The Project Gutenberg eBook of Die Nacht der Erfüllung: Erzählungen This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Die Nacht der Erfüllung: Erzählungen Author: Rabindranath Tagore Translator: Helene Meyer-Franck Release date: June 10, 2010 [eBook #32763] Language: German Credits: Produced by Norbert H. Langkau, Jana Srna, Wolfgang Menges and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE NACHT DER ERFÜLLUNG: ERZÄHLUNGEN *** Produced by Norbert H. Langkau, Jana Srna, Wolfgang Menges and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Anmerkungen zur Transkription: Gesperrt gedruckte Passagen im Originaltext sind hier durch _Unterstriche_ gekennzeichnet. Weitere Anmerkungen befinden sich am Ende des Textes. RABINDRANATH TAGORE DIE NACHT DER ERFÜLLUNG ERZÄHLUNGEN MÜNCHEN KURT WOLFF VERLAG Einzig autorisierte deutsche Ausgabe. Nach der von Rabindranath Tagore selbst veranstalteten englischen Ausgabe ins Deutsche übertragen von Helene Meyer-Franck 1.-20. Tausend Copyright 1921 by Kurt Wolff Verlag A.-G. in München Gedruckt im Frühjahr 1921 in der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig Einbände von H. Fikentscher in Leipzig INHALT Die Nacht der Erfüllung 3 Der Sieg 18 Maschi 33 Das Skelett 63 Der Hüter des Erbes 80 Die ältere Schwester 101 Subha 124 Die glückverheißende Schau 138 Der Postmeister 150 Die Flußtreppe 163 Der Ausgestoßene 174 Das Kartenkönigreich 197 DIE NACHT DER ERFÜLLUNG Ich ging mit Surabala bei demselben alten Fräulein in die Schule, und wir spielten zusammen Mann und Frau. Wenn ich sie in ihrem Hause besuchte, pflegte ihre Mutter mich zu hätscheln, und oft stellte sie uns nebeneinander und sagte für sich: »Welch ein reizendes Paar!« Ich war damals noch ein Kind, aber ich verstand doch sehr gut, was sie meinte. Die Vorstellung setzte sich bei mir fest, daß ich ein besonderes Recht auf Surabala hätte. So kam es, daß ich im stolzen Gefühl meines Eigentumsrechts sie zuweilen bestrafte und quälte; und auch sie ihrerseits plagte sich willig für mich ab und ertrug alle meine Strafen ohne Klage. Das ganze Dorf pries ihre Schönheit, aber in den Augen eines jungen Barbaren wie ich hatte diese Schönheit nichts Besonderes; -- ich wußte nur, daß Surabala eigens dazu geboren war, mein Joch zu tragen, und daß ich mir daher nicht viel aus ihr zu machen brauchte. Mein Vater war Gutsverwalter der Tschaudhuris, einer reichen Gutsbesitzerfamilie. Es war seine Absicht, mich, sobald ich mir eine gute Handschrift angeeignet hätte, in der Gutsverwaltung auszubilden und mir dann irgendwo eine Stelle als Pachteinnehmer zu verschaffen. Aber ich lehnte innerlich diesen Vorschlag ab. Nilratan, ein Junge aus unserm Dorfe, war seinem Vater durchgebrannt nach Kalkutta, hatte dort Englisch gelernt und war endlich Nazir[1] des Distrikts geworden. Das war mein Lebensideal: ich war im geheimen entschlossen, wenigstens oberster Gerichtssekretär zu werden, wenn ich es nicht bis zum Nazir bringen sollte. [1] Oberster einheimischer Verwaltungsbeamter. Ich sah, daß mein Vater diese Gerichtsbeamten immer mit der größten Ehrfurcht behandelte. Ich wußte von meiner Kindheit her, daß man sie sich durch allerlei Geschenke wie Fische, Gemüse oder selbst Geld, geneigt machen mußte. Darum hatte ich in meinem Herzen diesen unteren Gerichtsbeamten bis zu den Gerichtsvollziehern hinab einen hohen Ehrenplatz eingeräumt. Dies sind die Götter, die man in unserm lieben Bengalen verehrt, -- eine moderne Miniaturausgabe der 330 Millionen Gottheiten des Hindu-Pantheon. Wo es sich um die Gewinnung materiellen Erfolges handelt, haben die Leute mehr wirkliches Vertrauen zu ihnen, als zu dem guten alten Gott Ganesch, dem Spender des Erfolgs, und so opfern sie jetzt diesen Beamten alles, was früher Ganeschs Anteil war. Durch das Beispiel Nilratans angefeuert, ergriff auch ich eine günstige Gelegenheit und rannte fort nach Kalkutta. Dort stieg ich einstweilen in dem Hause eines Bekannten aus dem Dorfe ab, und dann erhielt ich von meinem Vater eine kleine Summe für meine Ausbildung. So konnte ich regelmäßigen Unterricht nehmen. Daneben trat ich politischen und sozialen Vereinigungen bei. Es wurde mir jetzt plötzlich klar, daß ich unbedingt irgendwie mein Leben für mein Vaterland opfern müsse. Aber ich wußte nicht wie, und niemand zeigte mir den Weg. Aber das tat meiner Begeisterung keinen Abbruch. Wir Dorfjungen hatten noch nicht gelernt, über alles zu spotten, wie die frühreife Jugend von Kalkutta, und so war unser Glaube sehr stark. Die »Führer« unserer Vereinigungen hielten Reden, und wir gingen in der heißen Mittagssonne mit leerem Magen von Tür zu Tür und sammelten Unterschriften, oder wir standen an den Straßenecken und teilten Zettel aus, oder stellten Stühle und Bänke im Vortragssaal auf, und wenn irgend jemand nur die leiseste abfällige Bemerkung über unsern Führer machte, so waren wir gleich bereit, uns mit ihm zu schlagen. Die Stadtknaben aber lachten über diese »törichten Jungen vom Lande«. Ich war nach Kalkutta gekommen, um Nazir oder Gerichtssekretär zu werden, aber jetzt fühlte ich mich auf dem Wege zu einem Mazzini oder Garibaldi. Um diese Zeit vereinbarten Surabalas Vater und mein Vater, daß wir uns heiraten sollten. Ich war mit fünfzehn Jahren nach Kalkutta gekommen; Surabala war damals acht. Jetzt war ich achtzehn und nach der Ansicht meines Vaters bald über das Heiratsalter hinaus. Aber ich hatte mir im stillen gelobt, niemals zu heiraten, sondern für mein Vaterland zu sterben, daher sagte ich meinem Vater, ich wolle nicht heiraten, bevor ich meine Studien zum Abschluß gebracht hätte. Nach zwei oder drei Monaten erfuhr ich, daß Surabala mit einem Rechtsanwalt namens Ram Lotschan verheiratet worden sei. Ich war damals eifrig dabei, Unterschriften für die Beihilfe zur Wiederaufrichtung Indiens zu sammeln, und so berührte mich diese Nachricht gar nicht. Ich hatte mich immatrikulieren lassen und wollte gerade mein Zwischenexamen machen, als mein Vater starb. Ich stand nicht allein, sondern hatte meine Mutter und zwei Schwestern zu erhalten. Daher mußte ich die Universität verlassen und mich nach einer Anstellung umsehen. Nach vielen Bemühungen erhielt ich die Stelle eines zweiten Lehrers an der Präparandenanstalt einer kleinen Stadt im Distrikt Noakhali. Ich meinte, hier würde ich gerade am Platze sein. Jeden einzelnen meiner Schüler wollte ich durch meinen persönlichen Einfluß zum Führer des künftigen Indiens heranziehen. Ich begann mit meiner Arbeit und merkte bald, daß das bevorstehende Examen eine dringendere Angelegenheit war, als die Zukunft Indiens. Der Direktor wurde zornig, wenn ich von irgend etwas anderm redete, als Grammatik oder Algebra. Und in ein paar Monaten war es mit meiner Begeisterung aus. Ich bin kein Genie. In der Stille meines Hauses fasse ich wohl kühne Pläne, aber wenn ich das Arbeitsfeld betrete, muß ich wie der indische Stier meinen Nacken unter das Joch des Pfluges beugen, die Stachelpeitsche meines Herrn ertragen, den ganzen Tag geduldig und mit gebeugtem Haupt die Schollen aufwerfen und zufrieden sein, wenn ich am Abend etwas wiederzukäuen habe. Solch ein Geschöpf ist nicht dazu geschaffen, sich aufzubäumen und Sprünge zu machen. Einer von den Lehrern mußte der Feuersgefahr wegen in der Schule wohnen. Da ich unverheiratet war, fiel diese Aufgabe mir zu. Ich wohnte in einem Strohschuppen, dicht bei dem großen Schulhause. Das Schulhaus stand in einiger Entfernung von der Stadt, neben einem großen Teich. Um diesen herum standen Areka- und Kokospalmen und Madarpflanzen, und ganz dicht neben dem Schulgebäude wuchsen zwei große alte Paternosterbäume und warfen weithin kühlen Schatten. Etwas vergaß ich zu erwähnen, und es schien mir bis hierher auch nicht erwähnenswert. Der dortige Staatsanwalt Ram Lotschan Ray wohnte in der Nähe unserer Schule. Ich wußte auch, daß seine Frau, meine einstige Spielgefährtin Surabala, dort mit ihm wohnte. Ich machte die Bekanntschaft des Herrn Ram Lotschan. Ich kann nicht sagen, ob er wußte, daß ich Surabala in ihrer Kindheit gekannt hatte. Ich hielt es nicht für angebracht, diese Tatsache bei unserer ersten Bekanntschaft ihm gegenüber zu erwähnen. Ja, ich muß sagen, ich erinnerte mich damals kaum, daß Surabala je irgendwie mit meinem Leben verbunden gewesen war. An einem schulfreien Tage machte ich Herrn Ram Lotschan einen Besuch. Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhielten, wahrscheinlich über die unglückliche Lage des heutigen Indiens. Nicht als ob sie ihm besonders am Herzen gelegen hätte, aber man konnte sich so gut ein paar Stunden über diesen Gegenstand breit und behaglich ergehen, während man dazu seine Pfeife schmauchte. Während wir uns so unterhielten, hörte ich im Nebenzimmer leichte Tritte, das Rauschen eines Gewandes und ein ganz leises Klirren von Armbändern, und ich war gewiß, daß zwei neugierige Augen mich durch den Spalt eines kleinen Fensters beobachteten. Plötzlich tauchte vor meinem Geiste ein Augenpaar auf, dunkle Augen, aus denen Vertrauen, Unschuld und mädchenhafte Liebe leuchteten, -- schwarze Pupillen, lange, dunkle Wimpern, -- und die Augen waren ruhig und fest auf mich gerichtet. Mein Herz wurde wie mit eisernem Griff gepackt und krampfte sich in jähem Schmerz zusammen. Ich kehrte nach Hause zurück, aber der Schmerz wollte nicht weichen. Ob ich las, schrieb oder irgend etwas anderes tat, ich konnte die Last nicht von meinem Herzen abschütteln, sie lag wie ein schwerer Alp auf mir und preßte mir die Brust zusammen. Am Abend wurde ich etwas ruhiger, und ich versuchte zu überlegen. »Was fehlt mir denn eigentlich?« In mir fragte etwas: »Wo ist _deine_ Surabala jetzt?« Ich erwiderte: »Ich habe sie freiwillig aufgegeben. Ich konnte nicht erwarten, daß sie ewig auf mich warten würde.« Aber die Stimme in mir beharrte: »Damals konntest du sie haben, wenn du nur wolltest. Heute kannst du tun, was du willst, du hast nicht einmal das Recht, sie anzusehen. Die Surabala deiner Knabenzeit mag dir noch so nahe sein; du kannst das Klirren ihrer Armspangen hören und den Duft ihres Haares in der Luft spüren, -- und doch wird immer eine Mauer zwischen euch beiden sein.« Ich antwortete: »Nun gut, sei dem so. Was ist mir Surabala?« Mein Herz fuhr fort: »Heute ist Surabala dir nichts. Aber was hätte sie dir sein können?« Ach, das ist wahr. _Was_ hätte sie mir sein können! Das geliebteste aller Wesen, das mir näher stände als die ganze Welt, das alle meine Freuden und Leiden teilte, -- das hätte sie sein können. Und jetzt ist sie mir so fern, so fremd, daß sie anzusehen verboten, mit ihr zu sprechen unschicklich, an sie zu denken Sünde ist! -- während dieser Ram Lotschan plötzlich von irgendwoher auftaucht, ein paar auswendig gelernte religiöse Formeln murmelt und dann mit einem Griff Surabala davonträgt als seinen alleinigen und unbestrittenen Besitz. Ich will kein neues Sittengesetz predigen oder die Gesellschaftsordnung stürzen, ich habe nicht die Absicht, Familienbande zu zerreißen. Ich will nur genau das ausdrücken, was in mir vorging, wenn es auch nicht vernünftig ist. Ich konnte auf keine Weise das Gefühl loswerden, daß Surabala, die da im Schutze von Ram Lotschans Heim waltete, weit mehr mir als ihm gehörte. Diese Vorstellung war -- das gebe ich zu -- unvernünftig und ungehörig, aber unnatürlich war sie nicht. Von nun an konnte ich meine Gedanken nicht auf irgendeine Arbeit richten. Wenn am Mittag die Schüler in meiner Klasse durcheinandersummten, wenn draußen die Mittagshitze brütete, wenn die laue Brise den süßen Duft der Paternosterblüten ins Zimmer trug, dann wünschte ich mir, -- ich weiß nicht, was ich wünschte, aber so viel ist gewiß, daß ich mir nicht wünschte, mein ganzes Leben damit zuzubringen, die grammatischen Aufgaben jener Zukunftshoffnungen Indiens zu verbessern. Wenn die Schule aus war, konnte ich es in meinem einsamen Hause nicht aushalten; und doch langweilte mich jeglicher Besuch. Wenn ich in der Dämmerung am Teich saß und hörte, wie die Brise seufzend durch die Blätter der Areka- und Kokospalmen strich, dann dachte ich, daß doch die menschliche Gesellschaft ein einziges Gewebe von Fehlern sei; niemand hat Verstand genug, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun, und wenn die Gelegenheit vorbei ist, zermartern wir uns das Herz in vergeblichem Sehnen. Ich hätte Surabala heiraten und zeitlebens glücklich sein können. Aber ich wollte durchaus ein Garibaldi werden, -- und wurde schließlich der zweite Lehrer an einer Landschule! Und der Rechtsanwalt Ram Lotschan Ray, der gar kein Anrecht darauf hatte, Surabalas Gatte zu werden, für den vor seiner Heirat Surabala durchaus nichts anderes bedeutete, als hundert andere Mädchen, hat sie ganz ruhig geheiratet und verdient als Staatsanwalt einen Haufen Geld; wenn ihm das Essen nicht schmeckt, so schilt er Surabala, und wenn er guter Laune ist, schenkt er ihr eine Spange! Er ist glatt und rund, gut gekleidet und frei von jeder Sorge; _er_ bringt nie seinen Abend damit zu, am Teich zu sitzen und seufzend die Sterne anzustarren. Ram Lotschan wurde in einem wichtigen Rechtsfall auf ein paar Tage aus der Stadt abberufen. Surabala war in ihrem Hause ebenso einsam wie ich in meiner Schule. Ich erinnere mich, es war an einem Montag. Der Himmel war schon am frühen Morgen mit Wolken bedeckt. Um zehn Uhr setzte ein feiner Sprühregen ein. Bei dem drohenden Himmel hielt unser Direktor es für ratsam, die Schule früh zu schließen. Den ganzen Tag lang liefen dunkle Wolken über den Himmel hin, als ob sie sich zu einem großartigen Schauspiel rüsteten. Am nächsten Tage, gegen Nachmittag, erhob sich ein Sturm, und der Regen kam in Strömen herab. Wie die Nacht vorrückte, wuchs die Wut des Sturmes und des Regens. Zuerst blies der Sturm aus Osten, aber dann wandte er sich und raste nach Süden und Südwesten zu. Es war nutzlos, zu versuchen, in solch einer Nacht zu schlafen. Ich dachte daran, daß Surabala in diesem furchtbaren Wetter in ihrem Hause allein war. Unsere Schule war viel stärker gebaut, als ihr leichtes Sommerhaus. Immer wieder schickte ich mich an, sie in das Schulhaus herüberzurufen, mit der Absicht, selbst die Nacht draußen am Teich zu verbringen. Aber ich konnte mir kein Herz dazu fassen. Um halb zwei Uhr gegen Morgen hörte ich plötzlich das Rauschen der Flutwoge -- die See kam zu uns heraufgestürzt! Ich lief aus meinem Zimmer, Surabalas Hause zu. Dazwischen war ein Damm, eine Eindeichung unseres Teiches, und als ich daraufzu watete, kam mir das Wasser schon bis an die Knie. Als ich den Damm erstieg, war gerade die zweite Woge heraufgekommen und brach zerschellend dagegen. Der höchste Teil des Dammes war mehr als siebzehn Fuß über der Ebene. Als ich oben ankam, kam gleichzeitig mit mir jemand anders von der entgegengesetzten Seite. Jede Fiber in mir wußte sofort, wer es war, und meine ganze Seele erzitterte in diesem Bewußtsein. Ich zweifelte nicht, daß auch sie mich erkannt hatte. Auf einer Insel von etwa drei Meilen im Geviert standen wir beide; alles andere um uns her war mit Wasser bedeckt. Es war eine Zeit der Sintflut; die Sterne am Himmel waren ausgelöscht, und alle Lichter auf Erden waren verschwunden. Wenn wir damals miteinander gesprochen hätten, so wäre es kein Unrecht gewesen. Aber keiner von uns konnte ein Wort finden, keiner von uns fragte auch nur, wie es dem andern ginge. Wir standen da und starrten in die Dunkelheit. Zu unseren Füßen wirbelte der schwarze, wilde, heulende Todesstrom. Heute hat Surabala die ganze Welt verlassen und ist zu _mir_ gekommen. Heute hat sie niemanden außer mir. In ihrer fernen Kindheit war diese Surabala aus einer andern Welt, aus irgendeinem dunklen, urzeitlichen Reich des Geheimnisses gekommen und hatte im hellen Licht dieser menschenvollen Erde neben mir gestanden, und heute, nach einem langen Zeitraum, hat sie jene Erde verlassen, die so voll ist von Licht und Leben, um in diesem furchtbaren, trostlosen Dunkel, in diesem Todeskampfe der Natur allein an meiner Seite zu sein. Der Strom des Lebens hatte jene zarte Knospe einst mir vor die Füße gespült, und die Flut des Todes hat dieselbe Blume, die jetzt zu voller Blüte sich entfaltet hat, ergriffen und mir zugetragen, mir und niemandem anders! Noch eine Woge, und wir werden von diesem äußersten Rand der Erde, auf dem wir jetzt getrennt sitzen, hinabgefegt und eins werden im Tode. Möge diese Woge nie kommen! Möge Surabala lange und glücklich in ihrem Heim leben, umgeben von ihrem Gatten, ihren Kindern und Verwandten! Diese eine Nacht, wo ich am Abgrund des Todes gestanden, habe ich ewige Seligkeit gekostet. Die Nacht ging hin, der Sturm legte sich, die Flut ebbte ab; ohne ein Wort zu sagen, ging Surabala nach Hause zurück, und auch ich kehrte heim zu meinem Schuppen, ohne ein Wort gesagt zu haben. Ich saß lange und sann: Es ist wahr, ein Nazir oder oberster Gerichtssekretär oder Garibaldi bin ich nicht geworden; ich bin nur der zweite Lehrer an einer armseligen Landschule. Aber die eine kurze Nacht hat auf den ganzen Weg meines Lebens einen Glanz geworfen. Von allen Tagen und Nächten, die mir zugeteilt sind, war jene eine Nacht die höchste Erfüllung meines Daseins. DER SIEG Sie war die Prinzessin Adschita. Und der Sänger des Königs Narajan hatte sie nie gesehen. Wenn er dem Könige ein neues Lied vortrug, dann erhob er seine Stimme immer genau so weit, daß unsichtbare Hörer hinter den Vorhängen des Balkons hoch oben über der Halle sie vernehmen konnten. Er sandte sein Lied hinauf zu dem fernen Sternenlande, wo der Planet, der sein Schicksal beherrschte, lichtumflossen thronte, unbekannt und unerreichbar seinem Blick. Bisweilen erspähte er einen Schatten, der sich hinter dem Vorhang bewegte. Oder sein Ohr vernahm einen leisen, fernen Klang, und er träumte von den Fußspangen, deren goldene Glöckchen jeden Schritt mit Gesang begleiteten. Ach, die rosigen zarten Füße, die über den Staub der Erde hinschwebten und ihn segneten wie Gottes Gnade die Sünder! Der Dichter hatte sie auf den Altar seines Herzens gestellt, wo er zum Ton jener goldenen Glocken seine Lieder wob. Niemals stieg ein Zweifel darüber in seiner Seele auf, wessen Schatten es war, der sich hinter dem Vorhang bewegte, und wessen Fußspangen zu dem Takt seines pochenden Herzens erklangen. Mandschari, das Mädchen der Prinzessin, kam jeden Tag auf ihrem Wege zum Fluß an dem Hause des Dichters vorbei, und sie versäumte nie, verstohlen ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Wenn die Straße leer war und die Dämmerung ihren Schatten über das Land breitete, dann trat sie kühn in sein Zimmer und setzte sich auf eine Ecke seines Teppichs. Und es schien wohl, daß sie mit besonderer Sorgfalt die Farbe ihres Schleiers und die Blume für ihr Haar gewählt hatte. Die Leute lächelten darüber und flüsterten allerlei, und man konnte sie deswegen nicht tadeln. Denn der Dichter Schekhar gab sich keine Mühe zu verbergen, daß diese Begegnungen eine Quelle reiner Freude für ihn waren. Ihr Name bedeutete: Blütensträußchen. Jeder muß zugeben, daß dies ein lieblicher Name ist für ein gewöhnliches sterbliches Wesen. Aber Schekhar genügte er noch nicht, und er nannte sie Frühlingsblütensträußchen. Und die gewöhnlichen Sterblichen schüttelten den Kopf und sagten: Ach, du lieber Himmel! In den Frühlingsliedern, die der Dichter sang, wiederholte sich auffallend oft das Lob der Frühlingsblütensträußchen. Der König lächelte und blinzelte ihn bedeutungsvoll an, wenn er es hörte, und dann lächelte der Dichter auch. Der König fragte ihn wohl manchmal: »Hat die Biene nichts anderes zu tun, als im Hof des Frühlings umherzusummen?« Dann antwortete der Dichter: »O doch, sie muß auch den Honig von den Frühlingsblütensträußchen nippen.« Und alle, die in der Halle des Königs waren, lachten. Und man sagte, auch die Prinzessin Adschita habe gelacht, daß ihr Mädchen den Namen angenommen, den der Dichter ihr gegeben, und Mandschari war heimlich im Herzen froh. So vermischt sich im Leben Wahrheit und Irrtum -- und zu dem, was Gott baut, fügt der Mensch seinen eigenen Zierat. Nur das, was der Dichter sang, war reine Wahrheit. Er sang von Krischna, dem göttlichen Liebenden, und von Radha, der Geliebten, dem ewig Männlichen und ewig Weiblichen; er sang von dem Leid, das so alt ist wie die Zeit selbst, und von der Freude, die nie enden wird. Und jeder, vom Bettler bis zum König selbst, erprobte die Wahrheit dieser Lieder in seinem innersten Herzen. Die Lieder des Dichters waren auf aller Lippen. Beim fernsten Mondenschimmer und beim leisesten Flüstern der Sommerbrise brachen seine Lieder in zahllosen Stimmen hervor aus Fenstern und Höfen, aus den Segelboten auf dem Fluß und aus den Schatten der Bäume am Wege. So rannen die Tage glücklich dahin. Der Sänger sang, der König lauschte seinem Lied, und die Zuhörer riefen Beifall. Mandschari kam immer wieder auf ihrem Wege zum Fluß an dem Hause des Dichters vorüber -- der Schatten huschte oben hinter dem Vorhang des Balkons, und die goldenen Glöckchen erklangen von fern. Gerade um dieselbe Zeit verließ ein Sänger sein Heim im Süden, um seinen Triumphzug durch die Länder anzutreten. Er kam ins Königreich Amarapur zum Könige Narajan. Er stand vor dem Thron und sang ein Lied zum Lobe des Königs. Er hatte alle königlichen Sänger auf seinem Wege zum Wettkampf herausgefordert, und überall war er Sieger geblieben. Der König empfing ihn ehrenvoll und sagte: »Dichter, ich biete dir Willkommen.« Pundarik, der Dichter, erwiderte stolz: »Majestät, ich bitte um Kampf.« Schekhar, der Sänger des Königs, wußte nicht, wie der Musenkampf geführt werden sollte. Er konnte in der Nacht nicht schlafen. Immer tauchte vor ihm im Dunkel die mächtige Gestalt des berühmten Pundarik auf mit seinem etwas zur Seite geneigten stolzen Haupt und der wie ein Säbel gekrümmten Nase. Mit zitterndem Herzen betrat Schekhar am folgenden Morgen die Arena. Das Theater war von der Volksmenge gefüllt. Der Dichter verbeugte sich mit schüchternem Lächeln vor seinem Nebenbuhler. Pundarik dankte mit stolzem Kopfnicken und wandte dann den Blick mit vielsagendem Lächeln nach dem Kreise seiner ihn begleitenden Verehrer. Schekhar sah hinauf nach dem verhängten Balkon, und seine Seele grüßte die Geliebte mit dem Worte: Wenn ich heute Sieger bin in diesem Kampf, Geliebte, so soll dein siegreicher Name gepriesen werden. Die Trompete erscholl. Die Menge erhob sich und rief: »Sieg dem Könige!« Der König trat, in einen weiten, weißen Mantel gehüllt, langsam in die Halle, wie eine Herbstwolke, und setzte sich auf den Thron. Pundarik trat vor, und es ward plötzlich still in der großen Halle. Das Haupt erhoben, die Brust gedehnt, begann er mit Donnerstimme den König Narajan zu preisen. Seine Worte brandeten wie Wogen gegen die Mauern der Halle und schienen der lauschenden Menge bis ins Mark zu dringen. Die Geschicklichkeit, mit der er den Namen Narajan auf verschiedene Weise deutete und jeden Buchstaben in allen möglichen Verbindungen durch das Gewebe seiner Verse flocht, nahm seinen erstaunten Hörern den Atem. Nachdem er wieder Platz genommen hatte, hallte noch minutenlang seine Stimme zwischen den zahllosen Säulen der königlichen Halle und in Tausenden von sprachlosen Herzen nach. Die gelehrten Professoren, die aus fernen Ländern gekommen waren, erhoben ihre Rechte und riefen: Bravo! Der König warf einen Blick auf Schekhar, und dieser richtete einen Augenblick die Augen schmerzerfüllt auf seinen Herrn; dann erhob er sich wie ein angeschossenes Wild in höchster Not. Sein Antlitz war bleich, seine Schüchternheit war fast die eines Mädchens, seine schlanke, jugendliche Gestalt schien wie eine straff gespannte Leier bei der geringsten Berührung in Musik ausbrechen zu wollen. Er begann gesenkten Hauptes, mit leiser Stimme. Die ersten Verse waren fast unhörbar. Dann hob er langsam das Haupt und seine klare, süße Stimme stieg wie eine zitternde Feuerflamme in die Lüfte. Er begann mit der alten Sage aus dunkler Vorzeit von dem Geschlecht des Königs und erzählte von dem Heldensinn und dem unvergleichlichen Edelmut dieses Geschlechts bis hinab in die Gegenwart. Er richtete den Blick auf das Antlitz des Königs, und die ganze unermeßliche Liebe zum Königshause, die das Volk still im Herzen hegte, fand Ausdruck und stieg wie Weihrauch in seinem Liede auf, den Thron von allen Seiten einhüllend. Dies waren seine letzten Worte, als er sich zitternd setzte: »Herr, wohl mag man mich im Spiel der Worte übertreffen, aber niemals in meiner Liebe zu dir.« Tränen füllten die Augen der Hörer, und die Steinmauern erbebten von dem Beifallssturm. Doch Pundarik schüttelte bei diesem allgemeinen Gefühlsausbruch nur erhaben sein majestätisches Haupt. Dann erhob er sich und warf mit verächtlichem Lächeln die Frage in die Versammlung: »Was gibt es Höheres als das Wort?« Augenblicklich verstummte der Beifall. Und nun bewies er, indem er eine erstaunliche Gelehrsamkeit entfaltete, daß das Wort von Anfang an gewesen sei, daß das Wort Gott sei. Er brachte einen Haufen von Belegen aus den heiligen Schriften und errichtete daraus dem Wort einen hohen Altar, daß es darauf throne über allem, was im Himmel und auf Erden ist. Er wiederholte mit seiner mächtigen Stimme: »Was gibt es Höheres als das Wort?« Stolz blickte er um sich. Niemand wagte, seine Herausforderung anzunehmen, und er setzte sich, langsam wie ein Löwe, der sich eben an seinem Opfer gesättigt hat. Die gelehrten Brahmanen riefen: »Bravo!« Der König war stumm vor Staunen, und der Dichter Schekhar kam sich ganz unbedeutend vor neben dieser verblüffenden Gelehrsamkeit. Die Versammlung war damit für den Tag geschlossen. Am nächsten Tage stimmte Schekhar sein Lied an. Er sang von jenem Tage, wo das Flötenspiel der Liebe zum ersten Mal die Lüfte des Brindawaldes aus ihrem Schweigen aufschreckte. Die Schäferinnen wußten nicht, wer der Spieler war und von wannen die Musik kam. Bald schien sie aus dem Herzen des Südwindes zu kommen, und bald aus den Wolken, die über die Hügel hinzogen. Sie kam und brachte Liebesbotschaft vom Lande des Sonnenaufgangs, und sie schwebte mit Seufzern der Sehnsucht vom Tal des Sonnenuntergangs her. Die Sterne schienen die Register des geheimnisvollen Instruments zu sein, das die Träume der Nacht mit Melodien überflutete. Es war, als ob die Musik plötzlich von allen Seiten heranströmte, von Feldern und Hainen, von schattigen Heckenwegen und einsamen Landstraßen, aus dem zarten Blau des Himmels und aus dem schimmernden Grün des Grases. Sie verstanden ihren Sinn noch nicht und wußten nicht, was die Sehnsucht in ihrem Herzen bedeutete. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Leben sehnte sich, hinabzutauchen ins Meer des Todes und sich ganz darin zu verlieren. Schekhar vergaß seine Hörer, vergaß, daß er dabei war, sich im Kampf mit seinem Nebenbuhler zu messen. Er stand ganz allein inmitten seiner Gedanken, die um ihn rauschten und flüsterten wie Blätter im Sommerwind, und er sang das Lied von der Flöte. Vor seinem Geiste stand ein Bildnis, das geboren war aus einem Schatten und aus dem leise klingenden Laut eines fernen Schrittes. Er setzte sich. Ein unnennbares Gefühl wehmütiger Wonne, unbestimmt und grenzenlos, durchbebte die Hörer, und sie vergaßen, ihm Beifall zu rufen. Als sich die Wogen dieses Gefühls legten, trat Pundarik vor den Thron und forderte seinen Nebenbuhler auf zu erklären, wer der Liebende und wer die Geliebte sei. Er blickte stolz und selbstbewußt um sich, lächelte seinen Anhängern zu und fragte noch einmal: »Wer ist Krischna, der Liebende, und wer ist Radha, die Geliebte?« Dann begann er, die Etymologie dieser Namen zu erklären, und wie man ihre Bedeutung auf verschiedene Weise auslegen könne. Mit vollendeter Geschicklichkeit brachte er alle die verwickelten Systeme der verschiedenen philosophischen Schulen vor die ganz betäubten Zuhörer. Jeden Buchstaben jener Namen trennte er von seinem Nachbarn und hetzte sie alle einzeln mit unbarmherziger Logik, bis sie vernichtet in den Staub sanken. Doch dann griff er sie wieder auf und gab ihnen eine ganz neue Bedeutung, auf die auch der scharfsinnigste Wortkrämer nicht verfallen wäre. Die Gelehrten waren in Ekstase; laut lärmten sie Beifall, und die Menge stimmte ein, von dem Wahn hingerissen, daß jetzt eben hier vor ihren Augen durch ein Wunder von Intellekt der Vorhang vor der Wahrheit bis auf den letzten Faden zerrissen worden sei. Diese gewaltige Leistung entzückte sie so, daß sie ganz vergaßen, zu fragen, ob denn die Wahrheit nun auch wirklich hinter diesem Vorhang war. Der König war von Staunen überwältigt. Die Luft war von allen Musikträumen vollständig gereinigt, und die Welt, die vorher im frischen jungen Grün dagelegen hatte, hatte sich in eine solide, gut gepflasterte Landstraße verwandelt. Dem versammelten Volk erschien ihr Dichter jetzt wie ein bloßer Knabe an der Seite jenes Riesen, der so sicher dahinschritt durch die Welt der Worte und Gedanken und alle Schwierigkeiten mit einem Tritt zu Boden stampfte. Zum erstenmal wurde es ihnen klar, daß die Dichtungen Schekhars lächerlich einfach waren, und daß sie sie ebenso gut selbst hätten schreiben können. Sie waren weder neu, noch schwer verständlich, noch belehrend, noch unentbehrlich. Der König versuchte heimlich durch scharfe Blicke seinen Dichter zu einem letzten Versuch anzuspornen. Aber Schekhar beachtete es nicht und blieb stumm auf seinem Platz sitzen. Da stand der König zornig auf von seinem Thron -- nahm seine Perlenkette ab und legte sie Pundarik um das Haupt. Alle in der Halle riefen Beifall. Oben vom Balkon her kam ein leises Geräusch, wie das Rauschen eines Gewandes und der Klang von goldenen Glöcklein. Schekhar erhob sich und verließ die Halle. Die Nacht war dunkel, die Sichel des abnehmenden Mondes gab nur ein mattes Licht. Der Dichter Schekhar nahm seine Manuskripte aus dem Schrank und häufte sie auf dem Fußboden auf. Einige davon enthielten seine ersten Dichtungen, die er fast vergessen hatte. Er blätterte darin und las hier und da eine Seite. Sie schienen ihm alle so unbedeutend und armselig, bloße Worte und kindische Reime. Er zerriß seine Bücher eins nach dem andern und warf sie ins Feuer, indem er sagte: »Dir, dir will ich sie weihen, o meine Schönheit, mein Feuer! Du hast all diese verlorenen Jahre in meinem Herzen gebrannt. Wenn mein Leben ein Stück Gold gewesen wäre, so wäre es strahlender aus dieser Feuerprobe hervorgegangen. Aber es ist eine zertretene Rasenscholle und nichts bleibt von ihm übrig als diese Handvoll Asche.« Die Nacht rückte langsam vor. Schekhar öffnete seine Fenster weit. Er breitete auf seinem Lager die weißen Blumen aus, die er so liebte: Jasminblüten, Tuberosen und Chrysanthemen, brachte alles, was er an Lampen im Hause hatte, in sein Schlafzimmer und zündete sie an. Dann vermischte er den Saft einer giftigen Wurzel mit Honig, trank ihn und legte sich auf sein Lager. Da erklangen draußen im Korridor goldene Fußspangen und die Brise trug einen feinen Duft ins Zimmer. Der Dichter hatte die Augen geschlossen. »Meine Herrin,« flüsterte er, »hast du endlich Erbarmen mit deinem Diener und kommst zu ihm?« Eine süße Stimme antwortete: »Mein Dichter, ich bin da.« Schekhar öffnete die Augen und sah an seinem Lager die Gestalt einer Frau. Er konnte nur noch wie durch einen Nebel sehen. Und es schien ihm, daß das aus dem Schatten geborene Bildnis, das er so lange im geheimen Schrein seines Herzens bewahrt hatte, jetzt in seinem letzten Augenblick in die Welt hinausgekommen war, um ihm ins Antlitz zu sehen. Die Gestalt sagte: »Ich bin die Prinzessin Adschita.« Mit äußerster Anstrengung richtete sich der Dichter von seinem Lager auf. Die Prinzessin flüsterte ihm ins Ohr: »Der König hat dir nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen. Du warst es, mein Dichter, der den Kampf gewann, und ich bin gekommen, um dich mit dem Siegeskranz zu krönen.« Damit nahm sie den Blumenkranz von ihrem Haar und setzte ihn dem Dichter aufs Haupt, und der Dichter sank tot auf sein Lager zurück. MASCHI I »Maschi!« »Versuche zu schlafen, Dschotin, es wird spät.« »Das macht nichts. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Ich dachte eben, daß Mani doch lieber zu ihrem Vater sollte nach -- wo wohnt er doch noch?« »In Sitarampur.« »O ja, Sitarampur. Schicke sie dahin. Sie sollte nicht länger bei einem kranken Mann bleiben. Sie ist selbst nicht kräftig.« »Nun höre ihn einer! Denkst du denn, sie könnte es ertragen, dich in diesem Zustand zu verlassen?« »Weiß sie, was die Ärzte --?« »Aber das sieht sie ja selbst! Als ich neulich nur leise andeutete, daß sie zu ihrem Vater sollte, weinte sie sich fast die Augen aus.« * * * * * Wir müssen hier zur Erklärung sagen, daß dieser Bericht die Wahrheit etwas entstellte -- um es gelinde auszudrücken. In Wirklichkeit verlief das Gespräch mit Mani folgendermaßen: * * * * * »Nun, mein Kind, du hast wohl Nachricht von deinem Vater bekommen? Ich meinte, deinen Vetter Anath hier zu sehen.« »Ja! Nächsten Freitag ist das Annapraschan-Fest[2] meiner kleinen Schwester. Daher meine ich --« [2] Entwöhnungsfest, wobei das Kind zum erstenmal Reis zu essen bekommt. »Schön, liebes Kind. Schicke ihr ein goldenes Halsband. Darüber wird deine Mutter sich freuen.« »Ich möchte selbst hinreisen. Ich habe meine kleine Schwester noch gar nicht gesehen, und ich möchte sie gar zu gern sehen.« »Was fällt dir ein? Du denkst doch nicht im Ernst daran, Dschotin allein zu lassen? Hast du nicht gehört, was der Arzt gesagt hat?« »Aber er sagte doch, daß augenblicklich keine besondere Ursache zu --« »Wenn er das auch gesagt hat, du siehst doch, wie krank er ist.« »Sie ist das erste Mädchen nach drei Brüdern und alle machen soviel aus ihr. -- Ich hörte, daß es eine große Sache werden soll. Wenn ich nicht komme, wird Mutter sehr --« »Ja, ich weiß! Ich verstehe deine Mutter nicht. Aber ich weiß auch sehr gut, wie böse dein Vater sein wird, wenn du jetzt gerade Dschotin allein läßt.« »Du mußt ihm ein paar Zeilen schreiben und ihm sagen, daß kein besonderer Grund zur Besorgnis da ist und daß, selbst wenn ich reise, auch kein --« »Ja, da hast du recht; selbst wenn du reist, so ist nicht viel verloren. Aber das wisse: wenn ich deinem Vater schreibe, werde ich ihm offen sagen, was ich denke.« »Dann brauchst du nicht zu schreiben. Ich werde meinen Mann fragen, und er wird sicher --« »Nun hör mal, mein Kind. Ich habe ein gut Teil von dir ertragen, aber wenn du das tust, sind wir fertig miteinander. Und dein Vater kennt dich zu gut, als daß du ihn täuschen könntest.« Als Maschi fort war, warf Mani sich verdrießlich aufs Bett. Ihre Nachbarin und Freundin kam und fragte, was geschehen sei. »Denk dir nur! Ist es nicht eine Schande? Jetzt kommt das Annapraschan-Fest meiner einzigen Schwester, und sie wollen mich nicht hinreisen lassen!« »Aber Mani! Du denkst doch nicht wirklich daran, hinzureisen, wo dein Mann so krank ist?« »Ich tue doch nichts für ihn, und ich könnte es auch nicht, wenn ich es auch versuchte. Ich will dir offen sagen: Es ist so sterbenslangweilig in diesem Hause, daß ich es nicht aushalten kann!« »Du bist eine seltsame Frau!« »Ich kann nur nicht heucheln wie ihr andern und trübsinnig aussehen, nur damit andre nicht schlecht von mir denken.« »Nun, dann sag' mir, was du jetzt tun willst.« »Ich muß fort. Niemand kann mich hindern.« »Kßß! Was du für eine eigenwillige kleine Frau bist!« II Als Dschotin hörte, daß Mani geweint hätte bei dem bloßen Gedanken an eine Heimreise zu ihrem Vater, wurde er so erregt, daß er sich im Bett aufrichten mußte. Er schob das Kissen hinter seinen Rücken und sich darauf zurücklehnend, sagte er: »Maschi, öffne das Fenster ein wenig und nimm die Lampe weg.« Die stille Nacht stand schweigend am Fenster wie ein Pilger der Ewigkeit, und die Sterne schauten herein, die Zeugen zahlloser Todesszenen in zahllosen Jahrtausenden. Dschotin sah das Antlitz seiner Mani auf dem Hintergrunde der dunklen Nacht und sah, wie ihre großen dunklen Augen unaufhörlich von Tränen überflossen. Maschi fühlte sich erleichtert, als sie ihn so ruhig sah, denn sie dachte, er schliefe. Plötzlich machte er eine hastige Bewegung und sagte: »Maschi, ihr meintet alle, Mani sei zu oberflächlich, um sich in unserem Hause glücklich zu fühlen. Aber jetzt siehst du --« »Ja, mein Liebling, jetzt sehe ich, daß ich mich irrte, -- aber in der Prüfung bewährt sich erst der Mensch.« »Maschi!« »Versuch doch zu schlafen, mein Liebling.« »Laß mich doch ein bißchen denken, laß mich plaudern. Sei nicht böse, Maschi!« »Nun also, plaudre.« »Damals, als ich glaubte, ich könnte Manis Herz nicht gewinnen, ertrug ich es still. Aber du --« »Nein, mein Liebling, das darfst du nicht sagen; ich ertrug es auch.« »Unsre Herzen, weißt du, sind nicht leblose Dinge, die man nur aufzunehmen braucht, um sie zu besitzen. Ich fühlte, daß Mani ihr eigenes Herz nicht kannte und daß eines Tages, durch ein starkes Erlebnis --« »Ja, Dschotin, du hast recht.« »Daher beachtete ich ihre Launen nicht viel.« Maschi schwieg und unterdrückte einen Seufzer. Nicht einmal, sondern oft hatte sie bemerkt, wie Dschotin die Nacht auf der Veranda zugebracht hatte. Er hatte sich lieber von dem prasselnden Regen durchnässen lassen, als daß er in sein Schlafzimmer gegangen wäre. Wie manchen Tag lang hatte er mit fieberndem Kopf dagelegen, und sie wußte, wie er sich sehnte, daß Mani käme und seine heiße Stirn kühlte, während Mani sich fertig machte, um ins Theater zu gehen. Doch wenn Mani gekommen war, um ihn zu fächeln, hatte er sie verdrießlich fortgeschickt. Sie allein wußte von seiner heimlichen großen Not. Wie oft hätte sie ihm sagen mögen: »Beachte das törichte Kind nicht so viel, laß sie, bis sie selbst Sehnsucht und stille Tränen kennenlernt.« Aber so etwas kann man nicht sagen, und es wird auch leicht mißverstanden. Dschotin hatte der Gottheit Weib in seinem Herzen einen Altar errichtet, auf dem Mani thronte. Er konnte nicht glauben, daß er keinen Anteil haben sollte an dem Wein der Liebe, den jene Gottheit schenkte. Und so fuhr er fort anzubeten und sein Opfer darzubringen und gab die Hoffnung auf eine Gabe nicht auf. * * * * * Maschi glaubte wieder, daß Dschotin schliefe, als er plötzlich ausrief: »Ich weiß, du dachtest, ich sei nicht glücklich mit Mani, und daher warst du böse auf sie. Aber Maschi, das Glück ist wie jene Sterne. Sie decken nicht die ganze Dunkelheit zu, es sind Lücken dazwischen. Diese Lücken sind unsere Irrtümer. Wir machen Fehler im Leben und verstehen vieles falsch, aber das Licht der Wahrheit dringt doch durch. -- Ich weiß nicht, wie es kommt, daß mein Herz heute abend so froh ist.« Maschi begann sanft über Dschotins Stirn zu streichen, während ihre Tränen ungesehen im Dunkel flossen. »Ich dachte eben, Maschi, sie ist so jung! Was wird sie tun, wenn ich -- --?« »Jung, Dschotin? Sie ist alt genug. Ich war auch jung, als ich den Geliebten verlor, und ich fand ihn auf immer in meinem Herzen wieder. War das überhaupt ein Verlust? Und meinst du denn, daß man durchaus glücklich sein muß?« »Maschi, es scheint, daß gerade, wo Manis Herz erwacht, ich -- --« »Sei darum nicht traurig, Dschotin. Ist es nicht genug, _daß_ ihr Herz erwacht?« Plötzlich fielen Dschotin die Worte aus dem Liede eines Volkssängers ein, das er vor langer Zeit einmal gehört hatte: O mein Herz, du erwachtest nicht, als der Mann deiner Liebe an deine Tür kam. Erst beim Schall seiner scheidenden Schritte erwachtest du. O, du erwachtest im Dunkel! »Maschi, wie spät ist es jetzt?« »Gegen neun.« »Noch so früh! Und ich glaubte, es müßte wenigstens schon zwei oder drei sein. Meine Mitternacht beginnt ja schon, wenn die Sonne untergegangen ist. Aber warum wolltest du denn, daß ich schlafe?« »Nun, du weißt, wie lange du gestern wach lagst, als du immerfort sprachst. Daher mußt du heute früh einschlafen.« »Schläft Mani schon?« »O nein, sie ist dabei, dir etwas Suppe zu kochen.« »Das ist doch nicht dein Ernst, Maschi? Tut sie das wirklich?« »Gewiß! Sie kocht ja alles für dich, die fleißige kleine Frau.« »Ich dachte, daß Mani überhaupt nicht --« »Eine Frau braucht nicht lange, um solche Dinge zu lernen. Wenn's not tut, lernt man sie von selbst.« »Die Fischsuppe, die ich heute morgen aß, hatte einen so besonders köstlichen Geschmack; ich dachte, du hättest sie gekocht?« »Ach, du meine Güte, nein! Du denkst doch nicht etwa, Mani würde mich etwas für dich tun lassen? Sie besorgt ja deine ganze Wäsche selbst; sie weiß, wie eigen du damit bist. Wenn du nur deine Wohnzimmer sehen könntest, wie blitzblank sie alles hält! -- Wenn ich sie häufig in dein Krankenzimmer kommen ließe, so würde sie sich ganz aufreiben. Aber das will sie ja auch gerade.« »Ist denn Manis Gesundheit --?« »Der Arzt meint, wir sollten sie nicht zu oft ins Krankenzimmer lassen. Sie ist zu weichherzig.« »Aber Maschi, wie kannst du sie daran hindern, hereinzukommen?« »Weil sie mir blind gehorcht. Aber ich muß ihr beständig sagen, wie es dir geht.« * * * * * Die Sterne glitzerten am Himmel wie Tränentropfen. Dschotin neigte sein Haupt dankbar seinem Leben, das im Begriff war zu scheiden, und als der Tod durch das Dunkel seine Rechte nach ihm ausstreckte, faßte er sie vertrauensvoll. Nach einer Weile seufzte Dschotin und sagte mit einer Bewegung leiser Ungeduld: »Maschi, wenn Mani doch noch wacht, könnte ich da nicht -- wenn auch nur eine --?« »Ja gewiß! Ich will sie rufen.« »Ich werde sie nicht lange festhalten, nur fünf Minuten. Ich habe ihr etwas Besonderes zu sagen.« Maschi ging seufzend hinaus, um Mani zu holen. Inzwischen fing Dschotins Puls an, schnell zu schlagen. Er wußte nur zu gut, daß es ihm nie gelungen war, ein vertrauliches Gespräch mit Mani zu haben. Die beiden Instrumente waren verschieden gestimmt, und es war nicht leicht, sie zusammen zu spielen. Immer wieder hatte Dschotin ein plötzliches Gefühl von Eifersucht überkommen, wenn er Mani mit ihren Freundinnen lustig schwatzen und lachen hörte. Dschotin tadelte nur sich, -- warum konnte _er_ nicht über oberflächliche Dinge plaudern so wie sie? Nicht daß er es nicht gekonnt hätte; mit seinen männlichen Freunden plauderte er oft über allerlei alltägliche Dinge. Aber _das_ Geplauder, das für Männer paßt, paßt nicht für Frauen. Man kann ein philosophisches Gespräch als Monolog halten und seinen unaufmerksamen Zuhörer gar nicht beachten, aber beim leichten Geplauder müssen mindestens zwei zusammenwirken. Man kann auf _einer_ Sackpfeife spielen, aber nicht mit _einer_ Zymbel. Wie oft hatte Dschotin, wenn er am Abend mit Mani draußen auf der Veranda saß, gewaltsame Anstrengungen gemacht, eine Unterhaltung mit ihr in Gang zu bringen, aber immer wieder riß gleich der Faden ab. Und es war, als ob der Abend sich seines Schweigens schämte. Dschotin war sicher, daß Mani sich von ihm fortsehnte. Dann hatte er selbst ernstlich gewünscht, ein Dritter möchte dazu kommen. Denn eine Unterhaltung zu dreien ist leicht, wenn sie zu zweien schwer fällt. Jetzt fing er an darüber nachzudenken, was er sagen wollte, wenn Mani käme. Aber so ein künstlich zurechtgelegtes Gespräch wollte ihn nicht befriedigen. Dschotin fürchtete, daß diese fünf Minuten heute abend verloren sein würden. Und doch blieben ihm nur so wenige Augenblicke zu vertraulichem Gespräch. III »Was ist denn das, Kind, du willst doch nicht irgendwohin?« »Doch, ich will nach Sitarampur.« »Was denkst du dir denn? Wer soll dich denn begleiten?« »Anath.« »Nicht heute, mein Kind, ein andermal.« »Aber die Kajüte ist schon belegt.« »Was macht das? Der Verlust läßt sich leicht tragen. Reise morgen, morgen früh.« »Maschi, ich glaube nicht an die Unglückstage des Kalenders. Was kann es schaden, wenn ich heute reise?« »Dschotin möchte mit dir sprechen.« »Schön, ich habe noch etwas Zeit. Ich will noch schnell einmal nach ihm sehen.« »Aber du mußt ihm nicht sagen, daß du verreisen willst.« »Gut, ich will ihm nichts sagen. Aber ich kann nicht lange bei ihm bleiben. Morgen ist das Annapraschan-Fest meiner Schwester, und ich muß heute reisen.« »O mein Kind, ich bitte dich, höre doch dies eine Mal auf mich! Versuch, dich eine Weile ganz still zu fassen und setze dich zu ihm. Laß ihn nicht merken, daß du es eilig hast.« »Was kann ich tun? Der Zug wartet nicht auf mich. Anath kommt in zehn Minuten zurück. Bis dahin kann ich bei ihm bleiben.« »Nein, das geht nicht. In dieser seelischen Verfassung werde ich dich nie zu ihm lassen ... O du erbärmliches Geschöpf, der Mann, den du so quälst, wird bald diese Welt verlassen; aber ich warne dich: du wirst diesen Tag zeitlebens nicht vergessen. Daß es einen Gott gibt, daß es einen Gott gibt, das wirst du eines Tages erfahren.« »Maschi, du mußt mich nicht so verwünschen.« »O mein armer Junge, mein Liebling! Warum lebst du noch länger? Diese Sünde hat kein Ende, und ich kann nichts tun, sie zu hindern.« * * * * * Maschi zögerte noch eine Weile, dann ging sie ins Krankenzimmer zurück in der Hoffnung, daß Dschotin inzwischen eingeschlafen sei. Aber Dschotin bewegte sich im Bett, als sie eintrat. Maschi rief aus: »Sieh einmal an, was sie nun gemacht hat!« »Was ist geschehen? Kommt Mani nicht? Warum bist du so lange fortgeblieben, Maschi?« »Ich fand sie bitterlich weinend, weil sie die Milch für deine Suppe hatte verbrennen lassen. Ich versuchte sie zu trösten und sagte, es gäbe ja noch mehr Milch. Aber daß sie bei der Zubereitung _deiner_ Suppe so nachlässig hatte sein können, der Gedanke brachte sie ganz in Verzweiflung. Mit großer Mühe gelang es mir, sie etwas zu beruhigen und ins Bett zu bringen. Daher habe ich sie heute nicht mitgebracht. Laß sie ihren Kummer verschlafen.« Obgleich es Dschotin schmerzlich war, daß Mani nicht kam, fühlte er sich doch in gewisser Weise erleichtert. Er hatte so halb und halb gefürchtet, daß die wirkliche Mani das Bild, das er von ihr im Herzen trug, trüben könnte. Das war schon früher geschehen. Und der Gedanke, daß Mani unglücklich war, weil sie _seine_ Milch verbrannt hatte, füllte sein Herz mit überströmender Freude. »Maschi!« »Ja, mein Liebling?« »Ich bin ganz gewiß, daß es mit mir zu Ende geht. Aber ich bin nicht traurig darum. Gräme dich nicht um mich!« »Nein, mein Liebling, ich werde mich nicht grämen. Ich glaube nicht, daß nur das Leben gut ist, und der Tod nicht.« »Maschi, du kannst mir glauben, der Tod ist süß.« Dschotin lag still da und blickte hinaus in den dunklen Nachthimmel, und es war ihm, als ob es Mani selbst sei, die in Gestalt des Todes auf ihn zuschritt. Sie war in ewige Jugend gekleidet, und die Sterne waren Blumen, die die große Mutter der Welt segnend auf ihren dunklen Scheitel gestreut hatte. Es war ihm, als ob er sie jetzt wieder zum erstenmal unter dem Hochzeitsschleier sähe[3]. Die unendliche Nacht wurde ganz erfüllt von dem liebenden Blick aus Manis dunklen Augen. Mani, die Braut dieses Hauses, das kleine Mädchen, wurde zu dem Bild einer Gottheit, das auf dem Altar der Sterne thronte, wo Leben und Tod in _einen_ Strom münden. Dschotin faltete die Hände und flüsterte leise: »Endlich hat sich der Schleier gehoben, die Hülle des tiefen Dunkels ist zerrissen. Ach, Geliebte! Wie oft hast du mein Herz gemartert, aber jetzt wirst du mich nicht mehr verlassen!« [3] Braut und Bräutigam sehen einander zum erstenmal bei der Hochzeitsfeier unter einem Schleier, den man ihnen übers Haupt wirft. IV »Ich habe Schmerzen, Maschi, aber du mußt nicht denken, daß ich leide. Es ist, als ob meine Schmerzen sich allmählich von meinem Leben lösten. Bisher folgten sie ihm wie ein beladenes Boot im Schlepptau, jetzt aber ist das Seil zerrissen, und sie treiben dahin mit allem, was mich drückt. Ich sehe sie noch, aber sie gehören nicht mehr zu mir. -- Aber Maschi, ich habe diese beiden letzten Tage Mani nicht ein einziges Mal gesehen!« »Dschotin, ich will dir ein anderes Kissen geben.« »Es scheint mir fast, Maschi, als ob Mani mich auch verlassen hat und von mir forttreibt wie das beladene Leidensboot.« »Komm, trink ein Schlückchen von dem Granatapfelsaft, mein Liebling. Dir muß der Hals ganz trocken sein.« »Ich schrieb gestern mein Testament; habe ich es dir gezeigt? Ich kann mich nicht mehr erinnern.« »Du brauchst es mir nicht zu zeigen, Dschotin.« »Als Mutter starb, besaß ich nichts. Du ernährtest mich und zogst mich auf. Daher meine ich -- --« »Unsinn, Kind. Ich hatte nur dies Haus und ein bißchen Vermögen. Das übrige hast du verdient.« »Aber dies Haus --?« »Das ist nichts. Du hast ja soviel hinzugebaut, daß es schwer ist zu sagen, wo mein Haus war!« »Ich bin sicher, daß Manis Liebe zu dir wirklich --« »Ja, ja, das weiß ich, Dschotin. Nun versuch' zu schlafen.« »Wenn ich auch mein ganzes Eigentum Mani hinterlassen habe, so ist es praktisch doch deins, Maschi. Sie wird dir ja immer in allem gehorchen.« »Warum quälst du dich deshalb so viel, mein Liebling?« »Alles, was ich habe, verdanke ich dir. Wenn du mein Testament siehst, so denke keinen Augenblick, daß -- --« »Aber was fällt dir ein, Dschotin? Glaubst du denn, daß ich es auch nur einen Augenblick übelnehmen könnte, wenn du Mani gibst, was dir gehört? Ich bin doch nicht so kleinlich.« »Aber du wirst auch -- --« »Nun höre einmal, Dschotin, jetzt werde ich böse. Du willst mich mit Geld trösten.« »Ach, Maschi, wie gern möchte ich dir etwas geben, was besser ist als Geld!« »Das hast du ja getan, Dschotin! mehr als genug. Hast du mir denn nicht mein einsames Leben ausgefüllt? Das war solch ein großes Glück, daß ich es mir in vielen früheren Leben verdient haben muß. Du hast mir soviel gegeben, daß ich jetzt, wo dies Leben mir nichts mehr zu geben hat, nicht klagen werde. Ja, ja, hinterlasse nur Mani alles: dein Haus, dein Geld, deinen Wagen und dein Land -- mir sind solche Lasten jetzt zu schwer.« »Ich weiß ja, daß du den Geschmack an den Freuden des Lebens verloren hast, aber Mani ist so jung, daß --« »O nein, das mußt du nicht sagen. Wenn du ihr dein Eigentum hinterläßt, das ist schon recht, aber was die Freuden des Lebens anbetrifft --« »Aber warum sollte sie sie auch nicht genießen, Maschi?« »Nein, nein, das wird sie nicht können in ihrem großen Schmerz. Sie werden ihr wie Staub und Asche sein.« * * * * * Dschotin schwieg. Er konnte nicht entscheiden, ob es wahr war oder nicht und ob er es beklagen müsse, wenn Mani die Welt ohne ihn zuwider war. Er seufzte und sagte: »Das, was wirklich des Gebens wert ist, können wir niemandem zurücklassen.« »Es ist nichts Geringes, was du gibst, mein Liebling. Ich bete nur, daß sie den Wert dessen, was ihr gegeben wird, erkennen möge.« »Gib mir noch etwas von dem Granatapfelsaft, Maschi, ich bin durstig. Kam Mani eigentlich gestern zu mir?« »Ja, sie kam, aber du schliefst gerade. Sie saß lange Zeit am Kopfende deines Bettes und fächelte dich; dann ging sie weg, um deine Wäsche zu besorgen.« »O wie wunderschön! Ich glaube, ich habe in demselben Augenblick geträumt, daß Mani versuchte, zu mir hereinzukommen. Die Tür war angelehnt, und sie stieß dagegen, aber sie wollte sich nicht öffnen. Aber Maschi, du gehst zu weit, du solltest sie wissen lassen, daß ich sterbe; sonst wird mein Tod ein so furchtbarer Schlag für sie sein.« »Komm, mein Liebling, ich will dir diesen Schal über die Füße decken, sie werden ganz kalt.« »Nein, Maschi, ich kann so etwas nicht auf den Füßen haben.« »Weißt du, Dschotin, daß Mani dir diesen Schal gestrickt hat? Sie hat so fleißig daran gearbeitet, als sie eigentlich hätte schlafen sollen. Erst gestern ist sie damit fertig geworden.« Dschotin nahm den Schal und streichelte ihn zärtlich. Er empfand die sanfte Weichheit der Wolle als hielte er Manis Hand in der seinen. Nacht für Nacht hatte sie ihre liebenden Gedanken hineingewoben. Er war nicht aus Wolle gemacht, sondern aus ihrer Berührung. Als daher Maschi den Schal über seine Füße legte, war es ihm, als ob Mani seine müden Glieder liebkoste. »Aber Maschi, ich dachte, Mani könne gar nicht stricken, -- jedenfalls mochte sie es nie.« »So etwas lernt man schnell. Natürlich mußte ich es ihr zeigen. Auch sind allerlei Fehler darin.« »Laß diese Fehler nur, wir wollen ihn ja nicht auf die Pariser Ausstellung schicken. Er wird trotz der Fehler meine Füße warm halten.« Dschotin begann sich im Geiste Mani bei der Arbeit vorzustellen, wie sie Fehler machte und nicht damit zustande kommen konnte und doch Abend für Abend geduldig weiter daran arbeitete. Wie lieb und rührend war das doch! Und wieder strichen seine Finger zärtlich über den Schal. »Maschi, ist der Doktor unten?« »Ja, er will heute nacht hierbleiben.« »Aber sag' ihm, es ist nutzlos, wenn er mir einen Schlaftrunk gibt. Der verschafft mir nicht wirklich Ruhe, und ich fühle mich nur schlechter danach. Laß mich richtig wach bleiben. -- Weißt du, Maschi, daß unsre Hochzeit in der Vollmondnacht war im Monat Mai? Morgen ist der Tag, und die Sterne jener Nacht werden am Himmel scheinen. Mani denkt vielleicht nicht daran. Ich möchte sie heute daran erinnern; rufe sie doch auf ein paar Minuten her. -- ... Warum antwortest du nicht? Der Doktor hat dir wohl gesagt, ich sei so schwach, daß jede Aufregung -- aber ich versichere dich, Maschi, wenn ich heute abend nur ein paar Minuten mit ihr sprechen kann, brauche ich gar keinen Schlaftrunk. -- Maschi, weine doch nicht so! Ich fühle mich ganz wohl. Mein Herz ist heute so voll wie nie zuvor in meinem Leben. Darum möchte ich Mani sehen. -- Nein, nein, Maschi, ich kann es nicht ertragen, wenn du so weinst. Du bist alle diese letzten Tage so ruhig gewesen. Was hast du denn nur heute abend?« »Ach, Dschotin, ich glaubte, daß der Quell meiner Tränen versiegt wäre; aber sie fließen immer wieder von neuem. Ich kann es nicht ertragen.« »Ruf' Mani! Ich will sie an unsern Hochzeitsabend erinnern, so daß sie morgen -- --« »Ich geh schon, mein Liebling. Schombhu wird an der Tür warten. Wenn du irgend etwas willst, ruf' ihn.« Maschi ging in Manis Schlafzimmer und sank weinend auf den Fußboden nieder. »O komm, komm dies eine Mal, du herzloses Geschöpf! Erfülle die letzte Bitte dessen, der dir alles gegeben hat. Er stirbt ja schon, gib ihm doch nicht den Todesstoß!« * * * * * Als Dschotin draußen Schritte hörte, fuhr er auf und rief: »Mani!« »Ich bin Schombhu. Hat der Herr mich gerufen?« »Sage deiner Herrin, sie soll kommen.« »Wer soll kommen?« »Deine Herrin.« »Sie ist noch nicht zurück.« »Zurück? Von wo?« »Von Sitarampur.« »Wann reiste sie dahin?« »Vor drei Tagen.« Einen Augenblick war Dschotin ganz betäubt, und alles drehte sich vor seinen Augen. Er glitt von den Kissen herab, die ihn stützten, und stieß den wollenen Schal, der seine Füße bedeckte, auf den Boden. * * * * * Als Maschi nach einer langen Weile zurückkam, erwähnte Dschotin Manis Namen nicht, und Maschi dachte, daß er sie ganz vergessen hätte. Plötzlich rief er: »Maschi, erzählte ich dir den Traum, den ich neulich nachts hatte?« »Welchen Traum?« »Wo Mani immer gegen die Tür stieß, und die Tür wollte sich nicht weiter als einen Zoll öffnen. Sie stand draußen und konnte nicht herein. Jetzt weiß ich, daß Mani bis zuletzt draußen vor meiner Tür bleiben muß.« Maschi antwortete nicht. Sie sah, daß der Himmel, den sie aus Lügen für Dschotin aufgebaut hatte, nun doch eingestürzt war. Wenn das Leid kommt, so ist es am besten, es nicht zu verleugnen. Wenn Gott schlägt, können wir dem Schlag nicht ausweichen. »Maschi, die Liebe, die du mir gegeben hast, wird durch all meine künftigen Leben dauern. Ich habe dies Leben ganz damit angefüllt und nehme sie mit fort. Ich bin gewiß, in unserm nächsten Leben wirst du als meine Tochter geboren werden, und ich werde dich mit meiner ganzen Liebe hüten und hegen.« »Was sagst du da, Dschotin? Meinst du, ich soll wieder als Mädchen geboren werden? Kannst du nicht beten, daß ich als Sohn in deine Arme komme?« »Nein, nein, nicht als Sohn. Du wirst in mein Haus kommen in jener wunderbaren Schönheit, die dich schmückte, als du jung warst. Ich kann mir sogar schon vorstellen, wie ich dich kleiden werde.« »Sprich nicht so viel, Dschotin, versuch' zu schlafen.« »Ich werde dich Lakschmi[4] nennen.« [4] Gemahlin Vischnus, Göttin des Glückes und der Schönheit. »Aber das ist ein altmodischer Name, Dschotin.« »Ja, aber du bist ja auch meine altmodische Maschi. Komm wieder in mein Haus mit deiner schönen altmodischen Art.« »Ich kann doch nicht wünschen, deinem Hause die Enttäuschung zu bringen, daß ein Mädchen statt eines Knaben kommt.« »Maschi, du hältst mich für schwach und willst mir alles Schwere ersparen.« »Mein Kind, ich bin eine Frau und habe als solche meine Schwäche. Daher habe ich mein ganzes Leben versucht, dir alles mögliche Schwere zu ersparen, -- aber es ist mir nicht gelungen.« »Maschi, ich habe in diesem Leben nicht Zeit gehabt, die Lehren, die ich empfangen habe, anzuwenden. Aber sie werden mir in meinem nächsten Leben zugute kommen. Ich werde dann zeigen, was ein Mann leisten kann. Ich habe gelernt, wie verkehrt es ist, immer nur an sich zu denken.« »Was du auch sagen magst, mein Liebling, du hast nie etwas für dich selbst erstrebt, sondern alles andern gegeben.« »Eins darf ich jedenfalls von mir sagen: Ich bin im Glück nie tyrannisch gewesen, noch habe ich versucht, mein Recht mit Gewalt zu erzwingen. Weil ich mich nicht belügen konnte, habe ich lange warten müssen. Vielleicht wird die Wahrheit zuletzt doch gütig zu mir sein. -- Wer ist da, Maschi, wer ist da?« »Wo? Es ist niemand da, Dschotin.« »Maschi, sieh doch einmal nebenan nach. Ich glaubte --« »Nein, mein Liebling! Ich sehe niemanden.« »Aber ich meinte ganz deutlich -- --« »Nein, Dschotin, es ist nichts. Also sei ruhig. Der Doktor kommt jetzt.« Als der Doktor eintrat, sagte er: »Hören Sie mal, Sie dürfen nicht so viel bei dem Kranken sein, Sie regen ihn auf. Gehn Sie zu Bett, mein Assistent bleibt bei ihm.« »Nein, Maschi, ich kann dich nicht fortlassen.« »Gut, mein Liebling, ich werde ruhig in der Ecke sitzen.« »Nein, nein, du mußt dicht bei mir sitzen. Ich kann deine Hand nicht lassen, nicht bis zuletzt. Deine Hand hat mich geführt und aus deiner Hand soll Gott mich wieder empfangen.« »Nun gut,« sagte der Doktor, »Sie können dableiben. Aber Dschotin Babu, Sie dürfen nicht zu ihr sprechen. Es ist Zeit, daß Sie Ihre Medizin nehmen.« »Zeit für Medizin? Unsinn! Die Zeit dafür ist vorbei. Jetzt Medizin geben heißt nur täuschen. Aber ich fürchte mich auch gar nicht vor dem Sterben. Maschi, der Tod bereitet mir schon seinen Trank, was soll der Doktor mich noch plagen! Schick' ihn fort! Dich nur brauch ich jetzt, niemanden sonst, niemanden! Keine Lüge mehr!« »Ich muß hier als Arzt Einspruch tun, diese Aufregung schadet Ihnen!« »Gehen Sie also fort, Doktor, regen Sie mich nicht mehr auf! -- Ist er fort, Maschi? ... das ist gut! Nun komm und nimm meinen Kopf in deinen Schoß.« »Ja komm, mein Liebling. Und nun versuch' zu schlafen!« »Nein, Maschi, sag' nicht, daß ich schlafen soll. Wenn ich einschlafe, wache ich nicht wieder auf. Ich muß mich noch etwas wach halten. -- Hörst du nicht ein Geräusch? Es kommt jemand!« V »Dschotin, mein Liebling, mach' deine Augen mal ein wenig auf. Sie ist gekommen. Schau einmal her und sieh!« »Wer ist gekommen? Ein Traum?« »Kein Traum, mein Liebling! Mani ist mit ihrem Vater gekommen.« »Wer bist du?« »Siehst du denn nicht? Es ist deine Mani!« »Mani? Hat die Tür sich geöffnet?« »Ja, mein Lieb, sie ist weit offen.« »Nein, Maschi, nicht den Schal! nicht diesen Schal! Dieser Schal ist eine Lüge!« »Es ist kein Schal, Dschotin. Es ist unsere Mani, die sich über deine Füße geworfen hat. Leg deine Hand auf ihren Kopf und segne sie. Weine nicht so, Mani! Du hast noch Zeit genug dazu. Nun sei ein Weilchen ganz still.« DAS SKELETT In dem Zimmer, neben welchem wir Knaben zu schlafen pflegten, hing ein menschliches Skelett. In der Nacht pflegte die Brise, die durch das geöffnete Fenster hereinstrich, mit seinen Knochen zu rasseln. Am Tage rasselten wir mit diesen Knochen. Wir hatten Osteologie bei einem Studenten der Medizin, denn unser Vormund war entschlossen, uns in alle Wissenschaften einzuweihen. Wieweit es ihm gelang, brauchen wir denen, die uns kennen, nicht zu sagen, und den andern bleibt es besser ein Geheimnis. Viele Jahre sind seitdem vergangen. Inzwischen ist das Skelett aus dem Zimmer verschwunden und auch die Osteologie aus unserm Gehirn, ohne eine Spur zurückzulassen. Neulich war das Haus voll von Gästen, und ich mußte die Nacht in demselben alten Zimmer zubringen. Der Schlaf wollte in dieser ungewohnten Umgebung nicht kommen, und während ich mich ruhelos von einer Seite auf die andere warf, hörte ich die Kirchenuhr in der Nähe eine Stunde nach der andern schlagen. Das Licht der Nachtlampe in der Ecke wurde immer matter, endlich sprühte und flackerte es noch ein paarmal auf und ging dann ganz aus. Wir hatten kürzlich mehrere Verluste in der Familie gehabt, so war es natürlich, daß das Erlöschen der Lampe mich auf Todesgedanken brachte. Ich stellte die Betrachtung an, daß es in der großen Arena der Natur doch eigentlich derselbe Vorgang sei, wenn eine Lampe erlischt, und wenn das Lichtlein eines Menschenlebens sich in ewiges Dunkel verliert. Meine Gedanken riefen das Skelett wieder in meiner Erinnerung wach. Während ich versuchte mir vorzustellen, wie der Leib, der es einst umhüllt hatte, wohl ausgesehen haben könnte, war es mir plötzlich, als ob etwas immer um mein Bett herumginge, wobei es an den Wänden entlang tastete. Ich konnte sein rasches Atmen hören. Es schien nach etwas zu suchen, was es nicht finden konnte, und es ging mit immer hastigeren Schritten im Zimmer umher. Ich war ganz sicher, daß dies alles nur eine Einbildung meines schlaflosen, aufgeregten Hirns war und daß, was mir als laufende Tritte erschien, in Wahrheit das Pochen der Adern in meinen Schläfen war. Doch trotzdem überlief es mich kalt. Um diese Halluzination loszuwerden, rief ich laut: »Wer ist da?« Die Tritte schienen neben meinem Bett anzuhalten, und jemand antwortete: »Ich bin es. Ich bin gekommen, um mich nach meinem Skelett umzusehen.« Es wäre doch lächerlich gewesen, einem Geschöpf meiner Einbildung gegenüber Furcht zu zeigen; daher sagte ich -- indem ich aber doch die Bettdecke etwas fester faßte -- mit erheuchelter Ruhe: »Eine nette Beschäftigung zu dieser nächtlichen Stunde! Was wollen Sie denn mit dem Skelett anfangen?« Die Antwort schien fast unmittelbar aus meinem Moskito-Vorhang zu kommen. »Welche Frage! In dem Skelett waren die Knochen, die mein Herz einschlossen; der jugendliche Reiz meiner sechsundzwanzig Jahre umblühte es. Sollte ich nicht den Wunsch haben, es noch einmal zu sehen?« »Gewiß,« sagte ich, »das ist ein ganz berechtigter Wunsch. Suchen Sie nur weiter, während ich versuche, etwas zu schlafen.« Die Stimme sagte: »Aber ich glaube, Sie sind einsam. Nun, da werde ich mich ein Weilchen zu Ihnen setzen, und wir wollen ein wenig plaudern. Vor Jahren pflegte ich so bei Menschen zu sitzen und mich mit ihnen zu unterhalten. Aber während der letzten fünfunddreißig Jahre habe ich nur auf den Verbrennungsplätzen der Toten im Winde gestöhnt. Ich möchte gern einmal wie in früheren Zeiten mit einem Menschen plaudern.« Ich fühlte, wie sich jemand ganz dicht bei meinem Vorhang niedersetzte. So ergab ich mich denn in diese Situation und erwiderte mit soviel Herzlichkeit, wie ich aufbringen konnte: »Ja, das wird sehr nett sein. Lassen Sie uns von etwas Lustigem reden.« »Das Lustigste, was ich kenne, ist meine eigene Lebensgeschichte. Die will ich Ihnen erzählen.« Die Kirchenuhr schlug die zweite Stunde. »Als ich noch im Lande der Lebendigen und jung war, fürchtete ich eins wie den Tod selbst, und das war mein Gatte. Was ich fühlte, läßt sich nur mit dem vergleichen, was ein Fisch empfindet, der an einem Angelhaken gefangen ist. Denn es war, als hätte mich ein Fremder mit dem schärfsten aller Haken aus dem friedlich stillen Heim meiner Kindheit gerissen -- und ich hatte kein Mittel, ihm zu entrinnen. Mein Gatte starb zwei Monate nach unsrer Heirat, und meine Freunde und Verwandten beklagten mich mit vielem Pathos. Der Vater meines Gatten aber, nachdem er mir lange forschend ins Gesicht geblickt hatte, sagte zu meiner Schwiegermutter: >Siehst du nicht, daß sie den bösen Blick hat?< -- Nun, hören Sie auch zu? Ich hoffe, Sie finden die Geschichte unterhaltend?« »Sehr unterhaltend«, sagte ich. »Der Anfang ist wirklich äußerst lustig.« »Lassen Sie mich also fortfahren. Ich war sehr froh, als ich wieder in meines Vaters Haus zurückkam. Die Leute versuchten, es mich nicht merken zu lassen, aber ich wußte wohl, daß ich von der Natur mit einer seltenen, blendenden Schönheit ausgestattet war. Was meinen Sie?« »Ich glaube es wohl«, murmelte ich. »Aber Sie müssen bedenken, daß ich Sie nie gesehen habe.« »Was? Sie haben mich nicht gesehen? Und mein Skelett? Hahaha! Nun gut. Ich scherzte nur. Wie kann ich Sie je davon überzeugen, daß jene zwei höhlenartigen Löcher das strahlendste dunkle, schmachtende Augenpaar enthielten? Und daß die grinsenden Zähne, die Sie zu sehen pflegten, nichts ahnen ließen von dem Lächeln, das jene rubinroten Lippen umspielte? Wenn ich nur versuche, Ihnen eine Vorstellung zu geben von der Anmut, dem Reiz, der in der Fülle der Jugend in weichen, wundervoll geschwungenen Linien jene trocknen alten Knochen umwuchs und umblühte, so muß ich lächeln. Aber es macht mich auch zornig. Die hervorragendsten Ärzte meiner Zeit hätten sich nicht träumen lassen, daß meine Knochen dazu gut seien, um Osteologie daran zu lernen. Wissen Sie, daß ein junger Arzt, den ich kannte, mich tatsächlich mit einer goldenen Tschampakblüte verglich? Er meinte, daß die ganze übrige Welt nur der Kelch sei, der die Blüte meiner Schönheit umschloß. Denkt irgend jemand bei dem Skelett an eine Tschampakblüte? Wenn ich ging, so hatte ich das Gefühl, daß, wie ein Diamant Glanz um sich verbreitet, jede meiner Bewegungen nach allen Seiten Wellen von Schönheit ausstrahlte. Ich konnte stundenlang meine Hände betrachten -- Hände, die spielend leicht den unbändigsten aller Männer gezügelt hätten. Aber jenes starre, starrende alte Gerippe hat falsch Zeugnis von mir abgelegt, während ich unfähig war, die schamlose Verleumdung zurückzuweisen. Darum hasse ich von allen Menschen Sie am meisten! Ich möchte durch ein Traumbild von meiner einstigen lebenswarmen Schönheit auf immer allen Schlaf aus Ihren Augen bannen und mit ihm den ganzen osteologischen Krimskrams, mit dem Ihr Hirn angefüllt ist.« »Ich könnte bei Ihrem Leibe schwören, wenn Sie ihn noch hätten,« rief ich aus, »daß auch keine Spur von Osteologie mehr in meinem Kopf ist, und daß das einzige, was ihn jetzt erfüllt, ein strahlendes Bild vollkommener Schönheit ist, das sich leuchtend vom schwarzen Hintergrund der Nacht abhebt. Das ist alles, was ich sagen kann.« »Ich hatte keine weiblichen Gefährten«, fuhr die Stimme fort. »Mein einziger Bruder war entschlossen, nicht zu heiraten. Im Frauengemach war ich allein. Allein pflegte ich im Garten zu sitzen, im Schatten der Bäume, und zu träumen, daß die ganze Welt in mich verliebt sei; daß die Sterne schlaflos mit durstigen Blicken meine Schönheit tränken, daß der Wind schmachtende Seufzer ausstieße, wenn er unter irgendeinem Vorwande an mir vorbeistrich, und daß der Rasen, auf dem meine Füße ruhten, wenn er Bewußtsein gehabt, es bei ihrer Berührung wieder verloren hätte. Ich träumte, daß alle jungen Männer in der ganzen Welt wie Grashalme zu meinen Füßen lägen; und mein Herz wurde von einer unbestimmten Traurigkeit erfaßt. Als meines Bruders Freund Schekhar seine medizinischen Studien beendet hatte, wurde er unser Hausarzt. Ich hatte ihn schon oft durch einen Spalt des Vorhangs gesehen. Mein Bruder war ein Sonderling und mochte die Welt nicht mit offenen Augen ansehen. Sie war ihm zu bunt und kraus. Und so rückte er allmählich immer mehr von ihr ab, bis er ganz allein in einer dunklen Ecke saß. Schekhar war sein einziger Freund und daher der einzige junge Mann, den ich je zu sehen bekam. Und wenn ich des Abends im Garten meinen Hof hielt, so war das ganze Heer von eingebildeten Anbetern, die zu meinen Füßen lagen, jeder ein Schekhar. -- Hören Sie zu? Woran denken Sie?« Ich erwiderte mit einem Seufzer: »Ich wünschte eben, ich wäre Schekhar.« »Warten Sie ein Weilchen. Hören Sie erst die Geschichte zu Ende. Eines Tages, in der Regenzeit, bekam ich Fieber. Der Arzt kam, um nach mir zu sehen. Das war unsre erste Begegnung. Ich lag dem Fenster gegenüber, so daß der rosige Abglanz des Abendhimmels auf mein blasses Antlitz fallen mußte. Als der Doktor eintrat und mich anblickte, versetzte ich mich an seine Stelle und betrachtete mich selbst. Ich sah im herrlichen Abendlicht das zarte blasse Gesicht wie eine welke Blume auf dem weichen, weißen Kissen liegen, während die Locken lose um die Stirn fielen und die schüchtern gesenkten Lider dem ganzen Gesicht einen rührenden Ausdruck gaben. Der Doktor fragte in zaghaft leisem Tone meinen Bruder: >Dürfte ich wohl ihren Puls fühlen?< Ich zog ein müdes, schön geformtes Handgelenk unter der Decke hervor. >Ach,< dachte ich, als ich darauf blickte, >könnte ich doch nur ein Saphirarmband daran haben[5].< Ich habe nie gesehen, daß ein Doktor sich so ungeschickt anstellte, wenn er den Puls eines Patienten fühlte. Seine Finger zitterten, als sie mein Handgelenk faßten. Er maß mein Fieber und ich seinen Herzschlag. -- Glauben Sie mir das nicht?« [5] Witwen dürfen sich nur in Weiß kleiden, ohne jeden Schmuck. »Das glaube ich Ihnen gern,« sagte ich, »der Herzschlag des Menschen ist verräterisch.« »Nachdem ich mehrmals erkrankt und wiederhergestellt war, bemerkte ich, daß die Zahl der Höflinge, von denen ich des Abends im Garten träumte, bald auf einen einzigen zusammengeschmolzen war. Und zuletzt bestand meine kleine Welt nur noch aus einem Doktor und einem Patienten. An solchen Abenden kleidete ich mich heimlich in einen goldgelben Sari, wand um den Knoten, in den ich mein Haar schlang, einen Kranz von weißen Jasminblüten und begab mich, mit einem kleinen Spiegel in der Hand, zu meinem gewohnten Platz unter den Bäumen. Nun, glauben Sie etwa, daß man es bald müde wird, seine eigene Schönheit anzustaunen? Ach nein! Ich sah mich gar nicht mit meinen eigenen Augen. Ich war damals ein Doppelwesen. Ich sah mich, als ob ich der Doktor wäre; ich starrte mich an, war entzückt, verliebte mich zum Wahnsinn. Aber trotz all der Liebkosungen, mit denen ich mich überhäufte, irrte doch ein Seufzer in meinem Herzen umher, wie der ruhelose Nachtwind. Jedenfalls war ich von dieser Zeit ab nie mehr allein. Wenn ich ging, beobachtete ich mit gesenkten Lidern das Spiel meiner zarten kleinen Zehen auf der Erde und fragte mich, was der Doktor wohl sagen würde, wenn er es sehen könnte. Am Mittag, wenn die Luft von Sonnenglut erfüllt war und nichts zu hören als hin und wieder der ferne Ruf einer Gabelweihe; wenn draußen an unsrer Gartenmauer der Händler vorüberging mit seinem singenden Ruf: >Kauft Ringe, kristallene Ringe!<, dann breitete ich ein schneeweißes Tuch auf den Rasen und legte mich darauf, den Kopf auf den Arm gestützt. Mit gesuchter Nachlässigkeit ruhte der andere Arm leicht auf dem weichen Tuch, und dann stellte ich mir vor, jemand erblickte mich in dieser wundervollen Pose, ergriffe meine Hand mit beiden Händen ehrfürchtig, drückte einen Kuß auf ihre rosige Fläche und ginge dann langsam fort. -- Wie wäre es wenn ich die Geschichte hier enden ließe? Wie würde sie Ihnen gefallen?« »Das wäre kein schlechter Abschluß«, erwiderte ich nachdenklich. »Sie würde zwar nicht ganz vollständig sein, aber ich könnte ja leicht den Rest der Nacht damit zubringen, sie irgendwie abzurunden.« »Aber auf diese Weise würde die Geschichte zu ernst. Wo bliebe das Lustige dabei? Und wo bliebe das Skelett mit seinen grinsenden Zähnen? Lassen Sie mich daher fortfahren. Sobald der Doktor eine kleine Praxis hatte, mietete er im Erdgeschosse unseres Hauses ein Zimmer als Sprechzimmer. Ich befragte ihn damals mitunter im Scherz über Medizinen und Gifte, und wieviel von dieser oder jener Arznei dazu gehören würde, um einen Menschen zu töten. Dieser Gegenstand interessierte ihn, und er wurde beredt. Durch solche Gespräche wurde ich mit dem Gedanken an den Tod vertraut, und so waren Liebe und Tod die beiden Dinge, die meine kleine Welt ausfüllten. -- Meine Geschichte ist jetzt bald zu Ende. Es ist nicht viel mehr übrig.« »Von der Nacht ist auch nicht viel mehr übrig«, murmelte ich. »Nach einiger Zeit bemerkte ich, daß der Doktor merkwürdig zerstreut geworden war, und es schien, als ob er mir etwas zu verbergen suchte, dessen er sich schämte. Eines Tages kam er herein. Er war sorgfältiger als gewöhnlich gekleidet und lieh sich meines Bruders Wagen für den Abend. Ich konnte meine Neugier nicht länger bezwingen und ging hinauf zu meinem Bruder, um zu erfahren, was der Doktor vorhatte. Nachdem ich erst über andere Dinge geredet hatte, fragte ich ihn endlich: >Übrigens, Dada[6], wohin will der Doktor heute abend in deinem Wagen?< [6] Der ältere Bruder. >In den Tod<, antwortete mein Bruder kurz. >Ach, sag' es mir doch<, drängte ich. >Wohin will er in Wirklichkeit?< >Er will sich verheiraten<, war die etwas deutlichere Antwort. >Ach, wirklich!< sagte ich und brach in ein langes, lautes Gelächter aus. Ich erfuhr allmählich, daß die Braut eine reiche Erbin sei, die dem Doktor ein großes Vermögen mitbringen würde. Aber warum kränkte er mich, indem er mir dies alles verbarg? Hatte ich ihn je gefleht und gebeten, sich nicht zu verheiraten, weil es mir das Herz brechen würde? Man darf den Männern nie trauen. Ich hatte in meinem Leben nur einem einzigen Manne getraut, und nun machte ich diese Entdeckung. Als der Doktor nach getaner Arbeit hereinkam und im Begriff war aufzubrechen, sagte ich lachend zu ihm: >Nun Doktor, Sie wollen sich heute abend verheiraten?< Meine Heiterkeit brachte ihn nicht nur aus der Fassung, sie verletzte ihn auch. >Aber wie kommt es denn,< fuhr ich fort, >daß wir keine Illumination und keine Musikkapelle haben?< Er erwiderte mit einem Seufzer: >Ist eine Hochzeit denn ein so froher Anlaß?< Ich brach in ein erneutes Gelächter aus. >Nein, nein,< rief ich, >dies geht wirklich nicht. Hat man je von einer Hochzeit ohne Lichter und Musik gehört?< Ich quälte meinen Bruder so sehr, daß er sofort alles bestellte, was zu einer vergnügten Hochzeit gehört. Die ganze Zeit schwatzte ich in einem fort lustig von der Braut, von dem bevorstehenden Fest und was ich tun wollte, wenn die Braut ins Haus käme. >Und, Doktor,< fragte ich, >werden Sie nun noch fortfahren, den Leuten den Puls zu fühlen?< Hahaha! Wenn man auch nicht sehen kann, was in einem Menschen, besonders in einem Mann, vorgeht, so will ich doch darauf schwören, daß meine Worte den Doktor wie Dolchstöße ins Herz trafen. Die Hochzeitsfeierlichkeit sollte spät am Abend stattfinden. Bevor der Doktor aufbrach, sollte er mit meinem Bruder draußen auf der Terrasse ein Glas Wein trinken, wie sie es alle Tage zu tun pflegten. Der Mond war gerade aufgegangen. Ich kam lächelnd zu ihnen und sagte: >Haben Sie denn Ihre Hochzeit vergessen, Doktor? Es ist Zeit aufzubrechen.< Ich muß hier noch eine Kleinigkeit erwähnen. Ich war inzwischen in die Apotheke hinunter gegangen und hatte ein kleines Pulver geholt, das ich unbemerkt in des Doktors Glas geschüttet hatte. Der Doktor leerte sein Glas auf einen Zug und sagte dann mit vor Erregung erstickter Stimme und mit einem Blick, der mir in die Seele schnitt: >Dann muß ich fort.< Die Musik begann zu spielen. Ich ging in mein Zimmer und kleidete mich in meine Brautgewänder von Seide und Gold. Ich nahm meine Juwelen und Schmucksachen aus dem verschlossenen Schrank und legte sie alle an; ich malte das rote Abzeichen meiner Frauenwürde auf den Scheitel meines Haares. Und dann bereitete ich mir unter dem Baum im Garten mein Lager. Es war eine wundervolle Nacht. Der sanfte Südwind küßte die Müdigkeit der Welt hinweg. Der Duft des Jasmins und der Quittenblüten füllte den Garten mit berauschender Freude. Als die Klänge der Musik leiser und leiser wurden und das Licht des Mondes blasser und blasser; als die Welt mit ihren altvertrauten Vorstellungen von Heim und Verwandten meinem Bewußtsein wie ein Traum zu entschwinden begann, -- da schloß ich die Augen und lächelte. Ich glaubte, daß, wenn die Leute kommen und mich finden würden, jenes Lächeln noch auf meinen Lippen weilen würde wie die Spur von rotem Wein, daß ich jenes Lächeln mit mir nehmen und daß es mein Antlitz verklären würde, wenn ich so hinüberschlummerte in mein ewiges Brautgemach. Aber ach, wo blieb das Brautgemach? Wo die Brautgewänder von Seide und Gold? Als ich von einem rasselnden Geräusch in mir erwachte, fand ich drei kleine Buben, die an meinem Skelett Osteologie lernten. Wo einst in meinem Busen Freude und Leid pochten und die Blütenknospen der Jugend sich eine nach der andern erschlossen, da war jetzt der Lehrer geschäftig mit seinem Zeigestock und zählte meine Knochen auf. Und jenes letzte Lächeln, das ich mir so sorgfältig einstudiert hatte, haben Sie davon eine Spur bemerkt? Nun, sagen Sie mir, wie gefällt Ihnen die Geschichte?« »Sie war wundervoll«, sagte ich. In diesem Augenblick begann der Hahn zu krähen. »Sind Sie noch da?« fragte ich. Niemand antwortete. Durchs Fenster dämmerte der Morgen. DER HÜTER DES ERBES I Brindaban Kundu kam wütend zu seinem Vater und sagte: »Ich gehe jetzt auf der Stelle fort.« »Du elendes, undankbares Geschöpf!« rief der Vater, Dschagannath Kundu, verächtlich. »Wenn du mir alles bezahlt hast, was ich für deine Nahrung und Kleidung ausgegeben habe, dann ist es Zeit, so großartig zu tun.« Die Nahrung und Kleidung, die es in Dschagannaths Hause zu geben pflegte, hatte nicht viel kosten können. Unsere alten Weisen wußten mit unglaublich wenig auszukommen. Dschagannaths Lebensweise zeigte, daß sein Ideal in dieser Beziehung dem ihren nicht nachgab. Wenn er es ihnen nicht ganz gleichtun konnte, so war zum Teil die Abhängigkeit von der entarteten Gesellschaft um ihn herum schuld daran, zum Teil waren es gewisse unvernünftige Forderungen der Natur, bei ihrem Bestreben, Leib und Seele zusammenzuhalten. Solange Brindaban noch nicht verheiratet war, ging die Sache ganz gut, aber nach seiner Verheiratung fing er an, dem Ideal seines Vaters untreu zu werden. Es war klar, daß des Sohnes Begriffe von Wohlsein sich immer mehr vom Geistigen ab dem Materiellen zuwandten und in das Fahrwasser der verderbten Welt gerieten. Er wollte das Unbehagen, das ihm Hitze und Kälte, Hunger und Durst verursachten, nicht länger geduldig hinnehmen. Das Minimum, das er an Nahrung und Kleidung brauchte, wuchs zusehends. Vater und Sohn gerieten immer häufiger aneinander. Endlich wurde Brindabans Frau ernstlich krank, und ein Landarzt wurde gerufen. Aber als der Doktor eine teure Medizin für die Kranke verordnete, nahm Dschagannath dies als einen offenbaren Beweis seiner Unfähigkeit und wies ihm ohne weiteres die Tür. Zuerst flehte Brindaban seinen Vater an, die Behandlung doch nicht abzubrechen, dann wurde er heftig und machte ihm Vorwürfe, aber es half alles nichts. Als seine Frau starb, schalt und schmähte er seinen Vater und nannte ihn einen Mörder. »Unsinn!« sagte der Vater. »Sterben die Menschen denn nicht auch, wenn sie alle möglichen Medizinen verschlucken? Wenn teure Medizinen das Leben retten können, wie kommt es da, daß Könige und Kaiser nicht unsterblich sind? Du erwartest doch wohl nicht, daß deine Frau mit mehr Pomp und Feierlichkeit sterben soll als deine Mutter und deine Großmutter?« Wäre Brindaban nicht von Kummer überwältigt und zum Denken ganz unfähig gewesen, so hätten ihm diese Worte wirklich einigen Trost geben können. Weder seine Mutter noch seine Großmutter hatten Medizin genommen, bevor sie dieser Welt Valet sagten, und so war es altehrwürdige Gewohnheit in der Familie. Aber ach, die jüngere Generation wollte nicht mehr nach dieser alten Gewohnheit sterben! Die Engländer waren zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, erst ins Land gekommen. Die guten alten rechtgläubigen Leute waren damals entsetzt über die gottlose Art der neuen Generation; sie hockten stumm in ihrem Winkel und versuchten, aus ihren langen Wasserpfeifen Trost zu saugen. Kurz und gut, der moderne Brindaban sagte zu seinem alten Kauz von Vater: »Ich gehe auf der Stelle.« Der Vater war sogleich einverstanden und tat feierlich den Wunsch: Sollte er in Zukunft seinem Sohne je einen einzigen Heller geben, so möchten die Götter ihm diese Tat anrechnen, als ob er das heilige Blut von Kühen vergossen hätte. Brindaban wünschte gleicherweise: Sollte er je etwas von seinem Vater annehmen, so möchte ihm diese Tat wie ein Muttermord angerechnet werden. Für die Leute im Dorf war diese kleine Revolution eine erlösende Abwechslung in dem ewigen Einerlei ihres Lebens. Und als Dschagannath seinen Sohn enterbte, tat jeder sein Bestes, um ihn zu trösten. Nur in einer so entarteten Zeit konnte es geschehen, daß jemand sich um eines Weibes willen mit seinem Vater entzweite -- darin waren sich alle einig. Und sie gaben auch einen sehr einleuchtenden Grund für ihre Ansicht: »Wenn einem sein Weib stirbt,« sagten sie, »so kann er sich gleich ein anderes suchen. Aber wenn ihm sein Vater stirbt, so kann er nicht für Geld oder gute Worte einen anderen bekommen, der an seine Stelle träte.« Ihre Logik war zweifellos richtig, aber es ist zu vermuten, daß die gänzliche Aussichtslosigkeit, einen anderen Vater zu bekommen, den mißleiteten Sohn nicht sehr bekümmerte. Im Gegenteil. Auch dem Alten wurde die Trennung von Brindaban nicht schwer. Zunächst einmal wurden die Haushaltsausgaben durch seine Abwesenheit geringer. Und dann wurde der Vater auch von einer großen Angst befreit, die ihn immer verfolgt hatte: von der Angst, sein Sohn und Erbe könne ihn eines Tages vergiften. Wenn er sein kärgliches Mahl aß, hatte er den Gedanken an Gift nie loswerden können. Nach dem Tode seiner Schwiegertochter hatte diese Angst sich etwas gemindert, und jetzt, da der Sohn fort war, verschwand sie ganz. Aber es gab eine weiche Stelle im Herzen des alten Mannes. Brindaban hatte einen vierjährigen Sohn, Gokul Tschandra, mit sich genommen. Nun waren die Kosten für den Unterhalt des Kindes verhältnismäßig gering und konnten daher Dschagannaths Liebe zu ihm keinen Abbruch tun. Doch wenn sein Kummer, als Brindaban den Kleinen mit sich nahm, auch aufrichtig war, so mischte sich doch die Berechnung hinein, wieviel er monatlich durch die Abwesenheit der beiden sparen würde, wieviel das in einem Jahr ausmachte und welches Kapital dazu gehören würde, um die gleiche Summe an Zinsen einzubringen. Aber es wurde dem Alten immer schwerer, in dem leeren Hause, in dem kein Gokul Tschandra mehr Unfug trieb, zu leben. Jetzt war niemand mehr da, der ihm Streiche spielte, während er seine Gebete sprach, niemand, der ihm sein Essen wegriß und es aufaß, niemand, der mit seinem Tintenfaß davonlief, wenn er seine Rechnungsabschlüsse machte. Der gewohnheitsmäßige Gang seines täglichen Lebens, der nun durch nichts mehr unterbrochen wurde, wurde ihm zur unerträglichen Last. Er fand, daß man solchen ungestörten Frieden nur in der künftigen Welt ertragen könnte. Wenn er die Löcher erblickte, die sein Enkel in seine Bettdecke gerissen hatte, oder die Tintenzeichnungen auf seiner Binsenmatte, die von demselben Künstler herrührten, so wurde ihm das Herz schwer vor Kummer. Einst hatte er dem Jungen bittere Vorwürfe gemacht, daß er sein Lendentuch in der kurzen Zeit von zwei Jahren zerrissen hatte; jetzt traten Dschagannath die Tränen in die Augen, als er da im Schlafzimmer stand und die schmutzigen Überreste anstarrte. Er verwahrte sie sorgfältig in seiner Lade und tat ein feierliches Gelübde: sollte Gokul je zurückkommen, so wollte er nicht schelten, und wenn er auch jedes Jahr ein Lendentuch aufbrauchte. Aber Gokul kehrte nicht zurück, und der arme Dschagannath alterte sehr schnell. Sein leeres Haus erschien ihm mit jedem Tage leerer. Der alte Mann hielt es nicht mehr still zu Hause aus. Selbst in der Mittagszeit, wenn alle ehrbaren Leute im Dorf ihre Mittagsruhe genossen, dann sah man Dschagannath durchs Dorf wandern, die lange Pfeife in der Hand. Die Knaben hörten auf zu spielen, wenn sie ihn sahen, sie zogen sich geschlossen in sichere Entfernung zurück und sangen einen Vers, den ein Dorfdichter verfaßt hatte und der die sparsamen Gewohnheiten des alten Herrn pries. Niemand wagte es, seinen wirklichen Namen zu nennen, aus Furcht, an dem Tage fasten zu müssen[7], und so legten die Leute ihm andere Namen bei. Die älteren Leute nannten ihn Dschagannasch[8], aber die jüngere Generation nannte ihn einen Vampyr. Vielleicht hatte die blutlose, vertrocknete Haut des Alten eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit der eines Vampyrs. [7] Es herrscht in Bengalen der Aberglaube, daß, wer den Namen eines Geizhalses ausspricht, an dem Tage nichts zu essen bekommt. [8] Dschagannath heißt »der Herr der Welt« und Dschagannasch würde heißen »der Verderber der Welt«. II Eines Nachmittags, als Dschagannath wie gewöhnlich die von Mangobäumen überschatteten Dorfstraßen durchstreifte, sah er einen Knaben, augenscheinlich einen Fremden, der die Hauptmannschaft über die Dorfknaben an sich gerissen hatte und ihnen den Plan eines neuen Streiches auseinandersetzte. Durch die Energie seines Charakters und die verblüffende Neuheit seiner Ideen gewonnen, hatten die Knaben ihm alle als ihrem Oberhaupt gehuldigt. Im Gegensatz zu den andern lief er nicht vor dem alten Mann davon, sondern ging dicht zu ihm heran und schüttelte aus seinem Tschadar[9] eine lebendige Eidechse, die auf den Alten sprang, an seinem Rücken hinablief und schnell ins Gebüsch huschte. Der arme Mann zitterte vor Schreck am ganzen Leibe, zur großen Belustigung der andern Knaben, die vor Freude jubelten. Dschagannath ging scheltend und fluchend davon. Doch er war noch nicht weit gegangen, als der Gamtscha[10] plötzlich von seiner Schulter verschwand, und im nächsten Augenblick sah man ihn auf dem Kopf des fremden Jungen, in einen Turban verwandelt. [9] eine Art Plaid, das als Mantel um die Schulter getragen wird. [10] Schulterschal. Die neuen Aufmerksamkeiten dieses Bürschchens wirkten befreiend auf Dschagannath. Es war lange her, seit irgendein Junge sich so etwas bei ihm herausgenommen hatte. Nach vielem guten Zureden und allerlei schönen Versprechungen gelang es ihm endlich, den Knaben zu bewegen, zu ihm heranzukommen, und nun entspann sich folgendes Gespräch zwischen ihnen: »Wie heißt du, mein Junge?« »Nitai Pal.« »Wo wohnst du?« »Das sage ich nicht.« »Wer ist dein Vater?« »Das sage ich nicht.« »Warum nicht?« »Weil ich von Hause fortgelaufen bin.« »Warum hast du das getan?« »Mein Vater wollte mich zur Schule schicken.« Es schien Dschagannath eine unnütze Geldverschwendung, solchen Knaben zur Schule zu schicken, und er sagte sich, der Vater müsse ein ganz unpraktischer Mann sein, daß er dies nicht eingesehen hatte. »Hör' mal, mein Junge,« sagte Dschagannath, »möchtest du wohl mit mir kommen und bei mir bleiben?« »Meinetwegen«, sagte der Junge. Und sogleich richtete er sich bei Dschagannath häuslich ein, ohne die mindesten Bedenken, als ob das Haus der Schatten eines Baumes an der Straße gewesen wäre. Und nicht nur das. Er begann seine Wünsche in bezug auf Nahrung und Kleidung mit solcher kühlen Ruhe zu äußern, als ob er die Rechnung im voraus bezahlt hätte; und wenn irgend etwas nicht in Ordnung war, machte er sich gar kein Gewissen daraus, mit dem Alten zu zanken. Es war Dschagannath leicht genug gewesen, sein eigenes Kind im Zaum zu halten, aber jetzt, wo es sich um ein fremdes Kind handelte, mußte er die Waffen strecken. III Die Leute im Dorf waren erstaunt, daß Dschagannath sich plötzlich so viel aus dem fremden Jungen machte. Sie waren sicher, daß das Ende des Alten nahe sei, und sie empfanden es schmerzlich, daß er sein ganzes Eigentum diesem hergelaufenen Schlingel vermachen würde. Wütend vor Neid hätten sie dem Knaben gern ein Leid angetan, aber der Alte hütete ihn wie seinen Augapfel. Mitunter drohte der Junge, er wolle fortgehen, und dann suchte der Alte ihn mit dem Versprechen zu locken, er wolle ihm sein ganzes Eigentum hinterlassen. So klein der Knabe auch noch war, so verstand er doch schon vollkommen die Größe dieses Versprechens. Nun begannen die Dorfbewohner nach dem Vater des Knaben zu forschen. Das Herz schmolz ihnen vor Mitleid mit den geängstigten Eltern, und sie erklärten, der Sohn müsse ein ganz gottloser Bube sein, daß er ihnen solch Leid zufügte. Sie häuften Schmähungen auf sein Haupt, aber die Wut, mit der sie es taten, verriet eher Neid als Gerechtigkeitssinn. Eines Tages hörte der alte Mann von einem Wanderer, daß ein gewisser Damodar Pal seinen verlorenen Sohn suche und jetzt eben in diese Gegend komme. Als Nitai dies hörte, wurde er sehr unruhig; er wollte Reichtum Reichtum sein lassen und davonlaufen. Dschagannath beruhigte ihn: »Ich will dich verstecken, wo niemand dich finden kann, selbst die Leute im Dorfe nicht«, sagte er. Dies reizte die Neugier des Knaben, und er fragte: »O, wo denn? Zeig mir schnell den Platz!« »Wenn ich ihn dir jetzt zeige, merken es die Leute. Warte, bis es Nacht ist«, sagte Dschagannath. Die Aussicht auf das geheimnisvolle Versteck entzückte den Knaben. Er malte sich aus, wie er, sobald sein Vater ohne ihn fortgegangen sein würde, mit seinen Kameraden Verstecken spielen und eine Wette machen wollte. Niemand würde ihn finden können. Wäre das nicht ein Spaß? Und daß auch sein Vater das ganze Dorf durchsuchen würde, ohne ihn zu finden -- welch ein Hauptspaß! Am Mittag schloß Dschagannath den Knaben in seinem Hause ein und verschwand auf einige Zeit. Als er wieder zurückkam, plagte ihn Nitai mit Fragen. Sobald es dunkel war, sagte Nitai: »Großvater, gehen wir jetzt?« »Erst muß es Nacht sein«, erwiderte Dschagannath. Nach einer kleinen Weile rief der Knabe: »Jetzt ist es Nacht, Großvater; komm, laß uns gehen.« »Die Leute im Dorf sind noch nicht zu Bett«, flüsterte Dschagannath. Nitai wartete einen Augenblick, dann sagte er wieder: »Jetzt sind sie zu Bett, Großvater, ganz gewiß. Laß uns jetzt gehen!« Die Nacht rückte vor. Der Schlaf legte sich schwer auf die Lider des armen Jungen, und er mußte gewaltige Anstrengungen machen, um wach zu bleiben. Um Mitternacht ergriff Dschagannath des Knaben Arm und verließ das Haus. Sie tasteten sich durch die dunklen Straßen des schlafenden Dorfes. Kein Laut unterbrach die Stille, nur ab und zu heulte irgendwo ein Hund, und dann stimmten alle Hunde ringsum im Chor ein; oder ein Nachtvogel, der durch den Laut von Menschentritten zu dieser ungewohnten Stunde aufgeschreckt war, flatterte dicht an ihnen vorbei. Nitai zitterte vor Angst und klammerte sich an Dschagannaths Arm. Sie durchquerten manches Feld, und endlich kamen sie an ein Sumpfdickicht, wo ein verfallener leerer Tempel stand. »Ach, hier ist es!« rief Nitai enttäuscht. Er hatte sich den Ort ganz anders gedacht. Hierbei war nichts besonders Geheimnisvolles. Wie oft hatte er, seit er von Hause fortgelaufen war, die Nacht in solchem verlassenen Tempel zugebracht. Es war zwar ein ganz guter Ort zum Versteckenspielen, aber es war doch leicht möglich, daß seine Kameraden ihn hier aufstöberten. Dschagannath trat hinein und hob von der Mitte der Diele eine Steinfliese. Der erstaunte Knabe erblickte einen unterirdischen Raum, in dem eine Lampe brannte. Furcht und Neugierde kämpften in seinem kleinen Herzen. Dschagannath stieg auf einer Leiter hinab, und Nitai folgte ihm. Als der Knabe sich umsah, sah er rings an den Wänden lauter eherne Krüge. In der Mitte lag ein Gebetteppich ausgebreitet, und davor waren Zinnober, Sandelpaste, Blumen und andere Dinge, die man zur Pudscha[11] brauchte, bereitgelegt. Um seine Neugier zu befriedigen, langte der Knabe in einen der Krüge und nahm etwas von dem Inhalt heraus. Es waren Rupien und Goldmünzen. [11] pûjâ = gottesdienstliche Verehrung, wie sie Göttern oder auch Menschen, denen eine besondere Würde eignet, erwiesen wird. Dschagannath wandte sich zu dem Knaben. »Ich habe dir gesagt, Nitai, daß ich dir all mein Geld geben würde. Ich habe nicht viel, diese Krüge sind alles, was ich besitze. Diese will ich dir heute übergeben.« Der Knabe sprang hoch vor Freude. »Alle?« rief er. »Du nimmst mir aber auch keine einzige Rupie wieder davon weg, nicht wahr?« »Wenn ich das tue,« sagte der alte Mann in feierlichem Ton, »so möge meine Hand aussätzig werden. Aber ich stelle dir eine Bedingung. Wenn jemals mein Enkel, Gokul Tschandra, oder sein Sohn oder sein Enkel oder Urenkel oder irgendeiner seiner Nachkommen des Weges hierher kommen sollte, so mußt du ihm oder ihnen alles bis auf die letzte Rupie übergeben.« Der Knabe dachte, der Alte rede irre. »Gut«, erwiderte er. »So setze dich auf diesen Teppich«, sagte Dschagannath. »Warum?« »Weil dir Pudscha erwiesen werden muß.« »Aber wozu?« fragte der Knabe bestürzt. »Das ist so die Vorschrift.« Der Knabe hockte auf dem Teppich nieder, wie ihm gesagt war. Dschagannath bestrich seine Stirn mit Sandelpaste, machte ihm ein rotes Mal zwischen die Augenbrauen, legte ihm einen Blumenkranz um den Nacken und begann, Zaubersprüche herzusagen. Dem armen Nitai war sehr bang zumute, als er so dasaß wie ein Gott und die Zaubersprüche anhörte. »Großvater«, flüsterte er. Aber Dschagannath antwortete nicht, sondern fuhr fort, seine Zaubersprüche zu murmeln. Zum Schluß schleppte er mit großer Mühe die Krüge, einen nach dem andern, vor den Knaben hin und ließ ihn das folgende Gelübde nachsprechen: »Ich verspreche feierlich, daß ich diesen ganzen Schatz Gokul Tschandra Kundu, dem Sohn Brindaban Kundus, dem Enkel Dschagannath Kundus, übergeben werde, oder dem Sohn oder Enkel oder Urenkel des genannten Gokul Tschandra Kundu oder irgendeinem seiner Nachkommen oder rechtmäßigen Erben.« Der Knabe wiederholte diese Worte immer wieder bei jedem Krug, bis er ganz betäubt und seine Zunge wie gelähmt war. Als die Zeremonie zu Ende war, war die Luft in der Höhle ganz dick von dem Rauch der irdenen Lampe und dem Atemgift der beiden. Dem Knaben war der Gaumen trocken wie Staub, und alle seine Glieder brannten ihm. Er erstickte fast. Die Lampe wurde trüber und trüber und ging dann ganz aus. In der vollständigen Dunkelheit, die nun folgte, konnte Nitai hören, wie der Alte die Leiter hinaufkletterte. »Großvater, wohin gehst du?« rief er angstvoll. »Ich gehe jetzt fort,« erwiderte Dschagannath, »du bleibst hier. Niemand wird dich finden. Vergiß nicht den Namen Gokul Tschandra, Sohn Brindabans und Enkel Dschagannaths.« Dann zog er die Leiter fort. Mit angsterstickter Stimme flehte der Knabe: »Ich möchte zurück zu meinem Vater!« Dschagannath legte die Steinplatte wieder an ihren Platz. Dann kniete er nieder und legte sein Ohr an den Stein. Er hörte noch einmal Nitais Stimme: »Vater« -- dann kam ein Geräusch, als ob ein schwerer Gegenstand zu Boden fiel -- dann war alles still. Nachdem Dschagannath so seinen Reichtum einem Yak[12] übergeben hatte, begann er, den Stein mit Erde zuzudecken. Dann häufte er zerbrochene Mauersteine und losen Mörtel darüber. Obenauf pflanzte er Grasbüschel und Waldgewächse. Die Nacht war fast vergangen, aber er konnte sich nicht von dem Orte losreißen. Immer wieder legte er sein Ohr an den Boden und horchte. Es war ihm, als ob von tief, tief unten -- aus dem Innern der Erde herauf -- ein Wehklagen ertönte. Es war ihm, als ob der Nachthimmel von diesem einen Laut überflutet wäre, als ob die ganze Menschheit, vom Schlummer aufgeschreckt, sich in ihrem Bett aufrichtete und horchte. [12] Yak oder Yakscha ist ein übernatürliches Wesen, von dem die altindische Sage und Dichtung berichtet. In Bengalen versteht man heutzutage unter einem Yak einen Geist, der einen Schatz zu bewachen hat, wie in dieser Geschichte. Der Alte häufte wie rasend Erde auf Erde auf den Stein. Er wollte jenen Ton irgendwie ersticken, aber immer kam es ihm vor, als hörte er »Vater!« Er schlug mit aller Kraft auf den Boden und rief: »Sei still, sonst hören dich die Leute!« Aber immer noch glaubte er den Ruf »Vater« zu hören. Die Sonne erleuchtete den östlichen Horizont. Da verließ Dschagannath den Tempel und kam hinaus aufs freie Feld. Doch auch da rief plötzlich jemand: »Vater!« Erschrocken wandte er sich um und sah seinen Sohn dicht hinter sich. »Vater,« sagte Brindaban, »ich höre, daß mein Junge sich in deinem Hause verbirgt. Ich muß ihn wiederhaben.« Mit weitaufgerissenen Augen und verzerrtem Mund beugte der Alte sich vor und rief: »Dein Junge?« »Ja, mein Gokul. Er heißt jetzt Nitai Pal, und ich selbst nenne mich Damodar Pal. Dein >Ruhm< hat sich in der Nachbarschaft so weit verbreitet, daß ich unsere Herkunft verbergen mußte, weil die Menschen sich sonst geweigert hätten, unseren Namen auszusprechen.« Langsam hob der alte Mann beide Arme über den Kopf. Seine Finger begannen sich krampfartig zu bewegen, als ob er versuchte, nach irgend etwas in der Luft zu greifen. Dann fiel er zu Boden. Als er wieder zur Besinnung kam, zog er seinen Sohn nach dem verlassenen Tempel. Als sie beide drinnen waren, sagte er: »Hörst du irgend etwas klagen?« »Nein«, sagte Brindaban. »Höre einmal scharf hin! Hörst du nicht jemanden >Vater< rufen?« »Nein.« Dies schien ihn sehr zu erleichtern. Von diesem Tage an pflegte er umherzugehen und die Leute zu fragen: »Hört ihr nicht etwas klagen?« Sie lachten über den kindischen Alten. Etwa vier Jahre später lag Dschagannath im Sterben. Als das Licht der Welt allmählich seinen Augen entschwand und das Atmen ihm immer schwerer wurde, richtete er sich plötzlich wie im Fieberwahn auf. Er warf beide Hände in die Luft, als ob er nach etwas tastete, und murmelte: »Nitai, wer hat mir die Leiter weggenommen?« Unfähig, die Leiter zu finden, um aus seinem furchtbaren Kerker herauszuklettern, wo kein Licht zu sehen und keine Luft zum Atmen war, fiel er auf sein Lager zurück und entschwand in jene Region, wo noch niemals jemand gefunden wurde im ewigen Versteckspiel der Welt. Ereignisse, wie das in dieser Geschichte erzählte, die jetzt glücklicherweise der Vergangenheit angehören, waren früher in Bengalen durchaus nicht selten. Unser Dichter weicht jedoch etwas von den landläufigen Berichten ab. Geizige Menschen nahmen zu solchem abergläubischen Treiben ihre Zuflucht, um selbst in einer zukünftigen Existenz wieder in den Besitz des Schatzes zu kommen. »Wenn du mich in einer künftigen Existenz des Weges kommen siehst«, so lautete die gewöhnliche Formel des Auftrages, den man dem Opfer mitgab, bevor es zum »Yak« wurde, »mußt du mir diesen ganzen Schatz übergeben. Bewahre ihn bis dahin und rühre dich nicht!« In unserer Kindheit hörten wir viele »wahre« Geschichten von Leuten, die plötzlich reich geworden waren durch die Begegnung mit solchen geisterhaften Wächtern ihres Reichtums aus einer früheren Existenz. DIE ÄLTERE SCHWESTER I Nachdem Tara den andern Frauen des Dorfes ausführlich berichtet, welch bösen, tyrannischen Gatten ihre unglückliche Nachbarin habe, und alle seine Missetaten aufgezählt hatte, sprach sie ihm kurz und bündig das Urteil: »Möge Feuer solchem Manne die Zunge verbrennen!« Diese Worte verletzten Dschoygopal Babus Frau; es geziemte einem Weibe unter keinen Umständen, ein anderes Feuer als das einer Zigarre in eines Gatten Mund zu wünschen. Als sie daher jenem Urteil sanft widersprach, rief die hartherzige Tara mit doppelter Heftigkeit: »Ich wollte lieber in sieben Leben nacheinander Witwe werden als die Frau eines solchen Mannes.« Und damit hob sie die Versammlung auf und ging fort. Sasi dachte bei sich: Ich kann mir keine Kränkung von seiten eines Gatten vorstellen, die das Herz so verhärten könnte. Und wie sie darüber nachdachte, wallte all die Zärtlichkeit ihres liebenden Herzens für ihren eigenen Gatten, der jetzt fern war, in ihr auf. Sie warf sich mit ausgestreckten Armen auf die Seite des Bettes, wo ihr Gatte zu liegen pflegte, sie küßte das leere Kissen und sog den Duft seines Hauptes ein. Dann schloß sie die Tür, holte aus einem hölzernen Kästchen eine alte, fast ganz verblichene Photographie mit seinen Schriftzügen und saß lange da, in Anschaun versunken. So verbrachte sie die stille Mittagszeit, allein in ihrem Zimmer, alten Erinnerungen hingegeben, und manch heiße Sehnsuchtsträne rann über ihr Antlitz. Die Ehe zwischen Sasikala und Dschoygopal war nicht mehr jung. Sie waren früh verheiratet und hatten Kinder. Die lange Gewohnheit des Umgangs hatte ihr Leben in gemächlicher Alltäglichkeit dahinfließen lassen. Auf keiner Seite hatte sich je eine Spur großer Leidenschaft gezeigt. Sie hatten sechzehn Jahre ununterbrochen zusammen gelebt, als ihr Gatte plötzlich aus geschäftlichen Gründen von Hause abgerufen wurde, und nun erwachte ein starkes Liebesbedürfnis in Sasis Herzen. Da die Trennung das Band zwischen ihnen straffer spannte, zog sich der Knoten noch fester, und die Leidenschaft, die Sasi bisher gar nicht in sich gespürt hatte, preßte ihr das Herz jetzt schmerzhaft zusammen. So geschah es, daß Sasi nach so vielen langen Jahren, in ihrem Alter und obgleich sie längst Mutter von Kindern war, an diesem Frühlingsmittag auf ihrem vereinsamten Ehebett liegend, den süßen Traum bräutlicher Jugend zu träumen begann; die Musik jener Liebe, die sie bisher nie vernommen hatte, drang plötzlich an ihr Ohr und spann sie in ihren Zauber ein wie der murmelnde Sang eines Flusses. Sie wanderte den Fluß hinauf und sah an beiden Ufern manch goldenen Palast und manchen schattigen Hain; aber ihr Fuß fand unter den entschwundenen Glückshoffnungen keinen Halt mehr. Da sagte sie sich, daß, wenn ihr Gatte erst zurückkäme, ihr Leben nicht wieder so leer dahinrinnen, daß der Frühling nicht wieder vergeblich an ihre Tür klopfen sollte. Wie oft hatte sie mit müßigem Streit und kleinlichem Zank ihren Gatten gequält! Mit der ganzen Einfalt eines reuigen Herzens gelobte sie sich, ihm nie wieder Ungeduld zu zeigen, niemals sich seinen Wünschen zu widersetzen, alle seine Befehle gehorsam hinzunehmen und in allem, im Guten wie im Bösen, mit liebevollem Herzen seinen Willen zu tun; denn für sie war der Gatte das Ein und Alles, der höchste Gegenstand der Liebe, ja, ein Gott. Sasikala war die einzige Tochter und das Schoßkind ihrer Eltern. Darum machte Dschoygopal, der selbst nur ein kleines Vermögen hatte, sich keine Sorgen um die Zukunft. Sein Schwiegervater hatte genug, daß sie in einem Dorfe mit fürstlichem Aufwand leben konnten. Da wurde Sasikalas Vater noch in seinem Alter ein Sohn geboren. Man muß gestehen, daß Sasi von diesem unerwarteten unschicklichen und ungerechten Benehmen ihrer Eltern sehr schmerzlich berührt war, und auch Dschoygopal war nicht gerade erfreut darüber. Die ganze Liebe der Eltern richtete sich jetzt auf diese späte Frucht ihres Alters, und als der neuangekommene, winzige, schläfrige Schwager mit seinen beiden schwachen kleinen Fäustchen alle Hoffnungen und Erwartungen Dschoygopals an sich riß, da nahm dieser eine Stelle in einem Teegarten in Assam an. Seine Freunde rieten ihm dringend, doch mehr in der Nähe Beschäftigung zu suchen, aber sei es nun aus einem allgemeinen Gefühl des Grolls oder weil er die guten Aussichten auf schnelles Emporkommen in einem Teegarten kannte, Dschoygopal wollte auf niemanden hören. Er schickte Frau und Kinder zu seinem Schwiegervater und reiste nach Assam. Es war die erste Trennung der Gatten, seit sie verheiratet waren. Dies Ereignis machte Sasikala sehr zornig auf ihren kleinen Bruder. Der Groll, der nicht über die Lippen kommen darf, frißt um so mehr am Herzen. Wenn der kleine Bursche nach Herzenslust sog und schlief, fand seine große Schwester hundert Gründe zur Unzufriedenheit. Bald war der Reis kalt, oder die Knaben kamen zu spät zur Schule, oder was es sonst war. Tag und Nacht plagte sie sich und andere mit ihren ärgerlichen Launen. Aber nach kurzer Zeit starb die Mutter des Kindes. Vor ihrem Tode übergab sie den kleinen Sohn der Sorge ihrer Tochter. Da eroberte das mutterlose Kind schnell das Herz seiner Schwester. Laut schreiend streckte er seine Ärmchen nach ihr aus und versuchte mit aller Anstrengung ihren Mund, Nase und Augen in sein eigenes kleines Mäulchen zu bekommen; er packte mit seinen kleinen Fäustchen ihr Haar und wollte es nicht wieder loslassen; wenn er vor Tagesanbruch erwachte, wälzte er sich zu ihr hinüber, und sie fühlte die wohlige Wärme seines Körperchens und hörte seinem Lallen wie dem Plätschern eines Bächleins zu; später nannte er sie Dschidschi und Dschidschima und tyrannisierte sie ganz regelrecht, indem er bald verbotene Dinge tat, bald von verbotenen Speisen naschte, bald an verbotene Orte lief. Da konnte Sasi ihm nicht länger widerstehen. Sie ergab sich bedingungslos diesem eigenwilligen kleinen Tyrannen. Seit das Kind keine Mutter mehr hatte, hatte es Macht über sie bekommen. II Der Name des Knaben war Nilmani. Als er zwei Jahre alt war, wurde sein Vater ernstlich krank. Dschoygopal erhielt einen Brief mit der Bitte, so schnell wie möglich zu kommen. Als er mit viel Mühe Urlaub erhalten hatte und ankam, lag Kaliprasanna schon im Sterben. Vor seinem Tode übergab er seinen Sohn der Sorge Dschoygopals und vermachte seiner Tochter den vierten Teil seines Besitzes. Nun gab Dschoygopal seine Stellung auf und kam nach Hause, um nach seinem Eigentum zu sehen. Nach langer Trennung sahen sich die Gatten wieder. Wenn irgendein Ding zerbricht, so kann man die Teile wieder zusammenfügen. Aber wenn zwei Menschen getrennt werden, so fügen sie sich nach langer Trennung nie wieder an derselben Stelle und zur gleichen Zeit zusammen; denn die Seele ist ein lebendes Wesen und wächst und wandelt sich jeden Augenblick. In Sasi weckte die Wiedervereinigung neue Gefühle. Die Erstarrung jahrelanger Gewohnheit in der früheren Zeit ihrer Ehe war durch die Sehnsucht der Trennungszeit gänzlich gelöst, und es war ihr jetzt, als ob ihr der Gatte enger als je wieder verbunden würde. Hatte sie sich doch im Herzen gelobt: was für Tage auch kommen und wie lange sie auch dauern möchten, nie sollte der Glanz dieser Liebe zu ihrem Gatten sich trüben. Dschoygopal jedoch empfand anders bei dieser Wiedervereinigung. Als sie früher beständig zusammengewesen waren, hatten ihn seine Interessen und Eigenheiten an sein Weib gebunden. Sie war damals eine lebendige Wahrheit in seinem Leben, und das Gewebe seiner täglichen Gewohnheiten hätte einen großen Riß bekommen, wenn sie plötzlich gefehlt hätte. Daher fühlte er sich, als er zuerst sein Heim verließ, ganz verloren. Aber mit der Zeit wurde dieser Riß in seiner Gewohnheit durch eine neue Gewohnheit wieder zugeflickt. Und dies war nicht alles. Früher hatte er ganz sorglos und träge dahingelebt. In den letzten beiden Jahren war der Trieb, seine Lage zu verbessern, in ihm so mächtig geworden, daß er an nichts anders dachte. In der Heftigkeit dieser neuen Leidenschaft schien ihm sein früheres Leben wie ein wesenloser Schatten. In der Natur der Frau werden die größten Veränderungen durch die Liebe bewirkt, in der des Mannes durch den Ehrgeiz. Als Dschoygopal nach zwei Jahren zurückkehrte, fand er, daß seine Frau nicht ganz dieselbe geblieben war. Ihr Leben hatte durch seinen kleinen Schwager an Umfang gewonnen. Dieser Teil ihres Lebens war ihm ganz fremd -- hier hatte er keine Gemeinschaft mit seinem Weibe. Sie gab sich alle Mühe, ihn an ihrer Liebe für das Kind teilnehmen zu lassen, aber man kann nicht sagen, daß es ihr gelang. Sasi kam wohl mit dem Kinde auf dem Arm zu ihm und hielt es ihm lächelnd entgegen -- aber Nilmani umklammerte Sasis Nacken und verbarg sein Gesicht an ihrer Schulter und wollte von der andern Verwandtschaft nichts wissen. Sasi wollte, daß ihr kleiner Bruder Dschoygopal all die Künste vormachte, womit er die Herzen zu gewinnen pflegte. Aber Dschoygopal lag gar nichts daran. Wie konnte das Kind dann Lust dazu haben? Dschoygopal konnte gar nicht begreifen, was an diesem dickköpfigen Kinde mit dem ernsten, bräunlichen Gesicht sei, daß man so viel Liebe an ihn verschwenden solle. Frauen verstehen solche Dinge schnell. Sasi verstand sofort, daß Dschoygopal Nilmani nicht leiden mochte. Und von nun an hielt sie ihren Bruder sorgfältig im Hintergrund, um ihn vor dem lieblosen, abweisenden Blick ihres Mannes zu schützen. So wurde das Kind für sie ein heimlich gehüteter Schatz, der Gegenstand ihrer einsamen Liebe. Dschoygopal war sehr ärgerlich, wenn Nilmani schrie; daher suchte Sasi das Kind immer schnell zu beruhigen, indem sie es zärtlich an sich drückte und ihm liebkosend zusprach. Und wenn Nilmanis Schreien des Nachts Dschoygopal einmal im Schlafe störte und Dschoygopal gefoltert aufbegehrte und über das Kind schalt, so zitterte Sasi innerlich und fühlte sich gedemütigt und schuldig. Dann nahm sie das Kind auf ihren Schoß und setzte sich mit ihm in die entfernteste Ecke und schmeichelte es mit tausend zärtlich geflüsterten Liebesworten wie: »mein goldiger Schatz, mein Augenlicht, mein holdes Kleinod« wieder in Schlaf. Kinder zanken sich um hundert Kleinigkeiten. Sonst pflegte Sasi in solchen Fällen ihre Kinder zu bestrafen und ihres Bruders Partei zu nehmen, da er ja keine Mutter hatte. Jetzt veränderte sich mit dem Richter auch das Gesetz. Nilmani mußte oft unschuldig schwere Strafe erleiden, ohne daß Dschoygopal untersuchte, wer der Schuldige war. Dies Unrecht traf Sasi wie ein Dolch ins Herz; sie nahm ihren bestraften Bruder in ihr Zimmer und suchte, so gut sie konnte, mit Süßigkeiten und Spielsachen und durch Küsse und Liebkosungen sein gekränktes Herz zu trösten. Je mehr Sasi Nilmani liebte, desto mehr ärgerte sich Dschoygopal über ihn. Und wiederum, je mehr Dschoygopal seine Abneigung gegen Nilmani zeigte, desto mehr badete Sasi das Kind in dem Nektar ihrer Liebe. Und wenn Dschoygopal seine Frau rauh behandelte, so diente sie ihm mit schweigender Sanftmut und liebevoller Güte. Aber innerlich verletzten sie sich jeden Augenblick Nilmanis wegen. Dies heimliche Aneinanderreiben bei einem solchen Konflikt ist viel schwerer zu ertragen als ein offener Zusammenstoß. III Nilmanis Kopf war das Größte an ihm. Es war, als ob der Schöpfer eine große Blase durch ein dünnes Rohr aufgeblasen hätte. Die Ärzte fürchteten zuweilen, daß das Kind auch einmal schnell wie eine Blase dahinschwinden könnte. Es lernte sehr spät sprechen und gehen. Wenn man sein ernstes, trauriges Gesicht sah, so hätte man denken können, daß seine Eltern die ganze traurige Last ihres Alters auf das Haupt dieses kleinen Kindes abgeladen hätten. Dank der sorgfältigen Pflege seiner Schwester überstand Nilmani die gefährliche Periode der Kinderkrankheiten und war nun schon fünf Jahre alt. Im Monat Kartik[13] am Bhaiphoto-Tag[14] hatte Sasi Nilmani wie einen kleinen Babu herausgeputzt mit Rock und Tschadar[15] und rotumsäumtem Lendentuch und war dabei, das Bruderzeichen auf seine Stirn zu malen, als ihre freimütige Nachbarin Tara hereinkam und anfing, mit ihr zu zanken. [13] Mitte Oktober bis Mitte November. [14] Wörtlich Bruderzeichen. Ein schöner und rührender Brauch bei den Hindus: die Schwester macht mit Sandelpaste ein Zeichen auf die Stirn ihres Bruders und spricht eine Formel aus, kraft deren sie »vor das Tor Jamas, des Todesgottes, eine Schranke setzt« (d. h. ihm langes Leben wünscht). Bei dieser Gelegenheit bewirten die Schwestern ihre Brüder, machen ihnen Geschenke usw. (Anm. d. engl. Übersetz.) [15] Eine Art Plaid, das als Mantel getragen wird. »Es hat keinen Zweck,« rief sie, »dem Bruder mit so viel Prunk und Staat das Bruderzeichen zu geben, wenn man ihn im geheimen seines Eigentums beraubt.« Sasi war wie vom Donner gerührt. Staunen, Wut und Schmerz kämpften in ihr. Tara wiederholte ihr das Gerücht, Sasi und ihr Mann hätten sich den Plan ausgeheckt, das Besitztum des minderjährigen Nilmani wegen rückständiger Pacht zum Verkauf zu stellen und es durch einen Vetter Dschoygopals für sich ankaufen zu lassen. Als Sasi dies hörte, stieß sie den Fluch aus, daß denen, die eine so schreckliche Lüge verbreiteten, die Zunge gelähmt werden möge. Dann ging sie weinend zu ihrem Manne und erzählte ihm von der Klatscherei. Dschoygopal sagte: »Man kann heutzutage doch niemandem trauen. Upen ist der Sohn meiner Tante, und ich fühlte mich ganz sicher, als ich ihm die Sorge für das Besitztum überließ. Wenn ich nur den geringsten Verdacht gehabt hätte, so hätte es nicht geschehen können, daß er das Gut Hasilpur in Zahlungsrückstand geraten ließ und es nachher heimlich für sich ankaufte.« »Willst du ihn denn nicht verklagen?« fragte Sasi erstaunt. »Den eigenen Vetter verklagen!« rief Dschoygopal. »Außerdem würde es gar nichts nützen, es wäre bloße Geldverschwendung.« Es war Sasis vornehmste Pflicht, den Worten ihres Gatten zu glauben, aber sie konnte es nicht. Ihr glückliches Heim, ihr liebendes Wirken im Hause wurde ihr verhaßt. Das Familienleben, das einst ihre höchste Zuflucht gewesen war, war für sie jetzt nichts mehr als ein grausames Netz von Selbstsucht, das Bruder und Schwester von allen Seiten umstrickte. Sie war eine Frau und stand allein, wie sollte sie den hilflosen Nilmani retten? Je mehr sie grübelte, je mehr füllte sich ihr Herz mit Abscheu gegen ihren Gatten und mit unendlicher Liebe für ihren gefährdeten kleinen Bruder. Wenn sie nur gewußt hätte, wie sie es machen sollte, so wäre sie gern zum Lat Saheb[16] gegangen, ja sie hätte der Maharani[17] selbst geschrieben, daß sie das Eigentum ihres Bruders rettete. Die Maharani hätte sicher nicht geduldet, daß Nilmanis Gut Hasilpur mit einem jährlichen Einkommen von 758 Rupien verkauft würde. [16] Vizekönig. [17] Der Königin. Als Sasi so bei sich überlegte, wie sie ihres Mannes Vetter zur Rechenschaft ziehen könnte, indem sie sich an die Maharani selbst wandte, wurde Nilmani plötzlich von Fieber und Krämpfen ergriffen. Dschoygopal rief den Dorfarzt. Als Sasi ihn bat, einen besseren Arzt zu holen, sagte Dschoygopal: »Ach was, Matilal versteht seine Sache ganz gut.« Sasi fiel ihm zu Füßen und beschwor ihn bei ihrem Leben, worauf Dschoygopal sagte: »Gut, ich werde den Arzt aus der Stadt schicken.« Sasi kauerte auf dem Bette mit Nilmani im Schoß; er wollte sie auch keinen Augenblick aus den Augen lassen; er klammerte sich an sie, damit sie ihm nicht unter irgendeinem Vorwand entschlüpfte, selbst im Schlaf ließ er ihr Kleid nicht los. So verging der ganze Tag, und abends kam Dschoygopal und sagte, daß der Doktor nicht zu Hause sei, er sei fort zu einem entfernten Kranken. Er fügte hinzu, er selbst müsse noch am selben Abend wegen eines Prozesses fortreisen und habe Matilal Bescheid gesagt, der sich regelmäßig nach dem Kranken umsehen wolle. In der Nacht begann Nilmani im Schlaf zu phantasieren. Sobald der Morgen dämmerte, nahm Sasi, ohne sich im geringsten zu bedenken, ein Boot und fuhr mit ihrem kranken Bruder zum Arzt. Der Arzt war zu Hause -- er war gar nicht aus der Stadt fortgewesen. Er fand schnell ein Unterkommen für sie, und nachdem er sie der Fürsorge einer ältlichen Witwe übergeben hatte, unternahm er die Behandlung des Knaben. Am nächsten Tage kam Dschoygopal. Kochend vor Wut gebot er seiner Frau, sofort mit ihm nach Hause zurückzukehren. »Und wenn du mich kurz und klein schlägst, so kehre ich doch nicht zurück«, erwiderte sie. »Ihr alle wollt meinen Nilmani umbringen, der nicht Vater noch Mutter, der niemand als mich hat, aber ich will ihn retten.« »Dann bleibst du hier und kommst nicht wieder in mein Haus zurück«, rief Dschoygopal zornig. Da fuhr Sasi endlich auf. »_Dein_ Haus! Das Haus gehört meinem Bruder!« »Gut, wir werden sehen«, sagte Dschoygopal. Die Nachbarn erhoben einen großen Lärm über diesen Vorfall. »Wenn du mit deinem Mann zanken willst,« sagte Tara, »so tu es zu Hause. Wozu mußt du ihm davonlaufen? Er ist doch immer dein Gatte.« Es gelang Sasi, indem sie alles Geld, was sie bei sich hatte, ausgab und ihre Schmucksachen verkaufte, ihren Bruder aus dem Rachen des Todes zu retten. Da hörte sie, daß ihr großes Besitztum Dwarigram, auf dem ihr Wohnhaus stand und dessen jährliche Einkünfte mehr als 1500 Rupien betrugen, mit Hilfe des Zemindars[18] von Dschoygopal auf seinen eigenen Namen umgeschrieben worden war. Jetzt gehörte also das ganze Besitztum nicht mehr ihrem Bruder, sondern ihnen. [18] Der von der Regierung gegen eine Pachtsumme angestellte Hauptpächter eines Landstriches mit dem Recht der Unterverpachtung. Als Nilmani sich von seiner Krankheit erholt hatte, bat er immer wieder kläglich: »Laß uns nach Hause gehen, Schwester.« Er hatte Heimweh nach seinen Neffen und Nichten, seinen Gespielen. Daher sagte er immer wieder: »Laß uns heimgehen, Schwester, in unser altes Haus zurück.« Sasi weinte, wenn er so bat. Wo war ihr Heim? Aber das Weinen nützte nichts. Ihr Bruder hatte niemanden auf der Welt als sie. Das sagte sich Sasi. So wischte sie denn ihre Tränen ab, ging in das Haus des stellvertretenden Friedensrichters, Tarini Babu, und bat seine Gattin, ihr zu helfen. Der stellvertretende Friedensrichter kannte Dschoygopal. Daß eine Frau ihr Haus verließ und wegen Eigentumssachen mit ihrem Manne Streit anfing, brachte ihn sehr gegen Sasi auf. Doch ließ er sich nichts merken, er schrieb sofort an Dschoygopal und hielt Sasi eine Zeitlang hin. Dschoygopal kam, setzte seine Frau und seinen Schwager mit Gewalt in ein Boot und brachte sie nach Hause. So waren die Gatten nach einer zweiten Trennung zum zweitenmal wieder vereint. So wollte es Pradschapati[19]. [19] Der Gott der Ehe bei den Hindus. Nilmani war vollkommen glücklich, daß er nach langer Abwesenheit seine alten Gespielen wieder hatte. Wie Sasi seine ahnungslose Freude sah, war es ihr, als ob ihr das Herz brechen wollte. IV Der Friedensrichter bereiste während der kühlen Jahreszeit das Land und schlug sein Zelt im Dorf auf, um zu jagen. Auf der Dorfwiese traf der Sahib Nilmani. Die andern Knaben gingen dem großen Herrn wie einem gefährlichen Untier weit aus dem Wege. Aber Nilmani blieb unerschrocken stehen und starrte den Sahib ernsthaft und neugierig an. Der Sahib ging belustigt auf ihn zu und fragte auf Bengalisch: »Du gehst in die Dorfschule?« Der Knabe nickte stumm. »Was für pustaks[20] liest du?« fragte der Sahib. [20] Ein gelehrtes Wort für Bücher. Da Nilmani das Wort pustak nicht verstand, starrte er den Friedensrichter nur weiter schweigend an. Zu Hause erzählte Nilmani seiner Schwester mit großer Begeisterung von dieser Begegnung. Am Mittag ging Dschoygopal, mit Beinkleidern, langem Rock und Turban angetan, um dem Sahib seine Aufwartung zu machen. Ein Schwarm von Bittstellern, Dienern und Polizisten standen um ihn herum. Da der Sahib die Hitze fürchtete, hatte er sich draußen vor dem Zelt an einem kühlen schattigen Platz an den Gerichtstisch gesetzt, und nachdem er Dschoygopal einen Stuhl hatte bringen lassen, fragte er ihn, wie alles im Dorfe stände. Als Dschoygopal so vor aller Augen auf dem Ehrensitz Platz nahm, schwoll sein Selbstgefühl gewaltig, und er dachte, wie schön es wäre, wenn jetzt einer von den Tschakrabartis oder Nandis käme und ihn da sähe. In diesem Augenblick kam eine Frau, das Antlitz dicht verhüllt und Nilmani an der Hand führend, geradewegs auf den Friedensrichter zu. »Sahib,« sagte sie, »Ihrem Schutz übergebe ich meinen hilflosen Bruder. Retten Sie ihn.« Der Sahib, der den ernsten Knaben mit dem großen Kopfe sogleich wiedererkannte und sich sagte, daß die Frau sicher einer angesehenen Familie angehörte, stand sogleich auf und bat sie, in sein Zelt einzutreten. Doch die Frau sagte: »Was ich zu sagen habe, will ich hier sagen.« Dschoygopal erbleichte. Für die neugierigen Dorfbewohner war die Geschichte ein Hauptspaß, und sie drängten sich heran. Aber sobald der Sahib seinen Stock erhob, machten sie sich davon. Noch immer die Hand des Bruders haltend, erzählte Sasi die Geschichte dieses Waisenkindes von Anfang an. Sobald Dschoygopal versuchte, sie zu unterbrechen, donnerte ihn der Friedensrichter mit zornrotem Gesicht an: »Schweig!« und machte ihm mit dem Stock ein Zeichen, sich zu erheben und stehenzubleiben. Dschoygopal, der innerlich vor Wut schäumte, stand stumm da. Nilmani schmiegte sich an seine Schwester und hörte scheu und furchtsam zu. Als Sasi ihre Erzählung beendet hatte, richtete der Sahib ein paar Fragen an Dschoygopal, und nachdem er seine Antworten gehört hatte, schwieg er eine ganze Weile. Dann wandte er sich an Sasi: »Gute Frau,« sagte er, »wenn auch diese Angelegenheit eigentlich nicht vor mein Gericht gehört, so können Sie doch gewiß sein, daß ich die nötigen Schritte tun werde, um Ihnen zu helfen. Sie können ohne Sorge mit Ihrem Bruder nach Hause gehen.« Doch Sasi erwiderte: »Sahib, solange das Haus nicht ihm gehört, wage ich nicht, ihn dahin zu bringen. Wenn Sie selbst nicht Nilmani bei sich behalten, wird niemand anders ihn retten können.« »Und was soll aus Ihnen werden?« fragte der Sahib. »Ich werde in meines Gatten Haus zurückkehren«, sagte Sasi; »für mich ist nichts zu fürchten.« Der Sahib lächelte ein wenig zweifelnd, und da ihm nichts anderes übrigblieb, so willigte er ein, diesen mageren, dunklen, ernsten, gesetzten vornehmen bengalischen Knaben, dessen Hals dicht mit Amuletten behängt war, in seine Obhut zu nehmen. Als Sasi fortgehen wollte, klammerte der Knabe sich an ihr Kleid. »Hab' keine Angst, baba, -- komm«, sagte der Sahib. Während die Tränen hinter ihrem Schleier flossen, sagte Sasi: »Ja, geh, mein Bruder, mein geliebter Bruder -- du wirst deine Schwester wiedersehen!« Damit umarmte sie ihn, strich ihm noch einmal liebkosend über Kopf und Rücken und riß sich dann eilig los, während der Sahib seinen linken Arm um ihn legte. Das Kind schrie auf: »Schwester, o meine Schwester!« Sasi wandte sich jäh um und streckte noch einmal stumm den Arm nach ihm aus, als wollte sie ihn trösten, dann eilte sie mit brechendem Herzen davon. Und wieder trafen die Gatten in dem altvertrauten Hause zusammen. So wollte es Pradschapati! Aber diese Vereinigung dauerte nicht lange. Denn bald darauf hörten die Dorfbewohner eines Morgens, daß Sasi in der Nacht an der Cholera gestorben und sofort eingeäschert sei. Niemand äußerte ein Wort darüber. Nur die Nachbarin Tara wollte mitunter mit etwas herausplatzen, aber die Leute brachten sie schnell mit erschrockenem »Pst« zum Schweigen. Sasi hatte beim Abschied ihrem Bruder versprochen, daß sie sich wiedersehen würden. Wo das Versprechen erfüllt wurde, kann niemand sagen. SUBHA Als man dem Mädchen den Namen Subhaschini[21] gab, wer hätte da ahnen können, daß sie stumm sein würde? Ihre beiden älteren Schwestern hießen Sukeschini[22] und Suhasini[23], und um der Gleichförmigkeit willen nannte der Vater seine jüngste Tochter Subhaschini. Sie wurde der Kürze wegen Subha genannt. [21] Die lieblich Plaudernde. [22] Die lieblich Gelockte. [23] Die lieblich Lächelnde. Die beiden älteren Schwestern waren mit den gewöhnlichen Unkosten und Schwierigkeiten verheiratet, und nun lag die jüngste Tochter wie eine stille Last auf dem Herzen der Eltern. Alle Menschen schienen zu meinen, daß sie, da sie nicht sprach, auch nicht fühlte; sie sprachen in ihrer Gegenwart ganz offen über ihre Zukunft und ihre eigenen Sorgen darüber. Sie hatte schon in ihrer frühesten Kindheit verstanden, daß sie ein Fluch für ihr Vaterhaus war, daher zog sie sich von den andern zurück und versuchte, abseits zu leben. Wenn sie sie nur alle vergessen wollten! Sie fühlte, daß sie es dann hätte ertragen können. Aber wer kann seinen Schmerz vergessen? Tag und Nacht quälte der Gedanke an sie die Eltern. Besonders die Mutter empfand sie als ein körperliches Gebrechen an sich selbst. Für die Mutter ist die Tochter noch mehr ein Teil ihrer selbst als der Sohn es sein kann; und ein Fehler an ihr ist für sie eine Quelle persönlicher Schmach. Banikantha, Subhas Vater, liebte sie eigentlich noch mehr als seine andern Töchter; aber die Mutter betrachtete sie mit Abneigung als einen Schandfleck am eigenen Leibe. Wenn Subha auch keine Sprache hatte, so hatte sie doch ein paar große, dunkle, von langen Wimpern beschattete Augen; und ihre Lippen bebten leise wie ein Blatt bei jedem Gedanken, der sie bewegte. Wenn wir unsere Gedanken in Worten ausdrücken wollen, so ist die Vermittlung gar nicht leicht zu finden. Es bedarf erst der Übersetzung, die oft ungenau ist, und dann werden wir mißverstanden. Aber ein Paar dunkle Augen brauchen nicht übersetzt zu werden, aus ihnen spricht die Seele unmittelbar. In ihnen eröffnet oder verschließt sich uns der Gedanke, leuchtet uns klar entgegen oder tritt düster hervor, steht ruhig und gelassen da wie der untergehende Mond oder schießt wie der Blitz hervor und erhellt einen Augenblick alles um sich her. Sie, die von ihrer Geburt an keine andere Sprache gekannt haben als das Zittern ihrer Lippen, lernen eine Sprache der Augen, die unendlich ausdrucksvoll ist; sie ist tief wie das Meer, klar wie der Himmel, in ihr spielen Licht und Schatten, Morgen- und Abendröte. Die Stummen haben etwas von der einsamen Größe der Natur selbst. Daher war es fast, als ob die andern Kinder Subha fürchteten; sie spielten fast nie mit ihr. Sie war schweigend und ohne Gefährten wie der stille Mittag. Das Dorf, wo sie lebte, hieß Tschandipur. Sein Fluß, der für einen Fluß Bengalens klein war, hielt sich in seinen engen Grenzen, wie ein Mädchen aus dem Mittelstande. Dieser geschäftige Streifen Wasser floß nie über seine Ufer, sondern erfüllte gewissenhaft seine Pflichten, als ob er ein Glied jeder Familie gewesen wäre, die an seinen Ufern wohnte. Zu beiden Seiten waren Häuser und Bäume, die die Ufer beschatteten. So wurde die Göttin des Flusses, wenn sie von ihrem Königsthron herabstieg, zur Gartengottheit jedes Heims und eilte, sich selbst vergessend, leichtfüßig und heiter von einer Aufgabe zur andern, unendlichen Segen spendend. Banikanthas Gehöft lag dicht am Fluß. Die vorüberfahrenden Schiffer konnten jede Hütte und jeden Schuppen desselben sehen. Ich weiß nicht, ob irgend jemand unter diesen Anzeichen von Wohlstand das kleine Mädchen bemerkte, die, wenn ihre Arbeit getan war, sich nach dem Flußufer schlich und dort saß. Denn hier vermißte sie die Gabe der Sprache nicht, hier sprach die Natur für sie. Das Murmeln des Baches, die Stimmen der Dorfleute, die Lieder der Schiffer, das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Bäume, alles floß zu _einer_ Sprache zusammen und wurde eins mit dem Zittern ihres Herzens. Es wurde zu einer großen Woge von Schall, die an ihr sehnsüchtiges Herz schlug. Dies Rauschen und Raunen in der Natur war die Sprache der armen Stummen, und in ihren dunklen Augen fand die Sprache der Welt um sie her ihren Ausdruck. Von den kleinen Heimchen, die im Gebüsch zirpten, bis zu den stillen Sternen über ihr war nichts, was nicht zu ihr sprach mit Zeichen und Gebärden, Weinen und Seufzen. Und in der tiefen Stille des Mittags, wenn die Schiffer und Fischerleute zum Essen gegangen waren, wenn die Dorfbewohner schliefen und die Vögel verstummt waren, wenn die Fährboote müßig am Ufer lagen, wenn die große, geschäftige Welt mit ihrer Arbeit haltmachte und plötzlich schweigend dastand wie ein einsamer, furchtbarer Riese, dann saßen unter dem weiten Himmelsdom, in der feierlichen Mittagsstille, die beiden allein und schweigend da: die stumme Natur und das stumme Mädchen -- die eine überströmt vom Sonnenlichte, die andere von einem kleinen Baum beschattet. Aber Subha war nicht ganz ohne Freunde. Im Stall waren zwei Kühe, Sarbaschi und Panguli. Sie hatten nie von ihren Lippen ihren Namen gehört, aber sie kannten ihren Schritt. Wenn sie auch keine Worte hatte, so hatte sie doch ein liebevolles Murmeln für sie, und sie verstanden ihr sanftes Gemurmel besser als alle Worte. Wenn sie sie liebkoste oder schalt oder sich zärtlich an sie schmiegte, so verstanden diese Tiere sie besser, als Menschen es hätten tun können. Subha kam zu ihnen in den Stall und schlang ihren Arm um Sarbaschis Nacken; sie rieb ihre Wange an der ihrer Freundin, und Panguli sah sie mit ihren großen gütigen Augen an und leckte ihr Gesicht. Das Mädchen kam dreimal am Tage regelmäßig zur bestimmten Zeit zu ihnen, aber auch dazwischen besuchte sie sie noch oft. Immer wenn sie Worte gehört hatte, die sie verletzten und ihr wehe taten, so kam sie zu diesen stummen Freunden. Es war, als ob sie in ihrem stillen, traurigen Blick ihre innere Not läsen. Sie drängten sich dicht an sie und rieben ihre Hörner sanft an ihren Armen und versuchten, sie in ihrer stummen, hilflosen Art zu trösten. Außer diesen beiden waren da noch ein paar Ziegen und ein Kätzchen, aber so nahe standen sie Subha doch nicht, wenn sie sich auch ebenso anhänglich zeigten. Das Kätzchen sprang bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, auf ihren Schoß, um dort sein Schläfchen zu halten, und schnurrte behaglich und dankbar, wenn Subhas weiche Finger ihm über Hals und Rücken strichen. Subha hatte aber auch unter der höheren Tiergattung einen Kameraden, und es ist schwer zu sagen, wie ihre Beziehungen zueinander waren, denn er konnte sprechen, und diese Gabe nahm ihnen die Möglichkeit, sich miteinander in der allgemeinen Natursprache zu verständigen. Er war der Jüngste von den Gosains, namens Pratap, ein träger Bursche. Nach langer vergeblicher Mühe hatten seine Eltern die Hoffnung aufgegeben, daß je etwas aus ihm werden und er es lernen würde, sich selbst durchzuschlagen. Nun haben Taugenichtse den Vorteil, daß sie, wenn auch ihre eigenen Verwandten nichts von ihnen wissen wollen, gewöhnlich bei allen andern sehr beliebt sind. Da sie durch keine Arbeit gebunden sind, werden sie öffentliches Eigentum. Wie jede Stadt ihren freien Platz braucht, wo alle atmen können, so braucht jedes Dorf zwei bis drei solche Freiherren von Müßiggang, die Zeit für alle haben, so daß, wenn wir ein wenig faulenzen möchten und einen Gefährten brauchen, gleich einer zur Hand ist. Prataps Hauptehrgeiz richtete sich auf den Fischfang. Damit wußte er eine Menge Zeit zu verbringen, und fast jeden Nachmittag konnte man ihn in dieser Beschäftigung finden. So kam es, daß er häufig mit Subha zusammentraf. Bei allem, was er tat, hatte er gern einen Kameraden, und beim Fischfang ist ein stummer Kamerad der beste. Pratap schätzte Subha wegen ihrer Schweigsamkeit, und da alle andern sie Subha nannten, zeigte er ihr seine Zuneigung, indem er sie Su nannte. Subha saß dann unter einem Tamarindenbaum, und Pratap warf nicht weit davon seine Angel aus. Er hatte immer etwas Betel mitgebracht, und Subha bereitete ihn ihm zu. Und wenn sie so dasaß und ihm lange zusah, stieg wohl in ihr der heiße Wunsch auf, ihm helfen, etwas Großes für ihn tun zu können, um zu beweisen, daß sie keine nutzlose Last in dieser Welt sei. Aber was sollte sie tun? Dann wandte sie sich in stillem Gebet an den Schöpfer, er möchte ihr plötzlich eine wunderbare Gabe verleihen, so daß Pratap erstaunt ausrufen müßte: »Potztausend, ich hätte mir nie träumen lassen, daß unsre Su so etwas könnte!« Man denke nur! Wenn Subha eine Wassernymphe gewesen wäre, so wäre sie langsam aus dem Fluß emporgetaucht und hätte ihm den Edelstein aus einer Schlangenkrone ans Ufer gebracht. Dann hätte Pratap sein armseliges Fischen lassen und in die Unterwelt hinabtauchen können, und dort hätte er in einem silbernen Palaste auf einem goldenen Bett -- nun, wen gesehen? Wen sonst als die stumme kleine Su, Banikanthas Kind? Ja, unsre Su, die einzige Tochter der glänzenden Juwelenstadt! -- Aber das würde nie geschehen, es war unmöglich. Nicht daß irgend etwas wirklich unmöglich war, aber Su war nicht im königlichen Palast von Patalpur[24], sondern im Hause Banikanthas geboren, und so wußte sie kein Mittel, Pratap in Erstaunen zu setzen. [24] Stadt der Unterwelt. Allmählich wuchs sie heran. Allmählich begann sie, sich selbst zu finden. Ein nie gekanntes, unbestimmtes Gefühl durchwogte sie, wie die Flut des Meeres, wenn der Vollmond aufsteigt. Sie stand vor sich selbst wie vor etwas ganz Neuem, das sie sich nicht erklären konnte. Einmal, es war spät in einer Vollmondnacht, öffnete sie langsam ihre Tür und blickte schüchtern hinaus. Die Natur, die selbst auch in ihrem Vollmond war wie die einsame Subha, sah auf die schlafende Erde herab. Auch in ihr pulsierte starkes junges Leben; Freude und Traurigkeit füllte ihr Wesen zum Überquellen, sie war an den Grenzen ihrer grenzenlosen Einsamkeit angelangt, ja, sie war über sie hinausgekommen. Das Herz war ihr schwer, und die Sprache war ihr versagt! An das Gewand dieser stummen geängsteten Mutter klammerte sich ein stummes geängstetes Kind. Der Gedanke an Subhas Heirat erfüllte die Eltern mit steter Sorge. Die Leute machten ihnen Vorwürfe und sprachen sogar davon, daß sie sie aus der Kaste ausstoßen würden. Banikantha war wohlhabend, sie aßen zweimal am Tage Fisch-Ragout, und infolgedessen fehlte es ihnen nicht an Feinden. Da nahmen die Frauen die Sache in die Hand, und Bani verreiste auf ein paar Tage. Bald kehrte er zurück und sagte: »Wir müssen nach Kalkutta reisen.« So wurde denn die Reise in dieses fremde Land vorbereitet. Subhas Herz war schwer von Tränen wie ein nebelumhüllter Morgen. Eine unbestimmte Angst hatte sich schon seit Tagen in ihr gesammelt, und sie ging ihren Eltern auf Schritt und Tritt nach wie ein stummes Tier. Mit angstvoll geöffneten Augen forschte sie in ihrem Gesicht, als ob sie ihr Schicksal in ihren Zügen lesen wollte. Aber sie würdigten sie keines Wortes. Eines Nachmittags, während dies alles vor sich ging und als Subha einmal wie sonst Pratap beim Fischen zusah, rief er lachend: »Nun, Su, jetzt haben sie also glücklich einen Bräutigam für dich eingefangen und du wirst heiraten. Vergiß mich nur nicht ganz!« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Fischen zu. Wie ein verwundetes Wild den Jäger in stummer Todesangst anblickt, als fragte es ihn: Was habe ich dir getan? so blickte Subha Pratap an. An dem Tage saß sie nicht mehr unter dem Baum. Als Banikantha seinen Mittagsschlaf beendet hatte und in seinem Schlafzimmer saß und rauchte, stürzte Subha ihm plötzlich laut aufschluchzend zu Füßen und sah ihn flehend an. Banikantha versuchte, sie zu trösten, und auch seine Wange wurde feucht von Tränen. Die Reise nach Kalkutta war auf den folgenden Tag festgesetzt. Subha ging in den Kuhstall, um den Gefährten ihrer Kindheit Lebewohl zu sagen. Sie ließ sie aus der Hand fressen; sie umklammerte ihren Hals, sie sah ihnen ins Gesicht, und Tränen strömten unaufhörlich aus ihren Augen und kündeten den stummen Freunden ihr ganzes Leid. Es war die zehnte Nacht des neuen Mondes. Subha ging hinaus und warf sich auf ihr Rasenlager neben dem geliebten Fluß. Es war, als ob sie ihren Arm um die Erde, ihre starke, schweigende Mutter, schlang und ihr sagen wollte: >Laß mich nicht fort, Mutter. Leg deine Arme um mich, wie ich sie um dich lege, und halte mich fest.< Sie waren in Kalkutta angelangt. In einem fremden Hause putzte die Mutter Subha sorgfältig heraus. Sie steckte ihr Haar, das sonst frei um ihre Schultern gehangen hatte, in festen Flechten hoch, behing sie über und über mit Schmucksachen und tat ihr Bestes, ihre natürliche Schönheit zu ersticken. Subhas Augen füllten sich mit Tränen. Die Mutter schalt sie rauh, denn sie fürchtete, die Augen könnten vom Weinen geschwollen werden, aber die Tränen wollten auf kein Schelten hören. Der Bräutigam kam mit einem Freunde, um sich die Braut anzusehen. Den Eltern war ganz schwindlig vor Angst, als sie den Gott nahen sahen, der sich das Tier zu seinem Opfer erwählen sollte. Hinter den Kulissen gab die Mutter der Tochter noch eindringlich ihre Verhaltungsmaßregeln und rief dadurch einen erneuten Tränenausbruch hervor, bevor sie sie zur Musterung entließ. Der große Mann sah sie eine lange Weile forschend an, dann sagte er: »Gar nicht so übel.« Er nahm besonders Notiz von ihren Tränen und meinte, sie müsse ein weiches Herz haben. Dadurch gewann sie in seinen Augen an Wert, denn er sagte sich, daß ein Mädchen, welches unglücklich sei, weil es seine Eltern verlassen sollte, auch eine treue und zärtliche Gattin werden würde. Und so dienten die Tränen des armen Kindes wie die Perlen der Muschel nur dazu, sie begehrenswerter zu machen. Der Kalender wurde befragt, und die Hochzeit fand an einem glückverheißenden Tage statt. Nachdem Subhas Eltern ihre stumme Tochter den Händen eines andern übergeben hatten, kehrten sie nach Hause zurück. Gott sei Dank! Ihre Kaste war gerettet, und sie waren gerechtfertigt in dieser und der zukünftigen Welt! Der Bräutigam hatte seine Arbeit im westlichen Teil des Landes, und bald nach der Hochzeit nahm er sein Weib mit sich dorthin. Es waren noch nicht zehn Tage vergangen, als schon jeder wußte, daß die junge Frau stumm war! Wenigstens war es nicht ihre Schuld, wenn irgend jemand es noch nicht wußte, denn sie versuchte niemand zu täuschen. Ihre Augen erzählten ihre ganze Geschichte, wenn auch niemand sie verstand. Sie sah auf jede Hand, sie fand nirgends eine Sprache; sie vermißte die Gesichter, die ihr von ihrer Geburt an vertraut waren und die die Sprache eines stummen Kindes verstanden hatten. In ihrem schweigenden Herzen tönte ein endloses stummes Weinen, das nur der Erforscher der Herzen hören konnte. Ihr Gebieter aber hielt noch einmal sorgfältig Umschau, diesmal brauchte er sowohl seine Ohren wie seine Augen und heiratete eine zweite Frau, die sprechen konnte. DIE GLÜCKVERHEISSENDE SCHAU Kantitschandra war noch jung, doch nachdem ihm seine Gattin gestorben war, suchte er keine zweite Gefährtin, sondern gab sich ganz seiner Leidenschaft für die Jagd hin. Sein Körper war lang und schlank, zäh und behende, sein Blick scharf, seine Hand verfehlte nie das Ziel. Er ging wie ein Landmann gekleidet, und seine Gefährten waren der Wettkämpfer Hira Singh, der Sänger Khan Saheb, Mian Saheb, Tschakkanlal und viele andere. An müßigen Begleitern fehlte es ihm nicht. Im Monat Agrahayan[25] jagte Kanti mit einigen Jagdgefährten im Sumpfgebiet von Naidighi. Sie waren in Booten, und ein ganzes Heer von Dienern, gleichfalls in Booten, füllte die Badestufen. Die Dorffrauen fanden es fast unmöglich, zu baden oder Wasser zu holen. Den ganzen Tag lang erzitterten Land und Wasser von den Schüssen ihrer Flinten, und Abend für Abend scheuchte ihre Musik den Schlaf hinweg. [25] November-Dezember. Eines Morgens, als Kanti in seinem Boot saß und seine Lieblingsflinte reinigte, wurde er plötzlich durch einen Schrei wie von einer wilden Ente aufgeschreckt. Als er aufsah, erblickte er ein Dorfmädchen, das zwei weiße junge Enten im Arm hielt und sich dem Wasser näherte. Der kleine Fluß stand fast ganz still, da viele Schlingpflanzen seinen Lauf hemmten. Das Mädchen setzte die Vögel ins Wasser und bewachte sie ängstlich. Augenscheinlich war die Nähe der Jäger die Ursache ihrer Unruhe und nicht die Wildheit der Enten. Die Schönheit des Mädchens war von einer seltenen Frische und Unberührtheit, als ob sie eben erst aus der Werkstatt Wischwakarmans[26] hervorgegangen wäre. Es war schwer, ihr Alter zu erraten. Ihre Gestalt war fast die eines Weibes, aber ihr Antlitz hatte einen Ausdruck von so kindlicher Reinheit, daß man sah, die Eindrücke der Welt hatten in ihrer Seele noch keine Spur hinterlassen. Sie schien selbst nicht zu wissen, daß sie die Schwelle des Jungfrauentums erreicht hatte. [26] Der göttliche Bildner in der indischen Mythologie. Kanti hatte mit dem Reinigen seiner Flinte aufgehört. Er saß da, wie von einem Zauber gebannt. Solch Antlitz hätte er nie an solchem Ort zu finden erwartet. Und doch paßte seine Schönheit besser in diese Umgebung hinein als in die Pracht eines Palastes. Eine Knospe ist lieblicher am Zweig als in einer goldenen Vase. Das blühende Schilf glänzte im Herbsttau und in der Morgensonne, und in diesem Rahmen erschien das frische, jugendreine Antlitz dem entzückten Auge Kantis wie ein heiliges Tempelbild. Kalidasa hat vergessen zu besingen, wie Schivas Gattin, die Bergkönigin selbst, zuweilen zum jungen Ganges herabstieg mit ebensolchen jungen Entlein im Arm. Während er noch in ihren Anblick versunken war, fuhr das Mädchen erschrocken zusammen, und einen halbartikulierten Schmerzensschrei ausstoßend, ergriff sie hastig die Enten und barg sie an ihrer Brust. Im nächsten Augenblick hatte sie das Flußufer verlassen und war in dem nahen Bambusdickicht verschwunden. Als Kanti sich umsah, erblickte er einen seiner Leute, der mit einer ungeladenen Flinte auf die Enten zielte. Er sprang sofort auf ihn zu und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Der verblüffte Spaßmacher beendete seinen Spaß am Boden. Kanti fuhr mit dem Reinigen seiner Flinte fort. Aber die Neugier ließ ihm doch keine Ruhe und trieb ihn zu dem Dickicht, in dem er das Mädchen hatte verschwinden sehen. Als er sich hindurchgearbeitet hatte, befand er sich auf einem Bauernhofe, der von der Wohlhabenheit des Besitzers Zeugnis gab. An einer Seite war eine Reihe Scheunen mit kegelförmigen Strohdächern, an der andern ein reinlich gehaltener Kuhstall, an dessen Ende ein Jujubenstrauch wuchs. Unter dem Strauch saß das Mädchen, das er am Morgen gesehen hatte, und schluchzte über eine verwundete Taube, in deren gelben Schnabel sie aus dem feuchten Zipfel ihres Gewandes etwas Wasser zu tropfen versuchte. Eine graue Katze hatte die Vorderpfoten auf ihr Knie gestemmt und sah verlangend nach dem Vogel, und hin und wieder, wenn sie sich zu weit vordrängte, wies das Mädchen sie durch einen warnenden Schlag auf die Nase wieder an ihren Platz. Dies kleine Bild, im Rahmen des in der Mittagsstille friedlich daliegenden Bauernhofes, verfehlte nicht seinen Eindruck auf Kantis empfängliches Herz. Unter dem zarten Laub des Jujubenstrauches huschten die Lichtkringelchen hin und her und spielten auf dem Schoße des Mädchens. Nicht weit davon lag eine Kuh behaglich wiederkäuend und wehrte mit trägen Bewegungen ihres Kopfes und Schwanzes die Fliegen ab. Der Nordwind flüsterte leise im nahen Bambusdickicht. Und sie, die ihm in der Morgenfrühe am Flußufer wie die Waldkönigin erschienen war, erschien ihm jetzt im Schweigen des Mittags wie die Gottheit des Hauses, die sich voll Erbarmen über ein leidendes Geschöpf neigte. Kanti, der mit seiner Flinte in ihr Bereich eingedrungen war, überkam ein Gefühl der Schuld. Er fühlte sich wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt war. Es drängte ihn, ihr zu sagen, daß nicht er es war, der die Taube verletzt hatte. Als er noch so dastand und nicht wußte, wie er beginnen sollte, rief jemand vom Hause her: »Sudha!« Das Mädchen sprang auf. »Sudha!« rief die Stimme noch einmal. Sie nahm ihre Taube und lief hinein. »Sudha!,« dachte Kanti, »welch ein passender Name!«[27] [27] sudha bedeutet Nektar. Er kehrte zu seinem Boot zurück, gab seine Flinte einem seiner Leute und ging zu der vorderen Tür des Hauses. Dort fand er einen Brahmanen von mittleren Jahren, mit einem friedlichen, glattrasierten Gesicht, der auf einer Bank vor dem Hause saß und in seinem Erbauungsbuch las. Kanti fand auf seinem gütigen ernsten Antlitz etwas von der Mildherzigkeit wieder, die aus dem des Mädchens leuchtete. Kanti trat grüßend näher und sagte: »Darf ich um etwas Wasser bitten, Herr? Ich bin sehr durstig.« Der Brahmane hieß ihn mit eifriger Gastfreundlichkeit willkommen, und nachdem er ihn zum Niedersitzen auf die Bank genötigt, ging er hinein und brachte eigenhändig einen kleinen Zinnteller mit Zuckerwaffeln und einem zinnernen Krug mit Wasser. Nachdem Kanti gegessen und getrunken hatte, bat der Brahmane ihn, ihm seinen Namen zu sagen. Kanti nannte seinen und seines Vaters Namen und seinen Wohnort. »Wenn ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein kann, Herr,« fügte er in der üblichen Weise hinzu, »so werde ich mich glücklich schätzen.« »Sie können mir nicht zu Diensten sein, mein Sohn,« sagte Nabin Banerdschi, »ich habe augenblicklich nur eine einzige Sorge.« »Und was für eine Sorge ist das?« fragte Kanti. »Die Sorge um meine Tochter Sudha, die herangewachsen ist« (Kanti lächelte, als er an ihr Kindergesicht dachte) »und für die ich noch keinen würdigen Bräutigam habe finden können. Wenn ich sie nur gut verheiratet hätte, so würde ich der Welt meine Schuld abgetragen haben. Aber hier am Ort ist kein passender Bräutigam für sie, und ich kann den Dienst meines Gottes hier nicht im Stich lassen, um anderswo für sie einen Gatten zu suchen.« »Wenn Sie mich in meinem Boot aufsuchen möchten, Herr, so könnten wir über die Heirat Ihrer Tochter sprechen.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Kanti und kehrte zu seinem Boot zurück. Dann sandte er einige von seinen Leuten ins Dorf, um sich nach der Tochter des Brahmanen zu erkundigen. Die Antwort war ein einstimmiges Lob ihrer Schönheit und Tugenden. Als am nächsten Tage der alte Mann zu dem Boot kam, um seinen versprochenen Besuch zu machen, begrüßte ihn Kanti mit tiefer Ehrfurcht und bat ihn um die Hand seiner Tochter für sich selbst. Der Brahmane war so überwältigt von diesem ungehofften Glück, -- denn Kanti gehörte nicht nur einer wohlbekannten Brahmanenfamilie an, sondern war auch ein reicher und angesehener Gutsbesitzer --, daß er zuerst kaum ein Wort erwidern konnte. Er dachte, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Endlich wiederholte er mechanisch: »Sie selbst wollen meine Tochter heiraten?« »Wenn Sie mich ihrer für würdig halten«, sagte Kanti. »Sie meinen Sudha?« fragte der Alte noch einmal. »Ja«, war die Antwort. »Aber wollen Sie sie nicht erst sehen und mit ihr sprechen?« Kanti verschwieg, daß er sie schon gesehen hatte, und sagte: »O, das wird bei der Hochzeit geschehen, im Augenblick der glückverheißenden Schau[28].« [28] Nach der Verlobung dürfen Braut und Bräutigam sich nicht wiedersehen bis zu dem Teil der Hochzeitsfeierlichkeit, den man als »glückverheißende Schau« bezeichnet. Mit vor innerer Erregung zitternder Stimme sagte der Alte: »Meine Sudha ist wirklich ein gutes Mädchen, in allen häuslichen Dingen geschickt. Da Sie sie so großmütig auf Treu und Glauben nehmen, so möge sie Ihnen nie einen Augenblick Kummer bereiten. Dies ist mein Segen!« Man mietete das große Backsteingebäude des Archivars für die Hochzeitsfeierlichkeit, die auf den nächsten Magh[29] festgesetzt wurde, da Kanti nicht gern länger warten wollte. Zur bestimmten Zeit erschien der Bräutigam auf seinem Elefanten mit Trommeln und Musik und einem Fackelzuge, und die Feierlichkeit begann. [29] Januar-Februar. Als der Augenblick der glückverheißenden Schau gekommen und der Scharlachschleier über das Brautpaar geworfen war, sah Kanti zu seiner Braut auf. In dem schüchternen, verwirrten Antlitz, das sich unter der Brautkrone neigte und ganz mit Sandelpaste bedeckt war, konnte er kaum das Dorfmädchen, dessen Bild seiner Phantasie vorschwebte, wiedererkennen, und seine Erregung war so groß, daß es sich wie ein Nebel über seine Augen legte. Als die Hochzeitsfeierlichkeiten vorüber waren und die Frauen sich im Zimmer der Braut versammelten, bestand eine alte Dame aus dem Dorf darauf, Kanti solle selbst seinem Weibe den Brautschleier abnehmen. Als er es tat, fuhr er zurück. Es war nicht dasselbe Mädchen. Es war ihm, als ob etwas in ihm aufstiege und sein Gehirn durchstäche. Als ob die Lichter der Lampen sich verdüsterten und Dunkelheit das Gesicht der Braut selbst schwarz färbte. Im ersten Augenblick war er zornig auf seinen Schwiegervater. Der alte Halunke hatte ihm das eine Mädchen gezeigt und das andere verheiratet. Aber bei ruhiger Überlegung erinnerte er sich, daß ihm der alte Mann überhaupt keine Tochter gezeigt hatte, -- daß alles seine eigene Schuld war. Er hielt es für das beste, seine heillose Dummheit den Menschen nicht zu verraten, und nahm mit scheinbarer Ruhe wieder seinen Platz ein. Er brachte die Pille glücklich herunter, aber ihren Geschmack konnte er nicht loswerden. Die ausgelassene Fröhlichkeit der Hochzeitsgesellschaft war ihm unerträglich. Er war wütend auf sich selbst und auf alle anderen. Plötzlich merkte er, wie seine Braut, die neben ihm saß, zusammenschrak und einen Schrei unterdrückte; ein junger Hase war ins Zimmer gesprungen und über ihre Füße gehuscht. Dicht hinter ihm kam das Mädchen, das er vorher gesehen hatte. Sie ergriff das Häschen, nahm es in ihren Arm und begann, ihm liebkosend etwas zuzumurmeln. »Ach, das verrückte Mädchen!« riefen die Frauen und machten ihr Zeichen, das Zimmer zu verlassen. Aber sie beachtete es nicht, sondern kam herein und setzte sich ganz unbekümmert dem Brautpaar gegenüber, das sie mit kindlicher Neugierde anstarrte. Als ein Dienstmädchen kam und sie am Arm nahm, um sie hinauszubringen, wehrte Kanti ihr hastig und sagte: »Laß sie in Ruh.« »Wie heißt du?« wandte er sich dann an das Mädchen. Diese wiegte mit dem Körper hin und her, aber gab keine Antwort. Alle Frauen im Zimmer begannen zu kichern. Kanti stellte eine andere Frage: »Wie geht es deinen kleinen Enten?« Das Mädchen fuhr fort, ihn unbekümmert anzustarren. Der ganz verwirrte Kanti raffte seinen Mut noch einmal zusammen und erkundigte sich teilnahmsvoll nach der verwundeten Taube, aber es half ihm nichts. Das zunehmende Gelächter im Zimmer zeigte, daß irgend etwas bei der Sache sehr komisch war. Endlich erfuhr Kanti, daß das Mädchen taubstumm und die Gefährtin aller Tiere im Dorfe sei. Es war nur Zufall gewesen, als sie sich damals bei dem Ruf Sudha erhoben hatte. Jetzt traf es Kanti zum zweitenmal wie ein Schlag. Der dunkle Vorhang zerriß, der sich vor seine Augen gesenkt hatte. Mit einem aus tiefster Seele kommenden Seufzer der Erleichterung, wie aus einer furchtbaren Gefahr befreit, blickte er noch einmal in das Antlitz seiner Braut. Dann kam in Wahrheit die glückverheißende Schau. Das Licht, das aus seinem Herzen und von den hell leuchtenden Lampen strahlte, fiel auf ihr liebliches Antlitz, und er sah es in seinem wahren Glanz und wußte, daß Nabins Segen sich erfüllen würde. DER POSTMEISTER Der Postmeister begann seine Laufbahn im Dorfe Ulanur. Zwar war das Dorf nur klein, aber in seiner Nähe lag eine Indigofabrik, und der Besitzer, ein Engländer, hatte es durchgesetzt, daß das Dorf ein Postamt bekam. Unser Postmeister stammte aus Kalkutta. Er fühlte sich in diesem abgelegenen Dorfe wie ein Fisch auf dem Trocknen. Seine Amtsstube, die zugleich als Wohnraum diente, war in einem dunklen Strohschuppen, nicht weit von einem grünen, schlammigen Teiche, der an allen Seiten von dichtem Buschwerk umgeben war. Die Männer, die in der Indigofabrik beschäftigt waren, hatten keine Zeit; sie waren auch wohl kaum wünschenswerte Gesellschaft für Leute seines Standes. Dazu kommt noch, daß ein junger Kalkuttaer sich schwer an andre anschließt. Unter Fremden macht er immer den Eindruck, als ob er stolz sei oder sich nicht wohl unter ihnen fühle. So war der Postmeister recht einsam; zu tun hatte er auch nicht viel. Zuweilen versuchte er sich in Versen. Er versuchte zum Ausdruck zu bringen, daß das Rauschen der Blätter und das Wandern der Wolken am Himmel genug seien, um das Leben mit Freude zu füllen. Aber Gott weiß, daß der arme Bursche sich wie neugeboren gefühlt hätte, wenn irgendein Geist aus Tausendundeiner Nacht plötzlich Bäume, Blätter und alles hinweggefegt und sie durch eine gutgepflasterte Straße ersetzt hätte, deren hohe Häuserreihen ihm die Wolken verdeckten. Des Postmeisters Gehalt war gering. Er mußte sich seine Mahlzeiten selbst zubereiten und teilte sie mit Ratan, einem Waisenmädchen aus dem Dorf, die allerlei kleine Dienste für ihn verrichtete. Wenn am Abend der Rauch aus den Kuhställen aufzusteigen begann[30] und in jedem Busch die Heimchen zirpten; wenn die Fakire der Baul-Sekte an ihren täglichen Versammlungsorten ihre schrillen Lieder sangen, wenn einem Dichter, der etwa versucht hätte, auf das Rauschen der Blätter im Bambusdickicht zu horchen, ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen wäre -- dann zündete der Postmeister seine kleine Lampe an und rief: »Ratan!« [30] Man zündet in den Kuhställen Rauchfeuer an, um die Moskitos zu vertreiben. Ratan saß draußen und wartete auf diesen Ruf, aber statt sogleich hereinzukommen, antwortete sie erst: »Haben Sie mich gerufen, Herr?« »Was tust du?« fragte dann der Postmeister. »Ich muß jetzt wohl das Küchenfeuer anzünden«, kam als Antwort zurück. Und dann sagte der Postmeister: »Ach, laß das Feuer noch eine Weile, zünde mir erst meine Pfeife an.« Nach einem Augenblick kam Ratan herein, mit aufgeblasenen Backen, denn sie blies aus Leibeskräften in ein Stück brennende Kohle, womit sie den Tabak anzündete. Dies gab dem Postmeister dann eine Gelegenheit zur Unterhaltung. »Nun, Ratan,« begann er dann wohl, »hast du noch irgendwelche Erinnerungen an deine Mutter?« Das war ein ergiebiges Thema. Ratan hatte nicht mehr viel Erinnerungen an sie. Ihr Vater hatte mehr von ihr gehalten als ihre Mutter, an ihn erinnerte sie sich noch viel lebhafter. Er pflegte am Abend nach der Arbeit heimzukommen, und ein paar solcher Abende hatten sich ihrem Gedächtnis wie deutliche Bilder eingegraben. Ratan hockte auf dem Boden, während sie sich in diesen Erinnerungen erging. Sie gedachte eines kleinen Bruders, und wie sie einmal an einem trüben Tag am Teich mit ihm Fischen gespielt hatte, mit einem Zweig als Angelrute. Solche kleinen Erlebnisse wurden in der Erinnerung groß und bedeutungsvoll und verdrängten die größeren. Während sie so plauderten, wurde es oft sehr spät, und der Postmeister fühlte sich zu schläfrig, um noch irgend etwas zu kochen. Dann machte Ratan eilig ein Feuer an und röstete etwas ungesäuertes Brot, das ihnen, zusammen mit den kalten Resten der Mittagsmahlzeit, als Abendessen genügte. An manchen Abenden, wenn der Postmeister so an seinem Pult in der Ecke des großen, leeren Strohschuppens saß, rief auch er die Erinnerungen an sein Heim wach, an seine Mutter und Geschwister, an die, nach denen sich sein Herz in seiner Verbannung sehnte -- an die er immer dachte, aber von denen er mit den Fabrikleuten nicht sprechen konnte, obgleich es ihm ganz natürlich war, in Gegenwart des einfachen kleinen Mädchens ihrer zu gedenken. Und so kam es, daß das Mädchen, wenn sie von den Seinen sprach, sie als Mutter, Bruder und Schwester[31] bezeichnete, als ob sie sie ihr Leben lang gekannt hätte. Sie hatte ja auch in ihrem kleinen Herzen ein deutliches Bild von jedem einzelnen. [31] Die Dienstboten in der Familie bezeichnen den Herrn und die Herrin als Vater und Mutter und die Kinder als ältere Geschwister. Es war in der Regenzeit, an einem Mittage. Der Regen hatte gerade aufgehört, und es wehte eine leise, kühle Brise. Der Duft des feuchten Grases und Laubes in der heißen Sonne berührte den Körper wie der warme Atem der ermüdeten Erde. Ein Vogel wiederholte den ganzen Nachmittag unermüdlich den Kehrreim seines Klageliedes im Audienzraum der Natur. Der Postmeister hatte nichts zu tun. Der Glanz des frischgewaschenen Laubes und die aufgetürmten Wolkenmassen am Himmel waren ein herrlicher Anblick, und der Postmeister sah den abziehenden Regenwolken nach und dachte bei sich: »Ach, wenn ich nur eine verwandte Seele hier hätte, ein liebendes Wesen, das ich an mein Herz schließen könnte!« Genau dasselbe, so dachte er weiter, versuchte auch jener Vogel zu sagen, genau dasselbe seufzte das Laub des alten Baumes, an dessen Stamm er müßig seinen Rücken lehnte. Aber das wußte und glaubte niemand, daß auch in einem schlecht bezahlten Dorfpostmeister in der tiefen Stille der Mittagspause solche Gefühle aufsteigen könnten. Der Postmeister seufzte und rief: »Ratan!« Ratan lag ausgestreckt unter dem Guajavabaum und war eifrig damit beschäftigt, unreife Guajavafrüchte zu essen. Sobald sie die Stimme ihres Herrn hörte, kam sie atemlos angelaufen und fragte: »Haben Sie mich gerufen, Dada[32]?« --»Ich dachte eben,« sagte der Postmeister, »ich könnte dich eigentlich lesen lehren.« Und er brachte den Rest des Tages damit zu, ihr das Alphabet beizubringen. [32] = älterer Bruder Auf diese Weise kam Ratan in ganz kurzer Zeit schon bis zu den Doppelkonsonanten. Es schien, als ob die Regenzeit nicht enden wollte. Kanäle, Gräben und Gruben strömten über von Wasser. Tag und Nacht hörte man das Prasseln des Regens und das Quaken der Frösche. Die Dorfstraßen wurden unpassierbar, und man mußte seine Einkäufe in flachen Booten machen. Eines Morgens, als der Himmel wieder schwer von Wolken war, hatte die kleine Schülerin des Postmeisters schon lange vor der Tür auf seinen Ruf gewartet. Als sie immer noch nichts hörte, nahm sie endlich ihr arg zerlesenes Buch und ging leise hinein. Sie fand ihren Herrn auf seiner Matratze ausgestreckt, und in dem Glauben, er schliefe noch, wollte sie schon auf den Zehen wieder hinausschleichen, als sie plötzlich ihren Namen hörte: »Ratan!« Sie wandte sich sogleich um und fragte: »Schliefen Sie, Dada?« Der Postmeister sagte in klagendem Ton: »Ich bin nicht wohl. Fühl' einmal meinen Kopf, ist er nicht ganz heiß?« In der Einsamkeit seiner Verbannung und in dem trüben Dunkel der Regenzeit brauchte sein schmerzender Körper etwas zarte und liebevolle Pflege. Er gedachte mit Sehnsucht der Zeit, wo eine weiche Hand mit leise klirrendem Armband sanft über seine Stirn gestrichen hatte, und er versuchte sich vorzustellen, daß Frauenliebe an seinem Lager saß in Gestalt von Mutter und Schwester. Und er wurde nicht enttäuscht. Ratan hörte auf, ein kleines Mädchen zu sein. Sie trat sofort an die Stelle der Mutter, rief den Dorfarzt, gab dem Patienten zu den vorgeschriebenen Zeiten seine Pillen, wachte die ganze Nacht an seinem Lager, kochte ihm seine Hafersuppe und fragte von Zeit zu Zeit: »Fühlen Sie sich ein wenig besser, Dada?« Es dauerte einige Zeit, bis der Postmeister mit sehr geschwächtem Körper sein Krankenlager verlassen konnte. »Dies geht nicht so weiter«, sagte er entschlossen. »Ich muß um Versetzung einkommen.« Er schrieb sofort in diesem Sinne ein Gesuch nach Kalkutta mit der Begründung, daß der Ort zu ungesund sei. Nachdem Ratan ihrer Pflichten als Krankenpflegerin enthoben war, nahm sie wieder ihren alten Platz draußen vor der Tür ein. Aber sie wartete vergebens auf den altgewohnten Ruf. Mitunter blickte sie verstohlen hinein; dann sah sie den Postmeister auf seinem Stuhl sitzen oder auf seiner Matratze ausgestreckt und geistesabwesend in die Luft starren. Während Ratan auf ihren Ruf wartete, wartete der Postmeister auf eine Antwort auf sein Gesuch. Die Kleine las ihre alten Aufgaben immer wieder durch; ihre größte Angst war, daß sie, wenn sie gerufen würde, die Doppelkonsonanten nicht richtig lesen könnte. Endlich, nach einer Woche, kam eines Abends wirklich der Ruf. Mit überquellendem Herzen stürzte Ratan ins Zimmer: »Haben Sie mich gerufen, Dada?« Der Postmeister sagte: »Ich reise morgen fort, Ratan.« »Wohin reisen Sie, Dada?« »Ich reise nach Hause.« »Wann kommen Sie zurück?« »Ich komme nicht zurück.« Ratan fragte nicht weiter. Der Postmeister erzählte ihr von selbst, daß sein Gesuch um Versetzung abschlägig beschieden sei, und daß er nun seinen Posten aufgegeben habe und nach Hause wolle. Lange sprach keiner von beiden ein Wort. Die Lampe brannte trübe weiter, und durch ein Loch in einer Ecke des Daches tropfte das Wasser gleichmäßig in ein irdenes Gefäß, das darunter auf dem Boden stand. Nach einer Weile stand Ratan auf und ging in die Küche, um das Abendessen zu bereiten; aber sie wurde nicht so schnell damit fertig wie sonst. Viele neue Gedanken stürmten auf ihr kleines Hirn ein. Als der Postmeister sein Abendessen beendet hatte, fragte das Mädchen ihn plötzlich: »Dada, werden Sie mich mit nach Hause nehmen?« Der Postmeister lachte. »Was für ein Einfall!« sagte er; aber es schien ihm überflüssig, dem Mädchen zu erklären, was denn so Lächerliches dabei sei. Die ganze Nacht, im Wachen und im Traum, verfolgte sie des Postmeisters lachende Antwort: »Was für ein Einfall!« Als der Postmeister am andern Morgen aufstand, fand er sein Bad bereit. Er hatte an seiner Kalkuttaer Gewohnheit festgehalten, im Hause zu baden, statt, wie man es sonst im Dorfe tat, sein Bad im Fluß zu nehmen. Das Mädchen hatte ihn nicht fragen können, um welche Zeit er abreisen wolle, daher hatte sie schon lange vor Sonnenaufgang das Wasser vom Fluß geholt, damit er es bereit fände, sobald er es brauchte. Nach dem Bade hörte sie ihn rufen. Sie trat leise ein und sah ihrem Herrn schweigend ins Gesicht, seine Befehle erwartend. »Du brauchst dir keine Sorge zu machen wegen meines Fortgehens, Ratan,« sagte er zu ihr, »ich werde meinem Nachfolger sagen, daß er sich um dich kümmert.« Diese Worte waren ohne Zweifel freundlich gemeint, aber ein Frauenherz ist unberechenbar. Ratan hatte, ohne zu klagen, manche Schelte von ihrem Herrn hingenommen, aber diese freundlichen Worte konnte sie nicht ertragen. »Nein, nein!« rief sie, in Tränen ausbrechend, »Sie brauchen niemandem irgend etwas über mich zu sagen; ich will hier nicht länger bleiben.« Der Postmeister war sprachlos. So hatte er Ratan nie gesehen. -- Pünktlich kam der Nachfolger an, und nachdem der Postmeister ihm das Amt übergeben hatte, schickte er sich an, abzureisen. Bevor er aufbrach, rief er Ratan und sagte: »Hier ist etwas für dich; ich hoffe, damit kommst du eine kleine Zeitlang aus.« Und damit zog er aus seiner Tasche sein ganzes Monatsgehalt und behielt nur eine geringfügige Summe für seine Reiseausgaben zurück. Doch Ratan fiel ihm zu Füßen und rief: »Ach nein, Dada, bitte geben Sie mir nichts, kümmern Sie sich überhaupt gar nicht um mich!« Dann lief sie hinaus. Der Postmeister seufzte, nahm seine Reisetasche, hängte seinen Regenschirm über die Schulter, und begleitet von einem Manne, der seinen bunten, mit Eisenblech beschlagenen Koffer trug, ging er langsam nach dem Schiff. Als er einstieg und das Schiff abfuhr und die vom Regen geschwollenen Wasser des Flusses schweigend seinen Bug umsprudelten wie Tränenströme, die von der Erde aufstiegen, da wurde ihm eigentümlich weh ums Herz. Das gramerfüllte Antlitz des Dorfmädchens schien ihm ein Abbild zu sein von dem großen, unausgesprochenen, unermeßlich tiefen Leid der Mutter Erde selbst. Schon spürte er den Drang, umzukehren und das einsame, von der Welt verlassene Geschöpf mitzunehmen. Aber der Wind hatte gerade die Segel gebläht, das Schiff war mitten in der heftigen Strömung, das Dorf lag schon hinter ihm, und der weit außerhalb des Dorfes liegende Verbrennungsplatz wurde bereits sichtbar. So ließ sich denn der Reisende auf den Wogen des schnell strömenden Flusses dahintragen und tröstete sich mit philosophischen Betrachtungen über die zahllosen Trennungen in der Welt und über den Tod, die letzte große Trennung. Aber Ratan hatte keine Philosophie. Sie wanderte ruhelos im Postamt umher, und ihre Tränen flossen unaufhaltsam. Vielleicht hegte sie noch in irgendeinem Winkel ihres Herzens eine leise Hoffnung, daß ihr Dada zurückkehren werde, und dies war der Grund, weshalb sie sich nicht losreißen konnte. Ach, um das törichte Menschenherz! DIE FLUSSTREPPE Wenn du von vergangenen Zeiten hören willst, setze dich hier auf diese meine Stufe und lausche dem Murmeln und Plätschern des Wassers. Es war Anfang September. Der Fluß war hoch geschwollen, nur vier von meinen Stufen sahen aus dem Wasser hervor. Seine Wellen überspülten die tiefer liegenden Teile des Ufers, wo die Katschupflanzen in dichten Massen unter den Zweigen der Mangobäume wuchsen. An einer Biegung des Flusses ragten drei alte Steinhaufen aus dem Wasser hervor. Die Fischerboote, die an die Stämme der Akazienbäume am Ufer festgebunden waren, schaukelten sich am frühen Morgen auf den schwellenden Fluten. Die langen Gräser auf der Sandbank wurden gerade von der eben aufgehenden Sonne berührt; sie waren noch nicht voll erblüht, sondern hatten erst zu blühen begonnen. Die kleinen Boote blähten ihre winzigen Segel auf dem sonnenbeschienenen Fluß. Der Brahmanenpriester kam mit seinen heiligen Gefäßen, um zu baden. Die Frauen kamen zu zweien und dreien, um Wasser zu holen. Ich wußte, dies war die Zeit, wo Kusum zur Badetreppe kam. Aber an jenem Morgen vermißte ich sie. Bhuban und Swarno kamen und klagten um sie. Sie sprachen darüber, daß man ihre Freundin fortgebracht habe zu dem Hause ihres Gatten, an einen Ort weitab von dem Fluß, mit fremden Menschen und fremden Häusern und fremden Straßen. Mit der Zeit verblaßte ihr Bild fast ganz in meiner Erinnerung. Ein Jahr verging. Die Frauen auf den Badestufen sprachen selten von Kusum. Aber eines Morgens schrak ich zusammen bei der altvertrauten Berührung ihrer Füße. Ach ja, es waren ihre Füße, aber sie waren ohne Spangen und hatten ihre alte Musik verloren. Kusum war Witwe geworden. Die Leute sagten, daß ihr Gatte an einem fernen Ort gearbeitet und sie ihn nur ein paar Mal gesehen hätte. Ein Brief hatte ihr die Nachricht von seinem Tode gebracht. So war sie mit acht Jahren Witwe geworden, hatte das rote Frauenmal von ihrer Stirn entfernt, ihren Schmuck abgelegt und war in ihr altes Heim am Ganges zurückgekehrt. Aber sie fand nur noch wenige ihrer alten Spielgefährtinnen. Bhuban, Swarno und Amala waren verheiratet und fortgezogen; nur Sarat war noch da, aber auch sie, hieß es, würde nächsten Dezember heiraten. Wie der Ganges, sobald die Regenzeit kommt, schnell zu seiner ganzen, herrlichen Fülle anschwillt, so entfaltete sich auch Kusum von Tag zu Tag zu der ganzen Fülle jugendlicher Schönheit. Aber ihr dunkles Gewand, ihr ernstes Gesicht und stilles Wesen warfen einen Schleier über ihre Jugend und verbargen sie den Augen der Menschen wie hinter einem Nebel. Zehn Jahre glitten dahin, und niemand schien bemerkt zu haben, daß Kusum zum Weibe herangereift war. Vor langen Jahren, an einem Septembermorgen wie heute, kam ein großer, schlanker, junger Sannjasin von heller Hautfarbe des Weges daher und nahm Herberge in dem Schivatempel mir gegenüber. Das Gerücht von seiner Ankunft verbreitete sich im Dorfe. Die Frauen ließen ihre Krüge stehen und drängten sich in den Tempel, um dem heiligen Mann ihre Ehrfurcht zu erweisen. Die Menge wuchs mit jedem Tage. Der Ruhm des Sannjasin verbreitete sich schnell unter den Frauen. Einmal trug er ihnen aus dem Bhâgavata-Purâna vor, ein andermal erklärte er ihnen die Gîtâ oder predigte im Tempel über ein heiliges Buch. Einige suchten Rat bei ihm, einige Zaubermittel und einige Arznei. So vergingen Monate. Im April, zur Zeit der Sonnenfinsternis, kamen ungeheure Scharen hierher, um im Ganges zu baden. Unter den Akazienbäumen wurde ein Jahrmarkt abgehalten. Viele von den Pilgern suchten den Sannjasin auf, und unter ihnen waren einige Frauen aus dem Dorfe, wo Kusum verheiratet gewesen war. Es war an einem Morgen. Der Sannjasin saß auf meinen Stufen und sprach seine Gebete, als plötzlich eine der Pilgerinnen ihre Nachbarin anstieß und sagte: »Ei sieh doch! Es ist ja der Gatte unserer Kusum!« Die andere hielt vorsichtig mit zwei Fingern ihren Schleier ein klein wenig auseinander und rief aus: »O Himmel, er ist es wirklich! Es ist der jüngste Sohn der Familie Tschattergu aus unserm Dorfe!« Und eine dritte, die ihren Schleier nicht so geflissentlich zur Schau trug, rief: »Ja gewiß muß er es sein! Er hat genau dieselbe Stirn und Nase und Augen!« Doch eine andere Frau sagte seufzend, indem sie ihren Krug ins Wasser tauchte und sich nicht weiter nach dem Sannjasin umsah: »Ach nein! Der junge Mann lebt nicht mehr; er kommt nicht zurück. Die arme Kusum!« »Er hatte auch keinen so großen Bart,« wandte eine andere ein. »Und so mager war er auch nicht.« »Und auch nicht so groß,« meinten noch andere. Damit war die Frage erledigt, und man sprach nicht mehr darüber. Eines Abends, als der Vollmond aufging, kam Kusum und setzte sich auf meine unterste Stufe dicht über dem Wasser, und ihr Schatten fiel auf mich. Es war sonst niemand an dem Badeplatz. Die Heimchen zirpten um mich her. Das Geläute der Tempelglocken hatte aufgehört, die letzte Tonwelle verebbte langsam, bis sie sich allmählich im verdämmernden Hain des andern Ufers verlor. Auf dem dunklen Wasser des Ganges lag ein Streifen glitzernden Mondlichts. Am Uferrand, in den Büschen und Hecken, unter dem Tempelportal, in den Ruinen verfallener Häuser, am Rand des Teiches, im Palmenhain, überall stiegen Schatten auf von phantastischer Gestalt. Die Fledermäuse hingen an den Zweigen der Tschatimbäume und schwangen leise hin und her. In der Nähe erhob sich das laute Geheul der Schakale und verstummte dann wieder. Langsam trat der Sannjasin aus dem Tempel. Als er die Badetreppe herabsteigen wollte, sah er eine Frau allein dort sitzen und war schon im Begriff umzukehren, als Kusum plötzlich den Kopf hob und sich umsah. Ihr Schleier glitt herab, und das Mondlicht fiel voll auf ihr Gesicht, als sie ihn anblickte. Eine Eule flog schreiend über die beiden hinweg. Kusum schrak zusammen bei dem Laut, kam zu sich und zog den Schleier über den Kopf. Dann neigte sie sich tief vor dem Sannjasin. Er segnete sie und fragte: »Wer bist du?« »Ich heiße Kusum«, erwiderte sie. Weiter wurde an jenem Abend kein Wort gesprochen. Kusum ging langsam zu ihrem Hause zurück, das ganz in der Nähe war. Aber der Sannjasin blieb in jener Nacht noch stundenlang auf meinen Stufen sitzen. Endlich, als der Mond seinen Weg von Osten nach Westen zurückgelegt hatte und der Schatten des Sannjasin von hinten nach vorn gerückt war, stand er auf und ging in den Tempel. Seitdem sah ich Kusum täglich zu ihm kommen und ihm ihre Ehrfurcht bezeugen. Wenn er die heiligen Schriften erklärte, stand sie in einer Ecke und hörte ihm zu. Wenn er seinen Morgengottesdienst beendet hatte, pflegte er sie zu sich zu rufen und zu ihr über Religion zu sprechen. Sie konnte wohl nicht alles verstehen, aber sie hörte ihm aufmerksam und schweigend zu und versuchte, es zu verstehen. Seinen Weisungen folgte sie blindlings. Täglich kam sie zum Tempel, immer zum Dienst des Gottes bereit, sei es, daß sie Blumen zum Morgen- und Abendopfer pflückte oder Wasser vom Ganges holte, um die Tempelfliesen zu waschen. Der Winter nahte sich seinem Ende. Kalte Winde wehten. Aber dann kam am Abend ganz unerwartet die warme Frühlingsbrise vom Süden her; der Himmel verlor sein frostiges Aussehen; nach langem Schweigen ertönte wieder Musik und Flötenspiel im Dorfe. Die Schiffer zogen die Ruder ein, ließen ihre Fahrzeuge mit dem Strom treiben und begannen die alten Lieder von Krischna zu singen. Der Frühling war da. Damals fing ich an, Kusum zu vermissen. Seit einiger Zeit war sie weder zum Fluß noch zum Tempel oder zum Sannjasin gekommen. Was dazwischen geschah, weiß ich nicht, aber nach einiger Zeit trafen die beiden sich eines Abends auf meinen Stufen. Mit gesenktem Blick fragte Kusum: »Herr, hast du mich rufen lassen?« »Ja, warum sehe ich dich nicht mehr? Warum hast du in letzter Zeit angefangen, den Dienst der Götter zu vernachlässigen?« Sie schwieg. »Sage mir deine Gedanken ganz offen.« Mit halbabgewandtem Gesicht erwiderte sie: »Ich bin ein sündiges Weib, Herr, und so diene ich den Göttern nur schlecht.« Der Sannjasin sagte: »Kusum, ich weiß, dich quält etwas.« Sie zuckte leicht zusammen. Dann verhüllte sie ihr Gesicht in ihrem Sari und setzte sich weinend auf die Stufe zu Füßen des Sannjasin. Er trat etwas zurück. Dann sagte er: »Sag' mir, was du auf dem Herzen hast, damit ich dir den Weg zum Frieden zeige.« Sie erwiderte in einem Ton unerschütterlichen Vertrauens, indem sie ab und zu nach Worten rang: »Wenn du befiehlst, so muß ich dir alles sagen. Aber es ist so schwer, ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Du, Herr, mußt es ja erraten haben. Ich verehrte Einen wie einen Gott, ich betete ihn an, und mein Herz war ganz erfüllt von der Seligkeit dieser Hingebung. Aber eines Nachts hatte ich einen Traum. Mir träumte, der Herr meines Herzens saß neben mir in einem Garten; er hielt meine rechte Hand in seiner Linken und flüsterte mir Worte der Liebe zu. Alles schien mir vertraut und als müsse es so sein. Der Traum verschwand, aber seine Wirkung blieb. Als ich ihn am nächsten Tage wiedersah, erschien er mir im andern Licht als vorher. Jenes Traumbild verfolgte mich. Ich floh in meiner Angst und hielt mich fern von ihm, aber das Bild wich nicht. Seitdem hat mein Herz keinen Frieden gekannt, -- alles in mir ist dunkel geworden!« Während sie unter Tränen ihre Geschichte erzählte, fühlte ich, wie der Sannjasin den rechten Fuß fest auf meine Steinstufe preßte. Als sie geendet hatte, sagte er: »Du mußt mir sagen, wen du im Traum sahst.« Mit gefalteten Händen flehte sie: »Ich kann nicht.« Er beharrte: »Du mußt mir sagen, wer es war.« Sie rang die Hände. »Muß ich es dir sagen?« fragte sie. »Ja,« erwiderte er. »Du bist es, Herr!« stieß sie hervor. Dann brach sie schluchzend zusammen und barg ihr Antlitz an meinem steinernen Busen. Als sie wieder zu sich kam und sich aufrichtete, sagte der Sannjasin langsam: »Ich verlasse diesen Ort noch heute abend, damit du mich nicht wiedersiehst. Bedenke, daß ich ein Sannjasin bin, der nicht dieser Welt gehört. Du mußt mich vergessen.« Kusum erwiderte mit leiser Stimme: »Wie du befiehlst, Herr.« »Leb denn wohl«, sagte der Sannjasin. Kusum neigte sich stumm vor ihm und berührte ehrfurchtsvoll seine Füße. Dann ging er. Der Mond stieg herab; die Nacht wurde dunkel. Ich hörte ein Platschen im Wasser. Der Sturm raste durch die dunkle Nacht, als ob er alle Sterne am Himmel auslöschen wollte. DER AUSGESTOSSENE Gegen Abend hatte das Gewitter den Höhepunkt erreicht. Der Regen kam wütend herabgestürzt, wild krachte der Donner, und unaufhörlich zuckten die Blitze über den Himmel hin; es war, als ob in den Lüften eine Schlacht zwischen Göttern und Dämonen rase. Schwarze Wolken flatterten daher wie die Fahnen des Verderbens. Der Ganges war zu wilder Wut aufgepeitscht, und die Bäume an seinen Ufern schwankten seufzend und stöhnend hin und her. In einem der Häuser am Fluß, in Tschandernagur, saß bei geschlossenen Türen und Fenstern ein Mann neben seiner Frau auf dem Bett und redete eindringlich auf sie ein. Eine irdene Lampe brannte neben ihnen. Scharat, der Mann, sagte: »Ich wollte, du bliebst noch ein paar Tage hier, bis du ganz wiederhergestellt bist, dann könntest du frisch und gesund nach Hause zurückkehren.« Kiran erwiderte: »Ich bin schon ganz wiederhergestellt. Es kann mir unmöglich schaden, wenn ich jetzt reise.« Jeder Verheiratete wird sofort begreifen, daß die Unterhaltung nicht ganz so kurz war, wie ich sie berichtet habe. Die Sache selbst war nicht schwierig, aber die Gründe für und wider wollten sie zu keiner Entscheidung kommen lassen. Wie ein steuerloses Boot drehte sich die Diskussion immer um denselben Punkt, bis sie zuletzt in Gefahr kam, von einem Tränenstrom überflutet zu werden. Scharat sagte: »Der Doktor meint, du solltest noch ein paar Tage hier bleiben.« »Dein Doktor weiß natürlich alles«, erwiderte Kiran. »Aber du weißt doch auch, daß gerade jetzt überall so viel Krankheiten sind!« sagte Scharat. »Du tätest gut, noch ein paar Monate hierzubleiben.« »Als ob hier alle Welt gesund wäre!« Die Sache war die: Kiran war der allgemeine Liebling ihrer Verwandten und Freunde, so daß, als sie ernstlich erkrankte, alle in großer Sorge um sie waren. Die Besserwisser im Dorfe zwar fanden es lächerlich von ihrem Gatten, daß er sich um eine Frau so anstellte und sogar Luftveränderung für sie für nötig hielt. Als ob noch niemals eine Frau krank gewesen wäre! Und meinte er denn, daß an dem Ort, wohin er sie bringen wollte, die Leute unsterblich seien? Aber Scharat und seine Mutter hatten für solche Reden taube Ohren, ihnen war das Leben ihres Lieblings wichtiger als alle Weisheit eines Dorfes. Denn in solchen Fällen haben die Menschen immer ihren eigenen Maßstab. So waren sie also nach Tschandernagur gereist und Kiran war genesen, wenn sie auch noch sehr schwach war. Ihr Gesichtchen war so schmal und blaß, daß der Gatte, wenn er sie ansah, von Mitleid erfüllt war, und der Gedanke, wie nahe sie daran gewesen war, ihm zu entgleiten, machte sein Herz erzittern. Kiran liebte fröhliche Geselligkeit; das einsame Leben in der Villa am Fluß war gar nicht nach ihrem Geschmack. Es gab nichts zu tun, keine interessanten Nachbarn, und sie haßte es, sich den ganzen Tag mit Medizin und Krankenkost zu beschäftigen. Sie hatte genug von dem ewigen Aufwärmen und Einlöffeln. Dies war der Gegenstand, über den die Gatten sich unterhielten, als sie an diesem stürmischen Abend zusammen im Schlafzimmer saßen. Solange Kiran sich zu Erörterungen herbeiließ, war ein ehrlicher Kampf möglich. Aber als sie nun aufhörte, ihm zu antworten, den Kopf zurückwarf und verzweifelt nach der andern Seite starrte, war der arme Mann entwaffnet. Er war schon im Begriff, sich bedingungslos zu ergeben, als ein Diener etwas durch die geschlossene Tür rief. Scharat stand auf und öffnete die Tür. Der Diener berichtete, daß ein Boot im Sturm gekentert, und daß es einem der Insassen, einem jungen Brahmanenknaben, gelungen sei, ans Ufer zu schwimmen und in ihrem Garten zu landen. Kiran war mit einem Male wieder sie selbst mit all ihrer liebreichen Hilfsbereitschaft. Sie machte sich sofort daran, trockenes Zeug für den Knaben herauszusuchen. Dann wärmte sie eine Tasse Milch und ließ ihn in ihr Zimmer kommen. Der Knabe hatte langes, lockiges Haar, große ausdrucksvolle Augen, und noch keine Spur von Flaum auf dem Gesicht. Nachdem Kiran ihn genötigt hatte, etwas Milch zu trinken, mußte er ihr alles von sich erzählen. Er sagte ihr, daß er Nilkanta hieße und zu einer Schauspielertruppe gehöre. Sie waren unterwegs nach einer benachbarten Villa, um dort zu spielen, als das Boot plötzlich im Sturm gekentert war. Er hatte keine Ahnung, was aus seinen Gefährten geworden war. Er war ein guter Schwimmer, und seine Kräfte hatten gerade noch gereicht, um ans andere Ufer zu gelangen. Der Knabe blieb bei ihnen. Daß er so mit genauer Not einem schrecklichen Tode entronnen war, erweckte Kirans warme Teilnahme für ihn. Scharat fand, daß die Ankunft des Knaben gerade in diesem Augenblick sich sehr glücklich traf, da seine Frau Unterhaltung haben und sich vielleicht bewegen lassen würde, noch eine Zeitlang zu bleiben. Auch ihre Schwiegermutter freute sich über die Aussicht, sich dem brahmanischen Gast wohltätig erweisen zu können. Und Nilkanta selbst war entzückt, daß er sowohl seinem Prinzipal wie dem Jenseits entronnen war und zugleich in dieser reichen Familie eine Heimat gefunden hatte. Aber in kurzer Zeit wurden Scharat und seine Mutter andern Sinnes und sehnten sich danach, ihn wieder loszuwerden. Der Knabe fand ein geheimes Vergnügen daran, Scharats Pfeifen zu rauchen; er ging mit größter Seelenruhe im strömenden Regen mit Scharats seidenem Regenschirm davon, um einen Spaziergang durchs Dorf zu machen, und freundete sich mit jedem, den er traf, an. Dazu kam noch, daß er aus dem Dorf einen Bastardköter mitbrachte, den er so rücksichtslos verzog, daß er mit schmutzigen Pfoten hereinkam und Spuren seines Besuchs auf Scharats reiner Bettdecke zurückließ. Dann sammelte er eine treu ergebene Schar von Jungen jeden Standes und Alters um sich, und die Folge war, daß in der ganzen Nachbarschaft kein einziger Mango in dem Sommer mehr zur Reife kam. Es war kein Zweifel, daß Kiran den Knaben verzog. Scharat machte ihr oft Vorstellungen deswegen, aber sie hörte nicht auf ihn. Sie putzte ihn geckenhaft heraus mit Scharats abgelegten Kleidern oder mit neuen, die sie ihm schenkte. Und weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte und auch neugierig war, mehr über ihn zu erfahren, ließ sie ihn beständig in ihr Zimmer rufen. Wenn sie gebadet und zu Mittag gegessen hatte, pflegte sie auf ihrem Bett zu sitzen, ihre silberne Betelbüchse neben sich, und während das Mädchen ihr das Haar kämmte und trocknete, stand Nilkanta vor ihr und deklamierte Stücke aus seinen alten Rollen, wobei er durch Gesang und Gesten das Spiel belebte, während seine Koboldlocken ihn wild umflatterten. So gingen die langen Nachmittagstunden fröhlich hin. Kiran versuchte oft, Scharat zu überreden, sich als Zuhörer zu ihnen zu setzen, aber Scharat, der den Jungen von Herzen verabscheute, lehnte ab. Auch konnte Nilkanta seine Rolle nicht halb so gut spielen, wenn Scharat da war. Seine Mutter ließ sich mitunter bewegen zu kommen, in der Hoffnung, in den Vorträgen heilige Namen zu hören; aber die Neigung zu ihrem Mittagsschläfchen erwies sich stärker als ihre Andacht; sie nickte jedesmal bald ein. Der Knabe bekam oft Knüffe und Ohrfeigen von Scharat, aber da das nichts war im Vergleich zu dem, was er bei der Schauspielertruppe gewohnt gewesen war, machte er sich nicht das geringste daraus. Er hatte aus den Erfahrungen, die er in seinem kurzen Leben gemacht hatte, den Schluß gezogen, daß das menschliche Leben aus Essen und Schlägen besteht, und daß die Schläge bei weitem überwiegen. Es war schwer, Nilkantas Alter zu bestimmen. Für 14 oder 15 war sein Gesicht zu alt; für 17 oder 18 zu jung. Er war entweder ein frühreifer Knabe oder ein knabenhafter Jüngling. Die Sache war die, daß er, als er als ganz kleiner Junge zu der Schauspielertruppe kam, die Rollen der Radhika, der Damajanti, der Sita und der Gefährtin Bidjas gespielt hatte. Die Vorsehung war rücksichtsvoll genug gewesen, ihn genau so groß wachsen zu lassen, wie sein Direktor ihn brauchte, und dann sein Wachstum anzuhalten. Da jeder sah, wie klein er war, und er selbst sich auch sehr klein vorkam, wurde ihm nicht die seinem Alter gebührende Achtung zuteil. Alles dies kam zusammen, um ihn mitunter als einen unreifen Siebzehnjährigen erscheinen zu lassen, und dann wieder als einen Vierzehnjährigen, der aber selbst für einen Siebzehnjährigen schon zu viel wußte. Und als keine Spur von Flaum auf seinem Gesicht sich zeigen wollte, wurde die Frage noch schwieriger. Entweder infolge des Rauchens oder weil er sich gewöhnt hatte, altklug zu reden, zogen sich Falten um seinen Mund, die ihn alt und hart erscheinen ließen, aber aus seinen großen Augen leuchtete Unschuld und Jugend. Ich glaube, sein Herz war jung geblieben, nur seine äußere Erscheinung war zu früh gereift in der Treibhausatmosphäre, die das grelle Licht der Öffentlichkeit um ihn geschaffen hatte. In dem stillen Schutz von Scharats Haus und Garten in Tschandernagur hatte die Natur Muße, ungehindert ihr Werk zu tun. Er hatte unnatürlich lange im Zustande der Kindheit verharrt, jetzt glitt er unbemerkt und schnell aus diesem Stadium heraus und seine siebzehn oder achtzehn Jahre kamen zu ihrem Recht. Niemand bemerkte die Veränderung; sie zeigte sich zuerst darin, daß er sich schämte, wenn Kiran ihn wie einen Knaben behandelte. Als die lustige Kiran ihm eines Tages vorschlug, er solle die Rolle einer Gesellschafterin spielen, verletzte ihn der Gedanke, daß er Frauenkleider anziehen solle, obgleich er selbst nicht wußte, warum. Und als sie ihn rief, damit er ihr seine alten Rollen vorspiele, verschwand er. Es kam ihm nie der Gedanke, daß er auch jetzt noch nicht etwas viel Besseres war als ein Bursche für alles bei einer herumziehenden Truppe. Er entschloß sich sogar, bei Scharats Geschäftsführer etwas Unterricht zu nehmen. Aber da Nilkanta der verzogene Liebling seiner Herrin war, konnte der Geschäftsführer ihn nicht ausstehen. Auch machte es die Gewohnheit seines unsteten Lebens ihm unmöglich, seine Gedanken längere Zeit auf eine Sache zu richten; bald begann das Alphabet einen verworrenen Tanz vor seinen Augen aufzuführen. Er pflegte lange Zeit am Fluß zu sitzen, den Rücken an einen Tschampabaum gelehnt und das geöffnete Buch auf dem Schoß. Die Wellen seufzten zu seinen Füßen, Boote trieben an ihm vorüber, und Vögel zwitscherten um ihn herum und schwirrten rastlos über ihn hin. Welche Gedanken ihn bewegten, wenn er so dasaß und in sein Buch starrte, das wußte nur er, und vielleicht wußte er selbst es auch nicht. Er kam nie von einem Wort zum andern, aber der erhebende Gedanke, daß er tatsächlich ein Buch las, füllte seine Seele mit stolzer Freude. Immer, wenn ein Boot vorbeikam, hob er sein Buch hoch und tat so, als ob er eifrig läse, indem er mit lauter Stimme deklamierte. Aber sobald die Zuhörer vorüber waren, ließ sein Eifer nach. Früher sang er seine Lieder mechanisch, aber jetzt erregten ihre Melodien seine Seele. Der Text war unbedeutend und voll von spielerischen Stabreimen. Und das Wenige, was an Sinn darin lag, ging über sein Verständnis. Doch wenn er sang: Zweigeborener Vogel, ach, welch Unheil hat dich hergetragen? Was tat dir unsre Königin, daß du sie willst im Wald erschlagen? so fühlte er sich in eine andere Welt versetzt, zu Wesen anderer Art. Diese vertraute Erde und sein eigenes armes Leben wurden zu Musik, und er selbst wurde ein anderer. Jenes Märchen von der Gans und der Königstochter warf ein Bild von unendlicher Schönheit auf den Spiegel seiner Seele. Es ist unmöglich zu sagen, welche Rolle er selbst in seiner Phantasie spielte, aber der arme und verlassene kleine Sklave der Schauspielertruppe war ganz vergessen. Wenn ein armes verwahrlostes Kind sich am Abend hungrig und schmutzig in seinem elenden Heim schlafen legt und von Prinzen und Prinzessinnen und Märchenschätzen träumt, dann befreit sich in der dunklen Hütte mit ihrer trübe flackernden Kerze die Seele von den Banden der Armut und des Elends und schreitet in jugendlicher Schönheit und mit strahlendem Gewande kühn durch das Märchenreich, wo nichts unmöglich ist. So schuf auch dieser herumgestoßene, heimatlose Knabe sich und seine Welt neu, wenn er durch die Melodien seiner Lieder schritt. Das plätschernde Wasser, die rauschenden Blätter, die zwitschernden Vögel; die Göttin, die ihm, dem Hilflosen, Verlassenen Obdach gegeben hatte, ihr Gesicht voller Anmut und Liebreiz, ihre wundervollen Arme mit den glänzenden Spangen, ihre rosigen Füße, zart wie Blumenknospen, alles dies wurde wie durch einen Zauber eins mit der Musik seines Liedes. Aber wenn das Lied zu Ende war, so schwand das Zauberbild, und er war wieder der Nilkanta der kleinen Wanderbühne mit seinen wilden Koboldlocken. Und dann kam Scharat herein, noch ganz erregt über die Klagen seines Nachbarn, dessen Mangobäume geplündert waren, und ohrfeigte und knuffte ihn. Und der Bursche Nilkanta, der Verführer der Dorfjugend, ging hinaus, um neues Unheil anzustiften zu Lande und zu Wasser und in der Luft, auf den Zweigen der Bäume. Bald nach der Ankunft Nilkantas kam Scharats jüngerer Bruder Satisch, um seine Ferien in Tschandernagur zuzubringen. Kiran war entzückt, eine neue Unterhaltung zu finden. Sie und Satisch waren im gleichen Alter, und die Zeit verging ihnen angenehm mit Spiel und Streit und Verkleidungen und Lachen und selbst Weinen. Sie schlich sich von hinten an ihn heran und hielt ihm plötzlich die Augen zu, mit Scharlachpaste an den Fingern, sie schrieb »Affe« auf seinen Rücken, oder schloß ihn unter schallendem Gelächter in sein Zimmer ein. Satisch seinerseits gab ihr nichts nach; er nahm ihr ihre Schlüssel und Ringe weg, mischte Pfeffer unter ihren Betel und band sie unbemerkt am Bettpfosten fest. Gott mag wissen, was inzwischen in den armen Nilkanta gefahren war. Er war plötzlich so voll Bitterkeit, daß er sie an irgend jemandem oder irgend etwas auslassen mußte. Er verprügelte seine treu ergebenen Anhänger, so daß sie laut weinend davonliefen. Er stieß seinen Lieblingsköter, bis der Himmel von seinem Heulen widerhallte. Wenn er spazieren ging, bestreute er seinen Weg mit Zweigen und Blättern, die er mit seinem Stock von den Sträuchern am Wege hieb. Kiran mochte den Menschen gern etwas Gutes zu essen vorsetzen. Nilkanta konnte im Essen Unglaubliches leisten und wies nie einen guten Bissen zurück, wie oft man ihn ihm auch bot. Daher ließ Kiran ihn gern zu sich rufen, damit er bei ihr aß; es machte ihr die größte Freude zuzusehen, wie dieser Brahmanenknabe sich ordentlich satt aß, und sie überhäufte ihn mit Leckerbissen. Nachdem Satisch gekommen war, hatte sie viel weniger Zeit für Nilkanta übrig und war selten dabei, wenn er sein Essen bekam. Sonst hatte ihre Abwesenheit seinen Appetit nicht beeinträchtigt, und er stand nicht auf, bis er seine Milch bis auf den letzten Tropfen getrunken und die Tasse noch gründlich mit Wasser nachgespült hatte. Aber jetzt war er unglücklich, wenn Kiran nicht dabei war, um ihn zu diesem oder jenem Gericht zu nötigen, und nichts wollte ihm schmecken. Er stand auf, ohne viel gegessen zu haben, und sagte gepreßt: »Ich bin nicht hungrig.« Er bildete sich ein, daß Kiran von seiner dauernden Appetitlosigkeit hören würde; er malte sich ihre Besorgnis aus und hoffte, sie würde ihn rufen lassen und ihn zum Essen drängen. Aber nichts dergleichen geschah. Kiran erfuhr nie davon und ließ ihn nicht rufen, und das Mädchen aß alles auf, was er übrigließ. Dann löschte er die Lampe in seinem Zimmer aus, warf sich in der Dunkelheit aufs Bett und drückte krampfhaft schluchzend das Gesicht in die Kissen. Was war sein Kummer? Wer hatte ihm etwas getan? Und wer sollte ihm helfen? Endlich, wenn niemand kam, neigte sich der Schlaf mütterlich über ihn und besänftigte liebkosend das wehe Herz des mutterlosen Knaben. Nilkanta kam zu der festen Überzeugung, daß Satisch Kiran gegen ihn einnahm. Wenn Kiran zerstreut war und ihm nicht wie sonst freundlich zunickte, zog er sofort daraus den Schluß, daß Satisch ihn bei ihr verleumdet hätte. Er betete jeden Tag zu den Göttern mit der ganzen Inbrunst seines Hasses, sie möchten ihn in seinem nächsten Leben als Satisch und Satisch als Nilkanta geboren werden lassen. Er glaubte, daß der Zorn eines Brahmanen nicht wirkungslos sei, und je mehr er Satisch mit dem Feuer seiner Flüche zu verzehren suchte, je mehr verzehrte sich sein eigenes Herz. Und dabei hörte er, wie Satisch oben mit seiner Schwägerin scherzte und lachte. Nilkanta wagte es nie, Satisch seine Feindschaft offen zu zeigen. Aber er fand hundert kleine Gelegenheiten, ihn zu ärgern. Wenn Satisch beim Baden auf den Fluß hinausschwamm und seine Seife auf den Stufen des Badeplatzes liegen ließ, so war sie, wenn er zurückkam, allemal verschwunden. Einmal schwamm ihm sein schöner gestreifter Lieblingskittel davon, und er glaubte, der Wind habe ihn ins Wasser geweht. Eines Tages wollte Kiran Satisch eine Unterhaltung verschaffen und ließ Nilkanta rufen, daß er wie sonst seine Rollen vordeklamierte. Aber er stand in finsterem Schweigen da. Ganz überrascht fragte ihn Kiran, was ihm fehle. Nilkanta gab keine Antwort. Und als sie ihn noch einmal drängte, er solle ein besonderes Lieblingsstück von ihr vortragen, sagte er: »Ich habe es vergessen« und ging hinaus. Endlich kam die Zeit ihrer Rückkehr nach Hause. Jeder war mit Packen beschäftigt. Satisch sollte mit ihnen reisen. Aber zu Nilkanta sagte niemand ein Wort. Die Frage, ob er mitgehen solle oder nicht, schien niemandem eingefallen zu sein. Natürlich war diese Frage von Kiran aufgeworfen worden, und sie hatte den Vorschlag gemacht, ihn mitzunehmen. Aber sowohl ihr Gatte wie seine Mutter und sein Bruder waren so energisch dagegen gewesen, daß sie die Sache aufgab. Ein paar Tage vor der Abreise ließ sie den Knaben rufen und riet ihm mit freundlichen Worten, wieder zu den Seinen zurückzukehren. Er hatte sich solange von ihr vernachlässigt gefühlt, daß ihr gütiger Ton ihn jetzt überwältigte; er brach in Tränen aus. Auch Kirans Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Gewissen sagte ihr, daß sie hier gedankenlos und selbstsüchtig ein Band geknüpft hatte, das nicht dauern konnte. Aber Satisch wurde unwillig, als er diesen großen Jungen weinen sah. »Was steht der Narr da und heult, statt zu sprechen?« sagte er. Und als Kiran ihn ein gefühlloses Geschöpf schalt, erwiderte er: »Liebe Schwester, das verstehst du nicht. Du bist zu gut und vertrauensvoll. Dieser Bursche kommt von Gott weiß wo hergelaufen und wird wie ein König behandelt. Natürlich hat der Tiger nicht Lust, wieder in eine Maus verwandelt zu werden.[33] Und augenscheinlich hat er sich gemerkt, daß dein Herz mit ein paar Tränen leicht zu rühren ist.« [33] Bezieht sich auf eine Sage von einem Heiligen, der eine zahme Maus in einen Tiger verwandelte. Nilkanta eilte hinaus. Er hätte ein Messer sein mögen, um Satisch zu zerfleischen, eine Nadel, um ihn durch und durch zu stechen, ein Feuer, um ihn zu Asche zu verbrennen. Aber Satisch trug nicht einmal eine Schramme davon. Nur sein eigenes Herz blutete unaufhörlich. Satisch hatte ein großes Tintenfaß von Kalkutta mitgebracht. Der Tintenbehälter steckte in einem Perlmutter-Boot, das von einer neusilbernen Gans gezogen wurde, die einen Federhalter trug. Er liebte es sehr und reinigte es jeden Tag sorgfältig mit einem alten seidenen Taschentuch. Kiran pflegte dem Vogel lachend auf seinen silbernen Schnabel zu klopfen und zu singen: »Zweigeborner Vogel, ach, welch Unglück hat dich hergetragen?« und dann begannen die beiden sich wie gewöhnlich zu necken. Am Tage vor ihrer Abreise fehlte das Tintenfaß und war nirgends zu finden. Kiran sagte lachend: »Schwager, deine Gans ist weggeflogen, um deine Damajanti zu suchen[34].« [34] Satisch eine Gattin zu suchen. Aber Satisch war in großer Wut. Er war fest überzeugt, daß Nilkanta es gestohlen hätte, denn man hatte ihn am Abend vorher um das Zimmer herumlungern sehen. Er ließ den Angeschuldigten rufen. Kiran war auch da. »Du hast mein Tintenfaß gestohlen, du Dieb!« brach er los. »Bring es sogleich her!« Nilkanta hatte von Scharat alle Strafen und Züchtigungen, ob sie nun verdient waren oder unverdient, mit vollkommenem Gleichmut hingenommen. Aber als man ihn in Kirans Gegenwart einen Dieb schalt, flammten seine Augen in wildem Zorn auf, seine Brust wogte, und seine Kehle war wie zugeschnürt. Wenn Satisch noch ein Wort gesagt hätte, so hätte er sich wie eine wilde Katze auf ihn gestürzt und seine Nägel als Krallen gebraucht. Kiran war sehr unglücklich über diese Szene. Sie führte den Knaben hinaus in ein anderes Zimmer und sagte in ihrem liebevollen, gütigen Ton: »Nilu, wenn du das Tintenfaß wirklich genommen hast, gib es mir ganz still zurück; dann will ich schon dafür sorgen, daß dir niemand ein Wort darüber sagt.« Große Tränen rannen über die Wangen des Knaben, bis er endlich bitterlich weinend sein Gesicht in den Händen verbarg. Kiran ging zu den andern zurück und sagte: »Ich bin sicher, daß Nilkanta das Tintenfaß nicht genommen hat.« Aber Scharat und Satisch waren ebenso fest überzeugt, daß kein anderer als Nilkanta es getan hätte. »Ganz gewiß nicht!« versicherte Kiran. Scharat wollte mit dem Jungen ein Kreuzverhör anstellen, aber seine Frau ließ es nicht zu. Dann machte Satisch den Vorschlag, sein Zimmer und seinen Koffer zu untersuchen. »Wenn ihr das zu tun wagt,« sagte Kiran, »so werde ich euch nie in meinem Leben verzeihen. Ihr sollt diesem armen unschuldigen Knaben nicht nachspionieren.« Und dabei füllten sich ihre Augen mit Tränen. Das entschied die Sache und bewirkte, daß man Nilkanta in Ruhe ließ. Kirans Herz quoll über von Mitleid mit dem armen heimatlosen Jungen, den man so hatte kränken wollen. Sie kaufte zwei neue Anzüge und ein Paar Schuhe, und mit diesen Sachen und mit einer Banknote ging sie am Abend leise in Nilkantas Zimmer. Sie wollte ihm diese Abschiedsgeschenke als Überraschung in den Koffer legen. Der Koffer selbst war auch ein Geschenk von ihr. Aus ihrem Schlüsselbund suchte sie einen aus, der paßte, und öffnete geräuschlos den Koffer. Er war so vollgestopft mit verschiedenen Dingen, daß die neuen Kleidungsstücke nicht mehr Platz darin hatten. Daher schien es ihr besser, alles herauszunehmen und den Koffer für ihn zu packen. Zuerst kamen Messer, Kreisel, Rollen mit Drachenschnur, Bambuszweige, polierte Muscheln zum Schälen von unreifen Mangos, Böden von zerbrochenen Gläsern, kurz all solche Dinge, woran ein Knabenherz hängt. Dann kam eine Schicht Wäsche, rein und schmutzig durcheinander. Und ganz unten, unter der Wäsche, lag das vermißte Tintenfaß mit Gans und allem! Kiran stieg das Blut heiß in die Wangen, sie sank wie betäubt neben dem Koffer nieder, das Tintenfaß in der Hand, ganz verwirrt und ratlos. Inzwischen war Nilkanta von hinten ins Zimmer gekommen, ohne daß Kiran ihn bemerkte. Er hatte alles gesehen und glaubte, daß Kiran sich bei ihm eingeschlichen habe, um ihn als Dieb zu entlarven, und daß seine Tat nun entdeckt sei. Wie konnte er je hoffen, sie zu überzeugen, daß er kein Dieb sei und daß nur Rachsucht ihn bewogen hatte, das Tintenfaß wegzunehmen mit der Absicht, es bei nächster Gelegenheit in den Fluß zu werfen? In einem schwachen Augenblick hatte er es statt dessen in seinem Koffer versteckt. »Ich bin kein Dieb!« rief es in ihm; »ein Dieb bin ich nicht!« Was war er denn? Was hätte er sagen können? Er hatte gestohlen und war doch kein Dieb! Er würde Kiran nie begreiflich machen können, welch schweres Unrecht sie ihm tat, wenn sie ihn für einen Dieb hielt! Und wie konnte er es je vergessen, daß sie versucht hatte, ihm nachzuspionieren? Endlich legte Kiran mit einem tiefen Seufzer das Tintenfaß in den Koffer zurück, und als sei sie selbst der Dieb, verbarg sie es wieder unter der Wäsche und den anderen Dingen, und obenauf legte sie die Geschenke und die Banknote, die sie mitgebracht hatte. Am nächsten Tage war der Knabe nirgends zu finden. Die Leute im Dorf hatten ihn nicht gesehen, die Polizei konnte keine Spur von ihm entdecken. »Nun laßt uns doch einmal unsere Neugierde befriedigen und seinen Koffer ansehen«, meinte Scharat. Aber Kiran ließ es nicht zu. Sie ließ den Koffer auf ihr Zimmer bringen, und nachdem sie das Tintenfaß herausgenommen hatte, warf sie es in den Fluß. Die ganze Familie kehrte nach Hause zurück. Am nächsten Tage lag der Garten verlassen da. Nur Nilkantas hungriger kleiner Köter lief suchend am Flußufer auf und ab und heulte und heulte, als ob ihm das Herz brechen wollte. DAS KARTENKÖNIGREICH I Es war einmal ein Kartenkönigreich auf einer einsamen Insel im fernen Meer. Dort lebten die Könige und die Königinnen, die Asse und die Buben. Die Zehne und Neune mit den Zweien und Dreien und all den andern Ständen hatten sich auch schon vor langer Zeit dort niedergelassen. Aber diese gehörten nicht zu den zwiegebornen[35] Kasten wie die erlauchten Hofkarten. [35] »Zwiegeboren« ist die Bezeichnung der drei oberen Kasten (Brahmanen, Kschatrijas und Vaischjas). Die Anlegung der heiligen Schnur bei der Einweihung gilt als zweite Geburt. (Anm. d. Übers.) As, König und Bube waren die drei höchsten Kasten. Die vierte Kaste war aus einer Vermischung mit den niedrigeren Karten entstanden. Die Zweie und Dreie aber waren die niedrigsten von allen. Diese niedrigeren Karten durften niemals in derselben Reihe mit den großen Hofkarten sitzen. Die Satzungen und Regeln dieses Inselkönigreichs waren wirklich wunderbar. Der besondere Rang jedes Einzelnen war seit unvordenklichen Zeiten festgesetzt. Jeder hatte seine ihm zugewiesene Arbeit und tat nie etwas anderes. Eine unsichtbare Hand schien sie bei jedem ihrer Schritte zu leiten -- den Regeln gemäß. Niemand hatte im Kartenkönigreich je Veranlassung zu denken; niemand brauchte zu irgendeinem Entschluß zu kommen; niemand kam je in den Fall, über irgendeine neue Sache eine Meinung zu vertreten. Die Bürger bewegten sich stumm und teilnahmlos auf dem vorgeschriebenen Wege dahin. Wenn sie umfielen, geschah es ganz geräuschlos. Sie legten sich auf den Rücken, die Augen nach oben gerichtet, mit korrektem Ausdruck in jedem Zuge ihres Gesichts, der ihm nun für immer eingeprägt war. Es herrschte eine merkwürdige Stille im Königreich der Karten. Sattheit und Zufriedenheit waren vollkommen in ihrer runden Fülle. Niemals gab es Aufruhr oder Gewalttat, niemals Aufregung oder Begeisterung. Der große Ozean lullte mit seiner ewig gleichen Melodie die Insel in Schlaf, während die weißen Hände seiner Wellen sanft und weich über ihre Stirn strichen. Der weite Himmel breitete sein azurnes, flaumiges Gefieder schützend über die Insel wie die Schwingen einer brütenden Vogelmutter. Denn am fernen Horizont bezeichnete eine tiefblaue Linie ein anderes Ufer. Aber kein Laut von Kampf und Streit konnte bis zu der Insel der Karten dringen und ihre tiefe Ruhe stören. II In jenem fernen, fremden Lande jenseits des Meeres lebte ein junger Prinz, dessen Mutter eine kummervolle Königin war. Diese Königin war in Ungnade gefallen und lebte mit ihrem einzigen Sohn an der Meeresküste. Der Prinz verlebte seine Kindheit allein und verlassen; er saß bei seiner verlassenen Mutter und wob das Netz seiner ungeheuren Wünsche. Er sehnte sich auf die Suche zu gehen nach dem fliegenden Roß, nach dem Edelstein in der Haube der Kobraschlange, nach der Himmelsrose, nach dem Zauberstab oder nach dem Orte jenseits der dreizehn Flüsse und sieben Seen, wo die Prinzessin Tausendschön im Schloß des Ungeheuers schlief. Vom Sohn des Kaufmanns lernte der junge Prinz in der Schule die Geschichten von fremden Königreichen. Vom Sohne des Amtmanns hörte er das Märchen von Alladin und der Wunderlampe. Und wenn der Regen herniederrauschte und die Wolken den Himmel bedeckten, saß er auf der Schwelle, und auf die See hinausblickend sagte er zu seiner kummervollen Mutter: »Mutter, erzähle mir eine Geschichte von einem ganz fernen Lande.« Und dann erzählte ihm seine Mutter eine endlos lange Geschichte, die sie in ihrer Kindheit gehört hatte, von einem Wunderlande jenseits des Meeres, wo die Prinzessin Tausendschön lebte. Und das Herz des jungen Prinzen wurde krank vor Sehnsucht, wenn er da auf der Scholle saß und hinausblickte auf den Ozean und der Wundergeschichte seiner Mutter lauschte, während draußen der Regen herniederrauschte und die grauen Wolken den Himmel bedeckten. Eines Tages kam der Sohn des Kaufmanns zum Prinzen und sagte kühn: »Kamerad, meine Studien sind zu Ende. Jetzt will ich auf Reisen gehen und auf dem Meere mein Glück versuchen. Ich komme, dir Lebewohl zu sagen.« Der Prinz sagte: »Ich will mit dir gehen.« Und der Sohn des Amtmanns sagte auch: »Kameraden, ihr habt immer treu und redlich an mir gehandelt, ihr werdet mich nicht zurücklassen. Auch ich will euer Gefährte sein.« Da sagte der junge Prinz zu seiner kummervollen Mutter: »Mutter, ich will jetzt auf die Reise gehen und mein Glück suchen. Wenn ich wieder zurückkomme, werde ich ein Mittel gefunden haben, all deinen Kummer zu bannen.« So machten sich denn die drei Gefährten zusammen auf die Reise. Im Hafen lagen die zwölf Schiffe des Kaufmanns vor Anker, und die drei Gefährten gingen an Bord. Der Südwind blies, die zwölf Schiffe segelten fort, und die Wünsche des Prinzen flatterten ihnen voran. An der Muschelinsel füllten sie ein Schiff mit Muscheln. An der Sandelbauminsel füllten sie ein zweites Schiff mit Sandelholz, und an der Koralleninsel füllten sie ein drittes Schiff mit Korallen. Vier Jahre gingen dahin, und sie füllten noch vier Schiffe, eins mit Elfenbein, eins mit Moschus, eins mit Gewürznelken und eins mit Muskatnüssen. Aber als diese Schiffe alle beladen waren, erhob sich ein furchtbarer Sturm. Alle Schiffe gingen unter mit ihren Nelken und Muskatnüssen und Moschus und Elfenbein und Korallen und Sandelholz und Muscheln. Aber das Schiff mit den drei Gefährten schlug gegen das Felsenriff einer Insel, warf sie wohlbehalten ans Ufer und brach selbst in Stücke. Dies war die berühmte Karteninsel, wo As und König und Königin und Bube mit den Neunen und Zehnen und all den anderen Ständen nach den festgesetzten Regeln lebten. III Bis dahin hatte nie etwas jene Inselstille gestört. Nie hatte sich etwas Neues ereignet. Nie war man über irgendeine Sache verschiedener Meinung gewesen. Und nun erschienen plötzlich die drei Gefährten, die das Meer ans Land geworfen hatte, -- und die große Debatte begann. Da waren drei Hauptstreitpunkte. Erstens: zu welcher Kaste sollten diese klassenlosen Fremden gehören? Sollten sie denselben Rang einnehmen wie die Hofkarten? Oder waren es bloß Leute einer niederen Kaste, denen man den Platz der Neune und Zehne zuwies? Es lag kein Präzedenzfall vor, nach dem man diese wichtige Frage hätte entscheiden können. Zweitens: Zu welcher Rasse gehörten sie? Hatten sie die hellere und zartere Hautfarbe der Herzen oder die dunklere der Treffs? Über diese Frage wurde endlos disputiert. Das ganze Heiratssystem der Insel mit seinen verwickelten Satzungen hing von ihrer richtigen Entscheidung ab. Drittens: Was für Nahrung sollten sie erhalten? Bei wem sollten sie wohnen und schlafen? Und sollten sie mit dem Kopf nach Südwesten hin liegen oder nach Nordwesten, oder nur nach Nordosten? Im ganzen Kartenkönigreiche war nie über eine Reihe so wichtiger und höchst kritischer Fragen verhandelt worden. Aber inzwischen wurden die drei Gefährten verzweifelt hungrig. Sie mußten sich irgendwie etwas zu essen verschaffen. Und während die große Beratung noch vor sich ging mit ihren endlosen Pausen und während die Asse für sich eine Versammlung einberiefen und einen Ausschuß bildeten, der irgendeinen alten Fall aufstöbern sollte, nach dem man entscheiden könnte, aßen die drei Gefährten selbst alles, was sie finden konnten, und tranken aus jedem Gefäß und brachen alle Regeln. Selbst die Zweie und Dreie waren über dies unerhörte Betragen entsetzt. Die Dreie sagten: »Brüder Zwei, diese Leute sind einfach schamlos.« Und die Zweie sagten: »Brüder Drei, sie gehören augenscheinlich zu einer noch niedrigeren Kaste als wir.« Nachdem die drei Gefährten ihr Mahl beendet hatten, machten sie einen Spaziergang durch die Stadt. Als sie sahen, wie die Leute gewichtig durch die Straßen schritten, in düster feierlichem Zuge, mit ängstlich korrekten Mienen, da wandte sich der Prinz nach dem Sohn des Kaufmanns und dem Sohn des Amtmanns um, warf den Kopf zurück und brach in unbändiges Gelächter aus. Die Königsstraße hinab über den Asplatz und am Bubenkai entlang erscholl dies seltsame, unerhörte Gelächter, bis es wie über sich selbst erschrocken im großen leeren Raum des Schweigens hinstarb. Den Sohn des Amtmanns und den Sohn des Kaufmanns überlief es eiskalt bei dem geisterhaften Schweigen rings um sie her. Sie wandten sich zum Prinzen und sagten: »Kamerad, laß uns von hier fortgehen. Laß uns keinen Augenblick länger in diesem unheimlichen Gespensterlande bleiben.« Aber der Prinz sagte: »Kameraden, diese Leute sehen aus wie Menschen; ich will sie einmal gehörig durch und durch und um und um schütteln, um zu sehen, ob denn nicht noch ein einziger Tropfen warmen Lebensblutes in ihren Adern übrig ist!« IV Ein Tag nach dem andern verging, und das Leben der Insel rann still und gelassen dahin, fast ohne das leiseste Wellengekräusel. Die drei Gefährten aber kehrten sich an keine Regeln und Satzungen. Sie taten nie etwas nach vorgeschriebener Weise, mochten sie nun stehen oder sitzen oder sich umwenden oder auf dem Rücken liegen. Im Gegenteil, wo immer sie sahen, daß man diese Dinge genau nach den Regeln tat, brachen sie in ein zügelloses Gelächter aus. Auf sie machte der heilige Ernst dieser geheiligten Regeln durchaus keinen Eindruck. Eines Tages kamen die großen Hofkarten zu dem Prinzen und dem Sohn des Amtmanns und dem Sohn des Kaufmanns. »Warum«, fragten sie langsam, »bewegt ihr euch nicht nach den Regeln?« Die drei Gefährten antworteten: »Weil unsere Itscha (= Wunsch) es so will.« Die großen Hofkarten sagten alle zusammen mit hohler Grabesstimme, als wenn sie langsam aus einem jahrtausendelangen Schlaf erwachten: »Itscha? Und dürfen wir fragen, wer Itscha ist?« Sie ahnten damals noch nicht, wer Itscha war, aber die ganze Insel sollte es bald erfahren. Zuerst fing es an, leise in ihrem Geist zu dämmern, als sie das Tun des Prinzen beobachteten und dadurch zu der Erkenntnis kamen, daß sie geradeaus gehen konnten in einer Richtung, die der gewohnten entgegengesetzt war. Dann machten sie noch eine überraschende Entdeckung: sie bemerkten, daß die Karten noch eine andere Seite hatten, die sie nicht beachtet hatten. Dies war der Anfang der Wandlung. Nun aber, da die Wandlung einmal begonnen hatte, konnten die Gefährten die Inselbewohner immer tiefer in die Geheimnisse der Itscha einweihen. Den Karten wurde es allmählich klar, daß das Leben nicht an Regeln gebunden ist. Sie fingen an, eine geheime Befriedigung zu empfinden, daß sie die königliche Macht, für sich selbst zu wählen, ausüben konnten. Aber bei diesem ersten Anstoß der Itscha geriet der ganze Kartenhaufe ins Schwanken und fiel zu Boden. Es war, wie wenn eine ungeheure Riesenschlange aus langem Schlaf erwacht und langsam ihre zahllosen Windungen aufrollt, während ein Zittern durch ihren ganzen Körper läuft. V Bis dahin hatten die Königinnen der Piks und Treffs und Karos und Herzen immer hinter einem Vorhang gesessen und ins Leere gestarrt oder den Blick zu Boden gesenkt. Und jetzt geschah es plötzlich an einem Frühlingsnachmittag, daß Herzkönigin einen Augenblick die dunklen Wimpern hob und verstohlen vom Balkon aus einen schnellen Blick auf den Prinzen warf. »Großer Gott,« rief der Prinz, »ich dachte, das wären alles nur gemalte Figuren. Aber ich habe mich geirrt. Es sind doch Frauen.« Nun rief der junge Prinz seine beiden Gefährten zu sich und sagte in nachdenklichem Ton: »Meine Kameraden! Diese Damen haben einen Zauber, den ich nie zuvor bemerkt habe. Als ich den Blick aus den dunklen Augen der Königin sah, wie sie in einem neuen Gefühl aufleuchteten, da erschien er mir wie der erste leise Dämmerstrahl in einer neu erschaffenen Welt.« Die beiden Gefährten tauschten ein vielsagendes Lächeln und sagten: »Wirklich, Prinz?« Mit der armen Herzkönigin aber wurde es von diesem Tag an immer schlimmer. Sie fing an, alle Regeln zu vergessen, so daß es wirklich eine Schande war. Wenn sie zum Beispiel ihren Platz in der Reihe neben dem Buben hatte, so befand sie sich plötzlich statt dessen ganz zufällig an der Seite des Prinzen. Dann sagte der Bube mit unbeweglicher Miene und in feierlichem Ton: »Königin, Ihr habt Euch geirrt.« Und die roten Wangen der armen Herzkönigin röteten sich noch tiefer. Aber der Prinz kam ihr ritterlich zu Hilfe und sagte: »Nein, es ist kein Irrtum. Von heute ab bin ich Bube.« Nun geschah es aber, daß die andern, während jeder versuchte, die Unschicklichkeiten der schuldigen Herzkönigin zu verbessern, selbst anfingen, Fehler zu machen. Die Asse sahen sich von den Königen beiseite gedrängt. Die Buben gerieten unter die Könige. Die Neune und Zehne gaben sich ein Ansehen, als ob sie zu den großen Hofkarten gehörten. Die Zweie und Dreie wurden dabei ertappt, wie sie heimlich die Plätze einnahmen, die für die Viere und Fünfe reserviert waren. Es hatte nie vorher solch ein wirres Durcheinander gegeben. Schon viele Lenze waren über die Karteninsel hingezogen. Der Kokil, der Frühlingsvogel, hatte Jahr für Jahr seinen Sang ertönen lassen. Aber er hatte nie wie jetzt das Blut in Erregung gebracht. In vergangenen Tagen hatte das Meer unermüdlich sein Lied gesungen. Aber da hatte es ihnen nur das ewige Einerlei der Regel wiederholt. Nun aber verkündeten seine Wellen plötzlich mit glitzerndem Licht und leuchtenden Schatten und Tausenden von Stimmen das tiefste Sehnen des liebenden Herzens. VI Wohin sind nun plötzlich die korrekten, runden, regelmäßigen, selbstzufriedenen Gesichter? Hier ist ein Antlitz, blaß vor Liebessehnsucht. Hier ist ein Herz, das in wilder Qual pocht. Hier ist ein Geist, der sich in Zweifeln zermürbt. Musik und Seufzer, Lächeln und Tränen füllen die Luft. Das Leben pulsiert, Herzen brechen, Leidenschaften flackern auf. Jeder denkt jetzt an sein eigenes Aussehen und vergleicht sich mit andern. Treff-As überlegt bei sich, daß Pik-König wohl ganz passabel aussieht. »Aber,« meint er, »man braucht nur zu sehen, wie sich alle Blicke auf mich richten, wenn ich die Straße entlang gehe.« Pik-König sagt: »Was in aller Welt hat Treff-As sich immer den Hals zu verrenken und wie ein Pfau einherzustolzieren? Er bildet sich ein, daß alle Königinnen vor Liebe zu ihm sterben, während in Wahrheit -- --« Hier schweigt er und wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel. Aber die Königinnen waren die schlimmsten von allen. Sie fingen an, ihre ganze Zeit damit hinzubringen, daß sie sich auffällig herausputzten. Und die boshaften Bemerkungen, die sie übereinander machten, waren wahrhaft skandalös. Die Jünglinge saßen teilnahmlos im Laube unter den Bäumen und streckten sich im Waldesschatten aus. Und die jungen Mädchen in hellblauen Kleidern kamen wie zufällig zu denselben Schatten derselben Bäume desselben Waldes und taten, als ob sie niemanden dort sähen, und sahen möglichst unschuldig aus, als ob sie weiter nichts suchten. Und dann wagte ein junger Mann, der dreister war als die andern, in einem Anfall von Tollheit, sich einem Mädchen in Blau zu nähern. Aber als er näher kam, versagte ihm die Sprache. Er stand da, stumm und verwirrt, und der günstige Augenblick ging vorüber. Die Kokils sangen oben in den Zweigen. Der boshafte Südwind blies; er zerzauste ihnen das Haar und machte ihr Blut schneller kreisen. Das Laub der Bäume rauschte in Entzücken. Und der nie verstummende Gesang des Meeres schaukelte all das heimliche Sehnen der jungen Herzen auf der Springflut der Liebe hin und her. Die drei Gefährten hatten in die ausgetrockneten Kanäle des Kartenkönigreichs die volle Hochflut eines neuen Lebens gebracht. VII Und nun trat, obgleich die Flut hoch ging, eine Pause ein, als ob die steigenden Wogen nicht in Schaum zerfallen, sondern immer geschwellt bleiben wollten. Man sprach sich nicht in Worten aus, man ging nur vorsichtig einen Schritt vorwärts und wich dann zwei zurück. Alle schienen damit beschäftigt, ihre unerfüllten Wünsche wie Luftschlösser oder Sandburgen aufzutürmen. Sie waren blaß und stumm, ihre Augen brannten, ihre Lippen zitterten von unausgesprochenen Geheimnissen. Der Prinz sah, was ihnen fehlte. Er rief alle Inselbewohner zusammen und sagte: »Bringt die Flöten und die Zimbeln, die Pfeifen und die Trommeln. Laßt sie allesamt ertönen und erhebt lautes Freudengeschrei. Denn Herz-Königin wird noch heute abend ihren Gemahl wählen.« Und die Zehne und Neune begannen ihre Flöten und Pfeifen zu blasen; die Achte und Siebene bliesen ihre Posaunen und spielten ihre Bratschen, und selbst die Zweie und Dreie begannen wild ihre Trommeln zu schlagen. Als dieser lärmende Sturm von Musik sich erhob, fegte er mit einem Stoß alles Seufzen und allen Trübsinn hinweg. Und nun, welch ein Strom von Lachen und Reden! Es gab kühnes Werben und spottendes Weigern und Plaudern und Schwatzen und Spaß und Fröhlichkeit. Es war wie das Zittern und Schwanken und Rauschen und Brausen von Millionen von Blättern und Zweigen tief drinnen im Urwald, wenn der Sommersturm hindurchfährt. Aber Herz-Königin im rosenroten Gewande saß still im Schatten ihrer verschwiegenen Laube und horchte auf den tobenden Lärm der Musik und der Fröhlichkeit, der immer näher kam. Sie schloß die Augen und träumte ihren Liebestraum. Und als sie sie wieder öffnete, sah sie den Prinzen zu ihren Füßen sitzen und zu ihr aufblicken. Da bedeckte sie ihr Gesicht mit beiden Händen und wich zurück, in dem freudigen Aufruhr ihres Innern erzitternd. Und der Prinz verbrachte den ganzen Tag allein, an der Küste des wogenden Meeres hinwandelnd. Er sah immer diesen erschreckten Blick, dieses Zurückbeben der Königin, und in seinem Herzen pochte die Hoffnung laut. Am Abend warteten die buntgekleideten Reihen der Jünglinge und Mädchen dicht gedrängt und mit lächelnden Gesichtern vor den Toren des Palastes. Die Halle war feenhaft erleuchtet und mit Girlanden von Frühlingsblumen geschmückt. Langsam trat Herz-Königin ein, und die ganze Versammlung erhob sich, sie zu begrüßen. Einen Jasminkranz in der Hand, stand sie gesenkten Blickes vor dem Prinzen. In ihrer demütigen Schüchternheit konnte sie den Kranz kaum zu dem Nacken des Bräutigams, den sie gewählt hatte, erheben. Aber der Prinz neigte sein Haupt, und der Kranz glitt an seinen Platz. Die Versammlung der Jünglinge und Mädchen hatte in lautloser Spannung ihre Wahl erwartet. Und als sie gewählt hatte, brach ein Sturm toller Freude los und brauste durch die Halle und tönte über die ganze Insel hin bis hinaus zu den Schiffen weit draußen auf dem Meere. Niemals hatte es im Kartenkönigreich je solchen Jubel gegeben. Und sie hoben den Prinzen und seine Braut auf ihre Schultern und setzten sie auf den Thron und krönten sie auf der Stelle -- auf der alten Karteninsel. Und die kummervolle Königin-Mutter auf der fernen Insel jenseits des Meeres kam in einem goldgeschmückten Schiffe zu dem neuen Königreich ihres Sohnes gefahren. Und die Bürger werden nicht mehr von Regeln geleitet, sondern sind gut oder schlecht oder beides, je nach ihrer Itscha. Anmerkungen zur Transkription: S. 4: »mit der größten Ehrfucht« wurde geändert in »mit der größten Ehrfurcht« S. 72: »bald auf einer einzigen« wurde geändert in »bald auf einen einzigen« S. 110: »Dschoygapal war sehr ärgerlich« wurde geändert in »Dschoygopal war sehr ärgerlich« S. 110: »und fühlte sich gedehmütigt« wurde geändert in »und fühlte sich gedemütigt« S. 184: »im Wald ererschlagen« wurde geändert in »im Wald erschlagen« S. 213: »Innnern« wurde geändert in »Innern« Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Buchende an den Anfang versetzt. End of Project Gutenberg's Die Nacht der Erfüllung, by Rabindranath Tagore *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE NACHT DER ERFÜLLUNG: ERZÄHLUNGEN *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for an eBook, except by following the terms of the trademark license, including paying royalties for use of the Project Gutenberg trademark. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the trademark license is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws. The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. 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