Project Gutenberg's Die Lobensteiner reisen nach Böhmen, by Alfred Döblin

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Title: Die Lobensteiner reisen nach Böhmen
       Zwölf Novellen und Geschichten

Author: Alfred Döblin

Release Date: July 20, 2011 [EBook #36779]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE LOBENSTEINER REISEN NACH ***




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Alfred Döblin

Die Lobensteiner reisen nach Böhmen

Zwölf Novellen und Geschichten

 

 

 

Verlagslogo

 

 

 

Zweite Auflage

München 1917 bei Georg Müller

 

Inhalt

Linie Dresden-Bukarest

Das Femgericht

Die Schlacht, die Schlacht!

Der Kaplan

Die Nachtwandlerin

Von der himmlischen Gnade

Vom Hinzel und dem wilden Lenchen

Der Riese Wenzel

Das Krokodil

Das Gespenst vom Ritthof

Der vertauschte Knecht

Die Lobensteiner reisen nach Böhmen

 

 

Linie Dresden-Bukarest

Vor der Abfahrt des Zuges lächelte Frau Barinianu auf dem Bahnhof Bukarest. Ihr Mann der Oberst, neben ihr promenierend, schob einen Zeitungsausrufer beiseite, blähte die Nase, straffte seinen Uniformrock, indem er seinem kolossalen Brustkasten einen scharfen Ruck gab: „Liebe Cesarine, ich weiß, daß du von einer Last befreit bist, aber wir sind auf dem Hauptbahnhof und du gehst in Trauer. Es brauchen nicht alle Leute sehen, daß dir mein seliger Vater nichts bedeutet hat.“

Sie nahm sich kaum zusammen; mit heiter verwirrtem Ausdruck hauchte sie hinter ihrem schwarzen Schleier: „Verzeih, ich geh heute zum ersten Male ein paar Schritt.“

Er zog ein Portefeuille mit braunen Banknoten aus der Brusttasche. Als die Maschine pfiff, rief er ins Coupéfenster hinauf, sie solle gleich ein paar Aussteuersachen für Matilda in Dresden besorgen. Die Wagen rollten. Der Oberst klappte etwas zusammen. Sie winkte und nickte. Er, träumerisch mit dem Säbelknauf spielend, fuhr in der Kalesche ins Kasino zum Festdiner.

Frau Barinianu saß in dem schmetternden Zug auf dem roten Polster der ersten Klasse. Das Coupé leer. Runde Backen hatte sie und sehr kleine Füße in grauen Gamaschen. Der Hut neben ihr rutschte vom Sitz; sie beugte sich zur Seite, um ihn festzuhalten. Sich aufrichtend sah sie im Rundspiegel drüben, daß das Haar ihr über die Stirn gesunken war und vor der koketten Nase wehte, ebenholzschwarz und ohne einen einzigen grauen Faden. Dunkler Flaum auf der Oberlippe. Das Gesicht gerötet und weiß und so kindlich lebendig, daß sie sich freudig zurücklehnte, den Hut hinuntergleiten ließ und die metallstrahlenden Augen schloß. Den Gang kamen dauernd Menschen herauf, Kinder sprangen vorbei, der Kellner warf eine Speisekarte herein. Sie gähnte und zog sich die langen Lederhandschuhe ab.

Herr Fortunesku stieg in Plojescht ein und sah sie sitzen. Er schlenkerte in seiner ausbaldowernden Art herum und drückte sein breites Gesicht draußen viermal gegen die Scheibe. Seine durchgestoßenen Hosen rutschten hoch. Als der Kontrolleur vorbeikam, las er angestrengt die Bestimmungen über das Verhalten des Publikums bei Unglücksfällen. Mit festem Entschluß sagte er: „Diese oder keine.“ Er ging mit seinem Köfferchen auf die Toilette, zog sich um, eleganter, etwas knapp sitzender Cutaway, schwarze Samtweste, gestreifte braune Hosen, eng um die Kniee. Das braune Haar klebte er mit Wasser in dünner Lage auf den Schädel. Gebürstet, mit übertriebenen Bewegungen, die seine athletischen Muskeln hervortreten ließen, spazierte er in das Nachbarcoupé Cesarines.

Während sanfter Fahrt stürzte plötzlich der Dame eine Hutschachtel über die Arme und knallte vor ihre Füße. Sie schrie leise auf, sah über sich. Die Türe des Abteils öffnete sich; ein gescheitelter Kopf streckte sich vor: „Was ist? Um Gottes willen, ich eile zu Hilfe. Oh!“ Und Herr Fortunesku sammelte den Deckel, den Hut und die Apfelsinen auf, die unter die Sitze gerollt waren; auch ein langer Lederhandschuh lag da. Sie rückte in die Ecke, als er um ihre Füße herum tastete. Er stellte sich mit glatten Worten als Verlagsdirektor aus Jassy vor, jawohl aus Jassy. Er schnalzte, flüsterte, schmatzte, schon am Boden, in einer naiven Art. Es sei eine zu lächerliche Geschichte; sie sei ihm schon mal passiert, vor vier fünf Monaten, hinter Braila, zwischen Lanza und Braila; doch damals sei es keine Hutschachtel gewesen, sondern in der Hutschachtel eine Bombe, so groß wie ein Schneeball oder eine gewisse Sorte von Zwergäpfeln; freilich sei sie nicht explodiert, die Bombe; es hat ja auch in der Zeitung davon gestanden. Aber dieser Knall, es war unvergeßlich. Und so sang er bis Kronstadt in Ungarn, wo er ihr ein Glas Milch brachte. Er beteuerte, daß sich manche Damen bei dem Sturz von Hutschachteln verletzten; aber diese hätten dann weniger volles Haar, als die Gnädige. Langes Haar mache es nicht, es müsse auch volles sein.

Wie er sich vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Gepäckhalter bewegte, entwickelte er eine außerordentliche Grazie. Er hatte großartige formvolle Bewegungen. Sie verfolgte ihn aus ihrer Ecke mit den Blicken und sagte es ihm. Er verkroch sich geschmeichelt in seinen Halskragen, so daß sie erstaunte. Er sei nämlich Turner, Springer, Fechter, Stafettenläufer, natürlich im Nebenberuf aus Sportleidenschaft. Auch wette er gelegentlich bei schöner Sommerluft, alles Temperamentssache. „Und was sind Sie im Hauptberuf?“

„Verlagsdirektor, meine Gnädige, ich sagte es schon.“

„Ah so.“

„Ich verlege Zeitungen, Broschüren, Bücher, am liebsten aus meinem Interessengebiet. Turnen geht mir über alles; Müllerei, Müllerei erhält mich. Sehn Sie so —“

Er begann eine Kniebeuge zu machen und den Rumpf zu verdrehen.

„Und sehen Sie so.“

Sie prustete heraus und versteckte sich hinter ihrer Muffe.

„Meine Übungen scheinen Sie zu belustigen.“

„Nein, Ihr Ärmel ist ja geplatzt.“

Er erstarrte, wurde lang: „Ah so, schlechter Stoff. Ziehen wir aus. Gestatten Gnädige?“ Noch als der Rock lag, boxte er ihn mit mißtrauischen beleidigten Mienen: „Ziehen wir aus. Ein unerhörter Stoff. Gekauft in Braila; schlechte Industrie, wo die Stoffe platzen.“

Er agierte in Hemdsärmeln langsam weiter, öfter mit Blicken auf den Rock. Als sie ihn aufforderte, sich zu ruhen, machte er einen beschämten Hüpfer ans Fenster: „Es ist dieselbe Stadt, wo die Bombe fiel. Dieser Ort ist mir verhängnisvoll. Ich ruhe jetzt, meine Gnädige.“

Er plumpste keuchend auf den Sitz ihr gegenüber: „Nun ruhe ich.“

Inzwischen rutschte unter seinen Hemdsärmeln ein braunes dickes Flanellhemd an den Knöcheln vor; leicht errötend nahm sie die Jacke auf, legte sie ihm über: „Sie sind Junggeselle, Herr Fortunesku?“

Sein Mund verbreiterte sich, eine Feuchtigkeit schwamm über die drehenden Augen, er fuhr nach ihrem Handgelenk: „Ein liebes Wesen starb mir vor Jahresfrist; sagen wir rund ein Jahr und zwei Monate. Sie ist mir entrissen worden.“

„Und warum schweigen Sie jetzt, mein Herr?“

„Situationen gibt es, die nicht nachlassen, an einem Männerherz zu pressen. Bis es schwillt, schwillt; überschwillt.“

Sie klopfte warm seine Finger. Er schüttelte sich, wischte sich die Stirn mit dem Zeigefinger, machte eine krampfhafte Klimmzugbewegung. Hin und her wandernd stöhnte er. Die Schwermut riß ihn hin. Er beugte sich zu ihr; im Nu hatte er sie an seiner Brust, saß eng bei ihr. Die Tropfen aus den Augen des trostlosen Mannes fielen auf ihren Rock. Betäubt hielt sie still. „Was ist das?“ dachte sie, „ich kann mir das nicht gefallen lassen. Das ist ja entsetzlich.“ Sie brachte aber nur seufzend heraus: „Es ging aber doch recht schnell. Sie halten mich fest, mein Herr.“

Triumphierend glänzte sein Gesicht. Sie flüsterte ängstlich: „Schließen Sie wenigstens die Tür; ich habe Kaffee bestellt.“

Ein Zug am Riegel, Einschnappen des Schlosses. Sie hing gehoben auf seinem Schoß, so daß sie die weichen Patschen faltete, befangen lächelte: „Es ist wunderbar. Man muß das erlebt haben.“

An ihrem Spiegelbild sah sie vorbei. Die Wagen ratterten. Heller und dumpfer klirrten die Scheiben in ihren Holzrahmen. Er strich sich den Schnurrbart. Auch ihr Gesicht fing an zu glühen. Seine Brauen waren borstig, seine Augen klein wie Murmeltiere. Ihr dicker runder Körper sackte, von ihm losgelassen, gegen den roten Plüsch. Zwei Männerarme schlossen sich um ihren atmenden widerstandslosen Rumpf, drückten ihn hoch; eine stopplige nasse Haut rieb gegen ihre Wange. Während ihre Lippen einander benetzten, Zähne über Zähne strichen, schwindelte ihr leicht hinter der Stirn. Entfernt schnaubte die Lokomotive; sie fühlte das Stoßen der Räder herauf. Seine Knie unter ihr zitterten.

Da kam ihr vor, als ob es seitlich von ihr irgendwo knackte. Und wie sie den Kopf über seine Schulter schob und mit dem rechten Auge herunterschielte an seinem Rücken, blinkte auf dem Polster eine kleine Beißzange an ihrem Handgelenk, ihr Armband lag frei daneben. Unwillkürlich zuckte ihr Arm. Blitzschnell waren Zange und Schmuck in seinem gebauschten Hemdsärmel verschwunden, Schlaff wölbte sich ihr Rücken nach einem tiefen Atemzug. Ihr Mund fiel auf seine knochige Schulter und mahlte das blaue Westenfutter. Er, von unten den Blick zu ihr drehend, bettelte, ob ihr schlecht wäre, ob er sie legen sollte. Sie fixierte ihn halb ohnmächtig aus den schmalen Augenschlitzen: „Ist das ein Lump. Es ist ein Hochstapler, ein Eisenbahnräuber. Ich setze mich in den Zug, um nach Dresden zu fahren und er sieht mich und stiehlt meine Brillanten.“

Er kratzte sich mit der freien rechten Hand den Scheitel, so daß sich eine Haarsträhne wie ein gebogenes Horn aufstellte: „Seelische Strapazen peinigen mich, meine schöne Dame. Nennen Sie mir Ihren Namen, Ihren Vornamen, geschwind, geschwind.“

Angstvoll, ohne ein Glied zu bewegen, lag sie. Sie dachte: „Es geschieht mir recht. Wo ist er denn jetzt? Ich habe goldene Strumpfschnallen.“

Und schon knackte es wieder. Sie weinte halb, warf jammernde Blicke gegen die Notbremse: „Ich kann nichts machen gegen ihn. Er kompromittiert mich, wenn das Bahnpersonal kommt. Und diese Hemdsärmeln. Er ist solch Lump.“

„Ihren Vornamen, geschwind, geschwind.“

Sein Haar war dünn; seine Ohren standen ab, braune Büschel wuchsen daraus: „Er ist vielleicht ausgebrochen aus dem Zuchthaus. Er hat im Zuchthaus gesessen. — Wie schrecklich wäre es, wenn er ein anständiger Mensch wäre und ich mich so gehen ließe. Was würde er von mir denken, von mir erzählen. Wo würde ich ihm begegnen können. Dem werde ich nie begegnen, dem Strolch. Bei ihm bin ich gut aufgehoben.“

Sie drückte Auge und Nase fester gegen seinen Gummikragen: „Der prahlt höchstens mit mir. In einer Kaschemme rühmt er sich.“

Sie spürte, wie er die Knie vorsichtig unter ihr wegzog, bog den spitzenverhüllten Arm um seinen Hals: „Du prahlst mit mir, nicht wahr? Wenn du mit deinen Freunden bist? Wo bist du her? Du mußt mir erzählen.“

Er fuhr hoch. Diese Frau duzte ihn. In einer Zuckung streckten sich seine Beine quer über den Gang; sein linker Arm stemmte sich auf den Plüsch. Es kollerte und klirrte etwas über seine Füße. Sie hielt ihn, ließ ihn nicht los, Stirn dicht auf Stirn: „Ist dir was hingefallen? Hebs später auf. Laß doch liegen. Du mußt mich nachher noch so lange begleiten. Ich fahre nach Dresden. Ich hole meine Tochter aus dem Pensionat. Ja, ich bin verheiratet, und mein Mann ist Offizier in Bukarest. Aber unseren Namen sag ich dir nicht, denn du bist solch Strolch, ich durchschaue dich, solch frecher, frecher Strolch.“

Fortunesku atemlos unter ihrem Drängen, schnitt ungeschickte Grimassen; er gaffte aus dem Ring ihrer Arme auf die Leiste des Spiegels: „Das ist eine besondere Frau. Sie bringt mich um. Ich will ihr alles wiedergeben.“

„Madame,“ öffnete er indigniert den schlecht rasierten Mund. Aber sie hatte ihn schon mit vergnügtem Gelächter um die Taille gefaßt. Sie kniff ihm in den Arm, quietschte: „Bin ich froh, bin ich froh über dich, du Lump. Weil du solch Lump bist.“ Er wand sich, verdrehte sich schlangenhaft. Sie stand zugleich mit ihm auf. Sie packte ihn bei den Hüften, ließ ihn nicht los, ließ ihn nicht los. —

Als Cesarine zwischen Znaim und Iglau, wohlig ausgestreckt, sich von dem Zug ab- und auffedern ließ, plauderte sie von Dresden, von ihrer Familie. Sie blinzelte gegen die grelle Deckenbeleuchtung, lobte Matilda und ihren Verlobten. „Madame,“ fing Fortunesku an, von Zärtlichkeit und Gewissensbissen überwältigt, während er sich ihr gegenüber den Schnürsenkel festzog, „wollen Sie zwei Worte von mir anhören. Ich bin, wie Sie sehen, Kavalier und Ritter. Ein Mann von meinem Temperament und Gewandtheit, in meinem Gesellschaftsrang ist natürlich von einer Vielseitigkeit, die anderen Berufsarten fremd erscheint. Ich hebe Lasten, öffne Schlösser. Ich mache Scherze als Turner, die Uneingeweihte mißverstehen.“

Sie zog den Fenstervorhang vor ihr Gesicht: „Ja, Sie können turnen wie kein Mensch auf der ganzen Erde.“ Die Bremse knarrte, die Wagen schaukelten; ein südlicher Vorort Dresdens blitzte. Cesarine rauschte hoch, stieß mit den Füßen gegen Metall.

„Aber heben Sie doch Ihre Sachen auf.“

Unsicher lächelnd stemmte Fortunesku, noch sitzend, die Arme in die Weichen; er streifte sich die geborstene Jacke über.

Der lange Ruck, die weiße Wölbung der Bahnhofshalle. Gepäckträger brüllten in die Fenster.

Sie drehte sich sanft, in Trauerhut und Schleier, zu ihm, der gebückt stand, hauchte: „Sind Sie fertig?“

Herr Fortunesku war edles Halbblut; seine Mutter hatte es ihm oft gesagt. Beleidigt schnellte er durch das Coupé, tauchte unter die Sitze, kehrte ihr den Rücken zu. Sie beobachtete ihn entzückt. Plötzlich scharrte er, giftig ausspeiend, die Sachen zusammen, legte das Armband mit einer noblen Geste offen um sein linkes Handgelenk. Sie bat ihn um ihren Handschuh, schwebte duftend voran; der Trauerschleier wallte um sie; Arm in Arm verließen sie den Bahnhof.

Sie nahmen Wohnung im Hotel „Zur goldenen Eintracht“. Verlagsdirektor Fortunesku aus Jassy nebst Gemahlin. In ihrem Zimmer warf er, als sie Licht knipste, Armband und Brillanten in der Ecke oben auf die Hutschachtel. Schelmisch besänftigte sie ihn vom Lavoir her; was er gegen die Hutschachtel habe. Sie bot ihm vor der Ausfahrt ihr Portemonnaie an. Er schob den schwarzen Samthut in den Nacken, schob ihre Hand zurück, zeigte voll unterdrückter Wut sein eigenes Portemonnaie. Mit einer heimtückischen Süßigkeit schmeichelte er ihr in dem offenen Landauer. Sie sog die abendliche Luft auf Lößnitz ein. Die Menschen murmelten, lachten, murmelten. Glücklich rauschten die Akazien im Sommerwind. Wie seine Augen grell seitlich funkelten, in einer fürchterlichen Drohung, schauerte ihr über den Rücken. Dieser Mensch konnte morden, wie gut war sie bei ihm angekommen.

Matilda hieß die Tochter Cesarinens; sie war achtzehn Jahr. Blonde Ponys hingen ihr in die Stirn, die Nase kräftig geschwungen, graue stolze Augen. Im weißen schlanken Sportkleid trat sie am Morgen der Mutter entgegen, die ihr Fortunesku vorstellte, einen weitläufigen Verwandten in Jassy und zufälligen Reisebegleiter. Fortunesku schwang den Hut. Das Silbergehenk am gelben Ledergürtel Matildas klapperte, als sie sich zusammen an den Frühstückstisch setzten. Die elegante Pensionswirtin zog Frau Barinianu hinaus zu einer Besprechung.

Rasch drückte Fortunesku seinen veilchenblauen Selbstbinder fest, pfiff hoch zwischen zwei Fingern, hob den Daumen. Das junge Mädchen legte das Messer auf die Marmeladenschale.

„Ein Wink,“ flüsterte er, schloß die faltige Portiere zur Bibliothek, „ein Wink: Grigor Papiu, Petru Kostin.“

Dicht rückte er seinen Korbsessel an ihren: „Legen Sie die Serviette hin. Sie wissen nicht, was die gnädige Frau mit Ihnen vorhat. Ich bin nicht Fortunesku, wie sie sagte. Petru Kostin, heiße ich, Sekondeleutnant im zweiten Infanterieregiment zu Jassy, Freund Ihres Verlobten Papiu. Ich habe eine geheime Botschaft zu überbringen. Sie müssen schwören.“

„Petru Kostin?“

„Nicht sprechen, um Gottes willen nicht sprechen. Ich bin ohne Urlaub gefahren. Kommen Sie in die Ecke, auf die Loggia; Ihre Mutter erschrickt, wenn sie uns hört.“

„Mein lieber Gott, was ist das! Was will Grigor?“

Mit gefahrdrohenden Schritten ging er über den Teppich: „Sie haben Grund, sich zu ängstigen. Auf der Hut sein vor der gnädigen Frau. Ich warne Sie vor ihr.“

Ein Stelzen um das Büfett, Sprung, schlangenhaftes Umschleichen der Stühle.

„Sie kennen sie nicht. Niemand kennt Weiber. Sie hat sich mir anvertraut auf der Fahrt. Mit Galanterie, mit bestrickendem Wesen habe ich alles erreicht. Ich habe ihr entlockt, was sie für sich behalten wollte. Aus Mitleid für Sie, deren Photographie sie mir zeigte, aus Kameraderie für meinen Freund habe ich mich ins Zeug gelegt.“

„Mama hat doch keine Photographie von mir.“

Finster hielt er an der Anrichte und schwenkte ein Bein: „Dann war es eine Täuschung, der Sie dankbar sein müssen.“

„Es war Olga.“

„Mag sein. Ich verwechsele Olga mit Ihnen. Auch Olga wird es nicht gut haben. Sie sollen mit Ihrem Vetter verheiratet werden aus Bukarest; sie wird es Ihnen auf der Reise sagen.“

„Nein, das ist nicht wahr.“ Sie war erst starr, dann schluchzte sie und krümmte sich über ihren Schoß.

„Es ist kein Zufall, daß ich mit Ihrer Mutter zugleich hier eintraf. Ihr Verlobter Grigor hat es mir auf die Seele gebunden, vor Ihrer Heimreise mit Ihnen zu sprechen, Ihnen alles vorzustellen, was auf dem Spiele steht, seine Liebe, sein Leben, sein ganzes Dasein.“

Er zog aus der Hosentasche ein zerbrochenes Bild: „Sie sehen den Namenszug Ihres Verlobten. Sie zweifeln nicht mehr an meiner Legitimation, mich Ihnen vertraulich zu nähern.“

Matilda kniff ein böses Gesicht. Versunken stand sie auf, schleifte zwei Schritt um den Tisch, befahl Fortunesku: „Setzen Sie sich.“ Und dann das harte Gesicht gegen die Hängelampe hebend, deren grüner Perlenbehang ihr über die Nasenwurzel spielte: „Die letzten Briefe vom Vater klangen sehr fremd. Ich dachte, es wäre wegen der Krankheit Großpapas.“

Fortunesku tobte durch das winklige verstellte Zimmer: „Weg von hier! Wie können Sie daran zweifeln? Diese Frau im Stich lassen. Ich verlange das von Ihnen im Namen meines Kameraden. Oh diese Frau will ich strafen für die schlechte nichtsachtende Gesinnung, die schlechte Gesinnung, die sie mir offenbart hat. Über Leichen geht sie, ein Ehrgefühl hat sie nicht.“

Matilda bewahrte kühle Haltung zur Mutter. Sobald sie allein war und sich ausgeweint hatte, entschloß sie sich; sie stieg mit Fortunesku in den Zug nach Bukarest.

„Ich bin jetzt wieder glücklich,“ sagte Matilda, „und ich bin Ihnen so dankbar.“

Sie drang in ihn, warum er so still wäre. Er redete von Aufgaben, denen manche Menschen nicht gewachsen wären, ein liebes Wesen sei ihm vor einem Jahr gestorben, vor etwa einem Jahr. Plötzlich erklärte er, daß er schwitze. Sein breites Gesicht, — die grauen Augenlider, die faltigen Wangen mit den Narben am Kieferwinkel, die striemig rote Stirnhaut vibrierten. Er zog mit ihrer Erlaubnis den Cutaway aus, streichelte vorsichtig über ihre Ponys. Sie kicherte: „Sie sind doch nicht solch guter Freund, wie Sie sagten, zu Grigor.“

„Es sind Wallungen, mein Fräulein, schmerzliche Wallungen. Ich glaube freilich, daß sich manches Gefühl aus Wallungen zusammensetzt.“

Und dann nach einer Pause: „Der gute Grigor ist freilich etwas zahm.“

Sie warf sich in die Brust, machte einen spitzen Mund: „Aber das ist so hübsch an einem jungen Mann, wenn er ernst und zahm ist. Und wenn er nicht so frech ist wie —“

„Wie wer denn, meine Gnädige?“

„Wie Sie.“

Sie senkte umfaßt ihren lachenden Kopf an seine fleckige Samtweste: „Was glauben Sie, Fräulein Matilda, was mich Grigor beneidet um diesen Augenblick. Um meinen Schneid. Um meine Courage.“

Während er sie herzog und sie folgsam ihren geschmeidigen Oberkörper wiegen ließ von ihm, sagte sie: „Aber viel Schneid hat Grigor doch auch. Und so lieb ist mein Grigor.“ Ihre Arme legten sich um seinen Gummikragen: „Und so froh bin ich, daß Sie mich zu ihm führen, Herr Petru, lieber Herr Petru.“

Sie lachte und seufzte und lachte. —

Bei der kleinen Umsteigestation Beneschau, eine Minute Aufenthalt, kroch aus dem letzten Waggon ein Mann, mit zerbeultem steifen Hut, gelbem Sommerpaletot, durchgestoßenen Hosen, in der Hand einen kleinen platten Koffer. Fortunesku schluckte auf dem Bahnsteig sein Glas Helles, rückte matt seinen Stuhl aus der Sonne und sah die blanken Geleise entlang: „Es ist nichts mit der Familie Barinianu.“ Sein Magen kam ihm leer und schwindlig vor; er bestellte einen Schnaps: „Strapazen, Strapazen; keinen Pfennig verdient. Es geht abwärts mit dir, Franz; lauter Gefühle. Mutter hat recht; aus mir wird nichts.“

Er flegelte am Schanktisch, schmatzte, massierte seine Waden, seinen Arm, schlich in das Dorf.

Eine blonde junge Dame verließ unter allgemeiner Aufmerksamkeit in Tabor ein Coupé erster Klasse. Sie schluchzte über den Perron; ein Bahnhofsbeamter führte sie am Arm, trug ihren Handkoffer und grauen Reisemantel. Sie schien betäubt oder wirr. Im Stationsgebäude erholte sich Matilda etwas, als die Frau des Bahnhofswirts ihr zusprach, heißen Kaffee brachte. Das Fräulein stieß mehrmals hervor, man möchte nach Dresden in das Hotel „Eintracht“ telephonieren, daß sie hier warte.

Nach fünf Stunden kam die Mutter im Auto. Sie nahmen den nächsten Zug nach Bukarest. Im Coupé legte Frau Barinianu den Hut nicht ab; den Trauerschleier knautschte sie in die Höhe, riß Matilda an sich. Cesarines Gesicht war verschwollen; ihre kleine Nase dick und naß. Sie ließ von dem Kind nicht ab, zitterte, schrie leise: „Ich habe gedacht, du bist ermordet, ich hab gedacht, der Lump hat dich ermordet.“

Matilda rutschte mit dem Kopf an ihre Brust, schwieg, streichelte ihren Rücken.

„Nein, du lebst, Matilda, du bist ja wieder da.“

„Sei gut zu mir, Mama. Sage nichts zu Hause. Bitte. Nichts zu Grigor. Sein Freund hat mir den Kopf verdreht. Ich habe mich rechtzeitig besonnen, sag Grigor so.“

„Es war ja ein Lump, ein Strolch. Es war nicht Grigors Freund. Ich weiß gar nicht, wie er heißt.“

Die Tochter drängte sich an das zerpresste Jabot Cesarines: „Er war solch Lügner, dieser Mann. Er war so flink mit Lügen und allem. So flink.“

Das Mädchen schlug sich die Hände vors Gesicht und stöhnte, stöhnte.

Frau Barinianu steckte die Haarnadeln Matildas zurecht, umarmte sie heftiger. Dann ließ sie das Kind los, atmete tief. Sie rieb sich die Stirn. Lange sprachen sie nicht.

Der Zug schwebte über den Schienen. Von Zeit zu Zeit kam ein Stoß der Räder. Der Dampf der Lokomotive flog vorbei.

Langsam löste nun Frau Barinianu ihren Hut, wischte sanft über den Schleier, während ihr Kopf zurück auf das Polster fiel. Sie lächelte mit weichem Mund, indem sie träumerisch vor sich in den Spiegel sah: „Er ist in die Welt verschwunden und kehrt nicht wieder. Oh, er konnte turnen, dieser Lump. Ich habe noch nie einen Menschen so turnen sehen.“

Lauter und zärtlicher vibrierte ihre Stimme vor Vergnügen. Wie eine schöne Bratsche klang es aus ihr. Sie drückte das zerzauste Fräulein an sich. Und während die noch leise weinte, lachte die Mutter aus tiefem Herzen über sie her: „Er war ein geborener Springer.“ Bis auch die stolze Matilda mit verschämter Bewegung hoch blinzelte: „Ja nicht wahr, Mutter, so springen konnte er?“ Die Stimme wie eine Hirtenflöte dünn und süß.

Und sie küßten sich. Der Wagen schmetterte über eine Eisenbahnbrücke. Sie wiegten sich Wange an Wange.

Das Femgericht

Ein Mann namens Haslau, der im Württembergischen wohnte, wurde von Diebsgesindel heimgesucht. Haslau hauste, ein Fettwanst, klein, mit stoppligem braunen Haar auf einem kugelrunden Kopf, in seiner Herberge. Zwischen den Bauern, die die breiten Sitzbänke drückten, humpelte er freundlich herum; am Schanktisch stützte er die Arme auf, sah beobachtend in die Stube rechts und links. Hausierer, Wanderburschen tauchten auf; Karren hielten im Hof. Zweimal mußte Haslau auf den Leiterwagen steigen, in die Stadt, sich selbst wegen Hehlerei und Begünstigung verantworten. Als er den letzten Diebstahl auf dem Amt meldete und sich halb umdrehte, bevor er die Türe hinter sich anzog, schmunzelten Schulze und Schreiber an ihren Pulten; der langnäsige bebrillte Schreiber flüsterte mit dem Daumen gegen Haslau: „Hacken die Krähen sich also doch die Augen aus? Wie spaßhaft, wie spaßhaft!“ Und dann kratzten beide das Papier, preßten dicke Querfalten auf ihre Stirnen, weil Haslau noch an der Tür stand und grimmig zurückblickend sich die Kolbennase rieb.

Im Frühjahr wurde das Schild an der Herberge neu gestrichen; der Name Hitzinger wurde golden auf blauem Grunde über Haslaus gepinselt. Vier verdeckte Rollwagen fuhren an dem Marienkirchlein vorbei aus dem Dorf auf die Landstraße. Den letzten lenkte Haslau selbst. Nickte finster in die Stuben hinein. Am Ende der Straße, wo die Feuerwehr in einer Scheune wohnte, spuckte er aus, schlug den Braunen, schnalzte: „Hüh, hü-äh!“

Vor Eßlingen wurde die Ebene wellig. Pflaumen- und Kirschbäume blühten. Die Pferde in Schweiß. Auf einer Anhöhe ein sauberes Häuschen; lächelnd und knixend kam eine große Frau in blaukariertem Kleid zur Tür hinaus, nahm Haslau die Peitsche ab. Sie hatte stopplige Haare wie er und ein rotes Gesicht; seine Schwester Kathrine.

Haslau züchtete in dem Häuschen zwei Jahre lang belgische Kaninchen und Schweine, pflanzte Kürbisse, war in Eßlingen geehrter Vorstand des Gesangvereins, Mitglied der Männerriege; ab und zu übernachteten stille Besucher in seiner Wohnung, die morgens mit ihrem Päckchen verschwanden. Eines Sonnabends nahm Kathrine ein Küchenbeil, ergriff ein feistes Kaninchen an den Hinterbeinen, erschlug es, häutete es ab. Am Sonntag Morgen suchte sie im Keller nach dem Tier, von der Frühmesse bis Haslau aufstand. Er hinkte ungläubig die Treppe herunter, leuchtete unter Kisten, kratzte sich das Ohr: „Es fehlen sechs Weinflaschen und zwei sind leer.“ Kathrine machte maulsperrend drei Kreuze, zitterte „Jesus Maria“, latschte nach oben, saß den vollen Vormittag bei der Nachbarin. Ihr Bruder zog sich die grüne Joppe an, horchte im Verein, man steckte die Köpfe zusammen, sprach mit Nachdruck und trank erregt. Der Kolonialwarenhändler hatte einen Sohn, der beim Militär diente; er besuchte Haslau und sagte, man solle die Sache der Polizei melden. Haslau schniefte: „Ich mach mir meine Wasserleitung allein; einen Viehdoktor brauch ich nicht. Und die Polizei: in Ehren, in Ehren, unberufen, aber wozu?“

Er lehnte die Haustür von jetzt ab nur an. Ein dralles Hausmädchen brachte er aus der Stadt mit für Kathrine. Als Kathrine ihn verblüfft anglotzte, strich er ihr über den Rücken, zog ihre steifen Schürzenbänder durch die Finger: „Wegen der Luft ist es, Kathrine, wegen der Luft auf der Brust. Man wird alt.“ „Ja warum denn?“ „Sie soll dir helfen. Man will, aber es geht nicht mehr, — so allmählich meine ich. Es kocht bei dir auf der Brust. Knappe Luft.“ Auf die Spitzen stellte er sich flüsternd, mit dem Daumen zeigend: „Eine Falle, für den Lump. Bei der soll er anbeißen. Er wird’s tun, verlaß dich drauf. Eine leckere Falle, ein schönes Schmackhäppschen, Trinchen.“

Im Hochsommer trug das saubere Mädchen einen versiegelten Brief von Hitzinger und ein graues Paket mit zwei Schinken herauf, und dann drehte sie sich vor Haslau und brachte nichts heraus. Er nahm die Pfeife aus dem Mund, schimpfte bei Seite, was das solle. Sie flennte, sie sei nicht schuld. Die Pfeife ließ Haslau auf die Rutsche poltern, das Mädchen faßte er am Handgelenk, sprang mit ihr auf den Flur, auf die Kellertreppe: „Kathrine, bring Licht.“ Er fluchte zwischen Kisten, Säcken und Tonnen. Acht Flaschen standen, ausgeleert auf dem Holzverschlag unter der Treppe, davon fünf große Weinflaschen. Kathrine traute sich nicht herunter, dann heulte sie um zwei Kartoffelsäcke und ein Beutelchen Korinthen. Er unter dem Treppenabsatz, dick schwoll sein rundes Gesicht. Nach einer Weile hob er eine Flasche auf, schmetterte sie grimmig auf die Steine, ohne ein Wort zu sagen. „Es war was drin,“ kreischte Kathrine. Haslau nahm stumm zehn Flaschen unter den Arm, klirrte eine nach der andern auf das Pflaster unter der dunklen Treppe. Als die lange Kathrine dem Besessenen in die Arme fiel, schleuderte er sie selbst bei ihrer Korallenkette herum, so daß sie in die feuchten Scherben rasselte, sitzen blieb und nach Luft rang. Der blumige Wein spritzte über ihre blauweißen Backen. Sie machte ein Bein lang, angelte mit dem nackten Fuß nach dem Pantoffel, der ganz unter dem roten Wasser stand.

Abends kauerte Haslau an seinem Tisch, schrieb mit breiten Ellenbogen: „Lieber Hitzinger, besuch mich mal. Deine Schinken sind schön. Kathrine läßt dich grüßen. Bei Reutberg ist die Brücke wacklig; fahr langsam rüber. Dein treuer Freund Oskar Haslau.“

Sie stakelten zwischen den Obstbäumen. Hitzinger im langen Rock mit der schwarzen Weste und Messingknöpfen kniff ein Auge zu, zählte die Kastanien, die Apfelbäume, die Birnbäume: „Hätt ich doch gedacht, daß es sumpfig ist in Eßlingen. Und so schön fest alles!“ Die Schiffermütze zog er schief in die Stirn; aus seinem glatten viereckigen Gesicht blinzelte er zu Haslau herunter, dessen kupferrote Backen und Nasenflügel verdrießlich zuckten. An einer Wegkreuzung setzten sie sich auf einen Stein, verschnauften. Haslau kramte sich Kiesel aus seinen Schuhen: „Der Strolch muß ein strammes Bengelchen sein. Auf Essen und Trinken hat er’s abgesehn. Aber mit dem Mädel bändelt er nicht an.“ Hitzinger spähte um sich, bog sich lang nach vorn über sein Knie, flüsterte ins Gras: „Ein Schuft ist es, ein undankbarer. Was hast du dich geschunden für sie. Wir haben immer zusammengehalten. Meine Flaschen hätt ich zerschmissen, hoho! Vielleicht ist es ein neuer. Müßt ihn erwischen und zu Kleinholz schlagen.“ „Möcht schon,“ brummte Haslau, „aber wer ist es? Minzel Aloys ist in Stuttgart verheiratet, Musikantenfranzele schwimmt auf dem Wasser, Fabian macht Uhren im Zuchthaus.“ Der Mann mit den Silberknöpfen wiegte sich: „Sollt mir passieren, Haslau Oskar. Mein Vater erzählt: wenn früher einer so was fingerte in der Sippe oder an Kameraden, so haben sie sich zusammengetan die Leute allesamt, haben die Feme gemacht über ihn, so hats geheißen, und ab mit der Kohlrübe. Leg ein Blatt Papier in den Keller, schreib rauf mit dem roten Blei: ‚Bruder‘ und drei schwarze Kreuze hinterher.“ Haslau leckte sich die Lippen: „Er gefällt mir, das Bengelchen. Ich denke: Fuchseisen oder Rattengift. Das zieht.“ „Erst warnen!“ „Das Vieh liest nicht, säuft nur.“ — „Egal; er soll sein Fett kriegen, aber in Ordnung, mein Jung, in Ordnung; also schreib du hier aufs Papier: Bruder und drei Kreuze; schwarz, feste Handschrift, Oskar. Weiter scherts dich nicht.“

Eine Woche drauf, Mittwoch früh sechs Uhr in der tiefsten Stille, gellten und gellten Schreie durch das Häuschen, überschlagende Frauengeschreie, Geheul, Hinklatschen auf der Treppe. Gegen die Schlafstube schlug es; in Schlafrock und Pantinen riegelte Haslau auf, packte das Mädchen, das blökend ins Zimmer fiel, beim Arm: „Hat er dir etwas tun wollen?“ Er riß den Ochsenziemer von der Wand, zerrte das unbändige Geschöpf, das immer heiserer brüllte, über den Flur, auf die Kellertreppe: „Schrei nicht, sachte, sachte, sonst kommen die Leute von drüben.“ Sie patschte in sinnlosem Entsetzen die Hände zusammen, hatte Aufstoßen, spie. „Hast du auch die Tür hinter ihm zugemacht?“

Aus dem Keller kam ein schmaler Lichtschein.

Krumm, in einer riesigen Lache Erbrochenem lag ein toter Mann neben umgeworfenen Flaschen.

Still zog Haslau den Schlafrock über dem Bauch zusammen, ein verständnisvolles Aufleuchten ging über sein Gesicht; er nickte: „So, so, so, hin!“ Das Mädchen sprang über eine Pfütze, kreischte draußen weiter. Von oben trampelten schwere Schritte. Haslau bückte sich kopfschüttelnd über seinen Zettel. Er leuchtete, während die beiden Männer sich herandrängten, dem Toten über den besudelten Bart, den gesperrten Mund: „Fabian, ausgerückt aus dem Kittchen, da sind wir ja wieder.“ Der eine Rollkutscher, mit dem hängenden zerfaserten Schnurrbart, fragte, was denn hier wäre; nachdenklich blickte Haslau ihn und den Toten an, pfiff: „Wie sind Sie eigentlich hier rein gekommen meine Herren? — Ja, das ist der Fabian. Ein guter alter Bekannter von mir. Was so aus einem Menschen wird. Man möchte an aller Vernunft verzweifeln. Da hab ich diesen Dreideibelskerl in meinem Keller erwischt. Das war ein Geriebener aus Stuttgart. Hat der nötig gehabt, bei mir Kartoffeln zu stehlen?“ Und er machte sich über die Flaschen her: „Anderthalb Flaschen heute. Der Rest hat ihm nicht geschmeckt.“

Die Männer sahen sich an, kletterten flüsternd die Treppe hinauf. Haslau faßte den Toten bei den Beinen, schleifte ihn über die Stufen auf den Hof, packte ihn auf den Buckel, so daß der geschorene Kopf auf das Pflaster knallte und schmiß ihn an den Rand des Gartens hin. Brach ein Stück des Holzgitters heraus, ließ den Körper, zwei heftige Stöße gegen das Kreuz, bergab auf die Straße rollen. Unten kniete die Leiche, die sich mit einem Arm an einem Pfahl verfing, nach einer Minute ruhig am Weg, beugte den Kopf so tief ins Gras, daß sie durch ihre Beine hindurchsah. In der Stube wusch er sich die Hände, rieb sich Weste und Hose ab, schrieb schnaufend an seinen Freund: „Fabian muß in letzter Zeit sehr dick geworden sein; er war sehr schwer. Nun werden wir Ruhe haben und das Mädchen kann ich entlassen.“

Der Gendarm riß an der Klingel, der Rollkutscher dabei. Als der mit dem Helm brüllte, fragte Haslau verblüfft, ob er solchen stinkenden Kerl auf seinem Grundstück liegen lassen sollte. „Holt Ihr ihn ab, Ihr Polizeiherrchen. Ich mach meine Stube sauber, mit gütigem Verlaub.“ Sie packten ihn an. Mit gehässigen Blicken trat er rückwärts dem Kutscher gegen das Schienbein, so daß er jaulte.

Im Gerichtssaale priemte er erregt. Hitzinger lümmelte an der Barriere.

Erst brummte Haslau: „Herr Richter, der Mann ist an das Zyankali für die Wühlmäuse in meinem Keller geraten.“

„Es wird behauptet, Sie haben das Gift absichtlich in Weinflaschen aufbewahrt.“

„Lassen wir doch die Leute reden, Herr Richter.“

Mit einmal verweigerte er die Antwort und suchte auf seiner Bank herum. Dann protestierte er plötzlich mit vortretenden Augen, indem er sich über die Schranke beugte, wegen Freiheitsberaubung.

Als die Richter nach kurzer Zwischenberatung auf das Podium wiederkehrten, beobachtete er sie verbissen, keifte vor sich: „Was die geheim tun! Mit ihren schwarzen Mützen! Die Herren Dokters! Die Herren Dokters! Den Dreck kümmert sie mein Ding mit Fabian.“

Der Vorsitzende schlug auf den Tisch. Haslau schniefte herauf: „Wollt ihr mir zeigen, was ich zu tun hab, ich alter Mann? In dieser Sache? Wißt ihr was von diesem Prozeß? He?“

Prustend schüttelte er die Fäuste, während ihm blaue Ringe vor dem Gesicht schwammen und er auf den Beinen schaukelte: „Ich verlange, daß ihr Fabian vernehmt und mich rauslaßt. Fabian ist von meinen Leuten. Das ist hier kein Gericht für unsereins. Wenn Fabian nicht recht geschehen ist, so soll er’s sagen.“

Müde kroch als Zeugin ein krummes Mütterchen heraus: „Ja, ja, wenn ich sprechen dürft, und der Fabian hat gesagt, wenn er das nächste Mal einbrechen tät bei Haslau Oskar, dann würd’s wohl eine Geschichte geben.“

Der Vorsitzende fauchte über den Tisch gegen sie. Haslau zitterte, brummelte: „Also ihr laßt mich raus, wenn ihr’s doch hört! Die Sach ist zwischen mir und Fabian. Die Sach ist beschlossen und gerichtet und beendet. Ich misch mich auch nicht in euren Streit. Ihr laßt mich raus!“

Der Richter donnerte: „Sie haben sich ruhig zu verhalten hier.“

Mit unkenntlichem Gesichtsausdruck, fade schielend, die Augen etwas wässerig leer, bewegte sich der Wirt an der Brüstung, setzte sich schwerfällig, während er grunzte, und sein Brustkorb arbeitete. Seine blaurote Unterlippe zuckte pulsierend. Hitzinger flüsterte hetzend; Haslau winkte ab.

Es war nichts zu beweisen. Er wurde zu zehn Tagen Haft wegen Fahrlässigkeit und so weiter verurteilt.

„Karl,“ sagte er auf der Straße zu Hitzinger, „die wollten mich umbringen. Wenn ichs nicht hintergeschluckt hätte, saß ich drin.“

Der lange Hitzinger beruhigte ihn. Zu Hause beim Anblick der grünen Kognakflasche, die Kathrine hereintrug, weinte Haslau erbittert. Er zog die karierten Vorhänge zu, schwieg erst, trank und gluckste finster: „Karl, ist für die denn ein anständiger Mensch und ein Schwein dasselbe? Wegen des dicken Fabian, des Viehs, der meinen Wein ausgesoffen hat, muß ich ins Kittchen?“

„Wenn er’s wüßt, krank lacht er sich.“

Haslau schrie: „Krank lachen tät er sich. Schlimmer als Minzel Aloys war er.“

Als der andere bekümmert die Flasche an sich heranzog, legte der dicke Wirt den aufgestützten Arm hin, sagte entschieden: „Ich nicht. Es gibt noch Gerechtigkeit dafür. Bin kein Aff, Karl, sag ich dir, der sich kujonieren läßt wie ein dummer Lausbub von den hergelaufenen Federfuchsern auf dem Gericht. Bin ich ein solcher Aff?“ und pflanzte sich im Zimmer neben Hitzinger auf, den Hosengurt anziehend.

„Was denn, Oskar?“

„Meinen Wein soll er mir aussaufen dürfen und ich geh ins Kittchen?“

„Was denn, Oskar?“

„Meine Sach hab ich mit Fabian abgemacht, wie wir’s besprochen haben. Kommst du mit, ist’s gut. Kommst du nicht mit, mach ich mein Ding allein, Karl. Es muß ein End nehmen damit.“ Haslau schloß die Kommode auf, stopfte sich Geld aus einem braunen Strumpf in die Taschen. Den Schlüssel warf er vor Hitzinger auf den Tisch. „Oskar, daß du dich vorsiehst. Wir können alle zusammen nichts ausrichten gegen die Federfuchser. Es ist eine abgefeimte Klique.“

„Wirst schon sehen, Karl. Wirst schon sehen.“

Nach vierundzwanzig Stunden brannte die Villa des Amtsrichters ab; das Feuer brach im Dachstuhl aus, ein schlafendes Kindermädchen und viele Tauben kamen um.

Haslau war verschwunden.

Erstach Vieh bei Begüterten, zündete Heuschober an. Wütete im Land. Nach anderthalb Jahren ergriffen ihn zwei Gänsetreiber in der Nähe von Hitzingers Gasthaus, als er sich mit einer Strickleiter hinter dem Amtsgebäude des Dorfes zu schaffen machte. Nachdem man ihm mit Riemen Hände und Füße verschnürt hatte, war er taumlig und bei Stimmung, sah tiefbraun und sehr mager aus. Den gewaltigen Gendarm, der ihn hielt, seinen Feind grinste er an: „Lebst auch noch, alter Sepp. Gönn’s dir, daß du mich gefaßt hast; sollst deine Freud haben.“

Aus den kleinen Türen polterten die Dorfgenossen in die graue Morgenfrühe; reckten die Arme, stießen dem gebundenen Patron in die Weichen, klatschten ihm mit einer Latte meckernd über die Waden. Er bläkte einknickend: „Jetzt machts mit mir, was ihr wollt, ihr Grindköpfe. Jetzt kanns geschehen. Reißt mir die Kaldaunen aus dem Leib. Leckt mir meine Lehmstiebeln ab, da, ihr Borstenvieh, ausgesuchtes.“

Jäh packte ihn, als er spie, der Gendarm bei der Schulter und warf ihn mit einem Ruck vor einen Misthaufen. Ein Bauer rief: „Jetzt gibt’s nichts mehr zu hehlen dahier, du Hehler.“ Ein anderer lockerte den Mist mit einer Gabel: „Zu essen, Herr Wirt, dahier! Kuhfleisch, laßt euch schmecken, Lammbraten, da, fetter Schinken, Schinken mit Tunke.“

Er wälzte sein beschmiertes Gesicht hoch: „Hätt ich noch die Herberge, ich wollte euch was zu trinken geben, was euch Maul und Magen zusammen verbrennt und euch das leibhaftige Höllenfeuer bei Lebzeiten im Bauch anrichtet. Mißgünstige ihr, Diebe allesamt, unehrliches Volk.“

Der lange Hitzinger war aus dem Bett gekrochen, stand mit sinkenden Hosen auf der Treppe vor dem goldblitzenden Schild. Der Leiterwagen klapperte mit Haslau, der ausgelassen höhnte, gröhlte und pfiff, aus dem Dorf. Hitzinger zog sich die Hosen stramm, spuckte hinter den springenden, fuchtelnden Bauern aus, bevor er mit einem Fluch über die Schwelle stolperte.

Die Schlacht, die Schlacht!

Armand Mercier geht seinen Freund Louis suchen.

Weiche schmelzende Schultern, Louis Poinsignon, in blaue Kittel gehüllter dünner Rumpf, schiebende Beine in hohen schwarzen Stiefeln, Louis, den blauen Schal um den Hals.

Daß er tot ist, wer glaubt das? Seine Mutter in Vareau heult, steckt sich die Daumen in die Ohren, kaut Teeblätter. Seine Mutter heult! Hähä, wollen sehen. Noch hat man einen Kopf und spuckt auf einen Wisch von Depesche.

Armand prustet neun Tage um sich, hat eine blasse Nase, merkt nicht, daß Frost da ist; sein Schacht verdreckt, Wasser rennt armdick über den Boden, Pumpen ziehen nicht.

Louis Poinsignon mit dem strohblonden glatten Haar steht nicht im Maschinenhaus, kommt nicht zum Tricktrackspiel. Gegen die Preußen gekrabbelt mit den andern; und ich auf eine Grube aufpassen. Die Ameise, das Ameischen, Louis Poinsignon, das fleißige saubere Ameischen, das sie zertreten haben, und ich auf die Grube aufpassen. Das alte Weib heult: was geht’s mich an! Die Frau hat keinen Begriff. Entweder ist er tot und dann, — Armand kaut an seiner Zunge und ist besinnungslos, — oder eben: er ist nicht tot. Oder er ist eben nicht tot. Er ist eben nicht tot. Ist nicht tot. Louis ist nicht tot.

Am zehnten Tage sagt er sich: man ist kein Sklave; wenn Louis Poinsignon im Hügelland von Roye gefallen ist, dann ist es um was geschehen. Pfeifen, Trompeten, Trommeln, dann sollen sie mal trommeln, bumberum bumm bumm, titiliti. Mütze in die Ecke, Rock in die Ecke, ein Bad genommen. Nach Hause. Sieben Uhr abends. Armands Augen lesen die Schilder des Städtchens ab: Féréol Gide, Drogerie; Witwe Walter, Kostüme; Camille Ticeuze, Pfandleihe. Nun ade, du mein lieb Heimatland.

Elf Uhr; noch einmal in der Kammer rasiert. „Adieu, liebe Frau, ich geh’ ins Wirtshaus, Muscheln essen.“

„Pssst, Amélie schläft.“

„Nacht, lütte Amélie.“

Bergmannskappe über die Ohren, Finsternis in den gewundenen Straßen, Novembersturm. Verkrochen in den steifen schwarzen Ledermantel, Blendlaterne ins dritte Knopfloch gehakt. An den roten Wirtshausfenstern geduckt vorbei. Witwe Walter, Kostüme; Féréol Gide, Drogerie; Metzgerei vom dicken Camille.

Nasser Gischt in der Luft, freie Äcker. Preußen, Bayern, wenn ihr Louis habt, gebt ihr ihn her. Weißer zappelnder Laternenkreis immer zwei Schritt vor den Stiefelspitzen. Marschieren. Der Lehm saugt an den Stiefeln. Marschieren.

Zunächst Dizennes; geschlossene Fensterläden. Dann der Besitz von Herrn Uzaire; durch den gesperrten Wildpark; alles tot; die Vögel runtergeholt; kein Wächter; ah, Kaninchen. Chaussee nach Craor. Ein Leiterwagen. „Nehmt ihr mich mit nach Roye?“ „Wenn du blechst, bis Craor.“ „Und nach Roye?“ „Geht nicht weiter.“

Auf Mehlsäcken bis in den Vormittag hinein, schnarchend, kauernd, hochfahrend. Einmal kollert er rückwärts, faßt einen Sackträger beim bloßen Hals, rollt ihn seitlich über die Bretter; der wollte ihm was wegnehmen, ihn berauben. Mißverständnis im Halbschlaf, aber das Glas der Blendlaterne vorn ist kaputt, das Blech vom Gehäuse verbogen, das Mantelleder qualmt, stinkt.

Kalte graue Helligkeit. Nackte Felder, endlose Felder. Es bullert. Es stößt gegen den Horizont. Deutlicher, abgegrenzt, ein langgezogenes „Dumm“; immer Orgelgrundbaß nachschwingend.

Gefahrenzone.

Radfahrersoldaten rechts nach vorn vorbei, links nach vorn vorbei; Konservenbüchsen in den Tornistern klappern. Patrouillen latschen zu zwei, zu fünf, Knarre auf dem Buckel, kalte Tabakspfeifen zwischen den Zähnen; blinzeln gegen den Himmel; die Stiefel unten zerquarken den Lehm. Linker Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ rechter Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ linker Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ rechter Stiefel: „Alles Wurscht“, linker Stiefel: „Alles Wurscht“, rechter Stiefel. Pässe, Pässe. Man kommt nicht durch. Runter vom Wagen. Dicke Menschenhaufen aus dem Dorf. Alle rückwärts nach Bagolles, nach Petit-Bagolles, nach Bordigaux. Bettsäcke, Kinderwagen, Handkarren, Vogelbauer. Armands Heimat wird morgen Großstadt, der Heurige, die Schnecken werden nicht reichen. Alle rückwärts.

Dahinten brennt’s doch nicht! Dahinten brennt’s. Die Preußen schießen.

„Wo geht’s nach Crataires?“

„Verrückt. Nicht durchzukommen. Die Preußen schießen.“

„Wo geht’s nach Crataires?“

„Was willst du in Crataires? Die Großmutter abholen? Die wärmt sich die Beine da. Guck hin.“

„Herr Wachtmeister, ich heiße Armand Mercier, ich muß durch. Ich habe Verwandte in Crataires, eine Frau, meine Schwester, mit zwei Kindern, zwei kleinen Kindern; das eine acht Monat. Der Mann steht in Toulon. Man kann die Frau nicht umkommen lassen.“

„Wie lange wollen Sie noch reden.“

„Die Frau ist hilflos. Ich bin aus diesem Kreis, Mercier heiße ich, man muß mich durchlassen. Ich kann es nicht auf mich nehmen.“

„Wie lange wollen Sie noch reden. Etappenwache drüben links, holen Sie einen Paß.“

„Es eilt, sehen Sie ja, Herr Wachtmeister, um Marias willen. Bester Herr. Der Mann steht bei der Hafenkommandantur, Vizefeldwebel, ein sehr zuverlässiger Mann, Sie können sich denken. Ich werde es Ihnen nicht vergessen. Ich wohne in der Straße, wenn Sie über Dizennes kommen, gleich links die zweite Querstraße.“

„Hollah, hol-lah! Die Herrschaften da! Wo wollen die Herrschaften hin? Sie in dem Auto! Haben Sie Paß! Kommen Sie runter, wenn Sie nicht verstehen. — Drüben links, Etappenwache. Ich sage doch ‚links‘. — Wie lange wollen Sie noch reden.“

Soldaten kommen durch. Eine Uniform stehlen. Wo liegen Verwundete? Wo ein Schlachtfeld? Armand Mercier stellt sich in eine Nische neben den Paßkontrolleur, studiert Menschen. Braucht Größe 1,80. Sachte trabt ein Korbwägelchen an, herum rutscht es um den Zaun, auch zurück nach Dizennes.

Zwei Soldaten drauf, stämmige Burschen, einer mit rotem Bändchen, aber Kopf verbunden. „Dumm! Dumm!“ Bullert gewaltig, man geht, fährt, läuft schneller.

„Guten Morgen, Kamerad.“ Sie schreien „runter“, der mit dem Kopfverband will mit den Hacken gegen Merciers anklammernde Finger; schon kniet Mercier auf der scharfen Bodenkante des Wägelchens, Seitenlatte angepackt, das Pferd rast vorwärts, lang fegt der schwarze Ledermantel durch den Straßenmist. Mercier keucht: „Nach Roye; ihr nehmt mich doch mit. Ich zahle.“ Mercier ist verbissen; er brabbelt den beiden stier ins Gesicht, während er sich hochhangelt: „Meine Schwester hat zwei Kinder, der Mann steht in Belfort, Vizefeldwebel, ein zuverlässiger Mann.“

„Wir fahren ja nach Dizennes, rückwärts fahren wir.“

„Ich meine Dizennes. Er hat mir ans Herz gelegt, für seine Kinder zu sorgen.“

Vorn flüstern die beiden. Armand hockt hinter ihrem Rücken unter dem runden Dach, schielt über ihre Schultern, prüft ihre Uniformen. Sie flüstern schärfer. Als sie kurz vor Dizennes langsamer fahren, übernimmt der gesunde schlankere die Zügel, der mit dem Bändchen stemmt sich plötzlich mit seinem ganzen Katzenbuckel gegen den hochgestülpten Pferdetrog, ruckt nach hinten herumschnellend die Beine gegen Armands Beine, wie ein Hampelmann. Rutscht dabei vom Trog ab, gibt sich heftige Stöße gegen Kopf und linke Schulter an zwei Kistchen mit Liebesgaben, weil Armand inzwischen seine Füße über den Knöcheln zu fassen gekriegt hat und er nicht loskommt. Der Schlanke haut das Pferd. Als sie sitzen und Armand sich die Hände an den Kistendeckeln abgewischt hat, verlangt er von dem Schlanken, der kutschiert, Uniform und Urlaubspaß, für fünfzig Frank in Gold, leihweise. Gelächter. Der mit der Kopfwunde will kutschieren; hat vor, aus Wut, sie alle drei in Dreck zu setzen. Vorher gelingt es Armand, nachdem er lange mit der Zunge geschnalzt und ein verliebtes Schmunzeln hinter mehreren spazierenden Mädchen aufgesteckt hat, den Schlanken, der rauflustig ist, hinter sich herzulocken auf die Chaussee, einer kleinen Bäuerin nach, die auf dem Kopf mit dem Strohkranz einen hohen Korb balanciert. Statt aber das Mädchen im Birkengehölz hinzulegen, wird der Soldat dicht hinter der Fliehenden, die den Korb schon in der linken Hand schwingt und den Mund atemlos zum Schreien aufreißt, am Sandplatz vor dem Gehölz durch einen versehentlichen Ellbogenstoß über eine Wurzel gerempelt. Armand stolpert über den Gestürzten, der sich abwechselnd Kinn und Knie reibt, kriegt den schon Hochkletternden am Hals über der Binde und fängt mit dem Schnappenden ein Handelsgeschäft an. „Also fünfzig Frank, siebzig Frank und das Mädel für dich allein. Aber fix, in zehn Minuten ist sie außer Sicht. Wir bleiben gute Brüder. Hand weg. Es geht nicht anders.“

Der schluckt und juchzt wie ein Fisch, den man bei den Kiemen hat und der nach hinten mit der Schwanzflosse schlägt. „Spion, ich schreie.“

„Schrei. Kriegst den Daumen drauf. Schreist? Also du ziehst meine Sachen an, gehst in die Ferme und holst das Mädel. Kein Mensch fragt nach dir.“

„Ich schrei doch.“

„Kriegst den Daumen.“

Der Soldat zieht sich, während er in dem Sandloch sitzt, atmet und wieder rosa wird, die Stiefeln aus, fragt unsicher, ob der andere einen Ausweis hat. Der taucht aus seinem Mantel, hat im Nu die Stiefel erwischt. „Drei Tage kriegst du meine Steigerkarte, für den Weg, für die Gendarme und so. Bis man raus hat, wo du steckst, bist du wieder da.“

„Meine Kluft.“

„Wirst du wiederhaben.“

„Alles?“

„Zehn Frank nachher.“

Beide frieren im Hemd, zusammengekrümmt im Sandloch, belauern sich, kratzen sich die Waden. Der schlanke, während er sich Armands Hosen anzieht, findet in der Hintertasche etwas Hartes, ein Messer, verlangt plötzlich fünfundachtzig Frank. Armand tut, als merkt er nichts, sagt zu und stellt den Fuß auf das Seitengewehr am Boden. Damit abgemacht.

Drüben knallt der Blessierte, der sie in den Chausseegraben setzen will, neben dem Wägelchen mit der Peitsche. Armand das leichte rote Käppi auf; Pioupiou schlurrt im Ledermantel, Blendlaterne am Knopf, zufrieden mit fünfundachtzig Frank Gold in der Faust. Wiedersehen hier in drei Tagen. Pioupiou tänzelt bartzwirbelnd in die Ferne, rafft den Mantel wie einen Damenrock.

Armand um den Wagen herum. Die Chaussee nach Nordosten. Wieder in die Gefahrenzone. Der Tag ist um. Scharf durch die gegenflutenden Menschenmengen, hinter Munitionskolonnen. Die Pferde stürzen auf dem Glatteis; Peitschen, Gewehrkolben über sie. „Dumm, Dumm“ von rechts hinten; das Echo rollt „Dumm —“ lang zwischen den Zähnen aus.

Kürassiere gehen ohne Pferd stumm jenseits des Bächleins. „Ich will zu meinem Regiment, Territorial-Ersatzbataillon 81.“

„Gibt’s das noch, dein Regiment?“

„Territorial 81 Ersatz. Oha, oha. Wo werden die sein.“

„Bruder, komm mit, wir wischen aus. Ich weiß Bescheid.“

„Oha, oha, sein Regiment, 81 Territorial-Ersatz.“

Der Etappenaufseher, Unteroffizier, weißköpfig, schreit ihn durch ein Fenster am Torhaus an: „Sie hätten mit dem Zug fahren sollen um acht Uhr zwanzig von Craor. Ihr seid Drückeberger, Vaterlandsverräter.“

„Hier ist mein Paß.“

„Sie haben noch bis zum 26. Urlaub.“

„Ich verzichte.“

Ein Sanitätsauto rasselt an und trillert. „Den Mann mitnehmen.“

Unterwegs, als schon der hohe Granatengesang deutlich vor ihnen ist, lockert Armand heimlich den Drücker der Tür, denn er sitzt im Wagen auf der Trage; helle Angst, daß sie ihn zur Stellung der 81er bringen und entlarven. Läßt sich, als das Auto langsamer zu fahren scheint, der Weg dunkel und voller Lärm ist, rasch rückwärts in den Dreck fallen. Ein Radfahrer springt dicht vor ihm ab.

Heller Mond, durchsichtige Nacht. Rechts, links sanft ansteigende Hügel; glatt rasierte Abhänge. Chausseen in der Talwindung; an schwarzen geteerten Holzbaracken vorbei, Sägereien, auf vorgeschobenem Hügel eine drehende Windmühle. Weißer, flirrender Bündel von der Mühlenspitze nordwärts in die Nacht gebohrt, still sich kreuzend mit einem Schein, der von unsichtbarem Orte in die Finsternis sich schiebt und schleicht und verschwindet und plötzlich über das Tal mit aufblendendem Nebel schwimmt und kilometerweit abgleitet. Menschen, Wagen drängen auseinander. Armand mit einer Trainkolonne biegt links ab; bei Grandmoulin sind die Stellungen der Reserven und Louis Poinsignon. Matt ist Armand Mercier; er reitet auf einem Vorspannpferd und ißt Corned beef aus einer Schachtel. Immer neue Hügel. Wenn das Wagenknarren aufhört, „Hui — i — i — iahh!“ der Granaten, meckerndes „Päng —päng —päng“ dazwischen. Die Eisschalen unter den Pferdehufen knacken.

Breit und lang die Chaussee. Nur die Munitionskolonne reitet hier. Dies ist der Weg zu Louis Poinsignon. Armand Mercier weint heiß vor Trauer, krampft mit der linken Hand in die Mähne des Tieres, zieht die Knie an dem atmenden Tierleib hoch. Wäre er zu Fuß, würde er sich haben hinsinken lassen und stundenlang nicht aufgestanden sein. Das Pferd trägt ihn zu Louis Poinsignon, der nicht da ist. Am Ende der Chaussee wird das Dorf mit dem Quartier sein, und Louis Poinsignon ist nicht da. Die Schwäche hält ihn auf dem Pferd; das trottet, hebt sich, senkt sich. Es geht wehrlos weiter durch die stille Chaussee. Hier kann kein Louis Poinsignon existieren, es ist unmöglich. Hier ist der Mann weggerafft.

Rot und röter loht von rechts der Himmel. Niedergebrochen blickt durch Tränen Armand Mercier auf den Himmel, stumm geradeaus bewegt sich die Kolonne. Seine Augen bleiben gefangen an der Röte, die hochdrängt, fast im Halbkreis des Horizontes. Mit Befremden, Bitternis und Abscheu betrachtet Armand den Flammenschein, die Chaussee, den vorüberziehenden Wald. Auf die linke Chausseeseite herüber biegt sein Zug, hält an. Und da rattert es vorbei, vom Dorf herunter, die hochtürmigen Transportautos, die strohgefütterten Wagen, die offenen ungeschützten Bretterwagen mit den Verwundeten, den zerschossenen Soldatenleibern, die angeblafft sind von den aufbäumenden Granaten, die stöhnenden, über deren Köpfe Mauerwerk gepoltert ist, die japsenden, halb erstickt aus den Giftdämpfen der Schützengräben gezogen, ausgestreckte Leiber in nicht endender Reihe hintereinander, in weiße Verbände geschlagen, durch die das Blut sickert, eine träumende delirierende Schar, der furchtbar drängenden Macht drüben aus den Zähnen gedreht.

Louis Poinsignon tot. Bevor das letzte Auto an der gebückt harrenden Kolonne vorübersurrt, ist Armand Mercier in den Wald geglitten. Wandert um das Dorf herum, er will nicht in das Quartier der Reserven. Von dem grauroten Flammengewölbe schmettert es in malmenden Lagen nieder, haushohe Feuergarben quellen aus der Erde. Eine Esse; Hammer, Amboß.

Schmerzvoll schleicht Armand Mercier aus dem Wald heraus; verstohlen Flüchtende auf allen Seiten um ihn; eine schattige Figur kommt über die Wiese gelaufen, hat einen weißgarnierten Hut in der Hand. Armand geht, ohne zu wissen, was er tut, neben ihr her, als sie zwischen die erste Stammreihe eingetreten ist. Das zarte Dämchen hat ein Plaid über der linken Schulter, ihr Rock ist bis zur Hüfte mit Lehm bespritzt. Sie sagt entrüstet: „Ich wohne in Roye; wir müssen fliehen, mein Vater und meine Schwestern kommen gleich nach.“

„Aber Fräuleinchen, Fräuleinchen Nini.“ Er tatscht sie zutraulich.

Sie reißt sich ab, sieht ängstlich um sich. „Ach Gott, Herr Mercier. Aber Sie sind es.“

„Fräulein Nini.“

„Sehen Sie. Sie sagen nichts zu Hause. Ich bin erst drei Tage weg. Ich habe George besucht, meinen Verlobten, den Buchbindersältesten, George steht hier.“

„Mit dem sind Sie verlobt?“

„Heimlich. Sie sagen nichts zu Hause. Gott, ist das ein Zufall. Sie sind’s doch wirklich, Herr Mercier. Ich wußte gar nicht, daß Sie einberufen sind. Bei welchem Regiment stehen Sie eigentlich.“

Armand aber wundert sich wenig. Setzt ihr den Hut auf, steckt die Nadeln fest, nimmt das Plaid und legt ihn ihr um die Schultern, dann nimmt er sie unter den Arm: „Kommen Sie mit.“

Sie lächelt ihn glücklich an: „Armand, ich habe gar nicht gewußt, daß Sie eingezogen waren.“

„Ja, doch.“

„Sonst hätte ich Sie auch besucht.“

Er den Kopf tief zwischen den Schultern wandert mit ihr ziellos durch den Wald. „Nini, man müßte etwas zu trinken haben.“

Er kneift sie und pfeift. Sie kichert ihn an: „Wie nett Sie sein können. Wissen Sie, Armand, im Krieg sind alle Männer viel netter.“

Ihre Augen schließen sich, während sie sich an Armand schmiegt. Sie sind in eine Lichtung getreten, ein Reiter kommt aus einem Seitenweg im Galopp auf sie zu, ein Feldgendarm. Sie stäuben auseinander; beim Weglaufen winkt Nini Armand zu, weist, wo sie sich versteckt. Nach einer Viertelstunde knackt es im Buschwerk neben Armand; Nini zieht ihn am Arm: „Tippel, tappel, tippel, tappel,“ kichert sie; sie kommandiert, als sie sich, die Hände voraus, vorsichtig durch das Dickicht drängen: „‚Mann, wie heißen Sie? Wo stehen Sie im Quartier? Wie können Sie sich hier mit einer Weibsperson herumtreiben!‘ Hab’ ich gehört; mit George. Der Unterleutnant hat gesagt: ‚Daß mir keiner eine „Sie“ bei sich hat. Ein Soldat mit ’ner Ziege saust rin.‘ Armand, glauben Sie, daß ich Mut habe?“

Sie blickte ihn erwartend an.

„Doch, Nini.“

Ihr Gesicht leuchtet auf: „Oh! Aber pfui, das reißt ja. Ich war bei George im Schützengraben. Es waren noch andere Fräuleins da. Als der Wachhabende es merkt und mich sucht, versteckt mich George; er will mich verstecken, aber er hat nur eine Kiste da, vorn an der Brustwehr, eine Brotkiste, wissen Sie, so ein langes hohes Ding. In die Kiste bin ich reingesprungen, wie ich war; er hat mich hochgehoben; lieber mich von den Preußen totschießen, als von dem groben Kerl anfassen lassen. Oh, der ist grob. Der weiß gar nicht, was er tut, so wütend ist er immer. Und auf mich hatte er es immer abgesehen, der schlechte Mensch. Denken Sie, Armand — Sie sind mir nicht böse, wenn ich Sie Armand nenne? Sie sind doch heute so nett zu mir. Da bin ich oben zwischen den Steinhaufen in der Kiste gesessen, die hatte vorn ein großes Loch, fast wie ein Kopf groß, von einem Stück Granate, und ich sitze da oben und höre den Wachhabenden schreien und tuen und brüllen, er sucht mich im ganzen Graben. Und George hat immerzu geschossen, oh, der kann schießen, ein Mal hinter dem andern, am fleißigsten von allen; ich hab’ nicht gesehen, wo er hingeschossen hat. Die Preußen haben nichts dazu getan. Ich habe mich auch gar nicht gefürchtet; ich habe immer zugehört, wie George geschossen hat. Er hat mir gesagt, er hätte keinen Preußen an mich herangelassen; zwanzig oder dreißig hat er totgeschossen in einer Stunde, bums, bums, immerzu. Nachher war ich ganz glücklich. Ich geh’ bald wieder zu ihm. Oh, mir gefällt der Krieg.“

Lichtschein zwischen den Stämmen vor ihnen; er arbeitet sich mit ihr gedankenlos drauf zu; frieren beide nicht. Plötzlich zehn Schritt vor ihnen grell bestrahlter Boden; geöffnete Blendlaterne im Moos, erzählende Männerstimmen. Zwei Posten in weißen Pelzen, Gewehre hingelegt, lachen, treten von Bein auf Bein, schlucken, kauen, was sie aus großem, dampfendem Blechtopf neben der Laterne mit Fingern fischen.

„Der merkt nichts. Der weiß nicht mal genau, ob er seinen Topf noch hat.“

„Ein Schaf. Ich kenn’ ihn dafür.“

„Wer sollte das kriegen?“

„Na, wer wohl? Na, rat mal! Wer kann wohl ein Huhn kriegen?“

„Na.“

„Na, rat mal. Immer derselbe. Immer derselbe dicke Vize; aus dem Lazarett stiehlt er hintenrum, wo er’s kann. Nebenbei schickt er das Schaf auf Suche. Abends sitzt ihm eine gewisse auf dem Schoß.“

„Pass’ auf, heut kontrolliert er Lazarettposten. Von mir findet er nichts.“

„Von mir nicht mal ein Knöchelchen; fress’ alles reinweg runter. Er kann schnüffeln.“

Hocken hinter der Laterne, gießen sich gegenseitig Suppe in zusammengelegte Handteller.

Jenseits der Lazarettlichter hinten flackert es auf einmal, erlischt oft, es ist Stroh, Männer schütten von einer Erhöhung Bettsäcke ins Feuer. Armand kann sich nicht rühren; langsam hat sich Nini, während er hockt, über seine Knie an seine Brust gedrückt, atmet tief und gleichmäßig.

Der Posten, schluckend: „Pierre Chavanne aus meiner Heimat ist gestern gestorben drüben. Hat drin eine feine Sache gehabt. Also er lag mit einem Pariser zusammen auf einer Stube. Wie es Chavanne schlecht geht, sagt der Pariser: ‚Du, schenkst du mir nicht deinen Trauring? Nachher klaut ihn ein Wärter.‘“

Anderer Posten: „Chavanne, war der verheiratet?“

„Nein. Verheiratet? Tu doch nicht so? Hast du keinen.“

Der andere schluckt verdächtig laut, murmelt: „Ich hab keinen, habe keine Furcht vor den Preußen.“

„‚Also du schenkst mir den Trauring‘, sagt der Pariser zu Chavanne; und kriegt ihn. Aber Chavanne wird dir wieder besser und den Pariser packt es derbe. Und wie der Pariser schon fast auf der Nase liegt, wird Chavanne ihn bitten und sagen, er soll ihm seinen Trauring wiedergeben und den von dem Pariser dazu. Der tut’s auch. Mein Chavanne freut sich, guckt jeden Tag hin, ob sein Nachbar noch nicht tot ist. Jeden Morgen guckt er rüber, jede Nacht. Bis der Pariser auch wieder lebendig wird und nun Chavanne auf einmal solche Wut darüber hat, daß er dir einen Herzschlag kriegt, gestern mittag. Und mein Pariser hat beide Ringe.“

„Ist er tot, der Chavanne?“

„Ist tot.“

„So ein Dämlack.“

„Nein, alle beide Dämlacks. Ich hätte —“

„Sachte, sachte, psssst! Kontrolle!“

Gewehre hoch, Laterne geschlossen, getrennt zwischen den Bäumen durch.

Armand verträumt biegt die Arme. Die Kleine fest eingeschlafen, Kopf zurückgefallen; ihr Hut schwebt frei abwärts am gelockerten Haar. Sie atmet mit offenem Mund; durch eine Zahnlücke wird die nasse Zunge sichtbar. Als er den Hut gegen ihren Kopf andrückt, sticht sie die Nadel, sie ist gleich hoch und munter.

Wieder plappert es nicht weit: „Päng, päng, päng.“ Wie Armand, das Mädchen am Arm, über den Topf marschiert und die Knochen in Bewegung kommen, fühlt er, schön frisch ist die Luft. Denkt: Louis Poinsignon ist tot und es muß schön sein so wie er zu marschieren, zu rennen, zu klettern, zu schießen. Braver Junge, Armand freut sich über ihn. Der Nini erzählt er von ihm, sie lobt den Louis auch. Gar nicht traurig ist Armand über den Tod Poinsignons; es ist wirklich gerade so, als wenn Louis, der Lange mit dem blauen Schal, tot sein müßte. Kaputt muß doch alles gehen; es liegt hier so in der Luft. Ran woll’n wir alle an den Tod. Armand und Nini haben ihren Spaß an dem „Dumm dumm“. Beide hungrig, kommen ins laufen. Armand bittet: „Spring zu meiner Kompagnie, frag nach dem Unterleutnant, aber komm bald wieder. Wenn er abgeschossen ist, bin ich froh, dann tret ich in die Kompagnie ein.“ Beglückt läuft Nini. Und bei grauendem Morgen hört Armand, daß der Unterleutnant und viele andere gefallen sind, fremder Nachschub, fast nur Fremdes in der Kompagnie. Juchzt Armand Mercier, macht einen Sprung, beschenkt Nini mit einem Schmatz, sagt: „Adieu!“ Am Mittag schippt er hinter dem Schützengraben, für den schlanken Pioupiou, der in der Ferme flirtet. Zwei Tage: Schippen, Essenholen, Wachen.

Bis ihm am dritten jählings die Hände lahm werden und ihm einfällt, daß alles schön und herzhafte Freude sei, aber schließlich ungewiß bliebe, was aus Louis Poinsignon geworden ist. Ihm ist gegen Mittag so drängend zumute und sein Gemüt so trübe verschleiert, daß er keine Ruhe findet. Muß seinen Tornister nehmen; ohne etwas zu sagen, die Knarre über den Buckel hängen und sich davonmachen. Und ehe er’s sich versieht, ist er in der Nähe des Lazaretts. Man läßt ihn in die Wachtstube. Dann nimmt ihn ein Sanitätsfeldwebel mit, blättert in einem ungeheuren Buch, das auf dem Korridor an einer Kette auf besonderem Pulte liegt, dick wie ein Adreßbuch. Der glattrasierte Mann fragt, ob dieser Poinsignon Louis oder wie sonst geheißen habe. Und dann hört Armand, daß sein Freund am soundsovielten an Typhus gestorben sei.

Das wirkt gar nicht auf Armand Mercier. Grüßt stramm, geht und sagt sich: „Nun habe ich es doch herausgekriegt.“ Erst in dem Wald, wo ihm Nini und der frische muntere Tag einfällt, an dem er zur Kompagnie gegangen ist, wird er betrübt, recht kläglich, als wenn er enttäuscht wäre. Zankt mit sich, hat Schmerzen im Kreuz; gar keine Freude werde ich mehr haben. Was hab’ ich nun? Uniform und Schießknüppel. Keinen Sarg hab’ ich von ihm; keine Leiche, nichts hat er mir hinterlassen. Sehr unfreundlich und ungnädig denkt er an Louis, der einfach gestorben ist, am Typhus, im Lazarett, womit sich nichts machen läßt.

Und in seinem Ärger marschiert er weiter, von ungefähr auf seine Stellung zu. Vergißt nach einer Weile ganz, daß er Uniform trägt, plärrt. Denkt an seine Heimat, an die Frau und Amélie, und das bereitet ihm alles solchen Gram, daß er nicht satt werden kann zu weinen. Weil er auch so sterben wird hier, an Typhus oder was sonst.

„Louis, Louis,“ seufzt er und sitzt am Boden nahe dem Bagagewagen. Er ringt, mit sich beschäftigt, die Hände und schlägt die Arme auf und ab. Der Führer eines Wagens pflanzt sich vor ihm auf. Armand Mercier hört nicht, was der schimpft. Der Unteroffizier reißt ihn hoch, und unversehens hat ihm Armand, der ihm starr ins Gesicht geschaut hat, einen Faustschlag über die Nasenwurzel versetzt, setzt sich wieder neben das Rad, heftiger über sich und die Welt jammernd.

Wird nach fünf Minuten von vier Mann angefaßt, geschüttelt, Kolbenstöße. Auf freiem Feld wird er, Tornister angeschnallt, an eine Kiefer mit Stricken gebunden, Arme hoch. Zwei Stunden muß er stehen und frieren.

Zweite Stunde ist um; lahm und böse geht Armand vom Baum weg. Gewehr und Säbel hat man ihm abgenommen. Da will er nichts weiter als über die Wiese rennen, sein Gewehr haben, gegen die Preußen rennen und schießen, schießen. Wird jenseits der Gräben zur Arbeitstruppe gejagt. Der vordere Teil des Waldes wird umgekappt, Stammenden fest, Wipfel gegen den Feind, über- und nebeneinanderlagernd weit vorgeworfen wie angewurzelte Kavallerie mit Lanzen. Sein Arbeitstrupp schlägt mit Kreuzhacke und Wuchtbaum zwei kleine Forsthäuser nieder. Von der gefrorenen Erde hauen und kratzen sie Staub ab, füllen die Tonnen, Sandsäcke. Die Flüche der drängenden Kolonnenführer, Klatschen der verirrten Sprengstücke gegen einen Stamm, das erregte Arbeiten. Die Unruhe aller, das Umsichblicken, das Rückwärtsblicken. Dichter, näher schießt es.

Wald nach rückwärts bis zur Eisenbahnböschung gebrochen, trampelt Armand fluchend mit fünf anderen in die Schleusen-Kneipe hinter dem Bahndamm.

Ein Dörfler, Weißbart, Stahlbrille, zieht mit knickrigen Knien hinterher; Fiedel unter dem rechten Arm, in der linken Hand im blauen Taschentuch einen Igel. Wer ihm die Fiedel abkaufen will. Spielt gegen zwei Schnäpse auf Armands galgenlaunigen Wunsch Ländler auf; ein Pionier sagt zu seinem Nachbarn: „Wenn der Alte herauskommt, nehmen wir ihm die Fiedel ab.“ Draußen gleich neben der Tür fliegt der Alte in einen Asthaufen, Fiedel und Igel im Taschentuch drüber weg. Gekreisch des Alten; der Pionier hat die Geige unterm Arm; vier Soldaten heran. Der Pionier zerschlägt in Wut die Geige an seiner Stiefelspitze. Gebrüll von drei Seiten, der Räuber droht dem Weißbart mit den Geigentrümmern. Armand rafft mit: „Ei, ei“ den Igel im Taschentuch auf, will ihn unter seiner Jacke aufhängen.

Als er am Ellenbogen gefaßt, rechts herumgeworfen wird. „Lump, Lump,“ schreit was, „da haben wir ihn, meine Uniform.“ Der verliebte schlanke Pioupiou im Bergmannsmantel, Laterne im Knopfloch, Feldgendarm neben ihm. Das Gekeif. Armand herausgerissen. „Spion,“ brüllt der gefesselte Pioupiou. Vor den Hauptmann in den Unterstand geschleppt. Der Gendarm stellt seinen schwarzen Säbel vor, er hätte den Pioupiou in Wirtschaften herumstrolchen sehn, mit einer großen Goldsumme, die wohl gestohlen sei; Pioupiou behaupte Soldat und beraubt zu sein von diesem Bergmann Armand Mercier. Pioupiou flennt; er habe allein ein Korbwägelchen gelenkt, Armand und drei andere seien dem Pferde vor Dizennes in die Zügel gefallen, hätten ihn dann in eine verlassene Ferme gelockt, ihm die Uniform ausgezogen; die drei anderen hätten Pickelhauben gehabt, große Pickelhauben, es seien Deutsche gewesen, und mit Armand Mercier Spione. Und das Gold? Das hätte er sich in einem Wirtshaus geliehen.

Armand Mercier grollt, brummelt vor sich, sieht wehmütig allen drei unter die Augen. Bückt sich nach vorn über seinen Bauch, um nicht den kleinen Igel zu drücken. Er will im Krieg bleiben, will nicht wieder an den Baum. Louis hat er schon verloren, nun nicht noch mehr. Ist genug dran gegeben. Verflucht den Strolch von Pioupiou, der ihm in die Quere kommt. Leugnet, als er von dem einen gehässigen Blick kriegt, steif, Armand Mercier zu sein, hier seine Erkennungsmarke. Sie überschreien sich, Armand bettelt, ohne den höhnisch lächelnden Hauptmann zu beachten, der mit seitlich gelegtem Kopf dem Gendarm abwinkt. Bis schließlich Armand, als er nicht fertig wird, an den Kerl herantritt, ihm die Faust vor die Nase drückt: „Und du willst ein ehrlicher Kerl sein?“ Wendet sich wutgeschwollen gegen den Hauptmann um: „Bezahlen hat er sich lassen, mit fünfundachtzig Frank. Meinen Freund Louis Poinsignon wollte ich begraben, der am Typhus gestorben ist im Lazarett. Aber der da ist ein Lump, der zehn Stunden an den Baum gehört. Herr Hauptmann, so ein Lump und verruchter Menschenverderber ist das. Kein Kamerad ist der Ihnen, der Strolch.“ Vor dem Blick des Hauptmanns weicht Mercier zurück. Beide drei Tage je zwei Stunden an den Baum. Befehl an den Feldwebel: sind bei den Pionierarbeiten an den vorderen Schützenlinien zu beschäftigen. Brüllend lacht der Hauptmann hinter ihnen her; Armand denkt, der hat den heiseren wütenden Ton in der Stimme; der wird auch bald fallen.

Beginn der Nacht bricht die Kolonne Armand Merciers aus einem zerschossenen Dörfchen hinter der Bahnüberführung auf. Pioupiou mit der Beilpicke im Zug. Voll Wut marschiert er hinter Armand, möchte ihn erschlagen für die zwei Stunden am Baume, Mercier weicht aus, wie er die Fußstöße von hinten kriegt; grollt dem Pioupiou nicht; lohnt nicht, hier fluchen; man muß sich schlagen, man wird fallen oder die Preußen werden fallen. Was der Igel für ein drolliges Tier ist; ei, ei; ein Igel hängt im Taschentuch unter seinem Waffenrock. Aus dem Dörfchen unterhalb des Bahndammes laufen zwei brennende Kühe; ein brennender Hund, tanzend, heulend, findet Asyl in einem klaffenden Pferdebauch, der zischt und qualmt. Die Schützengräben; gedrängt hinein hintereinander Mann hinter Mann durch die schmalen Verbindungsgräben, rechts links sich teilend, zusammenfließend; an den Latrinen vorbei, durch die völlige Finsternis, die Meldestelle mit den Telephonen, der stinkende gestöhnerfüllte Verbandraum. Jetzt die vorderste Reihe; in dem kurzen Licht der Taschenlampen werden die stummen Gestalten unter der Brustwehr sichtbar, in ihren lehmerstarrten Mänteln, den abgemergelten grauen Gesichtern, den hohlen Augen, die Gewehrmündungen in die Finsternis da draußen gerichtet. Lautlos über die Ausfallsstufen heraus, zwischen den Drahtgassen über Granatlöcher auf den ebenen Boden gedrückt vorwärts, Gewehr an der linken Schulter, Spaten mit Blatt unter der rechten Achsel. Horchposten vor der Front am Boden. Das Richtband. Heimlich gräbt die Schippe; nichts klappert, man wühlt, flüstert, ächzt im Finstern. Oh, naht etwas? Man flüstert, tastet seinen Nachbarn. Die Nacht vergeht, Horchposten zurück, Ablösung. In die eisigen Gruben rücken von hinten die Arbeitsreserven an, schleppen Eisenbahnschienen für Eindeckungen, Blech für die Scharten, Handsägen, Schrotsägen, Balleisen, Stoßäxte, Taue, Eisenklammern; Telephondraht rollt.

Da schmettern die ersten Lagen aus den Feldhaubitzenbatterien von drüben. Und dies ist der Moment des Sturms. Die hohläugigen Männer aus den Gräben sind alle herausgestiegen, ihre starren Mäntel haben sie abgeworfen. Überall sind sie in die graue Dämmerung heraufgestiegen, immer mehr quellen herauf. Sie haben an der freien Luft die steifen Grimassen von Sterbenden und Besinnungslosen. Sie sind wie Katzen, die in den Sumpf springen und ertrinken, vor Durst, vor Durst. Sie rennen gegen das schwingende leere Feld in einer blutroten Wildheit. Aber das ist nicht still, das Feld, das schweigt, atmet, wartet. Die kleinen Flintenlagen, die herankommen. Verlogener Köder; es sind mehr, viel viel mehr drüben, mit Speck fängt man Mäuse.

Da!! — Radumm, dummdumm, päng-päng, päng!!

So ist es. Barmherziger Gott, das ist es also.

Wie schießen die Preußen. Die prasselnde Angst, die schreiende Wut. Weiter, weiter, wenn wir erst drin wären; nicht schießen, die Bajonette. Tornister weg, Mützen weg, Stiefel aus, den Kolben hoch.

Radumm, dumm, päng, päng.

Armand Mercier knirscht die Zähne, hat das Gewehr weggeworfen, hebt abwehrend das Spatenblatt über den Kopf. Zieht und zottelt mit der linken Hand am Seitengewehr. Der Igel sticht ihn in den Oberschenkel. Hier müssen wir laufen. Er schwenkt die Arme wie alle, brüllt: Weiter, weiter, oh, oh, radum, radum, er ist das Echo, er blafft mit dem Mund zurück jeden Schuß; drängt die Augen heraus, wo sind die Geschütze, wir werden sie kriegen, es sind die Preußen, die haben das Land besetzt; die haben meinen Freund getötet.

Louis! Louis Poinsignon! Louis!

Rache! Rache! Maul und Beine und lauernde Bajonettspitze. Tausend hungrige Bajonette! Weiße auf- und abzappelnde Stacheln! Eisenwald, der heranschaukelt!

Wie sich alles bewegt!

Wie das ist! Vorn, rechts, links stolpern Soldaten, im Lauf, man hört nichts; Holzpuppen kippen vornüber; als wenn man einem Hammel die Beine wegschlägt.

Infamie! Verrat! Infamie!

Die Preußen schießen mit Wasser, mit kaltem Wasser, mit Eis! Von hinten! Stoß gegen den Rücken. Stich zwischen die Schulterblätter, etwas Kaltes, Langes, eine Fischgräte, die gar nicht aufhört sich nach vorn in den Hals hinaufzuschieben; sich nicht schlucken läßt. Das Bajonett des Pioupiou, der weitertorkelt. Halt! Zappelnd, sich stemmend über einem Tornister. Die Tritte der Folgenden über seine Knie, die rollenden Maschinengewehre. Kommen sie weiter? Kommen sie durch?! Kommen sie weiter?!! Rache! Ich will mit! Will mit! Der Igel sticht, eine halbgelähmte Hand knöpft das Tierchen los, es kullert aus dem Taschentuch, rollt weiter. Er blafft am Boden: „Vorwärts! radum radum dum!“

Platzender Vulkan eines Schrapnells. Noch ein Schrapnell. Sie rennen zurück. Klappern der Gewehrkugeln. Die deutschen Signaltrompeten. Hurra, hurra. Hurra! Eine schwarze Wolke, dann steinerner, eiserner; ein eiserner Wagen über Schottersteine. Näher!

Hurra! Hurr-aaa!! Radum!

Maschinengewehre zurück! Reserven zurück! Keine Gewehre, keine Mützen. Sie kommen ja zurück! Sie springen in die Löcher. Die Preußen.

Armand hat Erde zwischen den Zähnen und einen weißen Mund.

Zermanscht zehn Schritt vor ihm der Konditor, der die besten Witze machte vor dem Schlafengehen, ein alter Junggeselle; auf der Pike ein kleiner rundbäckiger Student, der wie achtzehn aussah und fünfundzwanzig war; der Hauptmann; zweiundachtzig weiter. Wer kennt alle ihre Geschichten. Der Wald bis an den Bahndamm verloren.

Der Kaplan

Weich dünstete der Nebel über den Potsdamer Platz und schwoll vom Tiergarten her. Die Bogenlampen auf den hohen Kandelabern schienen weiß in der Luft; kleine schwarze Fahrräder tauchten auf, klingelten und verschwanden; zögernd schwirrten die Autos über das Asphalt. Über dem Spiegel des Asphalts erschienen Pferdebeine, Röcke, von denen der Regen troff, verzerrte Konturen von lackierten Droschken, Stimmen, Traben, Klirren, Rollen über dem Platz; in regelmäßigen Intervallen ein Pfiff.

Der Kaplan stieg aus der Untergrundbahn herauf und stand vor Stillers Schuhgeschäft. Über das regenblanke Trottoir zog er, den Schirm aufgespannt. Viele Menschen kamen hinter ihm her, überholten ihn. Eine kleine Schlanke huschte ihm zur Seite über die Bordschwelle, in einem himbeerroten Mantel glitt sie über den Fahrdamm, den Rock raffend, eine Pfütze umgehend; das schwarze Haar wippte in einem Knoten unter der runden Kappe. Die kleinen braunen Augen des Kaplans verfolgten die Bewegungen.

Dies war die Gestalt zu einer Stimme, die er in der Beichte gehört hatte.

Und der Gedanke bewirkte, daß er seinen Schirm tiefer über sich zog, den schmalen Kopf auf die fallende linke Schulter legte und ein paar Sekunden die Augen schloß. Ihre schlängelnden Bewegungen verschwammen im Nebel, das Rot leuchtete. Das Rot leitete ihn. Er lächelte ohne Widerstreben. An den erleuchteten Läden vorbei, folgte er, an Schnittmustern, Schaufenstern mit Fischbassins, stummen Antiquariaten, flimmernden Similibrillanten. Zigarettenreklame erlosch, grellte auf. Als sie in die Uferpromenade einbog an der Potsdamer Brücke, war er neben ihr mit langem drehenden Hals, vorgebeugtem Kopf. Irgendwie dankbar sah er ihr in das volle, erhitzte Gesicht, hob den schwarzen, feuchten Filzhut. Das Weiße ihrer langwimprigen Augen wurde sichtbar, der erschrockene schwarze Blick fuhr an seinem zugeknöpften Gehrock herunter, sie standen an dem Eisengitter. In französischem Akzent brachte sie heraus, daß es vielleicht ein Irrtum sei, sie kenne Hochwürden nicht. Als er wieder langsam nach dem Hut griff, löste sie die Hände von der kalten Eisenstange, wischte sich mit dem Taschentuch die Wasserflecke von den braunen Glaçes, sagte mit ruhigem Blick auf seine Tuchknöpfe und dann auf sein hingeneigtes, unverändert verbindliches Gesicht, daß sie sich freuen würde, mit ihm zu sprechen; sie sei fremd in Berlin.

Sie gingen unter seinem Schirm am Kanal entlang; die Kastanien schnellten plötzliche Regenschauer herunter. Das Fräulein sah auf den Boden, spazierte in Gummischuhen, die Füßchen spitzend, durch den Morast; ihre rote Hutschleife ragte wie ein Horn über der Stirn, über der verwirrten Linie ihrer Ponys. Sein magerer Oberkörper schaukelte wie ein Pendel. Er schwieg.

Vor einem Hause der Flottwellstraße tauchte sie unter dem Schirmdach hervor: „Ich wohne drei Treppen; Mademoiselle Alice Dufoult.“

Ohne es zu merken, kehrte er die Potsdamer Straße zurück, gelangte auf den dunsthellen Platz. Er hielt sich eine viertel Stunde auf vor Stillers Schuhgeschäft, vor dem er sie zuerst gesehen hatte; schließlich trugen ihn seine Beine vor die Schwelle, seine Hand klinkte die Tür auf; er kaufte in einer lächelnden Versunkenheit, sich nicht begreifend, eine Büchse Schuhcreme und überlegte einen Moment, wem er hier ein Trinkgeld geben solle. Und dann nach einem Hin und Her im Regen, unter dem der Nebel sank, über den Kemperplatz auf die dunklen Wege des Tiergartens. Er öffnete, als er allein auf einem großen Sandplatz stand neben einer Holzbude, seinen verschlossenen Schirm, sah in die finstere Wölbung hinein, stellte sich dicht unter ihn, geschmiegt unter ihn, wie eine Katze, die ihren Buckel gegen die streichelnde Hand hebt. So blieb er in der Lache neben der Holzbude minutenlang, länger; es war ihm, als wenn er in einem warmen Bett läge und schliefe. Bis ein Junge vorbeistrich, ihn anrempelte und schreiend, als der Mensch hervortrat, davonlief quer über den Platz, purzelte, sich aufraffte, schrie durch die träufelnden Gänge. Rasch klappte der Kaplan den Schirm zusammen. In einer hellen Querallee stellte er hochblickend einen Fuß gegen das Podest eines Schmuckdenkmals, umging mit den Augen die Gruppe des Pferdebändigers. Ein Passant, den Kragen hochgeschlagen, beobachtete befremdet von einer Bank aus, wie der Kaplan mit dem Kopf ruckte, freudig sich streckte, seine Glieder bewegte, mit den Fingern zuckte; in den Waden des Kaplans spannte es, seine Knie krümmten sich; eine Ungeduld, wie plötzliche Kühnheit, überfiel ihn; er strampelte mutig, wie das edle Roß da oben.

Seinen Rosenkranz fühlte er in der Rocktasche; weiterschlendernd senkte er den Kopf über den Kragen, seine Hände falteten sich über dem Leib. Die kalten Tropfen rannen in den Nacken. Der magere Kaplan murmelte abgeblendet seine Gebete, die Stirn gerunzelt, die Lippen gespitzt.

An dem sonnigen Mainachmittag war der Tisch in ihrem Zimmer mit einer zitronengelben Decke belegt; blauer Flieder duftete in einer kleinen Glasvase; zwei Kaffeetassen standen vor einer Schüssel mit Streuselkuchen. Alice schaukelte in ihrem Stuhl. Robert neben ihr erzählte Witze; sein nackter spiegelnder Schädel glänzte; wenn er lachte und sein junges, blutrotes Gesicht ins Vibrieren kam, stieß er prächtige Fanfarenlaute aus; sie stopfte sich den Mund mit Kuchen. Alice hatte das blaue, faltenreiche Kleid an, das ihr die Mutter vor einem halben Jahr in Grenoble mitgegeben hatte: „Wenn du es vorsichtig trägst und nicht viel drauf sitzst, kannst du eine Weile damit auskommen.“ Als sie es zum zweiten Male trug im französischen Klub, saß Wahlen mit dem Monokel hinter ihr und gab ihr den etwas lädierten Hornkamm wieder, der aus ihrem Haarknoten in seinen Schoß gefallen war, er meinte, als sie aufstanden, ein Netz hielte sicherer; zog aus seiner Brieftasche eins hervor und demonstrierte es ihr mit dem Bemerken, daß er weder Friseurgehilfe sei noch solche Instrumente fabriziere. Ein paar Wochen später zog er ihr eigenhändig das altmodische Kostüm aus und probierte mit ihr einen Kimono an, ein Hermelinjäckchen, eine Nachmittagstoilette aus altrosa Samt.

Wie Robert gerade die Backen prall aufblähte, aus einem Mundwinkel schräg die Zigarettenasche von der gestickten weißen Weste paffte und mit der mächtigen beringten Hand nach einer Papierserviette tastete, klopfte es und der hagere Kaplan trat ein. Alice verschüttete die Kuchenkrümel auf den Teppich: „Nein, das ist nicht möglich.“ Sie zog die Silben, blieb länger sitzen, um Zeit zu gewinnen. Dann richtete sie sich auf, nahm ihm den Hut ab und erzählte freudig, als sie zu dreien an dem Tisch saßen, gegen Robert gewendet, mit fliegender Röte und Blässe, wie reizend sich der Herr Kaplan ihrer angenommen hätte gestern im Regen. Der Kaplan saß zwischen ihnen beiden auf einem niedrigen Plüschfauteuil, mit dem Rücken gegen die Butzenscheiben des Fensters; Robert machte sich lang, betrachtete von oben die Tonsur des Gastes. Mit unsäglicher Dankbarkeit saß der Kaplan zwischen ihnen. Die zitronengelbe Decke betrachtete er mit den plattgedrückten Fransen, die Zinnkrüge auf den Konsolen. Dies stimmte alles, auch daß die Gardinen schmutzig waren und die Überhänge nicht paßten, die Brillanten dieses glattköpfigen jungen Menschen, das altmodische, blaue Kleid der Mademoiselle mit den Spitzenmanschetten. Er fand sich nachdenklich und ihm kam, ohne daß er es wußte, warum, der Einfall: Wie sich doch alle Dinge in der Welt erfüllen! Das Fauteuil geriet ins Rollen auf dem blanken Parkett. Als aber Alice nach seinem Arm griff, um ihn zurückzuziehen, zuckte der Kaplan aufgescheucht zusammen. Er flüsterte: „Bitte, fassen Sie mich nicht an.“ Sie fragte: „Was haben Sie?“ Er wurde blasser, sagte, er wäre so empfindlich an den Händen. „Aber doch nicht an den Armen.“ „Etwas an den Armen auch, bitte!“ Sie tupfte in seinen Handteller; er krümmte sich, der Schweiß stand auf seiner Stirn, so daß sie sich abwandte: „Gott, sind Sie komisch.“ „Ja, entschuldigen Sie, mein verehrtes Fräulein, Sie auch, mein Herr, es ist vielleicht Gewohnheit, ich mache mich gewiß lächerlich.“ Darauf entstand eine Stille zwischen ihnen, weil der Kaplan sich nicht wieder in die Höhe richtete, sondern immer die Parkettfugen studierte. Robert schnüffelte, schüttelte, immer mehr belustigt, den Kopf; er knipste an seinen Manschetten: „Aber das ist ja zum Totlachen, Herr Kaplan, oder wie nennt man Sie. Da gehen Sie auf die Straßen, wie so, na, ich will mal sagen, ein Flaneur, und werfen Ihre Blicke um sich auf die Töchter des Landes.“ „Ich freute mich über Mademoiselle Dufoult und war glücklich, sie kennen zu lernen.“

„Sie sind ja ein großartiger Mensch. Wirklich, Sie gefallen mir außergewöhnlich. Man soll niemals sagen, daß es irgend etwas im menschlichen Leben nicht gibt.“

Der Kaplan ließ einen verehrenden Blick auf dem breitbrüstigen Herrn liegen.

„Sie sind solch rüstiger Mann, mein Herr. Ich bewundere Sie; Sie scheinen wie aus Eisen geschnitten.“

„Na, ich danke. Hab gedient: bin noch halber Soldat!“ Er legte die Hände auf seine Knie: „Menschenskind, nun sagen Sie, was machen Sie hier? Störe ich etwa jetzt, Sie und dich, Alice?“ Er lachte und prustete gewaltig. Sie schwankte zwischen entrüsteter Haltung und Vergnügen; ihre feine lange Nase bog und streckte sich:

„Robert, nimm dich doch etwas zusammen.“ Sie konnte nicht weiter, platzte heraus in ihr Taschentuch.

„Soll ich rausgehen, Alice, ja?“ Er quietschte schon. „Aber ich kann doch durchs Schlüsselloch gucken? Entschuldigen Sie, Hochwürden, die Sache nimmt mich gewaltig mit.“

Der Kaplan lächelte freundlich von einem zum andern, zog sein Fauteuil ganz an den Tisch: „Lachen Sie doch, wenn es nur auf meine Kosten ist. Ich bin gern unter fröhlichen Menschen.“

Der neben ihm schrie aus vollem Hals: „Gotteswillen, du mußt mir den Kragen aufmachen, Alice, den Schlips.“

Sie wälzte ihr Gesicht auf dem Tischtuch: „Ich kann ja selbst nicht. Hochwürden muß eine schöne Meinung von uns kriegen, Robert.“

Und wieder sagte der Kaplan ruhig: „Aber nicht doch. Ich bin nur froh, daß ich hier sitzen und alles mit ansehen darf.“ „Ja, ja, Alice, er hat recht;“ mit tränenden Augen richtete sich Robert auf, wischte sich, betrachtete plötzlich gähnend und etwas betreten den schwarzen Herrn im Fauteuil. „Trinken wir eine Tasse Kaffee zusammen. Vielleicht erzählen Sie uns etwas von ihrem Klosterleben, Herr Kaplan. Man muß die Situation ausnutzen.“

„Gern will ich Ihnen erzählen. Wenn es Sie nicht betrübt, ernste Dinge zu hören. Gern will ich Ihnen erzählen.“

„Betrüben, keine Rede. Nehmen Sie Zucker? Wie kommen Sie auf betrüben?“

Während die Tassen klirrten, das junge Hausmädchen in hellblauer Schürze Milch brachte, fixierte Robert öfter den Kaplan, der mit seiner melodischen Stimme zur Mademoiselle sprach. Robert kratzte sich das Kinn, wurde wortkarg. Der Kaplan fiel ihm auf die Nerven, der verrückte Gast machte sich in einer sonderbaren Weise breit.

Alice legte die Arme von hinten um seine Schultern: „Du, hab ich dich verletzt.“ „Na, na, laß mal, Alice. Setz dich nur wieder hin. Es ist was Geschäftliches, fiel mir plötzlich ein. Brr, mein Kaffee ist kalt geworden.“ Der Kaplan schob den Fauteuil zurück: „Ich darf mich jetzt verabschieden?“ Robert drückte sich hoch. „Lieber Herr, Sie laufen weg. Die Sache eilt nicht; übrigens: wir gehen zusammen.“ Alice, ein Knie über ihren Stuhl schiebend, hielt stumm Robert in den Augen, der an ihr vorübersah. „Also, liebe Alice, nur eine halbe Stunde; du entschuldigst mich.“ Sie gingen über die Schwelle; Alice bückte sich neben der Chaiselongue, brachte mit kalter Miene Robert die dünnen Seidenhandschuhe nach, pfiff im Zimmer vor sich hin, auf der Schwelle stehend, die Nägel ihrer linken Hand betrachtend. Der Kaplan und der Reserveleutnant von Wahlen marschierten die Tiergartenstraße herauf; beide atmeten kräftig. „Ja, das ist mal reizend,“ fing der robuste Mann an, „daß ich einen richtigen Menschen treffe, ein Unikum, nehmen Sie mir das nicht übel. Mir ist zwar wirklich nicht klar, was Sie von meiner Freundin wollen, aber das ist ja egal. Sie sind vorzüglich, Ihre ganze Art gefällt mir.“

„Sie dürfen nicht so weiter reden, Herr von Wahlen, wenn Sie wollen, daß ich mit Ihnen gehe.“

„Keine falsche Bescheidenheit, Hochwürden. Alles an seinem Platz. Also, ich wollte Sie um einen Gefallen bitten.“ Er hakte sich bei dem langen Kaplan mit seinem linken Arm ein. „Es wird mir etwas schwer, es Ihnen vorzutragen. Die Sache ist heikel. Ich rechne darauf, daß Sie solch besonderer Mensch und schließlich auch von Berufs wegen Geistlicher sind. Das paßt faktisch tadellos zu Ihnen, der Kaplan, wie angegossen!“

Als sie minutenlang weiter gegangen waren, wandte der Kaplan sein glattes Schauspielergesicht zu ihm: „Wollten Sie nicht sprechen, Herr von Wahlen?“

„Freilich, freilich, kommt schon. Die Sache wird mir schwer. Also mit einem Wort gesagt: es handelt sich um ein früheres Verhältnis, genauer gesagt, um mein letztes. Alice nicht, mein voriges. Sie sollen mir helfen, Herr Kaplan.“

„Gern, ich stelle mich Ihnen gern zur Verfügung. Erzählen Sie mir von der Dame, welche Situation vorliegt. Lassen Sie sich die Besprechung doch nicht schwer werden.“

„Nee, kommen Sie mir nicht mit Situation und Dame und so, lieber Herr. Sie sollen mir das Mädchen abnehmen, wenn ich’s denn mal rausbringen soll!“ „Wie meinen Sie?“ „Scheußliches Wort, ja, abnehmen. Das Drum und Dran der Geschichte können Sie sich allein denken. Aber Sie sind Menschenfreund und mein Mann.“ „Ach, was soll ich mit dem Mädchen machen, Herr von Wahlen; ich tue Ihnen ja gern jeden Gefallen.“ „Nur keine Angst, Herr Kaplan. Sie beißt nicht. Ich muß das von Ihnen verlangen. Sie dürfen sich nicht sträuben. Sie können dem Freund Ihrer Alice, Ihrer Alice, aus dem Sumpf helfen.“ Sehr bleich und schmerzlich verzog der Kaplan das Gesicht: „Lassen Sie das, lassen Sie das, das sind schon nicht mehr Witze.“

„Pardon, hab ich falsch gemacht, bitte um Entschuldigung, Hochwürden, ist so meine Art Witze, ist mir vorbeigeraten.“

Dem Kaplan baumelte der Kopf vor der Brust, seine Hände falteten sich vor der schüsselförmigen Vertiefung, die sein Leib war: „Was soll ich mit der Dame, mit dem Mädchen machen?“

„Am besten, Sie stellen Sie auf den Kopf und schlagen ihr einen Nagel in jedes Ohr, dann steht sie bombenfest. Im übrigen lassen Sie sich von mir in flagranti erwischen.“

Der Herr im schwarzen Gehrock schwieg, dann flüsterte er: „Das sind gräßliche Dinge.“ „Weiß ich.“ „Das sind ekle Sachen, Herr von Wahlen.“ „Weiß ich.“

„Bitte, eine Frage, Herr von Wahlen, mißbrauchen Sie mich nicht, Sie lieben Fräulein Alice Dufoult wirklich? Meine Frage wird Sie nicht kränken.“ Dabei sah er dem energisch ausschreitenden breitschultrigen Mann, dem der weiße Strohhut schräg tief in der Stirn saß, bettelnd in die zwinkernden grauen Augen. Sie schwenkten in die Fasanenallee ein; elegante Equipagen fuhren vorbei; der Herr neben dem Kaplan winkte und grüßte oft. Er kicherte, nervös belustigt: „Etwas komisch, wie Sie fragen, verzeihen Sie. Wenn Sie wollen: ich liebe Fräulein Alice; es liegt mir an ihr.“

„Und es erfreut Sie, wenn ich diese — Sache übernehme?“ Der muskulöse Herr im Strohhut blieb angewurzelt stehen, es fuhr ihm schneidig aus der Kehle: „Na, sind Sie komisch; ich komme doch zu Ihnen damit.“

„Dann will ich Ihnen behilflich sein, lieber Herr. Verzeihen Sie mir. Aber gehen wir doch weiter. Seien Sie versichert, leicht wird mir das alles nicht. Denken Sie nicht falsch von mir.“ Immer wieder errötete er und wich den scharfen Blicken des Leutnants aus. „Mal keine Redensarten, Hochwürden,“ damit klopfte er dem Kaplan auf den Rücken, „wir haben es alle nicht leicht. Wenn ich Ihnen erzählen würde von mir allerlei, Sie würden staunen.“ Der Kaplan atmete freier: „Ich bin ja zufrieden, wenn es Ihnen gut geht und wenn ich Sie nicht gekränkt habe.“

Leicht angewidert wehrte der elegante Herr ab; er streckte die Hand hin, schob den Kaplan beiseite: „Na, Schluß. Mal keine Redensarten. Auslagen ersetze ich Ihnen natürlich. Sehen Sie zu und trösten Sie sich, wir müssen alle unser Päckchen tragen. Das ist mal so im Leben. Auto! Auto! Puh!“

Das war eine andere Wohnung, als die Alice Dufoults. In einem westlichen Gartenhaus ein mäßig dunkler Korridor und dann ein langes, schmales Zimmer. Eine Petroleumlampe auf der Kommode; eine gelbe spanische Wand vor einem Bett; Haussegen, patriotische Bilder an der Wand. Vor dem Fenster der unbedeckte vierbeinige Ausziehtisch und Rohrstühle. Bertha saß in weißer Untertaille und rotseidenem Rock hinter der Gardine und kaute einen Apfel. Sie hatte ein festes energisches Gesicht und lebendige blaugraue Augen. Ihre nackten massiven Arme waren weißgeschminkt, die Hände noch rot.

Als der Kaplan klopfte, wollte sie nach ihrem Umschlagtuch greifen, rief aber gleich: „Immer rinn!“ Der Kaplan schloß die Tür hinter sich; sie riß den Mund auf: „Nanu, was ist denn das für einer? Sie sind wohl von der Heilsarmee?“

Der Kaplan murmelte seinen Namen. Sie winkte ab: „Bei mir ist nichts zu machen damit. Hier wird überhaupt nicht hausiert.“ Lauter nannte der Kaplan seinen Namen, buchstabierte, trat mit dem Hut in den Händen näher.

Da kreischte sie auf, warf ihren Apfel, daß er zerplatzte, über den Tisch: „Jesses, Sie sind das! Der mir Gesellschaft leisten soll, bis Robert wiederkommt. Nu schläg’s aber dreizehn, nee, kommen Sie mal ran, setzen Sie sich mal hin.“

Der Kaplan rückte sich einen Stuhl zurecht: „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, liebes Fräulein. Herr von Wahlen hat mir viel Angenehmes von Ihnen erzählt.“ „Nu fangen Sie mal nicht aus die Ecke an. Sie, die Geschichte mit dem Verreisen glaub ich schon lange nicht. Das können Sie Robert sagen. Das ist eine Drückebergerei. Aber —“ und da quietschte sie auf und schlug sich die Hände vor den Mund: „Menschenskind, wie sehen Sie bloß aus! Was haben Sie für einen katholischen Rock an! Zum besten scheint’s Ihnen auch nicht zu gehen.“

Peinlich berührt seufzte der Kaplan: „Sprechen wir doch lieber von etwas Schönem. Wie mir Herr von Wahlen sagte, lieben Sie gelbe Rosen sehr. Ich habe mir erlaubt, Ihnen dies Sträußchen mitzubringen. Ich bitte Sie, wollen Sie meine freundliche Gesinnung daraus erkennen.“ Sie betrachtete ihn aufmerksam und mit Teilnahme. „Da hat Sie Robert aber schön reingelegt. Der Filou, das sieht nach ihm aus. Die gelben mag ich grade nicht. Warum machen Sie sich aber bloß nicht wenigstens den obersten Knopf auf? Sie werden sich noch erkälten. Sone Tuerei steht einem jungen Mann gar nicht.“

„Wenn Sie wollen, mache ich mir den obersten Knopf auf.“

„Natürlichement. Mit etepetete kommt man bei mir überhaupt nicht weit. Wissen Sie übrigens Männeken, was ich Ihnen sagen will?“ Sie kaute ihren Apfel: „Ich meine von wegen die Geschichte mit Ihnen und Robert: da liegt eine gemeine Schiebung vor.“ Und sie fixierte ihn schlau.

Gequält sah ihr der Kaplan ins Gesicht und studierte vertieft ihre Züge; er äußerte ein paar stimmlose Sätze.

„Sie markieren den Scheinheiligen, mein Lieber. Lassen Sie man sein. Sie sind Strohmann von dem Filou. Und weil Sie schüchtern sind mit Damen, ist Ihnen ganz paß, daß der Filou Sie so deichselt. Was?“

Nach einem weiteren tonlosen Satz fuhr der Herr im schwarzem Gehrock stockend fort: „Ich will Ihnen sagen, mein Fräulein, in gewissem Sinne haben Sie ganz recht. Ihre Vermutung ist zum Teil nicht unbegründet.“

Sie schmetterte ihre Faust auf die blanke Tischplatte, fuhr hoch: „Wissen Sie, Sie sind zum Piepen. Wenn ich Ihnen nu eins runterlatsche, — wie ist es dann mit der Vermutung?“ Er verfolgte sie freudig, seine Stimme klang befreit: „Ja, das wäre ganz passend und es würde mir recht geschehen.“

Das Gelächter Berthas wollte sich nicht beruhigen:

„Wissen Sie, Amsel oder was Sie sonst für nen Vogelnamen haben, Sie sind zum Heulen. So ein Gerissener wie der Robert ist, der hat sich wieder mal den Richtigen rausgesucht. Bleiben Sie man sitzen. Sie können einem leid tun. Ich mache Ihnen noch einen Knopf auf.“ Sie stand mit ihrem bloßen Arm hinter seinem Stuhl, drückte ihn an seinen Schultern herunter: „Ordentlich rausfüttern müßte man Sie. Ich bring Ihnen nachher was zum Essen. Na nu sagen Sie mal, Mamsell, wie steht’s denn eigentlich mit uns? Wie sind wir denn beide dran? Sie mögen mich wohl nicht?“ Er steckte zwischen ihren Armen; sein glattes Gesicht füllte sich, wurde gedunsen.

Sie ließ ihn los, angelte sich ihren Stuhl; seinen Hut patschte sie ihm auf die Erde; ihn zog sie zu sich auf den Schoß. Er schluchzte leise. Sie sah zu ihm herauf; er drehte den Kopf weg. „Was hast du denn, Mamsell?“ „Nichts.“ „Nanu, du heulst doch.“ Er schluchzte unterdrückt: „Es ist wirklich nichts. Mich regt nur alles so furchtbar auf.“ Er lächelte seitlich zu ihr herunter. „Lang bist du, Mamsell. Komm doch mal runter zu mir. Runter mußt du.“

Sie ließ das hilflose Menschengerüst halb über ihre Knie rutschen. Bertha erstaunte: „Gotte doch, ich tu dir ja nichts. Du bist doch ein propperer Kerl. Mal was Besonderes. Das ist ein feiner Gedanke von Robert gewesen, statt dem ausgebliebenen Geburtstagsgeschenk.“

Der Kaplan lag zwischen ihren Armen; mit den Knien wippte er gegen den Boden; er balancierte sich mühsam auf ihrem Schoß zurecht; er wollte sich oft aufrichten und tastete nach seinem Stuhl, fiel wieder zurück. Sie bückte sich über ihn. „Soll ich dich mal ordentlich abknutschen jetzt, Mamsell, weil ich dich grad so habe; für die gelben Rosen, daß dir die Ohrlappen brennen? Was meinste?“

Er flüsterte nach einer Pause, mit einem versonnenen Ausdruck: „Willst du das tun? Bertha? Ja, so tu es doch.“

Sie küßte ihn weidlich, auch seinen Kopf, wobei sie mit einem Blick auf die Tonsur klagte, daß ihm schon die Haare ausfielen. Er hob sich währenddessen immer mehr an ihr Gesicht, drängte sich gegen ihren Mund. Sie streichelte ihn: „Was machst denn, Mamsell?“

Er blickte mit verwirrten Augen an die geweißte Wand: „Nur träumen tu ich.“

„Scheint dir ganz gut zu schmecken,“ Schwach lächelnd saß er wieder auf seinem Stuhl. Sie zog sich gegen das Fenster, lockte ihn: „Na, mein Junge, hängste noch an der Stange? Komm mal zu mir: komm doch mal her. Gibt Zucker. Beine durchgedrückt. Immer feste ran an die Gewehre.“ Ihren feisten Hals hielt sie ihm entgegen, er legte sein Gesicht an, schwindlig, mit geschlossenen Augen. „Ne, du begaunerst mich. Augen aufgeklappt. Siehste.“

Am Sonnabend suchte der Kaplan seinen Beichtvater, den Bruder Vincenz auf, der neben ihm wohnte. Er öffnete sich dem Pater, breitete es vor ihm aus, führte den entsetzten Mann vor alle Dinge. Schließlich gingen sie auf das Zimmer des Kaplans; der schloß seinen Schrank auf, zeigte den Schirm in der Ecke, der mit Bindfäden zugebunden war. Auf den Wunsch des Paters spannte er den Schirm, hielt ihn lächelnd über ihre Köpfe mitten im Zimmer. Friedlich und ganz unzugänglich blieb er: „Ich will alles tun, was Sie für nötig erachten. Nur habe ich das Gefühl, das unabweisbare, unbezwingliche Gefühl, daß ich nicht verstoße gegen die heiligen Vorschriften mit meinem Tun.“ Der elastische grauhaarige Pater setzte sich, die Arme kreuzend, auf einen Schemel unter dem Bild des gemarterten Sebastian, der zum Himmel blickt, während ihm die Pfeile im Fleisch stecken: „Wenn ich Sie nun nochmal frage, Bruder Anselmus, ob Sie unzüchtige Gedanken gehegt haben in den Straßen oder in den Wohnungen, unzüchtige Bewegungen ausgeführt oder geduldet? Was antworten Sie ohne jeden Umschweif?“ „Ich habe keine Unzucht getrieben und nichts Schlechtes gedacht. Halten Sie mich nicht für einen Verbrecher. Ich habe eine sanfte Empfindung für die Frau mit Namen Alice Dufoult, aber ich kann nicht drüber sprechen. Ich dachte, vorhin, als ich den Regenschirm über uns beide ausspannte, fühlten Sie es auch.“ „Bruder Anselm, Sie sind verliebt in das Mädchen, Sie begehren sie.“

„Das sind Worte, die mich nicht treffen. Ich habe eine sanfte Empfindung in mir, die sehr stark ist. Ich bete und mein Gebet ist innig. Ich fühle mich in keiner Weise geändert.“ Und dann schwammem seine Augen, er berührte den Pater am Ärmel. „Meine Auffassung klingt unmöglich, ich weiß. Ich staune, was mit mir geschehen ist.“ Wieder hielt er inne; seufzte mit einem Blick auf den umgefallenen Schirm, den Beichtvater, die kahle Zimmerwand. „Freilich schillert manchmal alles, jedes in mir, bewegt sich von mir weg. Dann habe ich den Wunsch, daß ein Ende einträte damit. Verstehen Sie das?“ Der Pater schüttelte den Kopf und schwieg. Als er sich erhob, gab er dem Kaplan eine kleine, kleine Bedenkzeit.

Am Abend, als es regnete, nahm der Bruder Anselmus, Berthas Haus verlassend, eine Droschke, fuhr vor Wahlens Wohnung. Wahlen war nicht zu Hause. Auf das Drängen des Kaplans nannte der Diener die Telephonnummer, unter der sein Herr zu erreichen war; führte den Gast in das Rauchzimmer. Auf den Öfen standen zahlreiche Photographien, auch Berthas, Alices, mehrere Balletdamen, einige phantastisch schöne Köpfe. Beim Anblick eines dieser schwermütig feinen Gesichter wurde der Kaplan von solchem schweren krampfenden Mitgefühl ergriffen, daß er sich auf einen türkischen Sessel setzte und den Diener bat, die Verbindung noch nicht herzustellen. Er fragte den Mann in der Livree nach einem andern Apparat in einem andern Raum. Und ging mit dem erstaunten durch viele Zimmer in die Küche hinaus, flüsterte, er könne auch die leiseste Rauchluft nicht vertragen. Allein telephonierte er dann. Seine Stimme tremolierte. Eine Damenstimme kicherte; für Privates wäre aber der Herr Leutnant jetzt auf keinen Fall zu sprechen, die Stimme flötete ihm ein paar Scherzworte zu, und wie er denn heiße, wie groß er sei, ob er einen Schnurrbart trüge. Und dann entfernt vom Apparat flüsterte sie vernehmlich: „Du, das scheint dein verliebter Pfaffe zu sein. Ich hör nebenan mit zu?“ Mit angehaltener Erregung sprach der Kaplan: „Ich war zweimal bei Bertha. Warum kommen Sie denn nicht? Wo bleiben Sie?“ „Sind Sie denn schon so weit, Hochwürden?“ „So kommen Sie doch.“ „Eilt ja nicht, Hochwürden. Sie gefällt Ihnen wohl nicht? Na, will dafür bald mit was anderem aufwarten. Übrigens —“ Er lud den Kaplan zu einem kleinen Maskenspiel ein, das morgen in der Wohnung Alices stattfände; Alice bäte ihn dringend zu kommen; sein Inkognito würde gewahrt bleiben.

Dem Kaplan spannte sich die Brusthaut vor Schmerz. Er rieb sich die Ohren; ein leiser Schreck war durch ihn gefahren, ohne daß er wußte, worüber. Er atmete tief, noch vor dem Apparat; seine Lungen wagten nicht auszuatmen. Er wollte Alicen sehen.

Und zu einer japanischen Frühlingslandschaft war die kleine Wohnung der Mademoiselle gestutzt worden. Drei lustige Französinnen liefen zusammen, Sinnloses schnatternd. Sie sprangen auf Stelzen von einem Zimmer ins andere, wedelten mit kleinen Fächern. Ein deutsches elegantes Fräulein hatte sich eine turmhohe japanische Perücke aufgestülpt und schiefe Augenlinien geschminkt; sie hielt sich krähend an die Herren. Das waren Robert und zwei Männer, die sämtlich im schwarzen Trikot als Athleten und Gaukler bizarre Purzelbäume schlugen, hin und wieder ein merkwürdiges Glockeninstrument klöppelten, das sie am Handgelenk trugen. Als der Kaplan erschien, kam Robert wie ein Dämon unter die rosa Ampel des Korridors gestürzt, hielt ihn fest: „Sie dürfen nicht so herein. Maske. Lassen Sie mich überlegen.“ Verschwand im Wohnzimmer, wo es sofort stille wurde und Tuscheln entstand; dann führte er den Kaplan in Alices Schlafzimmer. Alice erschien, nur an der Stimme kenntlich, in gelbseidenem Mantel mit tollen Fabelstickereien, einen züngelnden Katzenkopf vorgebunden. Als sie die weißen Sachen für den Kaplan aus einem Schrank herausholte und auf die grüne Chaiselongue ausbreitete, wurde sie sehr langsam in ihren Bewegungen; Robert zeigte ihr dies und das, was sie dann auch hinlegte; er drängte sie, schob sie, als sie zum Schluß zögernd vor der Chaiselongue stehen blieb, zur Tür hinaus: „Hochwürden wird sich vor uns schämen.“ Hochwürden aber lachte und fieberte; er war leidend, hilfsbedürftig und fühlte dabei mit Entsetzen, daß ein Rausch von seinem Kopf und seiner Brust Besitz nahm, daß eine wilde Begierde über seine Arme, über seinen Mund schlich. Er knüllte mit raschelnden Händen an den Sachen, sah sich im Zimmer um. Automatisch zog er an, was man ihm hingelegt hatte. Schwindlig ging er auf den Zehenspitzen über den Korridor in die bunten Zimmer. Gelächter, Kreischen und Wiehern empfing ihn. Die Damen, nachdem sie herbeigerannt waren, versteckten sich in die verhängte Ecke des Zimmers, die vier Herren tobten um ihn im Kreis; sie stampften bocksbeinig einen wütenden Ringeltanz um ihn und zerrten ihn durch die Zimmer. Weit schlotterte und wehte, entblößend um seinen schmächtigen Rumpf, das rotgebänderte ausgeschnittene Nachthemd Alices; ein grünes Seidentuch, ein Zigeunertuch, hatte er über die nackten dürren Schultern gespreizt. Die Herren rissen es ihm aber ab, legten es über, bliesen es weg. Perlenbesetzte Nachtpantöffelchen schleifte er an den Zehen, hellblaudurchbrochene Strümpfe rutschten ihm herab von den Stöckerbeinen; über die angeklemmten Strumpfbänder stolperte er. Er hatte nicht gesehen, was er anzog; er tanzte mit den Herren, freute sich, suchte Alice, und lachte, weil alle lachten und hätte gern gesehen, daß sie mitlachte. Seine langen graublassen Arme schwang er über seinen Kopf; wie die Gebeine eines Totentanzes wehten und sanken sie oben durch den Dunst. Die Katzenmaske griff ihn, als er zum zweiten Male durch die Wohnung gewalzt und, gewirbelt wurde, am Hemdenausschnitt, fauchte die Herren weg, zog ihn auf den Korridor. Sie riß sich die Fratze ab; ihr Gesicht glührot bebte: „Was tun Sie hier in den Sachen, Hochwürden? Was lassen Sie sich bieten?“ „Wer bietet mir etwas? Ich weiß nicht, daß mir irgend jemand etwas bietet.“ „Es ist schon ganz unnatürlich, was Sie mit sich machen, Hochwürden.“ Der Kaplan sah an dem wallendem Hemd herunter, spielte mit den roten Bändern, während sie sich abdrehte: „Nehmen Sie doch die Hände davon.“ Er zitterte sichtlich: „Ich finde, daß Sie mich alle mißverstehen.“ Resolut riß das Fräulein die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf: „Ziehen Sie sich um und gehen Sie. Kommen Sie nicht wieder herein. Morgen will ich Sie sprechen, Hochwürden. Ich muß Sie sprechen.“ Er stöhnte: „Ich will hier bleiben bei Ihnen. Was wird morgen sein? Warum schicken Sie mich hinaus,“ sie war schon fort.

In der Nacht heimkehrend steckte er die Gasflamme in seinem Zimmer an. Aus seinem Schrank hob er mit schwankenden Armen den schwarzen Regenschirm, tastete nach der Büchse Schuhcreme im Fach. Er fingerte unsicher über Schirm und Büchse, packte sie auf einen Stuhl unter dem Bilde des heiligen Sebastian, warf sich in einer unbezwinglichen Bewegung auf den Boden, aufgewirbelt und fast ohne Besinnung, schrie: „Herr, mach ein Ende! Noch Sekunden laß mich irren, noch Minuten, wenn du es willst, nicht länger, Herr ein Ende!“

Als er morgens erwachte, brannte noch das Gas über ihm. Er war am Boden eingeschlafen. Er fand sich voll inwendiger Sehnsucht nach Alice und hatte das Gefühl, daß dies ein gebenedeiter notwendiger Tag sei.

Er ging durch das Seitenportal seiner Kapelle auf die Straße. Er blickte sich scheu um; über sein weißes Priesterkleid und die Stola hatte er eine lange Pelerine geworfen; sein Kopf bloß. Am Rand des Rinnsteins in der stillen Straße schlich er; ein Wagen knatterte über Steine; er winkte, stieg ein. Blendende lebendige Frühlingssonne in allen Straßen. Der Potsdamer Platz tauchte auf, menschenwogend, von Wagen durchschwungen. Stillers Schuhgeschäft glitt vorbei. Läden an Läden, eine Allee von Schaufenstern; die grünen Kastanien und Buchen des Schöneberger Ufers. Kein Nebel, jedes aufblühend, schmelzend, hinfließend, alles du und du. Die Pelerine, die auf den Rücken umgeschlagen war, zog der lange Kaplan nicht nach vorn zurück, als der Wagen hielt; in der Flottwellstraße stieg er langsam aus der Droschke, ging ruhig an den Staunenden vorbei in das Haus Alices. Rauchige Luft in ihrem Korridor, die Lampions und Girlanden hingen noch und lagen zertreten auf dem Flurteppich. Als er den Korridor betrat und alles schwieg, kam ihm vor, als ob er auf Daunen einherginge. Er dachte zärtlich: wohl euch, was habe ich euch beschert.

Im Wohnzimmer setzte er sich an das Fenster; das Zimmer völlig ausgeräumt; der Parkettboden zerschrammt, mit duftendem Wein und Bier begossen, ein kleiner Haufen grüner und weißer Scherben mitten im Zimmer unter dem bebänderten Kram. Wie sich der Kaplan halb zur Seite wandte, stand in einer Erkernische etwas Buntes; er faßte hin; es waren die Strümpfe Alicens die er gestern getragen hatte, mit Apfelsinen ausgestopft, an einer Korsettstange darüber baumelte ihr Hemd, mit Rotwein begossen, den Abschluß oben bildete eine Mütze aus Silberpapier; er erkannte, es war eine runde Priestermütze. Er streichelte leidend den Haufen: wie gut sind sie, und was muß ich ihnen antun! Der Aufbau raschelte hin, als er ihn losließ. Seine Oberlippe zuckte. Er sollte warten; hörte nebenan im Schlafzimmer Alicens Wasserplätschern, warf die Pelerine wie zum Schutz ab über die Figur und ging ohne zu klopfen hinein. Sie tauchte grade die Hände in das Becken; gellte kurz, stürzte ins offene Bett, verschwand unter der Decke. Der Kaplan blieb an dem Waschbecken stehen, sagte leise, langsam und ruhig, warum sie erschrecke; er wünsche sehnlich mit ihr zu sprechen. Unter dem Deckbett wühlte es: „Rufen Sie sofort das Mädchen.“ Er schloß die Tür; setzte sich auf die Bettkante, streichelte ihre Kopfkonturen auf der Decke: „Ich will mit Ihnen sprechen. Sie dürfen sich nicht mir vorenthalten. Stehen Sie auf.“ Ihr Gesicht kam hervor, sie sprang hinter ihm am Fußende heraus; stellte sich, im Unterrock mit nackten Füßen und halboffener Brust, Konfetti im hängenden Haar, jenseits des Betts an die Wand. „Hochwürden,“ sagte sie halb weinend, „was wollen Sie von mir? Warten Sie draußen.“ Er blieb auf der Bettkante sitzen mit strahlendem Ausdruck: „Seien Sie doch ruhig, Fräulein Alice. Seh ich aus, wie einer, der Ihnen etwas tun will? Seien Sie ruhig und lassen Sie mich hier.“ Sie hing sich ihren Kimono um, rauschte auf ihn zu, konvulsivisch ausbrechend warf sie sich vor ihm hin und wühlte Hals und Kinn, Konfetti regnend, in den weißen Stoff über seinen Knien. „Hochwürden, was wollen Sie so früh kommen. Ich will nicht mehr hierbleiben, keine Minute länger. Was Robert macht, ist schändlich, ist unerträglich. Ich ertrag es nicht. Sie müssen mir hier weg helfen.“ „Robert ist kein Schurke; er ist kein Schurke. Wie können Sie so sprechen!“ Sie schrie: „Was sind Sie für ein Mensch. Ich will nicht, daß Sie sich durch den Sumpf ziehen lassen von ihm. Wenn das so fort geht, will ich Sie nicht sehen und Robert nicht sehen. Hochwürden, was hab ich erduldet von diesem Mann. Ich habe in den letzten Wochen alles gesehen. Lieber will ich Hunger und Durst ertragen, als mit ihm länger zusammen sein. Ich weiß, daß Sie mir gut sind, helfen Sie mir.“ Der Kaplan war aufgestanden; sie stand dicht an ihn gedrängt.

Er flüsterte mit unbeweglichem Gesicht: „Hier ist keine Rede von Hilfe. Woher wissen Sie, daß ich Ihnen gut bin.“ Er zitterte, als sie ihn anblickte: „Aber jetzt glaub ich, daß Sie mich nicht mehr mißverstehen. Mein Gott, es scheint durch meine Poren zu dringen.“ „Was ist Ihnen?“

Der Taumel berührte sein Gehirn. Er hielt nicht mehr stand. „Ich weiß, ich bin dir gut, Alice. Und gleichzeitig höre ich dich gar nicht. Ich kann mich anstellen, wie ich will, ich höre nicht, was du sagst. Es schwingt in mir nicht mit. Ich bin dir gut, und du verschwindest vor mir. Wie heißt du?“

„Alice, Alice Dufoult.“

„So gut bin ich dir. Du mußt dich nicht beklagen. Ich beklage mich auch nicht. Ich weiß nicht, was du verloren hast. Wenn du vor mir stehst in diesem Zimmer, bist du ohne Fehl, und ich bin ohne Fehl. Du bist mein. Und darfst dich mir nicht vorenthalten.“

Sie riß an seiner Stola: „Du darfst nicht diesen Mantel tragen, wenn du mich anfaßt.“

Er lachte mit einer quellenden Heiterkeit: „Faß meinen Mantel an, faß die Stola an. Ich bin Priester. Fürchte dich nicht.“

„Aber ich fürchte mich nicht, Anselm.“

„Nein, das sollst du nicht. Nur ich muß mich fürchten. Und tus nicht, und wills nicht tun.“

Sie streichelte seine Hand, die er sich vor den Mund hielt, als wollte er sein Lachen darauf festdrücken und festklammern.

„Und wenn mich einer anklagt und ich verdammt werde, Alice, ich kann es nicht mehr aufhalten. Ich kann nicht an mich halten, ich muß dich in meine Arme nehmen, und dich küssen.“

Sie ließ sich küssen, ja sie hängte sich an seinen Hals. Sie bettelte, er solle den Mantel ablegen, aber er blieb dabei, er müsse ihn vor seinen Augen haben, vor seinen Augen behalten; keine irdische Gewalt würde ihm das rauben. Und so ging er hinaus, sie kleidete sich an. In einer Hemmung stand sie immer wieder da. Schließlich war sie angezogen und schlüpfte entschlossen zu ihm hinein. Ins Grüne wollten sie fahren. Sie war fröhlich und sagte ja, schickte das Mädchen herunter nach dem kleinen Tandem. An der Tür drehte sie sich um, rief dem Mädchen zu, sie möchte nicht warten mit dem Mittag, sie führen nach Döberitz zu auf die Heerstraße.

Die breite benzindampfende Chaussee, zwischen den beiden grünen Baumlinien, trabte das Gefährt. Alice in grauer Sportmütze, die Peitsche in der Hand, lenkte den Schimmel. Vor einem Blumengeschäft hielten sie, hängten große Fliederbüsche, Goldlack, schneeweiße Myrrhen über ihren Sitzen auf. Hinter schaukelnden Zweigen fuhren sie. Der junge Priester war ein Kind, drückte ihre freie linke Hand flach zwischen seinen beiden, sagte, nun sei sie ein Frosch und er hielte sie festgeklemmt: quak, sprang der Frosch heraus. Sie bettelte, der Frosch wolle wieder hüpfen. Er träumte: ja, wohin?

Da sah sie zwischen den Blüten, daß drüben zwei Kinder, dort ein Pärchen, rechts ein Herr auf dem Trottoir stehen blieben, gespannten Ausdrucks etwas hinter ihnen beobachteten. Ein dumpfes Trappen kam hinter ihnen her, wie entferntes Teppichklopfen, Poltern über Trommeln, jetzt Klappern, Eisen auf Stein, schmetternd und klirrend, heranstoßende Pferdehufe. Alice schoß hoch, ihre Mütze riß die Zweige auseinander: „Robert, es ist Robert!“ Von hinten brüllte es her, während der Schimmel halb scheu die Hinterbeine hochwarf, den Hals zurückbog und geifernd ein wütendes Tempo einschlug: „Kanaillen, anhalten! Pfaffenhund anhalten!“

„Hilf mir, Anselm, rette mich, er schlägt mich tot.“

Besinnungslos schob sie ihm die Zügel zu, drehte sich auf ihrem Platz aufrecht um sich selbst, entwand sich dem Kaplan, murmelte mit einem blinden Blick über die lange vorbeifliegende Chaussee: „Er schlägt mich tot, er schlägt mich tot! Hilfe!“ Der Schimmel bockte, stürmte mit dem kleinen Wagen davon, der rechts und links schleuderte, gegen die Bordschwelle schlug, einen Baum anstreifte. Sie rasten zwischen den Baumreihen hindurch. Ein Geschrei war vor ihnen, neben ihnen. Die auf dem Wagen blieben ohne Laut. Einen Moment, als er sie noch hielt, drehte sie den Kopf zu ihm; in seinem Gesicht war etwas, daß das armselige Geschöpf die Hufschläge des Reiters anhörte und es durch sie fuhr: „Was will der von mir, und was will der von mir?“ Die wirbelnde graue Luft war da. Die graue fließende Luft deckte seinen Mund und seine Augen, hielt seinen Kopf von vorn und hinten. Die Frau wand sich neben ihn herunter zwischen Pferd und Deichsel, nach der Leine zuckend; er packte sie um den Rücken, griff ihr unter die Arme. Und während er mit ihr rang, den Zügel in der Linken, und sie ihm den Mund zerkratzte, von ihm abdrängend, war in seinem Kopf hell das Bild des strampelnden edlen Rosses, des rettenden edlen Tieres. Sein Körper strebte hoch, um sie auf den Sitz zurückzuschleudern, die Zügel anzureißen. In seine Arme aber kam ein blinder Willen: weg von Alice, weg von ihr. Die Hände mußten es tun, die Hände taten es. Vor seinen Augen stand noch auf einem weißen Vorhang das Bild des davonstürmenden Rosses mit der Frau auf dem Rücken; da sprachen seine Lippen in die Luft hinein das Totengebet über der stürzenden Frau, jede Silbe ein betäubender hirnfüllender Schluck Luft: „Commendo te omni potenti, aspectus mitis atqe festivus tibi appareat.“

Der Körper des Kaplans lag atmend, blutbedeckt in einer Baubude der Rohrleger. Die Arme hielt er steif vorgestreckt in der Haltung, in der er Alicen sinken und zerschmettern ließ. Der Leutnant drang an den Männern vorbei, hieb dem Kaplan mit seiner Reitgerte über die Arme; die Arme schnellten wieder zurück. Der Bewußtlose zwinkerte, bebte auf, hielt sich für Wasser, das man mit Ruten streicht.

Die Brüder fuhren ihn auf das Land in ein waldumstandenes Kloster. Er las keine Totenmessen, duldete nicht, daß man sie las. Die Frau sollte brennen in der Hölle, das legte er sich auf.

Drei Wochen brannte sie. Da merkte er, als er morgens erwachte und der weiche Nebel vom Garten in seine Zelle wehte, daß die Bewegungen seiner Arme, das steife Vorsichhinstrecken etwas anderes bedeuteten. Die Kutte warf er sich über, auf nackten Füßen ging er bebend an seinen kleinen Altar. Er trug auf seinen Armen ein Opfer für Maria, das brachte er ihr jetzt. Während er die Stirn auf den schwarzen Samt des Tischchens preßte, fühlte er, daß Maria ihn verstand, daß sie sein Opfer annehmen wollte. Eine Lösung kam in seine Glieder, seine Arme sanken herunter. Er zündete die Kerzen an, las die Messe für die Tote.

Und während er die Hände aneinandergelegt vor die Stirn hielt, kam ihm vor, als ob ein Frosch aus der Mulde zwischen ihnen hervorhüpfte, laut „quak, quak“ machte und behend vor die Füße der Gottesmutter sprang. Die Engel lachten fein, wie wenn man ein Seidenpapier umwendet. Die Füße Marias bewegten sich wenig. Das rosige Wolkenkleid über ihren Schenkeln strich sie glatt, da hüpfte der kleine braune Frosch empor. Auf ihrem Schoß saß er mit seinen mächtigen Augenbällen und durfte still sitzen bleiben zwischen den Englein.

Die Nachtwandlerin

Als es zur Abendmesse läutete, ging Herr Valentin Priebe an der riesigen Hedwigskirche vorüber und erwog, seine dünne goldene Uhr mit einer eleganten Armbewegung aus der Tasche ziehend, wie er den Rest des Tages verleben solle. Es war Sonnabend, sein Bureau um fünf Uhr geschlossen, und in der warmen Herbstluft mochte es lieblich sein für einen jungen Mann zu flanieren.

Er hob zweimal den braunen Samthut ab, um vorsichtig die feinen Spinnweben abzublasen, die von der Alten Bibliothek durch die Luft herschwammen, zupfte an seinem Taschentuch, dessen Rosa malerisch vor der blauen Sportsjacke stand. Seine sanft gebogenen Beine schritten zierlich einher in weißen Tennishosen, hellgelben Schuhen. An der Charlottenstraße prustete ein lahmes Auto vorbei; schnüffelnd hob sich die aufgestülpte Nase über dem struppigen blonden Schnurrbart. Herr Priebe wedelte anmutig das Taschentuch gegen den Staub, bog sich besänftigt in den Hüften vor. Er huschte über den Damm.

Violette Strümpfe trug er, und es gelang ihm trotz energischen Schleuderns der Beine nicht, sie den Passanten zu Gesicht zu bringen; die Hosen waren zu lang.

In der Friedrichstraße musterte er mit verwegenem Blick gleichmäßig Herren und Damen, bereit nach Belieben als Schürzenjäger oder Männerfreund zu gelten. Sperrte die braunen, runden Augen auf, die gutmütige Kaninchenblicke warfen. Sein linkes Auge, mit schwarzen Sprenkeln in der Iris, stand etwas nach außen; auch zuckte Herr Priebe mit dem Kopf häufig nach links, als wollte er über die Schulter nach hinten sehen.

In aufgelösten Scharen trotteten die Menschen beide Seiten der Straße entlang, standen vor den Schaufenstern, sprangen in die Wagen, schlüpften zwischen schnurrenden Autos über den Asphalt. Streifte ihn etwas am Arm in der Mohrenstraße, lockte eine Stimme: „Na, Schatz?“ Geschminktes feines Gesicht, rotblonde Perücke, übergroße Augen, Moschuswolke, Veilchenbukett an der Brust. Blutübergossen wandte Herr Priebe den Kopf ab. Er sah angestrengt auf den Damm, fixierte einen Radfahrer derart ängstlich, daß der ihn anbläkte.

Wie er aus seiner Lähmung an der Bordschwelle erwachte, schlenderte er vor das Schuhgeschäft von Barthmann und summte. Da kam dicht hinter ihm her ein graziöses Püppchen, rotblonde Perücke, übergroße Augen, Dessous schlenkernd über durchbrochenen hellblauen Strümpfchen, plaudernd mit einem Geck im Zylinder. Sie lachten an ihm vorüber. Herrn Priebe stand das Herz still.

Er setzte sich in die Elektrische, fuhr in den Tiergarten, zog auf und ab die Hofjägerallee, bis er sich beruhigt hatte, lag matt in einer Droschke. Er wohnte in der Brunnenstraße in einem Quergebäude. In der lauen Abendluft lärmten die Kinder. Bevor er in den Hausflur ging, sah er sich um, ob ihm jemand folgte. Sein Vater saß hemdsärmelig in der Wohnung unter der Hängelampe, qualmte einen beizenden Knaster; ein kahlköpfiger Invalide mit einer blauen Brille, krummem Rücken. Die kleine Ella war schon im Bett an der Wand; sie zog Herrn Valentin das rosa Taschentuch aus der Jacke und roch daran; er gab ihr eine Banane vom Tisch.

Am Montag zwängte er sich in seinen Omnibus, rollte zum Wedding hinauf. Er ging über einen ungeheuren Kohlenhof. In kleinen Haufen lagen die schwarzen rußigen Steine, schwelten. Der Hof war mit dickem Staub bedeckt, unter dem Schienenstränge in dem weißen Morgenlicht blitzten. Von schwarzen Bergen rieselte es unaufhörlich herunter; starke Kräne knirschten hinein, prasselten ihre Ladung in die kleinen Bunker. Herr Priebe ging in einem glanzigen schwarzen Überrock über den dunstigen Hof; seine grauen Hosen waren abgestoßen. Er warf verschlafene Blicke über die Geleise, kletterte die Wendeltreppe des kleinen Bureauhauses hinauf. Niedrige weite Kontorräume, Holzladen an den Fenstern. Hinter den Pulten Männer; an der Wand junge Mädchen in schwarzen Schürzen; sie spielten auf Schreibmaschinen, machten metallischen Lärm.

Der Herr kaute an seinem Schnurrbart, pendelte tiefsinnig und zerstreut auf und ab, rauchte eine zerblätterte Zigarre. Zwei Fräulein stießen sich an, sagten laut zueinander: „Herr Priebe sieht eigentlich recht verlebt aus.“ Er stutzte, rekelte sich an seinem Pult, sagte unter hörbarem Gähnen zu seinem Nachbarn: „Das Großstadtleben bekommt einem auf die Dauer nicht. Ich werde doch noch nach Friedrichshagen ziehen.“ Aß zum Frühstück einen sauren Hering. Dann setzte er den horngefaßten Zwicker auf, schrie ein engbrüstiges Mädchen an, einer anderen warf er den Durchschlag zerrissen vor die Füße. Das Fräulein hob die Fetzen auf, maulte, plärrte laut los, die Schürze ins Gesicht geknüllt. Entrüstet verlängerte der Herr sein Gesicht, bewegte sich verlegen herum.

In der Mittagspause beobachtete der Herr dieses Mädchen, das Antonie gerufen wurde, folgte ihr auf die Wendeltreppe, näselte neben ihr leutselig, daß die Sache von vorhin nichts auf sich habe. In polnischem rauhen Dialekt erwiderte sie von Furcht vor Kündigung und weinte nochmals. Er stieg zurück; die jungen Männer an den Pulten stießen sich lächelnd an.

Am nächsten Morgen hatte Herr Priebe eine faltige Stirn, zotete mit den Kollegen, dann ging er summend durch den Raum, beugte sich, wie versehentlich, über die polnische Maschinistin, die hochfuhr, und flüsterte eine kleine Zeit mit ihr vor allen Menschen. Als er sich von ihr abwandte, pfiff er gleichmütig und saß nägellutschend an seinem Pult, um seinem glattgescheitelten, blonden Nachbarn ein träumerisches „Ja, ja“ zuzuwerfen. Wie der ihm zuzwinkerte, zog er schmunzelnd sein gut ausgefülltes Gesicht in Falten, so daß es aussah, als wäre es mit Bindfäden verschnürt von den Ohren her.

Antonie Kowalski war ein rundes ebenmäßiges Geschöpf. Sie trug große unechte Ringe in beiden Ohren; an den feisten Armen breite metallene Reifen. Sie wohnte im Nebenhause Valentins; eine niedrige Mauer trennte beide Höfe. Hoch im vierten Stock hauste sie mit ihrer Mutter. Die Frau, eine Polin, hatte, während ihr Mann im Gefängnis saß, eine Liebschaft mit einem Zigeuner, einem Kesselflicker, unterhalten. Als der Ehemann nach dreieinhalb Jahren aus dem Gefängnis wiederkam und die einjährige Antonie vorfand, setzte er Mutter und Kind aus der Wohnung. Sie zogen in die Brunnenstraße, in eine Dachkammer. Antonie wuchs als ein jähzorniges, leidenschaftliches und zärtliches Tierchen auf; nur daß sie in der Zeit ihres monatlichen Ungemachs stiller und leidend wurde, sich verkroch, auch viel mit der Mutter weinte. Um den Vollmond hatte die Mutter sie empfangen. Die Frau stand damals spätabends mit dem Zigeuner in der Küche, als ihr der branntweinduftende Geselle um den Leib griff. Sie war, Hilfe zu schreien, an das Fenster gelaufen, hatte die Gardine und Flügel weit aufgerissen, so daß plötzlich das prallweiße Mondlicht hart über Diele und Tisch fiel. Sie fuhr einen Augenblick geblendet zurück. Der rasende Mann warf sie schon auf den weiß bestrahlten Boden, riß ihr keuchend die Röcke ab, und so wurde sie seine Geliebte. Jetzt lachte und schwatzte Antonie viel im Schlaf, wenn der Mond vor ihr Fenster trat. Oft saß sie abends am Fenster, hatte die Augen offen; die Mutter mußte sie schütteln und laut anrufen, ehe sie den Blick herdrehte und aufstand.

Eines Tages, als es Mittag pfiff, wartete Antonie Herrn Valentin an der Wendeltreppe ab. Sie fragte ihn leise, warum er sie nicht ansähe und warum er sie vorige Woche sitzen gelassen hätte. „Hier sind zwei Billetts für das Konzert bei Lipps, um halb neun an der Kegelbahn oder drin im Saal.“ Drückte ihm einen gelben Programmzettel in die Hand, lief über den Kohlenhof.

Herr Priebe zitterte stark. Seine kalten Hände schwitzten, als er wieder an seinem Pult saß. Ihm wurde wüst und schwindelig. Der Speichel lief ihm unter der Zunge vor, er legte den Kopf auf die Schreibunterlage: „Was nun?“ Setzte seinen steifen Hut verbeult auf, stockerte auf die Straße und ging statt zu Tisch lange Straßenzüge rasch entlang, die Liebenwalder-Straße, Prinz-Eugen-Straße, über die Pankstraße, zum grünumsäumten Bahnhof Wedding, fuhr mit der Ringbahn um halb Berlin und zurück. Vom Kontor machte er sich abends im schäbigen Gehrock auf den Weg zur Brauerei, erst als ein hellgekleidetes Mädchen hinter ihm kicherte, fuhr er nach Hause, parfümierte sich im Tennisanzug. Mit Tränen in den Augen verabschiedete er sich nach vielem Drehen von der kleinen Ella, die ihn oft fragte, warum er so stöhne, wie ein Bär stöhne.

Musik schmetterte aus allen Gärten am Friedrichshain. Antonie war nicht an der dunklen Kegelbahn. Aus dem blitzenden Ballsaal tönte die Stimme des Maitre. Herr Valentin stützte sich auf den Arm eines lustigen Kollegen, als er die Treppe zum Saal hinaufging. Antonie tanzte gerade am Arm eines flotten Kommis vorbei. Gnädig begrüßte Herr Valentin das Fräulein im Vorübergehen. Sie huschte am Schluß des Polkas auf ihn zu, stellte sich, ohne ein Wort zu sagen, neben ihm auf. „Da wären wir also, kleine Krabbe,“ sagte er heiser, fixierte sie bis zu den Füßen mit Kennerblicken.

Sie trug ein weißes Waschkleid mit einem braunen Ledergürtel. Die schwarzen Haare hatte sie über die Ohren gewellt, hoch aus der Stirn gekämmt. Der große weiße Federhut war vom Tanzen weit in den Nacken gesunken, so daß das dunkelrote volle Gesicht grell davorstand. Breite Nase, hervortretende Backenknochen; die schwarzen Augen ernst und feucht. Schweigend standen sie sich gegenüber, dann legte sie ihren bloßen prallen Arm in seinen und zog ihn mit ehrfürchtigen zärtlichen Blicken zum Saal hinaus in den lampionbeschienenen Garten.

Draußen unter den alten Laubbäumen krachten die Schießbuden; die Karussells dudelten. Herr Valentin schob keck den Samthut zurück, zündete eine Zigarette an, führte Antonie in das Gewühl zwischen den Tischen. Mit überlauter Stimme schwatzte er, lachte, gestikulierte. Sie preßte seinen rechten Arm fest an sich. Einem Fräulein, das mit einem Glas Bier vorüberging, warf er einen schlüpfrigen Gruß zu. Antonie kicherte begeistert. An der Kegelbahn brannten keine Laternen. Sie setzte sich mit einem Sprung auf einen sandbestreuten Tisch, er hüpfte nach einer Pause neben sie. Schon lehnte ihr weißer Federhut an seiner Wange, faßte sie ihn zögernd um die Taille. Ein stoßweises Rucken ging durch seinen Körper, er wand sich unter ihrem Arm, schauderte: „Ach Gott!“ Der Samthut kollerte hinter ihnen auf den Tisch. Valentin sagte: „Fräulein, ich habe heute mittag ein Paar Würstchen gegessen; die müssen verdorben gewesen sein.“ Sie streichelte mit dem Handteller seine Wange, seufzte verschämt: „Sie müssen was dagegen tun, Herr Priebe.“ Er rutschte nach einer Pause mit einem Grinsen von der Tischplatte, stand leichenblaß da. Sie kam nach.

In der Nacht warf er sich im Bett, murmelte ins Kissen: „Was soll daraus werden? Was ist denn, was ist denn?“ Der Vater schrie aus der Nebenstube: „Immerfort kracht dein Bett. Wer soll denn dabei schlafen?“ Priebe lag ruhiger. Ihm fiel ein, daß Antonie eine Vase in einer Verkaufsbude schön gefunden hatte. Noch vor acht Uhr morgens stand er vor einem Laden in der Chausseestraße, betrat als erster Käufer das Geschäft und erstand für achtundzwanzig Mark ein unförmiges Porzellanstück, eine Vase mit einem Reigen von Amoretten, die dicke Backen machten und einen Kranz hielten.

In der kühlen Fasanenallee traf er sich abends mit der kleinen Polin. Die nahm ihm kreischend das hohe Paket aus der Hand. Sie riß das Papier ab, sobald sie allein auf einer Bank saßen. Mit offenem Mund blieb sie vor der bunten Kostbarkeit sitzen. Vorsichtig stellte sie sie neben sich auf die Bank, küßte und biß Herrn Priebe resolut in die Backe. Er streichelte ihr mit einigen krampfhaften Bewegungen das Stirnhaar unter dem weißen Federhut zurück und hielt es für angebracht, ihr unter schlüpfrigen Koseworten an die Brust zu greifen. Sie bog kräftig seine Hand weg, nahm seinen Kopf und küßte sein ganzes Gesicht ab. Dann gingen sie Arm in Arm die schmalen Spazierwege, während er sie oft losließ, an einem Baum lehnte und mit einem Gelächter losplatzte, das sie stutzig machte; schließlich sah sie geschmeichelt schief auf die Erde. Die Vase aber warf er unter solchen Grimassen an der Rousseauinsel ins Wasser, zum schluchzenden Entsetzen Antoniens, der er eine schönere versprach. Am Gitter des nebligen Wasserstreifens krächzte er mit übermüdetem Gesicht: „Vase hin, Vase her, was kommt es auf eine Vase an?“

Er hatte schon im Kontor gelegentlich den jungen Leuten erzählt von einer exotischen Mätresse, die er sich halte, und die ihn stark strapaziere; von einem kleinen reizenden Brillantring, den er ihr geschenkt habe, und den sie nun jetzt beim Tanz verloren hätte, ohne deswegen auch nur mit der Wimper zu zucken. Er wurde eines Sonnabends von den Kollegen genötigt, mit ihnen auf die feinen Lokale zu gehen. Er meinte zuerst, das sei lächerlich für sie, denn das Geld ginge dabei nur so hin, dann fuhr man zunehmend heiter in Berlin herum. Valentin, in gehobener Laune, freudig über sich erstaunt, lud sie zu immer neuen Lokalen ein, die er aus Plakaten kannte. Sie hockten zu vieren in einer jämmerlichen Rumpeldroschke, tranken erst in Mundts Tanzsalon, fuhren von Café zu Kneipe. Um drei Uhr morgens gröhlten sie im Café Minerva, um halb vier torkelten sie untergefaßt in das Café Greif, Elsässer-Straße. An einem Ecktisch sagte eine graublasse Dame zu Valentin, er sähe aus wie der keusche Josef; er sank über den Schoß einer alten Vettel, die ihr Pilsener Bier wegrückte, und der er gestand, sie wäre so zärtlich wie seine letzte Braut. Die drei anderen halsten ihm das Weib auf, packten beide in eine Droschke und tobten hinter dem langsamen Fuhrwerk mit Schirmen und Hüten her.

Kaum ein Wort sprach Valentin in den nächsten Tagen im Kontor. Sein Gesicht hatte in manchen Minuten etwas von Versteinerung. Er war ernüchtert, fand sich nicht damit ab, was ihm in der Nacht geschehen war, wütete gegen die Kollegen und hätte sie um Gnade bitten mögen. Abends blieb er zu Hause; vor dem Einschlafen weinte er im Bett viel und kläglich. Antonien übersah er; auch als sie ihm verstohlen auf dem Kohlenhof „Adieu“ sagte, weil sie eine Verwandte in Ostpreußen pflegen sollte, meinte er nur: „Ja, wenn Sie Urlaub bekommen haben, Fräulein, — dann, dann reisen Sie nur.“ Er ließ sich gehen, bürstete sich nicht ab, lief manchmal mittags unter einer Angst spazieren.

Wenig über zwei Wochen dauerte dieser Zustand. Dann cremte Valentin seine gelben Schuhe ein, nahm sich zu einigen verzweifelten Flanierzügen, um nicht zu ersticken, einen jungen Kassierer mit; hatte eine gelle, herrische, aufgeregte Stimme, sonderbar auch, daß seine Augen blutunterlaufen waren, wie bei einem Säufer. Erwachte eines Morgens mit Halsschmerzen. Der Kloß, das Drücken ließ nicht nach. Eine fröhliche Bewegung entstand in ihm unter dieser drolligen Ablenkung, die ihn veranlaßte, alle Augenblicke „gluck, gluck“ zu machen und dabei den Kopf nach vorn wie eine Gans zu rucken. Der Doktor, zu dem er ging, schickte ihn zu seinem Erstaunen zu einem anderen. Und der, ein beleibter Sanitätsrat mit fleischigen Fingern, lächelte auf Valentins Frage, was er denn habe, schnüffelte, während er in seinem Notizbuch kritzelte: „Müssen Sie sich mal bei dem schönen Fräulein erkundigen, das Sie vor ein paar Wochen besucht haben, hähä; die wird’s wissen.“ Er hörte schon nichts mehr. Er sprang mit inwendigem Gelächter die Treppe herunter. Also das war es? Er prustete auf der Königsstraße vor Vergnügen. In einer ihn plötzlich überkommenden Heiterkeit kaufte er sich ein Witzblatt an der Ecke Spandauer Straße; ob etwas von seiner Sache drinstände. Nun war alles wieder gut. So hatte sich die Sache doch gelohnt. Zu Hause zog er sich um und promenierte an der strengen Winterluft. In seiner Pelzmütze und dem vermotteten Krimmerkragen machte er einen entschieden russischen Eindruck. Er lupfte mit feiner Verachtung das linke Bein, wenn er an einer Dame vorüberging. „In dieser Gesellschaft wären wir also zu Hause. Die Krankheit paßt zur Pelzgarnitur. Vom Scheitel bis zur Sohle.“ Er hatte keine gewöhnlichen Halsschmerzen; es war das Leiden der Roués, der Herrschaften von Welt. Es ist nicht schrecklich; man kann damit spazieren gehen, Schokolade trinken. Er lächelte in tief befriedigter Rache um sich. Zu einem Reisenden, den er traf, sagte er: „Wir haben unsere Bewegungsfreiheit wieder.“

Antonie kam zurück. Valentin begrüßte sie geringschätzig an der Schreibmaschine. Sie sah recht gewöhnlich aus, schon die Beschäftigung degradierte. Auf der Straße schmiegte sie sich mittags an ihn; sie latschten durch die lange Turmstraße im Schnee. Auf die Frage, warum er so sei, antwortete er, es ereigneten sich in einer Stadt wie Berlin mancherlei Dinge; Erlebnisse könne man sie nennen; er nähme sie belanglos. Sie bat ihn, zu sprechen. Als er sich selbstzufrieden eine Zigarette angezündet hatte und noch lange mit dem Streichholz spielte, gab er brockenweise von sich, daß es mit der Offenheit solche Sache sei; man wüßte schlecht, wie man sich da zu verhalten habe, besonders Frauen gegenüber, man hört ja manches; es sei jedenfalls nicht so einfach. Sie hatte tränenschwimmende Augen, machte ein verschlossenes fremdes Gesicht. Ihm ging die Zigarette aus; er stammelte beunruhigt, er werde sich die Sache überlegen. Dabei klopfte er ihr den Schnee vom Rock ab, den sie beim Anlauf gegen einen Baum abgestreift hatte.

Abends im Humboldthain empfand er vor ihrem verfrorenen Gesicht ein so demütig anbetendes Gefühl und war so furchtsam, daß er wie ein getretener Hund an ihre Hand kroch und alles herausplatzte, blind, wie ein Todgeweihter. Am Schluß seiner Rede fiel er vor Erregung von der Bank. Antonie, von seiner Erregung mitgerissen, zerrte an seiner Schulter, bettelte, er möchte doch aufstehen, trat auf ihre Muffe, die hingefallen war. Sie weinte und tröstete ihn plappernd, als sie nach der Stadt zugingen; jeden Augenblick faßte sie ihn bei den Paletotknöpfen, umarmte ihn mit Kraft, daß er seufzte. Sie hatte, als sie sich bald trennten, beide mit blauen Nasen und mit Schnee auf den Schultern, ein fast glücklich verwirrtes Wesen, wollte mit Valentin in ihre Wohnung gehen. Er warf unruhige Blicke, schnaubte, rannte getrieben durch die hellen und engen Straßen, an Kinos vorbei mit Mordplakaten, an dem Geigengesang der Cafés, auf Knien, die weicher und weicher wurden und ihm wie Wachs wegschmolzen.

Antonie und Valentin sprachen dann für lange Zeit nur noch zweimal zusammen. Das eine Mal am Tage nach der Begegnung im Humboldthain; da trafen sie sich vor der Fabrik zu einem gemeinsamen Nachhauseweg. Sie hatte einen schwarzen Tuchmantel an, dazu eine leichte Boa; auf dem Kopf eine samtene Kappe. In ihren runden Bewegungen glitt sie an ihn heran; öffnete wenig den breiten Mund mit den aufgeworfenen Lippen, ging vertraulich dicht neben Valentin im Schnee. Sie sprachen vom Geschäft, vom Wetter und blieben vor den Schaufenstern stehen. Den Rest des Weges fuhren sie in der Elektrischen. Nur beim Abschiede konnte er einmal ihren unverständlichen Blick fassen, den sie auf die Seite drehte.

Nach anderthalb Wochen fragte er sie auf der Wendeltreppe, wie es ihr ginge. Sie antwortete, während sie sich an einem Ohrring zupfte: „Gut“; vielleicht könnten sie sich morgen unterhalten.

Am nächsten Tag kam sie nicht ins Kontor. Wochenlang blieb sie fort. Er schrieb an sie, bettelte um eine Antwort. Ihre Mutter hielt sie zu Hause. Sie war still geworden. Sie litt an Schlaflosigkeit. Noch als sie ins Bureau ging die letzten Tage, meinte sie zur Mutter, sie höre feines Glöckchenklingen, auch tiefe summende Saitentöne, die in Harmonien abwechselten. Es war gar nicht lästig, sie hörte es recht gern. Sie wollte nicht auf die Straßen gehen, blieb lieber im Zimmer; keinen Menschen als die Mutter mochte sie sehen. Und als einmal Valentin sie besuchte, durfte er sich ihr gegenüber setzen; nur daß er sie berührte, duldete sie nicht. Hinter ihm öffnete sie das Fenster. Ein plötzlicher Trieb kam über sie, sich nicht zu bewegen. Sie ging wenige Schritte im Zimmer liebevoll um sich herum. Die Mutter fragte einmal, ob sie sich nicht langweile. Sie setzte ihr den breiten Federhut auf, kleidete sie völlig und warm an. Sie lächelte zur Mutter: „Geh du mit aus.“ Die faßte sie bei den Ellbogen: „Hast du eine Liebschaft, Toni? Kriegst schon einen anderen.“ Sie gingen die Treppe hinunter und wieder hinauf. „Ich freue mich allein viel mehr mit meinen schönen Sachen.“ Und wirklich saß sie oben in den Stuhl gesunken der Mutter gegenüber, plauderte schön und strahlend; sie strich über ihr Kleid. Das Weiße ihres Auges war sichtbar. Sie war viel beschäftigt, ohne zu wissen, womit. Oft wanderte sie im Zimmer herum mit glücklichem Gesicht, auf lautlosen Pantoffeln. Sie gönnte sich feierlich keine Beschäftigung. Spielte gedankenlos, gedankenvoll mit bunten Zeuglappen. Band sich nach und nach eine Puppe zusammen, eine sehr farbige Flickpuppe, ein kleines Mädchen, groß wie eine Hand, zeigte sie der Mutter, schmiegte sie an sich, bettete sie ein.

Unter dem Spiel und dem Plaudern wurde sie offener. Antonie half der Mutter träumerisch im Haushalt, begleitete sie bei Besorgungen. Valentin wünschte zu ihr; er saß ihr gebrochen gegenüber. Sie beobachtete ihn leer. Eine Freundin riet Antonien, ihn doch wegzuschicken.

Und eines Spätnachmittags stand Antonie am Fenster ihrer Dachwohnung, sah auf das Nachbargebäude. Je länger sie hinsah, um so wilder fuhren ihre Arme zusammen. Krampfhaft wand sie sich; sie beschattete ihre hellen Augen: „Ich will ihn wieder lieben können. Ich kann es nicht ohne ihn ertragen. Ich will dich wieder lieben können.“ Am Abend hatte er einen Zettel von ihr. Sie waren allein. Das gräßlich geöffnete Gesicht stand vor seinem. Sie hielt ihn, fordernd: „Küß mich, küß mich!“ „Nein, ich darf nicht, ich darf nicht.“ „Der Arzt geht mich nichts an, Valentin. Der Arzt kann mich nicht tot und nicht lebendig machen.“ Die bibbernden zwei umarmten sich. Sie biß sich in seine Lippe fest; und dann biß er nach ihrer. Valentin torkelte. Eine Schlange umwand sie in einer steinernen Spirale, rollte sie hin, ließ sie liegen.

Als die Mutter am nächsten Morgen den braunen Schal sich über den Kopf schlug, um waschen zu gehen, kam Antonie verschlafen aus dem Bett gekrochen, zog die Frau am Arm zu sich her und ließ sich von ihr streicheln: „Mir fehlt gar nichts mehr, Mutter; ich geh, ins Geschäft.“ „Hast du dich mit Valentin vertragen?“

Nach einer langen Pause, während es schien, als ob sie wieder einschliefe, sagte Antonie: „Ich denke schon.“

Im Geschäft war sie träge, sinnierte herum, blieb schließlich weg. Sie mischte sich unter die kleinen Fabrikmädchen, die abends in der Brunnenstraße und Chausseestraße tanzen gingen, sagte nie Valentin davon. Sie stand neugierig und mit verschämter Miene um elf Uhr abends an dunklen Häuserecken mit zweifelhaften Damen, die ihr mit Witzeleien zuredeten. Antonie horchte sie aus, betrachtete sie, ließ sich in Cafés von Männern begleiten und lief dann weg. Stiller und stiller kam sie von solchen Spaziergängen nach Hause; ihre Schlaflosigkeit fing wieder an. Damals begannen die ersten Erscheinungen eines sonderbaren Nachtwandelns bei ihr. Ihre kleine Puppe in der Hand, schlich sie im Hemd bei völliger Finsternis durch Stube und Küche, an der schnarchenden Mutter vorbei über den Korridor und wieder zurück. Keine Diele krachte, vorsichtig setzte sie die nackten Füße, keinen Stuhl stieß sie an. Sie flüsterte zu der Puppe, die sie an ihren Mund hochschwenkte: „Nimmst du mich mit? Du bist gut. Mit dir geh’ ich. Hupf auf meinen Arm und sei recht lieb zu mir. Mit dir geh, ich aus. Ja, kannst dich ruhig auf die Hemdkrause setzen. Du bist so schön, so schön zu mir. Mit wem kann man so schön sein wie mit dir?“

Einmal erwachte die Mutter darunter, daß Antonie seufzend am Fenster rüttelte, das nicht gleich aufsprang. Sie brachte die Träumerin wortlos zu Bett, die nach einigem Stammeln unruhig einschlief.

Zu Valentin war Antonie in dieser Zeit gleichmäßig freundlich. Er kam heimlich oft zu ihr; als er sie einmal fragte, wann sie heiraten wollten, sagte sie, wozu das sei, wessen es noch zwischen ihnen bedürfe. Und immer ungeduldiger wartete sie, wenn er wegging, daß es ganz finster würde. Willenlos umarmte sie ihn und war gut zu ihm; wenn er fort war, stöhnte sie jammervoll, bestrich ihren kleinen runden Spiegel mit Seife, so daß sie sich nicht sah, steckte die Gardinen vor dem Fenster zusammen. Die Mutter tappte im Dunkeln durch die, Küche herein: „Bist du da, Toni?“ „Willst du die Toni sehen, Mutter?“ Und während die Frau mit der Petroleumlampe herkam, hielt sie ihr den kleinen Zeuglappen, die Puppe, tränenübergossen hin: „Das ist die Toni. Das ist meine kleine süße Toni. Nicht, Mutter, das soll unsere kleine süße Toni sein?“ Sie lachte und schmeichelte dem Lumpen; die alte Frau lachte mit.

Und eines späten Abends brannte das elektrische Licht vor einem neueröffneten Tingeltangel in der Hussitenstraße. Es war strenger Frost; in ihrem schwarzen Tuchmantel, die Kappe auf dem Haar, lief die kleine Polin in eine Häusernische und sah mit zwei heftig kichernden und kreischenden Mädchen zu den grell plakatierten Schaufenstern herüber. Da drehte sich drüben die Tür; untergefaßt zogen drei bunte Damen mit zwei Herren über den schmutzigen Damm, in einer Reihe. Der eine Herr tänzelte graziös; er hatte ein gedunsenes glührotes Gesicht und verlor oft zum allgemeinen Vergnügen einen Gummischuh; ein rosa Taschentuch stand malerisch vor seinem zerknäulten Ulster. Antonie ging taumelig ein paar Schritte auf die Gruppe zu, drückte sich, die Muffe vor der Stirn, in einen dunklen Hauseingang. Der amüsierte Herr griff mit feuchter Hand über ihr Ohr, zerrte eine Haarsträhne; im Vorübergehen stotterte er: „Alle Kinder sollen mitkommen. Ihr braucht euch vor mir nicht zu fürchten.“

Drei Uhr mitten in der Nacht gröhlten sie im Hofe von Valentin zweistimmig Lieder; dann gedämpft zu Ehren seiner Braut, wie Herr Priebe sagte, den Schlager: „Nimm mich mit, nimm mich mit, in dein Kämmerlein.“ Und während sie, Männchen und Weibchen, im Kreise flöteten, kam in dem grellen Mondschein oben aus der Dachluke ein Kopf mit schwarzem losen Haar hervor, bloßer Hals, rot durchwirkter Hemdrand, schob sich im weißen Unterrock ein Körper durch das Fenster auf die Dachrinne. Tappte mit unregelmäßigem Schritt die Regenrinne entlang; bloße Füße; an ihrer Hand, vor ihrem Rock zappelte etwas Schwarzes, Kleines.

Herr Priebe imitierte eben mit Damenstimme: „Ach, wenn das der Petrus wüßte.“

Da scharrte es vom Dach. Der Kassierer Lorenz, ein pickliges Biergesicht, blickte zuerst auf. Ein weißer Haufen, aufgestreckte Beine ohne Strümpfe, kam dicht vor der Front des Hinterhauses herunter, polterte gegen ein Blumenbrett auf einen Mülleimerdeckel, klatschte saftvoll dick und breit auf. Über die niedrige Feuermauer spritzte es klebrig, weiß; auf der Mauer blieb etwas dunkles Lappiges liegen.

„Es ist einer aus dem Fenster gefallen.“ Die fünf bewegungslos. Herr Lorenz wischte sich die Lippen ab. „Wo war das?“ gellte ein Fräulein; sie rannte heulend über den Hof zum Tor, die beiden anderen nach. „Ich kann so was nicht sehen,“ murmelte Herr Priebe, „mir wird ganz schlecht; ich leg’ mich schlafen.“ Im Hause klapperte es, wurden Fenster hell. Valentin bewegte die Lippen, was nun wirklich gewesen wäre, zitterte die Treppen hinauf in seine Wohnung, hüllte sich bis über die Ohren ein: „Ich will von dem ganzen Hause nichts wissen; ach, mir ist schlecht. Umziehen, umziehen.“

Morgens im Finsteren klopfte Antoniens Mutter bei Priebe an, schrie und schluchzte am ungeheizten Ofen, der Fensterriegel sei nicht zu gewesen in der Nacht, sie hätte es vergessen am Abend. Sie hielt auch einen alten Zettel von Antonie in der Faust; auf dem stand, Valentin solle ihre Puppe nicht bekommen, wenn sie wieder krank würde. „Da ist nun der Lumpen. Kommen Sie doch bloß mal rauf zu uns, Herr Priebe.“ Valentin riß die kleine Ella bei der Schulter herum; sie solle ausspucken hinter der Frau; den Vater fuhr er an, wie er die Tür vor so was aufmachen könne. Das Kind bockte: „Grade machen wir die Tür auf.“

Nachdem man in der folgenden Woche Valentin nahegelegt hatte im Bureau, wegen seines maßlosen Brüllens mit dem Personal und wegen des unmotivierten Herumskandalierens in Urlaub zu gehen, zog er, ohne sich von Vater und Schwester zu verabschieden, nach der Woltersdorfer Schleuse und nahm ein möbliertes Zimmer. Der Wirtin erzählte er, man habe ihn beneidet in Berlin und ihn für einige Zeit kaltstellen wollen; natürlich Weibergeschichten, die unvermeidlichen Weibergeschichten; drei Wochen würde er bleiben. Er sprudelte in anklagender Rede von Gemeinheiten, Ruchlosigkeiten, die man gegen ihn begangen habe. In einer Sofaecke im dunklen Zimmer brummelte er, holte die Puppe zur Spielerei aus seinem Koffer. Der Wirtin erklärte er, man müsse sich mangels anderer Gesellschaft irgendwie unterhalten. Heiß schluchzend überfiel er den scheckigen Lumpen, pfiff: „Wir haben uns mit solchen Sachen aufzuhalten, Toni, wir könnten ganz anderes im Kopf haben.“ Trostlos und verzweifelt weinte er drin so laut, daß die Wirtin ein Kreuz vor der Tür schlug.

Als die Frau beim Richten ihrer Resedenstöcke sagte: „Sie werden die Sachen schon überwinden,“ meinte er mit schiefem Grinsen: „Wir haben Kräfte, liebe Frau. Was glauben Sie von uns? Wir werden das den Leuten heimzahlen mit Zins und Zinseszins. Lassen sie uns mal wieder zu Haus sein.“ Und er sang so schön: „Wenn das der Petrus wüßte,“ daß die Wirtin mit dem Kopf nickte: „Gott, haben Sie eine Stimme, Herr Priebe.“

Er dampfte schon nach zwei Wochen, Ende April, ab: „Der Landaufenthalt ist nichts für Berliner, wenigstens nicht für mich.“

Er packte zu Hause seine Sachen in den Schrank, kaufte sich einen grünen Schlips, einen Lavallier, der offen vor der Weste wehen konnte. Für elf Uhr abends verabredete er sich mit seinem Freund Lorenz, dem Kassierer. Er pomadisierte sich, als man drin schlief, zog neue graue Gamaschen über die Schuhe, schraubte die Hängelampe hoch, um sich vor dem Spiegel an seinen Bewegungen zu erfreuen. Da sah er aus dem schweren Holzkoffer einen Puppenarm ragen. Er kehrte dem Koffer den Rücken, rümpfte die Nase, sprang nach kurzem Herumstehen auf den Koffer zu, stopfte den Arm zurück. Wie er die Bartbinde abnahm und schräg nach hinten sah, ragte der Arm wieder hervor. Valentin riß den Deckel hoch, schmiß die Puppe in die Mitte des Wäschebündels, schniefte gehässig: „Den Dreck werd’ ich dir. Dich rausholen. Die Zeiten sind vorüber. Den Dreck. Rin in die Kommode.“ Der Deckel schmetterte herunter. Im Spiegel sah er bewegungslos, wie der Deckel zitterte, sich langsam hob, die Puppe durch die Spalte auf ein Handtuch am Boden raschelte. Mit plumpen Schritten, die Arme in Boxerstellung, bewegte sich Valentin in Hemdsärmeln auf das Handtuch: „Zeitversäumnis! Gemeiner Ulk!“ Wie ein Stehaufmännchen wippte die Puppe auf der Diele und fiel wieder hin. Valentin gegen sie her. Sie schnellte, zappelte und kam vorwärts. Als er wuchtig über sie stürzte, stand sie am Spind, schlüpfte in den weißen Mondschein und glitt leicht gegen die Tür. Knarrte die Schwelle; mit einmal war die Puppe nicht mehr im Zimmer. Den Hut stülpte Valentin wutgeschwollen auf den glattgekämmten Schädel, schlug auf die Türklinke. Da schwang sich am Treppenabsatz das feine Geschöpf grade über das finstere Geländer.

Er stand im kalten Luftzug im Türrahmen; die Jacke unter dem linken Arm, der Riemen einer Gamasche hing. Er winselte, die Schultern senkend: „Heiliger Gott, was soll das? Soll ich Vatern wecken?“ schlich schon die Stufen herunter, dem schleifenden Geräusch nach. Wie er durch den langen Hausflur stolperte, flüsterte er: „Du, du, halt, bleib doch stehen. Ich — ich hab’ nichts getan. Ich nehme dich mit zu Lorenz.“

Nach, nach.

Hagelwetter in der Brunnenstraße. An der Gaslaterne schlüpfte sie im Bogen herum. Große Schritte machte er schon, sie immer größere. Sie wuchs, war wie ein Junge, wie ein Mann. Stralsunderstraße. Er schwenkte seine Jacke in der Linken, schluckte Hagelkörner ein. Sie bog in die Hussitenstraße ein, hielt an der Ecke an, war breit wie ein Pferd. Er lief auf sie auf, saß, wie sie sich duckte, schwankend auf ihren Schultern fest, und sie rannte mit ihm fort.

Er biß in ihren Kopf. An der Sebastiankirche hörte er die ersten grunzenden Laute von unten, schüttelte an ihrem Hals, wimmerte: „Ich will ja ehrlich sein.“

Höhnend kam es herauf: „Willst du das? Willst du das?“

„Du kannst mich nach Hause lassen. Was hab’ ich schon ausgehalten?“

„Noch nicht genug.“

Sie rasten vorbei an einem Schutzmann; der schnaubte sich die Nase. „Was hat der Mensch für einen Gang am Leibe! Hoppa, hoppa, Reiter.“

Valentin wollte den Schutzmann anrufen, es ging zu rasch. Er heulte in den Wind. „Ich verlier’ meinen Hut.“

„Brauchst keinen Hut.“

„Meine Jacke, meinen Kragen.“

„Kannst nackt kommen.“

Greinend schlug Valentin die Hände vor die roten Augen: „Ich will nichts mehr wissen von diesen Sachen. Werd’ ich doch mal den kleinen Lorenz fragen, was er dazu meint.“

Die Gleise der Maschinenfabrik tauchten auf, ganz in Finsternis gelagert. Valentin brüllte, warf sich: „Keiner hilft, keiner hilft.“ Die Puppe hielt ihn fest wie Kautschuk. Und während er kratzte, mit Armen und Beinen in den weichen Massen wühlte und sich wand auf seinem Sitz, kam der schwarze Humholdthain heran, menschenleer, mit Eisengeländern, starren Bäumen.

„Hi, hi, hi!“ würgte er. Dröhnend lachte die Puppe: „Nimmst du mich mit zu Lorenz?“ Der leere Vorplatz. Der tintige Teich dehnte sich. Sie lockerte seine Beine; schnellte zusammen. Mit einem Ruck sauste er kopfüber in das Wasser.

Sie stürzte sich glucksend nach. Er schluckte hochsteigend. „Ich sterbe schon, laß mich los.“ Wie ein Schlagbaum lang war ihr Arm, mit dem sie ihn unter das Wasser drückte: „Es fängt erst an! Verlogener Hund!“ Das Wasser spritzte nach allen Seiten; sprudelte, gurgelte minutenlang. „Verfaulen sollte ich dich lassen.“

Schräg über den Teich prasselte der Hagel in der Finsternis.

Von der himmlischen Gnade

Kein Land ist an Friedlichkeit jenem zu vergleichen, das in den Tod führt. Das Leben wölbt sich über dem Kopf wie ein Brückenbogen und unten fließt das Wasser, trägt den Kahn, nimmt ihn weiter.

Friedrichsfelde bei Berlin; ein heller Sommerabend. Die Fredersdorferstraße eng, schlecht gepflastert; eine Reihe niedriger verfallener Häuser, Kohlenplätze, Baustellen. Die schmutzigen, verwachsenen Kinder lärmten nicht mehr draußen. Gebückt zog ein altes Menschenpaar von der Chaussee her in die Gasse ein. Er an der Deichsel des ratternden Hundewagens, sie daneben, die Hände unter der schmierigen roten Schürze, die sie wie ein Muff aufgerollt hatte. Sie fuhren blicklos die Gasse herauf, unter dem blühenden Kastanienbaum hindurch, der schräg gegenüber ihrem jämmerlichen Häuschen wuchs.

Ein Stieglitz sprang auf den Baum, hüpfte Zweig auf, Zweig ab; nach einigem „Kiwitt, kiwitt, zwrr“ sang er:

„Grün ist der Mai. Mit mancherlei schönen Blümelein gezieret sind Berg und Tal. Viele kalte Brünnlein rauschen, darauf wir Waldvögelein lauschen.“

Die äußeren Äste der Kastanien berührten den hohen Bretterzaun vor Naßkes Häuschen. Hinter einem verwilderten Hof, auf dem Brennholz und Ziegelsteine stapelten, einen schmalen Gemüsegarten vor der Front, stand das einstöckige Bauwerk. Die Fensterscheiben blind, mit Staub beladen, einige verhängt mit Lumpen und Laken. Im ersten Stock waren Fenster geöffnet; irgend wer bullerte oben und warf von Zeit zu Zeit etwas um. Sie fuhren in den Hof ein, trabten drin langsam und blicklos.

Der Alte schirrte den Hund ab, an die Leine unter einem niedrigen Schuppen, schüttete, den Eimer auf den Knien und geduckt, dem schnappenden Tier Abfall vor. Sie gingen nicht gleich ins Haus. Neben dem Wagen, der sich in den weichen Schutt tief mit den Rädern eingrub, saßen sie auf umgekehrten Kiepen vor dem Gemüsegarten. Die Spatzen schrien, der Stieglitz rief weiter. Der Alte murrte: „Wat die nu zu krähen haben.“

Sie saßen still nebeneinander und sahen geradeaus. Braune Klinkersteine von Öfen lagen da und blitzten. Dann fing der Vogel wieder an: „Kwiwitt, kwiwitt.“

„Man wird doch seine Ruhe haben können vor die Äser“; einen Stein nahm der Alte, schmiß ihn über den Zaun in das Laub hinauf, der Vogel flog fort. Nicht lange fing leise im ersten Stock eine Handharmonika an, wimmernd und stöhnend; die Musik kam hinter ihren krummen Rücken her und ging mit der Luft. Nach einer Weile wiegte die vertrocknete Großmutter den Kopf unter ihrem Umschlagetuch: „Et zieht; ick jeh rin.“ Unbeweglich saß er, mit den Armen auf den Knien; die Klinkersteine flammten. „Jeh man.“ Er hörte auf die Musik.

Die Blicke der beiden waren wie Gummiringe, die allmählich überweitet wurden; die Haut hing als ein zu weiter Lumpensack um ihr Gestell. Grausam verrunzelte Gesichter boten sie dem Licht. Bei Tag fuhren sie Hundefutter durch die Stadt, an den Markthallen lasen sie Fleischabfall, halbverweste Fische, Kartoffeln, Schalen auf. Das Sprechen hatten sie sich abgewöhnt. Ihre Knochen taten unermüdlich den Dienst, Maschinen, die einmal angelassen waren, trugen das Herz, das träge und zögernd sein Ticktack machte, die keuchenden Lungen; und die Köpfe schaukelten auf den verdorrten Hälsen.

Rasch wurde es finster. Und wie die beiden auf ihrem stummen Zimmer wirtschafteten, schlug der Hund an. Mannesschritt auf den Stufen, eine derbe Gestalt steckte den Kopf in die dunkle Küche, knipste und der weiße Lichtkreis lief über Säcke, Töpfe, Herd und ein Durcheinander von Konservenbüchsen: „Sind Naßkes hier? Ist das dunkel! Ne, ist das dunkel!“ Ein zweiter Mann kam herauf, stand neben ihm, behelmt, ein Schutzmann mit dem Revolver am braunen Gurt. Die beiden Alten saßen auf der Matratze im Zimmer nebenan. Sie knuffte ihn in die Seite, zischte: „Du“ und zeigte nach der Küche. Er tat als ob er schlief. „Warten Sie mal, Fiebig, Sie brauchen nicht mitzukommen,“ sagte der bärtige Mann an der Küchentür, „bleiben Sie draußen, lassen Sie aber die Hoftür offen.“ Vorsichtig stieg er durch die verstellte Küche, stieß die Stubentür auf: „Warum meldet ihr euch denn nicht? Wenn man euch ruft? Was? Sie sind Naßke?“ Der Alte krabbelte unter dem stechenden fahndenden Lichtkreis hoch, stützte sich gegen die Wand. „Sind Sie Naßke? Sagen Sies doch. Wo ist denn die Alte? Na, verkriechen Sie sich man nicht, Großmutterken; wir kriegen Ihnen schon.“

Er hob sie unter den Lumpen hoch: „Die Beenekens taugen wohl nicht mehr. Aber es langt noch.“ Die Alte kreischte, hob die Hände über den Kopf und drehte sich nach der dunklen Wand zu. „Ne, olle Dame, schreien hilft nischt. Stehen Sie mal janz uff; Sie sollen mitkommen uff’s Revier.“ „Ick hab’ nich jestohlen, Herr Wachtmeester,“ plärrte die Frau. „Das können Se nachher erzählen. Hut haben Sie woll nich?“ „Ick hab’ nischt jestohlen und ick hab, nischt jestohlen.“ Sie gingen vor dem kräftigen Mann mit gesenkten Köpfen her. „Nu mach man bloß kein Klamauk hier. Fiebig, Sie gehen mal rauf hier oben. Dett sind doch eure Freinde, die lange Emma und der dufte Rutschinski, alles auf einen Haufen. Den Leutchen gehört der Hund, Fiebig; sagen Sie von wegen Nummer sicher mit die Naßkes und kucken Sie sich bei die Jelegenheit ein bißchen um.“ Er flüsterte dem Schutzmann ins Ohr: „Vorsicht; ich warte solange.“

Sie hatten am Vormittag in einem Haus von Rummelsburg den Mülleimer durchsucht. Als sie mit ihrem Sack durch den Hausflur kamen, stand ein Bierwagen vor der Tür; der Bierfahrer hatte einen leeren Bierkasten im Hausflur abgestellt, während er durch einen Hintereingang eine frische Ladung in die Restauration trug. Versehentlich tat der Mann sein Beutelchen mit Kleingeld statt in die Tasche in ein Schubfach des leeren Kastens. Naßke griff unbedenklich im Vorübergehen danach; sie fuhr ängstlich hinter ihm her, schimpfte leise: „Wat willste denn damit? Leg wieder hin.“ Er tauchte den Beutel in seinen gleichmütig abgeschulterten Lumpensack, öffnete die Tür, sie sockten langsam mit ihrem Wagen um die nächste Ecke. Die Frau schob hinten an dem Karren; sie war ängstlich; er hatte das Gefühl: „Die Sache hat ihre Ordnung; dem Dicken haben wirs besorgt.“ Er kaufte sich bei einem Händler in der Kneipe eine Stange extrafeinen Priem; sie ein paar wollene Pulswärmer, eine Flasche süßen Likör und ein kariertes Umschlagetuch. Der Rest des Geldes wurde am Boden zwischen die Bretter des Karrens geklemmt.

Man fuhr die abgelebten widerspenstigen Geschöpfe nach Moabit hinaus. Ihn steckte man zusammen mit einem behäbigen schlauen Bruder, der schon öfter ein Ding gedreht hatte. Zuletzt hätte er eine schöne Stange Geld geerbt, erzählte er dem Alten, den er mit den Worten begrüßte: „Mensch, dir hätten Se ooch lieber gleich in de Müllkute lassen können.“ Er suchte „die olle Mumie“ zu bewegen, ihm etwas zu erzählen. Als der schwieg und immer giftig auf die Diele hinsah, reizte er ihn: „Wat hast du denn jeklaut? Nen doten Heringsschwanz, wat? Und denn gleich jekocht in de Sechserkneipe und alleene uffjefressen.“ Der Alte blieb stumm. Er war mit einem dumpfen Grimm gefüllt; wenn er störrisch die Suppe herunterschluckte und seinen Teller ausleckte, fuhr der Dicke vor ihm zurück: „Beiß mir man nicht; sonstens bestell ick ’nen Maulkorb.“

Eines Morgens greinte und quakte Naßke: „Mein Zahn wackelt.“ „Wat soll ick denn damit?“ „Ick will ’nen Balbier haben für mein Zahn.“ „Wat is?“ „Ick will ’nen Balbier haben.“ „Laß dir ausstellen im Zoologischen, oller Affe mit dein Zahn.“ Der Alte knarrte weiter; der andere meinte ruhig: „Wenn de noch viel jaulst, kriegst eins in die Fresse und der Zahn hoppst raus.“ Zwei Wochen saß Naßke; am Abend bevor er entlassen wurde, brummte er wieder. Der Gauner fragte: „Wat möchste?“ Naßke sah vergrämt vor sich hin und sagte nach einer Pause: „Wat man möchte? Man möchte am liebsten dot sin.“

Im ersten Stock bei Naßkes wohnte Emma mit dem duften Rutschinski. Rutschinski ging in der Zeit, während die beiden festgenommen wurden, nicht aus, weil er sich den Fuß auf der Treppe umgeknickt hatte. Er war ein großer schlanker Mann, hatte ein schönes volles Gesicht. Seine schöne Figur hatte sein Schicksal bestimmt. Sobald er das erste Mal keine Arbeit fand und spazieren ging, entdeckten zwei ledige Fräuleins seine schwarzen Haare und die stumpfe Nase, dazu ein Paar grade Beine. So spazierte er bald weiter mit einer samtenen Mütze und der kecken Strizzilocke auf der Stirn; die ledigen Fräuleins arbeiteten für ihn. Nun beschützte er die lange Emma, ein blondes ehemaliges Kindermädchen. Wenn es soweit war mit dem Geld, wollten sie heiraten und ein Gemüsegeschäft aufmachen. Als die Naßkes in Moabit saßen, sagte Rutschinski, Emma solle flott verdienen gehen, sie wollten den alten Leuten ein kesses Abendbrot zukommen lassen und einen Anwalt bestellen.

Am nächsten Morgen um sechs entstand vor der Rettungswache Ecke Fredersdorfer Straße ein großer Lärm. Emma wurde von einem Mann hereingeführt am Arm. Sie torkelte. Sie hatte eine Kratzwunde an der Stirn, ihre Nase und Oberlippe blutete; in Strähnen fiel ihr das blonde Haar zottelig auf die Schulter. Die Blumen auf ihrem Hut halb heruntergerissen; die weiße Bluse mit Straßenschmutz beklebt. Der Mann hielt ihren Sonnenschirm in der Hand; er war mitten entzweigebrochen, die Stangen mit dem roten Bezug hingen. Aus einer Seitentür des hellen viereckigen Raumes, in dem Instrumentenschränke, Verbandkästen standen, stampfte gewichtig ein älterer Mann in einer weißrotgestreiften Bluse mit bloßen Armen; er trug eine Stahlbrille, in der Mitte des Schädels waren ihm die Haare ausgegangen; an den Seiten wuchsen sie buschig, bösartig nach vorn, schwarz und grau. Er sah, die Arme in die Seiten gestemmt, zu, wie der Arbeiter prustend das Mädchen über den Boden schleifte und hingleiten ließ. Er kommandierte grimmig: „Legen Sie den Schirm daneben. Die Person kennen Sie natürlich nich? Na, dann kennen Se gehen.“

Emma schnarchte am Boden; der Schleim hing ihr aus dem Mund und bildete schon eine Lache auf dem Linoleum; ein Dunst von Schnaps und Tabakrauch ging von ihr aus. Die Treppe im Hintergrund des Raumes sprang ein Herr im weißen Mantel herunter; lang, schmalwangiges Gesicht, geschäftsschlaue Züge, muntere Bewegungen. „Herr Doktor,“ rief ihm der Heilgehilfe entgegen, der noch immer mit eingestemmten Armen vor Emma stand, „ein neuer Fall.“ „Das sieht ein Blinder, Walter. Wenn Sie weiter nischt von mir wollen, kann ich ja wieder gehen. Aber ’ne feine Nummer für den frühen Morgen. Man sollte es nicht für möglich halten. Die hat sich aus der Linienstraße hier rauf verirrt.“ „Haben wir jetzt alle selber hier am Ort, Herr Doktor.“ „Na sehen Sie zu, Walter, klingeln Sie’s Revier an.“

Der Heilgehilfe war mit dem Mädchen allein. Er ging um sie herum, spuckte verächtlich zu ihren Füßen aus: „Pfui!“ Aus dem Verbandsschrank holte er einen Wattebausch, goß einen Schuß Salmiak darauf, stubbste es hinkniend der schnarchenden Person unter die Nase. Die drehte den Kopf ab, spuckte aus. Er folgte hingekniet mit dem Bausch, klammerte ihren zerzausten Kopf in seinen linken Arm fest. Sie schlug mit den Beinen. „Wat hat det Luder für ’ne Kledasche an. Stiefeletten bis unter die Knie.“ Ihre blauseidenen durchbrochenen Strümpfe kamen zum Vorschein. Mit einem Ruck wand sie ihren Kopf aus seinem Arm, kauerte hin, dann kroch sie wie ein Hund auf allen Vieren bis an den Verbandtisch, während ihr die Haare über das verschwollene Gesicht hingen, richtete sich prustend hoch; er dicht hinter ihr mit dem Lappen. Sie taumelte zur Wand hin, zerrte an dem Schloß des Verbandskastens, beschmierte die Scheibe mit ihrem angepreßten Gesicht. Er schleuderte sie zur Seite: „Mensch, nimmste die Pfoten weg.“ Von hinten preßte er der Torkelnden wieder den scharf riechenden Bausch von den Mund, sie würgte, brüllte, stürzte seitwärts auf die Hände. Der Doktor rief hell von drinnen: „Sie werden wohl mit dem Weib nicht fertig, daß die so schreit?“ „Wird eben wach, Herr Doktor.“ „Na schön.“ Das Gesicht Emmas war dick gequollen, ihre Augen tränten. Der Mann mit der Glatze nahm sie, die wieder kroch, von rückwärts über sie gebeugt, die Zähne zusammenbeißend, auf den Arm, schleppte und krachte sie auf den Verbandstisch hin; er flüsterte: „Jetzt bleibste aber liegen, olle Toppsau du.“ Schwapp, die feuchte Ladung saß wieder im Gesicht. Sie fing an zu ringen, mit den Beinen zu strampeln, um vom Tisch zu kommen und dem stechenden Dunst zu entgehen. Er drückte sie mit seinem breiten Oberkörper nieder, stemmte ihre Knie herunter, hielt sie umklammernd gegen die Tischplatte. Er knirschte, der Schweiß machte seine Glatze feucht und glänzend: „Läßt du meine Bluse los, Dreckfink gemeiner. Schämen sollste dich, daß du dich so aufführst, schämen sollste dich, schämen sollste dich!“ Sie kämpfte erwachend immer heftiger, er ließ von ihrer Nase nicht ab. Wie sie, während ihr die Kleider bis an das Gesäß hochrutschten, vom Tisch herunterstrampelte und ihm über die Backe kratzte, wuchtete der grimmige Mann zurückfahrend, atemlos seine rechte Faust mit dem Lappen zweimal auf ihrem Mund, gegen ihre Zähne, daß sie stöhnte, geiferte, die Augen aufriß. Sie saß auf dem Boden vor dem Tisch, sabberte: „Herr Rat, ich kann ja nichts davor. Tun Sie mir nichts.“ „Tu man nich noch so dämlich.“ „Der Franz hat mir zuerst geschlagen mit mein Schirm, Herr Rat.“ „Jetzt stehste uff und hältst die Klappe.“ Er ging an den kleinen Spiegel über dem Waschbecken, wischte sich mit einem Sublimattupfer die lange Kratzstrieme.

Draußen klinkte die Türe; ein fahler junger Mann in einer blauen Pelerine polterte herein. „Franz,“ gröhlte Emma heiser, „Liebling, Liebling! Komm doch her. Es ist mein Bräutigam.“ „Ja, sie meint mir.“ „Ick tu mir was an, wenn du nicht zu mir kommst.“ „Beruhige dir doch, Emma; es is weiter nischt.“

Mit einmal blinzte sie gegen ihn hin: „Det will ’n Rechtsanwalt sind,“ sagte sie blickend, am Boden herumkrabbelnd, „det will mein Bräutigam sind? Un nachher wird er mein Schirm an mir kaputt hauen. Wat willste denn hieer? Die Naßkes kommen ooch ohne dir raus.“ „Aber Emma.“ „Wo bin ich denn deine Emma, du Bedrieger. Herr Rat, det is ein Bedrieger.“ Sie hatte sich am Tisch aufgerichtet, schimpfte lauter und drohte gegen den kleinen Mann, der sich neben den Heilgehilten stellte: „Mit dir wer ick schon mal abrechnen. Erst macht er ein besoffen und nachher will er Vorschuß von eim habn. Wofür denn? Der ’n Rechtsanwalt? Du —“ Sie wollte auf ihn zu, der Mann mit der Bluse hielt sie fest; er drückte sie auf den Stuhl: „Setzen Se sich man und quasseln Se hier nich noch.“ Sie fuchtelte, rückte sich den Hut zurecht. Der alte Mann verpflasterte ihre Nase, steckte ihr mit bösen Blicken die Haare fest.

Am folgenden Tage wurde Emma von der Polizei entlassen. Die Naßkes hockten schon wieder zu Hause. Rutschinski empfing seine Braut mit den Worten: „Dir sollten sie lieber rausgeschmissen haben auf der Unfallstation statts dir zu verbinden.“ Sie holte aus ihrem Strumpf Geld, das sie von ihrem ersparten genommen hatte; er zählte besänftigt: „Na fleißig bist ja gewesen, Emma, olle Schmalzbacke. Aber mach mir bloß nich sone Zicken, besonders wenn ick een krankes Been habe und nicht mitkann.“ Als er nach ihrem Schirm fragte, erzählte sie ablenkend, schmeichelnd von dem kleinen Franz, den er kannte; er kriegte einen Grimm, versprach, indem er sich in die Hand spuckte, die Handflächen gegeneinander rieb und dabei pfiff, Abhilfe zu schaffen.

Naßke konnte sein Hundefutter nicht mehr loswerden. Zwei Kollegen waren ihm zuvorgekommen. Er fand aus seinem Groll nicht heraus. Der Hunger war in ihrer Wohnung; der Alte ließ sich nicht bewegen zu arbeiten. Wenn er bloß den dicken Bierfahrer unter die Finger kriegte. Sie wickelte sich große Zeuglappen um ihr geschwollenes Bein, legte gekautes Brot unter. Er näselte: „Wat pusselste immerzu an det Been? Det schene Brot rufflegen. Wennstes bloß ausspucken tust, brauchst et ooch nich zu essen.“ Sie keifte und stubbste ihn unter das Kinn: „Und wenn du oller Dusselbart bloß quasseln tust, kannste gehn. Mit deine Schlauheit brauchste dir nich dicke zu tun.“ Sie schwiegen auf ihren Matratzen. Dann sagte er: „Ick häng mir uff.“ Sie packte ihn vor Wut und schüttelte ihn: „Uffhängen kannste dir soviel du willst. Und ick zahl noch een Jroschen zu und jeh mit Emman in ’nen Kientopp.“

Rutschinski hinkte herunter zu dem Alten, der sich nicht aus dem Haus bewegte und die Alte allein mit dem Wagen ließ; er fragte ihn, warum er sich denn aufhängen wollte. Naßke bellte: „Wat jeht denn dir det an? Ihr seid Grünschnäbel. Du fragst mir ooch nich, wennste deine Emma vermöbelst. Ick kann mir uffhängen, wenn ick will.“ Rutschinski stellte ihm eine Flasche Schnaps auf das Fensterbrett: „Son oller Mann und sich uffhängen, det hat keenen Dreh. Naßken trinken Se man eins mit Muttern.“ Der Alte winkte ab. Er saß in dem wüsten Zimmer allein auf der Matratze, hockte stundenlang. Sein welkes Gesicht war bitter. Wie es Abend wurde, die Vögel zankten und sangen, trank er in einem Winkel einen Schluck Schnaps, ging in den Hof, holte eine alte Hundeleine aus dem Schuppen und hängte sich an einem Fensterhaken auf.

Da hing er, hinter einem übergelegten Sacklumpen, mit zusammengeschnürtem Hals, wie ein leichtes langes Paket an einem Seil und schwankte nicht.

Der Brückenbogen schwamm über den Kopf weg; eine Schnelle hob den Kahn, senkte ihn in einen Brunnen; glatt und frei sank der Kahn, eine angeblasene Feder, versank.

Die Alte zottelte mit dem Hundewagen an; kauerte auf der Kiepe vor dem Gemüsegarten. Müde lahmte sie durch die Küche ins Zimmer. Als sie das Bündel am Fensterhaken hängen sah, stand sie gebückt, faltete die Hände über der Schürze und sah regungslos lange Minuten hinüber. Sie blieb ganz kalt, schüttelte den Kopf: „Nu hat er sich richtig uffjehängt, der olle Struckräuber. Der fragt ooch nich nach Gott und de Welt.“ Durch die Tür keifte sie nach Emma und Rutschinski, zeigte ihnen die Leiche: „Da hängt er.“ Rutschinski fragte: „Aber Großmutterken, warum schneiden Se denn Ihren Ollen nich ab?“ Sie scharrte ärgerlich in die Küche; nach einer Weile piepste es zurück: „Ick soll ihn nu noch abschneiden, den Struckräuber. Vor sonen Doten ekle ick mir.“ Später, als die Leiche auf der Matratze lag, sagte sie zu Rutschinski: „Raus mit dem. Mach dir uff die Socken.“

Die Tage vor dem Begräbnis fuhr die alte Naßke nicht mit dem Karren; Emma brachte ihr zu essen; wenn sie im Garten auf ihrer Kiepe saß, spielte Rutschinski der Großmutter auf seiner Mundharmonika vor, aber nur lustige Stücke, Gassenhauer. Und nach der Beerdigung, am Nachmittag nahmen Emma und Rutschinski die Frau unter die Arme, und sie marschierten langsam die sommerlich warme Chaussee herunter. Emma trug eine kleine schwarze Kapotte; ihr Gesicht war noch verpflastert, die Lippe geschwollen; an den Mundwinkeln der tiefe Dirnenzug; über ihr helles Kleid hatte sie ein dunkles langes Jackett gelegt. Der dufte Rutschinski, blaß, den schwarzen Schnurrbart mit Bartwichse hochgezwirbelt, ließ seine lebendigen Augen rechts und links gehen; auf dem glattgescheitelten Kopf saß der steife schwarze Hut schief, die Strizzilocke unentwegt in der Stirn, im schicken grauen Anzug mit einem Knotenstock; eine rote Nelke im Knopfloch. Sie schleppten die Alte, die unter ihrem neuen karierten Umschlagetuch verschwand, in den grünumzäunten Garten einer Budike, an dem Eingang war ein kleines Holzschild angebracht: „Hier spielt Bismarck.“ Sie setzten sich; Emma raffte ihr Kleid, holte aus dem rechten Strumpf über dem Knie ihr Portemonnaie, gab es Rutschinski.

Frau Naßke schwieg hinter ihrem Kognak, sie schien zu frieren. Emma flüsterte: „Sie is noch jiftig auf den Ollen; nich dran tippen.“ Der dicke Kneipier mit einer mächtigen Bierschürze stellte sich neben den Tisch; Rutschinski stand auf: „Ein scheener Dag, aber traurig. Der olle Mann hat mit Hundekuchen gehandelt und denn, wie et is in die schlechte Zeit, Se können sich denken —“ „Is woll dot?“ Rutschinski sagte bei Seite: „Hat sich das Jas alleene abjedreht.“ „Ne sowat. Die arme olle Frau.“ „Die redt keen Ton. Machen Se ’n bisken Musike. Wo is denn Bismarck?“ „Wird gleich serviert.“ Der Hausdiener mit der ungeheuren Glatze setzte sich drin an das Tafelklavier. Rutschinski faßte seinen Stock kurz; wenn mal der kleine Franz hier wieder einkehrte, solle der Kneipier nach ihm schicken: „Mit dem will ick mal unter vier Oogen sprechen. Det is mein Freind. Kucken Sie sich mal die Neese von meine Braut an.“ Emma mit den blonden Haaren hielt die alte Naßken umfaßt, redete ihr zu einem Schnäpschen zu. Die nippte und lächelte schwach. Bismarck klimperte. Auf der Buche vor dem Lokal zwitscherten die Vögel; ein Junge klatschte mit seiner Peitsche: „Sie, mein Triesel, nich rufftreten.“

Der Stieglitz sang:

„Des Menschen Gemüt hoch aufgeblüht soll sich nun auch ergötzen zu dieser Zeit, mit Lust und Freud sich an dem Maien letzen. Und bitten Gott gar eben, er wolle weiter Gnade geben.“

Vom Hinzel und dem wilden Lenchen

Im Schwarzwald, nicht weit vom Mummelsee, wo es herunter geht nach Rappweiler, mitten auf einem grünen Wiesenanger lag ein Anwesen, das behütete allein der alte Herkel, Bill geheißen, mit seiner Tochter Lene. Sie wohnten in einem Häuschen, das ganz aus wurmstichigem Holz und verfallen war. Das schräge Moosdach fiel auf der einen Seite bis auf die Erde; die Schweine quietschten hinten im Stall und der große Hund Wulfi schnüffelte und kratzte am Zaun. Der alte Bill rasierte sich nicht und ließ sich nicht den Bart scheren, seitdem Frau Suse gestorben war. Mit Stiefeln, durch die das Wasser rann, mit einem Gesicht, bewachsen wie der Rübezahl, braunrot, schlurrte er morgens auf das Äckerchen; Wulfi bellte, bis er ihn losband. Und manchmal, wenn Bill spät aufstand und vor der Türe in der Sonne saß, nahm er einen Sack aus dem Stall, warf ein ganzes Brot und sechs Hände Kartoffeln hinein; er hustete lange und spuckte und sagte durch die Küchentür: „Ich geh mal rüber, ob die Zwetschgen schon reif sind.“ Dann kramte er den Stecken aus der Lade, schulterte den Sack um und zottelte langsam über das Feld, tapps, tapps, tapps, bis er nicht mehr zu hören war. Lenchen wußte, daß er dann drei Tage nicht wiederkam.

Hinzel, der Knecht, schlurrte öfter herüber zu Lenchen, und einmal war der Vater nicht da, und am nächsten Tage war der Vater auch nicht da. Da fragte Hinzel: „Wo ist denn Bill, Lenchen?“ Sie maulte: „Er ist krank und sitzt oben in seiner Stube.“ Aber wie er mit einer Speckschwarte hinaufgehen wollte zum alten Bill, um ihm das Bein einzureiben, stampfte Lene: „Er sitzt neben dem Schweinestall und schneidet Pfeifen aus Weidenholz.“ Hinzel fragte: „Für wen denn?“ Da nahm Lenchen ihre schöne rote Schürze, weinte: „Du hast mich nicht lieb,“ schluchzte sie, „mir tuen die Augen schon weh von dem vielen Weinen.“ Und sie erzählte, daß sie den Vater schon mit einem Karnickelfell und einem Fuchsschwanz geschlagen hätte, aber er holte sich doch immer wieder den Sack mit Brot und Kartoffeln, und dann geht er zu ihr und bleibt drei lange Tage und kein Mensch ist da. „Zu wem geht er denn, Lenchen?“

„Was kann hier nicht alles passieren. Mir tuen die Augen schon weh. Wenn ich sie bloß zu sehen kriege, kratz ich ihr das Gesicht entzwei.“

Hinzel hob traurig den Kopf.

„Ist es die Frau Kirbelei?“

„Die Hexe ist es, ja die Hexe,“ und Lenchen wurde ganz unbändig, schrie, daß Hinzel die Ohren klangen, warf sich lang hin auf die Diele.

Als der stille Hinzel gehört hatte, daß Bill zur Hexe Kirbelei ging, schlich er nach Hause. Er kehrte viele Tage nicht wieder. Lene nahm, wie sie ihn kommen sah, einen Schrubber aus der Ecke, goß Wasser auf den Gang und scheuerte, daß die Nähte ihrer blauen Ärmel krachten. „Ich habe viel zu tun,“ sagte sie atemlos zu Hinzel, „komm ein andermal.“ Er kam am nächsten Morgen: „Heute habe ich Schoten zu knacken. So viel Schoten hab ich zu knacken, oh!“ Hinzel setzte sich mit ihr an die Schüssel, aber wie er den Haufen sah, bat er, sie möchte doch heut nicht alle machen. Der Vater Bill tue ihm solchen Herzenskummer an; er hätte so Angst vor Hexen. Ach wenn doch Bill nicht zur Frau Kirbelei ginge. Da wurde Lenchen wieder gut, streichelte und küßte den traurigen Hinzel.

Dem alten Bill aber versteckte sie das Essen; sie fütterte ihn mit rohem Salat und gab ihm salzige Schweinsohren zu essen. Und wenn er Durst hatte, lief sie ihm voraus, trank rasch das Bier aus und sagte unschuldig: „Es ist nichts da, ha, alles weg.“

Einmal klopfte Hinzel an die Fensterlade: „Ist Bill zu Hause?“ Da lachte Lene heraus: „Seine Stiefel sind ja entzwei, zerschnitten habe ich sie mit dem Messer, jetzt sitzt er unter der Traufe und muß Tropfen zählen.“

Wie nun Hinzel immer betrübter wurde und jammerte, daß sie nicht heiraten könnten und die Hexe wäre ihre Schwiegermutter, machte sie die Türe zu und schlang ihre Arme um ihn: „Geh du doch hin, Hinzel. Bind ihr Eppich um den Hals, und wenn sie drinsteckt, wird sie ein altes Weib und alle laufen weg vor ihr. Oder nimm einen Tropfen Fingerblut und streiche ihr’s unter die Sohle, dann ist sie tot. Die Mareike hat’s mir gesagt.“

„Ach ich kann doch nicht an ihre Sohle kommen.“

„Tus doch, Hinzel, sag ihr so und so, streich ihr unter die Sohle und denk herzlich an mich.“

Sie stopfte ihm eine Tasche mit frischem Eppich und tat ihm eine Stecknadel an seinen Schürzenlatz. Dann sagte er: „Adiö, liebes Lenchen,“ und zog den Fußtapfen des Alten nach, über den Acker, an den Tannen vorbei, am Berg entlang. Die Spechte klopften an den Stämmen, der Kuckuck rief. Zwischen gefallenem Laub rieselte ein Bach herunter, ein graugrüner See lag da, viele Bäume waren über ihn gestürzt und faulten. Hinzel wußte nicht wo er gehen sollte, Lene hatte nur gesagt: immer den Fußtapfen nach. Jetzt waren die Fußtapfen zu Ende. Er setzte sich auf einen Stein und schälte Rüben, die sie ihm eingesteckt hatte. Die Schalen fielen herunter, mit einmal waren sie weg. Er wühlte mit seinen Haken, wo sie wären. Sie waren in ein Maulwurfsloch gefallen. Er stocherte weiter. Es schien sehr tief zu sein. Er hockte hin, räumte die Erde mit den Händen weg. So tief war das Loch, daß man bequem einsteigen konnte. Hinzel legte seinen Hut oben hin, damit nicht einer das Loche zuwerfe, und ließ sich herunter. Er schlüpfte voran; es war ein Gang, ein schmaler Gang. Unten lagen die Schalen. Das Kuckucksrufen wurde leiser. Er freute sich, hier wanderte man sanft unter dem Rasen, und kein Wind wehte; er wanderte zur Frau Kirbelei und konnte Lenchen heiraten. Gar nicht dunkel wurde es. Man spazierte wie durch einen langen Keller. Der Weg wurde breiter, die Wände liefen auseinander. Da war es, als wenn er auf dem Grund eines Meeres ginge. Sand rauschte unter seinen Füßen, weißer Sand. Die Luft war grünlich, und ein Dämmern, Blinken, Wallen, daß er schwindlig wurde, wenn er nicht auf den Boden sah. Die Fische schwammen lautlos um ihn herum, strichen mit ihren Flossen über sein Haar. Braune Seepferdchen ohne Arm und Beine stiegen hoch und nieder, wie hängende Raupen; sie streckten ihren eingerollten Schweif; auf ihrem Rücken flimmerte ein seidener Saum. In kleinen Schwärmen zogen die Schlammpeizger mit ihren Bärten, die Karpfen sprangen zur Seite und schnappten. Hinzel dachte: „Wie freundschaftlich sie miteinander tänzeln; sie säen nicht, sie ernten nicht.“ Ganz munter trieben es platte Fische, sie sahen aus wie Flundern mit einem weißen Bauch, wedelten mit ihrem Mantel, warfen sich hin und her und lagen auf dem Sande, so daß man sie gar nicht erkennen konnte; nur mit einem Auge plinkten sie. Da sich Hinzel fürchtete, sie zu treten, ging er auf den Zehenspitzen; aber seine Stiefel waren zu breit und mit einmal schwappte einer unter seinen Füßen auf. Hinzel schrie, schwankte.

Etwas rief fein: „Komm doch her, komm doch hierher, nein hierher.“

„Wo denn, wo denn?“

„Hierher, nein, hierher.“

Er strengte sich an. Rosigweiß bewegte es sich um ihn, ganz dicht vor seiner Wange, glitzerte wie Glas, auf das die Sonne scheint. Sie hatte rote, starre Augen; zwei Zöpfe schwammen ihr nach vorn über die Schultern und zitterten lebendig. Auf dem Kopf trug sie ein großes braunes Schneckengehäuse, in das sie manchmal tauchte, wie hochgesogen, aus dem sie wieder hervorwallte. Einen Mantel hatte sie an, der schaukelte und war nicht dicker als eine Wurstpelle. Hinzel griff nach ihrem Arm: „Wohnst du hier unten? Man kann gar nicht gehen. Die Flundern liegen überall herum.“

„Bist du jung, bist du jung,“ kreischte sie und zog ihn an seinem Schürzenband auf einen Steinblock; ihre Zöpfe tasteten vor ihr. Und während sie sprach, achtete er auf ihren Mund; denn kaum hatte sie ausgesprochen, kam es ihm vor, als ob sie gar keine Stimme hätte, und er hatte doch alles verstanden. Sie lächelte und blickte ihn an; ihr Gesicht war klein und aus rotem Korall. Er paßte ängstlich auf die Fische auf, weil sie gegen seine Stirn fuhren und es leicht passieren konnte, daß er einen Stichling, ein Moderlieschen verschluckte. Dann stand er ungeduldig auf: „Ich muß ja weiter, ich kann hier nicht bleiben.“

„Wo willst du denn hin?“

„Ich muß zu der Frau Kirbelei. Geht es hier lang?“

„Was willst du bei Frau Kirbelei?“

„Die will ich umbringen. Mein Lenchen ihr Vater ist ein schlechter Mann. Er nimmt alle Woche einen Sack mit Kartoffeln und geht zu der Hexe. Ich binde ihr Eppich um den Hals, und dann —“

„Und dann?“

„Und dann streich ich ihr mein Fingerblut unter die Sohle und denk herzlich an Lenchen. Aber ich kann doch nicht an ihre Sohle.“

„Warum denn nicht? Versuchs mal bei mir.“

„Ja, deine Sohle. Du hast eine feine Sohle. Ihr seid alle beinah wie Fische. Ich hab noch nie gehört, daß es bei uns im Schwarzwald sowas gibt. Dreiäuglein und Trullmänner wohl, Hochwürden hat uns erzählt. Was du für schöne Nägel an den Zehen hast.“

„Komm doch öfter zu mir.“

„Ja, und Lenchen bring ich mit.“

„Nicht. Komm allein und sag ihr nichts. Dann zeig ich dir den Weg zur Frau Kirbelei.“

Er stelzte nach Hause, dachte fröhlich, als draußen die Krähen und Rotamseln zankten und er seinen Hut nahm, wie verschieden die Welt sei an allen Orten.

Lenchen schluckte ihre Tränen herunter, als er zurückkam, und seine Tasche war noch voll und die Nadel steckte im Schürzenlatz. „Ihr Männer seid alles Tolpatsche. Du hast gewiß den Niklas aus Rappweiler getroffen, ihr seid ins Wirtshaus gegangen und dann habt ihr euch schlafen gelegt.“

Als er sie trösten wollte, patschte sie ihm über den Mund: „Ich will nichts von dir wissen.“

„Aber Lenchen, ich konnt’ sie nicht finden.“

Sie streckte ihm die Zunge heraus: „Dann geh da hin und da hin und da hin und find sie. Wenn ich ein Mann wär, würd’ ich sie schon finden.“

Und sie ließ ihn in der Küche stehen. Seufzend klopfte er Tags drauf bei ihr an, ließ sich frischen Eppich geben, marschierte zu dem Maulwurfsloche. Er schwitzte in der Sonne; in der Maulwurfshöhle ging es sich gut. Unten besah er sich einen Hecht, der still und silberglänzend an einem Fleck stand und sich nicht rührte; manchmal war er grünweiß und durchsichtig wie ein Geist. Hinzel überlegte, was sich wohl der Hecht die ganze Zeit dachte. Da kam das Schneckenfräulein und sie schwatzten zusammen. Sie gab ihm wieder ihren Fuß zu spielen; er sagte: „Wenn Lenchen das wüßte, würde sie mich schön knuffen.“

Schlief nachmittags müde im Garten Bills ein. Und als Lenchen ihn schlafen fand unter dem Apfelbaum, beschnüffelte sie ihn, fühlte sein warmes Gesicht ab. Er träumte von den Fischen, die so auf und nieder schwammen, von den drolligen Seepferdchen und Aalen. Sie krallte ihn in den Arm: „Woran du denkst! Nur an Saufen und Spielen denkst du. Da liegst du und schläfst. Wir können nicht heiraten!“

„Was soll ich denn machen?“

„Du sollst sie umbringen. Du sollst sie totschlagen. Du sollst einen Hammer nehmen und geradeaus laufen, bis du sie triffst und ihr vor den Kopf hauen, eins, zwei, drei, bis sie tot ist.“ Und da geriet er in ein Zittern, seine Hände zitterten, seine Arme zitterten, sein Kopf zitterte: „Ich will nicht. Ich kann keinen umbringen.“

„Weil du mich nicht liebst,“ schrie sie ihn an und warf ihm die ganze Tasche vor die Füße. „Wenn du sie mir nicht bringst, sperre ich dich unter das Dach und geb dir nichts zu essen.“

Er kam zu ihr gerannt am nächsten Morgen. Da spannte sie grade den alten Bill vor den Pflug wie einen Ochsen, nahm die Peitsche und schlug ihn: „hüah, hüah!“ Sie fuhr an Hinzel vorbei ohne ihn anzusehen. Er lief heulend hinter ihr her. Sie zog ihm eins mit dem Riemen über, und als er nach ihrer Hand faßte, noch eins und trat ihm mit dem Fuß gegen die Wade. Er wankte auf den Feldweg, vergaß, daß er nichts gegessen und nichts getrunken hatte seit gestern abend, weinte, weinte. Bis er an den See kam.

„Warum weinst du denn?“ fragte das Schneckenfräulein.

„Weil ich die Frau Kirbelei nicht finde.“

„Hier hast du meinen Hals.“

„Ich will deinen Hals nicht. Ach meine Striemen brennen.“

„Wer hat dich denn geschlagen?“

„Lenchen.“

„Hier hast du meinen Fuß. Nimm die Nadel, streich mir dein Fingerblut unter die Sohle.“

„Was willst du von mir?“

„Ich bin ja die Frau Kirbelei.“

„Nein, nein, das bist du nicht. Du bist doch nicht schlecht. Mein Lenchen ist schlechter.“

„Nun kannst du mich totschlagen, Hinzel.“

„Ich geh’ nicht zu Lenchen. Sie hat ihren Vater vor den Pflug gespannt. Ich möchte hier bleiben, bei dir bleiben.“

„Ja, du darfst bleiben.“

Und während er weinte um Lenchen, sah er sehnsüchtig hin zu einem Molch, der eben mit dem Schneckenfräulein gespielt hatte. Sein Mund wurde breit und breiter.

„Mir ist ganz lustig in den Gliedern,“ sagte er zu dem Fräulein, das neben ihm schwamm. „Du heißest Schnickedei. Ich möchte mit dir walzen und schrammen wie der Molch.“

Er drehte sich mit ihr, da wurde sein Leib rund und schlank wie eine Rolle. Er warf sich zur Seite und in die Höhe, da legten sich die Arme dicht an und schrumpften ein wie die Beinchen. Lang wuchs ihm ein Schweif heraus, braun und goldig fing seine Haut zu schillern an. Ein schöner bunter Molch war er geworden, der tanzte mit der Schnickedei.

Seinen Hut hat ein Geisbub gefunden. Der lief zur Mutter: „Mutter, am Mummelsee ist ein Loch; da ist ein Mann reingefallen.“ Die Mutter sagte: „Geh hin und grabs zu.“ Da fand am Mittag der alte Bill, wie er antappste mit Sack und Stecken, nicht mehr herunter in den See. Lenchen lachte hell, als der Bauer brummig in die Stube kam, sich die Stiefeln auszog und sich auf den Strohsack legte unter dem Bilde der Frau Suse. Lange stand sie an der Zaunlücke neben dem Hundestall, wartete auf Hinzel. Der aber saß in dem kühlen See auf einem Stein. Die feinen Moderlieschen schwammen über ihm, er nickte mit dem Kopf und schnappte Fliegen.

Der Riese Wenzel

Hinter Jüterbog lag der junge Riese Wenzel auf dem Bauch und schlief. Als der Morgentau fiel, träumte Wenzel, er tauche mit dem Kopf in einen Pfuhl und eine Padde scharwänzele dicht unter seinem Gesicht. Drehte sich um, rieb sich die Nase mit einer Hand ausgerupfter Erde, wurde im Niesen wach. Quarig richtete er sich auf. Es regnete vom grauen Himmel in das Tal herunter. Er meckerte, arbeitete mit Borke an seinen schmierigen Fingern. Ein altes Strohdach hing ihm mit einem Bindfaden von der Schulter, auf dem spitzen Kopf saß ihm gestülpt ein Blechkessel mit Beulen und Löchern. Sein plattes langes Gesicht grün von dem zerpreßten Gras. Er sabberte in seinen Bart. Ein alter Gänsetreiber lahmte an mit einem Eimer Stutenmilch. Als Wenzel den Eimer glucksend absetzte, quetschte er versehentlich einem Gänschen den Hals; da weinte er: „Heut ist ein unglücklicher Tag.“ Suchte seine Beine zusammen, um aufzustehen; eins lag in der Tannenschonung des Jochen Dietrich, das andere war dicht an die Chaussee nach Jüterbog gerutscht. Der Gänsetreiber flüchtete um die Ecke. Wenzel latschte fort, schrammte mit jeder Ferse eine Furche in den Acker.

Bei Kräknitz dampfte eine Wolke um den Berg, zwei Riesen qualmten Buchenblätter aus ihren Pfeifen. Wenzel schwenkte von weitem die Arme: „Ich halts nicht mehr aus.“ Brüllte, wie er hinaufkletterte: „Ich will in die Stadt gehen.“

„Hast keine Milch gekriegt?“

„Trink keine Milch, will Besseres saufen. Hab genug von Jüterbog.“

Sie lachten so grob, daß den Bauern die Erbsen von den Tischen hopsten und einer zum andern sagte: „Wir wollen Hasenpfeffer auf die Wege streuen, daß die Riesen gute Laune haben.“

Die drei stalpten herunter nach Luckenwalde auf ein verlassenes Schienengleis. Neben dem Rangierbahnhof saß ein Alter, dem die Augen schon erloschen waren; er hatte sich Igel in die Augenhöhlen gesetzt, die für ihn sehen mußten. Einen zerrissenen Teppich hatte er um und fror sehr in dem Regen. „Gebt mir eine Pfeife,“ dröhnte er, als er den Qualm schnubberte.

„Wenzel will in die Stadt,“ grunzte einer.

Der alte Kilian schmauchte: „Was willst du in der Stadt?“

„Will tanzen, will mich amüsieren.“

Seufzte Kilian: „Oh weh.“ Seine Nase, über die Hirschkäfer krochen, fing an zu zittern; sie war dürr und blaublaß wie ein Spargel.

Plärrend drohte Wenzel mit den Fäusten und trampelte: „Will in die Stadt, in die Stadt!“

„Hornvieh,“ schrie der Alte, schwang die Pfeife, „dumme Kröte. Werden dir die Lumpen abreißen, dich ins Wasser schmeißen, daß du versaufst.“

„Die mir was tun in der Stadt?“ Wenzel kicherte, wie wenn eine Fliege am Fenster brummt. „Die sind ja so sanft, so fein, so gut. Sind nicht wie Bauern. Nehmen den Hut ab, machen Knix und noch Knix: ‚Lieber Wenzel, liebes Wenzelchen, guten Tag, wie gehts?‘ Kenne sie schon, hab gesehen, wenn sie vorbeigefahren sind im Zug. Haben samtene Kleider, essen Marmelade und geben mir davon, soviel ich will. Und dann sage ich: ‚Ich komm ja schon, ich komm ja schon. Da bin ich.‘“

Den beiden jüngeren Riesen kollerte ein dumpfes Lachen aus dem Bauch, dem uralten Kilian aber tropfte das Wasser über die geriefte Lippe; er fütterte sein linkes Auge mit einem Regenwurm, denn der Igel stach ihn. Er prustete, mit der Hacke wühlte er voll Wut ein Loch in die Erde, daß eine Schiene heraussprang: „In den Paddenpfuhl werden sie dich schmeißen. Wirst schreien nach uns, daß wir dir helfen.“

„Und dann versauf ich lieber, äh, als daß ich fresse trockene Kastanien in Jüterbog und laß mir die Zehen abfrieren.“

Der Alte holte mit Pfeifenrohr und nassem Teppich aus; die beiden andern klafterten Fuder Sand über Wenzels Buckel.

Der junge Riese Wenzel rannte durch den Regen; eine Tanne riß er hoch und soff im Zorn ihr Harz; eine andere nahm er als Spazierstock. Er lief auf Berlin zu. Seine Mutter scharrte mit einem Fischnetz hinter ihm durch die Heide, sechs Krebse zog sie heraus; klammerte seinen Strohmantel fest und das rote Bettlaken, das ihm um die Beine flog; ach Wenzel sollte nicht frieren.

Er keuchte bei Tempelhof heran, ging gebückt unter den blanken Drähten der Elektrischen, vor denen er sich fürchtete. Grenzenloses Gekreisch um ihn, Wallen von Menschen; Schnarren, Schnattern. Kleine Männer, kleine Frauen stiegen in kleine rollende Wagen; im Husch waren die langen Straßen vor ihm frei. Es stank nach Qualm, bösen Dünsten. Wenzel zog beschämt von Häuserreihe nach Häuserreihe, drückte eine Scheibe ein, bog sich eine Regenröhre um; guckte hindurch zum Himmel. Über leere Plätze schlurrte er; als er mit krummen Knien sich über ein Häuschen bückte, auf die Nachbarstraße hinübersah, rief er leise: „Ihr! Nehmt mich mit. In euren Ballsaal.“ Aber die Stimme blieb ihm stecken, als alle davonliefen. „Wo habt ihr eure Marmelade?“

Die Städter, verängstigt, versteckt, merkten, was er für ein Tolpatsch war, als er so verspielt sachte herumflanierte, kamen in Haufen, hetzten: „Den haben wir bald, den kriegen wir schon.“ Wenzel kauerte grade auf dem Königsplatz, lutschte an der Siegessäule, da fing eine Glocke zu läuten an, eine andere bullerte, dann viele, alle in der ganzen Stadt, Dröhnen, Brummen. Still legte Wenzel den Kopf an die Säule, freute sich, was die Berliner für fromme Leute wären. Klingelnd rückte die Feuerwehr durch den Tiergarten, zwanzig Wagen hintereinander, spritzte scharf auf einen Pfiff gegen Wenzels Beine, daß er zögernd davor auswich, erstaunt Straße nach Straße, über einen Platz, über eine Brücke, bis er an ein Fabriktor kam, da riß plötzlich ein eiserner Krahn seinen linken Fuß hoch und eine Dampframme schmetterte einen Keil durch die Ferse. An einer Kette hinkte er schmerzheulend, wo sie ihn führten. Wie ein Bär tanzte er auf dem Neuen Markt; Berliner und Berlinerinnen liefen hinzu und lachten. Er hatte Angst; seinen Strohmantel zerrten sie herunter. Zwei Männer legten eine Leiter an, kitzelten ihn unter der Achsel, hörten nicht auf. Und da er sich fürchtete sie zu zerdrücken, wirbelte er im Kreise herum, knackte vier Laternen ab, bog sich, streckte sich, lachte und heulte in einem Atem. Wie er etwas Luft schöpfen wollte, saßen zwei graue Katzen auf dem Dach. Er ächzte: „Lauft zu Kilian hin und sagt ihm: das machen sie mit Wenzel in Berlin.“

Die Riesen standen hinter Jüterbog auf dem Floriansberg und horchten, als der Lärm und das Läuten entstand. Einmal sahen sie, wie der junge Wenzel auf das Pflaster hingeledert wurde, dann stiegen sie auf einen Kirchturm, putzten sich die Augen. Schauten nicht lange hin, ihnen wurde angst und bange.

Die Katzen sprangen über Dächer und Böden, sie ließen sich an hohen Schornsteinen herunter, rannten Wette über den Belle-Alliance-Platz, ohne Rast zum Floriansberg.

Mit Kugeln schossen die Städter in Wenzels Fell; da dämmerte dem jungen Riesen, daß die Städter schlecht mit ihm waren. Seine Augen wurden weit und trübe; eine Kälte rieselte von seinen Füßen herauf; er ließ mit sich geschehen.

Der Wind ließ am Abend nach. Von Jüterbog torkelten die drei Riesen her. Ihre Kessel hatten sie vom Kopf genommen, paukten drauf, um Furcht zu erwecken. Die beiden grauen Katzen mit blutig bösen Augen sprangen neben ihnen. Bei Tempelhof, dicht vor Mariendorf, ragte etwas aus dem Sande und bewegte sich. Sie hoben Wenzel an den Schultern hoch; seine Beine steckten tief im Boden, klirrten und klapperten; bis an die Brust war der junge Riese versteinert. Sein Mund lappig und schwer; er stöhnte: „Tut ihnen nichts. Tut ihnen nichts.“ Dann versteinerte er ganz und war tot. Ein Krebs hing noch über seinem Arm, der zappelte, weil er mit der braunen Schere im Stein fest saß. Die Riesen schaufelten mit den Händen ein großes Loch in die Erde, damit der Stein nicht umfiel. Da wackelte die Mutter herzu. Sie stellten sich hin zu dreien, sahen sich auf die Füße: „Wenzel ist König geworden in der Stadt. Geh nicht hin. Die Leute sind böse und schießen. Wenn er eine neue Kutsche hat, holt er dich ab.“ Die Mutter warf ihr blaues Tuch ab, weinte: „Das glaub ich nicht. Dieser Stein, das ist mein Kind.“

Und fallend glitt sie über den Stein und bedeckte ihn als ein schöner, warmer, grüner Rasen. Und fließend bedeckte sie den Boden und die ganze Umgebung. Die Riesen zupften sich die Bärte, pflanzten Hanfnessel, Löwenmaul und Bilsenkraut.

Das Krokodil

Unter der ungeheuren Aracee lag Julie wie ein blauer feistgefressener Drache. Sie wühlte sich im schattigen Klee, an der Allee, die sich grell in der Hitze hinwand. Die prallen, lederartigen Blätter des Gewächses deckten sich gleich Ziegeln und aus rosa Blattscheiden züngelten die purpurroten fingerlangen Fruchtknoten, weißgesprenkelt, schleimglänzend, an den Spitzen wurmartig gewunden. Sie zog die Äste zu einem Vorhang vor ihre lauernden, gelbbraunen Augen; sie blinzelte tückisch, machte mit zwei dünnen Fingerchen einen Spalt, sobald Schritte die Chaussee heraufklapperten. Trollte ein Kind vorbei, ächzte ein Weibchen unter seiner Kiepe, Julie schaukelte ein Blatt vor die weiße Nase, leckte über die breit glührotgesäumte Oberlippe, auf der schwarze Härchen standen, wie Grasspitzen auf einer Wiese, leckte das Blattende herunter, um daran zu saugen. Beim harten gleichmäßigen Trampeln stemmte sie den Oberleib auf den Ellbogen hoch; der Männerstock klirrte, schnellend schaukelte der Vorhang auseinander und wiegte sich, durch die schwankende Blätterlücke fuhr auf den gelben Blicken ein giftiger Haß hinter den Wanderer, geschient wie ein Eisenbahnzug. Einen Augenblick, dann spuckte sie die angekaute Pflanzenfaser auf die weißen Kleeköpfe zwischen ihren Händen, wölbte den Mund breit und „Öh“, ein dickes kehlgequetschtes „Öh, öh“ höhnisch und langgetrieben, wobei sie ihren kleinen Körper verkürzte und den Bauch hervortrieb, blökte hinter dem Gartengitter über den stummen Weg; wer sich umdrehte, sah die beglänzte gummiblättrige Aracee.

Weiß lag auf dem Wiesenhügel hinter der Aracee die zweistöckige Villa mit den grünen Fensterläden, dem geschnitzten schmalen Balkon; Glasveranda rechts und links. Juliens grauer stiller Vater, der Ostindienfahrer und Seelord, der zwanzig Jahre an asiatischen Küsten gefochten hatte, spazierte oben im gelben Khakikleid mit seiner schönen weißhaarigen Schwester; aus grünem Samt war ihr Kleid und ihre fürstlich lange Schleppe, die über den chinesischen Mosaikboden strich. Er hob schwer an seinen langen Knochen und Knien; steif als wenn er einen Türrahmen um sich trug, ging er; die beiden grübelten zusammen in den Gewächshäusern, vor den bläulichen ungeheuren Glasfenstern, stopften Vogelbälge aus, putzten Orden.

Sonntags sprang das kleine eiserne, mit Lotosblumen besetzte Gartentor auf. Zwischen der steinernen Doppelreihe grauer Löwen, die mit riesigen Lappohren wedelten, bewegte sich Julie, um in die Dorfkirche über die steinige Allee zu gehen. Die üppige sanfte Tante wallte träumend unter der warmen Sonne, Julie neben ihr; schwer wackelte ihr draller seidenverhängter Körper, nach rechts stieg er herunter, pumpte hoch, nach links fiel er und raffte sich. Wie ein Kalb an der Stange, das der Schlächter den Rumpf abwärts auf dem Rücken trägt, die eine Schulter senkend, die andere senkend, so trottete sie, stampfte den Sand. Die schwarzhaarige wilde Julie trug ein blaues Barett mit einer silbernen Feder fest über der quergefalteten Stirn, eine lange breit gebundene Schleife aus dem grünen Samt der Tante fiel hinten über das dunkelblaue Seidenkleid, weiß ihre Schuhchen, weiß die hohe Halsrüsche und die wehenden Spitzen der Ärmel. Aber ein Korsett hatte man nicht um den kleinen Leib gespannt. Es war ihr ganz früh um Weichen und Hüften herumgesprossen, kleine Plättchen in der Haut, Einlagen, die wie Perlmutter glänzten und die man salbte und rieb. Um den weißen, festen, üppigen Leib wuchs es schauerlich mit dicken dunklen Lederschalen, die manchmal blätterten. Gell hatte Julie gelacht, als sie einmal aus dem Bad stieg und ihr einfiel, sie sähe aus wie das Krokodil des Vaters im Gewächshaus. Zu der weißhaarigen Tante, die längst tote Jugendlieben pflegte, watschelte sie, zeigte im blauen Bademantel halbnackt ihre Hüften, jauchzte: „Ich bin ein Krokodil. Ich werde ganz ein Krokodil und freß euch alle auf.“ Die Dame weinte, deckte das Fräulein zu, sie mochte es nicht hören; erinnerte sich entsetzt, daß Juliens Mutter immer geklagt hatte über den kühlen Seehelden, der Kinder nicht mochte und dem ein Alligator lieber war als eine Tochter. Und als das übermütige Fräulein sich von der grün samtenen Dame losmachte und nacktfüßig auf der Veranda dem Vater, der die Pfeife im Mund sich ein Messerchen zum Präparieren schliff, zustammelte, kichernd: „Ein Krokodil, sieh nur, ich bin ein Krokodil,“ da betastete der gelbe Herr ungläubig die Hüfte, schlug sich vor Vergnügen den Schenkel, umarmte die Tochter, während er das Messerchen aus der linken Hand fallen ließ; er fluchte englisch, küßte sie, sie lachten sich, Hand in Hand gegenüberstehend, an. Der Kapitän bestellte Sekt für den Abend, als wäre ihm heute ein Kind geboren; allein pokulierte er über dem dunklen Dorf, für die Tochter ließ er einen Perlenschmuck kommen. Den Arzt, dazu die zwei Masseusen und die Badefrau schickte Julie, den Perlenschmuck am Hals, an diesem Tage weg. Mit funkelnden Blicken und Gebärden vertrieb sie den behäbigen Hausarzt, der gelehrte Warnungen über den Fortschritt der Krankheit murmelte; er stolzierte hinüber zum Vater; aber als der zwischen dem Rühren und Schäumen seiner Bowle hörte, was Julie gesagt hatte, kratzte er sich dicht vor dem Gesicht des Sanitätsrats den grauen Kinnbart und knarrte ironisch: „Da wird sich wohl nichts machen lassen,“ worauf der Mediziner heftig mit dem Ebenholzstock aufstampfte und abwanderte über den Hügel.

Wie ein blauer feistgefressener Drache lag Julie unter der Aracee. Eines Tages vor Pfingsten ritt Herr von Wetzling, der Dragoner, mit zwei fremden Kürassieren und vier Damen aus den Nachbarvillen die versengte Allee herauf. Auf seinem schweren braunen Gaul saß er in der lichtblauen Uniform; rosa sein Halskragen; der lange schwarze Degen schleppte zur Linken des Pferdes herunter, verheißend blickte der Dragoner seitwärts und zu den Damen. Die lächelten alle und die Kürassiere schoben ihre blanken Prunkhelme rückwärts, um gut sehen zu können. Zierlich beugte sich der Dragoner seitwärts, sein Pferd sprengte der Kavalkade voraus, durch die rechte hohle Hand, durch den rotbraunen Handschuh sang er leise vor dem exotischen Gebüsch das Lied von Sankt Nikolaus, und seine warmen Augen schimmerten verführerisch. Die Blätter drüben schwankten, der Baum zitterte allgemein, die purpurroten Fruchtknoten schraubten sich höher. Zwei Fingerchen, fünf Fingerchen, zwei Hände, zwei Arme breiteten einen Spalt; ein weißes Kinn, eine weiße Nase, rußschwarze Haarmassen; die Stirn verdeckt und die Augen verdeckt in der grünen Höhle.

Ein frommer Mann war Nikolaus, er führte zwei Reiter auf die Brücke hinaus, breit war das Brückengeländer, schmal war der Weg.

Das Fräulein verschlafen; seufzend und vertrauensselig schwammen ihre Blicke auf den blauen singenden Mann, sie hob das schwere Blatt von der Stirn, durch die Blattlücke zwischen ihren haltenden Armen steckte sie den feinen schwarzüberwolkten Kopf, die gelbe Sonne lag über dem weißen freudigen Gesicht.

Aber als die zwei Reiter über die Brücke trabten, da kniete eine Bettlerin, das schwarze Lumpentuch über den Schultern.

Der Dragoner sah das strenge adlige Gesicht des Fräuleins vor die Blätter sich schieben, hörte zu singen auf; er winkte ihr zu mit seinen Reithandschuhen, denn er kannte sie und sie kannte ihn, und er bat sie, doch herauszutreten, mit ihm im Schatten zu plaudern. Sie lachte entzückt; leise klirrte das Gitter, einem Löwenhund trat sie auf die Schnauze, zerknittert näherte sie sich über den Rasen, tauchte rechts, pumpte links, beide Arme balancierend und grüßend in der Luft vor ihrer Brust. Ob sie ein Drache sei oder eine Schlange, wolle er wissen, und sprang vom Pferd, aber es hieße, daß sie unter der Aracee die Menschen wie ein Teufel belaure, ängstige. Julie, die kleine, stand mit ihm vor dem mächtigen Brunnen, sie stützte sich an dem Zügel des schwitzenden Tieres, strahlte die braunen Wangen des falschen Mannes an, seinen atmenden Brustkorb, seine langen graden Beine in den schwarzen Schaftstiefeln.

„Ach,“ sagte sie und hörte kaum, was sie sagte, was sie sei, Drache oder Schlange, wisse sie selbst nicht, aber es sei egal, sie belle nur hinter den schlechten Menschen her, damit jeder höre, wer da komme. Der Dragoner löste ihre Hand vom Riemen, drängte das Fräulein gegen das Gitter, so daß es aussah, als suchten sie das Versteck der Aracee; ungerufen klapperte das Pferd neben ihnen.

Auf der Brücke stand die Bettlerin; ein Reiter warf ihr einen Heller zu, der andere nahm ihr das Tuch vom Kopf, da saß ein wunderbares Fräulein darunter, das hob er auf das Brückengeländer.

Aber was hatte das Jungfräulein auf dem Kopf? Unter dem Tuche? Einen Hut aus Zittergras, ganz dicht geflochten.

„Den habe ich nicht,“ lächelte Julie und ließ sich über das Haar streicheln.

Was hatte das Jungfräulein um die Hüften?

„Einen Gürtel,“ sagte Julie.

„Einen Gürtel aus gelbem Marmelstein.“

„Aus gelbem Marmelstein.“ Sie wiederholte gedankenlos. Gegen den lichtblauen Waffenrock drückte sie ihren schwarzen glühenden Kopf. Schamhaft fühlte sie seine Hand an ihrer Hüfte. Da war ein Schlitz an der linken Seite und wie an dem Araceenbaum sperrten seine Finger einen Spalt, zwei Finger, vier Finger, während ihre Augen fragend in seinen falschen suchten. Breit riß er, seinen Kopf herunterbeugend, in den Stoff hinein. Sie versteckte ihr Gesicht in den Händen.

Das Pferd losgerissen galoppierte auf die Chaussee. Lachend, dankend, winkend, sprengten zugleich die beiden Kürassiere und die vier Damen heran, vorüber.

Das Krokodil, das Krokodil des Dorfes, sie sahen es, Herr von Wetzling hatte es ihnen gezeigt. Er rannte seinem Pferde nach, die Mütze flog ihm im Lauf ab, haschend, winkend rief er gegen das Gitter, er werde morgen das Lied vom Nikolaus, morgen zu Ende singen. Zuckend lag Julie und schrie in ihrem geschlossenen Munde.

Da wohnte am Ende des Dorfes ein völliger Narr mitten im Gehölz, hieß van der Meeren, sollte aus Gent stammen. Er wohnte zusammen mit seinem Sohne, der ein Nichtstuer war und sich auf Landstraßen herumtrieb. Diese wurden im Dorfe dazu verwandt, Schafe zu heilen und Hunden die Ohren zu schneiden. In die Villa des Seehelden war der Alte oft geklettert; Schnecken und Blattpflanzen starben viel und van der Meeren verstand es schnüffelnd, greinend, mauzend, das Zimmer von Menschen zu säubern, und liebevoll mit dem Wasser, den Tieren und Gewächsen umzugehen; war er da, so konnte Wasser, Tier, Pflanze wieder eine Zeitlang leben. Meeren vermochte beinah jedes verkümmerte Pflänzlein wiederzuerkennen, bediente die jungen und alten Blättlein in gemurmeltem Gespräch: das Wasser sprudelte aus seinem Schlauch gebogen in das Becken. Drückte man ihm Geld in die Hand, so schnitt er eine grimmige Miene, er schwang die Fäuste im Herauspoltern, als ob er Steine wiegte.

In seinem Haus draußen lebte eine schwarze Mutterziege und drei gefleckte Geißen; Finken und Zeisige flogen durch die Fenster; unter den Dachsparren klebten Nester, in den Winkeln der beiden Stuben und der Küche wohnten und sprangen Kaninchen.

An regnerischen Tagen nahm der Alte einen Karren, zog in den dunklen Wald; er suchte gefallenes Wild, tote Vögel, war der Totengräber der Tiere.

Zu ihm schlich Julie, zwei Tage nachdem der Dragoner, die Kürassiere mit ihren Damen über die Allee gesprengt waren.

Van der Meeren hobelte vor seiner Tür grade einen Sarg für eine weiße Katze, die er ersäufen wollte für ihr mörderisches Wesen. Da stellte sich Julie hin und sagte, sie wolle sich in Pension geben zu ihm.

„Wo hast du deinen Vater?“

Julie faßte sich an die Brust, weil der Narr es wagte, sie zu duzen, dann meinte sie ängstlich: „Er jagt.“

„Werden wir schon kriegen.“

„Ich will mich bei Ihnen in Pension geben.“

„Sieh mal an, das Krokodil!“

„Nun ja,“ sagte sie furchtsam aber entschlossen, zog das blaugemusterte Umschlagtuch vom Kopf.

„Haben wohl die Doktorsch und die Mamsellchens nichts ausgerichtet? Wie, he? Kommt dann der Meeren dran. Mag dich nicht.“

Die Späne flogen.

Bettelnd verzog Julie den Mund, faltete die Hände vor dem Leib, während ihr das Tuch über dem Arm hing, trat an den Sarg.

„Mag dich nicht,“ brüllte der Alte über sein Brett, „scher dich weg. Wenn der Herr Vater ein großer Jäger ist, soll er wissen wie es ist, wenn die Hunde kommen und sein Kind beißen.“

Sie weinte und rührte sich nicht.

„Soll ich den Hunden pfeifen?“

Nach einer Weile hob sie den Kopf: „Pfeifen Sie.“

Nun fing das mächtige Hämmern an; harte Buchenstifte trieb er durch das junge Holz seiner Bretter; die Katze, die er erschlagen wollte, ging spionierend über den Dachgiebel und sah rotäugig herunter.

„Ich will in Ihr Aquarium,“ flüsterte Julie, „ich schwöre, ich will Ihnen ganz gehorchen.“

„Solch großes Aquarium haben die Lumpen im Walde nicht. Muß der Herr Vater selber kommen und eins bauen.“

Aber seine Augen waren milder, so blickte er, wenn er ein Blättchen streichelte.

„Ich will, daß Sie mich ins Aquarium setzen. Wenn ich schon ein Krokodil bin, will ichs auch ganz sein.“

„Bist du trotzig. Sie werden dich zurichten, die Eidechsen, die Molche, die Stichlinge.“

So fein sie war, so merkte sie nicht, daß er spaßte.

„Mich stechen sie nicht. Irgendwohin muß ich doch gehören.“

Er spöttelte weiter, öffnete die Haustür, rief hinein und der junge Tunichtsgut kam.

Schlaff und sanft war der, wie ein kleines Mädchen. Verschlafen war sein Gesicht immer; rotes Haar zottelte in seinen Nacken; einen kurzen Stecken zwirbelte er zwischen drei Fingern und verfolgte im Gehen, wie rasch sich der Stecken drehte. Seine Hände waren rußig vom Herd, in nackten Füßen strich er her, denn er kochte und putzte die Wirtschaft für den alten Meeren.

„Bring eine Leiter, Ziwel,“ brummte Meeren, „das gnädige Fräulein will ins Aquarium.“

Der wurde feuerrot, steckte sein Hölzchen in den Mund; an jeder Seite konnte man darauf blasen: „Ich bring einen Lappen, damit sie durch’s Glas sehen kann.“

„Nichts von Durchsehen. Das Fräulein will hinein.“

Ziwel schwieg darauf eine Weile, probierte die Enden des Steckens. Dann huschte er rasch dicht an Julie, streichelte bewundernd ihre beiden Ärmel und blies, während van Meeren lächelnd einen Kieselstein aufhob, ein langes Lied vor ihren Ohren. Der Kiesel, den van Meeren warf, klappte auf den Nagel an seiner großen Zeh, da hörte Ziwel auf.

„Sie ist keine Wachtel. Wo ist das Aquarium für das Fräulein?“

„So groß hab ich keins.“

Traurig schob Ziwel in das Haus; er dachte, Julie wolle vielleicht ein Glas Milch trinken.

„Wir werden dir einen Bottich bauen,“ sagte sanft van Meeren; „wenn du zweimal mit einem Stein in dies Fenster wirfst, wird Ziwel aufmachen. Dann kannst du schwimmen und dich mit den Fischen unterhalten.“

Zaghaft kam nach zwei Wochen Julie daher. Hinter dem Häuschen im Freien, zwischen einem wüsten Scherbenhaufen und einem Erlengebüsch, stand mit riesiger Öffnung der Bottich, hoch wie zwei Männer, mit Holzlatten umschlagen. Weinend zog Julie um den Bau, van der Meeren schleppte hinter sich die Leiter aus der Küche; da sei kein Taschentuch not und sie brauche nicht zu weinen.

Ob sie die Kleider anbehalten könnte und die Stiefel.

Er pfiff durch die Zähne, sah rückwärts, drohte über die Schulter einem jungen Hündchen. Stiefel und Kleider, die brauche sie für die Eidechsen nicht, die liefen auch über den Sand, wie sie unser Herrgott geschaffen habe, und die Frösche haben nur ihre Haut bei sich. Ein wollenes großes Tuch brachte der Alte ihr, dann schwieg er und betrachtete Julie mit wiegendem Kopf, wie sie ganz bloß oben stand. Er schwelgte: „Ein feines Krokodil bist du geworden. Ei.“ Streichelte ihre Hüften und Lenden und sie weinte.

Als sie drin im warmen Sand, zwischen Laub- und Astwerk lag, rief der Alte am Fenster: „Liegst du schön?“ Und ein paar Stunden später: „Scheint auch die Sonne gut?“ Die Vögel flogen zu ihr herunter. Sie hatte zuerst Angst. Eidechsen liefen neben ihr, die Stichlinge schwammen im Tümpel. Dann dachte sie: „Ich bin ein Krokodil und kann euch alle auffressen.“ Da fürchtete sie sich nicht mehr. Nach einer Weile standen Ziwels rote Haare oben am Rand des Bottichs; sie hatte sich unter ihrer Decke versteckt, ihr war bange, er würde mit einem Stein nach ihr werfen. Aber er schlüpfte herunter.

In ihren Ohren tönte noch grausig das Hufklappern der Kavalkade, Sankt Nikolaus. Wie die Tante in der Villa sorgfältig alles umstellte, die Türen verhängte, dreifache Vorhänge vor ihrem Bett anlegen ließ, damit niemand ihr Fell sehen sollte. Wie sie sich heimlich gequält in ihr Bett drücken mußte. Sie biß sich auf die Unterlippe, blickte um sich: „Hier wird mich keiner verjagen.“

Sie rief Ziwel. Van der Meeren meldete sich; wenn ihr der Rotkopf lästig würde mit seinem Blasen, sollte sie ihn wegschicken.

Ziwel balancierte mit einem Suppenteller in den Bottich herunter. Der Alte warnte: „Du tust unserem Krokodil nichts.“ Ziwel tauchte die nackten Füße in den Tümpel; die Fische schnappten nach seinen Zehen, als wenn es Köder wäre. Julie lachte. Die Backen blies er auf, hüpfte mit hervorquellenden Augen wie ein Frosch zu ihren Füßen und quakte. Den Teller setzte er sich auf den Kopf, das war ihr Tisch.

Abend um Abend hob sie van der Meeren aus dem Bottich, die Röcke band er ihr im Erlengebüsch. Sanft blies Ziwel oft im Bottich; die Stare und Rotfinken setzten sich im Kreis auf den Bottich und hörten zu. Aber wie es Winter wurde, merkte der Alte, daß das Krokodil schwerer geworden war. Sie seufzte mit, wenn er unter ihrem Gewicht seufzte; zwischen den Erlen fragte er: „Soll dich Ziwel noch bedienen?“ So demütig antwortete sie: „Laß ihn kommen; er soll nur immer kommen.“

Ihr Leib nahm nicht zu an Umfang; sie atmete tief und schwer; nach dem Herzen drängte es ihr herauf. Ziwel kam nicht mehr in den Bottich; der schweigende Alte wälzte ihre hölzerne Wohnung in seine niedrige warme Stube; auch da umschwärmte sie das Getier. Vergeblich rief sie nach dem sanften Rothaar; der mußte immer weg; der Alte brummte, er müsse in den Wald, Tierfallen zerstören, Vögelchen, die aus dem Nest gefallen waren, füttern.

Wie der Seelord den Zobelkragen hochschlug und die Schneeblumen an seinem Fenster mit kleinen Augen bewunderte, knarrte Julie ungeduldig mit ihren roten Schuhen auf dem Teppich, so daß er sich umdrehte. Aber dann fand sie nur den Mut, sich von ihm unter der Drachenampel küssen zu lassen. Der prunkvollen schönen Tante, dieser mochte Julie gern etwas antun; am weißen Winternachmittag saß die Dame großäugig, mit warmen Mienen vor ihrer breiten Kaffeetasse; ein Araceenblatt kaute das Fräulein und erzählte von Ziwel und wie es draußen ginge so schön. Das Fenster mußte Julie bald schließen, laut stöhnte die weiche Dame; in die Tasse, auf das Samtkleid fielen tausend Tränen.

Der Bottich des van der Meeren stand von nun an leer; das eiserne Gittertor öffnete sich nicht mehr für Julie. Sechs und eine halbe Woche vergingen, dann brachte Julie ein totes Kind zur Welt, und niemand wußte davon als die dreifachen schweren Vorhänge ihres Bettes, die traurige Tante und ein schwarzgekleideter fremder Mann. Als wäre sie sich selbst fremd, lag Julie gewickelt im Bett. Wie sie im neuen Jahr aufgestanden war, schleppte sie sich matt ins Badezimmer, wollte wieder in ein Wasser gehen, Vögel hören, die Frösche springen sehen. Das Fenster öffnete sie. Als sie sich die Strümpfe abstreifen wollte, wurde ihr das Bücken so leicht. Und dann, ach, waren die braunen Schalen um ihren Leib so taubengrau, so dünn geworden; sie konnte sie biegen; sie schilferten wie Fischschuppen. Julie blickte sich um; niemand war da. Das Herz schlug ihr pulsierend in den Hals. Ihre Unruhe, ihre Angst wurde groß. Sie raffte ein unscheinbares Winterkleidchen, zog es an. So schnell stahl sie sich zu Meeren in den verschneiten Wald.

Der Alte schürte sein Feuer am Herd. Als sie mit unsicherer Stimme, zähneschlagend, stammelte, sie wolle wieder zu ihm kommen, in den Bottich steigen, betrachtete er sie aufmerksam. „Warum zitterst du?“ fragte er. Sie nahm sein großes Tuch. Lange stand sie an der Leiter und beobachtete fiebernd sein Gesicht. Ganz bloß stand sie unten. Aber der gütige Blick kam nicht wieder; sie regnete Schälchen auf den Stufen. Hastig, glühend entglitt sie ihm, kletterte höher. Sie war glücklich: Meeren nahm sie nicht für ein Tier: „Werd’ ich ein Mensch, werd, ich ein Mensch?“

In dem stillen Haus lag sie stundenlang. Der Alte hob sie nicht heraus, sprach nicht. Nach drei Tagen lief sie wieder hin. Ob Ziwel kommen würde? Sie fürchtete, Ziwel könnte kommen. Eng wurde es im Bottich, sie gähnte, die Fische rochen; heimlich schlug sie die Finger um den Rand des Bottichs, konnte sich hochziehen; wie der Alte in den Wald stalpte, stand sie horchend auf der Leiter und war fort.

Und nun kam sie nicht wieder. Sie fürchtete sich vor dem Erlenbusch, daß er sie holen könnte; eine Kette ließ sie am Gartengitter anschmieden, einen bissigen Hund anlegen, daß niemand hinübersteige. Und bald blies Ziwel aus der dichten Aracee; eines Abends kletterte er vor ihr Fenster und blickte traurig durch die Scheiben. Sie stand dahinter. Sie wies ihm beide Fäuste und schüttelte den Kopf. Als er stumm auf dem Sims kauerte, riß sie den Flügel auf. „Ich bin eine Herrin,“ schrie sie; böse war ihr Gesicht. „Du ein Strolch. Dein Vater ein Bettler. Ich werde euch bezahlen. Was willst du?“ Als er wehmütig eine Hand nach ihrer Schulter bog, stieß sie ihn vor die Brust, daß er in den Kies stürzte. Die Dogge schlug vor ihm kurz an, kuschte vor Ziwels Hand.

Nun kutschierten die feinen Kaufleute mit ihren Stoffen täglich vor die Villa des Seelords. Französische Tänzerinnen kamen aus der Stadt und schwebten mit Julie durch leere Säle; man hörte ihre Füße und Julies Füße nicht auf dem Boden. Weit offen stand das Gartentor; das Gitter breit durchbrochen zur mächtigen Auffahrt zwischen Beeten, Bäumen und chinesischen Fabeltieren. Und niemand von allen Villenbewohnerinnen trug sich bei den Festen so hochmütig wie Julie, stieg so kühl in den Wagen zu Ausflügen, drehte sich so unberührbar im Tanze. Ein rehbraunes Kleid mit Gold gestickt hatte das zierliche Fräulein eines lauen Frühjahrabends an, die pfaugraue Schärpe fiel seitlich bis an den Käferschuh. Herr Wetzling, der Dragoner in lichtblauer Uniform, wickelte die Schleife um seinen Arm, damit er nicht darüber stolpere; unter der Aracee setzte er ihren Schuh vor seinen Mund, damit er den Käfer nicht zerträte. Dann hielt sie der Dragoner unter den Gummiblättern in den Armen und sie knisterte darin und dachte an nichts, er war so fröhlich. So glühend wie Pechfackeln brannte es aus ihren Augen gegen ihn; Julie lohte, wie eine Flamme, die trockenes Gebälk ergriffen hat und durch die der singende Wind streicht; ihr Leben lang, kam ihr vor, war sie nichts bis zu diesem Augenblick.

Die Felder, Wiesen und Berge nahmen Tag um Tag an ihrem Übermut teil. Sie hatte einen Schimmel und ritt auf die Jagd. Der Seelord trabte ihnen voran. Hand in Hand, eine rote klingelnde Schnur zwischen sich, ritten der Dragoner und Julie durch die dämmrige, knackende Schonung; dahinter fremde Herren und Damen. Die Damen zwitscherten und jauchzten von ihren hochbeinigen Pferden.

Als sie einmal über eine sumpfige Wiese setzten, kreischte eine Männerstimme hinten. Der rotverknüpfte Schimmel und Rappen hielten und machten kehrt; es trabten langsam zwei Damen näher, trieben zwischen sich etwas Menschenähnliches, das sich wand und oft auf den Rasen schlüpfte, ein Peitschenband um den nackten verbrannten Hals. „Der Rotkopf, der Rotkopf,“ lachten sie und verdrehten falsch die sanften Augen zueinander und zu Wetzling, „wir haben ihn gefangen, den Wilderer, den Fallensteller.“ Wie die Pferdepaare Kopf an Kopf rieben, kroch der Rothaarige am Boden, so daß sich die Reiterin ihm nach krümmen mußte; sie rief, schräg liegend: „Was wollen wir mit ihm machen? Julie!“

Das kleine Fräulein im schwarzen Jagdkleid schwankte blutlos auf dem Pferde, plötzlich zuckte ihr Tier hoch mit dem Kopf, schlug mit den Hinterbeinen aus, die rote Leine zu dem Rappen riß; der Schimmel galoppierte mit Julie tobend, graswerfend in den Wald. Am Rand des Waldes hörte sie den verwehten jauchzenden Aufschrei; Ziwel hatte die Dame vom Pferd gerissen; mit der Peitsche auf dem Rücken rannte, kroch, sprang er über das Gras, in ein Kohlfeld; die Damen standen vergnügt um das strampelnde Fräulein.

Als am Abend Wetzling sporenklirrend in die Villa kam, stellte sich ihm Julie mit finsterem Mund auf der Treppe entgegen; er strich ihr bedauernd das schlaffe Händchen. „Einen Spaß,“ sagte er, „haben sich die Damen gemacht. Sie haben den Sohn deines Wunderarztes ausfindig gemacht, den Strolch. Er soll dich verehren. Sie wollten dich damit necken; nichts als necken, Julie.“

„Er soll mich verehren.“

„Du weißt es nicht. Er trägt ein Beutelchen auf der Brust. Sie haben es gesehen. Aber ich sage dir nicht, womit das Beutelchen gefüllt ist.“

Sie antwortete nichts. Mit ihren Schuppen war das Beutelchen gefüllt. Er legte einen Arm um ihren Leib, sie duldete es; als sie nach oben stiegen, fühlte sie staunend, erschreckt, wie er ihr mitleidig eine Wange strich.

Wetzling war ein Sammler von Perlen; die bleichen Ketten seiner Mutter hängte er um Julie. Wetzling hatte englische und französische Pferde; die leichtesten führte er in Juliens Stall. Julie war wie Eisen heiß; die Kühle von Wasser schenkte sie Wetzling; sie konnte bei Tag und Nacht wispern vor Verlangen, Stummheit; die unfaßbare Leere einer Sandwüste: damit kleidete sie sich für ihn. Die schöne prunkvolle Tante wandelte hoheitsvoll neben dem Fräulein durch die Villa. Ohne zu reden trug sie nach und nach jede Erinnerung an Juliens Jugend aus den Zimmern; kehrte Julie zurück vom Ritt, dem Spaziergang, dem Kirchweg, immer fehlte etwas, eine Decke, ein Bild, ein Kasten, ein Teppich, war ersetzt durch ein Neues. Die Dame nagte an dem Haus.

In den Vorgarten an den exotischen Baum zerrte der Dragoner einmal seine Geliebte; auch er war ernster geworden; er seufzte: „So still und fremd bist du; warum? Was tu’ ich dir?“

Sie fragte zurück: „Hast du Auftrag gegeben, die Bäder, die Wannen und Salben aus meinem Zimmer zu schaffen?“

„Nein, nein. Aber du brauchst die Bäder und die Salben nicht mehr.“

„Ich kann so springen. Aber sie stören mich nicht. Sie können da stehen.“

„Du bist schön, die schönste von allen. Ich will dich nicht erinnern lassen an die Zeit, wo du leidend warst.“

„Wo ich nicht schön war. Herr Nikolaus, meine Hüfte ist nicht mehr aus Marmelstein.“

„Wir wollen gut zueinander sein.“

„Willst du aufhören zu sprechen. Glaubst du, daß ich ein Wort davon höre. Du kannst noch eine halbe Stunde sprechen.“

„Julie, ich will gut zu dir sein.“

„Willst du etwa sagen, daß du mich gesucht hast.“

„Ja.“

„Mach deine Brust auf, zeig deine Brust. Was trägst du da, zeig es mir.“

„Nichts, Julie.“

„Nichts, kein Beutelchen! Nein, wahrhaftig nicht, kein Beutelchen!“

Julie sperrte ihre Tür ab. Sehnsüchtig sah sie zum Fenster herunter auf den Araceenbaum. Voll Angst erwartete sie den Bräutigam: „Was werdet ihr mir heute tun? Was wirst du mir heute tun?“ Sie hängte sich an seinen Hals: „Laß mich bleiben wie ich bin. Laß mich nicht werden wie früher.“

Sie weinte und küßte ihn. Er fragte: „Was fürchtest du, Julie?“

Sie strömte Tränen: „Ich muß wieder unter die Aracee.“

Und nach zehn Tagen zog sie in das stockdunkle Haus die Tante auf ihr Zimmer; eine Kerze trug Julie, ein kleines brennendes Licht vor sich. Der Bräutigam stieg hinter ihnen. Von dem Bett waren die dreifachen schweren Vorhänge gerissen, blütenweiße neue, mit Bändern geziert hingen an ihrer Statt. Die Kerze fiel Julie aus der Hand und zersprang. Sie schrie und schrie, daß die Tante davon lief im Finstern.

„Meine Vorhänge, meine Vorhänge? Herr Wetzling, wo stehen Sie?“

Die Tante erschien mit einem Licht.

„Sie fürchten sich vor meinen Vorhängen, vor meinen Salben, Herr Wetzling. Und meine Bäder mögen Sie auch nicht leiden. Dann will ich Ihnen etwas anderes melden. Hebe das Licht höher, Tante, damit er mir auch gut ins Gesicht sehen kann.“

Sie drehte sich um und zerrte die Bänder aus dem Bettvorhang und zerkrallte sie. Sie biß wie eine Rasende in die weißen Betttücher: „Ich schäme mich nicht, nein ich schäme mich nicht. Ich will mich nicht schämen brauchen.“

Sie brüllte, über dem Bett liegend; ein Schuh fiel ihr ab.

„Wo ist mein Kind? Wer hat mein Kind begraben?“

Der Freiherr zitterte mit den Lippen, die Tante drehte sich gegen die Tür.

„Wissen Sie nichts von meinem Kind? Man hat es ihnen nicht gesagt? Ich bin ein Krokodil und habe eins geboren. Mein Mann ist Ziwel, der rote, das ist mein Gemahl. Wissen Sie’s nicht? Wissen Sie’s jetzt?“

Die Tür schlug ein; man ließ sie im Finstern arbeiten.

Im Garten kroch am regnerischen Morgen eine große Weinbergschnecke über den Kies. Das Fräulein sagte, über die Schnecke gebeugt, auf den Knien: „Wenn man mich sticht, geh ich in mein Haus zurück; sonst krieche ich wie du. Man kann meine Spur sehen; jeder, der will, kann sie sehen. Schneckchen, wir dürfen uns nicht beschämen lassen. Wir sind keine Diener.“ „Ach,“ flüsterte sie nach einer Weile, streichelte an sich herum; sie war vom Wasser begossen, „mein süßer süßer Leib, ich bin froh, daß ich dich habe. Ich laß dich von keinem beschmutzen, und wenn ich auch noch Schuppen hätte. Es geht keinen was an. Wo kriechen wir hin, wir beide, mein süßes Schneckchen, mein feines Herrchen, mein schnupperndes Tierchen. Wohin, wohin.“

Die Schnecke kroch unter den Baum, die Aracee, blieb da. Julie glühte und jammerte, warf sich in den Klee, zog die Gummiblätter über das Gesicht.

Am Mittag hörte der Regen auf. Den steinigen Weg herauf ratterte ein kleiner tropfender Wagen. Vor dem Baum hielt er; eine tiefe Stimme: „Hier stinkt es. Ziwel, halt an.“

Eisen klapperte, Meeren nahm seine Schippe über die Schulter, stieß ohne zu klingeln das Gartentor auf. Mit dem Fuß klopfte er an das Knie des Fräuleins am Boden: „Wer fault hier bei lebendigem Leibe. Ziwel, komm greif zu.“

Zwei Hände faßten Julie unter den Kopf und die Schulter, zwei an den Beinen. „Wir wollen sie begraben.“ Sie schleppten Julie auf den harten Wagen. Julie blinzelte, ob die Dogge die Männer beißen werde; aber das gelbe Tier sprang vor die Deichsel und ließ sich anspannen. Im Wald, wo sie die Blätter beiseite schippten, winselte sie: „Ich will nicht. Ich will nicht begraben werden.“

„Was willst du denn,“ schrie Meeren grimmig „glaubst du, du hältst uns zum Narren.“

„Ich will leben,“ flehte sie, „bitte, bitte.“

Er schleuderte ihr die Schippe vor den Leib. Er schimpfte in seinen Bart. „Das weiß ich nicht, ob sich sowas wie du noch brauchen läßt zum Leben.“

Ziwel verkroch sich unter einem Haufen von Laub. Klein lag Julie neben dem angestochenen Grab. Der Alte schrie, ihr die Faust ins Gesicht steckend: „Wenn du nicht Mist schlucken kannst, können wir dich nicht brauchen.“

Sie warf sich und heulte. Er krümmte sich nach der Schippe. Sie bettelte: „Ich kann Mist schlucken.“

„Wenn du rohe Kartoffeln und rohe Rüben essen kannst, kannst du bleiben.“

„Ich kann essen.“

Sie warfen Julie auf den Wagen, fuhren nach Hause vor das Erlengebüsch. Sie half den Bottich zerschlagen, machte Feuer für Ziwel und den Alten.

Sie schluckte, was man ihr gab, brach, hungerte, aber wehrte sich nicht. Es war genug, daß sie leben blieb. Dann nähte sie aus alten Fellen und Säcken ein Kleid; ihr eigenes, aus rosa Seide, steckte sie in den Herd.

Die Tage gingen vorbei, die Wochen.

Sie diente den Männern und Tieren. Ziwel blieb gut zu ihr, sie verlangte nur den sanften Blick des alten Meeren wieder.

Die Kastanienblüte war zu Ende, überall lagen die weißen Blättchen auf den Wegen, bald mußte der Flieder kommen. Da ritt der alte Seelord auf schwerer brauner Stute hinüber in den Wald, ein Junge barfuß neben ihm mit einem Zobelpelz. Vier Tage wohnte der steife Mann in dem Häuschen des Meeren, bis ihn die Gicht in der Schulter und den Zehen zu heftig stach. Als am Morgen der Regen über den trüben Tümpel strich und Rauschen, Tropfen und Plätschern unter den Bäumen nah und fern zu hören war, half ihm Julie, mager, sonnengebräunt, klein und barfuß in den Steigbügel, küßte demütig seine geschwollene Hand am Hals der Stute. „Du bist so stolz, Julie, du bist zu stolz,“ sagte er vom Pferderücken herab. „Du bist von meiner Art. Ich hätte es nicht gedacht.“

Er lobte sie und Meeren und den treuen Ziwel. Julie legte den Pelz vor ihm auf den Sattel. Sie winkte hinter ihm her; ihre gelben Augen und ihr gespitzter Mund waren freudig. Die hohe Dogge tanzte um sie. „Hui-ih,“ machte der Wind.

In das Haus, in das Haus.

Das Gespenst vom Ritthof

Wie des Karl Völkers Sohn Johann vom Ritthof herunterging, wo er den heißen Nachmittagskaffee getrunken hatte, rieselte am Wege nach Fechingen etwas Wolkigblaues, Niedriges von Menschengestalt an ihm vorbei. Er verfolgte den Schatten, träumend: „Dich kenn ich, oh, wir haben uns schon gesehen.“ Die Haare der Gestalt wurden von dem Märzenwind lang und wagerecht ausgezogen, sanft lief sie und bewegte kaum die Füße und die Arme, als wäre sie mit Bändern umwickelt. Sie mußte von der Gegend der Fähre herkommen; gleichmäßig lief sie über das dünne Grün der Wiese wie aufrechter Rauch. Über den Bühlbach floß sie; er suchte lange, bis er eine schmale Stelle fand. In weiten Sätzen machte er sich hinter ihr her. An der Holzbrücke vor dem Dorf drehte sie sich, rechts, links. Da hatte er sie aus den Augen verloren.

Dicht am Eingang zu Bliesschweien, dem Dorf, wehte das Fähnchen vom Wirtshaus. Dort trank Johann Völker in der niedrigen langen Stube ein Glas gelben Saarwein. Und als er eine Viertelstunde am Kieferntisch gekauzt hatte, kam ein scheues, bäurisch gekleidetes Mädchen ohne Hut zur Tür herein, das einen Eimer und ein Tablett mit leeren Weinkaraffen trug. Sie bewegte sich, als sie den Eimer neben dem Schenktisch abgesetzt hatte, blaß und erschrocken zwischen den dicht belagerten Tischen herum, warf die Augen auf Johann. Er fragte sie, indem er das leere Glas von sich schob, ob sie mit ihm trinken wolle und warum sie so erschrocken sei. Ach, lächelte sie, das sei nur, weil er eine blaue Mütze trüge, die stünde ihm so gut, darüber habe sie sich gefreut. „Wir wollen zusammen essen,“ schlug Johann mit der Faust auf die Holzplatte, da er das Mädchen immer schöner fand. Aber sie zwinkerte mit den Augen, kniff ein verschmitztes Grübchen in die Wange, kicherte ganz hoch in der Kehle mit geschlossenen Lippen, ließ die Karaffen füllen.

Johann blieb die Nacht über in dem fremden Wirtshaus. Tags drauf und öfter begegnete er dem Mädchen mit dem Eimer; sie war die Tochter des Schmiedes Liewennen und hieß Kätti. Er wanderte mit seiner blauen Mütze, in dem jungen ebenmäßigen Gesicht die randlose Brille, an den dünnen langen Beinen Radfahrhosen und braune Segeltuchschuhe, wanderte zwischen der Schmiede und der Schenke des Nikolaus Schlöser her und hin. Sie freuten sich miteinander den ganzen Sommer. Sein Vater wußte nicht, wo er hauste, glaubte, Johann hätte eine Reise wieder über den Ozean auf einem Frachtdampfer oder auf einem Segelschiff angetreten.

Im August quartierten sich vier lustige Herren aus Trier beim Nikolaus Schlöser ein. Mit denen ritt Johann auf die Hühnerjagd; sie knallten den halben Tag über, abends warfen sie sich in der Laube neben der Bliesbrücke auf den Rasen, stießen den Gartentisch um, pflanzten eine brennende Kerze in die Erde und spielten Karten, bis die Hühner krähten. Kätti hörte nichts von Johann. Feine Mädchen brachten die Trierer Herren in die Laube und zum Schlöser. Johanns Gesicht wurde vom Trinken und Lumpen dick. Statt der leichten Füße in Segeltuchschuhen scharrten die Latschen eines Jungen zur Schmiede herüber; er brachte Grüße und ein Bündel Rosen von Herrn Johann Völker.

Aber sie war schlauer als er hinter seiner gläsernen Brille. Sie ging in die Honoratiorenstube, wenn die fremden Weiber mitpokulierten, sangen und kreischten, ließ sich verschämt bei der Hand fassen, ihre hochausgeschnittenen Augen wanderten; den Fingern, die nach ihren Zöpfen tasteten, wich sie aus; sie warf sich dem schmunzelnden Johann, zwischen Tischkante und Stuhl sich einzwängend, brustangeschmiegt auf den Schoß. Und als sie ihn mit der Eitelkeit gefangen hatte, kicherte sie eines lärmenden Abends, während er im Korridor ihren Kopf nehmen wollte: „Guten Tag, Johann, lebwohl,“ hing sich an den Arm des spitzbärtigen Jägers aus Trier, der eben in grünen Wickelgamaschen, geschniegelt, gescheitelt, keck aus seiner Stube spazierte und im Vorüberziehen, elegant fußscharrend, Johann mit einem Finger auf die zuckende Schulter tippte.

Das war an einem Sonntag. Karl Völkers Sohn vergaß den Tag nicht. Und im Moment, wo sie vorüber waren, fühlte er einen Zwang, aus dem Flurfenster nach der Brücke hinzusehen, und wie er sich abwandte und nach unten vor die Haustür blickte, da hatte sich die Liewennen, — im sauber gewaschenen weißen Kleidchen hüpfte sie hinter einer kleiderrauschenden Dame in das Kabriolet, — da hatte sich die Liewennen verändert. Über ihrem gebügelten Rock lag es, der Rock dampfte; streifig, der Länge nach war er tausendfach gefältet; von dem rosenblumigen Hut, den sie sich eben weit in den Nacken stülpte, goß sich ein Staub, ein feiner Ruß, der um ihre Schultern schwelte.

Johann verließ seine Stube nicht; eine höllische Wut und Raserei nahm ihn gefangen. Er berührte keine Flinte; die Karten, die man mit rotem Wein begossen zu ihm hinaufschickte, streute er auf den Flur vor die Stube der vier. Dann machte er sich verbissen hinter die Schmiedstochter her. Er sah, er übersah dieses Flüssige, Dünne, Zittrige, das sie umgab, das aus ihren Kleidern, von ihrem freudevollen Gesicht wie der Dunst aus warmem Wasser aufstieg. Es beunruhigte ihn nicht. Er brütete, war der Spürhund hinter ihr, haßte sie. Aber so oft er sich auch in seiner Stube einschloß und den Federhalter zur Hand nahm, er konnte sich nicht entschließen, dem alten Karl Völker im Hessischen zu schreiben, daß man mit der Schiffahrt mal ein Ende machen müsse; im Mittelmeer sei es jetzt sehr heiß, sein Kapitän wolle nach Rumänien, um Petroleum zu laden, und das könne er nicht mehr riechen. Er kaufte sich einen grünen Jägerhut, ließ sich die Haare bis auf den Wirbel scheren, frech wuchs auf seiner Lippe ein blondes Schnurrbärtchen. So ritt er und schlampte mit den Tieren, den wilden Vögeln. Seine schlanken Rennerbeine zitterten und wackelten wie einem Greis, wenn sie Arm in Arm auf den finsteren Kuckucksberg seitlich von Ransbach schlenderten und Speere warfen nach einer angebundenen schneeweißen Geiß, die ängstlich meckerte, Blut spritzte, unter Gebrüll zertreten wurde. „Aas!“ keifte Hannes Völker heiser, zog sich die rotbefleckten Schuhe aus und hackte tobend dem verreckenden Vieh rechts und links in das Maul auf die Zähne; Gras und Erde stopfte er in den Schlund hinzu, während die anderen vier ihre Eisenstäbe gegen die entzündeten übernächtigen Larven drückten, vor Lachen den Buckel krümmten.

Des Schmiedes Liewennen Kätti mied das Wirtshaus; es hieß, der Pfarrer habe mit ihr gesprochen. Aber das stillte seine Wut nicht. Im bäurisch weiten Rock, mit berußter armloser Taille trug sie ihrem Vater vom Brunnen die Wassereimer Tag um Tag; schon wurden die Blätter an den Bäumen bunt; warm und traurig hielt sie das Gesicht gesenkt, wenn der lange Hesse ihr über den Weg stolperte. Wenn sie lief und die Eimer schwappten über, sah er ihr nach, und da liefen doch zwei. Gedoppelt lief es, machte ihn eine Minute stumm, hielt sein Herz an. Zweimal waren es zwei bloße Arme, zweimal schoben sich zwei Füße eng nebeneinander vor; ihr Kopf hatte hinten dicke, festgesteckte und bebänderte Flechten, der andere war glatt, er schwankte bald rückwärts bald seitwärts von ihrem, und wenn sie ihren auf die Brust legte, so stand der andere dünn in der Luft da, gegen dunkle Baumstämme hob er sich hell ab; so glattgestrichen war er von allen Seiten. In einem dunklen Grimm duldete er den Anblick: „Das ist das Zeichen; daran sollst du sie erkennen.“ Sie blieb eines Mittags, ohne die Eimer abzusetzen, vor dem Denkmal des heiligen Quirin auf dem Dorfplatz stehen neben ihm und flüsterte rasch, das schräge Hütchen kleide ihn nicht gut, er solle sich die Haare wachsen lassen und die blaue Mütze aufsetzen. Johann schnalzte verächtlich mit der Zunge, daß es über den Platz knallte, schleuderte mit einem stolzen „Juhu“ das Hütchen an der Krempe in die Luft, fing es auf, während er ein Bein hochzog, wie ein Storch auf einer Spitze stand. Die Eimer schlugen ihr gegen die Hacken, das Wasser spritzte gegen ihren Rock, rasch lief sie.

Und eines Sonntags fuhr ein Wandertheater auf den Marktplatz vor das Gemeindehaus mit drei grünen Wagen, schlug seine Bretterbude seitlich vom heiligen Quirin auf. Da brachte der geschminkte Ausläufer des Direktors dem Hessen ein Billett, das habe, so erwähnte er mit graziösen Hin- und Herwinden und süßem Gurgeln vor dem Herausgehen, eine bekannte unbekannte Person bezahlt, beglichen, honoriert. Das Schicksal der Kaiserin Dorothea von Byzanz würde nach dem Gottesdienst die Bewohner von Bliesschweien erschüttern, auch viele Nachbarorte seien voll Teilnahme, kein Auge würde tränenleer bleiben.

Der Hesse nahm ein rotes Taschentuch und legte es auf seinen Platz, erste Bank vor der Bühne, stellte sich an sein Fenster, um das rote Taschentuch und den Nachbarplatz zu beobachten. Nun sollte die Liewennen, die Liewennen bestraft werden für ihren Verrat. Das Theater begann. An dem Haustor des Bäckers, im Schatten, spielte Kätti mit den Kindern, in ihrem weißen bauschigen Kleid; sie warf von Minute zu Minute einen Blick gegen das Seil am Denkmal, wo die Billettabnehmerin auf einem Stuhl schlief. Dreivierteldes Stückes waren zu Ende, längst ging keiner durch die Billettsperre, schon wanderten ältere Leute zurück, um noch vor Nacht ihre Dörfer zu erreichen oder sich einen Platz in der Schänke zu sichern. Die Liewennen kletterte auf den kleinen Tritt, lugte vorgebeugt, an der mörtelstreuenden Wand sich haltend, über das leinwandumspannte Karee; ganz leer die erste Bank, aber auf einem Platz sorgfältig hingebreitet ein rotes Taschentuch.

Sie fühlte einen Stich im Herz, vorsichtig, blaß stieg sie den Tritt herunter, dann rasch zum Seil über den leeren heißen Platz, scheuchte die Kinder zurück, die weinten und mit hineinwollten; gleich wäre sie wieder da. Das Gedränge im Gang; „ach, bitt euch, mein Platz ist vorne, laßt mich durch.“ Nun saß sie vorn, drückte zitternd das Tuch gegen ihre weiße Bluse, wagte nicht, von allen Seiten beobachtet, unter dem Rollen der Bühnenrhetorik, den roten Stoff zu entfalten, das Zettelchen zu lesen, das wohl drin lag. Schon waren oben die vier Anstifter und Mörder der gottesfürchtigen Kaiserin handelseins; wieder drängte ein Ehepaar heraus. Die Liewennen, glühend, kopfgeduckt, schob sich hinter sie, wie ein Hähnchen unter die Flügel der Henne. Aufgeschreckt rückte die hutzlige verschlafene Frau, die Billettabnehmerin, mit dem Stuhl nach rechts. Die Liewennen rannte an den jauchzenden Kindern vorbei; „Kättchen“ riefen sie, „komm her; hier sind wir ja, hier.“ In die Blindgasse des Fuhrherrn Bell floh sie; nichts in dem Taschentuch; ein blaues Zeichen, J. V. Da knüllte sie es in dem kühlen Gang vor ihrem gespitzten Mund zusammen, weinte und hatte den Wunsch, das Tuch sich über die Stirn, die Augen zu legen, über den Kopf zu breiten.

Plötzlich hörten die Kinder auf zu kreischen. Hinter ihr, neben ihr bewegte sich der verlumpte Hesse in rosa Hemdsärmeln, hatte die Brille auf die Stirn geschoben und stierte sie mit wasserblauen Blicken über ihre Schulter an; sein Atem strich an ihrem Hals entlang.

„Für wen willst du dich mit meinem Taschentuch putzen?“

Sie zuckte mit lautem Aufweinen nach dem roten Lappen auf ihrem Haar, stopfte ihn in ihren Brustausschnitt, hatte die Hände frei, tastete flehend nach seinem Ärmel.

„Wen willst du mit meinem Taschentuch locken?“

Es lag ihm nichts an ihr. Nun sollte sie gerichtet werden. Sie war ihm gleichgültig wie die abgebrochene Deichsel zu seinen Füßen. Er bedauerte sie, während er nach ihr griff. Als das Mädchen mit heißem Wimmern über ein Rad in die Knie stürzte, fuhr eine ungesehene Hand vor seinen Hals, schnürte seinen Hemdkragen zusammen. Das Gespenst drängte sich, während er torkelte, in seine leer rudernden, schlingenden Arme, mit roten Äderchen überzogen wie ein angebrütetes Ei. Zwischen zwei Ställe schob ihn die bewegungslose, wie auf Rädern gleitende Gestalt, rammte ihn gegen einen Pfosten. Er rang mit ihr keuchend, sie zu bewältigen, sie totzumachen, wegzuwischen. Als er ihren Kopf zwischen den Handtellern einspannte, wollte er ihr ins Gesicht speien. Aber sie, ohne die Miene zu verziehen, machte langsam langsam eine Bewegung von unten herauf mit beiden Mittelfingern, eine Bewegung, die er nicht verstand, wiegte ihren Kopf aus seinen nachgebenden Händen rückwärts. Schamlos grinste sie lippenwulstend und kam näher. Sie strich dicht, Nase an Nase mit ihm, kitzelnd unter sein Kinn, unter seine Achseln. Und ihr Gesicht, — er konnte aufseufzend nicht sagen, wie es aussah. Es war ihm bekannt, so bekannt, so unheimlich vertraut.

Er wollte, das Kinn andrückend, die gelähmten Arme von ihrem Hals sinken lassen, da hatte er dicke Beulen auf der Stirn; seine Weste war aufgerissen und es klatschte gegen seine Brust. An die Hand faßte sie ihn und warf ihn mit einem Schwung herum, über die Beine der winselnden Liewennen, durch das offene Tor, in den Pferdestall zwischen die Pferde.

Der vertauschte Knecht

Der junge Graf Bertran vertrieb sich in Abwesenheit seines Vaters auf der Burg Beaucair die Zeit mit Spielleuten, Seiltänzern, Gauklern und anderem fahrenden Volk. Hinter dem Frauenhaus stand eine niedrige Halle mit kleinen Galerien, in der er das zweifelhafte Gesindel amüsierte mit Kampfwachteln, flinken kräftigen Tierchen, die sich in der Arena eines roten Holzbottichs anfielen. Die Wartung dieser Vögel unterlag einem Knecht, namens Philipp. Der alte Graf schätzte den dicken zuverlässigen Mann sehr, der jahrzehntelang in seiner unmittelbaren Umgebung gelebt hatte. Und Bertran, der Sohn, behandelte ihn gut wie alle Leute aus den niederen Ständen; ignorierte Verstöße, die sich Philipp herausnahm im Hinblick auf seine angeblichen Verdienste um die herrschenden Grafen, so als er sich weigerte, die damals beliebten anderen Kampfvögel anzuschaffen und zu pflegen. Sogar die schlimme Sitte des Philipp, viel von gestohlenem Cypernwein zu trinken, beachtete Bertran nicht.

Dies wurde auch zunächst nicht anders nach der plötzlichen Abreise des regierenden Grafen. Die Ringkämpfer, Balanciermeister, Taschenspieler, Rezitatoren füllten das Haus Bertrans täglich; elegante Courtisanen wurden mit ihnen eingeführt und Philipp verfehlte nicht, seine Abneigung gegen diese Gesellschaft zu äußern, die sich auf der Burg den Leib vollstopfte, stahl, und offen über Bertran lustig machte. Die Schimpfszenen zwischen ihm und den geschäftskundigen Leuten waren an der Tagesordnung. Es gehörte zu den unvermeidlichen Späßen für die Besucher, den Neulingen Philipp als ehemaligen Burgvogt vorzustellen, der durch seine Wettleidenschaft bei Wachtelkämpfen sein Vermögen, seinen Rang, und was hinreichend laut gesagt wurde, seinen Verstand verloren hätte.

Einmal führten die Schauspieler nachmittags aus einem Kriegsstück eine Szene auf, in der der Sohn eines regierenden Grafen anscheinend schlafend einer Verschwörung gegen den Vater beiwohnt. Man suchte den Schauspieler, der diese Rolle zu übernehmen pflegte. Über den hinteren Hof in den Schneeballgärten laufend sahen zwei der Burschen Philipp vor seinem Wachtelstall schlafen, betrunken, in der Sonne.

Sie hoben ihn, noch zwei hinzurufend, auf, schleppten ihn in die Theatergarderobe, schminkten und putzten ihn, und als die Szene herankam, saß Philipp in dem prächtigsten braunen Pelzrock mit fliegenden Ärmeln auf der Bühne; seine schmutzigen Strohsandalen hatte man ihm angelassen, der edelsteinbesetzte Säbel hing am Silbergehenke über seine Brust; friedlich daneben der zerschlissene Strohhutteller des Tierwärters.

Das so harmlos und spaßhaft begonnene Spiel erhielt durch das ganz außerordentliche Vergnügen, das der vornehme Bertran an dem Anblick nahm, eine erregtere Wendung. Bertran ließ, als Philipp zu rülpsen und erwachen begann, das Spiel abbrechen, rief fünf Diener, befahl Philipp zu behandeln als wäre er ein Sohn des regierenden Herrn, man solle ihn rasch von der Bühne herunter in den Saal tragen; er selbst werde die Vorgänge durch einen Seitenvorhang beobachten.

Die Durchführung des Einfalls wurde im Beginn gehindert durch einen wasserköpfigen Meßdiener. Der klagte, man dürfe nicht Scherze treiben mit der Seele eines Christenmenschen, und suchte Philipp mit seinem dünnen Körper zu decken. Die Gaukler stülpten ihm einen Sack über, rollten ihn auf den Hof.

Leicht gelang dann alles bei dem eitlen, halb schwachsinnigen angetrunkenen Mann. Nach der ersten Verwunderung wurde mit starkem Realismus von dem Hofmeister Bertrans vorgetragen: Bertran sei in völlige Ungnade beim regierenden Herren gefallen; ein Kurier habe aus Toulouse einen gnädigen Brief gebracht, wonach dem alten verdienten Philipp der Rang eines Grafensohnes verliehen und das ehemalige Besitztum Bertrans übertragen sei. Ein Schriftstück mit dem hängenden Siegel, das in italienischer Sprache gehalten war, zeigte er dem glotzenden Fettwanst vor, der nicht italienisch lesen konnte und nur den gräflichen Siegel an der Rolle, einem Steuererlaß, erkannte.

Überaus rasch ernüchterte er sich; nahm das Schreiben des gnädigen Herrn mit Ehrfurcht an sich, riß sich den Strohhut ab, schimpfte grob über die unsaubere oberfächliche Art, mit der man ihn angezogen hatte; wo der Hut mit der Seidenbinde sei, und zeigte sich in seinem Benehmen derart völlig seiner Rolle gewachsen.

Bertran zog sich zurück, sobald er sah, wie rasch sich Philipp in die Situation einlebte, und gab Auftrag, die Täuschung nach Möglichkeit zwei drei Tage durchzuführen. Ihn fesselte die ungewollte Travestie auf sich.

Der Knecht warf den größten Teil der Lumpen und Schauspieler, der Nimmersatts heraus, rieb den vielen Bedienten ihre Unterschlagungen und sonstige Betrügereien unter die Nase, keifte über die eingerissene Lotterwirtschaft, war besorgt, seinen Stall in gute Hände zu bringen. Er ging in die Backstube, sah dem Werkmeister in den Teig, er zählte das Schlachtvieh, forschte nach den Frohngaben der Bauern.

Der schwachsinnige Mensch zeigte sich in einer bald langweilenden Weise vernünftig, mäklig. Er führte den Namen seines gräflichen Beschützers mit einer peinlichen Häufigkeit im Munde, trug sich damit, einen Besuch bei dem alten Herrn in Toulouse vorzubereiten, um ihn zu trösten über das schimpfliche Verhalten Bertrans, Äußerungen, die Bertran bestimmten, am dritten Tage seinen Spielgefährten den Auftrag zur Beendigung der Sache zu geben.

Man wollte nun den Spaß so enden, wie er begonnen hatte, aber dieser Plan scheiterte an der Entschiedenheit, mit der Philipp die Einladung zum Saufgelage ablehnte, sich sogar piquiert fühlte und einem von den Schauspielern, der ihm besonders zusetzte, einen derben Backenstreich überzog. Der Geschlagene, in Wut versetzt, fing an auf Philipp zu schimpfen, als wenn er noch Tierwärter wäre, ließ sich durch die Flüsterworte der beiden Kameraden nicht begütigen. Als der Knecht, außer sich, sein Schwert zog, blieb freilich auch diesen beiden nichts weiter übrig, als über ihn herzufallen. Und nun benützten sie die Gelegenheit, um ganze Arbeit zu machen: der feiste Mann wurde halbnackt ausgezogen, zwei Dirnen liefen, hinzu und halfen kreischend und kichernd, den Fettwanst durch den Kot zu rollen. Mit Schmutz beschmiert, verprügelt, warfen sie den Hilflosen auf den Hof vor seinen Stall.

Diese Szene hatte Bertran nicht mit angesehen; er wohnte wieder in seinem Palaste, nachdem er die beiden Tage vorher bei dem Burgvogt logiert hatte, und dachte nicht mehr an den langweiligen Einfall. Gegen Abend öffnete heimlich jemand ohne Anmeldung die Tür seines Zimmer. Im Dunkel schlich etwas Großes über den Teppich und der ganz entstellte Philipp, der alte Tierwärter, flegelte sich, die Arme über sein stinkendes Lumpenkleid, seinen Arbeitskittel verschränkend, vor den Grafen hin, der in eine Ecke gewichen war, aus Angst vor der Berührung. Philipp brach in lautes Höhnen und Lachen aus; also das sei die Ursache! Das verstoßene degradierte Gräflein habe die Abwesenheit seines Vaters benutzt und sich mit Hilfe seiner lausigen Spießgesellen wieder in den Besitz des Hauses gesetzt.

Bertran wehrte ab; er bat Philipp zu gehen; die Gaukler hätten sich einen Spaß mit ihm gemacht, und es sei doch das ganze Grafenspielen nur ein Scherz gewesen.

Das versetzte den Mann in die größte Heiterkeit, die in Wut umschlug; es sei vielmehr ein Übermaß von Frechheit, jetzt die Sache noch damit zu krönen, daß er behauptete, auch das gräfliche Siegel mit der Ernennung sei falsch. Er habe lange genug in Treue, Anhänglichkeit neben dem gnädigen Herrn gelebt, um sein Siegel zu kennen. Was soll denn noch alles falsch sein? Vielleicht, sei er, Philipp, schon gar tot?

Bertran bat ihn wieder, doch zu gehen, er sei mit Cypernwein wie so oft betrunken gelegen, die Urkunde enthielte einen Steuererlaß in italienischer Sprache. Aber Philipp blieb ungerührt, der das alles nur als Ausflüchte ansah, den jungen Grafen ruhig betteln ließ, und ihn angrinste: ob es nicht wahrscheinlicher sei, daß Bertran degradiert als daß er selbst betrogen sei, er der Günstling des gnädigen Herrn, wie der Dummkopf sich in diesen Tagen nannte. Kurz und gut, schloß er violett vor Zorn, Bertran solle keine Umstände machen und seiner Wege gehen.

Als er dabei die Schulter des Herrn berührte, sank dieser halb um und schlotterte aus dem Zimmer.

Philipps Freude war kurz; er wurde nach einer Viertelstunde in den Stall gesperrt, erhielt zwanzig Hiebe auf die Hände mit dem Stecken.

Es konnte bei dieser Strafe nicht bleiben. Dem jungen Grafen, der nach diesem Abend in den entsetzlichsten Zuständen lebte, konnte keiner helfen; nichts beruhigte ihn; der Gedanke, daß der schmutzige Tierwärter ihn angefaßt hatte, brachte ihn fast um.

Dann entwich der Knecht nach einer Woche aus dem Stall. Der rasende, von seinem Recht überzeugte Schwachsinnige wurde noch innerhalb der Burg festgenommen, wo er sich bei dem schmächtigen Meßdiener aufhielt; er wollte wirklich nach Toulouse hin, um seinen alten Herrn aufzuklären.

Der Jungherr raste, weil der Mensch schon unter dem Gesinde von der angeblichen Degradation Bertrans erzählt hatte, von seiner eigenen Beförderung; diesen Gerüchten mußte Einhalt geboten werden. Es ging nicht an, Philipp dauernd in seinem Stall festzuhalten. Ehe Bertran in seinen Zweifeln noch zu einer Entscheidung gekommen war, erzwang Philipp selber einen raschen Beschluß und ein Ende.

Nachdem die Schauspieler ihn in seinem lärmenden übelduftenden Vogelstall besucht hatten, ihn anflehend, die Verneigungen und Begrüßungen der Wachteln huldvoll anzunehmen und sich in diesem wahrhaft gräflichen Palast bei herrlichem Gesang und Geruch wohlzufühlen, wurde er vor Bertran geführt, der dem gereizten, gehässigen Mann freundlich zuredete, ihm Belohnungen versprach. Wie ein Käufer, der merkt, daß er übertölpelt werden soll, schüttelte der giftige Alte schlau seinen kugligen Kopf. Er stellte sich in eine gewisse vornehme Positur, die er dem alten Herrn abgesehen hatte, den Hals eingezogen, das Gesicht in strenge Falten geworfen, die Hände in die Hüften gestützt, einen Fuß vor den andern geschoben, lächelte ab und zu verständnisinnig. Dieses Benehmen des Mannes vor den Bedienten und Schauspielern ertrug Bertran nicht. Er stampfte mit dem Fuß, drehte sich um, gab einen raschen Befehl. Nach wenigen Stunden, vor Anbruch des Abends, schrillten hohe grauenvolle Töne über die Höfe.

Man hatte Philipp mit Tüchern umhüllt, mit Wachs begossen, wie ein Licht angezündet.

Der Meßdiener, allein mit ihm auf dem Hof, wirbelte die Arme vor dem Balkon, wie ein Wechselbalg anzusehen, einen grauenvollen Fluch schmetternd auf die, die einem Christenmenschen die Seele gestohlen hätten und den Leib als eine Teufelskerze ansteckten. Er sprang tränenüberströmend um die lodernde Puppe, küßte sie und wurde halb verbrannt mit Zangen von ihr losgerissen.

Der große Bischof von Toulouse erschien nach einer Woche mit fünfhundert Mann vor Beaucair; den Meßdiener trug man dem Heere voran. Graf Bertran ließ die Fallbrücken herunter, öffnete die Tore der Burg und setzte sich an die Spitze seiner Knechte und der jubilierenden Gauklerbande. In einem blutigen Treffen schlug er wider alles Erwarten den Bischof auf der schönen Wiese Langedraine. Er zeigte mit seiner Lanze nach der Bahre, auf der jener angesengte Freund Philipps lag; unter Gelächter und kampfberauscht zog man mit ihm zurück auf die Burg. Als der wehleidige bigotte Geselle dort trotzig tat, geiferndes Gerede machte von der sündhaft vertauschten Seele des Knechts, ließ Bertran ihn zunächst in den Wachtelstall einsperren. Am Sonntag wurde dann die Glocke der Kapelle geläutet, aber statt in die Kirche, wie die Strolche unter Grinsen dem Mann versprochen hatten, führten sie ihn in einen runden Käfig, eine Art großen Vogelbauer, der vor der Kapellentür aufgestellt war im Grünen. Der Boden des Käfigs war aus Eisen, und wie die Orgelmusik drin anfing zu spielen, tanzte der gläubige Ankläger sonderbar, weil ein paar klingelnde Spielleute ein sanftes Holzfeuer schürten unter seinen Fußsohlen. Da über dem Kopf des Meßners die blanken Knochen des alten Philipp von den Käfigstangen herabhingen, so sah es aus, als ob ein Vogel nach den Knochen schnappte. Am Schluß der Andacht klirrte Graf Bertran waffenstrahlend an der Spitze seiner bunten Spießgesellen her, ließ den Mann fragen, da er sich vor ihm ekelte, ob also dieser betrunkene Philipp mit Recht gegen seine Behandlung protestiert hätte. Auf das bejahende Geschrei zuckte er mit der Achsel und ging weiter. Die Spielleute ließen den Meßner höher hüpfen. Eintönig brüllte der Krüppel seine Flüche, rief den Himmel an zur Bestrafung der teuflischen Sünder. Die Gaukler fiedelten.

Die Rückkehr des alten Grafen machte dem allen ein Ende. Er hatte schon von dem Sieg gehört und freute sich über seinen Sohn. Der alte Philipp tat ihm leid, und als er von dem Getu des Meßners hörte, sah er sich im Vorübergehen den krummen Narren an. Das Hüpfen langweilte ihn, auch das wichtigtuerische Beten des Menschen langweilte ihn, und so ließ er denn die springende Heuschrecke, wie er sich ausdrückte, auf eine neumodische Art mittels Rädern umbringen, auch für ein paar Tage in den Käfig hängen zu den andern Knochen. Dem Bischof von Toulouse nahm er noch ein Stück Land weg, das lange strittig war, so daß er schließlich meinte, im ganzen bliebe es doch erstaunlich, wie die Wege des Himmels seien. Und es hätte wohl niemand gedacht, wozu letzten Endes der abgelebte schwachsinnige Philipp gut wäre, angesichts der fünfzig Morgen Weideland und dieses reich bestandenen Weinberges.

Die Lobensteiner reisen nach Böhmen

Bei Olmütz in Böhmen liegt die schöne Landschaft Padrutz.

Sie hatte die Herrschaft eines tüchtigen Grafengeschlechts zwei Jahrhunderte ertragen, war dabei leidlich gediehen. Etwa dreitausend Menschen hausten hier, bebauten das Land, waren Schmiede, Schreiner, Spengler, Bäcker, und was die Notdurft noch erfordert. Der Graf war Kirchenpatron und ließ Katholiken und Protestanten, dazu ein paar hergelaufene verwachsene Kalvinisten und dienstbeflissene Juden gleichermaßen ungeschoren. Die Linie erlosch nun im Mannesstamm und der letzte Graf hatte festgelegt, daß seine blühende Tochter das Reich übernehmen sollte, um mit einem rasch zu erwählenden Herrn Gemahl die Regierung über die dreitausend Menschen, Protestanten, Katholiken, Kalvinisten und Juden in die Hand zu nehmen. Leopold Christoph, Herzog in rheinisch Lobenstein bei Kurhessen, hörte davon und schickte seinen Generaloberst Ekbert hin, der sollte die Erbin heiraten. Sie mochte ihn nicht; wolle überhaupt keinen Generaloberst und im übrigen nur einen Mann aus Olmütz und zwar einen ganz gewissen. Das machte Leopold Christoph, genannt Stoffel, nachdenklich; er setzte sich mit seinem ältesten Kabinettsrat in die Bibliothek und diktierte dem Mann nach Einsicht in ein älteres Ehestandsregister, daß er ihre Wahl billige, im übrigen aber auf Grund einer genau explizierten Verwandtschaftstafel sie besuchen werde, aus welcher Tafel klipp und klar hervorgehe, daß man mit Fug von einer Padrutzer Seitenlinie der Lobensteiner Dynastie sprechen könne. Den Beweis, Beleg usw. dafür werde er der schönen Dame in zwei Monaten selbst überbringen. Vorläufig suspendiere er als Familienoberhaupt trotz erheblichen Wohlwollens das Fräulein von der Herrschaft und setze sie ab wegen landeskundiger Mesalliance.

Er schloß in Eile ein Schutz- und Trutzbündnis mit zwei kleinen Reichsfürsten an der Grenze Hessens, die versprachen, dies Gebiet zum Abschrecken auf sechs Meilen zu verwüsten, tobte waffenschüttelnd durch das erstaunte Europa, das sich von den Kriegen des Napoleon sehr langsam erholte und nicht daran dachte, wegen Lobenstein und Padrutz einem Soldaten die Patronentasche umzuhängen. Der versprochene Beweis, Beleg gelang unter diesen Umständen dem entschlossenen Stoffel außerordentlich glatt; er zwang die kratzbürstige Philine von Padrutz, die sich mit einer neumodischen Krinoline wichtig tat, sich sofort mit jenem gewissen Hauptmann und Fouragehändler aus der Stadt zu verheiraten, obwohl sie erklärte in Anbetracht der sechshundert blanken Gewehrläufe, daß sie sich besonnen hätte im letzten Augenblick und leidenschaftlich für Familientradition schwärme; auch Herr Ekbert wäre nicht ohne nennenswerten Charme. Aber der Herzog Christoph erklärte, daß eine schwankende Gesinnung keinen guten Eindruck auf ihn mache, bei den Lobensteinern auch der entfernten Linie nie vorkomme und daß er sich daher des Verdachts nicht erwehren könne, mit ihr als einer untergeschobenen Tochter zu verhandeln. Angesichts dieser Sachlage und des passiven Verhaltens der Wiener kaiserlichen Behörden ließ Philine dann ihr Reich, samt allem Volk, Kirchen, Boden, Vieh und Vogel auf knapp fünfundzwanzigtausend Gulden abschätzen, wurde Frau Hauptmann, zog nach Prag in die Nepomukgasse und war erledigt.

Einmal da, besah sich Herzog Stoffel Land und Leute, ließ alles Hab und Gut von seinem Sekretariat in zwei Folianten nebst Anhang und Register aufschreiben; die bemerkenswerten Menschen- und Tiertypen des Gebiets ließ er zeichnen und kolorieren, und zog wieder unter großem Gedröhn, furiösen Siegesbulletins quer durch das schlafende Deutschland nach dem stillen Lobenstein. Da sagte er: „Wir wollen uns jetzt einmal in Ruhe des neuen Besitztums erfreuen.“ Stracks ging die Regiererei los. Herzog Christoph verlangte von seinem Ministerium täglich nach dem Morgenkaffee eine gewisse Mindestzahl von Edikten, Erlassen zur Unterschrift; lieferte das Ministerium weniger Erlasse, so war es notorisch faul. Jetzt schwelgte er; genoß die Padrutzer Akquisition; in Stößen rückten die Manuskripte und Aktenbündel an, krachten auf seine Dielen, Das Kabinett lieferte dem Padrutzer Lande, Mann und Maus, in Vor- und Nachsitzungen neue Schlachten. Es waren die mannigfachsten Behörden einzusetzen über die Padrutzer Erblande, Steuer-, Kirchen-, Verwaltungsbehörden, Gendarmerie, Obergendarmerie, ein Heroldsamt, Unter- und Oberrechnungskammer. Man gab den Metzgern die Lobensteiner Originalvorschriften über das Schlachten, den Böttchern einen erprobten Anweis über die Zahl der Hiebe, nach denen ein regelrechtes Faß rund wird; sollte es in dieser Zeit nicht rund werden, so fange man getrost ein neues Faß an, denn aus dem widerwilligen alten wird doch nichts. Um etwaigen Hungersnöten vorzubeugen, belehrte das bewegte Kabinett die Insassen der Padrutzer Erblande im vornherein, man könne mit den Bissen in guten Zeiten sparen; ein Maul, das sich gewöhnt hätte, in zehn und zwanzig Bissen einen Wecken klein zu kriegen, würde viel eher dem grausen Hungersgespenst entrinnen als eins, das „Haps“ macht und schon ist alles verschlungen wie ein biblischer Jonas von seinem gefräßigen Leviathan. Man hatte damals noch keine regelrechten Posten oder Telegraphen; das Befördern der herzoglichen Edikte stieß auf Schwierigkeiten; jetzt waren immer an zweihundert Mann mit Pferden, Wagen, Gewehren, großem Proviant unterwegs, zogen zur Donau herunter, durch das rauflustige Bayerland, auf Schlängel- und Schleichwegen, heimlich und verschwiegen mit ihren gewichtigen Dokumenten, fingen, sobald sie zwischen den Padrutzer Grenzpfählen einrückten, ein gräßliches Tuten und Trompeten an auf Lobensteiner Art und rächten sich in dieser Weise für ihre Verschwiegenheit während der Fahrt.

Die Padrutzer waren wie Bauern, kümmerten sich den Teufel um Grafen, Patrone und Erbfolge, um Ekbert, Wien und die Nepomukgasse, stachen ihre Schweine, fuhren ihren Mist. Wie der Lobensteiner Herzog für das Regieren sein Kabinett hatte, so hatten sie für das Regiertwerden ihre drei Schultheiße. Die schwitzten sich zusammen auf ihren Ämtern die Kleider naß, wenn eine Fuhre Erlasse gekommen war. Als sie aber mit dem Lobensteiner Stil nicht fertig wurden und ihre Frauen gewalttätig gegen sie verfuhren wegen ihres langen Ausbleibens, hingen sie den ganzen Plunder an ein paar Scheunentore, damit die Bauern selbst nachläsen, was sie tun und unterlassen sollten, ließen die Sonne drauf scheinen, den Regen drüber gehen. Die Bauern besahen sich den Behang, wußten nicht genau, was das bedeutete, und dachten, das mochte wohl zum Auslüften dahängen oder von der Art der neuen Herrschaft sein und waren damit ganz zufrieden. Als alle größeren Scheunentore des Hauptdorfes Padrutz behängt waren, und nun auch die kleinen Kaschemmen und Kossätenbuden um ihre Erlasse einkamen, bestimmten die Schultheiße hochfahrend: „Nein, wo das Papier blaß geworden ist, da gehört neues hin.“ Diese Ungerechtigkeit trieben sie einige Monate so, bis einmal vor die Kuriere beim Einzug das Schimpfen drang, warum sie, die Kuriere, nicht selbst die Papiere an die Bauern verteilten und zwar mit gleicher Hand; denn wer schon zehn schöne dicke Lagen auf seiner Tür hätte, kriegte noch zehn mehr und ein kleiner Mann kriege nichts. Die aufsässigen Bauern schleppten ihren lamentierenden Schultheiß vor die erstaunten Kuriere, verlangten Ordnung und Bestrafung. Die Kuriere stießen sich mit den Ellbogen an, knauten „hm hm und so so,“ schnitten sich eine Kerbe in ihre Gewehrläufe, um diese absonderliche Sache nicht zu vergessen, gaben vorläufig den Schultheißen einen kräftigen Kolbenstoß gegen die Schulter auf Abzahlung, weil Gerechtigkeit in jedem Falle zum Lobensteiner Regime gehörte.

In Lobenstein, dem Herzog und dem Kabinett hinterbracht, verursachte die Meldung höchlichstes Befremden. Der Herzog tanzte in seinem blaugrünen Schlafrock hin und her vor seinen Ministern, er schrie den ganzen sonnigen Tag: „Da haben wir’s, da haben wir’s.“ Als Ursache für die ganze erschreckende Angelegenheit entdeckte er gegen Abend, als er sich nach dem Mittagessen erkundigte und die Schloßtore zugemacht wurden, das Fehlen eines Erlasses über die Aufbewahrung von Edikten und Verordnungen in Kolonien. Wie aber am nächsten Morgen nach dem Kaffee zur Unterschrift dieser Erlaß hereingetragen wurde, saß der kleine Herzog schon auf dem Balkon in voller prächtigen Uniform mit wallender Schärpe, hohen Glanzstiefeln. Er trug ein rotes Jägerhütchen mit goldenem Trottelband, war in heiterster Laune; mit seinem Fernglas blickte er nach Kurhessen herüber und sagte zu dem verblüfften Kavalier: „Heute schreiben wir nicht, rühren wir keine Feder an. Heute wird geredet. Eins, zwei, drei, in einer Viertelstunde sind alle Minister da!“ Die Minister stürzten Hals über Kopf aus ihren Häusern, banden sich noch im Laufen ihre Orden zurecht, zwirbelten ihre Schnurrbärte und probierten mit ein paar Versen ihren Stimmklang, denn seine Durchlaucht liebte es nur, wenn man mit tiefer kloßiger Stimme zu ihm sprach; das schien ihm respektvoll. Sie wischten in das Schloßtor herein, an den Schranzen vorbei; der probierte: „Guten Morgen, schöne Müllerin,“ der lächelte: „Frei ist die Schweiz,“ der gröhlte andächtig: „Liebchen, du hast einen Fleck auf der Nas, einen Fleck, einen Fleck auf der Nas.“ Sie waren so im Eifer und mit ihren Vorbereitungen noch beschäftigt, daß nicht viel fehlte, daß sie seine herzogliche Gnaden begrüßten mit einem zarten: „Guten Morgen, schöne Müllerin“ und melodisch „Liebchen, du hast einen Fleck auf der Nas.“

Der Herzog aber frisch gewaschen, adrett, in seiner strahlenden Uniform sah sie ungemein verächtlich und überlegen an; sie wußten sofort, hier war etwas geschehen, was vernichtend für sie war. Der Kloß sank ihnen in den Magen. Der vierschrötige Kriegsminister suchte abzulenken, indem er untertänigst fragte, ob Parade befohlen werde. „Nein, nein, mein Lieber,“ winkte der Herzog ab, „lassen Sie mal. Bleiben Sie ruhig etwas da stehen. Ich sage schon alles.“ Damit ging er mehrmals säbelklirrend an der Herrenreihe auf und ab; der knüpfte sich noch heimlich die Weste zu, der polkte sich den Schlaf aus den Augen. Er blickte sie von Zeit zu Zeit triumphierend an, winkte nach einer reichlichen Pause seinem Kavalier; er solle Wein, Gernsheimer Auslese, bringen lassen. „Trinken Sie nur, meine Herren,“ ermutigte er; es war ihnen klar, er bereitete einen Schlag von langer Hand vor. „Na,“ fragte er dann den kirschroten Kriegsminister, der einen viereckigen Mund hatte wie ein Nußknacker, und zwei Schultern, die aussahen, als hätte er sich zwei Prellblöcke unter die Uniform gestopft, „was denken Sie nun? Was fällt ihnen nun ein?“ Der kaute nach einer Pause: „Die Gnade Eurer Durchlaucht.“ Der Herzog zum dickbauchigen Kultusminister: „Na Ihnen wohl auch nichts?“ Und dann lächelnd: „Dann trinken wir noch eins.“ Der Kammerdiener, wie eine Eidechse, brachte jedem ein frisches Glas, es war Rüdesheimer. Der Herzog spazierte weiter, hob den Finger: „Unbesorgt trinken.“ Dann: „Wie steht’s nun, Herr Kriegsminister?“ Als der nur mit den Fußspitzen wackelte und etwas Tiefergebenes brummte wie „Guten Morgen, schöne Müllerin,“ schüttelte der Herzog nicht unbefriedigt den Kopf, daß seine Troddeln schwankten, blickte lange auf seine Reiterstiefel, wippte versuchend seine schmächtige Figur hoch, seufzte beendend aus tiefem Herzen: „Na, nu setzen wir uns, meine Herren.“

Er sah zu, wie sie auf den Stühlen Platz nahmen, bemerkte schwermütig: „Ein Herr nach dem andern; sechs Herren, sieben Herren. Ich bin der achte.“ Er rückte gemütlich dicht vor sie, lächelte ihnen unter die Augen: „Ja, da sitzen wir nun, acht leibhaftige Herren, alles echte Lobensteiner, bis auf unsern Konsistorialrat, der ist noch aus Zeuthen. Ja, Sie sind aus Zeuthen, lieber Konsistorialrat, aber selbst Zeuthen ist nicht das Land, in dem Milch und Honig fließt. Machen wir keine Vorreden. Die Gebrechen meines Staates sind mir heute nacht durch den Kopf gegangen, die schweren Ereignisse, über die wir gestern konferiert haben, ließen mir keine Ruhe. Durch Politik und unvergeßliche Taten sind meiner Dynastie die Padrutzer Erblande zugefallen, und: da haben wir’s. Die Sache funktioniert nicht. Das Land liegt zu weit von unserem Mutterland entfernt.“

Der Kriegsminister beugte vor: „Näher bringen geht nicht, aber ich möchte vorschlagen, systematisch und sukzessive die zwischenliegenden Gebiete zu erobern, die Armee ist bereit.“ Der Monarch spitzte kühl den Mund: „Sehr richtig. Ist alles von mir schon erwogen. Wird für später geplant. Für den Moment schaltet dieser Punkt aus. Es liegt überhaupt nicht an dem Lande, meine Herren; es denkt gar nicht daran. Das Land kann im Mond liegen. Das Land ist unschuldig an dem ungeheuerlichen Affront. Sondern es liegt,“ und da bog er sich über den Tisch vor und spielte seinen ersten Trumpf aus, „es liegt an den Menschen, an den bodenständigen leiblichen Padrutzern.“ Die Minister blickten sich an, wie aus den Wolken gefallen, der Stoffel genoß ihre Verstörtheit, er donnerte siegesbewußt: „Ändern Sie die Padrutzer, so ändern Sie die Verhältnisse. Das haben wir übersehen, als wir das Land eroberten. Setzen Sie die Menschen hin, die gehorchen, so tritt kein Ungehorsam ein. In den Padrutzern steckt Gedankenarmut, Leichtfertigkeit, Rebellenblut, vom jüngsten bis zum ältesten. Ich rasiere das Land, schaffe mir ein neues Padrutz.“ Der schattenhafte Konsistorialrat konnte nicht an sich halten; er schrie: „Es lebe Groß-Lobenstein, es lebe seine erlauchte Dynastie.“ Die Minister, fortgerissen, schwenkten die Arme. Stoffel stand auf, klopfte leutselig einem der Herren nach dem andern auf den Rücken: „Meine Herren, wir werden uns nicht lange unterhalten; wir werden kolonisieren. Trinken Sie nur aus. Es ist guter Wein, selbstgepflanzt. Lobensteiner müssen nach Padrutz. Ich mache keine Vorwürfe.“

Die Vorhänge wurden heruntergelassen an dem Balkon; ein gedämpft angenehmes Licht herrschte in dem zeltartigen Bereich. Denn der Herzog liebte es, sich bewaffnet in Räumen wie auf einem Feldzug aufzuhalten. Man debattierte noch hin und her. Den Ministern wurden die Stimmen freier. Dies war der politische Auftakt zu großen, erregenden Ereignissen im Lande. Es erschien am nächsten Morgen, getragen von büschelgeschmückten Soldaten, unter Trompetensignalen, ausgerufen an den Straßenecken, auf den Feldern, ein herzogliches Reskript. Wie es sich begeben habe in Padrutz, wo die bestgemeinten Erlasse an die Scheunentore gehängt wurden aus barem Padrutzer Unverstand. Wie sich herzogliche Regierung bemüht habe, dort in dem fernen Gebiet Glück und Ordnung zu schaffen. Vergeblich, vergebens! weswegen, weshalb und warum nunmehr beschlossen sei, die tüchtigsten Lobensteiner Bauern geradewegs nach Padrutz zu verpflanzen, auf daß sie dort Wurzel fassen, keimen und Blüten treiben auf die herkömmliche Art. Rundweg: Volksversammlung auf dem Gänsemarkt in acht Tagen. Trompeten schmetterten, Ausrufer wischten sich den Schweiß ab, Bauern und Bürger zogen weiter.

Der Gänsemarkt war eine riesige Fläche Land. Da strömten nach acht Tagen, wie nur die Sonne aufging, die Menschen zusammen. Es war ihnen allen vorgeschrieben, was sie mitbringen sollten: den Bauern zwei Paar Stiefel, ein Paar dreckige fürs Land, ein Paar weniger dreckige für die Stadt. Den alten Weibern über sechzig je zehn Flaschen Pfefferminzgeist und Karmeliter, wenn ihnen üblig würde im Gedränge, jungen Weibern Brausepulver zur Beruhigung. Die Städter hatten Nahrungsmittel für zwei Tage und eine Nacht zu bringen; der Grund war nicht angegeben; bei den Ministerialbeamten aber war bekannt, daß man den Bauern das Schleppen der vielen Lebensmittel und noch dazu zweier Stiefelpaare ersparen wollte; man vertraute darauf, daß die kräftigen Bauern, wenn sich Hunger bei ihnen einstellen sollte, den Städtern das entsprechende Eßquantum wegnehmen würden, dazu den Weibern die Hälfte der Fläschchen. Man hatte Vorsorge getroffen, daß der Schutt und Müll des Herzogtums, der auf dem Gänsemarkt abzuladen war, schon drei Tage vorher zurückgehalten wurde; so daß also am Tage der Volksversammlung mächtige Massen anfuhren und den Kehricht dampfend und staubend zwischen die Menschen schleuderten; die Menschen, das berechnete man richtig, würden auseinander rennen und wenigstens um den Kehrichthaufen war kein Gedränge. Besonders viel Frauen und Männer mit Beingeschwüren, Hühneraugen und Krampfadern waren aus dem gleichen Grunde eingeladen worden und zwar planmäßig; man hoffte so Polizei zu sparen und Stauungen der Menge und großes Gedränge zu verhindern; die hühneräugischen Leute würden schon im Gedränge, getreten oder gestoßen, von Zeit zu Zeit ein derartig mordsmäßiges Geschrei erheben, daß sich die Menschenmassen wie Blasen von ihnen abheben würden, und so hatte man Fluktuation, Bewegung. Einzelne Dorfbehörden waren töricht genug, den Einwohnern ihres Bezirks Hängematten mitzugeben, zu bequemer Lagerung bei der Beratung usw., wobei sie ganz übersahen, daß auf dem Gänsemarkt keine Bäume wuchsen, abgesehen von zwei Wacholderbüschen und einer Radieschenpflanzung, welche der Frau Raspel gehörte. Es wäre noch sonst mancherlei zu berichten über die sonderbaren und einfältigen Vorbereitungen zu dem großen Fest; zum Teil zerschlugen sich diese Pläne; so die Absicht des Fürsten, sich dem Volk überhaupt nicht zu zeigen, sondern unnahbar hinter einem blaugrünen Vorhang zu thronen, der so groß sein sollte wie der ganze Gänsemarkt; man konnte in der Eile nicht genügend farbige Leinwand auftreiben; schließlich: wie hoch sollte der Vorhang sein, bis zum Himmel? Darüber zerfiel die Sache.

Das große Geheimnis des Tages war, daß bis zuletzt niemand aus dem Volk wußte, was man denn auf dem Gänsemarkt sollte. Kein Minister wußte es, nicht einmal der Fürst; weit gefehlt, das dies irgendeine der Instanzen beunruhigte, erhöhte es nur die Feierlichkeit der Stimmung. Es konnte nach drei Tagen niemand leugnen, daß die Sache außerordentlich drängenden Charakter hatte. In den Ministerien saß man schwermütig herum; man zog sich schon jetzt festlich an und trug sämtliche Orden; man blickte erregt zum Fenster hinaus und erschrak beim Knarren der Gemüsewagen; man trank in den letzten Tagen nur Rum und aß eine gewisse Sorte gepfefferte Roulade, die, von der Witwe eines bei Zeuthen gefallenen Feldwebels hergestellt, das Allerheiligste des Ministeriums darstellte.

Am Tage vor dem Ereignisse wurden die Sachen des Herzogs auf dem Gänsemarkt gründlich ausgeklopft; er selbst mußte währenddessen im Bett bleiben. An solchen Tagen schwebte der Herzog in der größten Angst, daß ein Attentat auf ihn erfolgte oder daß man sich unziemlich gegen ihn benehmen könnte, denn wie Simson in seinen Haaren, fühlte er sich nur in seinen Kleidern geborgen. Heute rief er rasch die Minister in sein Schlafzimmer, befahl, seinen Holzelefanten, auf dem er Paraden abnahm, neu anzustreichen, und irgendein vertrauenswerter Mensch solle statt seiner während des ganzen morgigen Tages sich auf dem Ungetüm aufhalten; er selbst werde auf dem Pferde sitzen, so daß also das Volk nicht aus dem Staunen herauskäme, daß sein Herrscher einmal auf dem Elefanten, das andere Mal auf dem Pferde säße. Dies sei eine Überraschung, die er sich für morgen ausgedacht habe; es würde ein gewisses überirdisches Aufsehen geben. Die Minister bemerkten, das wäre ein grandioser Einfall, sie würden alles recht in die Wege leiten.

Alles kam wie vorausgesehen; die Bauern brachten zwei Paar mehr oder weniger dreckige Stiefel, die alten Weiber tranken Anis, die Hühneräugigen schrien und der Mist dampfte. Dann gab’s ein Lamento, weil die Bauern mit den Hängematten nach Bäumen suchen gingen und sich überall Weg bahnten, und als sie keine fanden, rechts und links beschuldigten, man hätte ihnen zum Schabernack die Bäume ausgerissen. Schließlich zogen sie über den Gänsemarkt hinaus, wo hinter den ersten Straßen ein kleiner Park war, da hingen sie ihre Gurte an, legten sich hinein, schimpften gewaltig, daß sie nun nichts von der Versammlung hätten und die Häuser ständen ihnen gänzlich im Wege. Ein weiterer Trupp drang ganz frech in das herzogliche Schloß selbst ein und mußte mit Gewalt daraus verjagt werden; in ihrer Verfügung stand, sie sollten nicht vergessen, dem Herrn Herzog guten Tag zu wünschen; und weil der grauhaarige Bauernführer meinte, sein Gedächtnis wäre schon schwach, wollten sie es gleich bei der Ankunft abmachen. Man aß und trank und raufte sich; das Wetter war sehr schön. Als gegen Mittag alles verzehrt war, die Bauern sich in den Hängematten ausgeschlafen hatten, wollte alles zufrieden nach Hause gehen. Da sprengte der Fürst aus dem Schloß hervor und schrie: „Halt!“ Rasch sagten die Bauern: „Guten Tag“ und latschten weiter, waren guter Dinge, daß alles vorbei wäre und ihnen nichts zugestoßen. Der Herzog rief nochmal: „Halt.“ Und in demselben Augenblick tauchten an den vier Seiten des Platzes mit erschreckendem Ernst Trompeter auf, schwenkten Fahnen, und neben ihnen blitzten gepanzerte Herolde mit riesigen schwarzen Schalltrichtern, die tuteten: es sollten alle Obacht geben auf den Herzog; er wolle jetzt die Tüchtigsten auswählen, die nach Padrutz, dem gesegneten Lande, übersiedeln dürften.

Sofort entstand große Zwietracht unter den Leuten. „Wer der Tüchtigste ist,“ gifteten sie, „das wollen wir mal sehen!“

Sie ballten sich zu Haufen zusammen und bewegten sich nicht. Sie hielten sich fest an den Röcken. „Keiner läuft hin zum Herrn Herzog. Das machen wir erst unter uns ab.“

Und so standen sie mit funkelnden Augen in zusammengeknäulten Horden, bissig einer den andern einklemmend.

Plötzlich keifte und keuchte einer: „Was drückst du mich so. Willst mich wohl schwach machen?“ Der andere: „Hältst mich für deinen Affen, daß du mir ein Bein stellst? Nimmst du das Bein weg!“ „Laß du deine Hand von meiner Schulter.“ „Reingeschmettert kriegst du eins, daß du Matthäi für Ostern hältst und deine Backen für eine Kesselpauke.“ „Wo die Kesselpauke ist, wirst du bald besser wissen, als wo dein Maul steckt.“ Und rasch sausten die Hiebe. Die Fesseln lockerten sich. Zwei stürzten in den Kreis hinein. Die entfernteren bekamen es mit der Angst, daß die beiden sich für die Besten hielten und hier ihren Entscheidungsmatsch ausfochten, ließen ihren jeweiligen Gegner los, sperrten um die Kämpfenden mit ihren Leibern ein Gitter. Rockzipfel, Kragen wurden frei. „Haut euch!“ hetzten sie, freuten sich und griffen sich dabei eisern um die Taillen. „Nicht rauslassen, nicht heraus!“ Zwei andere stürzten sich aber in den Kreis, Vettern der Kämpfer, ergriffen Partei, wieder andere wirbelten wie Häscher hinterher, einige lauerten im Hintergrunde. Und diesen Moment benutzten ein paar lange Kerle, die sich schon vorher bedeutsame Winke gegeben hatten, rasten wie die Windhunde davon zum Herzog. Ein Wutschrei der Hinterbliebenen, eine kurze Starre. Dann wälzte sich das strampelnde schlagende Feld über den Markt, mit Knuffen, Stoßen, Würfen, Purzeln. Die beiden Boxer blieben allein, bearbeiteten sich das Fell, blickten plötzlich um sich, schrieen, gaben sich verloren, verprügelten sich noch einmal in Verzweiflung und Ingrimm, schleppten ihre Lächerlichkeit über den Gänsemarkt.

Bei den Leuten, die mit den Hängematten gekommen waren, herrschte von vornherein Eintracht; sie sagten zueinander: „Wer mag wohl der Tüchtigste von uns sein, hä? Sepp, lauf du!“ Und der lief. Damit waren sie zufrieden und sahen sich alles in Ruhe an.

Der Herzog Stoffel saß in seiner prächtigen Generalsuniform auf dem Pferde. Die Minister hatte er auf den Balkon geschickt, damit sie ihn gehörig bewunderten. Blindlings sprengte er in die Menge, geradenwegs und in Bogen sauste er, fünf Offiziere neben ihm. Er schwang den Ehrendegen, den ihm sein Kabinett nach der Okkupation von Padrutz überreicht hatte, und schrie: „Hierher die Tüchtigsten, hierher!“ Er ritt den Menschen voran, die ihm wie eine Meute Hunde folgten. Wie der Blitz notierten die landeskundigen fünf Begleiter die Namen derer, die zuerst Hals über Kopf angeschossen kamen.

Ein Jammer war bei alledem der Anblick biederer Bürger. Diese würdigen Männer traten sonst ansehnlich als Seifensieder, Tuchverkäufer in ihren Läden auf, drückten sich als Bürokraten gewichtig den Hosenboden durch. Der Herzog sah sie stehen, spannte sich in dem Bügel hoch, schwenkte ihnen den Degen zu. Die Ehefrauen keiften und stießen sie: „Lauft doch.“ Sie drehten sich verlegen, schielten hochrot um sich, probierten unglücklich ihre Beine auf dem Fleck. Die Frauen schrieen: „Er ruiniert uns, er ruiniert Frau und Familie; die Kinder müssen betteln.“ „Wo müssen denn die Kinder betteln?“ „Wir verlieren alles. Sieh, der kleine Drogenmax von drüben läuft schon. Zieh dir die Stiefel aus, Vater.“ Stoßseufzend ließen die Väter mit sich geschehen: „Gott mit uns;“ sie sockten davon.

Sooft Stoffel den Haufen wachsen sah, gab er den Offizieren einen Wink; sie schwenkten um und horridoh! ging die Jagd einen unerwarteten Weg über den Markt. Während er am Balkon vorüberritt, riefen die Minister herunter: „Es gibt Schwierigkeiten, Durchlaucht.“ „Warum?“ „Die Stadt wird leer.“ „Lassen Sie mich nur machen,“ rief er im Feuer seiner Tätigkeit zurück, galoppierte weiter. Und während die Minister sich stritten, reizte, lockte unentwegt sein: „Hierher die Tüchtigsten, hierher!“

Einen drolligen Eindruck machten die Kaufleute, die sich nach und nach bis auf die Hosen entkleideten und sachte Bogen auf Bogen abschnitten von einem Kampfplatz zum andern. Sie trabten ruhig und geduldig. In dieser trägen Art liefen ganze Gilden zusammen nebeneinander; es hieß immer an der Spitze: „Jetzt geht’s dahin. Jetzt geht’s dahin.“ Während sie zuerst vor Eile die Blicke nicht von dem Boden nahmen, sahen sie jetzt gelassen um sich. Sie waren ganz friedlich, amüsierten sich: „Die Hutmacher habens aber mal eilig. Immer mit der Ruhe.“ Bei diesen Kämpfern verbreitete sich das Gerücht, daß es überhaupt nicht auf die Schnelligkeit ankomme; solche Dummheit habe herzogliche Regierung nicht vor, sondern auf die Qualität des Laufens, die Beherrschung der Gangart. Die Vorsicht in der Bewältigung des Geländes, überhaupt auf die durchscheinenden Charaktere. Der Herzog wolle auch sehen, ob sie zusammenhielten oder nicht. Und so explodierte von Zeit zu Zeit, wenn der Herzog mit Halloh an ihnen vorbeiflitzte, aus der Mitte einer geschlossenen Mannschaft ein kerniges: „Hoch die Dynastie!“ „Hie gut Lobenstein!“ Dieser friedliche Wettstreit brachte ein gewisses männlich ruhiges Element in das Hasten und Jagen.

Inzwischen vollendete der Herzog sein Examen. Die großartigsten Evolutionen ließ er sein gesamtes Volk machen, die Masse folgte in stufenweiser Behendigkeit. Der Staub schwebte über dem Markt, die Luft hallte von Schreien, Brüllen, Juchzern. Unter dem Trampeln wogte der Boden; der Schweiß eines ganzen Volkes machte die Luft feucht.

Vor dem Palast, zur Seite des Balkons, stand der hölzerne Elefant, sein Leib war grün bemalt, die Augen rot, die Ohren schwarz und weiß; das Gesäß hatte man planvoll angestrichen mit den Farben Kurhessens. Oben im blaugrünen Zelt saß ein einsamer Lobensteiner und ließ es sich gut sein beim Weine, hochbeneidet von den wissenden Ministern. Der Herzog hatte das Arrangement längst vergessen und brauste in heller Begeisterung an seinem thronenden stummen Widerpart vorüber.

Dann war der Streit beendet. Steifbeinig stieg Stoffel vom Pferd. Über tausend Namen standen auf den Tafeln. Das treue Volk wurde entlassen und nach Hause geschickt. Während sich tosend das dunkle Feld leerte, plumpste eine reife Frucht vom Elefanten herunter ins Gras: „Jetzt kommen wir; hierher die Tüchtigsten, hierher!“

Nun verstrichen Wochen, während derer das ganze Land unter den Vorbereitungen der Padrutzer Reise stand. Keine Kuriere wurden mehr dorthin geschickt; man überließ die Padrutzer sich selbst; der Stoffel sagte, sie hätten kein anderes Schicksal verdient. Den Padrutzern schwante nichts Gutes; sie dachten bei der eingetretenen Stille an die blanken Gewehre zu Lebzeiten der seligen Philine, nunmehrigen Fouragehändlerin zu Prag. Die Schultheiße und ein großer Teil des Volkes machten heimlich Hab und Gut mobil, um, sobald das Massaker losging, Reißaus zu nehmen. Der Bischof von Prag, von Philine gedrängt, schickte den Schultheißen durch Sendboten seinen Segen, verhieß den Padrutzern für schwierige Fälle freies Asyl.

In Lobenstein waren mit Weib, Kind und Kegel an dreitausend tüchtige Menschen auf die Beine gestellt, um nach Böhmen zu reisen. Festliche Gottesdienste fanden allerorten statt. Eine Woche vor der Abreise veranstaltete der Herzog eine große Feier im Schlosse für die Obrigkeiten des Landes. Es kam bei dieser Gelegenheit auch die Frage der Musikinstrumente zur Entscheidung, die gelegentlich während des langen Marsches geblasen werden sollten. Nämlich verlockt durch die vielen sonderbaren Begebenheiten, Feste und Affären in Lobenstein war damals grade eine südländische Musikkapelle an dem Hof eingetroffen, welche dem Herzog enorm imponierte. Sie brachte mit aus Verona ein wunderbar gebogenes Horn, auf dessen einer Biegung ein schlafender Bernhardinerhund in Silber angebracht war, ferner zwei verschiedene Posaunen, die je einen tiefen kräftigen Ton von sich gaben und wie Fernrohre von den Musikern vor die Münder gefahren wurden auf einem Holzgestell mit Räderchen. Der Herzog hörte sich bei schönem Wetter täglich die neue Musik an und schalt auf die einheimischen Künstler, die den Auszug der Kolonisten mit Trommeln und Pfeifen begleiten wollten, was er im höchsten Maße ordinär und direkt gräßlich fand. Als er bei der gedachten großen Feier wieder die Südländer lobte, erklärte der bullenbeißige Kriegsminister untertänigst mit massivem Kloß, daß sich die Instrumente anhörten wie das perpetuirliche Leibweh und in Gegenwart von Frauenzimmern leicht unziemlich wirken können. Der Herzog aber, der sich die Nase putzte, fand, es höre sich an wie das Rülpsen und Röcheln eines Zugstieres voll Kraft und Zufriedenheit; soweit die Posaune. Das gebogene Horn freilich mit dem silbernen Bernhardinerhund keifte erbärmlich, und man könne dies nicht anders vergleichen als mit dem Schmerz eines eingewachsenen Nagels am Fuß, günstigsten Falls wirke es beunruhigend wie ein Faserchen Fleisch nach der Mahlzeit, das zwischen den Zähnen stecken geblieben sei und sich mit dem Zahnstocher nicht fassen lasse. Dazu fiele ihm zum Überfluß jetzt auf, daß das Ding verschiedene Töne blase, welche wechselnden Äußerungen für ein Instrument von so gewaltiger Größe wie eine Armbrust ungehörig seien und bei Bürgern und Bauern leicht schlechtes Beispiel gäbe. So wurde bei der Gelegenheit allein die welschländische Posaune in die Lobensteiner Staatsmusik aufgenommen, das Horn aber, trotz Anerkennung seiner unglaublichen Biegung und prunkvollen tierischen Ausstattung, blieb den Fremden überlassen zu ihren übrigen Kinkerlitzchen.

Und im Monat Juni, an einem schönen Sonntag, läuteten im ganzen lieblichen Herzogtum die Kirchenglocken, gingen alle Menschen in festlichen Kleidern, Musik und Tanz fing am frühen Morgen an; heute sollten die Lobensteiner ihre Wanderung antreten. Die Erwählten trugen blaugrünrote Bänder am Hut, die bis auf die Erde schleiften; das Rot war zu den Landesfarben hinzugekommen und bezeichnete das herzlich ersehnte Padrutz. Die Reisenden benahmen sich seit der Volksversammlung gerade so, als wenn sie das große Los gewonnen hätten; sie fühlten sich ganz als die Elite des Volkes. Einige hatten sich gleich nach jener Auslese Siegel und Stempel angeschafft, und wenngleich sie nicht lesen und schreiben konnten, so patzten sie überall, wo es ihnen gut dünkte, ihr schnörkliges Wappen hin, als wenn es ein Titel wäre. Die Auserlesenen hielten im ganzen Lande zusammen, hatten geheime Versammlungen und Beratungen, die nach außen immer damit endeten, daß eine Deputation an Stoffel abging und Treue über den Tod hinaus schwor. Stoffel sammelte solche Ergebenheitskundgebungen und klebte sie in ein Lederalbum ein, das er später seinen hohen Besuchern vorlegte. Ihre Äcker, Häuser und Güter hatte jene Elite längst verkauft und verschleudert. Den Batzen Geld, den sie bekommen hatten, verjubelten und vertranken viele, setzten Stiftungen für die hinterbliebenen Landsleute aus. Die vorsichtiger waren, schlugen öffentlich unter Lamento irgend einen Hund tot, zogen ihm jammernd das Fell ab und gruben den Leib in die Erde ein, nicht ohne heimlich ihr Geld mit in das Grab fallen zu lassen; sie hielten ihre Habe in dieser stinkenden Umgebung für doppelt sicher. Von Kurhessen her erfolgte damals ein großer Zustrom liederlicher Personen, die den vorhandenen Lobensteiner Übermut ausbeuteten; man sagte später nicht zu Unrecht, daß dieser Afflux staatlicherseits von Hessen begünstigt wurde; wo Lobenstein ein Abbruch getan werden konnte, war Kurhessen immer voran. Die Schankwirtschaften schossen in die Höhe, über Nacht bildeten sich Ruderklubs, Wandervereine, Keglerbünde und ähnliche Nichtstuereien, die sich mit einer Aureole von Heldentum umgaben und auf allen Plätzen breit machten. Allgemein hieß es in der Nachbarschaft: in Lobenstein geht die Welt unter.

Unter Böllerschüssen und Raketen setzte sich am Spätnachmittag der Zug in Bewegung. Sie mußten mit Pferd und Wagen und allem Gepäck erst den Rößleberg hinauf und dann in feierlicher Prozession an der anderen Seite herunter, wo der Herzog auf der Kuppe seines asiatischen Geschöpfs sie an sich defilieren ließ; der Herzog meinte, dieses Hinauf und Hinab mache sich weihevoll in der Abendbeleuchtung. Zweihundert Soldaten bedeckten den Zug mit zwei Batterien, hundert voran und hundert am Schluß; der Herzog selbst kam in einer sechsspännigen Kutsche nach und begleitete die Kolonne fünf Tage weit nach Deutschland hinein. Zigeuner, Diebsvolk, Dirnen, Gaukelspieler erwarteten sie an der Lobensteiner Grenze in Massen, sie umschwärmten den Zug wie Fliegen und Feldmäuse.

Sobald man über die blaugrünen Grenzpfähle hinausgeschritten war, veränderte sich rasch das Bild. Das lärmende Treiben verbot sich von selbst; man konnte nicht wissen, wie das von den anwohnenden Staaten aufgenommen würde. Das Einherspazieren mit Fahnen mußte aufgegeben werden; die Fahnen wurden sachte eingezogen und die ganze gestickte und bemalte Herrlichkeit fuhr man auf verdeckten Ochsenwagen hinterdrein. Die Gaukler und der ganze üble Troß roch frühzeitig den Braten, verzettelte sich, flirrte durch Deutschland, war lange vor den Bauern in Padrutz, wohin sie das Gerücht der drohenden Ereignisse trugen. Still und geduckt, nicht anders als sonst die Kuriere, mußten die Lobensteiner jetzt ziehen. Was war aus der schönen Staatsmusik geworden, aus den welschländischen Posaunen, wo lagen die Trommeln und Pfeifen, die man zur Reserve mitgenommen hatte? Nicht besser als eine gewaltige Diebs-Bettlerbande zog man einher, bei Nacht an den zweifelhaften Städten vorüber, bei Tag in Furcht vor jedem höheren Kirchturm.

Bei Kinzelheim im Bayrischen, nächst der Stadt Augsburg, gab es eine große Affäre. Kinzelheim war freie Reichsstadt geblieben und übte in seinem kleinen Gebiet eine Souveränität aus, die sich von besonderen Gesichtspunkten leiten ließ. Es herrschte da auf dem Magistrat neben den eigentlichen Magistratsbeamten gewissermaßen unbeamtet eine gelehrte Körperschaft, der alle Juristen, Professoren, Historiker, Ärzte der Stadt angehörten; an den Rathaussitzungen nahmen, das war Gewohnheitsrecht, immer vier, fünf der Gelehrten teil; sie schrieben sich gewisse autonome Funktionen zu; es war üblich, daß bei wichtigen Beratungen der Professorenpartei direkt Stimmrecht verliehen wurde und sie trotz ihrer privaten Natur eingreifen durfte. Nun waren durch die Napoleonischen Feldzüge, besonders durch die Truppenbewegungen nach Österreich zu, welche mit der Schlacht von Aspern zusammenhingen, in der ganzen Umgebung von Kinzelheim die Straßen ruiniert worden; die fliehenden Truppen hatten hinter sich von den Bergen herab Felsblöcke auf die Straßen rollen lassen; rücksichtslos war jede Brücke demoliert, Wegweiser waren abgerissen oder böswillig vertauscht; es herrschte um Kinzelheim ein kulturwidriges Durcheinander. Im Rathaus standen sich zwei Parteien gegenüber; die einen, es waren die Gelehrten, hielten den Zustand belanglos für die Entwicklung der Stadt; sie betonten die Kostspieligkeit der Neuanlagen, ja der Verfall der Straßen wäre opportun, weil er gleichsam eine Mauer um Kinzelheim setze und der Stadt ihre eigenen Entwicklungsmöglichkeiten garantiere. Sie sahen nämlich mit dem zunehmenden Verkehr die Unabhängigkeit der Stadt gefährdet. Die andern von der Magistratspartei aber traten für Ausbau der Wege und freien Verkehr ein; hier ging man soweit, von Zollbündnissen mit Augsburg und der übrigen Nachbarschaft zu reden, von gemeinsamen Interessen mit Augsburg, gemeinsamen Wegebaukommissionen. Es waren die Händler, Krämer, Steuerzahler, die so zu Wort kamen, die glaubten, für ihr Geld auch etwas haben zu müssen; sie waren wie immer wütend auf die autoritativen Gelehrten, denen sie aber nicht beikommen konnten. Nachdem man sich beiderseits mancherlei vorgeworfen hatte, wurde der Streit durch eine Maßnahme des wegefreundlichen Magistrats auf die Spitze getrieben. Nämlich die Ehefrau eines Bürgermeisters hatte zu ihrer Steinkrankheit einen berühmten schwedischen Arzt, der sich Lysarius nannte, aus der Lausitz, wo er wohnte, zugezogen; der Fremde hatte damals nicht nur die Frau überraschend schnell kuriert, sondern auch durch sein kenntnisreiches weltmännisches Wesen sowohl Gelehrte wie Magistratler fasziniert. Als die Debatten über den Wegebau erregter wurden, faßte man im Rathaus den Beschluß, sich diesen Schweden zu verschreiben, er sollte sich rasch in die Materie einarbeiten und sagen, was er meine. Diese kompetente Persönlichkeit war mit vier Dienern angefahren, hatte sich über alles orientieren lassen und sich dann kurzerhand auf Seite der Gelehrten geschlagen. Er stöberte im Rathauskeller unter alten Büchern umher, las und kroch in die Kisten, bis sein langer brauner Bart voll Spinnweben hing, und entdeckte schließlich ein Edikt aus der Zeit Karls des Sanftmütigen, wonach alle Versuche, der Stadt Kinzelheim ihre Reichsunabhängigkeit zu nehmen, als Hochverrat zu bestrafen seien; als Strafe war für den mindesten Fall der Pranger genannt. Heimlich stellten nun die Gelehrten, die über den Fund des Lysarius entzückt waren, Nachforschungen nach dem Pranger an, sie konnten ihn aber in der Stadt nicht entdecken. So lange wollten sie nicht mit der Sache hervortreten. Erst als der Nachtwächter ein Liebespärchen auf dem Balkon eines verlassenen Hauses erwischte, — ein Pärchen, das durch sein allnächtliches ungeniertes Schwärmen und Küssen Aufsehen erregte, noch mehr freilich Neid eines benachbarten hagestolzen Ratsherrn, — kam man hinter das Geheimnis. Man sah, daß diese sonderbar schwebende Laube, dieses enge Asyl der Verliebten der ehemalige Pranger war. Noch konnte man die Richtschwerter sehen, die beiderseits an den Wänden aus dem Stein gehauen waren, noch bläkte oberhalb der Laube eine scheußliche Frauenmaske die Zunge; aber dem Pärchen hatte der schreckliche Wust nicht die Brust beklommen. Entschlossen holten die Gelehrten nach diesem Fund zu einem Streiche aus. Sie schickten, als die Ratsversammlung ohne sie tagte, Spitzel hinein in der Gestalt von Federschneidern, Sandstreuern, ließen auf Blättchen notieren, was ein Mann namens Schaffelhuber dort geredet hatte über den Weg nach Strunzelbach, und denunzierten den Schaffelhuber sowohl bei Gericht als beim Magistrat, da es sich um eine staatsfeindliche Angelegenheit handele. Sie verlangten Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person und nach dem Buchstaben Anwendung des Ediktes Karls des Sanftmütigen. In aller Form verlangten sie, daß sofort in den Etat einige hundert Goldgulden eingestellt würden zur Ausstattung und Wiederherstellung des alten Prangers. Die Erregung über das entschiedene Auftreten der Gelehrtenkorporation war allgemein; man war sicher, daß die Gelehrten noch andere Schritte planten. Der Name Lysarius’ ging von Mund zu Munde; man amüsierte sich weidlich, was sich der biedere Magistrat für einen Floh ins Uhr gesetzt hatte. Am liebsten hätte der Rat ihn sofort ausgewiesen, aber man fürchtete, es mit dem Königreich Schweden zu verderben. Lysarius fuhr so stolz durch die Straßen; er war anzusehen wie die inkarnierte Arroganz, wenn er mit halbverschlossenen Augen die Rathaustreppe hinaufstieg; seine Diener in brauner Livree mit dem schnörklichen Wappen seines Herrn und dem schwedischen Löwen rissen vor ihm die Türen auf. Die jungen Männer in den Kantinen schlossen Wetten, wer siegen würde; die Bevölkerung begann sich zu gruppieren, auf den Straßen nach Gesinnung zu applaudieren und zu pfeifen. Die Gelehrten blieben dickfellig, sie traten mehr und mehr aus ihrer Reserve heraus und waren entschlossen, sich auf keine Konzession einzulassen und den Schaffelhuber auf den Pranger zu schaffen, koste es was es wolle. Da traf dicht hintereinander der Entscheid von Magistrat und Magistratsgericht: beide Instanzen lehnten ab, auf das Edikt Karls des Sanftmütigen zu rekurrieren, erklärten den Schaffelhuber für frei und gesetzlich; der Magistrat trieb die Sache sogar so weit, dem Beklagten, da er Steinmetz war im Privatleben, den Strunzelbacher Weg zur Pflege zu überantworten. Damit war der Krieg in brutalster Form erklärt. Die Gelehrten erließen Tags drauf eine Proklamation, die auf blaue zierliche Zettel geschrieben an alle Mauern angeschlagen wurde: Recht, Ansehen, Autorität werde in Kinzelheim zum öffentlichen Gespött gemacht, die Grundlage menschlichen Zusammenlebens sei ruiniert, Magistrat und sein Gericht strebten nach Tyrannei; nicht anders könne daher die Parole von nun ab lauten als: Karl der Sanftmütige contra Schaffelhuber. „Lanzen heraus! Kinzelheimer, beißt zu! Euer Heiligstes steht auf dem Spiel!“ Beide Parteien gingen mit glühenden Backen herum; die Magistratler waren gedrückt, weil sie ohne Hilfe der Professoren keine Gegenproklamation verfassen konnten, und das Elaborat der Gelehrten stach ihnen, wo sie gingen, mit seinem satten Meeresblau in die Augen. Lysarius, obwohl nur Fremder, wenngleich Schwede, ließ seine vier Diener mit sonderbaren Hellebarden bewaffnen; sie lungerten in den Straßen und tauchten überall plötzlich auf, wo Menschen vor dem künstlerischen Maueranschlag standen und einer sich anheischig machte, er wolle das Blatt abreißen. Im Rathaus schwitzten die Magistratler ihre Giftigkeit aus; auf sonniger Straße unter jenem Pranger ratschlagten mit großem Pathos die Gelehrten; die wüste Laube war die Rednerbühne; und der Beschluß, den man unter Abnehmen der bekränzten Mützen und Aufheben der Hände faßte, lautete: man wirft alle Staatsgeschäfte dem verräterischen Magistrat vor die Füße; Diplomatie, Gericht, Unterricht, Gottesdienst werden den Kinzelheimern genommen, bis daß der Steinmetz Schaffelhuber auf dem Pranger angekettet schreit und die Gassenjungen mit Kieseln nach ihm werfen. Die Gelehrten aber werden jeden Stein zählen, den er nach Strunzelbach legt und ihn heimzahlen. Sie nehmen feierlich nunmehr vor aller Welt den Namen „Karolinger“ an; sie verlassen die Stadt und beziehen vor der Mauer ein Lager.

Und dies war der Zustand, in dem die reisenden Lobensteiner die Stadt Kinzelheim antrafen. Sie hatten schon vorher bemerkt, daß man sich einem besondern Stadtwesen näherte, denn weit und breit waren die Chausseen verlassen, Leichen gefallener Pferde verwesten auf den Straßen, die Äcker brach; eine drückende Stille in der ganzen Umgebung. Vorsichtig brach die herzogliche Avantgarde in das verzauberte wüste Gebiet ein; man mußte auf Strickleitern und Balken über haushohe Steine klimmen. Wenn eine Kompagnie sich an eine gefährliche Partie machte, stellten zwei, drei Mann die Nachhut, schossen: piff paff ihre Gewehre in die Luft ab, recht oft hintereinander, um den Anschein einer großen Armee zu erwecken, auch die Wandernden schossen, sobald sie die Hände frei bekamen. So gelangten sie nach drei mühseligen Tagen und Verbrauch vieler Munition an einen weiten Platz, dessen letzte Barrikade sie unter Geknatter überwanden, als sich ihnen unvermutet und erschreckend der Anblick eines mächtigen wimpelgezierten Lagers bot; Zelte waren aufgeschlagen, Feuer brannten, Tiere wurden getrieben, Menschen in unbekannten Uniformen mit wilden Feldzeichen wimmelten in den Gängen; lautes Geschrei und Brodeln von Stimmen schwoll. Stoffel, benachrichtigt, stieg aus seinem Wagen, schwang sich auf seinen Hengst. Da er von dem langen Sitzen im Wagen mutig geworden war, wollte er erst das Zeichen zum Angriff geben, zumal ihm sein Kammerdiener einen samtumwickelten Feldherrnstab in die Hand drückte, mit dem sich große und mächtige Bewegungen machen ließen. Im letzten Augenblick besann sich der Held aber auf die Regeln der Strategie, schickte eine Umzinglungsmannschaft von achtzig Soldaten ab; einem Leutnant, der eine gute Figur hatte, zeigte er dann den graden Weg über den morgenlich beschienenen Plan ins Lager der Widersacher, ließ ihm eine weiße Fahne geben und die Augen mit einem Taschentuch verbinden; denn Stoffel hatte gehört, daß ein Parlamentär nur mit verbundenen Augen sich dem feindlichen Gebiet nähern dürfe. Der Marsch des blinden Leutnants begann. Alle Lobensteiner mit Sack und Pack machten halt, Allein über den großen Sand tappte der Parlamentär. Oft stürzte er, manchmal, wenn er hochkroch, verfehlte er die Richtung und kam mit vorgestreckten Armen auf die Lobensteiner zurück, aber orientierte sich immer wieder an dem Brüllen der Kühe im Lager. Denn nach den Stimmen der Menschen hätte er sich nicht richten können; wenn auch zuerst eine rege Bewegung von den Feinden herlärmte. Bald ließ alles nach; diesseits und jenseits standen die Scharen stumm, auf einander gemauert, und beobachteten atemlos und staunend, was der Leutnant mit den verbundenen Augen und der weißen Fahne machte und ob er sich wohl zurecht finden würde. Die Karolinger hatten sofort erfaßt, daß er zu ihnen wollte als Parlamentär; Lysarius hielt es sogar nicht für ausgeschlossen, ja für wahrscheinlich und verkündete volltönig, daß man ein nordisches Heer vor sich habe, das ihm zu Hilfe eile. Sobald aber der Offizier in die Nähe eines Zeltes tappte, — Stoffel strahlte vor Vergnügen, die Lobensteiner jubelten, — die Fahne schwang und rief: „Wer da? Wer da?“ wichen die Karolinger vor ihm aus; keine Stimme antwortete; er stand allein vor einer Lagerstange, die er abtastete, hörte dicht neben sich die Kühe brüllen, ein Hund sprang an ihm hoch, beleckte seine Hand. Den Karolingern schien der Vorfall im letzten Augenblick zu wichtig; sie waren fortgeschlichen hinter die letzten Zelte und wollten beratschlagen. „Wer da, wer da?“ schrie der blinde einsame Offizier; ein ganzes Rudel Hunde bellte besessen um ihn. Als der Herzog von seinem Pferd aus diese Behandlung seines Abgesandten beobachtete, sah er darin eine schnöde Verletzung des Völkerrechts; er gebot Ruhe, schwenkte mit der Linken den Samtstab; die beiden Posaunen des Veronesen, die man rechtzeitig neben ihm aufgestellt hatte, bliesen und dröhnten mit warnender Gewalt über das Feld. Und während Stoffel den Degen mit der Rechten zog und an der Spitze von fünfzig Reitern dahingaloppierte auf die blendende breite Sandfläche tauchte auf der anderen Seite des Lagers plötzlich die Umzinglungsmannschaft vor den flüsternden Karolingern auf, warf sich in Schützenlinie hin und legte an. Nicht Lysarius war es, der in diesem gefährlichen Augenblick der höchsten Verwirrung, der Todesrufe das Unheil abwehrte, sondern ein älterer Gerichtsdiener. Diesem tat schon vorher der adrette Leutnant leid, wie er so oft hinstolperte, sich den sauberen Anzug beschmutzte und sich wehtat. Er war heimlich zu dem Offizier geschlichen, hatte ihm die Binde abgenommen, ihn unter vielen Beileids- und Koseworten abgeklopft; dann gebeten, an der Stange einen Augenblick zu verweilen. Er selbst lief nun mit der Fahne, die er hoch schwenkte, spornstreichs an die Beratungsstelle zurück. Wenngleich er die Fahne weniger schwenkte, um Friedensliebe zu zeigen, als um seine Freude an dem schönen echt lobensteinisch prunkhaft bestickten Instrument zu bekunden, so bewirkte er doch, daß man vorn und rückwärts halt machte, hüben aus dem Sande sich unmutig erhob und herüberlugte, drüben von den schäumenden Pferden absaß. Der Herzog selbst stolperte, die Hand am Zaum, neben seinem Schimmel her; er zog, von zwei Mann gefolgt, kaltblütig ins Lager. Der Parlamentär salutierte; in einer Lagergasse trat Lysarius an der Spitze von zwanzig alten Männern heran und rührte sich dann nicht vom Fleck. Rasch sprang der Parlamentärleutnant her, entwand dem verblüfften Gerichtsdiener die weiße Fahne; hin- und herwandernd zwischen den beiden starren Gruppen vollzog er Vorstellung und Annäherung. Bald stand Stoffel in einem leutseligen Gespräch mit Lysarius, der sich vergeblich als Souverän aufspielte, vom Herzog aber wegen seines langen Bartes nicht estimiert wurde.

Was die Lobensteiner, die nun in Scharen friedfertig und neugierig, anzogen, bei den Karolingern vorfanden, war so merkwürdig, wie sie nie erlebt hatten. Die Karolinger hatten sich mehr oder weniger fragmentarisch in geradezu vorweltliche Kostüme geworfen. Alles, wessen man in Kinzelheim habhaft werden konnte an Panzern, Arm- und Beinschienen, heldenhafter Maskengarderobe, legendären Perücken hatten sie an sich gerafft und trugen es am lichten Alltag. Da tänzelte mit einem Besen in der Hand eine junge Dame einher in grünem ungegürteten Kleid, blonde Haare bis auf die Hüften, von der Achsel an bloße Arme; sie fegte ein Zeltdach und war wie Thusnelda anzusehen, hätte sie nicht ein spitzbübisch kleines kokettes Mundwerk nach allen Richtungen hören lassen. Man mochte von Karl dem Sanftmütigen und seiner Zeit nur eine unklare Vorstellung haben, denn durcheinander hatten diese Historiker geschlitzte grellfarbige Pluderhosen an, Bärenfelle, die vielleicht sonst als Bettvorleger dienten, Lederriemen, Fuß- und Kniebinden, die aus der Südsee zu stammen schienen. Theatralisch stolzierten junge Herrchen in roten und braunen Togen; sie schnitten finstere, prähistorische Grimassen, ließen ihre gekräuselten oder aufgelockerten Haare von Zeit zu Zeit auf die Stirn und dann zurück in den Nacken fallen; sie lugten eifrig, ob ihnen einer mit Gefallen zusähe; keiner von ihnen hielt die rechte Hand anders als unter der Toga verborgen, den Dolch im Gewande. Friedlich spazierten neben der Römerin klobige Urgermanen, die ihre Stammesangehörigkeit durch mitgeschleppte Methörner mächtigen Volumens, Fellkleidung und rasselnde Armspangen kundtaten; die glatten Holzkeulen schwangen sie verbrüdert neben dem kurzen Schwert jener Gladiatoren; sie taten Wachdienst auf den Chausseen und vor den Stadttoren. Das Zeitalter Ludwig des Vierzehnten hatte seine Vertreter entsandt vor Kinzelheim; die Geistlichen gingen wie spanische Großinquisitoren in wallenden Federhüten, in engem schwarzem Talar mit Ordensketten. Nicht mehr brauchten die Pärchen sich nachts auf jenem verhängnisvollen Pranger treffen; sie legten die Gewande der klassischen Liebespaare an, als Hero und Leander begegneten sie sich und niemand konnte den Schlauköpfen mehr die Aufwallung klassischer und authentisch belegter Gefühle verwehren. In diesen heißen Tagen erstach sich zahllose Male die unselige Lukretia, Gemahlin des Königs Tarquinius Collatinus, nicht ohne vorher von einem der vielen Söhne des Tarquinius Superbus mit schmachvoller Gewalt umarmt zu sein. Den Lobensteinern wurde in der Umgebung schwül, mancher leckte sich die Lippen. Der Herzog aber bewies ungerührt materielle Gelüste. Er ließ zum allgemeinen Erstaunen seine beiden Kanonen auffahren zwischen Stadt und Lager, dann schickte er trotz der Vorhaltungen des Lysarius einige Männer in die Stadt, um in den Büchern nachzuforschen, ob eine Verwandtschaft zwischen ihm und irgend jemand, gleichviel auf welcher Seite, bestände. Er plante dann die andere Partei niederzuwerfen und einige Lobensteiner hier auf der Etappe anzusiedeln. Als sich nichts Verdächtiges ergab, der Herzog auch keinen sonderlichen Gefallen fand an der Stadt und der Umgebung, bestimmte er den Abzug.

Da zeigte sich bald, wie heimtückisch die Karolinger an ihm gehandelt hatten. Nämlich zwei tüchtige Lobensteiner Offiziere, darunter der Parlamentär, waren zu den Gelehrten übergetreten. Bei Gelegenheit der mehrfach geübten Ermordung einer gewissen klassischen Dame hatten die Opfer vor ihrem jeweiligen Tode die fremden Henker ausspioniert und die so erlangte Kenntnis schnurstracks bei ihren Vätern verbreitet; die Karolinger, noch wütend über das anmaßliche Auftreten des entschwundenen Stoffel, schickten alsdann Kundschafter weithin auf die Dörfer und Städte, warnten vor den nahenden Lobensteinern; die hätten wenig Geld, täten nur schießen und würgen und seien von einer ganz afrikanischen Wildheit. Sobald Stoffel hiervon Lunte bekam, trennte er sich zorngeschwollen von den Lobensteinern. Er kehrte mit achtzig Mann Bedeckung und einer Kanone um. Von nun an waren die Lobensteiner ohne ihren Herzog und vollendeten allein ihre Reise nach Padrutz.

Stoffel langte vor Kinzelheim in Kürze an, wagte aber nicht, die Gelehrten anzugreifen, weniger aus humanitären Rücksichten, als weil seine tüchtigen Offiziere schon eine ansehnliche Jungmannschaft ausgehoben und gedrillt hatten und mit bemerkenswerter Verve daran gingen, den Sturm auf die Stadt auszuführen. Er schlich sich nach Umgehung der Belagerer hinein zu der Partei der armen Sünder; so nannten sich die Magistratler, einmütig mit dem zum Pranger verurteilten Schaffelhuber. Drin in der Stadt stockte jede Rechtspflege, Verwaltung. Es ging drunter und drüber; keine Kindtaufen fanden statt, der Küster predigte am Sonntag, aber mit so bellender Stimme und großmäulig, daß die verwöhnten Kinzelheimer keine Freude dran hatten. Wie groß die Wut der Eingeschlossenen war, ließ sich auf Schritt und Tritt erkennen; so stellten sie Tag aus Tag ein einen verkommenen Trottel in den Mittagsstunden an den Pranger, angetan mit karolingischen Lumpen, zum Schmerz der zurückgebliebenen Verliebten, die ihr Geheimasyl entweiht sahen, sich überhaupt beeinträchtigt fanden gegenüber ihren glücklichen Genossen draußen, in jenem freien Paradies der Ebene. Stoffel tat drin so, als schlösse er sich den armen Sündern an. Er ließ auf die friedlichen alten Männer, die sich am Lagerrande ergingen, einen Ausfall machen. Unter höllischem Krakeel, wilden Sprüngen drangen die Lobensteiner Soldaten an; fünf schöne Mädchen von erlesener Grazie wurden erbeutet und die dazu gehörigen Väter; sie wurden gefesselt und vor den Rat geführt. Jetzt forderte Stoffel hochfahrend von den Karolingern seine Offiziere zurück. Sie antworteten mit lateinischen Zitaten, die niemand übersetzen konnte. Der Herzog, in eine außerordentliche Situation getrieben, angestaunt von den Kinzelheimern, sann, wie er sich rächen und auch wahrhaft Größe bezeigen solle. Erst dachte er die Gefangenen gebunden an die Erde werfen zu lassen und auf der Mauer hinter seinem Wagen her zu schleifen; aber das würde nicht ohne Blutvergießen abgehen. So spannte er die fünf erbeuteten Greise vor eine große Egge außerhalb der Mauer; zehn Knechte mußten zur Seite gehen, mit geknoteten Peitschen die Männer antreiben. Er selbst unter dem Schutz einer trommelnden Kompagnie saß auf einem breiten Rollwagen, angeschirrt an die Egge, und ließ sich oben von den fünf liebreizenden Karolingerinnen bedienen, die in Armesündertracht, dem Seil um den Hals, Schenkendienste tun mußten angesichts ihrer Brüder und Geliebten in dem Lager. Sehnsüchtig blickten die armen Mädchen herüber; drüben war es still; nichts ließ sich erblicken von rettenden Gladiatorenschwertern und von Keulen. Was mußten die Karolinger drüben erdulden! Da senkte sich plötzlich die Egge an einem Rain, in dem aufgeweichten Boden überschlug sie sich; die Greise stürzten hin, getroffen von dem Eisen kamen sie jämmerlich zu Schaden. Ihr Wehegeschrei tönte über das Feld. Die Sünderinnen auf den Wagen kreischten, sie warfen die Gläser hin, faßten sich bei den Händen; es wurde an der Lagergrenze regsam. Der Herzog, vertieft und verblüfft, übersah nicht rasch die Situation, obwohl gewarnt von einem Soldaten. Während ungehindert vier der Mädchen vom Wagen herunter ihren Vätern zu Hilfe liefen, schlang sich eine das Seil ab und warf es mit einem Ruck um Stoffel. Schlagend und wälzend stürzten der Herzog und das Mädchen von der Plattform; der Strick lag fest um seinen Arm; er konnte sich in der aufgelockerten Erde schwer erheben. Die Person verlor bei dem Fall das Bewußtsein. Er selbst beschmutzt, mit blutender Nase wurde wie ein Kind von seinen Soldaten gerafft und noch rechtzeitig in die Stadt getragen, bevor die feindliche Mannschaft, die aus dem Lager herjohlte, sie erreichte. Die Egge, sämtliche Gefangenen, dazu einige der begleitenden Knechte und Trommeln fielen in die Hände der Karolinger. Der Herzog war tagelang gänzlich außerstande zu sprechen; er saß meist mit rotem Gesicht in seinem Zimmer und bearbeitete Teppiche und Wände mit dem Degen. Dann zog er seine Mannschaft zusammen. Ohne der Stadt einen Gruß zu entbieten, verließ er Kinzelheim heimlich bei Nacht. Er kehrte in Eilmärschen zurück. Vor Scham konnte er in Lobenstein zuerst seine Minister nicht empfangen; sehr langsam stellte sich seine Ruhe wieder ein. Der Kriegsminister mußte ihm wöchentlich Angriffspläne auf Kinzelheim vorlegen, später ließ er alles fallen, erzählte vor Paraden von einer ganz unmilitärischen Bevölkerung in Bayern, die er wie Hammel hätte zu Paaren treiben können, aber er hatte ja Besseres zu tun: „Eine Sandwüste, was soll man in einer Sandwüste? Und außerdem Kinzelheim, haben Sie schon von Kinzelheim gehört?“ Und alles krähte mit ihm vor Vergnügen; er klatschte seinen Reitstiefel mit der Peitsche. Bald gehörte es auch zu den beliebten Gepflogenheiten der herzoglichen Regierungskunst, daß er gegen mißfällige Personen auf dem Ausweisungsdekret bemerkte: „Gehört nach Kaledonien oder Kinzelheim.“ Ein Jahr drauf bekam er einen abschließenden authentischen Bericht von der sonderbaren Gemeinsame. In der Stadt und außerhalb der Stadt war bald Hungersnot ausgebrochen; die neidischen verliebten Leute innerhalb der Mauern benahmen sich rebellisch und wollten zu den Karolingern gehen. Die alten Männer draußen entbehrten der Pflege; sie sahen auch, wie ihre Angehörigen in der Freiheit verwilderten, in die vorweltlichen Kostüme hineinwuchsen; dazu war niemand da, den die grauen Knasterbärte ihre bösartige Überlegenheit kosten lassen konnten; so fielen sie sich untereinander an und kamen aus dem Keifen nicht heraus. Schließlich verschwand Lysarius. Seine vier Diener erzählten, daß er gar kein Schwede, sondern ein vielgewandter Barbiergehilfe aus der Niederlausitz sei; mit der steinkranken Frau des Ratsherrn hätte er eine Liebschaft gehabt; zu den Karolingern habe er sich nur geschlagen, weil die nach seiner Äußerung so dumm wären, daß sie ihm nie auf die Schliche kommen würden. Darum habe er auch die ganze Aktion so betrieben. Man jagte die Diener mit Schimpf aus dem Lager. Griesgrämig hockte man in den albernen Kostümen herum, fror, sah sich gegängelt von einem Schwindler. Als die Vermittlungsverhandlungen schon in die Wege geleitet waren, erschienen Ratsherren von Augsburg und erklärten eine Einigung herbeiführen zu wollen. In den Karolingern flammte der alte Stolz auf, sie lehnten jede Einmischung ab. Aber es war zu spät. Die armen Sünder, die Praktiker in den Mauern, hielten eine feste Hand über sich für besser als einen gelehrten Mund. Sie luden Augsburg zu einer Besprechung ein. Soldaten machten die Wege frei, massenhaft blökendes Vieh wurde angetrieben unter das verhungerte Volk. Das Augsburger Wappen, das Säulenkapitäl mit dem Oleanderbaum, hing bald an dem Rathaus Kinzelheims.

Inzwischen bekamen die wandernden Lobensteiner alle Wechsel des Glücks zu kosten. Ihre Fahnen stahl man ihnen von den Wagen, vielleicht wurden sie auch von Marketenderinnen und Mitläufern verkauft. Sie trauten sich vor Angst, als man entdeckt hatte, was für dumme unter ihnen waren, nicht in die Städte hinein, die sie einluden. Da die Witterung schlechter wurde, froren sie viel, verloren den Mut. Zerrissen und geschunden traten sie in das neue Staatsgebiet ein, das von seinen Bewohnern fluchtartig verlassen war. Die Padrutzer waren fortgelaufen, weil der schlaue Bischof von Prag im Einvernehmen mit der Philine entsetzliche Nachrichten über die nahende Heeresmacht der Lobensteiner verbreitet hatte bei ihnen. Und während sich die übrige Welt amüsierte über die Lächerlichkeit des wandernden Lobensteiner Volks, stürzten die Padrutzer Hals über Kopf von ihren alten Wohnsitzen, aus ihren warmen Betten, sobald das Knarren des vordersten Wagens sich auf der Chaussee vernehmen ließ, fluteten beglückt über das leere Prager Gelände, das der Bischof ihnen reserviert hatte. Er wollte mit den Padrutzern nichts Besonderes anfangen, nur warten wollte er geduldig, was aus den Lobensteinern werden würde. Philine kehrte mit ihrem Gemahl und einem kleinen dicken Mädchen manchmal bei den Vertriebenen ein, lächelte viel herum und gluckste wie eine Henne im Stall. Dann tat sie so scharmant mit einem Schultheiß, daß die Padrutzer trotz allen Respekts vor Lachen tobten und sie heimtückisch einluden zu öfterem Besuch, der ihnen einen ganz neuartigen Spaß bereitete. Philine war hochbeglückt in dem frohen Kreise ihrer Landeskinder.

Die ersten menschlichen Wesen, welche den Lobensteinern an der Grenze von Padrutz begegneten, waren jene Bettler, Zigeuner, Schauspieler und das ganze durchtriebene Volk, das sie am Rhein verlassen hatte. Unter den Girlanden und Ehrenbögen, welche die Gauner ihnen errichtet hatten, zogen sie in die neue Welt ein. Es war genug Platz drin für sie; Häuser, Stallungen, Schulen, Kirchen, hier und da blökte ein vergessener Hammel, schlüpften Kücken zwischen den Latten hindurch. Sonst war nur das Rauschen der schönen vollen Obstbäume, der alten Kastanien und das Summen einiger Bienenvölker zu hören auf dem weiten verlassenen Gebiet. Die Lobensteiner gingen wie Rentiers herum, die Pfeife schief im Mund und besahen ein jedes. Alles lag und stand, als wäre es einem plötzlich Verschiedenen aus der Hand geglitten.

Rasch sprangen die Behörden ein mit Listen und Registern, in einem Tage vollzog sich die Aufteilung des ganzen Geländes. Keine Mißhelligkeit, die Lobensteiner waren gewohnt zu gehorchen. Während man noch mit dem Verstauen des Gepäcks, der Unterbringung des mitgetriebenen Viehs beschäftigt war, langte der erste Stoß der Verfügungen an. Die Kuriere waren rascher auf den Beinen als der anfängliche Troß. Und als wichtigste Verfügung wurde unter Trommelwirbel der ganzen Gemeinde verkündet, daß jede Verbindung und Vermischung mit der neuen Umgebung verboten werde, ein für allemal und in Ewigkeit, jede Hinzuziehung fremder Arbeiter sei untersagt, die Lobensteiner sollten sich und ihre Art rein erhalten; sollten etwa Lobensteiner mit Ausländern Kinder haben, so würden die nicht höher geachtet werden vor dem Gesetz als Mulatten und Mongolen. Als das notwendigste wurde ihnen bei der Verfügung daher die Grenzsicherung bezeichnet; die Regierung befahl an, Stachelzäune, Mauern und Fallgraben allenthalben an den Grenzen vorzusehen, Gruben mit stinkenden oder gefärbten Flüssigkeiten anzufüllen, damit Eindringlingen ein für allemal der Appetit verginge. Der nächste Kurierposten würde einen Transport von blaugrünen Schildern heranschaffen, welche überall an den zuführenden Straßen anzubringen seien: „Warnung! Todesgetahr! Lobensteiner Edikt 1829.“

Von den mitreisenden Beamten wurde nach dem erprobten alten System regiert. Als nun einige Bauern daran gingen, ihre Ställe aufzubessern, fehlte es an Mörtel. So hieß es in dem Lobensteiner Manuale für Verwaltungstechniker: man holt sich Mörtel aus Krummbach an der Lahn. Einer las es den Bauern vor aus dem Buch; so antwortete ein Bauer: „Dann gehn wir eben rüber nach Krummbach. Ja, gehen wir nach Krummbach; den Mörtel braucht man eben.“ Der Registrator aber zupfte sich die Nasenspitze, meinte mürrisch, es sei recht weit und der Mörtel würde trocken bis da; er würde einmal in einem andern Buche nachsehen; er hätte noch ein älteres. In dem stand aber nur, wie man die Balken zusammenschlägt, daß sie fest zusammensitzen und das Haus nicht bei Sturm aus den Fugen geht. So sei es geschehen bei Quantberg 1408 im November. Die Bauern meinten, es ginge auch so, aber mit Mörtel ginge es noch besser, sie wollten doch lieber nach Krummbach. Da zupfte sich der dürre Mensch noch heftiger die blasse Nasenspitze, murmelte entrüstet etwas von Ungeschicklichkeit, unmodernem Wesen, sie könnten sich nicht in die Verhältnisse fügen, und er würde die nächsten Kuriere beauftragen, von Krummbach einige Lasten Mörtel heranzuschaffen. Die Stellbauer nickten friedlich und sagten: „Schönen Dank.“ Bald kamen einige daher, zogen die Mütze und sagten, ihre Pferde müßten neu beschlagen werden. Der Registrator hüpfte auf seinen Schemel, tauchte in die Aktenmappe und verschrieb aus Lobenstein einen Hufschmied.

Als bei den Pferdebesitzern nach ein paar Wochen noch kein Hufschmied vorgesprochen hatte, stellten sie sich selbst an den Amboß, um das Eisen zu schlagen. Sie verbrannten sich die Hände, tobten und wimmerten, ohne etwas zustande zu bringen, bis das Schmieden verboten wurde.

Da erschien eines Tages ein Zug von mehreren Männern auf der Landstraße. Den Lobensteinern war verboten, Fremde einzulassen, aber die Neugierde war bei allen Ständen groß, und so hatten die Behörden gestattet, daß unter strenger Aufsicht Reisende durch das Land geleitet und nach Neuigkeiten ausgeforscht werden dürften. Das besorgte eine bewaffnete Wegekommission. Diese saß eines Tages vor dem Tore von Padrutz und blies Posaunen auf dem Wall, wie sie es gewöhnt war, um Reisenden den Weg zu zeigen. Da kamen sechs Handwerker zwischen den Bäumen daher, hörten erst neugierig zu, flogen dann auf die tönende Musik wie Motten aufs Licht. Sie rannten rasch wieder in das stille Land, als sie die drei mit Gewehr und Helm wie Gendarme sitzen sahen. Die ließen sich nicht beirren, bliesen vollmundig weiter. Jene sechs studierten aus dem Gebüsch die eigentümlich ernsten, enttäuschten Mienen der Posaunisten. Es schien ihnen sogar, als ob bald der, bald jener verstohlen nach ihnen mit der Hand winkte, freilich konnte es auch eine versehentliche Bewegung sein. Ein Handwerker nach dem andern schlüpfte nach einer Weile aus dem Busch, auch wie versehentlich, gähnte verschlafen, blinzelte gegen die Sonne, schlenderte ein paar Schritte des Weges heran; sie unterhielten sich dann, zu einer Gruppe zusammentretend, erstaunt über die Musik, ließen sie andächtig über sich ergehen und nickten gelegentlich träumerisch mit den Köpfen. Schließlich faßten sie sich unter, trollten erquickt an das Tor und begrüßten die drei Musikanten. Sie fragten nebenbei, ob sie nicht irgendwo Unterricht im Posaunenblasen nehmen könnten; diese Musik hätte es ihnen allen zumal angetan. Als man sich die blitzenden Instrumente besehen hatte, baten die sechs um eine Unterkunft für die Nacht; was die Wegekommission nach abseitiger Diskussion huldvoll gewährte. Die schlauen Käuze nahmen im Dorfe Quartier. Sogleich fiel ihnen auf, wie freudig man sie ansah, freilich auch, wie wenig eigentlich die allgemeine Verwahrlosung in Einklang stand mit der herrschenden Festesstimmung. Die Hausfrau erklärte, es fehle noch am Notwendigsten am Orte, man hätte noch keine Instruktionen über die Zahl der erlaubten Butterfässer usw.; es schwatzte nämlich jeder Lobensteiner, sobald er in die Schule kam, von Instruktionen und gebrauchte gegen ahnungslose Menschen unversehens den Kurialstil. Die Handwerker hielten die Augen offen, durchschauten die Situation, und bevor sie am nächsten Morgen abgeschoben wurden, baten sie, man möchte sie zum Hauptregistrator führen; sie wüßten allerhand Lebenswichtiges. Dem Oberregistrator erklärten sie in einem scheunenartigen Gebäude: die letzten Kuriere seien, bei Kinzelheim, wo ein Lobensteiner sein Gewehr verloren hatte, überfallen und ihrer Papiere beraubt worden; neue Kuriere kämen erst in sechs Wochen; denn inzwischen fiele Fronleichnam, und der bestellte Hufschmied könne auch nicht früher kommen, weil seine Schwägerin entbunden habe, einen reizenden dicken Knaben, Paul heiße er, geradeso wie sein Vater; aber kommen täte sein Onkel nicht vor der Taufe. Der Registrator fand das sehr begreiflich, er dankte ihnen für den Bescheid, und wenn sie den Vater Paul wieder träfen, sollten sie ihn schön grüßen, und ihm Glück und der jungen Frau ein gesundes Wochenbett wünschen. Die Boten verneigten sich, wedelten mit der Mütze, berichteten weiter: Der Hufschmied Paul habe sie beauftragt, ihn so lange zu vertreten, rein privatim, für eilige Fälle, und den Neupadrutzern vorläufig allerlei Handgriffe des Schmiedens zu zeigen. Wofern dies angenommen würde, wären sie bereit, stellten sich zur Verfügung usw. Man war des sehr zufrieden. Die Handwerker waren zwar jung, aber von guten Manieren und erweckten Vertrauen. Dazu drängte die Schmiedearbeit aufs äußerste; die Pferde hinkten im ganzen Lande; vor die Pflüge spannten couragierte Frauen ihre Männer und sonstiges Gesinde; zu schwere Lasten blieben liegen und das Land schien übersät von Abfall. Man räumte den Handwerkern ein schönes kleines Haus ein mitten im Dorf, setzte ihnen eine Wirtschaftsfrau hinzu und hieß die Frau, die Fremden ordentlich herauszufüttern, damit sie zu ihrer Arbeit gut im Stand wären. Die Schelme ließen sich das gefallen. Sie erklärten, fünf, sechs Tage zu brauchen zu den Vorbereitungen für die große Schau. Nachdem sie schön rund gemästet waren, ließen sie vernehmen, sie wären jetzt so weit. Und am achten Tage stellten sie sich auf dem Markt ein, mit einer Fahne, die noch weit über Lobensteiner Art war. Grün schillerte das Tuch; in einem roten Feld drin sprangen sechs muntere Füllen und rupften das Gras; von allen vier Ecken her schwammen veilchenfarbene Fische, es mochten Karpfen sein oder Hechte; sie sperrten die Mäuler und schienen in das rote Feld hinein zu wollen. Sogar die Fahnenstange war nicht ohne Pracht; sie hatte einen goldenen Anstrich; in der Mitte der Stange stand auf einem kleinen Vorsprung, wie auf einem Altar, ein ganz weißer Mann, ohne Hut, mit einem riesigen Zwickelbart; seine Augen waren geschlossen; er hatte eine richtige Klingel in der Hand; es mochte sein, daß er im Schnee ging und daher geblendet war. Das Bild machte auf die Lobensteiner einen besonderen Eindruck. Sie trauten sich nicht zu fragen, was es bedeute, um nicht lächerlich zu erscheinen vor den Fremden, aber sie gingen immer auf und zu, besahen den stolzen Fahnenträger und sein Kunstwerk; wenn er sich bewegte, klingelte oben leise das Männchen mit der Glocke, und alle sechs Handwerker machten dann ein ernstes, ja schwermütiges Gesicht. So viel war allen Lobensteinern klar, daß die Sache etwas auf sich hatte. Man fand sich in großen Haufen und wartete auf den Verlauf der Dinge. In der Mitte des Marktes war ein Amboß mit allem Zubehör gerichtet. Plötzlich ertönte zu aller Schreck ein Schuß; aus dem Fenster eines Hauses am Markte scholl Geschrei; eine Frau erschien mit aufgelöstem Haar, einen Rahmen in der Hand, brüllte hinaus, der Spiegel sei entzwei, die Waschschüssel sei entzwei, ganz entzwei: „Mord, Mord, man schießt!“ Ungerührt lud einer der Handwerker noch einmal und schoß nach einer andern Seite, während die fünf übrigen ihn deckten und drohend die Fahne rauschen, das Männlein klingeln ließen. Die Leute vor ihnen stoben auseinander; ein paar Beherzte fuhren hinterrücks auf sie zu, was das zu bedeuten habe. Höhnend erwiderten sie, das sei bei ihnen so Brauch. Da kam aus dem angeschossenen Haus schon die Frau mit ihrem Rahmen gerannt, das Gesicht puterrot, ihre Röcke flatterten, sie schwang einen Regenschirm, zwei andere Frauen und ein Mann mit Feuerzange und Besen flitzten hinterdrein. Die Handwerker zückten die Fahne auf sie wie einen Spieß, schrieen: „Wehe, wehe über Lobenstein; es wird vergehen wie der große Napoleon!“ Und damit nahmen sie ihre Beine in die Hand und rannten davon. Sie konnten aber nicht so schnell laufen wegen ihrer ungewohnten Leibesfülle, schnauften in ein grade offnes Haus, dessen Besitzer nicht anwesend war, und verbarrikadierten sich. Da saßen die Schelme nun fest. Sie waren die Tage vorher in Verzweiflung gewesen, wußten nicht, wie heraus aus der Klemme, da sie Schneider und Schuster waren, aber keiner Schmied. Das Essen schmeckte immer besser, und in ihrer Verlegenheit fingen sie an, sich die Fahne zu sticken und zusammenzuflicken; sie hofften todesmutig auf irgendeinen rettenden Zwischenfall. Die Beine schlotterten ihnen, als sie auf den Markt zogen, das Gewehr hatten sie noch zu guter Letzt in der Dachkammer des Hauses aufgestöbert und mitgenommen. Jetzt schoß der eine in einer Art ängstlicher Berauschtheit, in einem unsicheren Gefühl, daß hier etwas geschehen müsse, bevor der Registrator eintraf; der Amboß erschien allen wie ein Richtblock; er schoß in Todesfurcht und hätte, wenn es sein müßte, die ganze Stadt und seine Kameraden erschossen. Die Lobensteiner rissen aus, und die Gesellen, Hals über Kopf, brüllend flohen hinterher.

Ab und auf wogte die Menge vor dem Kastell; bisweilen steckte ein Schelm den Kopf zum Fenster hinaus und schrie etwas Befehlendes in einer fremden Sprache. Gegen Mittag erschien der uniformierte Oberregistrator vor dem Haus. Sie riefen ihm zu, es liege ein Bruch des Völkerrechts vor; man hätte sie verjagt, mit Besen und Feuerzangen bedroht. „Wehe, wehe.“ Warum hätten sie geschossen? — Geschossen? Das seien Salutschüsse gewesen, wie sie in ganz Böhmen, Mähren, Istrien, Venetien bis zur Lombardei herunter täglich bei freudvollen Ereignissen losgingen; und wenn schon ein Spiegel dabei zerbräche, was mache das aus! Ein Spiegel! Wehe, wehe! Sie würden ihn bezahlen. — Dem Registrator wurde fade zumut bei diesen Reden; das Völkerrecht gebrochen zu haben, war für einen Lobensteiner kein kleiner Vorwurf; er hatte dazu das Bewußtsein, überhaupt ein Unrecht begangen zu haben mit der Zulassung dieser Fremden. Er gab innerlich klein bei und parlamentierte herum. Da öffnete sich unversehens oben eine Dachluke, auf einer Leiter stieg geheimnisvoll heraus an die Luft ein weiß bemalter Mann, anzusehen wie jenes Schneemännchen, klingelte laut, eine Stille trat ein und sprach einen furchtbaren Fluch über Lobenstein aus. Dann sank er wie ein Geist nieder. Es war ein entsetzlicher Moment; die Bauern standen da wie Steine. In dem anhaltenden Schweigen pochte der Beamte an die Tür, versprach Genugtuung. Aber lange dauerte es, bis sich drin etwas rührte. Die Türe öffnete sich. Stumm zogen die verstörten sechs Handwerker heraus, reichten feierlich dem Regierungsvertreter die Hand. Ihr Schutzgeist, das Männlein im Schnee, hätte sie verlassen; das hätte sie bekümmert; es sei einen Moment von ihnen gegangen, eben im Häuschen, von der Stange sei es heruntergeschritten die Treppen hinauf; sie seien froh, jetzt stünde es wieder ganz klein auf seinem Eckchen. Ein paar Lobensteiner Frauen ächzten: „Des hat ja auf dem Dach gestanden; geklingelt hat es.“ Schwermütig winkten die Gauner, scharten sich um die Fahne und blickten zu dem Klingelgeist herauf. In der gesammelten Stimmung begegnete man nun einander mit Ruhe. Der Beamte lud die sechs Fremden in sein Haus zum Mittagsmahle ein. Vorerst übten die Gesellen an ihrer Fahnenstange eine umständliche Art Neuweihe vor dem Haus unter einer Laube, umzogen die Stange, murmelten allerlei, besprengten sich und das ragende Holz, verhüllten zum Schluß das umfangreiche Möbel in ein bereitgehaltenes blaues Tuch. Nunmehr nahmen sie auch den Fluch von Lobenstein zurück und begaben sich an die Mahlzeit. Dann wie es Zeit war, hieß es Abschied nehmen. Sie waren zu erschüttert, um noch zu guter Letzt, wie sie vorhatten, den Stallbauern ein paar Schmiedehandgriffe beizubringen im Auftrag ihres verhinderten Freundes; sie baten um den gern gewährten Dispens. Von der Wegekommission unter Posaunenstößen an die Grenze geleitet, sagten sie allen Hinterbliebenen ihren Dank, sprachen auch den ausdrücklichen Wunsch aus, daß jener spiegellosen Witwe von Staatswegen Ersatz geschaffen würde. Sie selbst nahmen neben vielen sonstigen Grüßen eine Empfehlung an den König von Böhmen mit, dem sie dienten. Es wurde von ihnen dem Anführer der Wegekommission eine Art Schärpe überreicht, mit welcher der Älteste der Gesellen selbst paradiert hatte; unter Segenswünschen und beiderseitiger Erleichterung ging es dann den Wall hinunter in das heimatliche stille Land hinein.

Keineswegs war mit dem Abzug der sechs Schelme die Angelegenheit erledigt. Der Anführer der Wegekommission bemerkte schon bald, nachdem er die Schärpe angelegt hatte, einen eigentümlichen Geruch an sich. Er schämte sich, gab das Blasen auf und schwand nach Hause. Während er in Anbetracht seiner Auszeichnung würdevoll spazierte, merkte er doch, daß er hinterwärts tropfte und daß die Schärpe auch seitlich etwas sickern ließ. In seiner Kammer vor der Welt verborgen, stellte er fest, daß das bunte Tuch mit saftigen Kuhfladen gefüllt war. Er hätte drüber geschwiegen, nur seine Frau, die ihn im Verpacken der ungewohnten Massen antraf, meldete den Betrug dem Amtmann, und heimlich vor dem Volk wurden im Schoß der Padrutzer Regierung Nachforschungen, Verhöre und Beratungen angestellt.

Die Einwohner blieben ruhig. Man diskutierte öfter, ob der Fluch des Schneemännchens seine Geltung habe oder nicht. Die mit der Sache nicht Vertrauten berichteten ihren Bekannten, es seien Vertreter einer großen, fischfangenden Nation dagewesen, aber abgewiesen worden, die Lobensteiner gäben sich nicht für fremde Affären her. Während die Regierung noch beriet, ob die sechs Gesellen Musikbeflissene oder Spione einer der umliegenden Großmächte wären, verfiel das Volk in einen kläglichen Zustand. Das Geld, das die Leutchen wenig brauchen konnten, nahmen ihnen die Zigeuner und Gaukler weg. Viele Padrutzer kamen aus der einmal überkommenen Feiertagsstimmung nicht heraus; sie blieben bei ihren Großmannsmanieren, der Spaziergängerei und dem Wirtshaussitzen. Sie waren die Auserwählten und bewiesen es in mannigfachen Wettläufen zu jeder Unzeit; es ließe sich nicht dran rütteln, wie tüchtig sie wären, und sie lauerten nur auf den Moment, wo sich junge Burschen der Nachbarschaft hereinverirrten nach Padrutz, um sie einzuladen und mit Trompeten unterliegen zu lassen. Mit dem Hereinverirren war es freilich solche Sache; die Stachelzäune um Padrutz waren hoch, viele Fuchsfallen hatte man gestellt und schon waren an dreihundert Mann damit beschäftigt, die Gräben und schlau versteckten Tümpel anzulegen, in die sich Eindringlinge stürzen sollten; es stank im Umkreis nach dem Unrat, den man hier anhäufte. Reich waren die Seen und Bäche des neuen Gebietes an Fischen, starke Karpfen sah man sich tummeln, räuberische Hechte und sonstiges Schuppengetier; man griff sie heimlich mit den Händen; aber Netze besaß man nicht; es war außerdem noch nicht heraus und stand nicht fest, ob die Behörden den Übergang von Fleisch- zur Fischnahrung billigten. Schon stach der Hunger und man verschlang, was in die Hände fiel. Da liefen traurige Räsonneure herum, die geradezu behaupteten, sie könnten die Fäuste nicht dauernd, bis alle Materialien und Erlasse kämen, in die Tasche stecken, und die Glieder würden ihnen klamm vom vielen Herumhocken. Schöne Weinberge gab es in Padrutz; scharf fuhr die Polizei dazwischen, wenn sich solch Räsonneur an den Reben zu schaffen machte; er solle gehen, wo er hingehöre; welschländische Sitten hier einzuführen solle niemand sich unterstehen; man bliebe Lobensteiner unter jedem Himmel. So trockneten die Weinberge; aber auch die Äcker wurden schlecht bestellt und brachten wenig, herein durfte nichts, die Amtmänner, Kommissare fingen an, selber unruhig zu werden. Es starben Leute weg, weil sie schlecht ernährt wurden; die Kinder sahen blaß aus und quarrten. Die Kommissare faßten Mut, schickten Boten in die nahen Ortschaften, ließen Brot und frisches Vieh aufkaufen. Nachts saßen sie in Gebüschen bei den duftenden Tümpeln mit den Juden, die hier ehemals gehaust hatten, und handelten. Bei Tag taten sie streng, sahen übernächtig aus und benahmen sich zum Schein, als ob sie nicht übel getafelt hätten. Erlasse und Verbote liefen weiter ein; es besserte sich manches, aber das meiste ließ sich nicht ändern. Die Lobensteiner waren nur an Lobensteiner Verhältnisse gewöhnt, dazu an das Drängen und Schieben von oben; hier wußte sich niemand aus; sie trösteten sich, sie stöhnten: „Unsere Kinder werden es besser haben.“

Von der Unbehilflichkeit der Leute sind zahllose Geschichten im Schwange. Sie alle zu erzählen ist ein einzelner gar nicht fähig. Worauf die Leute verfielen, zeigt sinnfällig die Geschichte von der Kuh. Eine Mutter hatte ein kleines Kind, das sie mit Milch füttern mußte. Weil sie nun viel ausging und ihr Mann zu den eingebildeten Springern und Flaneuren gehörte, so legte sie das Kindchen oft im Stall in eine Ecke, damit sie es gleich zur Hand hätte, wenn sie die Kuh melkte. Bald schien ihr auch das zu viel; sie flocht sich ein Körbchen und band es der Kuh auf den Rücken; oben lag in einem Bettchen das Kind und sie brauchte sich nicht zu bücken. Damit nun die Kuh niemanden heranlasse und das Kind ihr nicht gestohlen werde, vergaß sie nicht, dem Vieh einen großen Stein an den Schwanz zu knüpfen, damit es Angreifern eins vor die Brust versetzte. Es hätte natürlich nicht viel gefehlt, daß statt dessen das unvernünftige Tier das Kindchen in seiner Unruhe schlug. Wie die Mutter am Morgen das Tier wild mit dem Schwanz fechten sah, — sie hatte sich schon Bänderchen um den Kopf und eine rote Schärpe umgehängt, weil heute ein noch unbekannter Heiliger durch eine Prozession verehrt werden sollte, — traute sie sich nicht an die Kuh heran, denn das schlagende bewaffnete Wesen schien es nun auch direkt auf sie abgesehen zu haben. Das Kind schrie nach seiner Milch und in ihrer Not und Einfalt holte sie sich einen kleinen dünnen Schlauch, stieg, von dem grimmigen Rindsvieh entfernt, auf eine Leiter, rutschte auf einem Dachsparren entlang, bis sie über dem Kindchen saß mit ihrer Spritze und ließ die Milch dem Kind von oben in den Mund fließen, sachte und unter vorsichtigem Zielen. Es versteht sich, daß das Geschöpf sich oft verschluckte und völlig begossen wurde; daß auch die Kuh hin- und hertrabte und nach den Beinen der schwebenden Mutter schnappte. Bei dieser Prozedur kam eine andere Frau an, blieb im Stalleingang stehen und schrie, die Mutter solle der Kuh ordentlich eins mit dem Schuh auf die Nüstern geben. Die Mutter tat es, und diesen Augenblick der Verblüffung des Viehs benützte jene Frau, um hinterrücks anzuspringen, den Schwanz zu packen und den gefährlichen Stein abzuschirren. Froh kletterte die Mutter abwärts, lief, um mit der Hand noch einmal die Schwere des Steines zu prüfen. Die Nachbarin aber hielt sie mit schlauer Miene bei der schönen Schürze fest, steckte den Finger in den Mund, und nun setzten die ungezogenen Weiber folgendes ins Werk: sie drehten sachte das Körbchen, aus dem sie das Geschöpfchen herausgehoben hatten, abwärts, ließen es an dem Strick, der um die Kuh reichte, heruntergleiten um die Bauchwölbung des Tieres, bis es unten hing. Da hinein versenkten sie den Säugling, nahe dem Euter und der frischen Milch. Sie schlüpften zurück und bewunderten von der Stalltür entzückt ihre Arbeit, und wie gut das Würmchen aufgehoben war an der warmen Quelle. Es wäre wohl alles so verblieben, hätten nicht die Kuh selbst und zwei daneben stehende Ochsen der Sache ein Ende gemacht. Das Kindchen noch naß, ließ sein Stimmchen aus dem wogenden Versteck erschallen; die Kuh, wahrscheinlich in der Meinung, daß sie Bauchrednerin geworden sei, stand stumm und unbeweglich, glotzte entgeistert und horchte. Die beiden Ochsen stellten sich herzu, senkten die Köpfe und schwankten zwischen Ehrfurcht und Mitgefühl, äußerten sich in einem ungeheuren Brüllen, fragend, antwortend, tröstend. Auf das unglaubliche Getöse lugten einige Männer herein. Diese klärten die Situation allseitig. Sie holten das Kind; dann nahmen sie ihre Hosengürtel und schlugen damit den Weibern ums Maul; vielfach holten sie aus; die eine verlor dabei ihre Bänder, die andere verwünschte ihre Schlauheit. Kuh und Ochsen fanden sich erleichtert.

Es wohnte da auch in einem dunklen Hause ein älterer Barbier. Der hatte von seinem Vater ein großes Ofenrohr geerbt, welches unten zugelötet war. Warum es zugelötet war, ließ sich nicht mehr feststellen. Jedenfalls stand es seit altersher in der Wohnstube des Barbiers. Eine besonders finstere Ecke wurde stets ausgewählt für das Ofenrohr; da hielt sich das rauchschwarze zylindrische Instrument auf, zwischen hochlehnigen Stühlen und Körben, die vergeblich suchten, den ungewöhnlichen Gegenstand zu verdecken. Das zugeschweißte Ding wurde von dem Barbier benutzt als Opferstock und vorübergehende Depositenkasse; wenn er etwas wieder haben wollte, so nahm er eine reservierte Schere seiner Barbierstube, deren beide Flügel durch mächtige Holzgriffe verlängert waren und ließ sie in die Tiefe nach der Beute schnappen. Oder er griff zu einem übermäßig gestreckten Löffel, scharrte und angelte am Boden. Die Röhre war mit nach Padrutz gewandert, in dem Barbierhäuschen hatte sie ihren angestammten Eckplatz gefunden. Einmal ging der Mann am Feierabend in die Ecke, packte die Röhre bei ihrer Öffnung, wippte und drehte sie leicht, ließ Schere und Löffel herabspielen. Aber wie sie auch schnappten, sie fanden nichts. Der angeschweißte Boden hatte sich nämlich gelöst von dem Rohr; Geld und Boden stand etwas entfernt auf der Erde. Er schob alle Kästen, Koffer und Stühle beiseite, rollte die polternde Röhre an das Fenster, richtete sie auf und begann das Visitieren von neuem. Der Schweiß lief dem kleinen kahlköpfigen Mann über die Nasenflanken, sein schmales graues Gesicht vibrierte: mit Löffel und Schere spazierte er auf und ab, umging seinen Tresor, ließ seine Füße dagegen pendeln; aber kein herzliches Geld klapperte. Wie er auch entsetzt und giftig über die Röhre herfiel, sie drückte und rüttelte, ihr Bauch blieb still, „es ist weg!“ Er hatte vor einer Stunde noch die letzten Heller hinuntergeworfen, nicht aus dem Zimmer war er gegangen! Der Barbier lief zu seinem Nachbar, der sein letzter Kunde gewesen war, holte ihn in die Stube und fragte, ob er ihn nicht vor grad einer Stunde barbiert hätte nach allen Regeln seiner Kunst. Der schmunzelte: „Ei ja,“ und seine Frau habe ihn bewundert, weil er so schön gerochen hätte und acht Heller habe er dafür geleistet: „Ei ja, ist schon alles recht.“ Der Mann wollte dem Barbier wieder die Hand geben, aber der verängstigte Mensch hielt ihn beim Rockkragen: „Und die acht Heller, die hab’ ich da aus dem Fenster geschmissen oder aus dem?“ „Ei nein,“ brummte der andere und nahm die Pfeife aus dem Mund, „wie wirst du denn meine guten acht Heller aus deinem Fenster werfen. Das Geld steht zwar schlecht im Kurs hierzulande, aber hast sie dir doch sauer verdient an meinen Stoppeln.“ Er lachte behaglich, betrachtete seinen Mann zweifelnd. Der ließ den Rockkragen los. „Es ist weg, die acht Heller sind weg; die zwanzig Heller für Pomade sind weg; das ganze Geld vom langen Tag ist weg.“

Der Nachbar begütigte unverändert lächelnd: „Ei nein. Wie wird doch das ganze Geld weg sein, für die Pomade und das Barbieren? Wo wird es sein? In der Röhre, in der Röhre; bei der alten Tante.“ Der Barbier auf dem niedrigen Schemel, der mit Blutflecken bedeckt zum Zahnziehen diente, stöhnte: „Nicht bei der Tante.“ Resolut nahm der Nachbar Löffel und Schere vom Fensterbrett, suchte erst in der Ecke nach dem Rohr, stieg am Fenster in den Abgrund. Er machte den Mund nicht wieder zu. Flüsternd kam er hinter dem Barbier her: „Bist du nicht rausgegangen?“ „Nicht rausgegangen.“ „Giebst dein Wort drauf, Barbier?“ Da pfiff der Nachbar, ging auf den Spitzen mit Löffel und Schere ans Fenster, legte alles vorsichtig nebeneinander, schlüpfte ohne eine Silbe, nur mit der Hand den Barbier leicht am Ärmel streifend, zur Tür hinaus. Allein saß der kleine Meister in der Stube mit der schwarzen Ofenröhre.

Nach einer Viertelstunde stiegen drei Männer unter Führung des Nachbarn ein, flüsterten mit dem Nachbarn, der zeigte: „Da am Fenster.“ Sie hatten alle vier bebänderte Mützen in der Hand, taten sich ein Langes und ein Breites mit Dienern und Grüßen vor dem Barbier im Angststuhl, umstanden, Arme über den Leib geschlagen, im Kreis die schwarze stille Blechrundung. Der Nachbar klopfte dagegen: „Es ist Blech.“ Die nickten: „Blech, von oben bis unten.“ Als ein jüngerer die Fingerspitze nach dem Rand ausstreckte, hielt ihn mit hohen Augenbrauen ein anderer zurück: „Was mußt du gleich anfassen?“ Der ernste Nachbar bog die Knie, stelzte zum Barbier, hauchte ihm gebückt ins Ohr: „Verhext.“ Der Barbier stellte sich leicht zitternd unter sie; die drei neuen befühlten nacheinander das glatte Kinn des offiziell dreinschauenden Nachbarn, der auch seinen Geldbeutel klappern und drücken ließ. Im Gänsemarsch zogen sie hinaus, schüttelten draußen ihre Jacken. Vorübergehend sagte der Nachbar noch, nicht anrühren sollte der Barbier die Röhre; wer weiß, wenn man sie sich über den Kopf zieht, wird man unsichtbar und nachher findet man nicht heraus oder was sonst.

Am nächsten Morgen rückte die Bauernkommission an, sechs Mann stark, nahm vor der Tür den blanken Barbierteller ab, damit sie keiner störe und begann das Untersuchen. Zwei Goldgulden hatte jeder mitgebracht, darauf das Kreuzzeichen mit Kohle gemalt. Das graue Männchen rollte seine Röhre in der dunklen Ecke; dann wurde er beiseite gewiesen. Ein Bauer trat nach dem andern an die Höhlung heran, warf seine Gulden herunter. Man hieß den Barbier nun das Möbel ergreifen, und während alle beiseite traten, an das Fenster wälzen und aufrichten. Gewichtig trampste ein Bauer an das Regal, nahm Schere und Löffel herunter und fing an nach abgelegter Jacke zu scharren, zu angeln und zu schnappen. Es währte geraume Zeit, bis er abließ. Von allen Seiten versuchten sie ihr Heil, schweißtriefend scharrten sie sich um das wackelnde Rohr und unternahmen Angriffe. Nunmehr hieß der Anführer der Kommission den Barbier, das Rohr zu kippen; zwei Mann luden es sich auf die Schulter und postierten sich damit vor ihren Befehlshaber. Der ließ Platz machen und schaute in die Höhlung hinein. Er setzte sich auf einen Stuhl. Als das Fenster geöffnet war, richtete er sich auf, schüttelte den Kopf: „Der Boden ist durchsichtig, völlig durchsichtig! Man sieht den leibhaftigen Himmel.“ Die Übrigen nahten sich hintereinander, das Kopfschütteln und betretene Herumblicken nahm kein Ende: „Man kann den Himmel erblicken durch den Boden.“ Der Barbier hatte die Nacht über geweint nach seinem Geld; nunmehr drückten ihm die Bauern einer nach dem andern die Hand, sahen ihn ernst und gefaßt an und verschwanden. Draußen standen sie noch in einer Reihe unter dem Scheunendach, guckten und zeigten nach dem Haus herüber. Bald hinter ihnen her spazierte der Nachbar mit Frau und Schwagersleuten herein zum Barbier, sie hatten die Kommission draußen parlamentieren hören und wollten einmal sehen, was die Röhre blicken lasse. Abwechselnd hielten sie das Blech auf ihren Buckeln; der Nachbar äußerte befriedigt: „Ja es ist ein schöner Durchblick.“ Und alle sahen hindurch und freuten sich des schönen Himmels; und erzählten zu Hause, welch schönen Himmel man dies Jahr durch die Wunderröhre des Barbiers sehen könne, so daß am selben Nachmittag schon welche gelaufen kamen mit Würsten, Pulswärmern, Messingknöpfen, Schnupftabak und zu der Stube hereindrangen. Der wollte wissen, ob man auch fragen könne, wie es der Schatz mit einem meine, der, wie das Bier wird, der, ob das Rohr auch wisse, wo Geld vergraben liege; er wüßte nämlich ein sonderbares Loch in der Nähe. Der angestaunte Besitzer ging erregt durch das Zimmer: „Man muß halt alles versuchen: fragt’s mich nicht. Die Haare können einem zu Berge stehen ob dero Geschichten.“ Er erinnerte sich in all dem Gedränge, daß sein Großvater, der erste Besitzer des Rohrs, ein frommer, seliger, freilich auch verdächtiger Mann gewesen sei, sofern er nämlich unter merkwürdigen Umständen starb mitten beim Essen, nachdem er dreimal auffällig mit dem Mund geschnappt hatte. Das war ein Zeichen, er hatte etwas sagen wollen wegen des Rohrs. Ein altes Weib tat wehmütig einen flüchtigen Blick durch das Rohr, dann machte sie den Mund ganz schief, schluchzte und bellte: „Man kann den Himmel sehen samt den Englein. Mein Philipp ist da, ja mein Philipp ist da.“ Ein dickes junges Wesen mit vielem Putz tröstete die Witwe, meinte: „Ich schau nicht durch. Das Wasser läuft einem im Mund zusammen. Der Magen könnt’ sich einem umkehren.“

Der Barbier machte hinter den Leuten die Tür zu; er stellte das Rohr in seinen finstern Winkel, legte das Ohr an das Blech; er hörte es deutlich flattern und pfeifen von vielen himmlischen Vögeln; dann gab es eine beängstigende Stille. Er warf einen Heller hinein, wartete etwas; dann kniff er die Augen zu, faßte sich ein Herz, angelte und schüttelte das Blech. Die Buben standen vor dem Fenster, schrieen: „Gold macht er, Gold macht er.“ Er drohte hinaus, zog die Vorhänge zu, schmunzelte bösartig: „Nun, wenn ich schon Gold mache; ihr kriegt nichts ab, verschmutztes Gesindel.“

Mariandel hieß seine Tochter, sie war nicht sonderlich schön; sie erlebte in diesen Tagen eine feine Zeit. Die Burschen liefen ihr zu Dutzenden nach. Sie ließ ihre böse Zunge, wegen der sie auch gehaßt war, gehen, fischte sich die am meisten umschwärmten Burschen heraus und führte ein großes Getue mit ihnen beim Kirchgang und auf dem Marktplatz. Die Burschen, ob der drohenden fabelhaften Mitgift, ließen die Weinflaschen anspringen, schmeichelten der dürren eitlen Person um Schulter und Brust. Die Mädchen weinten zu Dutzenden. Ein furchtbares Regiment führte sie, ja der ganze Tanzhoden zitterte vor ihr, und manche Wirte klagten über das hochmütige Volk, weil die Barbierstochter den großen Schwarm der Burschen hinter sich herzog und sich nach Laune bald da, bald da blicken ließ.

Für den Barbier lief die Sache nicht gut ab. Ein anderer Bartscherer trug gegen ihn eine große Wut zur Schau, weil zu dem Zauberer die Leute liefen wie in eine Schenke; es hofften nämlich viele, der Barbier würde gelegentlich etwas für sie abfallen lassen. Jener Bartscherer gewöhnte sich in seinem Grimm ein besonderes Zucken der linken Backe an; er kehrte den Spieß um; der alte Barbier und Kollege sei ein Hexerich, und was für einer, und was es da zu bewundern und was es zu beneiden gäbe? Seit wann werden Hexeriche angestaunt? Wer garantiere, was dieser Mann alles vor habe? Alles, alles, noch alles! An euren Früchten soll man euch erkennen; man frage einen gewissen Wirt zum Goldenen Elch, wie lange sich nächtens eine gewisse unansehnliche Dame, Fräulein oder Jungfer, Mariandel geschimpft, in einem gewissen Garten mit Burschen aufhalte, heute den, morgen den, und übermorgen den umhalse? Wie gewonnen, so zerronnen, hieße es, und ferner: Untreue schlägt seinen eigenen Herrn, und ferner: es ist noch nicht aller Tage Abend. Der Widersacher, in seiner mageren Existenz bedroht, bestimmte einige ausgeschlossene Freiersleute, dazu eine kleine Horde unbegüterter Mädchen, sich ihm anzuschließen und einen Vorstoß zu unternehmen gegen das Hexen- und Zauberwesen im neuen Padrutz. Sie schmiedeten mancherlei Pläne und schließlich wurde ein Komplott reif gegen den Barbier. Eines sehr dunklen Abends rückte eine Schar Mädchen mit wenigen Männern in den Garten zum Goldenen Elchen ein, schwang Besenstiele und Stangen, vertrieb und prügelte die hinter Bäumen lauernden Burschen, die auf einer Wiese kosende Mariandel wurde aus ihren Träumen gerissen, windelweich gegerbt, alsdann gebunden in eine entfernte Scheune transportiert. Inzwischen marschierte der hetzende Widersacher mit seiner Mannschaft vor das Barbierhaus; ganz still war es da und schöne Sommerluft wehte; der gewandte Mann schwang sich anschleichend durch ein offenes Fenster, wand sich ohne zu poltern in die Nähe der gefährlichen Röhre und plötzlich, als er den Barbier schnarchen hörte, gab er einen lauten Schrei von sich, die Mannschaft stürmte herein durch die springende Türe. Eine rasende Schlägerei entspann sich mit Möbeln, Gegenständen, denn man fürchtete überall Hexenkram. Der Zauberer suchte in seiner Todesangst nach dem Rohr zu entwischen; sobald er nackt den Angreifern ausglitt und fortschlüpfte, stand der andere Pomadenkünstler drohend mit seinem Knüttel da, wie der Erzengel vor dem Paradies, und die Hiebe sausten auf den kollegialen Buckel. Wie man ihn im Finstern überwältigt hatte und zwischen Betten festgeschnürt auf den Boden legte, stürzte unvermutet das Rohr um; es hatte sich nämlich der Widersacher unter heftigem Zucken seiner Backe daran zu schaffen gemacht, um hinterrücks zu seinem Glück zu kommen. Aber in dem kleinen Zimmer purzelte alles durcheinander; mehrere rutschten aus über das rollende Blech; es war im Nu verbogen, und wurde von einem, der sich die Hose daran aufriß, in der Wut zertreten, zerbogen und völlig seiner Form beraubt. Nachdem die höllische Schar das Geschirr im Laden, Seifenbecken, Waschkanne und Zierkrüge kurz und klein geschlagen hatte, verschwand sie im Dunklen, von wo sie angeschwirrt war. Unter den heißen Betten wimmerte der geprügelte Barbier; die unansehnliche Tochter wurde vor Anbruch des Tages noch von drei Mädchen, die in ihrer Rachsucht nicht schlafen konnten, zwei- dreimal in einen der nahen Stinkseen getaucht und so besudelt am Ufer hingeworfen. Mit der nächsten Morgensonne ward alles aufgedeckt. Der Barbier erstattete Anzeige, er sah sich vor dem Ruin. Bei der ersten Vernehmung jedoch ließ er die Anklage fallen, denn er durfte nichts von dem Zauberrohr verlauten lassen vor der Behörde. So wäre der graue geplagte Mensch schrecklich von dem Schicksal gefoppt worden, nachdem er sein Rohr, viel Handwerksgeschirr und manchen Kunden verloren hatte. Aber wie er einmal auffegte in jener dunklen Stubenecke, sehnsüchtig bei der Erinnerung an sein Rohr, erfüllte sich ein Wunder: plötzlich lagen da, von Staub bedeckt, zahlreiche blanke Goldgulden und massenhaft kleine Heller. Auch der Boden des Rohres lag da, freilich das Trümmerstück war ganz gewöhnliches Blech und nicht mehr durchsichtig. Beglückt und gequält sammelte er alles zusammen; er dachte, am Boden hockend, den Fund im Schoß, was sich alles hätte erreichen lassen mit dem Rohr, wenn es sogar in der Abwesenheit an seiner Wohnstatt Geld hinstreute, wie eine Henne, die nach ihrem Tode noch Eier legt. Als er jegliches in Gedanken durchgegangen war, hob er sein mageres Körperchen auf, legte alles Geld in seinen Beutel, umstellte nun die Fundstelle, wie früher das Rohr, mit Kästen, hohen Stühlen und Gerümpel. Er gelobte in dem ungezäunten Revier über Jahr und Tag wieder zu fegen. Die mißachtete Mariandel wagte sich kaum ans Licht; sie war von ihrer Höhe gestürzt. Es dauerte lange, bis sie ihr Zünglein wieder entdeckte, und das Zünglein, nicht mehr als zehn Zentimeter lang, fünf breit und kürbisrot, half dem schweren verzagten Körper wieder auf. Mit Schnattern und Sticheln kam Mariandel wieder angerückt. Das Geheimnis der Ofenröhre hat bis heute kein Lobensteiner entdecken können.

Im Laufe von wenigen Monaten vollzog sich in Padrutz ein mächtiger Umschwung. Die Beamten, die das Volk zugrunde gehen sahen, duldeten bedenkenlos mehr, daß Fremde eingelassen wurden. Insbesondere war die Sehnsucht der alten Padrutzer groß nach ihrer Heimat. Philine schmeichelte zwar, sie möchten zusammenhalten, aber sie mischten sich mehr und mehr unter die Lobensteiner, wurden Gläubiger der lustigen Rheinländer und setzten sich nach und nach in ihre Häuser. An den Herzog Stoffel ließ man nichts verlauten. Er wußte nicht, daß nach einer scharfen Hungersnot viele Stacheldrähte entfernt und die Stinkseen eingetrocknet wurden, daß die Beamten die alten Landstraßen wiederherstellten. Ihn ehrte man nach wie vor mit den fröhlichsten Berichten und feierte seine Erlasse, die zweifellos nach dem Abgang der Kuriere in einen der Seen versenkt wurden, friedlich zu heimlicher Nachtzeit. Die Scheunentore, wie einstmals die alten Padrutzer, wagte man nicht zu behelligen. Was für Fälle man dem Stoffel in dieser Zeit zur Beurteilung und Anweisung unterbreitete, soll an dem Beispiel der fatalen Tür gewiesen werden.

Da hatte man in ein sonst unbrauchbares Häuschen ein altes Männchen hineingesetzt, das dort allein wohnte. Einige Zeit, nachdem die Erregung über den Barbier verklungen war, verfaßte dieses Männchen eine Eingabe an das Padrutzer Amt, daß auch er in einem verhexten Hause wohne. Drei Türen gäbe es hier, alle, soweit er sehen könne, gut gezimmert und in Angeln befindlich, aber keine vermöchte er zu schließen. Soviel man an den Klinken zöge, die Türen fielen nicht zu, und er sei, soviele Schlosser er auch gefragt habe, nicht mehr imstande, mit privatem Verstand die Sache zu klären und sich vor Zugluft zu schützen. Zwei behördlich ernannte Schreiner wurden angewiesen, die Türen herauszunehmen, alles gut abzumessen, zurecht zu hobeln; ein Schlosser hatte von neuem das Schloß zu kontrollieren. Alles vollzogen, lief eine neue jammernde Eingabe des Greises ein: nichts sei geholfen, die Sache vielmehr erschwert. Bei den Bemühungen, die Türe zu schließen, hätte er sich schon die Füße zerschunden; dick seien sie und verbeult; nur in Filzschuhen könne er noch gehen. Man lud den klagenden Herrn auf das Amt; es erwies sich, daß er tatsächlich in Filzschuhen ging; auch waren seine Füße rot und in einem unschönen Zustand allgemeiner Schwellung. Die Berichte von Schreiner und Schlosser ging man durch, die Türen seien nunmehr vollkommen und fügten sich in den Rahmen wie ein guter Lobensteiner in das Gesetz. Der Schlosser resümierte sich: die drei Schlösser sind tadellos, täten schnappen und schließen, wie man wolle; alles sei freundlich und adrett, daß man seine Freude an dem artigen Ding haben könne. Aber die Füße des Greises sprachen dagegen; er trug nicht ohne Not Filzschuhe. Ein junger Beamter, ein Referendar, wurde damit beauftragt, Pantoffeln und Füße des Greises zu beschreiben, dann die Akten zusammenzubinden und mit dem nächsten Kurier nach Lobenstein an den Herzog Stoffel zu schicken. Stoffel, im Besitz des Manuskriptes, dachte lange über den Fall nach; der Verdacht der Hexerei war nicht von der Hand zu weisen. Ein Entschluß war eilig zu fassen, da man fürchten mußte, daß dem verdienten Greis die Füße gänzlich abgequetscht wurden. Er schrieb: Die Füße des Greises sind mit Speck einzureiben und nicht zu benutzen, bis sie sich verdünnt haben; das Häuschen schlage oder schieße man ohne viel Aufsehen zusammen. Der alte Mann geriet außer sich, als ihm dieser Entscheid wurde; er weigerte sich, sein Haus zu verlassen, und der gute Speck jammere ihn. So griff die Regierung zu einem Gewaltmittel, um den offenbar Lebensüberdrüssigen zu retten. Sie versteckte eines Abends sechs Mann in dem Häuschen und ebensoviel vor der Tür, alle scharf bewaffnet, um einen eindringenden oder entweichenden Schatten sofort zu stellen; sollte sich nichts ergeben, so wollten sie den Todeswütigen kurzer Hand im Schlaf packen, herausschleppen und das Gebäude anzünden. Als die sechs nun verstreut im Hause herumlagen, sollten sie die Sache in einer überraschenden Weise geklärt sehen. In der Dunkelheit schlurrte der alte weitsichtige Mann an, suchte auf dem Tisch unter Käsetellern, Zeitungsblättern und Kartoffelpellen nach seiner Brille; die fand er nicht, aber einen Teller und mehrere Gabeln warf er herunter, so daß er mürrisch davon abstand herumzukramen und in dem fast leeren Zimmer ab und auf spazierte; der Greis konnte offenbar nicht den Abstand der Gegenstände richtig schätzen, denn er ging forsch auf nahe Dinge los, auf einen Stuhl, gegen das Bett, auf das Fenster, rannte im Sturmschritt gegen sie an. Mit Bedauern sah die versammelte Mannschaft, wie der verehrte Greis in seinem Ungestüm Beulen und Blessuren davontrug und nach kurzem Ausruhen die Jagd von neuem begann. Nebenan lag eine Kammer. Die Beobachter stellten fest, daß der Interpellant mit einem gewissen Argwohn vor der Tür herumschritt, sich über seine Füße ein Paar ungeheure Wollschuhe zog, die ihm von der Regierung zur Verfügung gestellt waren. Ein kühler feuchter Zug kam herein von nebenan; er schien den Greis zu beschweren. Er wich der Zugluft aus, stellte sich vor die Tür, ging wieder seitlich und rückte abermals an. Man sah, nicht er war der Angreifer. Mit einem Sprung packte er die Türklinke und riß die Tür wie einen Bock bei den Hörnern. Aus den Ecken, unter den Sofas richteten sich blasse Gesichter auf, Gewehrläufe wiesen ihre Mündungen gegen den Kampfplatz. Pappelnd und murmelnd arbeitete der Greis, ein lautes Stöhnen schwang aus seiner Brust; aber wie er zog, die Tür ging nicht zu. Ein Ingrimm schien den alten Mann bei den Schultern zu schütteln; er trommelte und spuckte gegen die rabiate Tür, er trampelte mit den Füßen gegen die Füllung, und schon hatte er sie wieder bei den Hörnern und zerrte. Aber statt des ersehnten Einschnappens hörte man nur das Jammergeschrei des Geklemmten. Ein Führer der Mannschaft unter dem Sofa vergoß Tränen bei dem Anblick, es war ein klügerer Bauer, den das Unglück der Lobensteiner gewitzigt hatte; er sah wie der Alte sich zwischen Tür und Schwelle klemmte; ja, zwischen Tür und Schwelle stand der altersschwache Lobensteiner Mensch, mühte sich die Türe zu schließen und wunderte sich, daß unten seine armen gepanzerten Füße gequetscht wurden. Neben diesem Führer lag einer, der flüsterte: „Wir müssen ihm die Brille geben; er weiß nicht, wo er steht.“ Der erfahrene lächelte wehmütig: „Die Brille macht’s nicht.“ Er räumte heimlich die Porzellansplitter vor sich weg, gab den andern ein leises Signal, während der gequälte Greis in den höchsten Tönen Zetermordio schrie. Dann schmetterte ein Soldat einen Teller gegen die Wand; in gellender Angst stürzte der Greis, der sich von seinem Quälgeist übermannt glaubte, auf den Boden. Und nun packten ihn die Soldaten, schleppten ihn vor das Häuschen, nagelten rasch die Haustür zu. Die benachrichtigten Nachbarn, hinaustrabend ins Dunkle, fanden den Alten bei halber Besinnung vor seiner Wohnung hingestreckt. Sie fragten ihn, was geschehen wäre; er jammerte verwirrt, tastete nach seinen Füßen, sie mußten alle seine Füße anfassen und sagen, daß sie noch dran wären. Er wurde von den gutmütigen Leuten, da er nicht zu seinem Sohn ziehen wollte, aufgenommen. Von seinem Wunsch, in dem Teufelshaus zu wohnen, war er geheilt. Die Nachbarn banden ihm seine Brille an einer festen Schnur um den Hals, so konnte er sie nicht verkramen; die Füße heilten sie aus mit Binden und lauem Fencheltee. Dem Herzog Stoffel wurde der erfreuliche Verlauf der Sache mitgeteilt; er war befriedigt, daß in seinen Landen sich nichts Überirdisches und Abnormes ereignete. Aber er sann doch ernst in dem hohen Vortragszimmer vor sich hin: wie rasch das Augenlicht der Menschen abnehme; ob es sich nicht empfehle, schon frühzeitig die Lobensteiner daran zu gewöhnen, eine Brille zu tragen. Freilich; es sehe nicht schön aus: aber man könnte vielleicht für die Füße der Bauern Vorsorge treffen; bei kräftig entwickelten Füßen des Greisen wäre es auf die Stöße der Tür nicht zu Schwellungen und Schmerzen gekommen. Schmerzlich sei ein Hühnerauge nur, wenn es vereinzelt vorkommt; dagegen breit ausgedehnt über die ganze Fläche des Fußes könne es nur wohltuen. Die Minister notierten ehrerbietig die Weisung.

In Padrutz wurde es Winter. Das Land hatte ein anderes Gesicht bekommen, auch das Volk sah anders aus. In Amt und Würden saßen noch die Lobensteiner Beamten, Registratoren, Oberregistratoren, Kirchenbehörden. Ihre Gaukler aber waren in die weite Welt zerstreut. Bei Fremden taten viele der Auserwählten Dienst, in Häusern, die ihnen selbst einmal gehört hatten, und waren damit zufrieden: denn überall in der Welt, so sagten sie, muß einer befehlen und einer gehorchen. Sonderbar waren manche anzusehen, die als Knechte Dung und Stroh fuhren und dabei nicht von ihren blaugrünen Schärpen ließen, mächtige Uhrketten aus Tombak trugen und allabendlich im Wirtshaus die hohen stolzen Lieder von Lobenstein und dem Stoffel sangen. Die Fremden, teils Böhmaken gewöhnlichen Schlages, teils ehemalige Padrutzer, blieben in der Minderzahl; sie behandelten die Lobensteiner wie große Kinder, aber auch boshaft, mit Ironie und als Ausbeuter. Wo die Fremden konnten, ließen sie die Lobensteiner ihre Dummheit spüren; sie engagierten sich aus ihnen Spaßmacher und Tölpel zur Belustigung der Familien. Darin sahen die Lobensteiner nichts; denn jene gaben ihnen Brot und Arbeit und waren ihre Herren. Die Fremden luden sich von weither, aus Prag und Wien, Gäste ein und zeigten ihnen ihre Tölpel, die großen gehorsamen Deutschen, die mit Bändern und Ringen einhergingen, von ihrem fernen Herzog sangen und die Windel der Kinder wuschen. Sie lockten auf jede Weise die eigentümliche Leichtgläubigkeit der Lobensteiner zutage, und hier ist wieder eine derart traurig-spaßige Geschichte zu melden und läßt sich schwer unterdrücken.

Die Fremden hatten einen Schornsteinfeger mitgebracht, der viel mit den Lobensteinern zusammensaß und sich an ihnen delektierte. Dieser erklärte eines Tages, er könne den Blitzschlag aus den Wolken herunterholen; er wolle eine Wette schließen auf zehn Gulden, daß er es vermöchte. Die Lobensteiner fanden, das wäre ein billiges Geschäft für eine so große Sache, schlugen ein und vertagten sich bis zum nächsten Gewitter. Als nach ein paar Tagen die ersten Wolken hinter dem Gemeindewald heraufzogen, stieg der Schornsteinfeger, ein langer Schlacks mit veilchenblauen Augen, auf das Dach des Wirtshauses und benahm sich da oben sonderbar unter Pfeifen, Flöten und Herumtänzeln, als ob er das Gewitter verlocken wollte. Wie er lange genug gewinkt hatte und halsbrecherisch seine dünnen Knochen über die Schiefer schleppte, standen auch ein Häufchen schwarzer Wolken über dem Dorf; es grollte recht vernehmlich, dicker blähte sich oben das finstere Getümmel, das Rumoren nahm erschreckende Formen an. Und immer noch ließ der Schornsteinfeger nicht ab zu locken, zu rufen, zu winken. Plötzlich riß sich der erste gezackte Blitz vom Himmel los, krachend warf sich der Donner hinterher und prasselte seinen Grimm aus mit Hall und Widerhall über Straßen, Türme und Giebel. Gleich nach diesem Vorkommnis tönte die Stimme des Schornsteinfegers herunter: „Teller herauf, Geschirr, Glas, Porzellan, was ihr mir bringen könnt.“ Der Lobensteiner Widerpart unten im Gastzimmer kaufte in Eile dem Wirt ab an Flaschen und zerbrechlichem Hausrat, was sich entbehren ließ, schickte es nach oben durch eine Magd. Und nun hörte das Flöten auf dem Dache auf; zwischen den langsamen schiebenden Geräuschen der geballten Luftmassen, klatschte und klirrte es Schlag um Schlag in den Kamin hinein, auf den Kochherd, splitterndes Glas, zerknackendes und zerstäubendes Porzellan; in Angst schrieen die Gesellen in der Stube, sie verkrochen sich vor den Splittern in alle Ecken, unter Tisch und Stühle. Dabei schrie der Dachbewohner zum Himmel: „Hoho, so so, so so, noch einmal!“ Immerhin erreichte er durch seine Maßnahmen schon, daß es im Umkreis nicht einschlug; noch aber brummten und kolksten die Wolken und hatten sich nicht entleert; und plötzlich fing es erst richtig an, das Unwetter, das mit grausamem Pauken- und Trommelschall um die kleinen Häuser toste. Da benahm sich der verregnete Schornsteinfeger wie ein Narr. Man hörte ihn jauchzen in den Pausen zwischen den Donnerschlägen: „Jetzt hab, ich ihn! Noch einen! Immer her, immer ran!“ Den Moment, wo es am Himmel aufflammte, machte er einen Satz in die Höhe, sperrte die Hand auf, griff zu in die Luft und steckte die geschlossene Faust sofort in die Tasche. Einen Lacher stieß er aus, wenn es hell wurde, das Gewitter erschreckte ihn nicht, er arbeitete droben in seinem Element. Als eine längere Stille eintrat, rief er atemlos durch den Schornstein herunter: „Sepp,“ so hieß sein Hauptgegner, „komm ran, faß zu. Schon hab ich ihn. Ich schick dir runter den ersten Beweis, ho ho, vom Blitz. Sollst sehen, ho ho! Ich hab ihn, ho ho, den Beweis.“ Sepp stelzte vor, streckte die Hände und Arme aus unter den Schornstein, dabei duckte er sich etwas, weil es eine schwere Last werden mußte. Und während er wartete, regnete es herunter, eine heiße Flüssigkeit, immer über die Finger weg, und dann einige absonderliche weiche latschige Klumpen, die von den Händen und Armen Sepps herabliefen. Der stieg mit seinen Beweisen wieder ins Zimmer zurück, wagte sich erst verdutzt, wie er war, nicht an den Tisch, sagte unter der Hängelampe stehend: „Man möcht’s für was Menschliches halten.“ Die anderen Wetthalter krochen heran, hielten sich die Nasen, tupften hinein: „Aber brühwarm ist’s noch.“ Sepp bestätigte unsicher: „Wie das heiße höllische Feuer brennt’s.“ Sie standen mit dem Wirt um den betroffenen Sepp herum, der seine Arme und Hände von sich abhielt und sie mit den Augen alle um Entschuldigung zu betteln schien. Sie sagten: „Gekommen ist’s doch von oben?“ „Freilich von oben, ganz von oben.“ Sie schwiegen und blickten sich an. „Jedenfalls waschen wir’s mal ab.“ Sepp verduftete. Sie saßen finster und zweifelnd um den Tisch. Einer fing an: „Na, und ob’s nun menschlich oder nicht menschlich ist, irgendwohin muß es der Blitzschlag doch auch tun.“ „Ja, ja in die Luft geht’s da auch nicht. Bei keinem Kaiser und Herren geht das so.“ „Das meine ich auch.“ Der Schornsteinfeger rief durch den Kamin: „Ist’s angekommen?“ „Ja, ja,“ riefen sie gemeinsam, „ist alles schön angekommen. Ist schon da, jawohl.“ „Kommt noch mehr.“ „Nein, nein, ist nicht nötig; es langt schon.“ Trotzdem bemerkten sie bald darauf, wie es rumorte im Kamin und dunkle dampfende Massen in großer Menge niedersausten auf den Herd. Der Wirt nahm einen Knüppel und schrie herauf: „Hast nicht gehört, es langt schon. Glaubst ich werd’ mir den ganzen Herd versauen lassen mit deinen Beweisen? Es langt schon!“ „Nun also,“ klang es zurück, „dacht’ nur, sicher ist sicher.“

Als das Gewitter abgezogen war, kam der Schornsteinfeger pitschnaß vom Dach, stellte sich in die Stube und sagte: „Hier riecht’s aber nicht schön.“ Sepp meinte traurig: „Freilich riecht’s. Sind die Beweise.“ „So so, die Beweise. Da haben wir’s, da ist es heraus; wie ich gesagt habe, die Beweise. Es ist deutlich zu spüren.“ Und dann stellte er sich hohnlachend an die Wand, hatte beide Fäuste in den Taschen, sah sie aus seinen veilchenblauen Augen an und sagte kein Wort. Sepp fuhr trotzig auf: „Was lachst denn du?“ „Weil du wirst zahlen müssen, Sepp. Was glaubst du wohl, Sepp, was ich hier habe in beiden Taschen? Hä? In meinen Taschen?“ „Deine Fäuste wirst du drin haben.“ „Und was werd’ ich wohl in den Fäusten haben? Hä?“ Sie tuschelten untereinander, der lange Schlacks ließ sich nicht beirren. „Zeig einmal her,“ rief Sepp. „Das könnte dir so gefallen. Damit du’s mir wegnimmst, davonläufst und ich kriege keinen Heller. Was ich in der Faust habe, hä? Ich habe ihn selber, ja, ja, ich habe ihn eben.“ „Na zeig ihn doch.“ „Den Blitzschlag. Ich hab, ihn geholt. Drüben die in der Scheune haben gesehen, wie ich ihn geholt habe; dreimal; einmal ist er mir vorbeigefahren.“ Als sie nichts erwiderten, schlängelte er sich vorsichtig näher an den Tisch, langte eine Faust heraus und schlug sie auf den Tisch: „Jetzt sollt Ihr einmal sehen, daß euch die Augen übergehen werden.“ Und wie er die Faust öffnete, hatte er darin eine kleine Schachtel aus Holz; und wie er den Deckel der Schachtel abhob, saßen in der Schachtel zwei kleine Käfer. Die Bauern schoben die Köpfe übereinander, starrten hinein. Der Schornsteinfeger riß den Mund bis zu den Ohren auf, triumphierend spießte er seine Finger hinein: „Der Blitzschlag.“ Die Bauern staunten: „Es sieht aus wie ein großes Marienkäferchen und ein kleines.“ „Man möchte glauben nach dem Anblick, es sind zwei Marienkäferchen.“ Der Schornsteinfeger bekräftigte nach einem kritischen Blick: „Ja, es hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Marienkäferchen. Aber schon der Gang ist anders; ihr hättet sehen müssen, wie sie gehen, wie sie fliegen. Ich mach’s euch nachher vor wie das Volk geht. Ich habe sie mit der Waschleine fangen müssen, als sie grade aufs Dach fahren wollten. Ungestüm wie zehn Männer haben sie daran gezogen und wollten mich runter kriegen, aber, da sitzen sie, und ich steh hier!“ Er holte die andere Faust aus der Tasche: „Da sind noch zwei; aber fest, fest muß man sie halten, sonst schlüpfen sie davon und explodieren.“ Er steckte sie sogleich in die Tasche und trank Sepp das Bier weg. Sepp fragte: „Sind immer zwei beisammen?“ „Immer zwei sind ein Blitzschlag. Aber groß wie die Bullen sind sie, wenn sie aufs Dach stürzen. Erst wenn man sie fängt und in die Schachtel tun will, werden sie klein.“ Die Bauern waren ganz gedrückt. Der Schornsteinfeger schlurrte an die Wand, zog seine nasse Jacke aus, nahm einen wollenen Überrock; seinen braunen Kinnbart streichelte er vor dem viereckigen Wandspiegel, über dem ausgestopft ein Igel und ein Marder hingen: „Das ganze Ohr haben sie mir zerkratzt, die Untiere, die mörderischen.“ „Na sag aber mal, du Turnmeister, was ist denn da heruntergekommen von oben, und der Sepp hat’s in die Stube tragen müssen auf den Armen; da liegt’s noch auf dem Herd?“ „Ja, das ist gekommen — man möchte sagen, wie es gekommen ist. Direkt ist es gekommen. Gekommen ist es von ihnen, wie sie mich nur gespürt haben. Sind einmal an den rechten geraten, die Untiere, die Landsverderber. Man möchte es Angstschweiß nennen. In ihrer Not ist es von ihnen gelaufen. Ich hab’ sie grade über den Schornstein gehalten, damit Ihr was merkt.“ „Oh ja, man merkt’s. Daß kleine Tiere so stark schwitzen können.“ „In ihrer Angst, in ihrer Angst.“ Nachdenklich saß man bei offenem Fenster um den Tisch. Draußen tropfte es sanft, Der vielfarbene Regenbogen spannte sich über den Kirchturm. Sie fragten den Schornsteinfeger noch einmal, ob in der Schachtel also der wirkliche Blitzschlag säße; und sie wollten das auch schriftlich haben von ihm. Er gab ihnen den geschriebenen Beleg und sie bezahlten darauf die Wette. Als der Fremde fortging, saßen sie noch stundenlang beisammen, beobachteten, wie der Wirt wütend die „Beweise“ vom Herd räumte; er schimpfte, es sei leibhaftiger Menschendreck und der Schornsteinfeger ein Durchtriebener. Sie legten Streichhölzchen in die beiden Schächtelchen, aus denen der Fremde je ein Tier herausgenommen hatte und stritten sich über den Gang des Tieres. Urteilen könne man ja über die Sache nicht, da nur ein Tier noch drin säße, aber der Schweiß der Käfer rieche sehr verdächtig. Der Wirt meinte, Sepp stinke so, aber Sepp blieb dabei, es habe seine Richtigkeit, die Käfer hätten einen beweiskräftigen Geruch, einen sehr überzeugenden Geruch. Und alle schüttelten an der Schachtel, schüttelten daran und suchten die Tiere zum Stinken zu bringen. Und dann wurde man grob gegen den Wirt, wies auf den Zettel und parlierte ostentativ über die Wunder dieser Welt. Bis der Nachtwächter blies und der Wirt kurz Feierabend gebot.

Solche Stücke blieben keineswegs ohne Einfluß auf die Lobensteiner. Die vielen Nasführereien machten die Leutchen kopfscheu. Sie nahmen etwas Mürrisches an, das ihnen sonst ganz fremd war. Das Mißtrauen schlich sich bei ihnen ein gegen alle Welt. Sie brachten einen summarischen Widerwillen hervor auf dies böhmische Land. Ihre Erbitterung machte sich in häufigen Schlägereien mit den Fremden Luft. Schließlich überkam sie der Unmut über sich in so verzweifelter Weise, daß sie beschlossen, die Nachbarschaft einmal gründlich allerlei kosten zu lassen. Das war ein Vorhaben, aus dem Nichts geboren und momentan feststehend wie eine bereits geschehene Tat. Agitatoren rollten in den Häusern mit den Zungen: „Sind wir Laffen, daß man uns zum Besten hält? Wir sind fröhliche Leute und tun unsere Arbeit.“ Den Behörden gaben sie nichts kund davon. Die Frauen weinten, aber billigten die Sache. An zweihundert Lobensteiner kamen in den Wirtshäusern zusammen, trotzige ehrenhafte, wenn auch etwas langsame Männer, gute Bürger und Bauern; sie nahmen sich vor, in der Padrutzer Umgebung bis nach Olmütz hin totzuschlagen, was ihnen in die Quere kam. Einige kramten bedächtig ein paar Fähnchen aus, die sie aufbewahrt hatten von dem Herzog Stoffel und dem Auszug; man wies sie zurück und ohrfeigte sie, auch die, welche mit Bändern und Gürteln ankamen. Bei der Padrutzer Grafschaft lagen zwei große Ortschaften, Reutte und Kamsen. Da hinaus liefen die Padrutzer eines Morgens. Nicht schön waren sie anzusehen. Wie sie von ihrer Morgenarbeit kamen, stelzten sie. Viele trugen keine Waffen und Geräte; an den Armen baumelten ihre schweren Fäuste; die sollten Hämmer sein. Einige beugten die dicken Schädel und glaubten, die besten Sturmböcke da zu haben. Geschosse führten sie nicht, aber laufen konnten sie wie Kugeln. Wenn sie brüllten, sollte keiner Trommeln vermissen. Die, welche Waffen trugen, hatten sich auf ihre Weise versehen. Auf den Schürzen und Jacken schaukelten ihnen wie Hampelmänner die Bilder ihrer besten Heiligen, aus buntem Papier roh mit der Schere geschnitten. Einige sah man lose Wagenräder neben sich rollen; die waren an einer Speiche mit einem Strick befestigt; die Bauern wollten sie um sich wirbeln über die Köpfe und alles einklaftern um sich. Viele hatten weiter nichts bei sich, als das kurze breite Messer, mit dem man Schweine absticht. Rodehacken und Eisen von zerbrochenen Pflugscharen nahm man mit, ließ aber manches davon unterwegs fallen. Wie überhaupt der Zug der zweihundert Lobensteiner über den Grenzäckern von Stunde zu Stunde weniger kriegerisch erschien, so daß man sie bald gänzlich für betrübte Bittsteller halten konnte. Gegen Mittag, eine halbe Stunde vor Reutte, standen auf einem Acker zwei junge Männer mit Dünger in der Schürze; die grinsten behaglich, und zogen in demütiger Unverschämtheit ihre Mützen, als sie die Lobensteiner erkannten. Nach einer knappen Minute waren sie erstochen von den vordersten Wanderern, ohne daß die folgenden die Köpfe hoben. Ein paar Weiber liefen darauf unter entsetzlichem Gekeif und Händeschwingen querfeldein auf Reutte zu. Die Bauern hielten am Kragen fest zwei hitzige Kameraden, die mit Beilen hinter den Weibern her wollten. „Wir sind keine Füchse und Bären, daß wir springen.“ Ein Viertelstündchen vor Reutte hörte man es blasen in dem Ort, wie wenn Feuer wäre. Als die Lobensteiner über die Brücke gingen, fing man an auf sie zu schießen. Wer getroffen war kippte rechts und links in das helle Wasser und kam nicht wieder hoch. Die Schützen von Reutte hatten sich in einigen Häusern dicht am Fluß verschanzt und schossen in Ruhe die vordringenden Lobensteiner ab; zwanzig kamen immer über die Brücke, acht warfen die Hände in die Luft, machten einen Bogen nach rückwärts wie Fische im Netz, und ließen den Boden unter den Füßen. Jenseits des Flusses im Ort fing das Schlagen und Morden an. Die von Reutte wußten nicht, was die Lobensteiner im Sinn hatten; darum hielten sie sich eifrig daran sie umzubringen. Man schob sich ineinander und suchte zu sehen, was sich machen ließ. Sehr langsam kamen neue Lobensteiner über die Brücke, und das war ihr Fehler. Denn die ankommenden Haufen wurden von denen drüben nur erwartet, empfangen, und nach einigem Stich, Stoß und Wurf auf den Boden gelegt. Die Reutter arbeiteten wie eine Walkmühle. Fünfzig bis sechzig Mann waren zum Schluß übrig von den Padrutzern, die blieben jenseits der Brücke stehen, drohten herüber. Die Reutter foppten und hetzten: „Späßchenmacher, Zigeunerchen, Zigeunerchen!“ Wütend liefen sie davon: „Wir holen uns Gewehre!“

Und während sie rannten, wurden sie so giftig, daß sie sich an Bäumen vergriffen, Scheunentüren einen Tritt gaben, ja, daß sie sich beim Kragen packten, wenn einer zufällig den andern mit der Schulter stieß. Hinter ihrem Rücken aber, ohne daß sie es bemerkten, rückten die von Reutte und Kamsen gewaltig an, dreihundert Männer, und noch mehr kamen zu, mit Gewehren, Spießen und Sensen, machten gar keinen Lärm. Wenn es schoß, sah sich kein Lobensteiner um im Lauf; wenn einer fiel, schimpfte der Nachbar: „Wer purzelt, bleibt liegen,“ und war noch zornig auf ihn, weil er nicht mitkam. An den beiden erstochenen Jünglingen vorbei, über Stoppelfelder nach Padrutz.

Als in Padrutz die Behörden die ausgerückten Krieger am Mittag vermißten und zu untersuchen anfingen, wo sie verblieben waren, läutete es Sturm vor dem Grenzwall. Schüsse fielen, das Schießen näherte sich. Die kleine zerfetzte blutende Schar der Kämpfer brach über dem Wall herein und wie sie kam, verstreute sie sich finster in die Häuser, sagte kein Wort, suchte nur nach Waffen. Den Rückweg nach Reutte konnten sie sich ersparen. Denn das Sturmläuten hörte dicht hinter ihnen auf. Die Lobensteiner Polizisten und Beamten klapperten mit ihren Stiefeln auf den Straßen, um zu sehen, was war. Da sprangen um die Ecken die von Reutte und Kamsen her, hatten ihre Schießprügel und Kolben und Dengel und schlugen die Lobensteiner, Mann und Weib, auf den Straßen tot. Die Polizisten und alle, die Vernunft behielten, verschlossen sich in die Häuser und fingen ihrerseits mit Schießen an auf die Eindringlinge. Und so heftig wurde das Knattern der Verteidiger, daß die von Reutte und Kamsen sich in den Gassen nicht halten konnten, sich auf dem Markt sammelten und da in einigen Häusern Feuer anlegten. Bei diesem Handwerk wurden sie überrascht von einer Handvoll der verzagten Lobensteiner, die gewillt waren, mit ihren Gewehren nach Reutte zu laufen zur Brücke. Der Berserkerwut dieser Männer, denen sich ihre Frauen beigesellten, — sie warfen ein paar Reutter gradewegs ins Feuer, — vermochten die schon stark zusammengeschmolzenen Reutter nicht standzuhalten, sie schlugen sich unentschlossen eine Zeitlang herum, bis sie auf das Signal eines ihrer Hauptmänner eine Art Sturmangriff vom Markt her auf die Peripherie unternahmen und so tatsächlich ungestört entflohen.

Die in Padrutz aber wagten sich nun nicht mehr hinaus; sie besahen sich den Schaden. Den Brand löschten sie in traurigem Schweigen. Man suchte, sobald man sich hinaustraute vor das Dorf, Tote und Verwundete zusammen, schleppte sie auf Wagen in das Dorf hinein. Dort standen in einer Reihe mit grimmigen Gesichtern die behördlichen Personen. Sie behaupteten, durch ihre Entschlossenheit die Situation gerettet zu haben, und nahmen schon beim Zählen der Toten einen bedrohlichen Ton gegen die gebrochenen Insurgenten an, welche ohne ihre Genehmigung den Ausfall gemacht hatten; sie stellten eine peinliche Untersuchung in Aussicht. Die verbrecherischen Toten, welche außerhalb gefallen waren, ebenso die dort Verwundeten hießen sie sich besonders zusammenzuhäufen. Mit Polizeiaugen beschauten sie sich Ausstaffierung der Blessierten und Märtyrer und kritzelten alles in eine große Anklageakte. Wenngleich die Beamten nun keineswegs vorhatten, dem Herzog reinen Wein über die Vorgänge einzuschenken, so planten sie, ihn um militärische Hilfe zu bitten unter Zugrundelegung des Materials zugleich zur Bewältigung der inneren und äußeren Unruhen.

Sie waren völlig verblendet. Drei Wochen liefen die Akten den Instanzenweg. Inzwischen geschah im Lande alles, was notwendig war.

Die Lobensteiner kamen nicht zur Ruhe. Sie hatten keinen Groll auf die von Reutte und Kamsen, mehr auf sich, und den heftigsten auf die Behörden. Es konnte nicht so weiter gehen. Da die Straßen wieder gesperrt werden mußten wegen befürchteter Attacken von außen und die Not groß wurde, berieten sie untereinander und schickten eine heimliche Deputation an die wieder befreundeten beiden Orte und zugleich an die alten Padrutzer, ihnen beizustehen, mit ihnen Frieden zu schließen und nach Padrutz zu kommen. Die nahmen alle die Einladung mit Freuden an. Sie kamen nacheinander, und da sie keinen weiteren Widerstand fanden als bei der neueingesetzten Wegekommission, welche vergeblich ihre rostigen Posaunen blies, so nahm die Absetzung der Lobensteiner Behörden, die Überflutung des Landes mit fremdem Volk ihren glatten Verlauf. In ihrem Kummer und ihrer Erbitterung wanderten manche Lobensteiner aus, in die Nachbarschaft und weiter weg; wenige zogen in die Heimat zurück, aber es hieß, daß auch dort Kriegszustand herrsche.

Damals lieferte Herzog Stoffel mit schwankendem Glück die letzten Schlachten dem Kurhessen; noch zwei Jahre dauerte es, bis Hessen seine Hand auf Lobenstein legte und den Herzog samt seinem Hofstaat zu dauerndem Kuraufenthalt nach Bad Pyrmont verbannte. Als einige alte Lobensteiner von ihrem Fenster in Padrutz sahen, wie die ganz veränderten Landsleute selbst die Behörden fortschleppten ins Gewahrsam, weinten sie und riefen herunter: „Vertragt euch, Kinder, vertragt euch! Wenn das unser guter Stoffel wüßte!“ Aber nicht einmal der Appell, daß sie, vom Herzog selbst als die Tüchtigsten erwählt, nun solche Undankbarkeit erwiesen, fruchtete mehr; in diesen Entmenschten unten waren alle patriotischen Regungen erstorben. Es war kurz und gut zu Ende mit den Lobensteinern, und so weit war es gekommen, daß die Lobensteiner selbst wünschten, unter Fremdherrschaft zu leben und ihre Heimat zu vergessen.

Nach wenigen Monaten war in Padrutz alles auf ein gesundes Geleise geführt. Altpadrutzer, Neupadrutzer, Männer von Reutte und Kamsen, die sich so kriegerisch befeindet hatten, wohnten durcheinander, zwischeneinander. Die böhmische Stadt Olmütz hatte die Herrschaft übernommen in teilnehmender Angst, daß unter den Dörfern in ihrer Nähe Rangstreitigkeiten entständen; auch erhob sie deswegen im Namen des Königreichs Böhmen Steuern von allen. Manchen Lobensteinern ging das Akklimatisieren schwer an; sie hatten ihr festfrohes Blut noch nicht besänftigt. Das war oft noch ein schmerzliches Prahlen, Stolzieren, Schmuckreichtum auf den belebten Plätzen von Padrutz; ja diese taten sich, als wenn sie adlig wären unter den anderen und sprudelten ihre Meinung wie sonst heraus. Da griff aufgehetzt die königliche Stadt Olmütz ein und benutzte ihre Kreishoheit dazu, den Leutchen in umschriebener Weise ihren Adel zu bestätigen: sie ließ von einigen geübten Kupferstechern und Holzbrandmalern Schablonen herstellen mit dem Lobensteiner Doppeladler; diese Schablone ließ sie bei offenem Markt einigen ertappten rheinischen Herrschaften auf das unbekleidete Rückgrat drücken und nunmehr dort als unvergängliches Signum mit Ätzstichen befestigen. Die Stadt Olmütz stellte den kehrseitig so gezierten frei, jederzeit ihr approbiertes Wappen offen zur Schau zu tragen, verfügte sogar, sobald einer sich auf Lobensteiner Manier öffentlich erginge, sollten alle Padrutzer Männer und Frauen das Recht haben, sich zu überzeugen, ob jener durch sein Wappen zu solchem Tun ermächtigt sei.

Dies war also das Grabsiegel, das endgültige, das auf die Lobensteiner Regierung gedrückt wurde. Zu guter Letzt stellte sich noch eines Tages die kratzbürstige Philine aus der Nepomukgasse zu Prag ein; Sie hatte vom Rhein vernommen, daß der Stoffel in Pyrmont wohne, wie sie in Prag; nur bezöge der Herzog eine kurhessische Apanage, eine Oppositionspartei unterhielte er in Lobenstein und geheime Akten liefen nur so hin und her wie geölt. Das hatte einen gewissen Anstrich. Sie fuhr deshalb eines schönen Vormittags von Olmütz her die Chaussee nach Padrutz hinauf; sechsspännig fuhr sie. Vor dem letzten Wirtshaus ließ sie halt machen, Pferde und Begleiter tränken, Laternen, Räder putzen und blank machen. Dann ging es feierlich mit Trompetengeschmetter nach Padrutz hinein. Das alte grafschaftliche Wappen prunkte an dem Wagenschlag, auf den Schabracken; zwei Kutscher auf dem Bock in gelbroter Livree mit Schnüren an den Ärmeln und goldgezierten Chapeaus; drei Vorreiter mit blitzenden Trompeten und Degen; drei Jäger hinterdrein. Im Wagen die pompöse Philine mit rotem Gesicht, Puderperücke. Eine Hofdame ihr gegenüber auf dem gelbseidenen Polster, das pausbackige Kind im Arm, dessen Kleidchen himmelblau bis auf den Boden floß. Das war ein Gedrehe und Geziere im Wagen. Über das unerwartete Ereignis liefen die Leute von allen Seiten herbei. Philine lächelte immer gnädig aus ihrem fetten Antlitz, ließ jeden Augenblick halten, sprach mit Bekannten, reichte die rechte Hand, die linke Hand, tat als wenn sie wiederkehrte: „Wie froh bin ich, daß es euch gut geht. Und da steht ja auch der Franzel, der ist aber schön groß und rund geworden. Und das Häuschen drüben ist abgebrannt samt den Kuchenkringeln, ja Ihr habt nette Sachen gemacht bei eurer Revolution! Aber es wird alles gut werden, verlaßt euch drauf. Guten Tag, Sepp, guten Tag, Gottlieb.“ Die Altpadrutzer rieben sich unentschlossen die Nase, sagten zumeist: „Guten Tag,“ dachten, lebt denn die auch noch und zogen ihrer Wege. Viele grinsten offen über das Getue. Auf dem Markt, wo die abgesetzte Dame lange verweilte und mehrfach im Kreise herumfuhr, stellten sich auch bald Magistratspersonen ein. Ein alter Mann trat aus seiner Haustür, über der ein großer vergoldeter Schirm hing. Dieses war ein bekehrter Lobensteiner, der sich dem Olmützer und königlich-böhmischen Regiment verschworen hatte. Er sah mit Grimm die verflossene Philine einherkariolen. Als die Kutsche in seiner Nähe war, bewegte er den schweren Leib hin an ihren Wagenschlag, streckte den Kopf vor und bat Philine knurrig, sich sein neues Schaufenster anzusehen. Sie rauschte gerührt in ihrer gelbrosa Pracht hinaus, wackelte vor dem Laden leutselig mit dem puderstäubenden Haupte. Er aber, als sich viel schmunzelndes Volk angesammelt hatte, grunzte grob, er wolle sie sich auch einmal betrachten. Sie hätte eine so schöne runde Figur von allen Seiten; da eigne sie sich ja vorzüglich für die hier moderne Art der Wappentracht. Die Lobensteiner wüßten darüber Bescheid; sie solle sich einmal informieren, zur Rechten oder Linken; er selbst würde dafür Sorge tragen, daß ihr der neue Orden verliehen würde, der Doppeladler, wenn sie das nächste Mal vorbeikäme. Sie dankte von oben herab, wußte nicht, was das brüllende Lachen bedeute und der unflätige Ton des Menschen. Sie ließ den Wagen umkehren nach einer Nebenstraße, aber zwei junge Leute, die Söhne des Alten, fühlten sich berufen noch mitzusprechen. Sie baten mit wenig merklichem Hohn und großer Fixigkeit um die Erlaubnis, ihre geliebte Herrscherin kutschieren zu dürfen. Und während die galonierten Kutscher zur Seite marschierten, lenkten oben die ernsten augendrehenden Gesellen, und sie lenkten, ob die verehrte Landesmutter wollte oder nicht, die Kutsche aus dem Ort hinaus, nach Olmütz hinein in einem glatten Trapp und setzten die Herrscherin ab vor dem Verleihinstitut, aus dem Kutsche und Pferde stammten. Dort verneigten sie sich, verzichteten auf jedes Trinkgeld und versprachen allseits das Beste, wenn man wiederkäme. Philine stand mit der blauseidenen Erbprinzessin auf der Straße und vergoß Tränen. Sie hatte zuletzt die beiden Burschen noch am Dialekt als ihre alten Lobensteiner Feinde erkannt, und der Tort, den man ihr antat, schmerzte darum doppelt. Ein Korbwägelchen mußte sie besteigen; das Kind und die Perücke hatte sie auf dem Schoß. In Prag warf sie sich in die Arme ihres Fouragehändlers; der welterfahrene Mann legte erst das Kind trocken, dann tröstete er die enttäuschte Landesmutter.

Und damit ist alles beendet von der Lobensteiner Reise nach Böhmen. Heute wissen die Padrutzer nichts mehr von ihrer zusammengesetzten Natur. Sie tun ihre Feldarbeit und vielerlei Handwerk tapfer und wohl vergleichbar unter selbst gewählten Schulzen. Einen Doppeladler sieht man auch jetzt bei ihnen, aber über ihren Köpfen, an den Fahnenstangen. Denn das kaiserliche Österreich führt sein stolzes Regiment über sie.






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Alfred Döblin

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electronic work or group of works on different terms than are set
forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
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1.F.2.  LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
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liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees.  YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
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LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
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opportunities to fix the problem.

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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
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WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
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with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org.  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     gbnewby@pglaf.org


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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