The Project Gutenberg eBook of Von Haparanda bis San Francisco: Reise-Erinnerungen

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Title: Von Haparanda bis San Francisco: Reise-Erinnerungen

Author: Ernst Wasserzieher

Release date: May 1, 2004 [eBook #12266]
Most recently updated: December 14, 2020

Language: German

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VON HAPARANDA BIS SAN FRANCISCO: REISE-ERINNERUNGEN ***

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Von Haparanda bis San Francisco.

Reise-Erinnerungen

von Dr. phil. Ernst Wasserzieher

Oberhausen im Rheinland.

Witten 1902.

Druck und Verlag der Märckischen Druckerei und Verlags-Anstalt Aug.
Pott.

Meinem lieben Kleeblatt Karl, Ernst und Hans gewidmet.

Die folgenden Blätter, eine kleine Auswahl meiner Reise-Erinnerungen aus einem Vierteljahrhundert, sollen in ersten Linie ein herzlicher Gruß sein für meine Freunde nah und fern! Die meisten der Aufsätze und Skizzen sind schon veröffentlicht, z.B. in der Münchener Allgemeinen Zeitung, im Hamburger Correspondenten, in Kölner, Flensburger und Wittener Blättern, sowie in der Touristen-Zeitung. Sollte dies anspruchslose Bändchen Anklang finden, so wird vielleicht eine zweite Sammlung folgen.

Oberhausen (Rheinland), im Dezember 1901.

Ernst Wasserzieher.

  „Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
   Den schickt er in die weite Welt.“

Josef von Eichendorff.

I.

Ueber das Reisen

Einige Aussprüche hervorragender Männer und Frauen.

Daß das Reisen eine Kunst sei, wie andre, die gelernt sein will, die viele aber nie lernen — das ist eine Wahrheit, die manchen eine Thorheit erscheinen mag. Da wußte die „Frau Rat“ besser, welcher Unterschied zwischen Reisen und Reisen sei! „Wenn mein Wolfgang nach Mainz reist“, sagte sie einmal, „so hat er mehr gesehen, als wenn andre nach Neapel reisen.“ Freilich, mit solchen Augen wie Wolfgang Goethe ist kein Reisender begabt; er sah als Maler, als Dichter, als Naturforscher, als Psycholog und als Mensch. „Man darf nur auf der Straße wandern und Augen haben,“ schreibt er am 19. März 1787 von Neapel in die Heimat, „man sieht die unnachahmlichsten Bilder.“ Der gewöhnliche Reisende begnügt sich etwas erzählen zu können nach gethaner Reise, aber was? und wie? erzählen! Darum erreichen auch die, welche das Reisen als Mittel zur Bildung benutzen wollen, häufig ihren Zweck nicht. Das liegt nicht am Reisen, sondern an ihnen. „Das Reisen als solches ist noch nicht bildend, es kommt auf das Bewußtsein an, womit der Reisende, was sich ihm darbietet, erfaßt.“ (Rosencranz i.d. Vorrede S. VII zu Kants Werken Bd. IV.) Für die Menschenkenntnis und ihre Vertiefung möchte ich dem Reisen nur einen sehr geringen Einfluß beimessen. Denn die menschlichen Leidenschaften sind überall dieselben; nur die Erscheinungsformen wechseln. Wer einige, wenige Menschen lange studiert, wird die menschliche Natur besser und tiefer erfassen, als wer viele Menschen nur obenhin kennen lernt, wie es doch auf Reisen zu sein pflegt.

Also, wer blos oder vornehmlich Menschen kennen lernen will, der bleibt besser zu Hause. Aber Geschichte, Kunst, Natur, Landschaft — wiegt das bisweilen nicht Menschen auf? Fontane klagt zwar mit Recht in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg (II. 44), daß „nicht vielen der Sinn für Landschaft aufgegangen sei; Erwachsene haben ihn selten, Kinder beinah nie.“ Und doch muß man annehmen, daß ästhetische Gründe dem Reisen der meisten unserer Landsleute Vorschub leisten, denn von denen, die ihrer Gesundheit wegen etwa ein Bad aufsuchen müssen, oder gar von denen, die ihres Geschäftes wegen reisen, reden wir hier nicht. Die Franzosen, überhaupt die Romanen, haben diesen Sinn wenig ausgebildet; nur eine Angehörige jener Nationen konnte behaupten, das Reisen sei das elendeste aller Vergnügen (Frau v. Stael in ihrer Corinna.) Ein anderer Franzose wirft seinen Landsleuten vor, daß sie sowohl in Bezug auf ihr Vaterland als auch auf die übrigen Länder durch Unwissenheit glänzten. Beides hängt vielleicht mit einander zusammen; „erst die Fremde“, sagt Fontane, „lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.“ Die schottischen Seeen erweckten in ihm erst das volle Gefühl für die Reize der Seeen in der Mark Brandenburg und reiften in ihm den Entschluß, ihnen das zu werden, was Walter Scott jenen ist. Der Reisende in der Mark muß freilich eine feinere Art von Natursinn besitzen als der Reisende am Rhein; die Schönheiten der Gegend von Bingen bis Coblenz drängen sich auch dem nur rohausgebildeten Landschaftssinn auf; sie packen, überwältigen, reißen hin; die Schönheiten der märkischen Landschaft, ferner der Gegenden am Niederrhein wollen ergriffen, studiert sein.

Es treten noch andre Factoren hinzu, die den modernen Menschen, insonderheit den Germanen, zum Reisen drängen. Dem Einerlei des häuslichen und heimatlichen Leben und Treibens zu entrinnen, sich eine Zeit lang frei, objektiv zu fühlen, nicht zu handeln, sondern zu betrachten, jenes höchsten Zustandes zu genießen, nach dem so viele Philosophen gestrebt und den so wenige erreicht haben — das ist der oft unbewußte Zweck bei vielen Reisenden. „Auf Reisen“, so ungefähr spricht sich Schopenhauer aus, „fühlt man sich interesselos, sieht man von der eigenen Person ab, betrachtet man die Welt als Vorstellung.“ Interesselos gebraucht Schopenhauer hier in dem Sinne wie Kant, der das Schöne definiert als „das, was ohne Interesse gefällt“ (d.h. ohne selbstische Gedanken.) Noch ein zweites kommt hinzu: das Gefühl der Unabhängigkeit. „Jetzt bist du zum ersten Mal allein,“ ruft George Sand entzückt aus, „keine Seele weiß dich zu finden, jetzt bist du frei, dir, dir ganz allein und den Geistern in dir überlassen!“ Freilich stellt sich auch wohl das Gefühl der Einsamkeit ein; das ist die Kehrseite dieser selbstgewollten Freiheit. „Auch der leidenschaftlichste, fröhlichste Reisende fühlt sich manchmal einsam in einer fremden Stadt, und es giebt Augenblicke, in denen ihn eine unbeschreibliche Langeweile beschleicht, sodaß, wenn er durch ein Wort einen Genius aus 1001 Nacht heraufbeschwören könnte, um sich nach Hause tragen zu lassen, er dieses Wort mit Freuden aussprechen würde.“ (Amicis, Reise in Spanien, Capitel 2.) Lessing schlägt den Wert und das Vergnügen des Reisens nicht hoch an. Freilich hatte er Italien unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen und in großer Hast bereist. Er bezeichnet treffend den weiten Abstand, der uns von dem 18. Jahrhundert auch in dieser Beziehung trennt, er zeigt den ungeheueren Fortschritt, den wir in der Kunst des Reisens gemacht haben; er hängt zusammen mit der Ausbildung des Naturgefühls, wie wir sie seit Goethe erfahren haben, der der verstandesmäßige Lessing und sein Zeitalter wenig zugänglich waren. Doch, um nicht allzustolz zu werden, brauchen wir bloß die Touristenschwärme zu betrachten, die sich von den Bahnhöfen in die Hotels ergießen und von da mit dem roten Bädeker in der Hand die Museen, Kirchen und Schlösser überschwemmen und ausplündern, um am nächsten Tage in der nächsten Stadt dasselbe Raubsystem fortzusetzen. Dann möchte man dem feinsinnigen Sprachforscher und vielgewandten Reisenden Gustav Meyer in Graz zustimmen, wenn er sagt: „Reisen ist eine Kunst, eine größere vielleicht als eine Reise gut beschreiben.“ (Essays, II, 58.)

II.

Eine Primanerwanderung auf den Brocken.

(1878.)

Unter beständigem, feinem Regen wanderten wir, nachdem wir um 9 Uhr morgens mit dem Zuge von Magdeburg in Wernigerode angekommen waren und einige Einkäufe besorgt, vor allem aber einen Schnaps nicht vergessen hatten, nach Ilsenburg, von wo aus der Brocken in Angriff genommen werden sollte. Im Grunde war es ein seltsames Unternehmen, in dieser Jahreszeit — man schrieb den 12. April — eine Harz- und Brockenreise zum Vergnügen zu unternehmen; jedoch das war es gerade, was uns reizte.

Der Nebel lag so dicht auf der Erde, daß das Schloß Wernigerode, von dessen Verschönerung durch Ausbau uns viel erzählt wurde, nicht zu erblicken war; die Luft war trübe und feucht, und man wußte nicht, ob man in Wolken ging oder ob es regnete; unser erster Grundsatz war indes, den Humor nicht zu verlieren. Zur Erhöhung unserer Stimmung kam noch hinzu, daß wir in einem ziemlich primitiven Kostüm steckten, das aber einer Harzpartie ganz angemessen war, und als wir uns vor der Stadt Auge in Auge gegenüberstanden und eine Weile betrachteten, brachen wir wie auf Kommando in ein Gelächter aus. Die vollgepfropfte Tasche an der Seite, darüber die Feldflasche an grüner Schnur, im Munde die bemalte kurze Pfeife, zu der immer neuen Stoff der am Knopfloch baumelnde Tabaksbeutel spendete, die Hosen hoch gekrämpt und die Stiefel voller Schmutzsprenkeln — so sahen wir wandernden Handwerksburschen täuschend ähnlich. Mein Freund Edgar[1] trug einen Knüttel, ich einen Schirm, der sich durch eine gewisse Altertümlichkeit auszeichnete.

Nachdem die Dörfer Altenrode und Drübeck, bei welch' letzterem der „Wernigeroder“ einer Probe unterworfen und für gut befunden wurde, passiert waren, kamen wir bei etwas aufgeheitertem Himmel in dem hübschen Ilsenburg an und verfügten uns in den Gasthof „Zu den drei Forellen“, um uns vor der Anstrengung noch einmal körperlich und geistig zu stärken. Die körperliche Stärkung präsentierte sich als eine Tasse Kaffee und unterschiedliche Eier; die geistige bestand aus einer nochmaligen begeisterten Rezitation von Goethes „Harzreise im Winter“, die wir mitgenommen hatten, um sie an Ort und Stelle auf uns wirken zu lassen.

Die Leute im Wirtshaus schüttelten den Kopf, als sie von unserem Plan hörten, und meinten, der Schnee läge noch so hoch, daß es unmöglich sei, bis zum Gipfel des Berges zu gelangen. Der Förster sagte, er sei selbst gezwungen gewesen, umzukehren; es riet uns, lieber davon abzustehen; umkehren müßten wir ja doch. Das waren ja schöne Aussichten für uns; eine Partie à la Hannibal in verkleinertem Maßstabe! Allein wir hatten uns einmal vorgenommen, heute Nacht in Brockenbetten zu schlafen, und wollten unsern Kopf durchsetzen. Insofern folgten wir jedoch unseren freundlichen Ratgebern, als wir beschlossen, nicht durch das Schneeloch, sondern auf der Fahrstraße zu gehen.

Mittlerweile war es zwei Uhr geworden, und wir warfen unsere Taschen um. Zum Abschied rief uns der Förster halb spöttisch zu: Auf Wiedersehen heute Abend beim Glase Bier!

Frohen Mutes pilgerten wir davon, an Holz- und Sägemühlen vorbei, immer einem hübschen, sanft ansteigenden Waldwege folgend. Zu beiden Seiten, bald rechts, bald links, rauschte die Ilse zu Thal; hoch oben über dem Kessel hing der Ilsenstein mit seinem mächtigen Eisenkreuz. Bald jedoch verlor die Wanderung den behaglichen Charakter; der Himmel, der uns eine Weile gelächelt hatte, öffnete seine Schleusen von neuem und überströmte uns mit kühlendem Naß. Langsam aber stetig rückten wir vor; wir waren nicht mehr bei frischen Kräften. Wir hätten morgens von der letzten Station vor dem Aufstieg aufbrechen sollen, um den Tag vor uns zu haben.

Nach anderthalb Stunden hörte ich die Ilsefälle von ferne brausen, die trotz ihrer Kleinheit einen erquickenden Anblick gewähren mit den schäumenden, weißen Wogen, mit ihren moosigen Felsen und tannenumkränzten steilen Ufern. Durch die Büsche schimmerte jetzt auch der erste Schnee. Um uns gehörig zu wappnen gegen diesen Feind, der bald in Masse den Fuß hemmen sollte, machten wir Rast und stärkten uns durch einen Imbiß, wobei wir von einem Holzfäller Erkundigungen über Länge und Beschaffenheit des bevorstehenden Weges einzogen. Drei Stunden wenigstens hatten wir nach Angabe dieses Biederen noch zurückzulegen, wenn wir aber den „Fautstieg“ einschlügen, setzte er hinzu, dann würden wir wohl eher ankommen; es käme übrigens auf eins hinaus. Es war noch nicht 5 Uhr; bald nach 7 Uhr hofften wir oben zu sein. Wir schritten vorwärts; auf dem Wege selber machte sich der Schnee schon bemerkbar, hier und da leuchteten uns weiße Stellen entgegen, die sich fortwährend vergrößerten und schließlich den Boden völlig bedeckten, vorläufig in der Höhe eines halben Meters, allmählig aber bis anderthalb und zwei Meter steigend. In dieser Höhe ging es nun 4 Stunden lang. Der Schnee befand sich in einem Zustande des Schmelzens, er war bereits so weich, daß man mit jedem Schritt bis an den Leib einsank; die äußere Kruste war aber zufolge der niederen Abendtemperatur übergefroren, sodaß es Anstrengung kostete, den Fuß wieder herauszuziehen. Dichter Nebel senkte sich mit geisterhafter Schnelle auf Berg und Wald und stimmte unser Gemüt melancholisch. Keuchend stampften wir bergauf; von Zeit zu Zeit sandten wir einen kräftigen Ruf, wie Hurra! Haut ihn! und dergl. in die Ferne. Nach langem Leiden kamen wir an eine Biegung des Weges, wo ein Wegweiser besagte, daß es sowohl nach Schierke als nach dem Brockenhause eine Stunde sei. Durch diese Nachricht neu belebt, gingen wir weiter, wenn man unser mühsames Stolpern so nennen kann. Aber wir vergaßen, daß diese Berechnung für einen normalen Weg gilt, nicht für einen, der in Manneshöhe mit Schnee bedeckt ist. Die Kniekehlen begannen zu schmerzen, die Stiefel waren mit Schneemassen angefüllt, das lustig zwischen den Zehen herumrann, die Beine versagten fast den Dienst, die Augen thaten weh durch den Anblick der weiten, weißen Fläche; doch weiter, immer weiter! Dunkler und immer dunkler ward es; kaum konnte ich meinen Gefährten, der etwa 30 Schritt vor mir hertaumelte, erkennen; und schwach umrissen tauchte eine Telegraphenstange nach der andern vor den Blicken auf. Alle 5 Minuten griffen wir zur Flasche, ohne die wir sicherlich nicht bis zu Ende ausgehalten hätten. Schneckenähnlich wankten wir weiter, schneidend kalt umpfiff uns der Wind und kühlte die schweißgebadete Stirn, und immer noch nichts von einer menschlichen Wohnung, immer wieder die eintönigen Telegraphenstangen. Es flimmerte mir vor den Augen, ich brach bei jedem Schritt zusammen; da plötzlich — o Wonne — war es eine Täuschung? — Hundegebell! Wie elektrisiert sprang ich vorwärts, da mußte das Brockenhaus sein — jetzt eine Stimme — zu sehen war nichts in der Finsternis — richtig, ein paar Schritt vor mir stieg ein düsteres Gebäude auf; Blitz, der Hund, umsprang uns freudig wedelnd, und wir standen in dem hell erleuchteten Flur des Brockenhauses, vor uns zwei Männer, der Oberkellner und der Hausknecht, die einzigen Bewohner des Brockens im Winter. Drei donnernde Hurrahs erschallten wie aus einem Munde, daß die Wände zitterten; vor Freude, festen Boden unter den Füßen zu haben, wäre ich dem Oberkellner am liebsten um den Hals gefallen. Und nun rasch hinauf in das Zimmer, das durch einige in den Ofen geworfene Scheite Holz bald behaglich durchwärmt war, und nun die Kleider aus, die wie aus dem Wasser gezogen waren. Und nun hinein in den beiden Betten, aber nicht zum Schlafen! Der Oberkellner setzte ein Tischchen zwischen uns, auf dem bald eine große Punschbowle dampfte, und setzte sich nebst dem Hausknecht heran. Und nun wurde fleißig angestoßen, bis mir die Augen zufielen und ich in einen tiefen Schlaf fiel.

Am folgenden Morgen belohnte uns eine herrliche Fernsicht; neu gestärkt wanderten wir dann weiter, zunächst nach Schierke und Braunlage.

Noch vieles Schöne sahen wir in den nächsten Tagen; die dauerndste
Erinnerung aber blieb uns die Brockenwanderung im Schnee.

FUSSNOTEN:

[1] Jetzt längst wohlbestallter Direktor des Höheren technischen Instituts zu Köthen i. Anhalt.

III.

Nauvoo am Mississippi, die alte Mormonenstadt.[2]

Von den Mormonen spricht man heuzutage kaum noch, sie sind, in Europa wenigstens, längst in den Hintergrund des öffentlichen Interesses getreten. Wenn man sie aber erwähnt, so denkt man meist nur an Utah, an die Salzseestadt, den Jordan und wie die bekannteren, in der amerikanischen Wüste gelegenen Punkte heißen. Die Salzseestadt (Salt Lake City), die ich auf meiner Rückreise von San Francisco nach dem oberen Mississippi im Jahre 1883 berührte, kenne ich zu wenig, um darüber etwas zu sagen, was nicht andere schon besser gesagt hätten. Aber ich will auch nicht von dieser Mormonenstadt reden, sondern von der alten weniger bekannten, von Nauvoo. Als ich, vom Niagara kommend, in Chicago eine Fahrkarte nach Nauvoo verlangte, sah mich der Verkäufer ganz verdutzt an. Auch in Amerika ist die Stadt wenig bekannt, fast so wie in Europa. Niemand besucht sie; wer hätte auch Veranlassung dazu?

Von Chicago aus fährt man etwa zehn Stunden in südwestlicher Richtung quer durch den Staat Illinois. Dieser ist wohl angebaut, hügelig; ein Viertel ist noch Wald. Man nennt ihn den Garten Amerikas, was ich berechtigt finde, wenn statt Garten Gemüsegarten gesetzt wird. Es dämmerte schon, als wir uns dem Mississippi näherten. Bei Burlington überschritten wir ihn. Hunderte von deutschen Meilen von seiner Mündung entfernt, ist er schon hier ein paar Kilometer breit. Von Burlington aus benutzt man den Dampfer, der in wenigen Stunden in Nauvoo landet.

Nauvoo, in Hancock County im Staate Illinois, unter einem Breitengrade mit New York und Neapel (40° n. Br. gelegen), dehnt sich auf einer breiten vorspringenden Halbinsel auf dem linken (Ost)-Ufer des Mississippi aus und zerfällt in zwei Teile. Die „Flat“ zieht sich am Ufer hin und ist ganz eben und flach; daher der Name. Dahinter erhebt sich auf sanft ansteigenden Hügeln die obere Stadt. Nauvoo ist großartig angelegt; es hat sehr breite, endlos lange Straßen, die sich in regelmäßigen Abständen rechtwinkelig kreuzen und in denen an nichts Mangel ist, außer an Häusern. Man kann hundert Schritte gehen, ohne etwas anderes zu sehen, als rechts und links Gärten, Felder, vor allem Weinberge, mit Osage- (wilden Orangen) Hecken eingefaßt; auf den mit Gras und Unkraut bewachsenen Fußwegen weiden Kühe und Pferde; Hunde und Gänse laufen umher; dann und wann kommt wohl auch ein Reiter oder ein Fußgänger. Endlich schimmert ein Haus durch das Grün, aber es ist unbewohnt, halb verbrannt, ohne Scheiben in den Fenstern: eine Ruine. Solcher Ruinen giebt es nicht wenig in Nauvoo; sie stammen aus der Zeit, wo die Mormonen mit Feuer und Schwert ausgerottet oder vertrieben wurden. Kommt man mehr in die innere Stadt, so findet man auch bewohnte Häuser, weiß, mit grünen Läden und Veranden, aus denen sogar Klavierspiel tönt. Selbst eine ganze Straße ist da, Mulhollandstreet, mit Kaufläden, Werkstätten, Wirtshäusern u.s.w. In dieser Straße sind die Fußsteige gedielt und der Fahrweg am Samstag mit Fuhrwerken der Farmer und Farmerstöchter aus der Umgegend gefüllt, die kommen, um ihre Einkäufe für die Woche zu besorgen.

Drei Elementarschulen und eine High School, jede mit einem Lehrer bezw. Lehrerin, sowie eine Damenakademie unter Leitung von Nonnen, die ein hübsches, im Schweizerstil erbautes Kloster bewohnen, sorgen für die geistigen Bedürfnisse der Nauvooer Jugend. Die Highschool, drei Klassen in einem Raum vereinigt, wird von Knaben und Mädchen verschiedenen Alters bis zu sechzehn Jahren besucht, die mit rühmlichem Fleiß ihren Studien obliegen, die auch Latein umfassen. Die Unterrichtsmethode ist, wie ich mich durch wiederholtes Hospitieren überzeugen konnte, ziemlich mechanisch und geistlos. In der Geschichte z.B. wird ein Paragraph aus dem Buche vorgelesen und dann zum nächsten Male aufgegeben. Dabei bleibe nicht unerwähnt, daß der Lehrer, der auch etwas studiert hat, allen guten Willen hat und bei seinen Zöglingen beliebt ist. Der Unterricht ist, wie meist in Amerika, von 9-12 und von 3-6; Sonnabend ist ganz frei.

Nauvoo hat ein halbes Dutzend Kirchen, reichlich viel für 1500 Einwohner, aber in Amerika nichts Ungewöhnliches, da jede Sekte doch ihr Gotteshaus haben will. Es sind kleine Holzbauten, mit Ausnahme der katholischen, die an Größe und Schönheit die anderen übertrifft. Der katholische Pfarrer ist theologisch gebildet; die Geistlichen der anderen Konfessionen, Lutheraner, Presbyterianer, Deutsch- und Englisch-Methodisten, sind Farmer, Kaufleute, Handwerker, die das Predigen als Nebenbeschäftigung betreiben und durch Kraft und Fülle der Stimme die sonst fehlenden Eigenschaften ersetzen. An Wochentagen kann man sie hinter dem Ladentisch, in der Werkstatt und beim Strohaufladen hantieren sehen. Von dem großen prächtigen Tempel der Mormonen stehen nicht einmal die Ruinen mehr.

Die Nauvooer Zeitung (Nauvoo Independant nennt sie sich stolz) erscheint wöchentlich einmal. Die Verbindung mit der Außenwelt wird durch Telegraph und Telephon hergestellt; durch eine Dampffähre gelangt man ans westliche Ufer, nach dem kleinen Ort Mont-Rose, von wo man die Eisenbahn nach mehreren Richtungen hin benutzen kann. Den Sommer hindurch legen die Mississippidampfer, die den Fluß in seiner ganzen Ausdehnung von St. Paul nach St. Louis, von da nach New Orleans, befahren, in Nauvoo an; die ganze Fahrt, die ununterbrochen Tag und Nacht währt, nimmt etwa 14 Tage in Anspruch. Im Winter ist der Fluß nördlich von St. Louis wegen des Eises unfahrbar.

Eine Eisenbahn wurde von den Mormonen in Angriff genommen, blieb aber unvollendet. Die Einwohner Nauvoos beschäftigen sich meist mit Ackerbau, besonders Weinbau. Bis Nauvoo hinauf geht die Weingrenze, doch kann man nicht sagen, daß das Klima der Rebe eben günstig wäre. Ein sehr heißer Sommer folgt einem sehr kalten Winter mit einem Maximal-Wärme-Unterschied von 60-70º Réaumur.

Steigt man vom Fluß (der Mississippi wird von den Anwohnern allgemein blos „River“ [Fluß] genannt), durch die „Flat“ hinauf nach der oberen Stadt, so übersieht man allmählich die ganze Umgegend; unten den mächtigen, in großen Bogen sich hinwindenden Strom, von bewaldeten Hügeln umsäumt und begleitet. Aus dem bläulichen Wasserspiegel erheben sich wenig die flachen, waldigen, mit viel Unterholz bestandenen Inseln, oft von 50, ja 100 Hektar Bodenfläche. Besteigt man den Turm der katholischen Kirche, so erweitert sich das Panorama noch. Zu Füßen die ganze, sich weit hinstreckende Stadt; aus dem Grün sehen die schlanken Thürme und die weißen freundlichen Wohnhäuser heraus; jenseits nach Osten, in der unendlichen, meist angebauten Prairie tauchen einzelne Farmen empor; nach allen Seiten Wald, nichts als Wald und wieder Wald. Ruhe und Frieden ist das Gepräge dieser Landschaft, die zur Zeit der Indianer kaum stiller gewesen sein mag. Ein abgeschiedenes, weltvergessenes Idyll — so liegt Nauvoo mitten in dem gewaltigen, rauschenden Epos der amerikanischen Völkerwelt, deren Wogen an ihm vorüberbranden, ohne es zu berühren. Nur dann und wann gemahnt ein Eisenbahnzug daran, der weit drüben bei Montrose vorbeibraust; und in stillen Sommernächten hört man das Geheul der Mississippidampfer. Einen zauberischen Anblick gewährt ein solches Schiff, wenn es, mehrere Stockwerke über der Flut sich auftürmend, von elektrischem Licht umflossen, mit riesigen Schaufelrädern durch das spiegelklare Wasser majestätisch dahin rauscht. Einen Kiel haben diese Mississippidampfer nicht, und sie laufen deshalb, wo das Wasser bei den Anlegeplätzen zu flach ist, einfach auf den sandigen Strand, wo sie ihre Landungsbrücke, die sie vorn hängend mit sich führen, hinauswerfen.

Ein anderes, bunt bewegtes und lebendiges Bild bot Nauvoo zur
Mormonenzeit.

Anfangs der dreißiger Jahre gab der 1805 im Staate Vermont geborene Joe Smith das „Book of Mormon“ heraus, das er durch göttliche Inspiration und auf Grund von goldenen Platten, die er aus der Erde gegraben, die aber Niemand zu sehen bekam, geschrieben haben wollte. In dem Buche ist die Geschichte des aus Palästina nach Amerika gewanderten heiligen Mormon, sowie das Glaubensbekenntnis der nach ihm benannten Mormonen aufgezeichnet. Der Prophet fand Anhänger und es bildete sich eine kleine Sekte um ihn, die zuerst im Staate New York, später in Ohio wohnte und 1833, aus diesem Staate vertrieben, nach Missouri übersiedelte. Von dort wiederum verjagt, zogen die Mormonen über den Mississippi zurück und wählten die kleine Stadt Commerce in Illinois zum Wohnort. Hier fand ihr rastloses Wanderleben einen vorläufigen Abschluß. Sie vergrößerten das Städtchen, so daß es bald über 2000 Häuser zählte. Als erste Aufgabe betrachteten die Gläubigen es, ein würdiges Gotteshaus zu erbauen. Ein großer steinerner Tempel erhob sich auf einer der höchsten Stellen von Nauvoo. Eine wohlgeordnete Regierung und Verwaltung, mit Joe Smith an der Spitze, wurde eingerichtet: Sidney und Brigham Young gehörten zu den eifrigsten seiner Beamten. Rasch blühte die Ansiedelung empor, die Einwohnerzahl stieg auf 20000 bis 25000, nach anderen Berichten bis auf 30000. Alles wäre gut gegangen, wenn die Mormonen nicht Angriffe auf das Eigenthum, ja durch die allmählich sich bildende Lehre von der Vielweiberei (die Praxis ging der Theorie wohl voran) auf die Frauen der umwohnenden Heiden (das sind die Nichtmormonen) sich erlaubt hätten. Hierdurch aufgereizt, griffen die friedlichen Bauern zu den Waffen, und es wurde ein förmlicher Kreuzzug gegen den Staat im Staate eröffnet. Die Mormonen wurden besiegt, die Stadt zum größten Teil zerstört, der Tempel in der Nacht zum 9. Oktober 1848 verbrannt. Joe Smith wurde gefangen und bald darauf in seiner Zelle des Gefängnißes zu Carthago (Hauptstadt des Countys) meuchlings umgebracht.[3] Die Reste der Mormonen zogen gen Westen und kamen nach langer, mühseliger Wanderung durch Wildnis, Steppen und Gebirge, die an Abenteuern und Gefahren dem berühmten Zuge der 10000 Griechen nicht nachsteht, in Utah an, wo sie an den Ufern des großen Salzsees ein neues Jerusalem gründeten.

Der Tempel, der der Stadt Nauvoo noch in seinen Trümmern zur Zierde gereichte, verschwand in den siebziger Jahren ganz vom Erdboden, indem ein gewinnsüchtiger Deutscher, Namens Ritter, ihn kaufte, abbrach und die Steine zum Verkauf ausbot. Es fand sich jedoch kein Käufer, und so liegen sie auf seinem Felde, teils zerschlagen, teils noch in ihren riesigen Dimensionen; die Skulpturen sind meist unkenntlich, ich erinnere mich nur, ein Relief der Sonne in Form eines menschlichen Antlitzes, von Strahlen umgeben, roh aus dem Sandstein gehauen, gesehen zu haben.

Die verlassenen Häuser der Mormonen, soweit sie nicht zerstört und unbewohnbar waren, wurden von fremden Ansiedlern in Besitz genommen und bezogen; ich wohnte während des Winters 1882/83 in einem solchen. Es war nicht verändert; ein einstöckiger Backsteinbau mit drei Zimmern im Erdgeschoß und einem im Giebel, von dem man den Mississippi sehen konnte. Ein Garten und daran schließende Felder umgeben das einsam liegende Häuschen.[4] Mein Schlafzimmer hatte eine Thür nach dem Garten, die nur mit einem Holzpflock verschließbar war.

Als Bett diente mir Maisstroh mit einigen Steppdecken. Die Kälte war manchmal so groß, daß das Wasser in dem stets vor meinem Bett stehenden Glase fror, und zwar durch und durch. Zum Heizen hatten wir Holz, das wir uns zu Wagen oder Schlitten aus dem etwa 6-7 km entfernten Walde holten. Hat man ein Stück gehörig abgeholzt, so hört man auf, Steuern darauf zu bezahlen, und das Land fällt dem Staate anheim.

Seiner günstigen Lage wegen wurde Nauvoo noch einmal zum Experimentierfeld einer Sekte ausersehen, nämlich von französischen Kommunisten unter Führung Cabets. Icaristen nannten sie sich nach dessen Buche „Voyage en Icarie“, in dem in Romanform die Grundsätze des Icarismus in leicht verständlicher und fesselnder Weise entwickelt werden. Etwa hundert an der Zahl, kamen sie 1849 in Nauvoo an, kauften die Tempelruine und waren dabei, sie für ihre Zwecke umzubauen, als ein Sturm das angefangene Werk zerstörte. Sie gaben die „Revue Icarienne“ halb in englischer, halb in französischer Sprache heraus und lebten in völliger Gütergemeinschaft etwa zehn Jahre lang. Dann ging die Kolonie auseinander, weil Cabet gleich Cäsar „voll Herrschsucht war“; ein Teil führte in Adams County im Staate Iowa das kommunistische Leben weiter; andere blieben in Nauvoo, wo sie jetzt noch leben und mit den Deutschen, Engländern und Irländern zusammen Acker- und Weinbau treiben.

Ihre Mußezeit vertreiben sich die Nauvooer gern durch Theaterspielen. Einer der ehemaligen Icaristen, Herr Balley aus Paris, spielt gewöhnlich die Hauptrollen, sowohl in den englischen, wie in den deutschen Stücken. Französische können nicht gut aufgeführt werden, weil dann die Deutschen und die Engländer sich weder aktiv noch passiv beteiligen könnten. Von den englischen Stücken ist mir erinnerlich „Schinderhannes, the Robber of the Rhine“, von den deutschen „Papa hat's erlaubt“ von Putlitz. Es ist für einen Franzosen in hohem Grade anerkennenswert, drei Sprachen so zu beherrschen, um darin erträglich zu agieren; umsomehr für einen Schuster, wie Herr Valley ist. Herr Cambrai, ein Weinbauer, spielt gut Violine und liebt die deutsche Musik.

Die Deutschen und die Franzosen, die den Hauptteil der Bevölkerung ausmachen, leben im allgemeinen friedlich zusammen, ausgenommen im Kriegsjahre 1870/71.

Ihre Nationalität bewahren die Franzosen in Nauvoo, wie überall, besser als die Deutschen. Man merkt das auch an Aeußerlichkeiten. Der Deutsche sagt Country (Land), auch wenn er deutsch spricht, und Cider, letzteres mit englischer Aussprache; der Franzose aber behält sein contrée und spricht cidre französisch aus. Doch zu untersuchen, wie weit die Deutschen sich in der Sprache amerikanisieren, würde eine eigene Abhandlung erfordern.

Noch einmal könnte Nauvoo vielleicht eine Rolle spielen und aus der Vergessenheit auftauchen, in der es seit einem Menschenalter ruht. Halb im Scherz, halb im Ernst hat man, nicht nur im Nauvooer Independant, sondern auch in auswärtigen Zeitungen davon gesprochen, die Bundeshauptstadt von Washington nach Nauvoo zu verlegen. Das klingt befremdlich, ist aber nicht so toll, wie es aussieht. Die Hauptstädte der amerikanischen Einzelstaaten werden fast ausnahmslos in das geographische Zentrum gelegt; darum ist nicht das große Chicago Hauptstadt von Illinois, sondern das kleine Springfield; nicht das riesige New-York des gleichnamigen Staates, sondern das kleinere, aber zentral gelegene Albany, nicht San Francisco von Californien, sondern das verhältnismäßig unbedeutende Sacramento u.s.f. Diesem Grundsatze zufolge wurde Washington Hauptstadt der dreizehn ersten Staaten; damals hatte es in der That eine zentrale Lage. Jetzt hingegen, nachdem sich das Ländergebiet der Vereinigten Staaten weit nach Westen ausgedehnt hat, müßte auch der Unionsmittelpunkt nach Westen verschoben werden. Ueber den Mississippi, die Hauptverkehrsader hinaus, dürfte die Unionshauptstadt kaum gerückt werden. Eine am Vater der Ströme gelegene Großstadt, wie Sant Louis, würde sich aus Mangel an Platz für die zu erbauenden Ministerien und sonstigen Regierungsgebäude, sowie wegen der vielen Fabriken und der dadurch bedingten Unzuträglichkeiten nicht eignen. Nauvoo hat eine äußerst gesunde Lage und, was die Hauptsache ist, Raum, unbeschränkten Raum. Nauvoo ist von allen Teilen der Union leicht zu erreichen, während Washington für die Senatoren und Repräsentanten des Kongresses aus dem Westen und Südwesten eine sechstägige ununterbrochene Schnellzugsfahrt erfordert. Also auch die Reisevergütungen für die Volksvertreter würden sich erheblich vermindern.

Aus all den angegebenen Gründen ist es also keineswegs unmöglich, daß die Hauptstadt-Hoffnungen der Nauvooer dereinst in Erfüllung gehen werden.

FUSSNOTEN:

[2] 1882-83 bereiste der Verfasser die Vereinigten Staaten. Die beiden folgenden Stücke sind Bruchstücke aus dem damals geführten Tagebuch.

[3] Sein Degen befindet sich im Besitz eines gewissen Myers in Fort Madison, wo ich ihn sah.

[4] Siehe das Titelbild

IV.

Ausflug in die nordamerikanischen Urwälder und zu den Geysers.

Das erste, was der San Franciscaner seinem Gaste zu zeigen pflegt, ist das Cliff-Haus, jenes berühmte Wirtshaus am Stillen Ocean. Auch mich ließ mein Onkel, den ich während eines Frühlings und Sommers mit meinem Besuche strafte, gleich am zweiten Tage meiner Ankunft hinauskutschieren. Man fährt eine gute deutsche Meile nach Westen durch den Goldnen-Thor-Park; das Haus liegt auf einen Felsen dicht am Meer; vom Balkon hat man eine herrliche Sicht auf die Brandung und die kleinen felsigen Inseln, auf welchen Hunderte von Seelöwen umherrutschen und ihr wehmütiges Geheul ertönen lassen. Sie stehen unter dem Schutze der Stadt und dürfen nicht geschossen werden. Rechts sieht man die Schiffe aus dem Goldenen Thor majestätisch ins offene Meer hinaussegeln. —

Die nächsten Wochen benutzte ich dazu, die Sehenswürdigkeiten der Stadt in Augenschein zu nehmen. Nächst dem Chinesentheater interessiert vor allem immer wieder das Leben und Treiben am Hafen, welches auch den zu fesseln vermag, der Hamburg, New-York, London kennt. An Größe, Schönheit der Umgebung und Buntheit und Mannigfaltigkeit der Nationalitäten übertrifft der Hafen der californischen Seestadt die der drei genannten.

Die Umgegend von San Francisco ladet zu häufigen Ausflügen ein. Man bedient sich dabei der Baidampfer, die an Pracht der Ausstattung kaum den Hudsondampfern (zwischen Albany und New-York) nachstehen. Da ist z.B. Saucelito, wie ein Stück Thüringen an das Gestade des Stillen Weltmeeres versetzt; San Rafael, mitten in Bergen, ebenfalls am Golf, leider mit Mosquitos reichlich gesegnet. Gerade gegenüber San Francisco, am Ostufer der Bai: Oakland, Alameda und nördlicher Berkeley mit der Staatsuniversität für Californien, welche in einem Park am Fuße eines Berges gelegen ist, mit Aussicht auf das Goldene Thor. Ein ganz herrlicher Punkt ist Piedmont Springs, ein Badeort mit Schwefelquellen, weiter im Innern nach Osten zu, in zwei Stunden (abwechselnd mit Pferdebahn, Dampfer und Eisenbahn) zu erreichen, durch Feld und Wald und durch anmutige Ortschaften mit blühenden Palmen und Rosen. Von dem hochgelegenen Piedmont Springs eröffnet sich ein Ausblick auf das gesegnete Land, mitten darin wie ein blaues Auge der See Meritt, und in der Ferne schimmert die Bai mit der Stadt auf den sieben Hügeln.

Bald waren alle diese Punkte und andere öfter als einmal genossen; der Sinn stand auf Weiteres gerichtet. Durch die Liebenswürdigkeit meines Onkels sollte ich auch die nördlicher gelegenen Striche Californiens mit den Urwäldern und Geysers kennen lernen, während ich Süd-Californien von der Mündung des Colorado bis nach San Francisco hinauf auf meiner Reise vom Mississippi nach dem Westen, wenn auch nur im Fluge, gesehen hatte. Eine meinem Onkel befreundete Firma, welche in San Francisco eine Cigarrenkistenfabrik mit mehreren Hundert Arbeitern besitzt, lud mich ein, ihre in Humboldt County, dem nördlichsten County des Staates, und in Sonoma County gelegenen Besitzungen anzusehen. In diesen Countys läßt die Firma das Rotholz (Red-Wood) schlagen, welches zum Bau und als Cigarrenkistenholz für minderwertige Sorten gebraucht wird; dort haben sie 2 Schneidemühlen mit je 50 Arbeitern, lassen die Stämme zersägen und von Humboldt County zu Schiff, von Sonoma County per Bahn nach San Francisco schaffen. Mit einem Empfehlungsschreiben an den Aufseher in Sonoma County versehen, unternahm ich den Ausflug mit dem frohen Gefühl, daß er mir nicht wie in Deutschland verregnen könne; denn ein ewig blauer Himmel lacht bekanntlich im Sommer über Californien. Man durchfährt den nördlichen Teil der über 50 Kilometer langen Bai, läßt das Goldene Thor links liegen und geht nach einstündiger Dampferfahrt auf die Eisenbahn über. Drei Stunden braust der Zug durch die freundlichen Thäler der Küstengebirge, mit viel Weinbau, zuletzt im Thal des Russian River, der seinen Namen von früheren russischen Ansiedelungen führt. Zur Mittagszeit kam ich, nachdem ich zuletzt eine sehr primitive Seitenbahn, meist nur für den Holztransport gebaut, benutzt hatte, auf Mills Station an, die mitten im einsamen Waldthal liegt, welches mich an das unserer Schwarza erinnerte. Im unmittelbaren Umkreise der Mühle ist der Wald verschwunden, und es stehen nur noch die schwarzen Stümpfe der Riesenbäume, etwa 3 Meter über dem Erdboden abgesägt. Damit der Baum nicht wieder ausschlägt, wird der Stumpf äußerlich verkohlt und steht noch manches Jahr da, während um ihn herum der Wein grünt; ein wunderbarer Kontrast, dem ich nichts zu vergleichen wüßte. Immer weiter greift die Zerstörung des Waldes, die hier, wie fast überall in Amerika, mit der größten Sorglosigkeit betrieben wird. Sequoia gigantea und sempervirens, aus denen er hauptsächlich besteht, wird 80-120 Meter hoch, wächst kerzengerade, mit einem Durchmesser von 2-6 Meter. Bei Mariposa, in der Nähe des vielbesuchten Yosémité-Thales (Sierra Nevada) steht der gewaltigste von allen, „Wawona“, der einen Durchmesser von 8-9 Metern hat und eine Höhlung, durch welche die 4 und 6spännige Postkutsche fährt.

Nachdem ich meinen Brief an Herrn B., den Aufseher der Mühle, abgegeben
hatte, wurde ich eingeladen, an dem gemeinschaftlichen Mittagsmahle der
Arbeiter teil zu nahmen, welches den chinesischen Köchen, die die
Wirtschaft besorgen, alle Ehre machte.

Die Arbeiter bekommen 130-400 Mark monatlich bei freier Station (eine Summe, die den californischen Preisen entspricht und bei weitem nicht so bedeutend ist als sie scheint), wofür sie 11-12 Stunden harte Arbeit haben. Gelegenheit, ihr Geld auszugeben, bietet sich hier nicht.

Mit mir zugleich kam ein junger, gebildet aussehender Mann an, der seine Stelle als Ingenieur auf einem Cuba-Dampfer aus irgend einem Grunde verloren hatte, wie er sagte, und um Arbeit bat; der alte B. setzte ihm in 1/4 Minute die Bedingungen auseinander, sagte ihm, daß er zunächst 130 Mark erhalten würde, und nachdem der neue Ankömmling mit uns gegessen hatte, fing er an, Holz in die Mühle zu tragen, wie wenn er es von jeher gewohnt wäre.

Eine halbe Stunde abseits liegt „S's Ranch“, eine Meierei, wohin B. und ich nachmittags gingen, um meinen Wirten, der Familie S., die dort Sommerwohnung hatte, einen Besuch zu machen. Viele Verwandte und Bekannte, Kranke und Gesunde, zusammen etwa 20, meist tschechischer Herkunft wie auch die Familie S., waren anwesend und genossen, wie es schien, unbeschränkte Gastfreundschaft. Wir besichtigten die zum Gut gehörige, von Schweizern betriebene Milch- und Käsewirtschaft (60 Kühe), sowie die Weinberge, die 80 Acker bedeckten.

Am Abend saß ich mit dem alten B., der froh war, jemand zu haben, der sein liebes Prag kannte, und mit dem er über die Deutschenfrage in Oesterreich sprechen konnte, auf der Veranda seines Holzhauses bei einer Flasche Californiers; es dämmerte, und feierliche Stille lagerte sich über die Wälder; friedlich zu unseren Füßen liegen die zerstreuten Holzhäuschen der Arbeiter; letztere gehen rauchend und plaudernd dazwischen spazieren. Nebel senkt sich herab, ab und zu flackern die Feuer heller auf, welche Tag und Nacht brennen zur Beseitigung des überflüssigen Holzes; ein Wächter wacht dabei, daß es nicht zu weit um sich greife.

Vor dem Zubettgehen zeigte mir Herr B. eine Kollektion von Insekten und spinnenartigem Getier, das aufgespießt an der Wand über seinem Bette prangte, darunter auch einige Skorpione, etwa fingerlang, die er in seiner Bettstelle gefangen und ihrem wohlverdienten Schicksale überliefert hatte. Ihr Stich ist sehr schmerzhaft. Nachdem ich mein Lager sorgfältig durchsucht hatte, schlief ich ruhig ein und blieb von derartigen Bestien unbehelligt.

Am nächsten Morgen versammelte sich alles auf der Ranch, um den gestern verabredeten Ausflug tiefer hinein in den Wald auszuführen, dort einen der Bäume fällen zu sehen und ein gemütliches Picnic abzuhalten. Die Fahrt ging zuerst auf eisernen, dann auf hölzernen Schienen. Vier Joch Ochsen zogen, an eine Kette geschirrt, und der italienische Treiber, der hinten an der Bremse stand, dirigierte das Ganze, indem er jedes der Tiere beim Namen rief, rechts oder links, rasch oder langsam gehen ließ, und das ohne Zügel und in einem aus Englisch und Italienisch gemischten Kauderwelsch, welches außer den Ochsen niemand verstand. Wirkte das Wort einmal nicht, so sprang er vom Wagen und stach hurtig die Störrischen mit einer Stahlspitze in das Hinterteil. Maulesel lösten die Ochsen ab, als wir auf die Holzschienen übergingen und in den dichteren Wald einfuhren.

Ein Gerüst von 3-4 Metern Höhe umgab den zu fällenden Baum; die beiden Arbeiter, welche schon einen vollen Tag daran gesägt hatten, trieben die Keile tiefer hinein, während das Holz leise knackte und knarrte; langsam senkte er sich nach der angehackten Seite, und schnell und immer schneller stürzte der Gewaltige, eine Wolke von Staub, Blättern, Nadeln und Holzsplittern aufwirbelnd, mit donnerartigem Getöse. Die Kunst der Holzfäller besteht darin, ihn so fallen zu lassen, daß er möglichst wenig andere Bäume niederreißt und beschädigt. Wir kamen aus unserer sicheren Position hervor und maßen den Baum: er hatte unten über 3 Meter Durchmesser und war 80-90 Meter lang. Das Holz ist fast ziegelrot. Nachdem der Baum seiner Aeste entledigt ist — welche liegen bleiben und an Ort und Stelle verbrannt werden —, wird er in Stücke von etwa 15 Meter Länge gesägt; diese werden mit Ketten umwunden und durch Ochsen auf roh hergestellten Knüppeldämmen zu den Schienen geschleift und in die Sägemühle gefahren.

Nachdem wir uns am Ufer des Russian River eine Weile bei Speise und
Trank gelagert hatten, fuhren wir auf einem andern Wege durch prächtigen
Rotholzwald, mit Lorbeer und Haselnuß untermischt, nach Hause zurück.

Nach Tische fuhr ich über Santa Rosa, einer freundlichen Landstadt, die ihren Namen nach einer getauften Indianerin hat, bis nach Cloverdale, wo ich übernachtete.

Da die Post nach den Geysers erst um Mittag abfuhr, blieb mir der Vormittag zu einem Spaziergang in die Umgegend. Ich erstieg einen Hügel, von welchem ich die Aussicht auf das friedliche Thal mit seiner herrlichen Vegetation genoß. Wie viele solcher Idyllen, die sich mit den reizendsten in Deutschland messen können, mögen unbeachtet in dem weiten Lande zu finden sein!

Als ich mich näher umsah, bemerkte ich erst, daß ich unter Gräbern stand; aus einer frischen Gruft schaufelte ein Mann Erde heraus. Ich ließ mich in ein Gespräch ein, merkte bald, daß er ein Landsmann war, und fuhr deutsch fort. Er entpuppte sich als Holsteiner, Handwerker und Eigentümer dieses Friedhofs.

Wenn ein Cloverdaler begraben sein will, muß er sich an den Holsteiner wenden, der ihm für Geld und gute Worte ein Grab gräbt.

In offenem, vierspännigem Postwagen ging es um 1 Uhr fort, durch hochromantische Thäler; links ragt die Felswand, rechts droht der Abgrund; bergauf bergab geht es; verglichen mit unseren Poststraßen ist der Weg schauderhaft und so schmal, daß der Wagen zur Not ausbiegen kann — es kam übrigens auf der langen Strecke nur einmal vor —; Prellsteine existieren nicht. Kurze Biegungen werden mit rasender Geschwindigkeit umfahren, so daß die hinten sitzenden Passagiere die beiden vorderen Pferde nicht mehr sehen, während der Wagen noch diesseits der Felskante herumschlürft.

Aengstliche Leute werden hier mit Recht ohnmächtig, und auch weniger angstvolle werfen bedenkliche Blicke bald auf den Rosselenker, der freudig die lange Peitsche über dem Viergespann schwingt, bald auf den gähnenden Abgrund, bald auf die sausenden Wagenräder, die sehr solide gebaut sein müssen, um die Stöße auszuhalten. Einer der Passagiere, ein Illinoiser Farmer, der einen Bruder in Nordcalifornien besuchen wollte, erwiderte, befragt, weshalb er nicht den Seeweg von San Francisco aus gewählt: es käme auf eins heraus, ob er ertränke oder den Hals bräche. Selten genug kommt ein Unglücksfall vor, dazu verstehen die Kutscher ihr Handwerk zu gut; ab und zu geschieht es dennoch, und wir passierten nicht ohne Schauder die Stelle, wo vor ein paar Monaten der Wagen hinabgestürzt war, die Pferde tot, Kutscher aber und Reisende durch einen glücklichen Zufall an irgend einen Vorsprung oder Gebüsch hängen geblieben und mit gebrochenen Armen und Beinen davon gekommen waren.

Nach 4stündiger, nur einmal unterbrochener Fahrt langten wir, tüchtig durchgerüttelt und gänzlich verstaubt, in Geyser Springs an, einem großen hölzernen Hotel mit Schwefelbädern, in prachtvollem Thalkessel gelegen. Abends lagen wir alle, eine große Gesellschaft Damen und Herren, in Schaukelstühlen (andre waren nicht vorhanden) auf der Veranda. Aus dem Saale tönte Klaviergeklimper, und alsbald wurde getanzt. Nachher unterhielt ich mich mit einem San Franciscoer Maler, der mein Zimmergenosse wurde, einem Antwerpener Kaufmann aus Oakland und einigen amerikanischen Studenten. Der Maler, dessen Sehnsucht nach Paris und München ging, legte eine Probe seiner Kunst ab, indem er einen Wasserfall nach der Natur malte, ziemlich schlecht nach meiner Meinung; der Antwerpener, der sehr gut deutsch sprach, erzählte von seinen Rheinfahrten; und den amerikanischen Studenten suchte ich, selbst noch ein halber Student, einen Begriff von deutschem Universitätsleben beizubringen, was mir indes nicht gelang.

Bei Tische wurden wir, wie meist in Hotels und auf Dampfern, durch Neger bedient, von denen einer — seltene Erscheinung! — durch seine Schönheit auffiel; diese entging den weißen Ladies nicht, und kokette Blicke flogen hinüber und herüber. Ueberhaupt herrschte ein merkwürdig freier Ton in der sonst so steifen amerikanischen Gesellschaft, vielleicht hervorgerufen durch das Gefühl, dem lästigen Stadtceremoniell einmal entronnen zu sein.

Der Preis betrug 13 Mark pro Tag, wobei, wie gewöhnlich in amerikanischen Hotels, die 3 Mahlzeiten eingerechnet sind, mag man nun daran teil nehmen oder nicht. Nach der Karte kann man nichts haben.

An einem schönen Sonntag Morgen wanderte die ganze Gesellschaft mit einem Führer (einem Deutschen, wie es schien) in die Berge, um die Geysers und Schwefelquellen in Augenschein zu nehmen. Der Boden schwankt unter den Füßen, dabei ein Getöse wie in einer Fabrik. Ueberall an den Wänden ist Schwefel abgesetzt; auch Asbest sah ich. An vielen Stellen dringt kochendes Wasser, heißer Dampf heftig hervor. „Des Teufels Tintenfaß“, „der Hölle Badeanstalt“ und andre, mehr oder weniger passende Namen wurden uns genannt. Ein Becher, den der Führer mit dem Henkel am Spazierstock vor ein solches dampfendes Loch hielt, fuhr schwirrend herum. Schließlich nahm ein Photograph die Gesellschaft auf, mit den Geysers im Hintergrunde.

— Durch noch großartigere Landschaft als bisher ging es weiter mit der Post, und üppige Vegetation begleitete uns. Als wir im besten Fahren waren, hielt der Wagen plötzlich; der Kutscher stieg ab und wies auf eine kleine Gruppe, die uns zu interessant schien, um sie sofort zu stören. Eine Klapperschlange saß mitten auf dem Wege und war dabei, eine Maus zu verzehren. Sobald sie uns erblickte, fuhr sie empor und streckte uns ihr niedliches Köpfchen graziös und herausfordernd entgegen, indem sie nach Kräften mit dem Schwanze rasselte. Der Kutscher zerhieb sie mit der Peitsche, trat ihr den Kopf entzwei und gab mir die Klapper zum Andenken.

Nachdem wir Mittag gemacht hatten, fuhren wir weiter, um den etwa 1200
Meter hohen Helenaberg herum, der die Gestalt eines liegenden Elefanten
hat, und kamen um 2 Uhr in Calistoga an, von wo mir noch 4 Stunden mit
Bahn und Dampfer blieben nach dem südlicheren San Francisco.

V.

Ekensund.

Ein Land- und See-Mosaikbild.

Um in dem überreichen Material, das mir über Ekensund zu Gebote steht (nach fünfwöchiger Sommerfrische!), nicht planlos hin- und herzusteuern oder gar zu versinken, wäre es wohl angebracht, eine Art Disposition zu entwerfen, wie ich es als Sekundaner und Primaner zu thun pflegte. Allein ich fürchte, mein Aufsatz bekäme dann einen Anflug von Lehrhaftem, schmeckte zu sehr nach Schule, und mir ist es wahrhaftig mehr um das delectare des Horaz als um sein prodesse zu thun, wenngleich auch dieses selbstverständlich nicht ausgeschlossen bleibt. Seine geographischen Kenntnisse bereichert jeder gern, besonders in der jetzigen Zeit, die ja im Zeichen des Verkehrs stehen soll. Wie gut, daß doch jede Regel ihre Ausnahme hat! Denn Ekensund steht nicht im Zeichen des Verkehrs, noch nicht, und wird hoffentlich noch eine Weile außerhalb desselben bleiben. Sonst käme ich nächstes Jahr nicht wieder, und mein liebenswürdiger Hauswirt könnte sehen, wo er einen Ersatz für mich und meine Familie herkriegte.

Als ich meinen Freunden in Flensburg meinen Entschluß kund that, nach
Ekensund hinauszuziehen, schlugen sie die Hände über dem Kopf zusammen
und riefen entsetzt aus: „Nach Ekensund? Was wollen Sie denn da in dem
Schmutzloch, wo die vielen Ziegeleien sind und so viel Staub und kein
Wald und kein Kurhaus — —“

Gemach, gemach! Genau so sprach ich vor zehn Wochen auch, und ich würde jeden für einen ausgemachten Narren erklärt haben, der in Ekensund Sommerfrische zu halten gedächte! Der Grund bei mir war derselbe wie bei Brockhaus und meinen Flensburger Freunden: Wir waren nie da gewesen. Was bei Brockhaus, der in der Pseudoseestadt Leipzig wohnt, verzeihlich ist, wird bei uns, die wir in der wirklichen Seestadt Flensburg wohnen und nur 18 Kilometer von Ekensund entfernt, nicht nur unverzeihlich, sondern auch unbegreiflich. Indessen, tout savoir c'est tout pardonner. Die Flensburger Föhrde bietet so viel wundervolle Orte und Oertchen, in Wald und Hügel gebettet und von der blauen Flut umrauscht, wo die Schönheiten sozusagen auf dem Präsentierteller geboten werden, daß das verwöhnte Auge des Philisters, der für „Natur“ schwärmt, bei Ekensund eben nur — Ziegeleien sieht. Es war bisher das Aschenbrödel unter seinen Schwestern Glücksburg, Kollund, Süderhaff, Gravenstein und wie sie alle heißen; aber darum will ich um so lauter seinen Ruhm verkünden und über jene anderen mich in völliges Stillschweigen hüllen.

Sprachlich hellhörigen Lesern, die ihren Wustmann am Schnürchen haben, wird vielleicht schon längst die vorwurfsvolle Frage auf den Lippen schweben, warum ich denn beharrlich Ekensund schreibe, während es doch gewiß Eckensund heiße. Diesen diene als Belehrung, daß dem nicht so ist. Ekensund heißt hochdeutsch Eichensund, und so wirft der Name hier wie auch sonst Licht auf frühere Zustände, die kein Lied, kein Heldenbuch meldet. Die kurze und schmale, aber sehr tiefe Wasserstraße, welche das kleine Nübelnoor[5] mit der größeren Flensburger Föhrde verbindet, war früher von mächtigen Eichenwäldern umschattet, deren Wipfel von hüben und drüben sich fast berührten, sodaß ein Eichhörnchen von einem Ufer zum anderen springen konnte. Der Name Ekensund übertrug sich später auf den Ort, der teilweise am Sunde, teilweise aber an der hohen steilen Küste der eigentlichen Föhrde sich hinzieht. An die ehemaligen Wälder erinnern nur an den Endpunkten des Ortes noch Ueberreste, kleine Haine, die bei ländlichen Festlichkeiten, Picknicks u.s.w. benutzt werden.

So auch bei dem am morgigen Sonntag stattfindenden großen Erntefest, auf das rote Plakate hinweisen und mit welchem, wie es heißt, eine internationale Segel- und Ruder-Regatta verbunden sein wird. Eine merkwürdige Zusammenstellung, denkt vielleicht der binnenländische Leser, aber sie zeigt so recht die Hauptquellen des hiesigen Volkswohlstandes, der auf dem Erntesegen und auf den Schätzen und dem Verkehr der salzigen Meeresflut beruht. Aus demselben Grunde tragen ja auch die dänischen Münzen eine Aehre und einen Fisch. Was die Internationalität betrifft, so beschränkt sie sich auf deutsch und dänisch; befinden wir uns doch in der Gegend, wo, wie der selige Voß in der Widmung seiner Odyssee an die Grafen Stolberg sagt, der dänische Pflüger den Deutschen, dieser den Dänen versteht. Insofern kann man auch Ekensund eine internationale Sommerfrische nennen, und zwar mit mehr Recht als Baden-Baden oder Karlsbad; denn dort sprechen die Einwohner trotz der vielverheißenden Aufschriften On parle français und English spoken doch nur eine Sprache. Hier aber drei: hochdeutsch, plattdeutsch und dänisch. Nicht das reine Kopenhagener Dänisch freilich, sondern nur „Kartoffeldänisch“, wie es spöttisch genannt wird. Die Inschriften des Ortes zeigen denn auch deutsch und dänisch durcheinander: da ist eine Sadelmager-Vaerksted, dort wohnt ein Kobbersmed, dort winkt eine Gjaestgiveri und sogar ein Lager af Hatte og Kasketter, und man möchte sich fast innerhalb der rotweißen Pfähle glauben, wenn einen nicht das Königlich Preußische Nebenzollamt und die Kaiserlich Deutsche Reichspoststelle eines anderen belehrte.

Apropos Gjaestgiveri! Sie thront auf hohem Ufer und bietet weite Aussicht auf die Innen- und Außenföhrde mit ihren Dampfern und manchem stolzen Segler; aber lieber noch ist mir der Einblick in das trauliche Wirtszimmer, wo drei Seerosen blühen, nämlich der Wirtin drei Töchterlein, eine immer noch hübscher als die andere, und zwischen 16 und 21 Jahren stehend; vorläufig also noch keine Aussicht, aus dem Schneider zu kommen. Fast bin ich eifersüchtig auf die drei Maler, die nun schon seit mehreren Wochen in der Gjaestgiveri wohnen und täglich den Anblick und Umgang der drei Seeröslein genießen dürfen — doch damit komme ich auf den Glanzpunkt Ekensunds — auf die Maler! Merkwürdig, sie sind fast das einzige Fremdenpublikum, und von den 12 Sommerfrischlern, die hier hausen, bilden sie die Majorität — zur Zeit sind es 7! Die übrigen 5 Gäste sind meine Frau, ich, meine beiden Söhnchen und unsere dienstbare Jungfrau; damit ist das Dutzend voll. Die Maler, die Ekensund unsicher machen, werden wohl nicht weit her sein, denkt vielleicht die freundliche, aber skeptische Leserin. Weit gefehlt, gnädige Frau! Hören Sie nur: Da ist ein Biedermann aus Gotha, ein Engel aus München, ein von Hoven aus Frankfurt a.M., ein Petersen-Angeln aus Düsseldorf, ein Schwennsen aus Christiania, ungerechnet die Flensburger Jakob Nöbbe und Alex Eckener! Von einem Biedermann'schen Bilde sagten Unverständige früher, man könne nicht sehen, ob es ein Porträt oder eine Landschaft darstelle; aber seit es vor einigen Tagen für 800 Mark auf der Münchener Ausstellung verkauft ist, hat sich die Hochachtung vor diesem Biedermann erheblich gesteigert, und wie Joseph unter seinen Brüdern schreitet er jetzt unter seinen Genossen umher, diese um Haupteslänge überragend. Ich habe ihm deshalb auch in meiner Aufzählung die erste Stelle eingeräumt. Wenn ihr einstens als große Lichter am deutschen Kunsthimmel leuchtet, ihr sieben Maler, dann denkt, daß ich es war, der euch in meinem Feuilleton über Ekensund zuerst den Tribut der Anerkennung zollte!

Ein Ort, der für Künstler eine solche Anziehungskraft hat, daß sie Jahr aus Jahr ein wiederkehren, und zwar in vermehrter Anzahl wiederkehren, und wochenlang und monatelang pinseln und pinseln, ein solcher Ort kann nicht ohne bedeutende Reize und seine Zukunft kann nicht ganz trostlos sein. Wenn aber die gewöhnlichen Sommerfrischler erst in größeren Schaaren anrücken, dann, fürchte ich, werden die Jünger Apolls dem einsamen Ekensund Lebewohl sagen. „Der Adler fliegt allein, die Krähen scharenweise.“

Wenn der Wind allzuhart vorn auf meiner Glasveranda steht, von der ich den Blick auf den Sund mit seinen fortwährend passierenden Schiffen genieße, ziehe ich mich in die Laube hinter dem Hause zurück, von wo aus ich den muldenförmig gelegenen Garten überschaue. Früher war es eine Lehmkuhle, und ein kleiner weidenbewachsener Teich an der tiefsten Stelle erinnert noch an die Zeiten, da er das Material für den Ziegelofen lieferte. Hier ist es windgeschützt; man hört ihn wohl brausen in den mächtigen Pappeln, aber man fühlt ihn nicht. Kein abgeschiedeneres Idyll läßt sich denken als dieser Garten, von der Morgensonne beschienen und belebt nicht nur von meinen Söhnen, die in ihrem blauen Wägelchen hügelauf und hügelab karriolen, wobei sie zwischen Weg und Rasen nicht streng unterscheiden, sondern auch von vielen Hühnern; denn mein Wirt ist nicht nur Ziegeleibesitzer, sondern auch einer der ersten Hühnerzüchter im Umkreise. Da stolzieren schneeweiße Rammelsloher Hähne neben Hamburger Silberlackhühnern, Andalusier neben Siebenbürger Nackthälsen, die jeder, außer dem Maler Nöbbe, häßlich findet; da führen Mutter Kattun und Mutter Eule ihre jungen Bruten umher, von denen das regnerische Wetter leider eine Anzahl hinweggerafft hat. Schlimmer aber war es noch im vorigen Jahre, als das große Sterben, die Diphtherie, unter dem Federvolk wütete und fünfzig Opfer verlangte. Als einziges Mittel gegen die schreckliche Krankheit gilt Petroleum, und gerne öffnen die kranken Tiere ihren Schnabel und lassen sich pinseln. Da überragt alle anderen der Hahn Jochen, der ungefähr die Größe meines fast zweijährigen Ernst hat. Ergötzlich sind die Hahnenkämpfe, die sich täglich vor meinen Augen abspielen und die mir ein anschaulicheres Bild der Zweikämpfe um Troja zu geben vermögen als alle Beschreibungen des göttlichen Homer. Wie sich die Federn am Halse sträuben, wie die Augen blitzen und wie dann mit unfehlbarer Sicherheit die Schnäbel gegen einander fahren, bis endlich der eine den Kampfplatz verläßt, während der andere ein siegreiches, jubelndes Krähen anstimmt. Und der Grund zu diesen Mensuren? Es heißt hier wie beim trojanischen Kriege: Cherchez la femme!

Es ist vielleicht an der Zeit, über die geographische Lage Ekensunds einige genauere Angaben zu machen. Es liegt, gründlich gesagt, auf der Halbinsel einer Halbinsel einer Halbinsel einer Halbinsel einer Halbinsel! Oder in umgekehrter Reihenfolge: Europa, das eine Halbinsel Asiens ist, streckt nach Norden die fingerförmige cimbrische Halbinsel, welche auf der Ostseite wieder eine Anzahl Halbinseln bildet. Von diesen streckt die Halbinsel Sundewitt nach Süden die kreuzförmige Halbinsel Broacker, auf dessen nordwestlichem Balken unser Ekensund liegt, also auf einer fünfmal potenzierten Halbinsel. Auch hierin dürfte Ekensund vor anderen Sommerfrischen einzig dastehen.

Die Erwähnung von Broacker bringt mich wieder auf die Hühner zurück, was, da ich keinen Schulaufsatz, sondern ein Mosaikfeuilleton schreibe, niemand für einen allzugewagten Sprung halten wird. Mitten auf der Halbinsel Broacker, da, wo die beiden Kreuzbalken sich decken, liegt das große Kirchdorf Broacker, so hoch, daß sein mächtiges weißes Thurmpaar nicht nur auf der ganzen Halbinsel zu sehen ist, sondern auch weithin über das Meer leuchtet, den Schiffern als Landmarke dienend auf stürmischer Fahrt. Auf dem Altar steht eine Nachbildung des Thorwaldsen'schen Christus in der Frauenkirche zu Kopenhagen, und auf dem Kirchhofe ruhen nebeneinander Dänen und Deutsche, Freund und Feind, die beim Sturm auf Düppel den Kriegertod fanden. An einem sonnigen Sonntage — es war vor acht Tagen — fand wiederum ein heißes Ringen in Broacker statt, und von allen Richtungen pilgerten schaulustige Menschen zu Wagen und zu Fuß herbei, um den Verlauf des Kampfes zu sehen. Einhunderachtundsiebzig Parteien kämpften um die Preise, deren sechsunddreißig auf die Sieger harrten. Als wir den großen Saal des Jörgensen'schen Gasthofes betraten, umsummte uns ein Lärmen und Schreien, ein Drängen und Schieben, daß wir froh waren, als wir eine Viertelstunde später im Gartenpavillon bei einer guten Tasse Kaffee und einem Strauß'schen Walzer der Ruhe pflegen konnten. Ueber die Einzelheiten der Geflügelausstellung (denn um eine solche handelte es sich) geben wir deshalb auch keine weitere Auskunft, fügen nur hinzu, daß viele Besucher bis in den grauenden Morgen beim Tanz die Schlacht fortsetzten; blutige Köpfe soll es aber nur drei gegeben haben.

Wie sich in Kinderköpfen die Welt anders malt als sonst in Menschenköpfen, dazu lieferte mein älteres Söhnchen Karl eine Illustration. Als wir ihn nach der Rückkehr erwartungsvoll fragten: „Na, Karlchen, was haben wir denn nun in Broacker gesehen?“ blickte er mit seinen dunkelblauen Augen zuerst träumend in die Ferne, dann sagte er, freudig aufblickend: „Zwei große Hunde!“ — Enttäuscht über diese wenig sachgemäße Antwort fragte ich forschend weiter: „Und was denn noch?“ — „Viele Wagen und Pferde!“ kam es schnell heraus. Daß Hühner, Tauben und Fasanen dagewesen waren, bejahte er erst, als ihm diese Tiere direkt genannt wurden. So sieht und beachtet jeder nur das in der Welt, was ihm wichtig erscheint, für das Uebrige sind wir halb oder ganz blind.

Mit dieser lehrreichen Betrachtung möchte ich meine Plauderei über die Sommerfrische Ekensund schließen. Der eine wird sie anziehend finden und lesen, der andere nicht. Wir loben jenen nicht, wir verdammen diesen nicht; beide können in ihrer Art gute und glückliche Menschen sein. Und mehr braucht man nicht im Leben.

FUSSNOTEN:

[5] Noor heißt See, Gewässer; Nübel ist ein Dorf.

VI.

Ein Besuch bei Gustav Freytag.

Im Sommer 1882 wanderte ich als Student durch das Thüringer Land. Von Jena, wo ich damals meinen Studien oblag, gings zunächst mit der Bahn nach Eisenach, wo ich mich mit einem Freunde aus Marburg traf. Nachdem die Wartburg besucht, der Inselsberg bestiegen und alle die Herrlichkeiten zwischen Eisenach, Ruhla und Friedrichsroda genossen waren, trennten wir uns in Gotha, von wo mein Genosse westwärts, ich ostwärts fuhr. Bevor ich aber der alten Musenstadt Jena wieder zueilte, beschloß ich, noch einen halben Tag zu verweilen und zu einem Spaziergange nach Siebleben zu benutzen, in welchem der Dichter von Soll und Haben in stiller Muße seine Sommertage zu verbringen pflegte, während er im Winter in Leipzig wohnte. Dort war ich öfters an seiner Wohnung in der Nürnberger Straße vorübergegangen, mit dem Wunsche, den hochverehrten Mann persönlich kennen zu lernen, dessen Werke in ihrer ruhigen Vornehmheit und zugleich historisch-politischen Solidität uns als Muster moderner deutscher Prosa vorschwebten. Was in der rauschenden Großstadt nicht ausgeführt wurde, sollte nun in dem idyllischen Dorfe gewagt werden.

Auf der mit Bäumen bepflanzten Erfurter Landstraße ging es hinaus. Die Landschaft ist von mäßigem Reiz; der langgestreckte Seeberg zur Rechten bildet die einzige größere Erhebung in der ganzen Gegend. An seinen Nordfuß schmiegt sich das Dorf Siebleben, mit Obstbäumen umgeben und von freundlichem Aussehen. Freytags Haus war bald gefunden. Es liegt in einem Garten und ist mit Schiefer bedeckt, der an der Wetterseite einen gelben Anstrich von Oelfarbe hat, was mir auffiel, da ich dergleichen nie gesehen. Vom Gärtner angemeldet, wollte ich eintreten, als er mir schon entgegentrat und mich einfach und freundlich begrüßte. Ich sagte ihm, ich sei auf einer Gebirgswanderung begriffen und habe mir Siebleben ansehen wollen, den Ort, wo er so lange gelebt. Da ich im Gasthof erfahren, daß er anwesend sei, wolle ich mir erlauben, ihm meine Aufwartung zu machen und meine Verehrung zu bezeigen. Er erwiderte freundlich und geleitete mich in sein Arbeitszimmer, welches sehr einfach eingerichtet war. Er hörte mit Interesse zu, als ich von meinen Studien, meinen Verhältnissen und Absichten redete; als ich sagte, daß ein fester Beruf, das Lehramt, dem ich zusteuerte, nicht mein Ideal sei, sondern daß nur die freie literarische Thätigkeit mich zu befriedigen vermöchte, versetzte er ernst: Ein fester Beruf ist notwendig, sowie wissenschaftliche Arbeit auch bei poetischer Produktion. Sie geben einen festen Halt und verschaffen das Selbstbewußtsein. — Aus dem Speziellen ging es ins Allgemeine, zunächst noch über dasselbe Thema: Seine Individualität unterdrücken, ist das Ziel. — Aber doch nicht das letzte, wandte ich ein, das Auswirken und Entwickeln der Individualität betrachte ich weit eher als Ideal. — Das Talent geht nicht unter, meinte er, das wirkliche Talent nicht. — Als ich erwähnte, daß ich eine schwache Lunge hätte, sagte er: Ich habe mit 30 Jahren Blut gespieen und bin so alt geworden.

Da das Wetter dazu einlud, gingen wir in den Garten hinunter, und er zeigte alles Bemerkenswerte, seine Freude über sein schönes Besitztum nicht verbergend. Die Blumen, die Gartenhäuser, alles machte ihm sichtliches Vergnügen. Auch von einer Konchyliensammlung, die er zu vergrößern suchte, sprach er. Auf die Verhältnisse des Dorfes übergehend, zeigte er sich für alles teilnehmend und über vieles orientiert, wie ein Patriarch unter seinen Kindern. Er will dafür sorgen, daß Fremdenzimmer im Gasthofe eingerichtet werden. Einzelne Dorfbewohner charakterisiert er; er kennt viele persönlich, obgleich Siebleben mit seinen 2000 Einwohnern nicht zu den kleinsten Dörfern gehört. Wir sprachen über Berlin und Leipzig; das gab ihm Veranlassung, seine Uebersiedelung nach Wiesbaden zu erklären: „Vorigen Winter hatte ich eine Lungenaffektion, daher habe ich mir auf den Rat der Aerzte ein Häuschen in Wiesbaden gekauft, obwohl ungern.“

Das Haus in Siebleben sei historisch, fügte er hinzu, Goethe habe auf seinen Thüringer Reisen oft darin übernachtet.

Von literarischen Größen erwähnte er Auerbach, den ich auch einmal flüchtig kennen gelernt hatte.

Als ich bemerkte, er wohne gerade zwischen Wirtshaus und Kirche, und scherzend fragte, ob er mehr in jenes oder in dieses ginge oder in keines, versetzte er: „Doch, zur Kirche; man muß den Leuten zeigen, daß man zu ihnen gehört.“

Mittlerweile war eine Stunde verstrichen, und ich empfahl mich. Freytag hatte es dem jungen, frechen Studentlein wohl nicht übel genommen, daß er ihn gestört, ja, er schien ein gewisses Wohlgefallen daran zu finden, denn er war fast gerührt beim Abschied. „Leben Sie wohl, Herr Studiosus, arbeiten Sie tüchtig weiter! Gehen Sie langsam, die Sonne wird Sie drücken.“ — Damit schieden wir; noch einmal blickte ich um und sah in der Gartenthür die kräftige Gestalt, die eher auf einen Landmann deutete, als auf einen der ersten geistigen Arbeiter der Nation.

VII.

Nord- und Ostseefahrten auf dem Flensburger Frachtdampfer „Mira“.

A. Riga. Aus der livländischen Schweiz. Von Riga nach der Insel
Walcheren. Middelburg. Bad Domburg.

1. Riga.

Wenn man sich Riga von Norden zu Schiff nähert, so sieht man zuerst einige Türme aus dem Wasser aufsteigen, darunter den Petriturm, den höchsten in Rußland. Von den Ufern gewahrt man zunächst nichts, denn sie sind flach. Allmählich treten sie hervor; man bemerkt jetzt, daß sie mit Kiefern bewachsen sind, zwischen denen hie und da gelber Sand hervorschimmert. Wo die Düna in den Rigaischen Meerbusen mündet, liegt die Festung Dünamünde mit Leuchtturm und Kirche; Riga selber erreicht man erst nach zweistündiger Dampferfahrt flußaufwärts.

Die Stadt hat etwa 300000 Einwohner, von denen die Hälfte Deutsche, ein Viertel Letten und ein Viertel Russen sind. Die Umgangssprache ist durchaus deutsch; alle Gebildeten sind Deutsche, die ganze Kaufmannschaft, die Börse.[6] Die Straßen- und Firmenschilder müssen außer deutsch auch russisch abgefaßt sein. Die Stadt liegt fast ganz auf dem rechten Dünaufer, das mit der Mitauer Vorstadt durch mehrere Brücken verbunden ist. Um die Altstadt zieht sich im Halbkreise der Stadtkanal, mit schönen Anlagen versehen, in denen sich das Stadtheater erhebt. Aus der Zahl der berühmten Männer, die an demselben dauernd gewirkt haben, seien nur Richard Wagner und Karl Holtei genannt; ersterer war hier Kapellmeister in den 30er Jahren. An die Altstadt schließen sich die viel ausgedehnteren neuen Stadtteile an: der Moskauer und der Petersburger. Die Straßen ähneln denen aller neueren Städte, sind breit und schön, bieten aber nicht viel Bemerkenswertes. Erwähnt seien die prächtige griechisch-katholische Kathedrale mit sechs vergoldeten Kuppeln und die neue, zierliche Gertrudkirche in gotischem Stil. An der alten Kirche, die 1812 durch Feuer zerstört wurde, hat unser Herder in den Jahren 1764-69 als Prediger gewirkt. Er nennt selbst diese Jahre die glücklichsten seines Lebens. Ein Denkmal des Dichters befindet sich auf dem Domplatz.

Die Altstadt hat viele durch ihre altertümliche Bauart hervorragende Häuser. Das älteste derselben ist das Haus der schwarzen Häupter, 1330-34 erbaut. Die Gesellschaft der schwarzen Häupter, im Mittelalter gegründet, besteht jetzt noch und zählt eine Anzahl der reichsten Kaufleute unter ihren Mitgliedern. Der Name rührt daher, daß sie den schwarzen Kopf des heiligen Mauritius in ihrem Wappen führt. Sie besitzt einen kostbaren Silberschatz, der auch künstlerisch wertvolle Stücke enthält; Tafelaufsätze, Humpen, Prunkschüsseln vom 16. Jahrhundert an. Das Ritterhaus gehört der livländischen Ritterschaft; die Große Gilde dient den Kaufleuten als Versammlungslokal, die St. Johannisgilde den Handwerkern. Alle diese Gebäude enthalten prächtige Säle und manche Erinnerungen aus alter Zeit und sie zeugen von der Bedeutung der drei Stände in Riga: des Adels, des Handelsstandes und des Handwerks.

Um die Zeit, als Kaiser Barbarossa seine Römerzüge unternahm und
Heinrich der Löwe im Norden des Reiches schaltete, da trieb es die
Deutschen sächsischen Stammes mächtig nach dem Osten. Ueber Wisby auf
Gotland gelangten deutsche Kaufleute schon im 12. Jahrhundert in die
Mündung der Düna, wo sie mit den Eingeborenen Tauschhandel trieben.
Ihren Spuren folgten missionierende Priester; einer von ihnen, Bischof
Albert, kann als eigentlicher Gründer Rigas angesehen werden (1201). Zum
Schutze der neuen Kolonie rief dieser die Schwertbrüderorden ins Leben.
Dank der günstigen Lage, der Fruchtbarkeit des Landes und der
Zugehörigkeit der Stadt zum Hansabunde entwickelte sie sich schnell.
Nachdem der Orden der Schwertbrüder mit dem der Deutschherren in Preußen
vereinigt war, brachen Kämpfe aus zwischen den Rittern und den
Bischöfen, in denen bald diese bald jene siegreich blieben. Unter dem
Ordensmeister Wolter von Plettenberg wandte sich Riga als erste der
livländischen Städte der Reformation zu; 1541 trat es dem
Schmalkaldischen Bunde bei. Bald darauf kam Livland unter polnische
Herrschaft und 1582 verlor auch Riga seine Reichsfreiheit. Die Russen
versuchen jetzt alles, um die Stadt russisch zu machen; doch dürfte es
noch lange dauern, bis die deutsche Sprache und deutsche Gesinnung der
Rigaer ausgerottet sein wird.

Sehr wichtig ist Riga als Holzhandelsplatz. Viele deutsche, englische, dänische und andere Schiffe kommen alljährlich und holen hunderttausende von Stämmen, Balken und Planken, die meist nach dem holzarmen Holland gehen. Das Holz wird in den Gebieten der mittleren und oberen Düna geschlagen und hinunter geflößt. Der Strom ist von Riga bis zur Mündung zum großen Teil mit Holz bedeckt; bisweilen haben die Schiffe Mühe, sich hindurchzuwinden. Die Flöße werden durch kleine Dampfer an die Schiffsseite geschoben, mit einem sogen. „Schutzgarten“ umgeben, der aus Stämmen besteht, die mit Ketten verbunden sind. Aus dem Wasser wird das Holz durch Winden direkt in den Schiffsraum gehoben. Diese Arbeit besorgen nur Letten, die darin eine außerordentliche Gewandtheit besitzen. Sie arbeiten von früh bis spät; nachts legen sie sich zum Schlaf auf das nasse Holz nieder. Wenn ihre Arbeit beendigt ist, so stellen sie sich auf das Vorderdeck und rufen dreimal: hip, hip, hurra! weil sie glauben, daß sonst das Schiff seinen Bestimmungsort nicht glücklich erreicht. Dann passieren sie an der Küche vorbei, wo jeder vom Koch einen Schnaps erhält. Ihren Lohn, der gar nicht gering ist, vertrinken sie gewöhnlich in wenigen Tagen, um dann die Arbeit auf einem andern Schiff von neuem zu beginnen.

2. Aus der livländischen Schweiz.

Im Laufe der Jahre macht man wohl oder übel die Bekanntschaft mit einer Anzahl „Schweizen“. So hatte auch ich allmählich außer der eigentlichen Schweiz noch die sächsische, die märkische, die altmärkische, die holsteinische über mich ergehen lassen. Nun sollte ich auch noch die — livländische zu sehen bekommen! Ich bekenne, daß meine geographischen Kenntnisse mir bisher nicht erlaubten, mir irgend welche Vorstellungen über diese Gegend zu machen; ja, ihr Dasein war mir völlig verborgen geblieben. Ich fürchte, manchem der verehrten Leser und Leserinnen wird es nicht anders gehen. Nachdem ich sie aber besucht habe, kann ich nicht umhin, meine Befriedigung über das Geschaute auszudrücken und dem Leser, wenn er in jene Gegend kommen sollte, zu empfehlen, den Besuch nicht zu versäumen. Freilich, wen führt sein Weg nach Riga? Sind doch, abgesehen von der Entfernung, die politischen Verhältnisse in den Ostseeprovinzen nicht gerade verlockend für Reichsdeutsche.

Unser Geschäftsfreund, Herr Frisk, ein Norweger, stellte uns eine Reiseroute zusammen, und am Morgen des nächsten Tages — es war ein schöner, sonniger Sonntag — begaben wir uns nach dem Dünaburger Bahnhof. Vor dem Gebäude erhebt sich eine prächtige Kapelle, errichtet aus Anlaß der glücklichen Errettung des Zaren beim Eisenbahnunglück von Gurski.

Die Fahrt ging langsam; sie dauerte fast zwei Stunden bis nach Segewold, der Eintrittsstation in die Schweiz. Ein mit uns reisender Deutschrusse versicherte uns, daß nicht alle Züge in Rußland so gemütlich führen. Die Fahrt ging meist durch Kieferwälder, die abscheuliche Spuren von Brand an sich trugen; alles war versengt; ein kläglicher Anblick. Der Deutschrusse belehrte uns, daß dies von den Lokomotiven herrühre, die mit Holz heizten und bisher keine Funkenfänger gehabt hatten; das Uebel sei jetzt aber abgestellt.

In Segewold angekommen, sahen wir uns nach den Droschken um, von denen wir, nach dem Rat unseres Freundes, eine für den Tag mieten sollten. Es waren jedoch keine zu sehen; nur eine ganze Reihe einspänniger Wagen, die aus einem Gestell mit einem Brett darauf bestanden, waren in Reih und Glied vor dem Bahnhof aufgepflanzt. Während wir zögernd dann vorbeischritten, traten mehrere der Kutscher auf uns zu und luden uns ein zum Aufsitzen; jetzt dämmerte uns ein Licht auf; das waren die Segewolder Droschken! Reit- oder Liniendroschken nennt man diese Art Beförderungsmittel, die auf dem Lande allgemein üblich sind. Man sitzt entweder wie zu Pferde oder auch seitwärts, wobei man sich an eine primitive Lehne, ein Brett, anlegen kann, während die Füße auf einem zweiten Brett ruhen. Man hat anfangs genug zu thun, sich recht festzuhalten; denn der Wagen fährt hart. Er bietet übrigens Platz für 3-4 Personen.

Nachdem wir einen Kutscher gewählt hatten, der gut deutsch sprach, wurden wir handelseinig, daß er uns für 2-1/2 Rubel überall hinfahren sollte, und wir ließen uns nicht von einem andern abspenstig machen, der uns dieselbe Leistung für zwei Rubel anbot.

Die livländische Schweiz ist eine hügelige, reich bewaldete Gegend, durchflossen von der livländischen Aa, die in den Rigaischen Meerbusen mündet. Der Wald besteht nicht aus einer Baumart vorwiegend, sondern aus vielen, wodurch reiche Abwechselung und im Herbst die bunteste Färbung hervorgerufen wird. Drei Schloßruinen, auf hohem Ufer gelegen, zeugen von der Macht der deutschen Ordensritter; es sind die Burgen Kremon, Treiden und Segewold. Von den Schloßgärten genießt man Ausblicke in das liebliche Aathal mit seinen grünen Wiesen und dem sich hinschlängelnden Flusse. Stellenweise tritt Sandstein zu Tage, der so weich ist, daß man mit dem Fingernagel darin schreiben kann. Die Gutmannshöhle, die aus solchem Sandstein besteht, ist mit Tausenden von Inschriften bedeckt, darunter folgende:

  Den Namen schreibt in das Gestein,
  Die Heimatslieb ins Herz hinein!

Eine andere, weniger ideale Inschrift lautet:

  Ach alles ist veränderlich,
  Das Mäuschen wird zur Ratz,
  Was früher hübsch Gesichtchen war,
  Wird doch zuletzt zur Fratz.

Auf dem Wege nach Schloß Treiden liegt ein winziges Kirchlein. Die Thür stand offen und die Klänge der Orgel und des Gesanges drangen hinaus in die warme Sommerluft. Es war eine protestantische, lettische Kirche, in der einmal jährlich deutsch gepredigt wird.

Eine ausführlichere Beschreibung dieses schönen Fleckchens Erde würde den mir zugemessenen Raum überschreiten.

3. Von Riga nach der Insel Walcheren.

Nachdem wir unser Schiff tüchtig voll Holz geladen, gingen wir die Düna hinab seewärts und erreichte ohne besondere Zwischenfälle nach 3 Tagen Skagen, jene Stelle, wo Nord- und Ostsee sich scheiden. Die Ostsee hatte ich in gutem Andenken, denn außer einem Gewitter, das uns Nachts zwischen 12 und 2 im Sunde überraschte, hatte sie uns nur gutes erleben lassen. Anders die Nordsee. Sobald wir Skagen passiert hatten, ging das Schaukeln los und hörte bis Holland, also 3 volle Tage, nicht wieder auf. Der Wind blies aus Südwest, also gerade gegen unseren Kurs, sodaß das Schiff, nach meiner Meinung, fürchterlich stampfte. Stampfen oder Jumpen nennt man die Bewegung in der Richtung der Kiellinie, Rollen oder Schlingern die Bewegung von Steuerbord und Backbord und umgekehrt (also die seitliche Bewegung). Welche von beiden Bewegungen unangenehmer ist — ich vermag es nicht zu sagen; auf der Rückreise, von Schottland nach Skagen, genoß ich 2 Tage lang das Schlingern reichlich und trage danach ebenso wenig Verlangen, wie nach dem Stampfen. — Jede Minute nahm das Schiff Wasser über, das bis auf die Kommando-Brücke, ja bisweilen über den Schornstein spritzte, der ganz weiß wurde von dem Salz, das daran haften blieb.

Die Großartigkeit des Schauspiels der heranrollenden blauen Wogen mit den weißen Kämmen, die an dem tief sich hineinbohrenden Bug zerschellen und fortwährend kleine Regenbogen bilden — das zu schildern steht nicht in meiner Macht. Völlig genießen kann man das Schauspiel meist um deswillen nicht, weil man sich nicht recht behaglich dabei fühlt, was doch unbedingte Voraussetzung bei ästthetischen Genüssen ist. Eigentlich seekrank war ich nur 24 Stunden. Da saß ich (oder lag vielmehr) kummervoll auf meinem Bette und hielt mich fest, während mein Magen sich umkehren wollte. Der Kapitän sprach mir Mut zu und wollte mich auch zum Essen anhalten; dagegen hatte ich jedoch einen nur zu begreiflichen Widerwillen.

Am Dienstag Abend näherten wir uns, einen Lotsen suchend, der Scheldemündung. Ohne Lotsen die Einfahrt zu versuchen, wäre sträflicher Leichtsinn gewesen; aber woher einen nehmen? Der Wind hatte noch nicht abgeflaut; die Nacht war im Anzuge. Endlich erschien in der Ferne ein Lotsenkutter; wir hißten die Flagge am Fockmast und der Kutter setzte ein Boot aus, das, einer Nußschale gleich, zu uns herübertanzte, bald hoch auf einer Welle balancierend, bald in einem Wellenthal verschwindend. Plötzlich ließ mein Kapitän die Flagge fallen; er hatte bemerkt, daß es ein belgischer, kein holländischer Lotse war, und als praktischer Mann konnte er jenen nicht brauchen. Wer nämlich in einen holländischen Hafen mit einem belgischen Lotsen einläuft, hat außer an diesen auch an jenen zu bezahlen, während es einem freisteht, ohne jede Erhöhung in einen belgischen Hafen sich durch einen Holländer führen zu lassen. Die Kosten belaufen sich auf über 100 Gulden, von denen der Lotse etwa 40% an den Staat zu geben hat; das übrige ist sein Verdienst.

Das Boot des Belgiers lenkte zum Kutter zurück und wir suchten weiter. Nach längerem Leiden stießen wir endlich auf einen Holländer, der uns in dreistündiger Arbeit auf die Reede von Vlissingen brachte, wo wir um Mitternacht ankamen und bis zum nächsten Morgen ankerten. Da wir aus einem choleraverdächtigen Hafen (Riga) kamen, mußten wir die gelbe Flagge aufziehen, worauf ein Arzt an Bord kam, dem wir die Zunge herausstrecken mußten. Dann fuhren wir durch die Schleuse den Kanal hinauf, der mitten durch die Insel Walcheren geht und an dem, etwa halbwegs, Middelburg liegt.

4. Middelburg.

Gedenke ich Deiner, mein liebes Middelburg, so steigen vor meinem Auge gar freundliche und friedsame Bilder auf. Deine Häuser sind so blank, Deine Straßen so sauber und nett, daß es eine Lust ist darin zu spazieren und in die mächtigen Fenster hineinzuschauen, hinter denen die holländischen Frauen züchtiglich sitzen bei ihrer Handarbeit. Deine Einwohner sind gutmütig und von entgegenkommender Art, manche ziehen sogar den Hut oder nicken dem Fremden zu. Wenn ich mit meinem lieben „Kapteihn“ so dahin pilgerte, hörte ich wohl, wie sie sich zuflüsterten: Die sind von dem großen Dampfer! Denn die Ankunft unserer „Mira“ war fürwahr ein Ereignis in Middelburg; das kommt nicht jeden Monat, ja vielleicht kaum einmal im Jahre vor. Außer uns lag nur noch eine norwegische Bark und ein dänischer Schoner im Kanal, die beide, gleich uns, Holz gebracht hatten; daraus bestand die ganze Schifffahrt. Traten wir in einen Gemüse- oder Fleischladen, um Einkäufe zu machen, so sagte der Kapitän nur: Schicken Sie es nach dem Dampfer! und die Leute wußten Bescheid. Und als ich einmal in die Irre gegangen war, fragte ich einen Herrn, wo der Weg nach dem Dampfer sei, und er wies mich ohne Weiteres zurecht.

Aber fielen wir den Middelburger auf, so machten wir doch noch größere Augen über diese. Ich will nicht reden von den Männern mit ihren glattgestrichenen und angeklebten Haaren und ihren rauhen schwarzen Hüten, die aussahen, als hätten sie 4 Wochen im Schornstein gehangen; aber die Mädchen und Frauen haben aus früheren Jahrhunderten eine eigenartige Tracht in unsere prosaische Zeit hinüber gerettet. Goldene Spangen ragen aus feingeflochtenen Strohhüten hervor, und an jeder Seite an den Schläfen endigen sie entweder in 4 eckige Platten, oder in Spiralen, oder in Kleeblätter, an denen oft Geschmeide mit Perlen und Edelsteinen besetzt hängen; alles eitel Gold, nichts Falsches. Das einfachste Dienstmädchen würde sich schämen, unechten Schmuck zu tragen, und manche legt wohl ihr ganzes Vermögen in solchen Kleinoden an. Uebrigens schwindet in der Stadt selbst die Tracht mehr und mehr, und hauptsächlich die Landbewohner und -bewohnerinnen prangen noch darin.

Vor vielen Häusern befinden sich, mit eisernen Gittern eingefaßt, zierliche Vorgärten, in denen nur — die Blumen fehlen! Statt dessen sind sie mit glatten Steinplatten ausgelegt. Sonderbarer Geschmack das! Doch bilden sie einen wirksamen Schutz für die Erdgeschoßwohnungen gegen die allzuneugierigen Augen Fremder und Einheimischer. Manche der Häuser tragen Namen, die weniger von dem poetischen Sinn der Besitzer als vielmehr von ihrer praktischen Geistesrichtung zeugen: eins heißt „Zu den drei Gießkannen“, ein anderes „In de dry Teertonnen“. Auch in Middelburg scheinen aller guten Dinge drei.

Da die Kirmes grade begonnen hatte, so herrschte ein besonders reges Leben auf Straßen und Plätzen. Voller Buden stand der Markt, und das herrliche gothische Rathaus, das Karl der Kühne erbaut hat, schaute verwundert auf all das ungewohnte Treiben herab, das er wohl nur einmal im Jahre zu sehen bekommt. Durch all das Getümmel und Marktgewühl drang bisweilen ein Stück von einer Melodie. Man weiß nicht recht, woher sie kommt, unwillkürlich schaut man hinauf, denn aus den Lüften herab tönt sie, und je mehr man sich dem „langen Jan“ nähert, dem Hauptkirchturm der Stadt, um so klarer wird es einem: daher kommt sie. Wir stiegen die dreihundert und soviel Stufen hinauf, um das Glockenspiel, das größte in Holland, zu besehen. Da hingen die 48 Glocken und gerade fing es an lebendig um uns zu werden und es erklang das Lied: Das ist im Leben häßlich eingerichtet, daß bei den Rosen gleich die Dornen stehn.

Tief unter uns lag die Stadt, weit schweifte der Blick über die reiche grüne Insel, deren goldenes Herz Middelburg bildet. Am Horizonte ragten die mächtigen Dünen, die die Insel umarmen und gegen die wild herein stürmende Nordsee schützen. Jetzt schlug es dreiviertel, und: Ich weiß nicht was soll es bedeuten! erklang es. Auf all die traurigen Lieder folgte aber um die volle Stunde: Freut Euch des Lebens! War das nicht vernünftig eingerichtet vom Künstler des Uhrwerks?

Undankbar wäre es, wenn ich sie vergessen wollte, die uns so manches Angenehme gespendet hat — die Münchener Bierstube des Herrn Heßling, eines Friesen. Da sitzt man bei offener Thür und schaut bald auf die Straße und ihren Verkehr, bald in den mächtigen Humpen; als der gute Heßling merkte, welchen Durst wir mitbrachten, setzte er uns Literkrüge vor. Als mildernden Umstand mag der Leser in Betracht ziehen, daß wir 6 Tage keinen Tropfen Bier gekriegt hatten; da mundete das Franziskanerbräu vortrefflich. In Schottland, wo es mit den Kneipverhältnissen bekanntlich ganz elend aussieht, wünschten wir manchmal unsern Freund Heßling herbei, aber leider vergebens.

5. Bad Domburg

Ostende ist furchtbar schön, sagte der zweite Steuermann, ich bin an vielen Plätzen in der ganzen Welt gewesen, aber Ostende ist furchtbar schön. Leider erlaubte meine Zeit und die schlechte Verbindung es damals nicht, dieses großartigste aller Nordseebäder aufzusuchen, ich begnügte mich deßhalb, dem bescheideneren Domburg einen Besuch zu machen. Es gelang mir, auf dem Omnibus einen von den 3 Plätzen im Freien hinter dem Kutscher zu erobern; zwei Damen, eine ältere und eine jüngere, stiegen mit hinauf, und der Zufall setzte die jüngere, die fließend Deutsch sprach, neben mich. Aus der Stadt gings hinaus auf die Klinkerchaussee, die zu beiden Seiten von weidenbepflanzten Gräben eingefaßt ist. Das Land gleicht einem Garten, d.h. einem Gemüsegarten; überall die verschiedensten Gemüse, auch Getreide; kein Fleckchen ist unbebaut; hie und da auch Wiesenland mit grasenden Pferden und bunten Kühen. Das Land ist durchweg flach, und man würde wohl die ganze Insel überschauen können, hinderten nicht die vielen Hecken, Bäume und Büsche die Fernsicht. Wir passierten mehrere Dörfer, die alle einen netten, sauberen Eindruck machten, was sich in Holland von selbst versteht; die Leute, die uns begegneten, grüßten alle. Ein mächtiges steinernes Thor, das am Wege aufragte, erregte meine Aufmerksamkeit. Da war früher ein Schloß, belehrte mich meine Nachbarin, das hat man abgebrochen, weil die Leute jetzt nicht mehr so reich sind; nur die Einfahrt hat man stehen lassen. — Wir passierten noch mehrere solche Thore, doch auch einige Schlösser, in Parks gelegen und von breiten Gräben und undurchdringlichen Hecken umgeben; am Eingange standen die Namen, z.B. Ipenoord, Schoonoord.

Nach 1-1/2stündiger Fahrt näherten wir uns Domburg. Wir fuhren an einigen Villen vorbei, darunter auch der des Massagearztes Dr. Metzger, eine andere hieß nach Carmen Sylva, die hier einige Sommerwochen zugebracht hat. Vom Meere trennte uns noch die Düne; nur ein dumpfes Brausen verkündete seine Nähe. Ich stieg den Abhang hinauf zu dem Badepavillon und wandte den Blick absichtlich seitwärts, um ihn erst dann zu heben, wenn sich das Meer in seiner ganzen Pracht zeigte. Jetzt war ich oben; da lag sie vor mir, die gewaltige grüne Masse mit den weißen Schaumkämmen! Gegen den Strand rollten die langen Wogen, als wollten sie ihn verschlingen. Pallissadenreihen, in gleichmäßigen Abständen hineingebaut, schützen ihn. Draußen an der Kimme (zu deutsch Horizont) ging ein großer Dampfer hin, dem ich mit einem eigentümlichen Gefühle nachschaute; dort hatten wir vor wenigen Tagen in stürmischer Nacht auch geschaukelt, getanzt, getaumelt. Ich kletterte in den Dünen umher, die in beträchtlicher Höhe (wohl bis 100 Fuß) die Insel umkränzen. Von hier aus erweitert sich der Blick auf das Meer, zugleich aber übersieht man die Insel Walcheren mit ihren Wiesen und Feldern, aus denen Dörfer und Kirchtürme heraus schauen, bis nach Middelburg, Veere und dem Dorfe Westkapelle mit seinen beiden Leuchttürmen. Im Dünensande lagen behaglich Dorfkinder und Badegäste und genossen das Dolce far niente; einige Damen lasen in Goldschnittbüchern.

An der Mittagstafel saß ich neben einem Holländer aus Dordrecht, mit dem ich mich nur französisch unterhalten konnte, das Deutsche war ihm wenig geläufig, ein neuer Beweis (wenn es deren bedürfte), wie die Germanen vor dem Romanentum sich noch immer beugen. Wir machten nach Tische einen Spaziergang durch die s.g. Manteling, das ist eine Waldpromenade innerhalb der Dünen. Hier alles grün, mit lauschigen Plätzchen, bunten Blumen und zwitschernden Vögeln; nichts erinnert an die Nähe der Nordsee; ein paar Schritt hinauf, und das Auge sieht nur die Sand- und Wasserwüste.

Sehr befriedigt kehrte ich am Abend nach Middelburg zurück.

B. Von Korsör nach Haparanda.

„Wer kein Schiff hat, hat keine Heimat“, pflegte unser Schiffskoch, der originelle Deutschrusse Gottlieb Künstler, zu sagen. Nun, ich hatte ein Schiff, und somit auch, nach dieser Ansicht, eine Heimat, der ich wenigstens für einige Wochen treu blieb. Es war dasselbe Schiff, das mich schon im vorigen Jahre in der Ost- und Nordsee herumgetragen hatte, und dessen Kapitän, mein liebenswürdiger Freund Brink, mich auch diesen Sommer wieder mitnahm. Die „Mira“, ein Dampfer von 210' Länge und 1200 t, hatte Kohlen von Newcastle nach Korsör gebracht und sollte nun nach dem nördlichsten Punkte der Ostsee hinaufdampfen, um von dort Balken nach Harlingen (Holland) zu bringen. Wider Erwarten früh, konnte das Schiff schon am 17. Juli klar zum Abfahren gemacht werden. Kurz vorher hatten der Kapitän und ich noch einen Passagier aus dem Kopenhagener Zuge abgeholt, einen jungen Studenten der Rechte, der die Reise, seine erste Seereise, mitmachen wollte.

Es wehte eine ziemlich starke Brise aus Südwest, und die Wogen schlugen, hoch aufspritzend, an das Bollwerk. Das Schiff stampfte jedoch nur mäßig, bis sich am Abend der Wind ganz legte und wir ruhig dahinglitten. Hinter uns verschwanden bald die roten Dächer von Korsör; rechts führen wir an der langen, hügeligen Insel Langeland hin, während links, etwas weiter, Laaland liegen blieb. Gegen Abend änderten wir den Kurs und fuhren nach Osten, in den nächsten Tagen dagegen im allgemeinen nach Nordosten. Das Leuchtfeuer von Gjedser erschien links vor uns; in weiter Ferne rechts konnten wir ein Feuer bei Wismar erblicken. Während wir auf dieser Strecke wenig Schiffen begegneten, waren wir am nächsten Tage ganz von Schonern, Briggs, Barks und auch einzelnen Dampfern umgeben. Rechts tauchten die hohen Felsufer von Bornholm auf, links dämmerte die schwedische Küste. Es war ein prächtiger Morgen; die leichten Schaumkronen leuchteten rosig in der Sonne, und im Südwesten spannte sich ein Regenbogen, allmälig immer stärker werdend und mit beiden Enden das Wasser berührend, aus. Besonders schön nahm sich eine Bark mit schwanweißen Segeln aus, die eine Zeit lang so unter dem Bogen schwamm, daß er sie wie ein Rahmen umschloß.

Wir fuhren an der langgestreckten Insel Oeland und während der Nacht an Gotland vorüber, das rechts liegen blieb. Am 19. Juli war dasselbe prächtige warme Wetter. Einige Stunden westlich lag Stockholm.

Bei der langgestreckten, sanft ansteigenden, bewaldeten Insel Bremö verminderten wir die Fahrgeschwindigkeit, um dreißig schwedische Arbeiter zu erwarten, die uns von Sundsvall aus zugeschickt werden und mit nach Haparanda zum Holzladen gehen sollten. Allein kein Dampfer ließ sich sehen. So beschloß denn der Kapitän nach Sundsvall hineinzufahren, in der Hoffnung den Leuten zu begegnen und sie dann aufzunehmen. Langsam ging es vorwärts, zwischen größeren und kleineren, meist ziemlich hohen Inseln hindurch, die sich koulissenartig neben- und hintereinander schoben. Wo einmal der Wald fehlte, trat grauer Granit zu Tage; an einer Stelle eine große Fläche, deren Vegetation durch einen Waldbrand zerstört worden war. Mehrere hübsche Ortschaften und Holzplätze blieben links und rechts liegen. Als wir wieder um eine Ecke bogen, lag Sundsvall vor uns, an und auf Hügeln halbkreisförmig hingelagert, rings von höheren Bergen umgeben — ein höchst anmutiger Anblick. Die Bucht erscheint hier von allen Seiten geschlossen, im Osten durch die große Insel Alnö. Zahlreiche einzeln liegende Häuser und Villen lugen aus dem Waldgrün hervor und bilden gewissermaßen langhingestreckte Vororte der eigentlichen Stadt. Mitten in dem Meerbusen ragt eine bewaldete Insel mit Aussichtsturm hervor; zahlreiche kleine Passagierdampfer beleben das reizende Bild. In weiterem Abstand von der Stadt überall massenhafte Holzlager, vor denen eine Anzahl Segelschiffe halten, mit Laden beschäftigt. Sundsvall ist der größte Holzausfuhrplatz Schwedens; das Holz wird die Indalself, die von Norden in die Bucht mündet, hinabgeflößt; unmittelbar bei Sundsvall mündet der Lungen.

Kann man die Stadt als eine der schönst gelegenen Ostseestädte bezeichnen, so muß sie zugleich auch eine der schönst gebauten genannt werden; ja man kann sagen, es giebt keine von ähnlicher Kleinheit, die annähernd so großartige Gebäude, Straßen und Plätze aufwiese. Im Jahre 1888 wurde das alte, ganz aus Holz gebaute Sundsvall ein Raub der Flammen; aus der Asche erhob sich das neue, in dem man sich nach Berlin oder Paris versetzt fühlen würde, wenn nicht von allen Seiten das prächtige Grün der Berge, Wälder und Wiesen hereinschaute.

Da wir durch die Zollrevision und die Ausnahme unserer dreißig Schweden einen mehrstündigen, unfreiwilligen Aufenthalt bekamen, so benutzten wir diesen, um uns an Land rudern zu lassen und einen, wenn auch nur flüchtigen Einblick in Sundsvalls Herrlichkeiten zu nehmen. Das Rathaus, das Gymnasium, die höhere Mädchenschule, mehrere Banken und eine Anzahl Privathäuser würden jeder Großstadt Ehre machen.

Wir besuchten mehrere Restaurants, die hübsch ausgestattet und mit
Sprüchen versehen waren. Einer in altschwedischer Sprache lautete:

  Den som sviker i dryckjom, sviker ock i androm styckjom.
  (Wer im Trinken betrügt, betrügt auch in anderen Dingen).

Als wir an einem Barbierladen vorbeikamen, machte der Kapitän unserem dänischen Studenten den Vorschlag, sich rasieren zu lassen. Obgleich dessen Flaum des Messers kaum benötigte, willigte er sofort ein, als er hörte, daß dies Geschäft von zarter Damenhand besorgt würde, und wir begleiteten ihn, um das Schauspiel mit anzusehen. Zwei Grazien waren beschäftigt, den Männern ihren Mannesschmuck zu rauben, eine dicke, die Besitzerin, und eine dünne, die Beisitzerin. Letztere bemächtigte sich unseres Freundes; als er fertig war und bezahlt hatte, sagten wir ihm, er müsse der Dame zum Schluß einen Kuß geben. Dies geschah zu beiderseitiger Zufriedenheit; die Hausherrin gestattete aber nur einen Handkuß. Uebrigens wird die Rasierkunst in Schweden keineswegs allgemein von Damen betrieben.

Mit angenehmen Eindrücken schieden wir von dem prächtigen, sonnbeschienenen Sundsvall und seiner wundervollen Bucht, die beide in der Welt viel zu wenig bekannt sind.

Die Fahrt ging an der schwedischen Küste weiter, deren niedrige, blaue Berge schöne Formen zeigen. Die finnische Küste bleibt gänzlich versteckt; sie ist zu weit entfernt. Dem Nordpol so nahe, wird es während der Nacht gar nicht dunkel. Die Magnetnadel zeigt eine ziemlich starke Abweichung, was vielleicht den großen Eisenmassen in Schweden zuzuschreiben ist. Das Wasser ist in diesem Teile der Ostsee süß, was durch die vielen Flüsse bewirkt wird, die hier münden. Schiffen begegnet man fast gar nicht; einsam und verlassen liegt der mächtige Bottnische Meerbusen da, dessen nördlicher Teil vom Oktober bis Juni zugefroren ist. Einmal glaubten wir zwar andere Fahrzeuge zu bemerken, aber das war, wie sich später herausstellte, eine Täuschung. Da es charakteristisch dafür ist, wie leicht man sich auf See täuschen kann, will ich etwas näher darauf eingehen.

Der Steuermann machte mich auf ein paar Segler aufmerksam, die in weiter Ferne vor uns auftauchten. Ich nahm das Glas und zählte drei. Bald aber wurden es mehr, sodaß ich nahe bei einander neun Segler und einen Dampfer zu zählen glaubte. Als wir aber näher kamen, meinte der Steuermann, es wären wohl nur einige Schiffe; die übrigen Erhöhungen dagegen seien Land, das er in jener Richtung erwartete. Je näher wir kamen, um so deutlicher zeigte sich, daß kein einziges Schiff da war; was wir gesehen hatten, war vielmehr die Insel Malören, die südlichste der nach Hunderten zählenden Scheeren, die vor Haparanda liegen. Allmälig erkannte man deutlich die kleine, flache, graugelbe Insel mit mehreren Gebäuden, unter denen eine plumpe Fischerkapelle und ein kegelförmiger Leuchtturm hervorragten; drei Bäume machten den schwachen Versuch, ihr Dasein zu fristen. Nachdem wir die Flagge gehißt hatten, zum Zeichen, daß wir einen Lotsen wünschten, löste sich ein Ruderboot vom Ufer und steuerte auf uns los. Bald darauf stand der Lotse auf der Kommandobrücke und führte unser Schiff durch die vielen, meist dichtbewaldeten Scheeren um die größere Insel Seskarö herum. In einer der nördlichen Buchten dieser Insel lag unser Holz bereits im Wasser; dort also rasselten unsere Anker nieder, und wir befinden uns nun zwischen den mit Birken und Fichten bewachsenen Inseln in einer ganz einsamen, idyllischen Gegend. In der Ferne sieht man einen blauen Streifen; das ist das Festland, wo Haparanda liegt und wohin wir morgen mit einem kleinen Dampfer fahren wollen. Die Reise von Korsör nach hier (gegen 1900 Kilometer) haben wir in etwa 100 Stunden beendigt.

Um sofort mit dem Laden beginnen zu können, mußte der Kapitän so schnell als möglich nach Haparanda zum Zollamt. Da ein Passagierdampfer aber erst Abends um 7 fuhr, wurde ein Dampfer, der sonst zum Schleppen von Flößen dient, gemietet. Morgens um 1/2 7 Uhr fuhren wir mit diesem nach Haparanda, wo wir um 1/2 9 ankamen. Ein Fremder hätte den Weg durch die vielen Scheeren wohl kaum gefunden, besonders da seichte Stellen die Passage noch schwieriger machen. Die Landschaft erinnert an die des mittleren Mississippi; derselbe breite Wasserspiegel mit unzähligen, schwimmenden Wäldern; diesen Eindruck machen die meist flachen, ganz mit Wald bedeckten Inseln. — Schon von ferne fielen uns zwei Türme auf, zu denen sich bald ein dritter gesellte; es waren die Kirchen von Haparanda und dem gegenüber liegenden finnischen Städtchen Tornea; die Torneelf trennt beide. Haparanda besteht durchweg aus sauberen, einstöckigen, mit verschiedenen Farben gestrichenen Holzhäusern; ein zweistöckiges Gebäude sieht man selten. Die ziemlich breiten Straßen kreuzen sich rechtwinklig; sie sind ungepflastert, aber sauber und sandig; hier und da, namentlich zur Seite, wächst Gras. Hervorragende Gebäude sind nicht vorhanden; den Läden, die wegen des Sonntages geschlossen waren, sah man ihre Dürftigkeit doch an. Die Einwohnerzahl Haparandas beträgt etwa 1500. Im Telegraphenamt befindet sich zugleich die meteorologische Station, durch die das Städtchen einigermaßen in der Welt bekannt ist. Während der Kapitän seine Zollgeschäfte besorgte, schrieb ich in dem Zimmer der Post eine Anzahl Karten, und unser dänische Student kaufte sich Benzin in der Apotheke, um Fettflecke zu vertreiben. Er hatte aber Pech damit; denn als die Hose wieder sauber aussah, schüttete ihm nach einigen Stunden eine Kellnerin einen Topf voll Rahm darauf.

Schon nach 1-1/2 Stunden beschlossen wir, da gerade ein Passagierdampfer fuhr, nach unserm Ankerplatz zurückzufahren und Haparanda später noch einmal zu besuchen. Der Passagierdampfer, der an Wochentagen den Verkehr zwischen Haparanda und Lulea besorgt und an Sonntagen Extrafahrten zu machen scheint, war erst vor einem Monat aus einer Stockholmer Werft hervorgegangen und zeichnete sich durch eine etwas fadenscheinige Eleganz aus.

Um 10 Uhr wurde das Frühstück aufgetragen, das nach schwedischer Sitte mit den auf einem Seitentisch servirten „Smörgods“ begann. Ich zählte 16 verschiedene Sächelchen, darunter Renntierschinken. Eine merkwürdige Einrichtung traf ich hier, die mir noch nirgends begegnet war; der Appetit des männlichen Geschlechts wurde ohne Weiteres über den des weiblichen geschätzt und demgemäß höher besteuert. Also:

  Frukost för Herre 1,25
     " " Dam 1,—

So ging es auf der Speisekarte weiter mit Mittag- und Abendessen; immer mit Preisunterschied für Herren und Damen.

Um Mittag kamen wir wieder auf der Insel Seskarö, unserm Landungsplatz, an. Seskarö dient den Haparandaern als Ausflugsort, wie die stattliche Anzahl von Passagieren bewies, die, sonntäglich gekleidet, das Schiff füllten. Es sollen sich sogar 80 „Sommerfrischler“ auf der großen Insel aufhalten, die in ungestörtester Einsamkeit den kurzen Sommer genießen. Einwohner zählt Seskarö 50, wenn wir recht berichtet sind, darunter mehr Finnen als Schweden. Diese Insel etwas kennen zu lernen, war unser nächstes Ziel, und wir begannen sie alsbald zu durchstreifen. Die Kreuz und Quer führen Wege durch den Wald, dessen hügeliger Boden durch zahlreiche große Steine und Felsblöcke noch unebener wir. Die Bäume — Nadelhölzer und Birken — sind meist niedrig; größere Exemplare trafen wir nicht. Darunter wuchern besonders Heidelbeeren, die gerade reif waren. Vögel sahen wir wenig. Das Läuten von Kuhglocken tönte bisweilen durch die Stille und erinnerte an schönere Gegenden, wie Thüringen und die Schweiz. Auch eine Anzahl zahmer Renntiere soll auf Seskarö leben, doch bekamen wir keine zu Gesicht. Dagegen gelang es uns, von einem Bauern eine Anzahl Geweihe zu kaufen, wovon die größeren 1 Krone das Stück kosteten, die ganz kleinen 1/2 Kr. Bei einem anderen Bauern sahen wir prächtige Renntier- und Bärenfelle, doch verlangte der Mann einen zu hohen Preis (25-50 Kr.) Mit den Frauen konnten wir uns nicht immer verständigen, weil sie kein Schwedisch sprechen, sondern nur Finnisch.

Die Bauernhäuser der Insel sind natürlich alle von Holz; dabei befinden sich Ställe für das Vieh und Gerüste zum Trocknen des Getreides und Heues; auch viele Schlitten sahen wir. Die Ziehbrunnen hatten mächtig lange Querbalken; bei dem einen ging er über eine Scheune hinweg. Zwischen den Wäldern waren hie und da Strecken für den Feldbau gewonnen; die Gerste und der Hafer standen zwar niedrig, aber doch ganz gut. Die Gerste war meist reif, die Kartoffeln blühten.

Wundervoll sind die Nächte hier im Norden. Der Nordhimmel strahlte in Gold, während im Osten die fast volle Mondscheibe aufstieg. Als wir einst, auf der Kommandobrücke skatspielend, nach der Uhr sahen, war es gegen 12, und dabei so hell wie um 8. Die Mannschaft lag in Ruhe, die deutschen Lieder waren verklungen; der Haparandaer Dampfer hatte längst die Ausflügler zurückgebracht. Völlige Stille lag über der eigenartigen Landschaft; nur das Meer plätscherte leise gegen die Schiffsseite; die dunklen Wogen waren ganz wie in Gold getaucht.

Schiffe kommen nur in geringer Zahl in diese Gegend. Wir bemerkten einige Briggs und eine Bark, zwischen den Scheeren mit Holzladen beschäftigt; ein italienischer Schoner war, wie uns der Lotse erzählte, gezwungen, nach Umea in Quarantäne zu gehen, weil er aus einem cholera-infizierten Hafen (Petersburg) gekommen war. In der Seskaröer Bucht hatte noch nie ein Schiff geladen; die „Mira“ war das erste, das überhaupt diese Stelle befuhr; deshalb kannte der Lotse auch das Fahrwasser nicht genau und fuhr sehr vorsichtig. Eigentliche Wirtshäuser giebt's nicht auf Seskarö, nur zwei Speisehäuser, in denen auch Bier verschänkt wird. In eins derselben kehrten wir ein. Wir fanden ein mächtig großes Zimmer, in dessen vier Ecken Fichtenbäume gestellt waren, die bis an die Decke reichten. Ein riesiger Ofen prangte außerdem in der einen Ecke, auch ein Bett fehlte nicht in dem merkwürdigen „Salon“. Das Bier, das hier wie überall verschänkt wird, nennt sich Pilsener, ist aber in Schweden gebraut.

Von unserm Ankerplatze aus sahen wir einige Häuser und eine Sägemühle. Ein Teil der Bucht war mit Balken bedeckt, die allmählich zu uns heran geschoben und dann mit Dampfwinden in den Raum gehoben wurden. Leute mit langen Stangen, die mit eiserner Spitze beschlagen sind, stehen auf den schwimmenden Balken und stoßen sie ans Schiff heran. Es sind im Ganzen etwa 4000 Balken, eigentlich Stämme, die nur der Rinde beraubt sind und zwischen 15 und 30' Länge haben; ein Stamm kostet durchschnittlich 6 Mk., im Ganzen also 24000 Mk. Die Fracht dafür beträgt etwa 12000 Mk. An Kohlen faßt das Schiff ungefähr für 12000 Mk., deren Beförderung etwa 6000 Mk. kostet. Bei diesen Waren beträgt die Fracht also etwa 50 Prozent des Wertes.

Die Balken waren diesmal außerordentlich schwer, so daß das Schiff besonders tief ging, ohne daß die Deckslast über das Mittelmaß hinausgegangen wäre. Es wird nämlich nicht nur der eigentliche Schiffsraum verwendet, sondern auch das Vorder- und Hinterdeck, und zwar erhalten diese etwa 1/3 der Gesamtladung. Da die Schiffe nach dem Kubikinhalt ihres Laderaumes Abgaben zahlen müssen, das Deck aber nicht als zum „Raum“ gehörig angesehen wird, so wird, auf diese Weise Geld gespart.

Unser zweiter Ausflug nach Haparanda geschah hauptsächlich, um das Schiff auszuklariren, d.h. die Papiere beim Zollamt zu erlangen, die zum Verlassen von Seskarö nötig waren. Zugleich wurde telephonisch ein Lotse für Mittwoch Mittag bestellt; die Abreise verzögerte sich jedoch bis zum Abend. Ferner wurden Brot und Eier gekauft und die Sehenswürdigkeiten von Haparanda noch einmal in Augenschein genommen. Auf den Straßen zeigte sich nicht mehr Leben, als am Sonntag.

Auf einer sehr langen, primitiven Holzbrücke wanderten wir nun über die Torneelf hinüber nach der finnischer Grenzstadt. Sie liegt auf einer Insel, beginnt jedoch nach der schwedischen Seite landfest zu werden, so daß die Brücke mehr über Sumpf und Wiese als über Wasser führt. Die Ueberschreitung kostete uns je 5 Oere beim Hin- und Zurückgehen. Im Aussehen ähnelt Tornea ganz Haparanda: Holzhäuser und mit Sand bedeckte Straßen. Eigentlich hat Tornea nur eine lange Straße, in der sich einige Läden befinden. Die Inschriften sind hier meist dreisprachig: russisch, finnisch, schwedisch. In einer Buchhandlung, die wir zu unserm Erstaunen sahen und in der schwedische, finnische und deutsche Litteratur vorrätig war, fanden wir als Verkäuferin ein junges Mädchen, eine Finnin, die fließend deutsch sprach. Auf Befragen erklärte sie uns, daß sie ein Jahr in Deutschland in Pension gewesen (in Wolfenbüttel), daß sie aber nicht ohne Vorkenntnisse des Deutschen dort hingegangen sei, da in den finnischen Schulen Deutsch gelehrt werde.

Etwas nördlich von Tornea liegt ein Hügel, Aavasaksa genannt, von dessen
Spitze man 14 Tage lang (8 Tage vor und 8 Tage nach dem 24. Juni) die
Mitternachtssonne sehen kann. Ein Pavillon krönt den Gipfel des Hügels.

Außer einer russischen Kirche mit den bekannten Zwiebelkuppeln giebt es noch eine evangelische, deren Kirchhof wir besuchten. Er trägt Denkmäler mit schwedischen und finnischen Inschriften und ist mit Birken und Eschen bepflanzt. Die Kirche hat einen sehr spitzen Thurm; in der Nähe steht ein plumper Thurm, der die Glocke enthält.

Der Boden um Tornea schien fruchtbar, die Wege waren mit Sand bestreut, um bei nassem Wetter passierbar zu bleiben. Daß die Kultur auch diesen hohen Norden beleckt, davon zeugte ein Radfahrer, der uns in der Hauptstraße begegnete.

Am Mittwoch, den 25. Juli, Abends 9 Uhr, lichteten wir den Anker und befanden uns nach einigen Stunden außerhalb der Scheeren, wo uns der Lotse verließ. Die Reise ging bei schönstem Wetter schnell von Statten. Bei Sundsvall wurden die Schweden ausgeschifft. Später bekamen wir etwas Seegang, doch nicht so arg, daß jemand seekrank geworden wäre. Auf meinen Wunsch steuerte der Kapitän ziemlich nahe an der Insel Gotland vorbei, so daß ich die altberühmte Hansastadt Wisby mit ihren vielen Türmen und halbverfallenen Befestigungen sehen konnte.

Sonntag Abend liefen wir in den Sund ein, passierten um 2 Uhr nachts
Kopenhagen und lagen Montag früh 4 Uhr vor Helsingör. Hier ließ ich
mich, da meine Zeit abgelaufen war, an Land setzen und fuhr über
Kopenhagen nach Flensburg, wo ich Montag Abend eintraf.

Die vom schönsten Wetter begünstigte Reise hatte 14 Tage gedauert und umfaßte im Ganzen etwa 4000 Kilometer.

C. Flensburg. Helsingör. Gent. Schottland.

1. Nach Helsingör.

Wie Iphigenie einst am Strand von Tauris saß, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“, so saß auch ich am Strande, aber nicht von Tauris, sondern von Seeland, und zwar suchte ich nicht Griechenland, sondern bloß Finnland, woher ich die „Mira“ erwartete, die mich an Bord nehmen sollte. Die Zeit wird einem bekanntlich lang, wenn man wartet, und doppelt lang, wenn man so aufs Ungewisse wartet. Unter den Hunderten von Schiffen, die täglich den Sund passieren, das richtige herausfinden, war keine Kleinigkeit. Ich glaube, ich konnte dem alten Knaben aus Salas y Gomez seine Qualen wenigstens en miniature nachfühlen. Der mir seit Jahren befreundete Kapitän des Schiffes hatte ein Zeichen mit mir verabredet, an dem ich die „Mira“ erkennen sollte; er wollte mit der Dampfpfeife einen langen Ton und zwei kurze geben. Daß ich eine unruhige Nacht hatte, läßt sich denken. Schon um drei weckte mich ein Pfiff. Ich sprang ans Fenster und sah ein Dampfschiff vorbeigleiten — „doch das eine war es nicht“. Kapitän Brink hatte mir die Stunde seiner Abfahrt von Lappvik in Finnland nach Flensburg telegraphiert, und ich konnte danach ziemlich genau berechnen, wann er Helsingör passieren müßte: 60 Stunden brauchte er bei normalem Wetter zu der Fahrt; das wäre Sonntag früh um 6 Uhr gewesen. Um 5 Uhr stand ich auf und trank Kaffee. Im Hotel regte sich außer dem Portier und dem Hausmädchen noch nichts. Von den breiten Fenstern des Restaurants im Erdgeschoß konnte ich den belebten Sund, an dessen schmalster Stelle Helsingör liegt, übersehen, auch Helsingborg auf der schwedischen Seite. Als der Regen aufhörte, spazierte ich am Ufer hin und her; herrlich von der Sonne beschienen lag die seeländische Küste da; zur Linken drohte die finstere Kronburg, auf deren Terrasse einst der Geist von Hamlets Vater die Wache in Schrecken setzte. Allmählich wurde es lebendig im Restaurant, Fremde gingen ab und zu, dänische Offiziere tranken ihr Bier, lasen die „Fliegenden Blätter“ und plauderten. Ich las alles, dessen ich irgend habhaft werden konnte, vor allem das Kopenhagener Adreßbuch. In Verzweiflung fing ich an, die Spalten mit den am häufigsten vorkommenden Namen zu zählen, will aber den Leser mit dem eingehenden Ergebnisse dieser wichtigen Statistik nicht behelligen, sondern nur mitteilen, daß Hansen 38 Spalten à 84 Zeilen füllt (also 3192 Träger dieses Namens giebt es, wobei die Zahl der etwaigen Familienmitglieder nicht berücksichtigt ist); demnächst kommt Petersen (34 Spalten), Jensen (33 Spalten), Nielsen (31 Spalten), Andersen (18 Spalten) &c. Da muß sich das Flensburger Adreßbuch mit seinen 12 Spalten Hansen und 12 Spalten Petersen verkriechen! Erwähnen will ich doch, daß der berühmte Ibsen 1-1/2 Spalten Namensvettern hat, von denen sich allerdings einige mit dem „harten“ p schreiben.

Da ich überall, wo ich bin, gerne die Nationalgerichte probiere, so ließ ich mir eine Portion Jodbaer med Flöde geben (Erdbeeren mit Rahm), die bei mir von einem früheren, längeren Aufenthalt in Kopenhagen noch in gutem Andenken standen. Als ich diese möglichst langsam verzehrt hatte, schlug ich eine Stunde tot mit dem schwedischen Kursbuch. Ich erfuhr genau, wie viele Stunden man von Malmö nach Stockholm braucht und daß Dampfschiff auf schwedisch Ångbåt heißt. Als Zwischengericht trank ich ein Glas Helsingörer Bier, unbekümmert darum, was die Erdbeeren und der Rahm zu dem neuen Ankömmling sagen möchten. So wurde inzwischen aus der sechsten die zwölfte Stunde. Meine Nervosität wuchs, aber es blieb mir nichts übrig, als mich allmälich nach der Zeit des Mittagessens im Hotel zu erkundigen. Zugleich ließ ich mir ein Fernrohr vom Kellner geben, und siehe da, jetzt erschien ein Schiff vom Süden, das große Aehnlichkeit mit der heißersehnten „Mira“ aufwies. Die äußere Form, lang und schlank, die Holzladung, der in mächtigen Buchstaben an der Breitseite prangende Name, der zwar noch nicht lesbar war, aber etwa vier Buchstaben zeigte; endlich — und dies Zeichen konnte nicht trügen — der siebenzackige weiße Stern auf dem blauen Bande des schwarzen Schornsteins, und jetzt — ertönte ein Pfiff, ein langer, endlos langer — ich rufe nach meinem Koffer, der sich noch auf meinem Zimmer drei Treppen hoch befindet — ein zweiter kurzer Pfiff, dem gleich darauf ein dritter folgt — inzwischen ist der Koffer gekommen — ich suche nach dem Portier, um ihm drei Postkarten zu bezahlen und ein Trinkgeld zu geben für die Teilnahme, die er für mein Schicksal gezeigt — er ist nicht zu finden, da soeben ein Zug auf dem Bahnhof ankommt — gleichviel, ich muß fort und dem Braven schuldig bleiben — ich schicke ihm später den Betrag durch Postanweisung; mag er mich eine Woche lang für einen Verräter halten! Ich stürze mit meinen Siebensachen nach der Mole, finde nach einigem Suchen ein Boot und bin in einer kleinen Viertelstunde an Bord der „Mira“, die inzwischen beigedreht hat; auf der Kommandobrücke schwenkt der Kapitän seinen Hut; ich drücke meinem Bootsführer eine Krone in die Hand, muß aber noch zwei nachzahlen, denn das ist die Taxe (bei schlechtem d.h. stürmischem Wetter und in der Nacht sind es sogar fünf), und — me voilà, ich klettere die Fallreep hinauf, ich bin geborgen. Das Schiff setzt sich wieder in Bewegung, sein Aufenthalt hat höchstens eine halbe Stunde gedauert, ich habe also das beruhigende Bewußtsein, seinen Reedern keinen erheblichen Schaden zugefügt zu haben.

Während ich es mir in meiner Kabine bequem mache, meine Sachen auspacke und ordne, möge der wißbegierige Leser sich kurz erzählen lassen, wie ich von Flensburg nach Helsingör gelangt bin.

Als Kuriosum verdient zunächst erwähnt zu werden, daß man zu der etwa zehnstündigen Reise acht verschiedene Fahrgelegenheiten (zwei Dampfschiffe, sechs Eisenbahnen) benutzen muß. Von Flensburg gings 12 Uhr mittags mit dem Zuge nach Norden, durch endlose Heiden, die nur dem erträglich werden, der sie mit der Phantasie eines Andersen betrachtet. Dazu muß man besonders aufgelegt sein, und das war ich nicht; der fortwährend herabrieselnde Regen trug auch nicht zur Verbesserung der Laune bei. Wie eine Wohlthat empfand ich es, als jenseit der dänischen Grenze das Terrain wellig wurde und die kleinen Thäler mit frischen Wiesen, die niedrigen Berge mit prächtigen Buchenwäldern sich schmückten. Der andauernde Regen der letzten Wochen, der jetzt plötzlich aufhörte, hatte bewirkt, daß die Wälder wie im Maigrün prangten.

Kleine Nationen (ganz Dänemark zählt etwas mehr Einwohner als Berlin) lieben es bisweilen, besonders deutlich Farbe zu bekennen. Alle Lokomotiven, die ich sah (und ich sah wohl beinah alle!), und alle Dampffähren (auch von diesen dürften mir nicht viele entgangen sein), tragen weiß-rote Bänder an den Schornsteinen; auch dänische Seedampfer sah ich häufig mit den Nationalfarben am Schornstein.

Erquicklich angemutet fühlte ich mich durch das Abschiedswort, das man überall hört: Farvel! Wir haben uns unsern deutschen Gruß leider durch Adieu! rauben lassen, und wo man auf dänischen Bahnen und in dänischen Wartesälen den französischen Gruß hört, da kann man sicher auf — Deutsche schließen. Nicht beistimmen kann man den Dänen, daß sie sich, seit den letzten 30 Jahren, so entschieden von allem Deutschen ab- und dem Französischen zuwenden, zu welch ersterem sie doch nur einen Appendix bilden. Man muß das Lachen verbeißen, wenn man im Rauchzimmer der Dampffähren unter Photographieen, die als Reklame zur Bereisung Dänemarks anfordern sollen, liest: Lac de Sorö, Ruines du Chàteau de Kolding, Une ruelle de Ribe. Für wen sind denn diese Unterschriften? Etwa für Franzosen? Wieviel Franzosen bereisen Dänemark? Es ist nicht übertrieben, wenn man auf hundert Deutsche einen Franzosen rechnet. Man berechne doch billigerweise die Reklame nach demjenigen Volke, das wirklich kommt und Geld ins Land bringt und nicht nach demjenigen, dessen geographische Begriffe über Dänemark sicher ebenso verworren sind, als über manche anderen großen und kleinen Länder.

In Friedericia müssen wir den Zug verlassen, der weiter nach Norden dampft, und nach kurzer Kaffeepause besteigen wir den Zug, der uns in zwei Minuten hinunter an den kleinen Belt bringt, wo die Dampffähre auf uns wartet. Sie nimmt nicht nur die Passagiere, sondern auch einige Eisenbahnwagen auf. In 1/4 Stunde sind wir drüben auf der Insel Fünen, deren fruchtbare Fluren wir in 1-1/2 Stunden durchqueren. Andersens Geburtsort Odense verrät mit seinem prosaischen Bahnhof, der ebenso wie alle übrigen dänischen Bahnhöfe in geschmackloser Weise durch Plakate verunziert, nichts von dem Zauber der Poesie, der in dem großen Märchenerzähler wohnte.

Auf der Ostseite Fünens besteigen wir die weit größere Dampffähre, die uns über den Großen Belt trägt. Das ist schon eine Art Seefahrt; sie dauert reichlich eine Stunde. Zwölf Eisenbahnwagen zählte ich, die auf der mächtigen Fähre Platz fanden. Möven umflatterten zu Dutzenden das Fahrzeug und erschnappten im Fluge gierig die Bissen, die ihnen von Reisenden zugeworfen wurden. Ein stolzes deutsches Kriegsschiff, das unseren Kurs kreuzte und bald im Kattegat verschwand, erregte die Aufmerksamkeit der Passagiere weit weniger, als ein Zauberkünstler, der mit wenig Witz und viel Behagen seine Sprüchlein hersagte und bald ein dankbares schaulustiges Publikum um sich versammelte. Nach jedem Stück erntete er Gelächter, von Zeit zu Zeit verlangte ihn aber nach greifbarerem Lohne, den er in seinem schäbigen Zylinder einheimste.

In Korsör vertauschte ich wieder das Dampfschiff mit dem Zuge, der mich in reichlich einer Stunde nach Kopenhagen brachte. Seeland bietet landschaftlich weit mehr als Fünen. Bald braust der Zug durch prächtige Buchenwälder; bald sieht man rechts und links reichen Wechsel von Hügeln und Thälern, Wiesen mit weidendem Vieh, Kornfelder, hie und da auch einen See. Hier und bei Roskilde werden dem litteraturkundigen Deutschen Erinnerungen wach. In Sorö lehrte einst Basedow; Roskilde ist durch Klopstocks Ode „Rothschilds Gräber“ berühmt geworden.

In Kopenhagen hatte ich nur eben Zeit umzusteigen, und durch die Dämmerung ging's gen Norden, nach Helsingör, wo ich gegen 11 Uhr eintraf und im Jernbanehotel (Eisenbahnhotel) abstieg.

2. Von Helsingör nach Gent.

Die Fahrt über das Kattegat giebt schon einen kleinen Vorgeschmack der
Nordseefahrt, wie das Kattegat der Nordsee auch mehr ähnelt als der
sanfteren Ostsee. Diesmal freilich merkte man nichts von der Rauheit,
die hier herrschen kann, bei solchem Sonnenschein und solcher leichten
Brise kann auch die zarteste Landratte zur See fahren. Es war, als ob
sich einige Dutzend Dampfer mit einigen hundert weißbesegelten Schonern,
Briggs und Barks Rendezvous gegeben hätten auf dem blauen Parkett des
Kattegats, so wimmelte es von Schiffen. Zur Rechten (verpöntes Wort auf
See; wenn ich es brauchte, hielt sich mein sonst so liebenswürdiger
Kapitän entsetzt die Ohren zu und rief: Steuerbord, Doktor, Steuerbord!
Rechts heißt Steuerbord, links Backbord! Und das ist nun Deine dritte
Reise mit mir!), also auf der Steuerbordseite stieg das schwedische
Vorgebirge Kullen aus der Flut, dessen graziöse Konturen an die des
Taunus, von Frankfurt aus gesehen, erinnern.

Da ich sehr ermüdet war, suchte ich, nachdem ich mich von meiner
Entbehrlichkeit auf der Brücke überzeugt hatte, frühzeitig meine Koje
auf, um den mir geraubten Schlaf nach Kräften nachzuholen. Doch das
Unglück schreitet bisweilen schnell!

Als ich im besten Schlafe war, wurde ich durch die dumpfen Töne des Nebelhorns geweckt. Ich wußte, was das zu bedeuten hatte, zog mich, obgleich es etwa 3 Uhr Morgens war, schleunigst an und kletterte auf die Kommandobrücke, wo der Kapitän und der 1. Steuermann standen und in den dichten Nebel hinausblickten. Wir befanden uns nicht weit von Skagen; unserm Nebelhorn antworteten ab und zu diejenigen anderer in der Nähe befindlichen Dampfer. Nach einer Viertelstunde etwa senkte sich die Hülle, und wir wurden durch einen herrlichen, klaren Sonnenaufgang entschädigt. Wie der obere Rand der goldenen Scheibe über der schwarzblauen Flut aufblitzte, dann breiter und höher wurde und sich als rotgoldener Ball allmählich halb und endlich ganz emporhob — das zu beschreiben ist unmöglich. Ich habe nie einen solchen Sonnenaufgang gesehen. Allein die Freude währte nicht lange; der Nebel kehrte wieder, und wieder zog ich unverdrossen alle 2 Minuten die Leine, sodaß das Nebelhorn (die Dampfpfeife) dumpf und langgezogen erklang. Wieder senkte sich der Nebel, aber doch nur so weit, daß der obere Teil des mächtigen Leuchtturms von Skagens Horn daraus hervorragte, der untere Teil blieb verhüllt. Vom Lande her tönte in gemessenen Zwischenräumen eine Sirene, ähnlich dem Geheul jämmerlich geprügelter Hunde, höchst unästhetisch, aber weithin hörbar. Als der Nebel sich endlich ganz gesenkt hatte — es mochte mittlerweile 4 Uhr geworden sein — krochen der Kapitän und ich wieder in unsere Kojen, um, wie er sagte, noch 4 Stunden zu schlafen. Doch bald wurden wir aus der Täuschung gerissen. Kaum eingeschlummert, verkündete das laute Blasen des Hornes, daß der unheimliche Gast wieder da war. Also wieder anziehen und wieder hinauf, denn so phlegmatisch bin ich nicht veranlagt, es bei solchem Nebel unten auszuhalten. Glücklicherweise dauerte es auch diesmal nicht lange, dann aber hatten wir keine Lust, uns noch einmal betrügen zu lassen, wir blieben auf, tranken eine Tasse Kaffee, nahmen ein Bad, wozu das Wasser direkt aus dem Meere in die Wanne geleitet wird, und stärkten uns dann an einem kräftigen Frühstück. Ausgenommen die Mahlzeiten lag ich natürlich, wie immer auf See, in meinem Triumphklappstuhl neben dem Kapitän auf der Kommandobrücke, um die reine Luft aus erster Hand zu trinken. Die vielen Schiffe, die uns im Sunde und noch im Kattegat umgeben hatten, verschwanden allmählich und verteilten sich nach verschiedenen Richtungen. Nur dann und wann begegnete uns eins, einige gingen auch mit uns. Einen Dampfer trafen wir stillliegend an, er hatte vor dem Vordermaste drei schwarze Bälle aufgezogen, was bedeutete, daß er manövrierunfähig war. Einen zweiten großen Dampfer sahen wir dreimal stillliegen und immer wieder fahren, bis er uns endlich überholte und unseren Blicken entschwand. Am Nachmittag stampfte das gegen den Südwest angehende Schiff doch so, daß ich es für gut hielt, in horizontaler Stellung zu verweilen, um nicht, wie vor drei Jahren an dieser Stelle, unfreiwillige Opfer des Magens bringen zu müssen. Ich legte mich also um 3 Uhr in mein gutes Bett und verzichtete auch auf das Abendessen. Glücklicherweise ging die See nicht so hoch, daß mein Kabinenfenster geschlossen werden mußte, sonst wäre ich gewiß durch die schlechte Luft seekrank geworden. Nur einige Male spritzte das Wasser herein, einmal so, daß meine Stiefel tüchtig etwas abbekamen und der Schiffsjunge ihren Inhalt ausgießen mußte. Als ich in angenehmem Schlafe lag, weckte mich wieder die Dampfpfeife. Hinauf an Deck, hieß es also. Das war gestern nur ein Vorschmack vom Nebel gewesen; diesmal war er viel dichter und hielt etwa 4 Stunden an, von halb 3-7; eine unheimliche Zeit, die mir zu einer Ewigkeit wurde. Und doch fühlte ich, daß man sich auch an solche Situation gewöhnt; froh waren wir nur, daß wir trotz allen Horchens kein anderes Nebelhorn hörten. Plötzlich erklang eins ziemlich nahe vor uns. Auf das Gespannteste blickten Kapitän und Steuermann hinaus in die dichte Undurchdringlichkeit, in ganz kurzen Zwischenräumen ertönten nach einander unser und des fremden Dampfers Pfeife; die Maschine, die bei Nebel natürlich immer auf „Langsam“ arbeitet, wurde auf „Halt“ gestellt, und gleich mußte sich entscheiden, ob wir gegen einander fuhren oder nicht. Denn nur ein Zufall, keine Berechnung kann einen Zusammenstoß verhindern. Plötzlich tauchten dicht an Steuerbordseite (rechts) die Umrisse eines Dampfers auf, der gleich wieder im Nebel verschwand. Der Kapitän meinte, er habe „vollen Dampf“ gehabt, sonst wäre er nicht so schnell herangekommen. Die Engländer stehen bekanntlich in dem Rufe, auch im Nebel auf gut Glück mit vollem Dampf zu fahren, um keine Zeit zu verlieren.

Nach dieser Aufregung ging es in das Bad und dann an's Frühstück. Der
Tag wurde prächtig, die See glatt, die Sonne schien warm; das reine
Ostseewetter, wie ich es nannte, da ich in der Ostsee niemals Unwetter,
Nebel und dergleichen erlebt hatte. Wir waren jetzt etwa in der Mitte
der Nordsee, es war ganz einsam, viele Stunden kein Schiff.

In dem Maschinenraum war inzwischen schon seit einigen Tagen eine kleine Revolution ausgebrochen. Der eine Trimmer (Kohlenzieher) stellte sich krank und versteckte sich irgendwo im Laderaum zwischen das Holz. Als er nach mehrstündigem Suchen gefunden wurde, erklärte er, falls man ihn zum Arbeiten zwänge, würde er sich in Wasser stürzen, Es blieb also nichts übrig, als ihn sich zu überlassen; er ging zu Bett, nahm aber lebhaft an allen Mahlzeiten teil. Tags darauf wurde einer der Heizer wirklich krank; da überhaupt nur zwei Trimmer und zwei Heizer auf Schiffen von der Größe Miras vorhanden sind, so war die Stellvertretung sehr schwierig.

Die Nacht vom Dienstag zum Mittwoch wurde durch keinen Nebel gestört. Wir passierten die holländische Insel Terschelling und einige Stunden später Terel, und als ich aufstand (8 Uhr), befanden wir uns nahe der Küste. Die Dünen von Scheveningen wurden sichtbar; wir waren nur 3-4 Kil. vom Lande entfernt und sahen ganz deutlich das mächtige, kuppelgeschmückte Kurhaus, davor am Strande viele Strandkörbe, auf den Dünen Villen, und dahinter rechts Türme, die zur Stadt Haag gehörten. Ab und zu tönten Kanonenschüsse zu uns herüber; die Holländer übten sich wohl, die Atchinesen zu besiegen. Das Wasser war so glatt, fast wie ein Spiegel, kein Lüftchen rührte sich. Nach mehreren Stunden wurde das Feuerschiff „Hoek van Holland“, wieder nach einigen Stunden das von „Schouwensbank“ passiert; sie liegen etwa 10 M. (20 Kil.) von der Küste entfernt. Da die Zeit der Flut war und wir gerade gegen den vom Atlantischen Ozean hereindringenden Strom fuhren, so lief das Schiff stündlich etwa 2 Meilen weniger als unter normalen Verhältnissen. Wir hielten nun Umschau nach einem Lotsen; endlich sahen wir einen Kutter, der sich durch die Flagge am Mast von den Fischerjachten unterscheidet. Wir setzten die Lotsenflagge auf und fuhren auf ihn los, er näherte sich uns gleichfalls; als wir ganz nahe waren, erkannten wir das Wort „Maas“, das in großen Buchstaben auf dem Segel stand. Wir lenkten also ab von ihm, denn wir konnten nur einen Schelde-Lotsen brauchen. Etwa um 5 Uhr trafen wir einen Lotsen, der uns nach Vlissingen brachte. Um von der See nach Gent zu gelangen, brauchten wir 4 verschiedene Lotsen und im ganzen etwa 16 Stunden. Der Seelotse, den wir auf dem Meere aufgabelten, war ein noch sehr junger Mann, 32 Jahre und schon 5 Jahre Lotse, 7 Jahre verheiratet, hat 5 Kinder, seine Brüder sind auch Lotsen oder bei der Marine. Man sieht, das Gewerbe bleibt bei der Familie. Mit den Holländern verständigt man sich, indem jeder seine eigne Sprache spricht, sie holländisch, wir plattdeutsch. Wenn man auch nicht jedes Wort versteht, so merkt man doch, was der andere will. Sobald ein Lotse an Bord ist, wird das Steuerruder mit Dampf gelenkt, damit es schneller jedem Befehl gehorcht. In hellem Sonnenschein lag die Dünenküste der Insel Walcheren vor uns, und man erkannte das Kurhaus und einige Villen des Seebades Domburg, wo ich vor 3 Jahren badete. Am Eingang der Schelde erschien der mächtige Kirchturm des Dorfes Westkapelle, der noch aus der spanischen Zeit stammt, aber nicht mehr benutzt wird; daneben ein kleinerer Leuchtturm. Hohe, wildzerrissene Dünen, wie ein Alpengebirge im kleinen, türmen sich links; das andere Ufer der Schelde verliert sich in weiter Ferne. So breit der Fluß ist, so eng ist das Fahrwasser für tiefergehende Schiffe. Die ausgehenden Dampfer darunter hauptsächlich Deutsche, Dänen, Engländer, auch ein Grieche, die meist von Antwerpen kamen, mußten ganz nahe an uns vorbei. Auf den Sandbänken im Flusse sonnen sich drei Seehunde, die neugierig die Köpfe nach uns erheben, und Hunderte von Möven. Zur Linken erscheint bald das prächtige Kurhotel Vlissingen; am Strande herrscht reges Leben, man kann die Menschen, hauptsächlich Damen und Kinder, ziemlich genau durch das Glas sehen. Nach Umfahrung einer Ecke taucht Vlissingen mit seinen grauen Festungswällen auf, von denen das Standbild des holländischen Seehelden de Ruyter herabblickt. Auf der Vlissinger Reede verließ uns der erste Lotse und ein zweiter kam an Bord; er brachte uns, während wir Abendbrot aßen, nach der Reede von Terneuzen. Etwas abseits vom Fahrwasser lag ein großes gestrandetes Segelschiff, dessen Masten am Vorderteil aus dem Wasser ragten. Der zweite Lotse wurde durch einen dritten abgelöst, einen dicken, sehr gemütlichen Mann in buntgestickten Hausschuhen, der uns die kurze, aber schwierige Strecke von der Reede in den kleinen Hafen von Terneuzen brachte; da das Wasser noch nicht die gehörige Tiefe hatte, so fuhren wir mit voller Kraft durch die enge Einfahrt und saßen gleich darauf auf dem Schlamm fest, vor uns eine norwegische Brigg, die ebenfalls in den Genter Kanal wollte.

Terneuzen ist eine kleine Stadt von 7000 Einwohnern und liegt ganz niedlich mitten in ihren grünen Festungswällen und dem Glacis. Auf den Wällen promenierte die Terneuzer Damen- und Herrenwelt, und auch wir ließen uns an Land rudern, um einen Rundgang durch die Stadt zu machen und in einigen Wirtschaften Dortmunder Bier zu trinken. Nachts um 11, als das Wasser höher gestiegen war, gingen wir mit einem 4. Lotsen in die Schleuse und blieben der Dunkelheit wegen bis 3 Uhr dort liegen. Dann begann die Kanalfahrt. Um 5 stand ich auf und ließ die grünen Ufer an mir vorbeigleiten. Ueppige Felder und waldige Baumanpflanzungen mit Dörfern und einzelnen Häusern, auch einige Villen mit schönen Parks begleiten den Kanal; zu beiden Seiten läuft die Landstraße, auf der allerlei Fuhrwerke entlang zogen, auch Radfahrer und Hundefuhrwerke. Ein von 3 Hunden gezogener, zweirädiger Wagen trug 2 stramme Bauernmädchen, einer mit 4 Hunden bespannt 3 Burschen. Die Benutzung des Hundes als Zugtier soll hier viel weiter gehen als bei uns; der 1. Maschinist erzählte, er habe einst vor einer Kirche in Terneuzen 10 Hundefuhrwerke stehen sehen, deren Insassen inzwischen im Gotteshause ihre Andacht verrichteten.

Das Wetter war sehr warm, fast zu warm; die Fahrt auf dem spiegelblanken
Wasser unter dem Segeldach der Kommandobrücke war sehr angenehm. Die
Vögel zwitscherten, der Kuckuck rief — es war eine idyllisch-schöne
Fahrt.

Der Kanal ist 30-40 km lang, also knapp halb so lang wie der Kaiser Wilhelm-Kanal, zwölf Drehbrücken waren zu passieren, die meist einen so engen Durchgang hatten, daß es ganz ängstlich anzusehen war, wenn das Schiff auf den Pfeiler loszufahren schien, schließlich aber doch richtig mitten zwischen beiden Pfeilern hindurchglitt, ohne anzustoßen.

Bei St. Anton an der belgischen Grenze fand eine leichte Zollrevision statt; von meinen Zigarren und dem Kakao, den ich in Terneuzen gekauft hatte, wurde gar keine Notiz genommen.

Um 9 Uhr langten wir in Gent an und gingen vor Anker; sofort begann das
Löschen der Planken; der Makler (ein Aachener) kam an Bord, ebenso ein
Metzger, der seine Waren anbot und auch mit allerlei Aufträgen bedacht
wurde.

3. Gent.

Am Nachmittag besichtigten wir die Stadt (180000 Einwohner). Sie ist von vielen Kanälen durchschnitten und hat 3 verschiedene Teile. Unser Schiff liegt in der Fabrikgegend, mit vielen Estaminets (niedrigen Wirtschaften), die volkstümliche Bezeichnungen haben, z.B. In de Swaan, In der kleinen Camelia, In den groenen Appel, In de groote Maas, In de goode Drank, In Nazareth (Name eines Dorfes bei Gent) u.s.w. Der zweite Stadtteil, der alte Kern der Stadt, enthält viele öffentliche Gebäude, die entweder durch geschichtliche Erinnerungen oder durch Schönheit der Architektur hervorragen, z.B. Chateau des Comtes (de Flandre), der Dom St. Bavo, der Bergfried, ein stattlicher hoher Turm, das gothische Rathaus, sowie eine Anzahl Kirchen. Der neue Stadtteil endlich hat moderne breite Straßen mit hübschen Häusern ohne besondere Eigentümlichkeiten. Hier fanden wir im Gambrinus gutes Münchener Bier, das uns bei der Hitze und dem vielen Herumlaufen sehr wohl that. Was Gent fehlt, sind größere, öffentliche Gartenanlagen, wie sie in deutschen Großstädten existieren. Man sehnt sich recht danach, aus dem Häusergewirr, der Hitze und dem Staube in kühle, wohlgepflegte Anlagen zu flüchten; die vorhandenen sind bis jetzt nur schwache Anfänge.

Der ganze Freitag gehörte Ostende, das man mit Expreßzug in 1-1/4 Stunde erreicht. Die einzige Station ist Brügge, das mit seinen großen Kirchen einen imposanten Eindruck macht, das wir aber leider zu besuchen versäumten. Ostende loben ist überflüssig, es beschreiben ist schwer. Es vereinigt großartige Natur und menschliche Kunst in so hohem Grade, daß es unter allen Seebädern als Perle bezeichnet werden muß. Unter den Landbädern nimmt Baden-Baden einen ähnlichen Rang ein. Den Glanzpunkt des Badelebens bildet der Zeedyk, la Digue (der Damm oder Deich), geschmückt mit seiner langen Reihe der behaglichsten Villen und der herrlichsten Hotels, eins immer noch schöner als das andere. In der Mitte dieser Reihe liegt das mächtige Kurhaus, am Westende bildet den würdigen Abschluß das Palais des Königs, der einen Teil des Sommers hier verbringt. Der Strand, an dem alle diese Häuser liegen, wimmelt von Badekarren, die mit Pferden ins Meer gezogen werden. Wir nahmen sofort ein Bad und fanden uns schnell in die Sitte, mitten unter Damen zu baden. Die Eleganz der Toiletten beim Nachmittag- und Abendkonzert im Kursaal war auffallend, alle Damen mit Chic gekleidet, viele Schönheiten darunter. Nach dem Abendkonzert war Soirée dansante, der wir eine Weile zusahen, und Hazardspiel, an dem sich auch Damen beteiligten. Das Mindeste, was man setzen durfte, waren 2 Franks. In die eigentlichen Spielsäle a la Monaco gelangten wir natürlich nicht. Als wir um 10 Uhr aus all diesem Gewirr hinaustraten, empfanden wir die Großartigkeit des Meeres wieder doppelt. Dumpf brausend wälzten sich die schwarzen Wogen an den Strand, hell leuchteten die breiten, weißen Kämme. Wir gingen stracks nach dem Bahnhof, fuhren nach Gent und schliefen an Bord, da es kühl geworden war, die ganze Nacht durch. —

So lange wie wir diesmal in einem Hafen blieben, hat es noch nie gedauert; es kommt von der Kirmes, die in großartiger Weise tagelang gefeiert wird. Während dieser Zeit zu arbeiten, dazu ist kein Arbeiter für vieles Geld zu bewegen. Alt und jung, arm und reich beteiligt sich an diesem Volksfest. Auf den öffentlichen Plätzen finden Konzerte statt, abends Illumination und zweimal von 10 an bis in den Morgen hinein bal populaire; an 4 Tagen Pferderennen! — Gestern, Sonntag, fing die Geschichte an. Wir sahen nur einiges, aber dieses Wenige genügte, uns zu zeigen, daß das ganze Volk sich beteiligt. Wir fuhren gleich nach Tisch per Droschke nach dem weit außerhalb der Stadt gelegenen Rennplatz (Plaine St. Denis), wohin mit uns zahllose Fußgänger und viele Wagen strömten. In Staubwolken gehüllt trat nach Beendigung der Rennen die 1000köpfige Menge den Rückweg an. Wir nahmen wieder Droschke, in der Nähe der Stadt begegneten uns viele Wagen, die sich an der Seite des Weges aufstellten, um das Schauspiel der vorüberziehenden Menge und der unzähligen Wagen, worunter viele elegante Equipagen, zu genießen. Wir fuhren durch den hübschen, noch etwas jungen Stadtpark und kehrten durstig im Gambrinus ein. Von dort bahnten wir uns durch die die Straßen erfüllende Menschenmenge langsam unsern Weg nach dem Kornmarkt, dem Mittelpunkt der Stadt. Auf den Plätzen, die wir passierten, hatten sich die größten Ansammlungen von Menschen gebildet, die der Musik lauschten. Der Kornmarkt war mit Tischen und Bänken, an denen trinkende Menschen saßen, so bedeckt, daß eben nur eine Gasse für Pferdebahn und andere Wagen blieb. Wir waren froh, als wir zum Abend wieder zu Hause d.h. an Bord waren und ordentlich ausschlafen konnten.

Die Geschichte mit dem schon erwähnten Trimmer hatte folgende Fortsetzung. Der Kapitän hatte ihm gesagt, er werde ihn in Gent ärztlich untersuchen lassen und ihn, falls er als gesund befunden würde, bei Gericht anzeigen, was ihm jedenfalls Gefängnisstrafe eintragen würde. Als wir gleich am ersten Tage zum Arzt gehen wollten, kam die Meldung, daß der Trimmer vom Schiff verschwunden sei. Er war vor Angst entflohen, obgleich er keinen Heller Geld hatte und weder vlämisch noch französisch, eigentlich auch kaum deutsch konnte. In den nächsten Tagen sah man ihn bei den großen Holzhaufen in der Nähe des Schiffes herumstreichen, sich immer in angemessener Entfernung haltend. Endlich berichtete der Koch, er habe jämmerlich geweint, wolle gerne tüchtig arbeiten, auch den Kapitän um Verzeihung bitten, wenn ihn dieser nur wieder an Bord nehmen wollte. Es war ihm nicht geglückt, irgend eine Stellung zu finden, auch nicht als Meierist, was er von Hause aus ist, und er hatte 3 Tage und Nächte gehungert und kein Obdach gehabt. Ich redete dem Kapitän zu, ihn wieder an Bord zu nehmen, da sonst sicher ein Verbrecher aus ihm würde. Als er dann erschien, nahm ihn der Kapitän nach längeren Verhandlungen wieder auf, sagte ihm, daß sein fälliger Lohn (25 Mark) an seine Kameraden, die für ihn gearbeitet, verteilt würde und daß er bis Flensburg für die Kost arbeiten könne, ohne Lohn zu erhalten. Falls er sich nicht gut führe, werde der Kapitän ihn in Flensburg noch vor Gericht stellen. Er versprach natürlich unter Thränen alles, gab zu, ein großer Esel gewesen zu sein und wurde, nachdem er auch die Maschinisten um Verzeihung gebeten hatte, wieder aufgenommen. Wie sehr ihn seine Kameraden gehänselt und ausgelacht haben mögen, sahen wir nicht, da wir das Schiff gleich darauf verließen.

Seit ich an Bord bin, haben wir noch keinen Tropfen Regen erhalten. Das Wetter ist fortgesetzt warm und schön, sodaß man lieber die Seefahrt fortsetzte, als in der heißen und staubigen Stadt sich aufzuhalten. Leider giebt es gar keine Biergärten, dafür ist entweder kein Platz oder die Leute haben keinen Sinn dafür.

Die Pferdebahnwagen haben hier, was ich noch nirgends gesehen, 2 verschiedene Klassen, von denen die I. 15, die II. 10 Centimes kostet, und zwar für jede beliebige Entfernung. Die Stadt wimmelt von Sozialdemokraten. Von den Stadtverordneten sind 14 Sozialisten, 12 Klerikale, 9 Liberale. Die Straßennamen sind vlämisch und französisch angeschlagen, wie überhaupt beide Sprachen fast auf allen öffentlichen Inschriften, Verordnungen, Anpreisungen u.s.w. auftreten. Fast jedermann versteht beide Sprachen. Deutsche giebt es nur wenig hier.

Montag Vormittag besichtigten wir die Abtei St. Bavo, von der nur die Ruinen übrig sind. Man sieht noch das Refektorium der Mönche, einen Teil eines Kreuzganges, viele Gräber und überall, im Garten verstreut, die zerschlagenen Säulen und Standbilder, die im Laufe der Jahrhunderte und besonders in der Revolutionszeit zerstört wurden. Nachher folgten wir einer Einladung des Maklers Herrn Z. zu einigen Flaschen Champagner in seinem Hause. Er hatte mit Kapitän Brink gewettet, die „Mira“ sei schon früher in Gent gewesen, und da sich nachher herausstellte, daß das nicht der Fall war, so war er der verlierende Teil.

Da auf Montag Abend die Hauptfestlichkeiten der Kirmes fielen, so arbeiteten die Leute nur bis Mittag am Schiff. Nach dem Abendbrot pilgerten wir, Kapitän Brink und ich, nach dem Kasinogarten, der vom Lichte von Tausenden bunter Lämpchen strahlte und in dem Tausende von Leuten der Kapelle lauschten. Zum Schluß wurde die Nationalhymne gespielt. Ich fragte unsern Aachener Freund, Herrn Z., nach dem Text; er wußte nichts davon. Seine Gattin, eine geborene Genterin, kannte ebenfalls kein Wort davon! Wir waren natürlich starr ob dieser Unwissenheit.

Es war nur das bessere Publikum anwesend, denn der Eintritt kostete für die, welche nicht der Kasinogesellschaft angehören, 3 Francs. Das war zwar viel Geld, aber sowohl die Illumination als auch das herrliche, wohl 3/4 Stunde dauernde Feuerwerk um 10 Uhr waren es wert. Um 11 Uhr begann der Tanz sowohl im Saal als im Garten, der bis tief in den Morgen dauerte.

Von hier begaben wir uns, wieder mit der Familie Z. und einem jungen Leipziger, der im Geschäft als Volontär arbeitete, nach der Place d'Armes, dem Hauptanziehungspunkte des Abends, wo prächtige Illumination und Tanz, aber die verschiedensten Volksklassen umfassend, stattfand. Es war ein gewaltiges Gedränge und Gewoge auf dem mit Linden bepflanzten Platze; rings umher waren Eßwaren zum Verkauf ausgestellt, deren die Leute im Laufe der Nacht wohl bedurften, und vor und in Restaurants und Cafés ringsum saß man beim Bier oder anderen Getränken. Es wurde immer nur auf beschränkten Stellen des großen Platzes getanzt, da die promenierende Menschenmenge den größeren Teil einnahm. Ab und zu zogen Scharen von 10, 20 oder 30 Männern und Frauen vorbei und sangen Lieder, einige Male hörte ich die Marseillaise. Solchen Scharen begegneten wir auch, als wir gegen 2 Uhr uns fortbegaben nach dem Kornmarkt, um von da die Pferdebahn zu benutzen, die zur Kirmeszeit die Nächte durchfährt. Aber die Leute waren und blieben alle friedlich; wenn auch eine Anzahl bedenklich taumelten, so kam es doch nirgends zu unangenehmen Auftritten oder gar Schlägereien. Einzelne kleine Kinder sah man mit den Eltern noch um 2 Uhr nach Hause streben. Als wir gingen, war alles im besten Gange, und von einer Abnahme der Menschenmenge war nichts zu verspüren.

Infolge dieser Hauptnacht der Kirmes wurde am Dienstag kein Schlag gethan, und unsere Ladung blieb unangerührt im Schiff.

4. Von der Schelde nach dem Firth of Forth.

Endlich, Donnerstag Abend, fuhren wir den Kanal hinab, und Freitag früh gingen wir bei häßlichem Regenwetter von der Schelde in See. Regenwetter ist zwar nicht gefährlich, aber höchst unangenehm, da man nicht auf Deck sein kann. Es war mir deshalb ziemlich gleichgiltig, die Dampfjachten Rothschilds und der Königin von England zu sehen, die auf der Schelde ankerten. Die See war stark bewegt, und das Schiff stampfte und schlingerte heftig. Ich verfügte mich deshalb gegen Mittag ins Bett und blieb 24 Stunden liegen, wobei ich die schönste Seeluft hatte, da bei dem leeren Schiffe die Fenster offen bleiben konnten. Statt 9 Seemeilen machten wir nur 4-5, und von der englischen Küste hielten wir weit ab, um nicht dagegen zu treiben. Die Schraube war mehr außer als in dem Wasser. Ganz anders war das Wetter am Sonnabend. Die See beruhigte sich immer mehr, und ich konnte mich den ganzen Tag auf der Kommandobrücke im Klappstuhl liegend aufhalten. Als ich am Sonntag an Deck kam, fuhren wir in den prächtigen Firth of Forth ein. Wie ein Riese hält am Eingang in den Meerbusen der kolossale Baß Rock Wache, ein steil aus dem Meere aufsteigender etwa 100 m hoher Felsblock, den Hunderttausende von Möven wie ein Schneegestöber umschwärmen. Zur linken liegt das Städtchen Dunbar und auf hohem Ufer einige Schloßruinen, davon eine ganz mit Epheu umwachsen. Bald erschien von Bergen umkränzt die Stadt Edinburg, von der wir einige Gebäude, besonders das Schloß, deutlich erkannten. Vor der Riesenbrücke kam der Lotse an Bord, gleich hinter derselben gingen wir vor Anker und blieben 6 Stunden liegen, um die Flut abzuwarten. Abend um 8 Uhr liefen wir in den engen Kanal ein, der in den mit Schiffen vollgestopften, schmutzigen Hafen des Städtchens Grangemouth führt. Die Zollbeamten kamen an Bord und untersuchten, wie stets in England, auf das allergenaueste, leuchteten mit Laternen in die entlegensten Winkel, beklopften die Wände ob sie nicht doppelt seien und durchforschten selbst den Ofen und den Wasserbehälter des Waschnapfes. Nachts um 12 schon begann bei elektrischem Lichte die Arbeit bei unserem Schiff. Zuerst wurden feuerfeste Steine geladen, dann hundert Säcke feuerfester Lehm, und endlich Kohlen. Die Waggons fahren bis ans Ufer, werden durch Wasserkraft gehoben und dann gestürzt, sodaß sich ihr Inhalt in den Schiffsraum ergießt. Das Schiff faßt im ganzen 120 Waggons Kohlen à 10000 Kilo und 15 Waggons Bunkerkohlen (für die Dampfkessel).

5. Ausflug ins Schottische Hochland

So häßlich Grangemouth an sich ist, so verlockend grüßen aus der Ferne die blauen Berge des Hochlands herüber.

Dienstag früh um 7 Uhr fuhren wir ins Hochland und waren Abends 7 Uhr wieder zurück. Es giebt eine große Menge feststehender Rundreisekarten durchs Hochland; wir wählten die Tour, die durch Scotts Lady of the Lake berühmt geworden ist und auch landschaftlich mit zu dem Schönsten gehört, was Schottland bietet: die Gegend des Loch Katrine. Ein solches Billet, das zur Eisenbahn-, Omnibus- und Dampfschiffahrt berechtigt, kostet etwa 18 Mark. Der Steuermann prophezeite das schönste Wetter für den Tag, und frohgemut traten wir unsere Fahrt an. Während der zweistündigen Eisenbahnfahrt von Grangemouth bis Callander verdüsterte sich der Himmel immer mehr und ein regelrechter Regen entwickelte sich aus dem Nebel. Callander ist der Ausgangspunkt für die aus Edinburg und dem Osten überhaupt kommenden Touristen. Dort standen 2 mächtige Omnibusse, in deren Innern das Gepäck untergebracht wurde. Auf dem Verdeck waren 5 Bänke zu 4 Sitzen angebracht, und alles beeilte sich, auf den angesetzten Treppen hinaufzuklimmen. Als wir uns auf unseren luftigen Sitzen eingerichtet hatten, sammelte ein Mann zunächst das Fee (Trinkgeld) für den Kutscher ein (6 Pence pro Person). Etwas überrascht, blieb uns doch nichts übrig, als diese Kontribution zu zahlen, von der der Kutscher vielleicht nie etwas zu sehen bekommen hat. Dieser selbst, mit grauem Cotelettbart, grauem Zylinder, rotem Rocke, blau-gelbgestreifter weißer Weste und grün-blau karrierter Hose, Schwang sich, eine imposante Erscheinung, auf die erste Bank, und vorwärts trabte das Viergespann, dem in kurzer Entfernung das zweite folgte. Für die Einwohner Callanders muß der Anblick drollig gewesen sein; 15 Fuß über der Landstraße 20 aufgespannte Regenschirme dahinschwebend! Ich saß neben einem Norweger, der mit 2 Damen Schottland bereiste; außerdem befanden sich mehrere Deutsche, Amerikaner, Franzosen und Dänen auf dem Wagen, dazu noch zwei negerhaft aussehende Individuen, von denen der eine alsbald eine Zeitung hervorzog und sich darin vertiefte. Es war mir unklar, warum der Mann sich keinen bequemeren Platz zum Lesen ausgesucht hatte als gerade einen Deckplatz auf einer schottischen Mail-coach. Die Landschaft befriedigte mich anfangs nur mäßig; der langhingestreckte Loch Vennachar, den wir zur Linken hatten, zeichnete sich mehr durch Länge als Schönheit aus. Rechts ragte der schottische Olymp, der Ben Ledi (Götterberg) empor; der ganze obere Teil war jedoch in Nebel gehüllt; Wälder fehlen den meisten dieser Berge, und vergebens sucht man nach den prächtigen Waldszenerien, wie sie Thüringen; und der Harz bieten. Wenn man die Lady of the Lake in frischer Erinnerung hat, so gewinnt die Landschaft bedeutend an Reiz, wie andererseits die Lektüre des Gedichts eindrucksvoller wird, wenn man die Landschaft kennt, die es beschreibt. Da ist die Stelle, wo der Verzweiflungskampf zwischen Roderick Dhu und dem Könige stattfand; da ist die Wiese, wo durch das Herumsenden des Feuerkreuzes die Krieger von Clan Alpine sich versammelten und vor dem erschreckten König plötzlich aus der Erde herauswuchsen; wir passierten die berühmte Bridge of Turk (Eberbrücke) und fuhren an dem hübschen kleinen Loch Achray vorbei, an dem die Eröffnungsszene des Gedichtes spielt: „The western waves of ebbing day“ u.s.w. Wir befanden uns nun in dem Engpaß Trosachs, der dicht bewaldet ist. Am Ende desselben erhebt sich das in mittelalterlichem Burgstil erbaute „Hotel Trosachs“, von wo aus wir in wenigen Minuten die Ufer des Loch Katrine erreichten. Nur minutenweise hatte es bisweilen aufgehört zu regnen, und wenn düstre Beleuchtung, Nebel und dergl. zu den notwendigen Ingredienzien schottischer Gebirgslandschaft gehören, so hätten wir es nicht besser treffen können. Wir kletterten von unseren Thronen herunter, der Neger steckte seine Zeitung ein, und da lag also vor uns die Perle der schottischen Seen, auf den so viele Perlen herunter tröpfelten, daß wir lebhaft an Perleberg erinnert wurden. Ein winziger Dampfer, der Kleinheit des Sees angemessen, nahm uns auf; gerne hätte man bei der Kälte etwas Warmes gehabt, doch mußten wir uns mit einem Whisky begnügen. Die Mutigen blieben auf Deck, die anderen verzogen sich in die Kajüte. Wir gehörten zu den ersteren; ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn ich den Ben Venue, den Ben An und vor allem das liebliche Ellen's Island mit seinen poetischen Erinnerungen nicht so lange wie möglich genossen hätte. Der See dient auch einem sehr prosaischen und nützlichen Zwecke: er versorgt die große Stadt Glasgow mit Trinkwasser. Die herrliche Smaragdfarbe der Alpenseen sucht man freilich vergeblich bei den schottischen Seen.

Nach etwa 1stündiger Fahrt langten wir am westlichen Zipfel des langhingestreckten Sees an, und zu unserem Erstaunen hörte der Regen auf; die Sonne machte einige Versuche durchzubrechen, und als wir nach abermaliger, etwa 1stündiger Omnibusfahrt uns dem Loch Lomond näherten, brach die Sonne durch und beleuchtete die Berge und den See. Man wurde warm und merkte wieder, daß man im Juli lebte. Unterwegs hatten wir überall auf den Wiesen und an den Bergabhängen Rinder mit mächtigen Hörnern, fast wie Büffel, und Schafe gesehen, die am Körper weiß, am Kopf und den Beinen dagegen schwarz waren und große krumme Hörner hatten. Sie nährten sich von dem dürftigen Grase, das die Felsen bekleidet.

Im „Hotel Inversnaid“ hatten wir ein Stündchen Aufenthalt, besichtigten den hübschen Wasserfall und frühstückten. Man ißt, was man will und so viel man will, und zahlt 3 Shilling.

Um 2 Uhr fuhren wir mit einem großen, sehr elegant eingerichteten Dampfer über den Loch Lomond in seiner ganzen Länge von Norden nach Süden. Anfangs ist er flußartig schmal, später wird er breit und enthält viele Inseln, scherenartig wie in Norwegen und Schweden; auf einer derselben standen die grauen Ruinen einer Burg. An den Ufern befinden sich noch mancherlei Sehenswürdigkeiten, z.B. Bruce's Rock, wo der Nationalheld sich verborgen hielt, Rob Roy's Cave, wo dieser Verbannte öfters Zuflucht suchte. Dicht an der Ostseite des Sees steigt der Ben Lomond empor, über 3000' hoch, wohl der höchste Berg der Gegend. Die Formen aller dieser Berge sind schroff und kühn und erinnern etwas an die Alpen, trotz ihrer geringen Höhe.

Am Südende des Sees angelangt, bestiegen wir die Bahn und kamen um 7 Uhr wieder auf der Mira an. Im Grangemouther Hafen herrscht gewöhnlich das regste Leben, die Eisenbahnen bringen unaufhörlich Kohlen und Eisen an die Schiffe, die allen Nationen angehören. Heute dagegen ist es ganz still, die Deckarbeiter haben einen Feiertag, die Läden sind meist geschlossen, und viele Hunderte von Ausflüglern sahen wir trotz des etwas regnerischen Wetters auf zwei Dampfern nach Vergnügungsorten des Meerbusens fahren.

FUSSNOTEN:

[6] Geschrieben 1893.

VIII.

Der Philosoph von Gravenstein.

  Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
  Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt
  Sein Wort und seine That dem Enkel wieder.

Leonore im Tasso, I, 1.

Ich kenne ein Herzogsschloß, das liegt gar einsam und abseits von den breit getretenen Touristenpfaden. Hohe Buchen umrauschen es, und in einem klaren See spiegeln sich seine weißen Mauern. Schilf flüstert am Ufer, und glänzende Schwäne ziehen lautlos ihre stolzen Kreise. Gegenüber, auf der anderen Seite des Sees, ziehen sich in einem Halbkreise die freundlichen Häuser eines Fleckens, der denselben Namen trägt wie das Schloß: Gravenstein, dänisch Graasteen. Wir befinden uns nämlich an der Grenzscheide zweier Sprachgebiete,

„— wo der dänische Pflüger den Deutschen, Dieser den Dänen versteht —“

wie Johann Heinrich Voß in seiner dem Grafen Stolberg gewidmeten Vorrede zur Iliasübersetzung sagt. Die Ueberschriften über den Läden des Ortes lauten denn auch teils dänisch, teils deutsch, und man findet „bogbinder“, „ikraedder“ (Schneider), „Kobbersmed“ (Kupferschmied) u.a. Vom Flecken aus gewährt das Schloß in seiner Waldumrahmung, besonders wenn heller Sonnenschein darauf liegt oder wenn der Vollmond es in magische Dämmerung taucht, einen überraschend malerischen Anblick, obgleich die Bauart höchst einfach ist. Ein Mittelbau mit Glockenturm und zwei gewaltige Seitenflügel, in deren einem eine nach dem Muster der Antwerpener Jesuitenkirche gebaute Kapelle sich befindet, deuten in ihrer architektonischen Nüchternheit und Kahlheit auf das erste Viertel des 18. Jahrhunderts als Entstehungszeit.

Der Schloßpark zeichnet sich durch prächtige alte Buchen aus und birgt wunderhübsche lauschige Plätzchen und schattige Gänge, auf denen hie und da Gras wächst, so daß man manchmal nicht weiß, ob man in einem Park oder einem Walde wandelt. Allmählich geht ersterer ganz in freien Wald und Feld über, und wenn man hinausgeht auf jene sanft ansteigende Wiese, so kommt man unmerklich auf einen Hügel, auf dessen Kuppe ein von einzelnen hohen Bäumen geschützter Pavillon zur Rast und zur Umschau einladet. Herzogshügel heißt er offiziell, aber jedermann nennt ihn Herzenshügel. Ein Bild des Friedens entrollt sich zu Füßen des Beschauers. Der Park, der Wald, der See mit dem Schloß links, dem Flecken rechts, und dahinter wieder Wald und Wasser und abermals Wasser! Das ist die Flensburger Föhrde (dänisch Fjord), ein etwa 30 km langer und durchschnittlich 4 km breiter Meerbusen, der von Ost nach West tief einschneidet in die Provinz Schleswig-Holstein und an deren Südwestwinkel die freundliche Seestadt Flensburg sich hufeisenförmig auf Hügeln und im Thale erhebt. Einer der vielen Vergnügungsdampfer, die die Föhrde namentlich im Sommer beleben, würde uns in anderthalb Stunden in höchst anmutiger Fahrt an manchem lieblichen Badeort und manchem idyllischen Fischerdorf vorbei nach Flensburg führen. Allein wir ziehen es vor, in Gravenstein zu bleiben und noch mehr von seinen Reizen zu genießen, sowie von dem Manne uns berichten zu lassen, der durch seinen langen Aufenthalt der landschaftlich ausgezeichneten Stätte auch geschichtliche Weihe verliehen hat.

In alten Zeiten soll hier, mitten in Wald und Wasser, ein Seeräubernest bestanden haben, nach dessen endlicher Eroberung eine Burg auf den Trümmern erstand (auf dem „Grauen Steine“). Nach mancherlei Schicksalen ging dieselbe auf die Schleswig-Holsteinische Seitenlinie der Augustenburger über, deren Gründer Ernst Günther hieß (1609-1689). Nachdem vier Generationen ins Grab gestiegen waren, wurde am 28. September 1765 Friedrich Christian (der Jüngere) geboren, als Sohn Friedrich Christians (des Aelteren) und der Charlotte Amalie Wilhelmine, einer geborenen Herzogin von Schleswig-Holstein-Plön. In seinem fünften Lebensjahre verlor der Prinz seine Mutter. Die Erziehung leiteten der Hofprediger Jessen, ein Mann von umfassender Bildung und humaner Anschauung, und Legationsrat Schiffmann. Früh wurde der Sinn des Knaben auf Schönes, Hohes, Ideales hingelenkt. Als er 13 Jahre alt war, dachte man schon daran, ihm eine Braut zu suchen. Die Wahl fiel aus politischen Gründen auf Luise Auguste, Tochter Christians VII. von Dänemark, die damals sieben Jahre zählte. Man wollte dadurch Verwickelungen vorbeugen, die bei einem etwaigen Aussterben des dänischen Mannesstamms leicht eintreten konnten, und Staatsmänner wie Bernstorff und der ältere Schimmelmann beförderten die Verbindung, von der die Beteiligten vorerst nichts wußten. Die Möglichkeit, an welche jene dachten, trat jedoch nicht ein. —

Das Hauptinteresse des Prinzen, der abwechselnd auf Gravenstein und Augustenburg in ländlicher Stille und anmutiger Natur lebte, ging auf die Wissenschaften. Alle Gymnasialfächer betrieb er eifrigst, und mit vorzüglicher Vorbildung konnte er 1783, erst 18 Jahre alt, die Universität Leipzig beziehen. Mit ihm ging sein Lehrer Schiffmann und seine beiden jüngeren Brüder. Damals herrschte in Leipzig wie fast überall noch die Leibniz-Wolf'sche Philosophie, von Professor Ernst Platner in anregender, gefälliger Darstellung vorgetragen. Dieser zog denn auch unseren Friedrich in erster Linie an; dazu trat noch der Pädagoge Weisse, dem er seine späteren Neigungen für das Erziehungswesen verdankt. Aber auch Naturwissenschaften, Jurisprudenz und Staatswissenschaften wurden in den Kreis seiner Studien gezogen.

Nach anderthalbjährigem Aufenthalte in Leipzig, der nur durch kurze Besuche an den Höfen zu Dresden und Berlin unterbrochen wurde, kehrte der Prinz im Herbst 1784 nach seinem Schloß am Meer zurück und setzte den Winter durch seine Beschäftigung mit den Wissenschaften fort. Im nächsten Jahre reiste er nach der dänischen Hauptstadt, um die Braut, die noch immer nichts von der beabsichtigten Verbindung wußte, kennen zu lernen und ihr Herz zu gewinnen zu suchen. Freilich gingen die Anschauungen des hochgebildeten, trotz seiner Jugend schon ziemlich gereisten und welterfahrenen Mannes und die Neigungen des lebenslustigen, heiteren, schönen Mädchens bedeutend auseinander. Dem fortgesetzten Einflusse des geistig überlegenen Mannes, zu dem sie anfangs mehr wie zu einem Lehrer mit Scheu emporblickte, gelang es, ihr seinen Gesichtskreis zu erschließen, sie für seine Ideen zu bilden. Und als sie ein Jahr später (im Wonnemonat 1786) ihm die Hand zum Bunde reichte, da gab sie ihm auch ihr Herz mit.

Das neuvermählte Paar schlug seinen Wohnsitz in Kopenhagen auf, wo dem jugendlichen Prinzen ein Ministerposten sowie Sitz und Stimme im Staatsrate übertragen wurde. Als 1790 eine Kommission berufen wurde, um das höhere Schul- und Universitätswesen umzugestalten, erhielt er den Vorsitz in derselben; er widmete sich nicht nur mit Eifer und Pflichttreue, sondern auch mit einer bei Fürsten seltenen Sachkennntnis der wichtigen Sache. Die berühmtesten Gelehrten Dänemarks lernte er bei dieser Gelegenheit kennen. Er bildete selbst den Mittelpunkt der wissenschaftlichen und geistigen Bestrebungen des Ländchens. Seine Ansichten über die Schulreform legte er in einem Aufsatz nieder, der in der dänischen Minerva von 1795 veröffentlicht wurde, der mir aber leider nicht zugänglich geworden ist. Nach Einführung des Lehrplans an einer Kopenhagener Schule wohnte Friedrich Christian den Lehrstunden häufig bei. Als im Jahre 1805 eine vollständige Regierungs-Abteilung für das höhere Schulwesen eingerichtet wurde, trat er an die Spitze derselben und blieb, wie auch bisher, Unterrichtsminister, obwohl er diesen Titel nicht führte.

Inzwischen hatte der zwar nicht bedeutende, aber für alles Schöne begeisterte Dichter Baggesen, vom Prinzen unterstützt, zu seiner Ausbildung größere Reisen durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich gemacht. Im Sommer wurde er mit Schiller bekannt und suchte nach seiner Rückkehr nach Dänemark den Werken des Dichters überall Eingang zu verschaffen. Die dänische Literatur stand damals in engster Beziehung zur deutschen; alle ihre Kraft zog sie aus dieser und die bedeutenden literarischen Erscheinungen in Deutschland wurden vom dänischen Publikum lebhaft verfolgt. Es braucht nur an Klopstock erinnert zu werden, der viele Jahre eine gastliche Aufnahme am Kopenhagener Hofe gefunden hatte. Auch Friedrich Christian und Graf Schimmelmann, der Jüngere, lernten Schiller durch Baggesen kennen und lieben. Als daher plötzlich die Kunde von dem Tode des verehrten Mannes nach Dänemark drang, vereinigten sich die Freunde und feierten ein Totenfest in Hellebäk, einem Fischerdorfe am Nordstrande von Seeland. Bald stellte sich die Nachricht als falsch heraus; aber Schiller war in Geldsorgen, überarbeitet, schwer krank. Da beschlossen die beiden begüterten Freunde, ihn auf einige Jahre — aus den ursprünglich beabsichtigten drei wurden fünf — der drückendsten Not zu entreißen durch ein jährliches Geschenk von je 1200 Thalern; eine für jene Zeit recht ansehnliche Summe. Der Prinz von Augustenburg schrieb einen herrlichen Brief an den kranken Dichter, der von Schimmelmann mit unterzeichnet wurde, und der in zartester Weise das Anerbieten enthält und begründet. „Zwei Freunde, durch Weltbürgersinn miteinander verbunden, erlassen dieses Schreiben an Sie, edler Mann!“ Sie bitten ihn in beweglichen Worten, ihr Anerbieten anzunehmen, das von Mensch zu Mensch geht, bieten ihm zugleich eine Staatsanstellung in Kopenhagen an, lassen ihm jedoch völlige Freiheit, seine Muße zu genießen, wo er will.

Schiller konnte nicht anders als annehmen. Aus Dankbarkeit richtete er später die „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ an den Herzog, die beim Brande der Christiansburg ein Raub der Flammen wurden. Schiller hatte aber eine Abschrift zurückbehalten, die er einer Umarbeitung unterzog und die in etwas verändertem Gewande in den Horen erschien und später Ausnahme in die „Sämtlichen Werke“ fand. Der Briefwechsel zwischen dem Dichter und Fürsten ist von Max Müller-Oxford herausgegeben und für alle Gebildeten lesenswert; jede Seite enthält die vornehme, wahrhaft adelige Gesinnung der beiden Freunde: desjenigen, der materiell gab, und des andern, der es mit Geistigem vergalt. Aber man denke ja nicht, daß die Briefe des Herzogs nur deshalb Interesse böten, weil sie an einen der größten im Reiche der Geister gerichtet sind! Auch an sich bieten sie viel Schönes über Literatur, Philosophie und Politik.

Die deutsche Literatur und das ganze deutsche Volk wird das Andenken des
Mannes in höchsten Ehren halten, der mit dazu beigetragen hat, unserem
Schiller fünf Lebensjahre wesentlich zu erleichtern und ihm Kraft zu
seinen erhabenen Aufgaben und Pflichten zu verleihen. Welch glückliches
Zusammentreffen, daß dieser Mann der Ahnherr unserer Kaiserin ist!

Im Jahre 1794 war inzwischen der alte Herzog gestorben und der junge, 29 jährige Prinz trat in die Würden seines Vaters ein. Von jetzt ab verbrachte er jährlich regelmäßig einige Monate auf seinen ländlichen Besitzungen Augustenburg und Gravenstein. Als sein Verhältnis zum Kronprinzen-Regenten sich allmälig trübte, dehnte sich seine Abwesenheit von Kopenhagen immer länger aus. Diese Trübung entstand durch die allmälig mehr hervortretenden dänischen Tendenzen des Regenten, die der Herzog als deutscher Fürst nicht billigen konnte. Nach der Auslösung des deutschen Reiches 1806 wollte man das schutzlose Holstein in Dänemark einverleiben; dem energischen Einspruch des Herzogs gelang es, dies vorläufig noch zu verhindern. Der Groll des Königs — der 1808 den dänischen Thron bestiegen hatte, nachdem er schon seit vielen Jahren seinen geistesschwachen Vater vertreten — gegen den Herzog nahm zu, als die schwedische Thronfolgefrage auftauchte. Da König Karl XIII. keine Kinder hatte, so wählte man zum Kronprinzen den jüngeren Bruder Friedrich Christians. Als dieser plötzlich — ob an Gift, weiß man nicht — 1810 mit Tode abging, richteten sich die Blicke auf den Herzog, dessen Einwilligung aber nicht so leicht zu erlangen war. Er wollte den dänischen König nicht verletzen, der, wie er wußte, sich gleichfalls Hoffnung auf den Thron von Schweden machte, freilich ganz unberechtigte. Karl XIII. bot dem Augustenburger die Krone wiederholt an, der Reichstag bot sie an, Napoleon war nicht dagegen; allein aus allzu großer Rücksicht für den König lehnte er ab und fragte erst bei diesem wegen der Angelegenheit an. Der König ließ lange mit der Antwort warten; endlich schrieb er, daß er allerdings die schwedische Krone erstrebe. Nun lehnte Friedrich Christian endgültig ab. Die Schweden wählten nun aber keineswegs den König von Dänemark, sondern den französischen Marschall Bernadotte, der einige Jahre später auch Norwegen von Dänemark losriß, das nun in Personalunion mit Schweden verbunden wurde. Dänemark aber, das in früheren Jahrhunderten alle drei nordischen Reiche beherrscht hatte, blieb auf Jütland und die Inseln beschränkt.

Trotz dieses äußerst loyalen Verhaltens seines Schwagers war der König wütend auf ihn; er ließ ihn verspotten, ja, ihn auf der Insel Alsen förmlich blokieren, unter dem Vorwande, ihn vor den Schweden zu „schützen“. Der Herzog, tief empört über solche Behandlung, nahm seinen Abschied aus allen Staatsämtern und wohnte von nun an abwechselnd auf Augustenburg und Gravenstein, mit der Erziehung seiner Kinder beschäftigt. Er hinterließ zwei Söhne, von denen der ältere, Christian August, der Großvater unserer Kaiserin wurde, und der jüngere unter dem Namen Prinz von Noer in der Geschichte Schleswig-Holsteins bekannt geworden ist. Die einzige Tochter des Herzogs wurde später die Gemahlin des Königs Christian VIII. von Dänemark.

In den letzten Jahren seines Lebens verfaßte der Herzog noch eine staatsrechtliche Schrift, das Erbrecht seines Hauses auf die Elbherzogtümer darlegend. Zu den Männern, die den philosophischen Fürsten auf Gravenstein aufsuchten, gehört auch Andersen, der dänisch-deutsche Märchenerzähler, der in begeisterten Worten die Gastlichkeit des herzoglichen Hauses und die landschaftlichen Reize der Umgebung von Gravenstein preist. Im Jahre 1814, am 14. Juni, starb Friedrich Christian. In seinem letzten Willen ermahnte er seine Söhne „die Rechte und Ansprüche, welche ihre Abkunft ihnen gebe, mit männlicher Festigkeit, aber ohne Verletzung der Gerechtigkeit, der Ehre und Pflicht zu beobachten“. Die Söhne und der Enkel rechtfertigten das in sie gesetzte Vertrauen; sie haben sich stets als Ehrenmänner bewiesen, in guter und in böser Zeit. An geistiger Bedeutung und umfassender Bildung aber hat keiner den großen Ahnen erreicht.

IX.

Marsberg.

Auch eine Sommerfrische.

Wir wollten in die Sommerfrische — so viel stand fest. Hierin waren meine Frau und ich uns einig. Aber wir wollten nicht nur, wir mußten! Alle unsere Bekannten gingen in die Sommerfrische — eine Familie nach Schwalbach, eine andere nach Hamm, die dritte sogar nach Eschwege. Wenn wir daheim geblieben wären, so hätte es aussehen können, als „hätten wirs nicht dazu!“ Lächerlicher Gedanke! Kein Geld, um in die Sommerfrische zu gehen! Solchen Menschen möchte ich einmal sehen, namentlich in unseren Kreisen. Wir sind nämlich von ziemlich hohem Stande, alle unsere Bekannten sind es. Also es war abgemacht, wir wollten in die Sommerfrische.

Ich ging hin und kaufte mir „Tinten und Feder und Papier“. Eine Feder, aber zwölf Bogen Papier. Denn ich wollte Auswahl haben, eine engere Wahl treffen. Was engere Wahl war, wußte ich aus Erfahrung; hatte ich doch selbst manchmal darauf gestanden. Bisweilen war ich gewählt worden, bisweilen auch nicht. Nun hatte ich das stolze Gefühl, diese engere Wahl selbst auszuüben. Dann nahm ich den kleinen Kneebusch — den ich selbst besaß — und Bädekers Rheinlande — den mir ein befreundeter, edeldenkender Buchhändler auf einen Tag lieh — freilich unter der Bedingung, ihn sofort zurückzugeben, falls sich ein Käufer finden sollte, denn es war nur dieses eine Exemplar auf Lager — also ich nahm den kleinen, grünen Kneebusch und den dicken, roten Bädeker und studierte und studierte. Ich habe schon viel studiert in meinem Leben, z.B. auf der Universität, aber so hat nur weder im metaphysischen Kolleg beim alten Strümpell in Leipzig noch im psychologischen Kolleg bei Eucken in Jena der Kopf gebrummt, als heim Studium dieser anscheinend so harmlosen Bücher. Denn da gab es Sommerfrischen wie Sand am Meer, eine immer einladender als die andere. Preisend mit viel schönen Reden registrierten die Verfasser alles, was nur irgend Anspruch auf diese ehrenvolle Bezeichnung erheben konnte, von Godesberg am Rhein und Manderscheid in der Eifel bis Oberkirchen und Laasphe im Sauerland. Rheinland und Westfalen sollte und mußte es sein, lieber noch letzteres, denn mein Grundsatz ist derselbe wie der des alten Geheimrat Goethe:

  Willst du immer weiter schweifen?
  Sieh, das Gute liegt so nah!

Nur zuerst liebäugelte ich nach der Rheingegend hinüber; da lockte ein Gasthaus mit dem lieblichen Namen „Waldesfrieden“, und da las ich Gerolstein und erinnerte mich angenehm gleich an eine Operette von Offenbach: „Die Großherzogin von Gerolstein.“ Dies Großherzogtum hätte ich gern einmal gesehen, und auch der Waldfrieden hatte mich immer mächtig angezogen, obgleich oder vielleicht gerade weil ich mein Lebtag noch nicht im Walde gewohnt hatte.

Ich sandte also einige Briefe nach dem Rhein, die überwiegende Mehrzahl der 12 aber wanderte ins Sauerland, jeder sorgfältig konvertiert und mit einer funkelnagelneuen Briefmarke versehen. Ich rieb mir vergnügt die Hände; der erste, der schwerste Schritt war geschehen; und begierig harrten wir nun der Dinge, die da kommen sollten, nämlich der Antworten. Herzlich leid thaten mir schon die 11 armen Wirte, denen ich abschreiben mußte; denn ich konnte unsere Gegenwart doch nur einem schenken, wie es auch in der Lotterie zu gehen pflegt, wo nur einer das große Los zieht. Wer von den 12 Wirten das sein würde, ruhte noch im Schoße der Götter. Jeden Morgen eilten wir zitternd vor Aufregung dem Briefträger entgegen — bei uns im Röhrchen kommt die erste Briefbestellung schon um neun Uhr vormittags — und waren jedesmal schmerzlich enttäuscht, wenn er nichts hatte. Auch wenn ich mittags nach Hause kam, war meine erste Frage: Nichts vom Briefträger? Endlich am dritten Morgen brachte er eine Karte. Sie kam vom Waldesfrieden und sagte mit dürren Worten, es sei für die nächsten Wochen alles besetzt, der Wirt müsse auf unsern Besuch verzichten. Ich war entrüstet. Auf uns verzichten wollte er, und nicht einmal schwer schien ihm das zu werden, wenigstens war kein Wort des Bedauerns ausgesprochen. Aber es sollte noch anders kommen; auch die übrigen Rheinländer und sämtliche Sauerländer bis auf 3 schrieben im Laufe der nächsten 14 Tage ab, mit Ausnahme derer, die — mir bebt die Feder vor edlem Zorn — überhaupt nicht antworteten!

Es waren also 3 übrig geblieben, die uns wollten. Triumphierend erzählten wir es unseren Freunden. Aber da kamen wir schön an. Als ich Freund X sagte, wir wollten nach A., der Ort sei gut empfohlen im Kneebusch, rief X unwillig aus: Ach, gehen Sie nicht nach A., da ist kein Wald in der Nähe, gehen Sie lieber nach B. Ich ließ mich natürlich gerne belehren und teilte meinem Freunde Y mit, wir seien entschlossen, unsere Sommerfrische in B. abzuhalten. Wie, nach B. wollen Sie? Nach diesem schmutzigen Dorfe? Gehen Sie nach C.! Ich stutzte, fügte mich aber der überlegenen Weisheit; wohnte ich doch erst 3 Jahre in Westfalen und jene anderen schon lange; die mußten es natürlich besser wissen; überhaupt giebt ja der Klügste nach. Es war also eine ausgemachte Sache, wir gingen nach C. Aber o weh! kaum hatte meine Frau in der nächsten Kaffee-Visite davon gesprochen, als ein Sturm der Entrüstung losbrach. Nach C. würden die Damen auf keinen Fall gehen, sie rieten aber dringend, nach D. zu gehen. Die Lage, Verpflegung, kurz, alles sei unvergleichlich viel besser als in C. Nun stand aber D. gar nicht mit auf meiner Liste. Doch was sollte ich thun? A., B. und C. hatte ich auf den Rat von X, Y und Z schon abgeschrieben. Die engere Wahl war also ergebnislos verlaufen. Inzwischen war auch bei dem ewigen Warten eine Woche der Ferien unwiederbringlich verloren, und wenn wir noch etwas von der Sommerfrische haben wollten, dann hieß es sich eilen. Kurz entschlossen telegraphierte ich nach D., bezahlte die Antwort und hatte nach 3 Stunden einen zusagenden Bescheid. Hurra, wir hatten eine Sommerfrische! Was 12 Briefe nicht vermocht hatten, eine Depesche hatte es erreicht. Wir stehen eben im Zeichen der Telegraphie; Briefe sind ein überwundener Standpunkt. Nun kann ich auch den Schleier der Anonymität lüften und verraten, daß D. Niedermarsberg war, an der Diemel im östlichen Sauerlande gelegen. Schon am nächsten Tage sollte die Reise angetreten werden.

Darauf bedacht, daß wir allein im Coupé blieben, verfiel ich auf folgende List, die ich allen Familienvätern empfehlen kann. Sobald eine Station in Sicht kam, kommandierte ich: Alle Mann an Deck! Alle 5 stürzten wir uns dann zwar nicht an Deck, sondern an die Coupéthür, die wir dicht gedrängt verbarrikadierten: meine Frau, ich, der Knabe Karl von 10 Jahren und der einjährige Hans auf dem Arme des Mädchens. Besonders letzterer sollte nach meiner Berechnung als Abschreckungsmittel dienen, und ich hatte mich nicht getäuscht. In Wickede z.B. steuerte ein umfangreicher Gutsbesitzer (dicker Bauer) auf unser Coupé zu, schwenkte aber kurz vorher ab, als er die kinderreiche Familie mit dem Hans an der Spitze sah, den er womöglich für einen Schreihals hielt, was er keineswegs ist. Meine Frau fand es zwar empörend, daß unser süßes Hänschen abschreckend auf einen Menschen wirken könne, aber der Erfolg gab mir Recht. Ungefährdet durch Mitreisende kamen wir Mittag an dem Ziel unserer Wünsche, in Niedermarsberg, an, von unserem Wirt, der außer seinem Hotel auch die Bahnhofsrestauration inne hatte, in Empfang genommen.

Auf dem Wege zum „Westfälischen Hof“ kamen wir an einem Trümmerhaufen vorbei, wo vor 14 Tagen mehrere Häuser, darunter auch ein Hotel, abgebrannt waren. Das war kein gutes Omen für uns, und doch, ich dachte: Sobald brennts gewiß hier nicht wieder! Ich trat an die Brandstätte und bemerkte zwischen Schutt und Trümmern einen Balken mit der leicht zu entziffernden Inschrift:

DAS FEVR KAN MICH VERZEHRREN GOTT WOLTE SOLCHES GENEDIG ABWEHRREN.

Eine Jahreszahl war nicht mehr zu erkennen, doch deutete die
Orthographie auf die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts.

Niedermarsberg hat eine ganz herrliche Lage. Nach allen Seiten zwischen hohe, bewaldete Berge eingebettet, schaut es mit seinen hübschen Kirchen den Wanderer gar freundlich an. Besonders stolz und stattlich streben zwei steile Berge in die Höhe: auf dem einen steht der Bilstein, ein Aussichtsturm, auf dem andern liegt Obermarsberg, dessen beide Kirchen man sieht. Während dieser Ort mit 1000 Einwohnern eine Stadt ist, hat Niedermarsberg trotz seiner 4000 Einwohner die Landgemeindeordnung.

Es hat eine evangelische und mehrere katholischen Kirchen sowie eine Synagoge; an ersterer wirkt der Pastor Nettelbeck, ein Nachkomme des wackeren Verteidigers von Colberg. Es besitzt ferner eine Zeitung, genannt der „Diemelbote“, der aber nicht einmal täglich erscheint, wie gewöhnliche Zeitungen, sondern dreimal (wöchentlich). Außerdem hat Niedermarsberg alle Arten Läden, in denen man seine materiellen Bedürfnisse befriedigen kann, sofern sie nicht allzu hoch sind; für die geistigen sorgt die Buchhandlung meines Freundes Buddenkotte.

Der gebildete Deutsche will aber nicht nur wissen, was jetzt ist, sondern auch was früher war. Ich setze zu deiner Ehre voraus, daß du, lieber Leser, mindestens bis Quinta, vielleicht sogar noch weiter gekommen bist, und daß du also weißt, auch ohne daß ich dirs sage, daß hier in Marsberg einstens die alten Sachsen hausten und daß ihre berühmte Eresburg von Karl d. Gr. erobert wurde. Auch weißt du, daß dieser große Kaiser den Winter 784-85 mit seiner Familie hier zugebracht, sich auch eine Villa Horhusen gebaut hat, daß ferner die Stadt später in Stadtberge umgetauft wurde und nun, seit etwa 30 Jahren, nach dem Grundsatz variatio delectat, Marsberg heißt. Solltest du alles dieses aber nicht gewußt haben, nun so tröste dich mit mir: auch ich habe es erst aus dem Kneebusch erfahren, wo es auf Seite 185-86 steht und noch viel mehr dazu. Was aber nicht im Kneebusch steht, ist, daß hier ein Mann wohnt, den Kaiser Karl V. beneidet haben würde, wenn er ihn gekannt hätte. Wie männiglich aus der Geschichte weiß, war dieser mächtige Fürst, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, auf seine alten Tage Uhrmacher geworden, jedoch außer Stande, zwei Uhren in völlig gleichem Gange zu erhalten. In Marsberg wohnt ein Uhrmacher — es wäre ein Unrecht, den Namen dieses Wackeren zu verschweigen: Paul Müller heißt er und wohnt Wilhelmstraße Nr. 15, in demselben Hause, wo mein Freund Buddenkotte, der Buchhändler, wohnt — in dessen Schaufenster hängen also nebeneinander 6 (sechs) Uhren, die sich ähneln wie ein Ei dem andern. Alle 6 Pendel bewegen sich mit absoluter Gleichmäßigkeit, wie ich während meines mehrwöchentlichen Aufenthalts beobachten konnte, wenn ich vorbei ging. So hat der große Kaiser in dem kleinen „Uhrkenmaker“ seinen Meister gefunden.[7]

Die Umgegend von Niedermarsberg ist reich an Wald mit schönen Spaziergängen. Da lockt die Paulinenquelle im Waldesschatten mit schönen Anlagen und Ruheplätzen, wo es sich so angenehm lesen und träumen läßt. Da winkt das Eichwäldchen an der Diemel, auch mit lauschigen Plätzchen, vor allen aber der Bilstein mit seiner prächtigen Aussicht auf beide Marsberg und in die weite Ferne. Ein Stationsweg mit 14 Steinbildern von der Passion Christi führt hinauf.

Aber auch das Materielle kam nicht zu kurz in Marsberg, und wir bedauerten schon gar nicht mehr, von den 12 geplanten Sommerfrischen keine erwischt zu haben. Gab es in Niedermarsberg wenig Sommerfrischler und Touristen, so gab es um so mehr Forellen. Unser Wirt zum „Westfälischen Hof“ hatte den Vorzug, Pächter der Fischerei zu sein, und da haben wir manchen guten Braten gehabt.

Der historische Zug in mir trieb mich gleich in den ersten Tagen nach Obermarsberg hinauf. Ein gelinder Schreken faßte mich allerdings, als ich im Kneebusch von der dort befindlichen Schwedenschanze las. Es ist mit den Schwedenschanzen beinahe so schlimm wie mit den Schweizen. Man kann nirgends in deutschen Landen reisen, ohne auf eine Schwedenschanze zu stoßen oder über eine Schweiz zu stolpern; manche dieser Schweizen sind nämlich so hoch, daß man wirklich darüber fallen kann. Trotz aller Vorsicht hatte ich schon ein halbes Dutzend Schweizen über mich ergehen lassen, und ebenso viele Schwedenschanzen. Nun, wie so manche Schwedenschanze, bestieg ich mutig auch die Obermarsberger, und die Aussicht kann auch den verbissensten Antischweden mit den Namen aussöhnen. Prächtig baut sich vor den entzückten Blicken die sauerländische Gebirgskette auf: ein Neben- und Durcheinander von dunkel- und hellblauen Kuppen, von denen das Auge sich nur schwer trennt, um dann über das unmittelbar zu Füßen liegende grüne Diemelthal mit seinen Wäldern, Wiesen und weidenden Kühen zu schweifen.

Nachher besahen wir dann noch die beiden Kirchen, von denen die eine von dem braven Karl dem Großen gebaut sein soll und die andere von jemand anders, bewunderten den „Roland“, der aber nicht so riesenhaft wie der in Bremen ausschaut, staunten den abscheulichen Pranger an und kehrten schließlich im Wirtshaus zur Eresburg, vom Volk auch „Freßburg“ genannt, ein, wo wir Heidelbeerwein tranken, der genau so schmeckte, wie mittlerer Bordeaux, den Vorzug hatte, billiger zu sein und dabei aus denselben Bestandteilen hergestellt ist.

Essentho, dessen Name dem Ohre des Lesers vermutlich ebenso fremd ist wie seinem Herzen, ist ein abgeschiedenes, weltverlorenes Dörfchen jenseits der Berge. Man geht am Niedermarsberger Schlachthause vorbei, welches eine so idyllische Lage am Waldesrande hat, daß man gleich Schlachthausinspektor sein möchte. Uebrigens verdient schon die Existenz eines solchen Instituts in einem Orte von 4000 E. alle Anerkennung; es giebt eine große Anzahl Städte in Deutschland mit mehr Einwohnern, die noch gar nicht daran denken, sich in den Besitz eines solchen nützlichen Hauses zu setzen. Hinter dem Schlachthause führen mehrere Wege durch den Wald nach Essentho, eine langsam aufsteigende, mit Eschen besetzte Landstraße, eine wohlerhaltene römische Heerstraße (via regia) und ein Fußweg. Wir wählten diesen, indem wir uns die Römerstraße für den Rückweg vorbehielten. An dem Fußwege, gegen den Wald gelehnt, liegt der jüdische Friedhof mit einigen hübschen Denkmälern. Das 9jährige Söhnchen unseres Wirtes, wohlbestallter Sextaner der Rektoratsschule, der unser Führer war und uns auf alle Sehenswürdigkeiten, oder was er dafür hielt, aufmerksam machte, wies mit eigentümlicher Miene auf einen Grabstein, der aus einer abgebrochenen schwarzen Granitsäule bestand, und sagte: Da liegt ein Freimaurer! Ich fragte ihn, was denn ein Freimaurer sei. Hierauf wußte er nichts zu antworten, ich mußte aber an den Tag vorher denken, wo wir über den christlichen Kirchhof gingen. Mit derselben eigentümlichen Geberde hatte er auf ein Grab in der Ecke gezeigt und gesagt: Da liegt einer, der hat sich vorigen Winter erhängt!

Saftige Wiesen begleiten uns, auf denen sich ganze Scharen von Schmetterlingen tummelten; so viele Tag-Pfauenaugen hab' ich mein Lebtag nicht gesehen. Essentho selbst bietet nichts, außer einer Antoniuskapelle unter zwei riesigen Linden, in deren Geäst die Glocke hängt. Auf diesen Antonius trifft man hier überall; wenn ich nur wüßte, was es für eine Bewandtnis mit ihm hat. Unsere Josepha, die liebliche Wirtstochter, wußte auch nicht viel von ihm zu melden. Eine weite Aussicht hat man von dieser Kapelle über das Diemelthal hinaus zu den Weserbergen und sogar dem Habichtswalde bei Kassel. Von Marsberg ist nichts zu sehen, da es durch Berge verdeckt ist.

Um so angenehmer wurde ich in Westheim enttäuscht; schon daß es östlich von Marsberg liegt, imponierte mir, da ich eben ganz und gar kein Buchstabenmensch bin. Was mich nach Westheim zog, war vor allem der Umstand (Kneebusch Seite 187 unten), daß dort der Reichsgraf von Stolberg ein Schloß mit Park und Brauerei besitzt. Vor Grafen, insonderheit vor Reichsgrafen, habe ich von jeher eine unbegrenzte Hochachtung gehabt, was vermutlich daher kommt, daß in meinem engeren Bekanntenkreise sehr wenig, ja ich möchte fast sagen, gar keine Grafen verkehren. Für die Grafen von Stolberg hegte ich eine ganz besondere Verehrung, sowohl für die Linie Stolberg-Wernigerode als auch Stolberg-Stolberg. Hatte ich doch schon als Magdeburger Sekundaner das herrliche Schloß zu Wernigerode geschaut und als Student die Schloßbibliothek zu Stolberg mit der einzig dastehenden Sammlung von Leichenpredigten aus dem 16. und 17. Jahrhundert angestaunt! Hier in Westheim kam nun noch etwas hinzu, was dem sonst von mir befolgten Horazischen nil admirari einen argen Stoß gab. Unterbrechen Sie mich aber bitte nicht, sondern lassen Sie mich ruhig erzählen! Ich pilgerte also frohgemut gen Osten, durch schattigen Wald an der leise plätschernden Diemel entlang. Was mir unterwegs begegnete, ist nicht von Belang, und ich kann es füglich übergehen; denn, wie der Leser schon gemerkt hat, ist es mein Grundsatz, nur wirklich Wichtiges zu berichten; ein Prinzip, dem ich auch künftig treu bleiben werde. In Westheim angelangt, wandte ich mich sogleich nach dem Schlosse, und da ein sehr heißer Tag war und ich großen Durst verspürte, so fragte ich ein paar Brauknechte, die in dem Hofe der Reichsgräflichen Brauerei hantierten, ob man da wohl ein Glas Bier kriegen könnte. Sie wiesen lächelnd auf eine Thür, an der „Komptoir“ stand. Etwas zaghaft trat ich ein und trug meinen Wunsch einem der an Schreibpulten stehenden Herren vor. Dieser lächelte gerade so wie die Brauknechte und zeigte auf einen gefüllten Krug voll eiskalten Bieres, der im Augenblick gebracht war. Ich langte zu und setzte mich auch, während sich niemand weiter um mich kümmerte. Der Buchhalter schrieb, ab und zu gingen Leute, die da zu thun hatten. Da eiskaltes Bier nicht gesund sein soll, hätte ich gern mein in der Tasche steckendes Butterbrot gegessen; allein der Anstand überwog zunächst noch den Hunger, und nur verstohlen, wenn es niemand sah, biß ich kleine Stücke ab. Erst als ich sah, daß einer der Schreibenden auch ein Butterbrot ganz öffentlich vor sich hatte und aß und trank, holte ich meinen Imbiß heraus und nun schmeckte das Hubertusbier noch einmal so gut. Mutiger geworden, knüpfte ich eine Unterhaltung an, erkundigte mich nach den Familienverhältnissen des Grafen von Stolberg und erweiterte meine genealogischen Kenntnisse beträchtlich. Schließlich fragte ich nach der Schuldigkeit, da schüttelte er (der Herr Buchhalter) den schon ziemlich entlaubten Wipfel. Ich bedankte mich schön, flehte den Segen des Himmels auf den Grafen und seine Kinder und Kindeskinder herab und verließ rückwärts hinausgehend mit vielen Verbeugungen das gastliche Komptoir. Hoffentlich wird diese Episode nicht in weiteren Kreisen bekannt! Ich würde sonst dem Herrn Grafen einen Sklaven schicken (wenn ich einen hätte), der ihm jeden Mittag und jeden Abend, wie jener Sklave dem Perserkönig, zurufen müßte: Landgraf, werde hart, hart, hart! Ich werde den Herrn Setzer übrigens bitten, diese ganze Stelle zu streichen.

Um auch einmal ins „Ausland“ zu kommen, beschloß ich einen Ausflug nach dem Städchen Rhoden in Waldeck zu machen. Auf der Fahrt nach Wrexen, wohin ich die Bahn benutzte, hatte ich eine helle Freude an einer Chaussee, die in bunter Abwechselung mit reichbeladenen Aepfelbäumen, Ebereschen voller leuchtendroter Beeren, Ahornen, Kastanien, Birken und Akazien besetzt war — wahrlich, keine Spur jener Eintönigkeit, an der sonst Landstraßen zu leiden pflegen! Von Wrexen, das schon waldeckisch ist (der Name klingt auch so ausländisch, nicht wahr?), führt ein einstündiger Marsch nach Rhoden. Schon von ferne sieht man das Städtchen (von dem bekanntlich der Spruch: hic Rhodus, hic salta! kommt) auf steilem Bergkegel, ganz oben ein schloßartiges Gebäude und eine Kirche. Kneebusch bemerkt lakonisch: Das Schloß ist bewohnt, aber nicht gut erhalten. Ich stand vor dem wappengeschmückten Portal, das verschiedene Risse aufwies. Still war alles, kein Mensch, kein Hund, keine Katze. Mein Schritt hallte auf dem Steinpflaster, aber kein Fenster öffnete, kein neugieriger Kopf zeigte sich. Dies Schloß mußt du schon irgendwo gesehen haben, dachte ich bei mir und suchte in meinem Gedächtnisse: aber wo, wo? Da rief es plötzlich laut in mir, so daß es beinahe gesprochene Worte waren: Das ist ja das Dornröschenschloß, von dem dir deine Mutter vor vielen Jahren erzählt hat und in dem du dich so heimisch fühltest, wie in deiner Eltern Wohnung! — Ich wandere weiter und gelange in den Park. Da stehen sie, die Baumriesen, ganz ruhig; kein Lüftchen bewegt Baum und Strauch, die einen grünen, undurchdringlichen Schleier bilden. Zwei Vögelchen huschen durch das Gras und zwitschern leise; ich merke, sie reden von mir und wundern sich, was ich da will. Im Park fast noch stiller als im Schloß; Totenstille, Grabesstille. Die Wege mit Buschwerk überhängt, sodaß man sich bücken muß — — Nun laß sich die Dämmerung herabsenken und den Mond aussteigen hinter den düsteren Tannen und Eichen — und du bist in das romantische Land versetzt, von dem die Dichter melden. Steinerne Stufen, moosbewachsen, geborsten, führen hinauf und hinab. Was leuchtet da in der Ferne Weißes durch das Grün? Ein Grabstein. Ich trete hinzu und lese unter dem marmornen Wappen des Mausoleums die Worte: „In diesen Hafen sammeln wir uns aus den Stürmen des Lebens.“ Ein sinniger Spruch, den der Fürst von Waldeck vor etwa hundert Jahren sich und seinen Nachkommen geschrieben hat. Die Gitter und Grabkreuze vor dem Mausoleum sind dicht mit Epheu umsponnen; an den beiden gewaltigen Fichten ist er hinaufgekrochen bis in die äußersten Verzweigungen. Ich gehe weiter und setze mich auf eine Bank und träume. Für wen sind diese Anlagen? Wer genießt sie? Wie mag es hier im fröhlichen 18. Jahrhundert ausgesehen haben? Da war Rhoden sicher eine Art Versailles, wenn auch nur ganz im Kleinen: alle Zeichen deuten darauf hin. Da sind die Laubgänge bevölkert von Kavalieren und Hofdamen, die sich verneigen und plaudern und hinter den dichten Hecken kosend verschwinden. Und abends, da ist das Schloß hell erleuchtet, und die breiten, jetzt so ausgetretenen Steintreppen wallt es hinauf in prächtig geschmückten Gewändern zum Ballsaal — — Da höre ich in der Ferne das Knarren eines schweren Fuhrwerks und das Knallen einer Peitsche und den Zuruf eines Ackerknechtes — das ist die Prosa des modernen Lebens, die nur gedämpft hier hineindringt. Ich nehme Abschied von diesem Idyll; wieder hallen meine Schritte über den Schloßhof; ich blicke noch in den tiefen, halb verschütteten Brunnen. Alles so still wie zuvor, kein Mensch, kein Tier. Ich grüße das Wappen am Portal und schreite hinaus, voll von einer schönen, nicht so bald verlöschenden Erinnerung — —

FUSSNOTEN:

[7] Später verriet mir Freund Buddenkotte den Kniff, durch den das Kunststück gelungen war; ich will ihn aber nicht weitersagen, um den Künstler nicht bloßzustellen.

X.

Neun mal 24 Stunden auf der Eisenbahn.[8]

Frühling kam und mit ihm erwachte meine Wanderlust. Nach Westen! nach dem sonnigen Californien, von da weiter nach den Hawai-Inseln und durch das Südsee-Paradies nach Sidney und Melbourne, von da nach Ceylon und Vorderindien, und durchs Rote- und Mittelmeer nach Italien und Deutschland; mit einem Wort: eine Reise um die Erde zu machen, hatte ich mir den Winter hindurch als Ziel vorgesetzt. Mit dieser Absicht fuhr ich vom Mississippi nach Westen; verschiedene Gründe ließen mich meinen Entschluß ändern, von denen ich hier nur einen erwähnen will: die Beschränktheit der Zeit; Ende September 1883 mußte ich mich zum Militärdienste stellen.

Donnerstag, 26. April 1883, früh 6 Uhr fuhr ich von Fort Madison ab, und Sonnabend, 5. Mai, früh 9 Uhr kam ich in San Francisco an, nach 9 Tagen und 9 Nächten ununterbrochener Fahrt. Schnellzüge fahren diese Strecke fast in der halben Zeit; der Zug, mit dem ich fuhr, war ein Emigranten- (d.h. Bummel-) Zug, aber dafür auch um 1/3 billiger; ich gab ungefähr 250 Mark für das Billet. Wer etwas mehr von der Landschaft sehen will, thut wohl, den Emigrantenzug zu wählen, trotz mancher Unbequemlichkeiten, die er mit sich bringt. Nach 15stündiger Fahrt durch die hügeligen, angebauten Staaten Iowa und Missouri kam ich in Atchison an, einer größeren Stadt, dem Anfangspunkte der „Atchison-Topeka-Santa Fe-Eisenbahn“, mit welcher ich die nächsten Tage zu fahren hatte; zuletzt gings eine Weile dicht am Missourifluß entlang, dessen Wasser schmutzig daher schleicht und den klaren Mississippi trübt. In Atchison war umzusteigen; nach kurzem Aufenthalt ging es weiter, mit einer Geschwindigkeit, die ich unserm Bummelzuge gar nicht zugetraut hätte. Ich ging durch die Wagen und fand die prachtvollste Einrichtung, wie auf Schnellzügen; doch da ich mit Emigrantenzügen noch nicht näher bekannt war, hoffte ich, im richtigen Zuge zu sein und machte es mir in einem Lehnstuhl des Gesellschaftswagens bequem. Schrecklich war jedoch mein Erwachen, als der Kondukteur mich belehrte, daß dies der Schnellzug sei und ich denselben schleunigst zu verlassen habe. Auf meine Entschuldigung erwiderte er streng: Does this look like an emigrant-train? I tell you, you are a dandy! (dandy = frecher Mensch). Auf der nächsten Station kam ich der Weisung nach und befand mich in tiefster Dunkelheit — es mochte Mitternacht sein — vor einem Holzschuppen, aus dem Licht herausschimmerte und den ich als Bahnhof erkannte. Ein junger Mann, welcher Stationsvorsteher, Telegraphist, Postbeamter, Hausknecht und Restaurateur zugleich war (ich merkte nichts von einer Restauration, auf vielen Stationen ist keine) und den ich um Nachtlager bat, wies freundlich aber schläfrig auf die Diele, während er sich auf eine Pritsche warf und alsbald einschlief. Mir blieb nichts übrig, als seinem Beispiel zu folgen, und, müde wie ich war, schlief ich, in meinen Ueberzieher gewickelt, ganz erträglich. Am andern Tage ziemlich früh kam ein Zug angeschlichen, der, wie mir mein Wirt sagte, nicht der meinige sei: der käme erst später. Ich ging aber doch heran, fragte und hatte grade noch Zeit einzusteigen, denn er war es! Nun ging es quer durch Kansas, einen der größten, aber auch langweiligsten Staaten. Alles Prairie mit Herden; ab und zu eine Holzstadt oder einzelne Farmen. Kein Baum, kein Strauch, wenig Wasser; nur als Weiden zu brauchen. Das „sonnige Kansas“ nennen sie es, und außer der Sonne, die manchmal arg brennt, ist hier nichts zu haben.

Sonntag hatten wir diesen elenden Staat, in dem ich die tötlichste Langeweile ausgestanden, glücklich hinter uns, und fanden uns am Morgen in Trinidad, einem halb spanisch-, halb anglo-amerikanischen Orte Süd-Colorados, am Fuße der Rocky Mountains herrlich gelegen, die hier bis 4000 m aufsteigen. Ich dachte an meine Schiffsbekanntschaft, Herrn Uhlfelder, der hier wohnt, hatte aber keine Zeit ihn aufzusuchen.

Nicht eben erfreulich berührte mich ein Anschlag im Bahnhof folgenden Inhalts: „Gestern sind die Schienen bei Trinidad aufgerissen, sodaß der Zug entgleiste. 2000 Mark Belohnung für Nachweisung der Thäter.“ — Es konnten sowohl Indianer als auch Weiße gewesen sein; letztere, meist verzweifelte Burschen, die sich vor dem Arm der Gerechtigkeit aus den Oststaaten oder aus Europa nach dem einsamen Westen gerettet haben, gelten für raffinierter. Sie überfallen Züge, ermorden die Reisenden und nehmen alles Wertvolle mit; dann verschwinden sie in den Bergen. Der schnell reparierten Bahn vertrauten wir unsere Sicherheit an. Öde und rauh ist das Gebirge, das wir nun hinaufklommen; nur Cedern und Nadelholz, Geröll und Fels. Als wir gerade aus einem langen Tunnel wieder ins Freie kamen, sahen wir seitwärts in der Ferne die in Schnee getauchten Spitzen der Felsengebirge hell glänzen in der Morgensonne. Bei Raton, etwa 7000' hoch, wurde Station gemacht; in Blechkannen brachten Mädchen und Knaben Kaffee in die Wagen, der auch nicht mehr kostete als bei Felsche in Leipzig, wenn er auch nicht so gut war. Daß es an „Lagerbier“ auch hier nicht fehlte, brauche ich nicht zu sagen.

Wir haben die Grenze von Neu-Mexico überschritten und befinden uns im Lande der Azteken. Ein wunderbarer Gegensatz zu dem anglo-kelto-germanischen Nordamerika; Gegensatz in Landschaft und Architektur, in Sprache und Volk und Klima. Es geht auf der Hochebene hin; Steppen mit scharf-geschnittenen, blauen Bergen umkränzt, die Gipfel mit Schnee bedeckt; Cacteen von Manneshöhe bis zu 40' und 50' wachsen auf der unfruchtbaren Ebene. Ab und zu ein paar Prairiehunde, nach denen sich Revolver und Flinten von allen Fenstern des Wagens richten — ich sehe jetzt erst, daß ich der einzige Waffenlose bin. Es ist angenehm warm, aber erträglich, obgleich wir viel südlicher als Neapel sind; das bewirkt die Höhe von 5-6000'. Die ersten beiden Tage strengte das Fahren an; jetzt, am 4. oder 5., bin ich es gewohnt. Die Gesellschaft besteht aus Deutschen, Anglo-Amerikanern, Polen und einem Italiener; es ist ähnlich wie auf dem Schiff, die Gesellschaft bleibt dieselbe, da fast alle nach Californien wollen, und man wird bekannt. Da ist ein armer Tischler aus Bielefeld, der es mit 10 Mark Wochenlohn nicht länger aushält; er will sein Glück in Californien suchen, und wenn er es gefunden, seine Familie aus Deutschland nachkommen lassen; ferner ein junger beklemmerter Restaurateur aus Breslau mit seiner Frau, der weniger aus Not als aus Uebermut erst nach St. Louis gereist ist, dort viel Geld durchgebracht hat, auf die Jagd gegangen und dergleichen Sport getrieben, und nun in S. José nicht weit von San Francisco eine großartige Geflügelzucht anlegen will, die in kurzer Zeit sehr viel einbringen wird. Dann ein Italiener aus Lucca (die meisten Italiener in Nord-Amerika antworten, wenn sie nach ihrer Heimat gefragt werden: Lucca), der sich nur durch meine Vermittlung verständigen kann und froh ist, daß ich ein bischen italienisch mit ihm radebreche. Er hat in den Kohlebergwerken Pennsylvaniens gearbeitet, was ihm begreiflicherweise nicht behagte. Nun will er Cafetiere in San Francisco werden, wo ca. 6000 Italiener wohnen. Ich lehrte ihn etwas Englisch, von dem er bisher nur einige Zahlen und die Münzennamen kannte, wofür er nur bereitwilligst seinen glücklicherweise noch ziemlich neuen Kamm lieh, da mir der meinige abhanden gekommen war. Dann ein paar echte Yankees aus dem Neu-England-Staate Maine, die uns in Deming verließen, um in die Silberbergwerke Neu-Mexicos zu gehen, mit dem frohen Gefühl, nach einer 14tägigen Eisenbahnfahrt immer noch in ihrem Vaterlande zu sein, ein Gefühl, wie es außerdem wohl nur noch dem Chinesen und Russen möglich ist. Auf besonders dazu eingerichteten Herden können die Familien sich Kaffee, Eier und dergl. kochen. Nachts werden die Bänke durch eine einfache Vorrichtung in Lagerstätten (Betten kann man nicht sagen) verwandelt. Ich lege den Kopf auf einen Sack, decke mich mit dem Ueberzieher zu und schlafe Seite an Seite mit meinem Tischler, während der Zug weiterrollt. Das Trinkwasser wird zweimal gewechselt täglich; daß alle sonstigen Bequemlichkeiten auf dem Zuge sind, brauche ich kaum zu erwähnen.

So viele Sprachen wie hier kommen wohl selten zusammen: da heißen drei
Stationen hinter einander: Sulzbacher (deutsch), Las Vegas (spanisch),
Shoemaker (englisch), dazu kommen noch griechische, lateinische,
französische, holländische, mexicanische und indianische Namen.

In Las Vegas — wo übrigens grade die Pocken hausten, woran ich nichts dachte — benutzte ich die zwei Stunden Aufenthalt, um eine Cousine aussuchen, die dort wohnt. Die Stadt ist teils spanisch, teils indianisch und englisch, sehr hübsch gelegen; nicht weit davon das alte Santa Fe.

Ab und zu ein kleiner Ort von Adobe-(Lehm-)hütten, von Indianern und Silbergräbern bewohnt. Dutzende von ersteren kommen an den Zug, fahren auch streckenweise mit, da sie freie Fahrt haben; schwarzes Haar hängt ihnen wirr in die Stirn; ein grobes buntes Tuch und eine Decke verhüllt ein wenig den Körper; bunte Binden auf dem Kopf, Glasperlen um den Hals. Sie bieten selbstgebranntes Geschirr zum Verkauf, und ich erstand ein kleines Thongefäß, welches allerdings von der Kunst des Verfertigers kein glänzendes Zeugnis ablegt. Eine Verständigung ist kaum möglich, da die Leute einen Mischmasch von indianisch, spanisch und englisch radebrechen; man nimmt ihnen weg, was man haben will, und drückt ihnen dafür ein beliebiges Geldstück in die Hand.

Noch schmutziger als die Erwachsenen sind die Kinder, die nackt überall herumlaufen. — Einmal hatten wir Gelegenheit, einen Indianer als Reiter zu bewundern. Wohl fünf Minuten ritt er in gestrecktem Galopp neben dem Zuge her; wir drängten uns auf die Plattform, und laute Hurrahs ertönten dem Braven zur Belohnung, was ihn jedoch nicht zu rühren schien, denn er wandte nicht einmal den Kopf nach uns.

Wir fahren am Rio Grande del Norte entlang, immer nach Süden; der Fluß verdient hier das Beiwort „groß“ noch nicht. Das Land rings herum muß künstlich bewässert werden.

In Deming endigt die Atchison-Topeka- und Santa Fe-Eisenbahn und wir stiegen um, von jetzt ab bis San Francisco die Südliche Pacific-Bahn benutzend. Die beiden Yankees verließen uns, um mit der Post nach den Silbergruben weiter zu fahren; blieben noch der Tischler aus Bielefeld, der Gastwirt nebst Frau und der Italiener als meine engere Gesellschaft. Bei einem biedern Pommern verproviantierten wir uns mit Wurst, Brot, Obst und Californierwein. Viele Kleinhändler sind Deutsche, ebenso sehr viele Gastwirte. Deming liegt auf der Hochebene, im Hintergrund ragt die zur Sierra Madre gehörige Berggruppe Floridas und Tres Hermanas (drei Schwestern) hervor.

Das Terrain senkt sich bedeutend, wir kommen hinab in das fruchtbare Thal des Gila in Arizona, nachdem wir, leider nachts, die Ruinen der Aztekenstadt Casa Grande passiert. Die Vegetation nimmt zu; Palmen, Cacteen, Blumen aller Art. Wir fahren von Deming aus mit einem schnelleren Zug; das Wetter ist herrlich, munter balancieren wir, der Restaurateur, der Cafetiere und ich auf den offenen niedrigen Güterwagen umher, in dem frohen Gefühl, dem goldenen Staat immer näher zu kommen. Mittwoch früh in Yuma, am unteren Coloradofluß gelegen, wo, in Stadt und Umgegend, etwa 10000 Yuma-, Pima- und Apache-Indianer wohnen. Sie sind fast nackt und zum Teil tätowiert; eine Photographie einer Squaw nahm ich zum Andenken mit. Wir überfuhren den Colorado und waren in Californien, dessen südlicher Teil, meist wüst und leer, unsere Stimmung zunächst etwas herabdrückte; den schönsten Gegensatz dazu bildet die Gegend von Los Angeles, wo wir am Donnerstag anlangten. Die zwei Stunden Aufenthalt spazierten wir in Stadt und Umgegend umher, herrlich mit Wein und Orangen bepflanzt; nicht weit vom Stillen Meere, unter dem 34° gelegen, die Heilstätte für die Lungenkranken Amerikas. Noch 48 Stunden fuhren wir, rechts die schneebedeckte Kette der Sierra Nevada und die Bernardino-Berge, Sonnabend früh sahen wir den Golf von San Francisco und fuhren mit dem Dampfer bei strömendem Regen hinüber nach der Stadt des ewigen Frühlings.

FUSSNOTEN:

[8] Vgl. die Anmerkung [2]

XI.

Bordesholm.

Zwischen Hamburg und Kiel, etwa 20 Kilometer von letzterer Stadt, liegt das Kirchdorf Bordesholm, ein gar liebliches Idyll. Von der Bahn ist nichts davon zu sehen; ein halbstündiger Spaziergang führt uns hin. Der glänzende Spiegel eines waldumkränzten Sees taucht auf vor unserem Blick; auf der Nordseite desselben ziehen sich schmucke Häuser herum, auf dem höchsten Punkte der hügeligen Gegend erhebt sich die Kirche. Gärten treten an den See heran, in den einige Badezellen hineingebaut sind. Eigenartige Gebäude neben Bauernhäusern stehen zu beiden Seiten der Dorfstraße, die einen recht behaglichen, wohlhabenden Eindruck macht. In der That wohnen hier Beamte, die man in einem Orte von 500 Einwohnern nicht sucht; Bordesholm ist Sitz eines Landratsamtes, einer Oberförsterei, eines Amtsgerichts; auch eine Gräfin Reventlow aus dem altberühmten schleswig-holsteinischen Geschlechte lebt hier.

Das, was uns eigentlich hergeführt hat — die Klosterkirche — haben wir unter Führung des freundlichen Lehrers und Organisten bald erreicht. Unterwegs auf einem freien Platze zieht eine Linde unsere Aufmerksamkeit auf sich, von einer Größe und einer Regelmäßigkeit, wie sie selten zum zweiten Mal in Deutschland zu finden sein dürfte. Die Aeste sind mit eisernen Stäben und Ketten verbunden, da sie sonst die ungeheuere Last nicht zu tragen vermöchten, sondern zusammenbrechen würden. Das Alter des Riesenbaumes schätzt man auf 800 Jahre. Ab und zu findet wohl eine Festlichkeit der Kieler Studenten unter seinem schattigen Dache statt; allein die ganze Studentenschaft würde doch nicht hinreichen, den Platz unter demselben auszufüllen. An dem Stamme ist eine Tafel mit folgender Inschrift angebracht, die von Professor Jansen in Kiel herrührt:

  „Manches sah dein gewaltiger Dom, hochrauschende Linde,
  Freude hast du und Leid manches Geschlechtes getheilt.
  Größeres schautest du nie als der Holsten Erhebung, als Deutschlands
  Wiedergeburt zum Reich. Künde den Enkeln das Wort!“

März 24. 1873.

Wenige Schritte davon ragt die altehrwürdige Klosterkirche der Augustiner empor. Außen ist es der alte Bau aus dem Mittelalter, epheuumrankt, mit hohen, gothischen Fenstern; ein Backsteinbau, wie hier im Norden üblich. Statt eines Turmes überragt nur ein Dachreiter das Gebäude.

Ursprünglich war das Augustinerkloster zu Neumünster — Niegenmünster, wie eine lateinische Inschrift besagt — gegründet. Allein dort an der Heerstraße, die den jütischen Norden mit Hamburg und Lübeck verbindet, den Angriffen wandernder Heere ausgesetzt, ward es um 1300 in die abgelegene Stille einer Insel im See verlegt, worauf heute noch der Name hindeutet. Denn Bordesholm lag früher im See und wurde allmählich durch starke Dämme auf drei Seiten trocken gelegt. Mit dem Kloster, das übrigens die mönchischen Regeln nicht so genau gehandhabt hat, sondern vorzugsweise Adligen als behaglicher Ruheplatz diente, war eine Gelehrtenschule verbunden. In den Stürmen des 30jährigen Krieges löste sie sich auf und erstand später wieder als Universität in Kiel; wenigstens wurden die Einkünfte des Gymnasiums zur Gründung derselben verwandt. Als daher der Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen in den 80er Jahren zu einer Feierlichkeit der schleswig-holsteinischen „Alma mater“ reiste, hielt er zuvor in Bordesholm an und nahm auf dem Bahnhof (ohne den Ort selbst zu berühren) eine jene alte Verbindung berührende Ansprache entgegen.

Wir treten in das Innere des Gotteshauses, das, 1861 wieder hergestellt, einen höchst erfreulichen Eindruck macht. Die Schnitzereien der Stühle und der Kanzel sind freilich nur teilweise alt und die gute Orgel trägt keinerlei Schmuck; auch fehlt das Brüggemann'sche Altarbild, eine Holzschnitzerei ersten Ranges; es befindet sich jetzt im Dom zu Schleswig. Aber doch mancherlei bietet die Kirche oder vielmehr einige daranstoßende Kapellen; Gräber von Angehörigen des weitverzweigten Hauses Oldenburg, das seinen Ursprung von Wittekind herleitet und das auch die jetzige Kaiserin, die Augustenburgerin, zu den Seinen zählt.

Ein weißer Marmorsarkophag, den vier Löwen bewachen, birgt die Gebeine Karl Friedrichs, Herzogs von Schleswig-Holstein, des Stammvaters des russischen Kaiserhauses. Um diese Verwandtschaft darzulegen, bedarf es einer kurzen geschichtlichen Erörterung für diejenigen Leser, denen die schleswig-holsteinische Spezialgeschichte nicht geläufig ist.

Seit 1460 regierten in Schleswig-Holstein Könige von Dänemark (aus dem Hause Oldenburg), jedoch nicht in ihrer Eigenschaft als Könige, sondern von den Landständen freiwillig zu Herzögen erwählt. In der dritten Generation teilten zwei Brüder (Christian und Adolf) die Herrschaft in den Herzogtümern, von denen der erstere zugleich König und Herzog, der letztere nur Herzog war. Die herzogliche Linie führte den Namen gottorfische nach dem Schlosse Gottorf bei Schleswig, der Residenz der Herzöge. Die beiden Urenkel Adolfs gründeten jeder ein besonderes Haus: Friedrich das ältere (russische), Christian August, Bischof von Lübeck, das jüngere. Friedrich folgte seinem Schwager Karl XII. von Schweden in den nordischen Krieg, fiel aber schon in der Schlacht bei Klissow (1702). Sein Sohn Karl Friedrich[9] heiratete Anna, die Tochter Peters des Großen von Rußland; ihr Sohn Karl Peter Ulrich wurde zum Großfürsten und dereinstigen Nachfolger der Kaiserin Elisabeth ernannt. 1762 bestieg er als Kaiser Peter III. den russischen Thron. Allein wenige Monate darauf wurde er infolge einer Verschwörung, an deren Spitze seine eigene Gemahlin Katharina stand, ermordet. Auch sein Sohn, der Kaiser Paul I., fiel durch Mörderhand (1801). Dessen Ururenkel ist der jetzige Kaiser Nikolaus II.

In einer andern Kapelle ruht in einem mächtigen, grauen Marmorsarkophage Georg Ludwig, der Stifter der großherzoglich-oldenburgischen Linie. Er ist ein Sohn jenes oben erwähnten Gründers der jüngeren gottorfischen Linie und der Stammvater der herzoglich, seit 1829 großherzoglich-oldenburgischen Linie. Ein Bruder Georg Ludwigs, Adolf Friedrich, wurde zum König von Schweden erwählt, seine Nachkommen saßen bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts auf dem schwedischen Thron, Gustav VI. Adolf wurde 1809 entthront und später der französische General Bernadotte zum Könige gewählt. Außer diesen beiden wichtigsten Denkmälern erwähnen wir noch das des Königs Friedrich I. († 1533) und seiner Gemahlin Anna. Die Messingsärge mit den lebensgroßen Figuren des Paares sollen ein Nürnberger Werk sein, vielleicht von Peter Bischer. Zu den Füßen der Dame schmiegt sich ein Hündchen. — Wer suchte wohl in diesem abgeschiedenen, weltfremden Dörfchen Holsteins den Ahnen des Herrschers des ungeheuren Zarenreiches! Schon diese eine Sehenswürdigkeit lohnte einen Besuch Bordesholms reichlich, und doch wird es, von weither wenigstens, so gut wie nicht aufgesucht, ja, ist den meisten nicht einmal dem Namen nach bekannt. Treten wir aus der hohen, dämmrigen Halle ins Freie, so befinden wir uns gegenüber den eigentlichen Klostergebäuden, die jetzt als Wohnungen und Amtsstuben des Landrats und des Oberförsters dienen. Ueber der Thür befindet sich eine Inschrift folgenden Inhalts:

„In dem Augustiner Kloster zu Bordesholm unterzeichneten Herzog
Friedrich I. und König Christian II.[10] 1523 den Bordesholmer Vergleich
und in demselben Hause gab 29. Januar 1864 Feldmarschall Wrangel den
Befehl zum Einmarsch in Schleswig.“

Steigen wir zum Schluß auf den kleinen Glockenturm, so übersehen wir noch einmal das liebliche Idyll, das zugleich so welthistorische Personen in sich gesehen hat und Zeuge so großer Ereignisse gewesen ist. Ein reiches Mönchskloster des Mittelalters, die Grabstätte mächtiger Fürstengeschlechter, der erste Schritt zur Erlösung des meerumschlungenen Landes, die rauschende Linde, unter der in grauer Vorzeit Gericht gehalten wurde — alles das vereinigt das kleine Bordesholm in sich. Alles ist dahin, nur die Natur ist ihm geblieben, die es herrlich umgiebt, und die uns an den Ausspruch des Dichters gemahnt:

„States fall, arts fade, but Nature does not die.“

FUSSNOTEN:

[9] geb. 1700, gest. 1739, begraben in Bordesholm.

[10] König von Dänemark, Schwager Kaiser Karls V., Urheber des berüchtigten Stockholmer Blutbades.

XII.

Auf Seeland.

I.

Zu König Gylfe in Schweden kam einst eine wandernde Sängerin, die ihn durch ihre Lieder entzückte. Der König — so meldet die Sage von der Entstehung der Insel Seeland — verlieh ihr zum Lohne für ihren Gesang so viel Land, als sie mit vier Ochsen auf einmal umpflügen könnte. Wie erschrak er aber, als die Fremde, die niemand anders war, als das Riesenweib Gefion, ein gewaltiges Stück Land aus dem Boden herauspflügte und es von ihren Ochsen ins Meer ziehen ließ, wo es als „Seeland“ stehen blieb. Die Pflugfurche bildete den jetzigen Oeresund, der Schweden von Seeland trennt, während an der Stelle, wo das Land weggepflügt war, ein großer See entstand: der jetzige Wener-See. Noch heutigen Tages lassen seine Uferlinien deutlich die Umrisse der seeländischen Küste erkennen.

Wer möglichst schnell einen großen Teil der Hauptschönheiten der Gefions-Insel kennen lernen will, besteigt einen der bequem eingerichteten Raddampfer, der in dreistündiger Fahrt von Kopenhagen gen Nord bis Helsingör und nach dem gegenüberliegenden schwedischen Helsingborg fährt. Er bleibt der seeländischen Küste immer so nahe, daß man sie deutlich und in aller Muße sehen kann, während die schwedische Küste rechts in blauer Ferne herüberschimmert.

Durch den belebten Hafen hindurch schäumte unser Dampfer „Gylfe“, vorbei an den Anlegeplätzen der Schiffe der verschiedenen Nationen. Rechts blieben der Kriegshafen, das Arsenal und die Werften liegen; an den Mauern der Festung „Tre kroner“ brachen sich die Wellen und spritzten weit hinauf. An der grünen Pracht der Langen Linie ging's hinaus in den breiten Sund, wo hie und da noch vereinzelte Schiffe, namentlich Segler, vor Anker lagen. Von der Stadt sahen wir bald nur noch die Kuppel der Marmorkirche und das große goldene Kreuz der Frauenkirche, das über dem Mastenwald des Hafens noch lange in der Morgensonne leuchtete.

An der seeländischen Küste drängt sich Landhaus an Landhaus, Villa an Villa, bis nach dem berühmten Badeort Klampenborg, dessen Häuser in dem Waldesgrün in langer Reihe sich hinziehen. Noch einladender fast ist das entferntere Skodsborg, welches jetzt mehr in Aufnahme kommt und den Vorteil hat, dem Treiben und Lärmen der Großstadt noch mehr entrückt zu sein. Ein Münchener, der mit uns fuhr, verglich die Ufer mit denen des Starnberger Sees; und in der That haben die waldbekränzten, villenbesetzten Gestade bei Leoni oder Tutzing Aehnlichkeit mit denen Seelands, nur daß hier der Hintergrund, das Hochgebirge, fehlt.

Die Reisegesellschaft bestand meist aus Deutschen, vor denen man in Dänemark ebenso wenig sicher ist, wie in der Schweiz vor Engländern. Hauptsächlich ist Norddeutschland bis Thüringen hinauf vertreten; von den Mundarten hört man am meisten die Berliner. Doch floh ich, wie gewöhnlich in der Fremde, die Landsleute, und suchte mich an Einheimische zu halten. Sie sind meist höflich und geben gern Auskunft, natürlich in deutscher Sprache, welche die einigermaßen Gebildeten verstehen und manchmal sogar fließend sprechen. Die Frauen freilich weniger als die Männer; sie neigen mehr zum Französischen, das vor dem Deutschen und Englischen in den höheren Mädchenschulen betrieben wird.

Eine Kopenhagenerin gesellte sich zu uns und erklärte uns, was wir wußten und nicht wußten. Wir passierten gerade die schwedische Insel Hven, die, kahl und nackt, mit wenigen Einwohnern, mitten im Sunde emporragt. Von unsrer Begleiterin erfuhren wir, daß da einst Tycho de Brahe ein schloßartiges Observatorium gehabt, Uranienborg, von wo er die Sterne beobachtet; jetzt sind nur noch ein paar Mauern vorhanden. Die Frau war eine Kapitänsgattin und hatte als solche freie Fahrt auf allen Schiffen zwischen Kopenhagen und Helsingör, zwischen Malmö und Helsingborg. Das Sommerabonnement auf dieser Strecke kostet sonst 160 Kronen (etwa 180 Mk.); das Abonnement allein zwischen Kopenhagen und Klampenborg kostet 30 Kronen. Auf die Frage, welches Schiff denn ihr Mann führe, erwiderte sie: „Er fährt auf dem größten ‚Creaturschiff‘ zwischen Kopenhagen und England.“ Creatur heißt Vieh; an Viehwagen auf der Eisenbahn sah ich nachher auch das Wort.

Nachdem Klampenborg und Skodsborg vorüber sind, wird die Küste einsamer; anstatt eleganter und bevölkerter Badeorte mit Hotels und Landhäusern sieht man einsame Fischerdörfer, von der Cultur noch wenig beleckt, wo man aber dieselbe große Natur hat, nur etwas billiger.

Die dänische und schwedische Küste nähern sich einander immer mehr; bei Vedbäk ist der Sund nur etwa 7 Kilometer breit. Je mehr wir uns Helsingör nähern, um so schmaler wird er. In der Ferne, bei Helsingör, taucht schon die finstere Kronborg auf mit ihren grauen Türmen und Zinnen, welche die Einfahrt von der Nordsee in die Ostsee drohend bewacht. Sie liegt vorgeschoben auf einer Halbinsel und eignete sich in der That vorzüglich zum Sundwächter. Friedrich II. begann den Bau, Christian IV., der Gegner Tillys im 30jährigen Kriege, vollendete ihn. Von hier aus ließ die dänische Regierung von den durchfahrenden Schiffen den Sundzoll erheben, bis im Jahre 1857 die seefahrenden Nationen zusammentraten und mit 70 Millionen Mark sich der lästigen Abgabe mit einem Male entledigten.

Nach 2-1/2stündiger Fahrt waren wir in Helsingör angekommen; wir sparten uns jedoch die Besichtigung von Kronborg und Marienlyft für später auf und fuhren zunächst nach der schwedischen Stadt Helsingborg hinüber. Viel Sehenswertes bietet sie eben nicht; allein die Ueberfahrt über die engste Stelle des Sundes ist interessant, da man sich gerade auf der Grenzscheide zwischen der ruhigen Ostsee und dem fast immer aufgeregten Kattegat befindet. Das Schiff, welches bis jetzt fast gar nicht geschaukelt hatte, fing an zu schlingern und wurde von den langen, weißen Wogen, die von Norden hereinbrachen, hin und her geworfen. Mancher, der auf der ganzen Fahrt fröhlich und harmlos dreingeschaut hatte, zahlte noch in der letzten halben Stunde den „Sundzoll“, freilich nicht in klingender Münze. Der Blick, der sich in das weite Kattegat eröffnet, prägt sich tief der Erinnerung ein. Wir hatten leider nicht das Glück, daß das Umspringen des Windes mit unsrer Anwesenheit zusammentraf. Dann soll das Treiben im Sunde doppelt großartig sein. Wohl hundert Segelschiffe, die sich nach und nach des widrigen Windes wegen an der Meerenge angesammelt und tagelang, vielleicht wochenlang auf den günstigen Moment gewartet haben, lichten dann zu gleicher Zeit die Anker und eine ganze Flotte setzt sich auf einmal in Bewegung.

Zurück nach der Küste Seelands, nach Kronborg! Was der Kyffhäuser für Deutschland, ist Kronborg für Dänemark. Dort schlief Kaiser Rotbart und trat endlich, nach jahrhundertelangem Harren, hervor, um sein Volk zur alten Herrlichkeit zurückzuführen. Tief unten im Gewölbe der Meerburg schläft der Schutzgeist des dänischen Volkes, Holger Danske, der in Zeiten der Gefahr heraustritt und sein Vaterland beschützt. Auf die Wiederherstellung der ehemaligen Größe und Macht Dänemarks warten die Dänen bis jetzt freilich vergebens.

Hat man die Zugbrücken und Wälle hinter sich, mit denen das Schloß vom
Lande abgesperrt ist, so kommt man auf die Flaggenbatterie, wo der
Danebrog weht: eine weiße Fahne mit rotem Kreuz. Hier drohen die
Mündungen von einem Dutzend Kanonen gegen das Meer hin; hier brechen
sich die blauen Meereswogen; dort die Terrasse, auf welcher der
Geist von Hamlets Vater an den Wachen vorüberschreitet. Bei
Mondscheinbeleuchtung wäre die Illusion vollkommen gewesen; die Wache
war auch jetzt vorhanden, aber der helle Sonnenschein, der auf Meer und
Schloß fiel, ließ keine Gespenster aufkommen.

Das Innere der Kronborg bietet wenig Interessantes. Der Führer zeigt das Zimmer, in welchem die Königin Karoline Mathilde, Gemahlin Christians VII., unerlaubten Umgangs mit Struensee angeklagt, eine Zeit lang gefangen saß, bis sie in die Verbannung nach Celle ging. Von dem flachen Dache des südwestlichen Turmes ist die Aussicht noch umfassender als von der Terrasse.

Ein offener Einspänner führte uns am Meeresstrande hin nach dem 6 Kilometer entfernten Seebade Hellebäk. Diese Tour gehört zu den lohnendsten, die man auf Seeland überhaupt machen kann. Zur Rechten hat man fortwährend die Aussicht auf das bewegte Kattegat und die gegenüberliegende schwedische Küste, auf welcher sich das reizende Lustschloß Sophiero, der Lieblingsaufenthalt des schwedischen Königspaares, von dem dunklen Waldgrunde abhebt. Was aber das Auge des Reisenden wahrhaft überrascht, ist das Kullengebirge, das mit seinen schroffen, unbewaldeten Felsen direkt ins Meer abfällt, von der schäumenden Brandung umbraust. Mit seinen regelmäßigen Formen, seinem Pyramidenaufbau, seiner vegetationslosen Nackheit erinnert es stark an südliche Gebirge; hier im Norden sucht man solche klassischen Konturen nicht.

Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt. Hatten wir uns in Kronborg Hamlets Leben und Thaten in die Erinnerung gerufen, so sollten wir in Marienlyst dafür — sein Grab sehen! Für 65 Oere kann es jeder besichtigen; mit vollem Ernst wird versichert, daß hier und nirgend anders der unglückliche Dänenprinz ruht. Eine Säule bezeichnet die Stätte. Wir schüttelten den Staub von unseren Füßen und suchten schleunigst das Weite, um die feierliche Stimmung, die sich der anwesenden Engländerinnen bemächtigt hatte, nicht durch ein unzeitiges Lachen zu vernichten. So gingen wir zugleich eines Aufenthalts in dem angenehmen Seebade Marienlyst („Marienlust“) verlustig, hatten dafür aber um so mehr Zeit für das Fischerdorf Hellebäk. Ein gutes Hotel mit allem Comfort der Gegenwart deutet darauf hin, daß auch hier die alte einfache Zeit bald verschwunden sein wird. Hellebäk, ein beliebter Aufenthalt der Kopenhagener Maler, liegt hart am Strande in romantischer Gegend und zeigt schon Nordsee-Charakter: Dünen, Sand und starken Wellenschlag. Lange, mit weißen Schaumkronen bedeckte Wogen treiben ununterbrochen dem Ufer zu, wo sie brandend anschlagen und zerschellen. Stundenlang kann man dem ewigen Gesange des Meeres zuhören, der immer derselbe und bei aller Eintönigkeit doch immer neu und süß dem Ohre ist, das ihn versteht. Hier beschlossen wir, wenigstens eine Nacht zu bleiben und die Nordsee auch bei Mondschein zu genießen; denn von morgen ab — das wußten wir — würden wir sie nicht wiedersehen. Im Morgensonnenschein setzten wir unsere Wagenfahrt fort, vom Gestade des Meeres ins Innere der Insel. Fredensborg und Frederiksborg, die beiden inmitten der seeländischen Buchenwälder gelegenen Königsschlösser, waren für heute unser Ziel. Da ich wußte, welche Fülle von Werken der Architektur, Malerei und Bildhauerkunst mir in Frederiksborg beschieden sein würde, so suchte ich mich vorher durch die einfache Stille der ländlichen Natur zu stärken und zu erfrischen.

Die Fahrt durch das nordöstliche Seeland von Hällebek bis Gurre gleicht einer Fahrt durch einen Park: hügelige Gegend, hie und da Wald, Wiesen, Feld und Weideplätze, auf denen sich Kühe und Schafe und selbst Pferde tummeln; hier ein Häuschen, von mächtigen Buchen oder Fichten beschützt, mit einem Vorgärtchen, in welchem Rosen die Hauptzierde bilden, davor spielende Kinder und auf der Schwelle eine klug drein schauende Katze; dort ein Complex von Häusern, eine Art Dorf, aber überall zwischen den einzelnen Gebäuden noch Raum für Gärten, Feld und etwas Wald; denn der Germane liebt es, im Gegensatz zum Kelten, frei, unbehindert, für sich zu wohnen, wie Tacitus erzählt und wie man es in urgermanischen Ländern, Schleswig-Holstein, Westfalen, Dänemark noch jetzt als Regel beobachten kann.

Etwa auf halbem Wege nach Fredensborg, 7 Kilometer von Hellebäk, trafen wir ein größeres Dorf an: es ist Gurre, an einem dunkeln Waldsee gelegen; jetzt ein stiller Ort. Früher lebte hier König Waldemar III. mit seiner Geliebten Tovelille (= kleine Tove) auf einem Schloß, von welchem am Ufer Ruinen zu sehen sind: die Hauptmasse desselben soll aber mitten im See gestanden haben. Der König liebte diese Gegend so, daß er öfters sagte: „Wenn Gott mir Gurre ewig gönnen wollte, so würde ich alle Ansprüche auf sein Himmelreich aufgeben.“ Volkssagen leben noch im Munde der Bewohner von Gurre, wie die folgende: Der König hatte geschworen, seiner Gattin Hedwig nie wieder zu nahen. Ein altes Weib aus dem Walde kam zur Königin und prophezeite ihr, daß, wenn der König sich ihr in Liebe näherte, Schweden an Dänemark kommen solle. Da schlich sich Hedwig, als Tovelille verkleidet, zu Waldemar und gebar nachher Margarete, die Große genannt, welche durch die kalmarische Union die Prophezeiung verwirklichte. —

Um Mitternacht soll der König, dem Rodensteiner gleich, noch oft mit
Gefolge über Wälder und Seen jagen.

Hinter Gurre nahm die Pracht des Waldes uns auf, der fast bis Fredensborg uns umfing. Wie eine Mauer sperrt uns dieser Wald nach allen Seiten ab und läßt keinen Ausweg erblicken. „Dicht über uns“, so schildert ein Reisender eine Wanderung durch den seeländischen Wald, „zwitschert ein einsamer kleiner Vogel, der uns zu verfolgen scheint. Man kann das kleine Geschöpf nicht zu Gesichte bekommen, aber man hört es immer, bald hier, bald dort im Laube uns zu Häupten sich weiter bewegen und wiederholen: Sieh hier! Sieh hier! Weiter fort hört man das zärtliche Gurren einer Waldtaube, und wenn man stehen bleibt und lauscht, so kann man tief drinnen in den Wäldern eine versteckte Quelle plätschern hören. Mitten im Walde trifft man dann einen kleinen träumenden See. Seine Fläche ist glatt wie ein schwarzer Spiegel mit weißen Flecken von den Sonnenstrahlen, welche das ihn bedeckende Blätterdach durchdringen. Die schlanken Stämme, die gekrümmten Zweige, das grüne Blättergewimmel, der Hirsch, der raschelnd daherkommt, um zu trinken — alles spiegelt sich darin mit einer wunderbaren Reinheit und bezaubert durch seine unzerstörbare Ruhe.“

An einen solchen, aber weit größeren See kamen wir jetzt; der Wald hörte auf kurze Zeit auf, und vor uns that sich die weite, glatte Fläche des Esrom-Sees auf. Und dort, nach ein paar Minuten, glänzen die weißen Mauern von Fredensborg, der Sommerresidenz der dänischen Königsfamilie, wo vor einigen Jahren auch der Deutsche Kaiser zu Gaste weilte, und wo der Kaiser von Rußland, der König von Griechenland und andere Verwandte des Dänenkönigs oft und gern in stiller Zurückgezogenheit wohnen.

Welchem Stile das 1720 nach dem dänisch-schwedischen Frieden gebaute Schloß angehört, wäre schwer zu sagen; es ist ein ziemlich einfaches Landhaus mit einer Kuppel in der Mitte und zwei Seitenflügeln. Das Schönste am Schloß ist seine Lage in einem herrlichen Park. Dieser ist ursprünglich ein Stück eingehegten Waldes, mit mächtigen Buchen und Linden, welche Alleen von seltener Pracht bilden. Einige dieser Alleen gehen strahlenförmig vom Schlosse auf den Esrom-See, bis zu welchem sich der Park hinzieht, so daß man von dem Platze vor dem Schloß den See durchblitzen sieht. Eine Allee heißt „Sukkenes-Allee“ (Seufzerweg); in einer anderen, „Normandsdalen“ genannt, stehen 70 lebensgroße Figuren ohne eigentlich künstlerischen Wert, aber insofern von Interesse, als sie die Beschäftigungen und Nationaltrachten der Bewohner der verschiedensten Gegenden Norwegens, Island und der Fär-Oer, also gewissermaßen ein Ethnographisches Museum darstellen. Dicht neben dem Schlosse liegt der „Marmorgarten“, in italienischem Stil, voller Marmorstatuen, den stärksten Gegensatz zu dem freien, nicht künstlich beengten Waldparke bildend.

Das Innere des Schlosses sahen wir nicht, doch erzählte uns der Aufseher, der uns den Marmorgarten aufgeschlossen hatte, daß Kaiser Wilhelm sieben Zimmer bewohnt habe, und zwar ein Kabinet mit vergoldeten Möbeln, bezogen mit rotem Seidendamast, einen Salon mit eingelegten Nußbaummöbeln, enthaltend ein großes Gemälde aus Maria Theresias Zeit; ein türkisch ausgestattetes Vorgemach; ein Schlafzimmer mit weißlackierten, goldverzierten Möbeln, mit grüner Seide bezogen. Die übrigen Zimmer uns aufzuzählen erließen wir dem eifrigen Manne und benutzten die Zeit bis zum Mittagessen, den einsamen Park nach allen Richtungen zu durchstreifen. Besonders lockt der See immer und immer wieder zu sich. Sieben Kilometer lang, bietet er eine imponierende Wasserfläche, und bei dem herrschenden Westwinde schlugen die Wellen brausend an das Ufer.

Am nördlichen Ende liegt das Dorf Esrom, nach dem der See benannt ist, früher ein Bernhardinerkloster, von welchem spärliche Trümmer ausgegraben und erhalten sind. Auf der Westseite wird der See vom „Grib Skov“ begrenzt; das soll der schönste Wald in ganz Dänemark sein; dorthin kamen wir aber nicht.

II.

Den vollsten Gegensatz zu Fredensborg bildet Frederiksborg. Dort alles einfach, idyllisch, ländlich-gemütlich; hier alles prächtig, prunkend, architektonisch bedeutend. Wenn man die 1-1/2 Stunden Wegs zurückgelegt hat, taucht plötzlich aus dem Walde eine majestätische Burg mit Thürmen und Zinnen hoch empor, in dem See sich spiegelnd, in den sie mitten hinein gebaut ist. An dieser Stelle stand früher das Schloß Hillerödsholm (Holm-Insel), welches König Friedrich II. umbauen ließ und nach seinem Namen umtaufte. In diesem Schlosse oder, wie die Chronik sagt, auf freiem Felde in der Nähe desselben, wurde Christian IV. geboren, der eine solche Vorliebe für seine Geburtsstätte faßte, daß er beschloß, an Stelle des einfachen Gebäudes ein prächtige Burg zu errichten. Seine Hofleute verspotteten den großartigen Plan und nannten ihn eine Kinderlaune, Christian führte ihn jedoch mit fremden Baumeistern aus (1620) und ließ, den Spöttern zur Strafe, am Portal Kinderschuhe in Stein gehauen anbringen. Frederiksborg erhebt sich auf drei Inseln in vier Stockwerken, die Souterrains liegen unter dem Wasserspiegel. Es war ein Lieblingsschloß Friedrichs VII., der sich hier mit seiner dritten Gemahlin, der Gräfin Danner, häufig aufhielt. In der Nacht vom 16. zum 17. Dezember 1859 brannte daß Schloß nieder; man muß gestehen, über den dänischen Schlössern waltet ein Unstern! Fast alle Schätze und Kostbarkeiten, die unersetzliche Sammlung von Bildnissen berühmter Männer, alles fiel den Flammen zum Raube. Durch freiwillige Beiträge kam eine so große Summe zusammen, daß man alsbald den Wiederaufbau beginnen konnte, genau nach dem alten Muster. Das Innere ist noch nicht ganz fertig, allein die meisten Säle und Gemächer sind vollendet. Das größte Verdienst bei der Wiederherstellung von Frederiksborg hat sich unstreitig der Kopenhagener Bierbrauer Jacobsen erworben, der bedeutende Summen, einmalige und jährlich fortlaufende, zur Verfügung stellte.

Das Schloß ist nicht bewohnt, sondern dient als dänisches Nationalmuseum, als Ergänzung der kulturhistorischen und ethnographischen Sammlungen Kopenhagens, besonders der Rosenburg. In den beiden oberen Stockwerken sieht man Gemälde aus Dänemarks Geschichte, von verschiedenem künstlerischen Werte, aber historisch alle von Interesse. Da ist ein 6 Meter langes und 3 Meter breites Deckengemälde von Lorenz Fröhlich, die von uns im Anfange erwähnte Sage von dem Riesenweibe Gefion darstellend; ferner eines von Neumann: die Ankunft der holländischen Flotte auf der Reede von Kopenhagen 1658; von Constantin Hansen: Portraitbild des grundgesetzgebenden Reichstages von 1848, und viele andere. Die Decken sind reich geziert mit Stuckatur und einer verschwenderischen Fülle von Gold und Farbenglanz; so besonders die Perle des Ganzen: der große Rittersaal, der alles Aehnliche überbietet. Allein wer die solide Pracht der Wartburgsäle und der Münchener Königsresidenz gesehen hat, der wird sich durch die hinfällige Herrlichkeit des Stuckes nicht befriedigt fühlen und wünschen, daß das von außen wie für die Ewigkeit gebaute Schloß auch im Innern entsprechend geschmückt wäre. Ueberladen! muß man immer wieder ausrufen; Ueberladung ist im ganzen Schlosse der Haupteindruck für den Beschauer. „Bierbrauerkunst“ nannte es ein feinfühlender Mann unwillig, obwohl etwas zu hart. Von dem Vorwurf der Ueberladung kann man auch die Schloßkirche, die wohlweislich, als Krone des Ganzen, zuletzt gezeigt wird, nicht freisprechen. Altar und Kanzel sind aus schwarzem Ebenholz, mit Perlmutter und getriebener Silberarbeit reich geziert. Das Edelste in der Schloßkirche, die übrigens den Bewohnern von Hilleröd als allsonntägliche Andachtsstätte dient, ist sicherlich die Betkammer des Königs, in Ebenholz und Elfenbein gehalten und mit 23 Bildern von Professor Bloch geschmückt, die künstlerischen Wert haben. Sie stellen die ganze Geschichte Christi dar, von Marias Verkündigung bis zur Auferstehung. Als vollendetes Gemälde gilt „Christus in Gethsemane“, 1876 gemalt. Auch diese Bilder sind von Jacobsen gestiftet, der für seine vielfachen Verdienste um die Förderung von Kunst und Wissenschaft bei der 400jährigen Jubelfeier der Universität Kopenhagen zum Doktor ernannt wurde.

Der Küster, der uns herumführte, erklärte uns die vielen, in den Fensternischen hängenden Wappenschilde. Es sind die der Ritter des Elephantenordens und der Großkreuze des Danebrogordens. Unter den letzteren befindet sich auch Name und Wappen Kaiser Wilhelms I., Friedrichs III. als Kronprinzen und Bismarcks. Meine Frage, ob denn Bismarck nicht auch Ritter des Elephantenordens, des höchsten dänischen Ehrenzeichens, sei, verneinte der Küster ironisch lächelnd, indem er hinzufügte, daß das nie geschehen werde; den Danebrog habe er vor 1864 erhalten.

Wenige Reisende, welche Kopenhagen, Fredensborg, Helsingör und andere Punkte Seelands besuchen, nehmen sich Zeit, der kleinen Stadt Roskilde einen Besuch abzustatten. Und doch verdient sie es, denn abgesehen von ihrer großen historischen Vergangenheit und ihrem ehemaligen Glanze, bietet sie noch heute eines, was die Zeit ihr nicht hat nehmen können: den alten, romanischen Dom mit den Königsgräbern. Wie zu Speyer die deutschen Kaiser, zu St. Denis die französischen Könige, so liegen zu Roskilde die dänischen Herrscher mit wenigen Ausnahmen begraben. Darauf bezieht sich die Ode Klopstocks: „Rothschilds Gräber“; Rothschild ist Roskilde, nicht etwa Mayer Anselm in Frankfurt, wie wohl mancher zuerst denken mag. Der Name hat weder mit Roth, noch mit Schild etwas zu thun, sondern ist aus Ro, dem Namen eines alten Königs (auch Hroar geschrieben) und Kilde, d.h. Quelle, gesprochen Kille, zusammengesetzt. Eine Quelle der Gegend trägt noch heute den Namen Ros-Kilde. Eine zweite Quelle heißt Hellig-Kors-Kilde, d.h. Heilige Kreuz-Quelle, und stand lange im Rufe besonderer Heilkraft. Sie entspringt in weißem Sande und giebt 12 Tonnen Wasser die Stunde. Ein Konditor, Pozzi, hat eine Mineralwasserfabrik bei derselben angelegt.

In der Nähe von Roskilde liegt das kleine Dorf Leire, welches die eigentliche Königsresidenz von Dan bis auf Harald Blauzahn war, die Wiege der heidnisch-dänischen Poesie. Hier wohnte Rolf Krake mit seinen zwölf Riesen und Skiold; hier wurden unter offenem Himmel Thinge (Gerichte) gehalten von den freien Bauern und ihrem Könige; hier wurden Fehden geschlichtet, Gesetze gegeben und Wikingerzüge beschlossen; hier walteten Thor und Freia. Die ganze Gegend bei Leire ist reich an kolossalen Grabhügeln aus der Heidenzeit. Ein kleiner Fluß, die Leire-Aa (Aa-Fluß), schlängelt sich durch die Buchenwälder von Leire, in welchen noch heute ein „Hellige Lund“ (heiliger Hain) existiert, mit „Herthadal“ und „Herthasee“. Opfersteine weisen auf den Dienst der Hertha hin, die zu Zeiten aus dem See emporstieg, um in einem mit Kühen bespannten Wagen segnend durch das Land zu fahren. Nachdem sie in dem See gebadet, wurden die Diener, die ihr behilflich gewesen, von der Flut verschlungen.

Im Jahre 980 verlegte Harald Blauzahn die Residenz von Leire nach Roskilde und damit beginnt die 500jährige Blütezeit des Ortes; Roskilde soll 100,000 Einwohner gehabt haben. Von hier aus dehnten Knut der Große, Waldemar und Margarete ihre Herrschaft über den ganzen skandinavischen Norden aus; hier war auch der Sitz des Bischofs, der Mittelpunkt der geistlichen Regierung.

Im Jahre 1438 rief der dänische Reichstag den Sohn des Herzogs Johann von der Oberpfalz, Christopher von Bayern, ins Land, der 1440 auch von den Schweden als König anerkannt wurde. Er verlegte im Jahre 1443 die Residenz nach Kopenhagen, wozu ihn die ungleich günstigere Lage Kopenhagens, direkt an der See, gegenüber Schweden, bewogen haben mochte. Damit war Roskildes Rolle in der Geschichte ausgespielt; es sank schnell von seiner Höhe herab. Heute ist es ein kleines, stilles Städtchen mit 5000-6000 Einwohnern.

Die Lage ist anmutig: an der südlichsten Spitze einer tiefen
Meereseinbuchtung, der Roskilder Föhrde, auf welcher
Dampfschiffverbindung mit Frederikssund und anderen Punkten besteht.
Herrlicher Buchenwald auf Anhöhen und im Thal und Wasser machen auch
hier, wie überall auf Seeland, den Hauptreiz der Landschaft aus.

Der alte lustige „Graver“ (Küster) zeigte uns das Innere des mächtigen, in neuerer Zeit restaurierten Domes. Er ist ein großes Mausoleum: 31 Könige und Königinnen und 46 Prinzen und Prinzessinnen ruhen darin. Jene haben ihre Stätte meist über der Erde, in teilweise prächtig ausgestatteten Kapellen; diese müssen sich mit einfachen, unterirdischen Kammern begnügen, wo die schmucklosen Särge stehen. An jedem Pfeiler ist eine Königsstatue angebracht: den Anfang macht Harald Blauzahn († 985) am nordwestlichen Pfeiler des Chores. Die späteren Könige haben ihre Denkmäler im Chor und in besonderen Anbauten. Hinter dem Altar steht der Sarkophag der gewaltigen Margarete, welche die drei nordischen Reiche beherrschte. Auf dem Marmorsarge liegt die Marmorstatue der Königin, ähnlich den Denkmälern Luisens und Friedrich Wilhelms III. in Charlottenburg. Neben ihr knieen Friedrich II. und Christian III. Die schönste Kapelle ist die Christians IV. mit dem Standbilde des Königs von Thorwaldsen und Frescogemälden von Marstrand. Die letztverstorbenen Glieder des Königshauses, Friedrich VII. und Caroline Amalie, geborene Prinzessin von Augustenburg, sind in der Kapelle Friedrichs V. beigesetzt.

Es ist für den Fremden schwer, sich durch die vielen Friedriche und Christiane durchzufinden, da diese beiden Namen fortwährend wiederkehren. Eine gewisse Erleichterung wird dadurch herbeigeführt, daß sie regelmäßig abwechseln, so daß auf einen Christian ein Friedrich folgt und auf einen Friedrich ein Christian. So wird auf den jetzigen Christian IX. der Kronprinz Friedrich folgen. Auch die Namen von Städten und Schlössern sind so häufig mit diesen Namen zusammengesetzt, daß Verwechslungen leicht vorkommen. Da giebt es Frederiksberg und Frederiksborg, Frederiksdal und Frederikssund, Frederiksvaerk und Frederikshald, Frederiksvand, Frederiksstad, Frederikshavn, Fredericia, und andererseits Kristiansborg, Kristianssund, Kristiansstad, Kristiansand und Kristiania. Auch die vielen Denkmäler in Kopenhagen, die meist Königen mit diesen beiden Namen gelten, sind schwer auseinander zu halten.

Als der Küster, der nur schlechtes Deutsch radebrechte, hörte, daß wir aus Flensburg seien, wurde er noch freundlicher. Man rechnet in Dänemark Flensburg (Flensborg) immer noch halb und halb zum Reiche und betrachtet die armen Flensburger als Märtyrer der guten dänischen Sache, die unter der preußischen Fuchtel seufzen. Bei uns traf das nun freilich gar nicht zu, allein der Küster ließ uns keine Zeit, ihn darüber aufzuklären, sondern winkte uns, indem er sagte: Wenn Sie aus Flensburg sind, dann wird Sie dies hier besonders interessieren. Damit zeigte er uns einen Kranz mit rotweißer Schleife samt Widmung, den vor einigen Jahren eine Schaar Flensburger Jungfrauen hier niedergelegt hatte. Ueberall waren sie freundlich, ja begeistert aufgenommen und bewirtet worden als unterdrückte Landsleute, und die Bande zwischen den dänisch denkenden und fühlenden Nordschleswigern und Dänemark waren dadurch wieder fester geworden. Uebrigens sind die dänisch Gesinnten gerade in der Stadt Flensburg in ganz erheblicher Minderheit; nur ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung bedauert die Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche.

Nachdem wir die Grabkapellen zum größten Teile besichtigt hatten, ließen wir noch einmal das majestätische Domgewölbe und den herrlichen Chor auf uns wirken. Zwanzig starke Pfeiler tragen das Mittelschiff, dessen Gewölbe 25 Meter hoch ist. Die Seitenschiffe haben eine höhe von 12-1/2 Meter. Die Länge der Kirche ist 76 Meter, die Breite 25 Meter. Die beiden Westtürme sind 76 Meter hoch, der dritte Thurm oberhalb des Chores 60 Meter. In dem nördlichen Turm der Façade befindet sich die große Glocke, welche 5-1/2 Meter im Umfange mißt.

Etwas abseits, unter einem einfachen Stein, ruht der Geschichtschreiber Saxo Grammaticus († 1207), der die alten Sagen vom dänischen Tell aufgezeichnet hat.

An der Westseite des Hochthores befindet sich die Alabasterfigur des 1363 gestorbenen 19jährigen Sohnes des Königs Waldemar, des Bruders der berühmten Margarete: er fiel in einer Seeschlacht gegen die Hanseaten. In der Sakristei sind die Portraits vieler Roskilder Bischöfe zu sehen, darunter auch das des 1884 verstorbenen Martensen, der durch seine Werke (Christliche Ethik) auch in Deutschland bekannt geworden ist. Bemerkenswert ist noch das künstliche Uhrwerk, welches aus dem 15. Jahrhundert stammt, das einzige in Dänemark, sowie die spätgothischen Chorstühle mit originellem Holzschnitzwerk, welches Scenen aus dem Alten und Neuen Testament darstellt.

Fährt man mit einem Dampfer den Roskilder Fjord hinauf, so kommt man nach dem Schlosse Jägerpris, wo in idyllischer Abgeschiedenheit König Frederik VII mit seiner Gemahlin, der Gräfin Danner, einer ehemaligen Buchmacherin, die Sommermonate zubrachte. Im Garten des Schlosses ruhen ihre Gebeine, denn als morganatische Gattin konnte sie nicht in dem ehrwürdigen Königsdom zu Roskilde beigesetzt werden.

XIII.

Friedrichsruh[11]

Von Hamburg kommend, zogen wir es vor, statt direkt bis Friedrichsruh zu fahren, schon eine Station vorher auszusteigen und die halbe Stunde zu Fuß nach dem Ziel unserer Reise zu wandern. Wir hatten dadurch den Vorteil, ein gutes Stück des prachtvollen Sachsenwaldes, dessen Mittelpunkt Friedrichsruh ist, kennen zu lernen. Auf gut gepflegten Fußpfaden ging es durch das geheimnisvolle Waldesdunkel; hochragende Buchen, knorrige Eichen wiegen vor, dazwischen mächtige Farrenkräuter, hie und da Heidelbeerkraut. An vielen Bäumen sind Nistkästen für Vögel angebracht. Lautlose Stille; nur ein Bächlein, die Aue, murmelt unten und bildet ein helles, liebliches Wiesenthal, welches zwischen den Baumstämmen hindurchschimmert; wo sich das Wasser in breiteren Becken ansammelt, da ist es von gelben, nickenden Wasserrosen bedeckt, den sogenannten „Mummeln“.

Ab und zu ladet eine Bank zum Sitzen ein; allein wir lassen uns nicht aufhalten, sondern gehen schnell weiter; haben wir doch kein gutes Gewissen, denn an unserem Pfade steht das Wort „Verboten!“, welches hier, in des Fürsten eigenstem Spaziergebiet, öfters wiederkehrt.

Nach etwa 25 Minuten erscheint im Hintergrunde einer Wiese, zwischen einer Lichtung hoher, dunkler Bäume ein helles Gebäude: das Schloß. In welchem Stil es erbaut ist, wäre schwer zu sagen; es ist ein einfaches Privathaus. Wir gehen weiter. Im Walde versteckt liegen hie und da Häuschen, in welchen Beamte des Fürsten wohnen; auch einige Pensionen für Sommerfrischler sind da. Der eigentliche Park, der nicht umfangreich ist, verliert sich fast unmerklich in den Wald, der hier auch einen halb parkartigen Charakter trägt. Nur nach der Eisenbahn- und Landstraßenseite zu sind Schloß und engerer Park mit einer hohen, roten Mauer umgeben, die Staub, Lärm und allzu neugierige Augen abhalten soll. Die Bemerkung in Griebens Reiseführer durch Hamburg und Umgebung, daß „die Wohnung des Fürsten unzugänglich“ sei (S. 130), ist dahin zu berichtigen, daß sich dies auf die Zeit der Anwesenheit Bismarcks beschränkt, und das ist immerhin der kleinere Teil des Jahres. Sonst wäre unser Ausflug vergeblich gewesen. Das war er nun glücklicherweise nicht, denn sobald wir den Schloßverwalter, wenn auch nicht mühelos, aufgetrieben hatten — obgleich er sich meist im Schloß aufhält, hat er seine Wohnung nicht dort — begann die Wanderung durch die 13 ebenerdigen Räume des Schlosses und eingehende Besichtigung derselben. Die Zimmer im ersten und zweiten Stock werden nicht gezeigt; es sind Logierzimmer, für den Fremden nicht sonderlich sehenswert. Auch Crispi wohnte bei seinem vorjährigen Besuche hier.

Die Führung begann. Da wir nur unser zwei waren, so konnten wir uns überall nach Belieben aufhalten und umschauen, und was uns zweifelhaft war, erklärte der Verwalter, ein früherer Schuhmacher, der seit einer langen Reihe von Jahren seine Stelle versieht.

Rechts vom Eingange tritt man durch ein Garderobezimmer in den Empfangssaal. Ein riesiger Eichentisch nimmt die Mitte ein, das Geschenk eines Tischlers. Von den Sprüchen, die denselben zieren, führe ich folgenden an:

  Wenn einer kam und Ränke spann,
  Dann setztest du den Hobel an,
  Dann flogen auch die Spähne gleich;
  Gott schütz' den Kaiser und das Reich!

In der Mitte das Familienwappen mit dem bekannten Wahlspruch:

  Das Wegekraut sollt stehen lan;
  Hüt dich, Jung', sind Nesseln dran!

Ein mächtiger Lorbeerkranz mit schwarzgelber Schleife, von der Göttinger
Universität zum Ministerjubiläum dargebracht; ein aus Schmiedeeisen
äußerst kunstvoll gearbeiteter Blumenstrauß und andere derartige
Erinnerungen ziehen das Auge auf sich.

Es folgt das Rauchzimmer. Bismarcks Porträt, 1877 vom Engländer Heily gemalt, schaut ausdrucksvoll von der Wand herab. Auf dem Kamin ein Modell des Niederwalddenkmals, gegenüber ein Löwe in Bronze, von Braunschweiger Bürgern zum Gedächtnisse Heinrichs des Löwen gewidmet; ein großer, schön geschnitzter Eichenschrank, zur Aufbewahrung von Papieren bestimmt, auch ein Geschenk zum 1. April 1885.

Wir treten in das Treppenhaus, welches mit Hirschgeweihen und
Büffelhörnern geschmückt ist. Da sieht man ein riesiges Geweih aus
Winnipeg, eins aus San Francisco geschickt, einen ganzen Büffelkopf, ein
Elengeweih aus Ostpreußen, Antilopengeweihe u.a. Auf einem Schrank das
Modell eines transatlantischen Dampfers, in Kiel gearbeitet.

Der Speisesaal, einfach wie alle Zimmer ausgestattet, schließt sich an. Einige Landschaften hängen an der Wand: Chiemsee, Königssee, Wildbadgastein, ein Seestück; aber herrlicher als die Gemälde im Saal ist dasjenige, welches sich vor den Fenstern ausbreitet: eine smaragdgrüne Wiese, von der sich schlängelnden Aue durchströmt, eingerahmt von prachtvollen, dichten Eichen und Buchen; ein überaus liebliches, idyllisches Bild, von dem man sich ungern trennt!

Zwei Salons folgen, mit den Bildern der Ahnen der Familie geschmückt, 400 Jahre zurückreichend. Charakteristisch der Urgroßvater des Fürsten, ein Jägersmann mit der Flinte. Von Geschenken, die im ersten Salon Aufstellung gefunden haben, sei besonders erwähnt eine blaue Vase, kurz vor dem Tode Kaiser Wilhelms I. von diesem gespendet. Auf der Vorderseite trägt sie das Bild des Kaisers, auf der Rückseite das kaiserliche Palais in Berlin mit dem berühmten Eckfenster. Hier wie im nächsten Salon Ofenschirme, der eine von der japanischen Gesandtschaft, der andre vom Sultan herrührend. Im zweiten Salon Bismarck als junger Mann; im ersten Augenblick glaubten wir Herbert vor uns zu haben, so groß ist die Aehnlichkeit. Ein Schlachtstück: der Kampf bei Mars-la-Tour, mit den beiden Söhnen des Fürsten mitten im Gefecht. Ueber dem Klaviere Friedrich der Große, daneben friedlich Maria Theresia und Josef II. Hier wie in den meisten Zimmern wiederholt Bilder des Kaisers, bei verschiedenen Gelegenheiten seinem Kanzler gewidmet.

Wir treten in ein Gemach von anmutigerer Ausstattung; es ist das Boudoir der Fürsten. Die Wände sind zwar ebenfalls, wie überall, in Grau gehalten, die Decke in Weiß; allein ein traulicherer, anheimelnder Hauch scheint hier zu wehen. Reizende Defreggersche Skizzen zieren die eine Wand, während an den übrigen besonders die Photographie des Fürsten (als Kürassier) und das Oelbild der Gräfin Rantzau hervorragen. — Durch einen Vorsaal schreitend, in welchem eine russische Schlittendecke, mit dem Wappen Bismarcks und dem lateinischen Wahlspruche: „In trinitate robur“, gelangen wir in das Schlafgemach der Fürstin, mit einem Kruzifix, dem Bilde des Fürsten, sowie einer Ansicht von Friedrichsruh im Winter, durch ein äußerst einfaches Badezimmer vom Schlafgemach des Fürsten getrennt, in welch letzterem die Portraits der Fürstin und des Sohnes Wilhelm.

Hieran stößt das vielleicht interessanteste Zimmer des ganzen Schlosses: Bismarcks Arbeitszimmer. Ueberall bedeutsame Erinnerungen; an den Wänden die drei Kaiser, Kaiser Wilhelm II. auch als Prinz zu Pferde, Kronprinz Rudolf von Oesterreich; auf dem umfangreichen Schreibtisch eine Granate, ein Kohlenblock aus dem Bismarckschacht. Ganz besonders fesselt ein einfaches, unscheinbares Tischchen von Mahagoniholz die Aufmerksamkeit. Auf einer daran befestigten Messingplatte stehen folgende Worte: „Auf diesem Tisch ist der Präliminarfriede zwischen Deutschland und Frankreich am 26. Februar 1871 zu Versailles rue de Provence Nr. 14 unterzeichnet worden.“

Neben dem Arbeitszimmer befindet sich die Bücherei. Sie ist nicht reichhaltig; wenige hundert Bände. Zu wissen, welche Bücher ein großer Mann vorzugsweise zur Hand hat und demnach wohl am meisten benutzt, scheint mir nicht unwichtig. Ich führe deshalb einige Büchertitel an. Voran prangen da die Klassiker; System der erworbenen Rechte von Lassalle, überhaupt eine große Anzahl nationalökonomischer Werke; Stackes deutsche Geschichte, Predigten von Pank, neuere Dichter, darunter Scheffel. Dazu landwirtschaftliche Werke und eine Anzahl Wörterbücher: lateinisch, englisch, schwedisch u.a.

Das prächtigste Zimmer ist das Audienzzimmer. Von berühmten Zeitgenossen sind da vertreten Beaconsfield, Cardinal Hohenlohe, Monsieur Thiers, Moltke (eine Büste mit Lorbeerkranz). Vier Familienbilder hängen zusammen: links Herbert, rechts Wilhelm, in der Mitte unten die Fürstin, darüber die Gräfin Rantzau, letztere in Oel gemalt. Bismarcks Photographie mit der facsimilierten Unterschrift: Wir Deutsche fürchten Gott und sonst niemand; darunter und daneben in gleicher Ausstattung die Photographieen der drei Kaiser und Moltkes mit je einem passenden Ausspruch, wie: „Ich habe keine Zeit müde zu sein,“ „Lerne leiden ohne zu klagen“ und andern. Eine kunstvoll geschnitzte, hölzerne Truhe enthält sämtliche, beim Tode Kaiser Wilhelms I. erschienenen Trauerzeitungen, von einem Patrioten gesammelt. Ein Modell des Denkmals des Großen Kurfürsten; in der Ecke ein Schirmständer aus Hirschgeweihen.

Als letztes Zimmer wurde uns gezeigt das sehr einfache, kleine
Arbeitszimmer des Geheimrats Rottenburg, des Sekretärs des Fürsten.
Außer den Photographieen des Berliner Kongresses und der
Konstantinopeler Botschaftersitzung fällt ins Auge eine Kreidezeichnung
Lenbachs, den Fürsten darstellend. Auch hier, wie so oft im Schlosse,
Hirschgeweih zu Gebrauchsgegenständen verwendet.

Wir waren am Ende unsrer Wanderung durch Schloß Friedrichsruh.

Wir traten hinaus und atmeten die herrliche Luft, die nach dem Regen doppelt würzig schien. Riesige Fichten umrauschen das einsame, schmucklose Haus und schirmen es vor Wind und Wetter; Rosenstöcke sehen in die niedrigen Fenster hinein. Wir gingen rings herum um das Gebäude, von niemand gestört, und stiegen endlich auf den Altan, der eine ähnliche, aber noch freiere Aussicht bietet als das Speisezimmer. Welch lauschiges Plätzchen ist das! Das Summen der Bienen, das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Wasserfalls, den die Aue bildet, sind das einzige Geräusch; hin und wieder donnert ein Eisenbahnzug vorbei, dessen Getöse durch die Mauer und die Bäume abgedämpft wird. Ein wundervoller Regenbogen, in so intensiven Farben, wie er selten zu sehen, spannte sich über die graue Wolkenwand; und ohne abergläubisch zu sein, war ich geneigt, ihn für ein glückliches Zeichen fortdauernden Friedens zu halten. Möchte dieser Glaube nicht trügen!

FUSSNOTEN:

[11] 1869 geschrieben

XIV.

Ein Nachmittag bei den Karthäusern.

Was ist das für ein Gebäude? fragte ich den liebenswürdigen Vikar Z., der mir gegenüber im Coupé saß. Wir hatten eine Tagestour nach der vom Baumeister Fischer herrlich wiederhergestellten Wupperburg gemacht und befanden uns auf der Rückkehr zu den heimischen Penaten in Oberhausen. Der Schnellzug sauste mit uns auf der gradlinigen Strecke Düsseldorf-Duisberg dahin. Zur Linken, vielleicht 1 Kilometer von der Bahn entfernt, erhob sich in freiem Felde, von einer hohen Mauer umgeben, ein gar stattlicher Komplex von Gebäuden mit einer Kirche in der Mitte. Auffallend war mir eine Anzahl gleichmäßig gebauter Häuschen, an denen keine Fenster zu sehen waren.

Das ist das Karthäuserkloster „Hain“; es ist das einzige in Deutschland, erwiderte mein Vikar und gab mir folgende weitere Auskunft: Der Orden ist vom heiligen Bruno von Köln gestiftet, der sich 1084 mit sechs Genossen in der Einöde Chartreuse bei Grenoble dem Einsiedlerleben widmete. Im Oktober werden 800 Jahre seit seinem Tode verflossen sein. Die Karthäuser sind zum strengsten Leben verpflichtet, beobachten strenge Fasten und Schweigen und beschäftigen sich mit Handarbeit. Sie üben Gastfreiheit und Wohlthätigkeit und haben teilweise eine höhere Bildung.

Wenn Sie Lust haben, fuhr der Vikar fort, können wir das Kloster einmal besuchen. Das interessierte mich allerdings sehr und so war die Sache abgemacht. Acht Tage später dampften wir zu dritt mit dem Bummelzuge (Schnellzüge halten nicht auf der Strecke) nach Rath, von wo man noch 1/4 Stunde bis zur Karthause hat.

Bald standen wir vor dem Thore. Ein Fenster öffnete sich, und der Bruder Pförtner fragte nach unserem Begehr. Ohne Umstände wurden wir eingelassen, und sogleich erschien ein Laienbruder in langem weißem Mantel, mit geschorenem Haupt und langem braunem Bart, der uns in freundlichster und gefälligster Weise wohl über eine Stunde lang herumführte.

Zuerst ging's in die Kirche, neu und geschmackvoll eingerichtet, mit Parkettfußboden, an den Wänden Oelgemälde, Heilige darstellend, darunter in erster Linie den heiligen Bruno. Er sitzt an einem Tische und betrachtet gedankenvoll einen Schädel. In dem Augenblick, als wir eintraten, verließ gerade die Brüderschar den Raum, einer leise hinter dem andern herschreitend. Eine andere kleinere Kapelle, an der wir vorbeikamen, war durch Gerüste der eben darin beschäftigten Handwerker versperrt. Behaglich, einfach und vornehm ausgestattet ist der Kapitelsaal, an dessen Wänden sich Bänke herumziehen, auf denen die Brüder bei ihren Beratungen sitzen. Auch ein Speisesaal ist vorhanden: in ihm werden nur an hohen Festtagen die Mahlzeiten eingenommen, während sonst jeder Mönch in seiner Zelle ißt.

Diese Einzelwohnungen der Brüder waren für uns natürlich der interessanteste Teil unseres Rundganges. Eine in Benutzung befindliche Zelle durften wir, der Störung wegen, nicht betreten; allein es stand gerade eine leer, und in diese traten wir nun. Im Erdgeschoß zwei Räume, im ersten Holz und Kohlen, im zweiten eine Drehbank mit einem Schemel davor. Kein Ofen. Als ich meine Verwunderung aussprach, erwiderte lächelnd der Führer: Sie müssen sich eben warm arbeiten. Am Eingang des ersten Raumes ist eine Oeffnung mit Schieber angebracht, wo das Essen hindurch gereicht wird. Wir stiegen eine Treppe hinauf zu dem Wohn- und Schlafzimmer. Das Meublement des Wohnzimmers besteht aus Tisch, Stuhl und Schrank, das des Schlafzimmers aus einem Bett, einer Waschvorrichtung und einem Betstuhl. An der sonst kahlen Wand hängt eine Uhr. Nicht alle haben eine Uhr, die meisten richten sich nach der Glocke. Auch die Tagesordnung hängt an der Wand; sehr lang, sehr streng. Morgens halb 5 Uhr aufstehen; der Tag vergeht zwischen Gebet, körperlicher Arbeit, Betrachtung, Kirchenbesuch, Mahlzeiten. Die Mahlzeiten sind knapp. Fleisch giebt es gar nicht, dagegen Fisch; zahlreiche Fasttage sind eingelegt. Dennoch sehen die Brüder, die wir zu Gesichte bekamen, nicht elend aus. Gleich nach 10 Uhr wird zu Mittag gegessen; gemeinsame Spaziergänge außerhalb der Klostermauern finden häufig statt. Ein Nachmittag der Woche ist zum Sprechen frei gegeben. Zwischen 5 und 6 Uhr wird zu Bett gegangen, gegen 11 Uhr ruft die Glocke zum Aufstehen und Beten; nach kurzer Ruhe findet gemeinsamer Gang zur Kirche statt, wo man wohl bis gegen 2 Uhr nachts bleibt. Dann wird bis halb 5 Uhr wieder das Bett aufgesucht. Man sieht, bequem ist es nicht, Karthäuser zu sein, und 7 Jahre Bedenkzeit haben die Aufzunehmenden. Dann erst, nach dieser langen Selbstprüfung, fällt der Würfel, und nachher giebt es freilich kein „Zurück“ mehr.

Hinter jedem Häuschen ist ein kleiner Garten, in dem der Mönch Obst und Wein und Blumen zieht. Eine hohe Mauer umgiebt ihn, über die kein Blick dringt. Der Garten, den wir sehen, ist verwildert, eben, weil augenblicklich die pflegende Hand fehlt.

Innerlich ergriffen von dem, was wir gesehen, einen nachhaltigen Eindruck mitnehmend, treten wir in den langen, hallenden Kreuzgang zurück, der so schön kühl ist und still, als ob das Kloster unbewohnt wäre. An der Wohnung des Priors kommen wir vorüber, auch an der Bibliothek, in die einzutreten es jedoch erst einer besonderen Erlaubnis bedurft hätte.

Durch ausgedehnte Gärten schreiten wir nun, die alles, was die Brüder zum Leben brauchen, reichlich hervorbringen, und wohl noch mehr. Alles scheint rationell und fachmännisch betrieben zu werden, alles legt Zeugnis ab von vorzüglicher Pflege. Da gedeiht Wein an den Wänden, der voller Trauben hängt, da steht eine Tomatenpflanze neben der andern, einige Früchte schon rot; die Apfel- und Birnbäume beugen sich unter der Last; in einem Glashause hängen durch ein Drahtgitter lange, dicke Gurken; auch Blumen fehlen nicht. Mächtige Bienenhäuser liefern köstlichen Honig; schon 1000 Pfund dieses Jahr hat der Bruder Bienenvater verkauft.

Vor einem Gebäude liegen Fässer; da wird der berühmte Liqueur (Chartreuse) auf Flaschen gefüllt. Man bezieht ihn aus dem Mutterhause (der Chartreuse in den französischen Alpen) lieber in Fässern als in Flaschen, da sich der Zoll etwas niedriger stellt. Das Kilogramm der dazu verwendeten Kräuter soll 200 Franken kosten.

Seltsam mutet der Friedhof an; er weist kein einziges Grab auf. Freilich ist die Karthause erst seit 1890 wieder bewohnt; 1869 gegründet, hat sie während der Jahre 1875-90 geruht.

Wir traten nun in die Werkstätten der Laienbrüder. Ueberall herrschte reges Leben, jeder war bei seinem besonderen Gewerbe thätig. Es sind meist gelernte Handwerker, die sich später zum Klosterleben entschlossen haben. Da war eine Stellmacherei und Schmiede, eine Schuhmacherwerkstatt, eine Weberei. Der Bruder Weber ließ munter sein Schiffchen hin- und herfliegen; in großen Schränken waren die Produkte seiner Thätigkeit aufbewahrt: Tuch, Hemdenzeug, Taschentücher, Läufer für die Kirche u.a.m.; alles derb, dauerhaft, einfach. Ich wollte ein Taschentuch kaufen, doch wurde es schließlich vergessen, da erst höhere Erlaubnis eingeholt werden mußte; ohne solche darf kein Stück aus dem Kloster. In einer größeren Waschküche sahen wir mehrere Brüder ebenso fleißig wie Waschfrauen arbeiten, aber ohne deren Schwatzhaftigkeit. Beim Arbeiten ist es übrigens gestattet, Notwendiges zu besprechen.

Schließlich wurden wir in ein Speisezimmer geführt, das mit den Bildnissen der 12 Apostel geschmückt war. In der Mitte stand ein gedeckter Tisch. Unser Führer forderte uns auf zum Sitzen und verließ uns mit einem kurzen Gruß so schnell, daß wir gar keine Zeit hatten, uns zu bedanken. Wir haben ihn nicht wieder gesehen.

An seiner Statt trat gleich darauf ein anderer Bruder ein, der
Gastbruder, und brachte zwei Flaschen Wein, Weißbrot, Butter und Käse,
alles reichlich und gut, und wollte verschwinden. Wir baten ihn jedoch,
uns statt des Weines Bier zu bringen, was denn auch geschah. Mit großem
Appetit machten wir uns über die Vorräte her und besprachen dabei die
Eindrücke, die wir empfangen hatten. Ich blätterte nebenbei in dem
Fremdenbuche, das zum Einschreiben bereit gelegt war, und las meinen
Gefährten daraus vor.

Da schreibt einer:

  Wo sind Fried und Ruh
  Und Herzensglück zu Hause?
  Ich weiß es genau:
  Hier in der Karthause.
  Ein dankbarer Freund des stillen, lieben Klosters.

Ein anderer:

  Wie schön und erbauend ist es, wo Brüder beisammen wohnen!
  Herzlichen Dank allen Patres und Fratres für liebevolle Gastfreundschaft.

Den Schluß eines längeren Gedichtes bilden die Verse:

  Drum pflege nicht den Leib zu sehr,
  Sonst wird dir einst das Scheiden schwer!
  Hast du die Seele treu gepflegt,
  Du bangst nicht, wenn die Stunde schlägt.

Wir konnten nicht umhin, die beiden ersten dieser Verse uns selber nochmals zuzurufen im Hinblick auf den uns noch bevorstehenden, langen schattenlosen Weg nach Düsseldorf.

Ein Mann, der vermutlich aus Sachsenland stammt, schreibt:

Härzlichen Dank für die gute Bedinung!

Ein echter Dichterfürst thut sich kund in den kurzen aber markigen
Versen:

  Besten Dank
  Für den guten Trank.

Ein Trappist schreibt:

  Gratias intimo ex corde
  Carissimi Confratres Cartusiae
  Oremus pro invicem.

  (Name)
  Trappista.

Sehr anmutend fand ich die Eintragung:

  Die zufriedenen und glücklichen Patres in ihrer einsamen Klause lassen
  mich an die Wahrheit des Spruchs denken:

  Der Adler fliegt allein, der Rabe scharenweise;
  Gesellschaft braucht der Thor, und Einsamkeit der Weise.

(Rüdert.)

Eine enttäuschte Angehörige des schönen Geschlechts, dem der Zutritt verboten ist, schreibt:

  Leider hab' ich nichts gesehen,
  Doch braucht ich nicht unbewirtet nach Hause zu gehen.

Frau X.

Endlich noch zwei lateinische Sprüche:

  Cartusis clara
  Eras mihi praeclara
  Eris mihi cara!

und

  O beata solitudo,
  O sola beatitudo!

Eigentümlich bewegt verließen wir die Karthause. Der Pförtner grüßte freundlich, das Thor fiel hinter uns zu; wir waren wieder draußen im heißen Sonnenschein. Ein Eichenwald, noch ganz jung, ist rings außerhalb der Klostermauern angepflanzt. Die Stämmchen sind kaum mannshoch. Ich mußte an die Zeit denken, wo einst das Kloster ganz im Grün versunken sein und nur der verhaltene Klang der Glocke dem vorüberziehenden Wanderer verkündigen wird, daß dort die Karthause träumt — —

XV.

Eisenberg.[12]

Wer Thüringen als Tourist bereist, begnügt sich gewöhnlich mit Glanzpunkten wie Schwarzburg, Elgersburg, Friedrichsrode, Eisenach. Aber auch diejenigen, welche nicht blos die breitgetretenen Pfade zu pilgern pflegen, werden Eisenberg kaum berühren. Die meisten, wenn sie aufrichtig sind, werden sogar bekennen, daß sie kaum davon gehört haben. Um von mir selber zu reden, so hörte ich den Namen zuerst in Jena, wo ich vor einer Reihe von Jahren studierte, und welches etwa drei Stunden von Eisenberg entfernt liegt. Eine Bahnverbindung zwischen beiden Städten besteht nicht. Dagegen führt von der Hauptlinie, der im Elsterthal sich hinziehenden Leipzig-Geraer Eisenbahn, eine 9 Klm. lange Zweigbahn das Thal hinauf nach Eisenberg. Die Bahn steigt stark, denn Eisenberg liegt etwa 300 Mtr. hoch. Verschiedene hübsch gelegene Dörfer, wie Hartmannsdorf, Rauda, Kursdorf werden passiert; plötzlich erscheint auf hohem Bergkegel gelegen ein Teil des Städtchens, eine Anzahl villenartiger Gebäude, das Gymnasium und das Schloß. Ueberall begrenzen höhere Berge den Blick; Gärten umschließen die Häuser; rechts am Abhange dehnt sich der sogenannte „Nasse Wald“ mit vielen Promenaden aus. Vom höchsten Punkte desselben übersieht man mehr von der Stadt als wir, die wir unten mit der Bahn angekommen sind; sie erstreckt sich lang über den Bergrücken, der in die Hochebene übergeht. Eisenbergs Glanzpunkt ist das Schloß mit seiner Umgebung. Das Innere bietet außer der prächtigen, in etwas überladenem Rokoko gebauten Kapelle nichts Besonderes. Seine Gründung fällt in sagenhaftes Dunkel, jedenfalls war es 1215 schon bewohnt. Im letzten Viertel des 17. Jahrhundert diente das Schloß dem ersten und zugleich letzten Herzog zu Sachsen-Eisenberg als Residenz. Am 7. März 1677 zog Christian in das Schloß ein, das ihm nebst dem Fürstentum in der Erbteilung seines Vaters, des bekannten Ernst des Frommen von Sachsen-Gotha, zugefallen war. Er nannte das Schloß „Christiansburg.“ Seine Hauptbeschäftigung bildete die Alchimie, und er ließ sich ein Laboratorium in dem hübschen, von ihm angelegten Schloßgarten bauen, von dem nur noch ein Stück Mauer steht, von den älteren Einwohnern der Stadt „'s Läbbetoorchen“ genannt. Bei den deutschen und englischen Alchimisten war er unter dem Namen „Theophilus-Abt zu den heiligen Jungfern zu Lausnitz“ bekannt. In einem ausführlichen Tagebuche soll er seiner Begegnungen mit Geistern und Verdorbenen gedacht haben. Er errichtete 1698 die erste Postverbindung mit den Nachbarstädten Zeitz, Jena und Gera. Sein Hauptverdienst war jedoch die Gründung des Lyceums, späteren Gymnasiums, das der Stadt ihr Gepräge aufdrückte. Was für Jena die Universität, ist für Eisenberg in der That das Gymnasium. Der Herzog war zweimal vermählt; seine einzige Tochter aus erster Ehe, Christiane, heiratete einen Herzog von Holstein-Glücksburg. Im Jahre 1707 starb Herzog Christian, und mit ihm war die Selbständigkeit Eisenbergs vorbei. Es fiel an andere Thüringische Staaten und gehört jetzt zu Altenburg, von dessen getrennt liegendem Westkreise es die Hauptstadt ist. Der Herzog von Altenburg bewohnt das Schloß im Sommer zeitweise, ebenso wie andere Mitglieder des Hauses.

Bei Gelegenheit der 200jährigen Jubelfeier der Gründung des Christiansgymnasiums 1888 wurde beschlossen, dem Stifter desselben ein Denkmal zu setzen. Eines solchen erfreut sich bereits der Philosoph Krause, der aus Eisenberg stammt und dessen System, an Kant anschließend, besonders in Belgien und Spanien Anhänger gefunden hat. Der sehr unpraktische Mann ist, nachdem er in München vergeblich seine Existenz zu begründen versuchte, im Elend gestorben.

Der Schloßgarten hat bedeutenden Rosenflor und einen schönen Laubgang und bietet infolge seiner hohen Lage malerische Blicke in das sogenannte „Thälchen.“

Eisenberg liegt etwa in der Mitte zwischen Elsterthal und Saalthal. Von zwei Seiten umgeben ziemlich tiefe Thäler die Stadt; auf der dritten (West)-Seite hängt sie mit der Hochfläche zusammen. So liegt sie gewissermaßen auf einer Landzunge, einem vorspringenden Riff; man will Aehnlichkeit mit der Lage von Jerusalem finden. Die Umgebung von Eisenberg ist überreich an anziehenden Punkten. Ueberall Wald, meist aus prächtigen Rottannen bestehend. Der beliebteste Ausflugspunkt ist das Mühlthal, etwa eine halbe Stunde entfernt. Man geht über eine kahle Hochebene; plötzlich öffnet sich zu Füßen ein idyllisches Thal, durchflossen von einem klaren Bach; in der Thalsohle frischgrüne Wiesen und wenigstens ein halbes Dutzend Wassermühlen. Einige von diesen nehmen auch Fremde zur Sommerfrische auf, so besonders die Walkmühle. Am oberen Ende des etwa 2 Stunden langen Thales liegt auf der Lichtung ein größeres Dorf, Kloster-Lausnitz, mit einer restaurierten romanischen Kirche von wundervollen Verhältnissen. Nach der Richtung von Jena zu gelangt man in einer Stunde nach Hahnspitz, an einem kleinen See gelegen und an den Wald gelehnt. Noch eine gute Stunde weiter liegt Bürgel, bekannt durch Töpferfabrikation, und in der Nähe Thalbürgel, mit den Ruinen einer ungeheuren romanischen Kirche, eines Domes, in den hinein eine bescheidene Dorfkirche gebaut ist. Mitten im Buchenwalde, von Eisenberg etwa zwei Stunden, liegt Waldeck. Hier brachte Goethe einige Tage um die Weihnachtszeit 1785 zu; vom Rektor zu Bürgel borgte er sich den Homer und las hier in der Weltabgeschiedenheit wieder von dem Dulder Odysseus. Dabei dichtete er „die Geschwister“, in denen er sich sein Verhältnis zu Frau von Stein vom Herzen zu schreiben suchte; freilich vergebens. Noch manche reizende Partien, von Natur und Geschichte begünstigt, lassen sich von Eisenberg aus leicht erreichen. Allein das Angedeutete mag genügen, um die Aufmerksamkeit auf diesen östlichen Winkel des schönen Thüringerlandes zu lenken.

FUSSNOTEN:

[12] Verfasser wohnte 1884-1888 in Eisenberg

XVI.

Das Goetheviertel in Frankfurt.[13]

Im Gegensatze zu der Einteilung in so und so viele Polizeibezirke habe ich für meine Privatzwecke Frankfurt a.M. immer in drei Stadtteile eingeteilt: das Kaiserviertel, das Goetheviertel und das unhistorische Viertel. Das Kaiserviertel nimmt die Gegend am Dom und am Römerberg ein. Mit Ehrfurcht betritt der nicht alles historischen Sinnes Bare diese Straßen und Plätze, die von ihrem alten Gepräge wenig verloren haben. Da ist der alte, gotische Kaiserdom mit seiner mächtigen Turmpyramide, wo die Kaiser gekrönt wurden; da ist das Grab Kaiser Günthers, der in Frankfurt starb; da ist das Wahlzimmer, in welchen die Kurfürsten ihr Amt ausübten. Durch eine ziemlich schmale Straße (den „Markt“) ging der Krönungszug dann nach dem altertümlichen Rathause, „Römer“ genannt, in dessen gewölbtem Saale das Festessen stattfand, während draußen, auf dem Römerberg, das Volk sich erlustigte, der Ochse am Spieße gebraten wurde und aus einem doppelarmigen Brunnen roter und weißer Wein floß.

Ueber den Paulsplatz schreitend, gelangen wir in die Barfüßergasse und sind im Goetheviertel. Es erstreckt sich über den Kornmarkt, den großen Hirschgraben, den Goetheplatz, Roßmarkt, bis zum Weidenhof auf der Zeil. Gesondert davon liegen im Nordosten der Stadt, teils sogar in die Außenstadtteile reichend, noch drei Goetheerinnerungen.

Was soll ich endlich von dem unhistorischen Viertel sagen? Es stammt aus dem letzten Jahrhundert, umzieht die innere Stadt in großem Halbkreise und enthält die komfortabelsten Häuser und Villen, in denen die Herren Müller und Schultze, Schmidt, Fischer, Oppenheimer und wie sie alle heißen, wohnen. Das Opernhaus und der Palmengarten, der Hauptbahnhof und der Zoologische Garten, die prächtigen Schulpaläste, an denen Frankfurt so reich ist — alles das und noch vieles andere ist in dem unhistorischen Viertel zu finden, nur keine Erinnerungen, große, schöne, anmutende Erinnerungen. Wer die sucht, der kehre schleunigst mit mir um in die enge und hochgiebelige Innenstadt, in das am meisten lohnende, den sinnigen Beschauer immer und immer wieder fesselnde Goetheviertel.

Nicht nur den geistigen, sondern auch den räumlichen Mittelpunkt bildet Goethes Vaterhaus, am großen Hirschgraben 23 gelegen. Es ist ein dreistöckiges Giebelhaus mit sieben Fenstern Front; ein geräumiges, bequemes Patrizierhaus, von der Familie Goethe meist allein bewohnt. Es bestand ursprünglich aus zwei Häusern, die miteinander verbunden wurden. Der letzte Umbau geschah im Jahre 1755 durch Goethes Vater, den Kaiserl. Rat Dr. Johann Kaspar Goethe. Den Grundstein legte der kleine, damals sechsjährige Wolfgang. Das Haus, wie wir es jetzt sehen, ist im wesentlichen unverändert geblieben. Ueber der Thür ist eine Marmortafel angebracht mit des Dichters Namen, Geburtstag usw., darunter ist das Wappen, drei schwer erkennbare Leiern enthaltend, welches schon vor des Dichters Geburt gewissermaßen prophetisch auf den Beruf desselben hinwies. Darunter die nüchterne Inschrift: „Goethes Vaterhaus, Eintrittspreis 1 Mark. Von 1 bis 3 geschlossen.“

Das Goethehaus ist Eigentum des 1859 gegründeten „Freien Deutschen Hochstifts“, einer wissenschaftlichen und künstlerischen Gesellschaft, die ihre Mitglieder in allen Städten Deutschlands, ja bis in die entfernteren Weltgegenden hat, namentlich aber in Frankfurt selbst. Sie veranstaltet im Winter Vorträge von Frankfurter und auswärtigen Gelehrten und arbeitet außerdem in Fachabteilungen, deren eine alt- und neu-philologische, eine juristische, eine staatswissenschaftliche, eine deutsche (unter dem Vorsitz Wilhelm Jordans, der sich um die Neugestaltung des Hochstifts anfangs der achtziger Jahre verdient gemacht hat), eine kunstwissenschaftliche, eine mathematisch-naturwissenschaftliche bestehen. Die Berichte dieser Sektionen erscheinen jährlich in mehreren Heften. Das Hochstift, welches durch Legat in den Besitz eines beträchtlichen Vermögens kam, läßt sich zugleich die Instandhaltung des Goethehauses und möglichst getreue Wiederherstellung aller einzelnen Teile angelegen sein.

Treten wir ein, so finden wir im Erdgeschoß rechts ein Verwaltungszwecken dienendes Zimmer, in welchem der Kassierer sich aufhält, von dem wir unsere Karte beziehen. Er sagt uns auf unsere Erkundigung, daß jährlich etwa 7000 Karten ausgegeben werden. Sind wir zufällig Mitglieder des Hochstifts, so haben wir nebst unseren Angehörigen freien Eintritt.

Das Zimmer linker Hand dient den Hochstiftsmitgliedern als Lesezimmer; etwa 120 Zeitschriften aus allen Wissenschaften sowie Unterhaltungsblätter liegen aus. Zu Goethes Zeit diente es als Eßzimmer. Hinter dem mächtigen Ofen, der aus dem Anfange des 18. Jahrhunderts herrührt, spielte sich jene ergötzliche Scene ab, die Goethe am Schluß des zweiten Buches seiner Lebensbeschreibung so anmutig erzählt. Da Goethes Vater einen Widerwillen gegen Klopstocks Messias hatte, dessen Verse ihm, da sie nicht gereimt seien, keine Verse schienen, so wußten sich die Kinder — Wolfgang und Cornelia — das Buch heimlich zu verschaffen und zu lesen. „Es war an einem Sonnabend Abend im Winter — der Vater ließ sich immer bei Licht rasieren, um Sonntags früh sich zur Kirche bequemlich anziehen zu können-, wir saßen auf einem Schemel hinter dem Ofen und murmelten, während der Barbier einseifte, unsere herkömmlichen Flüche ziemlich leise. Nun hatte aber Adramelech den Satan mit eisernen Händen zu fassen, meine Schwester packte mich gewaltig an und rezitierte, zwar leise genug, aber doch mit steigender Leidenschaft:

  Hilf mir! Ich flehe dich an, ich bete, wenn du es forderst
  Ungeheuer, dich an! Verworfner schwarzer Verbrecher.
  Hilf mir! Ich leide die Pein des rächenden, ewigen Todes!
  Vormals konnt' ich mit heißem, mit grimmigem Hasse dich hassen!

Bisher war alles leidlich gegangen, aber laut, mit fürchterlicher
Stimme, rief sie die folgenden Worte: „O, ich bin wie zermalmt!“

Der gute Chirurgus erschrak und goß dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen großen Aufstand und eine strenge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des Unglücks, das hätte entstehen können, wenn man schon im Rasieren begriffen gewesen wäre. Um allen Verdacht des Mutwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unsern teuflischen Rollen, und das Unglück, das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als daß man sie nicht aufs neue hätte verrufen und verbannen sollen.“

Im ersten Stockwerk, zu dem eine breite und bequeme Treppe mit Eisengeländer führt, liegt das Staatszimmer des Hauses, in welchem der Königsleutnant über ein Jahr lang einquartiert war und in welchem die Sitzungen der meisten wissenschaftlichen Sektionen des Hochstifts abgehalten werden. Links daneben das Zimmer Karl Augusts, rechts das des Bedienten des Grafen Thorane[14], Jean, jetzt zur Aufbewahrung des Goetheschatzes verwandt. Dies ist eine Sammlung aller Schriften von und über Goethe, die fortwährend ergänzt wird. Wie wenig sie dem Ideal einiger Vollständigkeit nahe ist, geht aus der Thatsache hervor, daß allein Engels Verzeichnis der Faustschriften etwa 3000 Nummern umfaßt.

Im zweiten Stockwerk liegt in der Mitte das Gemäldezimmer, links des alten Rats Arbeitszimmer nebst Bücherei, rechts Frau Goethes Zimmer, dahinter das sog. Geburtszimmer Wolfgangs. Die Nummer des Frankfurter Intelligenzblattes, in welcher die Geburt angezeigt wird, hängt unter Glas und Rahmen aus. Die Anzeige lautet buchstäblich: „Getauffte hierüben[15] in Frankfurt, Freytags den 29. dito (=August) S.T. Hr. Johann Caspar Göthe, Ihro Rom. Kayserl. Majestät würcklicher Rat: einen Sohn, Johann Wolffgang.“

Im dritten Stock endlich Wohn- und Schlafzimmer Wolfgangs und seines Hauslehrers. Es würde zu weit führen, alle Sehenswürdigkeiten aufzuzählen, die das Goethehaus birgt; ich greife aufs Geratewohl einige heraus.

Eine mit perlgesticktem Einbande versehene Originalausgabe von Hermann und Dorothea (1798 Berlin, Bieweg), ein Geschenk Goethes an seine Mutter; die Handschrift zu Wilhelm Meister, nicht von Goethes Hand, aber mit seinen Verbesserungen. Das Puppentheater, welches die Großmutter den Kindern schenkte und welches Wolfgang so sehr ergötzte, daß er es zweimal beschreibt, einmal kurz in Dichtung und Wahrheit und ausführlicher im Wilhelm Meister. Die sehr seltene Gießener Doktordissertation des alten Goethe „Electa de aditiore heroditatis“, die riesige Laterne, welche der Frau Rat bei ihren abendlichen Heimgängen aus Gesellschaften vom Bedienten vorgetragen wurde, sowie eine große Menge von Briefen, Bildern, Andenken und Reliquien, auf Goethe und seine Familie bezüglich.

Ueber das „Gartenzimmer“, welches jetzt verschwunden ist und dem
Hausflur Platz gemacht hat, möchte ich eine bezeichnende Stelle aus
Goethes Autobiographie dem Leser ins Gedächtnis zurückrufen. Sie steht
im ersten Buche und lautet:

„Im zweiten Stock befand sich ein Zimmer, welches man das Gartenzimmer nannte, weil man sich daselbst durch wenige Gewächse vor dem Fenster den Mangel eines Gartens zu ersetzen gesucht hatte. Dort war, wie ich heranwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsüchtiger Aufenthalt. Ueber jene Gärten hinaus, über Stadtmauern und Wälle sah man in eine schöne, fruchtbare Ebene; es ist die, welche sich nach Höchst hinzieht. Dort lernte ich Sommerszeit gewöhnlich meine Lektionen, wartete die Gewitter ab und konnte mich an der untergehenden Sonne, gegen welche die Fenster gerade gerichtet waren, nicht satt genug sehen. Da ich aber zu gleicher Zeit die Nachbarn in ihren Gärten wandeln und ihre Blumen besorgen, die Kinder spielen, die Gesellschaften sich ergötzen sah, die Kegelkugel rollen und die Kegel fallen hörte, so erregte dies frühzeitig in mir ein Gefühl der Einsamkeit und einer daraus entspringenden Sehnsucht, das, dem von der Natur in mich gelegten Ernsten und Ahnungsvollen entsprechend, seinen Einfluß gar bald und in der Folge noch deutlicher zeigte.“

Ein Garten gehörte also nicht zum Hause, und der Hof ist auch nur eng
und klein. An dem Brunnen, der mit einem Löwenkopf verziert ist, hat die
Königin Luise als Kind gespielt bei ihrer zeitweiligen Anwesenheit in
Frankfurt.

Pilgern wir weiter durch das Goetheviertel. Da steht auf dem baumbepflanzten Goetheplatz (früher „Stadtallee“) die Kolossalfigur des Dichters, von Schwanthaler modelliert, in Erz gegossen, mit dem Antlitz seiner Geburtsstätte zugewendet, dem Schauspielhause aber den Rücken kehrend. An einen mit Epheu bewachsenen Eichenstamm lehnt die mächtige Gestalt, in der einen Hand einen Lorbeerkranz haltend. Der Sockel ist mit Darstellungen aus Goethes Werken geschmückt. Tasso und Faust, Iphigenie und Thoas, Hermann und Dorothea, Götz und Egmont, Mignon und der Harfner, der Erlkönig und die Braut von Korinth — alle diese wohlbekannten Gestalten treten uns da entgegen; in einem Winkel Werthers Sarg, vorne die Embleme der Naturwissenschaft und der Altertumskunde, sowie der tragischen und der lyrischen Poesie, hinten die kranzspendende Victoria.

Am Roßmarkte, der Fortsetzung des Goetheplatzes, erhebt sich neben dem imposanten Gebäude der „Germania“ ein anderer prächtiger Neubau, der auf roter Marmortafel noch den Namen des alten Hauses trägt: „Zum goldenen Brunnen“. In diesem Hause wohnte die Frau Rat in ihren letzten Lebensjahren, hier empfing sie jene Einladung zur Gesellschaft, die sie mit den bekannten drastischen Worten ablehnte: „Die Frau Rätin könne nicht kommen, sie müsse alleweile sterben.“

Wenige Schritte weiter, über den Schillerplatz fort, an der Zeil, steht der „Weidenhof“, ein großes, von verschiedenen Geschäften eingenommenes Haus, darunter auch der Damenkonfektion von einem Herrn Schiller. An dieser Stelle stand der Gasthof „Zum Weidenhof“, der Frau Witwe Schellhorn gehörig, um deren Hand der aus Artern im Mansfeldischen nach Frankfurt gewanderte Schneidergeselle Friedrich Goethe[16] anhielt, und mit der noch jungen Witwe das Besitztum erheiratete. Das Schneiderhandwerk gab er auf und wurde Wirt; seinen Sohn Johann Caspar ließ er studieren und es wurde aus ihm der Dr. jur. und kaiserl. Rat, von Karl VII. zu dieser Würde erhoben. Unser Goethe scheint seinen Großvater väterlicherseits nicht gekannt zu haben, wenigstens erwähnt er ihn kaum.

Die letzte, aber nicht die unwichtigste Goetheerinnerung in diesem reichen Viertel findet sich in der Gegend, wo Barfüßergasse und Kornmarkt zusammentreffen.

Dort lag das Barfüßergymnasium, dessen Direktor, der Dr. Albrecht, Goethes Lehrer im Hebräischen war. Mit seinen Eltern hatte ihn der kleine Wolfgang besucht, und die langen, dunklen Gänge, die in Visitenzimmer verwandelten Kapellen, das unterbrochene treppen- und winkelhafte Lokal mit schaurigem Behagen durchstrichen, wie er im vierten Buche von Dichtung und Wahrheit umständlich auseinandersetzt. Den Rektor Albrecht beschreibt Goethe als „eine der originellsten Figuren von der Welt, klein, nicht dick, aber breit, unförmlich, ohne verwachsen zu sein, kurz, ein Aesop mit Chorrock und Perücke. Sein über siebenzigjähriges Gesicht war durchaus zu einem sarkastischen Lächeln verzogen, wobei seine Augen immer groß blieben und, obgleich rot, doch immer leuchtend und geistreich waren“. Der satirische Lucian war fast der einzige Schriftsteller, den er las und schätzte, und alles, was er sagte und schrieb, würzte er mit beißenden Ingredienzien.

Diesen seltsamen Mann, berichtet Goethe, fand ich mild und willig, als ich anfing, meine Stunden bei ihm zu nehmen. Ich ging nun täglich abends um 6 Uhr zu ihm und fühlte immer ein heimliches Behagen, wenn sich die Klingelthür hinter mir schloß und ich nun den langen, düstern Klostergang durchzuwandeln hatte. Wir saßen in seiner Bibliothek an einem mit Wachstuch beschlagenen Tisch, ein sehr durchlesener Lucian kam nie von seiner Seite.

In diesem Hause empfing Goethe auch seine erste Auszeichnung. „Eines Tages, bei der Translokation nach öffentlichem Examen, sah er mich als einen auswärtigen Zuschauer, während er die silbernen praemia virtutis et diligentiae austeilte, nicht weit von seinem Katheder stehen. Ich mochte gar sehnlich nach dem Beutelchen blicken, aus welchem er die Schaumünzen hervorzog; er winkte mir, trat eine Stufe herunter und reichte mir einen solchen Silberling. Meine Freude war groß, obgleich andere diese einem Nichtschulknaben gewährte Gabe außer aller Ordnung fanden.“

Noch lieber als der Knabe zum Rektor Albrecht, ging der Jüngling später in das Haus auf dem Kornmarkte Nr. 15. Hier wohnte Elisabeth Schönemann, die Tochter eines reichen, 1763 verstorbenen Bankiers mit ihrer Mutter zusammen, — Goethes Braut, dasjenige Mädchen, welches er nach seinem eigenen Geständnis Eckermann gegenüber am innigsten geliebt hat. Die erste Bekanntschaft erfolgte auf folgende Weise:[17]

„— es ersuchte mich ein Freund eines Abends, mit ihm ein kleines Konzert zu besuchen, welches in einem angesehenen reformierten[18] Handelshause gegeben wurde. Es war schon spät, doch weil ich alles aus dem Stegreife liebte, folgte ich ihm, wie gewöhnlich anständig angezogen. Wir traten in ein Zimmer gleicher Erde, in das eigentliche, geräumige Wohnzimmer. Die Gesellschaft war zahlreich; ein Flügel stand in der Mitte, an dem sich sogleich die einzige Tochter des Hauses niedersetzte und mit bedeutender Fertigkeit und Anmut spielte. Ich stand am unteren Ende des Flügels, um ihre Gestalt und Wesen nahe genug bemerken zu können; sie hatte etwas Kindartiges in ihrem Betragen; die Bewegungen, wozu das Spiel sie nötigte, waren ungezwungen und leicht.

Nach geendigter Sonate trat sie ans Ende des Pianos mir gegenüber; wir begrüßten uns ohne weitere Rede, denn ein Quartett war schon angegangen. Am Schlusse trat ich etwas näher und sagte einiges Verbindliche, wie sehr es mich freue, daß die erste Bekanntschaft mich auch zugleich mit ihrem Talent bekannt gemacht habe. — Ich will nicht leugnen, daß ich eine Anziehungskraft von der sanftesten Art zu empfinden glaubte. — Ich verfehlte nicht, nach schicklichen Pausen meinen Besuch zu wiederholen. —

(17. Buch.) — Ein wechselseitiges Bedürfnis, eine Gewohnheit, sich zu sehen, trat nun ein; wie hätt' ich aber manchen Tag, manchen Abend bis in die Nacht hinein entbehren müssen, wenn ich mich nicht hätte entschließen können, sie in ihren Zirkeln zu sehen! —“

Wie das Verhältnis endigte, ist bekannt; die Verlobung wurde auf Betreiben der Verwandten der Braut gelöst, die den jungen Goethe für keine sichere Partie hielten. Lili heiratete später Herrn v. Dürkheim, einen Bankier, der es bis zum badischen Finanzminister brachte. Ihr Sohn, ein Offizier, besuchte nach der Schlacht bei Jena den Minister Goethe in Weimar.

Das eigentliche Goetheviertel hätten wir somit durchschritten und das
Wesentliche gesehen. Machen wir jedoch noch einen Abstecher in den
Nordosten der Stadt, wohin auch ein Abglanz des Goetheschen Ruhmes
gefallen ist.

In der Friedberger Gasse, wo jetzt das Hotel Drexel steht, wohnte Goethes Großvater mütterlicherseits, Textor, der hochansehnliche Schultheiß oder Bürgermeister von Frankfurt. Dort lebte der Alte, ganz der Pflege und Wartung seiner Blumen hingegeben. „Die vielfachen Bemühungen“, erzählt der Enkel von ihm, „welche nötig sind, um einen schönen Nelkenflor zu erhalten und zu vermehren, ließ er sich niemals verdrießen. Er selbst band sorgfältig die Zweige der Pfirsichbäume fächerartig an die Spaliere, um einen reichlichen und bequemen Wachstum der Früchte zu befördern. Das Sortieren der Zwiebeln von Tulpen, Hyazinthen und verwandten Gewächsen, sowie die Sorge für Aufbewahrung derselben überließ er niemandem; und noch erinnere ich mich gern, wie emsig er sich mit dem Okulieren der verschiedenen Rosenarten beschäftigte. Dabei zog er, um sich vor den Dornen zu schützen, jene altertümlichen, ledernen Handschuhe an, die ihm beim Pfeifergerichte jährlich in Triplo überreicht wurden, woran es ihm deshalb niemals mangelte. So trug er auch immer einen talarähnlichen Schlafrock und auf dem Haupte eine faltige, schwarze Sammetmütze, sodaß er eine mittlere Person zwischen Alcinous und Laertes hätte vorstellen können.

Alles, was ihn umgab, war altertümlich. In seiner getäfelten Stube habe ich niemals irgend eine Neuerung wahrgenommen. Ueberhaupt erinnere ich mich keines Zustandes, der so wie dieser das Gefühl eines unverbrüchlichen Friedens und einer ewigen Dauer gegeben hätte.

Was jedoch die Ehrfurcht, die wir für diesen würdigen Greis empfanden, bis zum höchsten steigerte, war die Ueberzeugung, daß derselbe die Gabe der Weissagung besitze, besonders in Dingen, die ihn selbst und sein Schicksal betrafen. — Aber auf keines seiner Kinder und Enkel hat sich eine solche Gabe fortgeerbt; vielmehr waren sie meistenteils rüstige Personen, lebensfroh, aufs Wirkliche gestellt“.

Die Friedbergergasse stößt auf den ehemaligen Peterskirchhof, den man in eine Art Park umgewandelt hat. Nur einige hervorragende Grabsteine hat man stehen lassen: Das eines Prinzen von Hessen-Philippsthal, des Bankiers Bethmann, dessen Haus den größten Kunstschatz Frankfurts birgt: die Danneckersche Ariadne auf dem Panther, und das der Eltern Goethes. In einer Ecke, in der Nähe der unscheinbaren, demnächst umzuhauenden Peterskirche ruhen sie; über ihnen rauschen die Linden, pfeifen die Amseln, und segnend blickt auf sie hernieder der in der Mitte des Friedhofes sich riesengroß ausrichtende Christus am Kreuze.

Draußen auf der ehemaligen Bornheimerheide, wo beim achtundvierziger Volksaufstande die Abgeordneten beim Paulsparlament Fürst Lichnowski und Auerswald ihren Tod fanden, lagen zu Goethes Jugendzeit nur vereinzelte Gärten, darunter der seines Großvaters, des oben schon erwähnten Schneiders und Gastwirtes Friedrich Goethe. Nur wenige von den Passanten der stillen Gaußstraße mögen ahnen, was die Buchstaben F.G. bedeuten, die neben der Jahreszahl 1725 auf dem steinernen Thorbogen des Gartens Nr. 20 eingegraben sind. Von hier sah oder hörte Rat Goethe die Schlacht bei Bergen (1759) an, die von den Franzosen gewonnen wurde, und deren Ausgang im Goetheschen Hause so ergötzliche, halb komische, halb gefährliche Szenen mit dem Königsleutnant hervorrief.

Wir sind mit unserer Wanderung durch das Frankfurt des jungen Goethe fertig. Mit doppeltem Interesse lesen wir nun Goethes Selbstbiographie, wenn wir die Stätten gesehen haben, an denen sich das Erzählte großenteils abspielt Auch vieles in seinen Jugendwerken gewinnt an Lebendigkeit, wenn wir die Werkstatt kennen, in der sie entstanden sind; denn auf niemanden mehr, als auf Goethe selbst finden seine Worte Anwendung:

  „Wer den Dichter will verstehn,
  Muß in Dichters Lande gehn!“

FUSSNOTEN:

[13] Verf. wohnte 1886-1889 in Frankfurt.

[14] So, nicht Thorane schrieb sich der Königsleutnant selber.

[15] Im Gegensatze zu dem jenseits des Mains gelegenen Sachsenhausens. Die Taufe fand einen Tag nach der Geburt statt.

[16] Man findet auch die Schreibweise Goethé mit Accent, und so spricht jeder richtige Frankfurter den Namen, wie er alle kurzen End- E-s zu langen macht.

[17] Dichtung und Wahrheit, Buch 16.

[18] Das Haus liegt neben der deutschreformierten Kirche und ist nach heutigen Begriffen bescheiden zu nennen.

XVII.

Einiges aus dem See- und Schiffswesen der Handelsmarine.

Je mehr das Interesse an der Seeschiffahrt in Deutschland wächst, um so auffallender ist der Mangel an einer gemeinverständlichen Beschreibung der wichtigsten Dinge, Einrichtungen und Verhältnisse, die das Schiffswesen betreffen. Die folgenden Mitteilungen verdanke ich, soweit meine eigenen Erfahrungen nicht ausreichten, den Belehrungen meines Freundes Kapitän Brink. Die Kriegsmarine und die großen Passagierdampfer, die anderweitig oft genug beschrieben sind, werden hier nicht berücksichtigt.

Vorbildung der Seeleute, Prüfungen, Seeämter.

Nachdem der angehende Seemann als Schiffsjunge, Leichtmatrose und Matrose 4 Jahre auf einem Segelschiffe oder 8 Jahre auf einem Dampfer gefahren ist, besucht er etwa ein Jahr lang eine Navigationsschule, worauf er das Steuermannsexamen ablegen kann. Dies berechtigt zugleich zum einjährigen Dienst in der Marine. Nach wiederum zweijähriger praktischer Thätigkeit als Steuermann auf einem Segelschiff oder Dampfer und abermaligem vier- bis fünfmonatlichen Aufenthalt auf der Navigationsschule kann er sich dem Schiffererexamen unterziehen, falls er 200 astronomische Berechnungen vorlegt, die er während seiner Fahrzeit gemacht hat. Der offizielle Titel ist „Schiffer“, während „Kapitän“ auf die Kriegsmarine[19] beschränkt ist. Doch es ist üblich, jeden Führer eines Schiffes „Kapitän“ anzureden. Die Sprache an Bord ist durchweg die plattdeutsche.

In einer Anzahl Seestädte befinden sich Seeämter, die Seeunfälle zu untersuchen haben. Der Vorsitzende muß die Fähigkeit zum Richteramt haben, mindestens zwei der Beisitzer müssen die Befähigung als Seeschiffer besitzen und müssen als solche gefahren sein. Ein vom Reiche ernannter Kommissar fungiert als Ankläger. Die höhere Instanz bildet das Oberseeamt in Berlin.

Segelschiffe und Dampfer. Arten und Einrichtung derselben.

Die Segelschiffe werden nach ihrer Takelage eingeteilt und benannt. Solche mit zwei Masten oder Rahen (wagerechte Querstangen, an denen die Segel befestigt sind) heißen Schoner, mit drei Masten ohne Rahen (wie sie in Rußland üblich), Dreimastschoner oder Dreimastgaffelschoner; hat der Fockmast[20] Rahen, so heißt das Schiff Dreimastschoner mit voller Vortop. Zweimastschoner, deren Fockmast Rahen hat, heißen Schonerbriggs. Doch faßt man diese sämtlichen Schiffe, bei denen das Fehlen der Rahen charakteristisch ist, auch einfach unter dem Namen Schoner zusammen. Ein Zweimaster, der an beiden Masten Rahen hat, heißt Brigg. Tritt noch ein dritter Mast ohne Rahen hinzu, so haben wir die Bark; mit Rahen: das Vollschiff. Heutzutage baut man auch Schiffe mit mehr als drei Masten. Jachten und Kutter sind kleine einmastige Schiffe mit Schonersegel; sie unterscheiden sich durch den Schnitt ihres Körpers; die Jacht ist breit und rund gebaut und dient zur Frachtbeförderung; der Kutter dagegen ist scharf gebaut und zum Schnellsegeln bestimmt. Man nennt übrigens Vergnügungskutter auch Jachten; es giebt solche bis zur Größe der Kaiserjacht „Hohenzollern“.

So viel von den Segelschiffen, die immer noch den weitaus größten Teil aller Schiffe ausmachen. An Tonnenzahl werden sie freilich von den Dampfern übertroffen.

Als Beispiel diene uns ein mittelgroßer Frachtdampfer, die Flensburger „Mira“. Sie dient im wesentlichen dazu, Holz von Rußland und Schweden nach Holland zu schaffen und Kohlen von England und Schottland nach den Ostseehäfen zu bringen; sie ist auch öfters für die Mittelmeerfahrt verwendet worden.

Das Schiff, 1890 aus Stahl gebaut, ist 220 Fuß lang und 31 Fuß[21] breit. Die Fahrgeschwindigkeit beträgt bei gutem Wetter 8 bis 10 Meilen die Stunde, kann jedoch durch stürmisches Wetter auf ein Nichts reduziert werden. Der Tiefgang ist bei voller Ladung 16, in Ballast 10 Fuß. Die „Mira“ faßt 1260 Tons, d.h. 24000 Zentner, außer 150 Tons Kohlen für eigenen Bedarf, wovon täglich etwa 8 verbraucht werden, und ihre dreizylindrige Maschine (mit zwei Dampfkesseln) stellt 500 Pferdekräfte dar. Die Besatzung besteht aus dem Kapitän, dem 1. und 2. Steuermann, dem 1. und 2. Maschinisten, 5 Matrosen, 1 Koch nebst Jungen, 2 Heizern, 2 Trimmern. Letztere haben die niedrigen Arbeiten zu verrichten, den Heizern zu helfen, Kohlen herbeizuschaffen u. dergl. Sie können später Heizer und nach praktischer Ausbildung in einer Maschinenfabrik sogar Maschinisten werden.

Das Schiff hat einen doppelten Boden. Der Raum dazwischen, aus mehreren Abteilungen bestehend, dient dazu, Wasser-Ballast aufzunehmen. (Bei Segelschiffen nimmt man Sand oder Steine.) Ueber dem zweiten Boden liegt nun der eigentliche Raum, der die Ladung aufnimmt, außerdem aber die Maschine und die dazu erforderlichen Kohlen enthält. Das Deck ist ein unterbrochenes, d.h. der mittlere Teil ist bedeutend höher als Vorder- und Hinterteil. Es enthält die Kombüse (-Küche), Kartenhaus, Salon, Kabinen des Kapitäns und der Steuerleute, die Messe (-Eßzimmer der Steuerleute und Maschinisten), sowie gewöhnlich eine Passagierkajüte. Noch höher liegt die Kommandobrücke mit dem Steuerapparat. Die Schlafräume der Mannschaft befinden sich vorn an der Spitze des Schiffes, unter der Back (erhöhter Vorteil des Schiffes). Das Hinterteil heißt Heck; hier weht die Flagge, wenn das Schiff in einen Hafen kommt oder aus einem solchen geht; auf See tragen die Schiffe keine Flaggen, um sie zu schonen. Begegnet ein befreundetes Schiff, so wird entweder dreimal mit der Dampfpfeife gepfiffen oder die Flagge dreimal gedippt: wenn ein Kriegsschiff passiert, so wird die Flagge einmal gedippt. (Dippen = auf- und niederholen.) Es mag hier eingeschaltet sein, daß die Ausdrücke des Schiffswesens keineswegs englischen Ursprungs sind, wie viele glauben, sondern daß die meisten gute alte deutsche (natürlich plattdeutsche) Wörter sind.

Bei Sonnenuntergang wird oben am Fockmast eine weiße Petroleum-Laterne oder Lampe, links an der Kommandobrücke eine rote und rechts eine grüne angebracht. Die rechte Seite des Schiffes heißt Steuerbord, die linke Backbord. Begegnet ein Segelschiff einem Dampfer, so hat stets dieser auszuweichen. Auf der Back steht von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang ein Matrose auf dem Ausguck. Besonders in engen und viel befahrenen Gewässern, wie z.B. dem Kanal und dem Sunde, ist die größte Aufmerksamkeit notwendig.

Leben an Bord.

Das Leben an Bord spielt sich in regelmäßiger Weise ab. Der Tag zerfällt in 7 Wachen, die abwechselnd geführt werden und je 4 Stunden dauern, mit Ausnahme der von 4 bis 8 Uhr nachmittags, die in 2 zerlegt wird. Dies geschieht, damit nicht immer dieselben Leute vormittags und dieselben nachmittags Wache haben. Die nächsten 4 Stunden sind der Ruhe gewidmet. Also beispielsweise hat der 1. Steuermann von 12 Uhr nachts bis 4 Uhr früh die Wache mit 3 Matrosen, der 2. Steuermann von 4 bis 8 Uhr; ebenso ist es bei den Maschinisten. Jede Stunde wird die Schiffsglocke geschlagen, und zwar um 1 Uhr zwei mal, um 2 Uhr viermal, 3 Uhr sechsmal; 4 Uhr achtmal; diese Schläge werden Glasen genannt; der Ausdruck stammt aus der Zeit der Sanduhren. Uebrigens werben auf Kauffahrteischiffen in der Regel nur diejenigen Zeiten durch die Glocke kenntlich gemacht, die für die Mannschaft von Wichtigkeit sind, also die Eßzeiten und die Ablösung der Wachen.

Jeden Morgen wird das Mitteldeck gewaschen, mag es schmutzig sein oder nicht, mag es regnen oder schneien oder die Sonne scheinen.

Die Fahrgeschwindigkeit wird mit dem Logg gemessen. Es giebt verschiedene Arten desselben, vom Handlogg an bis zu dem komplizierteren, selbstarbeitenden Patentlogg. An Bord der „Mira“ befindet sich das Garlandsche Logg, dessen Beschreibung hier folgen mag.

Es besteht aus einem Uhrwerk, einer etwa 30 m langen Leine und einer messingenen Schraube mit 4 Flügeln. An der Leeseite (Lee die vom Winde nicht getroffene Seite; Gegensatz: Luv) wird eine etwa 4 m lange Stange herausgesteckt und an dieser wird das Uhrwerk befestigt, während die Schraube ins Wasser geworfen wird. Durch die Fahrt des Schiffes dreht sich die Schraube und überträgt durch die Leine ihre Umdrehungen auf das Uhrwerk, welches mit Zeigern wie an einer gewöhnlichen Uhr versehen ist; auf dem Zifferblatt kann man nun die Anzahl der zurückgelegten Seemeilen ablegen. Dieses Logg hängt Tag und Nacht bei jedem Wetter hinaus.

Die Mahlzeiten werden ganz wie am Lande eingenommen; bei sehr stürmischem Wetter werden hölzerne Rahmen auf den Tisch gelegt, in welche die Teller gestellt werden, damit sie nicht umfallen.

Die Bewegung des Schiffes von hinten nach vorn (bei direktem Gegenwinde) nennt man Stampfen; die seitliche Bewegung (bei seitlichem Winde) Rollen oder Schlingern. Die Seekrankheit soll besonders durch das Stampfen befördert werden.

Bei Unsicherheit über die Tiefe des Wassers wird gelotet. Das Lot ist ein 20 bis 40 Pfund schwerer Bleiklumpen, der unten ein Loch hat. In dieses wird Talg geschmiert, damit Sand oder Muscheln daran festkleben und man einen Anhalt über die Art des Grund und Bodens erhält. Das Lot wird an einer Leine heruntergelassen, wobei das Schiff natürlich nicht in Bewegung sein darf und die Maschine zu arbeiten aufhört.

Windstärke, Seezeichen, Verständigung auf See, sonstige Eigentümlichkeiten.

Der Franzose Beaufort hat folgende Tabelle für die Windstärken aufgestellt, die allgemein angenommen ist:

  Windstille = 0
  Sehr leichter Wind = 1
  Leichter " = 2
  Schwacher " = 3
  Mäßiger " = 4
  Frischer " = 5
  Starker " = 6
  Steifer " = 7
  Stürmischer " = 8
  Sturm = 9
  Starker Sturm = 10
  Heftiger " = 11
  Orkan = 12

An den Küsten dienen Leuchtfeuer, die entweder auf Leuchttürmen oder auf Leuchtschiffen angebracht sind, zur Orientierung des Seemanns. Diese Leuchtfeuer sind sehr verschiedener Art. Wir nennen hier folgende: Festes Feuer zeigt ein farbiges Licht von gleichmäßiger Stärke. Festes Feuer mit Blinken ist ein Feuer, das in gleichmäßigen Zeitabschnitten von wenigstens 5 Sekunden Dauer lichtstärkere Blinke zeigt, welche auch eine von dem festen Feuer verschiedene Farbe haben können. Blinkfeuer sind weiße oder farbige Feuer, welche durch gleichlange Dunkelpausen geschiedene Blinke von allmählich zu- und abnehmender Lichtstärke zeigen. Endlich giebt es noch Funkelfeuer, Blitzfeuer, unterbrochene Feuer, Wechselfeuer u.a.m.

Seezeichen sind schwimmende Körper, Tonnen oder Bojen, die auf dem Meeresgrunde verankert sind. Sie haben verschiedene Farbe und Gestalt: kegelförmig, kugelförmig, stumpf, spitz, platt; die einfachsten Seezeichen sind die Pricken, das sind junge mit Ästen versehene Bäume, die in den Grund gesteckt werden und natürlich nur in ganz flachen Gewässern, z.B. im Wattenmeer, zu verwenden sind. Heultonnen sind mit einem Apparat versehen, durch welchen automatisch ein Ton erzeugt wird, der dem der Dampfpfeife gleicht; Leuchttonnen sind mit Gas gefüllt, das Tag und Nacht brennt, Glockentonnen sind mit einer Glocke versehen, die durch die Bewegung des Meeren zum Tönen gebracht wird. Sämtliche Seezeichen und Leuchtfeuer sind in die Seekarten eingetragen.

Die Verständigung auf See zwischen zwei Schiffen oder von Schiff zu Land geschieht durch Flaggen, vermittelst welcher eine ganze komplizierte Sprache gebildet wird. Das internationale Signalbuch, gegen 800 Seiten stark, enthält sämtliche vorkommende Wörter und Sätze; beispielsweise: „Ich wünsche etwas mitzuteilen.“ „Woher kommen Sie?“ „Ich habe einen Brief für Sie.“ „Ich bin auf Grund.“ „Können Sie nur einen Maschinisten verschaffen?“ „Die Küste ist gefährlich.“ — Mit den 18 Flaggen lassen sich 78612 Wörter, Namen, Zahlen und Sätze bilden, die von jeder Nation in der eigenen Sprache verstanden werden.

Die Benennung der Schiffe betreffend, so haben die größeren Gesellschaften den Grundsatz, ihren Schiffen möglichst gleichartige Namen zu geben und solche, die noch nicht oder wenig bei den seefahrenden Nationen vertreten sind. Der Bremer Lloyd hat bekanntlich eine Anzahl deutscher Flußnamen verwendet, wie Spree, Eider, Elbe, Neckar u.a. Die Hamburger Packetfahrtgesellschaft taufte eine Anzahl ihrer Schiffe nach den deutschen Dichtern: Goethe, Schiller, Wieland, Herder, Lessing, Gellert u.a. Eine englische Gesellschaft hat Namen auf o: Kairo, Crato, Cicero, Plato u.a., wobei denn ein buntes Durcheinander entsteht. Eine Flensburger Reederei giebt ihren Schiffen nur Sternennamen, und zwar solche, die auf „a“ enden: Capella, Wega, Gemma, Mira: das zuerst gebaute Schiff nannte sie Stern. Ein anderer Flensburger Reeder nennt seine Schiffe nach Mitglieder seiner Familie: Georg, Elsa, Helene u.s.w. An den Schornsteinen befinden sich gewöhnlich Zeichen oder Buchstaben, an denen man die Reederei, zu welcher der Dampfer gehört, schon von weitem erkennt.

An Bord jedes Schiffes befindet sich Lloyds Register, eine Art Schiffsadreßbuch, in welchem sämtliche Schiffe der Erde mit Angabe statistischer Notizen über Jahr der Erbauung, Tonnenzahl, Heimatshafen u.s.w. verzeichnet sind. Kennt man Namen und Heimatshafen eines Schiffes, so kann man sich aus diesem umfangreichen, sehr nützlichen Buche über alle Einzelheiten desselben orientieren. Beispielsweise will ich erwähnen, daß wir im Genter Hafen einst eine sehr altertümlich aussehende hölzerne Brigg sahen, die wie wir mit Holzabladen beschäftigt war. Mein Kapitän meinte, sie müsse ziemlich alt sein. Wir schlugen in Lloyds Register nach, und siehe da, als Geburtsjahr des Schiffes stellte sich heraus 1829! Ein solches Alter hätten wir ihm denn doch nicht zugetraut; es war übrigens so vielfach ausgebessert, daß von dem ursprünglichen Holz kaum noch etwas übrig war. Die heutigen Schiffe, besonders die aus Stahl und Eisen gebauten, erreichen ein solches Alter bei weitem nicht.

FUSSNOTEN:

[19] Die Titel bei der Kriegsmarine seien hier kurz erwähnt: Es entspricht der Unterleutnant zur See — dem Leutnant, der Leutnant zur See — dem Oberleutnant, der Kapitänleutnant — dem Hauptmann, der Korvettenkapitän — dem Major, der Kapitän zur See — dem Oberst, der Konteradmiral — dem Generalmajor, der Vizeadmiral — dem Generalleutnant, der kommandierende Admiral — dem kommandierenden General.

[20] Der vordere Mast heißt Fockmast, der mittlere Großmast, der hintere Besanmast.

[21] Die Fuß und die Meilen werden nach englischen Maß gerechnet. 1 Fuß engl. = 0,84 m, 1 Meile engl. = 1,854 km.

XVIII.

Oberhausen.

  „Tausend fleißge Hände regen,
  Helfen sich in munterm Bund;
  Und in feurigem Bewegen
  Werden alle Kräfte kund.“

Schiller

Als Oberhausen gegründet wurde, stritten sich Rhein, Ruhr und Emscher, an welchem dieser Flüsse die Stadt liegen sollte. Jeder der drei wollte sie an seine Ufer haben, keiner gönnte sie dem andern. Da sprach der liebe Gott: Wenn Ihr Euch nicht einigen könnt, so bekommt sie niemand. Und so geschah es, daß Oberhausen an keinem der drei Flüsse liegt, sondern mitten dazwischen; doch so, daß jeder leicht und schnell zu erreichen ist.

Von allen Rheinlandstädten ist Oberhausen die jüngste. Wo jetzt eine rührige Bevölkerung von über 40000 Einwohnern wirkt und schafft, war vor einem halben Jahrhundert nichts als Haide, rotblühende Haide. Feierte doch die Stadt erst im Jahre 1899 das Fest ihres 25jährigen Bestehens! Wahrhaft amerikanisch kann demnach ihr Wachstum genannt werden, amerikanisch mutet auch die Anlage der Straßen an. Schnurgrade, lang und außergewöhnlich breit kreuzen sie sich in rechtem Winkel; damit aber Poesie und Gesundheit nicht fehlen, hat man sie fast alle mit zwei, teilweise sogar drei Reihen Bäumen bepflanzt. So macht die Stadt einen überaus freundlichen und sauberen Eindruck, ebensowohl in der eigentlichen Geschäftsstadt, als auch in dem Villenviertel, wenn dieser Ausdruck gestattet ist. In jener bildet die Marktstraße die Hauptverkehrsader; sie ist von stattlichen Häusern und zahlreichen großstädtischen Läden und Bazaren eingefaßt. An ihr liegt auch der Altmarkt, der aber, wie alles in Oberhausen, nicht alt, sondern neu ist. Bäume umgeben den vollständig asphaltierten, stets reinlichen Platz, auf dem die Wochenmärkte abgehalten werden; in der Mitte erinnert eine schlanke Säule an die siegreichen Thaten unseres Heeres. Um die Mülheimerstraße gruppieren sich die Straßen des Villenviertels: die Grillo-, Hermann-, Wilhelm-, Elbe-, Falkenstein- und andere Straßen. Elektrische Bahnen durchsausen die Stadt nach allen Richtungen und verbinden sie mit anderen Städten z.B. Essen und Mülheim.

Mehr als manche Großstadt steht Oberhausen im Zeichen des Verkehrs. Als Bahn-Ausgangs- und -Kreuzungspunkt hat es von jeher Bedeutung gehabt; direkte Verbindungen bestehen mit vielen Hauptstädten Europas, über Oberhausen gehen die Linien Köln-Berlin, Köln-Hamburg, Amsterdam-Basel-Genua London-Vlissingen-Süddeutschland und andere. Wenn auch neuerdings eine Anzahl Zuge statt über Oberhausen über Duisburg-Essen geleitet werden und dadurch der Bahnhof etwas entlastet ist, so kommen doch täglich immer noch 120 Personen-, Schnell- und D-Züge von allen Richtungen an und ebenso viele gehen ab, nicht zu gedenken der Güterzüge. Der Bahnhof mit seinen drei geräumigen Hallen und hübschen Wartesälen würde mancher Großstadt zur Zierde gereichen.

Vom Bahnhof führt die Schwartzstraße nach der Mülheimerstraße. An der Schwartzstraße, nach dem verdienstvollen früheren Bürgermeister Schwartz so genannt, liegt u.a. das Rathaus mit einem wundervollen Bismarckbilde von Walter Petersen in Düsseldorf und das Realgymnasium, an der Elsestraße die schmucke, noch in der Entwicklung begriffene höhere Mädchenschule. Von den katholischen Kirchen ist die domartige Berg- oder Marienkirche, von den evangelischen die neue an der Lipperhaidstraße architektonisch bemerkenswert. Am Neumarkt liegt die prächtige Badeanstalt, in deren großem Bassin auch im Winter dem Schwimmsport gehuldigt wird — eine Einrichtung, die man in Hunderten von Mittelstädten vergeblich suchen würde.

Es versteht sich von selbst, daß Oberhausen in erster Linie der Industrie sein fabelhaftes Aufblühen verdankt. Und doch merkt man in der Stadt selbst recht wenig davon. Das bedeutendste industrielle Werk, die unter Leitung des Geheimen Kommerzienrats Carl Lueg stehende Gutehoffnungshütte, liegt ziemlich weit außerhalb der Stadt. Mit ihren 13000 Angestellten ist sie eines der großartigsten Werke, das überhaupt existiert. Von ihrer Ausdehnung zeugt die Thatsache, daß die Hütte über 60 Kilometer Eisenbahn auf ihrem Gebiete besitzt. Von ihr sind u.a. gebaut Brücken über den Rhein, die Elbe, die Weichsel, den Nord-Ostsee-Kanal, die sämtlichen Brücken der Gotthard-Bahn, die mächtigen Hallen des Frankfurter Hauptbahnhofs u.s.w. An sonstigen Fabriken sind noch zu erwähnen die Zinkweißhütte, die Glasfabrik, die Porzellanfabrik, mehrere Eisenwerke und die Zechen „Konkordia“ und „Oberhausen“.

Den Glanzpunkt Oberhausens bildet der mit einem Denkmal Wilhelms I. geschmückte Kaisergarten, eine städtische Anlage, die vor einigen Jahren von der Stadtverwaltung angekauft ist und fortwährend verschönert wird. Mit seinen schattigen Wegen, lauschigen Ruheplätzen und einen großen Teich, der zu Bootfahrten einlädt, bietet er einen erquickenden und angenehmen Aufenthalt. Nur durch den Emscherfluß getrennt, schließt sich an den Kaisergarten der ausgedehnte Park des Grafen Westerholt; darin liegt Schloß Oberhausen, dem die Stadt ihren Namen verdankt.

Die Umgegend von Oberhausen ist ziemlich eben, bietet jedoch einige
hübsche Punkte, so das auf einem Hügel gelegene freundliche Dorf
Frintrop, Borbeck mit der idyllischen Waldschenke und dem Schloß
Fürstenberg, den Kahlenberg bei Mülheim und die großen Waldungen bei
Duisburg. Die Großstädte Düsseldorf und Essen sind in kaum einer halben
Stunde, Köln in einer Stunde, die Seeküste (Scheveningen) in drei
Stunden zu erreichen.

Inhalts-Verzeichnis.

       Widmung
       Vorwort
    I. Ueber das Reisen
       (Einige Aussprüche hervorragender Männer und Frauen)
   II. Eine Primanerwanderung auf den Brocken (1878)
  III. Nauvoo am Mississippi, die alte Mormonenstadt
   IV. Ausflug in die nordcalifornischen Urwälder und zu den Geysers
    V. Glensund (Ein Land- und See-bild)
   VI. Ein Besuch bei Gustav Freytag
  VII. Nord- und Ostseefahrten auf dem Flensburger Frachtdampfer „Mira“.
      A. Riga. Aus der livländischen Schweiz. Von Riga nach der Insel
         Walcheren. Middelburg. Bad Domburg.
        1. Riga
        2. Aus der livländischen Schweiz
        3. Von Riga nach der Insel Walcheren
        4. Middelburg
        5. Bad Domburg
      B. Von Korsör nach Haparanda
      C. Flensburg. Helsingör. Gent. Schottland.
        1. Nach Helsingör
        2. Von Helsingör nach Gent
        3. Gent
        4. Von der Schelde nach dem Firth of Forth
        5. Ausflug nach dem schottischen Hochland
 VIII. Der Philosoph von Gravenstein
   IX. Marsberg
    X. Neun mal 24 Stunden auf der Eisenbahn
   XI. Bordesholm
  XII. Auf Seeland
 XIII. Friedrichsruh
  XIV. Ein Nachmittag bei den Karthäusern
   XV. Eisenberg
  XVI. Das Goetheviertel in Frankfurt
 XVII. Einiges aus dem See- und Schiffswesen der Handelsmarine
XVIII. Oberhausen