The Project Gutenberg eBook of Klagen eines Knaben

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Title: Klagen eines Knaben

Author: Carl Ehrenstein

Release date: July 13, 2012 [eBook #40222]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KLAGEN EINES KNABEN ***

KLAGEN
EINES KNABEN

VON
CARL EHRENSTEIN

LEIPZIG
KURT WOLFF VERLAG
1916

Sechster Band der Bücherei
»Der jüngste Tag«.
Zweite Auflage

COPYRIGHT 1916 BY KURT WOLFF VERLAG • LEIPZIG
GEDRUCKT BEI E. HABERLAND IN LEIPZIG-R.

MEINEM BRUDER ALBERT

Und hundert Jahre nach dem Tode dessen, der kein Erlöser war, kam ich in den Körper eines anderen Menschen. Der Träger meines Körpers wurde Caj Rolo genannt. Er war in Sklaverei zur Sklaverei geboren. Von Geburt an bis zum Tode kannte er nur Heulen und Zähneklappern. Mutter schlug ihn, Vater auch. Aufseher stieß ihn. Kinder warfen ihn her und hin. Hunde bissen ihn, und traurig fragte er sich immer: „Warum?“ Als er so groß wie ein Spaten war, mußte er einem solchen dienen. Bevor noch Sonne schien, und lange nachdem sie erloschen war, ununterbrochen, hindurch den langen Zeitraum eines Tages und einer halben Nacht, mußte er das Werkzeug bedienen. Und oft schlug ihn da der Spaten auch. Einst, als er wieder von allen geschlagen war, weinte der Knabe und dachte zu sich: „Soll ich Armer denn zeit meines Lebens, da ich in Sklaverei geboren wurde, Sklave sein, gekränkt werden von Menschen, Tieren, Dingen? Soll nie Sonne mich ruhend sehen, nie Freuden und Mädchen mich freuen? Soll ich ewig arbeiten und nie leben? Kann ich das Leben nicht finden, so will ich den Tod suchen!“ Der Knabe ging aber aus, das Leben zu finden, — nicht den Tod zu suchen, doch kam er an ein weites Wasser, und da setzte er über — das Leben . . .

Ich flog über das Wasser. Lange schwebte ich mit Vögeln in der Luft, bis ich mich hinabließ, in dem Körper eines befruchteten Weibes zu landen. Menschen kamen und töteten im Namen dessen, dessen Namen sie geraubt, und dessen Worte: „Füget eurem Nächsten nicht Übles zu!“ sie nicht erhört hatten, das Weib . . . Ich entging der Frucht und flog in ein fernes Meer zum Lande der schwarzen Menschen. Dort fand ich Leute vor, die sich Missionäre der großen Seele nannten, die aber Missionäre nur des eigenen Leibes waren. Sie verwirrten die Seelen der Eingeborenen, verwüsteten ihre Körper und Länder. Ich war in den Körper eines Negers gekommen. Chwala nannte ihn die Mutter, als sie ihn sah. Sie liebte ihn und tat ihm Gutes.

Kamen die Weißen zu dieser Familie. Den Vater vergifteten sie mit heißem Wasser, der Mutter zerschmetterten sie den Kopf mit einem eisernen Kreuz, die Schwestern fesselten sie und nahmen sie in ihre Häuser, und Chwala und seinen jungen Brüdern zerschnitten sie die Sehnen im Knie und warfen sie in die Bergwerke zur Arbeit. In dauernder Nacht, unter der Erde, mußte Chwala graben. Faules Wasser bekam er zu trinken, faule Überbleibsel zu essen. Manchmal, wenn die Aufseher besonders stark mit dem heißen Wasser gefüllt waren, bekam er nichts als Faustschläge. Seine Wunden im Knie eiterten. Eiter fraß Fleisch und Knochen. Der Körper war aber stark und starb nicht. Ein Aufseher war über Chwala sehr erbost. In einer Nacht verlangte er von ihm, er möge ihm die Füße küssen. Chwala stand auf und stolperte. Da schlug ihn der Aufseher mit dem Eisenknauf seiner Peitsche auf die Schläfe, in das Hirn hinein. Chwala fiel hin, und der Tod kam zu ihm . . . Wieder flog ich auf, flog über weites, weites Wasser und kam zu einem noch nicht von Weißen bedreckten Lande. Ich kam zu einem hohen Volke. Sie liebten die Sonne und den Frieden. Putamajo hieß meine Trägerin. Und wieder kamen jene, die sich Diener nennen und machten sich das Volk zum Diener. Raubend vernichteten sie Volk und Land. Mit Putamajos Körper belustigten sie sich, bis er verging . . . Ich fliege weiter, komme an jemandem vorbei. Blut quillt ihm aus den Seiten, Tränen aus den Augen, und ob der Schmerzen seiner Seele weint er und sagt: „Ich habe noch umsonst gelebt und gelitten.“ Ich aber höre das Wort: noch — und nehme es mit mir im Fluge . . . Ich fliege. Weit? Ich will nicht mehr wandern, will ruhen. Wird einer müden Seele bald eine weiße Taube von einer emporgekommenen Erde berichten? Ist noch immer schlechtes Wasser über der Erde? Schreit niemand: „Land! Land!“? Ich will nicht mehr wandern, will ruhen.

*

An einem Teiche ging ich vorbei, in dem schwammen Enten und quakten. Sie schienen mit dieser ihrer Beschäftigung zufrieden zu sein, denn ihr Quaken klang gesättigt. Manchmal kam jemand, tötete eine Ente und aß sie, und die Ente schwamm nicht mehr und ließ auch das Quaken sein, und schien auch mit ihrer jetzigen Beschäftigungslosigkeit zufrieden zu sein, denn ihr Nichtquaken kam aus sattem Magen und klang mir gesättigt . . .

Ein Land ging ich entlang, in dem waren Menschen und quakten. Sie schienen mit dieser ihrer Beschäftigung zufrieden zu sein, denn ihr Quaken kam aus vollem Magen und klang gesättigt. Manchmal kam jemand, ein Tod, tötete einen Menschen und aß ihn. Der Mensch ließ dann das Quaken sein und war auch damit zufrieden, denn sein Quaken der Ruhe klang mir gesättigt . . .

Heute werde ich an den Teich gehen und die Enten fragen, warum sie schwimmen, quaken und zufrieden sind. Heute werde ich in das Land gehen und die Menschen fragen, warum sie sind, quaken und zufrieden sind. Heute werde ich zum Tod gehen und ihn fragen, warum er ist, Dinge tötet, sie ißt und dann zufrieden rülpst. Heute werde ich den Schreiber dieser Worte fragen, warum er lebt, quakt und unzufrieden ist . . .

Und sie alle werden mir sagen: „Wir quaken, weil wir quaken. Wir sind, weil wir sind. Wir quaken, solange wir sind, sind wir nicht mehr, so lassen wir es sein. Zufrieden oder unzufrieden quaken wir, sind wir, weil es uns so gefällt und gut dünkt. Qua, qua . . .“ . . .

*

Mich schmerzt mein Kopf, mein Körper ist müde, ich möchte mich auf den Boden fallen lassen und aufhören, mich aufrecht zu erhalten. Doch ich darf es nicht, der Lehrer scheint mit mir sprechen zu wollen, ich muß „Aufmerken“ markieren, und deshalb nicke ich des Öfteren mit dem Kopf und lächle, als wäre das, wovon der Lehrer spricht, mir sehr einleuchtend und als würde ich ihm großes Interesse entgegenbringen. Gut ist es, daß ich dabei nicht direkt auf den Lehrer schaue, die Leere und Starre meiner Augen müßte dem Lehrer sagen, daß mein Lächeln eine Lüge ist. Doch weiß ich, im Notfalle könnte ich auch meine Augen aus ihrer Starre reißen, mit ihnen lächeln, mit ihnen lügen. Es scheint, der Lehrer will es, er spricht mich an. Ich muß seine Worte erst in meinem Hirn aufnehmen, denn sinnlose Laute hört bisher nur mein Ohr. Es ist mir endlich geglückt, und schon sagt mir mein hilfreicher Nachbar, was der Lehrer zu hören wünscht. Gut, daß der Lehrer schon von mir abläßt, sonst hätte ich ihn noch gefragt — was die ganze Zeit mich schon bedrückt — wozu das alles ist, wozu ich im Trauerspiel „Schule“, dessen Dauer ohne erlösendes Ende zu sein scheint, mitspielen muß, weshalb das Stück überhaupt aufgeführt wird, und warum es durch so viele tote Saisons geschleppt wird. Doch ich weiß, nie werde ich den Lehrer fragen, denn aufschreiend würde ich ihm auf seine Lügenantwort antworten: „Non vitae, sed scholae discimus!!!“ Er würde das aber nicht verstehen, wie auch, wenn ich ihm sagen würde, daß die Schule und das Leben, beides, Lügen sind. Unverständig würde mein Verstand seinem Unverstand scheinen, deshalb unterlasse ich alles Sprechen und lebe weiter in der Schule, wie ich im Leben weiterleben werde, eben weil ich noch nicht tot bin.

*

Er war Repetent. Ich hatte Nachprüfung gehabt. Wir gefielen einander und wurden Freunde. Gegenseitig schrieben wir die Schularbeiten von einander ab, machten uns auf Fehler aufmerksam. Doch bei der lateinischen Schularbeit zeigte er mir einen Fehler nicht, und als er die bessere Note bekam, lächelte er. Zur Strafe dafür, daß er mir die Freundschaft beschmutzt hatte, beschmutzte ich ihm das Lineal. Er verlangte, daß ich es reinige, ich tat es nicht. Schulrecht und Schülerstolz hatte ich. Und als er mir mit Klage beim Lehrer drohte, sagte ich ihm verächtlich, er möge nach seinem Belieben verfahren, ich möge ihn nicht mehr. Ich wandte mich von ihm ab und meiner Beschäftigung zu, verfolgte Harun al Raschid durch tausendundeine Nacht. Der Verräter an meiner ersten Freundschaft zeigte mich und meine Tat dem Lehrer an. Solche Schandtat verstand ich nicht und nahm das Urteil des Lehrers wortlos entgegen. Der Lehrer hätte mich doch nicht verstanden, wenn ich ihn über Schulrecht belehrt hätte. Nach dieser Affäre sandte mir der Judas einen Unterfreund und bot mir neuerdings seine Freundschaft an. Ich wies sie ab. Und wandelte allein, über dieses Vorgehen meines Freundes a. D. nachdenkend. Und dieser Schurke ließ eine schurkische Rachetat folgen. Am nächsten Morgen stand er auf und sagte dem Lehrer, sein Reißzeug fehle ihm, noch vor dem Unterricht hätte er es besessen, wie Augenzeugen bezeugen könnten. Und er wandte den Verdacht, ihm das Reißzeug gestohlen zu haben, auf mich, und der Lehrer, der mir nicht gefiel, und dem ich deshalb nicht gefiel, gab ihm recht und sagte zu mir: „Sie scheinen der Dieb zu sein!“ Der Lehrer hatte die Angelegenheit vorher nicht geprüft, mich nicht sprechen lassen. Dieb hieß er mich vor der ganzen Klasse, Dieb echoten die Schüler, und der Verräter grinste mich an. Ohne Träne, weinend, fiel ich in die Bank . . .

*

Ich sitze vor der Uhr und starre sie an. Das ist meine tägliche Beschäftigung. Ihr werdet sagen, das sei eine nutzlose Beschäftigung. O nein, das ist nicht wahr, denn ich werde dafür bezahlt. Ja, etwas eintönig ist sie, da die Uhr nur eine Gangart hat, in der sie seit ihrer Erschaffung geht und in immer gleicher Tonlage und Tonart zu mir spricht. Aber das macht mir nun nichts mehr. Ich habe mich damit abgefunden, d. h. ich mußte, denn würde ich mit meiner Beschäftigung nicht zufrieden sein, so würde man mir sie nehmen, ich würde nichts bezahlt bekommen, könnte nicht weiter leben und arbeiten, um zu arbeiten. Es ist nämlich jetzt so schwer, Arbeit zu finden, alle Arbeiten sind vergeben. Die Mondanstarrer brauchen keinen neuen, und auch bei den Auf-die-Erde-Spuckern sind alle Posten besetzt. Deshalb trachte ich, meinen Vorgesetzten keinen Anlaß zur Klage zu geben und starre die Uhr gut an. Ich glaube, niemand kann das so gut wie ich. Manchmal, um mich ein wenig zu unterhalten, folge ich den Sekunden- und Minutenzeigern mit meinen Zeigefingern, obwohl das sehr strenge verboten ist. Doch ich wurde noch nie auf diesen Abwegen betroffen, denn, kommt jemand zu mir in meine Zelle, so gebe ich, bevor er noch bei mir ist, schon wenn ich das geringste Geräusch von Tritten höre, schnell die Finger von der Uhr und starre sie vorgeschriebenermaßen bewegungslos an. Doch immer, wenn ich meine Finger denen der Uhr folgen lasse, schaut sie mich spottend an, denn sie weiß, daß meine Finger nicht soviel aushalten können wie ihre und daß ich meine Finger bald fallen lassen werde. Auch meine Augen halten nicht soviel wie die Uhr aus, müde fallen mir oft die Lider über meine Augen. Doch sofort reiße ich die Lider empor, und meine Augen starren die Uhr an, denn ich will meine Pflicht erfüllen und will nicht die Leute, die mich bezahlen, betrügen, indem ich ihnen für ihr Geld nicht den vereinbarten Gegenwert leiste.

Eigentlich: wozu ich die Uhr anstarren muß, weiß ich nicht. Aber dies weiß mein Herr. Denn er spricht sehr groß davon, und ich ahne, auch ich werde bald meine Arbeit verstehen und zu würdigen wissen. Sagte mir doch gestern der Herr, wenn ich größer sein werde, würde ich all dies verstehen, und bis dahin erfülle ich getreulich meine Pflicht, worob mich mein Herr auch lobt und liebt. Und ich warte, daß meine Jahre kommen, mich älter und größer machen, mir das Verständnis für Arbeit und andere Dinge geben.

*

Mein Wecker schrillt mir in die Ohren. Mein Tag fällt mich an. Ins Gefängnis. Arbeite, Sklave! Ich der Herr, peitsche dich mit Befehlen. Du bist meine Hur für Dirnenmonatslohn. Sklave, sklave mehr! Schneller, sonst gibt es Peitsche! Hier nimm deinen Lohn! Leck mir die Hand! Sklave schufte! Schneller! Diese Bücher auf deinen Kopf! Schleppe sie den Tag! Höre Sklave, ich bin auch in der Nacht dein Herrdämon! Trage sie nachts in deine Träume auch! Ich sitze auf deinem Bauch. Ich rauche dich an. Drossle und presse dich. Fresse dich. Bei lebendem Leben. Stöhnst du Sklave? Mein Fuß ist auf deinem Kopf. Ich reiße dich nieder an deinem Schopf. Werfe und schlage dich. Denn du bist mein Sklave. Mir verkauft fürs tägliche Brot. Um Schandenlohn. Ich gebe dir auch Hohn. Brichst du zusammen, werfe ich dich fort. In den Ab-Ort des Lebens. In den Arbeitstod. Nicht in den wirklichen, Törichter. Nein. Weiter renne du dann, aber als kranker Hund in der Mühle deines Lebens, das du mir verkauft hast. Weiter gehe in deiner Krankheit. In die Arbeit. Du entkommst mir nicht aus dem Gefängnis. Flüchtest du für kurze Zeit, größre Last werfe ich auf dich. Langsam werde ich dein Licht ausblasen. Und entzünden werde ich es mit der Peitsche. Sklave! sklave!

*

Gefangen bin ich, kann nicht entkommen, wo ich mich auch hinwende, sind Tage. Enteile ich vorwärts, laufe ich hintwärts, ich komme zu Tagen. Sie lassen mich nicht aus, eingekerkert bin ich von ihnen, von allen Seiten. Bleibe ich ruhig, bewege ich mich nirgendhin, es hilft mir nichts, die Tage kommen über mich. Ein böser Zauberer, dem etwas angetan zu haben ich mich nicht entsinne, muß mich verflucht, zu ewigen Tagen verdammt haben. Die Tage, sie sind ohne Unterschied, sie gleichen einander, wie ein Tag dem andern. Ich kann sie nicht voneinander unterscheiden, auseinander halten, sie sind Meer, das keinen Rand hat, Raum ohne Ende, greifen ineinander, keine Marke zu merken, zu erkennen. In diese Tage bin ich gesetzt, kann nicht aus ihnen. Es wird mich nicht von ihnen erretten, wenn ich vielleicht nicht mehr wissen werde, daß ich bin, der ich bin, wenn ich tot sein werde, wenn ich in andere Formen umgeformt werde. Der Kerker der Tage, der Kerker der Zeiten und Räume wird weiter bestehen, ewig sein. Denn es ist keine Aussicht dafür vorhanden, daß jemand käme und Zeit und Raum vernichte, töte.

*

Einmal, ja, da muß es doch ganz anders gewesen sein als jetzt. Ich erinnere mich. Die Lampe brannte hell, der Ofen war warm und im Zimmer war eine zufriedene, gesättigte Stimmung. Der Vater kam lächelnd ins Zimmer, es war abends, er kam aus der Fabrik, in der tagsüber er gearbeitet hatte. Die Mutter empfing ihn mit guten Worten, und auch die andern begrüßten ihn freudig. Im Zimmer war es wohnlich, ein runder Tisch, ein Teppich darunter, Gardinen vor den Fenstern . . . Und neben der Mutter war eine Wiege, und in der Wiege, da war ich. Und damals, als ich noch in der Wiege lag, da war eben alles anders als jetzt. Jetzt ist es dunkel im Zimmer, keine Wärme ist darinnen und keine Wohnlichkeit. Finster ist der Vater, kommt er nach Hause, und finstre Worte bekommt er. Friede ging von denen im Zimmer, und Haß kam zu ihnen. Und mir ist es kalt, so kalt. Ich bin nicht mehr in der Wiege. Halberwachsen bin ich, und soll verdienen. Und dieses ist mein Tod, denn als ich in der Wiege war, da wiegten mich andre Worte und Träume als: Verdienen, Dienen. Und als ich noch ein Embryo war, da dachte ich nicht daran, daß ich geboren werden würde, um zu dienen, und nicht um zu leben. Und jetzt, da ich erwachsen bin, bin ich noch weniger als zuvor gesinnt zu dienen, Herr will ich sein.

*

Ich warte auf Dinge. Und sie ereignen sich nicht. Ich weiß nicht, was für Dinge sich da ereignen sollen. Aber ich warte. Will mir nicht sagen, daß es nutzlos sei, zu warten. Kein Ereignis gab mir ein Stelldichein. Und deshalb wird keines kommen. Leer läuft mein Leben. Ohne Inhalt. Warum werfe ich es nicht wie ein inhaltloses Buch von mir? Warum gehe ich nicht aus dem Theater, da mir das Stück nicht gefällt? Es ist in mir die Furcht des Tieres vor dem Tode. Das fürchtet das Unbekannte. Und hängt an dem Bekannten. Trotzdem, daß dies Bekannte das Schlechteste des zu Denkenden ist, und das Unbekannte nur besser sein kann. Und das Tier stöhnt in mir. Ich kann ihm nicht helfen. Es will mit dem Leben ringen. Doch das stellt sich ihm nicht, und der Tod sich nicht mir. Das Tier in mir will leben. Und kein Leben wird ihm gegeben. Ohnmächtig schlafft es durchs Leben. Und neben dem Tier gehe ich einher. Es aber ist mein Treiber. Es treibt mich schlecht. Es treibt mich allein. Und der Trieb ist für zwei. Ich will ein zweites Tier. Will Wärme, Sonne. Ein Mädchen. Doch die Dinge wollen nicht mich. Und so muß ich warten.

*

Mädchen, du, ich liebe dich. Sagen werde ich es dir nie, denn zu große Trauer gebar dir Liebe schon, und du würdest meiner Liebe nicht glauben, würdest nicht glauben, daß ich nur Mensch bin und daß mein Tier tot ist. Wie geschah es, liebes Kind, daß dich Tierfeuer schon einmal sengte und du trotzdem nochmals dem Feuer zu nahe kamst? Wolltest du, da du schon unten warst, unten bleiben? Waren dir schon alle Dinge nebensächlich, so sich mit dir ereigneten? Warum ließest du die Befleckung deines Körpers zu? Sicherlich fandest du sie angenehm, wußtest noch nicht um das Erwachen zum häßlichen Leben. So geschah es, daß du aus dir Nichtgewesenem Wesenheit gabst. Nicht lieb wars dir, und trotzdem: nochmals hättest du, wäre es wohlweislich nicht verhindert worden, unempfindlichem Nichtlebendem zum Lebenstod verholfen. Warum ereigneten sich diese Dinge? Ließest du dich denn vom Zeuger deiner Qualen gerne zu weiteren drängen? Wolltest du ihm sagen und zeigen: „Sieh! welche Schmerzen du mir zufügst, und sieh: ich ertrage sie!“ Wolltest du ihn so deinen Schmerz fühlen lassen? Auf alle meine Fragen wird mir wahrscheinlich nicht Antwort werden, denn wir werden einander wohl nie mehr sehen. Du Licht, das mir von ferne leuchtet, und so mir nicht leuchtet, o, laß doch dich und deine Strahlen näher zu mir kommen, auf daß mir Wärme werde.

Warum ist wohl meine Liebe zu dir, Mädchen? Weil du mir wie eine Jüdin schienst, die ich in England sah, mit rotem Haar, oder weil mein Auge Ruhe fand an deinem, und an der Stille deines Körpers? Ich weiß nicht, warum meine Liebe ist, aber sie ist. Nur eines gibt Schmerz meiner Liebe, daß du vielleicht sie nicht willst. Und ich will dich nicht beleidigen durch das Anbieten meiner Liebe. Und da ich dir nicht meine Liebe sagen werde, so werde ich ohne deine sein, die du mir aber vielleicht auch nicht geben würdest, wenn ich dir meine Liebe sagen würde. So ist mein Leben, aussichtslos. Zu ewigem Nichtsprechen bin ich verurteilt. Und es gibt keinen Richter, an den ich mich wegen ungerechten Rachspruchs wenden kann, denn der Richter, der beim jüngsten Gericht amtieren und sich rächen wird, der ist bis dahin still und tot. Und auch mein Leben kann nicht seinen Spruch erwarten, denn dann wird es tot sein, wie jetzt Gott.

*

Regen, Wind, Sturm, ihr seid mir lieb . . . . Im Sturme kletterte ich auf die hohe Föhre und ließ mich auf ihrem höchsten Aste nieder, und ließ mich wiegen und werfen vom Sturm. Der Wind sauste durch den Wald über die Wiese zu mir auf die Anhöhe, und ich, auf der Föhre stehend, sang und schrie im Sturm . . . . Ich war Herrscher. Auf einem Schiff. Ich kämpfte mit dem Feind. Ich besiegte alle. Der Sturm hörte auf. Die Sonne gab schöne Wärme. Die Ameisen zogen wieder den Baum auf und ab. In ihre Höhlungen. Ich sah ihnen lange zu. Ich stieg vom Baum, ging zu einem der Bergwerke der Ameisen. Der Duft der Ameisen, der feuchten Wiese, des Waldes und des nassen Heues war mir angenehm. Nachdem ich den Ameisen, den kleinen, schwarzen, zugesehen, ging ich zum Ameisenbergwerk der roten. Bald waren die Roten und Schwarzen im Kampf. Ich war die Ursache der Völkerschlacht. Ein Heerführer der Schwarzen schrie unaufhörlich: „Rettet die Ungeborenen, die Zukunft!“ Mir ward dies bald zu eintönig, und zwei Ameisenvölker wurden ausgerottet. Dann ging ich auf die Wiese und träumte vom Mädchen meiner Träume. Ich bin mit ihr zusammen. Ich spreche zu ihr. Und sie ist mir gut . . . Ich steuere ein starkes Schiff im großen Meer. Sie sitzt vor mir in langen Gewändern, und ihre Augen leuchten schön zu mir . . . Friede habe ich, Freude, Lilith . . . Lilith, darf ich mit dir sprechen und dir sagen, daß ich dich liebe? . . . Keine Antwort werde ich erhalten, denn ich werde nicht fragen, wissend und fürchtend, daß du mich ablehnen würdest . . . Und so werde ich dir nie sagen können, wie wert du mir bist, daß du das Mädchen meiner Träume und meines Denkens bist, daß ich seit den Tagnächten meiner Kindheit immer deiner gedacht, daß ich die Augenblicke, da ich dich gesehen habe, aufbewahre und sie mir immer hervorhole, um schön von dir zu träumen, daß du der Anfangsgedanke meiner Träume bist, daß der Gedanke an dich vielleicht mein letzter sein wird . . . . Dies alles werde ich dir nicht sagen, denn du würdest es mir nicht glauben . . . . So werde ich von dir nur immer träumen, denn ich werde nie mit dir sprechen . . . . Träumen, träumen. Mein Leben ist träumen, mein Träumen mein Glück . . . . Und mein Leben ist tot. Du wirst mir nicht helfen, denn du wirst niemals wissen um meine Not . . . . Ich hungere nach deiner Liebe. Und ich werde verhungern, denn ich werde nicht betteln. Ich kann mich nicht beugen und bitten. Das Nein fürchtend. Und ich wüßte mich nicht zu benehmen, abgelehnt . . . Ohne Denken würde ich vor dir stehen, dumm und lächerlich . . . Ich will keine Niederlage, deshalb keinen Kampf. Du unterschätzest und geringschätzest mich sicherlich als Gegner. Und so kann ich dir nicht sagen, daß ich der Stärkere bin . . . Nur im Traum.

*

Lilith! Ich grüße dich, aber den Hut nehme ich nicht ab, so wirst du nicht wissen, daß ich dich grüße. Und du staunst, wie auch darüber, daß ich mich trotzdem neben dich setze und nicht mit dir spreche. Weißt du noch, wie vor vielen Jahren, als wir wie heute in der Elektrischen fuhren, ich, da du mich nicht sahst, dich berührte, grüßte und dann mit dir nichts sprach, weil meine Zunge dumm ist. Wie du schnell auf dem Eise warst und ich immer auf dem Boden. Aber Schnurspringen konnte ich besser als du. Du hast mich Bier holen gesehen und Einkäufe mit der Markttasche besorgen. Wie fuhr ich auf dem Velozipedkarussell so schnell — und du lachtest. Und als ich abstieg, bemerkte ich, daß die Sohle meines Schuhes im Begriffe war, ihn zu verlassen, getrennt von ihm leben wollte, und rächender Richter war ich. Uns hatte sie entzweit, in meinem Jähzorn tat ich mit ihr und dem Schuh desgleichen. — Es irrt der Mensch, solang’ er richtet!

Deiner Puppe brach ich lachend den Kopf ab, und als du weintest, da, nein, ich will mich an meinen Gefühlsausdruck nicht erinnern, an mich verfärbende Ereignisse. Ich kenne dich nicht, dein Denken und Dichten. In einem anderen Hause wohnst du, und nur manchmal kamst du in unsern Hof und da verkroch ich mich oft und spielte nicht mit dir. Ich kenne bloß deinen Namen, der mir Fetisch ist, und ich liebe dich, weil ich von meiner Kindheit an von dir geliebt sein wollte. Ich bin schwerkrank, morgen werde ich operiert werden. Lilith, Todesengel, komm, küsse mich.

*

Einziges Mädchen meiner Kindheit, der wenigen Spiele, die wir selten gespielt, Zeugin meiner Scheu und Furchtsamkeit, ich sah dich heute, und wann werde ich dir wieder begegnen und dir sagen können, daß du mich lieben sollst, daß ich bei dir Frieden suche, meinen Kopf an dir ruhen lassen will, du mich küssen sollst und zu mir sprechen! Meine geliebten Sterne in schwarzer Nacht über uns! oder am Meeresstrand im Sand, von den tönenden Wogen nicht berührt, allein mit dir! Und ich werde zu dir weinen und du wirst mich liebkosen, und wirst mir Mutter sein, denn meine Mutter war es nicht. Freude, Liebe kenne ich nicht. Und ich bin doch so gut, Gott liebte mich, das weiß ich, und er war der einzige. Wirst du es nun sein? Denn ihn habe ich abgesetzt. Er ist Gottgeist und ich verlange nach Menschkörper. Aber ich weiß, mein Wille wird nicht geschehen, wie überall auf Erden, mein Wunsch wird Traum bleiben, ohne dich werde ich das Leben sein lassen, ohne Leben und Lieben sterben.

*

Flieht eine Krähe und schreit: „Kahl, kalt, Tod.“ . . . Ein nackter Baum ist in meinem Garten. Die Winterkrankheit kam über ihn, und bar seiner grünen Kleidung schauert er im Winde. Mein Garten ist leer, und ihn friert. Eine Krähe flieht vor ihm und über ihn und schreit: „Kahl, kahl.“ Auf dem Baume ein leerer, umgestülpter Handschuh. Einst scheint er einem Mädchen gehört zu haben, im Sommer dürfte er zum Baume geflogen sein. Baum, Garten, Krähe, sie wissen von einem Frühling, einem Sommer, einem Herbst. Sie wissen im Winter: Sommer wird sein. Der Handschuh weiß von einem Sommer, einem Mädchen. Und ich, ich weiß nur von einem Winter. Der dauert nun schon mein ganzes Leben. Kein Frühling kommt, keinen Frühling, keine Jugend hatte ich, kein Sommer wird mir werden. Kalt, kalt, kräht es um mich.

Ich bin im kahlkalten Zimmer, bin leer und umgestülpt, Handschuh auf dem Baume. Doch in sein Sein griff ein Mädchen ein, warf sie ihn auch fort, so weiß er doch von einem Mädchen, dem er gehörte, das ihm ward. Ich aber weiß von keinem Mädchen, keines griff in mein leeres Leben ein, keines brachte mir Sommer, Sonne, nein, sie lassen mich alle dem kalten Winter, lassen mich frieren im Leben, allein sein.

Außer meinem Winter kenne ich noch eins: einen Namen. Lilith, er ist der Name eines Mädchens und eines Engels. Das Mädchen ist das Mädchen meiner Märchen und Träume, der Engel Todesengel. Wenn es mir zu kalt ist, sage ich mir den Namen des Mädchens und träume mir ein Märchen. Das Märchen wärmt mich ein wenig. Wird es aber in meinem Winter zu kalt werden, so daß Blut in meinem Thermometer gefriert, wird kein Märchenmädchen mich aus der Kälte erlösen. Wird ein Engel kommen, Lilith, der Tod, mich befreien aus meiner kalten Nacht. Der Winter wird zwar vorüber sein, aber keine andere Zeit wird mir sein. Nichts wird mehr sein, kein Winter, kein Märchen, kein Mädchen, kein Engel, kein Tod.

Flieht eine Krähe und schreit: „Kahl, kalt, Tod.“

*

Mir als Abstämmling alter Priesterfamilie verbeut es das Gebot, mich dem Acker Gottes, in den diesseitige Früchte für jenseitige Blüte gepflanzt werden, zu nähern oder auf ihm zu weilen. Nicht des Verbotes halber war ich gern dort, sondern weil der Friede des Ortes auch mir Frieden gab, Frieden mit mir. Ich lag dort im Grase neben zwei Gräbern. Sah zur Sonne, gedeckt durch ein Tuch, und schaute die schönsten Farbenwunder. Wirkliche Pegasusse, geflügelte Heupferde ließen Musik aus sich ertönen. Grillen vertrieben mir mit ihren Tönen meine Grillen. Bienen flogen zu Disteln, Schmetterlinge schwärmten. Kein Mensch störte, die Tiere freuten mich. Und ich war voll Ruhe und Friedens mit mir. Hie und da lagen Grasbüschel auf den Steinen der Gräber, aber immer und überall konnte das Auge, nach und nach, graue Grabschnecken von den grauen Steinen unterscheiden . . . Im Grabe, neben dem ich lag, war seit geraumer Zeit ein Mädchen gefangen. Ich hatte es einst, da es noch vom Leben gefangen war, beleidigt. Es kam einmal in meinen Garten, Wind hatte ihm ein schönes Tüchlein, Kleid einer Puppe, zu mir vertrieben. Mädchen verlangte das Tüchlein von mir, zaghaft. Ich hob das Tüchlein von der Erde, unrein wie es war, und warf es auf das Mädchen, sein Haar beschmutzend. Traurig sah das Mädchen auf mich ob meiner Untat, traurig ging es von mir, ohne Wort, und des Mädchens Augen sagten mir, daß sein Mund sich mir geöffnet und zu mir gesprochen hätte, wär ich nicht so bös gewesen . . .

Ihre klagenden Augen erschienen mir wieder. Ich sah sie, durch Glas hindurch, das auf ihnen lag. Einen Einschnitt hatte sie auf der Stirne, einen auf ihrer Brust. Damit die Seele aus ihr könne, glaube ich, wurde so ihr Körper verletzt. Weshalb aber Glas ihre Augen deckte, weiß ich nicht. Vielleicht auch, daß ich Glas und Schnitte sah, die nicht vorhanden waren. Leute, die ein Recht auf das kleine Mädchen zu besitzen wähnten, wälzten sich und heulten vor dem Mädchen, das traurig dalag auf der Bahre, vor seinem Grabe. Ein Rabe krächzte über die Menschen und floh den Friedhof, dessen Ruhe durch unruhige, lebende Menschen gestört war. Lange Zeit nachher, als schon keine Spuren der Menschen mehr am Orte des Nichtseins zu entdecken waren, ging ich hin und bat das Mädchen, mir die Untat zu verzeihen. Ich opferte ihr, sie zu versöhnen, meine Gedanken und Worte. Und ich glaube, sie nahm das Opfer an, selten lasse ich mir ihr trauriges Gesicht, ihre trauernden Augen erscheinen.

*

Weite Ebene, ruhig wie See, wenn Wind nicht weht, ist. Tag ist tot. Nacht lebt. Knabe ohne Schlaf traumwebt. Mädchen zu ihm kommt. Legt Körper zu Körper. Knabe weint: „Du bist gut.“ Liegen und träumen. Gedanken: Sterne sind schön, wie Wunder herrlich. Ruhe ist groß. Knabe: „Mädchen, bist du fraulich schon, oder noch jungfräulich? Bist du Frau: Deinen Körper, Wunder will ich schauen. Bist du jungfräulich: Heiliger Tempel bist du, den ich anbeten will.“ Knabe wacht auf. Kälte und Tod.

Ich habe dich oft gesehen und mit dir gesprochen. Habe von dir deinen Körper verlangt. Aber du sagtest immer: „Nein.“ Ich verstand nie, weshalb du nicht einwilligtest. Bin ich denn häßlich, dumm, nicht verlangenswert? Ach so! da ich dich verlange, weisest du mich zurück. Was du haben kannst, willst du nicht. Und hätte ich dir gezeigt, daß ich dich nicht will, du würdest gewußt haben, daß ich Trauben, die ich nicht gekostet, sauer weiß. Oder würdest, da ich dir dann nicht mehr begegnet wäre, mich bald vergessen haben. Und ich bin ja auch nicht der einzige, der dich begehrt. Du findest das Geschlecht unschön, willst Mädchen bleiben. Aber ich weiß, du wirst heiraten. Einen Geistproleten, Geldbesitzer. Und ich, der ich ein armer Geisteskapitalist bin, werde dich nicht kaufen können. Nur ein goldbeladenes Kamel zieht durchs Öhr ins Himmelreich ein. Wenn ich deinen Namen hörte, mein Herz, das schmerzte mich, der Hals war zugepreßt, und ich, ich schmähte dich. Weil ich dich nicht küssen darf und kann, muß ich dich schlagen, hassen. Aber ich will dich nicht hassen, ich will dir meine Liebe zeigen. Und da du mich nicht läßt, verpanzere ich mich in mir, hohnlächle. Und glaube, ich werde nie mehr lieben können. Da man mir meine Liebe immer aufs neue zertrat, riß ich sie aus mir, verschloß die Wunde mit Eis und Eisen. Kann nicht sagen: „Ich liebe dich“, denn ich glaube es nicht mehr. Liebe, Leben und Glas, wie schwer bricht das. Und ihr, die ihr mich gebrochen, an euch, an euch werde ich mich rächen. Rächender Richter werde ich sein, Schrill wie Klavier, das zerstört, so grell schreit meine Liebe nun. Ich hasse, mein Gesicht ist verzerrt, meine Zähne knirschen . . .

Gott war es, der aus Luzifer Satan schuf . . . .

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Merkwürdig ist es, eigentlich: Immer schreie ich nach einem Mädchen, nach einem Tod, und verlange diese Dinge, obwohl ich mir diese Dinge doch, ohne nach ihnen zu schreien, einfach nehmen könnte, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Und deshalb deucht mir, daß es mir eigentlich nicht um diese Gegenstände zu tun ist, sondern daß mir das Schreien darnach behagt, Mittel mir Zweck geworden. Denn wollte ich wirklich Mädchen, Tode, ich könnte doch zu einem Mädchen gehen und für geringes Geld geringes Mädchen eine kleine Dauer haben. Ist es die zu kurze Zeit des Besitzes, was mich davon abhält, könnte mich ja die Dauer eines Todes, die von unbegrenzter Zeit ist, entschädigen. Nein, es scheint, ich will es umgekehrt: Mädchen für unbeschränkte Zeiten, Tode für begrenzte. Doch glaube ich nicht, daß die Dinge, dem Gesetz der Trägheit folgend, meines Willens wegen aus ihrer Bahn weichen werden in die, welche ich ihnen vorschreibe. Und so werde ich auch des Ferneren schreien: „Ein Mädchen, einen Tod.“ Man achte darauf, daß ich Mädchen vor Tod schreie, denn ich könnte ja auch ungestört umgekehrt schreien, aber ich brülle das nur so, weil ich auch sonst, um den Kellner mit den Speisen an mich zu locken, schreie: „Kellner, zahlen!“ Doch auch durch diesen Kniff konnte ich bis jetzt noch keinen Kellner, kein Essen ködern . . .

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Schmerzen fühle ich. Und die Schmerzen freuen mich. Wenn Schmerz zu meinem Herzen kommt, mich sticht, erhoffe ich den letzten Stich. Doch der Tod will mich nicht einstechen. Ich scheine ihm zu wertlos . . . Der Tod spielt mit mir Schach. Ich gab ihm die Dame vor. Und noch immer will er mich nicht matt machen. Und davon bin ich matt. Will die Partie aufgeben. Er nimmt aber nicht an. Will der Tod mich leben lassen, wo das Leben mich nicht leben läßt? Gibt mir der, von dem ich nichts will? Ja. Denn so ist es immer. Da ich das Leben will, will es mich nicht. Vor den Toren, zwischen den Toren zweier Höllen bin ich, und kein Teufel läßt mich ein. Ich bitte Gott, der Teufel möge mich erhören. Doch beide sind taub. Beleidigt, irgend einer Tat wegen, die ich nicht mehr weiß. So ward ich aus allen Höllen der Welten ausgeschlossen. Für die Dauer meiner Spielzeit.

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Der Tod kommt auf einen Markt. Er gleicht einem Hausierer mit seinem Kram und spricht wie ein solcher. „Billige Tode, noch nie dagewesene, sensationelle Tode. Bei mir bekommen Sie jeden Tod. Prompte und reelle Bedienung. Ich bin ohne Konkurrenz. Bei mir sterben Sie garantiert gut. Was haben Sie davon, wenn Sie sich teures Leben, teure Krankheiten anschauen? Das kostet Sie nur viel Geld. Heben Sie sich doch lieber das Geld und das Leben für den Tod auf. Ich weiß überhaupt nicht, weshalb, wozu und wieso Sie leben. Das Leben ist eine schlechte Gewohnheit. Hören Sie mir doch mit dem Leben auf. Glauben Sie, es macht gar so einen schönen Eindruck, wenn Sie unaufhörlich sich oder andern in der Nase bohren? Ich sage Ihnen, das schönste und beste Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk ist z. B. so ein Revolver. Sehr billig, und ein äußerst amüsantes Gesellschaftsspiel für sechs Personen. Hier habe ich auch etwas für größere Gesellschaften: einen Krieg mit drei Schlachten täglich. Kaufen Sie, kaufen Sie. Kaufen Sie nicht heut’, so morgen. Ich warte. Ich habe immer Zeit. Wenn Sie mich brauchen: — Karte genügt, komme sofort.“ Der Tod geht weiter, immerwährend, seine Waren preisend und ausrufend.

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Kälte dringt auf mich von allen Seiten ein. Schließt mich ein und will mich erdrücken. Ich verkrieche mich in mich hinein, wie eine angegriffene Schnecke in ihr Haus. Doch ich weiß: nutzlos ist es. Und ich fürchte den Augenblick, da ich aus mir treten, die kraftlose Verschanzung aufgeben werde, und mich, aufschreiend vor innerem, wesenlosem Weh, der Kälte preisgeben werde. Ohnmächtig werde ich zusammensinken. Kälte wird wie ein Vampyr Wärme, Leben aus mir saugen und mich leblos lassen. Wozu wurde ich in den Kampf gesetzt? Nutzlos muß ich Kampf-Hasser kämpfen und fallen. Im Tode lallen: Wozu? Wozu kriech’ ich weiter? Warum? Warum laß’ ich mich nicht fallen? In den unbekannten Abgrund, ihn zu ergründen? Den grundlosen Grund des Lebens zu finden. Und ich falle. Bin auf dem Grund. Und es ist kein Grund. Der Abgrund, der ohne Grund ein Abgrund ist, wie jeder Grund hier auf Erden ohne Grund ist, grundlos nimmt er mich nicht in sich auf.

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Die Finger meiner linken Hand bewegten sich auf der Platte des Tisches. Gingen an sein Ende. Stiegen von dort in die Luft, waren rastlos in Bewegung und schrien rastlos: „Wir sind die fortschreitenden Finger. Wir sind die Fortgeschrittenen. Wir gehen zur Sonne. Wir kommen zur Zukunft. Wir werden immer weiter schreiten.“

Die Finger meiner rechten Hand bewegten sich nicht. Schwer lagen sie auf der Platte des Tisches. Und keine Worte kamen von ihnen. Und keine Bewegung.

Und ich, ich sah zu. Daß die Finger der linken Hand sich bewegten, die der rechten aber nicht, beides war mir gleich, und beides gleich-gültig. Nutz- und zwecklos beides mir. Denn sie werden tot sein, und würden sie auch immer weiter leben, sich bewegen oder auch nicht, es wäre mir dieselbe Gleichgültigkeit für diese Ereignisse.

Doch wünsche ich meinerseits: Das mir Gleichgültige, und das sich gleichbleibende Schauspiel, möge mich nicht mehr lange zum Zuschauer haben, denn meine Augen schmerzen, ich will sie schließen.

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Während des Seins der Tage zweier Jahre sah ich auf meinem Weg ins Schulgefängnis stets ein Mädchen auf der Straße gehen, dem ich meine Liebe geben mußte. Denn die Ruhe ihres Antlitzes, wie die ihres ganzen Wesens, nahm mir meine Ruhe und gaben mir die Unruhe, das Leid, die Liebe. Ich traf sie bei der Kirche des Ortes, in die sie verschwand, und ich neidete sie Gott, der mir sie nahm, denn sicherlich, sie gab sich ihm, und deshalb wird sie sich nicht mir geben. Der Körper des Mädchens war in ein blaues Kleid gehüllt, und ich nannte sie deshalb, da mir ihr Name unbekannt war, in meinen dichtenden Träumen Blaumädchen. Blaumädchen trug einen Hut, dessen Farbe, wie auch die einer weithin sichtbaren Feder, ebenfalls die blaue war. Und täglich auf meinem Gang zur Schulsklaverei freute mich der Schmerz, Blaumädchen wieder zu sehen. Mich schien sie nie anzusehen, und ich glaube deshalb, daß sie von mir nichts weiß. Nicht immer wagte ich sie anzusehen, denn manchmal hielt mich eine Scham, deren ich mich schämte, davon ab. Ich weiß nicht genau die Farbe ihres Haares. Ich weiß nur, daß ihr Haar vom Winde zerzaust war. Nachdem ich schon viele Monate Blaumädchen bei der Kirche gesehen hatte, wollte meine Neugier wissen, von wannen das Mädchen zur Kirche komme und wohin sie sich hernach begebe. Und so raffte mich einmal der Entschluß auf, dem Mädchen zu folgen. Und ihre Schritte führten uns zu einer Fabrik, von wo sie nach elf Stunden in ein Haus ging, das in einem anderen Viertel des Vorortes lag. Blaumädchen ist also ein braves Bibelkind, betet und arbeitet. Als ich zu diesem Wissen kam, wurde ich aus dem Schulgefängnis in ein überseeisches Geschäftsgefängnis deportiert. Blaumädchen aber blieb, und nur in meinen Träumen konnte ich sie sehen, bis ich nach einem Jahre wieder an ihren Ort zurückkam und das Mädchen mir wieder in Wirklichkeit ward. Das heißt: sie wurde mir nicht, denn als ich eines Tages meine Scheu und Feigheit überwand und Blaumädchen höflich fragte, ob sie mir erlaube, sie und ihr Denken kennen lernen zu dürfen, da verwies sie es mir. Und ich schäme mich, daß hernach sie mich täglich sehen mußte, denn mein Weg in mein neues Gefängnis kreuzte den ihren, einen andern Umweg gibt es nicht als den um das Leben, und diesen werde ich begehen, denn ich will mit meiner Person niemanden in seinen Wegen stören.

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Es läutet. Wer will zu mir? Ich erwarte niemand, Ein Bettler wird es sein, der von mir Armen Dinge verlangen wird, die ich nicht geben kann. Vielleicht jemand, der fragt, wo oder ob hier Herr Meijar wohnt. Sonst wüßte ich niemand, der es sein könnte, oder etwas von mir möchte. Kein Briefträger bringt mir Botschaft, denn niemand ist, der mir sie senden könnte. Niemand kann zu mir kommen, niemand von mir etwas wünschen, das ich erfüllen könnte, und so werde ich nicht öffnen. Schreie. Ach so: Rauch dringt in mein offenes Fenster. Das Haus wird wohl brennen. Mag es brennen und ich. Leute versuchen die Tür aufzubrechen. Merkwürdig: wie ich lebe, das ist den Leuten gleichgültig, wie ich aber sterbe, nicht. Um mein Leben kümmerte sich niemand, niemand trat bei mir ein, obwohl ich gern geöffnet hätte, und da nun der Tod zu mir kommen will, verhindern sie ihn am Eintritt. Warum? Der Tod ist doch der einzige Besuch, den ich erwarten kann. Da sind schon Leute. Sie haben mich „gerettet“. Wozu? Damit ich noch einige Zeit warten soll, bis der Tod mich abholt und zu sich in sein Haus nimmt, ohne daß die Leute einen Grund sehen werden, gegen den Tod einzuschreiten, ihn zu verhindern, zu mir zu kommen. Ich werde dann nicht verbrannt sein, sondern nur verhungert.

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Die Tinte ist zur Neige gegangen, ein schmutziger Satz ist am Boden des Tintenfasses übrig geblieben. Ich fühle: auch die Tinte in meinem Körper ist zur Neige gegangen, nur ein schmutziger Satz ist übriggeblieben. Und der Rest erstarrt. Und meine Finger erstarren. Und meine Augen erstarren. Und keine Hilfe kommt, niemand giebt Tinte in mein Faß, und die Leere im Faß schlägt ihm den Boden aus. Denn den Außendruck kann ich nicht mehr ertragen. Ich falle in mir zusammen, erdrückt von der Leere meines Lebens.

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Er tötete sich nicht, weil er dazu zu tapfer und gewiß auch zu feige war. Ihr Kind aber tötete er, weil er es, weil er sie liebte. Das Kind war schön, häßlich aber wäre sein Leben gewesen, seine nun niemals werdende Zukunft wußte er aus den nicht materiellen Gütern der Mutter zu lesen. Und das Kind wäre schwere Last der Mutter gewesen, wenn auch liebe, süße. So befreite er die Mutter von der Last des Kindes und das Kind von der Last des Lebens. Die Mutter wird ihm zürnen. Das Kind aber nicht, das weiß er, denn er sah, wie ihm das Kind dankbar zulächelte. Mehrere Stunden saß er nun bei der Kindesleiche. Der Mutter versprach er treue Hut, und sein Wort, er hat es gehalten, hat das Kind vor dem Leben behütet. Bald nun müssen sich Dinge ereignen, der Mutter Klagen und Weheschreie wird er hören, die Leute, die sich das Unrecht hiezu nehmen, werden ihn greifen und gefangen nehmen, werden ihn töten oder auch nicht. Er wird zu allem lächeln, weiß er doch sein Recht. Nur die Mutter möchte er noch einmal küssen, denn er wird mit ihr vielleicht nie mehr zusammen sein. Die Leiche lächelte ihn an, er beugte sich zu ihr, küßte sie und schlief neben ihr ein. Den Schlaf des Gerechten.

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Ich will diesem meinem Leben, das kein Leben ist, ein Ende machen. Selbstmörder will ich nicht werden. Obwohl ich mein Leben morde. Und die mich töten, die anderen, töten, das will ich auch nicht. Weltverbesserer, Antianarchist sein, das will ich auch nicht. Ich will nur mein Leben bessern. Ich will nicht länger arbeiten, um dadurch in der Lage zu sein, weiter arbeiten zu können. Mich widert die Eintönigkeit meiner Tage und Nächte an. Mein Tun und Nichttun ist immer das gleiche. Mein Schlaf, mein Essen, mein Nichtruhen immer dasselbe . . . Doch wenn mein Kopf voll sein wird, wird mein Verstand überlaufen. Und ich komme vielleicht dann in eine Körperbewahranstalt für Geistlose. Unselig bin ich. Reicher an Geist und werde dann selig werden. Denn mein ist der Umnachteten Asyl. Warum entlaufe ich nicht in einem Anfall von Geistesumtagung meinem Gefängnis: ins Freie? Wann wird mich das Leben in den Tod lassen, da es mich nicht zu sich läßt? Wann? Wann werde ich meinen Tod erleben, der mein erstes und letztes Erlebnis sein wird? Wann? Kommt der Tod nicht zu mir, will ich ihm entgegenkommen . . . Ich ging in einen Waffenladen und verlangte einen Revolver mit Patronen, scharf geladen. Dann wünschte ich, ihn auf dem Schießstand einzuschießen. Der Händler setzte mir ein Ziel. Ich schoß versuchsweise nach der Scheibe. Und traf. Ich schoß nach dem Händler. Und traf. Ich habe ihn getötet, um mein totes Leben zu töten. Denn nun werde ich leben. Die Polizei wird nach mir jagen. Ich freue mich. Mein Leben wird nicht mehr öde sein. Abwechslung werde ich endlich haben. Vor Gericht gestellt, werde ich anklagen. In ein Gefängnis werde ich kommen. Oder in eine Irrenaufbewahrungsanstalt. Und ich werde meinem alten Leben entgangen sein. Ich werde Ruhe haben und in Ruhe denken können. Sollte es mir im Gefängnis nicht behagen, so werde ich mir ein anderes suchen. Denn ich weiß: solange ich im Lebens-Gefängnis bin, kann ich nicht frei sein . . . Sie klagen mich an, weil, ich getötet habe. Ich klage euch an. Ihr habt mein Leben getötet. Eure Weltordnung hat mich zum lebenslänglichen Sklavendasein verurteilt. Und ich wollte mich befreien. Und es ist mir geglückt. Denn glaubt nicht, daß mir eure Gefängnisse Gefängnisse sind. Ich werde in ihnen kein Arbeitstier sein. Ich werde frei sein. Ich werde keine Arbeit verrichten müssen, die mir fern und fremd ist. Ich werde keinen haben, der sich vor mein Leben setzt. Keinen Vorgesetzten. Keinen Herrn. Doch weiß ich, daß meine Freiheit im Gefängnis, obwohl sie größer sein wird als in der bisherigen „Freiheit“, nur eine bedingte ist. Denn solange ich im Leben gefangen bin, kann ich nicht freier Herr sein. Werde nicht mein eigener Herr sein können. Andere werden mich immer daran verhindern . . . Wird mein Leben, immer so grau und trüb sein, so trüb wie meine Kindheit, wie meine ganze Jugend? . . . Meine Jugend hatte keine Jugend . . . Feuer und Flamme wäre ich, hätte ich eine Flamme . . . Doch alles um mich her ist erloschen. Ich auch. Alles ist kalte, graue Asche. Und ich bin gezwungen zu warten, bis der Tod sie auseinandertreibt . . . Bis Wind kommt und mich in alle Richtungen bläst . . .

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Eine häßliche, mit vertrockneten Grasbüscheln — die in großen Zwischenräumen stehen, vielmehr halb auf der Erde liegen — bewachsene ebene Fläche dehnt sich entlang eines schmutzigen, tiefen Teiches aus. Beim Wasser sitzt ein krankes Kind. Grind bedeckt seinen Kopf, Ausschlag sein Gesicht, Rippen drohen den mit dürrer Haut überzogenen Körper zu zerreißen. Aus verklebten Augen schielt das Kind. Die Leiden des Kindes machen mich mitleiden. Die Häßlichkeiten der Natur um uns her, die des Kindes und meine, sie lassen mich alles hassen. Ich wünsche, alles Garstige möge vertilgt werden. Alles Leidende, das ohne Hoffnung auf Erlösung leidet, alle, die nicht mehr vom kommenden Wunder etwas erwarten, da sie wissen, daß keines kommen wird, und die deshalb auch nicht mehr träumen vom Wunder: alle, die eine häßliche Wunde sind, die keine Zeit und kein Leben heilt, sie alle sollen getötet werden. Ihre Wunde soll durch den Tod geheilt werden. Das dachte ich und stieß das Kind mit dem Fuß ins Wasser. Rücklings fiel es in den Teich, breitete seine Arme aus, schielte aus seinen armen Augen auf mich, und versank stumm. Ich starrte auf das Wasser, auf die Blasen, die zur Oberfläche kamen, starrte und sah dann nichts. Dann ließ ich mich fallen. Nicht in das Wasser, nein, auf die gesprungene Erde, auf das verdorrte Gras. Meine Augen starrten zum Himmel. Schwarze Wolken fuhren rasend über dunklen Horizont. Donner krachten. Ein Blitz zerriß zerzackend die Luft. Meine Augen starrten ungeblendet in das Wetterleuchten und Blitzen. Ich zog eine halbvolle Flasche aus der Tasche, ließ sie fallen, dann ein Messer, ließ es fallen, dann zog ich mich zum schmutzigen Wasser, und ließ mich fallen . . . Nicht in den Tod . . . Stand auf. Ging weiter. Dem Leben zu. Dem Tode entgangen, gehe ich. Wohin? Ins Unbekannte . . .

ENDE