The Project Gutenberg eBook of Die Last

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Title: Die Last

Author: Georg Engel

Release date: April 22, 2006 [eBook #18231]

Language: German

Credits: Produced by Markus Brenner and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE LAST ***


Die Last

Roman von
Georg Engel

Ullstein & Co
Berlin • Wien


Motto:

Nicht an einer Person hängen bleiben: und sei sie die geliebteste – jede Person ist ein Gefängnis, auch ein Winkel.

– – Nicht an einem Mitleiden hängen bleiben: und gälte es höheren Menschen, in deren seltne Marter und Hilflosigkeit uns ein Zufall hat blicken lassen.

Friedr. Nietzsche

Erstes Buch.

I.

Es war Tag geworden.

Noch immer rieselte der Regen und troff an den kleinen Fenstern der Krankenstube herunter. Bleigraues Licht stahl sich zögernd durch die Gardinen und mischte sich mit dem Schein der Lampe, die auch jetzt noch vor dem Bette brannte.

Auf dem großen Bauerngutshof erwachte einiges Leben. Man hörte zuweilen ein dumpfes Aufbrüllen der Kühe, und dazwischen das vereinzelte Rufen der Knechte. Doch klang alles gedämpft, als fürchte man, die Kranke zu stören.

Etwas Totes, Gedrücktes lag über dem Gehöft; und je mehr das trübe Sonnenlicht vorrückte, in desto größere Lautlosigkeit verfiel das Anwesen.

In dem weiten, zur ebenen Erde gelegenen Zimmer wurde ein schwacher Ruf laut. Kränklich, hohl, gebrochen, ein wenig gereizt klang er, aber so leise die Stimme auch flüsterte, sofort fuhr aus dem ledernen Sessel neben dem Bette ein Mann von mächtiger, imposanter Gestalt auf, rieb sich ein wenig die Augen, strich ein paarmal energisch über seine dicken, kurzgeschorenen Haare und legte dann seine Finger behutsam auf die Hand der leidenden Frau.

»Na, Elsing,« forschte er aufmunternd, wobei er seine Stimme soviel als möglich herabdämpfte, »geht’s ein bißchen besser?«

Statt einer Antwort rang die Angeredete die Hände und vergrub ihr Antlitz in die Kissen: »Du lieber Gott,« stöhnte sie leise, und es war beinahe, als ob aus dem weißen Linnen ein Schluchzen dränge.

Der Mann ließ seine Hand aufs Knie sinken und starrte auf den hellen, sandbestreuten Estrich der Stube.

Plötzlich warf sich das junge Weib herum und forschte hastig: »Du bist wohl eingeschlafen, Wilms?«

Seltsam, – neidisch fast schien die Frage.

»Ja, ich bin ein wenig eingenickt,« gab der Gatte zu. Und wieder konnte man leise Entschuldigung aus den Worten hören. »Ich sitz’ ja nun auch bald die vierte Nacht so,« murmelte er halb für sich.

Es wurde still.

Aus der Ecke nur tönte das schwere Tick-tack einer unförmlichen Kastenuhr, und zuweilen knirschte der Sand unter dem Stiefel des Mannes.

Die Leidende seufzte und schien die rechte Lage nicht finden zu können. Endlich streckte sie sich und blickte in das trostlose Grau des Regentages hinaus.

Welche Traurigkeit dort draußen und hier drinnen.

Gegen die Fenster stäubte der Regen, Hagelkörner schlugen scharf gegen die Scheiben, und über die Wangen der Liegenden floß eine Träne.

»Lösch’ die Lampe aus, Wilms,« bat sie, »meine Augen – es tut mir weh.«

Er schraubte das Licht herunter, sofort sah es in der Stube noch fahler aus.

»Armes Weib,« murmelte er, »armes Weib.« Er strich über ihre Haare und richtete sich langsam auf. Dann schritt er zur Tür. – Aber er sollte nicht hinausgelangen.

»Wilms.«

Sein Weib hatte sich aufgerafft. »Du sollst nicht fort,« rief sie angstvoll, »ich kann nicht allein bleiben – mich friert, wenn du draußen bist!«

»Elsing – unsere Wirtschaft leidet darunter – ich muß –«

»Ja, ja – die Wirtschaft – immer die Wirtschaft,« stieß die Kranke hervor und fiel erschöpft in ihre Kissen zurück, »und ich liege hier in meinem Elend – zwei Jahre – zwei ganze Jahre schon, und keiner hilft mir, keiner, zur Last falle ich jedem – auch dir –«

»Elsing, ich –«

»Ja, auch dir,« fuhr sie atemlos fort, »ich merk’ das sehr wohl – du hast nur Mitleid für mich – nur Mitleid. Und wir haben uns doch aus Liebe geheiratet.«

Er war zögernd an ihr Bett getreten und plötzlich umschlang sie seinen Hals: »O Gott – o Gott, ich bin wohl sehr häßlich geworden?« forschte sie, am ganzen Leibe zitternd. »Nicht wahr, gesteh’s nur ganz offen.«

»Elsing,« – die Stimme des Mannes zitterte leicht. Er hatte sich auf den Bettrand gesetzt und ließ ein paar Strähnen ihrer langen, blonden Haare durch seine Finger gleiten. »Elsing,« beteuerte er dann, »für mich bist du noch so schön, wie in der ersten Stunde – sieh doch bloß deine langen, weichen Flechten – und der kleine Mund und die lieben, blauen Augen – alles so hübsch, mein armes Kind.«

Es mußte ihn doch übermannt haben, denn er schloß sein Weib in beide Arme und küßte es zärtlich auf die Lippen. Die Kranke schmiegte sich befriedigt an seine Brust und für einen Augenblick schien sie beglückt und hoffnungsfreudig. Wenigstens wandte sie sich bald auf die Seite und forderte ihn mit ihrer erregten Stimme auf: »Wilms, gib mir die Bibel von dem Tisch – so, und nun geh – geh nur und schlag ein Auge auf die Wirtschaft – es muß ja doch sein.«

Da ging der Mann schwerfällig hinaus; allein als sich die Tür geschlossen hatte, blieb er stehen und lauschte zurück.

Und trübe schüttelte er den Kopf. – Mit welch fieberhafter, leidenschaftlicher Glut sein Weib dort drinnen las. Sie sang beinahe; – ekstatisch, wie berauscht tönten die heiligen Worte:

›Und siehe, ein Weib, das zwölf Jahre siech war, trat zu ihm und rührete seines Kleides Saum an.

Da wandte sich Jesus um und sahe sie und sprach: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und das Weib ward gesund zur selbigen Stunde.‹

»Und ward gesund zur selbigen Stunde,« wiederholte es drinnen, wie verzückt. Dann einen Moment Stille, aber plötzlich mit herzzerreißendem Schluchzen: »O Gott – und ward gesund – lieber – lieber – Gott.«


II.

Als Wilms auf den Hof heraustrat, atmete er tief auf. Hier wehte doch frische Luft, hier beengte ihn die Hitze der Krankenstube nicht mehr, und erfrischend rieselte der Regen auf sein entblößtes Haupt.

Merkwürdig. – Er hatte doch schon so oft mitten auf seinem Gehöft gestanden, aber heute befiel ihn zum erstenmal der Gedanke, daß all sein Hab, Häuser und Scheunen, Ställe und Gerätschaften, Menschen und Vieh wie von einem drückenden Traum befangen wären.

Es zerfiel und zerbröckelte alles, es wurde morsch und verging. – Und er selbst?

Erschreckt fuhr er auf.

Drüben in dem Strohdach der Kornscheuer klaffte eine beträchtliche Spalte. Ungehindert floß der Regen hindurch und machte ihm die Wintersaat faulen. Keiner meldete ihm den Schaden, er selbst hatte ihn nicht bemerkt.

Früher war er als der werktätigste Landwirt Vorpommerns bekannt gewesen; er allein wußte, wie durch Zauber, dem fetten Boden dreifach die goldigen, Nahrung bringenden Körner abzugewinnen; jetzt stand es anders. – Es ging bergab mit ihm.

Ein Lastwagen lag in einer Ecke des Hofes auf drei Rädern. Das vierte gebrochen daneben. – Ob man nach dem Stellmacher geschickt hatte?

Gerade schlich ein Knecht hinter dem Gefährt träge dahin, Wilms rief ihn laut an; aber der Mann wußte von nichts, und schon wollte ihn der Landwirt mit einem kräftigen Fluch zurechtweisen, da dachte er an die Kranke, und beinahe flüsternd befahl er dem Manne, den Stellmacher zu holen.

Der Knecht trottete davon, und Wilms setzte seine grobe Mütze auf und schritt schwerfällig die Landstraße entlang. Zu beiden Seiten dehnten sich seine Felder.

Auf das braunschollige Ackerland rauschte hörbar der Regen, und nur allmählich vermochte der Landwirt seine Leute zu erkennen, so dicht wogte der schwere Nebel um sie herum. Grau und gespenstig tauchten Männer und Frauen aus den Wolken hervor, und verschwanden bald wieder, als hätte sie der Boden eingesogen.

»Wie steht’s mit den Kartoffeln, Karl?« fragte Wilms endlich einen jungen, flachsköpfigen Burschen, der tiefgebückt die gesammelten Knollen in einen Korb warf.

»Der Herr weiß ja – der Regen – es dauert schon zu lang.«

»Ja, ja« – Wilms ballte die Fäuste, und in sein ernstes, ehrliches Antlitz gruben sich tiefe Falten. Wie er sich jetzt langsam und ermüdet auf einen eisernen Pflug niederließ, der auf dem kotigen Acker herumlag, da hätte man ihn für einen alten, gebrochenen Mann halten können. Und er zählte doch erst zweiunddreißig Jahre und stand in der Blüte der Kraft.

Und die Nebel krochen um ihn herum, formten sich, ballten sich, und es war, als ob sie ein häßliches, graues Weib bildeten, zahnlos, mit wackelndem Kopf – eine dürre Vettel, wohlbekannt allen Bedrückten – die Not, die grinsende Not, und sie hinkte auf ihn zu und streichelte ihn.

Er sank immer tiefer in sich zusammen und ließ seine Leute schaffen, was sie wollten.

Da klang Wagengerassel die Landstraße herab. Ein elendes, ächzendes Gefährt näherte sich, und herab stieg ein wohlbeleibter Mann mit grauem Stoppelbart, und in den Stoppeln saß ein sehr rotes, verschwollenes Gesicht, aus dem ein Paar wässerige Äuglein und eine Hakennase lustig hervorlugten. Der Ankömmling hieß »Herr Rosenblüt«, klimperte im Augenblick mit einer dicken goldenen Kette und war der Kompagnon einer in dem Landstädtchen Grimmen sehr angesehenen Viehexportfirma. – Ein gesetzter, umgänglicher Mann.

Heute zeigte sich der Viehhändler indes sehr aufgeregt. Er schritt gleich auf den Landmann zu und pflanzte sich prustend und atemholend vor ihm auf.

»Herr Wilms,« begann er unvermittelt und fuchtelte mit seinem Stock hin und her. »Was soll das heißen? – Was ist denn geschehen – bei Ihnen zu Haus? Als ich vorbeigefahren bin ...«

»Doch nicht meine Frau?« stammelte Wilms und sprang auf – »nicht wahr? – So sagen Sie’s doch,« wiederholte der unglückliche Mann heiser.

»Nein, nein, nicht Ihre Frau – ich meine bloß – – es ist da einer von den Blauen, von den Gerichtsvollziehern. Na kommen Sie schnell auf meinen Wagen« – und leise setzte er hinzu: »Was wollen Sie erst einen Aufstand vor Ihren Leuten machen? Beeilen Sie sich, Herr Wilms.« Bald knarrte und ächzte das Fuhrwerk auf Wilms’ Gehöft zu, und Herr Rosenblüt saß neben dem Besitzer und starrte ihm ängstlich ins Gesicht, bis sie den Wirtschaftshof erreicht hatten.

Hier hielt der Wagen, und der Bauer sprang herab und blickte sich scheu um.

Mitten auf dem Platze stand der Gerichtsvollzieher von Grimmen und unterhandelte laut und barsch mit Jochen, dem Pferdeknecht, der von Zeit zu Zeit einen ängstlichen Blick auf die Fenster der Krankenstube warf und den Beamten zu bitten schien, leiser zu verfahren.

Alle Leute des Anwesens waren an diese Rücksicht auf die leidende Frau gewöhnt; ein lautes Wort, mitten in der dumpfen Stille, war unerhört, erschreckte alle förmlich.

»Da is uns’ Herr,« sagte der Knecht endlich erleichtert, als er des Bauern und seines Begleiters ansichtig wurde. Wilms kam schwerfällig näher, seine Gestalt sank immer mehr zusammen, als ob auf seinem Nacken sichtbarlich eine allzu schwere Last gelegt sei, und auf der Stirn perlten große Tropfen. Mit flüsternder, heiserer Stimme bat er den Beamten, mit ihm in die nächste Scheuer zu kommen. – Nur nicht hier – hier könnte man die Kranke stören, sie dürfte ja von nichts wissen; das könnte ihr den Rest geben. »Ich bitt’ Sie, kommen Sie mit mir – ein paar Schritte.«

Jedoch der Gerichtsvollzieher hielt das für überflüssige Zeitvergeudung. Er knöpfte seinen Rock auf, nahm ein gestempeltes Papier heraus, das er prüfend überflog, und während er sich dazu wohlgefällig und amtswürdig seinen militärischen Schnurrbart strich, las er trocken vor: »Beauftragt vom Grafen Brachwitz auf Boltenhagen – Zahlung der rückständigen Pacht vom 1. April – 3600 Mark – – nicht eingegangen – hm – vorzunehmende Zwangspfändung.«

»Was? Vom April sind Sie dem Grafen noch schuldig?« warf der Viehhändler dazwischen.

Der Gerichtsvollzieher faltete das Blatt wieder zusammen und pflanzte sich vor dem Besitzer auf:

»Können Sie zahlen, Herr Wilms?« fragte er prompt.

»Nein.«

»Na, dann muß ich anfangen. Nehmen Sie’s nicht übel.«

»Aber – wenn Sie mir nur – nur bis morgen Zeit lassen wollten,« stöhnte Wilms und legte sich die Hand vor die Stirn. »Nur bis morgen – ich könnte mich ja noch an jemanden wenden. – Ich hatte in der letzten Zeit mit meiner Frau so viel – aber es ist doch vielleicht noch möglich.«

»Tut mir leid – strenge Ordre.« Der Gerichtsvollzieher knöpfte dabei seinen Rock zu und wandte sich an den Knecht.

»Wollen gleich mit dem Vieh anfangen,« befahl er kurz. »Wo haben Sie die Schweine?«

»Dann zeig dem Herrn, Jochen.« Wilms hatte es tonlos gesprochen und wandte sich jetzt schnell ab. Selbst dem Viehhändler hatte er nicht mehr die Hand zum Abschiede gereicht. Er ging langsam in das Wohnhaus und trat in das Zimmer seines Weibes.


III.

Wie er sie verlassen, ebenso lag Else noch jetzt. Mit der linken Hand hatte sie die Bibel umklammert, die rechte fingerte nervös an der Wand, und ihre krankhaft leuchtenden Augen waren auf das Fenster gerichtet. Die ungewohnte Bewegung auf dem Hof, das Knarren der Torflügel, das jetzt laut werdende Grunzen der Schweine, alles störte sie. Sie war ganz aufgeregt, und als Wilms sich neben ihr Bett setzte, forschte sie atemlos nach dem Grund all dieses Lärms. – – Ja der Grund –

Durfte ihr der Mann die wahre Ursache verraten? Konnte er gestehen, daß man jetzt den besten Teil seines Besitztums forttriebe, daß andere Trümmer bald folgen, und alle Pfosten seines Hauses um ihn zusammenbrechen würden, um ihn, den starken, kräftigen Mann, der nun schon seit Jahren, wie gelähmt, an dieses Bett geschmiedet war, so fest, daß alle Bewegungsfähigkeit gehemmt schien? – Merkwürdig, ihm war es, als wäre sein Weib gesünder, als er; und er selbst gebrochen, ausgezehrt, kraftlos, ein toter Mann, der in dem großen Lehnstuhl hockte und vor sich hinstarrte.

»Was hantieren sie denn dort draußen so laut?« klagte das Weib und klappte nervös mit dem Deckel der Bibel – »soll denn gar nicht ein bißchen Rücksicht auf mich genommen werden, Wilms?«

Der Landmann raffte sich zusammen. Nur schonen die arme Frau, war sein einziger Gedanke. – Der Gedanke, der ihm die Not ins Haus gerufen.

»I, Elsing, das wird wohl bald wieder aufhören.«

»Ja, aber was machen sie denn?«

»Ach, Rosenblüt ist bloß da und – und kauft mir Vieh ab.«

»Der Jude?« rief die Kranke und richtete sich auf. – »Sieh – sieh da,« stotterte sie und zeigte gerade aus, »da steht er vor dem Fenster – und guckt hinein, gerade auf mein Bett.« Entsetzt fiel sie zurück und zog die Decke hoch, so daß sie nicht mehr bemerken konnte, wie Rosenblüt mit allerlei Grimassen ihren Mann hinauswinkte. »Wilms, ich kann den Juden einmal nicht leiden – was hast du auch immer mit ihm. Immerfort was. Der Herr Pastor sagt auch, daß du dich zuviel mit ihm abgibst.«

»Still, Elsing, ich hab’ schon manch gutes Stück Geld an dem Mann verdient.«

»Ach wo – die betrügen ja alle. Du verstehst bloß die Wirtschaft nicht.« – Das war ein böses Wort.

Wilms zuckte zusammen und griff nach seiner Brust. Draußen winkte Herr Rosenblüt immer energischer.

»Ich muß jetzt aber doch einen Augenblick auf den Hof, Elsing,« ermunterte sich der Mann endlich.

»Schon wieder?«

Sie warf ihm einen flehenden Blick zu und ergriff seine Hand: »Du bist ja eben erst hereingekommen. – Und dann – mir ist immer so wohl, wenn du bei mir bist, sobald du mich aber allein läßt, dann überfällt mich wieder die schreckliche Angst – du weißt ja – als ob mir was auf der Brust säße« – sie keuchte – »nicht wahr, du bleibst?«

Er blieb und sank ohne eine Antwort in dem hohen Lehnstuhl zusammen. Das war das Bild seines Lebens. – Die Last zog an ihm und zog ihn abwärts.

Jetzt sprach und fragte sie immer hastiger weiter. Wie es mit der Wirtschaft stünde? – Doch gut? Und der Pastor hätte ihr eine Annonce gebracht, in der ein beweglicher Krankenstuhl nicht allzu teuer angepriesen würde. 150 Mk. »Nicht wahr, das ist nicht zu viel? – Das erübrigst du doch für deine Frau? Du hast mich doch lieb? Nicht wahr?« – Und dann kamen die Erinnerungen. Wie sie noch frisch und gesund in ihrem Hauswesen herumgesprungen wäre, und wie furchtbar verliebt Wilms sich als junger Ehemann gebärdete. Hinter jeder Tür, wo es die Leute nicht sehen konnten, hätte er um einen Kuß gebettelt. »Ach, küsse mich noch einmal so. – Ich bin doch eigentlich noch so jung.«

Halb betäubt sank sein Haupt an ihre Brust. Er war so zerschmettert, daß er für nichts mehr das volle Verständnis besaß.

Da wurde an die Tür geklopft. Erst leise, dann energisch, und schließlich trat Herr Rosenblüt ins Zimmer und blickte sich verdutzt in der Krankenstube um. Die dumpfe Luft und das Bild der beiden sich umschlungen haltenden Gatten ließ ihn einen Moment verstummen, eine Art Rührung zuckte in den Zügen des Händlers auf, dann aber drängte die Zeit gar zu gewaltig, und er räusperte sich stark: »Guten Morgen – Frau Wilms – ich bitte um Entschuldigung – wie geht es Ihnen? – aber es ist die höchste Zeit, Herr Wilms – ich muß mit Ihnen reden, jetzt sofort. Der Kerl ruiniert Ihnen ja die ganze Wirtschaft.«

Die fremde Stimme traf Else wie ein Schuß.

»Großer Gott, wer ist das?« stammelte die Kranke, als sie den Eindringling, der ihr eine linkische Verbeugung machte, gewahrte, und über ihr Gesicht flutete eine brennende Röte: »Was will er hier? – Wilms, mein Zimmer ist doch nicht zu Geschäften da? Warum gehst du mit dem Herrn nicht in die Wohnstube?«

Es war ein unfreundlicher Gruß, und Herr Rosenblüt stand wie angedonnert. Erst als Wilms ihn unter den Arm faßte und begütigend aufforderte, ihm zu folgen, hatte sich der Händler soweit gefaßt, daß er energisch den Hut schwenken und gereizt auffahren konnte:

»Wozu? Da kann ich ja auch gehen. Adieu auch, Herr Wilms, empfehle mich Ihnen, verehrte Frau.« Aber Wilms ließ ihn nicht, und mit vielen Bitten und Entschuldigungen schob er ihn durch eine braunlackierte Tür, in deren Mitte ein großes, ovales, durch eine Gardine verdecktes Guckfensterchen angebracht war, aus dem Zimmer. In der Wohnstube standen einfache grüne Ripsmöbel, gestickte Deckchen prangten auf dem Sofa, und mitten durch die Zimmerdecke zog sich ein großer, tapetenüberklebter Balken. Hier fiel Wilms in einen der Polsterstühle nieder, stützte seinen Kopf in die Hand und fragte endlich den Geschäftsfreund nach dessen Begehr, aber es klang alles so zerstreut, so fern und tonlos, als ob der Geist des Mannes auf düsteren Irrpfaden wandele. Und dieses Gebrochensein, dieses vollständige Einschlafen einer ehemals großen Kraft erschütterte den andern. Mitleidig halb, und halb furchtsam, trat er auf ihn zu. Dann berührte er mit seinem Stock die Schulter des Sitzenden, und während er ihm nun unaufhörlich leise auf die Achsel schlug, redete er eindringlich auf ihn ein. Es war ein langer Vortrag, aber Wilms hörte nur eins heraus, und das war etwas Hoffnungsfreudiges, mitten in seiner trostlosen Nacht, ein Frührotschimmer, ein aufblitzendes Licht. – Herr Rosenblüt war über die Pfändung empört. – Der Beamte hätte gewiß das Doppelte des Werts aus der Wirtschaft gezogen, die schönsten Stücke Vieh, ohne die der Besitzer gar nicht weiter existieren konnte. Seine Entrüstung war zu ehrlich, es sprudelte nur so aus ihm. – »Was soll das heißen? – Daran verdient der Graf ja ein Heidengeld? – Die besten Tiere – Kunststück. – Wilms, wissen Sie was? Ich zahle Ihnen die 3600 Mark, und Sie stellen mir dafür die gepfändeten Stücke beiseite. Und wenn Sie in acht Tagen die Summe nicht an mich zurückerstatten können, dann, nun dann gehört alles mir. – Das ist ’ne Spekulation. – Ich bin ein Geschäftsmann – das ist ’n Geschäft – wollen Sie?«

»Ja, ja.« O, es war ja dem Verschmachtenden, als hätte ihm eine freundliche Hand einen Trunk kalten Wassers nach staubiger Wanderung gereicht. Er fühlte förmlich, wie ihn etwas erfrischend, wohlig durchrieselte. Langsam stand er auf und reckte sich. – Acht Tage Zeit – noch eine ganze Woche? – Ja, bis dahin mußte ja Rettung kommen, irgend woher, gleichviel, jedenfalls war vorläufig die entsetzlichste Last von seiner Seele gewälzt. Tief atmete er auf, seine Brust hob und senkte sich rasch.

»Ja, alter Freund, natürlich, ich nehme es an, mit tausend Freuden, geben Sie her.«

Der Händler jedoch hielt noch einen Augenblick mißtrauisch inne.

»Herr Wilms, nehmen Sie mir’s nicht übel, ich habe noch eine Bedingung.«

»Ach wohl wegen der Zinsen?«

»Bewahre – das wird sich schon finden, versteht sich, Zinsen auch. Nein, es betrifft etwas anderes, aber das sag’ ich Ihnen später. Jetzt gehen Sie raus, und machen Sie Ihre Sache mit dem Blutsauger da draußen ab. – Vorwärts.«

Damit zählte er eine Anzahl Kassenscheine auf den Tisch. Wilms griff danach und schritt ohne ein weiteres Wort auf den Hof hinaus, wo der Vollzugsbeamte in dem Viehstall sein Werk gerade beendet hatte.

In wenigen Minuten hielt der Überraschte die fragliche Summe in der Hand, schrieb noch im Stehen eine Quittung, schüttelte Wilms die Hand, sprang auf seinen Wagen und rasselte vom Hof herunter.

Das Werk eines Augenblicks, es war alles wie ein verfließender, böser Traum. Wilms und Rosenblüt standen unter dem morschen Tor und blickten dem entschwindenden Gefährt nach. Als es jedoch hinter dem Tannenschlag in einer Senkung der Chaussee untergetaucht war, pflanzte sich der Händler vor seinem ernsten Geschäftsfreund auf, steckte die eine Hand in die Tasche und klapperte mit seinem Stock an den Stangen des Zaunes hin und her.

»Hören Sie mal, alter Freund,« begann er endlich unruhig und spie vor sich hin. »Jetzt will ich Ihnen auch sagen, was ich von Ihnen verlange. Wenn ich um mein Geld unbesorgt sein soll, dann müssen Sie sich wieder ausschließlich um Ihre Wirtschaft kümmern. – Und das können Sie nur, wenn Sie sich bei Ihrer Frau eine Vertretung anschaffen. ’ne Pflegerin, oder so was Ähnliches. Es gibt ja Krankenschwestern genug. Auch kann ich mich ja mal in Grimmen danach umsehen.«

Wilms strich mit der Hand über die Stirn. Das, was er eben vernommen, klang wie eine eherne Anklage in ihm fort. »Ja, ja,« murmelte er halb für sich, »ich habe ja auch schon daran gedacht – aber es geht doch nicht.«

»Geht nicht?«

Herr Rosenblüt fing an, sich zu ärgern.

»Ja, warum denn nicht?«

»Weil meine Frau keine Fremde im Hause dulden will. – Ich muß ihr den Willen tun, dem armen, gequälten Weib.«

»Zum Teufel, dann lassen Sie doch eine Verwandte kommen. – Und ja – hören Sie mal« –

Der Redende richtete sich plötzlich auf und schlug dem Hofbesitzer energisch auf die Schulter – »Donnerwetter, da fällt mir etwas ein. Wilms, Ihre kleine Schwägerin ist ja vor ein paar Tagen aus Stralsund zurückgekommen. Ich sah sie gerade aus dem Wagen steigen, als sie in das Haus Ihres Schwiegervaters ging. Ein strammes Ding, so groß« – Herr Rosenblüt zeigte eine gigantische Höhe – »die nehmen Sie sich – die wird hier schon Ordnung schaffen. Na, und wenn Sie wollen, will ich selbst in Grimmen mit dem Alten ein paar Worte reden. – Na also?«

Wilms war gepackt. Fest starrte er den Händler mit seinen überbuschten, blauen Augen an und sann nach. Zwar kannte er die jüngere Schwester seiner Frau kaum. Als er damals um Else freite, war die kleine Hedwig ein sechzehnjähriges, schweigsames scheues Mädchen gewesen, dem er nicht viel Beachtung geschenkt hatte. Ja, er besann sich, daß ihr eigentümlich lauerndes, verschlossenes Wesen ihn manchmal verdrossen, aber doch – – der praktische Händler hatte offenbar das Rechte getroffen.

Gegen ihre Schwester konnte Else nichts einwenden. Und vor allen Dingen: er wurde frei, frei und unbehindert für sein mühseliges Gewerbe. – Noch einen Augenblick schwankte er, noch einmal überflog er kurz das Fenster der Krankenstube, dann erklärte er dem Händler entschlossen, daß er seinen Rat befolgen würde. Noch heute sollte ein Brief an den Schwiegervater des Landmanns, den alten Rendanten Schröder zu Grimmen, abgehen.

»Bravo! – ein Mann ein Wort, Herr Wilms,« mahnte der Kaufmann dringend, als er seinen harrenden Wagen bestieg, »nicht wahr?«

Der Angeredete nickte mit dem gewaltigen Haupt:

»Seien Sie unbesorgt, Herr Rosenblüt.«

»Und wenn ich wiederkomm’, sieht es hier anders aus,« rief der Scheidende zurück, dann ein Händedruck, und auch der zweite Wagen rollte davon.

Wilms aber stand mitten auf der Landstraße und sah ihm nach.

Eine seltsame, beklommene Freudigkeit befiel ihn. Und langsam und sinnend schritt er in sein Haus zurück.


IV.

Es war an einem Sonntag.

Der Regen hatte aufgehört. Ein frischer Wind fuhr über die herbstlichen Felder. Weit und mächtig spannte sich der blaue Himmel aus, und über Baum und Strauch, Weg und Steg lag heller Sonnenschein.

Von der Stationsuhr des winzigen Sekundärbahnhofs von Boltenhagen schlug es elf. – Um diese Stunde mußte Wilms’ junge Schwägerin eintreffen.

Hinter dem Bretterverschlag, welcher den Warteraum vorstellte, obwohl er vollständig unbedeckt war und mitten auf freiem Felde lag, hielt der Pächter bereits seit einer Viertelstunde mit einem bequemen Korbwagen und blickte nachdenklich auf die glänzenden Schienen, die im Sonnenlichte gleißten und funkelten.

Er dachte daran, ob ihm auf dem eisernen Wege wohl etwas Gutes entgegen rollen würde? Ob er in Hedwig jene Stütze und Hilfe finden könnte, die er suchte? – Merkwürdig, so oft er an das Mädchen dachte, befiel ihn wieder dasselbe unangenehme Gefühl, das sie ihm als Kind bereits eingeflößt. – – Aber sie konnte sich doch in der Zwischenzeit geändert haben. Zwei Jahre bewirkten ja viel, und sie hatte gewiß in der Stralsunder Pension sich außerordentlich vervollkommnet. Natürlich, es war lächerlich, immerfort an dieser instinktiven Abneigung herumzugrübeln.

Nein, er wollte – – –

Ein eleganter Jagdwagen fuhr in diesem Augenblick vor und schreckte den Landmann aus seinen Betrachtungen auf. Gravitätisch stieg der Kutscher in einer reichen, silberüberladenen Livree vom Bock, und Wilms erkannte, daß sein Gutsherr Graf Brachwitz, derselbe, der so streng auf die Eintreibung des Pachtgeldes bestanden, ebenfalls einen Gast erwarten müsse. Jedoch der Landmann war nicht neugierig, der Kutscher schritt vornehm an ihm vorüber, und um dieselbe Zeit verkündete ein rasches Keuchen und Prusten das Nahen des Zuges. Mit einem Sprung war Wilms an den Schienen, die Bahnhofsglocke erklang, langsam und kreischend hielten ein paar Waggons mitten auf dem freien Felde an. Und da – aus einem Coupé sprang rasch und elastisch eine schlanke und dabei doch voll und kräftig gewachsene Mädchengestalt heraus, sah sich um, und hatte mit einem, einzigen, klaren, zielbewußten Blick den Wartenden erkannt.

»Schwager.«

Wilms horchte auf. Die Stimme tönte so frisch und hell, so willenskräftig, beinahe, als wenn sie das Befehlen gewohnt wäre. – Seltsam, das Mädchen war auch zweiter Klasse gefahren; das war ja eine Dame. Und als er nun endlich vor ihr stand, ihr die Hand entgegenstreckte und ein paar ungeschickte Begrüßungsworte hervorbrachte, da leuchteten ein paar große, braune Augen erst einen Moment forschend in die seinen hinauf, dann reichte sie ihm unbefangen den Mund, und mit einer gewissen peinlichen Beklemmung mußte sich der große ungeschickte Mann herabbeugen, um die roten Lippen einer ihm beinahe fremden Person zu küssen. Eine fröstelnde, unangenehme Empfindung beschlich ihn dabei. – Und diese vornehme Gestalt sollte bei ihm die Wirtschaft führen? – Rasch nahm er ihr eine kleine Handtasche ab, und wollte sie eben zu seinem Wagen geleiten, als er plötzlich von einem jungen Herrn im Jagdkostüm angesprochen wurde, der sich ihm lachend in den Weg stellte.

»Halt, Herr Wilms, nicht so schnell – na, Mensch, kennen Sie Ihre alten Freunde nicht mehr?« Dabei lüftete der Jäger vor Hedwig höflich die grüne Mütze, während er sich seine Doppelflinte gewandt an einem Riemen über die Schulter warf. Wie er so dastand, bildete er den Typus eines hübschen, jungen, eleganten Aristokraten, mit seinem schwarzen Schnurrbärtchen in dem braunen Gesicht, und mit dem lässigen, kraftbewußten Wesen seiner Kaste. Hinter ihm verharrte ein Livreebedienter mit abgezogenem Hut, und an den Taschen des jungen Herrn schnupperte ein brauner Jagdhund herum.

»Herr Fritz – Herr Graf« – fuhr Wilms heraus.

»Ach was,« schnitt der Weidmann ab und schüttelte dem Pächter wohlwollend die Hand: »Sagen Sie, wie Sie Lust haben. Hier draußen kommt’s ja doch nicht drauf an. – Habe nämlich quittieren müssen – Papas Wunsch, verstehen Sie? Damit ich auf dem Gut vernünftig werden soll. Als wenn ich nicht schon so vernünftig wäre, daß es einen Hund jammern könnte,« setzte er hinzu und wandte sich wieder an Wilms’ Begleiterin.

»Gnädiges Fräulein besinnen sich wohl nicht mehr auf mich?« fuhr er liebenswürdig fort. »Auch nicht auf den Pensionsball, wo ich das Glück hatte, mehrfach bevorzugter Tänzer zu sein – wirklich nicht? – Allerdings, wenn man so belagert wird.« Und wieder lüftete er freundlich die Mütze. – »Sind Sie denn mit Herrn Wilms bekannt, verwandt, verschwägert, oder wie ist das?«

»Jawohl, ich bin die Schwägerin des Herrn,« gab das Mädchen höflich zu, und doch hörte der Landmann wieder einen kühlen abweisenden Ton heraus, der sich mehr für eine Komtesse, als für die Tochter des Rendanten Schröder aus Grimmen schickte. Auch der junge Graf starrte ihr einen Augenblick betreten ins Gesicht, dann schien er plötzlich an der Unterhaltung keinen Gefallen mehr zu finden, denn er sah sich, ohne auf das Mädchen weiter Rücksicht zu nehmen, nach seinem Bedienten um, und forderte, indem er eine Zigarre in den Mund steckte, mit undeutlichem Murmeln Feuer.

»Gut – brennt schon – na, auf Wiedersehen, Wilms – (er vergaß beiläufig das ›Herr‹) habe die Ehre, mein Fräulein – heda, Hektor.« Er pfiff dem Hunde, grüßte leichthin und sprang auf den Wagen, dessen Zügel er ergriff. Hinter ihn setzte sich der Kutscher, und mit elegantem, unhörbarem Rollen flog das Gefährt davon.

Da, wo die Chaussee in den Tannenschlag abbog, blickte sich der Jäger noch einmal um und spähte scharf zurück. Hedwig, die bereits neben Wilms auf dem Korbwagen Platz genommen hatte, bemerkte es, ein keckes, spöttisches Lächeln flog um ihre frischen Lippen, immer heimlich von dem Landmann beobachtet, der in sich gekehrt neben ihr saß und kutschierte. Scheu blickte er manchmal von der Seite auf sie hin. Wie kam das junge Mädchen zu solchen Bekanntschaften? – Sie schien den jungen Herrn doch besser zu kennen, als sie zugeben wollte? Und weshalb behandelte sie ihn so von oben herab? Wilms seufzte tief auf. Nein, das war nicht die Person, die er brauchte, damit sie Else pflegen und ihm selbst in der Wirtschaft helfen sollte. Sein erster instinktiver Widerwille war berechtigt gewesen. Wie sie jetzt neben ihm saß, die schlanke Figur ein wenig vornüber geneigt, die großen, braunen Augen durstig in die sonnige Ferne gerichtet, die Lippen geöffnet, als tränke sie die einströmende Luft, so war sie ihm ein zu feines, ein zu fremdes Wesen.

»Mein Gott, was wird Else dazu sagen?« dachte er bekümmert. »Und was sie für einen Hut trägt, was für Handschuhe?«

Heftig schlug er auf die Pferde ein, wie einer, der etwas Unangenehmes rasch zu Ende bringen will, und im scharfen Trab rollte das Gefährt dahin, ohne daß Hedwig das eingetretene Stillschweigen unterbrochen hätte.

Nur einmal fragte sie beinahe gleichgültig, immer die Augen in die Weite gerichtet: »Ist Else noch so hübsch, wie sie war?«

Wilms biß sich auf die Lippen, die Zügel in seiner Hand lockerten sich unwillkürlich.

Hatte er recht vernommen? Ihre frische, klare Stimme tönte genau so kühl, so obenhin, so völlig uninteressiert, als hätte ihre Frage einer ganz nebensächlichen Person gegolten.

Und das war die Schwester, die sich nach seinem armen gequälten Weibe erkundigte?

»Ja,« fuhr er rauh heraus, »gerade noch so hübsch – genau so – – allerdings spazieren gehen kann sie nicht mehr und sich putzen.«

Anklagend und beleidigt klangen die wenigen Worte, und Hedwig richtete zum erstenmal ihren Blick forschend auf ihren Schwager. Sie schien verwundert und warf ein wenig die Lippen auf. Und beinahe mit absichtlicher Herbheit setzte sie hinzu: »Die lange Krankheit hat wohl viel Geld gekostet?«

Wilms schwoll der Unmut bis an die Kehle. Wie ein Wütender hieb er auf die Tiere ein, im gestreckten Galopp ging’s weiter.

Die beiden sprachen nicht mehr miteinander. Im ungemütlichen Schweigen durchfuhren sie das Dorf, bis sie endlich auf dem Pachthof anlangten.

Verträumt, verfallen, lautlos wie immer lag er da. Und diese Todesstille lockte Hedwig das erste Wort ab.

»Merkwürdig,« murmelte sie befangen, als Wilms ihr zum Herabsteigen die Hand bot, »das hätt’ ich mir anders gedacht. Ist es hier immer so lautlos?«

»Ja, mein Kind, immer. Aus Rücksicht für Else. Und dann ist auch heute Sonntag.«

»Ja, so – so, so,« wiederholte sie in sich gekehrt. Wilms sah, daß sie noch einmal mit einem ihrer langen, klaren Blicke das Anwesen überflog. Dann strich sie sich über die Stirn und äußerte rasch und dringend, als ob sie dem Anblick entfliehen wollte: »Komm – gehen wir zur Schwester.«


V.

Der Nachmittag war im Verdämmern. Auf dem Hof webten bereits graue Schatten und krochen an den Wänden der Scheunen empor, aber in dem Krankenzimmer brannte eine große schöne Stehlampe, ein Hochzeitsgeschenk, das noch nie benutzt war, und das jetzt eine strahlende, gemütliche Helle verbreitete.

»Hier muß es doppelt licht sein,« hatte die jüngere Schwester gemeint und dann die Staatslampe einfach von der Glasservante heruntergenommen und sie instand gesetzt.

Still und zufrieden lag die Kranke jetzt in ihrem Bett und sah mit blinzelnden Augen in die Lichtstrahlen hinein, während sie die Hand der Schwester, die neben dem Lager saß, mit ihren schmalen Fingern fest umspannt hielt.

In der Mitte der Stube, vor dem großen Tisch, hatte Wilms Platz genommen und beugte sich eifrig über ein Wirtschaftsbuch, das seit vielen Monaten vernachlässigt war. Nur langsam und schwerfällig vermochte der große Mann zu rechnen, aber es tat ihm schon unsäglich wohl, endlich einmal Klarheit in seine Verhältnisse bringen zu können. So mühte er sich fort, und nur von Zeit zu Zeit hob er das Haupt und lauschte zu den beiden Frauen hinüber.

Dort drüben las Hedwig der Kranken vor. Seltsam, nicht aus der Bibel. Die neue Pflegerin hatte sofort erklärt, es sei nicht zweckmäßig, einer Leidenden etwas vorzutragen, was diese beinahe auswendig wisse und zudem auch ihre Gedanken stets auf Tod und Vergänglichkeit hinweise. – Nein, etwas Neues, Heitres müsse gewählt werden, und sofort war sie in ihr Dachstübchen hinaufgeeilt, um das Versprochene zu bringen. – Als sie nach einiger Zeit zurückkehrte, hatte sie auch die Kleidung gewechselt. – Ein schwarzes Gewand legte sich einfach und straff um den schlanken Körper und ließ sie noch kräftiger und selbstbewußter als bisher erscheinen. Lächelnd setzte sie sich an das Lager und begann vorzulesen. Es war die von einem modernen, schwedischen Satyriker verfaßte Geschichte eines jungen Mädchens, das mit zwei Liebhabern zugleich tändelt, um schließlich eine Geldheirat einzugehen, in die sie als einzige Aussteuer die beiden Verlassenen als Hausfreunde mit hineinbringt.

Else verstand die Anspielungen wohl nicht recht. – Sie hatte sich in ihren Kissen aufgerichtet und folgte den feinen Spöttereien mit befriedigter Verwunderung. Zuweilen huschte sogar ein schwaches Lächeln über ihr blasses Gesicht.

Wie lange hatte Wilms solch ein freundliches Zeichen herbeigesehnt, und jetzt schien die Ärmste ihr Leiden beinahe vergessen zu haben.

Unwillkürlich verfing sich auch der Landmann in den liebenswürdigen Worten, die von Hedwigs Lippen so frisch und hell hinabströmten. Er stützte das Haupt und sah aufmerksam zu ihr hinüber. – Und doch – während er mit Behagen auf ihren lebendigen Vortrag hörte, nagte sich leise wieder jene unerklärliche Abneigung gegen das Mädchen in sein ehrliches Gemüt hinein, die er nicht bannen konnte, die ihn förmlich verfolgte.

Schon wie sie dasaß, tief in ihren Stuhl zurückgelehnt, daß alle Formen des jugendfrischen Leibes einen Kampf gegen das einengende Gewand führten, so ungebunden, so ohne Rücksicht auf ihn, als ob er gar nicht vorhanden wäre, den Kopf zur Seite geneigt und auf ihren Zügen all jenen wechselnden, prickelnden Spott, wie wenn sich auf dem feinen Gesicht der Inhalt des Buches wiederspiegele, – das gehörte alles nicht hierher, nicht in die pommersche Krankenstube hinein, das war etwas Unreines, Unerträgliches. – Und jetzt empfand er auch, wie frech und unpassend das war, was sie las.

Die Röte stieg ihm in die Stirn. Schwerfällig erhob er sich, ging mehrmals im Zimmer auf und ab, und räusperte sich endlich stark:

»Wollen wir jetzt nicht mit Lesen aufhören?« Und da geschah das Unerwartete.

»Nein,« – Else fröstelte und schüttelte unwillig den Kopf: »Du mußt auch immer stören,« beklagte sie sich. – »Laß uns doch unser Vergnügen. Ich bin ja so froh, daß ich endlich ein wenig Abwechslung finde.« – Und wieder drückte sie der Schwester die Hand.

Das auch noch.

Etwas Unverständliches murmelte der Pächter vor sich hin, heftig wollte er erwidern, aber die Gewohnheit, sein Weib unter allen Umständen zu schonen, war stärker. Mühsam bezwang er den aufsteigenden Zorn und verließ mit starken Schritten das Zimmer.

Als er die Tür schloß, hörte er das Mädchen wieder laut und fröhlich weiterlesen.

Ein paar Stunden lief er draußen in der Dunkelheit umher, immer die gerade Chaussee entlang, und suchte seinen Unmut abzuschütteln.

Gleich am ersten Tage brachte sie ihm Unruhe und Unfrieden ins Haus. Er hatte es ja voraus gewußt. – Das Mädchen paßte eben nicht in den beschränkten Kreis. Ob es nicht das beste wäre, sie wieder zum Gehen zu veranlassen? – Er seufzte – – das durfte man leider nicht wagen. – Und dann, wie gleichgültig und verächtlich sie ihn selbst behandelte. Das Achselzucken und das über ihn Fortsprechen. Er galt dem Fräulein eben nur als »Bauer«.

»Ha – ha!« Unvermittelt blieb der Pächter stehen und atmete tief auf. – Ihn bedrückten ja ganz andere Sorgen, als dieses fremde Mädchen. Wie konnte er es nur einen Augenblick vergessen?

Die Schuldenlast – die entsetzliche Schuld. Acht Tage Frist hatte er, in dieser Zeit mußte er 1200 Taler schaffen, sonst gehörte sein ganzes Inventar dem Juden. Aber woher? – woher?

Laut stöhnte er auf, und so heftig packte ihn wieder die Verzweiflung, daß er eine Pappel der Chaussee umklammerte und den starken Stamm schüttelte und stieß, bis eine Wolke dürrer Blätter auf ihn herunter raschelte.

Ein kalter Nachtwind strich durch die Zweige, alles war dunkel und still. Nur die raschen Blätter dort oben begannen wieder durcheinander zu rauschen.

War das nicht, als ob ein Mensch spräche?

Hedwigs Stimme – deutlich vernahm er sie wieder in der Höhe lesen, lachen und kichern.

Der Einsame zuckte zusammen und horchte um sich. – Ja, es war etwas krank in ihm, es schmerzte ihn in der Brust. Und blitzartig durchfuhr ihn das Bewußtsein, daß die kranke Frau zu Hause, die er so leidenschaftlich, so tief, so gramerfüllt liebte, ihn zum Schwächling gemacht, daß dieses blasse, abgezehrte Weib seine Kraft gestohlen, daß es täglich sein Blut aussauge, um davon selbst das Dasein zu fristen, genau wie jener gespenstische Vogel, von dem er als Knabe gelernt, daß er den Verfallenen die Adern aufbeiße.

»Gott schütz’ mich – Elsing – Elsing, was ist mir nur?« stammelte Wilms und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn – »nach Hause – nach Hause.«

Er lief, er stürmte dahin, bis er mit keuchender Brust den öden, schlummernden Hof erreicht hatte. Auf den Zehen schlich er dann durch den Flur und öffnete geräuschlos das Zimmer.

Ein Nachtlicht brannte auf dem Tisch. Aus dem Halbdunkel, aus dem die unruhigen Atemzüge der Kranken herauszitterten, erhob sich eine schlanke Gestalt und kam unhörbar auf den Eindringling zu.

Jetzt stand Hedwig vor ihm. Sie legte die Finger auf die Lippen und raunte kurz:

»Sie schläft – ich werde heute bei ihr wachen.«

»Du?«

»Ja.«

»Du? Nein, das – das will ich nicht.«

Das Mädchen beugte sich plötzlich vor, daß er ihren Atem fühlte.

»Und warum nicht?«

Trotz der Dunkelheit trafen sich ihre Blicke und blieben erstaunt und fragend aneinander hängen. Da rollte die Uhr; die Liegende regte sich, und dann – Wilms trat zurück und murmelte müde:

»Meinetwegen.«

Damit schloß er die Tür, um sich draußen leise über die knarrende Treppe nach jener Kammer unter dem Strohdach zurechtzutasten, wo er schon oft genächtigt hatte.

Und so gleichgültig und abgespannt fühlte er sich, daß er sich selbst gar nicht die Frage vorlegte, warum er dem Mädchen nachgegeben.

Oben in der kahlen, weißgetünchten Stube entkleidete er sich schnell, und bald lag er ausgestreckt in dem hohen Bett, ohne jedoch die ersehnte Ruhe finden zu können.

Die niedrige Decke drückte ihn beinahe auf den Kopf, und immer wieder hob er das Haupt und lauschte auf das Ächzen und Pfeifen des Windes, der klagend über das Dach strich.

Es klang ebenfalls wie das Stöhnen eines gefolterten, riesenhaften Leibes.


VI.

Die zehnte Stunde des Vormittags war bereits angebrochen, als Hedwig in die Stube trat, die sie kurz vorher verlassen, ein modernes Hütchen auf dem braunen Haar, und über der Taille ein elegantes, offenes Jackett, das ihren vollendeten Wuchs erst recht hervorhob.

Sie streifte sich Handschuhe auf und spähte dabei aufmerksam zum Fenster hinaus, wie nach dem Stand des Wetters.

»Du willst fort?« forschte die Kranke mit leisem Vorwurf, während eine Wolke über ihre Stirn flog, denn die Bedauernswerte hatte bereits die feste Überzeugung gewonnen, daß sie sich in Gegenwart ihrer Schwester wohler befinde.

»Ja,« versetzte die Jüngere aufatmend und ohne die verborgene Rüge sonderlich zu beachten: »Es ist heute so frisch draußen – wirklich prachtvoll – überall ziehen Sommerfäden – sieh nur – und hier drinnen –« sie vollendete nicht, sondern setzte rasch hinzu: »Ich bin das Wachen doch wohl noch nicht so recht gewohnt – und dir geht es ja heute besser – da will ich einmal einen Gang durch eure Wirtschaft machen. In einer Stunde bin ich wieder zurück.«

»Aber Hedwig, wenn ich so allein –«

»Ich bringe dir auch was Schönes mit,« schnitt die andere lächelnd ab und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Seufzend richtete sich die Verlassene auf und blickte sehnsüchtig durch die Fensterscheiben der schlanken Mädchengestalt nach, die draußen bereits ohne sonderliche Eile mit leichten kräftigen Bewegungen über den Hof schritt.

»Wer doch auch so –,« flüsterte die Kranke endlich, »einmal noch, nur einmal – –« Krampfhaft faltete sie die Hände, und ihre Seele hob sich wieder in jenem einen brünstigen Gebete zu Gott.

Unterdessen hatte Hedwig den Hof durchmessen. Wer sie so sah, mit dem eleganten, dünnen Sonnenschirm in der Hand, und ihrer modernen Kleidung, der hätte kaum geglaubt, daß den braunen, blitzenden Augen dieser jungen Dame nicht der kleinste Schaden im Strohdach einer Scheune entging.

Sie bemerkte alles. Auch für das Geringfügigste in diesem schweigenden Gehöft schien sie ein Interesse zu empfinden.

Vor dem offnen Kuhstall, aus dem ein warmer Dunst herausschlug, hockte auf einem Prellstein ein alter, verwitterter Mann, ein greises, dürres, zahnloses Menschenkind, das kopfwackelnd dasaß und sich zu sonnen schien. Neben ihm, auf dem Holzpantoffel des Alten stand ein zerzauster Rabe auf einem Bein und war gleichfalls in den allgemeinen bleiernen Schlaf versunken, der wie verwunschen die gesamte kleine Besitzung umfangen hielt.

»Alterchen,« rief Hedwig, als sie ihn erreicht hatte, und stampfte leicht mit ihrem Schirm auf den Boden: »Warum sieht der Hof so schmutzig aus?«

»He?« grunzte der Alte und hob nach Art der Schwerhörigen das Ohr. Dabei blinzelten seine erloschenen, blöden Augen in das frische, blühende Mädchengesicht empor, und der zahnlose Mund begann zu kauen.

Das junge, kräftige Leben da vor ihm gefiel ihm augenscheinlich nicht. Auch redete sie ihn mit zu wenig Hochachtung an, denn der alte Krischan aß schon seit Menschengedenken auf dem Hof das Gnadenbrot und stand außerdem im Rufe dunkler lichtscheuer Künste. Der Rabe galt dabei als eine Art dienender böser Geist oder mindestens doch als Bundesgenosse zu allerlei schwarzen Taten.

»Schnell – nehmt einen Besen und fegt einmal ordentlich aus,« rief plötzlich das schöne Mädchen dringend dazwischen. Ihr war es, als könnte man damit alles Häßliche und Kranke, was sie hier vorgefunden, mit starker Hand hinauskehren.

Der Alte regte sich nicht.

Sie stieß ihn an.

Da zog ein leises Grinsen über das verrunzelte Gesicht, der Mund hob an zu schmunzeln, und ohne sich von der Stelle zu rühren, keuchte er heiser zur Antwort:

»Arbeiten? – ne, vörbi – all lang vörbi – ne, ne, min Döchting, wenn Sei hier wat utkihren willen, denn mötens sülwst dauhn.«

»Und Sie, was treiben Sie hier?« rief Hedwig scharf dagegen. Durch ihren Körper zuckte es. Die schlaffe Faulheit des Alten empörte sie.

»Ick? – ick töw [Fußnote: warte] ups Starwen.«

»Aufs Sterben?«

Unwillkürlich erblaßte die Angreiferin und trat zurück. Der Alte warf ihr einen schielenden bösen Blick nach, und der Rabe erhob sich plötzlich und schlug krächzend und hackend mit den Flügeln nach ihr.

Es war, als ob sich die alte Zeit in diesem Gehöft gegen sie wehren wollte.

Allein der neue Ankömmling war nicht von der Art, sich von derlei unklaren Vorstellungen lange beeinflussen zu lassen.

Stolz hob sie das Haupt und ließ kühl die Worte fallen: »Ich werde mit meinem Schwager über Sie sprechen.«

Im nächsten Augenblick wandte sie sich und eilte grußlos auf die Landstraße hinaus.

Wie frisch und hell war es hier draußen. Über ihr das unendliche, leuchtende Blau, vor ihr Felder und Äcker, grüne und braune Flächen, die einen noch im reifen Schmuck der Spätsaat, die andern bereits wieder umgepflügt, dazwischen kleine, helle Wässerchen, wie Silberbänder auf einem bunten Tuch, Duft und Dämmer und blauneblige Wälder in der Ferne, und über alles hinweg der über den Boden flüsternde Frühwind, der einen kräftigen Erdgeruch mit sich führte.

Hedwig sog ihn tief ein. Der kleine Zwischenfall mit dem Alten war bereits vergessen. Hurtig setzte sie über den Graben der Landstraße und schlug den ersten besten Feldweg ein, der quer über ein Stoppelfeld führte, auf welchem in unsicherer Weite ein paar dunkle Punkte auf und ab schwankten.

Wie einsam es hier überall war. Nur eine Schar Krähen hüpfte auf dem abgemähten Boden umher, und bei einer Biegung sah sie auf einem wilden Dornbusch einen zierlichen, bunten Stieglitz sitzen, der im Sonnenschein sein kräftiges Liedchen sang. Sonst webte über allem eine heilige wohltuende Ruhe.

Hedwig blieb stehen und ließ ihren Blick weit umherschweifen.

Also hier sollte sie fortan ihre Tage verbringen? So allein, so ausgesetzt unter fremden Menschen? Denn ihr herber Verstand sagte ihr, daß auch Else ihr eine Fremde bleiben würde, eine Bedauernswerte, für die sie sich höchstens ein unangenehmes Gefühl des Mitleids würde abzwingen können.

Und die lautlose Einsamkeit fing an, sie zu bedrücken.

Wie etwas Schattenhaftes flog es über die Heide, kam auf sie zu und quälte und ängstigte sie.

Sie dachte an ihren letzten Aufenthalt in der Stralsunder Pension und zusammenzuckend empfand sie wieder jenes eine Ereignis, vor dem ihr bisheriges Leben zusammengebrochen war, jene eine entsetzliche Stunde, an der alle ihre Gedanken sich festgesogen hatten, so fest, daß ihr Körper eigentlich halb träumend herumwandelte, beinahe getrennt von einer leitenden Seele. Und sie fühlte wieder, daß sie etwas in ihrem Leben vergessen müßte, und daß diese weite Ödnis ringsumher vielleicht jene stumpfe Ergebenheit in ihr erzeugen könnte, nach der sie sich sehnte.

Und merkwürdig. – Noch sann sie diesen dunklen fernen Traum, da erweckte sie etwas. – Ein flüchtender Hase streifte ihren Weg, fuhr vor ihr zurück und setzte dann seitwärts über das Feld.

Das Mädchen lachte plötzlich hell auf.

Das frische, selbstbewußte Lachen eines kräftigen Menschen. Was brauchte sie sich in solchen Hirngespinsten zu verfangen? Es war ja alles vorüber, bald überhaupt nicht mehr gewesen, nur eine seltsame verflatternde Erinnerung. Erhobenen Hauptes eilte sie weiter; ab und zu schlug sie mit dem Sonnenschirm spielend an die den Weg begrenzenden Büsche, und dann verweilte sie wieder, um sich von dem säuselnden Wind die Wangen kühlen zu lassen.

So war sie in einen Hohlweg geraten. Fast in Manneshöhe über ihr erhob sich zu beiden Seiten das Feld. An den Abhängen blühten noch wilde Rosen, ganze rotbraune Bündel von Erika sproßten dort empor, und hier und da nickten violette Glockenblumen dazwischen.

Gedankenlos pflückte das Mädchen einen Strauß, vielleicht für die eigene Brust bestimmt, vielleicht für Else, da hörte sie unvermutet hoch über sich Stimmen laut werden und einen Wortwechsel sich entspinnen.

Und jetzt erkannte sie auch, wer dort sprach. Es war Wilms, den seine Tagelöhner um eine rückständige Schuld zu mahnen schienen.

Vier bis fünf Männer redeten dort oben durcheinander.

»Leute, ich hab’ euch doch gegeben, was ich hatte – nun geduldet euch noch die paar Tage – ihr wißt ja, was ich inzwischen selbst alles durchmachen mußte – eine kleine Weile, dann ist ja alles wieder ins gleiche gebracht. – Nicht wahr?«

»Ja Herr, wir haben ja auch Vertrauen zu Sie, aber bei uns zu Haus sieht’s auch man mager aus.«

»I ne wir wollen Ihnen nicht drängen ne – dat tun wir nich –«

»Ne Herr Wilms, Sie sind ja auch immer gut zu uns gewesen, und werden’s woll jetzt allein nich so haben, – bloß Frau und Kinners –«

»Man kann sie doch nich hungern lassen, Herr.«

Einen Augenblick trat Stille ein. Die Männer schienen stehen geblieben zu sein, und die Lauscherin vernahm wieder, wie der Wind durch das Heidekraut strich. Dann sagte der Pächter mit seiner tiefen treuherzigen Stimme: »Kommt morgen abend zu mir, Leute, dann sollt ihr bestimmt euer Geld bekommen – so oder so.« Und in festerem Tone setzte er hinzu: »Und jetzt geht wieder an eure Arbeit.«

»Na, dann bedanken wir uns auch vielmals, Herr. Adjüs!«

»Guten Morgen.«

Man hörte, wie sich die Tagelöhner entfernten, und etwas später bemerkte Hedwig, daß schwere Tritte den Hohlweg herabknirschten.

Jetzt mußte er kommen. Unwillkürlich trat das Mädchen hinter den Dornenbusch zurück, als wollte sie den Nahenden ungestört vorüberlassen.

Auch der Pächter hatte keine Ahnung von der Nähe eines fremden Wesens, das ihn und seine Qual erforschen könnte, sonst würde er sicherlich schnell vorübergeschritten sein; so aber hielt er an der tiefsten Stelle des Weges an, senkte den Kopf auf die Brust und preßte mit einer müden, schlaffen Bewegung die Hand gegen die Stirn.

Es lag soviel Müdigkeit darin, soviel verschlossenes Weh.

Jedoch kein Stöhnen quoll über die geschlossenen Lippen, lautlos, ohne Wort verharrte die große Gestalt, es war ein Trauern, das man mit sich und mit Gott allein abmacht, versteckt und geschützt durch die Einsamkeit.

Kein fremdes Auge darf dergleichen erspähen.

Mit ihren kühlen, scharfen Blicken hatte Wilms’ Schwägerin dies alles erfaßt, nun sah sie, wie sich der Pächter die graue Forstjoppe strammer zog, die Inspektormütze zurechtrückte und festen Schrittes weiterging.

Gott sei Dank. Es war auch besser so.

Bald mußte er verschwunden sein.

Und doch – ihr Geschick zwang sie plötzlich, sich fast gegen ihren Willen in das Schicksal dieses Mannes einzumischen.

Schon hatte er die höher gelegene Ebene erreicht.

Ein Stein löste sich von der Böschung, wo das Mädchen stand, und rollte mit Gepolter in den Hohlweg hinab.

Wilms wandte sich ruckartig zurück.

Täuschte er sich denn nicht? Das junge, elegant gekleidete Weib dort unten war wirklich – ja es war Hedwig, sie mußte ihn schon früher überrascht haben.

Die Züge des Pächters verzerrten sich, etwas Brutales stieg in ihnen auf, und die Äderchen in seinen Augen wurden blutig.

»Wie kommst du dorthin?«

»Ich?« – sie schlenkerte nachlässig den Schirm und kam näher – »ich ging ein bißchen spazieren.«

»Warum bliebst du denn nicht bei Else?«

»Weil ich es nicht länger aushielt – das Wachen, glaube ich, hat mich zu sehr angestrengt.«

Wilms brach los: »Und nun gehst du hier so – so – was machst du denn eigentlich hier?«

Er hatte sich vorgebeugt, seine Lippen bebten.

Aber in dem Mädchen war plötzlich etwas geweckt, etwas vor dem sie sich selbst graute, und an das sie vorhin so stark gedacht hatte.

Ganz nahe trat sie an den aufgeregten Mann heran und warf ihm einen einzigen Blick zu: »Ich sagte ja, ich gehe spazieren,« kam es scharf und trotzig hervor.

Ihre Fäuste in dem zarten Glacéleder ballten sich, ihr Körper zuckte.

Im Moment glich sie einer Katze, die sich zum Sprung anschickt. Aus ihren blitzenden Augen leuchtete die Lust, mit ihrem Bedränger zu ringen. Brust an Brust. Um irgend etwas Unerkanntes – Kostbares – um sich selbst.

Das alles war dem rohen, gutmütigen Bauer so neu, so unfaßbar, daß er das im Zorn bebende Geschöpf vor ihm minutenlang kopfschüttelnd anstarrte.

»Was willst du eigentlich von mir?« murmelte er endlich verständnislos.

»Ich?«

Sie erwachte plötzlich wie aus einem wohltuenden Traume und eine brennende Röte jagte über ihre Züge.

Beide starrten sich noch immer, wie aus allen Himmeln gefallen, an. Langsam ließ das Mädchen den erhobenen Schirm niedergleiten und richtete sich straff auf.

Ein verächtlicher Zug flog um ihre frischen Lippen.

Es war wohl ihr Schicksal, überall mit den Männern im wirklichen, körperlichen Kampfe streiten zu müssen. Dieser da schien ihr wenigstens nicht gefährlich.

»Ich wollte einmal mit dir über deine Verhältnisse sprechen,« begann sie kurz und herb.

Er stand so groß und kräftig, und doch so ungeschickt vor ihr.

O, wie sie es reizte, diesen ungebärdigen Riesen ihre Macht fühlen zu lassen.

»Über meine Verhältnisse?« wiederholte der Pächter, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.

»Da hast du also vorhin alles mit angehört, wirklich alles?«

»Ja, ich weiß, daß du dich in Geldverlegenheit befindest.«

Eine Sekunde noch dauerte das peinliche Schweigen, die Brust des Mannes hob und senkte sich, als wollte sie etwas von sich abwälzen, den Kopf schob er stierartig vor, die Zähne knirschten mechanisch übereinander.

Dann stürzte es aus ihm heraus.

»Und du – – was hast du dich da rein zu mischen, du freche Dirn? – – – Was geht dich das alles überhaupt an? Nein, nein, du mußt fort, – aus dem Haus – heute noch.«

Schrie und brüllte er dem Mädchen wirklich all diese Schmähungen ins Gesicht? Nein, ach nein, matt und schmerzhaft stachen ihm die Worte nur durchs Gehirn, über die halbgeöffneten Lippen aber quoll dumpf und heiser:

»Was geht dich das an? – Was soll das alles? Wozu drängst du dich in meine Angelegenheiten? Was?«

»Wozu? – Weil ich mir Klarheit über die Menschen verschaffen will, bei denen ich von jetzt an leben soll.«

»Willst – du denn wirklich bei uns bleiben? – Hedwig – aber – aber du – du paßt ja gar nicht hierher, du taugst nicht in so viel Traurigkeit – du solltest lieber wieder gehen.«

Unwillkürlich hatten beide den Weg von neuem aufgenommen und schritten nebeneinander über die leere Heide.

Der Mann in sich zusammengesunken, das Mädchen schlank aufgerichtet und geschmeidig, von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick auf den Begleiter heftend.

Und wieder sagte er eindringlich vor sich hin: »Ja, ja, du solltest gehen.«

Da faßte Hedwig seinen Arm und legte den ihrigen hinein.

Es waren die Bewegung und die Manier, wie sie sie drüben in der aristokratischen Tanzstunde in der alten Hansastadt gelernt hatte.

Stirnrunzelnd ließ es Wilms geschehen, innerlich jedoch empörte ihn dies elegante Gebaren, obgleich es sich leicht und anmutig genug ausnahm.

»Schwager, hast du eigentlich etwas gegen mich?« fragte sie plötzlich und ließ ihre klugen braunen Augen fest auf ihm ruhen.

Ihr Arm drückte noch gegen den seinen, so daß sie sein Erschrecken merken mußte. Den ehrlichen Mann brachte die Lüge, die nun gebraucht werden sollte, in gänzliche Verwirrung.

»Ich – nein, – was denkst du, – ich habe nichts gegen dich.«

»Und Else?«

»Meine arme Frau wohl auch nichts – bloß –«

Er stockte und über seine offnen Züge breitete sich wieder jene große Verlegenheit.

»Bloß – nun also?«

»Nun, du bist uns wohl nur zu sehr überlegen« – stammelte er. »Du hast soviel Bildung genossen – drüben in der feinen Pension – Else und ich, wir sind doch nur einfache Leute. Und dann meine schmalen Einkünfte, du hast es ja selbst gehört, das wird dir doch auf die Dauer nicht gefallen.«

Sie schmiegte sich an ihn, bis er fast ihre weichen Glieder fühlen konnte, und flüsterte rasch und mit einem Ausdruck der Teilnahme: »Aber ich möchte ja so gern meine Kräfte für euch einsetzen, ich bin stark, Schwager, und möchte euch gern helfen.«

»Wirklich?« fuhr er auf und wandte sich voll zu ihr. »Das willst du in der Tat?«

Sie nickte und sah ihn ernst an. »Und wieder ein bißchen Ruhe und Gemütlichkeit bei euch verbreiten. Das fehlt doch bei dir?«

Der Pächter entgegnete nichts, aber er seufzte tief auf und schaute in sich gekehrt auf den Waldessaum, dem sie jetzt zustrebten.

Hedwig aber hing sich fester an ihn und fuhr interessiert fort:

»Früher warst du doch selbst gewiß viel heiterer?«

»Ja früher« – wiederholte der Landmann, tief Atem holend – »früher – da mag’s wohl so gewesen sein. Damals waren wir noch guter Dinge. Da ging ich auch oft mit Else über das Feld – –«

»Wie jetzt?« warf sie rasch dazwischen.

Wilms ließ einen scheuen Blick über sie fortgleiten und löste seinen Arm ungeschickt von dem ihren. »Ja, mein Kind, beinahe so,« äußerte er gedrückt. Und nach einer Pause setzte er fast abfällig hinzu: »Du siehst ihr eigentlich gar nicht ähnlich.«

»Nein,« bestätigte seine Begleiterin.

Es klang scharf und herb.

Wortlos schlugen die beiden nebeneinander den Waldpfad ein.

Es war ein weitgedehntes Kieferngehölz, mit regelmäßig ausgehauenen Wegen, die schnurgerade wie schmale Chausseen den Wald durchschnitten und sich in Dämmerung zu verlieren schienen.

Die Wipfel der Bäume waren in helles Sonnenlicht getaucht und wiegten sich in dem leisen Luftzug hin und her. Ein starker Harzgeruch entquoll den Stämmen. Von fern hörte man das eintönige Geräusch der fällenden Axt. Und laut und stark schrie ein Häher in der Luft.

Die beiden einander so fremden Menschen waren schon weit in den einsamen, schlummernden Wald eingedrungen, da begann Hedwig unvermutet von neuem das Gespräch. Ihre Gestalt richtete sich dabei auf, die dunklen Augenbrauen hatten sich zusammengezogen, ihr ganzes Wesen schien von einem festen Entschluß beherrscht zu sein.

»Wohin gehst du jetzt?« forschte sie kurz.

Und gerade diesen Ton konnte der Landmann nicht vertragen. Mißmutig schüttelte er den Kopf und schien nichts vernommen zu haben.

Sie blieb plötzlich stehen.

Er wandte sich unwillig zurück und winkte, aber sie rührte sich nicht von der Stelle.

In dem enganliegenden Jäckchen, dem modischen Hut und ihrem blühenden Gesicht darunter, nahm sie sich seltsam aus zwischen den hohen, uralten Kiefern.

»Wohin du gehst, möchte ich wissen?«

Und merkwürdig, ihr Blick traf so fest und ernst den seinen, sie standen sich wieder so dicht gegenüber, daß es dem Manne peinlich wurde.

»Zum Förster,« gab er nach, und unwillkürlich murmelte er hinzu: »Ich will ihm Heu verkaufen.«

»Du brauchst das Geld wohl für die Tagelöhner von vorhin. Nicht wahr?«

Wie sie das riet. Wie praktisch das Mädchen dachte, es tat dem leidenden Manne ordentlich wohl, daß sie das Rechte getroffen.

»Ja, ja,« brachte er voller Angst hervor, »wenn er es nur kaufen möchte.«

Um die frischen, etwas aufgeworfenen Lippen des Mädchens glitt ein hochmütiger Zug. »Er wird schon,« entgegnete sie bestimmt, »hat er eine Frau?«

»Ja, jung verheiratet.«

»Gut, dann werde ich mitgehen und die Frau zu bestimmen suchen.

»Ach ja, Hedwig, das wäre – sehr schön – von dir –« stotterte er mit niedergeschlagenen Augen.

Ein heißes Gefühl stieg in ihm auf, etwas wie Dankbarkeit, etwas wie die Lust, sich anzuschließen an ein Wesen, das ihm helfen wollte. Und doch – große Schweißtropfen der Scham perlten ihm dabei auf der Stirn. Sie bemerkte es und bat ihn, ihr den Weg zu zeigen. Ohne Widerspruch ließ er es geschehen, daß sie ihren Arm unter den seinen legte, und eilte mit ihr dann stürmisch in ungewöhnlicher Hast vorwärts.

Ihre Kleider flatterten dabei, durch ihre Wangen ebbte das Blut, er sah sie an und merkte, wie ihre Brust sich beschleunigt hob, ihr Atem strömte ihm frisch entgegen.

Oh, sie war vielleicht doch die treue Gehilfin, die er suchte, die Schwester seines armen, geliebten Weibes, die ihm Trost bringen wollte.

Wie jugendfrisch und kräftig sie war.

»Hedwig, du fragtest vorhin – – –«

»Nach deinen Verhältnissen, ja.«

»Ich – ich – Hedwig – wenn ich nur Vertrauen – –«

Und dann wurde die Sehnsucht, sich mitzuteilen, übermächtig. Er vergaß, wer sie war, er ergriff ihre Hand, wie die eines anderen Mannes, und mit stammelnden stockenden Worten, dann aber mit dem tiefen Gemüt dieser verschlossenen Seele offenbarte er sich, entlastete er sich von dem überschweren Druck, schüttete er all sein Weh vor dem schönen Mädchen aus.

Und wahrlich, sie war schön.

Denn während er sprach, hob sich ihre Gestalt, ihre Glieder schienen sich zu dehnen, üppiger zu werden, und während er von der rückständigen Pacht erzählte, von der achttägigen Frist, die ihm der Handelsmann in Grimmen gelassen, von seiner vollständigen Zerrüttung, da war es, als ob sie mit gieriger Lust all diese Mühsal auf ihre Schultern zöge, um sie fortan allein und ungebeugt zu tragen. Als Wilms geendet hatte, sah er sie an und erschrak.

Ihre Augen hingen an den seinen. Im Feuer seiner Erzählung hatte er sie an sich gepreßt, als ob er sie umfangen wollte.

Entsetzt, erwachend, fuhr er zurück.

»Dort – dort ist das Forsthaus,« stammelte er.


VII.

Wieder brannte die große Staatslampe in dem weiten Wohnzimmer des Pächters. Und es war wirklich schon gemütlicher geworden.

Ein eiskalter Regen hatte sich draußen eingestellt, und während man sonst in dieser Übergangszeit frierend und schauernd seine Zeit verbrachte, knisterte jetzt ein lustiges Feuer in dem mächtigen Kachelofen, und ließ von Zeit zu Zeit das wohltuende Geräusch der berstenden und knackenden Holzklötze vernehmen.

Hedwig, lachend über die Beschränktheit, welche mit der Heizung kalendermäßig erst beginnen will, wenn der erste Schnee fällt, hatte selbst dem alten Kachel-Patriarchen die erste reichliche Nahrung zugeführt, und jetzt saß die Kranke in einem gewaltigen Lehnstuhl mit Decken eingehüllt davor, wärmte sich, und wartete auf die Wiederkehr von Mann und Schwester, die gemeinsam zum Pastor des großen Dorfes gewandert waren, um den Geistlichen mit Familie zu einem Besuch in das Haus des Pächters abzuholen. Auch der Förster mit seiner Frau wollte herüberkommen. Hedwig hatte darauf bestanden, denn um jeden Preis gedachte sie, Menschen und Geselligkeit in dies verödete Heim zurückzuführen.

So saß die Leidende und hielt oft die Hand vor das zuckende Feuer, bis sie ihr Blut durch die Haut hindurchschimmern sah.

Eine wohlige Wärme durchströmte sie. Beinahe hätte sie sich behaglich gefühlt. – Wenn sie nur nicht so verlassen und einsam geblieben wäre.

Wozu mußten auch die beiden gemeinsam gehen? Hedwig allein hätte doch auch genügt. Aber Wilms hatte sie durchaus in dem Wetter nicht unbegleitet aufbrechen lassen wollen – »es schicke sich nicht,« hatte er geäußert, und nun waren sie schon über eine Stunde fort.

Die Uhr schlug.

Die Kranke wurde immer ungeduldiger. Mägde und Knechte kümmerten sich nicht um sie. Seit langer Zeit zum erstenmal wurde im Hause flott gearbeitet; der Pächter hatte mit Hedwigs Hilfe eine Molkerei eingerichtet. Heute war die dazu nötige Maschine aus Stralsund eingetroffen, welche ein Freund des Mädchens auf Kredit geliefert, und das Gesinde setzte sie gegenwärtig instand.

Else konnte deutlich das Lachen und Schwatzen der Leute vernehmen.

Nicht einmal eine Klingel war ihr zur Hand, mit der sie vielleicht hätte läuten können.

Ganz verlassen – ohne jede fremde Hilfe.

Sie begann sich zu ängstigen.

Wilms könnte doch wirklich längst zurück sein. Das war doch rücksichtslos von ihm und namentlich ihr, der Verzärtelten, etwas völlig Ungewohntes.

Leise begann sie zu stöhnen und rückte in dem Sessel hin und her – dann hielt sie wieder die Hand vor die Glut und lauschte.

Draußen prasselte gleichmäßig der Regen hernieder. Man hörte förmlich die Blasen platzen – – aber plötzlich, die Kranke horchte angestrengt, ein rascher, dumpfer Hufschlag tönte dazwischen, dann kam etwas auf den Hof gesprengt – – ein Pferd wieherte hell und anhaltend – ein kurzer Stimmwechsel – –

Und es wurde an die Tür geklopft. Rasch und energisch, und ehe die überraschte Frau sich noch besinnen konnte, trat ein junger Mann in Joppe und Reithosen in die Stube und machte ihr an der Schwelle eine kurze liebenswürdige Verbeugung.

Die Sporen klirrten dabei hell an den hohen Stiefeln, und von der Lodenjoppe troff das Wasser herunter.

»Pardon,« begann er und zog ein wenig befangen die Mütze – »ich weiß, es ist eine große Freiheit, daß ich hier gleich die ganze Landstraße mit hineinbringe. Nicht wahr? – Treffe ich Herrn Wilms wohl zu Hause?«

»Nein – nein – leider« – Else machte vergebliche Anstrengungen, sich zu erheben – »mein Mann und meine Schwester sind fort – aber wer – – mit wem habe ich denn –?«

Und wieder versuchte sie, sich auf den kraftlosen Füßen aufzurichten, wurde jedoch durch das höfliche und doch zwanglose Nähertreten des Reiters daran verhindert.

»Oh« – meinte er gutmütig, während er bedauernd den Kopf schüttelte – »ich hörte schon, Sie seien nicht wohl, liebe Frau, und nun tut es mir doppelt leid, daß ich Sie so erschrecken muß. – Aber dieses niederträchtige Wetter draußen – Sie sehen ja, ich bin durchnäßt, wie eine Morchel – und da dacht’ ich, Herr Wilms würde mich wohl ein Stündchen bei sich aufnehmen. – Ich bin nämlich der Graf Brachwitz, der Sohn natürlich – Ihr Mann kennt mich ganz genau – vielleicht haben auch Sie schon von mir gehört – – ist’s wirklich erlaubt? Sie sind zu liebenswürdig.«

Damit zog er sich den von Else angebotenen Stuhl ganz in die Nähe der Kranken, musterte sie halb teilnahmsvoll, halb verlegen und streckte dann die Hand befriedigt dem mächtigen Ofenfeuer entgegen.

»Prachtvoll,« äußerte er behaglich und zog den einen mächtigen Stulpenstiefel auf das Knie herauf, wobei er sich trotzdem leicht gegen die Hausfrau verneigte: »Habe ich wirklich Ihre gütige Erlaubnis, auf Herrn Wilms zu warten, bis er wieder kommt, oder der Regen aufhört? – Oder falle ich Ihnen lästig?«

»O – bewahre,« hüstelte die Kranke.

Und sie sprach die Wahrheit. Der vornehme Besuch, der sie, ohne daß sie es recht empfand, so höflich und dabei doch etwas von oben herab behandelte, schmeichelte und imponierte ihr auf das äußerste. Noch nie hatte die Grafenfamilie in der Umgegend jemals Besuche abgestattet, und jetzt saß wie durch ein Wunder der junge, jugendschöne Aristokrat vor ihr und bemühte sich, ihr allerlei Artigkeiten zu sagen.

Er hörte Elses Krankengeschichte geduldig an und lächelte nur ein wenig suffisant, als Else ihm mitteilte, daß sie als Mädchen stets gesund gewesen, und ihr Leiden erst in der Ehe begonnen habe.

»So? – hm« – der junge Graf streichelte sich den Bart und nickte weise: »Ja, ja, verehrte Frau, das Heiraten. – Ich bin auch prinzipiell dagegen. Wenn es nur ein anderes Mittel gäbe, zu einem Majoratsherrn zu gelangen, dächte ich gar nicht daran. Ich habe überhaupt etwas Solides in meiner Natur. Nicht wahr, das sieht man mir an? – hm« – – – er schlug mit seiner Reitpeitsche, die er noch in der Hand hielt, lässig gegen ein Stuhlbein und begann sich ein wenig ungeduldig im Zimmer umzusehen. Augenscheinlich fing ihm das Tete-a-tete mit der Kranken an langweilig zu werden.

»Würden der Herr Graf vielleicht irgendeine Erfrischung zu sich nehmen wollen?«

»Nein – nein – bewahre – lassen Sie sich nur nicht stören – wir plaudern ja hier ganz vorzüglich. Hm – ein recht gemütliches Zimmer – ein bißchen groß – – ja – sitzen Sie oft so allein? Mir ist es doch, als wenn ich neulich eine Verwandte von Ihnen am Bahnhof getroffen hätte. Oder schon wieder abgefahren?«

»Wirklich, der Herr Graf haben das bemerkt? Nein, meine Schwester Hedwig ist noch hier und wird überhaupt lange Zeit bei uns bleiben.«

»So? Na da mache ich Ihnen mein Kompliment, eine außergewöhnlich hübsche junge Dame – also, Ihre Schwester? – Na ja, die Ähnlichkeit ist unverkennbar« – hier verbeugte sich der Reiter wieder mit jener verbindlichen Art, die ihn unbewußt so prächtig kleidete. – »Ein Fräulein Schröder, das sich jetzt längere Zeit in Stralsund aufhielt – nicht wahr?«

»Das wissen Sie ebenfalls?« flüsterte die Kranke, sichtlich geschmeichelt.

Es fiel ihr nicht auf, daß der Aristokrat seinen Kopf vom Feuer zurückwandte, in das er bisher eifrig hineingestarrt, um seine scharfen blitzenden Augen minutenlang forschend auf ihr eingefallenes, blasses Antlitz zu richten, als ob er in ihr etwas Verborgenes, Geheimnisvolles suchen wolle. – Dann aber schien er befriedigt zu sein. »Ja, ja« – fuhr er gleichgültig fort: »Wir kennen uns – oberflächlich natürlich nur, denn solch zartes Pensionsfräulein wird mit einem Offizier nicht gerne zusammengebracht – das können Sie sich doch denken.«

»Ach – der Herr Graf scherzen nur –«

»Durchaus nicht – man erzählt die schauderhaftesten Geschichten von mir – – na hier wird es ja auch bald losgehen und – –«

Er unterbrach sich, stand auf und lauschte: »Hören Sie? – Dort draußen fährt ein Wagen über die Chaussee – zwei feste Traber übrigens, jetzt lenken sie über die Brücke – das dürften wohl Ihr Mann und Fräulein Schwester sein.«

»Ja wahrscheinlich, und sie bringen Pastors gleich mit.«

»So? Das kleine Pastorenfräulein hat sich gut entwickelt, seit ich es nicht mehr gesehen habe. Sehr nett. Ein bißchen blaß, englisch Teegesicht, aber man muß auch damit vorlieb nehmen.«

Else rückte in ihrem Stuhl hin und her. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, daß ihr Gast einen Ton gegen sie anschlug, der sich nicht paßte.

»Und die Försterfamilie kommt heute ebenfalls,« brachte sie rasch hervor, während ihre glänzenden Augen sich ungeduldig auf die Tür richteten, durch die die Erwarteten im nächsten Augenblick eintreten mußten. »Ich erhalte heute zum erstenmal Besuch, Herr Graf – seit – seit langer Zeit.«

»Ach das freut mich in Ihrem Interesse wirklich ganz außerordentlich,« meinte der Reiter und schritt langsam ans Fenster, ohne auf den langen Seufzer der Kranken die geringste Rücksicht zu nehmen. »Also der Herr Förster ebenfalls mit Gemahlin,« murmelte er dabei vor sich hin, und bei sich dachte er noch: »Merkwürdig, wie mir das Herz schlägt. – Ich habe doch Angst, diesem Mädchen wieder entgegenzutreten.«

**
*

Die erste Begrüßung war vorüber. Die beiden Damen der Pastorenfamilie waren bereits auf das mächtige, schwarze Ledersofa plaziert hinter dem gewaltigen, runden Tisch und warfen von dort aus erstaunte Blicke auf den Grafen Brachwitz; der Geistliche selbst, ein kleines gebücktes, weißhaariges Männchen, das durchaus nicht zu seiner hageren, übergroßen Ehehälfte zu passen schien, sprach über Elses Stuhl gebeugt der Kranken jene Trostesworte zu, die er bei seinen häufigen Besuchen mit denselben Worten fast mechanisch wiederholte. Aber auch er zwinkerte unter seinen Brillengläsern verdutzt zu dem Reiter hinüber, als könne er sich dessen Anwesenheit nicht erklären, und Wilms stand bei seinem vornehmen Gast in der Fensternische, schüttelte ihm befangen die Hand und verwickelte ihn in allerlei landwirtschaftliche Fragen, ohne sich innerlich jedoch von der ängstlichen Vorstellung lösen zu können, was dieser Besuch wohl bedeute.

So vergingen die ersten Minuten des Beisammenseins. Bis die Kranke endlich fragte: »Wo bleibt denn Hedwig?« Alle hatten das Mädchen mit hereintreten sehen, aber dann mußte sie sich gleich wieder entfernt haben.

»Vielleicht ordnet sie noch in der Küche etwas an,« entschuldigte Wilms. Aber wieder mußte er auf den jungen Brachwitz sehen, der unruhig neben ihm verharrte.

»So? In der Küche?« warf dieser hin. »Dann erscheint wohl bald die Aufwartung. Vermutlich ein tüchtiges Glas Glühwein bei der Nässe draußen und der famose Landschinken, den Sie hier besitzen – na ängstigen Sie sich nicht, Herr Wilms, ich drücke mich sofort, den ungebetenen Gast werden Sie los.«

»Aber Sie werden uns doch die Ehre schenken und erst eine Kleinigkeit zu sich nehmen, Herr Graf,« drängte die Kranke mit schwacher Stimme von ihrem Stuhl aus.

»Sie wollen mich also wirklich mit durchfüttern, verehrte Frau? – Abgemacht – dann bleibe ich. – Na, lieber Pastor, besinnen Sie sich noch, wie Sie mich konfirmiert haben? Seitdem haben wir uns selten gesehen. Fräulein Paula ist inzwischen eine Dame geworden. – Guten Abend, mein liebes Fräulein – alle Wetter, ich wage gar nicht mehr ›Du‹ zu sagen. Oder darf ich es doch noch?«

So sagte der Edelmann jedem etwas Angenehmes, lachte und plauderte und hatte sich überraschend schnell die Neigung der Anwesenden gewonnen.

Endlich erschien auch die Försterfamilie. Der Förster, eine herkulische Gestalt mit langem, fuchsrotem Bart, dröhnender Stimme, großer Gutmütigkeit und voller Kriegserinnerungen. Ein behäbiger Vierziger. Die Försterin, eine schlanke, üppige Erscheinung mit tiefblauen, gefährlichen Augen, einem wunderbar weißen, frischen Teint, und beständiger Neigung zur Fröhlichkeit. Ein schönes Weib, das in naiver Koketterie gefallen wollte.

Man stellte die Stühle um den Tisch. Zwei Mägde deckten frisches Linnen darüber, Wilms schob den Lehnstuhl der Kranken heran und brachte auch einen Sitz für Hedwig herbei.

Wo sie nur bleiben mochte?

»Ist denn das Fräulein noch in der Küche?« fragte er zum Schluß eine der Mägde.

»Nein, Herr, das Fräulein is oben in ihr Zimmer.«

»Wilms, dann hole sie doch bitte herunter,« forderte ihn Else erregt auf und fingerte krampfhaft auf der Tischplatte herum. »Warum hält sie uns so lange auf? Ich versteh’ das gar nicht – der Herr Graf kennt sie doch auch.«

»Gewiß,« unterbrach der junge Brachwitz seine Unterhaltung mit der Försterin, »und ich würde mich aufrichtig freuen, unsre flüchtige Bekanntschaft wieder anzuknüpfen.«

»So geh doch,« drängte die Kranke erregt.

Da ging der Landmann zögernd hinaus und stieg wieder die schmale Treppe hinan, die unter das Dach führte. Neben der Kammer, die er selbst seit der Krankheit seiner Frau bewohnte, lag das Zimmerchen, das man Hedwig eingeräumt hatte. Unsicher tastete er sich in dem dunklen Gang zurecht. Ihre Tür stand offen.

Es war so seltsam still dort drinnen.

Sollte sie auch hier nicht zu finden sein?

Es wurde ihm so beklommen, eine peinigende Furcht bedrückte den großen Mann, das Mädchen könnte sich heimlich entfernt haben.

Er sagte sich zwar gleich, daß er sie nicht vermissen würde, aber es lag hier etwas Verstecktes, Geheimnisvolles in der Luft, das ihm den Atem benahm.

Fürchtete er wirklich so sehr ihre Flucht?

Sein Herz klopfte, zögernd trat er näher.

In dem kleinen, kahlen Raum verbreitete ein Lichtstümpfchen einige Helle. Dunkle Schatten kämpften gegen die schwachen Lichtwellen. Das Fenster stand offen. In dem Luftzug zuckte das kleine Flämmchen auf und ab. Ein Bett war zu sehen, ein eleganter Lederkoffer, ein Waschtisch, ein Schrank, zwei Rohrstühle, sonst nichts. Vor dem Fenster aber ragte die Gestalt der Bewohnerin auf.

Sie mußte sich eben gewaschen, oder Haupt und Brust im Wasser gekühlt haben, denn sie umklammerte noch mit entblößten Armen das Fensterkreuz und lehnte regungslos in den kalten Regen hinaus, den man dumpf und eintönig auf den Blechbeschlag spritzen hörte.

Arm und Nacken weiß und rosig, als wäre ein verwunschenes, wunderschönes Marmorbild lebendig geworden. Deutlich sah der Pächter, daß die feine Haut vor Frost schauderte, und doch gab sie sich unbeweglich der Kälte preis, als wäre ein Übermaß von Glut und Lebenstrotz in ihr.

Wilms wollte zurücktreten, allein er fand sich wie festgewurzelt. O, wie unrein erschien ihm das Bild, unpassend, widerwärtig, und doch konnte er der eigenen Erstarrung kein Ende bereiten, immer mußte er hinblicken, während Haß, Abneigung, Bewunderung, und ein fernes, verabscheutes Verlangen in seinem ehrlichen Gemüt durcheinander irrten.

Ja, ähnlich hatte Else ausgesehen – damals in den Stunden des Glücks – aber doch entfernt nicht so sicher, so stolz, so seltsam in ihrer Schönheit.

Seine Lippen bebten.

Der Frost begann ihn ebenso zu schütteln, wie das schöne Geschöpf dort drinnen.

Da schlug der Wind die Tür zu. Krachend fuhr sie ins Schloß. Das ganze Haus hallte. Und Wilms taumelte auf und raffte sich empor.

»Wie Else über den Knall zusammengefahren sein wird – das arme Weib,« – war sein erster, unwilliger Gedanke, – dann wartete er noch ein paar Minuten, klopfte schließlich laut an die Tür und überschritt auf ein verwundertes »Herein« die Schwelle. Hedwig nestelte noch an ihrer schwarzen Taille und machte eben die letzten Knöpfe zu. – Langsam wandte sie ihm den Rücken und fragte rasch über ihre Schulter fort.

»Warum kommst du hier herauf? Geht es Else etwa wieder schlechter?«

»Nein, Gottlob nicht, ich soll dich hinunterholen.«

»Mich? – Ja, ich wollte mich erst ein wenig säubern nach dem schmutzigen Weg von vorhin. Du siehst ja. – Sind denn unsere Gäste schon alle versammelt?«

»Ja, es sind alle da. Auch der Förster. Er will mir das Heu abkaufen, Gott sei Dank. Du hast also bei der Frau deinen Willen durchgesetzt, ich danke dir dafür, mein Kind. Und – und Herr von Brachwitz befindet sich ebenfalls unten. Du hast ihn wohl schon vorhin bemerkt?«

»Ja, ich sah ihn.«

»Sag’ einmal – Hedwig – gehört denn der Herr zu deinen Freunden?«

»Nein.«

»Also bloß solch eine flüchtige Bekanntschaft?«

»Ja – nein – das heißt, ich kenne ihn näher.«

»Sieh – ich will mich nicht ’rein mischen – es geht mich ja nichts an – aber – er hat dir wohl drüben den Hof gemacht? Nicht?«

»Auch das.«

Das Mädchen wandte sich jetzt langsam, so daß der Pächter voll in ihr eigentümlich blasses Antlitz blicken konnte, und maß ihn forschend mit ihren braunen, spähenden Augen. »Aber weshalb fragst du?« fuhr sie langsam fort, »besucht er euch denn sonst nicht?«

»Nein – nie.«

»Nie?«

Über die Gestalt der Fragenden lief ein Zittern, die dunklen Augen in dem blassen Gesicht brannten in unterdrückter, schmerzlicher Glut.

Schweigend trat sie vor einen schmalen Hängespiegel, zog ihre straff sitzende Taille zurecht und strich über ihr bräunliches, glänzendes Haar.

Wilms, der ebenfalls seinen Blick auf das Glas wenden mußte, sah, wie die vollen blühenden Lippen des jungen Weibes zuckten, wie ihre weißen Zähne sich hineingruben, und sich über das ganze Antlitz wieder jener lächelnde, trotzige, wildbegehrliche Zug verbreitete, den der Pächter in seiner verständnislosen Befangenheit nicht begriff, über den er nachgrübelte, und der ihn anwiderte.

»Hedwig« – – murmelte er unwillkürlich.

»Ja, Schwager,« antwortete sie leise.

Er schritt zur Tür und wandte sich verlegen hin und her.

»Ich glaube,« stieß er heiser hervor, »er kommt deinetwegen.«

Die Sprache versagte dem kräftigen Manne.

Ohne daß er es wußte, packte ihn grenzenlose, tiefe Scham, daß er sich in die Herzensangelegenheiten dieses Mädchen drängen wollte, und doch – eine zehrende Neugier nagte in seiner Brust weiter, wie weit die Beziehungen der beiden wohl gediehen seien, ob überhaupt von einem innigen Gefühl gesprochen werden könnte – oder ob – das Blut stieg ihm dabei in die Stirn – ob sich etwas Unreines, Gemeines hineinmische.

»Nicht wahr,« wiederholte er, »er kommt wohl deinetwegen?«

»Meinetwegen?« sprach sie gedankenverloren nach.

Ein Windstoß fegte plötzlich zum Fenster hinein. Klirrend warf er die Scheiben gegeneinander und blies das Lichtstümpfchen auf dem Tisch aus, so daß völlige Dunkelheit entstand.

Der Pächter hörte, wie Hedwig tief aufatmete. Dann trat sie zu ihm auf die Schwelle und sagte, während sie beide aus dem finsteren Raum hinausschritten, mit ihrer gewöhnlichen Bestimmtheit:

»Lassen wir doch den Grafen. – Er ist eine häßliche Erinnerung für mich, die ich gern abschütteln möchte. – Übrigens« – lachte sie leicht – »brauchst du dir dabei gar nichts Besonderes zu denken, Schwager – eine ganz alltägliche Dummheit. – –«

Sie unterbrach sich und klagte über die dicke Finsternis, die Gang und Treppe einhülle. Mühsam tasteten sie sich zurecht. Beide dicht beieinander. Ihr Kleid streifte seinen Fuß und es war ihm, als wenn eine wohltuende Wärme von ihr ausströme.

Da stieß sie einen leichten Schrei aus.

Auf dem obersten Absatz der Treppe hatte sie fehlgetreten und griff nach dem Arm des Mannes, was er erschrocken duldete. So stiegen sie hinab. Langsam, als ob sie tiefen Gedanken nachhingen.

Erst als das Öllämpchen des Flures ihre Gesichter matt erhellte, kehrte sie sich ihrem Schwager voll zu und meinte mit der alten unbeirrten Ruhe und ihrer klaren Stimme: »Es trifft sich aber doch gut, daß Herr von Brachwitz dich einmal besucht. Nach allem, was du mir gesagt hast, wird es doch notwendig sein, mit ihm über eine Herabsetzung der Pacht ernsthaft Rücksprache zu nehmen.«

Das schlug Wilms wie eine schwere Keule gegen die Stirn. – »Ja, ja,« stotterte er und neigte schwerfällig den Kopf. – Seine Schuldenlast, die ganze Zerfahrenheit seiner Besitzung, die kranke Frau dort drinnen, Mißernte und die hohe Pacht – alles zusammen stürzte plötzlich wieder auf ihn ein und legte sich eisern, klammerfest um sein banges Herz.

Not, Sorge, Krankheit standen wieder auf dem ziegelsteingepflasterten Flur, bereit, den Herabsteigenden zu empfangen. Dort oben in Hedwigs Kammer hatte er gar nicht an diese seine grauen Gäste gedacht.

Leise stöhnend, ließ er das Mädchen an sich vorüberschreiten und folgte ihr dann schweren Trittes.

Als sie das Wohnzimmer öffnete, hatten sich seine müden, schleppenden Gedanken wieder so völlig verschoben, daß er im Rücken Hedwigs mit mattem Erstaunen darüber nachdachte, wie scharf das schwarze Sammetband, das sie um den Hals gelegt hatte, von der weißen Haut seiner Schwägerin abstach.

»Wie sich die beiden wohl begrüßen werden?« grübelte er noch, dann strömte ihnen die Helle des erleuchteten Zimmers entgegen.


VIII.

»Ha, ha, ganz ausgezeichnet – ganz ausgezeichnet« schrie der Förster Eltze, streckte seine Beine von sich und goß seiner Frau mit kühnem Schwung neuen Rheinwein ins Glas: »Hier, Annchen – stoß mit dem Herrn Grafen an – – Ihr Wohlsein, Herr Graf – ganz großartig – wahrhaftig. So was von Dressur von einem Hunde ist noch gar nicht dagewesen. – Nicht wahr, Anning, nicht wahr, Frau Pastorin? – Liebesbriefe unter das Hundehalsband zu binden, und dann von dem Köter in die Mädchenpension tragen zu lassen, ha, ha, ha, zu komische Idee, zu ko – –«

Er verschluckte sich, wurde kirschrot im Gesicht und der winzige Pastor Schirmer, der neben ihm saß, mußte dem Riesen auf den Rücken klopfen:

»Lieber Freund, beruhigen Sie sich doch,« fistelte der Geistliche und schickte einen unruhigen Blick zu Gattin und Tochter hinüber, von denen die letztere sich weit über den Tisch lehnte, um den keck vorgetragenen Geschichtchen des jungen Brachwitz mit heißen Wangen zu lauschen.

Alle Schüchternheit des Landgänschens war verflogen.

Auch die Förstersfrau folgte lächelnd den Anekdoten des jungen Aristokraten.

»Mein Gott« – schoß es dem verwirrten Pastor durch das zitternde Greisenköpfchen. »Die Weiber – die Weiber – gar nicht auszustudieren – Die Förster Eltze und meine Paula, die frömmsten aus meiner Gemeinde, jeden Sonntag in der Kirche, dazu noch eine Erbauungsstunde – und nun dieses Benehmen, sobald ihnen der erste hübsche, junge Mensch über den Weg läuft.«

»Ha, ha, was die Mädchen wohl für Gesichter gemacht haben mögen, als der Köter kam,« grunzte der Förster von neuem und reckte eine Faust in die Höhe.

Der Landedelmann, der neben Elses Krankenstuhl saß und ihr gutmütig von Zeit zu Zeit allerlei kleine Dienste erwies, entzündete jetzt mit Erlaubnis der Hausfrau eine seiner eigenen feinen Zigarren, und warf, sich zurücklehnend, gespannt und erwartend dazwischen:

»Na, lieber Eltze, das wird uns am besten Fräulein Hedwig, – Fräulein Schröder,« verbesserte er sich – »sagen können. Denn sie hat sich ja auch in dieser Pension befunden.«

»Was, das ist Ihre Pension, Fräulein Hedwig?« rief Paula Schirmer lebhaft dazwischen.

Und der Förster schrie schallend: »Donnerwetter, unser schönes Fräulein Hedwig war auch eine von den Kötermamsells? – Na, wie war’s denn?«

»Kennen sich denn die Herrschaften schon von früher?« forschten jetzt auch gespannt die beiden verheirateten Frauen wie aus einem Munde.

Alles sah auf Hedwig.

Sie hatte neben Wilms Platz genommen und, mit der Bewirtung beschäftigt, sich bis dahin wenig an der Unterhaltung beteiligt.

»Was sie jetzt wohl antworten wird?« dachte der Pächter in seinem dumpfen Hinbrüten. Von seinen Sorgen zu Boden gedrückt, und in seiner Brust ein bohrendes Angstgefühl, hatte er bis jetzt auf die Tischplatte gestarrt, und nur manchmal sah er auf sein blasses, angestrengtes Weib herüber, scheu und mißtrauisch, als ob er auf einem Verbrechen ertappt wäre.

Was hatte sich nur in seinem Gewissen geändert?

O, es war nur die Angst, die entsetzliche Furcht um seine Existenz, überredete sich der unglückliche Mann selbst.

»Weiter nichts – gewiß – gar nichts weiter.«

»Kennen sich denn die Herrschaften schon von früher?« tönte es in seine Gedanken hinein. – Was sie jetzt wohl antworten würde?

Und ohne Erregung, klangvoll und ruhig gab Hedwig zurück, obwohl sie den Grafen zum erstenmal fest ansah:

»O ja – der Herr Leutnant besuchte ja oft die Bälle unserer Pension. Ich selbst habe sogar einmal einen seiner Briefe dem großen Hunde abgebunden.«

Leicht, kalt, liebenswürdig hatte sie das alles hingeworfen, jetzt erhob sie sich mit ihrer tadellosen Haltung, um dem Pastor einen Teller mit Kuchen und Früchten zu präsentieren. Sie war eine vollkommene Dame.

»Bitte, Herr Pastor – nicht ein Pfefferkuchen gefällig? – Nein? – Nun dann aber einen Apfel, – ich werde ihn gleich schälen – Sie erlauben.«

In der Gesellschaft war eine peinliche Stille entstanden. Selbst die Wangen der Kranken, die solange teilnahmslos in ihrem Stuhle gelegen hatte, färbten sich hektisch rot; mit heftigem, unvorsichtigem Tonfall flüsterte sie kurzatmig und gereizt:

»Einen Brief vom Herrn Grafen an dich? – Hedwig, das ist doch nur Scherz, nicht wahr? – Sag’ das doch den Herrschaften.«

Ja, sie waren alle sehr begierig, dies zu wissen. Die Försterin, deren tiefblaue Nixenaugen vor Neugier strahlten und leuchteten; die Pastorin, die wie ein Pfahl dasaß und alles in hohem Grade unmoralisch fand; und die dumme, kleine, dralle Paula, die es gar nicht erwarten konnte, in solche Heimlichkeiten einzudringen.

Ach, sie fand Hedwig »süß« und »wundervoll«.

Aber der junge Brachwitz ließ die Aufgerufene zu keiner Antwort kommen:

»Ein Scherz?« wiederholte er dringend, indem er Hedwig aufmerksam betrachtete. »Ja, leider wurde es von den jungen Damen nur als Scherz aufgefaßt, obgleich es mir verteufelt bittrer Ernst war. Warum übrigens nicht? – Ich war jung und hatte mich in ein paar von den allerliebsten Pensionärinnen wirklich verliebt. Wissen Sie noch, Fräulein Hedwig?«

Hedwig wurde plötzlich sehr blaß, der Pächter bemerkte, wie ihre Hand sich unwillkürlich öffnete und zuckend wieder schloß, aber äußerlich erwiderte sie gelassen, während sie den Hahn der Teemaschine drehte: »Gewiß – Sie machten es uns ja oft recht deutlich, Herr Graf« –

»Gleich in ein paar?« echote die Pastorin, die Worte des Grafen wiederholend, leise und entrüstet. Die Unterhaltung des jungen Herrn begann allen sichtlich zu mißfallen.

Und wieder trat eine lange, drückende Pause ein, die keiner zu unterbrechen wagte. Es wurde sehr ungemütlich. Else fing vor Verlegenheit an zu zittern. Wenn der Graf nur gegangen wäre. Aber er blieb und begann jede Bewegung ihrer Schwester zu verfolgen.

Was das nur bedeutete?

Die Kranke regte sich so auf, daß ihre Zähne leise zusammenschlugen. Sie merkte, daß sie fieberte, aber mit letzter Kraft hielt sie sich aufrecht.

Auch die Blicke ihres Mannes hingen so sonderbar an Hedwig. Erst jetzt fiel ihr das auf.

Ob die beiden Männer von dem Mädchen irgend etwas wußten?

Aber was?

Und die beiden verheirateten Frauen flüsterten miteinander so leise.

Worüber?

Vor den Augen der Gepeinigten flimmerte es, ein langer stechender Schmerz durchschnitt sie.

»Gott im Himmel – Hedwig,« ächzte sie halblaut, um nur irgend etwas zu sagen, »ich möchte – du solltest – etwas singen – so lange habe ich nichts gehört.« Sie schauerte zusammen.

Alle riefen Beifall. Der Förster, der dem Rheinwein zu stark zugesprochen hatte, schwankte nach dem alten Klavier, das in der Ecke stand, und trug grunzend zwei Lichter herbei. Paula Schirmer sorgte für einen Stuhl, und Hedwig erhob sich willig, um aus dem guten Zimmer die Noten zu holen.

In dem Nebenraum herrschte Dunkelheit.

Sofort ergriff der junge Brachwitz, der das Mädchen nicht mehr aus den Augen gelassen, einen der Leuchter und folgte Hedwig galant mit dem Lichte.

Und wie von selbst fiel die Tür hinter beiden ins Schloß.

Und jetzt sah der Edelmann, wie das schöne Mädchen über dem Notenschränkchen gebückt stand und suchte.

Voll und reif boten sich die edlen Linien dieses jugendlichen Frauenleibes dar, in ihren Wangen strömte das Blut, über den braunen Haaren schienen im Schimmer des Lichts knisternde Goldfunken zu tanzen, und Brachwitz sauste und summte das Blut ungestüm in den Adern, ebenso unbezähmbar wie damals, als er das halbe Verbrechen, die grenzenlose Roheit gegen sie verübt hatte.

Wieder konnte er dem weichen, trotzigen Zauber, den dieses Weib ausströmte, jener schweigenden, üppigen Verlockung nicht widerstehen.

Und die aufkochende, jede Vernunft überschäumende Tollheit machte ihn völlig besinnungslos.

»Hedwig,« flüsterte er, in seiner Spannung erzitternd, und griff keck nach ihrer Schulter: »Antworten Sie mir doch endlich. – Können Sie denn die Dummheit von damals nicht vergessen?«

Wie langsam und schwerfällig sie sich aufrichtete! Und jetzt bemerkte Brachwitz mit Schrecken, welch eine Veränderung in ihrem Antlitz vorging. Starre Marmorblässe jagte das eben noch so prangende Rot, alles an ihr schien so gelähmt, so unbeweglich, nur die großen Augen richteten sich haßerfüllt, und doch mit flammendem, unausgesprochen begehrlichem Feuer auf den Bedränger, so daß der Reiter verwirrt und schwankend die Hand von ihrer Schulter gleiten ließ.

War das Zorn, war es Sehnsucht, was ihm da entgegensprühte?

»Liebe Hedwig, wenn – –«

»Still – ich will das nicht –« befahl sie flüsternd und heiser.

»Aber Sie wissen ja nicht – –«

Jedoch unvermittelt unterbrach er sich und trat zurück.

Was war das?

Mit einer einzigen Bewegung glitt sie auf ihn zu, ganz dicht stand sie vor ihm, ihr Mund verzog sich, die Lippen bebten lechzend, als ob sie ihn küssen oder ihm die Zähne ins Fleisch schlagen wolle. Jede Fiber zuckte und zitterte in dem schönen Gesicht, und ohne Überlegung, zusammenhanglos, sich die Hände vor die Augen schlagend, stieß sie hervor: »Nein, Sie wissen nicht – Sie – Sie wissen nicht, was Sie aus mir gemacht haben – Sie – –«

»Was denn?« flüsterte Brachwitz verlegen.

Als sie seine Stimme vernahm, fuhr das Mädchen auf, wie wenn sie plötzlich erst zum Bewußtsein ihrer Lage käme.

Wortlos, keiner Bewegung mächtig, starrte sie ihn an.

Was hatte sie nur vorgebracht? – Hatte sie ihm etwa das dunkle, häßliche Geheimnis verraten, das ihre Seele, ihr Denken seit jenem einen Tag befleckte und verdarb? Das ängstlich behütete, das aussätzige Geheimnis, das ihr heimlich Schrecken und Entsetzen einflößte?

Hedwig fühlte, daß sie dieses wortlose Gegenüberstehen nicht lange würde ertragen können, daß irgend etwas Schreckliches, Ungeahntes eintreten müßte.

Er begann wieder zu lächeln.

Jenes gutmütige, frech zutrauliche Lächeln, das sie schon damals wehrlos gemacht.

Ihre Brust flog. O! wenn doch jetzt jemand in das einsame Zimmer treten, oder wenn sie Mut genug besitzen möchte, den Bedränger zur Seite zu werfen. Aber nichts regte sich.

Und er hatte die Verwegenheit, seine Augen mit dem heißen Ausdruck des künftigen, sicheren Besitzes in die ihren zu tauchen, ein Verführer, der seiner erprobten Macht sicher ist, und jetzt setzte er langsam das Licht aus der Hand. Hedwig staunte ihn an.

»Was nun wohl folgen wird?« dachte sie dumpf. Aber da – Gott sei Dank, sie hatte es ja erwartet, da ging endlich, endlich die Tür, Wilms große Gestalt stand plötzlich neben den beiden, und mit warmer Dankbarkeit hörte das Mädchen, wie ihr Schwager nach einer unangenehmen Pause unsicher und gepreßt zu dem Grafen sagte, er wolle mit ihm ein paar Worte ungestört über die Pachtverhältnisse sprechen. Der junge Herr solle es nicht übel nehmen. – Gott sei Dank, diese entsetzliche Minute war vorüber. Von da an geschah alles in wilder Hast. Jeder von den drei Menschen in der frostigen Stube schien das Geheimnis der anderen zu ahnen. Man sprach und rechtete, ohne innerlich bei der Sache zu sein. Der Pächter bat um Herabsetzung seiner Lasten, der Graf zuckte widerwillig die Achseln und meinte, daß das alles Sache seines Vaters wäre. Schließlich kam man überein, daß der Pächter in den nächsten Tagen den alten Gutsherrn persönlich aufsuchen solle. Vielleicht könnte auch Hedwig die Vermittlung übernehmen, da der alte Brachwitz gegen Wilms zu schlecht gestimmt sei.

Hedwig?

Beide Männer schwiegen wie auf Verabredung und blickten sonderbar auf sie hin.

Wollte man sie herausfordern?

»Ja, ja, ich komme,« nickte sie halb geistesabwesend und doch ihre alte Kraft zusammenraffend.

Und dann empfand Hedwig alles Spätere gleichsam wie durch einen dicken Nebel hindurch.

Wie man wieder in das große Zimmer zurückgekehrt war. Wie sie dann am Klavier gestanden, und, von Paula Schirmer begleitet, das Heinesche Lied gesungen:

»Täglich ging die wunderschöne
Sultanstochter auf und nieder
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Wasser plätschern.«

Wie es dann so still um sie her geworden und plötzlich ein wildes Durcheinander entstanden war. Else hatte schon längst zitternd und aller Kräfte beraubt dagesessen, beim Schluß des Liedes stieß sie vor Anstrengung bewußtlos einen klagenden Ruf aus und sank ohnmächtig zusammen.

Hedwig erinnerte sich noch, wie blaß und leichenhaft schön ihr das Antlitz der Schwester erschienen war. Scheu und hastig waren dann die Gäste enteilt, Wilms und das Mädchen hatten die Ohnmächtige entkleidet und, als sie wieder den ersten Seufzer von sich gab, zu Bett gebracht.

Auf einem Sofa, neben dem Krankenlager, schlief Hedwig diese Nacht Hand in Hand mit der Schwester, die ihre Finger wie ein trostspendendes Amulett umspannt hielt.


IX.

Am nächsten Morgen ganz in der Frühe kam der Arzt. Es war der Kreisphysikus aus Grimmen, der die Leidende allwöchentlich besuchte und als Freund des alten Rendanten die beiden Schwestern seit ihrer Kindheit kannte.

Ein kleiner, fetter, fröhlicher Herr, behaftet mit einem unförmlichen Bauch, einem verwitterten roten Weintrinkergesicht und mit einer burschikosen Neigung zu allen hübschen Mädchen und Frauen, trotzdem er in seiner eigenen Familie deren bereits eine stattliche Anzahl besaß.

Schon bei seinem Eintritt begrüßte der kleine Dr. Rumpf die Anwesenden mit einem lauten: »Morgen, Kindtings; na, wie geht’s?« stiefelte mitten in das große Zimmer hinein und blieb dort ein wenig verwundert stehen.

In dem Bett lag die Kranke so unbeweglich und weiß, als wenn sie bereits verschieden wäre. Und der Mann, sowie das junge Mädchen am Kopf- und Fußende schienen gleichfalls schon viele Stunden an dem Lager zu wachen.

Das stimmte den Arzt doch bedenklich.

Als aber Else langsam und begrüßend die abgezehrte Hand gegen ihn ausstreckte, ermannte sich Dr. Rumpf, schritt schnell an das Bett und küßte seiner Patientin zuvörderst zärtlich die Hand.

Sein stachliger, weißer Knebelbart kratzte dabei die Ärmste, daß sie das Gesicht vor Schmerz verzog.

»Schlimmer, mein Kindting?« fragte er teilnehmend, ohne sich um die andern zu kümmern, »schlimmer?« Damit entblößte er ungeniert die Brust der Kranken, horchte aufmerksam herum und schüttelte endlich den Kopf.

Wenn der Physikus so sehr zärtlich wurde, so galt es immer für ein schlechtes Zeichen.

»Herr Doktor,« hauchte die Liegende kaum hörbar, »steht es sehr trostlos mit mir? – Sagen Sie es – sagen Sie es, bitte,« wiederholte sie dringend, »ich bin ja auf alles gefaßt.«

»So? gefaßt? ja, ja, mein Liebchen,« murmelte der Doktor achtlos und bewegte im Selbstgespräch die Lippen. »Raus,« schloß er plötzlich sein Nachdenken und machte den beiden anderen eine energische Bewegung mit dem Kopf, daß sie sich entfernen sollten.

Wilms und Hedwig begaben sich in das niedrige frostige Wohnzimmer mit den grünen Ripsmöbeln.

Matt und in sich versunken lehnte das Mädchen hier auf dem Sofa, über das noch immer der graue Leinwandbezug gezogen war, während Wilms schweigend durch das einzige Fenster auf den Hühnerhof hinausblickte.

Seit dem gestrigen Abend hatten die beiden noch kein Wort miteinander gewechselt.

Ein seltsames Schweigen herrschte wieder zwischen ihnen.

Eine lange, bange Viertelstunde verstrich.

Dann trat der Physikus endlich breitbeinig herein und schloß die Tür hinter sich zu.

»Nun, Herr Doktor?« fragte Wilms dumpf, der sich im selben Augenblick zurückgewendet hatte. Aus den grob gemeißelten Zügen des Mannes sprach arbeitende, zurückgedämmte Angst, die ihm die Augen stier aus den Höhlen heraustrieb und sich auch Hedwig mitteilte. Aber sonderbar! Als sie ihren Blick flüchtig über den zitternden Riesen fortgleiten ließ, da drang zugleich ein spöttisches Mitleid gegen diesen besorgten Gatten in ihr Denken.

Mitten in ihrer Spannung lächelte sie spöttisch.

»Können Sie mir denn nicht ein bißchen Trost schenken?« stammelte der Pächter von neuem. »Ich kann’s ja gar nicht mehr mit ansehen.«

»Trost? – hm ja.« – Der Physikus ließ seinen dicken Leib schwerfällig in einen Polsterstuhl fallen und streichelte Hedwig, die sich erhoben hatte, freundlich die Hand.

»Na, Kindchen, immer hübsch artig hier draußen?«

»Ich will Ihnen was sagen, lieber Wilms,« fuhr er dann ganz ernsthaft fort, »das Unterleibsleiden Ihrer Frau hat sich verschlimmert.«

»Großer Gott – das – das hätt’ ich nicht erwartet.«

Der Pächter murmelte es in stumpfer Verzweiflung und lehnte sich, nach Atem ringend, an die Wand. Und nach einer Weile brachte er hervor: »Das ertragen wir nicht, sie nicht, und ich nicht.«

»Armer Kerl,« murmelte der Physikus und schüttelte bedenklich den Kopf, »leider werden sich jetzt noch Krampfanfälle einstellen – ich hab’ mir’s längst gedacht, längst. Und dann – –«

»Und dann?« unterbrach ihn Hedwig heftig und scharf und trat aufgerichtet vor den Arzt hin. »Nun muß doch etwas Energisches geschehen, lieber Herr Doktor. Man kann es doch nicht einfach so fortgehen lassen. Wollen Sie es nicht mit einer Operation versuchen?«

In ihrer Heftigkeit stampfte sie leicht mit dem Fuß und preßte die Hände gegeneinander.

»Eine Operation?« knurrte der Physikus in sich hinein. Er schüttelte den Kopf, erhob sich ächzend und begann eine Wanderung durch die Stube. So oft er dabei an dem Landmann vorüberkam, drehte er ein bißchen an dessen Rockknöpfen; streifte er dagegen an Hedwig, so nickte er ihr in seinem Selbstgespräch gedankenlos zu.

Endlich blieb er stehen und, indem er sich befriedigt den weißen Stoppelbart rieb, als wenn dieser hauptsächlich an der Entwickelung vorzüglicher Gedanken beteiligt wäre, gab er laut und bestimmt sein Urteil ab: »Nein, keine Operation; aber sie muß in ein Solbad – ja, ja – ganz recht – und zwar sofort, denn es ist die allerhöchste Zeit.«

»In ein Bad?« wiederholte Wilms verwirrt, während er sich langsam über die Stirn strich.

Und ihm fiel wieder die unselige Schuld ein, die uneingelöste, und wie ihm beinahe alles fehlte, um nur die Haushaltung zu bestreiten. Die Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, nur mit schwerer Zunge konnte er einwerfen: »Aber – aber die Mittel dazu werden wohl sehr große sein?«

»Ja, billig ist’s nicht,« meinte Dr. Rumpf und sah den Pächter teilnehmend an: »Also morgen schreibe ich Ihnen, wohin Ihre Frau zu gehen hat.«

Damit verabschiedete er sich, ergriff seinen Stock, schüttelte Wilms die Hand und wollte eben dem Mädchen väterlich galant die Fingerspitzen küssen, als er ordentlich erschreckt von ihr zurückfuhr und mit lautem Ruf aus seiner Brusttasche einen mehrfach versiegelten Brief hervorbrachte. »Das hätte ich beinahe vergessen,« strafte er sich selbst, »Kindchen, hier – dein Vater hat es mir mitgegeben. – Es ist Geld drinnen, und er sagte mir, daß du es bereits erwartest. Ei, das wäre ja eine schöne Geschichte geworden. Was? Na, adieu, Kindting.« Damit schritt Dr. Rumpf breitbeinig und ehrwürdig zur Türe hinaus und fuhr geradeswegs zur Försterin, deren zarte Haut noch am Abend allerlei Kratzabzeichen aufwies, die des Physici Stoppelbart und seine Heilmethode jedesmal hinterließen. – – –

In der ungemütlichen »guten Stube« des Pachthauses blieben die zwei Menschen allein.

Beide sahen sich an, der Landmann scheu und mit Herzklopfen, das Mädchen fest und beinahe auffordernd, als erwarte sie, der Schwager möchte sie nun fragen, warum sie sich das Geld habe nachsenden lassen.

Bezeichnend drückte sie den Brief gegen ihre Brust und ließ ihre braunen Augen ermunternd an den seinen hängen, jedoch Wilms schwieg und biß die Lippen fest zusammen.

Eine Demütigung sollte nun folgen – »nur kein Geld von ihr – nur das nicht«, fuhr es ihm durch den Sinn, und er raffte sich auf und wollte hinausgehen.

Da tönte aus dem Krankenzimmer eine schwache, röchelnde Stimme dazwischen.

»Wilms – Hedwig – kommt zu mir.«

Beide erschraken.

Es klang so fern, so geisterhaft.

Nun mußte es geschehen.

Ehe es sich Wilms versah, stand Hedwig dicht vor dem Landmann, und bewußt und als gäbe es keinen Widerspruch, drückte sie ihm mit einem festen Blick den Brief in die Hand.

Er schob ihn zurück, als ob das Papier zwischen seinen Fingern beißendes Feuer würde, aber heftig, zornig stieß das Mädchen das Dargebotene noch einmal von sich.

»Kommt doch zu mir,« klagte es abermals von drinnen, »weshalb bleibt ihr so lange?«

»Hedwig – was soll ich damit?« stammelte Wilms, auf den Brief weisend.

»Schnell! – Es sind 5000 Mark – ein Drittel meines Erbteils – Wilms, damit mußt du dir helfen und dann Elses Reise bezahlen, hörst du?«

»Ich kann nicht – ich darf ja nicht, Hedwig.«

»Warum nicht?«

»Weil – weil – –« er fand keine Antwort und hielt nur, wie von Ekel erfaßt, das Geld weit von sich.

»Willst du gerade mir nicht verpflichtet sein?«

»Ja,« stöhnte er.

»Und aus welchem Grunde?«

»Weil – –«

Dem Bauern flimmerte es vor den Augen, die Kehle war ihm wie zugeschnürt. O, er fühlte deutlich, daß er das Geld nicht nehmen dürfe, weil dieses Mädchen, das so blühend, so kräftig vor ihm stand, weil dieses schöne fremde Weib sich in sein Denken geschoben hatte, sündhaft und abscheuerregend und dennoch etwas Unerkanntes in ihm erweckend, das sich qualvoll und erfrischend zugleich in ihm emporhob.

»Und wenn ich dich so recht darum bitte?« drängte Hedwig einfach und legte ihm vertrauensvoll die Hand auf die Schulter.

Beide blickten sich eine Sekunde lang an.

Da war es wieder. Da brach es wieder aus ihm hervor. Wilms zitterte am ganzen Körper, tausend widersprechende Stimmen schrien in ihm durcheinander.

»Schlag sie nieder,« reizten die einen.

»Hast du nicht lange genug ein Weib entbehrt?« flüsterten die andern, »umarm’ sie, küss’ sie.«

»Großer Gott, was machst du aus mir, Hedwig?« stieß er tonlos hervor. »Ich darf ja nicht!«

»Und Elsen willst du nicht helfen?« bat sie von neuem. Noch niemals hatte sie so sanft zu ihm gesprochen.

Aus dem Krankenzimmer drang ein matter, ersterbender Laut.

Da preßte Wilms plötzlich mit seiner brutalen Riesenkraft ihre beiden Hände in die seinen, die noch den Brief umschlossen, und näherte sein Haupt dem ihren, als ob er dem Mädchen etwas zuraunen wollte. Aber kein Wort ging über seine Lippen, er sah sie nur an, und erst nach geraumer Zeit drang es stückweise hervor: »Ich nehm’ es ja – wenn du es willst – denn du bist gut – ja du bist gut.«

Es war wie ein geheimes Einverständnis über beide gekommen. Und jetzt lächelte sie ihn auch frisch und freimütig an, als sie ihn bat, nach seiner Wirtschaft zu sehen, denn sie selbst würde Else alles, was über die bevorstehende Reise beschlossen sei, schonend und ruhig mitteilen.

Er nickte und wandte sich langsam ab. Aber noch an der Tür streckte er ihr in überwallendem Gefühl zum zweitenmal die Hand entgegen.

Hedwig stand noch immer und lächelte.

»Geh nur.«

»Ja, ja,« murmelte Wilms wie im Traum, und mit einem langen Blick: »Du bist gut.«


X.

Am Nachmittag waren die beiden Schwestern allein. Wilms war in die Stadt gefahren, um Herrn Rosenblüt das vorgeschossene Geld zurückzuzahlen.

Es war gerade der achte Tag.

Und so waren die beiden Frauen auf sich selbst angewiesen. Bewegungslos lag die Kranke in ihrem Bett, vor sich die Bibel, auf deren Deckel sie leise hin- und herkratzte, und starrte apathisch auf den Hof hinaus, der sich bereits in Dämmerung hüllte.

Hedwig hatte bis dahin munter und emsig an einer eleganten Seidenstickerei gearbeitet, jetzt aber ließ sie sich ebenfalls am Fenster nieder, und den Kopf auf die Hand gestützt, träumte sie nun, leise eine Melodie summend, in den sinkenden Tag hinaus.

Dunkelrot ging die Sonne hinter der Scheune zur Rüste. Einen Augenblick lang war das ganze Zimmer in magischen Glanz getaucht, selbst das Antlitz der Kranken strahlte in wunderbarer Pracht.

»Wie schön du bist, Hedwig,« murmelte die Liegende, als ihr Blick die Schwester traf, auf deren goldbraunen Haaren die Lichter purpurn, wie in Verklärung spielten. Und gleich darauf wimmerte sie: »Gott – so war ich auch einmal, und nun elend, gelähmt, immer auf fremde Leute angewiesen.«

»Jesus Christus,« schrie sie plötzlich in ekstatischer Glut und hob die abgemagerten Hände in die leuchtende Höhe, daß sie wie mit Blut befleckt erschienen. »Nimm mich doch zu dir, mach doch ein Ende mit mir elendem Krüppel – ich ertrag’s ja nicht länger, wenn ich andere sehe, so schön, so jung, und ich – – ach, in dem Bade wird’s ja auch nicht besser werden.«

Hedwig rührte sich nicht.

Die Kranke starrte ängstlich nach ihr hin und schien sie etwas fragen zu wollen, aber nur ihre Brust hob sich etwas flüchtiger als sonst.

Da schlich der alte Krischan, der zahnlose, taube Greis, ins Zimmer, legte mit seiner zitternden Hand ein Zeitungsblatt auf den Tisch, und entfernte sich wortlos, wie er erschienen war.

Seit Hedwig auf dem Pachthof weilte, wurde ihr aus der Stadt eine Zeitung nachgesandt; und eilfertig erhob sich das Mädchen deshalb, um die Lampe zu entzünden und einen Blick in das Blatt werfen zu können.

»Hedwig,« rief die Kranke mit zitternder Stimme dazwischen, als das Mädchen bereits ruhig ein paar Minuten im Schein der Lampe die Tagesereignisse verfolgt hatte. Dabei war der Leserin allerdings entgangen, wie ihre Schwester keinen Blick von ihr verwandt hatte, obgleich sie sich erregt hin und her warf.

»Willst du jetzt schon deine Medizin nehmen?« fragte die Gerufene willig, indem sie die Zeitung hinlegte.

»Nein, mein Kind, noch nicht – ich möchte, – setze dich doch her zu mir ans Bett, – – Wenn ich nun doch in das Bad soll, dann werden wir ja nicht mehr lange so sitzen.«

Schweigend folgte Hedwig dem Wunsch der Schwester und setzte sich auf einen Korblehnstuhl, der zu Häupten des Bettes stand.

Die Kranke kauerte sich mit ihrem Kopf ganz in die Nähe der Schwester, ergriff schließlich Hedwigs Hand und legte sie sich auf die Brust.

Deutlich fühlte das Mädchen, wie keuchend und rasch der Atem ging.

Eine Zeitlang verharrte sie so, als jedoch nach einer Weile die Jüngere von neuem nach der Medizinflasche griff, schüttelte Else nervös den Kopf und fragte überstürzt, als ob ihr dies schon lange auf der Seele gelegen hätte:

»Hedwig, ich wollte dich einmal fragen, gefällt es dir denn bei uns?«

Es lag etwas so Ängstliches im Ton der armen Frau, daß Hedwig unruhig wurde.

»Gewiß,« gab sie rasch zurück, »überdies kam ich doch auch nur, um dich zu pflegen –«

Die Kranke richtete sich mühsam auf: »Und was denkst du – von Wilms?« fuhr sie hastig fort, ohne auf das eben Gehörte einzugehen.

Hedwig erschrak. Sie wußte selbst nicht warum. Unwillkürlich mußte sie sich gerade jetzt daran erinnern, wie eisern fest Wilms heute vormittag ihre Hände umklammert hatte. Dem starken Mädchen wurde plötzlich das Alleinsein mit der aufgeregten Kranken drückend und unheimlich.

»Kannst du ihn leiden?« forschte die letztere dringender, und umschlang in ihrer sitzenden Stellung den Hals der Schwester.

»O ja« – murmelte diese verwirrt – »dein Mann macht einen braven, rechtschaffenen Eindruck. Und vor allen Dingen scheint er um dich so aufrichtig besorgt.«

»Glaubst du?« seufzte die Kranke erleichtert auf. – Dann drückte sie sich erregter an die Schwester, so daß ihre Wange an der Hedwigs ruhte.

Schaudernd empfand die Jüngere die Berührung der feuchten fiebergeschüttelten Haut, ja ein leiser Widerwille beschlich sie, als sie von der Kranken jetzt heiß und zärtlich auf die Wange geküßt wurde.

»Ja, Gottlob,« raunte die Ärmste dabei dicht vor dem Ohr der Schwester. »Er liebt mich noch immer. – Aber – aber – o Gott, Hedwig, ich will dir etwas anvertrauen. Sieh, wenn ich dich sehe, so schön und gesund, gerade wie ich jetzt auch sein könnte, wenn ich mir unsere fröhliche Jugendzeit vorstelle, dann ist es mir manchmal, als ob ich Wilms – o Gott – verzeih’ mir die Sünde, rechne es mir nicht an, aus mir spricht ja nur das Elend« – wimmerte sie dazwischen – »Hedwig, dann ist es mir manchmal, als ob ich meinen Mann haßte, – hörst du? – der mich zu alledem gemacht hat. Bitter und giftig, wie ich noch nie einen Menschen gehaßt habe. Und dabei – ach, du kannst es ja nicht verstehen – dabei sehne ich mich ja so nach ihm, dabei muß ich immer an die ersten Monate unserer Ehe denken, wo ich so glücklich bei ihm war und wir uns herzten,« sie zuckte zusammen und riß die glänzenden Augen weit auf.

»Nein – nein – nein – ach, du mein Gott, was sag’ ich nur alles – das ist ja alles Todsünde – Hedwig, glaube kein Wort davon, ich fiebere – höre nicht darauf.«

Und unvermittelt hob sie laut an zu beten; wirr durcheinander, mit den Worten des Psalms:

»Herr Gott, mein Heiland, wie schreie ich Tag und Nacht vor dir.
Du hast mich in die Grube hinuntergeleget in die Finsternis.
Wirst du unter den Toten nicht endlich ein Wunder tun? – Erbarm’ dich meiner – Sela – Sela.«

Nach diesem Ausbruch fiel sie, wie ein lebloser Stein, schwer und dumpf in ihre Kissen zurück, und blieb mit langsam verlöschenden Augen liegen.

Kalt durchfröstelt, und doch voller Widerwillen gegen diese ekstatische Art flößte Hedwig der Erschöpften, welche die Zähne krampfartig zusammenbiß, einige Tropfen der beruhigenden Medizin ein. Dann wischte sie ihr den Schweiß von der Stirn, was die Leidende alles mit denselben erstarrten, ausdruckslosen Zügen geschehen ließ.

Fast eine Stunde verrann so.

Kein Laut regte sich mehr in dem großen Zimmer. Traulich dämmernd, wie immer, verbreitete die große Stehlampe ihr Licht, und Hedwig saß an dem Bett und sah scheu auf die Frau hin, die ihren Mann als den Zerstörer ihrer Gesundheit haßte und sich zugleich nach ihm sehnte in einer wilden, unreinen Leidenschaft.

»Unrein?«

Mit schwachem Lächeln zuckte die Pflegerin die Achseln und lenkte ihre Gedanken wieder auf sich selbst und jene eine Begebenheit zurück, wo zuerst ein Mann ihren Lebensweg gekreuzt hatte. Nur trat ihr dabei, so sehr sie sich auch Mühe gab, nicht der freche Brachwitz vor Augen – nein, seltsam – beinahe lächerlich – immer fort, und je länger desto deutlicher, drang der starke Wilms auf sie ein, faßte sie an beiden Armen und beugte sich über sie, immer gewaltsamer – mit seinem ehrlichen Gesicht, das doch so roh und zornig blicken konnte. O, es war ein so schmerzhaftes, unselig-frohes Gefühl. – – Und sie sagte sich in ihrem Hinträumen, daß alles nur der Nachklang von Elses Erzählung wäre, und sie stellte sich vor, wie warm und weich ihre Schwester wohl an Wilms Halse gehangen hätte, und dennoch – und dennoch – die Ahnung wurde immer deutlicher, bis sie sich schaudernd aufraffte und sich schüttelte.

Verwirrt strich sie ihr braunes Haar zurecht.

Aus der großen Kastenuhr schlug es achtmal.

»So spät schon? – Wo Wilms nur bleiben mochte?« Und wieder erschrak sie darüber, daß sie ihn erwarte.

Da – sie fuhr auf.

Sprach ihr zur Seite nicht etwas?

»Ach, mir ist viel besser,« flüsterte die Kranke leise sich regend und legte ihre feuchte Hand wieder auf die der Schwester: »Du bist auch so still und sanft, mein süßes Heting.«

Wohl eine Stunde hatte die Ärmste vor Ermattung in tiefem Schlummer gelegen, jetzt erhob sie sich müde und zerschlagen und blickte sich dumpf im Zimmer um.

»Ist Wilms noch nicht zurück?«

»Nein, noch nicht.«

»Wo fuhr er denn hin?«

»Nach Grimmen.«

»So?« murmelte die Kranke in sich zusammensinkend – »Erzählte er dir das?« Und nach einiger Zeit setzte sie gleichgültig hinzu: »Er hat wohl viel Vertrauen zu dir?«

»Ja, ich denke.«

Die Kranke nahm von Hedwigs Hand ihre Medizin, das Mädchen schlug ihr die Kissen zurecht, sodaß sich die Leidende besänftigt und ruhiger als bisher ausstrecken konnte.

Dann lag sie und blickte ihrer schönen Schwester mehrere Minuten lang unausgesetzt und grübelnd ins Gesicht. Hedwig schoß das Blut in die Wangen.

Sie wußte selbst nicht warum.

»Wünschst du etwas?« forschte sie rasch.

»Nein, nein, nichts. Komm, mein Liebling, ich will dich etwas fragen – Ich bin doch deine Schwester, und du bist nun erwachsen – Sieh, da möcht’ ich gern wissen, mein Heting, – du darfst es mir aber nicht übel nehmen – ob du – was du dort drüben so in der Pension erlebt hast?«

Es klang ein wenig ängstlich, aber doch mehr zudringlich und neugierig.

Statt einer Antwort lehnte sich Hedwig tief in ihren Lehnstuhl zurück und schloß die Augen. – Es war ihr, als senke sich die Decke des niedrigen Zimmers immer tiefer auf sie herab, als fehle es ihr an Luft, als wäre alles zu eng und öde auf diesem weltverlassenen Pachthofe. – Was wollte nur die Schwester mit dieser albernen Frage? – Wieviel Spießbürgerlichkeit lag darin. Was ging sie das alles an?

»Ah, jetzt verstehe ich dich,« sagte sie endlich mit ihrer klaren Stimme. »Du denkst an das, was Graf Brachwitz gestern erzählte.«

Sie zog dabei die Arme hinter das Haupt und schaukelte mit dem Stuhl leise hin und her.

»Ja, ja,« pflichtete Else bei, »das geht mir gar nicht aus dem Kopf. Und daß gerade die beiden Frauen dabei waren. Es klang alles so dunkel, Hedwig, sag’ mir doch, mein Liebling, was hattest du mit dem Grafen?«

»Was ich mit ihm hatte?«

»Ja – du mußt mich recht verstehen – – ach, es regt mich so auf und jagt mir soviel Angst ein – – du bist ja auch noch so unerfahren – – diese schreckliche Unruhe hat mich seit gestern vollständig niedergeworfen. – Wir haben doch beide keine Mutter mehr, Hedwig, und da bin ich –«

»Was ich mit ihm hatte?«

Über das Antlitz der Jüngeren glitt ein kaltes, merkwürdiges Lächeln, das wohl dem häßlichen Ausdruck galt, welchen die Kranke gewählt hatte. Dann dehnte sie ihre volle, im Sessel ruhende Gestalt und schüttelte den Kopf, als wollte sie damit das Gespräch ein für allemal abschneiden.

»Hedwig, peinige mich nicht,« rief die Kranke plötzlich mit spitzer, gereizter Stimme. »Was hattest du mit ihm?«

Die Jüngere wollte aufstehen. Die Gewöhnlichkeit des Ausdruckes stach sie geradezu, aber die Schwüle, die von dieser abgezehrten Frau ausging, die dumpfe Schwere, die bereits den kräftigen Wilms zermürbt hatte, preßte auch sie in ihren Stuhl zurück.

»Willst du mir keine Antwort geben?«

»Ja,« antwortete Hedwig.

»Nun also – ich bitte dich.«

»Ganz einfach, Else. – Der Graf ist, wie du weißt, ein Lebemann –«

»O Gott – und?«

»Du hörtest ja gestern. Deshalb drängte er sich, weil er viele hübsche Mädchen dort vermutete, in unsre Pension ein und versuchte dann allerlei lockere Tändeleien anzuknüpfen.«

»Aber mit dir – Hedwig – mit dir?«

»Mit mir?«

»Ja.«

Ein rascher Atemzug wurde hörbar. Der prachtvolle, junge Leib dieses schönen Weibes wand sich, als ob er eine schmerzhafte Berührung empfände, ein Schauer rieselte beinahe sichtbarlich über sie hin, dann aber stürzte es rasch und wie gehetzt über ihre Lippen:

»Er hat einmal versucht, mich gewaltsam zu küssen – weiter nichts.«

»Weiter nichts?«

Zuvörderst ein langer befriedigter Seufzer der gesättigten Neugier. Dann raffte sich die Kranke mühsam auf und blickte die schlanke, zurückgelehnte Gestalt der Schwester mit furchtsamen, vor Erstaunen, Neid und Bewunderung glühenden Augen an.

»Ja,« schoß es ihr durch die krankhaft erregten Sinne, während sie beinahe gierig nach dieser frischen Jugend hinstarrte, »ja sie ist verführerisch schön, dieses hingestreckte Ding mit den lichtbraunen, goldfunkelnden Haaren.« Und mit heftig erwachender Neigung überflog sie die blühende Gesichtsfarbe der Schwester, entzückte sich an dem verschleierten Leuchten und Blitzen der Augen und empfand, wie vornehm das straffe schwarze Kleid die ganze Gestalt umschloß.

»Heting, mein süßes Kind,« stammelte sie und überdeckte unvermutet die Hand der Überraschten mit brennenden Küssen. Eine irre, praktische Hoffnung dämmerte dabei in ihr auf: »Liebt dich denn der Graf so sehr?«

Hedwig zuckte zusammen und wurde sehr blaß.

Else bemerkte es.

»Laß das,« erwiderte die Jüngere endlich herb, erhob sich und schritt rasch bis zum Tisch, um an der Lampe zu schrauben.

»Nein?« rief Else entsetzt, »ja aber aus welchem Grunde?«

»Er ist einfach frech gewesen.«

»Frech? – Großer Gott – Hedwig, dreh’ dich doch um – dann – dann durftest du ja hier gar nicht mit ihm zusammentreffen – wenn ich das gewußt hätt’ – – Du hast dich doch damals gewehrt? Nicht wahr?«

»Ja,« flog es halblaut vom Tisch herüber.

Es klang wie von zusammengepreßten Lippen.

»Hedwig, du sollst dich umdrehen. – Ich will dich sehen können,« schrie die Kranke mit durchdringender Stimme.

Und in demselben Augenblick wendete sich das Mädchen, und die Leidende, so erschöpft sie war, sah voller Verwunderung, wie Hedwig, die Medizinflasche in der Hand, mit ihrem sicheren, selbstbewußten Ausdruck und achselzuckend auf das Bett zuschritt.

»Heting, mein Liebling,« flüsterte sie, »beruhige mich doch. Weiter ist zwischen euch nichts vorgefallen?«

»Nichts,« entgegnete die andere, die Augenbrauen zusammenziehend. »Siehst du, daß du doch diese ganze dumme Geschichte viel zu ernst nimmst? Hier trink’ deine Medizin.«

»Nein, laß noch – Heting – wirklich weiter nichts? – Weiter nichts?«

War es möglich?

Die Kranke schluchzte, flehte, bettelte plötzlich halb besinnungslos um eine Entgegnung und hob ihren mageren Körper weit in die Höhe.

Eine Pause entstand.

Die Gefragte blickte starr auf sie hin. Dann glitt von neuem ein verächtliches Zucken um die aufgeworfenen Mädchenlippen und kurz und gereizt kam die Antwort: »Ich bitte dich, gib dich nun zur Ruhe. Was soll denn noch alles vorgefallen sein? – Komm’, Else, du mußt deine Medizin nehmen.«

So endete dieses Gespräch. Die Krankheit trat wieder in ihre Rechte. Es wurde spät. Jeder Laut auf dem Gute erstarb, und noch immer war Wilms nicht heimgekehrt. Erst als die große Kastenuhr bereits die elfte Stunde gemeldet hatte, hörten die beiden Schwestern seinen Wagen durch den Torweg rollen.

»Wo ist Hedwig?« fragte Wilms noch unter der Tür. Aber er forschte vergeblich.

Beim ersten Geräusch war Hedwig bereits aufgesprungen, hatte die Schwester auf die Stirn geküßt und war dann sofort in ihre Kammer hinaufgestiegen.

»Schon zu Bett,« entgegnete die Kranke matt, und es fiel ihr nicht auf, daß der Pächter, der heute so frisch und froh und stattlich wie selten aussah, zuerst nach dem Mädchen gefragt hatte.

Und siehe – eine Stunde später, da war der frohe Schein von seiner Stirn verschwunden.

Zusammengeduckt saß der große Mann in dem Lehnstuhl, welchen Hedwig vorhin verlassen, und lauschte gedankenlos auf die raschen, röchelnden Atemzüge seines Weibes. Es war ganz dunkel ringsumher. Nur aus einem Glase flackerte ein auf Öl schwimmendes Nachtlichtchen heraus.

Und der Mann saß und dachte an das, was ihm sein armes Weib eben anvertraut hatte.

»Geküßt hatte sie der junge, lebenstrotzende Mensch?«

Es war eine grobe Beleidigung – auch für den Landmann. Aber das fühlte er nicht.

Er nickte und hockte und das Herz drückte ihm etwas weh und wund.

»Ob sie sich wohl gewehrt hat?« dachte er müde.

Ein Ächzen seines Weibes schob sich dazwischen. Er beugte sich leise zu ihr hinüber und fuhr ihr beruhigend mit seiner groben Hand über Wange und Hals.

Und dabei irrten seine Gedanken wieder zu dem jungen Geschöpf, das dort oben unter dem Dach schlummerte, ebenso wie hier sein Weib, und das sich vielleicht sehnte und verlangend die weißen Arme nach dem Verführer ausstreckte.

Halb betäubt vor Müdigkeit sank sein mächtiges Haupt endlich schwer auf die Kissen, so daß Else davon erwachte und zärtlich ihre Arme um seinen Nacken schlang.

Und mit irrer Sehnsucht und verlöschendem Bewußtsein preßte er seine Lippen auf den abgezehrten Arm der Bedauernswerten und stöhnte in verzweifelter Seelenqual tief und markerschütternd auf.

**
*

Aber als die Wünsche des unglücklichen Mannes scheu in das Dachkämmerchen drangen, wo er das schönere jüngere Weib auf seinem Lager ruhend vermutete, da hatte er recht geahnt, beinahe wie wenn sein geistiges Auge die Mauern hätte durchdringen können.

Da lag sie, vor Lebensglut und Herzensangst zitternd, und streckte die weißen Arme aus. Aber nicht nach dem Verführer, nein, nach etwas anderem, Unbekannten, das sie nicht nennen konnte.

Der Schlaf wollte sich nicht einstellen, unruhig, schauernd, sich selbst unerklärlich, warf sie sich herum, stützte den Kopf in die weichen Hände und schaute regungslos durch das kleine Fensterchen zum Sternenhimmel empor. Über das Strohdach, dicht über ihr säuselte der Nachtwind. Sie hörte das heimliche Geräusch, wenn er mit den losen Halmen spielte, und ihr war es, als schlüge wieder die heiße, glühende Stimme des jungen, frechen Edelmannes an ihr Ohr. Ihre Brust ging auf und ab. Und da – da stieg es wieder herauf – da sah sie von neuem das ganze Bild jener unseligen Stunde vor sich, deren Einzelheiten sie vorhin ihrer Schwester so sorglich verborgen hatte.

Da fand sie sich wieder in dem kleinen Pensionsstübchen, ein vor Überraschung und Angst gelähmtes Geschöpf, das von dem liebestollen Eindringling mit Küssen überdeckt wird, – das vor Scham nur leise Bitten hervorstammeln und um Schonung flehen kann, und das, nachdem einmal die Binde roh von seinen Augen gerissen ist, sich wehrt, – wehrt mit verzweifelter, glühender, endlich siegreicher Kraft gegen einen Angriff, von dem sie ahnt, daß er ihr etwas Kostbares, Höchstes rauben muß! Großer Gott, was ist seitdem aus ihr geworden? – Was!! Sie wirft sich nieder und preßt ihr Gesicht in die Kissen. Seitdem ringt sie ja täglich so. Nicht mit dem einen, nein, mit allen, allen. Sie schleicht sich in ihrer Vorstellung an diese Rohen, Verhaßten heran, wie das hungrige Meer dort drüben nahe der Insel, das gegen die Felsblöcke schlägt und donnert, und das die Steine zu sich herabziehen will, um sie zu küssen, zu umarmen und zu ersäufen.

»Großer Gott!« – Sie will beten. Aber sie kann nicht beten. Sie verlacht ja den geoffenbarten Glauben. Das hat sie auch drüben gelernt von ein paar schwedischen Mitschülerinnen, welche ihr all jene Bücher geborgt haben, die wie Sturmwind Nebel und Wolken verjagen, aber auch das Meer der Leidenschaft immer wilder in die Höhe peitschen.

Jetzt schäumt’s und brandet’s. Hui, der Sturm pfeift.

Großer Gott – Großer Gott.

Und dann stößt sie die Decken von sich, daß der Mond ihre weißen Glieder küßt, und weint bitterlich.

Frühlingsschauer!


Zweites Buch.

I.

Wilmshus liegt versunken im tiefen Schnee. Zeitig ist der Winter hereingebrochen und hat den öden Pachthof völlig verschneit. Und doch regt sich Leben in der weltabgeschiedenen Besitzung. Seit die Kranke, von Hedwig begleitet, in dem fernen Solbad weilt, ist der lastende Zauber von der Wirtschaft gewichen.

Lichter Rauch steigt aus dem Schornstein in die blaue, kalte Luft, Wilms steht mit seinen großen Transtiefeln, das Wams bis an den Hals zugeknöpft, frisch und rüstig auf dem Hof und läßt die Scheunen ausbessern, Viehzucht und Molkerei gedeihen, überall Tätigkeit in dem einsamen Winkel, Spuren künftigen, rückkehrenden Wohlstandes.

Da klingelt ein Schlitten auf der Landstraße heran. Vielstimmiges Hundegebell wird laut, und da hält auch schon der unförmige Kasten und enthüllt seine seltsam gemischte Ladung. Es sind der junge Graf Brachwitz und Förster Eltze, welche zur Jagd fahren, mit dem Pastor Schirmer, der Wilms aufsuchen will, und deshalb allein aussteigt.

»Ho, ho – Wilms, hier heran, – hier heran,« brüllt inzwischen der gutmütige Förster, während er mit seinen Riesenfäusten, die in kolossalen Pelzhandschuhen stecken, aus Leibeskräften winkt, und als Wilms an den Schlitten tritt, um den jungen Edelmann befangen und einsilbig zu begrüßen, wird dem Pächter von dem Weidmann ein großes Paket unter den Arm geschoben.

»Hier, Wilms – von meiner Frau. – Ein paar Würste und so was. Na schon gut. – Bei Ihnen als Strohwitwer wird ja diesmal davon wenig zu spüren sein, was?«

»Ja, sagen Sie mal, lieber Nachbar,« wirft der junge Brachwitz dazwischen, der in seinem pelzbesetzten Jagdkostüm zurücklehnt und eine Zigarre raucht. »Wie geht es eigentlich Ihrer Frau? – Gute Nachrichten?«

Einsilbig erzählt der Pächter, daß er kürzlich von seiner Schwägerin einen Brief erhalten, wonach der Zustand der Kranken sich schon etwas gebessert hätte.

»Nun, da gratuliere ich Ihnen von Herzen, lieber Herr Wilms,« entgegnet der Graf aufmerksam, und nachdem er dem Pächter eine Zigarre angeboten, erkundigt er sich leichthin:

»Ihr Fräulein Schwägerin kommt ja wohl in Kürze wieder hierher zurück?«

Wilms Antlitz verfinstert sich. Er nickt bloß.

»Und wann, wenn ich fragen darf?«

»Das ist unbestimmt,« sagt der Landmann düster, und tritt dem Schlitten etwas näher.

»So, so,« der Graf mißt den kräftigen Pächter von oben bis unten, wobei er unwillkürlich an das Gewehr greift, dann gibt er dem Kutscher lächelnd das Zeichen zum Weiterfahren, nicht jedoch, ohne vorher mit großer Höflichkeit die Hoffnung ausgesprochen zu haben, den Pächter bald wieder begrüßen zu können.

»Vorwärts.«

Der Schlitten fliegt davon.

**
*

Pastor Schirmer blieb über den Kaffee da.

In dem großen Zimmer, in dem noch immer das Krankenbett wie eine düstere Mahnung stand, dampfte in großen altfränkischen Schalen der braune Trank auf dem Tische, und die beiden Herren saßen gemütlich dahinter und plauderten.

Die Hofarbeit war vollendet, das Tagewerk vollbracht, nun konnte der emsige Landmann der Ruhe pflegen. Man steckte zwei große, lange Pfeifen an, die Wilms in den Krankheitsjahren unbenutzt im Schrank verborgen hatte, und in kurzer Zeit hatten die beiden Herren, jeder behaglich im Sofa zurückgelehnt, mächtige blaue Wolken um sich verbreitet.

Ein süßer, angenehmer Tabaksduft füllte die Stube.

»Ja, ja,« sprach der Landmann nachdenklich vor sich hin, »meine arme Frau konnte den Geruch nicht vertragen, er verursachte ihr Hustenreiz und ich – –« kam es unwillkürlich heraus, »hab’ ihn dabei so gern.«

»Lieber Freund, man muß sich eben fügen,« paffte der kleine Pastor und nahm einen Schluck Kaffee, »ja, muß sich fügen. Darin besteht schließlich unser ganzes Christentum. – Was ich sagen wollte – – Ihre liebe Frau – – – Sie bangen sich doch wohl schon sehr nach ihr?«

Wilms nickte und rauchte in langen Zügen weiter.

Ja, es fehlte ihm etwas, er sehnte sich nach irgend etwas, sein Haus erschien ihm jetzt oft so leer und freudlos, und dennoch zog sich sein Herz vor Furcht zusammen, wenn er an Elses Rückkehr dachte. Sein jetziges einsames Dasein schien ihm dann erträglicher. Wenn er nur dieses schmerzliche Sehnsuchtsgefühl aus seiner Brust hätte verbannen können. Es galt ja doch bloß seinem Weibe. Nur ihr.

»Freilich, solch ewiges Leid,« murmelte der kleine Pastor mit seiner dünnen Stimme weiter, »das schließt die Menschen wie mit eisernen Ketten aneinander, nicht wahr?«

»Ewiges – Leid,« wiederholte der andere mechanisch und blickte starr auf das Bett hinüber. »Ja, Sie haben recht, Herr Pastor.« Eine Zeitlang schwiegen die beiden Freunde und hingen ihren Gedanken nach.

Die Pfeifen glimmten, draußen fiel Schnee, es war behaglich warm im Zimmer.

So merkten sie nicht, daß sich inzwischen die Tür leise geöffnet und der dicke Kreisphysikus Dr. Rumpf unbemerkt hereingetreten war. In seinem Pelz, in Pelzmütze und derben Wasserstiefeln sah er wie ein borstiges Ungeheuer aus. »’n Abend, Kindtings, ’n Abend,« ächzte er.

Kaum hatte Wilms seinen muntern Gast erfreut seiner zottigen Hüllen beraubt, so warf sich der Physikus pustend neben dem Pastor auf einen Lehnstuhl nieder, nahm dem Geistlichen einfach die Tasse weg, trank dann mehrere Schalen des heißen Getränks und schien endlich erwärmt zu sein.

»Verdammter Frost,« schnaufte er zuletzt und schlug sich befriedigt auf seinen Kugelbauch. »Komme hier bloß ’raus, Wilms, um Ihnen zu erzählen, daß ich einen Brief vom Anstaltsarzt in Inowrazlaw erhalten habe.«

»Nun, was denn, Herr Doktor, was gibt es denn?« rief der Landmann aufgeschreckt und sprang auf.

»Na, es geht ganz leidlich, schreibt er. Sehen Sie, ich hab’s gleich gesagt. Nun soll sie nur noch an größere Selbständigkeit gewöhnt werden, und deshalb schickt er Ihre Schwägerin nach Hause. In diesen Tagen sogar schon. – Ein reizendes Ding übrigens, die kleine Hete, was?« schmunzelte der Physikus plötzlich über das ganze Gesicht und kratzte in seinem Stoppelbart; »ich freue mich ordentlich darauf, daß wir sie bald wieder nach Grimmen bekommen.«

Wilms blieb stehen. »Nach Grimmen?« wiederholte er schwerfällig. »Geht denn – Hedwig zu meinem Schwiegervater zurück?«

»Na, vermutlich doch; oder haben Sie sie hier nötig, Wilms?«

»Ich?«

Eine Unruhe befiel den starken Mann, er strich mit seiner Hand über die kurzgeschorenen Haare, dann äußerte er auffallend hart und abweisend: »Nein, ich nicht.«

»Na, sehen Sie,« sagte der Physikus gemütlich. Dann klopfte er mit der Hand auf den Tisch. »Vorwärts, meine Herren, jetzt machen wir ein Skätchen; Karten hab’ ich bei mir, und Sie stecken die Lampe an, Wilms.«

»Lieber Doktor, das viele Kartenspielen halte ich für – – –« wollte Pastor Schirmer kleinlaut einwenden, aber der Physikus schlug noch energischer auf den Tisch und knurrte: »Ach Unsinn, machen Sie weiter keine Umstände, Pastor, – und solange Sie gewinnen, ist Ihre liebe Frau mit allem einverstanden. – Wer gibt? – Na also – Wilms, bringen Sie die Lampe – Tourné, Pastor? Solettchen auch? Na dann Eichel. Raus mit den Triümphern, meine Herren, – Wilms, die Lampe blakt – was gibt’s Neues, Pastor?«

In bester Eintracht spielten die Herren fort.

Nur Wilms, der sonst ein vorzüglicher Spieler war, beging einen Fehler nach dem andern, zuletzt störte er sogar offenbar die Pläne seines Partners.

Der Pastor legte sanft die Karten auf den Tisch.

»Na hören Sie mal, Wilms« – sagte er bedenklich, »so was ist noch gar nicht dagewesen – haben die Treffzehn blank und werfen Sie mir nicht ’rein?«

»Ja, und ziehen dem geistlichen Herrn das Geld aus der Tasche?« schrie der Physikus.

»Worüber grübeln Sie denn immerfort? Müssen auch nicht zu viel an Ihre Frau denken.«

An seine Frau? Ja, er grübelte und quälte sich und sann – – aber die Hände mit den Karten begannen ihm vor Schreck zu zittern, bleischwer fiel es ihm aufs Herz, er dachte ja gar nicht an sein unglückliches Weib, all seine Erinnerung galt der Jüngeren, diesem herrlichen jungen Geschöpfe, dessen Bild er nicht bannen konnte, das er immer wieder sah, weiß und rosig, so wie damals als sie ihre junge Schönheit dem Regen preisgab. Den Sinn verwirrte es ihm noch.

Und sie wollte zu ihrem Vater zurückkehren, und nicht zu ihm, nicht in dies Haus, das so leer war?

Die Herren spielten weiter. Noch ein paar Stunden, dann trennte man sich.

**
*

Einige Tage verstrichen, emsig wurde geschafft, nur mit der Molkerei, die Wilms mit Hedwig eingerichtet, wollte es nicht mehr glücken. Hier fehlte die anordnende, weibliche Hand.

»Wenn das Fräulein man wieder da wär,« klagte die Obermagd eines Tages dem Landmann.

»Sie geht zu ihrem Vater,« dachte Wilms trübe. »Was kümmern wir sie.«

Ernst und verschlossen ging er seitdem umher. Der Schnee fiel draußen immer dichter und legte sich wie ein weißer Wall um das Gehöft.

Dadurch wurde es wieder so still und einsam, wie je zuvor. Ein Tag nach dem andern verfloß. In der Landwirtschaft gab es jetzt nichts mehr zu wirken. Schweigend saß der Pächter oft stundenlang am Fenster, blickte über den verschneiten Hof und wartete, ob ihm nicht der Landbriefträger ein Lebenszeichen von den beiden Frauen bringen würde.

Aber nichts von alledem geschah.

Und allmählich verfiel er wieder in sein düsteres Hinbrüten; der große Mann mit den kurzgeschorenen, blonden Haaren verbrachte dann ganze Stunden im Zimmer. Er wanderte auf und ab, sah dabei auf das reinlich zugedeckte Krankenlager seines Weibes, oder nahm ihre Bibel in die Hand und starrte interesselos hinein, während er sich an die von ihr mit Vorliebe gebrauchten Gebete erinnerte.

Dann begann er einige der Verse nachzusprechen und schüttelte sich zuweilen plötzlich, als ob ihn etwas Widerliches überliefe. Oft auch nahm er ein Bild von der Spiegelkommode, das Else als Braut darstellte, um es lange und aufmerksam zu betrachten. Wie blond sich ihre Zöpfe damals ums Haupt ringelten. – Wie ähnlich sie zu jener Zeit Hedwig gewesen! Rasch stellte er bei solcher Gelegenheit die Photographie wieder an ihren Platz und lief auf den Hof hinaus, wo er mit seinen Leuten schalt und haderte.

Sie wunderten sich über den Herrn. So hatte man ihn selten gesehen.

Und noch immer langte die erwünschte Nachricht nicht an.

Da endlich, eines Morgens, – Wilms saß noch beim Kaffee – da schlich der taube Krischan in die Stube, schielte seinen Herrn an und legte schweigend einen Brief auf den Tisch.

Wilms klopfte das Herz. Mit zitternden Fingern erbrach er das Schreiben, nachdem sich der Alte entfernt hatte, aber es war nur ein gedrucktes Formular, das eine Einladung zu einer ländlichen Versammlung enthielt, die der ältere Graf Brachwitz einberief.

Wilms warf den Fetzen achtlos auf die Erde und seufzte tief auf. Er interessierte sich nicht für Politik.

»Jawoll,« meinte der Förster, der nachmittags im Vorbeigehen vorsprach, indem er das Zirkular bemerkte. »Der Graf will sich ja in den Reichstag wählen lassen. Dazu soll hier ein Verein gegründet werden. Zur Hebung der Sittlichkeit auf dem Lande. Na ja, alter Freund, es soll ja bei uns auch ganz doll zugehen. – Die verdammten Weibsbilder – haben Sie’s nicht auch schon bemerkt, Wilms? Kaum hat man mal eine für die Hofarbeit in Lohn genommen – pardauz muß man sie wieder entlassen. – Is da was los mit so ner Person. – Ne – die Sittlichkeit, – weiß der Deuwel – man kann den Frauenzimmern nicht trauen.«

Er kraute sich hinter den Ohren. »Da soll ja neulich auch was mit einer Verheirateten vorgekommen sein, – warten Sie mal – es war sogar ’ne Adlige hier in der Nähe. Aber lachen Sie mich nicht aus, ich glaub’s nicht, weil bei Eheleuten ’ne zu große Portion Schlechtigkeit dazu gehört – Pfui Deuwel, kann ich bloß sagen.«

Wilms blickte den gutmütigen Riesen starr an. Seine Lippen bewegten sich, aber er erwiderte kein Wort.

»Na guten Morgen, Wilms, wie geht’s Ihrer Frau?«

»Besser.«

»Und Ihrer Schwägerin?«

Wilms rührte sich nicht: »Darüber weiß ich nichts.«

»Na, denn Adieu!«

»Adieu auch, Eltze.«

Aber lange noch, während er über seinen Wirtschaftsbüchern rechnete und schrieb, tönte es vor seinen Ohren:

»Bei Eheleuten gehört eine zu große Schlechtigkeit dazu.«

Der Schweiß perlte ihm auf der Stirn. Die Zahlen vor ihm fingen an zu tanzen. – Wenn er nur Kraft finden könnte, sich gegen die bösen Gedanken zu wehren. Aber da nagte und biß schon wieder solch tückischer Einfall. »Bei Eheleuten« hieß es – Ja, aber war er denn eigentlich verheiratet? Besaß er denn ein Weib? – – – oder hatte Gott der Allmächtige nicht eine Scheidewand zwischen ihnen aufgerichtet?

»Nur das nicht,« stöhnte er, »nur das nicht. Nur nicht diese entsetzlichen, verzweifelten Anklagen.« Und er vergrub sich von neuem in seine Papiere und arbeitete, bis die Lampe zu verlöschen drohte.

**
*

Am nächsten Tage erhielt er abermals ein gleichlautendes Zirkular. Zugleich erschien bei ihm der Inspektor Grothe aus Boltenhagen, ein großer, breitschultriger Mann, der das Hauptgut des Grafen Brachwitz bewirtschaftete. Er sollte den Pächter noch besonders zu der Versammlung einladen.

»Nein, ich komm nicht,« entgegnete Wilms, während sich der Inspektor in der großen Stube den Schnee abschüttelte, und der Abgesandte räusperte sich zufrieden und meinte: »Da haben Sie auch recht.«

»Na, wieso, Herr Grothe, es handelt sich doch eigentlich um einen guten Zweck.«

»Schönen guten Zweck,« brummte der andre, indem er den Mund verzog: »Sittlichkeit – da soll sich der Graf man zuerst um seinen Sohn kümmern. Aber da werden alle Dirns auf dem Hofe unsicher gemacht, daß es eine Schande ist, und dann soll so’n Verein gegründet werden.«

Sobald der Pächter den Namen des jungen Brachwitz vernahm, stieg ihm langsam das Blut in die Schläfen, so daß er kaum dem anderen seine Bewegung verbergen konnte. »Lassen Sie man, Grothe,« schnitt er kurz ab, »ich hör’ so was nicht gern.«

»I – ich sag ja auch gar nichts gegen den jungen Mann. – Is sogar ein ganz netter, liebenswürdiger Mensch. Und es is ’ne wahre Dummheit vom Alten, daß er den Jungen nicht bei’s Militär gelassen. Hier in der Wirtschaft versteht das natürlich nichts, und weiß das nichts – und verfällt auf lauter Dummheiten. – Die Förstersfrau kann ihn ja auch nicht los werden,« setzte er leiser hinzu, »aber sie soll ihm ja neulich gehörig die Tür gewiesen haben.«

Wilms konnte nicht länger zuhören.

»Herr Grothe – ich muß jetzt – ich hab noch notwendig was zu tun – Grüßen Sie den Herrn Grafen, und – ja ich werd’ woll auch kommen.«

»Na schön,« verabschiedete sich der Inspektor. »Geht’s Ihrer lieben Frau gut?«

»Ja, ich danke.«

Sie schüttelten sich die Hände, und der Abgesandte des Grafen ritt langsam vom Hof herunter.

**
*

Aber der Besuch hatte seine Folge.

In der langen Zeit, in der sich Wilms in dem schneeverwehten Gehöft so einsam fühlte und mit all seinen sehnsüchtigen Gedanken an der fernen Hedwig hing, da hatte er alles vergessen, was er von ihr zu wissen glaubte, da war sie ihm als die reine, herbe unerreichbar hohe Jungfrau erschienen. Jetzt, als ihm das wilde Treiben des Junkers geschildert wurde, da erhoben die häßlichen Zweifel abermals ihr Haupt, da erwachte er wieder zur Wirklichkeit, ein kräftiges Gefühl der Verachtung gegen sich selbst regte sich in ihm, und mit aller Macht suchte er die häßliche aufkeimende Neigung abzuschütteln.

Zehnmal des Tages las er jetzt die wenigen Zeilen, die ihm Else bereits wöchentlich schreiben konnte, fuhr dann mit seiner rauhen Hand zärtlich über das Papier, und legte es schließlich in das Paket, in dem er die Briefe aus der Brautzeit bewahrte.

»Mein Elsing – sie wird nun bald ganz gesund sein – und dann werden wir mit Gottes Hilfe wieder glücklich – ach so glücklich, wie damals, eh’ die schwere Zeit begann.« Er seufzte. »Wenn sie doch erst da wär.«

**
*

Immer mehr rückte der Winter vor. Es ging stark auf Weihnachten. Wilms merkte, daß seine Leute kleine Geschenke für ihre Familien einkauften.

Das bewegte ihm das Herz. Wieder mußte er an sein fernes Weib denken.

»Soll ich für den Herrn auch ’ne schöne Tann’ putzen?« fragte die Obermagd.

Es klang wie Mitgefühl aus den wenigen Worten, als sie auf den einsamen Mann blickte.

Wilms dankte.

»Ne, laß man, Dörthe – für mich allein. – Es hat keinen Zweck.«

Aber nachmittags ließ er den Schlitten anspannen und fuhr zur Stadt. Er wollte Else etwas kaufen, seinem armen, langsam gesundenden Weibe eine Freude bereiten.

Über die verschneite, dunkle Landstraße klingelte er endlich in Grimmen ein und wählte bei dem einzigen Juwelier des Städtchens ein kleines goldnes Herz an einer dünnen Kette.

Er stand dabei, als man seinen Namen »Wilms« in das Gold eingrub.

Mit der Poesie einfacher Naturen wollte er damit dartun, daß sein ganzes Herz auf ewig seinem Weibe gehöre. In dem Gasthof, in welchem er seinen Schlitten eingestellt hatte, saß er noch eine Weile bei einem Glase Grog und plauderte mit dem Wirt in der dunkelbraun verräucherten Gaststube. Der Pächter erfuhr, daß sein Schwiegervater, der alte Rendant Schröder, noch allabendlich die Honoratiorenstube besuche.

»Hedwig ist wohl noch nicht zurück?« erkundigte sich der Landmann leichthin.

Der Wirt mit dem grünen Sammetmützchen verneinte. Da bezahlte Wilms und brach auf.

Es war dunkel und kalt auf dem Heimweg. Der Wind strich scharf über den offenen Schlitten und warf dem Landmann spitze Eisnadeln ins Gesicht. Eine Sehnsucht nach einer warmen, gemütlichen Stube beschlich ihn, wo ein helles Feuer brannte, und eine liebe weibliche Hand dem Eintretenden den dick beschneiten Pelz abnahm.

Die Luft wurde immer schneidender. Hochoben flimmerten ein paar frostige Sterne. Wilms fror. Manchmal konnte er bei einzelnen freistehenden Häusern, an denen sie vorbeiflogen, in die trüb erleuchteten Stuben blicken. Da sah man schon Christbäume, welche geschmückt wurden. Im Hauptgut Boltenhagen klangen Kirchenglocken durch die Nacht. Hohl und feierlich läuteten sie das Fest ein. Vorboten der großen Freude.

Wilms faßte unwillkürlich an die Brusttasche, in der das Päckchen mit dem Goldherz verborgen war, und trieb seinen Kutscher zu größerer Eile an.

Die Glockentöne verklangen, wieder Schnee, Dunkelheit, Landstraße und weißes Feld – halb erlahmt vor Nässe und Kälte langten Mensch und Vieh endlich auf dem Pachtgut Wilmshus an und fuhren in den einsamen, von dickem Schneewall umgebenen Hof.

Rings lag alles in Dunkelheit gehüllt. Nur hinter den herabgelassenen Rouleaux der großen Stube leuchtete Licht.

»Hübsch von Dörthe,« dachte Wilms, während er über den Flur schritt, »die Dirn hat Mitleid mit mir.«

Er öffnete gleichgültig, zuckte zusammen und blieb starr und groß unter den Pfosten stehen.


II.

Dicht vor ihm stand Hedwig in ihrem einfachen, schwarzen Kleid und streckte ihm mit froher Herzlichkeit die Hand entgegen. Ein anmutiges Lächeln umspielte dabei ihr blühendes Antlitz. »Na, Schwager,« neckte sie leicht, »der neue Gast gefällt dir wohl nicht?«

In dem Ofen brannte ein flackerndes Feuer, in der hellen, durchwärmten Stube weilte ein liebes, reizendes Geschöpf, bereit, den großen Mann von seinem schweren Pelze zu befreien; es war alles so, wie er es sich gedacht hatte.

Aber den ungeschickten Mann würgte es zuerst, als ob von unsichtbarer Hand seine Kehle zusammengepreßt würde. – Halb religiöse Vorstellungen durchflogen ihn, wie er sie als Knabe gehegt, oder von Else angenommen hatte.

Sie war da.

Die Versuchung war wieder da.

All die Angst, die er ihretwegen in der langen Zeit erduldet, stürzte in seine Erinnerung und wandelte seinen Gegengruß, als er sich endlich aufraffte, zu einem unverständlichen Murmeln.

»Hedwig – – willkommen – du –«

Dann bemerkte er, daß sie ihm noch immer die Hand entgegenhielt, und preßte sie unbeholfen zwischen seinen Fingern.

»O –« sie verzog schmerzhaft den Mund.

Von seinem Pelz troff das Eiswasser auf ihr Kleid.

Er entschuldigte sich und wurde verlegen, als sie ihm beim Ausziehen behilflich war.

Der Tisch war weiß gedeckt, ein heißer Grog dampfte schon, alles war für ein schmackhaftes Abendbrot zubereitet. Sogar die beiden Servietten waren in anmutige Falten gelegt. Man konnte merken, daß diesmal eine Frau von guter Erziehung den Tisch besorgt hatte.

Verblüfft musterte Wilms diese Anstalten.

Es kam ihm alles so überraschend, er konnte sich so gar nicht in den neuen Zustand finden. Ungelenk nötigte er endlich den Gast auf das Sofa und setzte sich dem Mädchen auf einem Stuhl gegenüber.

Lächelnd über seine Verlegenheit wollte ihm Hedwig einige Speisen vorlegen, jedoch er hielt plötzlich ihre schon erhobene Hand fest und begann ungestüm zu fragen:

»Noch nicht – noch nicht – vor allen Dingen, wie geht es meiner Frau?«

Das Mädchen nickte ermunternd: »Gut – überhaupt überraschend – so gut, daß sie schon in acht Tagen hier eintreffen wird.«

»Was? Gott sei Dank,« murmelte Wilms. »Kann sie denn schon gehen?«

»Ja, zwar noch auf einen Stock gestützt, aber es wird mit jedem Tag besser.«

»Und du, Hedwig?« stockte er und sah sie wieder so verständnislos an, daß sie in ein fröhliches Gelächter ausbrach.

»Du willst fragen, was ich nun eigentlich hier bei dir will?« begann sie endlich.

»Ja, – das heißt – –«

»Kannst du dir’s wirklich nicht denken? Was seid ihr Männer doch schwerfällig. – Vorausgeschickt bin ich – aufräumen soll ich, das Unterste zu oberst kehren, damit Else alles fein sauber vorfindet. Nicht wahr, Schwager, das gefällt dir nicht?«

»Mir? Warum?«

»Weil du ein so grämliches Gesicht dazu machst.«

»Bewahre, Hedwig – du weißt doch, daß du uns immer willkommen bist.«

»Wirklich?«

Er schlug die Augen nieder und begann zu essen.

Sie dagegen nippte nur von allem und erzählte ihm unaufhörlich von Else und beschrieb alle Einzelheiten ihres Aufenthalts. Die halb polnische Stadt, die Anstalt, den Arzt, die andern Kranken, alle Einrichtungen, die Bäder, und das Ganze so nüchtern und verständlich, daß Wilms längst Messer und Gabel hingelegt hatte, um ihr mit lebhafter Spannung zu lauschen.

Von Zeit zu Zeit goß sie ihm den angenehm erwärmenden Trank ein und lächelte liebenswürdig, wenn er ihr zaghaft zutrank.

Plötzlich trat dennoch eine Beklemmung zwischen beiden ein. Hedwig hatte aufgehört zu erzählen und lehnte sich in die Sofaecke zurück, da die Reise sie wahrscheinlich ermüdet hatte. Auch Wilms hielt eine Scheu davon ab, jetzt irgend etwas Gleichgültiges vorzubringen.

Er blickte mehrfach rasch zu ihr hinüber, beobachtete dann das verglimmende Ofenfeuer, faltete umständlich die Serviette, und sah von neuem unruhig auf das junge Mädchen hin.

Sie träumte an ihm vorbei, den Kopf in die Hand gestützt, schien sie an etwas Fernes zu denken.

Der Pächter wurde unruhig.

»Hedwig,« räusperte er sich halblaut.

»Ja, Schwager.«

Sofort richtete sich das Mädchen auf und drückte flüchtig beide Hände gegen die Schläfen, als wollte sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Fragenden lenken.

»Warst du noch gar nicht in der Stadt bei deinem Vater?«

»Nein, ich bin direkt hierher gefahren.«

»Sofort hierher?« wiederholte Wilms. Eine peinliche Verstimmung stieg in ihm auf. Was konnte sie nur in dem menschenverlassenen, verschneiten Gehöft suchen? Hastig gedachte er weiter zu fragen, wie jedoch sein Blick ihre ruhigen, braunen Augen traf, verstummte er wieder und kratzte verlegen auf dem Tisch hin und her.

Eine Zeitlang blieb es still.

Aber gerade dieses ruhige Beisammensein konnte Wilms nicht ertragen. Etwas quälte und marterte ihn dabei grenzenlos.

»Hedwig,« fing er mit Überwindung plötzlich an und zum erstenmal wendete er ihr ganz sein ehrliches Gesicht zu. »Es muß mal zwischen uns zur Sprache kommen. Es liegt mir schon zu lange auf dem Herzen. – Weshalb bist du eigentlich – ich – mein Kind – ich meine, warum bist du eigentlich so gut zu uns?«

»Gut?«

»Sieh, Heting, erst hast du mir eine Summe deines Erbteils geborgt, und ich hab mir damit helfen können. Das hätt’ mir schon kein anderer getan, – nein, laß – ich muß es mal sagen, auch meine Frau hast du gepflegt, um die es nur wenige aushalten konnten. Und nu – nu kommst du wieder hierher zurück, in diese Einsamkeit, und willst uns wieder helfen und unterstützen und aufrichten, und das alles soll ich mir gefallen lassen, ohne eigentlich zu wissen, warum du das alles tust; ich kann’s mir ja gar nicht erklären, du paßt ja zu so was gar nicht, du bist ja wie eine vornehme, junge Dame, warum bestehst du also darauf?«

Das letzte rief der große Mann in einem heftigen, beinahe unglücklichen Ton.

Statt einer Antwort erhob sich Hedwig. Ihre Wangen erblaßten etwas, aber sonst strömte ihr Wesen unveränderlich jene ernste Ruhe aus, die ihr eigentümlich war. Langsam schritt sie zum Ofen, wärmte sich die Hände, durchmaß dann mit gesenktem Haupt mehrmals das Zimmer, als ob sie nachdenke, und blieb endlich an dem Tisch stehen, wo sie ihre Finger auf die Glocke der Lampe legte, daß Wilms das Blut hindurchrinnen sah.

Ihre schlanke Gestalt stand dicht neben seinem Stuhl, er konnte das Webemuster ihres Kleides erkennen.

Unwillkürlich wandte er den Kopf fort.

»Siehst du, Schwager,« hob sie nach schwerer Pause klar und bedacht an zu sprechen, immer den Blick auf ihre durchleuchteten Finger gerichtet: »Ich habe auch schon darüber nachgesonnen, warum ich so gern hierher zurückkam in eure Einsamkeit.«

»Gern?« unterbrach sie der Pächter erstaunt.

»Ja, ich kam gern,« fuhr sie hastiger fort, »gerade weil es hier so still ist. – Mir ist diese Stille Bedürfnis. – Ich verabscheute schon als Kind alles Unruhige und Geräuschvolle. Aber das ist nicht der Hauptgrund,« setzte sie sinnend hinzu: »ich kam wohl zumeist deinetwegen, Schwager.«

»Meinetwegen?« schreckte Wilms auf. Aber es war alles so leidenschaftslos, so überlegt und ohne eine Spur von Zärtlichkeit hingesprochen, daß der Pächter fühlte, er müßte ihre Worte falsch aufgefaßt haben.

Jedoch das Blut war ihm bis in die Augen geschossen, er scharrte ungeduldig mit den Füßen und blickte erregt zu ihr auf.

»Ja, Hedwig, wie meinst du denn das?« murmelte er.

Sie zog langsam die Hände von dem Glase zurück und ließ sich wieder auf das Sofa nieder.

»Ich sagte mir, du bist durch unsere Familie unglücklich geworden, Wilms.«

»Das bin ich nicht.«

»Das bist du doch, Schwager. Bist du nicht, wie jeder andere Mann, eine Ehe eingegangen, um eine Häuslichkeit zu besitzen? – Nun, und hast du sie gefunden? – Nein, das ging dir alles durch die lange Krankheit verloren – und auch jetzt, Schwager, – ich muß es dir sagen, mit vielem Schmerz, glaub’ mir das – auch jetzt wird dir meine arme Schwester dieses Glück nicht schaffen können.«

»Nicht schaffen können?« echote Wilms entsetzt. Eiseskälte durchströmte ihn, wie vorhin, als er auf dem Schlitten saß.

Im Moment haßte er das Mädchen, welches ihm das alles so schonungslos enthüllte.

»Und warum nicht, Hedwig?« flüsterte er.

»Weil mir der Arzt bei meiner Abreise vertraute,« schloß Hedwig leise, als wenn sie ihn nicht noch mehr erregen wollte, »daß Else nach wie vor aufs äußerste geschont werden muß, und daß sie nie wieder als eine Gesunde, sondern stets nur wie eine Kranke behandelt werden darf – du armer Mann.«

Ein leises Stöhnen unterbrach sie.

»Sieh,« beendete sie hastig, indem sie auffallend die Farbe wechselte, »und da stand es bei mir fest, daß ich hier vielleicht den Wirkungskreis aufnehmen könnte, den meine Schwester nicht ausfüllen wird, damit du wenigstens nicht allzuviel entbehrst, der du schon so viel gelitten.«

»Und da wolltest du – –?« stammelte er.

Er begriff es nicht.

»Ja, ich sehne mich nach einer ruhigen, gleichmäßigen Beschäftigung.«

»Aber – aber willst du denn nicht heiraten?« fuhr es ihm heraus. Er schämte sich, als er es sagte.

Sie schlug die Augen nieder und zuckte die Achseln: »Schwerlich,« erwiderte sie gleichgültig. »Ich habe als Tochter eines kleinen Beamten den törichten Wunsch nach besserer Erziehung gehegt, aber –« – sie zögerte und wurde zum erstenmal unruhig – »das ist mir wohl nicht zum Heile ausgeschlagen. Und deshalb wird auch kaum jemand kommen, dem ich gefalle, und der zu mir paßt.«

»O Hedwig, doch – doch –« widersprach Wilms gedankenlos, – »du bist ja schön und klug, das wird sich schon finden.« Aber während er es sprach, mußte er plötzlich widerwillig daran denken, daß diese vollen, roten Lippen schon stürmisch und sündhaft geküßt worden seien.

Das verdarb ihm den Abend vollends.

Auch Hedwig schwieg. Sie ruhte wie erschöpft in ihrer Sofaecke. – Nur als er äußerte, daß sie schön und klug sei, traf ihn ein kurzer, erstaunter Blick. Dann schlug sie wieder müde die Augen nieder.

So saßen sie noch eine Stunde zusammen und sprachen über alles, was in der Umgegend in der Zwischenzeit geschehen sei. Eingehend erkundigte sich Hedwig nach den Wirtschaftsverhältnissen.

Er gab über alles genau Auskunft.

Dann schlug die Uhr in dem Kasten zehn, und Hedwig erhob sich.

Wilms empfand, daß er gehen müsse.

Er stand sofort auf.

»Noch eins,« sagte er, »hier hast du die Schlüssel.«

Er nahm aus einem Körbchen, das auf dem Nähtisch am Fenster stand, ein Schlüsselbund und händigte es seiner Schwägerin ein.

Achtlos empfing das Mädchen die klirrenden Dinger und hing sie sich in den Gürtel, aber Wilms beschlich ein schmerzliches Gefühl dabei, daß Elsens Befugnisse damit gleichermaßen auf ihre Schwester übergingen. Sie erschien ihm auch nicht mehr so schön, wie früher.

Dann reichten sie sich die Hände und wünschten sich »Gute Nacht«.

»Schläfst du hier?« fragte Wilms.

»Ja, in Elses Bett.«

»Nun, gute Nacht.«

»Gute Nacht, Schwager.«

**
*

Wilms betrat seine Dachkammer. Auf dem Tisch brannte ein Licht, darunter lag ein großes Kuvert, das Elses Aufschrift trug.

Hastig zerriß Wilms den Umschlag. Drinnen fand er ein Bild und einen Zettel mit den wenigen Worten:

»Lieber, guter, einziger Mann!

Wie gern möchte ich das Fest mit Dir feiern, denn mir ist so sehr bange nach Dir, aber bald, bald, wenn es Gott so fügt, bin ich wieder bei Dir.

Mit tausend innigen Küssen

Deine arme Else.«

Wilms griff nach dem Bilde.

Auf einem Polsterstuhl saß die Kranke, das schmale Gesicht mit den großen Augen ein wenig vornüber geneigt. Neben ihr Hedwig, schlank aufgerichtet, der vollendete Wuchs zum Greifen deutlich, als wenn Gesundheit und Verfall gegen einander kontrastieren sollten.

Der Pächter schauerte, als er es sah.

Auf dem Antlitz des Mädchens ruhte ein so sicherer, triumphierender Schein.

Freut sie sich, daß sie leben wird, und die Schwester dem Tode zuwankt? dachte Wilms erschüttert.

In der Kammer war nicht geheizt. Ein Frösteln durchlief den Einsamen vom Kopf bis zu den Füßen. Mit Abscheu, als ob die Photographie Hedwig allein darstelle, warf er das Bild von sich auf den Tisch und suchte müde und zerbrochen sein Lager auf.

Bald erlosch das Licht.


III.

Am frühen Morgen, als Wilms aufstand, hörte er, wie seine Schwägerin den Mägden im Hausflur schon etwas auftrug.

Er sah auf die Uhr. Es war erst sechs. Und noch stockfinster.

Das lockte ihm den Seufzer ab: »Ach, wenn Else das doch auch vermöchte.«

Eine Viertelstunde später, er hatte sich kaum völlig angekleidet, brachte ihm Dörthe Kaffee und Frühstück. Der Landmann erstaunte.

»Soll ich denn hier oben frühstücken?« fragte er.

»Ja, Herr, das Fräulein hat schon unten getrunken.«

»Na, wie sie will. Es is gut.«

Die Obermagd ging.

Wilms saß eine Weile allein und wunderte sich, mit welcher Willenskraft Hedwig ihre neue Aufgabe gleich erfaßte.

Dann fuhr er sich mit der groben Hand unwillig über die Stirn.

Immerfort zwang ihn das Mädchen, sich mit ihr zu beschäftigen. Aber er wollte ihr an Regsamkeit nicht nachstehen. Er hatte ja einige wichtige Geschäfte in der Nähe abzuwickeln, und deshalb wollte er fortreiten, damit er erst gegen Mittag wieder zurückzukehren brauchte.

»Möglichst wenig mit ihr zusammen sein,« dachte er.

Mit diesem Entschluß trat er an das kleine Kammerfenster und sah auf den schneebedeckten Hof herunter.

In einem steinernen Seitengebäude hörte er viele weibliche Stimmen durcheinander sprechen, lachen und plaudern. Es war die Molkerei, die solange auf Hedwig geharrt hatte.

»Sollte sie schon unten sein?« dachte er verwundert.

Als er etwas später über den Hof schritt, um sich im Stall sein Pferd zu satteln, machte er den Umweg am Seitenhaus vorbei und warf einen raschen Blick in den von einer Lampe erleuchteten, ziegelsteingepflasterten Raum.

Richtig – umgeben von ihren Mägden sah er Hedwig vor einem großen Fasse stehen und mit ihren jugendlichen Kräften den großen Klüngel heben und wieder herunterstampfen. Beifällig murmelten die Mägde und versuchten, es ihr an zwei anderen Fässern nachzuahmen.

Sie hatte sich von Dörthe eine gewöhnliche Arbeitsbluse geborgt, an der die Ärmel fehlten, und nun sah der Pächter, wie ihre vollen Arme vor Anstrengung sich röteten. Ihr Atem umdampfte sie in der kalten Küche wie eine Wolke.

Dem Lauscher fiel wieder jener Abend ein, als er sie allein in ihrer Kammer getroffen, und augenblicklich war seine Freude an dem arbeitsfrohen Bild wie fortgescheucht.

Widerwillig murmelte er etwas vor sich hin, schlug dann mit Geräusch die Stalltür auf und ritt nach einiger Zeit grußlos vom Hof herunter. Als er sich auf der Landstraße noch einmal umwandte, glaubte er Hedwig unter der Tür des Seitenhauses zu erkennen, die ihm nachblickte.

**
*

»Was ißt der Herr gerne?« befragte Hedwig die Obermagd, ehe sie die Molkerei verließ.

Dörthe sann nach. Dann gab sie Kartoffelsuppe an. »Und der Herr hat gestern selbst einen Hasen geschossen. Der hängt noch.«

Hedwig war zufrieden. Sie wollte selbst alles zubereiten. Der taube Krischan wurde ins Dorf nach allerlei Zutaten zum Krämer geschickt.

Er hinkte unlustig vom Hof herunter.

Bewundernd lugten die Obermagd und ihre Untergebenen dem Mädchen nach, als sie eilig dem Hause zuschritt.

»Die versteht’s,« urteilte Dörthe, »schade, daß die Frau nich auch so is.«

Den ganzen Vormittag über revidierte Hedwig das Haus vom Keller bis unter das Dach. Mit Elsens Schlüsseln öffnete sie alle Schränke, zählte nach und legte zurecht, als ob alles ihr gehöre. Ihre Wangen röteten sich dabei vor Vergnügen. Sie erschien sich wie eine Hausfrau, die für Mann und Heim zu sorgen hat.

Dann waltete sie in der Küche. Zuletzt gab sie Dörthe den Auftrag, eine kleine Tanne schlagen zu lassen.

»Ja, aber Fräulen,« meinte die Magd bedenklich, »der Herr will aber keine.«

»Warum denn nicht?«

»Er sagte, weil er so allein is. – Und – dann – unsre Frau fehlt auch.«

»Sagte er das?«

»Ja, so ähnlich sagte er woll.«

Das Mädchen sah einen Augenblick zu Boden. Dann entschied sie lächelnd: »Ich bin ja da – höre, Dörthe, es muß eine recht schöne Tanne sein. – Haben wir etwas zum Putzen?«

»Ne, Fräulen, daß ich nich wüßte.«

»Nun, dann machen wir es uns heute selbst. – Und für euch auch,« setzte sie hinzu. »Christian soll buntes Papier holen.«

»Sie is zu nett,« sprach die Obermagd dankbar hinter ihr her.

**
*

Wilms merkte bei Tisch, daß gerade seine Lieblingsspeisen gewählt seien, und als er sich in seiner ruhigen Weise dafür bedankte, glitt ein heiteres, selbstzufriedenes Lächeln über Hedwigs schönes Gesicht.

Es bereitete ihr Freude, für die Bedürfnisse eines Menschen sorgen zu dürfen, und namentlich für diesen großen, unbeholfenen Mann, dem das Schicksal schon so grausam mitgespielt hatte.

Freundlich plauderten sie wieder über allerlei. Das Mädchen erzählte von ihren Erfahrungen bei der Molkerei. Wilms sagte ihr, daß er ihre Kraft und Energie bewundere. Dann berichtete er von den Geschäften, die er vormittags betrieben.

Es kam ihm ganz selbstverständlich vor, daß er dergleichen mit Hedwig bespräche. Ja, er glaubte, daß ihm noch einmal so gute Eingebungen kämen, wenn sie ihn mit ihren klugen, aufmunternden Augen dazu anblickte.

Nach Tisch führte er sie in den Pferdestall. Hedwig riet ihm dringend, einige von den Tieren zu verkaufen. Es war in den nächsten Tagen gerade Pferdemarkt in Grimmen, und Wilms gestand, daß er selbst etwas Ähnliches geplant habe.

Dann trennten sie sich.

Als der Landmann zum Kaffee erschien, fand er ihren Platz leer. Er fragte mehrfach nach ihr, endlich erfuhr er von Dörthe, die ein geheimnisvolles Gesicht aufsetzte, daß das Fräulein beschäftigt wäre.

Wilms verstand das nicht und trank mit einem merkwürdigen Gefühl seinen Kaffee allein.

Er wollte sich nicht eingestehen, daß er ihre stets dienstbereite Gesellschaft vermisse.

Zum Abendbrot dagegen erschien Hedwig wieder und zeigte sich so aufgeräumt und heiter wie selten. Sie erzählte allerhand lustige Geschichten und Witze und brachte Wilms oft zum Lachen.

Wenn sie etwas Anzügliches vorbrachte, dann sah ihr Gesicht so reizend aus, um ihren vollen Mund zuckte dann oft ein so feiner, liebenswürdig-frecher Zug, daß ihr Gegenüber unwillkürlich mitlachen mußte.

Und so fremd dem Landmann zuerst dies alles war, so stark fühlte er sich bald davon angemutet. Auch er besaß eine Art derben, tiefen Humors, und es dauerte nicht lange, so ging der Pächter gemütlich auf ihre Scherze ein.

Gelassen nickte er, wenn sie ihn mit seiner groben Unbehilflichkeit neckte.

Nur als er seine große Pfeife in Brand setzte und ein paar mächtige Dampfstöße herausjagte, verzog sie die Brauen.

Wilms hörte auf. »Stört es dich?« fragte er bedauernd.

Ungern hätte er auf dieses Vergnügen verzichtet. »Sollte sie etwa dieselbe Abneigung dagegen empfinden wie meine arme Else?« dachte er ein wenig verstimmt. Allein Hedwig zog ihr parfümiertes Taschentuch hervor und während sie sich Luft zufächelte, äußerte sie leichthin: »Bis morgen darfst du so rauchen, lieber Wilms, aber länger nicht.«

»Bis morgen?« dachte Wilms verwundert.

Er verstand sie wieder nicht.

Ferne, langhinhallende Töne mischten sich in ihr Gespräch. Von der Kirche des Hauptgutes, die fast eine Viertelstunde entfernt lag, begannen wiederum die Glocken zu läuten, zum letztenmal vor dem Fest.

Wie ein feiner, verträumter Silberton zog es durch die Luft. Hedwig erhob sich. Sie trat ans Fenster und zog den Vorhang fort.

Draußen weißer, blinkender Schnee, die graue Luft ganz erfüllt von großen Flocken, die langsam und schwer herabfielen. Wie erstarrt schienen die weichen Daunen manchmal im leeren Raum festhalten zu wollen.

Als sie so in das Gestöber hineinblickte, beschlich das Mädchen eine stille Wehmut: »Morgen ist Weihnachten,« sagte sie leise. Nichts regte sich hinter ihr. Keine Antwort wurde laut. Langsam wendete sie sich zurück.

Am Tisch saß Wilms, den schweren Kopf auf die Hand gestützt, und betrachtete das kleine Goldherz, das er vor kurzem gekauft. Eine Träne war auf das Gold gerollt, gerade auf seinen Namen, der dort eingraviert stand.

Jetzt sah er auf:

»In acht Tagen ist sie wieder bei uns,« sagte er weich, als ob er seine schwere Empfindung zurückdrängen wollte.

»Else?« fragte das Mädchen rasch.

»Ja. – Komm, Hedwig – ich will ihr dieses Herz zum Fest schicken. Wir wollen es einpacken.«

Das Mädchen richtete sich auf. Langsam schritt sie zum Tisch, langsam wog sie das kleine Herz in der Hand. Erst als sie den eingeprägten Namen bemerkte, blickte sie ihrem Schwager, der sich ebenfalls erhoben hatte, fest und nachdenklich in die gutmütigen Augen.

»Sie wird sich freuen,« sagte sie schwer und nachdrücklich.

Das Kästchen wurde verschnürt, Wilms schrieb die Adresse, Hedwig trug ihm Licht und Siegellack hinzu. Er drückte das Petschaft darauf.

Mit seltsam starren Blicken verfolgte sie sein Tun. Ein Atom von dem flüssigen Siegellack fiel auf ihre Hand und lag auf der weißen Fläche, wie ein runder Blutstropfen.

»O« – rief Wilms erschreckt, »ich habe dir weh getan.«

»Mir?«

Sie hatte kaum etwas gemerkt.

»Es brennt nicht mehr,« beruhigte sie den Landmann abwehrend.

Gleich darauf nickte sie ihm freundlich zu und ging zur Tür. – Dabei sah sie wohl nicht, daß er ihr die Hand entgegengestreckt hatte, wie er es immer tat, wenn er ihr »Gute Nacht« bot.

Die Tür schloß sich, bevor sie seinen Wunsch vernehmen konnte. Befremdet blickte ihr der Pächter nach. Dann ging er noch lange in dem großen Zimmer auf und nieder, bis er endlich unter das Fenster trat, genau dort, wo Hedwig vorhin gestanden hatte.

Und ebenso, wie sie, spähte er in das lautlose Schneetreiben hinein, er drückte die Stirn an das eisige Glas und regte sich nicht. Dachte er an sein fernes Weib?

Er stellte sich vor, wie sie sich das goldene Herzchen um den weißen abgemagerten Hals schlingen würde, aber während er sich es ausmalte, wurde draußen das Getriebe immer stürmischer, die Flocken wirbelten und balgten sich immer toller – das verwirrte seine Gedanken.

»Was wohl Hedwig sagen würde,« raunte etwas in ihm, »wenn ich ihr morgen das dünne Kettchen um den Nacken legen würde?« Er wollte den Gedanken abschütteln, aber im Geist beugte er sich und küßte sie auf diesen weißen, blühenden Nacken. Und immer heißer und toller braute seine Phantasie. »Ob sie dann wohl die Arme um ihn schlingen und ihren roten Mund zu ihm erheben würde, wie ein liebendes Weib, das sich an den Mann schmiegt?«

Ein irres Lächeln umspielte seine Lippen.

Plötzlich fuhr er auf und brach in ein gewaltsames, schmerzliches Stöhnen aus:

»Jesus Christus – nicht in Versuchung,« stammelte er, »o Gott, nicht in Versuchung.«

Wie im Krampf faltete er die Hände.

Und draußen klangen noch immer die Glocken, bim – bum – bim – bum, feierlich leise, wie Gesang mahnender Geister, welche die Botschaft vom Heiland auch in dies verlassene, im Schnee versunkene Gehöft trugen.


IV.

So war das Fest herangekommen.

Schon am Nachmittag bat Hedwig den Pächter, er möchte das große Wohnzimmer verlassen. Irgend etwas Geheimnisvolles bereite sich vor.

Mürrisch und verdrießlich, wie er sich sonst nie gegen das Mädchen betragen hatte, ging Wilms hierauf aus der Stube, ohne ein Wort und indem er es vermied, sie anzusehen. Jedoch mitten in den Vorbereitungen für den Heiligen Abend fiel Hedwig dies Benehmen nicht sonderlich auf, sie rief ihre getreue Dörthe und arbeitete mit ihr hinter verschlossenen Türen.

Unterdessen saß Wilms in seiner Kammer und schrieb an Else einen Brief. Heiß und dringend flehte er sein Weib an, zurückzukehren, sobald es ihre Gesundheit nur irgendwie gestatte. Er freue sich auf ihre Rückkehr, wie auf ein Fest. Überall fehle sie ihm. Alles erinnerte ihn an sie. Ach, wenn sie doch erst da wäre. – Ganz am Schluß erwähnte er auch Hedwig. Sie führe das Hauswesen zu seiner Zufriedenheit, aber sein armes, geliebtes Weib könne sie natürlich doch nicht ersetzen. Er stockte, da er es schrieb. Das Blut sauste und summte durch alle seine Adern. »Gelogen – gelogen,« tönte es deutlich vor seinen Ohren. Hastig schloß er das Schreiben, und saß dann stundenlang in dem immer dunkler werdenden Raum.

Er wußte, daß Hedwig unten einen Christbaum schmücke. Für seine Leute natürlich, suchte er sich einzureden. Jedoch gleichviel. Bald würde sie nach ihm schicken, damit er teilnehmen solle an der allgemeinen, großen Freude. »Und er sollte dann mit ihr zusammen unter den flimmernden Lichtern stehen?« grübelte er, »und dann allein sein mit dem Mädchen, während der Baum seinen kräftigen Tannengeruch verbreitete und die Flämmchen darauf hell und aufrecht in die Höhe züngelten? Würden dann nicht die aufreizenden Gedanken wiederkehren, die ihn gestern bis zum Wahnsinn gepeinigt? – Nein, nein – nur das nicht mehr. – Wie wäre es, wenn er sich still aus dem Hause schliche und den Abend wo anders zubrächte, vielleicht beim Pastor?«

Wie gehetzt erhob er sich, warf seinen Mantel um und tappte leise über die dunkle Treppe nach unten. Er durchschritt den Hausflur, da öffnete sich die Tür des großen Zimmers, eine Gestalt trat heraus.

Wilms fuhr zusammen und blieb unwillkürlich stehen. Die Dunkelheit verhinderte ein Erkennen.

Unsicher näherte sich Hedwig dem Schweigenden.

»Du willst noch ausgehen, Schwager?«

»Ja.«

»Jetzt?«

»Ja, ich hab’ noch einen notwendigen Gang.«

»Aber doch jetzt nicht,« drängte das Mädchen und faßte leicht seinen Mantel. »Ich wollte dich ja gerade holen; Wilms, du wirst uns doch am Heiligen Abend nicht allein lassen?«

Der Pächter wand sich hin und her, je mehr sie ihn bat, desto qualvoller glaubte er sich gefoltert: »Mir macht das ja aber alles keine Freude, Hedwig,« brachte er hervor. »Mich peinigt das geradezu.«

»O – nein, nein,« widersprach sie und ergriff seine Hand.

Das verwirrte ihn immer heftiger.

»Hedwig, ich kann’s nicht mehr mit ansehen, wenn andere sich freuen und ich allein davon ausgeschlossen sein soll. Laß mich lieber fort, mein Kind, ich will –«

Aber sie hielt ihn noch. Fest lag ihre Hand in der seinen.

»Dazu bist du ja viel zu gut,« sagte sie weich und mitleidig, wie selten ein Mensch zu dem Unglücklichen gesprochen. »Willst du mir denn auch die ganze Freude rauben?«

»Dir auch?«

»Ja natürlich – für dich haben wir doch den Baum geputzt.« Immer noch ruhte ihre Hand in der seinigen, jedoch mit der anderen riß sie jetzt hastig die Tür auf.

Ein breiter, strahlender Lichtschein fiel auf den dunklen Flur und übergoß das eng beieinanderstehende Paar mit seiner Helle.

Groß, dunkelgrün, mit weithin reichenden Zweigen stand der Tannenbaum mitten in der Stube, bunte Papierketten ringelten sich von Ast zu Ast, unzählige Wachskerzen flimmerten, und hinter ihm harrten die Leute des Gehöfts, Männer und Frauen, alle sonntäglich gekleidet, daß der Herr des Hauses das Fest mit ihnen begehen solle. Ganz vorn vor dem Baum aber hatte Hedwig zwei kleine Mädchen aufgestellt, Kinder, die Hofleuten gehörten. Sie hielten rote Papierrosen in den Händen und sangen mit schwachen Stimmen ein Liedchen, das mit den Worten schloß:

»Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Als sie ausgesungen hatten und Wilms in den Lichterglanz hineinsah und in die erwartungsvoll-feierlichen Gesichter seiner Leute, da hielt er sich nicht länger, er legte langsam die Hand vor die Augen und weinte bitterlich.

Und die Hofleute nickten einander zu und stießen sich heimlich an, als wüßten sie, was ihren Herrn bedrücke.

Aber nur wenige Sekunden ließ sich Wilms so übermannen. Dann richtete er sich auf und sah auf das Mädchen, das alles nur für ihn angeordnet hatte. Das Licht flutete über ihre braunen Haare, ihre großen Augen hingen fest und fragend an den seinigen. Sie stand noch immer dicht neben ihm.

»Ich dank’ dir, Hedwig,« sagte er einfach und preßte ihre Hand mit verzweiflungsvoller Glut. »So schön haben wir in Wilmshus Weihnachten noch nie gefeiert.« Er ließ sie voranschreiten und folgte ihr dann in die Stube.

Freudig erregt saß der Pächter nachher in seiner Sofaecke und verfolgte Hedwig, wie sie jedem der Hofangehörigen ein kleines Geldgeschenk überreichte, das Wilms für seine Leute bestimmt hatte, und für sich selbst außerdem noch eine Aufmerksamkeit hinzufügte. Dörthe bekam eine Schürze, der alte Krischan einen Tabaksbeutel, die beiden kleinen Mädchen küßte Hedwig und band ihnen seidene Halstücher um.

Hierauf allgemeines Knixen und Handschütteln.

»Ich dank’ auch, Herr – schönen Dank auch, Fräulen – ne es is auch gar zu viel – so was hätt’ ich mich nich vermutet – Herrje und was die Leinwand schön is.«

Damit entfernten sich die Leute und Hedwig ging mit ihnen.

Wieder saß der Pächter allein und blickte träumerisch in die ruhig brennenden Lichter hinüber.

Da flog die Tür noch einmal auf: »Julklapp,« rief es und dann noch zweimal »Julklapp – Julklapp.«

Drei Pakete polterten in das Zimmer, und da nur Hedwig so frisch und hell rufen konnte, so wußte der Landmann, daß die drei Geschenke für ihn bestimmt seien. Er wartete, ob Hedwig nicht wieder zurückkehren würde, aber als er allein blieb, öffnete er die Schachteln. In der ersten fand er eine Kiste feiner Zigarren, sodann eine Meerschaumspitze, in der letzten endlich einen ledernen Bilderrahmen, auf dem mit Seide ein Kranz blauer Veilchen gestickt war. Ein Zettel war mit einer Stecknadel daran befestigt, darauf stand »von Else«.

War es möglich?

Behutsam nahm der Landmann den Rahmen in die Hand. Und diesen wundervollen leuchtenden Kranz sollte sein armes Weib mit ihren zitternden Fingern hergestellt haben? Ein Zweifel beschlich ihn.

Aber wer sonst?

Hinter ihm näherte sich etwas, ein leises Knistern wurde hörbar, Wilms kehrte sich um und sah in das liebenswürdige Gesicht Hedwigs.

Er hob die Stickerei in die Höhe und fragte erregt: »Wirklich von Else?«

Ein Schatten flog über die Stirn des Mädchens, aber sie bejahte. Allein den Ungläubigen überzeugte sie nicht.

»Hedwig – ich glaub’s nicht – Else hat ja so feine Arbeit gar nicht gelernt – nicht wahr – du – von dir?«

Wieder schüttelte sie leise das Haupt.

»So sag’s doch,« rief er dringend.

Endlich gab sie es zu: »Nun ja, es ist von mir,« gestand sie, »Else wollte dir gern etwas Derartiges anfertigen, aber sie vermochte es noch nicht. Da habe ich es übernommen.«

»Also auch von dir?« murmelte der Pächter mit zitternder Stimme. Eine Weile stand er in Gedanken versunken unter dem leuchtenden Baum; ohne ein Wort des Dankes zu sprechen. »Und ich,« überlegte er bei sich, »ich habe gar nicht daran gedacht, diesem lieben, reizenden Geschöpf eine kleine Freude zu bereiten. Mit leeren Händen steh’ ich vor ihr, als gehörte sie gar nicht in mein Haus! Während sie –«

Es überlief ihn heiß und kalt. Vor Beschämung wagte er gar nicht die Augen zu erheben. Langsam und beklommen drängte es sich über seine Lippen.

»Und die Zigarren und die Spitze, Hedwig, von wem sind die?«

Aus ihren Augen sprühte ein spitzbübischer Funke, um ihren Mund flog ein schelmischer Zug. – Die seltsame Unbehilflichkeit des Mannes ergötzte sie.

»Von wem sie sind? – Wer weiß?«

Sie zuckte die Achseln, aber als sein verstörtes Antlitz sie darüber belehrte, daß er sich härmte und litt, tat es ihr leid, diese verschlossene Natur, deren tiefes Gemüt sie immer stärker und gewaltiger anzog, verletzt zu haben.

Die Lichter brannten noch immer, es war so gemütlich im Zimmer, tiefe Stille umgab die beiden.

Wilms fuhr auf. Er hatte in seinem Hinbrüten nicht bemerkt, wie das schöne Mädchen, nachdem sie lange auf ein Dankeswort geharrt, sich enttäuscht abgewendet und an das Klavier gesetzt hatte.

Sie spielte jetzt. Ganz leise klang unter ihren Fingern ein altes Kinderlied, das sie variierte und umbildete.

»Schlaf, Kindchen, schlaf.«

Der Bauer horchte hoch auf. Wie weich das tönte, wie wenn eine Mutter ihr unruhiges Kind einwiegt. Ja, und dasselbe hatte ja auch seine Mutter ihm vorgesungen. Eine arme Fischersfrau in der Katenhütte am Strand. Ach er sehnte sich so nach Ruhe, sein Herz war müde und wollte schlafen, so traumlos wie damals in Mutters Schoß.

Hedwig spielte immer ernster und gewaltiger. Alle Saiten brausten, wie ein Choral tönte es jetzt, das alte Lied.

Der Pächter schauerte, unwillkürlich fiel sein Blick auf einen einfachen Silberring, den er seiner sterbenden Mutter vom Finger gezogen und seitdem an der Uhrkette trug. Verstohlen küßte er den Reif und trat hinter Hedwigs Stuhl.

Und das Brausen und Donnern löste sich, der gewaltige Orgelton verlor sich in der Ferne, wie ein süßer, gestammelter Kindergruß klang es aus.

Noch spielte sie die letzten ersterbenden Töne, da fühlte sie, wie Wilms seine Hand auf ihr Haupt legte und leise ihr Haar streichelte. – Sachte, sachte, eine scheue, zaghafte Liebkosung.

Sofort brach das Spiel ab, aber sie hob die langen Wimpern nicht auf.

Noch einmal fuhr er ihr leicht über die Flechten, dann – ihr stockte das Herz – dann fühlte sie, wie er ihre Hand ergriff und sanft einen silbernen Ring an ihren Finger schob.

»Da, Heting,« sprach er weich, »du hast so schön gespielt – ich schenk’ ihn dir – er is von meiner Mutter.«

Sie zuckte krampfhaft zusammen, blickte mit ihren braunen, ernsten Augen zu ihm empor und wollte etwas erwidern, aber die Zunge war ihr wie gelähmt. Nur eine düsterrote Glut stieg ihr langsam über Hals und Wangen.

Da wurde plötzlich seine Hand, die noch liebkosend auf ihren Haaren ruhte, drückend und schwer, als ob sie sich in Eisen verwandele.

Hedwig hätte aufschreien mögen, so schmerzte es sie.

»Was ist dir, Schwager?«

Oh, es bedeutete nur eine Kleinigkeit, fast gar nichts; es war nur unheimlich, die hervorquillenden Augen zu sehen, die unverwandt auf das Bett starrten. Ganz zufällig war der Blick des Pächters über das reinlich zugedeckte Lager geglitten und da, – da wurde eben seine Hand so schwer, als würde sie Eisen.

In dem Bett lag Else, schattenhaft, abgemagert, blaß und streckte die Arme nach dem Manne aus, der ihre Schwester streichelte.

»Wilms,« rief Hedwig entsetzt und sprang auf. Ihre kräftige Stimme verscheuchte den Spuk.

»Ja, ja – Hedwig – willst du etwas?«

»Um Gottes willen, Schwager – was ist dir? – fühlst du dich krank?«

»Nein – ich? bewahre – mir war nur so – seltsam. – Ich glaubte – es ist lächerlich – mir kam es vor, als läge Else mit einemmal dort drüben in ihrem Bett,« murmelte er einfach, und doch mit hervorbrechendem inneren Entsetzen.

»Else?« stammelte das Mädchen.

Beide starrten sich an, beide versuchten ein Lächeln zu erzwingen, aber die Furcht schüttelte sie, wie wenn ein kaltes, graues Gespenst zwischen ihnen stände.

Das war das erstemal, daß es sie auseinander trieb.

Der Landmann faßte sich zuerst. »Wollen ein Ende für heute machen,« ermannte er sich kurz – »es ist schon spät – gute Nacht, mein Kind.«

Sie reichten sich wie immer die Hände. Die Finger des Mädchens waren eiskalt. Dann trat Wilms an den Baum und löschte die Lichter aus.

Es wurde immer dunkler und dunkler, gleichgültig sah Hedwig zu, wie ein Flämmchen nach dem anderen unter seinen Fingern erstarb, zuletzt brannten nur noch die Kerzen zu beiden Seiten des Instrumentes.

»Gute Nacht,« murmelte Wilms noch einmal, dann hatte er das Zimmer hastig verlassen.

Hedwig war es, als müßte sie ihm nacheilen, sich in seine Arme werfen und Schutz suchen, Hilfe gegen die Traumgestalt dort in dem Bette, das auch sie jetzt aufnehmen sollte.

Wenn sie das Phantom dann ebenfalls bemerkte, wenn es neben ihr läge und sie mit dürren, weißen Armen umfing, um sie zu würgen!

»Warum?«

»Weil du denselben Mann begehrst, der mir gehört – mir.«

Einen leisen Angstschrei stieß Hedwig aus.

»Gib mir den Ring,« klagte es neben ihr weiter. »Er gebührt dir nicht!«

»Licht – Licht.«

Mit zitternden Händen entzündete Hedwig die große Stehlampe und blickte sich um. Rings lag alles friedlich und still, alles in den traulichen Schein der Lampe getaucht. Jetzt lächelte Hedwig und setzte sich an den Tisch, aber es war ein müdes, herzzerreißendes Lächeln, und als das Mädchen den Reif an ihrem Finger fühlte, war es ihr, als ob er sie stäche.

»Weißes Silber bedeutet Tränen, sagen die Leute,« dachte sie.

Ermattet schritt sie wieder zum Klavier und ließ noch einmal die Finger über die Tasten eilen. Leise drangen die Töne durch das Haus, und Wilms, der oben in seinem Bett den Kopf gegen die Wand preßte und den Schlummer herbeiflehte – ihn umschmeichelte plötzlich die liebe, alte Melodie, das Lied, mit dem ihn seine Mutter schon eingesungen hatte:

»Schlaf, Kindchen, schlaf.«

Aber es hatte seine Zauberwirkung verloren. Er fand keine Ruhe mehr, sondern dachte unausgesetzt an das wunderbare, schöne Weib, dem er den Silberring geschenkt.

So endete der Weihnachtsabend in Wilmshus.


V.

»Komm, Hedwig – willst du nicht mit in die Kirche?« fragte am nächsten Morgen der Pächter, indem er im Sonntagsrock, das Gesangbuch unter dem Arm, in das Wohnzimmer trat, in welchem Hedwig vor dem Fenster saß und las.

Die Gefragte blickte auf. Sie sah heute abgespannt und blaß aus, und auch der Pächter mißfiel ihr in seinem langen, schwarzen Gehrock. Die Tracht ließ ihn altfränkisch, kleinbürgerlich erscheinen. – Früher, in dem Pensionat würde Hedwig über eine solche Figur gelacht haben.

Was war nur aus ihr geworden?

»Guten Morgen, Hedwig, willst du mich nicht in die Kirche begleiten?« wiederholte der Landmann dringender. Ihm erschien der Kirchgang am ersten Feiertag als selbstverständlich.

Hedwig schwieg, drehte an dem Reif, den er ihr gestern geschenkt, und lehnte dann seine Aufforderung mit kurzen Worten ab.

»Du willst nicht?« stotterte Wilms, als wenn er es nicht glauben könne.

Das Mädchen tippte auf ihr Buch und schüttelte den Kopf. »Geh nur allein, Schwager. In der Kirche ist es mir zu voll. Die vielen Leute stören mich dort.«

»Stören dich?«

»Auch kann ich keine vorgeschriebenen Gebete absagen, weißt du, der Gott, an den ich glaube, der kümmert sich um das Singen gar nicht.«

Verständnislos, mit weitaufgerissenen Augen starrte sie der Pächter an. Eine tiefe Trauer zog allmählich über sein ehrliches Gesicht. – Sie war so schön, wenn sie so heftig sprach, der kleine volle Mund zuckte so trotzig dabei. Schwer seufzte der Landmann auf und erwiderte kleinlaut:

»Ich hab’ dir das Gesangbuch meiner Frau mitgebracht – – ich wußte ja nicht, daß du – daß du so gesonnen bist – – und also –« er drehte das kleine Buch hin und her, »du begleitest mich also nicht?«

Es sprach soviel schwermütige Bitte daraus, daß Hedwigs Herz unwillkürlich schneller schlug. Aber ein Blick auf den altväterlichen Bratenrock und das abgegriffene Gebetbuch stimmte sie wieder um.

Ihre heftig brennende Neigung kam ihr plötzlich wie ein Traum vor. Nach Liebe sehnte sie sich, nach Sturm und Trotz gegen den Mann, nach irgend etwas, was sie noch nicht kannte, – und nun dieser schwarzgekleidete, unbehilfliche Mann mit seiner Atmosphäre von dumpfer Kirchenluft.

Sie erwachte förmlich. Die Stunde in dem Pensionsstübchen fiel ihr ein, – und – –

»Nein, ich gehe nicht,« entschied sie entschlossen.

Wilms nickte und ließ noch einmal seine blauen Augen voll auf ihr ruhen. »Wie du willst. – Dann ruh’ dich hier aus, Heting. Und wenn ich wiederkomm’, singst du wieder so schön wie gestern.«

Er konnte ihr Erröten nicht mehr wahrnehmen, ebenso wenig wie die heftige Bewegung, als wenn sie ihn dennoch zurückhalten wolle.

Langsam schritt er über den Hof in den klaren Wintertag hinein, während das Mädchen ihm durch das Fenster ernst und düster nachschaute.

In der Kirche von Boltenhagen, zwischen den hohen Eichenstühlen blieb ein Platz neben Wilms frei. Hier hatte Else früher gesessen, und der Pächter hatte es sich reizend ausgemalt, heute am hohen Festtag diesen Raum von Hedwig eingenommen zu sehen.

Wie silberhell würde ihre Stimme, die ihm gestern abend das ganze Herz gerührt hatte, wohl geklungen haben, wenn sie beide zusammen, Haupt an Haupt, aus dem kleinen Büchlein die Psalmen verfolgt hätten. Und nun – – – die Orgel rauschte, die Gemeinde stimmte ein, aber Wilms Lippen bewegten sich nur mechanisch, er dachte immerfort an das schöne, junge Geschöpf daheim, das an dem Christenglauben keine Freude fand.

Er wunderte sich, warum er nicht ungehalten auf sie sein konnte, warum sich nicht zwischen dem Frommen und ihr, der Gottlosen, eine noch höhere Scheidewand aufrichte – aber seltsam, auch ihn erbaute heute der Dienst des Herrn nicht, keine Tröstung fand er in den Worten des kleinen Pastor Schirmer, immer wieder beschäftigten sich seine Gedanken mit dem Mädchen, er empfand eine heftige Sehnsucht nach ihr und verstand es nicht, warum er nicht bei ihr geblieben sei. Und doch brauste die Orgel so herrlich und doch feierte man die Geburt des Herrn.

Er entsetzte sich. Er dachte schon ganz mit ihren Gedanken. Er besaß auch keinen Gott mehr, nur ein Weib, das er umfassen und küssen und immer wieder küssen wollte, sein Heiland war ein Mädchen, das ihn fortlockte, fort zu Lust und Leben und Arbeit.

»Wirf die Last von dir,« zuckte es durch seine Sinne.

Hatte es der Pastor gesprochen? – War es ein Bibelwort? – Er wußte es nicht.

**
*

Als Wilms seine Schwägerin verlassen hatte, war Hedwig noch einige Zeit regungslos am Fenster sitzen geblieben. Bald betrachtete sie den schmalen, silbernen Reif an ihrem Finger, bald sah sie sich erstaunt in dem weiten Zimmer um, als begriffe sie gar nicht, wer sie hierher versetzt hätte. Ihr war plötzlich alles zu eng und dumpf. Die entsetzliche Angst von gestern drückte noch auf ihr Gemüt, ihr dämmerte es, als wäre sie bis jetzt von einem häßlichen Zauberschlaf umsponnen worden.

»Luft – Licht.«

Sie spähte an sich herunter. Das einfache, schwarze Kleid kam ihr ärmlich vor.

Was war nur in der Zwischenzeit aus ihr geworden? Draußen blitzte und funkelte die Landschaft. – Die dickbeschneiten Bäume der Straße sahen wie ungeheure, weiße Korallen aus.

Das Mädchen befiel ein ungestümer, heißer Drang, dort draußen hinzustürmen, sich auszutummeln, ihre frische, schwellende Kraft zu betätigen. Ja, sie wollte ebenfalls das Fest begehen. Es war ja ein kleiner winziger Schlitten im Hause. Den selbst lenken und dann hinfliegen auf der glatten Bahn, das würde sie wieder gesund machen.

Kaum gedacht, war sie in ihr enges, kleidsames Pelzjäckchen geschlüpft, hatte sich ihr keckes Barett aufgesetzt und lief jetzt über den einsamen, menschenverlassenen Hof.

»Ich glaube, ich bin ganz allein in diesem frommen Hause.«

Jedoch sie täuschte sich.

Vor dem Stall saß der alte Krischan, der Zauberer des Hofes, und zitterte vor Frost oder vor Schwäche. Neben ihm hielt der Rabe seinen beständigen Schlaf und zitterte ebenfalls.

Hedwig war dieses Paar von Anfang an unsympathisch.

»Alterchen,« befahl sie, »holen Sie mir mal den Schlitten aus dem Stall und das braune Handpferd dazu.«

Der Alte erwachte aus seinem Schlummer und grinste sie an.

»Willen dat Fräulen utführen?« hustete er.

»Ja, und nun schnell.«

Allein der Greis hatte nicht gehört, oder wollte den Befehl nicht ausführen. Langsam schlich er zur Seite und schüttelte den Kopf.

Das Mädchen blickte ihn an: »Was soll das heißen? Haben Sie mich denn nicht verstanden?«

Der Alte schüttelte wieder und steckte die Hände in die Hosentaschen. Dann begann er von neuem zu zittern, wie ein Knochengerüst, das im Winde klappert.

Ein widerwärtiger Anblick.

Hedwig stieg das Blut ins Gesicht, sie trat dicht an den häßlichen Alten heran und sagte scharf und bestimmt:

»Christian, es wird Zeit, daß Sie vom Hof herunter und in das Gemeindehaus kommen. – Verstehen Sie mich? Hier können Sie nichts mehr leisten, dort dagegen können Sie sich ausruhen. – Mein Schwager wird Sie beköstigen. Wollen Sie?«

Ganz genau hatte der Alte verstanden. Er zitterte, kaute weiter und murmelte gelassen:

»Ick bliew hier. Se sünd nich de Fru. Se hewwen hier nix tau seggen.«

»Was?« entgegnete Hedwig erblassend, »das wird sich finden.« Mit schnellem Atem betrat sie den Stall, wo sie einen Hofjungen fand, der sein flachsblondes Haupt an die Krippe lehnte und eingeschlafen war. Sie rief ihn an und mit seiner Hilfe war der kleine, blaue Schlitten bald herausgehoben und mit dem schönen braunen Pferde bespannt.

Hedwig setzte sich hinein.

»Aber der Kutscher is in die Kirche,« meinte der Junge.

»Schadet nicht – ich fahre allein – adieu!«

Sie hieb mit der Peitsche zu, der Braune, ein Renner mit halbenglischem Blut, machte einen Seitensprung und flog mit ihr vom Hofe herunter.

Windschnell ging es über die weiße Landstraße. Die kleinen Schlittenglocken klangen und klingelten, ringsum war keine Menschenseele zu erspähen, alle hatten die Kirche aufgesucht, nur sie, sie allein genoß jetzt die weiße, blitzende Landschaft.

Wie ihre Wangen sich röteten, wie die Augen vor Lust und Freude blitzten. Die letzten, dumpfen Wochen waren vergessen, das war wieder die Hedwig von ehemals.

Als sie bei der Kirche von Boltenhagen vorbeiglitt, kamen die Gläubigen gerade heraus, der ganze Platz wimmelte von festlich gekleideten Männern und Frauen. Ihr war es auch, als hätte sie auf der Portaltreppe ihren Schwager erkannt, der in seinem langen, schwarzen Rock und seinem wolligen Zylinder auf den Stufen stand und nach dem Gespann hinübersah.

Hui! Ein neuer Schlag traf den Braunen, so daß das kleine Gefährt wie ein Gedanke vorüberschoß. Sie wollte einmal allein sein, alles vergessen, alles abschütteln.

»War sie’s? – War sie’s nicht?« dachte Wilms und strengte seine Augen aufs äußerste an. »Nein, sie hat ja auch versprochen, mich zu erwarten,« beruhigte er sich dann. Die Sehnsucht von vorhin ergriff ihn immer heftiger. Mächtig schritt er aus, um heimzugelangen.

Währenddem war Hedwig auf freies Feld gelangt. Wie ein ungeheures, erstarrtes Meer dehnte es sich zu beiden Seiten der Chaussee, die Grenzbüsche und die kleinen eisbereiften Tannenschläge schienen enorme Sturzwellen, die in der Höhe festgebannt waren. Nur leichte Schaumflocken trieb der Wind manchmal ab.

Tief aufatmend fuhr Hedwig dahin und gönnte ihrem dampfenden Braunen jetzt größere Ruhe. Und Schritt vor Schritt, manchmal mit lautem Wiehern, zog das Tier den Schlitten durch den tiefen Schnee, wohl zwei Meilen Wegs, bis sie ein winziges an der Landstraße liegendes Gasthaus erreicht hatten, das man in dortiger Gegend »Krug« nennt.

Hier warf das Mädchen dem Braunen eine Decke über, stieg ab und betrat die niedrige weißgetünchte Gaststube. Ein kolossaler Kachelofen verbreitete hier eine enorme Hitze. Ein derber, weißgescheuerter Kieferntisch stand vor dem Fenster, ein paar ungefüge Stühle davor, sonst bildeten nur noch ein schwarzes, fettglänzendes Ledersofa und mehrere Öldruckbilder, welche glückliche Familienszenen darstellten, das Meublement der verlassenen Gaststube.

Und verödet blieb sie noch eine Weile. Hätte nicht eine unsichtbare Klingel bei Hedwigs Eintritt hell geläutet, die Krugwirte würden überhaupt nichts von ihrem Besuch erfahren haben.

So jedoch erschien nach einiger Zeit ein kleines blasses Weib, an deren Röcken sich zwei Kinder festklammerten, während es ein drittes, einen Säugling, auf dem Arm trug, und versprach, auf Hedwigs Wunsch, ein Glas Milch zu bringen.

Hedwig ließ sich an dem weißgescheuerten Tisch nieder, streifte sich die Handschuhe ab und sah durch das kleine pappgeflickte Fenster der Gaststube auf das blinkende Feld hinüber.

Draußen stand ihr Brauner, schüttelte sich und wieherte laut.

Das gab ihren Gedanken die Richtung.

»Am besten wär’s,« überlegte sie sich, »ich bestieg wieder den Schlitten, und dann rasch, weit fort von hier in die Stadt und von dort wieder weiter, viel weiter, wo ich nichts mehr höre von alledem, was ich hier zurückgelassen. O, es wäre so gut, wenn ich jetzt ginge, bevor – ja bevor irgend etwas Schlechtes sich ereignet. Denn kommen wird es. Ich weiß nicht weshalb, aber es ist alles so ungesund in Wilmshus, so ansteckend, ich wünschte, ich wäre nie dort eingekehrt. – Warum mir das heut wohl gerade einfällt?«

Sie stützte den Kopf in beide Hände und saß eine Zeitlang regungslos. Das eiserne Blech vor dem Ofen knackte und bog sich regelmäßig hin und her. Durch den Hausflur schallten streitende Stimmen hinein. Hinten auf dem Hof des Hauses schienen mehrere Männer miteinander zu sprechen.

Das Mädchen regte sich. Sie war also nicht allein hier? Auch brachte die Krugwirtin das Verlangte noch immer nicht. Sie wurde ungeduldig. Endlich erschien das blasse Weib wieder und stellte einen Seidel frische Milch vor ihrem Gast nieder. Hedwig erkundigte sich, ob sie noch andere Gäste beherberge.

»Nein, Fräulein, mein Mann hat bloß Besuch. Wir woll’n Pferd verkaufen.«

Damit ging sie wieder hinaus.

Aber während Hedwig an dem Glase nippte, wurde draußen wiederum die Flurtür geöffnet, und das Mädchen hörte eine kräftige Männerstimme sprechen.

Sie griff nach ihren Handschuhen und horchte. Allein sie vernahm nichts mehr. Das laute Gespräch hatte sich wieder verloren. Dennoch wurde sie von einer merkwürdigen Unruhe ergriffen. Sie wollte aufbrechen. Rasch schritt sie zur Tür und rief die Wirtin: die erschien auch bereitwilligst mit ihrem Säugling auf dem Arm und wischte mit einem Tuch den Tisch sauber.

»Nun, ist das Pferd schon verkauft?« fragte Hedwig.

»Ja, sie sind woll schon einig.«

»Wer ist denn der Käufer?«

»Je, ich kenn’ ihm auch nich. Mein Mann sagt ja woll ›Herr Graf‹ zu ihm.«

»Graf?« stotterte die andere erblassend, »vielleicht Graf Brachwitz?«

»Ja, so kann er woll heißen,« antwortete die Wirtin gleichgültig und trocknete sich die Hand ab, um die Bezahlung entgegenzunehmen.

»Hier, liebe Frau, hier haben Sie – – hier haben Sie.« Hedwigs Bewegungen wurden immer hastiger. Vergeblich durchwühlte sie ihre Taschen, ohne jedoch ihr Portemonnaie finden zu können. Wahrscheinlich hatte sie bei ihrer eiligen Ausfahrt überhaupt vergessen, Geld zu sich zu stecken.

»Na, das schad’t ja nich,« tröstete die Krugwirtin verwundert, »das Fräulein schickt mich’s dann.«

»Ja, ja, ich schicke es Ihnen.«

Nur noch das Barett aufgesetzt, das sie abgelegt hatte, und sie konnte hinauseilen. Mit hastigen Fingern rückte sie es sich zurecht, da schallten Tritte den Flur entlang, und gleichzeitig sah Hedwig durch das Fenster, wie der Krugwirt ein gesatteltes Reitpferd dicht neben ihren Schlitten hinausführte.

Jetzt hoffte das Mädchen nur noch, daß der Mann, dem das Roß dort draußen gehörte, an der geschlossenen Tür der Gaststube vorübergehen würde. Aber das Schicksal wollte es anders. Die Tür wurde aufgemacht, ein schlanker Mann, in grauem Wams und Pelzmütze, guckte herein und rief gutmütig:

»Sie, Frau Wirtin, ich hab’ doch noch die paar Taler zugelegt – wir sind jetzt einig. Aber wehe Ihnen, wenn’s nicht wirklich eine Whalebonestute ist. – Na, guten – – –«

»Morgen,« wollte er sagen, indessen mitten im Wort fiel sein Blick auf die Dame, die ihm zuvor den Rücken wandte, deren Gestalt ihm aber so einzig vorkam, daß er sie sofort erkannte. Da erblaßte auch er und verlor die Herrschaft über sich. Allerlei Entschlüsse fuhren ihm wild durcheinander. Sollte er nicht lieber einfach aufbrechen? Oder wollte er es doch noch einmal wagen, vor das schöne Mädchen, das er so beleidigt hatte, hinzutreten?

Wenn sie ihm nun vor der Krugwirtin die Tür wies?

Er starrte ungewiß auf sie hin und merkte, daß über ihre abgewandte Figur ein Zittern lief, als wenn sie ebenfalls mit sich kämpfe. Plötzlich kehrte sie sich hastig um. »Wie gesagt, ich habe das Geld vergessen – ja, ich – ich schicke es Ihnen aber, liebe Frau,« brachte sie verworren hervor, um nur irgend etwas zu äußern, und schritt rasch auf die Tür zu, auf deren Schwelle ihr Bedränger von ehemals noch immer verharrte.

Sie blickte nicht auf. Jedoch in ihrer ganzen Art drückte sich soviel Trotz, Kraft und Selbstbewußtsein aus, sie war in ihrer Verwirrung so eigenartig schön, daß Brachwitz vollkommen überwältigt zurücktrat und die Mütze vom Kopf riß.

»Guten Morgen,« murmelte er mit einer respektvollen Verbeugung, während sie an ihm vorüberschritt.

Sie neigte unmerklich das Haupt, und flog dann auf die Landstraße hinaus. Dort hatte der Krugwirt ihrem Braunen einen Futtertrog umgehängt, und hielt nun den Rappen seines vornehmen Gastes, so daß er dem Mädchen nicht behilflich sein konnte, ihr Tier von der umgehängten Blechbüchse wieder zu befreien.

Sie stampfte vor Ungeduld mit den Füßen, in der Eile überhastete sie alles. Auch die Decke konnte sie nicht schnell genug zusammenfalten.

Am liebsten wäre sie zu Fuß durch den Schnee davongerannt.

Der junge Graf Brachwitz stand unterdessen auf den niedrigen Stufen des Gasthauses und beobachtete das Treiben des Mädchens eine Zeitlang gespannt. Dann strich er unmutig seinen Schnurrbart. Es tat ihm ehrlich leid, daß Hedwig eine so schlechte Meinung von ihm hatte, und er verwünschte sein ungestümes Blut, das ihn damals zu dem offenbaren Frevel gegen sie getrieben. Entschlossen sprang er zu Hedwigs Braunem, nahm unbeirrt von ihrem Zurückweichen dem Tiere den Trog ab, dann faltete er die Decke und trat höflich an den Schlitten, den Hedwig inzwischen ratlos bestiegen hatte.

»Darf ich die Decke hier hereinlegen?« murmelte er kleinlaut.

Sie nickte und wandte sich ab, als er ihr den wollenen Fries leicht über die Füße warf.

»Keinen Kutscher?« fragte er dann erstaunt, während er ihr die Zügel in die Hände gab.

»Nein,« versetzte sie fest, »ich fahre selbst.«

Sie hob die Peitsche.

Allein bevor der Braune anzog, war Brachwitz auf die Schwelle des Schlittens getreten. »Ich möchte Sie bitten – gnädiges Fräulein, daß Sie mir die Zügel überlassen,« bat er leise und verwirrt.

Der Ton war ehrlich, die Anrede ehrerbietig.

Hedwig wandte ihre großen, braunen Augen auf den hübschen Menschen. Ihr Blick war seltsam. Es schien, als wollte sie sein ganzes Wesen lesen. Und nach kurzer Frist sagte sie kurz und herb, jedoch mit zitternder Stimme:

»Treten Sie dort herunter, Herr von Brachwitz, ich muß Ihre Begleitung bestimmt ablehnen. – Ein für allemal.«

»Ein für allemal?« wiederholte er.

»Vorwärts!«

Wiederum hob sie die Peitsche, aber die Hand des Grafen legte sich sanft auf den Griff.

Hedwig fuhr zusammen und richtete sich schwer atmend auf.

»Liebes Fräulein,« bat er dringend, »ich bitte Sie – bitte Sie von Herzen – hören Sie mich doch nur ein paar Minuten an. Sie wissen ja gar nicht, wieviel mir daran liegt, mich vor Ihnen zu – – nun ja, zu rechtfertigen. Darf ich denn nicht, wenn Sie mich nicht bei sich im Schlitten dulden wollen, wenigstens nebenher gehen, natürlich nur so lange es Ihnen gefällt, langsam zu fahren? – Ich möchte doch gar zu gern Ihre Verzeihung erhalten, darf ich?«

Er ergriff die Zügel seines Pferdes, und da Hedwig nichts antwortete, so hielt er es für Zustimmung und schämte sich nicht, zu Fuß neben dem langsam gleitenden Schlitten herzuschreiten und sein Tier mit sich zu führen.

Hedwig selbst kam es wie eine Art Bußwanderung vor, als wenn der junge Mann, der sie so beleidigt hatte, sich allein demütigen wollte. Mit Interesse blickte sie auf ihn hin. In demselben Moment aber fiel ihr ein, wie heiß und wahnsinnig dieser fremde Mensch sie schon einmal geküßt hatte. Das empörte sie plötzlich wieder so ungestüm, daß sie der Szene ein Ende zu machen beschloß.

»Was wollen Sie also von mir?« forschte sie hart.

»Endlich Ihre Verzeihung erlangen,« erwiderte der Graf treuherzig. – »Ich schäme mich aufrichtig, daß ich so häßlich gegen Sie gehandelt habe; Fräulein Hedwig – gnädiges Fräulein, wollen Sie mir nicht die Versicherung geben, daß Sie mir nicht mehr zürnen?«

»Ja, das will ich. Aber unter der Bedingung, daß damit unsere Unterredung zu Ende ist, und sich unsere Wege nie mehr kreuzen.«

»Nie mehr?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Das wissen Sie doch – weil es zwecklos wäre, Herr Graf.«

Sein dunkles Gesicht färbte sich höher, er sah sie voll an und empfand wieder ihre Schönheit. Leicht seufzte er auf und legte die eine Hand auf die Lehne des Schlittens.

»Sie haben recht,« gab er endlich in sich gekehrt zu, und über seine frischen, offnen Züge legte sich ein Schatten. »Ach, Unsinn, Fräulein Hedwig, ich muß es Ihnen einmal sagen, wir wollen ehrlich miteinander handeln. Es ist tatsächlich zwecklos. Obgleich ich Ihnen wirklich gut war – nein, werden Sie mir nicht böse, Ihnen war ich wirklich gut, wenn ich Sie auch in meiner Tollheit geradezu mißhandelt habe, ich unterschätzte Sie vielleicht – – aber das ist es nicht allein –«

»Nun, aber?« fragte das Mädchen hastig. Ihr Herz klopfte. Unvermittelt blitzte es ihr auf, als ob dieser junge Aristokrat, der ihr eben so treuherzig seine Liebe gestand, die Hände ausstrecken würde, um sie vor dem Fall zu bewahren, den sie ahnte. »Nun, aber?« kam es zitternd über ihre Lippen. »Was wollen Sie mir noch mitteilen?«

Sie wußte jetzt, sie liebte ihn nicht, aber sie wollte gerettet werden.

»Aber,« murmelte er widerwillig und riß an dem Zügel seines Pferdes – »man hat mich da vorige Woche in der Hauptstadt verlobt.«

»Sie?«

Sie rief es beinahe entsetzt. Alles Blut entwich ihren Wangen. Und doch durchschauerte sie es nur deshalb so kalt, weil sie sich jetzt vom Schicksal zum Untergang bestimmt hielt.

»Und wer ist Ihre Braut?« wollte sie stammeln, aber in demselben Augenblick hatte sie ihrem Braunen mit voller Wucht die Peitsche versetzt, das Tier zuckte in die Höhe und raste dann in voller Wut mit dem Schlitten die schneebedeckte Chaussee herunter. Kaum hörte sie noch, was ihr überraschter Begleiter ihr nachrief.

Mit aller Kraft riß und zerrte sie an den Zügeln, jedoch sie hatte ganz die Gewalt über das schäumende Tier verloren. Wie jagende Traumbilder schossen Bäume, Häuser und Menschen an ihr vorüber, die vorübersausende Luft nahm ihr den Atem.

**
*

In dem Pachthaus hatte der Landmann die Gesuchte nicht gefunden. Er fragte den alten Krischan. Der zuckte die Achseln und wies auf die Landstraße hinaus.

»Da is sie fortgefahren, Krischan?« forschte Wilms betroffen – »allein? Saß sie nicht im Schlitten?«

Der Alte nickte und schlotterte weiter.

»Fort?« murmelte Wilms, während er in sein Haus zurückschritt. Und er hatte sich so gefreut, mit ihr zusammen zu sein. Das einsame große Zimmer schien ihm ohne sie unwirtlich. Als das Mädchen nach einer Stunde nicht zurückgekehrt war, warf er sich in seine gewöhnliche Joppe, band den Hofhund los und wanderte die Landstraße nach Boltenhagen zu.

In dem harten Schnee sah man noch die Schlittengleise, in denen sie gefahren war. Wilms Herz zog sich zusammen. Da er das Mädchen jetzt schon entbehrte, wie sollte es werden, wenn sie ihn gänzlich verließ, sobald sein Weib zurückgekehrt war?

Kurz vor Boltenhagen hörte er etwas über die Chaussee klingeln. Der ferne Punkt, den er wahrnahm, wurde größer und größer, schon vernahm er das Schnaufen und Keuchen des gereizten Pferdes.

Er sprang zur Seite.

»Halt!« rief er mit harter Stimme den Anstürmenden entgegen.

Hedwig sah ihn, hörte ihn, aber dem Durchbrenner konnte und wollte sie keinen Einhalt tun. Nur vorbei, nur nicht gefragt werden, nur weiter sich austoben können, hart begleitet von der Gefahr.

Schon waren sie nahe.

»Halt,« schrie Wilms noch einmal.

Sein ganzer Kopf rötete sich. Er hielt dieses Vorübersausen für beabsichtigt, um ihm zu entgehen. Schon heute früh war sie an der Kirche so vor ihm entflohen.

»Ich bin’s, Hedwig,« brüllte er noch einmal.

Keine Antwort.

Immer näher.

Da erhebt sich das Rohe, Gewaltsame in dem Bauern. Er springt vor, seine gutmütigen Augen drohen, ein mächtiger Faustschlag trifft das Pferd vor die Stirn, daß es hoch in die Höhe steigt. Der Schlitten wird umgeschleudert und das Mädchen schlägt hart in den Schnee, wo es mit weitaufgerissenen Augen liegen bleibt, als hätte sie der Blitz getroffen.

»Wilms,« murmelt sie betäubt.

Er hob sie auf, und noch halb über sie gebeugt, gurgelte er heiser vor Aufregung: »Hedwig, dir is doch nichts? Sag’ doch, Heting, dir is doch nichts?«

Er wußte gar nicht, was er getan hatte.

»Nein, nein – Wilms, ich will nach Hause.«

»Ja, wir wollen nach Hause, Heting,« brachte er bestürzt heraus, »komm’, ich heb’ dich in den Schlitten.« Und während er das Mädchen in das wieder aufgerichtete Gefährt niederließ, befühlte und betastete er sie ängstlich, ob sie auch keinen Schaden genommen hätte.

»Heting, sag’ mir bloß, wo bist du denn gewesen?«

Allein sie saß wie erstarrt.

»Frag’ mich jetzt nicht – ich will nach Haus.«

»Wie du willst, dann will ich dich jetzt auch nicht fragen,« gab er sofort nach. »Aber nicht wahr, Heting, dir fehlt doch nichts?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann kommt es bloß vom Schreck,« tröstete er sich und sie. Er nahm neben ihr Platz, ergriff die Zügel, und der gebändigte Braune begann folgsam im Trabe zu laufen.

Kein Wort wurde mehr zwischen den beiden gewechselt. Gedankenlos saß Hedwig neben dem Pächter und hörte auf das Läuten der Glöckchen. Nur einmal stieg ihr schwache Verwunderung auf, warum jetzt das Tier jeder Bewegung des Lenkers folge, das vorher so wild gewesen.

Verstohlen blickte sie auf den Mann an ihrer Seite und merkte, daß seine Augen gleichfalls auf ihr hafteten, voller Angst.

Er sah jetzt ganz anders aus, wie vorhin, als er das Pferd zurückgeschlagen hatte.

Als sie daran dachte, zuckte sie zusammen, als habe sie selbst der Faustschlag getroffen.

Was sollte daraus noch werden?

Es war ihr, als hätte er damit auch sie gebändigt.


VI.

Und die Erkenntnis, daß sie langsam unterlag, rührte ihr ganzes Wesen auf.

Kaum waren sie in dem Pachthause angelangt, so setzte sich Hedwig völlig erschöpft in eine Sofaecke und begann plötzlich heftig zu schluchzen. Wilms sah bestürzt, daß all ihre Glieder bebten und zitterten wie Grashalme, über die der Sturm rauscht.

»Heting – liebes Heting,« murmelte er und fuhr ihr unbeholfen über das Haar. – »Bist du krank? – Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?«

Immer heftiger flossen ihre Tränen. Wie ein plötzlicher Regenhusch, der das Gewitter anzeigt.

»Heting, das kann ich nicht mit ansehen. Bist noch böse auf mich von vorhin?«

Er meinte, weil er sie so roh aus dem Schlitten gestürzt.

»O nein.«

Sie schüttelte den Kopf und drückte krampfhaft seine Hand.

»Wilms – ich bitte dich, Schwager,« flüsterte sie dringend. »Geh’ jetzt hinaus und laß mich allein – ganz allein – nicht wahr, du tust mir den Gefallen?«

»Natürlich, Heting, ich tu’ ja alles, was du willst,« erwiderte der Landmann. »Bloß sag’ mir noch, bist du vielleicht ungehalten, weil ich heute ohne dich in die Kirche ging? Sieh, wenn du es nicht für recht hältst, dann will ich ja überhaupt nicht mehr hingehen.«

Sie machte nur eine stumme Bewegung der Verneinung, und der Pächter schritt schwer und erschüttert hinaus. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, so erhob sich Hedwig und warf sich vollkommen durchrüttelt und kraftlos vor Elses Bett in die Knie, wo sie ihren Kopf in die Kissen grub.

»Schwester – Schwester,« murmelte sie halb betäubt vor Seelenangst.

Unterdessen schritt Wilms in dumpfer Verzweiflung auf dem Hof hin und her. Und immer wieder richteten sich seine überbuschten Augen auf das Fenster, hinter dem früher seine kranke Frau gelegen hatte und ihm Qual bereitete. Jetzt spähte er nach der gesunden Schwester.

Er griff nach seiner Stirn und wunderte sich.

Unter ihm lag noch immer die Erde fest und bebte nicht, über ihm schwamm der Schneehimmel und spie keine Feuerballen aus, um ihn herum ragten Haus und Scheunen festgefügt wie sonst, und doch brütete der Mann, der nicht mehr in die Kirche gehen wollte, über eine der Todsünden nach.

»Gedankensünden,« hatte der Pastor einmal gesagt, »Gedankensünden.«

Es sollte noch schlimmer kommen.

Der kleine Hofjunge trat auf ihn zu und händigte ihm einen Brief aus. Er enthielt eine Einladung für den heutigen Abend zur Försterfamilie. Die Försterin hatte ihn selbst mit zierlicher Handschrift geschrieben.

Als Wilms zur Mittagszeit in das Wohnzimmer trat, fand er seine junge Schwägerin am Nähtisch emsig mit einem Brief beschäftigt.

»An wen schreibst du, Heting?« fragte er zaghaft.

Sie blickte mit trübem Lächeln zu ihm auf. »An Else,« antwortete sie stockend.

Der Pächter stutzte. »An meine Frau?« wiederholte er düster und blickte zu Boden.

»Ja, ich frage sie an, wann sie wiederkommt.« Sie senkte dabei das Haupt, schrieb noch ein paar Zeilen und übergab Wilms dann den geschlossenen Brief zur Besorgung.

Eine drückende Stille trat ein, wie sie jetzt immer entstand, wenn der Entfernten zwischen beiden Erwähnung geschah.

»Wann sie wiederkommt,« dachte der Landmann mutlos. Er reckte sich. »Ist dir bange nach ihr, Heting?«

Es sollte gleichgültig klingen, aber seine tiefe Stimme bebte leicht.

Zitternd wandte sich das Mädchen ab und antwortete nicht.

»Nur von etwas anderem sprechen,« dachte Wilms, »von etwas anderem.« Da erwähnte er die Einladung, die er eben erhalten. Natürlich würde Hedwig ablehnen, glaubte er; auffallend war ja ihre Blässe, und sie hatte noch eben über ihr Befinden geklagt. Aber zu seinem Erstaunen rief sie erregt: »Ja, wir wollen hin. Warte, ich kleide mich gleich um.«

Kopfschüttelnd blieb er zurück.

Schon nach dem Kaffee fuhren sie vom Hof herunter in demselben Schlitten, den Hedwig heute vormittag benutzt hatte.

In dem gemütlichen Försterhäuschen mitten im Walde ging es hoch her. Vielstimmiger Gesang, Geigen- und Trompetenklang empfingen sie schon bei ihrer Ankunft. Der Förster hatte von der benachbarten Akademie mehrere Forsteleven, selbst einen Assessor eingeladen. Der hatte seine Geige mitgebracht zur Verschönerung des Festes. Auch des Pastors Töchterlein war da.

In einer der braungetäfelten Stuben mit den vielen Hirschgeweihen brannte noch der Tannenbaum. Darunter saß das blonde Töchterchen der Forstleute in seinem Wägelchen und streckte die Arme nach den Lichtern aus.

Hedwig nahm das Kind in die Höhe und küßte es. Als sie sich umwandte, stand Wilms hinter ihr, dessen Augen mit besonderem Ausdruck auf ihr ruhten.

Er hatte sich in tiefster Seele gedacht: »Warum gehört mir dieses schöne Weib nicht und dieses Kind?« Langsam fuhr er sich über die Stirn und ging zu den Männern.

Es wurde spät.

Der Abend verfloß in lauter Fröhlichkeit.

Hedwig wurde von den jungen Leuten der Hof gemacht, Paula Schirmer schmiegte sich an sie, sie mußte singen. Zum Schluß spielte der Forstassessor zum Tanz auf. Da war es selbstverständlich, daß das Mädchen von einem Arm in den andern flog. Nur Wilms stand ernsthaft beiseite, er hielt es für unpassend zu tanzen, solange sein Weib fern in der Klinik weilte.

Stirnrunzelnd überkam es ihn, als ob seine Jugend in Trauer verfließe. Und wie anmutig Hedwig tanzte, sie lenkte aller Augen auf sich, nur zu wild erschienen ihm manchmal ihre Bewegungen, es lag dann etwas Rasendes darin.

Er schüttelte den Kopf.

»Hören Sie auf, Fräulein Hedwig,« mahnte auch die Försterin, »sonst wird es zuviel.«

Sie zog das Mädchen mit sich fort und stäubte ihr in ihrem Schlafzimmer etwas Kölnisches Wasser ins erhitzte Gesicht.

»Wie geht es Ihrer Schwester?« fragte sie dabei.

»Das weiß ich nicht,« versetzte Hedwig geistesabwesend.

Die Försterin starrte sie an. Sie merkte, daß die Erregung ihres jungen Besuches unnatürlich sei. Jedoch sie glaubte die rechte Spur gefunden zu haben.

»Wissen Sie schon, daß sich der junge Graf Brachwitz verlobt hat?« forschte sie gespannt.

»Ja, ich hörte schon davon,« nickte Hedwig gleichgültig und wollte wieder zu den andern.

Die Försterin verstand nicht, was sie aus ihr machen sollte. Sie hielt das Mädchen am Arm fest und klopfte ihr fast mütterlich die Wangen. Eine Regung des Mitleids überkam sie für dies schöne, fiebernde Geschöpf. Wenigstens einen guten Rat wollte sie ihr erteilen, geschöpft aus den Erfahrungen einer reifen Frau. Und ganz ehrlich und aufrichtig kam es heraus: »Fräulein Hedwig, ich wollte schon immer einmal mit Ihnen darüber sprechen. Bleiben Sie nicht mehr lange allein mit Ihrem Schwager in Wilmshus. – Hören Sie?«

»Warum?« wandte sich Hedwig ruckartig um.

Sie war leichenblaß geworden, nur die braunen Augen glänzten und funkelten wie feurige Kohlen.

»Weil,« fuhr die Frau eindringlich fort, »die Lästerzungen in der Umgegend sich schon darüber aufhalten. Ich rate Ihnen gut, wenn auch nichts daran ist, gehen Sie dem Gerede lieber doch aus dem Wege.«

Da raffte sich Hedwig auf, alles Blut schoß ihr zum Herzen, es war ihr so weh, daß sie laut hätte schreien mögen, denn sie fühlte, daß sie jetzt den Scheideweg erreicht habe.

»Liebe Frau Annchen,« sprach sie dennoch straff aufgerichtet, obwohl die vollen Lippen in dem bleichen Gesicht bebten, so daß ihr Gegenüber nur mit Mühe ihre Worte verstand. »Solch müßiges Geschwätz ist mir gleichgültig. Ich tue das, was ich für recht halte, und scheue niemand.«

Damit riß sie sich heftig los und ging in der großen Stube mitten durch die Fröhlichen hindurch, gerade auf Wilms zu, um ihn zum Tanz aufzufordern.

Die Försterin wurde rot vor Unwillen, als sie es sah, und flüsterte aufgeregt mit ihrem Manne.

»Heting,« sprach Wilms betreten, »ich möchte nicht gern. Solange Else fort ist – –«

Sie achtete nicht darauf. »Komm, Schwager, – wenn ich dich bitte?«

Dabei sah sie ihn an mit ihren fieberigen Augen so heiß, so flehend, als ob er ihr damit das Leben retten könnte, als ob ihr ganzes Dasein an diesem einen Tanze hing.

Da schlug es auch über ihm zusammen. Weib – Ruf – die Furcht vor dem Gerede, alles ging unter in dem einen Wunsche, dieses lebenstrotzende Wesen einmal umschlingen und forttragen zu dürfen.

Er packte sie, gewaltsam, verzweiflungsvoll, als wollte er sie an seiner Brust zerpressen.

»Bravo,« riefen der Forstassessor wie die Eleven und ließen ihre Instrumente noch lauter jubeln. Und unter Geigenspiel und Trompetenklang schwenkte er sie herum, schwer, wuchtig, als ob es sich um Leben und Tod handele.

Er sah auf sie herab.

Ihr Gesicht war schmerzverzogen, ihr Atem ging stöhnend, wie wenn sie mit jedem Schritt über spitze Messer dahinglitte, und doch lag sie eng und voll in seinen Armen, daß er gänzlich die Besinnung verlor.

»Süßes, liebes, Heting,« flüsterte er.

Sie zuckte zusammen und schloß die Augen.

Da war auch der Tanz zu Ende, sie trennten sich hastig und kamen erst wieder zusammen, als man aufbrach.

»Adschö auch.«

»Auf Wiedersehen.«

Die Förstersleute versprachen bald auf Wilmshus vorzusprechen. »Wenn Ihre Frau erst zurück ist, Wilms,« meinte der Förster, »das ist doch jetzt bald.«

»Ja, das ist bald,« bestätigte Wilms überstürzt, »das ist bald.«

Wieder saßen sie im Schlitten, der Landmann hatte ein Tuch um das Mädchen geschlagen, daß man fast nichts von ihr sah. Dann ging es durch den nächtigen Wald, in dem die Schlittenglocken seltsam wiedertönten.

»Kling-ling – Kling-ling.«

Hedwigs Haupt neigte sich leicht gegen seine Schulter. Ihr war so bleischwer in allen Gliedern, der Schlaf schien sie erdrücken zu wollen. Wie im Traum zog es ihr durch den Sinn, daß sie mit diesem Mann nicht länger allein in einem Hause bleiben solle. Aber die silbernen Schellen verscheuchten den Spuk gleich wieder:

»Kling-ling – Kling-ling.«

In dem dunklen Gehöft zu Wilmshus war keine Menschenseele zu erspähen. Schwärzer als anderswo lag die Nacht auf diesem Ort. Fürsorglich hob der Landmann seine Schwägerin aus dem Gefährt und sie duldete es, obwohl sie fühlte, wie seine Arme zitterten. Da erleuchtete sich die Nacht. Aus dem Hause schlürfte etwas heran, der alte Krischan schlich heraus, seinen Herrn zu empfangen, eine Stallaterne warf einen breiten Schein über den Hof. Da machte sich Hedwig ungestüm frei.

Erst auf dem dunklen Flur vor der Tür des Wohnzimmers, wo sie in Elses Bett schlief, erreichte der Pächter seine Begleiterin noch einmal.

Rabenschwärze herrschte hier.

Zaghaft ergriff er ihre Hand und drängte sich scheu an sie.

»Heting,« flüsterte er leise und berührte furchtsam ihre Schulter.

»Wilms, versprich mir was.«

»Alles, Heting, was du willst.«

»Dann soll Christian aus dem Hause und ins Altenheim.«

»Ja, dann soll er fort,« wiederholte Wilms ohne Überlegung. Halb betäubt beugte er sich zu ihr hinab.

Und derselbe schlürfende Greis, den sie eben verleugnet hatten, bewahrte die beiden, die nicht mehr gerettet sein wollten, zum letzten Male.

An der Schwelle klapperten seine hölzernen Pantoffeln, in den Flur ergoß sich matter Lichtschimmer, eben als Hedwig, die gegen die Tür lehnte, fühlte, daß der Boden unter ihr zittere und schwanke und daß sie in jene Arme stürzen würde, die nach ihr tasteten.

»Gute Nacht, Wilms,« stotterte sie auffahrend.

»Ach, gute Nacht, Heting,« klagte der Pächter und starrte sinnlos auf die Tür, die sich rasch hinter ihr schloß.

Der Alte war unterdes vorüber geschlichen und hatte seine Schlafstelle aufgesucht. Stille, webende, undurchdringliche Nacht umgab den Einsamen wieder.

Er horchte und lauschte.

Kein Laut regte sich mehr, alles schlief, nur er stand noch wie ein Dieb und wollte stehlen.

Dort drinnen also, dort drinnen.

Er wußte, es war unverschlossen.

Die grobe, arbeitsgewohnte Hand reckte sich aus nach der Klinke, aber über dem Messing, in der Luft blieb sie, wie auf einer unsichtbaren Mauer, liegen.

Das vermochte er nicht. Das wagte er nicht. Der Frost schüttelte ihn, daß ihm die Zähne klapperten. Er schlug die Hände vors Gesicht und stieg wie vernichtet und zerbrochen in seine Kammer hinauf.

Er hatte einen schlimmen Traum.

Da sah er sein Weib auf der Totenbahre liegen, gelb und wächsern. Sie war endlich gestorben. Fröhlich tönten Geigen und Trompeten dazu, und er selbst hatte Hedwig im Arm und tanzte jauchzend mit ihr um den Sarg herum und küßte sie auf den Mund. Die Leiche aber lag im Brautkleid und öffnete die Augen und Pastor Schirmer predigte über ihr: »Wirf die Last von dir. Sei mutig.«

Er wälzte sich im Schweiß und schrie so laut auf, daß er erwachte.


VII.

So war der Winter hingeschwunden.

Der Schnee schmolz. Frühlingsstürme bogen und peitschten die Pappeln der Landstraße, in allen Lachen spiegelte sich blendender Sonnenschein, an den Birkenbüschen begann es grün zu schimmern, und an einem frischen Morgen vernahm Hedwig, die barhäuptig auf dem Hof stand, rauschenden Flügelschlag vor ihren Ohren, so daß sie danach ausschauen mußte.

Mit lautem Gezirp umkreisten die Hausschwalben das Dach und suchten ihr Nest.

Das Mädchen, das ganz sonnenüberglänzt dastand, legte die Hand vor die Augen und blickte hinauf. Ja, es wurde wahr, der Frühling zog wieder ins Land. Sie wohnte nun bald ein Jahr in diesem Gehöft.

Und noch immer war Else nicht zurückgekehrt.

Von Woche zu Woche zog es sich hin. Immer trat wieder etwas dazwischen, Monate wurden daraus. Wenn Hedwig dem Pächter nicht noch einmal von ihrem Erbteil vorgestreckt hätte, er hätte die Pension der letzten Wochen nicht bestreiten können. Zumal er jetzt alles Vorhandene zur Saatzeit brauchte. Das zog ihm die Stirn oft sorgenvoll in Falten, aber Hedwig hatte ihm die Summe aufgedrängt, ungeduldig, stürmisch. Da hatte er sie genommen. Sie gehörten ja zusammen, das Gedächtnis an Else wurde jetzt seltener. Zwar langten wöchentlich Briefe von der Kranken an, die von einer immer fortschreitenden Besserung berichteten, doch diese Mahnungen hatten das Schreckhafte verloren und schienen aus unbestimmter Ferne zu stammen. Elses Gestalt wurde ihnen allmählich unpersönlich und verfloß.

Dafür hatten sie sich gegenseitig immer enger aneinander angeschlossen. Wilms blickte auf die stillen Wintertage als auf die glücklichsten seines Lebens zurück. Ja, er hatte wieder ein Heim, in das er beseeligt zurückeilte. Alles war wieder fest, gemütlich, geordnet. Auch hatte er die Wintermußestunden benutzt, um von ihr zu lernen. Da hatten sie zusammen unter der großen Stehlampe gesessen und die modernen Bücher gelesen, die Hedwig kommen ließ. Selbst seine politischen Ansichten wurden durch sie geklärt. Und allmählich begann er mit anderen Augen auf Nahes und Fernes zu blicken. Die sklavische Gottesfurcht, die in dem Höchsten einen Schergen sieht, einen kleinlichen Späher und Topfgucker, entschwand ihm, erst zaghaft und scheu, bald aber sicherer fing er an, nach dem Muster der Geliebten für sich selbst Gutes und Böses zu unterscheiden. Der schüchterne Mann erwachte, er erhob sich wie aus einer Gruft und sah sich erstaunt in der Welt um. Frische Luft wehte überall, dem Starken gehörte überall auch das Recht.

Ja, der Krankendunst war aus seinem Heim herausgezogen.

Und Hedwig liebte ihren Schüler. In dem reichen Geben und sich Mitteilen vergaß sie, daß sie sich nach ihm sehnte. Ihre verschwenderische Natur fand Befriedigung.

Oft auch kam Besuch zu ihnen. Einmal die Förstersleute mit ihren Eleven, dann Pastor Schirmer mit seiner Tochter, zuweilen auch der Inspektor von Boltenhagen, sehr oft der schmeerbäuchige Kreisphysikus aus Grimmen. Nur die Frau Pastorin hielt sich zurück. Hedwig fragte nicht nach ihr und suchte nach keinem Grunde.

Dann wurde musiziert und gesungen, häufig auch getanzt oder ernsthafte Gespräche geführt, und alle fühlten sich von dem klugen, liebenswürdigen Mädchen angeregt. Wilms wurde allmählich stolz auf sie.

Ihr Widersacher, der taube Krischan, war vom Hofe entfernt worden. Das hatte sich jedoch nicht so glatt abgewickelt und war jetzt die Ursache zu vielem Verdruß.

»Wat soll ick?« hatte der Greis gefragt, als Wilms ihm seinen Entschluß ein wenig zögernd eröffnete. »Wo soll ick hen?« Dabei hob er das taube Ohr empor und wackelte kraftlos mit dem Kopfe.

»Ins Altenheim. Da wirst du’s gut haben.«

»Ne,« hauchte der Alte und kaute widerwärtig mit dem stoppelbewachsenen Kinn: »Ick bünn nu all’ fifuntwintig Johr up dit Flag. – De Fru hett mi verspraken, dat ick hier starwen künn.«

Wilms wurde ungeduldig. »Meine Frau is aber jetzt fort,« rief er heftig.

»Sei ward äwer wedderkamen,« grinste der Alte und lachte kauend.

Das war dem Landmann zuviel. Hedwig hatte auch darin recht. Es wurde dem Tauben kurz und entschieden ein Termin zum Abzug gestellt.

Gelassen hörte der Greis die Entscheidung an.

Aber als der Tag herangekommen war, war der Alte nirgends zu finden. Knechte und Mägde suchten ihn im ganzen Hause vergeblich, auch seine Schlafstelle war leer, schon munkelten die Leute, daß der Alte, den niemand leiden konnte, in den Teich gesprungen sei. Da entdeckte Dörthe, die Obermagd, ein Zeichen. Sie hörte über sich krächzendes Rabengeschrei, und als sie aufblickte, sah sie, wie der zerzauste Vogel des Vermißten in die offene Luke des Heubodens flog.

Da fanden sie ihn. In dem tiefsten Winkel, verborgen im warmen Heu, lag er und wehrte sich halb blödsinnig gegen die Knechte. Ein Gensdarm brachte ihn und seine Habseligkeiten endlich vom Hof herunter und lieferte beides im Altenheim ab. Dort wurde er krank und man dachte an seinen Tod. Allein in wenigen Tagen erholte er sich bei der guten Pflege und unter der Obhut der Ärzte. Und bald sah man ihn täglich die Landstraße hinunterschlottern, bis nach Wilmshus, wo er sich auf einen Grabenstein setzte und ins Gehöft hineinstarrte.

Das konnte ihm niemand verwehren, die Straße war frei. Wenn Hedwig vorüberkam, schüttelte er sich und grinste in sich hinein.

»Er wird mir noch mal das Haus über dem Kopf anstecken,« murmelte Wilms einmal ingrimmig.

Hedwig redete ihm das aus.

Auf dem Schlosse zu Boltenhagen war in der Zwischenzeit ein großes Fest gefeiert worden. Die Braut des jungen Herrn hatte dem alten Grafen einen Besuch abgestattet. Hedwig sah sie vorüberfahren, und der Bräutigam, der neben der Erwählten saß, hatte sie ernst und ehrerbietig gegrüßt. Er wandte sich noch einmal nach ihr um. Am Abend sprühte ein prächtiges Feuerwerk herüber. Leuchtkugeln und Raketen zischten durch die winterstille Luft, und Wilms, der neben Hedwig am Fenster lehnte, kehrte sich ihr beklommen zu, wie wenn er ihre Augen ergründen wollte. Aber sie lächelte wehmütig und sah ihn groß und ehrlich an. Da beruhigte sich der Ängstliche wieder.

Wer nach langer Armut Reichtum erlangt, wird ein Geizhals und fürchtet das Gewonnene wieder zu verlieren.

Das Schönste aber, was Hedwig dem öden Besitztum gewonnen hatte, war der Garten hinter dem Hause. Zur Saatzeit, wo Wilms meistenteils auf seinen Feldern weilte, hatte sie mit Dörthe von der jahrelangen Verwilderung Besitz ergriffen. Beete wurden gegraben, mit heimischen, wie ausländischen Blumensaaten bepflanzt, Gänge abgesteckt, Rasenteppiche angelegt. Der riesige Apfelbaum in der Mitte ward beschnitten, die verwilderten Johannis- und Stachelbeerhecken zu ordentlichen Grenzen gerundet, das schwierigste aber mit den zerstreuten Fliederbäumchen vorgenommen. Hedwig ließ eine dünne Laube zurechtschlagen und die Stämmchen rings herumsetzen. Der gute Gärtner im Himmel gab seinen Segen dazu, er ließ seinerseits in linden Nächten warmen Regen träufeln, und als die Störche auf dem Schindeldach des Pachthauses erschienen, da hatten sich die Zweige zusammengeschlossen, da bildeten weiße und blaue Fliederbüsche ein duftendes Dach, und an hellen Mondscheinabenden sahen die Zugeflogenen den Pächter und seine junge Begleiterin in der Laube sitzen und hörten, wie sie beide zusammen heitere und traurige Weisen sangen.

Solche Töne waren hier selten vernommen worden.

Der Flieder streute seine Blüten über sie, und vom blühenden Apfelbaum quoll ein wundervoller Duft herüber, der Storchvater klapperte im Traum leise dazwischen. Den beiden Menschenkindern aber unten klopfte das Herz heiß und voll und sie schwiegen noch immer.

**
*

Es war an einem Maienabend. Wilms, Hedwig und der kleine Pastor Schirmer saßen in der Fliederlaube und schwatzten über dies und das. Ein Windlicht leuchtete auf dem Tisch. Die Luft ging so sacht, daß selbst der winzige geistliche Herr mit seinen spärlichen Silberlocken barhäuptig saß.

Da knirschte ein starker Schritt den Gang entlang. Ein paar Zweige wurden zurückgeschoben, die mächtige Gestalt des Försters wurde sichtbar.

»’n Abend meine Herrschaften,« rief er fröhlich und schüttelte allen die Hand. »Sie haben hier ein schönes Plätzchen – wahrhaftig. – ’n Abend Fräulein Hedwig, Ihnen bring’ ich was ganz Besonderes mit –« er schnalzte mit der Zunge – »hier.«

Dabei reichte er dem Mädchen ein starkes Bündel grüner Kräuter herüber. Die strömten einen würzigen Duft aus.

»Waldmeister?« sprach Hedwig überrascht.

»Richtig – meine Frau hat ihn selbst gepflückt. Er blüht in diesem Jahr so prächtig, daß – –«

»Daß man ihn nicht umkommen lassen darf,« ergänzte die junge Wirtin anmutig, »wie wär’s, Herr Forstmeister, wenn wir gleich eine Bowle zusammen brauten? Sie haben doch nichts dagegen?«

»Dagegen?« schrie der Weidmann und sah sich so triumphierend um, als hätte er eben ein gutes Werk zustande gebracht. »Deshalb habe ich ihn ja gerade zu mir gesteckt. Und mit Ihnen in der Küche, Fräulein Hedwig? – Herrje, wenn meine Frau das wüßte, daß ich mich jetzt noch mit Kochen abgebe. Aber das soll auch ein Schlückchen werden, passen Sie mal auf, Herr Pastor, was da rauskommt.«

Die andern riefen Beifall. Und nach kurzer Zeit erschien Hedwig wieder mit einer großen Terrine, hinter ihr der Förster, der noch eine Flasche Rheinwein unter dem Arm trug. »Wenn’s zu dünn sein sollte,« erklärte er augenblinzelnd.

Aber es war nicht zu dünn.

Sie ließen die Gläser klingen, rötlich spiegelte sich das Windlicht in dem gelben Naß, fein läutete der silberne Ton in die Maiennacht hinaus.

»Schön,« rief der Förster und legte sich befriedigt die Hände auf den Leib, »sehr schön.«

»Ich dank’ dir, Heting,« sprach Wilms mit einem langen bewundernden Blick und hob das Glas.

Und der kleine Pastor leckte sich die Lippen und nickte nachdenklich lächelnd: »Die Bibel hat einen Trinkspruch dafür, meine Freunde,« sagte er vor sich hin und faltete die Hände um das Glas. »Psalm 65 – 11, 12 und 14.«

»Jawohl,« sagte der Förster beifällig, »sehr schön.« Er hielt bereits beim dritten Becher und man wußte nicht, ob er den passenden Vers oder Hedwigs gelungene Bowle so sehr bewundere. Dann zog er ein Päckchen der Stralsunder Fabrik hervor und sprach halb bittend, halb verschämt: »Ein Skätchen?«

Und ohne abzuwarten fuhr er fort: »Wilms gibt.«

Lächelnd griffen die Herren zu den Karten, die Zigarren wurden entzündet, und bald fielen die bekannten Worte:

»Tourné? – Solo? – Pastor, zeigen Sie mir Ihre Karten nicht.«

Hedwig schritt leise aus der Laube hinaus. Langsam wandelte sie im Garten herum, der Mond stand voll am Himmel und beleuchtete die schmalen Pfade. An einem blühenden Rotdorn wandte sich das Mädchen und blickte in die helle Laube zurück. Da saßen die drei unter den weißen und blauen Fliederbüschen, schlürften den guten Wein und spielten munter fort.

Es nahm sich aus wie ein Bild der Behaglichkeit.

»Und das hast du geschaffen,« wollte es in Hedwig auftönen, aber sie sprach es nicht aus, nur ein Gefühl der Ruhe und des Stolzes überkam sie.

Unhörbar öffnete sie die Gartentür, ging leise über den schweigenden Hof, bis sie die Einfahrt an der Landstraße erreicht hatte.

Hier war sie vor einem Jahr zuerst eingefahren. Vieles hatte sich seitdem geändert.

Ausruhend blickte sie die Landstraße hinunter. Dort atmete alles tiefste Stille, zwischen den Stämmen der Pappeln spann sich blaugraue Dämmerung, nur die Grillen in dem Graben zirpten ohne Unterlaß.

Da tönte ein fernes Rollen dazwischen. Es wurde wieder still, aber dann – von einer Biegung der Chaussee hörte man deutlich Peitschenklang und das Nahen eines Wagens. Ein paar Laternen blitzten auf.

Hedwig trat zurück. Kam das Gefährt nicht aus Boltenhagen? Wohin ging so spät noch eine Equipage? Sollte in der gräflichen Familie jemand krank geworden sein?

Die Chaise hielt an, gerade vor der Einfahrt des Gehöftes, wo das Mädchen stand.

Hedwig begann das Herz zu schlagen.

Aus dem Lederverschlag streckte sich ein unförmlicher Kopf heraus und eine belegte Stimme rief: »Fräulein Schröder? Sind Sie’s, Fräulein Schröder? Ich bin’s, Rosenblüt aus Grimmen, Sie wissen schon, ein guter Freund von Ihrem Herrn Vater.«

Hedwig trat an den Schlag heran und reichte dem Geschäftsmann die Hand. Verwundert fragte sie, ob er denn aus der Stadt eine Bestellung an sie hätte.

Der Händler wiegte den Kopf: »Wissen Sie’s denn noch nicht? Das heißt wieso sollen Sie’s wissen?« wiederholte er sich selbst. »Da hab’ ich heut den Kreisarzt getroffen, Rumpf – behandelt mir auch wegen mein Steinleiden, macht ümmer faule Witze, sagt ümmer ›Se müssen’s aushalten Herr Rosenblüt, Sie sind eben ’n steinreicher Mann.‹«

»Ja, aber Herr Rosenblüt – –«

Der Händler besann sich: »Da hat mir der Kreisarzt aufgetragen, Ihnen ’ne Überraschung zu machen. Nu, wissen Sie’s noch immer nicht? Ihre Frau Schwester ist zurück – bei Ihrem Herrn Vater – und morgen wird sie hier ankommen.«

»Wer ist zurück?« fragte Hedwig ganz leise.

»Nu, die Frau Wilms. Und aussehen soll se, ich sag’ Ihnen, so gesund, wie Sie und ich. Kann mir denken. Es ist ne große Freude für Sie. Na, grüßen Sie mir den Herrn Wilms – ich lass’ ihm gratulieren. – Gute Nacht, Fräulein Schröder.«

»Ich danke Ihnen auch bestens,« sagte Hedwig und reichte ihm die Hand.

Der Wagen rollte weiter.

»E seltsam ruhiges Mädchen,« dachte der Händler, während er sich in die Kissen zurückdrückte. »Sie bleibt sich immer gleich – in Freud und Leid.«

Hedwig ging langsam über den Hof zurück und betrat wieder den Garten. Lange stand sie hinter der erleuchteten Laube und zupfte gedankenlos einen Zweig des weißen Flieders ab. Drinnen hatten die Herren die Karten zusammengeschoben, sie stießen noch einmal zum Abschied mit den Gläsern an und der Förster reckte sich, strich das gewonnene Geld ein und summte vor sich hin:

»Im Wald und auf der Heide,
Da such ich meine Freude.
Ich bin ein Jägersmann,
Ich bin ein Jägersmann.«

Fröhlich klang die Weise in die Nacht hinaus. Und der kleine Pastor, der nicht viel vertragen konnte, schob seinen Arm unter den des Sängers und murmelte undeutlich:

»Lieber Freund – Sie – Sie begleiten mich nach Hause, nicht wahr?«

»Natürlich – wird besorgt werden, Herr Pastor,« lachte der Förster mit einem Seitenblick, »wird alles pünktlich abgeliefert. Gute Nacht, Wilms, grüß die kleine Hedwig. Ein famoses Ding. Donnerwetter, wenn ich jung wär – wenn ich jung wär –«

»Gute Nacht.«

Die beiden Herren zogen ab, Wilms gab ihnen bis zur Einfahrt das Geleit, und noch auf der Chaussee konnte man den Förster das Jägerlied singen hören.

Heiter begab sich Wilms in den Garten zurück. Als er in die Laube trat, fand er Hedwig dort, die am Tisch saß und den Kopf in die Hand stützte.

Er stockte.

»Heting, du? – Ich glaubte, du wärst schon zu Bett gegangen?«

»Nein, Wilms, ich wollte dich noch erwarten.«

»Wirklich? – Das ist schön. – Na, da komm, Heting, wir trinken noch ein letztes Glas zusammen. – Wir haben ja heut noch gar nicht zusammen angestoßen. – Willst du?«

Er setzte sich ihr gegenüber und schob ein volles Glas vor sie hin, aber sie verhielt sich so regungslos, sie hatte das Haupt so trübe gesenkt, daß Wilms sie befremdet anstarrte.

»Heting, du bist doch nicht etwa krank?« stotterte er.

»Nein, nein, Schwager –« sie richtete sich auf und lächelte ein wenig. »Ich habe dir sogar etwas sehr Gutes mitzuteilen.«

»Sehr Gutes? – Und dabei siehst du so traurig aus?«

»Traurig?« entgegnete sie verwirrt, und plötzlich überzog eine tiefe Blässe ihr Gesicht. Wilms sah, wie ihre Hände sich zitternd bewegten. »Die Frühlingsluft wohl – ich habe Kopfschmerzen – ich freue mich auch so sehr – Wilms, Else ist nach Grimmen zurückgekommen und morgen trifft sie hier ein.«

Der Landmann ließ sein Glas niedersinken und tat einen tiefen Atemzug.

Da erzählte sie ihm alles. »Und,« schloß sie unsicher, »sie soll ganz hergestellt sein. – Gottlob.« Aber sie vermied es, ihn anzublicken.

Wilms regte sich. »Gottlob,« murmelte er mechanisch. Dann reckte er sich, legte sich die Hand vor die Stirn und schritt wortlos in den Garten hinein. Seine Gestalt bückte sich dabei, als ob er etwas trüge.

Nach einiger Zeit kehrte er langsam zurück. In seinem Gesicht zuckte es, wie er seinen Platz ihr gegenüber wieder einnahm. Die gutmütigen blauen Augen schienen ganz überbuscht. Er reckte die Hand aus und ergriff die ihrige.

»Ich dank’ dir auch für alles, Heting, was du an mir getan hast,« sprach er mit zitternder Stimme und umklammerte krampfhaft ihre Finger, »auch dafür, Heting, daß du wieder ein bißchen Zufriedenheit in mein Haus gebracht hast. – Ich hab’ mich so wohl gefühlt –« murmelte er leise und aus seinem Auge drang ein großer, schwerer Tropfen hervor: »Gott geb’s, daß alles so bleibt.«

Da senkte Hedwig ihr Haupt auf seine Hand hernieder und blieb unbewegt so liegen, daß er ihre goldbraunen Flechten im flüchtigen Glanz des Windlichtes schimmern sah. Ihre Stirn brannte auf seiner Haut.

Die Brust des Mannes hob sich immer mühsamer. Sanft zog er seine Hand zurück.

»Wollen’s uns nich noch schwerer machen, Heting,« sagte er mit Aufbietung aller Kräfte. »Es is ja so nich leicht. – Komm, Heting, wollen darauf anstoßen, daß wir immer gute Freunde bleiben, so wie heut.«

Langsam erhob sie sich. Schlank und aufrecht stand sie vor ihm, als sie das Glas ergriff, aber ihre Augen hingen an den seinen, so dringend, so unabwendbar, so gewaltig ernst, daß er beinahe davor erschrak.

Die Bibel hat ein Wort für diese Liebe: »Feurig, wie die Flamme des Herrn und stark, wie der Tod.«

Die Gläser klangen zusammen, sie sahen sich noch einmal in die Augen, dann reichten sie sich die Hände und gingen schweigend in das Pachthaus zurück.


VIII.

»Willkommen« stand über der Haustür geschrieben, und grüne Guirlanden mit roten und weißen Gartenblumen schmückten die Pfosten, als die Herrin des Hauses zum erstenmal wieder über die Schwelle von Wilmshus schritt.

Wilms und Hedwig hatten sie gemeinsam vom Bahnhof abgeholt.

»Ach, wie schön habt ihr alles für mich gemacht,« flüsterte Else erregt, als sie an der Hand ihres Mannes den Flur betrat, und warf sich an seine Brust.

»O Gott, wie danke ich dir, daß du mich das noch erleben ließest. – Erwartet mich der Pastor nicht hier?« setzte sie begierig hinzu.

»Nein, mein Kind,« entgegnete Wilms, »ich dachte, wir wollten zuerst unter uns sein.«

Else nickte: »Ja, du hast recht. Kommt nur schnell in die Stube.« Und als sie in das große Wohnzimmer eingetreten waren, wo bereits ein festlicher, mit Blumen geschmückter Tisch ihrer harrte, da umarmte sie ihre Schwester und küßte sie stürmisch auf den Mund:

»Liebes Heting, das kommt von dir. Nein, wie freue ich mich, daß ich wieder in meinem eigenen Heim bin. Und noch dazu wieder ganz erholt.« – Sie stellte sich vor den Spiegel und nahm sich den Hut ab. »Nicht wahr, Wilms,« fuhr sie hastig fort, »man merkt mir doch gar nichts mehr an? Ich sehe beinahe wieder so aus, wie zu unserer Hochzeit? – Oder findest du nicht?«

»Ja, mein Kind,« antwortete Wilms gedrückt, »du hast dich sehr – sehr erholt.«

Hedwig und er warfen sich dabei einen Blick zu. Beide bemerkten, wie hektisch rot ihre Wangen gefärbt waren und welch tiefe, blaue Ringe die Augen der Heimgekehrten umränderten. Ihre Gestalt war leicht nach vorn geneigt und auch die Schultern vornüber gezogen. Und doch ließ das schmale Gesichtchen noch immer Spuren einstiger Schönheit erkennen.

Unterdessen hatte Else sich wieder zu ihrem Manne gekehrt, sie legte ihm beide Hände auf die Brust und rief zwischen Lachen und Weinen:

»Freust du dich denn gar nicht, Wilms, daß ich wieder da bin? Du bist ja so still.«

Zärtlich hob sie den Mund zu ihm empor und schloß die Augen, als Wilms sich schwer und wortlos zu ihr niederbeugte. Aber während er es tat, streifte sein Blick ängstlich die Jüngere. Schweigend wandte sich Hedwig zum Fenster.

»Und nun wollen wir zu Tisch gehen,« rief Else. »Ihr sollt mal sehen, wieviel ich jetzt essen kann. Nicht mehr so wie früher.«

Mit diesen Worten ließ sie sich auf das Sofa nieder, wo Hedwig sonst bei Tisch gesessen hatte, und zog Wilms neben sich.

Die Schwester mußte ihr gegenüber auf einem Stuhl Platz nehmen.

Dann teilte sie selbst in eifriger Geschäftigkeit die Speisen aus, ja die Heimgekehrte schien an einem Tage alles wieder einholen zu wollen, was sie in jahrelanger Krankheit in der Wirtschaft verabsäumt hatte. Zum mindesten wünschte sie dem Gatten ihre frischgewonnene Kraft zu zeigen, damit er sich daran erfreue.

Und dann begann sie ihre Erlebnisse in der Klinik zu erzählen.

Wilms Stirn verdüsterte sich immer mehr.

Seit Monden schon hatte ihn bei seinem Verkehr mit Hedwig nicht mehr die leiseste Andeutung daran erinnert, daß sein Heim einmal einem Lazarett geglichen, in dem nur über Ärzte, Krankheit und Medikamente verhandelt worden war. Jetzt, während Else umständlich ihre überstandenen Leiden beschrieb, erhob sich förmlich wieder jener laue Krankheits- und Verwesungsgeruch, der jahrelang seine Sinne niedergedrückt hatte.

Hilfesuchend sah er auf Hedwig, aber das Mädchen schien aufmerksam zuzuhören und auch seine Abneigung nicht zu teilen. Das verdarb ihm das erste Mittagsmahl vollständig. Nur zum Schein hielt er noch Messer und Gabel in der Hand, ja er dankte Gott, als seine Frau, die trotz ihres gerühmten Appetites von allem nur flüchtig genippt hatte, endlich die Tafel aufhob.

»Weißt du, Heting,« sagte sie zur Schwester und klopfte ihr beim Aufstehen mütterlich die Wange: »Du siehst blaß aus. Gewiß hast du dich in der letzten Zeit hier überanstrengt. Aber jetzt soll das alles anders werden. Ach, Wilms, wie glücklich bin ich darüber, daß ich jetzt selbst wieder alles in die Hand nehmen werde. Und paßt nur auf, wie rasch ich mich wieder hineinfinde. Dann will ich dich auch ordentlich pflegen, mein kleines Heting.«

Die Angeredete lächelte wehmütig, und wieder trafen sich ihre und des Landmanns Augen in einem langen, vielsagenden Blick.

Es war bereits das drittemal, daß sie so stumm und traurig miteinander sprachen.

Bedrückt und nicht fähig, sich länger zu beherrschen, riß sich endlich Wilms los. Er verabschiedete sich von seiner Frau, um aufs Feld zu gehen, die Saat weiter zu beaufsichtigen.

Aber das alte Spiel wiederholte sich, Else haschte rasch nach seiner Hand.

»Wilms, du willst mich jetzt schon allein lassen?« rief sie mit leisem Ton des Unmuts, »gleich den ersten Tag, wo ich hier bin?«

Dabei wurden ihre Wangen glühend rot, mit den Zähnen nagte sie an der Unterlippe. »Das wirst du doch nicht tun, nicht wahr?«

Hier schon war es ersichtlich, daß die Halbgenesene eine Aufregung oder gar einen Streit nicht würde ertragen können.

Der Landmann blieb stehen.

Das also war seine Zukunft? Sollte er wieder gefesselt werden, daß er der daherfahrenden Not abermals gebunden und widerstandslos überliefert war?

Die Angst um seine Existenz, die ihn schon einmal erfüllt hatte, und die erst seit kurzem gebannt war, von jenem stillen, schweigenden Mädchen dort, das lähmende Entsetzen wollte ihn von neuem erfassen. Aber nur einen Augenblick, dann richtete sich der große Mann entschlossen auf, bereit, endlich, endlich seine Manneswürde gegenüber der Krankheit zu behaupten.

Jedoch er sollte zu keinem unvorsichtigen Wort gelangen. Hedwig hatte in seinen Mienen die heftige Bewegung gelesen und rasch eilte sie, ihm zu helfen.

»Elsing,« erklärte sie mit ihrer freundlichen, aber doch so stolzen Bestimmtheit, als wenn ein Widerspruch von vornherein ausgeschlossen wäre, und legte ihr leicht die Hand auf den Arm: »Dein Mann hat für uns gar keine Zeit weiter, du mußt ihn schon gehen lassen. Es steht zu viel Geldverlust auf dem Spiel, wenn er in diesen Monaten aufgehalten wird.«

Die Kranke warf der Schwester einen überraschten Blick zu:

»So?« sprach sie dann, noch immer ein wenig spitz, »du scheinst hier ja schon viel in der Landwirtschaft gelernt zu haben, Hedwig?«

Allein ganz unvermittelt gab sie nach und winkte lächelnd mit der Hand, daß er sich entfernen solle.

»Geh nur, Wilms – geh. Ihr habt ja recht. Es ist ja wahr. Mir ist es nur, als ob ich mich jetzt gar nicht von euch trennen könnte – aber geh nur.«

Da ging Wilms schwerfällig und bedrückt hinaus. Und als er langsam über seine Felder schritt, auf denen geharkt und gesät wurde, da war ihm weh zumute, viel schlimmer als damals, als sein Weib auf dem Krankenlager gelegen. Wie sollte das enden?

Mitten in seiner schweren Arbeit tanzte ihm alles durcheinander. Hedwigs fragende Augen, ihr herrlicher Wuchs, ihre roten Lippen und daneben wieder das zarte, nervöse Bild der Heimgekehrten, das sich zärtlich an ihn schmiegte, um ihn zu küssen.

Er schauderte zusammen, rings lag heißer Sonnendunst auf der Erde, und doch war es ihm, als hätte eben etwas Kaltes seinen Mund berührt. Ein heftiger, körperlicher Widerwille beschlich ihn, als er sich an die Liebkosungen seines Weibes erinnerte.

»Nein – nein – Gott schütz’ mich – bewahr mich davor. – Das darf ich ja nicht denken – Karl, Jochen,« rief er laut seinen Leuten zu.

Er wollte Menschen um sich haben, um die Gespenster mitten in der Sonnenglut zu scheuchen.

**
*

Inzwischen waren die beiden Schwestern allein.

Hedwig riet der Kranken, sie solle sich jetzt etwas niederlegen, allein Else wollte davon nichts wissen, obwohl ihre Bewegungen seit Wilms Fortgange sichtlich matter geworden waren.

»Nein, nein, Heting,« lehnte sie hastig ab, »glaub’ mir, das hab’ ich jetzt nicht mehr nötig. Wir wollen jetzt lieber die Wirtschaft ein bißchen durchmustern, vor allen Dingen meine Schränke. Darauf freue ich mich schon wochenlang. Hast du sie auch hübsch in Ordnung gehalten?«

Die andere bejahte leidend und schloß im Wohnzimmer einen Wäscheschrank auf, aber Else ging das alles zu langsam. In der Hast riß sie der Jüngeren das Schlüsselbund aus der Hand und lief damit von einem Schrank zum andern. Überall sah sie hinein. Dann hing sie sich die Schlüssel in den Gürtel.

»Ich möchte sie jetzt doch lieber wieder selbst behalten,« erklärte sie Hedwig mit vor Vergnügen gerötetem Gesicht. »Von jetzt an werde ich ja wieder alles allein beaufsichtigen.« Und sie küßte ihre Schwester stürmisch auf die Wange: »Nicht wahr, Heting, du freust dich doch darüber?«

Die Jüngere nickte ernst. Ein wehmütiges Lächeln spielte um ihre Lippen, als die klappernden Dinger wieder den Gürtel ihrer Schwester schmückten.

Jetzt war sie also abgesetzt, sie kam sich überflüssig vor. Mutlos blickte sie zu Boden. Dagegen gab es keinen Kampf. Der Aufenthalt im Zimmer wurde ihr drückend.

»Komm, Else,« nahm sie sich zusammen, »ich habe noch eine Überraschung für dich. Komm mit.«

Sie gedachte der Heimgekehrten den Platz zu zeigen, der früher mit wildem Gestrüpp bedeckt gewesen und sich nun unter Hedwigs Hand in einen blühenden Garten verwandelt hatte.

Sie schritten dorthin.

Und Elses Entzücken war zuerst ganz aufrichtig. Still und selig schlang sie den Arm um Hedwigs Schulter, und so saßen die beiden Schwestern in der blühenden Fliederlaube und träumten in den sinkenden, rosigen Tag hinaus.

Hedwig erinnerte sich an den vergangenen Abend. In ihrem Ohr klang der silberne Ton wieder, wie gestern, als sich ihr Glas mit dem des Landmanns berührt hatte.

So würde fortan Else mit ihrem Mann hier sitzen, dachte das Mädchen, sie aber würde gehen. Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und sah über die Stachelbeerhecken fort auf die angrenzende weite grüne Wiese hin, auf der zahllose Schmetterlinge im letzten Abendsonnenschein herumgaukelten.

»Du bist so still?« fragte Else.

In demselben Augenblick kehrte Wilms zurück. Er freute sich darüber, die beiden Frauen an der liebgewordenen Stätte zu finden, und erzählte Else, wie oft sie hier schon gemütlich gespeist hätten. Zum Schluß bat er, daß auch heute an dieser Gewohnheit festgehalten werde.

Else sah erstaunt zu dem vor ihr Stehenden auf.

»Hier?« fragte sie verwundert. »Aber hier wird es doch bald zu kühl?«

»Bewahre, Elsing,« widerlegte Wilms, »wir haben ja gestern erst mit Hedwig hier gesessen, sogar bis spät in die Nacht hinein.«

»So?« entgegnete Else gedehnt. Eine leichte Wolke zog über ihre Stirn, die Falten um ihren Mund prägten sich etwas schärfer aus, es war nur eine ganz leise Andeutung von Verstimmung und ebenso schnell wieder entschwunden, wie sie entstanden war.

Noch war kein Argwohn in der Leidenden erwacht.

»Dann habt ihr euch ja in meiner Abwesenheit ganz gut unterhalten,« meinte sie achselzuckend.

Sie lächelte dabei, wie wenn sie das Ganze für einen Scherz hielte, und liebkoste die Hand ihrer Schwester. Gleich darauf aber verzog sie die Schultern.

Eben war die Sonne hinter rotglühenden Streifen verschwunden, ein laues Lüftchen strich über die Wiesen.

»Mir wird doch zu kalt,« sagte Else matt und erhob sich rasch, »und ich denke, wir wollen deshalb lieber im Zimmer essen. Dafür sind wir ja auch alle drei wieder zusammen.«

Sofort erhoben sich auch die andern. Der Wille der Kranken war mächtiger als ihre eigenen Neigungen. Sitte und Gewohnheit geboten immer dieselbe rücksichtsvolle Unterordnung.

Sorglich legte ihr Hedwig ein Tuch um die Schultern, Else nahm den Arm der Jüngeren, und nach all der selbst auferlegten Anstrengung dieses Tages wandelte sie matt und müde neben der jugendfrischen Führerin her.

Wilms folgte ihnen.

Finster sah er auf die beiden so verschiedenen Gestalten, aber er wagte keinen Vergleich mehr. Nur am Ausgang des Gartens wandte er sich noch einmal nach der blühenden Fliederlaube zurück. Ein schwerer Duft wehte herüber.

»Auch das vorbei,« murmelte Wilms. Verstört riß er sich los. Die Lebensfreude entfloh von ihm, wie ein vorbeipfeifender Vogel, und der düstere Geist der Verzweiflung beschattete ihn wieder mit seinen dunklen Fledermausflügeln.


IX.

Am nächsten Morgen erschien der dicke Kreisphysikus.

Aus seinem äußeren Gebaren konnte man schwer enträtseln, was er von dem Zustand der Pächterfrau hielt. Er küßte ihr zwar ein paarmal die Fingerspitzen, aber doch mit Zurückhaltung.

Das war ein seltsames Zeichen, denn Patienten, an denen der beleibte alte Dr. Rumpf Freude erlebte, beehrte er mit seiner stürmischsten Zärtlichkeit.

Bei Else jedoch benahm er sich beinahe mitleidig. Er streichelte ihr nach der Untersuchung das feine blonde Haar aus der Stirn und sagte begütigend wie zu einem kleinen Kinde:

»Na, es macht sich ja. Aber schonen, mein Kinding, immer hübsch schonen. Nur recht still, das ist die Hauptsache.«

Damit begab er sich in den Garten, wo Wilms und Hedwig seiner schon harrten.

»Ja,« meinte er dort mit leisem Kopfschütteln, »es ist ja zum Stillstand gekommen bei Ihrer Frau, lieber Wilms – wollen ’s Beste hoffen. Aber keine Aufregungen, hören Sie, davor müssen Sie sie in acht nehmen, ich sage es Ihnen ausdrücklich, eine Erregung wäre das reine Gift für die Kranke.«

Als der Physikus kurz nachher vom Hofe heruntergefahren war, blieben der Pächter und das Mädchen noch einen Augenblick nebeneinander im Garten stehen.

Tiefe Niedergeschlagenheit malte sich in den ehrlichen Zügen des Landmanns.

»Heting,« begann er endlich heiser, während er sich scheu umblickte, und seine Brust hob sich so gewaltsam, als ob er unter Bergesschwere seufze: »Es ist schrecklich, was mir fortwährend im Kopf herumgeht, aber nicht wahr, du wirst keinen Abscheu vor mir bekommen? Heting,« er ergriff ihre Hand und keuchend flüsterte er weiter, als ob’s ein Geheimnis wäre: »Ich kann das Ungewisse nicht mehr ertragen, es geht über meine Kräfte. Ich wünschte, es wäre so oder so, biegen oder brechen, entweder sie würde gesund, oder – sie ginge von uns.«

Dabei stierte er erhobenen Hauptes verzweifelt in den blauen Himmel hinauf, wie wenn er von dort oben eine tröstende Antwort erwarte.

Aber nichts regte sich, nur der Wind führte Wiesenduft in den Garten hinein.

Wilms preßte plötzlich mit beiden Händen seinen mächtigen Kopf und stöhnte laut auf: »Großer Gott – wie kann ich nur an so was denken? – – Ich bin ja woll selbst schon wahnsinnig geworden – schon wahnsinnig,« wiederholte er tonlos.

»Warum soll man nicht einen Wunsch hegen?« sprach Hedwig verloren vor sich hin.

Sie hatte bis jetzt wie ein weißes Marmorbild den Jammer des Mannes, den sie glücklich machen wollte, mitangesehen, jedoch während sie das letzte sprach, erweiterten sich ihre großen Augen schreckhaft weit. Regungslos starrte sie in die Ferne. Etwas Rotes, Blutendes flimmerte ihr dort undeutlich entgegen, ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und als sie Wilms noch einmal anblickte, wurde sie leichenblaß.

Entsetzen.

Sie mußte etwas Gräßliches erschaut haben.

Grußlos gingen die beiden auseinander. Bald darauf betrat Wilms das Wohnzimmer, um sich von seinem Weibe zu verabschieden. Munter und emsig fand er Else an ihrem Nähtisch sitzen, eifrig damit beschäftigt, Leinenzeug zusammenzusticheln.

»Wo ist Hedwig?« fragte sie rasch bei seinem Eintritt und hob ihre hellen Augen.

Wilms stutzte: »Wahrscheinlich in der Küche,« gab er unbeholfen zurück. Er log. Etwas Unerkanntes, Dunkles zwang ihn dazu.

Sein Weib ließ ihre Arbeit langsam in den Schoß sinken und sah ihn an. Eben hatte ihr Dörthe, die Obermagd, erzählt, daß sich Hedwig mit dem Herrn im Garten erginge. Und doch sagte er, daß er mit ihrer Schwester nicht zusammengetroffen wäre?

Sie atmete rasch, ihre Finger erzitterten ein wenig, in der Hast stach sie sich mit der Nadel, daß ein kleiner Blutstropfen hervorquoll.

Wilms wollte ihr rasch sein Taschentuch herumwinden. Sie wehrte ihn ab:

»Laß das. – Es macht nichts,« sagte sie fest, obwohl ihre schwache Stimme leise zitterte. Dann wandte sie sich und schaute eine Zeitlang still zum Fenster hinaus. Als sie ihrem Mann ihr Antlitz wieder zukehrte, hatte es seinen alten Ausdruck zurückgewonnen, nur ihre Augen blickten nachdenklich und grübelnd vor sich hin.

»Adieu Wilms,« sagte sie etwas gezwungen, und nachdem sie sich noch die Hände gereicht hatten, bat sie ihren Gatten: »Schick’ mir doch Christian einmal herein. Er soll eine Einladung zu Pastors tragen.«

Wilms stand bereits an der Tür. Er wurde verlegen. »Wen soll ich – –?« fragte er zögernd.

»Nun den alten Christian.«

»Ach so den – – ja – den – Elsing – den hab’ ich entlassen.«

Wilms wußte, daß er Unrecht auf sich geladen hatte, er hatte den Alten fortgejagt aus Liebe zu dem schönen Weibe, vor deren Kammer er damals gestanden. Der Mann hatte ein Menschenalter auf dem Hofe gedient. Der Schweiß brach ihm aus der Stirn, in seiner Befangenheit scharrte er mit den Stiefeln auf dem sandbestreuten Estrich der Stube hin und her und wagte die Augen nicht zu seinem Weibe zu erheben. Aber Else saß zuerst ganz stumm. »Du hast den alten Christian entlassen?« murmelte sie endlich ungläubig. »Im Ernst?«

Der Pächter nickte.

Die Kranke fuhr auf: »Aber weißt du denn nicht, daß ich dem Alten versprochen hatte, er könne hier sein Leben beschließen!« rief sie entrüstet.

In heftigem Unmut warf sie ihr Leinenzeug von sich und preßte beide Hände an die Schläfen. Die Augen, die sich immer dunkler umränderten, begannen krankhaft zu leuchten.

Auch Wilms bemerkte es. Angsterfüllt trat er näher: »Du sollst dich doch nicht aufregen, Elsing,« bat er atemlos. »Hörst du, mein Kind, nicht deswegen.«

Allein Elses Geduld war erschöpft. Ein Tränenstrom brach hervor, sie schleuderte die Schere auf den Fußboden, daß sie klirrte, und war ganz fassungslos.

»Ich will endlich wissen, was hier hinter meinem Rücken vorgegangen ist?« rief sie empört, obgleich sie nach Luft rang. »Warum hast du denn nur den alten Mann entfernt, wie?«

»Weil er sich ausverschämt benommen hat.«

»Gegen dich?«

Da kam die Frage. Wilms stotterte. Das Blut stieg ihm zu Kopfe.

»Gegen mich – Elsing? – Nein, das gerade nicht.«

»Gegen wen denn?«

»Gegen – gegen deine Schwester – gegen Hedwig.«

Else zuckte schmerzhaft zusammen. Dann schnellte sie empor und machte ein paar widerspruchsvolle Bewegungen.

»Und da hat Hedwig wohl auch verlangt,« schluchzte sie wütend, »daß er fort soll? – Nicht wahr?«

Jedoch gerade der Ausbruch ihres Zornes verstockte den Landmann. Über der Nase zogen sich bei ihm ein paar tiefe Falten zusammen:

»Natürlich,« gab er langsam zurück, »auf Hedwigs Wunsch hab’ ich’s dann getan.«

Da verlor die Leidende allen Halt.

»Aber sie hat hier nichts zu wünschen,« schrie sie jetzt gänzlich sinnlos. »Was geht dich überhaupt meine Schwester an, während du doch ganz genau wußtest, daß ich nie und nimmer meine Einwilligung zu dieser Entlassung geben würde? – Sag mir bloß, was geht dich dabei Hedwig an?«

Sie wollte noch weiter klagen, aber plötzlich brach sie ab, und ihr Blick richtete sich verwirrt auf ihren Mann.

Was ging so schnell mit ihm vor?

Er sah sie groß an, der ungelenke Riese, als ob er dieses schwache Frauenbild zum erstenmal sähe. Die Fäuste ballten und öffneten sich wieder, seltsam schwer ging die Brust.

»Elsing,« kam es dumpf heraus, indem er schwerfällig auf sie zutrat – »nu is es genug – nu will ich nichts weiter davon hören, du bist krank, das halt ich dir zugut.«

Wuchtig und nachdrücklich wie nie hatte er gesprochen. Es klang hart und herb, als ob Steine aufeinander geworfen werden.

Kopfnickend schritt er dann zur Tür. Jedoch eh’ er sie erreicht hatte, schwankte plötzlich sein Weib auf ihn zu, um mit ihren schwachen Armen seine Brust zu umklammern:

»Wilms, ich weiß ja nicht, was ich spreche,« stammelte sie halb ohnmächtig, und in dem blassen Gesicht schlossen sich müde die Augen, »ich – ich – ach Gott, ich tu’ ja alles aus Liebe zu dir. – Glaubst du das denn nicht?«

Kraftlos lag sie in seinen Armen, Wilms mußte sie aufheben.

»Ja, ja, das glaub’ ich,« murmelte er durch das eine Wort verwandelt und bezwungen – »du arme Dirn – komm, Elsing.«

Er trug sie zum Sofa und bettete sie sanft hinauf.

Wie er sich aber zu ihr niederbeugte, warf sie die Arme um seinen Hals und hob ihre Lippen stürmisch zu den seinen.

»Nicht wahr, du bist wieder gut?« lächelte sie.

»Ja, ja, Elsing.«

Ein heißer Kuß brannte auf seinem Munde. Dann befand er sich draußen und schritt gebeugter, als je zuvor, seinen Feldern zu.

In einer Furche lag ein Schmetterling, der von einem Sandklos getroffen war. Mitleidslos stampfte ihn der Landmann mit schwerem Stiefel in die Erde.

»Dir is wohl,« sprach er rauh.

**
*

Und dieselbe Hedwig, auf welche die Kranke eben anfing neidisch zu werden, trat zur Türe herein und brachte der völlig erschöpft Liegenden eine Tasse Bouillon. Das rührte die Leidende und stimmte sie um. Zwar flossen noch immer Tränen aus ihren Augen, aber sie zog dennoch das schöne blühende Mädchen zu sich nieder und streichelte zärtlich sein braunes, goldig schimmerndes Haar. »Nicht wahr, Heting,« flüsterte sie kaum vernehmbar, »du bist nicht schlecht zu mir, nicht wahr?« Und sie hob das Gesicht der Schwester empor und forschte in ihren dunklen, sprechenden Augen: »Nein, nein, du wirst mir nicht weh tun,« setzte sie getröstet hinzu.

Später, als Hedwig sie schon wieder verlassen hatte, nahm die Leidende, die da glaubte genesen zu sein, die Bibel und versuchte, ihre bösen Gedanken durch die heiligen Worte zu bemeistern. Jedoch verständnislos überflog sie die breiten Zeilen, und ihre Lippen murmelten allerlei abgebrochene Laute, die nicht hierher gehörten. Zerstreut erhob sie sich endlich und schritt mehrmals unsicher durch das weite Zimmer.

»Weshalb er mich wohl belogen hat?« sann sie, ohne eine Antwort finden zu können. Müde und abgespannt lehnte sie endlich am Fenster und blickte auf den Hof hinaus, über dem warmer Sonnenschein lag.

Da wurde sie aufmerksam. Welch eine Gestalt saß dort draußen auf dem Prellstein vor dem Tor? Ein schlotterndes abgelebtes Menschenkind hockte dort und richtete seine erloschenen Augen unverwandt auf das Gehöft.

Die Spähende beugte sich vor. Das war ja der alte Krischan? Eine merkwürdige Freude befiel die Leidende. Sie fragte sich nicht, ob es passend sei, mit dem entlassenen Knecht zu verkehren, hastig, mit fieberischer Eile lief sie auf ihn zu und berührte seine Schulter.

Mühsam hob der Greis das nickende Haupt, und als er die Frau in dem einfachen, grauen Kleide erkannte, lief ein schwaches Lächeln über die vertrockneten Lippen.

Für Else war er stets ein treuer Kettenhund gewesen.

»Arm’ Fru,« sagte er und strich mit seiner welken, zitternden Hand an ihrem Arm herunter. »Arm’ Fru.«

Das war die Begrüßung.

»Nein, nein,« rief Else laut, damit er sie verstände. »Ich bin nicht mehr krank, Krischan, ich fühle mich viel wohler.«

»Arm’ Fru,« nickte der Alte unverändert, beinahe mitleidig.

Else erschrak. Was meinte der Taube damit? Ohne Überlegung, mit jähem Erröten fragte sie ihn, warum er ihre Schwester denn beleidigt hätte?

»Ick?« flüsterte der Alte und hob das Kinn. Dann raffte er sich auf und keuchte der Wartenden etwas ins Ohr.

Ein paar Worte nur, aber Else taumelte zurück und wurde schneeweiß. Nur ein paar helle, rote Flecken glühten auf ihren Wangen.

»Du lügst, Krischan,« schrie sie auf. »Das ist nicht wahr.«

Allein der Greis verstand das unglückliche Weib nicht, oder ließ sich nicht stören. Denn von neuem streichelte er mit seiner Knochenhand über ihren Arm und brachte mit Anstrengung hervor:

»Arm’ Fru – ne, ne, ick heww’s sülwst seihn, as sei tausamen in’n Schlidden seten hewwen. De beiden täuben [Fußnote: warten] nu all ungedüllig.«

»Warten?« stöhnte die Ärmste schwach. Alles drehte sich vor ihr. Sie mußte sich an die Mauer der Einfahrt lehnen.

»Dat Sei, min arm’ Fru, starwen süllen. Se luren all up den Dod von de Fru. Dann willen sei sick friegen.«

Ein herzzerreißender Schrei, schrill, kreischend gellte über die Landstraße und wurde von den Mauern des Pachthauses zurückgeworfen.

Die Gepeinigte glaubte zu ersticken, eine eisige Hand griff nach ihrer Kehle, das Gesicht des Krüppels tanzte wie hundert Fratzen um sie herum. Noch gurgelte sie etwas.

»Hilfe – – Hilfe.«

Dann ein dumpfer Fall.

»Arm’ Fru,« ächzte der greise Knecht und beugte sich zu ihr hinab, »arm’ Kinding, sei hed di ümbracht, de anner Dirn.«

**
*

Aber Else war nicht gestorben.

»Klang das nicht wie ein Hilferuf?« fragte Hedwig die Obermagd, mit der sie gemeinsam in der Molkerei weilte. Auch Dörthe hatte den schrillen Ruf vernommen. Als sie nachforschten, fanden sie die Herrin des Hauses unter dem Unkraut des Grabenbords hingestreckt, weiß wie eine zertrümmerte Statue, die, in Schmutz und Unrat, der Vergessenheit anheimgefallen.

Ein zerschlagenes Menschenbild.

Beim Fall hatte sie einen Stein gestreift, eine blutige Narbe zog sich davon über die Stirn.

Da warf sich das schöne Mädchen in die Knie. Ihr Mund öffnete sich:

»Ist – sie tot – Dörthe?«

Die Magd schrie auf. »Ne, ne, Fräulein, sie bewegt sich ja – heben Sie ihr den Kopf.«

»Ja, ja – sie lebt,« wiederholte Hedwig erwachend.

Gottlob, was eben vor ihren Ohren gesaust und gebraust hatte, war nicht wahr. – Sie hatte ihr wohl den Tod gewünscht, aber das war im Fiebertraum, in einer Vision geschehen. – Sie lebte ja – sie lebte – Gott sei Dank. Jetzt waren es nur Gedanken gewesen, schlimme Gedanken, aber kraftlos – großer Gott – sie lebte ja.

Mit starken Armen umfaßte sie den starren, zuckenden Leib und trug ihn, wankend und zitternd unter der Last, zum Erstaunen der Magd allein, ohne Hilfe in das große Zimmer. Dort entkleidete sie die Schwester und bettete sie auf das Lager, das die Hausherrin wieder aufnahm in seine weißen Kissen.

Ja, die Kranke kehrte zurück in die linnene Gruft.

Ob für immer?

»Nein, dann gab es ja noch die feuchte, die schwarze Ruhestätte, auf der Blumen blühen,« dachte Hedwig, die wie früher an dem Bett saß und auf die sich regenden Atemzüge der Kranken lauschte. Und diese Behausung hatte sie der Schwester gewünscht, grübelte sie weiter, um allein den Mann zu besitzen, dessen Herz ihr schon gehörte, den sie erzogen, gebildet, veredelt hatte, und der sich nach ihr sehnte, wie nach der Erlösung. Der morsche Körper dort sollte im Grabe liegen, und der junge blühende Leib bei dem geliebten Manne. Sie fuhr auf und blickte nach der Kranken hin. Inzwischen hatte sie ihre ganze Kraft und Besonnenheit zurückgewonnen. Sah das wächserne, bleiche Gesicht der Leidenden nicht schon aus, wie das einer Leiche? – Ja, Hedwig war sich jetzt völlig klar. Die Kranke unten – sie selbst oben. Das war das Rechte, keine Sünde, es zu wünschen, nur der Lauf der Natur.

Leise erhob sie sich, um durch das Fenster auf die Landstraße hinauszuspähen; ob Wilms und der Arzt noch nicht kämen, nach denen sie sofort geschickt hatte. Dabei mußte sie an dem langen Mahagonispiegel vorüber. Unwillkürlich blieb sie vor ihm stehen und zog sich die Taille zurecht.

Das Glas zeigte ein wunderschönes, zur Reife strebendes Weib, ganz dazu geboren, um zu wirken, zu schaffen und glücklich zu machen. Sie lächelte schwermütig, als sie sich musterte. Noch sah sie hinein, da befremdete sie etwas. Auch das Bett hinter ihr spiegelte sich in der Scheibe und jetzt – täuschte sie sich? nein, die Kissen bewegten sich, die magere Gestalt richtete sich auf, und ein paar umflorte, düster umschleierte Augen starrten nach ihr hin.

»Hed – wig,« stöhnte etwas.

Die Gerufene flog zu Else hin und ergriff ihre Hand, die Kranke schaute sie gläsern an, als suche sie sich zu besinnen.

»Wie komm’ ich hierher?« flüsterte sie und befühlte angsterfüllt die Kissen des Bettes.

Plötzlich schob sie sich an Hedwigs Brust, stieß jedoch plötzlich die Schwester mit heftigstem Abscheu von sich.

»Else, ich bin es ja,« rief Hedwig befremdet, »erkennst du mich denn nicht?«

Allein die Bedauernswerte schien schon zu phantasieren. Sie wälzte sich stöhnend herum und bedeckte ihre Augen mit einem Kissen, wie wenn sie dem Anblick der Schwester entfliehen wollte.

»Ja, ich erkenne dich,« wimmerte sie mit so schriller Stimme, daß es die Jüngere wie mit spitzen Nadeln durchdrang. »Du hast dich hier eingeschlichen, um mir mein Glück zu stehlen. – Du wartest nur auf meinen Tod! – – Aber ich sterbe noch nicht – ich mache dir nicht Platz – ich will leben – hörst du, ich will leben!«

Hedwig verstand, um was es sich handelte. Kalt rann es ihr über den Rücken hinab. Immer den Blick auf das schluchzende, schmerzzerwühlte Weib gerichtet, tastete sie sich rückwärts zum Tisch und umklammerte dort fest die Kante. Auch sie mußte sich halten. Alles schwankte und fiel in ihr, aber während des Hinstarrens biß sie noch immer die Zähne trotzig zusammen.

Nie war sie so schön, wie in diesem stummen Ringen mit der Sterbenden.

Da raffte sich die Fiebernde nochmals auf und krallte beide Fäuste nach der Schwester. Der höchste Paroxysmus war erreicht. Hedwig grauste. Gespenstisch sah die Verfallene mit dem schwarzen Schatten im Gesicht bereits aus, als ob eine Tote noch die Fäuste schüttele.

»Geh’ mir aus den Augen,« kreischte das arme Weib – »fort – fort – ich will dich nicht sehen – du willst mich vergiften –! – Meinen Mann hast du auch verführt, – heut nacht warst du bei ihm – ich weiß alles – Jesus Christus, Ehebrecherin du! – Jesus – Erbarmen.« Dann ein langes Röcheln, und sie fiel ohnmächtig auf ihr Lager zurück.

In demselben Moment betrat Wilms das Zimmer.


X.

Ein sanfter Maientag ging zur Rüste.

Am Horizont lösten sich prachtvolle Farben ab. Ein Spiel von Gelb, Tiefblau und Rot wogte durcheinander, und durch die Äste der Fliederlaube fielen die letzten rötlichen Lichter. Ein leises Lüftchen wehte durch den Garten, sonst atmete alles Beruhigung und Abendstille.

Aber zu dieser friedlichen Umgebung paßte schlecht die wilde Bewegung, die in dem Pachthause ausgebrochen war.

Scheu und lautlos wie früher schlichen Knechte und Mägde umher, die Türangeln wurden eingeölt, damit sie die Kranke nicht durch Knarren störten, alles im Hause hüllte sich wieder in Schweigen, eine dumpfe, düstere Feierlichkeit drückte abermals auf Menschen und Gehöft herab.

Am Abend war der Kreisphysikus eingetroffen und weilte jetzt allein in dem großen Wohnzimmer. Immer stiller wurde es im Haus, nur zuweilen hörte man einen schrillen Wehruf aus der Krankenstube.

In der Fliederlaube aber saßen zwei schweigsame Menschen, die fuhren zusammen, wenn solch ein klagender Laut heraustönte, und hielten den Atem an, ob er sich nicht wiederhole.

Immer heimlicher und dämmernder wurde es um sie herum, hinter Baum und Strauch quollen lichte, weiße Nebel hervor, und die beiden verängsteten Menschen konnten kaum noch ihre Züge erkennen.

»Heting, nun geh zu meiner Frau,« forderte endlich der Pächter undeutlich, indem er noch tiefer in den Schatten der Laube rückte, »und sieh dich um, warum der Doktor gar nicht zurückkommt.«

Damit sank die große Gestalt wieder in sich zusammen und brütete so verloren vor sich hin, daß der Landmann nicht bemerkte, wie Hedwig seinem Wunsch nicht Folge leistete, sondern still neben ihm sitzen blieb.

Endlich strich sie sich das Haar aus der Stirn. Das gewahrte Wilms.

»Hedwig, wolltest du nicht – –?«

»Nein, Schwager, ich gehe nicht zu deiner Frau.«

»Du – gehst nicht?«

»Nein – nicht – bitte, Wilms – laß mich nicht mehr hinein.«

»Ja – aber – Heting, warum denn?«

»Weil – weil ich mich vor ihr fürchte,« kam es bebend über ihre Lippen.

Der Pächter starrte sie an – verständnislos – und faßte sich an den Kopf.

Noch wußte der Hofpächter ja nicht, was sich heute morgen zwischen den beiden Schwestern abgespielt hatte. Schweigend hatte Hedwig alles in sich verschlossen; der zartfühlende, weichherzige Mann brauchte es ja nicht zu erfahren, daß sie entdeckt seien, daß ihre heimliche Sehnsucht, die sich noch niemals geäußert, die noch Wunsch war ohne Erfüllung, daß diese bereits belauert und verflucht sei von der Scheidenden, die sie nun bald nicht mehr stören würde.

Alles wollte sie kalt und stolz von ihm fernhalten, um selbst zu harren und zu lauern, bis die Erlösung endlich da wäre – der Anfang des Glücks.

Aber jetzt – jetzt, wenn die wilden Wehlaute herausdrangen bis in den stillen Garten, dann ertrug sie es nicht. Dann schreckte sie zusammen und zitterte. Wie Eis lag es ihr ums Herz. War sie wirklich schuld, daß ein Menschenleben dort drinnen scheiden mußte? Hatte sie wirklich eine Verzweifelte in den Tod getrieben?

Wieder schlug ein Schmerzensschrei an ihr Ohr.

Das überwältigte sie, dem war sie nicht gewachsen, alles schrie in ihr nach Trost – Ruhe – Verzeihung.

Ein Wort der Liebe entbehrte sie, ein einziges Wort von dem Manne, dem sie ihre Jugend schenken wollte, dem sie sich hingeben wollte, bedingungslos, jetzt, wo es auch immer sei, weil er sie mit seiner dumpfen Hilflosigkeit von Anfang an betört hatte.

Aber der Pächter saß verstört da und regte sich nicht.

Da ließ Hedwig mutlos die Hände in den Schoß sinken und verzweifelt murmelte sie:

»Ich wünschte, ich wäre es, die sich zur ewigen Ruhe legen könnte, und bei euch bliebe alles beim alten. – Ich stürbe so gern.«

Aber der Tod hatte noch keine Gewalt über sie, das Leben schlug vielmehr brausend über ihr zusammen.

Wilms packte krampfhaft ihre Hand: »Du – Heting?« stammelte er, »nein, nein – nur nicht du – das könnt’ ich nicht ertragen – nur du nicht – wir wollen ja zusammen bleiben.« Er umklammerte sie und drückte sie an sich.

Und dann war es plötzlich da, was sich seit Monden näher und näher geschlichen hatte.

Ohne Übergang fühlte sie seine zuckenden Lippen auf den ihren, sie schlang ihre Arme um den gewaltigen Nacken des Mannes und unter schmerzhaften Küssen merkte sie, wie seine Tränen ihr Gesicht netzten. Auch sie schluchzte. Als ob sie sich trösten wollten, lagen sie einander in den Armen.

Es war kein freudiges Finden.

**
*

In dem weiten, ungemütlichen Wohnzimmer war es inzwischen stiller geworden. Der dicke Kreisphysikus hatte seine Untersuchung beendet und die Schwerleidende schonend befragt, durch was sie denn so plötzlich in Erregung versetzt worden wäre. Lange hatte das matte Weib seinem Drängen widerstanden, endlich jedoch, als der alte Herr sie gar so väterlich und gut in die Arme nahm, faßte sie sich ein Herz, und wie ein kleines Kind an den alten Freund geschmiegt, flüsterte sie ihm stockend und weinend ihre entsetzliche Entdeckung zu.

»O, Gott, das hätt’ ich nicht geglaubt – aber es ist wahr, Herr Doktor, Krischan hat es selbst gesehen.«

Der alte Arzt schüttelte den Kopf und redete ihr aus voller Überzeugung solche Vermutungen aus. »Ach, Unsinn – mein Kinding – Gesindegeklätsch.«

»Wirklich?« hauchte sie schwach. Aus ihren Augen brach ein Hoffnungsstrahl.

»Selbstverständlich – da kenn’ ich die beiden zu gut.«

»Ach, ja,« flüsterte die Liegende dankbar, dann hob sie den müden Blick zur Decke empor, auf welche die brennende Lampe ihren gelben Kreis warf, und drückte dem Physikus zum Schluß die Hand, »ich glaube es ja auch nicht,« sagte sie mit zuckenden Lippen, »nein, ich glaub’ es nicht – glaub’ es nicht.«

Wilms trat ein.

Sein Weib lächelte ihn an und bewegte die Lippen. Jedoch es war unverständlich, was sie verlangte.

Der Arzt beugte sich über sie.

»Wilms, Ihre Frau wünscht auch ihre Schwester zu sehen,« erklärte er sodann und begab sich selbst in den Garten, um das Mädchen zu holen. In der Laube traf er sie. Es herrschte schon Finsternis.

»Nach mir verlangt Else?« sprach Hedwig verwirrt, aber den langjährigen Freund durfte sie die Unruhe, die in ihr stürmte, nicht merken lassen. »Ja, wir wollen zu ihr.«

Welch ein Gang. Noch brannten die ersten Küsse auf ihrem Munde, noch wußte sie nicht, wie das alles möglich war, und was nun folgen sollte.

»Wird sie noch lange leiden?« forschte sie atemlos.

Ob der kleine Physikus den nachzitternden Wunsch aus dieser Frage herausgehört hatte? Vor dem Hausflur blieb er stehen und strich ihr gedankenvoll über die welligen Haare.

»Ja, sie kann noch sehr lange leiden,« gab er halblaut zurück, »und deshalb – Heting, ich glaube, es wäre gut, wenn du jetzt dauernd von hier fortgingst.«

»Ich?« Sie erschrak; – wußte er schon etwas?

»Der Aufenthalt hier ist dir nicht gut bekommen. Du kamst hier als eine Dame an, und – ich weiß nicht, aber du hast hier draußen etwas Hartes, Bäuerisches angenommen, und – es wäre wirklich für alle gut, verstehst du,« brach er ab, »wenn du zu deinem Vater zurückgingst.«

Keine Antwort.

Starr und groß blickte das Mädchen durch die Dunkelheit zu dem alten Freunde hinüber. Es war ihr zumute, als sollte sie ihm jetzt um den Hals stürzen, um ihm all ihre peinigenden Gedanken, die gierig um den Tod der eigenen Schwester herumflatterten, zu beichten und anzuvertrauen. Aber noch war ihre Kraft nicht erschöpft.

Sie faßte sich und gab dem Doktor ruhig zur Antwort: »Es ist vor allen Dingen meine Pflicht, hierzubleiben, solange Else mich nötig hat. – Ich danke Ihnen aber für Ihren Ratschlag,« setzte sie beklommen hinzu, während sie schon durch den Flur schritten.

»Es war gut gemeint,« sprach der kleine Physikus nachdrücklich.

Die Ansicht über die Unschuld des Mädchens stand nicht mehr so felsenfest bei ihm. Er maß seine Begleiterin mit einem mißtrauischen Blick.

Sie traten ein.

An dem Bette der Kranken saß Wilms, das Haupt mit den kurzgeschorenen blonden Haaren tief auf die Brust gesenkt. Er hob es auch nicht, als er den Schritt des Mädchens hörte. Seine große Hand ruhte in der seines Weibes.

Die Trostesworte des Arztes mußten der Hingestreckten Linderung verschafft haben, denn sie lag jetzt still und nickte Hedwig eifrig zu, näher heranzukommen.

Die Jüngere gehorchte. Dabei empfand sie, daß die Blicke der Kranken sie durchdrangen, und obwohl es ihr schien, als ob der silberne Ring, den ihr Wilms geschenkt hatte, jetzt an ihrem Finger weißglühend würde, und trotzdem sie glaubte, ihre Lippen würden nun von selbst die heimlichen Küsse bekennen, so bezwang sie sich dennoch und sah die Kranke groß und ruhig an.

Nur ihre Brust hob sich ängstlich. Die Blicke der beiden Schwestern trafen sich, und als Else in diese stillen, braunen Augen hineinsah, schien sie Beruhigung zu schöpfen. Wenigstens zog sie Hedwig bis auf den Bettrand nieder und streichelte ihr stumm die Wange. Aber im Niederbeugen streifte Hedwigs Gewand den sitzenden Wilms. Ein Schlag durchzuckte das junge, aufgeregte Weib. Wieder war ein Moment gekommen, wo sie sich beinahe über die Leidende geworfen hätte, um die Last von sich zu werfen und all ihre Schuld zu gestehen. Aber der Aufbruch des Arztes drängte sich zwischen ihre Gedanken. Nachdem der Physikus dem Pächter noch einige Verhaltungsmaßregeln erteilt hatte, verabschiedete sich der treue Hausfreund, und bald verkündete ein leises Rollen, daß er vom Hofe heruntergefahren sei.

Die drei bedrückten und beladenen Menschen blieben allein. Tiefes, anhaltendes Schweigen herrschte, nur zuweilen knirschte der Sand auf dem Fußboden, oder die Uhr in dem Kasten regte sich und schlug. Die Kranke lag und hatte die Augen geschlossen, aber unter den gesenkten Wimpern lenkte sie heimlich ihren Blick von Wilms auf Hedwig und von dem Mädchen wieder spähend auf den Mann.

Doch ihrem Argwohn wurde keine Nahrung zugeführt.

Die beiden saßen sich gegenüber, als wären sie sich völlig fremd und gleichgültig.

»Sollte der alte Knecht nur aus Haß gesprochen haben?« dachte Else erleichtert, »ach, wenn das doch wahr wäre.« Eine lange Zeit verging. Da bemerkte Else, die nach Art der Kranken nervös mit dem kleinen Goldherz auf ihrer Brust spielte, wie ihre Schwester sich hinüberbeugte, als wünsche sie mit dem gänzlich in sich versunkenen Manne zu reden.

»Nein – nein.« Das wollte die Leidende nicht. Mitten in ihrer Qual wurde sie eifersüchtig auf die junge Schönheit, die so ruhig auf dem Bettrand saß in ihrem weißen, mit Rosenknöspchen gemusterten Kleide, das leicht und knapp am Körper herunterfloß.

Wie voll sie erblüht war. – Nein, nein, sie sollte mit Wilms nicht reden. Else wollte allein sein mit ihrem Manne. Und jetzt fiel ihr auch auf, wie sonderbar Hedwig das Goldherz betrachtete. Das flößte der Kranken Furcht ein.

»Das Herz – ist – ein Andenken – von Wilms,« brachte sie mit Anstrengung hervor, indem sie das winzige Kleinod küßte, »und nun, Hedwig – geh’ schlafen. – Wilms soll heut bei mir bleiben – ich – ich will allein sein mit – meinem Manne – hörst du?«

Es war so bezeichnend gesprochen und von so unverkennbarer Abneigung begleitet, daß Hedwig sich rasch erhob und ohne ein weiteres Wort aus der dumpfen Krankenstube hinauseilte. Kaum war sie draußen, so atmete sie erleichtert auf und flog in ihr Kämmerchen empor, das sie seit Elses Rückkunft wieder bewohnte.

Dort oben entzündete sie Licht, öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und sog den warmen betäubenden Nachtduft ein, der von Wiesen und Äckern herüberquoll.

»Wie lange mag sie wohl noch leben?« ging es wieder ungeduldig durch ihre Sinne. Sie harrte jetzt schon wie eine Verzweifelte. Und während sie bereits halb entkleidet auf ihrem Bette kniete, streckte sie noch einmal sehnend die Arme aus, als wollte sie jemand umfangen, unauflöslich an ihrer Brust verstricken. Glut und Begehren schwemmten alle Angst fort. Wild, ohne alle Eindämmung, lag sie im Bette und lauschte, ob nicht Wilms kommen würde, ihr das Abscheiden der Verfallenen zu melden.

Ein längstvergessener Liedvers fiel ihr ein. Den summte sie in ihrer Aufregung vor sich hin:

»Der schwarze Reiter hält vorm Haus.
Komm’ feine Frau zu mir heraus,
Ein Hemd genügt – mußt eilen,
Daß ich vom ersten Morgenstrahl
Zurück bin über See und Tal;
Wir reiten viele Meilen.«

Aber der schwarze Reiter hielt noch nicht vor dem Pachthof, das Stundenglas rann noch weiter.

**
*

Es schlug eins.

Die Kranke regte sich. Mit feuchter Hand hielt sie noch immer die Rechte des Gatten umspannt. »Wilms,« flüsterte sie heiser.

Aufgescheucht fuhr der Pächter empor. In seiner Betäubung hatte er dem Schlummer nachgegeben und merkte erst jetzt, daß die erloschnen Augen seiner Frau schon lange stumpf und starr auf ihm ruhen mußten.

»Was willst du, Elsing?«

»Ich glaube – es geht bald – mit mir zu Ende,« röchelte sein Weib, und es klang, als ob ihr der Tod bereits auf der Brust säße.

»Elsing – um Gottes willen – bist du denn kränker geworden?«

»Ja, ich glaub’ wohl. – Wilms – ich dank’ dir auch für alle Liebe – – – nur zuletzt – aber sag’ mir die Wahrheit; du hast mich nie belogen: – Wenn ich nun gestorben bin – willst – willst du dann Hedwig heiraten?«

Es war schon, wie wenn die Stimme von jenseits des Grabes dränge, der Pächter umklammerte die Lehne seines Stuhls, er konnte kein Wort hervorbringen, die Zunge klebte ihm am Gaumen, seiner selbst kaum mächtig, schüttelte er nur den Kopf, während das Bild der immer mehr sich verfärbenden Frau seine ganze Seele gefangen nahm.

Langsam hob die Scheidende den Finger und bewegte ihn, wie man einem kleinen Kinde droht. Dann winkte sie ihm, er solle sich über sie beugen, und während sie den plumpen Mann mit verendender Leidenschaft küßte, flüsterte sie ihm vernehmlich zu: »Hör’ auf mich – Hedwig ist nichts für dich – ihr paßt nicht zusammen, – weil – ach, weil sie viel mehr ist als du – und erinnere dich, mein armer Mann – erinnerst du dich nicht – was ich dir – von Hedwig und dem Grafen damals erzählte –« Ein befriedigtes Lächeln spielte kaum merklich um die Lippen der Liegenden, diese letzte Rache schien ihr wohlzutun, namentlich als sie empfand, daß ihr Mann getroffen zusammenzuckte. Noch einmal öffnete sie die Augen, um dies Bild voll zu genießen, dann hauchte sie noch: »Sie ist nicht rein – nicht so, wie ich – wie ich – – wie – –«

Die Worte verklangen im Wesenlosen, eine neue Ohnmacht nahm sie hinweg, und nur auf Momente erwachte die Gequälte wieder und schrie laut auf. Kaltes Entsetzen hatte Wilms gepackt, nein, er vermochte es nicht mehr, mit der Ringenden allein zu bleiben. Er sprang zur Tür und schallend rief er durch das Haus: »Hedwig – Hedwig.«

Schlaflos lag das Mädchen noch oben in ihrer Kammer, denn sie erwartete ja etwas Ähnliches, daß Wilms ihr ein Zeichen geben würde.

Ob das schon das Ende war?

Eine nie gefühlte Lust durchdrang sie, ein schauerlich schöner Zustand, und doch klopfte ihr Herz wie eine Glocke, und die Angst übergoß sie mit schüttelndem Frost. Es war ihr, als fühlte sie Todeswehen um sich, als flöhe die Seele der Geschiedenen eben an ihr vorbei.

»Hedwig – Hedwig.«

Es klang so flehentlich. Notdürftig hüllte sie sich in Kleider und fuhr lautlos die Treppe hinab. Am untersten Absatz stand Wilms und starrte hinauf.

»Ist sie nun tot?« fragte Hedwig, sich gänzlich vergessend.

Der Landmann schüttelte den Kopf, jedoch er begriff sie wohl nicht.

»Noch nicht,« gab er tonlos zurück – »aber ich kann nicht mehr mit ihr allein bleiben, – komm’ rein.« Er öffnete und ließ das Mädchen voranschreiten. Dann setzten sie sich dicht nebeneinander an das Fenster und sahen wortlos zu dem gefolterten Körper hinüber, der nicht leben und nicht sterben konnte. Dieses jammervolle Bild konnte die Jüngere nicht ertragen. Instinktiv, und nur ihrem stärksten Trieb folgend, überall einzugreifen, nahm sie das Fläschchen mit dem giftigen Beruhigungsmittel, und ließ die Tropfen in den Löffel herabträufeln. Mechanisch zählte Wilms mit. – Fünf – sechs – sieben.« Das Mädchen setzte ab und flößte der Leidenden den Trank ein, wonach sie bald einem bleiernen Schlaf anheimfiel.

Aber Wilms Gedanken flogen weiter. Wär’s ein Verbrechen gewesen, wenn man der Kranken die ganze Flasche gereicht hätte? grübelte er. Dann hätte sie endlich die Erlösung gefunden, sie wäre eingeschlummert, um nicht mehr aufzuwachen, und Ruhe wäre in das Haus eingezogen und Frieden.

Ein scheuer Seitenblick streifte das Mädchen, das müde neben ihm saß, und jetzt merkte der Pächter erst, wie fest sie sich an ihn lehnte, um keinen Blick von der Ruhenden zu verwenden. Merkwürdig – Hedwigs Lippen bewegten sich leise, es war, als ob sie die Atemzüge der Schwester zähle. Und in diesen Minuten der Stille sah auch der Pächter, daß sie nur locker und leicht bekleidet war, überall schimmerte ihm ihre Schönheit entgegen. Er bedeckte die Augen mit der Hand, um es nicht zu beachten, aber er sah es doch. Die Frau, die sich dort immer tiefer in den Schlaf hineinwiegte, war im Augenblick, als ob sie schon versunken und vergessen wäre.

Leise und weich schmiegte sich Hedwig an ihn, als ob sie einschlummern wollte.

Beide Schwestern waren müde, sehr müde.

Wilms wurde immer seltsamer zumute. Da wurde leise an der Haustür geklopft.

Als der Pächter öffnete, sah er draußen in der klaren, sternenhellen Nacht Pastor Schirmer im vollen Ornat stehen, nach welchem Wilms auf der Sterbenden Wunsch geschickt hatte.

Schweigend führte er den späten Gast ins Wohnzimmer. Der Geistliche mußte irgendwo im Vorüberwandern einen Zweig blühend roten Rotdorns abgepflückt haben. Den legte er als letzte Gabe auf das weiße Linnen. Dann wurde das Kruzifix vor das Bett gerückt, die Lichter angesteckt, und das zitternde Männchen wollte der Schlummertrunkenen die Sterbesakramente spenden. Jedoch still und starr lag die Wegbereite und hörte nichts von dem, was sie sonst leidenschaftlich in sich aufgenommen hätte. Aber die Gebete, die der Geistliche statt der heiligen Handlung vor sich hinmurmelte, waren doch nicht in den Wind gesprochen. Wenn es der einen Schwester auch verloren ging, die jüngere und schönere folgte seit langer Zeit zum erstenmal einer kirchlichen Handlung mit zurückgehaltenem Atem und brennenden Augen.

Es war ihr, als wären dies die Hochzeitsweisen, die für sie und den Mann neben ihr gehalten würden – dicht neben dem Lager der Scheidenden.

»Amen, – Amen,« schloß der Priester.

»Amen,« wiederholte Hedwig fest und mutig.

Der Pastor wollte allein bei Else bleiben, und so gingen die beiden andern still hinaus. Vor der Tür verharrten sie noch einen Augenblick und lauschten zurück. Drinnen hörten sie, wie der Priester mit lauter, erregter Stimme Gebete aufsagte.

Dann trennten sie sich, ohne sich die Hand zu reichen, ja, ohne Gruß. So hoch war schon die Spannung zwischen ihnen gestiegen, daß sie sich nichts mehr zu sagen hatten.

Es war nur noch ein Hindrängen.

Müde und gleichgültig suchte Hedwig ihr Lager auf, und Wilms wachte in der dunklen guten Stube neben Elsens Zimmer die bange, traurige Nacht durch.

Drinnen sang das zitternde, greise Männchen immer hingebungsvoller, und was ärztliche Kunst nie vermocht hätte, das geschah hier.

Else schlug plötzlich die müden Augen auf, und ein seliges Lächeln verbreitete sich über ihr ganzes Gesicht. Das Tiefste in ihrem Leben war getroffen und klang jetzt aus. Ja, sie wollte wie ein Kind Gottes, wie eine Fromme sterben. Mit unsäglicher Mühe richtete sie sich auf und klammerte sich vor Freude weinend an den Geistlichen: »Sie – sind – es, Herr Pastor?« hauchte sie, »o, wie schön – – dann ist mir wohl – o, so wohl –«

Und sie legte ihren Kopf andächtig gegen das weiße Greisenhaupt, und während sie durch das Fenster zu den hellflimmernden Sternen hinaufsah, sang sie ganz leise mit ersterbender Stimme das Auferstehungslied mit:

»O selig, der das Heil erwirbt,
Der in dem Herrn, dem Mittler stirbt!
O selig, wer, vom Laufe matt,
Die Gottesstadt,
Die droben ist, gefunden hat.
Nun, Tor des Friedens öffne dich:
Hinein! Hier schließt die Wallfahrt sich.
Ihr Schlafenden im Friedensreich,
Gönnt allzugleich
Auch mir ein Räumlein neben euch.«

Im dunklen Nebenzimmer saß ein Mann und hörte alles, was sich drinnen begab. – Wehmut, Verzweiflung, Leidenschaft stiegen in ihm auf, ein krampfhaftes Schluchzen drängte sich in seine Kehle; bebend, überwältigt faltete er die Hände und stammelte das nach, was zu ihm hereinschallte.

Er wußte nicht mehr, was er betete.


XI.

Der letzte Morgen für die Kranke brach an.

Pastor Schirmer, der gutmütige, greise Geistliche, hatte seinem Pfarrkind versprochen, bei ihm auszuhalten, und so fand das einströmende Tageslicht die blonde Frau in einem tiefen Schlaf, aus dem sie erquickt erwachte. Zu seinem Erstaunen erfuhr der Pastor, daß die Leidende sich wohler fühle. Nur das, was sie sprach, erschien ihm gereizt, wirr, unzusammenhängend, auch funkelten die Augen unruhig über alle Gegenstände im Zimmer umher. Ihre mageren Finger befanden sich in beständiger Bewegung und kratzten auf der Bettdecke auf und ab.

»Hedwig – soll kommen – und mich kämmen – und waschen,« verlangte die Kranke dann, »und soll – einen Spiegel mitbringen.«

Der Geistliche schüttelte besorgt das Haupt, aber er schickte doch nach dem Mädchen hinauf, um sich dann selbst mit herzlichen Worten zu verabschieden.

Wilms trat leise in das Wohnzimmer, jedoch sein Weib beachtete ihn gar nicht und erst, als er ihr scheu »Guten Morgen, Elsing« bot, lächelte sie sanft und sah vor sich nieder. Sie schien sich mit ihren Gedanken kurz nach ihrer Hochzeit zu befinden, denn sie flüsterte verschämt:

»Wenn ich – ein Kind bekomm’, – und es – wird ein Mädchen, dann – soll Hedwig – Pate stehen. – – Ist Hedwig noch nicht da?«

Und immer in tiefen Gedanken löste sie ihr Haar, nahm es nach vorn und wickelte eine Strähne um ihren Finger. Als Hedwig endlich erschien, blickten sich die beiden Schwestern einen Moment lang seltsam an. Else sanft und glückselig lächelnd, die Jüngere hingegen erschrak und konnte sich das Bild nicht erklären.

»Komm’, Heting,« flüsterte die Kranke, die von allen Schmerzen befreit schien, »waschen und – kämmen – das viele Haar drückt mich auf den Kopf – hast du auch so weiches Haar? – Sieh mal, ich kann mich ganz drin einwickeln – Wilms freute sich immer damit – – – Heting« – hier herzte sie die jüngere Schwester zärtlich und streichelte ihr die Wange, »wenn du seine Frau bist, mußt du es auch immer aufmachen. – Dann küßt er es. –« – Und während sie mit ihrem fahlen Gesicht in den Spiegel sah, summte sie:

»Ihr Schlafenden im Friedensreich
Gönnt allzugleich
Auch mir ein Räumlein neben euch.«

Aber es war eine Tanzmelodie, wonach sie sang, und sie machte ihrem Spiegelbild ein neckisches Gesicht, als ob sie sich sehr schön fände.

Kalt durchschauert blickten die beiden anderen auf sie hin. Dies war das Furchtbarste, was sie mit der Leidenden bis jetzt durchgemacht hatten.

Hedwig erfüllte mit leichter Hand alle Wünsche der Kranken, bis die Schwester plötzlich zusammenfuhr, um das Mädchen starr anzublicken.

Sie hatte etwas entdeckt.

Dann schaute sie wieder auf Hedwigs Finger hinunter, um endlich von neuem ihre funkelnden Augen über ihre Pflegerin gleiten zu lassen.

Einen Moment sann sie nach.

»Heting,« begann sie mit singender Stimme, »was trägst du da für einen Ring? – sieh mal, von Silber – den wollte mein Mann mir ja immer schenken, und nun hat er ihn dir gegeben – – sieh mal – bist du nun seine Braut?«

»Else – laß meinen Finger – es tut mir weh.«

»Bist du seine Braut? – Komm’, Heting, ich will dir was sagen,« sie beugte sich herab und kreischte plötzlich mit schneidender Stimme: »Ehebrecherin!« – Ehe der entsetzte Mann das Mädchen noch von den umklammernden Griffen befreien konnte, führte die Rasende die Hand Hedwigs zum Munde und biß, wie laut die Vergewaltigte auch schrie, in den Ringfinger hinein und kratzte sie und zerrte sie an den Haaren.

»Hilfe – Hilfe,« rief Wilms. Mit einem Sprung war er am Bett, hob das Mädchen hoch in die Höhe und schleppte die Halbbetäubte ins Nebenzimmer hinein. Sie zitterte am ganzen Leibe und schlang schluchzend und Hilfe flehend die Arme um seinen Hals.

Da vergaß sich Wilms.

Er raffte das Mädchen, das er noch immer trug, an sich und voll wehen Mitleids preßte er ihr wütende Küsse auf Mund, Stirn und Hände, als müsse er alles gut machen, was eben an der Mißhandelten verschuldet war.

»Heting, mein liebes Heting – großer Gott – wenn’s nur schon vorüber wär’.«

Und seinem Wunsch sollte Erfüllung werden. Ein seltsam verröchelnder Laut tönte hinter ihnen auf, Else war, als man ihr die Jüngere geraubt hatte, ihrem kranken, delirierenden Gehirn nachgebend, aus dem Bett gesprungen, hatte mit nackten Füßen die anstoßende Tür erreicht und geöffnet.

Da sah sie das Bild und hörte die Küsse.

Langsam legte sie ihren Arm an das kalte Holz, machte mit der andern Hand eine matte Bewegung in die Luft hinein, und neigte darauf ihr Haupt wie müde, gegen den erhobenen Arm zurück.

Und sie hatte auch genug geschaut.

Ein Röcheln, ein schwerer, dumpfer Fall, die Augen schlossen sich, und im weißen Hemde lag eine Leiche auf dem Estrich.

»Elsing – sie stirbt.«

Keine Antwort.

Da schleuderte der Landmann das Mädchen von sich und stierte wie geistesabwesend auf die starre Hülle seines Weibes herab.

In der Kastenuhr schlug es die zehnte Morgenstunde, ein Pferd wieherte gerade im Stall.

Der schwarze Reiter hatte die feine Frau im weißen Hemde geholt und jagte donnernd mit ihr über die Brücke, die in die Ewigkeit hinüberführt.

**
*

Es war nach dem Begräbnis.

Die Leidtragenden hatten sich entfernt, und nun wollte sich auch der Rendant Schröder, der Vater der beiden Schwestern, verabschieden. Er sah der Verstorbenen sehr ähnlich, der alte Herr, trotz seines würdigen, schwarzen Gehrocks, des militärisch gescheitelten schneeweißen Haars, und der winzigen Ordensrosette im Knopfloch. Traurig ging er auf Wilms zu, der teilnahmslos in der Sofaecke saß, und drückte ihm schwermütig die Hand: »Gott hat Schweres über uns verhängt,« sagte er unsicher, »wir müssen uns aber in seinen Willen fügen, mein Sohn – ich hätt’ auch nicht geglaubt, daß ich das noch erleben würde.«

Damit zog er ein weißes Taschentuch und weinte bitterlich hinein. Allmählich ermannte er sich und wandte sich an Hedwig, die schwarzgekleidet am Fenster saß und träumerisch über den Hof fort auf die sonnige Landstraße hinausblickte.

»Komm, Heting, mein Wagen hält schon draußen, deine Sachen können dir nachgeschickt werden. Ich will jetzt wenigstens meine Einzige um mich haben.«

Sie sollte fort?

Eine lähmende Verwunderung erfüllte das Mädchen; an diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht. – Und doch, es war ja so natürlich, sie konnte doch vor den Augen der Welt nicht allein mit dem Mann im öden Pachthof bleiben.

Sie erhob sich. Unterstützung heischend, sah sie zu Wilms herüber.

Aber der rührte sich nicht. Er empfand nicht, wie schön sie war, immer mit demselben unbeweglichen Gesicht saß er geduckt in seiner Ecke und sah schweigend und gleichgültig vor sich hin. Mit der gleichen Miene hatte er in den letzten Tagen alles an sich vorüberziehen lassen. Den Sarg, die Leiche, die brennenden Lichter, die singenden Dorfkinder, den alten würdigen gebeugten Vater, die in die Gruft polternden Erdschollen, nichts hatte dieses stumpfe, gelassene Schweigen zu brechen vermocht.

Aber jetzt – jetzt, wo man ihm die Geliebte entreißen wollte – da erwartete Hedwig, und ihre Augen begannen immer sehnsuchtsvoller zu leuchten – jetzt mußte er doch alle Erinnerungen von sich werfen, um sich das Weib seiner Wahl nicht nehmen zu lassen.

O, sie war ja überzeugt, nun würde er aufflammen, nun – – sie horchte und wartete, allein immer dasselbe Schweigen.

Sie scharrte ungeduldig mit dem Fuß.

»Wilms,« sagte sie leise.

Jedoch der Mann in der Ecke bewegte sich gar nicht, düstere Bilder mußten vor seiner Seele stehen, denn er wandte den Kopf und starrte auf die Stelle, wo Else im weißen Hemde gelegen hatte. Dann schauerte er zusammen.

»Komm, Heting,« drängte der Vater. »Es wird nun Zeit, wenn wir noch vor Abend zurück sein wollen.«

Der alte Herr griff nach seinem Hut und sah sich noch einmal still und betrübt in dem weiten Zimmer um, wo seine Tochter gestorben war.

Da tat das Mädchen einen tiefen Atemzug, ihre ganze Gestalt reckte sich: »Vater,« entgegnete sie rasch und bestimmt, »ich kann dich jetzt nicht begleiten, ich muß noch etwa eine Woche hier bleiben, weil ich Wilms versprochen habe, ihm alles in der Wirtschaft zu zählen und instand zu setzen, was durch Elses Krankheit in Unordnung geraten ist. Aber dann« – und wieder atmete sie seltsam schwer – »dann komm’ ich dir nach.«

Der Rendant stutzte. »Eine Woche noch?« wiederholte er verlegen und putzte an seinem Zylinder. »So? – Mein Sohn,« kehrte er sich fragend zu dem Landmann, »wäre es dir lieber, wenn Hedwig noch – noch hier bliebe? Ja?« Er wartete noch eine Weile, und da Wilms ihn augenscheinlich gar nicht gehört hatte, mußte er dieses Schweigen wohl für Zustimmung halten, denn er fuhr langsam und bedenklich fort: »Nun, wenn du es verlangst – natürlich – du hast ja auch einen so großen Verlust erlitten, daß du dich gewiß ein bißchen nach Gesellschaft sehnst, na, dann kann ja Hedwig auch noch acht Tage hier bleiben, ich habe nichts dagegen – obwohl, hm, ja, ich wünschte nur, du würdest mit der Zeit ein wenig ruhiger – und – nun adieu, Wilms – und daß wir uns zu besserer Gelegenheit wiedersehen, mein Sohn. Immer Kopf oben – hörst du?«

Hier schwankte die Stimme des alten Beamten doch bedenklich, er kehrte sich rasch ab, und bald nachher fuhr er als der letzte Leidtragende von dannen.

Hedwig und der Pächter befanden sich wieder allein.

In den ersten Stunden konnte Hedwig ihr Herz klopfen hören, so hell und erwartungsvoll pochte es. »Was nun wohl folgen würde?« dachte sie. – Der Weg war frei, die Last abgeschüttelt, versunken, endlich gab es nichts Trennendes mehr zwischen ihnen, und mit verzehrender Gewalt verlangte es sie danach, daß der starke Mann sie nun in die Arme nehmen und sie küssen und wiegen sollte, noch zärtlicher und glühender, als vor wenig Tagen, da Else darüber gestorben war.

Aber der Tag verfloß, ohne daß der stille Mann von ihr etwas verlangte oder begehrte; schweigend nahm er die Mahlzeiten ein, stumpf und trübsinnig brach er des Abends auf, um sich in seine Kammer hinauf zu begeben.

Er hatte während der langen Zeit nicht ein Wort mit dem Mädchen gewechselt. Wie ein Alp bedrückte es bereits ihre Brust.

Schon befand sich die große gebeugte Gestalt an der Tür, da rief ihn Hedwig atemlos an.

»Wilms.«

Er blieb stehen, hob aber nicht den Blick.

»Willst du – willst du morgen nicht auf deine Felder gehen?«

Der Landmann nickte gleichgültig und legte die Hand auf die Türklinke.

Jetzt würde er verschwinden.

Es war die höchste Zeit.

»Wilms – willst du nicht noch hier bleiben?«

Ein scheuer Blick streifte das schöne Geschöpf, dann irrte er an ihr vorüber und fiel auf das große zugedeckte Bett, das einst die Heimstätte der Kranken gebildet.

Eine mächtige Bewegung lief durch den riesenhaften, ungelenken Körper, man sah ihm an, daß er sich beherrschen und bezwingen wollte, dann aber schlug Wilms beide Hände vors Gesicht, und ein halblautes, ersticktes Stöhnen drang zu der Erschreckten hinüber.

Es war das wilde Schluchzen eines verzweifelten Menschen, eine erschütternde, trostlose Selbstanklage.

Im nächsten Moment war der Pächter hinter der Tür verschwunden, und die Zurückbleibende vernahm nur noch, wie seine Tritte auf der knarrenden Treppe verhallten.

Da stand sie und starrte mit bangem Entsetzen auf die leere Pforte.

War es wirklich Wahrheit? – Sie befand sich jetzt allein? Der Mann, den sie erheben, befreien, glücklich machen wollte, dem sie mit weichen Händen unter Küssen die Schmerzenslast von den wunden Schultern zu nehmen gedachte, der flüchtete vor ihr? Der würdigte sie keines Wortes?

Sie sah sich im weiten, hellerleuchteten Zimmer um.

Nein, nein, an Schatten, an wiederkehrende Geister, die die Stätten der Sünde umschweben, glaubte sie ja nicht. Wilms war nur überreizt, unter ihrer Pflege würde ihm die Gesundheit schon wiederkehren, und die Lust am Leben, und die Lust an ihr.

Trotzig zog sie das Goldherz aus ihrem Kleide, das sie der Toten mit fester Hand abgenommen, und las mit ihren roten zitternden Lippen den Namen »Wilms«.

Dann entkleidete sie sich, und ohne Furcht, mit einem seltsamen, fast übermütigen Lächeln, suchte sie ihr Lager auf und beschloß, von Wilms zu träumen.

Nein, nein, der Schatten war beschworen, Gespenster kehren nicht wieder, die Toten stören die Lebenden nicht, getrost bettete sie ihr Haupt auf den weißen Arm, und im Traum, der sie zu dem geliebten Manne führte, lächelte sie wieder ihr stolzes, verführerisches Lächeln.


XII.

Am nächsten Tag feierte man Christi Himmelfahrt.

Zum erstenmal saßen Wilms und Hedwig in der Fliederlaube beim Kaffee.

Schwüle, dumpfig-warme Luft strich über die Erde, Bäume und Blumen standen regungslos, als sähen sie furchtsam zu den grauen Wolken empor, die sich dort oben zu gewaltigen schwarzen Bergen zusammenballten, die Hofschwalben umkreisten die Scheunen in schrägem, niedrigem Flug, dumpfe Gewitterstille ließ Menschen und Vieh verstummen, nur die Heuschrecken und Frösche auf der Wiese summten und quakten lauter als je.

Und still und schwül türmte sich auch etwas zwischen den beiden Menschen auf, die lautlos einander in der Laube gegenüber saßen. Geschäftig und leidenschaftlich für ihn besorgt, hatte Hedwig dem Pächter alles bereitet und zurecht gemacht, er hatte auch manchmal wie zum Dank mit dem Kopf genickt, jetzt aber brütete er wieder, das Haupt in die Hand gestützt, düster in das brauende Unwetter hinein, das wie an ungeheuren schwarzen Seilen bereits vom Himmel herunterhing. Schon klatschten einzelne, schwere Tropfen von der Höhe auf den Rasen.

Da erhob sich der Landmann, und Hedwig vernahm, wie er nach dem Kutscher rief, zugleich bemerkte sie auch, daß vor der Einfahrt bereits das Korbfuhrwerk wartete.

»Willst du fortfahren?« begann sie befangen.

Wilms nickte.

»Geschäftlich?«

Wieder neigte der Pächter schwerfällig das Haupt.

»Wirst du lange fort bleiben, Wilms?«

Noch immer suchten die Augen des Mannes scheu den Boden, aber zum erstenmal seit Tagen erteilte er doch eine Antwort. Gepreßt kam es heraus: »Ja, es kann woll – ein paar Tage dauern.«

Da freute sich das Mädchen, daß sie die erste war, die wieder seine Stimme vernahm, und im überwallenden Gefühl streckte sie ihm beide Hände entgegen, um sich von ihm zu verabschieden.

Aber er rührte ihre Finger nicht an. Düster stand der große Mann vor ihr. Wohl blieben seine überbuschten Augen groß und starr an ihrer rosigen Haut haften, wie wenn sie sich von dem Anblick nicht trennen könnten, als er aber scheu den Kopf hob, da umfaßte er das Mädchen mit einem so jammervollen, so verängsteten und geistig zerrütteten Ausdruck, seine breiten Lippen zitterten derartig krampfhaft, daß das Mädchen in jähem Entsetzen zurückbebte.

Ein kalter Schrecken rann durch alle ihre Glieder.

Sah sie nicht, daß der gequälte Mann mehrfach ansetzte, als wollte er dennoch ihre Hand ergreifen, um bald darauf seine Rechte wieder sinken zu lassen?

Was hinderte ihn nur?

Etwas Unsichtbares, Unerklärliches mußte sich regelmäßig vor ihm erheben, und mit einem plötzlichen Entschluß riß er sich jäh von dem Mädchen los und lief, ohne ein weiteres Wort, wie gehetzt zu seinem Wagen.

Die Peitsche knallte, die Pferde zogen an, und bald hörte die Zurückbleibende, wie der Wagen davonrollte.

Matt lehnte sie sich an die Wand der Laube und sah abgespannt in den grauumzogenen Himmel hinauf, von dem der Gewitterregen noch immer nicht auf das lechzende Land niederrauschen wollte.

»Das also ist das Ende?« dachte sie. Sie griff sich an die Stirn und fuhr auf. Ihre ganze Umgebung schien ihr plötzlich so fremd; wie konnte sie nur in diesem öden, verwunschenen Gehöft so lange gesäumt und geharrt haben, sie, die doch mit ganz anderen Hoffnungen in die Welt hinausgetreten war?

Ein langes blendendes Leuchten ging über den Horizont, ein dumpfes fernes Murren schob sich dazwischen, und ein kurzer Regenguß pfiff über das Land.

Die Bäume schüttelten sich und richteten sich auf. Auf Blättern und Halmen perlten große Tropfen.

Aber auch Hedwig war aufs neue erfrischt, sie hatte ihre Schwäche überwunden. – Spielend dehnte sie ihre Gestalt und schritt mit ihrem kräftigen Gang in die Wirtschaftsgebäude, um ruhig und sicher, wie früher, das Gesinde zu leiten und in Wilms Abwesenheit die Geschäfte des kleinen Gutes zu besorgen.

»Nimm die leeren Säcke dort vor dem Fenster fort, Dörthe,« ordnete sie mit ihrer frischen Stimme an.

»Ja Fräulen, die liegen man noch da, damit die sel’ge Frau nich durch das Wagengerassel gestört werden sollt.«

»Nun ja – aber meine Schwester braucht sie jetzt nicht mehr, wir aber könnten die Säcke vielleicht noch nötig haben.«

Die Leute gehorchten ihr. Unbedingte Ordnung und widerspruchsloser Gehorsam waren in das Gehöft eingekehrt.

Und Hedwig selbst hatte ihre ganze Sicherheit zurückgewonnen.

Sie wußte jetzt, daß über Wilms der finstere Geist der Schwermut schwebe, daß die Tote dennoch aus dem Grabe auferstanden sei, um unversöhnt die beiden, die nach einander verlangten, auseinander zu scheuchen. Aber sie scheute die Frau im weißen Hemde nicht. Die Lebende war vor ihr gewichen, und deshalb wollte sie alle Kraft einsetzen, um auch den blutlosen Schatten aus dem Hause zu jagen.

Draußen schlugen harte Tropfen gegen das Wirtschaftsgebäude, aus den grauen Nebelwänden rollte und polterte es dumpf heran.

Eine zischende Windsbraut wirbelte über das Gehöft.

**
*

Wilms fuhr die Landstraße entlang. Sein Ziel waren ein paar große Güter in der Umgegend von Greifswald. Als er an der Kirche von Boltenhagen vorüberkam, schallte Orgelklang und Gesang heraus, so daß er aus seiner Versunkenheit aufgestört wurde.

Er wunderte sich.

»Jochen, was is heut für ein Tag?« fragte er seinen Kutscher.

»Ja Herr, weiten Se dat nich? Hüt hewwen wi ja unsen Herrn Christ sin Himmelfahrt.«

Wilms faßte sich an den Kopf.

Hatte er denn alle Zeitrechnung verloren, daß er von dem hohem Festtag gar nichts wußte? Früher hatte er an diesem Tage stets neben Else im eichenen Kirchenstuhl gesessen und andächtig mitgesungen. – Seitdem aber Hedwig auf dem Gehöft wirkte – – – nein, nein, er wollte nicht weiter denken.

Rasch sprang er vom Wagen herab und schritt hastig über die Treppen in das Gotteshaus hinein.

Vielleicht wohnte hier doch das Heil, vielleicht konnte hier die unselige, feige Angst von ihm genommen werden.

Die Kirche war gedrängt voll. Eben schwieg die Orgel, und der kleine Pastor Schirmer begann von der Kanzel zu predigen. Rührend und beweglich schilderte er die Leiden und göttliche Sanftmut des Gottessohnes, und wie er nach seiner Auferstehung den Jüngern, die ihn nicht kannten, in seinem weißen Gewande am See Tiberias erschienen sei, um sie den gesegneten Fischzug tun zu lassen.

»Und seine Gestalt war wie der Blitz, und sein Kleid weiß wie der Schnee.«

Da zuckte Wilms, der auf der hintersten Bank Platz genommen hatte, erbleichend zusammen. Das Wahnbild, das ihm vorschwebte, trat wieder vor seine Augen, es wurde schwarz vor ihm, Kirche und Menschen drehten sich im Kreise.

Die stürmische Angst jagte ihn von dannen.

Nur hinaus – in die Luft – ins Freie, daß er atmen konnte. Schwankend erhob er sich.

Allein der Eintritt des Pächters war von seinen Nachbarn bemerkt worden. Leise flüsterten sie sich zu, wie elend, krank und abgezehrt der Landmann aussehe, und Förster Eltze, der in seiner Nähe gesessen, folgte ihm hinaus.

Und gerade als der nach Luft Ringende seinen Wagen erreicht hatte, ergriff der gutmütige Riese die Hand des Pächters und hielt ihn zurück.

»Wilms, sind Sie krank?«

Der Pächter starrte den andern an.

»Ja – Eltze – ich kann – in der Nacht nich mehr schlafen.«

»Ach, Unsinn, alter Freund, warum denn nicht?«

»Weil – weil meine Frau immer bei mir is.«

»Wilms – um Gottes willen – alter Freund, das reden Sie sich bloß ein.«

Der Pächter zuckte die Achseln, und während er sein Gefährt bestieg, antwortete er wehmütig: »Das kann woll sein,« dann grüßte er den Förster noch kurz, und im nächsten Moment rollte das Fuhrwerk in das graue Unwetter hinein.

»Jochen, gib auf den Herrn Obacht,« rief Eltze voller Besorgnis den Abfahrenden nach.

Und er hatte recht mit seiner Warnung, der gutmütige Weidmann.

Der finstere Geist, der den Unglücklichen mit seinen schwarzen Fittichen beschattete, senkte sich immer tiefer auf sein Opfer herab, so daß die Nacht noch düsterer in ihm wurde.

Am Himmel zuckte und leuchtete es, in langen Linien schossen die schmalen Feuerstreifen dahin, aus den dunklen Wolkengründen heraus rollte der Donner und hallte verendend über die weite Ebene.

So waren die Reisenden an einen unbeträchtlichen Landsee gelangt, der mit einem Wasserarm die Chaussee unterbrach, so daß sie an dieser Stelle überbrückt war.

Aus Binsen und Schilf, die das unbewegte Wasser umgaben, quollen feuchte graue Dünste empor, fahl und farblos lag die Fläche, nur an der Brücke erhoben sich ein paar verkrüppelte Silberweiden.

Eben rasselte das Gefährt über das morsche Holz, als Wilms Blick gleichgültig über den schweigenden See schweifte.

Aber dann – der Pächter richtete sich auf und stierte auf das jenseitige Ufer hinüber.

Er mußte etwas Furchtbares erschauen, denn kalter Fieberschweiß brach ihm aus allen Poren, mit der Hand umfaßte er die Schulter seines Knechtes.

»Jochen,« schrie er, »kehr’ um.«

»Herr – Herr Jesus – wat is denn?«

»Jochen – Jochen – kehr’ um.«

Der Kutscher begann am ganzen Leibe zu zittern:

»Herr, Se sünd woll krank? Wat is denn dor äwern See? – Seggen Se mi’s doch – ick fürcht mi.«

Aber der Landmann brachte kein Wort hervor. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er über die graue Fläche, denn der düstere Geist, der über ihm war, malte ein entsetzliches Bild.

Dort drüben stand eine weibliche Gestalt, ihr Hemd war »weiß wie der Schnee«, ihre Augen funkelten wie grelle Blitze, und über ihr entlud sich schmetternd ein krachender Donnerschlag.

Da begann es dem Knecht vor dem hinstarrenden Manne zu grausen, mit aller Kraft warf er die Pferde herum und jagte unter prasselndem Regen mit seinem ohnmächtigen Insassen den Weg, den er gekommen, wieder zurück.

**
*

Zwei lange, bange Wochen verstrichen, dann konnte der Pächter das große Bett in der Wohnstube, an dem Hedwig Tag und Nacht gewacht hatte, verlassen.

Es schnitt allen ins Herz, als sich der ehemals so riesenhafte Mann kraftlos reckte und sich mit einem wehmütig lächelnden Blick im Spiegel beschaute.

»Na, Wilms, nu frische Luft,« rief der dicke Dr. Rumpf – »und dann, Kinding, die Fenster auf und was Ordentliches für den Magen – – paar Buddeln Rotspohn, und Hauptsache: raus, raus!«

Und am Arm des Physikus ließ sich Wilms in den Garten leiten, in dem jetzt die Linden blühten und einen erquickenden, würzigen Duft verbreiteten.

»Ach, hier ist es schön,« sagte der Landmann, als er in der Laube saß, bewundernd, »komm, Heting – und Sie auch, Herr Doktor, wir wollen noch ein bißchen zusammenbleiben.«

Die beiden andern warfen sich einen bedeutsamen Blick zu und gedachten ihn durch ein harmloses Gespräch ein wenig aufzumuntern, jedoch der Pächter ließ sie nicht zu Worte kommen.

Er war so gesprächig, wie seit vielen Jahren nicht. Alles, womit ihn die Natur umgab, erinnerte ihn an Begebenheiten aus seiner Jugend, aus seinen Lehrjahren und erweckte auch das Andenken an seine Mutter.

»Trägst du noch den Ring, Heting? – Nicht wahr, den wirst du doch immer in Ehren halten? Weißt du noch – am Weihnachtsabend?«

Nur Else erwähnte er nicht. Es schien, als ob das Grab sie nun doch festhalte, als ob die Erde sich endlich dauernd über ihr geschlossen hatte.

Als der Physikus nach einiger Zeit seinen Wagen bestieg, folgte ihm Hedwig und fragte rasch und verzweifelt:

»Nun, Herr Doktor, nun?«

»Ja, was soll ich sagen? – Ernährung, mein Kind, Ernährung. Das ist das allereinzigste Mittel.«

»Ja aber, Herr Doktor, er ißt ja fast gar nichts.«

»Heting,« sprach der Physikus ernst und strich dem Mädchen über die heiße Stirn, »jetzt hängt alles von dir ab, verstehst du?«

»Nein.«

»Der Mann ist seelisch krank,« sagte der Doktor langsam, indem er ihr fest in die Augen sah, »verstehst du jetzt, warum alles von dir abhängt?«

Da wurde das Mädchen blaß und wieder dunkelrot und sah vor dem alten Freunde zu Boden.

Sie verstand ihn.

»Und morgen komm’ ich wieder,« rief der Physikus in anderem Ton, küßte seiner jungen Freundin im Vorübergehen die Hand und fuhr vom Hofe herunter.

Mit glühenden Wangen lief Hedwig in den Garten, jetzt wußte sie es, was der erfahrene Arzt verlangte, sie sollte den geliebten Mann verlassen. – Sie – sie selbst hielt man für die Ursache, daß er nicht zur Ruhe kommen könnte; war es möglich, daß ihre Gegenwart ihn quälte und peinigte? – Glaubte er sich wirklich sündenbeladen, weil er ihr blühendes Leben der Todverfallenen vorgezogen? – Die Tote siegte, die Tote ging im Hause umher, die Tote behauptete den Platz an seiner Seite. – Nein, so konnte sie sich nicht verscheuchen lassen. – Schmeichelnd setzte sie sich neben Wilms, und als er sie musternd anlächelte, schlang sie ihre weichen Arme um den abgezehrten Mann, und flüsterte mit ihrer angsterfüllten bebenden Stimme: »Wilms, ich liebe dich ja so sehr, nicht wahr, jetzt wirst du auch wieder gesund werden?«

Und wie ihre Lippen sich auf die seinen legten, da war es ihm, als ob ein köstlicher, erfrischender Heiltrank in ihn hinüberströme, der alle seine Glieder mit einer wohltuenden Schlaffheit erfüllte, so daß er sein Haupt müde an ihre Brust lehnte und dort zu schlummern strebte.

»Ja, Heting,« murmelte er erquickt, »nun werden wir bald sehr glücklich sein.«

»Und nicht wahr, an Else erinnerst du dich nicht mehr so wie damals?«

»Nein, nein, Heting – laß das – an meine Frau denke ich nich mehr – will nich mehr – nur du.«

Waren es die Lindenblüten, die der leise Wind von den Zweigen schaukelte, war es Hedwigs Nähe, der müde Mann schlummerte an ihrer atmenden Brust wie ein beruhigtes Kind sanft und sicher ein.

Eine Schwarzdrossel nistete oben in der Krone der Linde. Die sang das Schlummerlied.

Aber in dem Mädchen zehrte und bohrte der Gedanke an die verlangte Trennung weiter.

**
*

Ein andermal sah der Kranke aufmerksam und nachdenklich auf Hedwigs stolzen, weißen Hals, von dem sich ein schmales, goldenes Kettchen abhob.

»Heting, trägst du da nicht – – –?«

»Ja, Elsens Goldherz.«

»Das besitzt du?«

»Ja, ich hab’ es ihr abgenommen.«

Der Pächter stützte das Haupt und blickte sinnend vor sich hin.

»Mir is es doch lieb,« sagte er endlich, »daß sie es nicht mitgenommen hat in die Erde. – Mir wär’ es dann immer gewesen, als wär mein Herz mit begraben. – So aber liegt es bei dir.«

Dann streckte er die Arme aus und zog sie an sich. Und beide klammerten sich aneinander, als ob sie Schutz suchten vor dem weißen Schatten, der unerbittlich durch das Haus ging.

Und als sie sich immer leidenschaftlicher in seine Arme schmiegte, da ging es wie ein Beben durch den kranken Körper. »Heting – Heting,« stammelte er, »ich werd’ – wohl nie wieder ganz glücklich werden.«

Da fröstelte das liebeglühende Mädchen zusammen und verstand ihn.

**
*

Wilms Seelenzustand wurde immer trübsinniger. Oft, wenn Hedwig unvermutet zur Tür hereintrat, dann traf sie ihn, wie er starr auf die Schwelle hinblickte, auf der einst Else entseelt dahingesunken, und wenn sie dann auf ihn zuflog, um ihn durch ihre Liebe zu ermuntern, dann kam ein Ausdruck von Furcht in seine Augen, als wenn ihn ihre Zärtlichkeit quäle.

Und einmal rang er sich schwer die Worte ab: »Heting, küß mich nich so – mir is es immer, als wenn Else zusäh.«

Da zuckte das Mädchen zusammen, und so oft sie sich ihm in den nächsten Tagen näherte, immer glaubte sie etwas Kaltes, Frostiges zu spüren, das an ihr vorbei strich.

Sie faßte sich an die Stirn und begann schmerzlich zu lächeln. Sie fing an, an Gespenster zu glauben.

Mit der Zeit begann der Kranke auch Elses Namen immer häufiger in seine Reden zu mischen. Bald erinnerte er sich an Worte seiner Frau, bald an allerlei Eigentümlichkeiten, und eines Tages, beim Mittagbrot, merkte Hedwig, daß sie der Pächter mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen beobachtete:

»Was hast du denn, Wilms?«

»Du – du siehst – ihr doch sehr ähnlich,« stammelte der Landmann fassungslos und ließ Messer und Gabel aus seiner Hand klirren.

Und am Nachmittag nahm Hedwig aus der Nebenstube wahr, daß Wilms, anstatt zu schlafen, bitterlich vor sich hin schluchzte.

Dagegen vermochte sie nichts. Die Tote siegte.

Ihr wunderbarer, prachtvoller Körper blühte neben ihm, und der Kranke koste und scherzte mit der Verwesten.

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*

»Onkel Doktor,« weinte Hedwig vor sich hin, als sie mit dem weißbärtigen Physikus, den sie hatte holen lassen, in der Laube saß, »was soll ich dagegen tun?«

Sie hatte dem alten Freunde alles gebeichtet, was sie seit dem einen Jahre auf diesem Gehöft erlebt hatte.

»Was du tun sollst?« fragte der alte Herr und legte die beiden Hände des jungen, fiebernden Geschöpfes in die seinen. »Heting, mein Kind, ich hab’ dich lieb und habe Wilms lieb, und deshalb sag’ ich, du mußt fort.«

Sie starrte ihn mit ihren großen, braunen Augen an, und der Physikus fühlte an ihren Händen, wie das Blut in den Adern hämmerte und schoß.

»Still, Kind, still,« sagte er, »du willst ihn doch nicht zugrunde richten, und sieh, so oft er dich anblickt, immer wird er in dir die Ursache sehen, die die Verstorbene in den Tod getrieben. – Nein, nein, mein Kind, bleib ruhig, ich weiß ja, du liebst ihn sehr, aber eben deshalb, Heting, bitt’ ich dich, befrei’ den armen Kerl von all’ den bösen Erinnerungen. Glaub mir, so lange du hier bleibst, bleibt auch die Tote bei ihm. – Nicht wahr, das hast du doch selbst schon bemerkt?«

Hedwig senkte das Haupt, aber sie nickte leise. Dann sah sie mit sehnsüchtigem Blick auf den blühenden Garten hinaus, auf die anstoßende, saftige Wiese, auf die fernen Äcker, auf denen sonnendurchleuchteter Staub dahinzog.

Überall hatte sie hier gewirkt und geschafft. Ordnung und Wohlstand hatte sie zurückgezwungen. Das hatte die Tote doch nicht vermocht.

Unter ihren Tränen zog ein trotziges Lächeln über das blasse Gesicht.

»Nun, Heting,« fragte der Physikus und stand auf: »Weißt du nun, was du zu tun hast?«

Sie nahm noch immer das Bild der blühenden Felder in sich auf, mit bebender Brust sog sie die frische Landluft in sich ein. Ja, sie hatte alles für eine glückliche Zukunft vorbereitet, aber einwandern sollte sie nicht in das gelobte Land.

»Heting?« fragte der Arzt dringender.

»Sehen Sie, Herr Doktor,« rief das Mädchen, indem sie mit der Hand nach dem schönen Gut zeigte: »Diese Saat habe ich bestellt, sehen Sie dort drüben die grünen Halme? Aber ernten mag sie ein anderer,« flüsterte sie mit erstickter Stimme.

Da streichelte der alte Herr dem jungen Geschöpf die welligen braunen Haare aus der heißen Stirn, nahm sie in seine Arme, und während ihr Schluchzen zu ihm heraufdrang, sagte er wie zu einem kleinen Kinde:

»Recht – recht – du bist ein tapferes, kleines Ding, es wird auch alles wieder gut.«

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*

»Heting,« sagte Wilms an einem der nächsten Tage, als sie nach dem Kaffee in der Wohnstube zusammen saßen, »du bist ja so vornehm angezogen, willst du ausfahren?«

Das Mädchen sah ihn lange und ernsthaft an, als wollte sie sich jeden seiner Züge einprägen, dann schüttelte sie trübe lächelnd das Haupt, aber sie wandte sich ab und ließ ihren Blick lange auf dem Hof ruhen und sah grüßend zu den Pappeln der Landstraße hinüber.

Nach einer Weile kehrte sie dem gebeugten Mann ihr schönes Gesicht zu und fragte einfach und doch voll verschlossenen Wehs:

»Wilms, hast du mich wirklich ein bißchen liebgewonnen?«

»Wie kannst du nur so fragen, Heting.«

»Und mehr – mehr als Else?«

»Ich bitt’ dich, Kind – daran mußt du nicht rühren – laß sie doch ruhen.«

Er verzog die Stirn und schüttelte matt den Kopf.

»Bist du mir böse?« rief Hedwig plötzlich leidenschaftlich, und während sie sich vor dem Stuhl des gebeugten Mannes in die Knie warf, umschlang sie den Kranken und hob sich selbst zu ihm empor: »Nicht wahr, du bist nicht böse auf mich?« flüsterte sie mit schwankender Stimme und schmiegte sich an ihn, »ich habe doch alles bloß aus Liebe zu dir getan, das weißt du doch, Wilms?«

Der Landmann wurde gerührt. »Ja, mein Kinding, ja,« sprach er liebevoll und streichelte ihr das goldglänzende, braune Haar.

Da stand Hedwig langsam auf und sah sich noch einmal aufmerksam in der Stube um. Dann schritt sie rasch zum Klavier, um Wilms, wie sie das um diese Zeit schon gewöhnt war, etwas vorzuspielen. Müde und erschlafft, wie er war, wiegten ihn die Töne noch immer am leichtesten in den ersehnten Schlummer.

»Was soll ich spielen?«

»Ganz gleich, es is ja alles schön.«

»Nein, was du gern hast.«

»Nun, dann das von Weihnachten, du weißt ja, Heting.«

Sie schloß die Augen, ein süßer Schauer durchfuhr sie zum letztenmal. Und dann spielte sie das alte Volkslied, das schon so unendlich viel Müde eingesungen.

Draußen rollte ein Wagen auf der Chaussee heran, Hedwigs Herz klopfte zum Zerspringen, aber sie ließ sich nichts merken und spielte tapfer den alten Sang, so leise und wehmütig und klagend, daß dem Kranken, der doch nicht wußte, was ihm bevorstand, die Tränen in die Augen traten.

Und er schlummerte wirklich sanft und lächelnd ein, während das Abschiedslied leise austönte. Als er erwachte, war das Zimmer leer. Alles war still, nur von der Landstraße hörte man dumpfen Hufschlag und das Rollen eines enteilenden Gefährts.

**
*

Der Förster hatte Hedwig in seinem Wagen zur Bahn gebracht, und sah zu ihr bewundernd in das Coupé hinauf.

Feurig und blutrot ging am Himmel die Sonne zur Rüste, davon mochte das Mädchen so rosig übergossen sein, als sie zum Fenster hinaus nach der Gegend spähte, wo Wilmshus lag.

Aber das Gehöft war längst hinter dem Tannenschlag versunken, und merkwürdig, wie Hedwig jetzt am Fenster lehnte, war sie wieder die vornehme, junge Dame, die vor mehr als einem Jahr an dieser Stelle angekommen war.

Sie begriff sich selbst nicht; seit der öde Pachthof hinter ihr verschwunden war, strömte ihr frischere Luft entgegen, ihr war es, als hätte sie selbst ein Jahr lang siech gelegen und sollte jetzt zum erstenmal wieder in die lachende, sonnenfunkelnde Welt hinaus.

»Wohin gehen Sie jetzt, Fräulein Hedwig?« fragte der Förster.

»Ich weiß nicht. – Überall, wo es für mich etwas zu tun und zu schaffen gibt. – Die Welt ist groß.«

»Da haben Sie recht. – Und kommen Sie vielleicht bald hierher wieder zurück?«

»Auch das kann sein. Wir Menschen wissen ja nie, was die nächste Stunde bringt.«

Die Glocke klang. – Der Förster schwenkte seinen grünen Hut.

»Grüßen Sie Wilms,« rief Hedwig mit hervorbrechenden Tränen.

Der Zug bewegte sich, und rascher und rascher fuhr er in die rotgoldene Abendglut hinein.

Hedwig sah nicht mehr zurück.


Von Georg Engel erschienen ferner:

Hann Klüth. Roman.

Der Reiter auf dem Regenbogen. Roman.

Der verbotene Rausch. Heitere Novellen.

Zauberin Circe. Berliner Liebesroman.

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Ernst von Wolzogen  Mein erstes Abenteuer
Georg Engel  Die Last
Kurt Aram  Violet
Richard Voß  Der Todesweg auf den Piz Palü
Otto Ernst  Laßt Sonne herein
Max Kretzer  Der Mann ohne Gewissen
Wilhelm Jensen  Unter heißerer Sonne
Karl Rosner  Sehnsucht
Wilhelm Hegeler  Der Mut zum Glück
Peter Rosegger  Die Försterbuben
Rudolf Herzog  Nur eine Schauspielerin
Joseph Lauff  Marie Verwahnen
Rudolf Hans Bartsch  Elisabeth Kött
Franz Adam Beyerlein  Similde Hegewalt
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Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf Grundlage der um 1910 bei Ullstein erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen.

p 008: »Wie steht’s mit den Kartoffeln, Korl?« -> Karl
p 009: öffnende Anführungszeichen ergänzt: sprang auf – »nicht wahr?
p 119: Förster Elze -> Eltze
p 148: Dörte -> Dörthe
p 150: schließende Anführungszeichen ergänzt: Der hängt noch.«
p 240: Komma entfernt: Else zuckte schmerzhaft zusammen,.

Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the Ullstein edition, published around 1910. The table below lists all corrections applied to the original text.

p 008: »Wie steht’s mit den Kartoffeln, Korl?« -> Karl
p 009: added opening quotes: sprang auf – »nicht wahr?
p 119: Förster Elze -> Eltze
p 148: Dörte -> Dörthe
p 150: added closing quotes: Der hängt noch.«
p 240: removed comma: Else zuckte schmerzhaft zusammen,.