nicht hinaus aufs Meer und nicht hinein in die Bucht, sie würden in die Felsen geschleudert werden.“ Herr Boucher nahm den Stahlbügel mit dem Hörer über den Kopf und setzte sich vor den Apparat. „Ich habe eben ein Gespräch belauscht zwischen einem Dampfer und Lizard. Ich glaube ein Schiff ist gescheitert. Lesen Sie hier. Nein, nun höre ich nichts mehr.“

Es war eine Depesche des Cunardliners Celtic an Lizard. Die Celtic telegraphierte, daß sie den Kohlendampfer „Fullspeed“ fünfzehn Meilen südlich Scilly-Islands passiert habe, ohne Maste und Kamin, Maschine in Ordnung.

„Ja, nun gehe ich wieder. Vielen Dank, Herr Boucher.“

Ich mußte hinunter! Es ist mir heute noch rätselhaft, wie wir, Poupoul und ich, den steilen Pfad zur Bucht hinuntergekommen sind, aber wir kamen hinunter, das ist eine Tatsache.

Ein Häufchen Fischer kauerte in den Felsennischen. Der Schuppen, in dem sich das Rettungsboot befand, stand offen. Sie konnten natürlich nicht hinaus zu dem kleinen zuckenden Segel. Es war sogar unmöglich das Boot ins Wasser zu bringen. Sie standen mit den Händen in den Hosentaschen schwiegen und starrten mit zusammengekniffenen Augen hinaus. Die Gischtfahnen gingen haushoch über sie dahin.

Vor der Türe des Schuppens saß ein Weib mit zwei Kindern und alle drei verfolgten regungslos das kleine Segel, das im Kreise zuckte. Das Weib hatte harte Augen und lächelte kalt und verächtlich.

„Sie ist die Frau des Patrons da draußen,“ sagte mir ein Fischer. „Es sind drei Mann an Bord. Sie sind schon vierundzwanzig Stunden auf dem Meer. Sie haben nur einen Laib Brot und eine Flasche Schnaps mit. Lange können sie es nicht mehr aushalten. Sie sind hin!“

Als ich nach Hause kam, war Sturmvilla wie mit einem Aussatz bedeckt. Schaumballen schwirrten durch die Luft. Die Wut der Brandung zerrieb das Wasser zwischen den Felsen zu schmutzigem Schaum und der Wind trug ganze Blöcke Schaum davon. Vor meiner Türe lag er fußhoch und die Heide war weithin damit bedeckt.

Der Sturm hatte meinen großen Kamin wie mit der Zunge ausgeleckt. Kein Stäubchen war in meinem Zimmer mehr zu sehen.

In dieser Nacht schlief ich wenig. Ich dachte immerfort an das kleine Segel, das bei Stiff im Kreise zuckte. Nun waren sie dreißig Stunden draußen. Und immer im Kreise! Vielleicht konnten sie einen Kreis von zweihundert Meter Umfang segeln, das war alles, was sie sich erlauben konnten. Und kaum eine halbe Meile vom Land entfernt. Wie? Sie sehen das Feuer von Stiff vor sich, dicht vor den Augen, am Tage hatten sie deutlich die schwarze Flagge über dem Semaphor gesehen: das war der Tod, der da droben wehte, ihr Tod war es. Vielleicht sahen sie Häuser, in denen man sicher hocken konnte hinter den dicken Wänden und essen und trinken — und sie fuhren im Kreise, vor dem Tod her, der mit ihnen ein Spielchen trieb.

Die Nacht war voll von unbeschreiblichem Spektakel. Das Spritzwasser zischte über mein Dach und rieselte an den Wänden herab. Regenböen prasselten. Es tobte und toste. Es hörte sich an, als ob ein rasender Riesengorilla auf den Klippen hockte und mit den Fäusten auf seinen Bauch trommelte. Schreie durchschnitten die Luft, als ob Menschen von den Klippen herabgestürzt würden und im Falle schrien. Gelächter, Flüche. Es waren all die Seeleute, die draußen ertrunken waren, die schrien und die Fäuste über den Klippen schwangen. Sie jammerten, denn sie sollten die Heimat nicht wiedersehen. All die Schiffe, die hier gescheitert waren, fuhren noch einmal in dieser Nacht auf. Sie krachten, splitterten, sanken. Und durch den Lärm hörte ich das dumpfe Läuten des Meeres. Bis in die Tiefe war es aufgewühlt. Da drunten rollten alte behaarte Glockentiere hin und her und dröhnten.

Bum — baha — bum baha!

Aus dem Tosen aber hörte ich deutlich ein Heulen heraus, das fürchterliche Heulen einer einzelnen Stimme! Sie rechtete mit Gott und der Hölle und konnte kein Ende finden. Das war Poupon, der Mörder, den das Meer nicht wollte. Hörst du ihn? Zuweilen stieß er einen Schrei aus und stürzte sich hinab, aber immer kam er wieder, heulte, verfluchte Gott und die Welt und schleuderte dem Schöpfer Felsen ins Gesicht, Felsen, Felsen! Hörst du?

Der Teil der Heide, auf dem mein Haus stand, hieß der „englische Friedhof“. Vor zweihundert Jahren scheiterte hier eine englische Flotte von vierzig Segeln und die Leichen bedeckten den Strand. Man begrub sie hier. Ja, nun hörten auch sie, daß da oben etwas vor sich ging und kamen heraus. Sie johlten und lärmten, viele hundert Stimmen schwirrten durcheinander, aber ich glaubte doch jede einzelne zu verstehen. Das Haus war ihnen im Weg, sie mußten etwas demolieren, denn sie waren wild geworden. Sie warfen sich mit den Rücken dagegen. Sie stießen mit den Füßen gegen die Türe und lachten. Öffne, öffne, you damn’ rascal! Ich hörte sie ganz deutlich, ich hörte sogar, daß sie Englisch sprachen. Auf das Dach! Nun, da waren sie auch schon auf dem Dach, polterten, zerbrachen mir die Ziegel und schließlich brüllten sie zum Kamin herein. Viele zu gleicher Zeit: Ha! Ha! Ho! Ho! Son of a bitch. Hooo!

Ich setzte mich aufrecht und die Haare standen mir einzeln zu Berge.

Da aber ging ein schrilles Pfeifen über das Haus dahin, ein Schleifen, ich hörte wie sie sich entfernten, wie der letzte vom Dach herabglitt. Sie rannten johlend über die Heide. Wie ein Blitz, all die vielen Hundert zusammen. Ich hörte, wie ihr Gejohl mehr und mehr in die Ferne entschwand. Das Segel! Ja, das kleine zuckende Segel bei Stiff. Hier gab es Arbeit für sie, hier gab es etwas zu tun —

„Vielleicht sind sie eben untergegangen,“ dachte ich laut und fror.

XVIII

Der Tag kam und der Orkan surrte wie tausend rasende Expreßzüge über die Insel dahin. Er heulte nicht mehr, schrie nicht mehr, er surrte, hohl und dumpf. Nimm den Hut ab, ziehe die Jacke aus, hänge Hut und Jacke an meine Hauswand, ohne Nagel, wie angeleimt bleiben sie hängen, so wehte es. Das kleine Segel zuckte noch immer im gleichen Kreise. Sie waren nun sechsunddreißig Stunden draußen. Die Nacht kam, fünftausend wiehernde Kannibalen tanzten um mein Haus, wieder tagte es und der Sturm surrte.

Das kleine Segel war verschwunden.

Ich erbleichte, als ich es hörte.

Aber gerade als wir alle in Chikels Bar standen und uns ereiferten: diaul! einen Laib Brot und eine Flasche Schnaps, zwei Tage ohne Schlaf und welche Arbeit — ging die Tür auf, und was kam herein? Drei Seegespenster! Drei Gespenster mit kalkweißen Gesichtern und blauen Lippen, Leichen, die tagelang in Eiswasser gelegen waren, mit Glasaugen, klebenden dünnen Haaren und einem irrsinnigen Totenlächeln. Nun also, da waren sie! Es wurde ganz still. Dann aber begannen die drei Seegespenster in den gemeinsten Ausdrücken zu schimpfen. Ihr hättet uns ruhig ersaufen lassen, ihr Hundesöhne! Gott, sei Dank, sie waren lebendig.

Sie hatten das Verzweifelte getan. Sie waren aufs offene Meer hinausgefahren, um zu sterben — oder, die Insel zu umsegeln und im Lee irgendwo unterzuschlüpfen. Es war ihnen geglückt. Hoho, Brüderchen! Und nun küßten wir sie alle.

Sie gossen sich Branntwein in die Kehle und gurgelten Schnaps. Einer ließ drei, vier Gläser fallen, er hatte jedes Tastgefühl in den Händen verloren, und lachte idiotisch.

Da kam noch ein Seegespenst herein. Aber es war nicht weiß, sondern schwarz wie ein Neger, der da und dort Farbe gelassen hatte, mit rotgesäumten Augen. Das war Yann. Der „kleine Kapitän“ sprach wie ein Faß und hatte einen furchtbaren Brüllhusten.

„Ich mußte an Land gehen,“ hustete er, „ich habe keinen Kognak mehr, he, Patronne! Rasch! Es war die reinste Hölle in der vergangenen Nacht. Willst du mit an Bord? He?“ Ah, Yann, wie spöttisch und überlegen du doch lächelst!

„Sechs Flaschen Kognak, Madame Chikel!“ erwiderte ich. „Etwas Käse. Hast du Brot? Vorwärts Yann!“

Im Hafen schwammen die Trümmer der zerschlagenen „Notre Dame de l’Isle“. Mit jeder Welle trieben sie vorwärts und zurück. Der gefesselte „Kommissionär“ hatte sich ein paar Rippen eingeschlagen und lag mit dem Stern auf Grund und wälzte sich schwerfällig.

Wir sprangen ins Boot, Poupoul voran. Er war atemlos vor Vergnügen, sobald er in ein Boot springen konnte. Die Ruder tauchten ein und das Boot trieb mit der zurückflutenden Welle hinaus. Yann saß mit gebeugtem Nacken am Steuer und folgte lauernd den Bewegungen der Wogen, wie ein Boxer jenen seines Gegners. Er schrie den Matrosen Befehle zu und sie sahen ihm gespannt auf den Mund, denn hier außen konnte man kein Wort verstehen. Wir hatten fünfhundert Meter zu rudern, aber es sah aus als sollten wir den „Arbeiter“ nie erreichen. Manchmal stand das Boot buchstäblich senkrecht.

Der „Arbeiter“ zerrte an seinen zwei Ankerketten, bäumte sich auf und schlug aus wie ein Pferd. Bald war sein Deck auf Wasserhöhe, bald schnellte es ein Stockwerk in die Höhe und der „Arbeiter“ zeigte den roten Bauch.

Zuerst stieg Yann an Bord, dann reichte ich Poupoul hinauf, der zappelte vor Erregung, zuletzt folgte ich.

Der „Arbeiter“ war in voller Fahrt. Mit all seinen sieben Knoten rannte er vorwärts und kam doch nicht vom Fleck. Ganze Häuser, ganze Straßen bebender Wassermassen warfen sich ihm entgegen. Der Abstand zwischen den Wogenreihen betrug gut zweihundert Schritt. Lange sausende Ebenen flogen heran, die Wasserberge wuchsen bebend daraus hervor, der „Arbeiter“ stieg, kletterte, sprang, glitt hinab, und die nächste sausende Ebene flog heran. Der Wind verwehte das Spritzwasser, so daß die Wogen wie mit weißen langen Wollfäden bestreut aussahen. Wie ein fliegendes schwarzgrünes Gebirge waren sie, in dessen Rinnen und Rillen der Schnee schmolz. Sie glitten blitzschnell an den Wänden des Dampfers entlang, kreiselten wütend und kletterten dröhnend und zischend an Deck. Der „Arbeiter“ troff von oben bis unten.

Eine Sturzsee prasselte wagrecht über den „Arbeiter“ dahin, vom Bug bis zum Stern, und ich bekam die volle Ladung ins Gesicht.

„Vorwärts!“ brüllte Yann und stieß mich in die Luke hinab. Es war unmöglich in der kleinen übelriechenden Kajüte auch nur eine Sekunde aufrecht zu stehen. Sie war dunkel und kreiste wie der Bauch eines Haifisches in voller Fahrt. Und es ist bekannt, daß sich ein Haifisch in Spirallinien durchs Wasser schraubt. Die Luke an der Luvseite war verschraubt und wir bekamen nur dann etwas Licht, wenn sich das Glas gegenüber über Wasser befand. Poupoul hustete ein wenig. Nun, Poupoul, du wirst doch nicht? Was fällt dir ein, ein Schiffshund! Nein, Poupoul hatte ja nur zum Vergnügen ein wenig gehustet, er fühlte sich zu Hause hier unten.

„Trinke, rasch!“ schrie Yann und goß Kognak in eine Blechkasserolle. Augenblicklich begannen wir mörderisch zu trinken, hier unten in dem kreisenden Haifischbauch blieb nichts anderes zu tun übrig, entweder oder. Also prost, meine Damen!

Ich verbrachte zwei ganz unvergeßliche Tage und Nächte auf dem „Arbeiter“.

Wenn die Flut kam, löste Yann seinen Steuermann ab. Wir mußten hinauf. Sobald wir den Kopf aus der Luke streckten, fegten Wind und Wasser wie ein Reibeisen über unser Gesicht. Dann kletterten wir zwischen zwei Sturzseen die schmale eiserne Treppe zur Brücke empor und hier banden wir uns fest. Der Sturm empfing uns mit einem pöbelhaften Triumphgeheul, als ob wir uns versteckt gehabt hätten. Das Spritzwasser trommelte auf unseren geölten Anzügen und festgebundenen Sturmhauben, und ganze Grotten von Wasser stürzten auf uns herab. Das Wasser auf der Brücke ging uns über die Knöchel, aber da wir barfüßig waren, schadete es nicht weiter. Es schwankte hin und her, bis es endlich wie ein Wasserfall die eiserne Treppe hinabstürzte. Zuweilen schlugen Bomben auf dem Dampfer ein, und Maste, Kamin, alles verschwand in einer Wolke von Gischt und Dunst.

Yann hustete fürchterlich und fluchte ununterbrochen. Er hatte sich am Sprachrohr den Mund blutig gestoßen und war wütend. Er überhäufte jede einzelne Woge mit Flüchen wie einen persönlichen Feind. So oft einer dieser fliegenden Wasserberge heranrollte, schrie er ins Sprachrohr: Zurück! — und wenn wir den Berg hinaufgeklettert waren: Vorwärts! — um den Anprall der vielen tausend Tonnen Wasser auszugleichen. Die Ankerketten strafften sich, knirschten, rasselten, der Bug sank ein, um gleich darauf einige Stockwerke emporzuschnellen. Oft legte sich der Dampfer so stark zur Seite, daß die Brücke steil wie ein Giebel stand. Das Meer war in der Nacht schwarz wie Pech und die wirbelnden Gischtkämme leuchteten wie Schnee. Creach schwang seine Lichtkegel im Kreise und beleuchtete das grauenhaft gerunzelte Meer. Der Dunst des Spritzwassers glitzerte und funkelte in seinem Lichte. Dann sahen wir auch alle sieben Sekunden das „Kamel“, das draußen in der Bai galoppierte. Das „Kamel“ war ein Felsen, hoch wie ein fünfstöckiges Haus, aber das Wasser fegte darüber hin. Zuweilen fuhr der Gischt nach allen Seiten in die Höhe, als sei das „Kamel“ soeben aus großer Höhe ins Meer hinabgesprungen.

Gegen drei Uhr nachts hatten wir Unglück. Die Spitze des Fockmastes mit unserer hübschen Laterne ging über Bord. Yann stieß einen der längsten und entsetzlichsten Flüche aus, den je eine menschliche Zunge zustande brachte. Gewiß hätte er sich in der Wut dem Mast nachgestürzt, wenn er nicht festgebunden gewesen wäre.

„Die Sache ist die,“ schrie mir Yann ins Ohr, und drehte den Bug einer Woge entgegen, die mit hocherhobenen weißen Tatzen schräg herankam und alle andern überholte, „die Anker hatten sich festgebissen, aber der Teufel weiß, ob die Ketten es noch lange aushalten werden. Dann gute Nacht, in fünf Minuten sind wir in den Klippen. Achtung! O, daß alle stinkenden Teufel der Hölle dich haariges Monstrum —! En arrière!“ Eine ungeheure Wassermasse schlug über Bord und der Dampfer sank so tief ein, daß es eine Ewigkeit dauerte, bis er sich wieder in die Höhe arbeiten konnte.

Dann und wann unternahm ich eine kleine Expedition nach dem Maschinenraum. Ich kletterte die Treppe hinab an Deck, wartete bis ich den nächsten Eisengriff fassen konnte ohne über Bord gefegt zu werden, und kroch im Lee des Kesselraums entlang. Wo der Wind eine Spalte fand, blies er so rasend, daß ich spürte, wie sich das Fleisch an meinen Knochen verschob und löste.

Haha, da waren sie, schwarz wie Mohren hantierten sie da drunten. Ich klopfte auf die verschraubte Luke, sie sahen herauf, grinsten und der Maschinist öffnete. Ich ließ mich die eiserne Leiter hinab. Wie warm es hier war!

„Ihr habt es gut hier, ihr Halunken!“

„Warum hast du uns nichts zu trinken mitgebracht?“

Ja, wie konnte ich es auch wagen ohne Kognak zu diesen Rußteufeln zu kommen, deren Kehlen lichterloh brannten?

„Sofort!“

Ich kroch wieder zur Luke hinaus, machte die Expedition zur Kajüte hin und zurück und da war ich wieder. Der Heizer ließ kochendes Wasser in einen Tiegel und mischte einen großen Humpen Grog zurecht. Es roch hier unten nach heißem Öl und Putzwolle. Die Schaufel scharrte und das Heizloch spie Gluten. Es gab hier glühende Kohlenstückchen, die es auf meine nackten Füße abgesehen hatten. Der Sturm toste in der Ferne; man fühlte sich hier wohl und geborgen wie in einem eleganten Salon, wenn es draußen hagelt. Der Wind tutete und pfiff durch das Sprachrohr und monoton rasselnd kamen Yanns Befehle heraus: en route, doucement, en arrière! Der Maschinist hatte die Hand am Hebel, die Maschine tickte, und wenn sich die Schraube über Wasser befand, wackelte sie von oben bis unten.

„Hau — hau — hau — en route!“ hustete Yann.

„Der ‚kleine Kapitän‘ hat sich etwas erkältet!“ Die Leute liebten Yann und verließen sich auf ihn. Wenn er auch zuweilen mit den Fäusten auf sie losging, er hatte seine guten Seiten, ohne Zweifel. Und dann, er war tüchtig!

Die Burschen hier unten führten ein Leben für sich, was oben war, ging sie gar nichts an. Nun ja, heute gab es etwas zu tun — aber das hielt sie nicht ab sich in aller Gemütlichkeit über die Dummheiten zu unterhalten, die sie mit einer dicken Kellnerin in Brest getrieben hatten — hahaha!

Das Sprachrohr rasselte, und der Dampfer wurde in die Höhe geschleudert. Eine Sturzsee erschütterte ihn und er sank ein. Wohin sollte es noch gehen? Eine Weile stand er still, dann legte er sich bebend auf die Seite, so daß der Boden nahezu senkrecht stand und man sich mit Händen und Füßen festklammern mußte. Wir sagten kein Wort. Der Maschinist am Hebel sah wachsgelb aus unter der Rußschicht.

„Wenn jetzt der ‚kleine Kapitän‘ nicht bald ein Kommando gibt, dann ist er über Bord gegangen!“ sagte er und öffnete lauschend Mund und Augen.

„En route, nom de chien!“ rasselte das Sprachrohr.

XIX

Sobald Yann abgelöst wurde, war er vollkommen Privatmann und tat, als ginge ihn der ganze Kasten von einem Dampfer nichts mehr an.

Wir soupierten. Yann schnitt ungeheure Terrassen in den Brotlaib und den Käse und stopfte sich mit beiden Händen den Mund voll. Während er noch mit der rechten Backe kaute, trank er schon mit der linken aus der Flasche. Er verlor keine Minute Zeit, immer war er in voller Fahrt. „Iß und trink!“ rief er zuweilen. Armer Yann! Er hatte vollkommen die Stimme verloren. Während er sich mit der Zunge noch die Zähne reinigte, entkorkte er schon eine neue Flasche.

Dann nahm er eine Zigarre aus dem Schubfach, legte sich zurück und atmete ein paarmal tief auf.

„Haha!“ lachte er.

„Prost, Kapitän!“

„Haha!“ Yann zwinkerte gut gelaunt und ließ vor Vergnügen einen Wind streichen. Dann brach er in lautes, hustendes Lachen aus und machte sich ans Rauchen. Nun soll man nicht denken, daß Yann eine Zigarre ohne weiteres rauchte. Yann tat nichts ohne weiteres. Er schnitt in der Nähe der Spitze eine Kerbe in die Zigarre und hier zündete er sie an. „Hersehen! Ah, du wirst die Augen aufreißen! Es wird — hahaha! — ein Mönch wird es!“

Nach einigen Zügen glühte die Kerbe und das war, bei Gott, ein Mönch in der Kutte, mit einem glühendroten feisten Gesicht, und nun bekam er noch dazu graue Haare!

Yann betrachtete den Mönch mit verliebten Augen. „Hahaha! Siehst du ihn? Ein Pater, ein Franziskaner, ein Benediktiner, ein Kapuziner!“

Er lachte triumphierend.

Bis zur nächsten Wache blieben uns gute vier Stunden und so plauderten wir ein bißchen. Wir hatten nun gegessen und getrunken, so weit es nötig war, und nun tranken wir zum Vergnügen. Wir tranken puren Kognak aus einem flachen Blechtiegel und klommen Hand in Hand Sprosse um Sprosse empor. Der „Arbeiter“ stampfte und bebte und krachte in allen Fugen, als wolle er entzweireißen. Die Sturzseen klatschten über unseren Köpfen auf das Deck, und unsere kleine Petroleumlampe schwang sich quiekend im Ring und qualmte. Yanns Gesicht war ganz dunkel und aus seinem finstern Gesicht schimmerten hell, fast weiß seine wasserblauen Augen. Der brennende Mönch stank, als ob er Hufspäne und Haare im Leibe habe.

Die Unterhaltung begann. Wir konnten nie fünf Minuten sprechen, ohne uns in den Haaren zu liegen. Wir ruhten so bequem auf den Kojen, rauchten, aber sofort schnellten wir in die Höhe und brüllten einander an.

Da war zum Beispiel Yanns zweiter Maschinist lungenkrank und Yann hatte ihm den Rat gegeben, die Glut des Heizloches einzuatmen um die Bazillen zu töten.

Das hielt ich für falsch! Einfach für verkehrt!

„Die moderne Therapie erklärt große Wärme für Gift, geradezu — Yann!“

Yann übergoß mich mit einem beißenden Spottgelächter.

„Und man schickt die Kranken nach Ägypten — haha!“

„Der Trockenheit der Luft wegen!“

„Eh bien, mon cher monsieur le docteur — ist die Luft aus einem Heizloch etwa nicht trocken?“

„Du bist ein Zwanzigtausendtonnen-Rindvieh, Yann!“

„Haha! Also die kalte Luft soll heilen? Seht an!“

„Sie ist bazillenfreier, ja.“

„Bien! Warum schickt man die Kranken nicht nach dem Nordpol? Hast du schon gehört, mon très cher ami, daß man einen Schwindsüchtigen nach dem Nordpol schickte? Ja! Übrigens, mein Bruder, ein berühmter Spezialist in Nizza“ —

„Schweige! Schweige!“ brüllte ich.

„Ich rede solange ich will!“ schrie Yann.

Nein, es war nicht gegen Yanns fünfundzwanzig Brüder und fünfzig Vettern aufzukommen, die über den ganzen Globus verstreut waren. Man mochte von Maschinen reden, von Astronomie, von Streichholzfabrikation, einerlei, immer hatte Yann einen Bruder vom Fach, der ihm brühwarm die neuesten Errungenschaften übermittelt hatte. Yann, Yann, man kann nicht mit dir debattieren! Yann aber riß stets die Fahne an sich und schwang sie triumphierend.

Dann erklomm er die nächste Sprosse, auf ihr begannen Scherzfragen und Kunststücke. Yann warf ein Dutzend Streichhölzer auf den Tisch, und nun ordne sie so, daß —

„Gehe in die Hölle, Yann!“

Yann aber ordnete die Streichhölzer wie es sich gehörte und lachte. Er wollte mir ja nur beweisen, daß ich nichts wußte, nichts, und nichts konnte, gar nichts. „Soll ich dir einen Fächer aus einem Stück Holz schnitzen?“

„Nein!“ Aber doch war ich gespannt, wie er das anstellen würde.

„Du wirst sehen. Auf den Segelschiffen macht man das.“

Yann stand auf und hielt rasch Umschau. Er schlug eine Leiste vom Kartenschrank und begann augenblicklich zu arbeiten. Eins, zwei, die Fetzen flogen. Er saß mit angezogenen Knien auf der Koje und hantierte sicher mit dem Messer, obgleich er unaufhörlich auf- und abtanzte. Zuweilen stemmte er das Knie gegen den Tisch um nicht zu mir herüber geschleudert zu werden. Zuerst schnitzte er einen Stab, den er an verschiedenen Stellen einkerbte — das gab die Verzierungen des Griffes und der Stäbe — dann schleißte er ihn in dünne Streifen von oben bis herab zum Griff, und diese Streifen drehte er vorsichtig auswärts. So! Fünf Minuten und fertig! Haha! Er fächelte sich kokett.

„Nächstens werde ich dir einen Dreimaster in eine Kognakflasche hineinschnitzen.“

„Gott beschütze mich!“

„Vollkommene Ausrüstung, mein Lieber!“

Darauf führte Yann eines seiner Lieblingskunststücke vor. Er nahm das Messer, ein stumpfes, schmutziges Instrument, mit dem er Fische schlachtete und Ratten, setzte es an den Daumen und schnitt. Das Blut quoll heraus. Yann steckte den Daumen in den Mund, massierte ihn — nichts war mehr zu sehen, hoho! Ich rückte näher. Ein Schwindler bist du, Yann! Man sah ja nicht gut, der Rauch war zu dick. Yann wiederholte triumphierend das Experiment und führte mir eindringlich alle Phasen vor. Nun grub er mit dem Messer rings um den Daumennagel einen Graben, der sich langsam mit schwarzem Blut füllte. Er leckte, preßte — verschwunden.

„Ein Teufelskerl bist du!“

Yann aber lachte mich vielsagend an: und was kannst du? Nichts.

Nein, wirklich, ich konnte nichts. Ich konnte einen Bindfaden mit meinem Bizeps sprengen, zweistimmig pfeifen, amerikanisch ausspucken, zwei vorsintflutliche Lieder und einen Triller auf der Flöte spielen — lauter minderwertige Künste.

Dann nahm Yann einen ungeheuren Schluck und warf sich in die Koje, die Zigarre im Mund. „Man hat es nicht schlecht jetzt, man hat es zu etwas gebracht!“ begann er zufrieden und verschwand in der Rauchwolke.

„Man ist Kapitän, hat seine hundertundzwanzig Franken monatlich, man hat sein Weinchen, seine Zigarre und eine Couchette zum Schlafen. Was willst du noch mehr? Man hat das Gröbste hinter sich. Ah, das Furchtbarste, weißt du, he, was das Furchtbarste ist? Lege mir zehntausend Franken auf den Tisch — nein, nie mehr! Ich habe zwei Campagnen mitgemacht. Das ist ein Leben für Hunde, für Schweine!“

„Wovon faselst du denn?“

„Idiot, du hörst wohl nicht? Ich rede von St. Pierre, beim Teufel! Fünfzigtausend Stockfische, achtzigtausend in einer Campagne. He, mein Lieber! Das Schiff ist von oben bis unten mit Salz angefüllt und die Arbeit beginnt. Fische, Fische, nichts als Fische! Du schläfst, du bist todmüde, pique! pique! auf! Die Fische sind da. Du fährst in die Hosen. (Hier fuhr Yann in die Hosen und rieb sich den schweren Schlaf aus den Augen.) hinaus in die Kälte, brrr! Du schlotterst nur so und legst die Angel aus und ziehst sie ein und schläfst dabei. (Yann legte die Angel aus, zog und schlief dabei.) Plötzlich — tsch! — ein Walfisch kommt daher und verjagt die Fische. Du legst dich aufs Ohr. Pique, pique! O, gehe in die Hölle! Da stehst du Tag und Nacht, im Nebel, im Sturm, im Schnee und fischst. Oder du schneidest die Köpfe ab, tausend Köpfe an einem Tag, zweitausend. Am Tisch ist ein langer Nagel, da hinein stößt du den Fisch und schneidest ihm eins, zwei den Kopf ab. Du reißt die Leber heraus, ins Faß, die Gedärme wirfst du ins Meer. Links und rechts vom Schiff tänzelt ein Haifisch und schnappt und frißt alles, denn der Haifisch ist nichts als ein Schwein. O, was für ein mörderischer Gestank! Die Leber riecht, die Fische stinken, das ganze Schiff stinkt von oben bis unten wie faule Fische. Mein Lieber, prost! Es ekelt dich an und du möchtest am liebsten über Bord gehen. Ich habe handfeste Burschen gesehen, die weinten vor lauter Traurigkeit.“

„Hehe! Aber lustig ist es doch! Da gibt es merkwürdige Dinge. Zum Beispiel, den Sonnenfisch! Er ist hoch wie ein Mann und flach wie ein Teller. Er hat ein Gesicht und eine Nase wie ein kleiner, gedörrter Jude, ein Judenprofil. Er fächelt mit den Flanken, so, siehst du, auf diese Weise schwimmt er. Vor seiner Judennase schwimmt ein kleiner Fisch einher, das ist sein Pilot. Denn der Sonnenfisch ist ungeheuer dumm und halb blind. Du lachst dich halb tot über ihn. Wie ein dicker Bankier, der schwach auf den Beinen ist, läßt er sich von seinem Fremdenführer alle Sehenswürdigkeiten zeigen, und dann, wenn er sich satt gefressen hat, macht er sich schwer und läßt sich hinabsinken auf den Grund des Meeres. Da liegt er im Sand, flach wie eine Zeitung, und schläft und verdaut. Dann gibt es hier die Schwertfische, die den Walfisch absolut nicht ausstehen können. Sobald so eine Dampfspritze in voller Fahrt daherkommt, schnellt sich mein Schwertfisch in die Höhe, viele Meter hoch und gräbt sein Schwert in den Wanst des Wales. Hinunter damit! Ja, beim Teufel, eine gemütliche Welt hat unser Herrgott erschaffen. Hohoho, wie konnte er nur auf all den Unsinn verfallen! Dann kannst du dich auch mit dem Hai amüsieren. Du läßt ein Tau hinab, schwupp, er schneidet es ab wie eine Zigarre. Wir haben auch dann und wann einen Hai gefangen, zum Spaß, Gott o Gott, wie sie stinken! Und hüte dich, ihm noch nach Stunden zu nahe zu kommen! Dieses Schwein ist mit Elektrizität geladen und gibt dir einen Schlag, daß dir Hören und Sehen vergeht.“

„He! Entkorke eine neue Flasche, wir müssen trinken! Das ist eine niederträchtige See heute! — Zu fressen bekommst du bei den Bänken nichts. Übel kann dir werden. Zwei Kartoffeln und grüne Erbsen, am Sonntag ein Stückchen Speck, winzig, und ein Glas Wein. Der Speck wird verlost, wie beim Pfänderspiel die Pfänder. Wem soll dieses Stück gehören? Sonst würde es Streitigkeiten geben, denn alle sind wild vor Hunger wie Wölfe. Man haßt sich auch, nach ein paar Monaten haßt man seinen besten Freund. Geh mir aus dem Weg, du Fratze! Ah, was für ein Leben! Während der ganzen Campagne wäscht sich kein Mensch mehr, wozu? Kommen schöne Mädchen an Bord? Aber vor der Heimreise geht es nach St. Pierre um Einkäufe zu machen. Alles geht an Land und alles wäscht sich. Lauter neue Gesichter! Eine neue Equipage, he? Bon jour, messieurs!“

„Viele aber reisen nicht heim, mein Freund. Es rentiert sich nicht als Leiche zu Hause anzukommen. Du mußt die Stürme nicht vergessen — und die Eisberge. Plötzlich tauchen sie vor dir auf und sie werden dich zertreten, sie sehen dich gar nicht. Und die großen Schnelldampfer bei Nebel! Da heißt es das Nebelhorn drehen — tuh — tuh! — tagelang. Man hört sie schon meilenweit. Sie brummen wie Bären, die Hunger haben. Er kommt heran, näher und näher. Du liegst in der Koje, erwachst, horchst und deine Haare sträuben sich. Alles stürzt an Deck: Patron, ein Dampfer kommt über uns! Was sollst du tun? Wenn er dich nun nicht hört? Kein Wind, wohin? Und woher kommt er? He, nun ist er ganz nahe, keine zweihundert Schritt entfernt. Du wirst ihn nun nicht mehr hören, aber sehen, wenn es sein muß. Du stehst und wartest und deine Zähne klappern vor Angst. (Bei Gott, Yanns Haare sträubten sich bei der bloßen Erinnerung!) Da — er tutet ferner — er ist vorüber! Du bist noch einmal mit heiler Haut davongekommen. Jedes Jahr wird ein halbes Dutzend Boote glatt durchschnitten, das gibt einen kleinen Knax und weg ist er.“

„Kommt er nicht zurück, Yann?“

Yann lachte. „Er wird sich das überlegen. Er braucht eine Viertelstunde, bis er zurückkommen kann. Und wo bist du dann? Er findet vielleicht eine Insel gesalzener Stockfische, das ist alles. — Nun aber, sagen wir, du kehrst zurück. Der Armateur gibt dir dein Gehalt, sechshundert oder achthundert Franken, und dazu schenkt er dir zwei Stockfische. Zuerst betrinkst du dich nun und schläfst dann irgendwo hinter einem Zaun, das Geld in der verkrampften Hand. Hier ist es am sichersten. Das Geld bringst du deiner Mutter. Sie gibt dir zehn Franken, damit du dir einen vergnügten Tag machen kannst, staffiert dich aus und du promenierst im Dorf mit deinem kleinen Bambusstock und läßt dich anstaunen. Ja, da bin ich wieder! Wenn du keine Mutter hast, so gehst du gleich zu den Mädchen. Hier läßt du dich häuslich nieder, ißt, trinkst, machst dir vergnügte Stunden mit dem ganzen Haus, von der Besitzerin angefangen bis herab zum Dienstmädchen, sie nehmen dir alles ab und werfen dich auf die Straße. Da bist du wieder. Du gehst und verdingst dich und ein paar Tage später bist du wieder bei grünen Erbsen und Kartoffeln angelangt. Hehe! Aber es war hübsch. Und alle andern erzählen dir ebenfalls, wie hübsch es war. Sie singen und du singst mit und bist geborgen. Du bist wieder auf dem Meer, wo du hingehörst.“

Plötzlich schnarchte Yann. Er konnte zu jeder Zeit einschlafen und aufwachen, und es war ihm auch einerlei, in welcher Lage er schlief, ob er auf einem Stein saß oder auf dem Boden lag, das Gesicht auf den Händen.

Ich saß mit angezogenen Knien in der Koje und rauchte. Zuweilen schwindelte mir vorübergehend, es war nicht mehr hübsch. Der Dampfer rollte furchtbar. Wenn sich die Ankerketten strafften, so erschütterten ihn ungeheure ruckweise Stöße, daß alles ächzte und knarrte. Er zitterte vom Stampfen der Maschine, und wenn die Schraube frei lief, so bebten seine Flanken. Droben trillerte der Sturm in den Tauen, die Sturzseen klatschten und dann tropfte und rieselte es an der Luke. Dicht an meinem Ohr prallten die Wassermassen wie Rammklötze gegen die Wandung. Zwei Finger breit und da draußen war das Meer. Ich sah durch das Guckfenster wie es mit geschliffenen Äxten und gezackten, blanken Schwertern auf den „Arbeiter“ einhieb. Das Glas war pechschwarz, wir waren unten, ein Klumpen großer glotzender Augen hing am Glas, ein weißes, aussätziges Gesicht starrte herein, ich sah das Licht des Leuchtturms und die Gischtkämme, wir waren oben.

Poupoul leckte mir die Hand und wedelte mit dem Schwanz. Er freute sich. Er glaubte, wir seien auf hoher See und morgen werde er an Deck gehen um fliegende Fische anzubellen. Ich plauderte ein wenig mit ihm.

Da erwachte Yann. „Haha, und jetzt bist du hier, bist Kapitän,“ fuhr er in seinem Gespräch fort, „und hast eine silberne Uhr für dreißig Franken in der Tasche. — Hast du alles ausgetrunken? Vorwärts!“

Er hatte zehn Minuten versäumt und sie mußten nachgeholt werden. Im übrigen hatte er recht, man mußte trinken. Wenn man nur einen Augenblick nachgab, wurde man tödlich seekrank.

Yann holte nun aus einem Kästchen seine berühmte Zitronenessenz, die er in den Kognak träufelte. Die Mischung nannte er Punsch. Dieser Punsch war von unwiderstehlicher Wirkung und gerade das war Yanns Absicht. In der Tat genügte ein Tropfen dieses Elixiers um einen Liter Wasser in eine starke Zitronenlimonade zu verwandeln. Die Essenz stammte aus einem Schiffbruch und war meines Erachtens für die Parfüm- und Seifenfabrikation bestimmt.

Wir stürzten uns abermals in Debatten, wurden laut und hitzig, und behandelten jetzt überhaupt nur noch Gegenstände, von denen wir beide gar nichts verstanden. Aber täuschten wir uns nicht ein wenig, Yann? Sprachen wir nicht so atemlos um die Angst zu verbergen, die tief innen in unserem Herzen nagte? Hatten wir nicht, während wir redeten und sorglos taten, immerfort den einen Gedanken: wenn die Ketten reißen —? Dann begannen wir fürchterlich zu lügen. Auch darin war Yann nicht zu schlagen. Er fing sogleich an zu spurten. Nun war er auf jener Sprosse angelangt, auf der er sich gewählter, kunstvoller und gedrechselter Redewendungen bediente: das ist ganz den Umständen angemessen, das ist von keiner tieferen Bedeutung, primo, secundo. Er erzählte eine schauerliche Geschichte von der „Pacifique“, einem Dreimaster ohne Steuer, ohne Maste, Segel und Wind. Und ohne Nahrung. Sie hatten das Los geworfen und zuerst den Steuermann verzehrt, dann den Küchenjungen, dann —

Da saß Yann mit Tränen in den Augen, während ich mich totlachte. Da mir nicht sofort eine Riesenlüge einfiel, mit der ich ihn niederwerfen hätte können, so fügte Yann eine Erzählung hinzu von chinesischen Seeräubern, die sie in den Molukken geköpft hatten. Zopf hoch, wupp! ins Meer, Zopf hoch, wupp! — Yann saß und köpfte, hahaha! Yann, wie tief bist du gesunken, neulich köpfte dein Onkel, der Korvettenkapitän, und heute köpfst du schon eigenhändig! Selbst der Dampfer lachte, er hüpfte auf und ab vor Vergnügen und auch der Wind schrie vor Lachen — haha!

„Ha,“ sagte ich, „da du gerade von Chinesen erzählst, ich fuhr einmal auf dem Japanischen Meer, und wir hatten zwei chinesische Boys, Hannes und Lehmann, das waren Burschen! Wir kamen in einen Taifun und die Boys gingen buchstäblich an der Decke, als sie die Speisen servierten. Ohne einen Tropfen zu verschütten. An der Decke!“

„Lügner!“ schrie Yann.

Ich lachte. Gerade das war wahr!

„Hehehe!“ lachte Yann wütend. Er war geschlagen, ich hatte ihm etwas Unglaubliches erzählt.

„Hahaha!“ lachte ich, außer mir vor Vergnügen.

Plötzlich schwang sich Yann eine Sprosse höher und auf dieser Sprosse pflegten ihn seine traurigen Erlebnisse einzuholen. Er erzählte mir abermals jene Geschichte von der „Charlotte“, die ihm vier Monate Gefängnis eintrug. „Alle Ungerechtigkeit der Welt hatte sich gegen ihn vereinigt um ihn zu vernichten!“

Die „Charlotte“ war ein Dampfer, der draußen vor Creach auf Grund geriet. Yann fuhr mit dem „Arbeiter“ hinaus um sich die „Charlotte“ anzusehen, die von ihrer Mannschaft verlassen worden war. Als seine Matrosen dieses hübsche Schiff sahen, wurden sie toll. Sie schlugen alles in Stücke und plünderten den Dampfer von oben bis unten aus. Selbst die Messingbeschläge schraubten sie ab. Yann protestierte, fluchte, umsonst. Yann hatte ein gutes Herz, ein zu gutes. Er erstattete keine Anzeige. Aber als er sechs Monate später einen renitenten Matrosen an Land schickte, denunzierte ihn dieser Schuft und gab an, Yann habe sämtliche Schiffsinstrumente gestohlen und eine silberne Teekanne mit Goldeinlage. Die Hunde von Matrosen schworen so viele Meineide als nötig waren Yann das Genick zu brechen. Entlassung und vier Monate Gefängnis!

Ha! Yann lachte höhnische Triller. „Ich! Ein Dieb? Ich??“ Er raufte sich die Haare und brach in Tränen aus. „Ein Dieb! Ich ein Dieb? Meine arme Mutter —!“ (Seine Mutter wurde plötzlich wieder lebendig.)

Hier streckte ich den Kopf aus meiner Muschel — es war mir nämlich seit einiger Zeit, als sause ich in einer spitzigen Zaubermuschel dahin — und sagte: „Du bist ja gänzlich betrunken, Yann!“

Yann mit den treuesten blauen Augen, Yann mit dem Kinderherzen — ein Dieb! O, wie lächerlich, wie absurd! Volldampf! Ich sauste nieder.

Yanns Gemüt aber war bis in die Tiefen aufgewühlt. „Diese Behauptung ist eine infame Verleumdung, unwürdig eines Gentleman!“ sagte er mit feuchtschimmernden Augen im reinsten Französisch, wie man es nur an der Sorbonne zu hören bekommt.

Yann fraß wohl lebendige Crevetten und Spinnen, aber vier Monate Gefängnis kitzelten ihn nicht wenig. Er lief von Pontius zu Pilatus und sogar der Minister geruhte ihm Audienz zu gewähren. Er sah in Yanns strahlende Kinderaugen — und Yann wurde zu einer Geldstrafe begnadigt. Nein, Yann war kein Dieb!

Er genoß die Rechtfertigung, pries die Gerechtigkeit des Ministers und schwor Rache. O, du meine Güte, wie er sich rächen wollte! Ich hörte kaum, was er sagte, denn ich flog in meiner Zaubermuschel über Kontinente und Meere dahin — ah, das war Kioto unter mir, wo sie gerade das Flußfest feierten, ein Gewimmel von Papierlampen, das Miauen der Tänzerinnen — weiter —

Plötzlich hörte ich, daß Yann von Rosseherre sprach. Da saß er und schwärmte. Ah, wie hübsch sie doch war, wenn die Bänder ihrer weißen Haube flatterten! Wenn sie lachte und ihre weißen Zähne blitzten! Eine kleine wilde Katze war sie! „Ich habe gearbeitet und geschuftet, meine Hände sind hart wie Holz, meine Finger haben sich verbogen. Nun will ich Ruhe haben, ein Heim, Kinderchen — o! Ein hübsches Häuschen. Wehe dem, der mir Rosseherre anrührt, hörst du?“

Ja, ich hörte, C’est la guerre, dachte ich, Yann. Heute raube ich dir deine Geliebte, morgen wirst du mir die meine rauben. Frauen wollen noch immer geraubt werden, es gelten keine Verträge, hörst du, Yann?

„Du hast Rosseherre Ringe geschenkt und ein Tuch. Warum hast du das getan? He, sage mir die Wahrheit, war sie bei dir?“

„Hahaha. Yann, Yann! Wie langweilig du bist!“ sagte ich und ich grüßte hinunter, denn ich passierte soeben im Stillen Ozean einen Dampfer — einen der schmalen weißen Siebentausendtonnendampfer der Toyo Kisen Kaisha mit einem Fächer in der Flagge — die Chinesen servierten Tee an Deck und die Damen winkten mir mit den Taschentüchern.

Yann stand auf. „Du bist mein Freund,“ sagte er, „ich gebe mein Leben für dich hin — aber wenn ich es herausbringe — hörst du mich?“ Er knirschte mit den Zähnen.

„Hahaha, Yann, schäme dich, so betrunken zu sein. Ho, wie du aussiehst — du hast einen Kopf wie ein Ballon — so groß — o, Yann, hahaha!“

In diesem Augenblick bäumte sich der „Arbeiter“ auf und die Ankerketten krachten. Der Dampfer schüttelte sich wie ein Fisch an der Angel, dann pendelte er in weitem Bogen.

Yann hatte sich am Tisch festgeklammert. „Da streiten wir uns über ein Frauenzimmer, und unterdessen —!“ flüsterte er erschrocken. Er lauschte. „Die Ketten sind gerissen! Der Dampfer treibt!!“ schrie er und stürzte die Treppe hinauf.

Ich aber sauste gerade über Honolulu dahin, dicht über den Krater des Halewauwau, Haus des ewigen Feuers — die Schwarzen ließen sich auf Brettern in der Brandung treiben und schrien: jiiii!

Nein, der Dampfer trieb nicht, er pendelte, es war nur eine Kette gerissen.

Ich zog mich in meine Muschel zurück und schlief.

Wir trennten uns nicht im besten Einverständnis, Yann und ich. Jean Louis hatte ihm die Sache von dem Segel verraten, und Yann konnte in seiner Betrunkenheit nicht umhin diesen Trumpf gegen mich auszuspielen.

„Jean Louis ist ein alter Idiot,“ sagte ich, „weiß Gott, was in seinem morschen Schädel vor sich geht.“

Aber trotzdem schieden wir nicht als Freunde. Yann sprach sogar davon mich über Bord werfen zu lassen. Yann, mon cher ami, das Kindergemüt. Er war toll von all dem Trinken und seine Augen waren blutunterlaufen und schielten etwas. Nun, ich zog es vor mich freiwillig zu verabschieden.

Yann stand oben auf dem Verdeck und schnellte ganze Stockwerke in die Höhe und dabei wiederholte er mit spöttischem Lächeln ohne Aufhören: „Au revoir et merci, merci!“

Ich lachte noch nach Wochen, wenn ich daran dachte, wie er auf- und abflog und spöttisch sagte: Au revoir et merci, merci!

XX

Als ich an Land kam, sah ich die Luft voll kleiner weißer Teufel mit gespreizten Fledermausflügeln und auch die Erde war bedeckt damit, hier waren sie grau. In ganzen Schwärmen zogen sie hin und her vor meinen Augen.

„Hoho!“ sagte ich. „Poupoul, da haben wir es glücklich, weißt du, was das ist? Das Delirium tremens, mein Sohn.“

Gott sei Dank, Sturmvilla stand noch! Immer noch saß der rasende Gorilla draußen auf den Klippen und trommelte mit den Fäusten auf seinen Bauch. Ich war erschöpft und schlief augenblicklich ein. Nach vielen Stunden erwachte ich wieder. Etwas war geschehen! Die Fledermausteufel waren fort. Ich lauschte. Der Wind weinte im Kamin, das Trommeln des Gorillas hatte aufgehört. Der Sturm ließ nach. Ich trat vor die Türe. Das Meer schäumte und raste und die Dämmerung eines Tages, der nie hell gewesen war, regnete wie dicke graue Asche auf das düstere Chaos herab. Ein farbloser Dampfer rollte draußen im fürchterlichen Seegang, ein großer P. u. O.-Steamer, kaum sichtbar. Diese Dämmerung erfüllte das Herz mit dem Gefühl entsetzlichster Verlassenheit und ich wagte weder zu denken noch zu fühlen. Ich schlief. Dann weckte mich ein bekanntes Pochen.

Es war finstere Nacht. Creachs Lichtgarben wehten in zitternden Wellen, wie feinstes Frauenhaar, durch die dunstige Atmosphäre. Im Norden stand der scharlachrote Widerschein einer Feuersbrunst: das war das Feuer von Stiff, über das dröhnende Meer wälzte sich Rauch.

Aber Rosseherre kam nicht plappernd und mit übermütigen singenden Ausrufen herein, sie war scheu und ängstlich und sprach leise und etwas heiser.

„Ich sah dich heute an Land gehen,“ sagte sie und drückte mir ein Paketchen in die Hand. „Wie finster es bei dir ist.“

„Guten Abend, Rosseherre! Was macht Jean Louis?“

„Jean Louis schläft.“

Ich zündete Feuer an, und nun konnte ich wenigstens Rosseherres weiße Haube und ihre hellen Haare sehen. Sie saß zusammengeduckt auf dem Bett.

„Was ist denn in dem Papier, Rosseherre?“

„Öffne doch.“

Es war ein Klumpen Honig darin.

„Die Schiffe auf dem Meeresgrund brechen auf,“ sagte Rosseherre. „Jean Louis hat eine große Büchse gefunden. Auch einen Ballen Feigen, doch sie waren verdorben.“

Aber Rosseherres Worte wurden von einem leisen Wimmern erstickt. Und plötzlich weinte sie laut und herzzerbrechend, wie ein Bauernmädchen weint, das Kummer hat.

„Rosseherre?“

Rosseherre schüttelte den Kopf und die Tränen sprangen ihr über die Hände und durch die Finger hindurch. „Ich weiß es nicht,“ sagte sie, „aber ich habe Angst. Wenn es stürmt, so bricht mein Herz. Ich muß an Vater denken und an den Tag, da Diaul angehetzt kam. Diaul war Vaters Hund, eine Dogge, so groß wie ein Kalb und ganz wild. Niemand durfte ihn anrühren, nur Vater. Vater besorgte die Post von der Küste herüber. Er hatte ein hübsches Boot, er war ja Pilot. In einem Vierteljahr waren schon zwei Postboote untergegangen und da übernahm Vater die Post. Einmal nun war das Meer hoch, es wehte, aber es war kein Sturm. Da kam Diaul angehetzt. Seht, sagte ich, Vater ist zurück, da haben wir Diaul schon. Er troff von Wasser, aber Vater warf ihn oft ins Wasser, es fiel uns nicht auf. Diaul, willst du nicht Ruhe geben? Er war wie ein Narr, er sprang an mir empor und kläffte. Er war auch gar nicht böse, ich schlug ihn auf die Schnauze, auch das ließ er sich gefallen. Mit einem Male fing ich an zu schreien und ich lachte doch noch. Ich verstand Diaul! Ich verstand auch plötzlich, weshalb vor einer Viertelstunde mein Herz auf einmal stillgestanden war. Denn es war stillgestanden und hatte sich nicht mehr gerührt! Ich lief hinter Diaul her, alle liefen wir hinter ihm her, einer hinter dem andern, quer über die Insel. Und ich war die erste von allen. Da lagen die Trümmer von Vaters schönem Boot in den Klippen und Leichen. Acht Menschen sind ertrunken in der Brandung, auch Vater. Man fand ihn nicht. Nur Diaul konnte sich retten.“

Sie weinte mit zusammengepreßten Augen und Lippen. Ich legte meine Wange an die ihre und schaukelte sie leicht hin und her wie ein Kind. Mein Gesicht wurde naß von ihren Tränen.

„Diaul, mein armer Diaul!“ wimmerte Rosseherre. „Wir hatten ihn so gern. Da irrte er umher und verwilderte und bellte in den Nächten da draußen bei den Klippen, wo das Boot gescheitert war. Dann ging Noel mit seiner Büchse hinaus und ich hörte es knallen und dann kam Noel und sagte: nun ist Diaul tot.“

Rosseherre weinte leise und fuhr fort: „Ich hatte auch einen Bruder. Er hatte einen langen Schnurrbart. Er war ein wilder Mensch und er trank wie alle. Aber er liebte mich. Oft sagte er zu mir: Rosseherre! und klopfte mir auf die Wange. Sie fuhren hinaus zum Fischen und er kam nicht wieder. Und ich hatte den ganzen Tag solch schreckliche Angst! Ich sah ja, sah es ja, wie er über Bord stürzte und sein roter Schnurrbart schwamm auf dem Wasser. Ich ging hinunter zum Hafen und wartete. Ich wußte wohl, Emile kommt nicht wieder, aber ich wartete trotz alledem und betete. Da kam das Boot herein. Der Patron sagte: Rosseherre —? Sonst sagte er nichts. Später sagte er zu mir: der Strom nahm ihn mit sich, sein Schnurrbart schwamm, aber wir konnten ihn nicht mehr einholen. Ich saß und betete für seine Seele, und als es dunkel wurde, kam Jean Louis und sagte: nun, Rosseherre, es wird Nacht.“

Ich wiegte Rosseherre und streichelte sie, so gut ich es konnte. „Weine dich nur aus, kleine Rosseherre, dann wird es besser.“

Der Wind wimmerte leise an der Türe. Er klagte, als fiele ihm etwas Trauriges ein, das er einmal gesehen hatte und nicht vergessen konnte. Das Meer dröhnte wie dumpfer Kanonendonner. Es dröhnte regelmäßig alle zwei Sekunden, und bei jedem Donnern ging ein leises Beben durch Rosseherres Körper.

Sie hob den Kopf. „Hörst du das Meer?“ fragte sie. „Ich werde wohl gehen müssen, denn man weiß nicht, was geschieht. Es gibt Nebel.“

„Was soll denn geschehen?“

„Alles kann geschehen.“

„Alles?“

„Ja, denn ich habe Vater gesehen. Heute am lichten Tag.“

„Deinen Vater?“

„Ja. Er kam zur Türe herein und sagte: heute sollen sie sich in acht nehmen, die da draußen.“

„Die auf dem Meer?“

„Ja!“

Poupoul nieste und Rosseherre erschrak, daß sie aufschrie.

„Aber, Rosseherre?“ sagte ich lächelnd. „Was ist mit dir heute?“

Sie sah mich an. Ihre Augen flackerten im Feuerschein wie die Augen eines Tieres, das voller Angst ist. „Ich weiß es nicht,“ sagte sie und blickte zu Boden, „aber ich habe Angst. All die Tage lang hatte ich schreckliche Angst. So vieles geht mir durch den Kopf und ängstigt mich. Ich denke daran, daß Yann im Meer sterben wird und auch ich, ich auch.“

„Nein, Rosseherre.“

„Vater sagte es mir,“ erwiderte Rosseherre mit einem kleinen verträumten Lächeln. „Schon lange. O, ich weiß, was ich weiß! Es ist auch nicht das schlimmste. Denn dann kann ich vielleicht mit Vater und Bruder da drunten sein, wo du sie einmal gesehen hast.“

„Rosseherre, das war doch ein einfältiger Traum. Ich hatte so viel getrunken auf Kedrils Hochzeit.“

„Ja, ja.“ Rosseherre lächelte ungläubig und blickte vor sich hin. Dann lachte sie leise. „Nein, das eine ist gut, Jean Louis kann das Meer nichts tun. Großvater ist gefeit.“ Sie schüttelte die Haare vor Freude. Ihre Wangen waren heiß und ihre Augen glänzten. Sonderbar war sie heute.

Nun roch auch ich den Nebel. Er roch wie Jod. Da begann Creach zu brüllen, fern und dumpf, und ich sah ihn vor mir, eingepackt in undurchdringliche Nebelballen.

Rosseherre erbebte. Sie zog die Brauen in die Höhe und lauschte angestrengt auf das Brüllen des Nebelhorns, das übers Meer rollte und in einem fernen Grollen unterging.

„Ich muß nun doch gehen,“ sagte sie voller Angst.

Aber ich überredete sie zu bleiben. „Wir werden ein großes Feuer anzünden, Rosseherre, etwas Grog wollen wir kochen, und dann werde ich dir eine kleine Geschichte erzählen, warte nur. Du zitterst ja so, weil es kalt ist hier. Poupoul, geh aus dem Weg! Du wirst sehen, wie hübsch es hier wird!“

Ich verbrannte meine englische Zeitung und dann riß ich die Schublade meines kleinen Tisches in Stücke und warf sie ins Feuer. Auch der kleine Tisch würde wohl bald an die Reihe kommen, es ging nicht anders. Während ich den Grog braute, erzählte ich Rosseherre ein kleines lustiges Erlebnis und als ich verstohlen zu ihr hinblickte, sah ich, daß sie lächelte. Poupoul, der seine Leute kannte, saß vor ihr und klopfte mit dem Schwanz. Auch er gab sich Mühe Rosseherre auf andere Gedanken zu bringen.

„Ist es nicht schon hübscher bei uns, wie, Rosseherre?“

„Ja!“ Rosseherre nickte und sah ohne Blick vor sich hin. Sie schlürfte den heißen Grog durch ein Stückchen Zucker, das sie hinter den Zähnen hielt. Ihr Gesicht glänzte im Feuerschein, noch naß von Tränen, ihre gelben Haare flimmerten als ob die Sonne darauf schien. „Nun habe ich keine so große Angst mehr,“ sagte sie und holte tief Atem, „aber zuweilen möchte ich sterben vor Angst. Das Meer ruft mir. Gesichter erscheinen im Meer. Einmal sah ich den Bruder auf einer Klippe sitzen. Er kam mit einer Welle herauf und da saß er und sah mich an. Aber da schrie ich vor Angst und er tauchte mit der Welle hinab. Einmal, als es stürmte, ging ich abends an den Klippen entlang. Da lag ein Stein. Aber plötzlich stand der Stein auf und es war ein alter Mann mit langen grauen Haaren. Er stand ganz ruhig und sah mich an und aus seinen Augen fuhr Feuer — da lief ich davon und fürchtete mich eine ganze Woche lang. In den letzten Tagen aber hielt ich es nicht mehr aus. Nun, sagte ich, es wird das beste sein, du springst hinab, die gebenedeite Jungfrau wird dir vergeben. Ich ging nach Stiff, wo die Klippen steil abfallen. Da weinte ich und betete und bat die gebenedeite Jungfrau die große Sünde von mir zu nehmen. Aber als ich es tun wollte — was meinst du? Da saß Vater am Rande der Klippen, die Pfeife im Mund, genau so wie ich ihn immer vor mir sehe. Er sah mich nicht an, aber er saß da. Er versperrte mir den Weg.“ Merkwürdig lächelte Rosseherre, als sie das sagte.

Und ich dachte, sonderbare Dinge gehen in deinem kleinen Kopf vor, Rosseherre! Sonderbare Dinge!

Es schien Rosseherre zu erleichtern, wenn sie von Vater und Bruder sprechen konnte. Ich ließ sie gewähren. Und sie erzählte mir alles aus ihrem jungen Leben und was Jean Louis ihr von Eltern und Großeltern berichtet hatte. Die meisten waren ertrunken. Und wie merkwürdig war es doch: keinen hatte das Meer zurückgegeben, keinen einzigen. Sonderbar war der Tod ihres Großvaters. Er fuhr nach Molen. Das Meer war glatt wie Öl. Er kam nie an, kein Span seines Bootes fand sich, nichts —

„Nichts fand sich, Rosseherre?“

„Nichts!“ Und Rosseherre lächelte sonderbar und fügte geheimnisvoll hinzu: „Sie haben ihn hinabgezogen!“

Dann versank sie in Grübeleien.

Creach brüllte dumpf und Rosseherre zitterte am ganzen Körper.

Ich erzählte ihr von den fernen Ländern, die ich gesehen hatte und wie merkwürdig die Leute dort waren. Sie hatten vielhundertjährige Schildkröten, mit Edelsteinen und Schmuck besetzt, und beteten sie an. Und sie hatten Götter, klein wie ein Däumling und wiederum groß wie der Phare von Creach.

Rosseherre hatte kaum zugehört, nun aber lächelte sie. „Das sind Heiden, meiner Treu!“

Dann mußte ich ihr von Paris erzählen. Von Paris konnte sie nicht genug hören. Sie wollte wissen, was ein Diner kostete und wieviel sie im Hotel für ein Zimmer verlangten. O, Diaul, wie unverschämt sie doch waren! Rosseherre lachte und doch zitterte sie dabei.

„Vielleicht gehen wir einmal zusammen nach Paris. Rosseherre?“

Sie sah mich mit großen Augen an. „Nach Paris?“

„Ja, weshalb nicht? Jeden Tag können wir fahren.“

Rosseherre lächelte und schüttelte den Kopf. „Paris? Es ist so weit, nie werde ich Paris sehen!“

Sie blieb lange still und teilnahmslos, ich konnte sagen, was ich wollte. Sie lauschte unausgesetzt. Einmal sagte sie: „Man hört Creach nicht mehr so laut, wie dicht der Nebel wird!“

Dann streichelte sie ganz mechanisch meine Hand. Sie sprach kein Wort. Sie kniete sich zu meinen Füßen auf den Boden nieder, legte das Gesicht auf meine Füße und umschlang sie mit den Armen, und so lag sie, ohne sich zu rühren. Das tat sie oft und ich wehrte es ihr nicht. All ihre Zärtlichkeit und Ergebenheit drückte sie damit aus.

Sie war nur ein Kind, das weder Vater noch Mutter hatte.

Lange verharrte sie so, und endlich hörte ich, daß sie schlief.

Ich wartete eine Weile, dann hob ich sie aufs Bett. Sie öffnete die Augen, sah mich an ohne mich zu erkennen und schlief weiter. Zuweilen plapperte sie im Traum, aber ich verstand nicht was sie sagte, denn sie sprach Bretonisch.

Was träumte Rosseherre?

Ich saß und rauchte die Pfeife und sah zu, wie sie atmete. Vielleicht träumte sie, sie saß bei den Klippen und alle kamen sie aus dem Meer und plauderten freundlich mit ihr und niemand sah es?

An der Türe rauchte es. Durch mein kleines Fenster blickte ein vergrämtes Gesicht. Der Nebel. Ich warf Holz aufs Feuer, denn sie sollte nicht frieren. Eine Stunde verging, zwei Stunden. Alle drei Minuten erschütterte Creach mit seinem Brüllen die Luft, und der Sand rieselte in meinen Wänden. Creach brüllte immer zweimal nacheinander. Zuerst wie ein wildes Tier, das gereizt auffährt und wütend angreift, dann als ob es sich verwundet zurückziehe und schmerzlich röchele. Eine Ewigkeit sind drei Minuten, wenn man wartet. Creach hat nun zehnmal gebrüllt, eine halbe Stunde ist vergangen.

Rosseherre redete unruhig und angstvoll. Träumte sie, daß sie alle draußen vorübersegelten und ihr winkten, sie aber konnte nicht hinauskommen, denn das Meer war ja zwischen ihnen?

Plötzlich setzte sie sich auf und starrte mich an.

„Nebel, Rosseherre, schlafe.“

Und sofort schlief sie wieder ein. Ich suchte meine dünne silberne Kette hervor und legte sie ihr auf die Brust. Wenn sie nun wieder erwachte, sollte sie sie finden.

Der Nebel wurde von Minute zu Minute dichter. Creach brüllte nicht mehr. Er grollte wie ein zu Tode verwundetes Tier, das elend zurückgeschlagen sich im Versteck die Wunden leckt und knurrt und röchelt. Das Meer donnerte lauter in den Klippen und die Brandung in der Bai dröhnte, als ob alle zwei Sekunden eine Häuserreihe einstürzte. Die Flut kam zurück. Aber hier bei unserem verglimmenden Feuer war es totenstill. Zuweilen kamen feine, komische Geräusche aus Rosseherres Nase. Ein kleiner Falter, den die Wärme geweckt hatte, schwirrte an der Decke, eine schwarze Spinne wanderte ohne Lärm zu machen die Wand hinauf.

Tief und gleichmäßig gingen Rosseherres Atemzüge. Ich legte das Ohr an ihre Brust. Es rauschte, es atmete. Wie das Meer, wenn die Ebbe nahe ist.

Und was ist das Atmen der Menschen anders, frage ich, als das Atmen des Meeres, aus dem sie kamen?

Rosseherres Atemzüge verbreiteten Stille und Frieden, ja eine Art Heiligkeit. Eine sonderbare Scheu ergriff mich vor dem Stück Leben, das hier bei mir war. Scheu vor deiner Jugend, Rosseherre, deinen schönen Haaren und weißen Zähnen und all dem Leid in deinem kleinen Herzen. Ich kenne dich nicht.

Ich bewegte mich lautlos und wagte kaum zu atmen. Dann setzte ich mich vor das Feuer und dachte an viele Dinge, die längst vergangen waren. Vergangen! Gott sei gelobt! Gesegnet sei das Gesetz der Vergänglichkeit, das die Tage neu macht.

Gesegnet sei auch eure Unbeständigkeit, ihr Freunde und Frauen, die ihr mich so jämmerlich belogen und betrogen habt — es gibt vier Wände und es gibt vier Himmelsgegenden, was ist dir lieber?

Wie lange ich so saß, weiß ich nicht, denn vieles ging mir durch den Sinn. Dann aber weckte mich ein feines Rieseln. Die kleine Kette war auf den Boden herabgeglitten.

Rosseherre saß, aufrecht und lauschte. Ohne Laut hatte sie sich aufgerichtet. Ihre Augen waren ohne jeden Blick. Sie lauschte, mit jeder Fiber und all den tausend Ohren ihres Körpers lauschte sie. Ihre Wangen waren gerötet vom Schlaf, aber plötzlich wurden sie schneeweiß.

„Rosseherre?“

Rosseherre bebte. Sie flüsterte ein paar hastige Worte, aber ich verstand sie nicht.

„Sprich Französisch, Rosseherre!“ Aber merkwürdig, ich wagte es nicht aufzustehen und zu ihr zu gehen.

„Horch doch!“ sagte sie.

Ich lauschte. Das Meer. Creach röchelte in der Ferne, Poupoul saß an der Tür und sah mich fragend an; auch er hörte nichts.

Aber Rosseherre zitterte am ganzen Körper als ob sie friere, und schrecklich blaß sah sie aus. Ich stand auf, doch sie machte mir ein Zeichen mit der Hand.

Sie lächelte krank.

„Sie haben den Weg verloren,“ sagte sie ohne Stimme.

Was sagte sie?

„Wach auf, Rosseherre!“

Da blickte sie mich an und ihre Augen waren geschmolzen von einer grauenhaften Angst, die Pupillen unnatürlich geweitet.

Was war das? Das war ja —

„Gehe hinaus,“ flüsterte sie, geschüttelt vom Fieber.

„Beruhige dich,“ sagte ich, „ich will hinausgehen.“

Der Nebel wälzte sich augenblicklich herein wie ein Gespenst, das vor der Türe gelauert hatte. Das Meer donnerte ehern und Creach grollte im Herzen der undurchdringlichen Nebelnacht. Ich lauschte. Ein dumpfer Hammer schlug in meiner Brust. Die Angst, die von Rosseherre ausströmte, hatte auch mich ergriffen. Ich ging ein paar Schritte um mich zurecht zu finden, schüttelte den Kopf und kehrte zur Türe zurück. Aber als ich die Türe zuziehen wollte, hielt ich plötzlich inne. Was war es? Meine Füße klebten am Boden und wurden bleiern, meine Fingerspitzen erstarrten, meine Hände, meine Arme, ich wurde ganz steif, die Haut spannte sich kalt über mein Gesicht und meine Haare stellten sich büschelweise in die Höhe:

Da draußen — tutete es ja —

O, jaja, ich hörte deutlich das hohle, dumpfe Tuten eines Dampfers durch das Toben der Brandung hindurch. Es brach ab. Aber gerade als ich aufatmen wollte, kehrte es wieder. Mir schwindelte. Ich legte mich nach vorn und machte mich ganz Ohr, und mein Ohr saugte wie ein riesiger Schalltrichter dieses Tuten in sich. Nun begann auch eine Pfeife in der Ferne zu schrillen — als ob ein großes wildes Tier und sein Junges zusammen um Hilfe schrien.

Da schlug Poupoul an. Kein Zweifel. Und ich taumelte betäubt ein paar Schritte in den Nebel hinein. Rosseherre glitt an mir vorüber. Sie lief klappernd und schrie: „Naufrage, naufrage!“ Dann hörte ich nicht mehr, was sie rief, aber ihre hohe Stimme schwang im Nebel.

Nein! Nein! Nein! Ich faßte mit den Fäusten in meine gesträubten Haare und schüttelte den Kopf hin und her. Nein! Das alles ist ein furchtbarer Alp, ein entsetzlicher Zauber — niemand kann durch den Nebel sehen, was man nicht sehen kann, niemand in der Welt. Die Woge dröhnte, die Welle lief zornig gegen mich an und der Gischt kräuselte an mir empor. Horch! Ja, trotz des irrsinnigen Zähneklapperns, das mich befallen hatte, hörte ich es: es tutete, pfiff, die beiden Stimmen da draußen im Nebel riefen noch immer. Dann verstummte das Tuten plötzlich und die Pfeife brach mit einem kläglichen Winseln ab.

Ich machte meine Stimme stark und schrie hinein in den Nebel: „Hallo? Hal — lo — —?“ Eine Gischtpeitsche schlug mich übers Gesicht. So lächerlich war es zu rufen.

Da vernahm ich das zischende Ausströmen von Dampf und ein fernes Dröhnen, als ob Eisen genietet würde. Dann schien es mir, als hörte ich das ferne Geschrei einer Menge Menschen. Und nun war es still. Das Meer schlug, die Brandung donnerte, Creach grollte in der Ferne.

Ich lief ins Dorf. „Ein Dampfer ist gescheitert!“ schrie ich. „Ein Dampfer ist gescheitert!“ Ich war sinnlos vor Erregung und das Wasser sprang mir aus den Augen, daß ich erblindete.

XXI

Die Glocken begannen im Nebel zu bellen wie kleine Hunde, die im Schlafe gestört wurden.

Das Dorf schlief noch. Aber da und dort rührte es sich schon, Holzschuhe klapperten, Fenster erhellten sich, Stimmen kamen aus dem Nebel. Am Hafen unten schloß der Maire den Schuppen auf, in dem sich das Rettungsboot befand. Der Nebel war so dicht, daß man keinen Menschen sah, bevor man ihn anrannte, und wenn man mit jemand sprach, so zerfloß sein Gesicht in Schleiern.

Zurufe, Flüche, Durcheinander. Ein Seil schleifte am Boden und unsichtbare Hände zogen es straff. Ich griff zwischen ein paar Fäuste hinein und zog an. Räder knarrten und das Rettungsboot erschien gespensterhaft hoch und lang auf dem Wagen. Schatten warfen sich in die Radspeichen und eine Kette von Schatten hielt den Wagen hinten am Seil fest, damit er nicht zu rasch den Steig hinabrollte. Wie ein schwerfälliges, hundertfüßiges Ungeheuer aus der Vorzeit bewegte sich das Boot zum Meer hinab und die Welle spritzte gegen seinen Bauch.

„Vorwärts!“ schrie ich. Da draußen warteten sie —

„Wir müssen warten, bis es Tag wird! Man sieht ja nicht die Hand vor den Augen!“

„Wo ist Kedril? He, Kedril, Pilot, dein Tag ist gekommen. Das ist eine Arbeit für dich. Ich zeige dir, wo der Dampfer liegt.“

„Mein Freund,“ antwortete Kedril, „nicht für tausend Franken könnte ich das Boot hinausbringen. Bei diesem Meer! Wir müssen auf die Ebbe warten.“

„Wenn du es auch sagst, Kedril!“ Ich war entmutigt, ich ging.

Im Dorf rannte ich gegen Noel, der sich ganz in geöltes Leder verpackt hatte und ein Fernrohr in der Hand trug.

„Nun,“ rief er mir zu, „habe ich es Ihnen nicht gesagt, als Sie Sturmvilla mieteten, alle Schiffbrüche vollziehen sich dicht vor Ihren Augen — haha!“

Ich gab ihm keine Antwort. Ich lief nach Sturmvilla zurück. Nichts war als Nebel, das Branden des Meeres und alle drei Minuten grollte Creach in der Ferne wie ein todwundes Tier.

Etwas scharrte zwischen den Klippen. Es war Jean Louis. „Ein Dampfer ging in die Klippen — hühü!“ sagte er und lachte idiotisch. „Rosseherre war wieder die erste —“

„Was kann man tun?“ fragte ich.

„Was man tun kann? Nichts. Hühü! Die Klippen sind wie Messer da draußen. Sie fahren alle an derselben Stelle auf. Sie werden vom Strom abgetrieben und hören Creach erst, wenn sie festsitzen.“ Er trappelte hin und her und spähte auf den Boden. Eine Gruppe von Fischern, Frauen und Kindern sammelte sich an, und alle spähten sie auf die ankommende Welle mit vorgeneigten Köpfen und gierigen Augen. Sie waren die Abkömmlinge von Seeräubern und ihr Herz hatte das Meer gehärtet. Was war ein Schiffbruch für sie? Es hatte Nächte gegeben, da drei Schiffe scheiterten, und wiederum hatte man in drei Nächten nacheinander die Sturmglocken geläutet.

Etwas Dunkles trieb ans Land und alle stürzten sich gleichzeitig darauf. Es war das Wrack eines kleinen, schwarzen Bootes. Wie ein zertrümmerter Brustkorb. Dann wichen sie plötzlich alle zurück: mitten in der Welle stand ein Mensch, der von Wasser troff und die Arme nach ihnen ausstreckte. Er fiel vornüber und die Woge trug ihn ans Land und legte ihn schweigend nieder. Die nächste Welle fuhr über ihn hin und er bewegte sich, als ob er sich aufsetzen wolle. Dann zogen Jean Louis und ich ihn weiter aufs Land.

Er lag mit offenen Augen da, als ob er sehr erschrocken wäre, und lächelte mit geöffneten Lippen, daß man die Zähne unter seinem kleinen dünnen Schnurrbart sah. An der rechten Schläfe hatte er eine schwarze Schramme. Er war tot.

Die Fischer standen um ihn im Kreise. Jean Louis nahm die Mütze ab und schlug das Kreuz. Alle folgten seinem Beispiel. Creach knurrte in der Ferne, während sie das Gebet murmelten.

„Hier liegt er jetzt!“

„Es ist rasch gegangen mit ihm. Das Meer warf ihn gegen einen Felsen.“

Ein kleines Mädchen sagte leise und lachte vor Angst dazu: „Vater, er lacht ja!“

„Nun beruhige dich, alle Toten lachen.“

„Ein junger Mensch ist er.“

„Zweiundzwanzig.“

Das kleine Mädchen sagte und wieder lachte sie etwas: „Vater, er sieht mich an!“

„Alle Toten sehen dich an, beruhige dich!“

Dann durchsuchten sie ihm die Taschen. Aber der Tote besaß nichts. Eine Pfeife, ein Messer, ein rotes Taschentuch. In der Brusttasche seines kurzen Kittels fand sich ein Brief.

„Ein Brief!“

Ich zündete ein Streichholz an.

„Er heißt — wartet — er heißt Joe Gordon, der Dampfer heißt Indiana und kommt von Kapstadt.“

„Joe Gordon — Indiana —“

„Willst du die Streichhölzer nehmen?“

Der Brief war zerweicht und schwer leserlich. Er lautete ungefähr: „Dear Joe, wenn du nach Liverpool kommst, so besuche mich. Fahre nicht gleich wieder weg, wie das letztemal. Ich bin krank und mein Fuß tut mir weh. Ich gehe nicht mehr aus und warte auf dich. Das Leben ist recht elend, wenn einen die Kinder ganz vergessen. Deine alte Mutter.“

„Das Marineamt wird ihr eine Depesche senden.“

„Joe wird nicht kommen. Und sie ist alt und krank, hm.“

Da war auch plötzlich Rosseherre wieder da. Sie drängte die Leute zur Seite und schrie und warf sich weinend über den Toten. Sie sprach mit ihm, sie nannte ihn „mon cœur“, „mon petit“ und schluchzte herzzerreißend.

Ich ertrug es nicht länger, ich ging.

— — — — — — — —

„Vorwärts!“ schrie ich. „Worauf wartet ihr denn noch?!“

Es war Tag. Das Rettungsboot sah wie ein Phantom im bleichen Nebel aus, unnatürlich hoch und lang, und die Welle leckte seinen weißen Bauch.

Gesichter gingen im Rauch. „Wir können unmöglich fahren.“

„Hunde seid ihr, wenn ihr nicht fahrt.“

„Aber das Meer ist schrecklich, wir kommen nicht zur Bai hinaus!“

Ich zitterte vor Erregung. Ich bot meine ganze Überredungsgabe auf. Aber sie blieben kalt und ruhig.

„Da draußen sind sie!“

„Hier sind unsere Frauen und Kinder.“

Chikel hatte morgens um fünf Uhr die Bar geöffnet und eine Lampe angezündet. Vielleicht ging es so! Ich ging umher und goß den Fischern ein. Sie hatten keine Phantasie. Sie sahen nicht, wie sie da draußen auf dem Wrack saßen, sich festklammerten und hofften, ah, pfui!

„Aber ihr müßt fahren!“ sagte ich. „Das bißchen Meer, was für Leute seid ihr doch! Ich kenne euch nun so lange!“

Die Fischer rekelten sich.

„Unmöglich!“

„In die Hölle mit euch!“

Ich ging. Ich bebte vor Zorn.

Nebel. Dick und häßlich gelb, wie Eiter. Creach grollte alle drei Minuten, das Meer schlug.

Bei den Klippen standen die Fischer und lauerten auf alles, was geschwommen kam. Zerschmetterte Leichname trieben ans Land. Am Vormittag zählte man sieben, am Abend dreizehn. Der Nebel aber stand wie eine Mauer.

Creach brüllte die ganze Nacht. Am nächsten Morgen war der Nebel dünner geworden, und plötzlich unterschied man im Düster draußen den Dampfer. Er lag schräg, sein Achterdeck stand über Wasser und bei jeder Woge stieg ein Turm von Gischt daran in die Höhe. In den Tauwänden hing etwas wie graue Flocken, das waren Menschen. Der Nebel zog und wir sahen sie nicht mehr.

Um zwei Uhr aber, zur Zeit der Ebbe, fuhr Yann hinaus.

Hoch Yann, und dreimal hoch!

Ja, plötzlich regte es sich auf dem „Arbeiter“, der draußen im Nebel inmitten der Sturzseen tanzte. Die Ankerwinde rasselte. Wir sahen einander an. Wie? Es zischte und aus dem Kamin quoll eine dicke Rauchwolke, die den „Arbeiter“ in graue Nebelballen einpackte. „Der kleine Kapitän marschiert!“ Ja, natürlich marschiert er! Das war Yann, der wie ein Mädchen weinte, wenn er betrunken war. Nun aber zeigte es sich, was in ihm steckte! Er hatte lange genug gewartet und nun ging er los und war nicht mehr zu halten. Entweder — oder. Gewiß hatte er die Zähne gezeigt, als seine Mannschaft zögerte. Eine Stunde lang rasselte die Ankerwinde, stoß- und ruckweise, der Anker saß fest. Plötzlich aber hörten wir etwas, ein fürchterliches Gebrüll — trotz der Entfernung. Das war Yann. Gleichzeitig bewegte sich der Nebeldampfer. Er fuhr rückwärts! „O, lala!“ sagte Noel. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine und stürzte kopfüber hinab, rollte und ging vorwärts. Wir sprachen kein Wort. Nur, da wir lange zusahen, wie sich Yann Zoll um Zoll den Weg erkämpfte, sagte einer: „Wenn die Maschine es aushält —!“ Wir warteten stundenlang auf demselben Fleck und spähten in den Nebel hinein. So oft wir Yann tuten hörten, sahen wir einander an und regten uns.

Yann kehrte mit acht Schiffbrüchigen zurück. Es war ihm gelungen, ein Seil zu werfen, über das sie an Bord klettern konnten. Am nächsten Morgen ging das Rettungsboot hinaus und holte die zehn übrigen. Nun waren sie alle gerettet bis auf einen, einen Neger, einen Stoker, der sich nicht über das Seil wagte.

Man sah ihn den ganzen Tag über oben auf dem Mast hocken wie einen kleinen dunklen Klumpen. Der Nebel zog und verbarg ihn, der Nebel wurde dünner, und immer noch saß der Neger da. Der Mast hatte sich geneigt und ragte nur noch zum vierten Teil aus dem Wasser. Gegen Abend ging das Rettungsboot nochmals hinaus und fuhr so nahe wie möglich an den Mast heran. Gespenstisch wie der Fliegende Holländer tanzte das Boot im Nebel. Aber der Neger rührte sich nicht vom Platze. Am andern Morgen hatte sich die Mastspitze bis aufs Meer herabgesenkt. Das Spritzwasser ging über den Neger hin. Wieder fuhr das Boot hinaus, aber der Neger rührte sich nicht. Er hockte da und heulte. Er hatte den Verstand verloren. Am Abend, als sich der Nebel auf Augenblicke lichtete, war die Mastspitze leer.

Man grub eine Reihe Gräber in der Heide. Alle Fischer standen mit der Mütze in der Hand. Auch ich. Der Priester sprach, und der Totengräber spritzte in gleichen Zwischenräumen den Tabaksaft durch die Zähne ins Grab hinab.

Und nun erschien auch ein Fleckchen blauer Himmel zwischen den Nebelbänken.

In den Klippen aber saß ganz allein Rosseherre und starrte aufs Meer hinaus. Die winzige Mastspitze war gesunken. Von der „Indiana“ war nichts mehr zu sehen.

Ich ging nahe an Rosseherre vorbei. Sie sang leise mit einer hohen, weinenden Stimme wie der Wind und wiegte den Kopf dabei.

Ich sah über die Insel: sie kam mir schrecklich vor.

XXII

Ich saß auf einem Stein in der Heide. Die Sonne schien. Ich rauchte. Die Heide war braun und gelb, aber an einer Stelle hatte sie eine frische Narbe — dort lagen sie. So oft mein Blick auf die frische Narbe fiel, dachte ich: dort liegen sie, dort liegt auch Joe Gordon mit der gespaltenen Schläfe und dem kleinen Schnurrbart —

Einige Tage lang mußte ich immer wieder dasselbe denken. Es lag etwas wie süßer Leichengeruch in der Luft. Dann aber gelangte ich dahin, die frische Narbe in der Heide mit den rechten Augen zu betrachten: ja, da lagen sie und sie waren glücklich zu preisen! Eines herrlichen, wilden Todes waren sie gestorben. Ihr Götter da droben, laßt mich sterben wie sie! Schleudert Felsblöcke nach mir oder Donnerkeile, in einem Eisenbahnzusammenstoß vernichtet mich oder auf wildem Meer, einerlei, aber laßt mich nicht im Bett sterben wie ein altes Weib, darum möchte ich bitten.

Ich sah nicht mehr auf die frische Narbe in der Heide — eine Art Betäubung hatte sich auf meine Sinne gelegt gehabt, nun war sie vorüber — ich ließ meine kleine Flöte hell über die Heide klingen: es war der Tod, nichts sonst, heute bist du es und morgen bin ich es. Unser ist das Leben, sela!

An diesem Tage fand ich draußen bei den Klippen einen halben Mast. Vielleicht war es jene Spitze, an der sich der Schwarze festgeklammert hatte? Ich holte die Axt und begann zu arbeiten. Ich griff den Mast an verschiedenen Stellen an. Er klang so eigentümlich: er war ein Teil von der Leiche eines Dampfers. Die Splitter flogen. Sie leuchteten in der Sonne, sie begannen zu brennen. Ich stand inmitten eines großen blendenden Feuers.

Ein paar Fischer kamen mit Äxten und Sägen. Da standen sie und sahen mir zu.

„Schönes Holz hast du gefunden!“

„Ja, es ist trocken.“

„Es wird einen tüchtigen Haufen geben!“

„Der Winter ist lang.“

Ich schien nicht auszusehen wie ein Mann, der mit einer Axt in der Hand einen Mast im Stich läßt, und sie gingen wieder.

Meine Axt blitzte und der Schweiß rann mir übers Gesicht.

Die großen atmosphärischen Differenzen hatten sich ausgeglichen und die Luft war rein und durchsichtig wie eine Linse. Man sah die fernsten Klippen, um die das Meer spielte, jede Ritze, alles war nahe und scharf. Meine Axt hallte laut wider, und wenn ich pfiff, so klang es fast wie eine Flöte. Der Himmel blendete und das Meer war flüssiges Silber. Da und dort blitzte ein Streifen wie ein Schnitt. Die Dampfer zogen ruhig vorbei und ihr Kielwasser stand meilenweit hinter ihnen wie eine Straße.

Der Strand war bedeckt mit grellrotem und grellgrünem Salat, mit großen Röhren und Klumpen. Wie Lungen und Eingeweide, die das Meer ausgespien hatte, sahen sie aus. Ganze Wälle von starkriechendem Tang säumten den Strand, von Millionen von Insekten und Stechfliegen bevölkert. Ging man vorbei, so prasselte und knisterte es, als begännen die Wälle zu brennen. Das Leben kommt, wo Schmutz und Wärme ist.

So oft ich über die Insel blickte, konnte ich nicht umhin verächtlich zu lächeln. Wie sonnig und friedfertig sie aussah. Sie dachte nicht mehr an die „Indiana“, die da draußen lag mit all den Kupferbarren im Leib. Sie hatte all die Dampfer vergessen, die sich an den Klippen die Nase einstießen, zurückfuhren und sanken, und all die Segler, die im Sturm angeritten kamen und ihr in die Zähne rannten. Sie hatte auch jenen Dampfer der Union Castle Line vergessen — damals starben zweihundertundzwanzig Menschen. Sie hatte all jene Leichen vergessen, die einzeln angetrieben wurden, und niemand wußte, woher sie kamen und wie sie hießen. Genug. Sie dachte auch nicht mehr an jene vierundzwanzig Schiffbrüchigen, die eines Tages in einem kleinen Boot ankamen und die sie mit der sicheren Rettung vor Augen zerschmetterte. Genug, genug!

Sie lag und lächelte und blinzelte zuweilen aufs Meer hinaus, eingehüllt in Sonnenschleier. Wie eine jener Frauen war sie, deren Wangen zart wie junge Rosenblätter sind und die fünfundzwanzig Männer ruiniert haben — du aber gehst an ihnen vorbei und schlägst das Kreuz und sprichst: Heilige Unschuld, sie war die Mutter Gottes oder wenigstens eine ihrer nächsten Verwandten —

Ich lachte: Gott, der Herr, sende sie mir in den Weg —

Am vierten Tage war der Mast in Sturmvilla verstaut. Einen großen Stoß mußte ich noch vor der Tür aufstapeln. Da lag er nun, der so viele Seemeilen weit gewandert war und noch immer strömte er die Sonne ferner Meere aus und den Geruch fremder Küsten. So oft ich ein Scheit verbrannte, sah ich merkwürdige Dinge: Papageien und Affen, die sich an den Schwänzen schwangen, pechschwarze Negerweiber — und einen Dampfer, der über das öde Meer in wolkigen Mondnächten zog, und seine Masten wanderten still und stolz dahin.

XXIII

Von Rosseherre sah ich all die Tage nichts. Und um die Wahrheit zu sagen, ich sehnte mich auch nicht nach ihr. Zu meinem größten Erstaunen machte ich die Entdeckung, daß eine Veränderung mit mir vorgegangen war. Mein Herz schlug in einem andern Takt, meine Gedanken hatten einen andern Kurs, genommen. Ich betrachtete die ganze Welt unter einem andern Winkel, mehr von der Seite, wenn ich so sagen darf. Die großen Stürme waren schuld daran. Sie hatten meine Seele blank- und glattgeschliffen und alles weggefegt. Wenn ich zurückblickte, so schüttelte ich voll Verwunderung den Kopf: wie viele Monate waren doch seit den großen Stürmen und dem Schiffbruch der „Indiana“ vergangen? Alles lag weit dahinten, blaß und fern. Der Sturm hatte mich in Schwung gebracht und ich konstatierte mit großer Genugtuung, daß meine Seele mit all ihren Knoten dahinsegelte und die Dinge überholte. Ich blickte geradeaus: mochte kommen, was da wollte, es sollte mir willkommen sein — —

Jean Louis erzählte mir beim Fischen draußen, daß Rosseherre lache und schreie und einen der schwersten Anfälle von Gemütsstörung habe. Sie tat mir leid, sonst fühlte ich nichts. Dann erfuhr ich, daß es ihr um vieles besser gehe, das freute mich.

Ich dachte zuweilen an ihre verliebte Trunkenheit und die maßlose Leidenschaft, die in ihrem kleinen braunen Körper hauste — aber wenn du jetzt kommst, Rosseherre, so werde ich sagen: guten Tag und wie geht’s, sonst nichts. Ja, wenn die Königin von Honolulu kommt, von der man behauptet, daß sie alle Frauen an Liebreiz übertrifft, so werde ich sagen: guten Abend, gnädige Frau, und mein Pfeifenrohr ausblasen: fff —

Das war das Meer, nichts sonst. Ich habe Seeleute gekannt, die von heute auf morgen eine funkelnagelneue Seele bekamen und alles mit einer unverständlichen Naivität hinter sich ließen, Schulden, Versprechungen, Gewissensbisse — ja, nun verstand ich sie.

Meine Vergangenheit war wie weggeblasen und ich saß auf dem Strich zwischen Vergangenheit und Zukunft und freute mich.

Ich war nicht so töricht mir sofort wieder eine Vergangenheit anzuschaffen. Nein, ich genoß diesen wunderbaren Zustand, mit einem neugeborenen Herzen einherzugehen, in vollen Zügen. Ich lebte allein und der Herr sandte mir Erleuchtungen.

Ich legte bei den Klippen die Angel aus. Denn es hungerte uns fürchterlich, Poupoul und mich. Auf den Klippen gab es kleine Tümpel, die mit hohlem gelbem Eis bedeckt waren. Das war das Salz von den Stürmen. Hier außen hielten sich wenig Fische auf und oft mußte ich stundenlang warten, bis etwas anbiß. Da saß ich nun und das Meer schlug und die Gedanken wanderten in meinem Kopfe. Bum! In meinem Kopfe fiel ein Schuß: ah, ich war auf der Jagd in Nordgrönland und schoß Eisbären. Die Atemzüge des Meeres wurden schwächer, ich hörte es, auch wenn ich nicht darauf achtete. Die Riffe draußen wuchsen, sie schoben sich langsam aus dem Meer. Wie der Rachen eines Nilpferds, der sich allmählich aus dem Wasser hebt und Schlamm und Unrat triefen aus seinen Zahnstumpen, so hob sich das Gestade in die Höhe. Es rieselte wie im Frühling in den Wäldern. Überall stürzten schäumende Kaskaden ins Meer. Das Rieseln verstummte, es tropfte, es wurde ganz still. Die Welle schlepperte wie kleine Katzen und tändelte mit den Klippen.

Ebbe.

Die Möwen schwirrten und schrillten. Ströme von süßlichem Duft stiegen aus dem bloßgelegten Schoß des Meeres empor. Ich ging hinunter, denn ich mußte mitten im mütterlichen Geruch des Meeres stehen. Die schwül dampfenden Klippen waren bedeckt mit harten gerippten Muscheln und purpurnen, gallertartigen Knollen, die zitterten, wenn man sie berührte. Viele verschwanden unter schleimigen Helmbüschen, und unter meinem Fuß quietschten meterlange fleischige Palmblätter und hohle Knollen. Kleine grüne Tümpel lagen zwischen den Steinen. Wie liliputanische Märchengärten sahen sie aus. In der Mitte wuchs eine schlanke Palme und darunter stand ein winziger Fisch, der Herr des Gartens. Plötzlich zuckte es drinnen, der Fisch stand nicht mehr unter der Palme, er war in die dunkeln Lorbeerboskette am Rande entflohen. Auf dem gelben Sandwege des Gartens lag ein vergessener kleiner roter Hut mit grünen Fransen; auf einmal begann der rote Hut zu steigen, die Fransen atmeten ein und aus. Eine kleine Muschel ruderte von einer Grotte zur andern. Nein, der kleine Fisch war nicht der einzige Bewohner dieses Märchengartens, er war trächtig von Leben.

Eine Handvoll von diesem Schlamm auf einen öden Planeten geworfen, Poupoul — und wir kommen wieder heraus wir zwei, ganz so wie wir hier stehen, und die Zunge hängt dir genau so aus dem Maul.

Die Möwen schossen aufgeregt dahin, kleine Fische im Schnabel, die Seesterne schrumpften in der Sonne und verfärbten sich und bekamen brennende Flecken, das Moosgespinst auf den großen porösen Steinschwämmen trocknete dampfend und wurde weiß wie Asche. Der Geruch des Meeres wurde so süß und betäubend, daß er Übelkeit erregte.

Die Welle tänzelte heran, spielte zwischen den Steinen und legte sich zu meinen Füßen nieder, gehorsam wie ein Hund. Aber die nächste Welle schoß gegen meine Schuhe und zischte böse. Ich mußte zurück. Die Klippen sanken wieder langsam ins Meer hinab. Die Kaskaden begannen abermals zu rieseln. Draußen stieg ein weißer Korallenbaum auf, drehte sich und stürzte in sich zusammen. Die Woge schoß heran, wand sich zornig zwischen den Blöcken, gurgelte, zischte und leckte nach all dentrockenen Stellen. Das Meer kam zurück. Es donnerte und stürzte sich an den Klippen in die Höhe, und der Wind trieb das Spritzwasser über die Heide. Flut.

Glühend rot sank die Sonne an diesen Tagen ins Meer, immer an der gleichen Stelle.

So ging es viele Tage lang.

Yann machte mir einen Besuch in Sturmvilla und wir feierten Versöhnung. Worüber stritten wir eigentlich? sagten wir beide und sahen einander gerührt an. Dann gingen wir auf die Jagd. Denn Yann hatte seine Büchse mitgebracht, ein zerbrochenes Zündnadelgewehr, das mit Drähten zusammengebunden war. (Es stammte von seinem Urgroßvater, général unter Napoléon premier.) Wie er damit schießen konnte, war mir ein Rätsel, aber er schoß damit. Er glühte vor Jagdeifer und schoß auf Möwen, Meerschwalben, Hammel, auf alles, was lebte. Über die Heide zogen Rauchschwaden, es roch nach Pulver wie nach einer Schlacht, die Hammel rannten wie irrsinnig im Kreise. Und doch war Yann der ungefährlichste Jäger, den es gab. Er traf nie etwas, Gott weiß wohin die Kugeln flogen. Dann kam es ihm in den Sinn, Champignons zu suchen. Hoho, er wußte wohl, wo sie zu finden seien. Und richtig, da waren sie. Wir brieten sie in einem Topf, bis alle unsere Champignons in einen Fingerhut gingen, aßen, schnalzten mit der Zunge und wanden uns zwei Tage in den furchtbarsten Krämpfen. Yann konnte es nicht fassen. „Tiens!“ sagte er, „im vorigen Jahre waren es doch Champignons?“

Wir legten ein Netz aus in der Bai und saßen unterdessen halb nackt auf dem heißen Deck des Arbeiters und unterhielten uns über lenkbare Luftschiffe, während Yann eifrig an einem Strumpf strickte.

„He!“ sagte Yann, „wollen wir nicht heute abend eine kleine Entdeckungsreise unternehmen? Jetzt im Sommer sind sie alle ganz toll.“

Merci. Ich hatte keine Lust.

XXIV

Dann aber, ganz plötzlich — so ist der Mensch — hatte ich genug davon, mit einem unbeschriebenen Herzen einherzugehen, und ich beschloß mir wieder eine Vergangenheit anzuschaffen. Ich ging hinein ins Dorf und hielt Umschau unter den Töchtern des Landes.

Das Glück lächelte mir. Meine Augen fielen auf Yvonne, die Tochter Amoriks.

Ich machte Einkäufe bei Noel. Noels Bar und Laden mit all den von der Decke herabhängenden Talglichtern und Seilen sah wie eine Tropfsteinhöhle aus. Und doch war sie die geistige und gesellschaftliche Zentrale der Insel und das Leben war hier im vollen Schwung.

Der dicke Briefträger und Chef der Post saß an seinem kleinen Tischchen und sammelte Kräfte für den nächsten Posttag. Bei den Mehlsäcken stand der Großvater, ein ehemaliger Schiffskapitän, der sich die Hölzer auf den Planken krumm gestanden hatte, und döste vor sich hin wie ein im Nachdenken versunkener Maulesel. Das ganze Jahr stand er so und nie sprach er ein Wort. Einmal wagte ich es ihn anzureden. C’a marche, capitain? Er drehte langsam bei, sah mich erstaunt an, bewegte die Kinnlade und sagte:

Merci. Dann schwenkte er wieder und stand wie zuvor.

Der rote Noel hantierte hinter der Bar, schwitzend vor Eifer und Wohlbehagen. Zuweilen kommandierte er mit lauter, hallender Stimme: „Antoinette, Josephine, Maria!“, und die kleinen Mägde mit den weißen Hauben, die in dunklen Löchern und Winkeln wühlten, antworteten singend: jaa! und unterdrückten einen Fluch.

Noel setzte mir ein Konzert von Schnäpsen vor. Das tat er immer. Er führte alle großen Marken der Welt, und ich mit meinem europäischen Gaumen mußte sie prüfen.

Ich nahm das erste Gläschen und goß es hinter die Binde, ich nahm das zweite, das dritte — „hm!“ Noel machte verzückte Augen — „gut, gut!“ — Noel lachte, daß ihm der Schleim aus dem Rachen fuhr — „ah, das ist ein Likörchen!“ — Noel drehte sich auf dem Absatz und klatschte auf die Schenkel.

„Ja, das ist ein Likörchen, sage ich, wie?! In Paris bekommen Sie ihn nicht besser! — Antoinette, Josephine, Maria, man muß die Lampe anzünden!“

„Jaa!“ (Nom de chien!)

Solange die Lampe angezündet wurde, verharrte alles in Stillschweigen. Es wäre ungebildet und roh gewesen, während dieser Prozedur zu sprechen.

Antoinette kletterte auf den Stuhl und Noel stand väterlich besorgt und ängstlich neben ihr, bereit sie aufzufangen. „Nimm dich in acht — der Patentbrenner — langsam drehen!“

„Guten Abend!“ sagte Antoinette.

„Brennt er nicht herrlich, der Patentbrenner?“ fragte Noel. „Ja, haha, fünfzehn Franken kostete mich die Lampe!“

„Ausgezeichnet!“

Aber da klapperte es im Flur und man wußte schon, wer kam. Das war Gaston Grouzen, der verrückte Gaston. Er war acht Jahre in Kalifornien gewesen und hatte sich tausend Dollar erspart. Nun war er von früh bis nachts damit beschäftigt von Kneipe zu Kneipe zu rennen, um recht rasch seine Dollars los zu werden.

„Da kommt der verrückte Gaston!“ lachte Noel und stellte das Glas bereit.

Gaston Grouzen nahm einen Augenblick die bis zum Kopf abgebissene Gipspfeife aus dem Mund und stürzte den Schnaps hinab. Ah, da sah er mich!

Er umarmte mich und rieb sein stachliges Gesicht gegen meine Backen. Dann zeigte er, wie immer, auf eine Narbe unter dem linken Auge. „Im Krieg gegen die prussiens. Me California. You have match? — Welcome!“ Und weg war er, er hatte keine Zeit zu versäumen.

Ein Trupp Fischer kam herein, sie räusperten sich und spuckten. Aber dieses Räuspern und Spucken war eine Konversation, man mußte nur die Ohren aufmachen. Auch Yann kam und wir traktierten uns gegenseitig mit Schnäpsen aller Art.

Merkwürdig ist der Mensch! Als Yann nach seiner verwegenen Fahrt zum erstenmal an Land gekommen war, hatten wir ihm die Finger entzwei gedrückt: hoch Yann, Filou! Und Yann hatte die Achseln gezuckt: was war weiter dabei? Nun aber, da niemand mehr davon sprach, mußte Yann den ganzen Tag von seiner Heldentat reden und die Zeitungen aus der Tasche ziehen — und wir nahmen es ihm übel.

„Der Arbeiter ist doch ein gutes Boot,“ sagte der dicke Chef der Post; er war ein neidischer Hund.

Yann brüllte ihn zu Boden. „Cochon! Was versteht ein Briefmarkenlecker von Navigation? Ich sage ja nicht, daß es eine Heldentat war, aber es war nicht leicht, den alten Kahn so lange im Strom zu halten. He, halte dein hölzernes Maul! Zehn Kapitäne kannst du hinstellen, sie schaffen es nicht!“

Yann und der Chef waren Spinnenfeinde. Nur mit Ekel auf den Lippen sprachen sie voneinander. Und Yann peinigte den dicken Chef, so sehr er konnte. Wenn er gar nichts zu versäumen hatte und guter Laune war, so tat er etwas Unerhörtes: er klopfte an das kleine Fenster der Post. Das kam selten vor und war das schlimmste, was man dem Chef antun konnte. „Hallo!“

Der Chef schnarchte drinnen und Yann klopfte lauter. Der Chef fuhr auf: „Malheureux!“ und kam an das Guckfenster.

„Eine Marke für einen Sou!“

Dann ging Yann in eine Bar und nach einer halben Stunde klopfte er wieder.

„Hallo!“

„Malheureux!“ schrie der Chef innen verzweifelt.

„Noch eine Marke. Ich vergaß ganz.“

Yann lachte sich tot, aber nach einer halben Stunde war er schon wieder da.

„Hallo!“

Der Chef tobte. „Malheureux!“

„Eine Marke für einen Sou. O, lala, was für eine Riesenkorrespondenz ich heute habe.“

Der Chef wurde blau vor Zorn. „Das ist Schikane, einfach!“

Aber Yann klopfte mit seinem Sou. „Voyons! Ich bezahle. Tue deine Pflicht und halte das Maul!“

Nach einer halben Stunde aber war er schon wieder da — — ho! ho! ho!

Da aber schlüpfte der Dorflump mit den klaffenden Hosen in die Bar. Er streckte mir die Hand hin: „Eine Prise Tabak, Herr! Papier habe ich selbst!“ Ja, richtig, er hielt ein zerknittertes Zigarettenpapierchen zwischen den schmutzigen Fingern. Aber ehe ich ihm Tabak geben konnte, hatte Yann dem Dorflump eine Schaufel zwischen die Beine geworfen und der Dorflump entfloh.

Yann behandelte den Dorflump wie eine Katze.

„Hahaha!“

Der versteinerte Großvater drehte sich um und nieste.

Keinen Augenblick lang stand das Leben in Noels Bar still.

Ein totenbleich aussehender Fischer kam herein und trat zu Noel und murmelte ihm etwas ins Ohr.

„Haha!“ lachte Noel laut. „Bezahle die zehn Sou, die du schuldig bist, und ich kreditiere wieder.“

„Meine Kinder haben nichts —“ murmelte der Fischer.

„Bah! Arbeite —!“

„Ich bin krank.“

„Krank? Haha! Du kennst meine Prinzipien, Freund.“

Der bleiche Fischer nickte und ging wieder.

„Sie würden mir das Fleisch von den Knochen fressen!“ rief Noel aus.

O, lala, ja so war er. Er zog den Fischern jeden Sou aus der Tasche, verkaufte ihnen schimmeliges Brot und gemeinen Fusel, platzte von all den fetten Speisen und guten Weinchen, hatte ein Haus und einen Harem kleiner rundlicher Mägde, die er der Reihe nach schwängerte, aber sobald es ans Kreditieren ging verstand der Inselkönig keinen Scherz. Und die Fischer fanden das ganz in Ordnung.

Alle hatten den bleichen Fischer schon vergessen, da rief Noel mit lauter Stimme: „Antoinette, Maria — man muß einen Laib Brot zu Breton tragen, jetzt gleich! Sage, Noel schickt es. Auch einen Topf Milch muß man hintragen!“ Und zu den Gästen in der Bar sagte er: „Man kann die Leute ja doch nicht verhungern lassen.“ Und er seufzte.

So war Noel. Er hatte ein gutes Herz, man darf ihm nicht unrecht tun.

In diesem Augenblick aber fielen meine Augen auf Yvonne, die Tochter Amoriks, des Wächters von Creach. Sie kam um Brot zu kaufen.

Yvonne war schön! Erinnerst du dich? Einmal im Frühling kam ein Mädchen an Sturmvilla vorbeigeklappert in ihren Holzschuhen, ihre Hammel wollte sie suchen, und ich küßte sie auf den braunen Nacken. Yvonne, daß ich dich so lange vergessen konnte!

Yvonne hatte ein braunes Gesicht und eine hohe glänzende Stirn. Wenn sie lächelte, erschienen Grübchen in ihren Wangen und dann glänzten auch die Wangen. Ihre Augen waren schwarz wie Pech. Das schönste aber war ihr Haar. Es war sorgfältig über der Stirn gescheitelt und schwarzglänzend wie das eines Rappen, aber doch seidenweich.

Noel zeigte ihr sein Wohlwollen. Er legte den Laib, den sie gewählt hatte, zurück und suchte ihr einen andern aus. „Nimm diesen, Yvonne, das ist der beste!“ Diese Auszeichnung genossen nur seine geachtetsten Kunden.

„Für Amorik!“ sagte Yvonne.

„Schon gut, schon gut, grüße Amorik!“ Amorik genoß Kredit wie alle Leute mit einem festen Einkommen.

„Kenavo!“ sagte Yvonne und ging.

„Ah, sie ist ein hübsches Mädchen!“

„Ja, und ein anständiges Mädchen!“

Ich aber sagte gar nichts. Ich nickte nur. Dann schloß ich meine Einkäufe ab — ohne Eile zu verraten. Man mußte gerissen sein auf der Insel.

„He, Antoinette, Josephine!“ schrie Noel. „Man muß mich daran erinnern, daß die Waren nach Sturmvilla gebracht werden. Man muß um sieben Uhr einspannen!“

Noel besaß nämlich ein Fuhrwerk, obgleich die größte Reise, die man auf der Insel machen konnte, eine Wegstunde weit war. Sein Pferd war dick und fett und hatte lange Haare an den Beinen, förmliche Pelzhosen. Das Einspannen war eine Komödie. Dann setzte sich Noel, gestiefelt und gespornt, auf den Bock und rasselte dahin, Brrr! Schon war er angekommen. „Man muß Zephir abreiben und striegeln, Zephir muß Wasser bekommen, brr, brr, Ruhe, Zephir!“

Nun gut, ich ging. „Guten Abend!“

Auf der Heide holte ich Yvonne ein. Ich rief sie an und sie blieb stehen.

„Wir haben ja den gleichen Weg, Yvonne!“

„Ja!“ Sie lächelte. Ich sah wie schlicht und gut ihr Herz war.

„Du kennst mich doch, du weißt doch noch —?“

Yvonne lachte. O ja, sie hatte es nicht vergessen.

„Daß ich dich nie mehr gesehen habe! Ich komme doch so oft nach Creach. Wo warst du denn den ganzen Sommer?“

„Ich? Auf der Insel. Ich habe dich oft gesehen, ja. Doch halt, ich war ja nicht immer auf der Insel, ich war vierzehn Tage in Brest.“

„Nun, siehst du?“

Und Yvonne beeilte sich mir von ihren Erlebnissen in der Weltstadt Brest zu erzählen. Sie war da auch im Theater und hatte ein Stück gesehen, das Ohrfeigensalat hieß. Ein reicher Bauer kam nach Paris und mietete die Wohnung eines lebenslustigen Junggesellen und nun ging es los, er bekam Ohrfeigen von allen Seiten.

„Er erhielt immerzu Ohrfeigen,“ erzählte Yvonne, „es kamen Gläubiger des Junggesellen, klatsch, Eifersüchtige, klatsch — haha — immerzu klatschte es.“

„Hahaha!“

Wir gingen vorgebeugt durch den Wind und sahen einander ins Gesicht, während wir plauderten und lachten. Yvonne sprach ganz hinten im Kehlkopf und ihr herzliches Lachen kam wie aus weiter Ferne.

„Wie alt bist du, Yvonne?“

„Laß sehen —? Ich bin neunzehn.“

Ich sah sie an. Sie war groß und stark.

„Und du hast doch einen Geliebten?“

„Haha — was er denkt! Nein, nein, nein!“

Yvonne lachte.

Sie gefiel mir.

XXV

Am nächsten Sonntag nach dem Kirchgang traf ich sie wieder bei Noel. Sie kaufte Wolle ein für Amoriks Strümpfe und die Wahl unter all den bunten Strängen wurde ihr schwer. Endlich entschied sie sich für himbeerfarbene. Dann wühlte sie in allerlei Kram und zog eine schmale Spitze hervor.

„O, wie hübsch sie ist. Für die Haube!“

„Ein halbes Meter. Zehn Sou!“

„O!“ Yvonne warf die Spitze auf den Ladentisch. „Was denkst du, so reich bin ich nicht!“

„Gib mir die Spitze,“ sagte ich und legte zehn Sou hin. Da aber fühlte ich, daß mich jemand ansah, und ich wandte mich um: Rosseherre stand hinter uns. Mit ihren gelben Haaren, den schmalen Wangen und vielen Sommersprossen, welk sah sie aus trotz ihrer Jugend — „Guten Tag, Rosseherre“ — aber sie war schon gegangen.

„Nun, Yvonne, willst du die Spitze haben?“

„Nein, ach nein!“ Aber als ich sie recht hübsch bat, nahm sie doch das kleine Geschenk an.

Ich ging nach Creach. Es wurde Abend. Kahl und nüchtern stand der Leuchtturm inmitten der kleinen Hütten in der Heide. Jemand ging oben auf der Galerie und pfiff, und das Pfeifen klang klar wider in der dünnen Luft.

„Guten Abend, Yvonne!“ Yvonne stand am Fenster und helle Lichter glänzten auf ihren braunen Wangen. „Ein schöner Abend? Wie warm der Wind ist! Willst du nicht ein wenig herauskommen zu mir?“ Yvonne trat zurück und ihr Gesicht wurde ganz dunkel. Ihre Zähne blinkten matt. Gewiß knisterten ihre pechschwarzen Haare, wenn man sie anfaßte. Yvonne lächelte und schüttelte den Kopf.

Da rief man mir. „Vater ruft dir!“

Amorik beugte sich oben über die Galerie und winkte. Ich stieg die Schneckentreppe hinauf in den hallenden Schlot. Amorik, der Einäugige, nahm die Tücher von den Scheiben und die untergehende Sonne zersprang in den Linsen und Segmenten dieses blitzenden kristallenen Spielzeugs zu tausend farbigen Feuern. Gleißende blaue und gelbe Dolchbüschel stachen nach mir, scharfe rote und grüne Sicheln zerschnitten mir die Augen. Die Insel unter uns war schon dunkel und die Klippen schwarz. Drüben an der fernen Küste zuckte ein Feuer empor — immer als ob es sich strecke — irgendein eisernes Gespenst, das in der Brandung stand und sein Auge rollte. Die Kerze knisterte, der Lichtbogen sprang über, Amorik schaltete den Apparat ein, und das glitzernde Spielzeug begann sich geräuschlos zu drehen und schleuderte seine vier Strahlengarben über unsere Köpfe hinweg übers Meer hinaus. Man konnte nicht hineinsehen ohne zu erblinden. Nun blinzelte und funkelte an der Küste ein Dutzend weißer, roter und grüner Feuer, der Schmuck der großen Kokotte Frankreich blitzte in der Nacht.

Amorik saß auf einem kleinen Schemel und sein linkes Auge wachte. Wo hast du dein Auge verloren, grauer Amorik? He, der Wind kam und blies und sagte: ich bin der Wind, und blies es dir aus der Höhle? Nein, während eines Sturmes war ihm eine Segelsparre ins Auge gefallen.

Mit seinem feinen Lächeln saß Amorik da und sein Gesicht war gesättigt mit der Güte jener Menschen, die einsam in der stillen Nacht wachen und schweigen. Und wo konnte man einsamer sein, als unter der gleißenden Mühle?

Ich trat auf die Galerie. Der Nachtwind legte mir die Kleider glatt an den Körper und zerrte an meinen Augenlidern. An den Scheiben tanzten große Falter und Myriaden von Milben und bohrten sich wollüstig ins Licht. Wie rotierende weißglühende Fontänen schossen die Strahlengarben in die Finsternis empor und hinaus, dreißig Seemeilen weit und mehr. Die Insel war vollkommen schwarz, mattschwarz, und glänzendschwarz war das Meer und bewegte sich.

Ein grüner Funke wanderte nach Norden. Sie wußten, das ist Creach, in vier Stunden sind wir im Kanal, in zwanzig, in fünfzig Stunden zu Hause. Noch nach fünf Stunden würden sie uns sehen.

Wir wachten und wechselten dann und wann ein kurzes Wort. Amorik hatte es längst verlernt zu reden.

Im Falle Nebel kommt, werden wir den kleinen Hebel öffnen und die komprimierte Luft wird im Schalltrichter brüllen. Aber es kam kein Nebel, die Nacht war übersät mit Sternen.

„Nun, gute Nacht, Amorik.“

„Du gehst?“

„Ja, ich bin müde.“

„Bist du noch wach, Yvonne, so tief in der Nacht?“

Yvonne stand im dunkeln Fenster und lächelte. Sie wußte alles und doch war sie ein junges Mädchen.

„Komm heraus, Yvonne. Nicht? Yvonne, so reich mir doch die Hand heraus. Kenavo, Yvonne!“

„Kenavo!“ flüsterte sie.

„Yvonne, mache nochmals auf!“

„Ja?“

Ich nahm die kleine silberne Kette aus der Tasche und warf sie ins Fenster. Ich hörte wie sie auffiel. Ich sagte nichts und ging.

XXVI

Einige Tage später saß ich auf dem Stein vor meinem Hause. Ich legte die Hand darauf und siehe, sie wurde immer noch weiß: das war das Salz, von all dem Spritzwasser der großen Stürme. Ich saß und sonnte mich und hatte friedliche Gedanken im Herzen. Da kam ein Mädchen über die Heide. Sie sah aus, als suche sie etwas. Sie blieb stehen, dann kam sie geradeswegs auf mich zu. Ist es —? Nein, sie hatte helles Haar.

„Du bist es, Rosseherre!“ sagte ich und stand auf. Ich war so kühl im Herzen und auch mein Blick war kühl. Der Sturm ist gekommen und hat mich in eine ferne Gegend geweht, Rosseherre, ich wohne nicht mehr hier. Poupoul dagegen gebärdete sich ganz närrisch vor Freude und sprang mit der Zunge nach Rosseherres Gesicht.

Rosseherre sagte nichts. Sie wehrte Poupoul ab und sah mich an.

„Wo bliebst du so lange, Rosseherre?“ fragte ich lächelnd.

Rosseherre sah mich an. „Die Zeit wird dir nicht lang geworden sein —,“ stammelte sie. Das Blut stieg ihr ins Gesicht und ihre Augen wurden dunkel und hart. Dann lächelte sie verächtlich und ihr Blick flammte auf. Sie zog etwas aus dem Mieder und warf mir meine zwei Ringe vor die Füße.

„Ich brauche deine Ringe nicht!“ stieß sie hervor und wurde bleich. „Gib sie Yvonne! Auch dein Geld will ich dir bringen —“

Ich mußte lachen. Rosseherre war eifersüchtig, seht an. Rosseherre, Rosseherre, was fällt dir ein? Dachtest du, ich würde mich auf ewig vor deinem Herzen vor Anker legen? Weißt du nicht, daß ich unterwegs bin in den großen Jagdgründen des Lebens, heute da und morgen dort, und immer in einem leichten Zelte unter den Sternen schlafe? O, Rosseherre, ich werde mir erst ein festes Haus bauen, wenn ich vor Gichtbeulen nicht mehr stehen kann und die Langeweile mich zwingt meine Memoiren zu diktieren.

Ich sah Rosseherre an und schüttelte lachend den Kopf. „Du wirst doch nicht töricht sein, Rosseherre,“ sagte ich, „die Ringe gehören dir, ich hebe sie nicht auf. Sprich auch nicht von den paar Franken, die ich dir geliehen habe. Wie sonderbar du doch bist!“

Rosseherre aber bebte vor Zorn. Sie schrie laut und wütend, aber ich verstand kein Wort, denn sie sprach Bretonisch. Schließlich schüttelte sie mich am Rock, so sehr vergaß sie sich. Poupoul kläffte und knurrte und machte sich zu meiner Verteidigung bereit.

„Höre endlich auf, was schreist du denn, so, Rosseherre!“ sagte ich barsch, und da ich sprach, wie man auf der Insel spricht, kam Rosseherre sofort zur Besinnung.

„Ich sage nichts mehr,“ fuhr sie auf französisch fort, „du kannst ihr ruhig Ketten schenken und was du willst — ihr — hohoho — mit allen Matrosen hat sie es —“

„Yvonne?“

„Ja, Yvonne!“

Ich lachte. „Yvonne! Haha! O nein, die hat es nicht mit allen Matrosen.“

Rosseherres Augen kochten. Ihre Lippen wurden ganz weiß. „Willst du damit sagen, daß ich es mit allen Matrosen habe?“

„Sagte ich ein Wort —?“

„Und wenn du es auch gesagt hast, ich kann vor der Mutter Gottes beschwören, daß ich nie einem andern gehörte als Yann. Und Yann wird mich heiraten. Aber Yvonne — nein, laufe ihr ruhig nach — jeder Mensch auf der Insel kann dir sagen, daß sie mit sechzehn Jahren ein totgeborenes Kind gehabt hat — sie ist nichts als Schmutz!“

Gott stehe mir bei! Ich lachte. „Rosseherre, was sagst du doch — Yvonne — hahaha?“

„Es ist so, wie ich es sagte — nun, du wirst es noch bald genug erfahren — Hunde seid ihr Männer, Hunde! — warte nur, bis sie dich bestiehlt — und was für Worte hast du mir gegeben — Lügner, Lügner!“

„Höre, Rosseherre,“ sagte ich und berührte ihren Arm um sie zu beruhigen, „du hast ja Yann, nicht wahr, es ist besser so!“

Rosseherre wich zurück. „Ja, ich habe Yann,“ entgegnete sie, „das ist wahr, und obwohl er nur ein einfacher Seemann ist, ist er mir doch tausendmal lieber als du.“

„Das glaube ich gern.“

„Tausendmal!“ wiederholte Rosseherre und sah mich voller Haß an. Ihre Augen waren so gelb im Sonnenlicht wie die einer Katze. „Du kannst ruhig zu Yvonne gehen, du bist so schlecht wie sie — hoho — und du glaubst vielleicht, daß ich eifersüchtig bin — o nein —“ Sie schlug die Hände vors Gesicht und ging.

„Rosseherre!“ rief ich.

Aber sie fing an zu laufen. Dann blieb sie plötzlich stehen und lachte schallend: „Du bist ja ein Narr — hahaha! — ein Narr!“ Und wieder lief sie.

Ich sah ihr nach. Wie rasch sie lief, wie sie flatterte. Ihre Gestalt versank und ich sah nur noch ihre weiße Haube über die Heide gleiten — so rasch.

Nun, zuweilen war es an mir so zu laufen, nun war es an ihr, die Zeiten haben sich geändert.

Wie rasend sie war, welch ein Haß in diesem gelben Irrwisch steckte! Gott erbarme sich meiner, sie hatte mich übel zugerichtet, keinen guten Faden hatte sie an mir gelassen.

Ich ging über die Heide, nach Creach. „Poupoul, sprich!“ sagte ich zu Poupoul, der schon wieder alles vergessen hatte. „Sprich die Wahrheit, dir, einem Tier, wird es leichter fallen gerecht zu sein als uns Menschen: haben wir nicht oft gesehen, wie die kleine weiße Haube in der Nacht zum ‚Arbeiter‘ hinüber ruderte, und haben wir jemals ein Wort gesagt? Und sie — he, Poupoul, sprich die Wahrheit!“ Und wieder mußte ich lachen: wie schnell sie lief, obschon ihr doch niemand folgte!

XXVII

Nein, Rosseherre war nicht gut auf mich zu sprechen. Auch Yann sagte es mir, als er am andern Tag zu mir kam. Tiens, tiens, wie böse sie auf dich ist!

Am Morgen war ich draußen gewesen und hatte einen schweren, dicken Fisch gefangen, eine fette Kafferntante. Toll vor Wut hatte sie mich angefunkelt, als ich sie aus dem Wasser zog. Nun aber lag sie da und die Schuppen flogen. Meine Kafferntante war ein gefräßiger Klumpen mit dummen goldenen Glotzaugen und hämischen fahlen Negerlippen, zwischen denen die spitzen porzellanweißen Zähne grinsten. Hinten am Rachen hatte sie ein zweites Gebiß, ein Reibeisen aus flachen Zähnen. Ihr fetter Wanst war von einem schleimigen, dicken Netz überzogen, das schildkrotfarben und morchelähnlich war und ihr erlaubte, getrost drunten in den Tangwäldern zu stehen ohne gesehen zu werden. Hatte ich jemals etwas ähnliches an Habgier, Gefräßigkeit und Gemeinheit gesehen? O, jawohl: Menschen! Oft sah ich gleich ein ganzes Dutzend porträtähnlicher Exemplare beisammen. Hätte ich euch hier — unter meinen entblößten Armen und blutigen Händen, es wäre mir ein Vergnügen —

Da kam Yann. Er schleppte einen großen irdenen Topf, und das bedeutete, daß wir eine seiner berühmten bretonischen Suppen kochen würden.

Yann war in vorzüglicher Stimmung und ich sah ihm sofort an, daß etwas besonderes vorgefallen sein mußte.

Nachdem er mir ein Kompliment gemacht hatte über die schwere Kafferntante, griff er in die Brusttasche: „Willst du etwas sehen, he?“

„Was gibt es?“

„Nun, willst du etwas sehen?“ wiederholte Yann und blitzte mich mit den hellblauen Augen an.

„Laß sehen!“ erwiderte ich neugierig.

Yann ließ den Rand eines großen Briefes erscheinen. Er zupfte daran und die Ecken von Banknoten wurden sichtbar. Eins, zwei, drei — fünfhundert Franken!

Ich riß die Augen auf und starrte Yann an.

Dann zog Yann den Brief heraus und überreichte mir mit einer großartigen Geste das Schreiben.

Es war von der englischen Gesellschaft, der die „Indiana“ gehört hatte.

„Jeder meiner Matrosen hat hundert Franken erhalten!“ sagte Yann. „He, wie höflich sie schreiben, wie? Und sieh das Kuvert an: es ist mit Leinwand ausgeschlagen, hast du je solch ein Kuvert gesehen?“

Ich sah das Kuvert von außen und innen an. „Nom de pipe!“ sagte ich.

Yann richtete sich stolz auf und sandte einen kühnen Blick übers Meer. „Es ist wie ein Geschenk vom Himmel. Pro Kopf über sechzig Franken! Ja, was kann ich jetzt tun?“ Und Yann sah mir in die Augen. „Jetzt kann ich tun, was ich will, siehst du!“

Über Nacht war er reich geworden.

„Wenn du nun Geld brauchst,“ fügte Yann hinzu, „du brauchst nur ein Wort zu reden“ — und er hielt mir zwei-, drei-, vierhundert Franken hin — „du bist mein Freund und kannst soviel haben wie du willst.“

Yann war doch ein prächtiger Bursche!

Dann stürzte er sich in die Arbeit. Er warf den Kittel weg, rückte die Mütze ins Genick und stülpte die geschwärzten Hemdärmel auf. In dem Topf befanden sich Kartoffeln, Gemüse, Kraut und Rüben, ein Klumpen graues Fett, grease bretonne, eine Flasche Kognak und ein rundes Paket. Er wusch, schabte, schnitt, machte Feuer an. Da der irdene Topf einen Sprung hatte, holte er rasch Erde, knetete sie und verschmierte den Riß, eins, zwei —

Dann öffnete er das sorgfältig verschnürte, runde Paket. „Und hier ist ein kleines Andenken, mein Freund!“ sagte er.

Es war eine Teekanne aus weißem Porzellan mit billiger Goldverzierung.

Yann stand mit gespreizten Beinen und sah mich vielsagend an. „Nun?“

„Nun, sie ist hübsch.“

Yann lachte höhnisch und betrachtete die Teekanne mit spöttischen Blicken. „Das ist sie,“ sagte er, „das ist die berühmte Teekanne von der ‚Charlotte‘! Und diese meineidigen Hunde schworen seinerzeit, ich hätte eine silberne Teekanne mit Goldeinlage gestohlen! Haha, was sagst du dazu?“

Ich sah Yann an und lachte.

„Nun, willst du sie, diese silberne Kanne?“ fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Yann, merci. Ich will nichts besitzen, was man nicht in die Tasche stecken kann, verstehst du?“

„Bien!“ Yann nahm die Kanne und warf sie in weitem Bogen in die Klippen, wo sie zerschellte. „Au revoir!“

Darauf zog er eine Uhr aus der Hosentasche. „Drei Uhr,“ sagte er nebenhin, „um acht ist die Suppe fertig.“ Ich aber sah die Uhr kaum an und so hielt sie mir Yann dicht unter die Nase. „Ja, genau drei Uhr!“ Da fiel mir die Uhr auf. Sie war aus Gold und hatte einen Springdeckel, so etwas! Diese Uhr war dreihundert Franken wert und das Geschenk eines Pariser Bekannten.

Ich staunte und schüttelte den Kopf. Yann ließ mich ins Werk hineinsehen, wo es tickte und schwang.

Dann zeigte er mir, daß er die Hosentasche mit Putzwolle ausgestopft hatte, damit die Uhr nicht beschädigt werde.

„Warum hast du dir denn von dem Pariser Freunde nicht lieber Schiffsinstrumente schenken lassen, Yann?“ fragte ich arglistig, nachdem ich mich von meiner Verblüffung erholt hatte.

Yann zog das Augenlid mit dem Zeigefinger herab. „Eh!“ rief er aus. „Warum? Wie kann ein Mensch so dumm fragen? Man hätte behauptet, ich habe die Schiffsinstrumente von der ‚Charlotte‘ gestohlen.“

Die Uhr war gut. Yann hatte keinen schlechten Tausch gemacht!

Ich mußte lachen: Yann, Yann, wie soll man klug aus dir werden? Wie oft hast du mir jene Geschichte von der „Charlotte“ erzählt, da sie dich so frech verleumdeten, und ich hatte Mitleid mit dir! Wie oft standen deine treuen Kinderaugen voller Tränen und lachtest du höhnische Triller: Ich, ein Dieb? Ich?

Hahaha! Yanns Seele war derartig mit Ehrlichkeit imprägniert, daß sie den Verdacht des Diebstahls entsetzt zurückwies. Nie, nie würde Yann glauben, daß er gestohlen hatte, selbst mit der Kanne vor Augen und der goldenen Uhr in der Tasche nicht, niemals, er war zu ehrlich dazu.

Unsere Suppe mußte fünf Stunden über langsamem Feuer kochen, und so hatten wir Zeit ein wenig zu plaudern. Wir saßen vor dem Hause auf dem Boden und Yann goß aus der Flasche ein, die er — ein reicher Mann — mitgebracht hatte.

Plötzlich lachte er laut heraus. „Was in aller Welt hast du denn Rosseherre getan?“ rief er aus. „Tiens, tiens, wie wütend sie auf dich ist.“

„Nichts habe ich ihr getan.“

„O, sie ist nicht gut auf dich zu sprechen, mein Freund!“ fuhr Yann fort. „Du hast ein Auge auf Yvonne Amorik geworfen — sie ist Rosseherres beste Freundin gewesen, trotzdem — wer kennt sich mit diesen Frauenzimmern aus! Hast du Yvonne nicht eine Kette geschenkt? Hoho, ist es so? Und was glaubst du, was Rosseherre mich fragte? Hehe — was glaubst du?“

„Nun?“

„Sie fragte mich, ob ich dich töten könnte.“

„Hallo!“

„Ja, haha, so verrückt sind diese Weiber, wenn sie eifersüchtig sind.“

„Und, Yann, was hast du ihr geantwortet?“

„Ja, habe ich gesagt, warum nicht? Ich wollte sie bei guter Laune haben.“

Ich pfiff durch die Zähne und lachte.

Auch Yann lachte. Er lachte mit der heiteren Sicherheit eines Liebhabers, dessen Rivale endgültig ungefährlich geworden ist. „Ich habe ihr sogar versprochen dich zu töten,“ sagte er, „dann wurde sie demütig und gefügig wie ein kleiner Hund!“ Yann brach ab und zog mit erstaunter Miene einen Ring zwischen den Gräsern hervor. „He, was ist das?“

„Hier ist der andere, unter dem Stein,“ antwortete ich, „sie hat mir die Ringe zurückgebracht.“

Yann steckte die Ringe in die Tasche. Er schüttelte ärgerlich den Kopf. „So ein verrücktes Frauenzimmer, he! Ich werde ihr die Ringe geben, wenn sie vernünftiger geworden ist.“

„Also, du hast ihr versprochen —?“

„Ja!“ sagte Yann lachend. „O, sie war so verrückt, sie verweigerte sich mir — sie machte eine Bedingung daraus, hahaha — aber sie hat mir keinen Termin gesetzt — das hat sie vergessen. Ich gebe dir noch viele Jahre Zeit, mein Freund! Keine Eile!“

Dann sprachen wir von etwas anderem und Rosseherres Name wurde nicht mehr erwähnt.

Die Suppe war fertig. Yann schnalzte mit der Zunge, solch eine Suppe! Er schlürfte voller Entzücken die beiden Augen meiner Kafferntante. Wir saßen und schmausten, wir drei, Yann, Poupoul und ich. Die Türe stand offen, und draußen dröhnte das Meer.

Eine Stunde lang fuhren wir mit den Löffeln in den Topf hinein, bis wir uns nicht mehr regen konnten. Der Topf aber war noch lange nicht leer, wir aßen stets zwei, drei Tage daran. Dann setzten wir uns vor der Türe in die Heide und tauchten.

„Spiele ein kleines Lied,“ sagte Yann, „gerade jetzt, wo es dunkelt —“

Ich spielte. Aber während ich die kleine Flöte schwang, schielte ich zu Yann hin: da saß er, die fünfhundert Franken in der Hand und sah hinaus aufs Meer und träumte.

Es wurde Nacht und wir gingen ins Haus zurück um ein Gläschen zu trinken.

Yann breitete seine Banknoten aus, er ließ unendlich oft den Springdeckel der Uhr springen. Er strahlte vor Glückseligkeit. Ein wenig später aber legte er die Uhr unter den Holzschuh und trat ein wenig darauf um zu sehen, was die Uhr aushalte. Knax, das Glas sprang. Aber deshalb ist die Uhr doch noch nicht kaputt, wie, hahaha! Er nahm die Banknoten, machte eine Kugel daraus und ließ sie von Poupoul apportieren. Dieses Geld, pfui, man sollte es einem Hund zum Fressen geben, man sollte es ins Feuer werfen!

Yann führte einige seiner Kunststücke vor. Er holte eine Münze aus einem Teller voll Wasser, ohne sich auch nur die Fingerspitzen zu netzen. Das vollführte dieser Tausendsasa vermittels heißer Luft in einem Weinglas.

Er schüttete sich Kognak in die Kehle und erzählte von der Seeschlange, die er in der Südsee gesehen hatte. Dabei entblößte er den Arm, spitzte die Hand zu und bewegte sie im Gelenk; genau so reckte sich die Seeschlange aus den Fluten und sagte: Guten Morgen, Yann aus Roskoff! Und in den Molukken gab es ein Meer, das schwer wie Blei war; fuhr ein Schiff hindurch, so blieb das Kielwasser eine ganze Woche lang stehen.

Haha! O Yann!

Es war tief in der Nacht, als wir uns trennten. Yann glättete die Scheine und zählte sie zweimal — ob er nichts vergessen habe, immer noch suchte er mit den Augen auf dem Boden. Er war eine einfache Natur und konnte es deshalb nicht unterlassen mich dutzendmal seiner ewigen Freundschaft zu versichern.

„Wegen eines verrückten Frauenzimmers werden wir uns nicht verfeinden!“ sagte er und sah mich mit Tränen in den Augen an. „Wie?“

„Das fehlte noch, Yann!“

Yann preßte mir die Hand.

„Noch eines, Yann. Ist es wahr, daß Yvonne es mit allen Matrosen hält und mit sechzehn Jahren ein Kind hatte?“

„Tiens!“ lachte Yann. „Wie kann jemand solch eine Lüge ersinnen!“

XXVIII

Das Meer lockte mich. Ich sah es an und es winkte mir mit seinen tausend Händen. Ich wurde krank im Herzen, wenn ich die Dampfer draußen in hoher See sah — denn ich war nicht an Bord, hinaus!

Tag für Tag arbeitete ich draußen auf dem Meere. Wir fischten in dieser Zeit einen meterlangen, aalförmigen Fisch, congre, der sich in großen Tiefen aufhält. Die Leinen waren ordentliche Seile und so lang, daß sie das ganze Boot ausfüllten. Der Fisch aber war wie von Teufeln besessen und man mußte ihn augenblicklich abschlachten. Die Sonne röstete mich. Mein Gesicht, mein Nacken und meine Brust, meine Arme und Hände wurden kupferrot und an manchen Stellen schwarz wie Ruß und die Haut löste sich in großen Stücken ab. Meine Haare verfilzten und fielen aus, meine Augen entzündeten sich vom Salz, meine Stimme wurde rauh und heiser wie die der Fischer. Ich sprach auch dasselbe heulende Französisch der Bretonen, das selbst Franzosen schwer verstehen. Und, gehe in die Hölle, ich hatte es gelernt zu fluchen und die Faust zu ballen!

Wenn das Wetter schlecht war, so verständigte ich mich mit Jean Louis. Für eine Flasche eau de vie fährt der Meerkönig, wann du willst. Ganz allein zogen wir in unserem winzigen Boot hinaus, während die großen Langustiers an ihren Ketten rissen. Wir hatten stets Glück.

Das Meer sang und jubelte. Oft tobte es verführerisch in der Nacht vor meinem Hause und ich erwachte. Der Regen peitschte ans Fenster und der Wind schrie.

„Hallo! Pilot! Kedril! Hallo!“

„Was gibt es?“

„Ich möchte fahren, Pilot!“

„Fahren? Wohin? Jetzt?“

Ich lachte. „Ja, hinaus! Eine kleine Spritztour. Du sollst es ja nicht umsonst tun!“

Kedril steckte den Kopf durch das Guckfenster. „Hörst du das Meer? Wir kommen keine hundert Meter weit.“

„Ich biete dir zwanzig Franken. Zwei Seemeilen über die Bai hinaus!“

Kedril kam halb angekleidet heraus und klapperte ans Meer. Er hob mit einer plumpen Gebärde die Hände.

„Ich biete dir fünfzig Franken für eine Stunde!“

Kedril sah mich an und ging in sein Haus.

„Hallo! Pilot!“

Aber Kedril antwortete nicht mehr. Und ich sah mit heißen, trockenen Augen übers Meer.

In diesen Tagen sah ich einmal auch Rosseherre.

Eines Abends kam ich mit Jean Louis zurück und als wir anlegten, stand Rosseherre am Kai. Sie hatte einen kleinen runden Korb in der Hand und zeigte ihn Jean Louis.

„Crevetten!“ Sie lachte. Sie sah mich nicht an, aber plötzlich wurde sie dunkelrot, denn sie fühlte meinen Blick.

„Hühü!“ lachte Jean Louis und stieg aus.

Da wandte mir Rosseherre den Blick zu und sagte lächelnd und etwas scheu: „Wollen Sie Crevetten haben, monsieur?“

„Danke,“ sagte ich kühl.

Da flammten Rosseherres Augen auf und sie schleuderte den Korb mit den Crevetten ins Wasser und lief fort.

„Hühü, was hat sie denn?“ lachte Jean Louis täppisch.

In den folgenden Tagen ereigneten sich einige Dinge, die ich wenig beachtete und erst später verstand.

Einmal kam ich nach Hause und sah zu meiner Überraschung jemand unter der Türe stehen. Es war Noel, der Kaufmann. Ich kam näher und siehe da, der Maire erschien neben Noel in der Türe. Beide waren verlegen.

„Was gibt es?“ sagte ich.

Noel sah den Maire an und der Maire sah Noel an.

„Wir sind bei Ihnen eingebrochen,“ sagte Noel lächelnd.

Ich richtete mich auf. „Sie sehen mich überrascht, mein Herr!“ sagte ich.

Wieder tauschten die Biedermänner Blicke.

„Die Wahrheit zu sagen,“ begann der Maire, „es lief eine Anzeige bei der Mairie ein. Man hat behauptet, du seist ein Spion, der die Insel auskundschaftet.“

Ich lachte laut auf. „Ich bezahle auf der Stelle tausend Franken,“ sagte ich, „wenn ihr einen Strich oder eine geschriebene Zeile bei mir findet!“

„Nun ja, wir taten unsere Pflicht!“ Und die begossenen Pudel gingen.

Ein paar Tage später bemerkte ich, daß kein Wasser in der Tonne war. Es hatte in den Nächten heftig geregnet, aber im Faß war kein Tropfen Wasser. Ich untersuchte die Tonne, ja, sie war leck. Am untern Rand war eine Daube beschädigt. Poupoul beschnupperte einen Stein, der neben der Tonne lag. Aber das fiel mir erst später auf.

Ich dachte an nichts.

Es kamen trübe und mutlose Tage. Sie sahen aus wie die Gesichter Verzweifelter, die dahingehen ohne Ziel und zuweilen stehen bleiben um sich auf etwas zu besinnen, was ihr kranker Kopf längst vergessen hat.

Das Meer warf sich stöhnend hin und her. All die irrenden Wellen — sie waren Menschen, Tausende und Tausende von Menschen, die dahin gehen und dorthin und untergehen und niemand hat gesehen, wann und wo. Nicht so! Laß den Sturm kommen, den gewaltigen, denn herrlich ist ein wilder Tod. —

Die Fischer fuhren nicht hinaus. Auch Jean Louis nicht. Ich konnte mit harten Talern in der Tasche klimpern, der Meerkönig blieb taub.

„Ich habe Furcht!“ heulte er.

„Wenn du schon Furcht hast, Meerkönig —!“

Ich strich über die Insel, eine Falte in der Stirn und lauschte auf das Toben des Meeres. Als stände ich in der Mitte eines Wasserfalls, so klang es. Der Himmel war voller Schmutz und Unrat und trübe Wolkenfetzen hingen senkrecht aus ihm herab und schleiften über Insel und Meer. Die Falte in meiner Stirn wurde tiefer. Ich ging nicht nach Creach. Nein. Yvonne — ich hatte keine törichten Gedanken im Herzen. So kam ich nach Stiff in die Markonistation.

Tagelang arbeitete ich hier, so eifrig, als sollte ich bald eine entscheidende Prüfung ablegen. Wir sprachen mit grünem Feuer und Ozon zu den Unsichtbaren, wie Geister sich unterhalten. Wie es roch! Wie in den Wäldern meiner Heimat nach Regengüssen.

Herr Boucher handhabte den Drücker und die grünen Blitze sprangen zwischen den blanken Konduktoren und schnarrten und knatterten, zuweilen war der Dampfer, mit dem wir sprachen, ganz nahe und wir konnten seine Rauchfahne am Horizont sehen. Oft aber waren sie fern. „Geben Sie uns bitte Ihren Punkt!“ Trr—trr—tack—tack—trr— das war sein Punkt. Gott stehe uns bei, wo war er? Er war noch westlich von den Azoren. Wir arbeiteten geduldig und ruhig. Manchmal mußten wir eine Frage dutzendmal depeschieren, bis wir verstanden wurden. Seit zwei Tagen suchten wir uns mit einem Dampfer zu verständigen, an dessen Bord sich Mr. William Finch befand. „Ihr Koffer folgt mit dem nächsten Schiff.“ Trr—trr— „Ihr Koffer folgt mit dem —“ Immer, wenn Herr Boucher eine freie Viertelstunde hatte, jagte er diese Depesche in die Luft. Zuweilen wurde die Verbindung plötzlich durch Gott weiß was unterbrochen und erst Stunden später hörte man uns wieder. All die kleinen Worte, die durch die Luft schwirrten! Wir sandten täglich einige Säcke Küsse übers Meer. Wir waren diejenigen, die Herrn Schmidt, Edgar Schmidt, tausend Seemeilen entfernt, in einen Freudentaumel versetzten, da wir ihm mitteilten, daß seine Frau Anna mit den Kindern im Hotel de Commerce in Cherbourg ihn erwarte. Er sitzt im Rauchsalon, dieselbe zerlesene Nummer der Fliegenden Blätter in der Hand, und sieht gelangweilt durch das kleine Fenster, wie die Reling sanft steigt und fällt, der Streifen Meer wird schmal, breit, seit Wochen schrumpft und wächst dieser Streifen: Herr Schmidt, Herr Schmidt! Siehst du, wie es ihn trifft? Zum Teufel, mein Hut! Trr—tack—tack— wie rasch er gewesen ist! „Bin gesund und wohlauf.“ Sonst fiel ihm in der Eile nichts ein.

Dann nahm Herr Boucher den Stahlbügel mit der Hörmuschel über die Glatze und lauschte auf das Ticken und schrieb die Worte nieder. Wir konnten alles hören, was Lizard den großen Amerikadampfern telegraphierte, die jeden Tag eine Zeitung drucken. Auf diese Weise waren wir von allem unterrichtet, was die Welt beschäftigte, ja wir erhielten die Neuigkeiten sogar früher als die Zeitungsleser. Die Könige da drüben räusperten sich in ihren verrosteten Rüstungen und wir hörten es. Wir hörten das große Feuer prasseln, das in den Wäldern Südrußlands wütete. Wir hörten den Lärm der Börse, die Papiere fielen, o, pfui Teufel!

Herr Boucher schrieb und ich übersetzte — denn ich fungierte hier als Übersetzer. Herr Boucher las zwar fließend die Klassiker der großen Sprachen, von der Umgangssprache aber verstand er kein Wort.

Es war sehr still bei uns. Die Drähte unserer Empfangsmaste schwangen und klirrten und der Wind schleifte über die öde Heide. Drei unserer kleinen Ratten, die in der Station hausten (es waren siebzehn), spielten vor der Türe. Das Meer aber wusch. Sobald es dunkel wurde, erbleichte die Heide wie im Mondlicht, zweimal, dann brannte sie einmal rot wie glühendes Moos. Das war das Feuer von Stiff. Wenn Herr Boucher hinaus ging um Luft zu schöpfen, so sah er zweimal wie ein kalkweißes Gespenst aus und dann verwandelte er sich in einen roten Dämon.

Trr—trr—tack—tack — Herr Boucher saß und schrieb die Worte nieder. Es war ein schwaches Echo der großen Trommel Europa, das zu uns herüberdrang.

Schluß. Lizard hatte nichts mehr zu sagen.

Spät in der Nacht kam ich nach Hause. Noch im Traum telegraphierte ich. Children all well. Much love. Grace. Die Funken knatterten. Und der Empfänger tickte: Am 21. 39° 12’ 44° 8’ 10" zwei Eisberge gesichtet. Pennsylvania. Da schlug Poupoul an. „Schweig doch!“ sagte ich. Poupoul leckte mir die Hand und winselte. Dann hörte ich ihn an der Türe schnuppern. Ich schlief wieder. Gleich darauf weckte mich Poupoul abermals. Er schlug laut und zornig an.

Ich lauschte.

Draußen knisterte und raschelte es. Es war mir, als röche ich Rauch. In diesem Augenblick donnerte es und ein Gewitterregen ging prasselnd nieder.

„Es regnet ja nur, Poupoul!“ sagte ich. „Schlafe, alter Schwede!“

Aber am andern Morgen sah ich, daß der Holzstoß vor meiner Türe zum Teil verbrannt war. Die Wand des Hauses war geschwärzt von Rauch. Wäre der Gewitterregen nicht zur rechten Zeit niedergegangen, so stände Sturmvilla wohl nicht mehr.

Ich schüttelte den Kopf. „Solche Leute gibt es hier, sie gönnen dir nicht einmal das Holz!“ sagte ich und spie aus.

XXIX

In einer Nacht erwachte ich und begann nachzudenken.

Ja, bei Gott, warum mußten meine Augen gerade auf Yvonne fallen, die sich hinter ihrer Jungfräulichkeit verschanzte wie hinter sechszölligen Panzerplatten. Warum war gerade sie anders als die Mädchen auf der Insel, die wenig Umstände machten?

Nun, ich werde zu dir gehen, Yvonne, und dir reinen Wein einschenken, ich werde dir sagen, was ich denke und was ich will und du wirst mir antworten.

Ich stand auf. O, nein, ich hatte gar keine Lust, dem Schicksal aus der Hand zu fressen. Aber es war noch Nacht, eine helle Spalte klaffte im Osten, es war vier Uhr morgens.

Am Vormittag machte ich mich auf den Weg nach Creach — aber da kam Kedril heran und schwenkte eine Depesche: trois bâtiments russes! He, Kriegsschiffe, die nach Brest wollten. Es gab ein hübsches Stück Geld zu verdienen und zwanzig Lotsen von der Küste und den Inseln machten sich auf die Suche. Wir würden natürlich das Geld einstreichen, Kedril und ich!

Vor der Fahrt tranken wir bei Chikel, das ganze Dorf betrank sich vor Aufregung: das große Geld, Gott beschütze mich! Alle Not würde ein Ende haben —

Es gab nun gar keinen Zweifel mehr, daß die Russen uns gehörten. Wie Pilot? Haha, los! Yvonne, nun du bleibst ja hier —

Es war mehr als klar, daß die Panzer auf das Feuer von Creach halten würden, und auf dieser Annahme basierten unsere Operationen. Aber man kann von russischen Kriegsschiffen unmöglich Pünktlichkeit verlangen, sie ließen auf sich warten. Die See tobte und spektakelte, das Großsegel donnerte und der Mast ächzte und kreischte. Kedril lag mit dem Körper gegen das Steuer und brüllte so laut er konnte seine Befehle. Und wir, der Matrose und ich, wiederholten sie brüllend, zum Zeichen, daß wir verstanden hatten, und unter einem unbeschreiblichen Geheul jagten wir durch die nächtigen Wasserschluchten und kletterten wir über die bebenden, atemlosen Wogenketten. Unser Fockmast bohrte sich bis zum Schnabel in die schwarzglänzenden Glasberge, die uns unaufhörlich entgegenrollten, und schaufelte Blöcke von Wasser in die Höhe. Wie ein zerfetztes Banner sah er aus. Die Sturzseen zischten und der Wind trillerte in den Seilen. Irgendwo erschien ein zerfetzter, verwehter Lichtfunke im Süden und wir galoppierten unsere fünf geschlagenen Meilen. Ein lumpiger, verfluchter Frachtdampfer, gehe in die Hölle!

Es wurde nichts mit dem Stück Geld, die trois bâtiments russes waren uns entgangen. Wir betranken uns aus Wut. Wir zitterten vor Erschöpfung — achtundvierzig Stunden lang hatten wir uns mit einer fürchterlichen See herumgeschlagen, ohne einen Bissen über die Lippen zu bringen. Und nichts! Diaul! Hehe! Wie hatte es Mathieu, dieser Satan, nur fertig gebracht — war er ihnen bis zum Äquator entgegengefahren — he, Kedril, Pilot Nummer Eins? Wir pufften uns ein wenig zum Scherz. Was für Hämmer Kedrils Fäuste waren! Wir waren aufgelegt zu einer Prügelei — heran! —

Nun, da bin ich wieder.

„Komm heraus, Yvonne. So reich mir doch die Hand heraus!“

Yvonnes Mund war kühl, aber ihre Wangen glühten. Ihr Haar roch warm wie der Sommer und der Geruch der Heide stieg aus ihren Kleidern. Lichter glänzten auf ihren braunen Wangen und ihrer gewölbten Stirn. Sie war so braun, wie Amorik selbst, der Einäugige.

„Wirst du herauskommen, Maria?“

Sie lächelte. Sie wußte alles, was geschehen würde, wenn sie herauskäme.

„Das nächste Mal will ich herauskommen,“ flüsterte sie.

„Nein, heute, Yvonne!“

„Das nächste Mal!“

Gut.

Ich ging und mitten in der Heide setzte ich mich auf einen Stein. Sie nahm es so heilig, sie war ein Mädchen. Sie bebte und zitterte vor ihrer Stunde. Ich werde warten, Yvonne, ich schwöre dir Geduld zu haben.

Horch! Das ist die Flut. Der Strom donnert. Horch! Ebbe. Es sind Möwen unterwegs. Der Regen prasselte über mein Dach und hoch oben stürzte heulend der Wind dahin. Ich sang. Ich ging hinaus in den Sturm und sang mit lauter Stimme, denn ich fühlte, daß ich lebte. Nebel. Er quoll durch Türe und Wände und mein Tabak wurde feucht. Creach brüllte Nächte lang. Ich ging auf und ab und mein Herz schlug, so oft Creach die Stimme erhob. Draußen antwortete ein Dampfer. Still! Er fuhr zu nahe. Ich trat vors Haus und lauschte mit verhaltenem Atem. Nun heulte er ferner. Es gab keine Gefahr mehr. In einer Nebelnacht hörte ich das Tuten eines Dampfers, der einen vollkommen falschen Kurs steuerte. Er fuhr an der falschen Seite vorüber, die gefährliche Passage de Fromveur, die alle Seeleute kennen. Er fuhr sorglos darauf los, tutete und verschwand, ohne je zu ahnen, wie nahe sein Kiel den Klippen gewesen war. Da draußen gab es Riffe wie Sensen, die nur darauf gelauert hatten ihn der Länge nach aufzuschlitzen.

Wenn die Sonne aufging und all die Halme und Gräser der Heide streifte, so sah die Insel wie bereift aus. Die Vogelzüge kamen aus dem Norden, von Irland und England, und zogen keilförmig über die Insel dahin und verschwanden blitzschnell hinter dem Horizont. Dahinterher kamen stets Trüppchen von Nachzüglern — mochten sie mitkommen oder nicht, es gab hier keine Rücksichten. In den schwarzen Nächten aber sausten die Schwärme den Leuchtfeuern entgegen, die vor ihnen aufblitzten, und ehe der schwirrende Keil schwenken konnte, hatten sich Hunderte von Vögeln die Schädel eingerannt. Die ganze Insel nährte sich in dieser Zeit von Vögeln. Auch ich. Man brauchte nur nach Creach zu gehen und sie aufzulesen. Sie lagen auf der Heide, in den Klippen, überall. Ihre Schnäbel standen ein wenig offen, als hätten sie im Sturz geschrien, runde, graue Kapseln wölbten sich über ihre kleinen Augen, die feucht blinkten. Und wie zart sich die Knochen unter den flaumigen Federn anfühlten!

Poupoul hatte gute Tage.

XXX

Guten Tag, Mathieu! Guten Tag, L’honneur, Petitjean! Guten Tag, alle zusammen!“

„Wir sind herübergekommen zum Fischen, wir wollten sehen, wie es dir geht.“

Sie hatten mich nicht vergessen! Ja, sie waren sogar bis nach Sturmvilla gewandert.

„Nun, ihr braucht ja keine Gläser, so vornehm seid ihr nicht — ah, bei allen Teufeln, Petitjean, du säufst ja die ganze Flasche aus! Sind wir fertig? Erzählt was es Neues gibt! Ihr Hunde, jetzt fällt es mir ein, ihr habt uns ja die drei Russen weggeschnappt, ihr Kerle! Kedril und ich, wir sind fast hin geworden auf dem Meer!“

Der Morgen war frisch und klar. Wie ein einziger tadellos reiner Block von Kristall lag die Luft auf dem Meer. Das Meer leuchtete stahlblau und strahlte einen kühnen Glanz aus und eine blitzende Helle, bebend von intensiven Vibrationen, die das Herz leicht und heiter machten. Am Horizont floß ein Streifen von sattem Ultramarin dahin. Man konnte ihn nicht ohne Verwunderung betrachten. Die nassen Riffe glitzerten in der Sonne. Am Hafen unten standen die Fischer, laut und fröhlich, und warteten auf eine Brise. Ihre frischgewaschenen Gesichter leuchteten rot in der Sonne. Guten Morgen! Guten Morgen allerseits!

Wir ruderten hinüber zum „Kirchturm“. In der Bai stand ein kleines leuchtendes Segel, das war Jean Louis. Immer war der Meerkönig der erste. Es sah aus, als ob es da draußen eine Handvoll Wind gäbe und so zogen wir das Großsegel auf. L’honneur, Petitjean und ich. Ho-hupp, langsam stieg das schwere Tuch in die Höhe und wir lagen mit dem Rücken auf dem Verdeck. Dann spannten sich L’honneur und Petitjean im Nachen vor den „Kirchturm“, ich lehnte mit dem Rücken gegen den Mast und handhabte das fünf Meter lange Ruder — es federte, meine Arme wurden eisenhart — und der massige „Kirchturm“ kroch langsam dahin. Das Großsegel hing schlaff wie ein Gehenkter und zappelte zuweilen ein wenig, das war alles. Kein Wind.

Die Bai war glatt wie Öl. Wo sonst die Brandung wirbelte, kräuselte und wölbte sich das Meer nur ein wenig. Die Klippen blühten wie Kirschbäume in der Sonne und weit draußen schimmerten sie wie Perlmutter. Milchige, sonnendurchtränkte Nebelstreifen schwebten langsam über die Insel, einer hinter dem andern. Ein kleiner Frachtdampfer winselte fern und dann und wann erhob auch Creach auf Minuten sein Gebrüll.

Wir hatten die Bai hinter uns und waren auf dem Meer. Die Matrosen stiegen an Bord und die Arbeit begann. Wir machten die Reusen zurecht. Das waren Weidenkörbe in der Form großer Fliegengläser. Sie hatten nur oben einen Eingang. In der Mitte wurde ein Fisch befestigt, ein halbverfaulter lascher Fisch, dessen Augen schon grau waren, Steine waren am Boden festgebunden. Die Körbe waren schwer und das Blut hämmerte in meinen Schläfen, als ich sie zusammen mit L’honneur über Bord warf. Eine perlende Schaumkrone stieg auf wo sie auffielen, dann sanken sie auf den Grund des Meeres hinab. Sie waren mit langen Stricken versehen, die am Ende Bündel von Korkstücken trugen, damit man sie wieder heraufziehen konnte.

Die Arbeit war getan und wir hatten gute sechs Stunden Zeit.

Der mousse hatte unterdessen Kaffee gekocht und wir saßen rings im Kreise auf dem Deck und tranken ihn aus einem Blechtopf, der Jahresringe von Schmutz, Wein, Kaffee und Kognak hatte. Ich streckte mich in der Sonne aus und bot ihr Arme und Gesicht und die nackten Füße dar. Und ich fühlte, daß ich in der Hitze aufging wie das Brot im Ofen. Das Meer war glatt und durchsichtig wie Eis, mit einem weißlichgrünen Riß da und dort in der Tiefe. Zuweilen kräuselte es sich wie Hautfalten und steuerbord zog in der Ferne eine glitzernde Straße vorbei, wie Myriaden kleiner, rascher Fische. Die Möwen schwirrten und Trüppchen von Meerschwalben zogen dahin.

Triii — triii —

Döi — döi — gullugullu gullu — döi.

Eine dreieckige Flosse tauchte auf und etwas atmete, genau wie die Luftbremse einer elektrischen Tram, und strich rasch dahin, gute vier Meter lang. Ein „souffleur“. Er schwamm rasch, atmete noch zweimal, dreimal und war verschwunden. Die Insel lag in der Ferne, wie ein graues schuppengepanzertes Tier, das schreckliche Gebiß lauernd halb unter Wasser, einen Stachel auf der Nase. Sie sah unbewohnt aus, und wem hätte es auch einfallen sollen, auf diesem unwirtlichen Steinhaufen zu wohnen? Ein Nebelstreifen näherte sich Creach, verhüllte ihn, und Creach brüllte, während hier außen die hellste Sonne schien. Der Nebelstreifen kroch näher und hüllte den „Kirchturm“ ein. Nebelschnüre zogen vorüber und hängten sich in Kleider und Haare, so daß alle aussahen, als gingen sie in Rauch auf. Ein Dampfer tutete, mächtig und ruhig, wie nur ein großes Postschiff tutet, das keine Angst hat und um freie Fahrt ersucht. Er kam näher und wir griffen zu den Rudern, denn man konnte nicht wissen, woher er kam. Da erschien er wie ein riesiges Gespenst im Nebel, mit all seinen Masten, Rahen, Kaminen, Verdecken. Es war ein P.- und O.-Steamer. In diesem Augenblick schlüpfte der Nebel hinweg und der Dampfer zog leuchtend und glänzend an uns in nächster Nähe vorbei.

Auf dem Verdeck standen Gruppen von Mädchen mit wehenden Schleiern. Augenblicklich begann L’honneur die Mundharmonika zu spielen. Sie schrien und quiekten und ihre weißen Taschentücher flatterten. Hiiii! Wollt ihr Fische haben? L’honneur hielt einen Fisch in die Höhe und warf ihn dem Dampfer entgegen. Hiii! schrien die Mädchen. Dann spielte L’honneur, der ein Allerweltskerl war: God save the queen. Hi—hi—hiii! schrien sie. Der „Kirchturm“ kam ins Schaukeln.

„L’honneur!“ sagte L’honneur. „Wenn wir sie doch hier hätten! Ah! Für jeden eine und für mich zwei junge Witwen!“ Und er blickte dem davonstreichenden Dampfer mit hellen, wilden Augen nach. Dann machte er eine instinktive, unglaublich komische Bewegung und wir starben vor Lachen.

Ein oiltank kam heran. Dieser Dampfer sah komisch aus, da er den Kamin ganz hinten hatte. Es waren unfreundliche Leute, schwarz wie Neger sahen sie zu uns her und grinsten nur ein wenig, L’honneur erbot sich sie auf die hölzerne Fresse zu schlagen.

Eine Weile war es ruhig — da und dort standen Dampfer, sie verschwanden in den Nebelstreifen, tuteten, erschienen wieder — dann kam ein sonderbarer Segler heran. Guter Gott! Er war klein und stammte sicher aus einem andern Jahrtausend. Er hatte zwei Maste, einen richtigen Mast und dahinter einen Stumpen. Die Reling war zwei Handbreiten hoch, das war alles, und sonderbare Burschen handhabten die langen Ruder. Es war ein Boot, in dem man kaum über einen See fahren konnte geschweige übers Meer.

„He, wieviele Knoten macht ihr in der Stunde?“

Niemand antwortete.

L’honneur steckte die Finger in den Mund und pfiff herausfordernd. Sollen wir an Bord kommen und euch verhauen?

„Woher kommt ihr?“

„Von Spanien.“

Hier aber wurde Petitjean lebendig. Er schnupperte mit der Stumpfnase und seine kleinen Augen sprühten Funken.

„Wohin fahrt ihr?“ fragte er. Sie waren nun ganz nahe.

„Nach Le Havre.“

„Also nach England fahrt ihr?“ sagte Petitjean und lachte. „Was für Ladung habt ihr?“

„Wein.“

Petitjean kannte diese Sorte. Er war ja selbst in dieser Branche tätig gewesen. „Es sind Schmuggler,“ sagte er zu mir, „sieh doch das Schiff an! Natürlich fahren sie nie nach Le Havre. Hahaha, gebt uns etwas Wein, wir wollen euch Fische geben.“

Aber die Leute auf dem sonderbaren Boot verstanden auf einmal kein Wort Französisch mehr, sie schimpften auf Spanisch.

L’honneur erbot sich ihnen die Schädel einzuschlagen.

Petitjean aber folgte ihnen mit glänzenden, sehnsüchtigen Blicken. „Ah, sie sind in der Klemme, sie rudern ja. Sie sind abgetrieben worden und haben keinen Wind.“ Er sah ihnen voll Mitgefühl nach und schnalzte mit der Zunge.

Petitjean war ein dumm und treuherzig aussehender Bursche, so wie die oft aussehen, die plötzlich zum Tod verurteilt werden. Sie haben da etwas getan, bei Gott, sie wissen kaum was, sie sind ganz erstaunt. Er hatte fünf Jahre bei einem Patron gedient, dessen Spezialität es war Schiffe zu verlieren. Vertraue ihm ein abgedientes Schiff an, das die Gesellschaften nur noch ungern versichern, du brauchst ihm gar nichts zu sagen: die Gesellschaften ziehen nicht mehr recht oder sonst etwas, das genügt. Das Schiff kommt nicht zurück! — Es scheitert, es sinkt, eines ist sicher, es kommt nicht wieder. Es ist zum Beispiel angebohrt, sinkend, in jämmerlicher Verfassung, Torpedoboote können es schleppen wollen, es ergibt sich nicht, es stirbt. Petitjean hatte mehr Schiffbrüche mitgemacht als irgend ein anderer. Die Bezahlung war ausgezeichnet. Aber dann, gerade als Petitjean zum Militär mußte, ertrank sein Patron mit der ganzen Besatzung. Er hatte diesmal einen kleinen Fehler gemacht, er rannte auf, bevor er es wollte.

Tagelang konnte Petitjean erzählen. Drei Worte, drei Gesten, aber man sah alles. Er war zu dumm um zu lügen.

L’honneur dagegen war ein witziger Bursche mit hellen Augen und entwickelten Zügen. Er log. Alle seine Bewegungen waren rasch. Er war immer geschäftig. Er nagelte an einer Stange, knüpfte ein Seil, flickte ein Segel, immer sah er etwas. Er war barfüßig, trug eine kurze Hose und ein lächerlich kurzes Hemd — was für ein Hemd war es doch! Es reichte nur ein wenig unter die Schultern, ließ seinen ganzen braunen Rücken, die Arme und die Brust frei, und doch war es ein Hemd und noch dazu ein Hemd aus San Franzisko. Auf seinen rechten Arm war ein Segelschiff tätowiert und Napoleon, um den sich eine dicke Schlange ringelte, auf seine Brust ein Riesenbildnis der Republik, und wenn seine Hose herabrutschte, so sah man auf seinem Sitzfleisch einen runden, böse blickenden Fisch mit zornigen Stacheln, L’honneur war braun und halbnackt und man sah, daß er unzweifelhaft männlichen Geschlechts war.

L’honneur legte ein Seil wie eine Acht auf das Deck und tanzte, während er dazu spielte; er machte seine Sache geschickt und berührte das Seil nie mit den Füßen.

Natürlich konnte ich das auch. „L’honneur, spiele!“ Aber, siehe da, es war nicht so leicht wie es aussah.

Dann legten wir die Leinen aus und wurden ganz still. Stunden vergingen. Wir fischten den lieu, blank wie Stahl, mit spitzer Hechtschnauze, den silberglänzenden pirronneau, der einen Drachenflügel auf dem Rücken hat, den grausamen sarthe, mit spitzen Zähnen im Rachen, gieriger breiter Drossel, gewölbten Katzenaugen, getigertem Leib, ziegelrotem Kopf und rotgelben Flossen, den liebchen coquette, der scharlachrot wird, wenn er an die Luft kommt, den morchelartigen vielle, dick und plump, mit lüsternen Negerlippen, den rouget, merland, congre. Da lagen sie in der Ecke, schnappten nach Luft, starben. Morgen werden wir ins Meer stürzen und nach Luft schnappen. Sarthe wird herankommen wie ein Unterseeboot und uns die Augen ausreißen, und der dicke vielle wird uns mit seinen lüsternen Negerlippen die Nase abknabbern.

Die Sonne stieg ins Zenit und ich lag auf dem heißen Deck ausgestreckt und blinzelte zu ihr empor. Sie fauchte, flackte und ließ mir lange feurige Fahnen ums Gesicht wehen. Ich schloß die Augen und schlief. Aber da zuckte die Leine an meinem Finger: irgendein Fisch da drunten, der mich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünschte.

Die Glocken der Insel bimmelten in der Ferne und der Schiffsjunge trug das Mittagessen auf. Das war ein großer Topf, gefüllt mit Brühe, Kartoffeln, Kohl, Fischstücken, herrlich. Wir saßen um den Topf herum und fuhren mit den Löffeln hinein. L’honneur schlug ein derartig rasendes Tempo an, daß niemand ihm folgen konnte. Der mousse durfte den Topf auslecken.

Nun war es Zeit, die Reusen in die Höhe zu ziehen. Die Seile hatten schon Rinnen in den Bootsrand geschnitten und das Boot schnurrte und surrte wie eine Baßgeige. Man mußte ein Stück Zeug um die Hände wickeln, denn die nassen belasteten Stricke zerfetzten die Haut. Das Boot troff von Wasser und die mit Tang und Gras behängten Reusen brachten einen starken fruchtbaren Geruch vom Meeresgrund herauf. Die ersten Körbe waren leer, ein paar Muscheln und Seesterne, nur eine große Krabbe hockte darin, L’honneur empfing sie wenig höflich. Da sie nicht freiwillig aus dem Korb spazieren wollte, riß er ihr zuerst einige Beine aus, ja, nun ging es. Korb um Korb stieg empor und wir sahen alle gespannt ins Wasser, wo der Korb erscheinen mußte. Wenn man die bleiche Fischleiche schimmern sah, so war wenig Hoffnung vorhanden. Das Geschäft blühte, wir waren nicht unzufrieden.

Hehe! Heraus mit euch!

L’honneur faßte sie geschickt um die Taille, preßte sie zwischen die Knie und schnitt ihnen die Sehnen der Scheren durch. Die Langusten schnurrten, burr! burr! und schnellten sich auf den Schwänzen rückwärts, sie scheuten vor L’honneurs Messer und glotzten es mit ihren langen Pilzaugen an. Es half ihnen nichts. Es war merkwürdig, daß sie meistens zu Paaren in den Körben saßen. Gewiß war das eine Art von Hochzeitsreisenden, die plötzlich auf ihrer Wanderung diese herrliche mit Fisch gefüllte Villa auf dem Meeresgrund angetroffen hatten und sich häuslich niederließen. Hier wollen wir bleiben, Geliebte — aber da fing die Villa an zu marschieren. Sie trugen Kupferpanzer und im Nacken Knorpelschilder; auch ein Paar Hummern war dabei, in blanken Stahlbrünnen. Sie schlugen wild mit den Zangen um sich und L’honneur erhielt einen Schlag in die Hand. Das Blut sprang heraus. „Sacre nom de bleu cochon!!“ Vorsicht, L’honneur! Ein Hummer schneidet einen Finger glatt durch.

Wir hatten die Körbe wieder instand gesetzt und hinabgelassen, als sich ein kleines Boot näherte. Wir machten die Augen scharf, wer in aller Welt — es war Yann.

Da kam er herausgerudert, vier Meilen weit, um uns einen Besuch abzustatten.

„Ah, der kleine Kapitän! Ihr arbeitet heute nicht?“

„Nein, die Maschine ist kaputt!“ Yann tat laut und gleichmütig, er wollte nur sehen was wir trieben — aber ich fühlte sofort, daß Yanns Besuch einen bestimmten Zweck hatte. Er galt mir.

Yann hatte blutunterlaufene Augen und ich wußte, was das bedeutete. Er hatte seine Periode. Dann trank er schrecklich, er trank tagelang, und die Matrosen auf dem „Arbeiter“ wagten nicht zu sprechen. Mit einem vor unsinniger Wut geschwollenen Nacken tigerte er hin und her und suchte nach Rostflecken auf dem Deck. Er schabte, kratzte, untersuchte jeden Nagel, rasselte mit den Ankerketten und Winden, knurrend, ohne eine Wort zu reden. Er riß dem Matrosen, der mit Anstreichen beschäftigt war, wortlos den Pinsel aus der Hand und strich selbst an. Der Matrose aber nahm sich wohl in acht ein Wort zu sagen: denn dann spie dieser Vulkan Feuer und es hagelte Felsblöcke. Und immer schrecklicher trank Yann, ohnmächtig vor Wut, denn er wußte nicht warum.

In dieser Verfassung traf Yann auf dem „Kirchturm“ ein.

XXXI

Aber Yann sagte nichts.

Es wurde Abend und auch der Abend brachte uns keinen Wind. Wir trieben mit dem Strom an der Insel vorüber, nach Norden. Eine Zeitlang mußten sich die Matrosen im Nachen vorspannen und Yann und ich arbeiteten mit dem langen Ruder. Wir strichen haarscharf an den Klippen vorbei, an denen der Gischt sausend emporschoß.

„Nun, Yann, wie geht es?“

Yann sah mich scheu an. „Gut, wie sonst?“

Die Sonne sank und das Meer blinkte wie tausend Fensterscheiben. Sie glühte purpurn in einem violetten Himmel, dann wurde sie gelb und matt und der Himmel hinter ihr fahlgrau. Die blendende Straße, die von ihr bis zu uns ans Boot führte, schrumpfte zusammen, wurde kürzer und kürzer und verschwand. Die Sonne war gegangen; auf dem Stillen Ozean graute der Morgen. Hinter der dunkeln Insel schossen Lichtgarben hervor, das war Creach. Stiff leuchtete dicht vor uns, weiß, weiß, rot, immer ferner.

Die Dämmerung war weich wie blauer Rauch.

Der mousse fachte Kohlen auf einem kleinen Ofen an, und als sie glühten, legte er unsere große Krabbe mit dem Rücken darauf. Zuerst fühlte sie sich behaglich; das war eine Art Julisonne, die ihr auf den Rücken brannte, sie streckte sich wohlig aus, dann aber wurde es ihr zu heiß. Sie ruderte verzweifelt mit den Scheren und mahlte mit den Freßwerkzeugen. Die Schale bekam ein Loch, es zischte in den Kohlen, aber immer noch regte sie sich. Endlich lag sie still und das war das Zeichen, daß sie gar war.

Wir hatten Brot, einen Tiegel ranziger Butter und als Leckerbissen unsere Krabbe. Ich bekam die Scheren. Hallo! Wie das schmeckte! Auch die Butter war eigentlich nicht ranzig und mundete vorzüglich. Wir waren ausgehöhlt vom Hunger und hätten Blechbüchsen und Sägespäne verschlungen. Yann entkorkte eine Flasche und ließ sie zirkulieren.

Ich muß sagen, es war schön. Wir waren müde, satt und tranken. Sie alle saßen im Kreise, braun und wild, mit hellen Augen im Kopf, gutmütig, wie Kinder, die das Meer groß gezogen hatte, mit kräftigem, anheimelndem Lachen, L’honneur erzählte ein Erlebnis. Wie ihr Schiff zu Eis wurde, im Norden von Neufundland. Das Deck vereiste zuerst und die Reling, die Maste vereisten und lange Eiszapfen hingen von den Rahen und Tauwänden herab, das Steuer vereiste und schließlich war das ganze Schiff ein schwerfälliger Eisklumpen. Und das Treibeis kam und schloß es ein und preßte es, daß es knarrte. So trieb es langsam dahin, viele Tage lang, L’honneur hatte einen sorgfältig gehüteten Zeitungsausschnitt in der Kajüte und holte ihn. Ich mußte ihn lesen.

Dann erzählte Petitjean von seinem Patron. So erzählte er: „Der Patron, siehst du, war klein und breit. Viereckig. Er war stark und riß einen Anker mit der Hand aus dem Grund. Er wird zornig, siehst du, und sein Nacken steigt über den Kopf empor. So! Wir haben Kohle geladen. In England. Kohle? Dreck! Der Patron geht herum und spricht nicht. Gib acht! sagen wir. Der Patron sieht sich den Himmel an. Das Meer. Die Küste — da in der Ferne. Der Patron kennt jeden Stein im Meer. Mit verbundenen Augen segelt er um die Erde. Auf Ehre! Der Patron kommt übers Deck geschaukelt, eine Flasche in der Hand. Garçons, wir wollen ein Gläschen trinken. Verstehst du? Das ist das Zeichen. Wir packen unser Bündel. Morgen ist das Schiff nicht mehr über Wasser.“

„Der Patron war ein Seemann. Ein Seemann! Er segelte bei schlimmstem Wetter mit einem Taschentuch an den Stangen zwischen zwei Häusern hindurch. Auf Ehre! Der Patron war ein Künstler, ein professeur!“ sagte Petitjean und riß die Augen furchtbar weit auf.

Und wir lachten, weil er die Augen so fürchterlich aufriß.

Nun aber kam die Reihe an mich.

„He, und nun spiele etwas!“ sagte Mathieu.

Ich zog die Flöte aus der Tasche, blies den Tabak heraus und feuchtete die Lippen an.

„Was wollt ihr hören?“

„Einerlei.“

Also spitzte ich die Lippen, blies in meine kleine Flöte hinein und ließ die Finger im Stechschritt auf den Löchern spazieren gehen. Wunderbar klar klang meine kleine Flöte übers Meer:

Letzte Rose, wie magst du so einsam hier blühn?

Deine freundlichen Schwestern sind längst, schon längst dahin,

Keine Blü — üte . . . .

Sie saßen alle im Kreise und lauschten.

„Weiter!“

Und ich lies die Finger auf der Flöte tanzen und blies:

Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht,

Pflücket die Rose, eh’ sie verblüht . . .

Ich schloß mit einem wunderbaren Triller und hiermit war mein Repertoir erschöpft.

„Wie schön er spielt!“

„Du wirst doch nicht schon aufhören? Vorwärts!“

„Ihr wollt also noch mehr hören? Gut.“

Ich klopfte die Flöte aus und setzte sie wieder an den Mund.

Und abermals sang meine kleine Flöte:

Letzte Rose, wie magst du so einsam hier blühn —

Und hierauf:

Freut euch des Lebens, solange noch das Lämpchen glüht — —

Wiederum schloß ich mit einem wunderbaren Triller, den ich leise ausklingen ließ, und das Konzert war zu Ende.

Sie saßen im Kreise und nickten.

„Schön hast du gespielt, heute!“

Nur Yann sagte nichts.

Der Himmel wurde tiefblau und die Nacht kam. Alle verkrochen sich, nur Mathieu hockte wie ein regungsloser Schatten am Steuer. Ich lag auf dem Verdeck, das sich voll Wärme gesogen hatte, die Arme unter dem Kopf verschränkt und lauschte auf all die kleinen Geräusche, die am Boot pickten und klopften. Stiff im Süden blinkte und Creach stach mit gleißenden Dolchen nach uns. Dort schlief Yvonne. Im Norden kroch ein grüner Funke: ein Dampfer, der in den Kanal hineinfuhr. Haarscharf zeichneten sich die Taue über mir vom Himmel ab. Die Sterne blitzten und flimmerten. Wie ein Regen fällt — dachte ich.

Da kam der Mond herauf. Glühend rot und übermäßig groß stand er am Horizont und all die kleinen Wellen schauerten ihm entgegen. Er stieg, erhaben und würdig, ohne jedoch Scheu oder Furcht einzuflößen. Er wurde zitronengelb, und als er höher stieg, silberweiß und gleißend. Die Taue warfen haarscharfe Schatten über das Deck, die sich zuweilen leicht schwangen und ineinander flossen. Mit dem Mond war eine kleine, schmale Wolke heraufgekommen. Sie hatte sich über den ganzen Himmel ausgebreitet und schimmerte weiß wie frischgefallener lockerer Schnee. Aber so schnell wie Schnee schmilzt, so schnell zerging sie und im Augenblick war der Himmel wieder klar. Dann erschien am Himmelsrand unter dem Mond ein Rudel kleiner Wolken, wie die Kundschafter eines Heeres, die kamen um auszulugen. Sie schwenkten und verschwanden wieder, das Heer kam nicht herauf. Überall züngelten kleine Rauchwölkchen auf den kleinen Wellen, als ob das Meer zu brennen anfinge. Sie wurden dichter und auf dem Meer schwamm eine Insel von Dunst, wie auf einer Wiese im Herbst. Und plötzlich erhob sich die Nebelinsel und schwebte langsam in die Höhe: das — Meer hatte eine Wolke geboren.

„Wir werden Nebel bekommen,“ sagte Mathieu, wie eine Stimme aus dem Meer.

Und wieder lag ich und gab acht auf all die merkwürdigen Dinge, die ringsum vor sich gingen.

Das Meer wurde dunstig und grau, als sei der Mond plötzlich untergegangen. Stiffs Feuer in der Ferne sah aus wie ein entzündetes rotes Auge, das sich nur mühsam unter Schmerzen öffnete und augenblicklich wieder schloß. Am Horizont aber huschten fahlschimmernde Lichthiebe, das war Creach.

Ein Schatten tauchte aus der Luke und ich hörte nackte Füße auf dem Deck. Ich schloß die Augen.

„He!“ flüsterte Yann und kauerte sich knackend neben mir nieder.

Ich rührte mich nicht. Ich hatte ja gewußt, daß sein Besuch mir galt.

„He!“ Yann rüttelte mich und ich schlug die Augen auf. Eine Weile sah mich Yann an, dann sagte er: „Reise ab!“

Ich öffnete vor Erstaunen den Mund, ich entgegnete nichts.

„Reise ab!“ wiederholte Yann.

Ich lächelte. Yanns Augen waren wie dunkle glänzende Löcher. Selbst jetzt im Halbdunkel konnte ich bemerken, daß sie blutunterlaufen waren. Kognaknebel strömten aus seinem Mund.

„Yann,“ sagte ich, „du bist verrückt. Gehe schlafen, mein Freund!“

„Daß du es weißt,“ fuhr Yann fort, „mit unserer Freundschaft ist es aus. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun.“

Er sprach die Wahrheit, ich hörte es an seiner Stimme. Ich richtete mich auf.

„Yann?“

Yann knurrte. „Rosseherre hat mir alles gesagt. Gestern nacht. Heute früh war ich bei dir, aber du warst fort. Deshalb kam ich aufs Meer heraus. Ja, sie hat mir gestanden, daß sie bei dir war — in einer schwachen Stunde, ich war in Brest, da kam sie zu dir und klopfte und du kamst heraus. Sie lief davon, aber du holtest sie ein und trugst sie auf den Armen ins Haus.“

Ich erstaunte immer mehr. Meine Gelenke wurden ganz schwach. „Sie hat es dir also gesagt, Yann?“

„Ja, alles. Und ich habe sie geschlagen, bei Gott, furchtbar schlug ich sie. Ich war außer mir. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte sie totgeschlagen. Aber sie gab keinen Laut von sich, deshalb hörte ich auf.“

Pause.

Eine Sternschnuppe glitt über den Himmel. Auch da draußen war nicht alles in Ordnung. Ich dachte nach. Wie sollte ich Rosseherre je verstehen? Sie hatte sich Yann ausgeliefert — nur um ihn gegen mich aufzureizen. Aus keinem andern Grund.

„Das ist alles, was ich dir sagen wollte,“ flüsterte Yann von neuem. „Du hast mich betrogen. Einer ist nun zuviel auf der Insel. Reise ab, sage ich dir!“

„Und wenn ich nicht reise?“ fragte ich nach einer Weile.

Yann schwieg. Dann lachte er leise und heiser. „Reise!“ flüsterte er. „Du bist mein Freund gewesen und deshalb sage ich dir: reise! Ich bin toll, hörst du? Reise mit dem nächsten Boot!“

Das war unsere ganze Unterredung. Ich lag und dachte lange nach, über Nacht war alles anders geworden. Ich hatte Yann verloren und wir waren doch so gute Kameraden, wie? Lebe wohl, Yann! Ob ich aber reisen würde oder nicht, das war wohl meine Sache. Da überrieselte es mich kalt. O ja, Yann war ein Bursche, dem man manches zutrauen konnte. Ich lachte leise vor mich hin. Mochte er in Gottes Namen tun, was er wollte. Er sollte sehen, wie er mit diesem Anfall von Eifersucht fertig würde — gute Nacht!

Ich schlief, tief und gesund. Gegen Mitternacht erwachte ich bei einem Pfeifen, das über mich hinging. Es donnerte fern, Blitze irrten am Horizont wie fein verzweigtes Geäder aus Feuer und beleuchteten die Ränder schwerer Wolkenmassen über uns. Das Segel knatterte wie Salven und wir trieben rasch dahin.

„Nimm dich in acht, daß du nicht über Bord gehst!“ rief Mathieu lachend. Er hatte immer noch Wache.

Wie konnte ich denn über Bord gehen, da ich so nahe an der Reling lag! Es begann zu regnen und ich zog einen Segelfetzen über mich; der Regen floß über mein Gesicht, er war lauwarm. Die Blitze blendeten durch meine Lider hindurch und leuchteten rings durch mein Gehirn. Ich schlief wieder.

Als ich bei einem Gefühl der Übelkeit erwachte, war es Morgen. Der „Kirchturm“ rollte, drückte sich in die Wogen und stieg. Die beiden kleinen Nachen im Schlepptau folgten ihm hastig und mit ängstlichen Sprüngen, wie zwei junge Hunde der Mutter. Das Meer war grau und ein grauer, feiner Regen fegte schräg darüber hin. Wir waren von einem kreisrunden Wall von Rauch eingeschlossen und konnten keine zweihundert Meter weit sehen.

An Deck waren sie geschäftig.

„Wohin fahren wir?“

„Nach England. Es wird schlimme See geben, L’honneur! Trinke deinen Kaffee drunten.“

Wohlan, nach England! Ich kletterte in die Kajüte hinab, es gab hier keine Treppe, man mußte einen Klimmzug machen und seine Beine geschickt durch die Luke schwingen. Ich trat auf Fleisch. Das war Yann, der sich auf dem Boden zusammengeringelt hatte und schlief. Poupoul lehnte mit dem Rücken gegen ihn und streckte die Pfoten in die Höhe. Nur Petitjean saß auf der schmalen Holzbank und trank aus dem Blechtopf.

„Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen, der kleine Kapitän!“ flüsterte er, nachdem wir uns guten Morgen gesagt hatten. „Was hat er doch?“ Petitjean schob mir den Blechtopf hin. Ich trank rasch, denn hier unten gefiel es mir nicht.

Die Kajüte war winzig, eine Kiste, in der man nicht aufrecht stehen konnte. In der Ecke stand eine kleine bunte Madonnenstatue und an die Wand war in verschnörkelten Buchstaben gemalt: Dieu protège le Clocher du village et son équipage. Darunter hatte L’honneur geschrieben: Gott beschütze die Trunkenbolde.

Nun, ich hatte genug und turnte an Deck. Ein Dreimaster ritt durch den Dunst, erdrückt von seinen fünfzig schweren Segeln. Er profitierte vom Wind.

Ja, es gab schlimme See. Die raschen Wasserhügel bedeckten sich mit den bekannten weißen Schnüren und die Schaumkronen brachen nicht mehr über, sondern stiegen gezackt in die Höhe und der Wind zerriß sie wie Fahnen. In unseren Seilen tremulierte der Wind in den höchsten Lagen. Die toten Fische rutschten über das triefende Deck und der mousse, blaß und krank, sammelte sie in einen Korb. Dampfer tuteten, heulten und winselten da draußen und zuweilen erschien der trübe Schatten eines Dampfers innerhalb unseres Rauchwalls, um rasch wieder zu verschwinden.

Da geschah etwas ganz Außerordentliches, L’honneur am Steuer wandte sich plötzlich ab und begann zu spucken.

„L’honneur!“ schrien wir alle und lachten laut.

L’honneur wandte uns das grüne Gesicht zu. „Ha! O, Hölle, das ist mir seit sechs Jahren nicht mehr passiert, L’honneur!“

Der Schiffsjunge aber lag flach auf dem Deck, die Arme links und rechts ausgestreckt und bei jeder Bewegung des „Kirchturms“ wackelte sein Lausbubengesicht hin und her. Er sah wie tot aus.

Auch ich hatte Unglück. Eine Schaufel Spritzwasser war ausgerechnet in meine linke Hosentasche gestürzt und hatte mir den Tabak durchnäßt. Also mußte ich hinunter in die Kajüte, Kohlen anfachen, den Tabak trocknen. Yann war eben aufgestanden. Er saß auf der Bank, den Blechtopf in den Händen, und sah mich mit leeren. Augen an.

„Morgen, Yann!“

Yann schwieg.

Dann hörten wir einen großen Dampfer tuten. Er brüllte hinter unserem Rauchwall, der mit uns wanderte, so schnell wir auch fuhren, bald schrumpfte und bald sich weitete. Wir legten die Ohren über die Reling und sprachen kein Wort. Das surrende Tuten kam näher, aber es war unmöglich die Richtung zu bestimmen. Plötzlich aber warf sich Mathieu gegen das Steuer und brüllte: Changez les voiles! Wir heulten zur Antwort und gingen an die Arbeit. Mathieu hatte zuerst den Bug des Dampfers gesehen und wagte es nicht ihn zu kreuzen. Der Dampfer zog vorüber. Er hatte vier braune Schornsteine und vier Maste und ein dreistöckiges langes Verdeckgebäude. Ein Lloyddampfer. Die Sturzseen schlugen über sein Vorderdeck, aber er lag vollkommen ruhig. Die Brücke war mit Segeltuch abgedeckt und keine Seele war an Bord zu sehen. Wie tot sah er aus, nur seine Schornsteine qualmten. Aber horch! Horch doch! — Musik! Wir sahen einander an und lächelten. Diese Lumpen saßen bei der Tafel und die Kapelle konzertierte! Er durchdrang den Rauchwall und verschwand. Wir schnupperten in der Luft. Das war sein Rauch. „L’honneur!“

Gegen fünf Uhr drehte sich der Wind um einige Striche und raste nun wie ein Orkan daher. Wir aber waren guter Dinge.

Petitjean und Yann lagen am Steuer, die Sturmkappen tief über die nassen, zerzausten Gesichter gezogen und sangen ein bretonisches Lied. Sie brüllten, daß ihnen die Augen aus dem Kopf traten.

Die See sah wenig ermutigend aus. Von allen Seiten stürmte sie gegen uns an. Wir waren verloren in den Wogen wie die Laus im Gesäusel der Blätter.

Ich kauerte mich in einen Winkel, zog die Knie an und blies mit aller Kraft in meine Flöte. Der Sturm riß in meinen Haaren und verbog mir die Nase im Gesicht.

Freut eu—ich des Lebens . . .

Meine Finger wurden schwach. „Hehe — die Flöte geht nicht mehr —!“

Und wieder brüllten die Steuerleute.

„Du vielgeliebtes Mädchen am fernen, fernen Strand —“

Ich hörte sie in weiter Ferne, das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich fühlte, wie ich bleicher und bleicher wurde, aber ich biß die Zähne zusammen: ich werde mich nicht ergeben —! Der kalte Schweiß brach mir aus den Schläfen, das Meer floß in einem grauen Strudel zusammen, der steiler und steiler wurde.

Gesichter tauchten aus dem kreisenden Strudel auf, es wimmelte von ekelhaften Fratzen und Larven unter mir im Meer. Hände griffen nach mir. Da erhielt ich einen Schlag in die Magengtube, daß es mir dunkel vor den Augen wurde. Eiserne Finger schraubten sich um meine Schläfen. Aber dann — während mich ein Dutzend Hände an den Haaren festhielt — schob sich ein schleimiger, spinnenbeiniger Finger durch meine Zähne in den Mund, den Schlund hinab, bis zum Magen. O, hoho! Ich schüttelte mich. Da zerrten die Hände an meinen Haaren, daß sie meterlang wurden — ich war steif und kraftlos am ganzen Körper — und die Hände zerrten mich über Bord. Sie rissen mich in die Tiefe und schleiften mich an den Haaren durch das nachtschwarze Meer. Blitzschnell, meilenweit. Plötzlich ließen sie mich fahren und mein Schädel krachte gegen den Grund. Ich rang nach Luft und stieg kreiselnd empor. Sollte es denn kein Ende haben — noch eine Sekunde und ich kann nicht mehr. Da — ich war oben und schöpfte Luft. Ich war immer noch an Bord des „Kirchturms“ und hörte die Steuerleute wieder brüllen.

„Hehe!“ rief mich Mathieu an. „Wie geht es?“

„Vorzüglich,“ schrie ich und sah ihm mit verglasten Augen ins Gesicht.

XXXII

Am dritten Tage erreichten wir gegen Abend wieder die Insel.

Yann sah mich bedeutungsvoll an, als wir an Land gingen.

„Höre, Yann,“ sagte ich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter, „du mußt dir diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen. Ich reise nicht. Ich reise, wann es mir gefällt.“

„Du reist also nicht? Morgen geht der Kommissionär hinüber.“

„Nein.“

Yann senkte den Nacken. „Du bist ein toter Mann!“ sagte er nach einer Weile. Ganz leise sagte er es.

„Ah, Yann, du wirst schon vernünftiger werden, ich kenne dich ja. Gute Nacht!“

Yann ging ohne mich anzusehen, ohne Gruß.

XXXIII

Der „Kommissionär“ fuhr. Ich sah ihn durch die Bai kreuzen. Ich lachte. Nein, mein Freund, ich habe noch eine Menge vor auf der Insel! Heute ist Mittwoch und Amorik, der Einäugige, hat Dienst.

In der tiefen Stille der Nacht erklang nur ein dumpfer Schritt. Das Meer wusch, aber ich hörte es nicht mehr. Mein Schritt war es.

Ich pochte an ein Fenster.

„Ich bin es, Yvonne. Da bin ich wieder! Ja, wir wurden vom Unwetter verschlagen.“

Ich küßte Yvonnes warmen Hals. Sie preßte meinen Kopf darauf und mein Mund versank darin.

Dann erzählte sie mir flüsternd, daß sie um mich gebangt hatte in diesen Tagen.

Über uns drehte sich die gleißende Windmühle und versprengte Lichtreflexe kreisten glitzernd über den schwarzen Boden. Wir aber standen ganz im Dunkeln. Es fiel! Was ist das? Es klang so weich. Es regnete weiche Geräusche, Flattern.

„Das sind die Vögel!“

O ja, es waren die Vögel, die aus dem Norden kamen und ins Licht rannten.

„Yvonne?“

Selbst im Dunkeln sah ich die Grübchen in Yvonnes Wangen. Sie lächelte.

„Du weißt, was du mir versprochen hast?“

„Ich weiß es.“

„Und du wirst heute herauskommen?“

Yvonne nahm meine Hand in ihre heißen Hände und preßte sie. Sie zitterte.

„Nicht heute,“ flüsterte sie, „nicht heute. Morgen, übermorgen —“

Da fiel etwas Weiches auf meine Schulter. Ein Vogel. Ich erschrak und küßte Yvonne, daß mich die Lippen schmerzten.

„Ich denke an dich, Yvonne,“ flüsterte ich, „ich bin auf dem Meere und denke an dich. Ich kann dich nicht vergessen. Komm, Yvonne!“

Yvonne schüttelte den Kopf. „Übermorgen —“

Das Blut rauschte in meinem Kopf.

„Und übermorgen —?“ sagte ich laut.

„Um Gottes willen, sprich nicht so laut!“

Ich hielt mich am Gesims fest und schwang mich hinauf. Yvonne wich zurück. Ich stand in der finstern Stube.

„Jesus,“ flüsterte Yvonne.

„Wenn du nicht herauskommst —!“ sagte ich und zog sie an mich. Yvonne bebte und küßte mich auf die Wange —

Ich ging. Ich ging über die Heide. Ich nahm die Mütze ab um meinen heißen Kopf zu kühlen.

„Ja, Yvonne,“ sagte ich, „wie lange wolltest du mich noch warten lassen? Wie lange, haha!“

In der Heide tauchten Gruppen von weißen Zelten auf: das waren die bleichen Giebel der Hütten im Schein von Creachs Feuer. Mitten unter ihnen stand ein hohes, spitzes Zelt, die Kirche. Ich ging am Meer entlang, nach Hause.

Das Meer dampfte, es war still und die Welle klopfte in den Felsen. Tock—tock—tock. Ich pfiff vor mich hin. Creachs Lichthiebe jagten Dunstkegel vor sich her. Als ich nahe bei Poupons Schlucht war, begann mein Herz zu pochen, und ich hörte auf zu pfeifen. Es war so still hier und die Welle klopfte eigentümlich. Ich blieb stehen. Creachs Lichthiebe fegten über die Heide und über Poupons Schlucht wallte ein haushohes Gespenst. Das war der Nebel, der aus der Schlucht stieg. Ich wartete bis der Lichtkegel wiederkehrte: immer noch stand das riesengroße Gespenst in der Nacht und winkte mir mit weißen Armen.

Ein Gefühl des Schwindels überfiel mich. Es ging dort turmhoch hinab ins weiße Nichts.

Ich möchte einen Menschen bitten mir zu sagen, weshalb ich gerade in diesem Augenblick und gerade an dieser Stelle den Schritt anhielt? Und weshalb mir gerade jetzt der Gedanke durch den Kopf schoß, daß es dort turmhoch hinab ging?

Poupoul zog die Luft ein und schlug kurz an. Stand jemand in der Heide?

„Ruhe, Poupoul!“

Creachs Licht kehrte wieder und beleuchtete den Pfad. Niemand. Nur ein Haufen ausgeschichteter Tang lag am Wege.

Da aber begann Poupoul rasend zu kläffen. Seine Augen sahen grünschillernd zu mir empor.

Ich lachte leise vor mich hin. Vielleicht war — Yann in der Nähe? „Yann, Yann!“ rief ich. „Bist du hier?“ Und ich lachte dazu, um ihm zu zeigen, daß ich keine Angst hätte, im Falle er hier wäre. Aber mein Rücken war eisig kalt, als sei mein Rock hinten aufgeschlitzt.

Ich schritt auf den Tanghaufen am Wege zu: ja, da stand Yann! Wirklich, da stand er —

„Guten Abend, Yann!“ sagte ich. „Was tust du hier so spät in der Nacht, mein Sohn?“

Yann entgegnete nichts, Poupoul hatte ihn nun erkannt und kroch ihm wedelnd um die Füße. Aber Yann regte sich nicht. Er stand und sah mich an. Es waren Yanns Augen und doch waren sie fremd. Sie brannten düster von dummer Wut und bäurischem Trotz. Er rührte sich nicht, er sagte nichts, er stand und sah mich an und seine Augen wurden immer größer.

In diesem Augenblick kam mir Yann höchst lächerlich vor. Wenn er hier auf mich gelauert hatte, weshalb regte er sich nicht? Sollte ich in Poupons Schlucht verschwinden ohne eine Spur im Rasen zu hinterlassen? Yann, Yann, heraus mit dir! Zeige, wer du bist. Du wirst mich ja nicht umsonst bekommen, aber vielleicht billig. Hoho, wie lächerlich er war!

„Wolltest du dir die Pfeife anzünden, Yann?“ sagte ich und lachte ihm ins Gesicht. Sein dummer Trotz und das alberne Anstarren machte mich zornig. War das eine Art mit mir zu verkehren?

Aber Yann regte sich nicht. Seine Augen waren nun wie große glühende Löcher.

„Wenn du die Sprache verloren hast, Yann, dann gute Nacht!“ sagte ich spöttisch um ihn zu reizen. „Ich werde jeden Abend diesen Weg gehen, verstehst du mich, jeden Abend. Ich schwöre es dir. Und jeden Abend werde ich genau an dieser Stelle ein wenig warten. Au revoir et merci, merci!“

Ich ging. Ganz langsam wandte ich Yann den Rücken zu, wartete noch ein wenig und dann ging ich. Aber Yann rührte sich nicht. Ich lachte, immer noch erregt und zornig.

Sollte er in Gottes Namen sehen, wie er aus diesem Wahnsinn herausfand, in den ihn ein kleines Mädchen und der Schnaps hineinjagten. Das war nicht meine Sache. Er ist ein Narr, Poupoul, und wir lassen uns nichts vorschreiben. Die Winterstürme werden über die Insel rasen und wir wollen sie hören. Es wird Schnee und Eis hageln und das wollen wir spüren, hörst du, Kamerad, wir wollen über die Heide gehen, wenn sie gefroren ist. Und unser großes Feuer wird prasseln und uns durch und durch blenden und die großen glitzernden Höhlen in unserer Seele beleuchten, die wir noch nicht kennen. Siehst du, wie wir mit gelben Augen ins Feuer starren und um uns heult der Wind seinen großen Gesang?

Yann, Yann!

Am Morgen fand ich einen Brief unter der Türe. „Hüte dich!“ stand darin.

Yann hatte nicht einmal seine Schrift verstellt. Wie unvorsichtig, wenn man den Brief später bei mir fände? Ich zerriß ihn in kleine Stückchen und streute sie in den Wind. Dann aber begann ich nachzudenken.

Nein, Yann, es ist genug! Du sollst wieder Ruhe haben. Ich will zu Rosseherre gehen und mit ihr reden, und ich will zu dir gehen und deine Versöhnung erbitten.

Yann wird sich ja tot trinken und wir sind trotz alledem Freunde.

XXXIV

Das war — wann war es? Vor drei Tagen. Heute aber ist alles anders. Ich habe nicht mit Rosseherre und Yann gesprochen, vielleicht hätte ich es doch tun sollen.

Schon gestern begann es, aber ich verstand nicht. Wer sollte auch so etwas denken?

Gestern machte ich mich auf den Weg zu Noel um mit ihm wegen eines Bootes zu verhandeln, das er mir zum Kauf angeboten hatte. Ich kam an Jean Louis’ Hütte vorbei. Soll ich hineingehen, dachte ich. Warum? Du hast ja Zeit. Und ich ging nicht hinein.

„Da sind Sie also wegen der belle femme?“ sagte der rote Noel und setzte mir wie gewöhnlich sein Konzert von Schnäpsen vor. „He, Françoise, Antoinette — man muß Poupoul zu Fressen geben! Ihr Hund frißt aus dem Zwetschgensack, haha, schadet nichts. Ein hübsches Boot, die belle femme! Sie haben sich also entschlossen?“

„Ja, ich habe mich entschlossen.“

„Sie wollen es also machen wie die andern?“

„Weshalb nicht?“

„Nun, Sie wissen ich bin Fischhändler, ich verpflichte mich Ihnen alle Fische abzunehmen.“

„Schön.“

„He, Antoinette, Maria — man muß den Schuppen im Hafen aufsperren!“

Ich verhielt mich etwas bei Noel, ich hatte nichts zu versäumen. Der verrückte Gaston kam auf seinen geknickten Knien hereingesegelt und lud mich zu einem Glas Wein ein. Dazu aßen wir Käse, und den spendierte ich. Dann kam der Dorflump.

„Herr,“ sagte er, „geben Sie mir einen Franken und ich will Ihnen eine äußerst wichtige Mitteilung machen!“

„Pack dich!“ sagte ich. „Eine Tracht Prügel, wenn du willst!“ Der Dorflump grinste und entfloh.

Wir sahen uns die belle femme im Schuppen an.

Niemand hatte einen Bootsschuppen, nur Noel. Unter den bloßliegenden Pfählen wateten Buben umher und drehten die Steine um. Sie ergriffen die kleinen Krabben, die sich davonmachen wollten, an den Scheren, und den jungen Aalen, die sie fingen, schnitten sie sofort die Kehle durch.

Ich klopfte die belle femme ab. Sie war breit gebaut.

„Sie ist das schnellste Boot auf der Insel!“ sagte Noel.

Bann und Kedril hatten mir schon früher gesagt, daß die belle femme ein ausgezeichnetes Boot wäre. Sie gefiel mir. Steuerbord mußte ein Steven neu eingesetzt werden, sonst war alles in Ordnung.

Wir einigten uns nach einigem Hinundherreden über den Preis. Ich unterbot Noels Offerte so unverschämt, daß ihn fast der Schlag rührte. Nun, ich werde dir nicht meine Louisdors in den Rachen werfen, Inselkönig.

In einer Gasse traf ich wieder den Dorflumpen. Er hatte mir aufgelauert.

„Herr!“ flüsterte er geheimnisvoll. „Geben Sie mir doch einen Franken, ich werde Ihnen eine wichtige Mitteilung machen.“

Ich lachte. So frech, zerlumpt und schmutzig sah er aus.

„Nimm dich in acht, Schmutzfink!“ rief ich und hob den Arm. Der Dorflump nahm die Mütze in die Hand und lief was er konnte.

Zu Hause vermißte ich Poupoul. Nun erst fiel mir auf, daß ich ihn, seit wir Noels Bar verlassen hatten, nicht mehr gesehen hatte.

Ich pfiff und blickte über die Heide. Aber der rasche dunkle Knäuel tauchte nirgends auf. Poupoul streunte. Er kam den ganzen Nachmittag nicht, erst spät abends kläffte er vor der Türe. Haha, alter Vagabund! In einer elenden Verfassung kehrte Poupoul von seinen Abenteuern zurück. Er hinkte und blutete an mehreren Stellen zugleich. Seine Nase war zerschnitten und am rechten Hinterfuß hatte er eine schreckliche klaffende Wunde. Am Hals aber hing ein Stück von einem durchgebissenen Strick.

„Hoho, Poupoul, was haben sie mit dir angestellt? Haben sie dich festgebunden und du bist durch ein Fenster gesprungen?“

Poupoul winselte und sah mich beschämt an. So schlimm war es ihm noch nie ergangen.

Ich wusch seine Wunden aus, verband sie, und nun lag Poupoul auf der linken Seite, die Pfoten von sich gestreckt und zitterte an allen Gliedern. Am andern Morgen machte er einen Versuch aufzustehen. Aber er brach winselnd zusammen. Ich trug ihn vors Haus in die Sonne und stellte Wasser vor ihn hin.

„Morgen ist es schon wieder gut, Poupoul, bleibe hübsch liegen, adieu!“

Poupoul klopfte mit dem Schwanz, legte den Kopf flach auf den Boden und bereitete sich geduldig auf ein langes Warten vor.

Ich sprach im Dorf mit dem Zimmermann, dann ging ich quer über die Insel nach Stiff und arbeitete den Nachmittag über bei Herrn Boucher. Als ich zurückkehrte war die Sonne im Begriff unterzugehen.

Ich fand Poupoul in genau derselben Lage vor der Türe, wie ich ihn verlassen hatte.

„Hallo, Poupoul!“

Aber er regte sich nicht. Er lag, die bandagierten Pfoten von sich gestreckt, und der Wind spielte in seinen Haaren. Ich kauerte mich nieder und ein paar Fliegen summten auf. Ich berührte Poupoul — er war steif und hart. Poupoul war tot.

„Bist du gestorben, mein Hund, und ich bin nicht bei dir gewesen?“ fragte ich leise.

„Bist du gestorben, mein Hund!“ rief ich.

Ja, Poupoul war tot.

Ich stand auf und sah über das Meer.

Vielleicht hätte ich ihn retten können, wenn ich dagewesen wäre? Wie merkwürdig, er war an diesen unscheinbaren Wunden gestorben.

Ich ging ein paar Schritte, um meinen Schmerz zu vergehen, dann kehrte ich zurück. Ich setzte mich auf den Stein vor der Türe und sah Poupoul an. Der Wind fegte und jammerte hoch in der Luft. Das Meer wogte wie Feuer. Zwischen den mächtigen Schollen treibender schwarzer und glühender Schlacke züngelten die hellen Flammen empor. Das Meer brannte bis zum Grunde. Eine breite purpurne Lohe wälzte sich vom Horizont her übers Meer, der Himmel war bedeckt mit Qualm, rot vom Widerschein, und spiegelte gespenstisch die Feuersbrunst da unten wider. Auf dem brennenden Meere zog ein großer Ostasienfahrer und zerschmolz. Seine Verdecke zerrannen, die Maste und Rahen tropften herab und sein dicker Kamin wurde rings vom Feuer zerfressen. Eine dicke, pechschwarze Rauchwolke stieg aus ihm empor —

Ich saß und sah Poupoul an. Meine Augen wurden trocken in den Höhlen.

„Poupoul, mein Kamerad!“ sagte ich und kniete nieder und küßte ihn zwischen die Augen.

Da machte ich die Entdeckung, daß er eine dünne Schnur um den Hals hatte, und meine Hände wurden ganz schwach. Es war eine Schnur, wie man sie zum Fischen benützt, es war eine Schlinge —

Man hatte Poupoul ermordet!

Ich erhob mich und erbebte vor Schmerz und Wut.

„So seid ihr! Das seid ihr!“ schrie ich und schwang die Fäuste gegen das Dorf. Da erblaßte ich.

„Yann! Yann!“

Warum hast du mir das angetan, Yann! Weil Poupoul dich neulich verriet, du Wegelagerer? Deshalb? Yann, weshalb hast du nicht mir die Schlinge über den Kopf geworfen, ich hätte mich wehren können, aber dieser da —

Poupoul hatte ja wohl noch die Hand geleckt, die ihm die Schlinge um den Hals legte, hatte gebellt und gewedelt vor Vergnügen, weil jemand zu ihm herauskam, da er so allein dalag.

Ich ging ins Dorf. Wo ich dich auch finde, Yann, ich werde dich an den Schultern packen und zu Boden schleudern, ich werde dich an der Kehle fassen und dir mit der Faust das Gesicht zerschlagen, bis du still bist, hüte dich, ich komme!

„Ist Yann an Bord!“ fragte ich, steif und blaß.

„Nein, Yann ist an Land.“

„Wo ist er?“

Sie lachten. Wie sollten sie wissen, wo er sei?

„Jean Louis, guten Abend, ist Yann nicht bei dir?“

„Yann, hühü — nein, mein Freund.“

„Chikel, hast du Yann gesehen?“

„Nein!“

Yann, Yann, wo hältst du dich verborgen? Heraus mit dir!

Es wurde dunkel. Das Dorf lag friedlich da mit seinen spärlichen Lichtern. Der Lichtkegel Creachs fegte heran und die Silhouette der Dächer hob sich scharf und schwarz davon ab, dann versank alles in Dunst und Nebel, Häuser, Lichter, und der Lichthieb flog über mich hin und blendete mich. Und wieder lag das dunkle Dorf friedlich mit seinen blinzelnden Lichtern da.

Ich kehrte wieder nach Sturmvilla zurück. Fliegen summten über Poupouls Leichnam. Ich nahm ihn auf den Arm und trug ihn hinab zum Meer. „Du hast ja immer auf dem Meer gelebt, Poupoul,“ sagte ich. Poupoul war steif, als ob er ausgestopft wäre. „Lebe wohl, mein Kamerad!“

Poupoul trieb. Er schwamm langsam hinaus, dann aber kam er in einen Strudel und verschwand. Eine Welle schoß heran und als ihr Gischt zerstoben war, lag Poupoul wieder vor mir.

„Nun, lebe wohl, Poupoul, es muß ja doch sein!“

Merkwürdig! Ich versuchte es an drei, vier Stellen, immer wieder kam Poupoul zu mir zurück.

Da nahm ich ihn wieder auf den Arm, triefend naß wie er war, und trug ihn quer über die Insel. Er war schwer und ich keuchte.

Im Osten waren Meer und Himmel blauschwarz, im Westen kupferrot. Eine kleine braune Mondsichel stand über der Insel und der Wind fegte.

Wo die Klippen senkrecht abfallen, warf ich Poupoul ins Meer. Ich sah wie er auffiel, ich hörte es. Nun konnte er nicht mehr zurückkommen. Er rollte an den Klippen entlang, dann packte ihn der Strom und er verschwand.

Ich begleitete ihn auf seiner Fahrt, bis ich zur Markonistation kam. Hier trat ich ein.

„Nehmen Sie Platz,“ sagte Herr Boucher liebenswürdig, „wie sehen Sie aus?“

„Danke,“ erwiderte ich, „ich will stehen, mein Hund ist gestorben.“

„So so, Ihr Hund ist gestorben?“

„Ja!“

Ich ging wieder. Ich setzte mich auf einen Stein und blickte hinaus aufs Meer. Pechschwarz lag es unter dem schwarzvioletten Nordhimmel, schrecklich leer und öde. Dort draußen reiste Poupoul und die Wogen spielten mit ihm.

Ich kam erst spät nach Hause. Ein paar Stunden hatte ich bei Poupons Schlucht auf Yann gewartet. Er war nicht gekommen.

In meiner Hütte war es einsam. Der Regen prasselte über das Dach und tropfte durch die Risse und ich dachte an Poupoul.

„Erinnerst du dich, mein Freund, wie wir uns kennen lernten? Das war drüben an der Küste. Du hieltst mich mit deinen scharfen Zähnen am Bein fest, ohne zu beißen. Das gefiel mir! Erinnerst du dich, wie ich deine Treue prüfte und mich beim Schwimmen stellte, als ob ich ertränke — du aber hast nicht gezögert und sprangst augenblicklich ein Stockwerk hoch ins Meer um mir beizustehen.“

Tip — tiptip — der Regen tropfte und telegraphierte wirre sinnlose Worte, hinter denen eine schreckliche Bedeutung zu lauern schien. Der Wind fegte draußen — und horch: kläffte nicht ein Hund in der Heide? Ich richtete mich auf. Schreie waren draußen in der Nacht, Schreie einer mörderischen Lust und das schrille Lachen Gemarterter. Das Blut gerann in meinen Adern und ganze Teile meines Körpers waren wie gelähmt.

Nein, hier gefiel es mir nicht. Ich ging hinaus und legte mich unter einem Felsen schlafen.

XXXV

Es kamen ein paar elende Tage.

Der Wind fegte und fegte. Er kam aus einem Wolkenloch im Nordwesten und fuhr dahin, eisig kalt und dicht über dem Boden.

Zu Hause gefiel es mir nicht. Ich trieb mich im Dorf umher, ich telegraphierte mit Herrn Boucher, ich war überall. Ich konnte diese namenlose Schändlichkeit nicht verwinden! Yann war ja im Grunde seines Herzens ein guter Bursche, das wußte ich. Wie hatte er es nur tun können? Sprich, Yann! Aber schließlich — was war ihm mit seiner naiven Roheit ein Hund?

Der Wind fuhr kalt und heulend dahin und die Insel war nichts als ein öder seelenloser Schutthaufen, auf den das Meer von allen Seiten mit Äxten und Spitzhacken einschlug, um ihn aus dem Weg zu räumen. Ich fror.

Ich sah hinaus übers Meer. Es winkte und lockte, daß es mir fast den Atem benahm. Was willst du? was willst du von mir —?

Weit draußen zog ein Dreimaster mit nassen, schweren Segeln. Ich sah ihm nach. Die Sonne des Äquators wird auf sie herabbrennen und die Haare werden ihnen ankleben am Pech des Decks, wenn sie schlafen. Der tropische Regen wird fallen und sie werden bis an die Knie im lauwarmen Wasser waten. Sie werden in der Windstille festliegen und tausendmal am Tage den Horizont absuchen. Sie werden singend im Kreise gehen und die schweren Segel in die Höhe winden und vor dem Sturme fliegen. Sie werden den Albatros fangen mit der Angel und der große, plumpe Vogel wird vor all den lachenden braunen Gesichtern hilflos auf dem Deck stehen —

Ich stand auf.

Plötzlich stand der Dreimaster draußen in hellen Flammen. Aber in Wirklichkeit brannte nicht er, sondern mein Herz hatte sich plötzlich entzündet und Feuer in meine Augen geschleudert. Ich spürte einen Schmerz, als ob meine Brust in zwei Stücke zerrisse. Weißt du, was das ist?! Das war die Sehnsucht nach da draußen!

Laß uns gehen! Laß uns in die Wälder gehen, die kein Ende haben und rauschen, laß uns zu den Schneefeldern im Norden gehen, wo keine Sonne ist — einerlei, in die Hölle, wenn du willst — aber laß uns zu neuen Dingen gehen!

Und ich stieß einen Schrei aus, der weit über das Meer klang.

„Hören Sie, Noel, ich möchte den Kauf der belle femme rückgängig machen.“

„Sie wollen die belle femme nicht nehmen?“

„Nein, ich reise.“

„Sie reisen?“

„Ja. Ich bin gerne bereit Ihnen eine Entschädigung zu zahlen.“

„O, so nötig habe ich das Geld ja nicht, wie? Wenn Sie reisen wollen, was sollen Sie da mit der belle femme anfangen, nicht wahr?“

Aber ich reiste nicht von heute auf morgen ab. Yann sollte nicht auf den Gedanken kommen, daß ich aus Furcht vor ihm die Insel verließ. O nein! Wir waren uns ja nun gegenseitig manches schuldig und ich liebe klare Rechnung.

Vier Nächte lang hockte ich über Poupons Schlucht und wartete auf Yann. Da saß ich und fror. Der Wind fegte, Creachs Lichtblitze flogen über mich hin. Ich rauchte die Pfeife und hielt die Hand darüber, damit der Wind nicht den Tabak aus der Pfeife reißen konnte. So wärmte ich mich auch.

Habe ich dir nicht geschworen, daß ich jeden Abend hier sein werde, Yann? Wo bleibst du so lange, heran, Yann — hier bin ich —

Die Stunden gingen. Houhuuho — heulte der Wind und eine Stimme flog in der Höhe dahin: hiihiii — Zuweilen tutete eine Felsenspalte. Auf dem Meer draußen zog ein Postdampfer, wie ein Feenschloß sah er aus mit seinen vielen Lichtern. Ich saß und wartete.

Sobald aber etwas in der Heide scharrte und kratzte, stellten sich die Haare auf meinen Poren in die Höhe. Drohende Stimmen waren im Wind und ich lauschte mit verhaltenem Atem. Plötzlich kam ein schreckliches weißes Gespenst auf mich zu galoppiert. Ich schwöre, daß ich mich in diesem Augenblicke aufblähte wie ein Stachelschwein und das weiße Gespenst mit den Blicken durchbohrte. Es war ein Stück Papier und schadete mir weiter nicht. Zuweilen pochte und hallte es unter mir. Die Schlucht roch wie ein alter Brunnen, faul und morsch, und es klatschte und schabte da drunten, als ob sich ein schwerer, nasser Körper hin und her schiebe. Ein kalter Hauch traf mich — da war er! Das war Poupon, der Mörder, er zog an meinen Füßen, bohrte den Finger durch das Loch meines rechten Schuhes und schnaufte. Dann ließ er sich wieder klatschend hinabgleiten.

Obgleich ich aus einer Sensation in die andere fiel und meine Haut Fischschuppen bekam, blieb ich ruhig sitzen. Ich würde mich auch vorerst nicht rühren, wenn Yann kam. Ich würde taubstumm sein, einen taubstummen Pfeifenraucher sollte er hier vorfinden, der über Poupons Schlucht in philosophische Betrachtungen versunken war. Yann sollte Gelegenheit haben seine Schuld, einzukassieren. Dann aber — nun dann kam die Reihe an mich!

Zuweilen zog ich meine kleine Flöte aus der Tasche und blies ein Lied oder einen Triller.

Yann? Hörst du nicht, Yann?

Einmal schlief ich sogar ein. Aber da wurde ich durch einen Kanonenschuß geweckt und erwachte. Meine Pfeife war hinunter gefallen. Nun, ich bin nicht der Mann, der nur eine Pfeife hat, ich habe Pfeifen in jeder Tasche. Also steckte ich eine andere Pfeife in Brand.

Yann?

Ich wartete stets vier, fünf Stunden. Ob es zu meiner Ehrenrettung genügt, weiß ich nicht. Mir genügte es.

Yann aber kam nicht.

XXXVI

Lebe wohl, Kedril, Pilot Nummer Eins! Wo ist Jean Louis? Lebt alle, alle wohl!“

Die Fischer umringten mich und rieben ihre stacheligen Wangen an mein Gesicht. Wir küßten uns. „Daß du fort von uns gehst —!“ sagten sie und schüttelten die Köpfe. Ihre Hände waren hart wie Holz. Aber ihre Augen waren treu und herzlich. Kedril ließ es sich nicht nehmen mich zum „Kommissionär“ hinüberzurudern. Ich schenkte ihm eine Pfeife zum Andenken.

Die Matrosen zogen den Anker auf.

Da kam vom „Arbeiter“ ein Nachen herüber und Yann stieg an Bord des „Kommissionärs“. Ich stand am Heck und sah ihn herankommen. Ich fühlte wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, meine Hände in den Manteltaschen krampften sich zusammen. Ich begann langsam zu wachsen —! Aber als mich Yann ansah, überkam mich eine heiße Mattigkeit. Yanns blaue Kinderaugen nämlich schimmerten voller Liebe. Es waren Yanns, alte Augen, so wie sie früher waren, und sie entwaffneten mich augenblicklich. Yann trat auf mich zu. Er sah schmutzig aus, auf der Stirn hatte er eine schreckliche, blutige Schramme und das Weiße seiner Augen war immer noch blutunterlaufen.

„Du fährst!“ sagte er lächelnd und deutete mit den Blicken auf das kleine Paket, das ich unter dem Arm hatte.

Ich erwiderte nichts. Ich sah ihn an.

Yann wartete eine Weile und sah mir forschend in die Augen, dann begann er von neuem: „Du denkst vielleicht, ich hätte Poupoul umgebracht? Nein, ich war es nicht. Rosseherre tat es.“

Ich öffnete den Mund. „Rosseherre —?“

„Ja. Ich sagte ihr: Poupoul hat mich verraten, er bellte. Darauf sagte sie: so, sein Hund hat dich verraten. Sonst sagte sie nichts. Aber zwei Tage später sagte sie zu mir: nun kann dich Poupoul nicht mehr verraten, Yann.“

Ich sah Yann an und ein verächtliches Lächeln kam auf meine Lippen. Ich lächelte über mich. Sie ist ein Kind, diese Rosseherre. O, jawohl, meine Herrschaften, hier sehen Sie einen Menschenkenner erster Güte vor sich! Ich werde eine Tournee unternehmen und mich mit einem Ring an der Nase und einem Pfahl im Hirnkasten gegen Entree sehen lassen!

Zu Yann aber sagte ich mit einem vorwurfsvollen Blick: „Yann, ich wartete jede Nacht bei Poupons Schlucht. Weshalb kamst du nicht?“

Yann sah mich erstaunt an. „Es ging ja kein Boot hinüber,“ antwortete er, „wie konntest du da reisen?“

Ich lachte laut auf. Ich lachte über mich. Also ganz grundlos waren mir die Haare zu Berg gestanden — Yann war es gar nicht in den Sinn gekommen mir einen Besuch abzustatten. Genug! Fort!

„Die letzten Tage waren die Hölle!“ fuhr Yann fort und seine blutunterlaufenen Augen sprühten und die Adern an seinem Hals schwollen an. „Dieses Frauenzimmer machte mich verrückt. Hörst du? Toll! Ich glaube, sie ist besessen und hat mich behext. Das glaube ich! Neulich, in der Nacht — da konnte ich es nicht tun. Du hast gepfiffen, du gingst so arglos dahin. Deshalb. Nun, du reist, es ist gut. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Und wir sind ja doch Freunde, wie? Wenn sie auch bei dir war, was liegt daran? Lebe wohl, mon très cher ami.“

Yann streckte mir die Hand hin und seine Augen schimmerten feucht. Ich ergriff seine Hand und wir sahen einander lange in die Augen. Wir hatten uns gequält, recht und schlecht, wie Menschen es tun müssen, die einander näherkommen.

Dann griff Yann in die Tasche und zog die goldene Uhr mit dem Springdeckel heraus.

„Ein Glas mußt du dir einsetzen lassen,“ sagte er, „nimm doch! So nimm doch!“

Ich lächelte. Nein, niemals werde ich diese Menschen verstehen. Die Uhr aber nahm ich nicht.

„Ich will nichts besitzen, was mehr als zehn Franken wert ist, verstehst du, Yann?“ sagte ich. „Etwas anderes vielleicht?“

Yann suchte in den Taschen und gab mir sein feststehendes Messer.

„Ja, das kann ich brauchen, danke!“ Ich griff in meinen Rock und zog die kleine Flöte heraus. Ich gab sie Yann.

„Merci!“ sagte er. „Wieviele schöne Stunden — nun, lebe wohl! Vergiß mich nicht!“

Ich schüttelte den Kopf und drückte Yann nochmals die Hand.

Das Segel stieg.

Der „Kommissionär“ galoppierte durch die Bai. Wir hatten mehr Wind als nötig war. Um das „Kamel“ spielten schwarze kleine Enten und tauchten und überschlugen sich. Die Möwen saßen auf den Klippen und ihre Köpfe blendeten so weiß wie frisch mit Ölfarbe gestrichene Knöpfe. An den Riffen saugte und atmete das Meer.

Wir durchquerten den Strom und der „Kommissionär“ ging auf den andern Bug über.

Dann passierten wir die versteckte Klippenreihe, wo ich so oft mit dem Meerkönig gefischt hatte. Das Meer donnerte und die Gischtschleier stoben in die Höhe. Da sah ich ein kleines wohlbekanntes Segel, das in der schweren See pendelte. Es kam auf uns zu. „Jean Louis!“

Aber es war nicht der kleine Meerkönig, der im Boot saß. Eine weiße Haube tauchte unter dem Segel auf.

„Rosseherre — ho! ho!“ schrien die Matrosen.

Das Boot segelte dicht an uns heran. Rosseherre saß mit gebeugtem Rücken am Steuer, die Augen auf ihren Weg geheftet, die niedere Stirn in hundert kleine Falten gerunzelt. Sie sah nicht auf.

Eine Woge hob das Boot in die Höhe und trug es fort. Im Nu war das kleine pendelnde Segel unsern Blicken entschwunden.

„Dieser Satan! Seht an!“ schrien die Matrosen und lachten.

Warum? Warum kamst du heraus aufs Meer? —

Wie eine hohe violette Felsenburg mit zwei dünnen Türmen liegt die Insel im Meer. Möwen umschwirren uns und von den fernen Klippen her dringt ein feines feilendes Geschrei.

Die hohe Felsenburg wird blau und sinkt ins Meer. Nun ist nichts mehr zu sehen, nur Creachs dicker Kopf schwimmt am Horizont.

Da spürte ich einen Schlag im Herzen. Yvonne! Gott stehe mir bei, ich hatte all die Tage nicht mehr an sie gedacht, ich hatte sie vollkommen vergessen.

Sonderbar ist der Mensch.

Nun, Yvonne wird bald einen anderen Geliebten finden.

— — — — — — — —

An der Küste drüben traf ich Mathieu, L’honneur und Petitjean. Gott sei Dank, sie waren da. Ich glaube, ich hatte Tränen in den Augen, als ich sie sah.

„Da bin ich!“

„Ah, da bist du!“

Wir zechten bis spät in die Nacht. Dann nahmen wir Abschied. Ha, was ist das? Das Meer war schwarz und schwarz war der Himmel. Am Horizont aber atmete ein Blinkfeuer, weiß, weiß, rot, und eine Lichtwindmühle warf ihre Flügel in die Höhe. Das waren Stiff und Creach.

„Lebt wohl, Kameraden! Und wenn ihr hinüberkommt nach Ösa, grüßt mir Amorik und seine Tochter, Yann und Jean Louis! Und vergeßt mir nicht Rosseherre zu grüßen! Grüßt alle, alle!“

Zwei Tage später betrat ich in Cherbourg den großen Zwanzigtausendtonnen-Dampfer. Die Sirene tutete, die Kapelle spielte auf dem Promenadedeck, en route!

Ich war in jämmerlicher seelischer Verfassung. Gleich am Anfang passierte mir das Mißgeschick den Obersteward durch meine Stimme zu beleidigen. Ja, glauben Sie, verehrtester Herr, daß ich erst drei rohe Eier trinke, bevor ich es wage mich einer so hochstehenden Persönlichkeit zu nähern? Ich nahm den Mann ins Auge. Wie sollte ich es anstellen, diesen Gesandtschaftsattaché um eine anständige Kabine zu bitten? Glatt geleckt von der Zunge der Kultur stand er vor mir. Er kam mir schrecklich bekannt vor. Ich bertillonierte seinen Schädel. Ja, ich hatte ihn schon gesehen. Tausendmal und allerorts. Es war das europäische Gesicht! Nichts anderes.

Ich sprach kein Wort mehr. Ich nahm ein Fünffrankenstück und ließ es in seine europäische Hand gleiten. Er verstand augenblicklich und verbeugte sich: mögen der Herr getrost die heilige Ruhe dieses eleganten Dampfkarussells durch seine Stimme entweihen —

In der Kabine prüfte ich den Teppich mit den Fingern und auch den Treppenbelag untersuchte ich verstohlen: Gummi! Yann, wo sind wir? Elektrische Brennscheren, Dampfheizung, Blumenladen, Druckerei, Hotel à la Riz, he, ich war von der Peripherie der Zivilisation direkt ins kochende Zentrum gesprungen. Der Dampfer war still wie eine Kirche, nur da und dort hörte man einen fürchterlichen Brüllhusten: das war ich.

Ich stieg hinauf aufs Sonnendeck und lächelte verächtlich: ihr kleinstes Rettungsboot war größer als das größte Boot, das wir auf der Insel hatten. Es wehte. Nordwestnord, Windstärke acht, grobe See! Aber der Koloß regte sich nicht. Er fuhr achtzehn Knoten in der Stunde und doch schien er vollkommen still zu stehen und nur die schmalen Korridore wanderten. Das Meer lag tief unten, unscheinbar und nichtig. Wir waren Durchreisende, nichts sonst. Es wurde Abend und die Feuer des Kanals zuckten und wirbelten. Eine elende Fischerbarke zog an uns vorbei. Sie schlingerte und schlug aus und stieg.

„Hallo!“ schrie ich und schwenkte die Mütze.

Aber sie beachteten mich gar nicht.

Und nun überkam mich die Erkenntnis, die nackte, schreckliche Erkenntnis: ich gehörte nicht mehr dazu! Die Wogen, der Wind, das ganze große Meer — ich gehörte nicht mehr dazu

Ich ging in den Rauchsalon, legte mich in einen Klubsessel und nahm einen Whisky und noch einen. Dann kaufte ich die ganze Flasche. Unsere zwei Gestirne glühten jetzt über der schwarzen Insel im lauten Meer —

Warum? Warum kamst du heraus aufs Meer?

Da lauschte ich: hörst du die Maschinen pumpen? Durch die Vibration hindurch, durch all die Stockwerke und Korridore, hindurch, hörst du das große Stahlherz pochen? Das war Europas Herz, Europas, woher ich kam! Und plötzlich strömte die ruhige Kraft der Maschinen, die da drunten unter mir sangen, in mich über und erfüllte mich mit Stärke und unermeßlicher Zuversicht. Ich goß mein Glas voll und summte mir ein Lied.

„Sei ruhig, mein Herz,“ sagte ich zu meinem Herzen, „die Jagdgründe des Lebens sind groß. Du wirst sie alle wiederfinden, Yann, Yvonne, Rosseherre und Jean Louis, alle! Und auch Poupoul wirst du wiederfinden, nichts ist unersetzlich!“

In der Nacht aber erwachte ich plötzlich. Der Dampfer knarrte wie Leder knarrt. Ich lauschte. Da draußen war der Wind, das Meer, es waren Stimmen da draußen und ich verstand sie. Mein Herz krampfte sich zusammen.

„Lebt wohl, ihr Geliebten,“ sagte ich und lauschte auf die Stimmen, „lebt wohl, ich komme wieder!“

 

 

Ende

Werke von Bernhard Kellermann

Yester und Li

Die Geschichte einer Sehnsucht. (Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane.) Gebunden 1 Mark, in Leinen 1,25 Mark.

Die Geschichte einer Sehnsucht ist es, die der Verfasser erzählt — einer zarten, zitternden, tastenden Sehnsucht. Einer so verzehrenden, wahnwitzigen, ungeheuerlichen Liebessehnsucht, wie sie nur ein Dichter, ein Auserwählter unter den Menschen, zu einem auserwählten, seltenen, wundervollen Weibe empfinden kann. Wunderbar ergreifend ist der Schluß. Ein Dichter hat dies Buch geschrieben. Ein wirklicher Dichter. Mit sanfter, zagender Hand sind die letzten Hüllen von menschlichen Seelen gezogen. Und doch erscheint alles wie durch zarte Schleier, von einem seltsamen matten Glanz umsponnen. Letzte Menschlichkeiten werden aufgedeckt. Feines, Leises wird gegeben, wie mit dem Silberstift gezeichnet.

(Königsberger Allgemeine Zeitung.)

Ingeborg

Roman. 45. Auflage. Geheftet 4 Mark, gebunden 5,50 Mark.

Ein großer Zauberer hat ein Buch geschrieben, so süß und schön, daß, wer es liest, sterben muß. Alle lesen es, obgleich sie wissen, daß sie dann sterben müssen. (Ingeborg, Kapitel 33)

Es ist noch nicht allzulange her, daß Bernhard Kellermann mit seinem Erstlingswerk „Yester und Li“ als eine neue Hoffnung des deutschen Romans begrüßt wurde. Rascher als selbst die kühnsten seiner Propheten erwarteten, hat er den Wechsel auf seine Zukunft eingelöst — sein jüngster Roman „Ingeborg“ stellt ihn mit einem Schlage in die erste Reihe unserer großen zeitgenössischen Erzähler. Man wird von diesem Buche sprechen, wie man einst von Peter Nansens „Gottesfriede“ sprach — viele werden es als eine Erlösung preisen, viele als eine Affektion verdammen, die meisten aber werden es lieben müssen, dieses Buch der Liebe — auch wenn sie nicht erst über mancherlei Hemmungen hinweg zu seiner tiefen Schönheit bekehrt haben sollten . . . Für die Gegenwart ist „Ingeborg“ jedenfalls ein gefährliches Buch. Es könnte in gewissem Sinne der „Werther“ des 20. Jahrhunderts werden. Denn es ist süß und schön wie das wirkliche Buch der Liebe und — „ein großer Zauberer hat es geschrieben“.

(Bohemia, Prag.)

Frauen und Jünglinge, leset dies neue Buch. — Ingeborg — diesen zweiten Roman von Bernhard Kellermann. Die Liebe lebt darin und die Romantik. Und der Wald lebt darin und alle Jahreszeiten. Wahrhaftig ein närrisches Buch, aber weise, und klug bei aller Narretei, denn die unerforschlichen, unabänderlichen Lebensgesetze sprechen daraus. Jung ist es, ganz jung-jung, und das Blut macht es unruhig, es fiebert vor Liebe. In einigen Märznächten, als der Föhn vor den Fenstern stürmte, habe ich es gelesen, mein Herz kam völlig aus dem Takt, und ich glaube nicht, daß der Föhn allein schuld war . . . Ich will mich mit diesem Buche nicht allein freuen. Jedem möchte ich es in die Hände drücken, der überhaupt noch einen Roman lesen kann.

(Die Zeit, Wien.)

Der Tor

Roman. 20. Auflage. Geheftet 5 Mark, geb. 6,50 Mark.

Hier sind Menschen, eine Fülle Menschen, nicht nur scharf voneinander geschieden und als Einzelgestalten deutlich in der Phantasie, sondern in Bewegung, im Zusammensein, im Gespräch in einer Vielzahl von Aktionen. Ich sehe alle, die im Eisenbahnkupee den Selbstmord des Dienstmädchens erörtern — wie hört man das Laute ihrer Reden, die Heftigkeit ihrer Diskussion und Ueberzeugungssucht, das Rasseln und Knattern des Zuges übertönen! Der Liederkranzball, den fünf Kapitel umschließen, bleibt wie ein Erlebtes unverlöschlich in der Erinnerung: hier ist ein solcher Sturm, ein solches Getöse, ein solches Ineinanderspielen von Tätigkeiten und Gesprächen, von Trunk, Spiel, Streit und Hohn, ein solches Chaos bewegter Menschlichkeiten, aus dem die Gestalten des Helden und seiner Geliebten leuchtend hervortreten, ein solches Auf- und Abstürmen des lebendigsten Lebens, daß man im Lesen den Atem anhält, von der Fülle und Intensität einer ganz nahen Wirklichkeit bis an das eigene Fühlen wunderbar beherrscht . . . Nicht Vergangenes erzählt dieser Dichter wie alle vor und neben ihm: er trägt die Gegenwart. Sein Stil, knapp, rasch, ungeduldig, reißt hin. Kurze Sätze jagen hintereinander her, überstürzen sich, erleuchten und verdunkeln einander — dann wieder langsam hintereinanderschreitend, lassen sie der Einbildungskraft Raum, das Bild, das sie halten, zu betrachten, das Gefühl, die unsichtbare Gottheit, der sie dienen, zu begreifen. Und wie sie dem Gefühl dienen! Jedes Wort, jeder Ausruf glaubt sich stark genug, das Göttliche durch sich offenbaren zu können, und ist es doch so gering, daß alles nur hingestammelt wird, bebend, stehend, erstickt, überwältigt. Alles ist da, ist Leben, ist Augenblick. Geschehnis und Gedanke gehen ineinander über, eins aus dem andern hervor. Eh man sich’s versieht, biegt der Weg um: neue Landschaft erschließt sich dem Staunenden — man muß das Buch für Augenblicke sinken lassen, um sich zurückfinden zu können.

(Neue Freie Presse, Wien.)

Der Tunnel

Roman. 140. Auflage. Geh. 3,50 Mark, geb. 5 Mark.

Voll frappanter Lebendigkeit sitzt diese amerikanische, über und über vergoldete Menschheit da, diese Männer, die nur in Ziffern denken, diese schönen, verwöhnten Frauen, die sich in luxuriösen Spielereiträumen wiegen. Von einem atemlosen Tempo wird man durch die vierhundert Seiten dieses Buches dahingefegt. Man ist in ihnen wie in einem Expreßzug. Umgeben und durchschüttert von dem Sausen vorwärts jagender Eile. Eingehüllt von dem Dröhnen einer metallisch donnernden Kraft. In diesem Buch rollt der Donner ungeheuerer moderner Maschinen. Weite und Welthorizonte sind in ihm. Aber alles wirbelt und tanzt und dreht sich, und man sieht nur große Konturen, sieht nur Massen, zusammengeballt und mit fortgerissen in der rasenden Bewegung dieser Zeit. Man spürt das unerhörte Tempo der Gegenwart, der heutigen Epoche, während man dieses Buch liest. Man spürt gleichsam die Erde ringsum vibrieren, als erbebe sie bis in ihren Grund unter der zugreifenden Gewalt des Menschen. Man spürt das Fiebern, Keuchen, Wüten und geniale Delirieren der unermeßlichen Arbeit, die rund um uns her verrichtet wird. Und das ist zuerst ein beklemmendes Gefühl, dann aber ein befreiendes Glücksbewußtsein. Man wird niedergedrückt und gleich darauf angefeuert, hoch emporgehoben und wie berauscht von Mut, von Entschlußfreude und Zuversicht und von Seligkeit, dieses schäumende Leben heute mitleben zu dürfen. Man wird gewissermaßen lebendiger, indem man dieses Buch liest. Das aber scheint mir der edelste Gehalt dieser Dichtung zu sein. Das ist es ja, was wir überhaupt brauchen: Bücher, die unser Daseinsgefühl steigern, Kenntnis, Zutrauen, Beziehung und Wille zur Welt in uns vervielfältigen, mit einem Wort: Bücher, die uns lebendiger machen.

(Neue Freie Presse, Wien.)

Der Krieg im Westen

Kriegsberichte. 20. Auflage. Geheftet 2 Mark, geb. 3,25 Mark.

Daß der Dichter des „Tunnel“ ein glänzender Kriegsberichterstatter sein würde, war vorauszusehen. Geist für große Zwecke, Herz für den unbesieglichen menschlichen Wagemut, Sinn für das Technische, das alles bewies er, in einer unaufhaltsam vorwärts dringenden Darstellung, schon durch seinen Roman. Nun im Kriege hatte er eine Wirklichkeit vor sich, so ungeheuer und phantastisch und mit jedem Atemzug so tief und schicksalsvoll ins Menschliche eindringend, daß jede Phantasie daneben erblassen muß und daß noch wildere Projekte als die eines Tunnels von Amerika nach Europa bedeutungslos würden. Vielleicht den schwersten Teil von allen unseren Kämpfen hat Kellermann miterleben dürfen, ein Zeuge mit wachsten Sinnen und angespannten, vibrierenden Nerven, immer mit allen Fasern mitten darin in dem, was er sah. Die Namen Arras, Souchez, Lorettohöhe, Argonnen, La Bassee sind es vornehmlich, die aus seinen Berichten klingen. Wer es bei Kellermann liest, ist mit dabei. Er läßt uns bis zur unmittelbaren Erschütterung die Schlacht sehen und hören. Ohne Lyrik, nur mit seiner aufs letzte gehenden Intensität singt er ein hohes Lied des deutschen Krieges, des Todesmutes und der Aufopferung. Ein Dichter mit der größten Leidenschaft des Auges und der Nerven hat diese Berichte geschrieben; sie werden den Tag überdauern und zu den Dokumenten der Tatsachen, die die Geschichte sammelt, das Dokument der Stimmung fügen.

 

 


Druck von Paß & Garleb G. m. b. H., Berlin

 

 

 

Anmerkungen zur Transkription

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