The Project Gutenberg eBook, Rittmeister Brand; Bertram Vogelweid, by Marie Ebner von Eschenbach

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Title: Rittmeister Brand; Bertram Vogelweid

Zwei Erzählungen

Author: Marie Ebner von Eschenbach

Release Date: February 8, 2010 [eBook #31233]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK RITTMEISTER BRAND; BERTRAM VOGELWEID***

 

E-text prepared by Norbert H. Langkau, Evelyn Kawrykow,
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Anmerkungen zur Transkription:

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Rittmeister Brand.

Bertram Vogelweid.


Zwei Erzählungen

von

Marie von Ebner-Eschenbach.

Verlags-Logo

Berlin.

Verlag von Gebrüder Paetel.

1896.


Alle Rechte, vornehmlich das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.


 

 

Ihrer Königlichen Hoheit der durchlauchtigsten Prinzessin

Mary von Hannover

in tiefster Verehrung

 

 

zugeeignet.

 

 


[1]

Rittmeister Brand.

I.

Dietrich Brand entstammte einer uralten angesehenen Kaufmannsfamilie. Seit fast einem Jahrhundert bestand das Rohseidengeschäft Brand & Co. in Ehren auf dem Wiener Platze. Es hatte seine Begründer und ihre nächsten Nachfolger reich gemacht und trotz der Ungunst der Verhältnisse in den letzten Decennien keinen Rückgang erfahren. Diesen Erfolg verdankte das Haus der Tüchtigkeit seines Chefs, und Niemand zweifelte, daß sein willensstarker und energischer Sohn sein Nachfolger werden würde. Durch lange Zeit blieb das streng, sogar vor einander bewahrte Geheimniß seiner Eltern: Dietrich zeigt zum Kaufmannsstande wenig Lust und Talent.

Trotzdem war es ein Tag des Entsetzens für sie, als er kam und ihnen seinen unerschütterlichen [2] Entschluß kund that, nichts anderes zu werden, als wozu er sich im Innersten berufen fühlte, Soldat.

Warum Soldat, um Gotteswillen? Warum nicht Beamter oder Landwirth, wenn schon durchaus nicht Kaufmann? – Ja, weil er dazu beitragen wollte, die außer Rand und Band gerathenen Menschen wieder an Zucht zu gewöhnen. Weil er erziehen wollte, wie er von klein auf gethan. Das mußten die Eltern gelten lassen. An dem Hunde und Papagei seiner Mutter, an den Tauben und Spatzen, die er mit Weißbrotkrumen auf den Fenstersims lockte, an Allen hatte er – und mit Glück – erzogen. Im Sommer, wenn die Familie in ihrer Villa in Neuwaldegg Aufenthalt nahm, kamen die Kinder dran. Da war er immer von einem Trupp umgeben, den er commandirte und der ihm gehorchte, weil es sich von selbst versteht, daß man dem Dietrich Brand gehorcht.

Dem Vater wollte das Befehlshaberische im Wesen seines Sohnes nicht gefallen: »Aus Dir wird einmal ein Schulmeister,« sprach er zu ihm.

»Nicht ein Schulmeister, ein General,« antwortete Dietrich.

[3] Ja, sie hätten es voraus sehen können und nicht schweigen sollen. Auch nicht zu den schweren Kämpfen, die er im Stillen bestand. Den Trübsinn, der ihn seit längerer Zeit ergriffen hatte, sein übles Aussehen, die rothen, überwachten Augen, mit denen er jeden Morgen zum Frühstück kam, erklärte Vater Brand für Symptome der Übergangsjahre, die einem weiter keine Sorgen zu machen brauchen. Das sagte er freilich nur, um »die Frau« zu beruhigen, die sich wieder ihm zur Liebe beruhigt stellte; denn die wahre Liebe, die Alles kann, kann sogar ihre eigenste Natur verleugnen, kann sogar lügen, wenn’s gilt.

Als Dietrich ihnen sein Vorhaben mittheilte, wußten die Beiden gar wohl: Leicht ist es ihm nicht geworden, unsere Luftschlösser nieder zu reißen und unsere Altershoffnungen bankerot zu machen.

Was ihnen anfangs ganz unauffindbar schien, war der Zusammenhang zwischen seiner Lust am Erziehen und seiner Liebe zum Militärstande. Er wies ihnen aber nach, daß kein anderer so viel Macht verleiht, auf den armen und ungebildeten Nächsten fördernden Einfluß zu nehmen. Und in diesem edelsten Stande giebt es wieder keine Waffengattung, [4] die dem Erzieher so viel Möglichkeit bietet, sein Talent nutzbringend zu entfalten wie die Kavallerie. Das Wesen, dem ich meine Sorgfalt widme, wird zugleich angehalten, die seine einem anderen Wesen zu spenden – seinem Pferde. Da steht also der Mann gleichsam in der Mitte zwischen einer heilsamen Ursache und einer heilsamen Wirkung und erfährt zugleich zweifachen Nutzen. Deshalb wollte Dietrich Brand nicht nur Soldat, er wollte ein Reiter werden, ein schwer wiegender, ein Dragoner.

»Unser Sohn ist ein Feuergeist,« klagten die tiefbetrübten Eltern ihrem Vertrauensmanne, dem greisen Buchhalter; und er dachte bei sich: Zur Hälfte Feuergeist, zur Hälfte Pedant. Die Sorte setzt Alles durch.

Klug wie er war, befolgte er auch dieses Mal die bewährte Praxis, die ihm das Vertrauen des Herrn und der Frau Principal sicherte. Er rieth ihnen, das zu thun, was sie ohnehin gethan hätten – nachzugeben.

Der Vater versöhnte sich nie ganz mit der Berufswahl Dietrichs; aber das uneingeschränkte und einstimmige Lob, das seinem Sohne gezollt wurde, [5] freute ihn doch. Was seine Vorgesetzten am meisten an ihm rühmten, um was seine Kameraden ihn am meisten beneideten, das war die unerschöpfliche Geduld, die ihn bei all’ seiner eisernen Strenge nie verließ.

»Hätten wir viele Offiziere wie Sie, würde unsere Armee zur grandiosesten Volkserziehungsanstalt der Welt,« hatte ein sehr hoher Herr zu Dietrich gesagt, und an diesen Ausspruch erinnerte man sich im Regimente noch lang, nachdem Brand aus ihm geschieden war.

Seine Mutter gerieth nach und nach in eine wahre Begeisterung für den Militärstand. Vom Tage der Ernennung ihres Sohnes zum Lieutenant begann sie den Militärschematismus zu studiren und fehlte bei keiner Revue auf der Schmelz. Remonte, Train, Ménage, Zug, Eskadron, Regiment, Division, in der Tour, außertourlich u. s. w. wurden für sie gebräuchliche Worte. Von allen kamen aber keine so oft über ihre Lippen wie die: »Mein Sohn, der Lieutenant.« Als sie sagen durfte: »Mein Sohn, der Oberlieutenant,« und als er in dieser Charge die Wiener Garnison bezog, da mußte Vater Brand [6] mit ihr hinaus fahren auf den Exercirplatz zu jeder Truppenausrückung. Die Gattin an seiner Seite gerieth beim Defiliren der Regimenter in solche Extase, daß er sich fragte, ob der Sohn nicht am Ende von ihr die kriegerischen und heroischen Neigungen geerbt habe. Aber die erbliche Belastung wäre in dem Falle schwer nachweisbar gewesen, denn Frau Brand entstammte, wie ihr Gemahl, einer alten, friedfertigen Kaufmannsfamilie.

Im Winter wurde der Zug des Oberlieutenants Brand mit Puls- und Seelenwärmern, mit Socken und Flanellunterkleidern so reichlich versehen, daß die Leute sich durch ihr behagliches Aussehen vor allen Anderen auszeichneten. Frau Brand erlebte auch noch die Glückseligkeit, von ihrem Sohne, dem Rittmeister, sprechen zu können und ihren guten Alten dazu ein wenig schmunzeln zu sehen.

Zu der Kaiserrevue in dem Jahre, in dem Dietrich zum ersten Male eine Eskadron kommandirte, kam seine Mutter allein gefahren im schönen offenen Landauer. Die Pferde hatten schwarze Geschirre, und die Diener trugen schwarze Livrée, und im Wagen saß eine gebrochene Frau in [7] Wittwentrauer. Noch ein Jahr, und der Rittmeister hatte keine Eltern mehr, er hatte auch sonst Niemanden, er hatte nur seinen Beruf.

Nein, man darf nicht sagen »nur«, wenn von einem Beruf die Rede ist, von einem vollen, ganzen. Der Beruf ist Alles, ist mehr als Eltern und Kinder, als die Geliebte, als der Freund. – So glaubte Dietrich wenigstens damals.

II.

Wenn seine Mutter ihm gesagt hatte: »Du solltest doch endlich ans Heirathen denken,« war seine Antwort gewesen: »In Gottesnamen; nur nicht zu viel, nur nicht zu oft; mein Beruf läßt mir keine Zeit zu Nebenbeschäftigungen.«

Und gerade im ersten Sommer nach dem Tode der guten alten Frau verliebte er sich. Es geschah so sachte, so allmählich, daß er’s anfangs gar nicht merkte. Die Ehe seiner Eltern hatte ihn gelehrt, von der Liebe den höchsten Begriff zu haben. Sie kommt nicht, oder im Triumphe, die unwiderstehliche, allmächtige Siegerin. Und nun war sie erschienen [8] ohne Sang und Klang, hatte sich ihm ins Herz geschlichen unter fremdem Namen in der bescheidenen Gestalt von Sympathie, Werthschätzung und tiefem Mitleid.

Die es ihm angethan hatte, hieß Sophie von Henning, und war die Tochter eines mährischen Landedelmannes, der sich, als Brands Eskadron in der Nähe seines Gutes einquartiert wurde, eben damit beschäftigte, die Reste seines einst ansehnlichen Vermögens in alle Winde zu streuen.

So lange seine, ihm weit überlegene Frau am Leben gewesen war, hatte sie verstanden, seiner Verschwendungssucht bis zu einem gewissen Grade Einhalt zu thun. Nach ihrem Tode, den er sechs Wochen lang leidenschaftlich betrauerte, erwachte er aus seinem Grame als ein verjüngter, lebensfreudiger Mensch. Er färbte seine Haare, unterzog sich einer Entfettungskur, machte jungen Damen den Hof, stellte kostbare Pferde in den baufälligen Marstall ein, steckte seine dörfliche Dienerschaft in Livréen von falscher Eleganz, und hielt offenes Haus.

Seine Tochter sah den Augenblick des unabwendbaren Zusammenbruches immer näher heran [9] kommen, war aber dem leichtsinnigen Vater gegenüber ohnmächtig. Sie konnte nichts thun, als mühsam und unter Entbehrungen aller Art die Lücken und Risse verkleistern, die hinter der kläglichen Herrlichkeit des zu Grunde gehenden Haushaltes klafften.

Herr von Henning nahm die Hülfe Brands, der ihn schon mehrmals aus momentaner Verlegenheit gerettet hatte, mit der größten Unbefangenheit in Anspruch. Sobald der hart gesottene Optimist die Spur einer Neigung des Rittmeisters für Sophie wahrgenommen hatte, stand es ihm auch fest: Brand wird sein Schwiegersohn und rangirt ihn. In fröhlicher Weinlaune vergaß er sich einmal so weit, daß er in Gegenwart der Beiden Anspielungen auf diesen Zukunftsplan machte.

Von Stunde an veränderte Sophiens Benehmen gegen Brand sich völlig; keine Spur mehr des unbefangenen Vertrauens, mit dem sie ihm bisher begegnet war, auch keine auffallende Zurückhaltung, die wieder auszeichnend gewesen wäre. Gleichgültigkeit schien an die Stelle der stillen, tiefen Neigung getreten zu sein, die in ihr erwacht war, ihren Ernst [10] hold durchsonnte, ihr stilles Wesen lieblich verklärte.

Aber Dietrich ließ sich nicht täuschen: er bewunderte die Seelenstärke, mit der sie ihre Neigung verleugnete, den Stolz, aus dem diese Selbstverleugnung entsprang. Zum ersten Male erwog er die Möglichkeit, seine goldene Freiheit aufzugeben und sich fürs Leben an ein anderes Wesen zu ketten. Dann hatte er die Wahl: austreten – den Gedanken schleuderte er nur so hinweg; oder: allen seinen Überzeugungen und Grundsätzen untreu werden und als verheiratheter Mann weiter dienen. Also – thun, was er von jeher verschworen hatte: eine Frau, und weiß Gott wie bald, auch Kinder nachschleppen in kleine Kavallerie-Garnisonen, immer bereit, das eben erst errichtete Zelt wieder abzubrechen.

Militärwirthschaften – er hatte ihrer genug vor Augen – waren ihm ein Greuel. Kaum hat die Familie sich seßhaft gemacht, wohnt leidlich, schickt die Kinder in die Dorfschule oder den Dorfschullehrer zu den Kindern, und schon wieder heißt es wandern. Die richtige »ärarische Frau« sagt dann [11] zu ihrem Manne: »Du brauchst Dich um nichts kümmern, die Übersiedlung ist meine Sache.« Der Bagagewagen steht vor der Thür und daneben sie und überwacht das Aufladen der Einrichtungsstücke, der Betten, der Kisten. Ein Kind hängt sich an ihr Kleid, ein anderes ist in Gefahr, unter die Räder zu kommen, wie der Wagen sich in Bewegung setzt, ein drittes heult um sein Schaukelpferd, das ihm davon geführt wird. Der »ahnungsvolle Engel« sieht es im Geiste schon nach dem Überladen auf den Lastzug und von da wieder auf den Fuhrmannswagen mit drei Beinen ankommen, wenn’s gut geht. Die Tische und Stühle theilen sein Schicksal. Im unbekannten Lande, im neuen Haus, das meistens eine Hütte ist, wird dann geleimt, geflickt, die Bude wieder hergerichtet – fürs Auge.

So manche unternehmende Lieutenantsgattin lädt schon am Tage des Einrückens in die Station einige Offiziere zum Thee. Auf einer umgestürzten Kiste wird er servirt, aus schartigen Tassen getrunken. Wie der Hausrath aussieht, wie die Kinder untergebracht sind, darüber geht man hinweg mit Leichtsinn und Humor. – Aber haben muß man die, [12] ein Pedant darf man nicht sein, für den die schönste Frau allen Reiz verliert, wenn er dahinter kommt, daß sie nicht Ordnung hält in ihrem Wäscheschrank. Ein solcher Mann darf seine Frau nicht in Lagen bringen, in denen die Schönheit der äußeren Lebensform gar zu oft verletzt werden muß.

Nein denn, und dreimal nein.

Und nun kam er auf den Gedanken, den er schon als völlig unausführbar verworfen hatte, zurück – den Dienst aufgeben.

Ja, er überlegte, erwog die große Frage aufs Neue. Konnte es einen besseren Beweis geben, daß er liebte, innig und tief? Aber das Resultat seines peinigenden Nachgrübelns war doch wieder »nein« gewesen. Und nun stand es fest, und kein Gott hätte daran rütteln können. Dem Rittmeister blutete das Herz. Man sagt das oft so leicht hin: Mir blutet das Herz. Erfahre es nur an dir selbst, wie das ist, wenn sich’s zusammenschnürt, immer fester, immer erstickender, bis man meint, die schweren, schmerzenden Tropfen hervorquellen zu fühlen, mit denen Frohsinn und Lebensfreude dahin fließen.

Er wußte auch: Sie leidet und vielleicht mehr [13] als er selbst; sie hat ja nicht einen Beruf, der für Alles Trost bietet, sie hat nur elende Sorgen.

Seitdem Brand das Haus Henning mied, war dort ein Freier aufgetreten, der sich bisher vor dem brillanten Rittmeister bescheiden im Hintergrunde gehalten hatte, ein Herr von Müller, Major in Pension, von dem es hieß, daß er ein wohlhabender Mann sei und den traurigen Muth haben wolle, das verschuldete Gut Hennings zu übernehmen. Er knüpfte an dieses problematische Erlösungswerk die Hoffnung, Sophie werde sich entschließen, ihm ihre Hand zu reichen. Sie that es nicht, sie widerstand seinem treuen Werben, dem flehenden Beschwören ihres Vaters.

Brand hörte durch gemeinsame Bekannte ab und zu von ihr in der fernen Garnison, in die sein Regiment versetzt worden war.

Zwei Jahre gingen vorüber, da traf eine überraschende Kunde ein. Müllers Großmuth und Güte mußten Sophie endlich gerührt haben, sie war seine Frau geworden.

[14]III.

Nun erfuhr Brand, was heiße Reue ist. Er sagte sich, daß es doch besser gewesen wäre, im Kampfe gegen seine Herzensneigung zu unterliegen als zu siegen. Schade, schade um diese edle Sophie, die ihm herabgewürdigt schien durch eine nicht aus Liebe geschlossene Verbindung. Die Schuld an dem schweren Unrecht, das damit an ihr begangen wurde, maß er mit gutem Grunde sich selbst zu.

Alles, was Brand damals im Stillen litt, trat aber bald in den Hintergrund vor einem anderen wichtigen Ereigniß, das über seine ganze Zukunft entscheiden sollte.

Von Kind auf hatte er bedauert, daß er keine Geschwister gehabt, keinen schwachen, kleinen Bruder, den er hätte beschützen, leiten, erziehen können. Im Regimente fand er, was die Familie ihm schuldig geblieben war, den jüngern, etwas unselbständigen Kameraden, auf den er alle Bruderliebe, die in ihm geschlummert hatte, übertragen konnte, und der ihm dafür durch unbedingte Ergebenheit dankte.

Es war ein schöner, etwas zur Melancholie [15] geneigter Mensch, dem das Leben mehr Bitternisse zu kosten gegeben hatte als gut ist für eine feine, scheue Natur. Früh verwaist, arm, die ganze Kindheit hindurch auf das Gnadenbrot angewiesen, das wohlhabende Verwandte ihm und seiner Schwester widerwillig reichten, schlug für ihn die erste glückliche Stunde, als seine Angehörigen seinem Drängen nachgaben und ihm erlaubten, in eine Militär-Erziehungsanstalt zu treten. »Er wird die harte Schule bald satt haben,« meinten sie, »und ungestümer herausstreben, als er hineingestrebt hat.« Sie irrten. Er bestand die harte Schule zum Verdruß der Onkel und Tanten, denen seine Ausdauer als eine weitgetriebene und ziemlich respektlose Rechthaberei erschien. Sobald die lange – oft endlos scheinende – Lehrzeit vorbei und er Offizier geworden war, hatte er seine Schwester zu sich nehmen wollen. Darüber lachte man nur. Einem zwanzigjährigen Lieutenant, wenn er auch ein Muster von Solidität ist, pflegt man nicht ein achtzehnjähriges Mädchen zur Vollendung ihrer Erziehung zu übergeben. »Ihr müßt warten,« sagten der Onkel-Vormund und seine Frau, denen es sehr angenehm [16] war, eine unbesoldete Bonne im Hause zu haben, auf die man sich unbedingt verlassen konnte.

Die Geschwister warteten, bis die Ernennung Wildensteins zum Rittmeister nahe bevorstand und seine Schwester mündig gesprochen werden sollte. Sie hatten in dem kleinen, dunkeln Hofzimmer, das sie bewohnte, das letzte, kurze Wiedersehen vor der letzten Trennung gefeiert. »In drei Wochen also komme ich und hole Dich« – hatte er gesagt, und sich erhoben und ihr die Hand gereicht. Aber sie hatte die Hand nicht erfaßt, sie war in unaussprechlichen Jubel ausgebrochen. Die Schüchternheit, von der sie sonst in der Nähe des abgöttisch verehrten Bruders ergriffen wurde, verschwand. Sie stürzte in seine Arme, und ihre Glückseligkeit verrieth ihm, wie viel sie bisher gelitten hatte: So nahe der Augenblick, in dem die Sehnsucht ihres ganzen Lebens sich erfüllen sollte! So nahe die Erlösung! Es war kaum zu fassen, es berauschte sie, es stand vor ihr wie das plötzlich geöffnete Himmelsthor: »Ich werde bei Dir sein!« Sie lag an seiner Brust, die kleine, stille Dulderin, seine echte Schwester, so schweigsam und tapfer in ihrer Weise, wie er in der seinen – und weinte.

[17] Da verlor er seine gewohnte Selbstbeherrschung, sein Herz überfloß. Sie erfuhr, daß er ihrer bedurfte, ihrer tröstenden, heilenden Nähe, der immer wach erhaltenen Überzeugung: da ist ein Wesen, für das ich leben muß. Wäre sie nicht, würde er selbst nicht mehr sein; er hätte längst den Qualen einer thörichten, verdammenswerthen und unüberwindlichen Liebe ein Ende gemacht. Als er seine Schwester in die Tiefen seiner Seele blicken ließ, lernte sie mit Entsetzen eine Leidenschaft kennen, von der bis jetzt nicht die leiseste Ahnung in ihr gedämmert hatte. Ihr Bruder liebte eine Unerreichbare, liebte wie nur einsame und verschlossene Menschen lieben, die bezaubernde junge Frau seines Obersten. Gräfin Erny ermuthigte ihn nicht – er betheuerte, daß sie es nie gethan habe. An Wahnsinn grenzte, sich einzubilden, der Wunsch vermöchte die Erfüllung zu erzwingen, es war Aberwitz, kühne Hoffnungen zu nähren. Er wollte sie austilgen, sich befreien, dem entnervenden Kampfe ein Ende machen, und zählte dabei auf die Hülfe seiner Schwester.

Als er sie verließ, blieb sie, im Innersten erschüttert, [18] zurück. Erhört oder zurückgewiesen werden, fragte sie verwirrt und rathlos: Was ist das größere Unheil in dieser sündhaften Liebe? Aus ihrem Gleichgewicht gebracht, in unsäglicher Angst um ihn, hätte sie sich an seine Fersen heften, nicht mehr von ihm weichen mögen. Sie hatte so lange geduldig gelitten und gewartet; die zwanzig Tage, die sie noch von dem Zusammenleben mit ihm trennten, glaubte sie nicht überdauern zu können.

Sie schrieb ihm täglich; er beschäftigte sich mit den Vorbereitungen zu ihrem Empfang, und Rittmeister Brand, der sonst zu zetern und zu wettern pflegte, wenn die Ankunft einer Frau in der Station bevorstand, erwartete die Schwester des Freundes mit fast ebenso großer Ungeduld wie dieser selbst. Ehe noch ein Auge sie erblickt hatte, that sie Wunder: Brand sehnte ihr Erscheinen herbei, Wildenstein brachte es in der Selbstbeherrschung so weit, vierzehn Tage lang den Anblick der geliebten Frau zu meiden. Das war mehr, als er sich zugetraut hatte, und es gewährte ihm eine stolze schmerzvolle Freude, der Schwester schreiben zu können: »Wieder ein Tag, an dem ich sie nicht gesehen habe. Sei Du [19] nur einmal da, und was mir jetzt als etwas Ungeheueres erscheint, wird mir leicht werden.«

Die Oberstin zeigte sich verstimmt; sie wollte Wildenstein nicht verlieren. Es verdroß sie nicht nur, es kränkte sie, daß er vermochte, den Gleichgültigen zu spielen, zu thun, als ob sie ihre Macht über ihn eingebüßt hätte.

Gräfin Erny war mehr als schön, sie war bildhübsch, lebenslustig, emotionsbedürftig und hatte Anwandlungen von Sentimentalität. Als fünfte Tochter eines unbegüterten, ungarischen Edelmannes geboren, bei reichen Verwandten aufgewachsen, kehrte sie nach deren Tod in das väterliche Haus zurück. Die kühle Aufnahme, die sie dort fand, that ihr weh, die kleinlichen Verhältnisse beengten sie. Nur fort, wieder fortkommen, heirathen, gleichviel wen, wenn er sie nur erlöst aus der Familie, in der sie das fünfte Rad am Wagen ist, war fortan ihr heißer Wunsch. Als ihr Vater ihr lachend mittheilte, der alte Oberst Graf Prach habe bei ihm um sie geworben, dachte sie einen Augenblick nach und rief dann entschlossen: »Hol’s der Kuckuck, ich nehm’ ihn!«

[20] Er war freilich nicht verlockend, der unförmig dicke Oberst. Um ein Vierteljahrhundert älter als sie, so plump, wie sie zierlich, so langweilig, wie sie sprühend von guten Einfällen war. Allerdings hatte auch Prach eine kurze Blüthezeit gehabt, als er, ein junger Major, mit seinem Regimente die Garnison Wien bezog. Da war er in der Gesellschaft bis in exclusive Kreise vorgedrungen und hatte dort den Spitznamen: »Le bœuf à la mode« erhalten, denn Anlagen zum Dickwerden zeigte er schon damals und war auch nicht gescheiter als jetzt. Aber er konnte doch vor seiner Braut mit einst errungenen Erfolgen prahlen, und sie fühlte sich befriedigt in ihren Ansprüchen auf Glück, wenn sie die Frau eines Mannes wurde, der eine Stellung in der »großen Welt« hatte und Kommandant eines eleganten Kavallerieregiments war.

Kurz nach ihrer Verheirathung erlebte sie eine bittere Enttäuschung. Prach, der bisher immer von väterlicher Freundschaft und von der Unabhängigkeit gesprochen hatte, die Erny als regierende Frau Oberstin genießen sollte, wurde ein verliebter, eifersüchtiger Gatte und ein engherziger Haustyrann. [21] Die schönen, glänzenden Augen der jungen Frau verschleierten sich allmählich, und die leise Trauer, von der die angeborene Munterkeit und Frische ihres Wesens nun oft gedämpft wurde, gab ihr einen neuen Reiz. Er wirkte auf keinen ihrer zahlreichen Verehrer so ergreifend wie auf Rittmeister Wildenstein.

Erny hatte mit ihm gespielt wie mit Allen, die ihr huldigten. Sie ließ sich gern den Hof machen in allen Ehren. Weiter als bis zu einem Handkuß brachten es bei ihr selbst die Unternehmendsten nicht. Seltsam war, daß fast Jeder, der in ihren Banden gelegen hatte, ihr Feind wurde von der Stunde an, in der er seine Eroberungspläne aufgab. Sie mußte eine gar unangenehme Manier haben, die Leute abblitzen zu lassen. Andere wieder, die ihr Glück bei ihr gar nicht versucht hatten, behandelten sie mehr wie einen lustigen Kameraden, denn als Respectsperson.

Herr von Wildenstein war ihr, von allem Anfang an, anders als alle Anderen begegnet. Er verehrte sie wie eine Königin, wie ein höheres Wesen. Ihr mochte das etwas komisch vorgekommen [22] sein, nach und nach aber begann sie den Unterschied zwischen den Huldigungen, an die sie gewöhnt war und denen, die der junge Rittmeister ihr darbrachte, zu fühlen. Der Ton, den sie ihm gegenüber angeschlagen hatte, ihr gewöhnlicher, spielerischer, den Scherz herausfordernder Ton stimmte sich allmählich um. Sie mußte einen Blick in dieses Männerherz gethan haben, der ihr etwas völlig Neues, Schönes enthüllte: eine tiefe, ernste, an die Wurzeln des Lebens greifende Empfindung.

Und die wollte Erny nicht einbüßen, sie wußte sehr wohl, daß sie damit ihren besten Reichthum verlor. Sie beging eine große Unvorsichtigkeit, sie schrieb, sie beschied Wildenstein zu sich. Er kam nicht; sie erfuhr, daß er einen kurzen Urlaub nach Wien genommen hatte. Einige Tage hindurch waren die Briefe von seiner Schwester ausgeblieben, dann gab der Vormund traurige Nachricht von ihr. Sie hatte ihre Zöglinge in einer ansteckenden Krankheit gepflegt und lag nun selbst schwer darnieder.

Als Wildenstein zur bestimmten Frist zurückkehrte, kam er vom Begräbnisse seiner Schwester.

[23] Die Gräfin äußerte ihr Mitgefühl in liebenswürdiger Weise, schonend und herzlich. Wildenstein und sie hatten die Rollen getauscht; sie zeigte sich ihm dankbar, wenn er einer Gelegenheit, ein freundlich tröstendes Wort von ihr zu hören, nicht auswich. Seine Leidenschaft schien erloschen, untergegangen in seinem tiefen Schmerz.

Und doch war der Oberst nie eifersüchtiger auf ihn gewesen als jetzt. Er bewachte, er belauschte seine Frau, er verschlang sie mit den Augen, wenn sie den Namen Wildenstein aussprach, er hätte den zweiten Rittmeister von der Erde forttilgen mögen – und den ersten dazu. Die Eifersucht auf den einen ließ ihn nicht schlafen, der Neid auf das Ansehen, die Beliebtheit, die der andere im Regimente genoß, raubte ihm den Appetit. Seine Anlage zur Grausamkeit, das Erbtheil vieler bornirter Menschen, entwickelte sich unter solchen Umständen zu üppiger Blüthe. Das Offizierscorps und die Mannschaft hatten schlechte Zeiten und waren überzeugt: es giebt keine Hoffnung auf bessere, bevor der Oberst die beiden Rittmeister »weggebissen« haben wird.

Mühe genug ließ er sich’s kosten.

[24] Die Eskadron Brands lag in der Stabstation, und der Morgenritt des Obersten führte an der Reitschule vorbei. Alle Augenblicke war er da, spöttelte, nörgelte – raste, brachte die Leute zur Verzweiflung und Brand beinahe um seine Geduld.

Auch seiner Frau machte der Oberst das Leben schwer. Einmal, in einer Stunde der Empörung über ihn, ließ sie sich hinreißen, Wildenstein ihr Leid zu klagen. Das wurde für beide verhängnißvoll. Die lange zurückgedämpfte Empfindung im Herzen Wildensteins brach mit elementarer Macht hervor; er entrang der Geliebten ein halbes Geständniß ihrer Gegenliebe und drückte in an Wahnsinn grenzendem Entzücken den ersten Kuß auf nur schwach widerstrebende Lippen. Sie hatte ihm durch ihre Klage das Recht gegeben, sie zu beschützen, und dieses Recht war nun sein, und er wollte es wahren, es vertheidigen, und sie war sein. Um dieses höchste Gut sollte ihn keine Macht der Erde bringen. Aber nicht unrechtmäßig, nicht in Unehren wollte er sie besitzen. Er sprach von der Scheidung ihrer Ehe, von dem Eingehen einer neuen mit ihm. Er [25] entrollte vor ihr ein Zukunftsbild, das ihm die Seligkeit auf Erden verkörperte, vor dem ihr aber graute. So hatte sie es nicht gemeint! Empörend und lächerlich erschien der gesellschaftlich hoch stehenden, an Luxus gewöhnten Frau die Zumuthung Wildensteins und er selbst als ein rücksichtsloser Egoist.

Am folgenden Tage erhielt er einen langen Brief von der Gräfin. Sie bat ihn, ihre »gestrige Übereilung« großmüthig zu verzeihen. Sie war seitdem von Reue gefoltert. Sie hatte schwer gegen ihren Gatten gefehlt, dem sie ja im Grunde keinen anderen Vorwurf machen durfte als den, daß er sie zu sehr liebe. Sie hatte sich auch an Wildenstein schwer versündigt, sie hatte ihn – freilich eine Selbstgetäuschte – über die Stärke ihrer Empfindung für ihn getäuscht. Sie würde sich nie entschließen können, ihren Pflichten untreu zu werden, ihren Gatten zu verlassen. »Ich bin in Ihrer Hand«, hieß es am Schlusse. »Sie können mich verderben, Sie sind ein edler Mensch, Sie werden es nicht thun. Ich hoffe, ich baue auf Sie, Sie werden die arme, kleine Erny nicht unglücklich machen [26] wollen. Ich wage nicht, Sie um Ihre Freundschaft zu bitten, ich bitte nur, seien Sie nicht mein Feind.«

IV.

Eines Abends in der Offiziersmenage, – auch der Oberst war da und saß an einem Tische mit Brand, – kam das Gespräch auf allgemeine militärische Verhältnisse. Die Herren geriethen in Eifer, Dietrich behandelte mit besonderer Wärme sein Lieblingsthema: Keine Institution ist zur Erfüllung des hohen Zweckes, die Menschen zu erziehen, so berufen und so fähig wie die Institution des Waffendienstes. Sie stellt die strengsten Anforderungen an die Pflichttreue, Ehrenhaftigkeit, den Mannesmuth. Sie verlangt blinden Gehorsam von den Geführten und deshalb von den Führern sehende Augen, klaren Vorausblick, scharfen Einblick. Sie verlangt von ihnen Gerechtigkeit und Strenge, denn nicht Freiheit braucht der Mensch, der Mensch braucht Zucht. Aber weise muß die Strenge sein; unweise Strenge wird immer Grausamkeit und unter dem [27] grausamen Führer die Mannschaft zur wilden Rotte. Der Dutzendoffizier verroht, der tüchtige verbittert. Ein Fluch für die Armee ist Jeder, der Gewalt hat über Andere und nicht über sich selbst, ein Verräther, der unseren Stand dem Haß und der Verleumdung ausliefert.

Er sah, während er sprach, dem Obersten fest ins Gesicht, und der erwiderte kein Wort, zog die giftigen Äuglein nur immer mehr zusammen. Plötzlich stand er auf, nickte den Herren, die alle zugleich seinem Beispiel folgten, kaum merklich zu und ging nach Hause.

Besonders zeitig fand er sich am nächsten Morgen auf der Reitschule ein, wo Brand Chargenreiten abhielt.

Schon als er vom Pferde stieg, sich in den breiten Hüften wiegte, die Beine warf, daß ihm die Kniescheiben knackten, und am staubfarbigen Schnurrbart ungeduldig zupfte, wußten seine unglücklichen Untergebenen: Der ist geladen. Gnade Gott Jedem, den er heute aufs Korn nimmt.

Der Oberst untersuchte die Packung, die Zäumung, die Bügelschnallung, tadelte Alles, fand auch [28] die Wartung der Pferde, die Haltung der Reiter miserabel, unterzog die Abrichtung selbst einer herben Kritik.

»Herr Rittmeister Brand,« hieß es auf einmal, »Sie scheinen vorzugehen nach einem ganz neuen, eigens von Ihnen erfundenen Reglement. Ihre Unteroffiziere haben die schlechtesten Pferde.«

»Entschuldigen Herr Oberst, das ist nicht der Fall,« antwortete Brand.

»Wie, nicht der Fall?« Er bezeichnete ein Pferd in der Abtheilung Wildensteins, der eben aufgesessen war, und auf den Befehl, in die Reitschule zu kommen, wartete: »Der Braune dort im zweiten Glied ist mir lieber als alle Ihre Unteroffiziers-Pferde.«

»Aber auf einem Auge blind,« sprach Dietrich mit größter Ruhe.

Der Oberst schnaubte: »Was? ... Sie ... Den mein’ ich nicht. Den andern, den lichten, der ist das richtige Unteroffiziers-Pferd.«

»Er ist’s auch gewesen, aber Herr Oberst haben ihn selbst vor vierzehn Tagen als untauglich dazu erklärt.«

[29] Das auf offener Reitschule, vor aller Mannschaft. Dem Obersten liefen dicke Schweißtropfen über die Hängebacken, er biß die Lippen und wendete sich der Abtheilung des zweiten Rittmeisters zu. Mit dem war der Kampf leichter aufzunehmen, der sollte jetzt büßen für den Freund und für sich selbst, hatte ihn der Regiments-Kommandant doch schon lange genug im Magen, den melancholischen Frechling, der es wagte, die Frau Oberstin anzuschmachten.

Die Nörgeleien begannen. Wildenstein erfuhr Rüge um Rüge, Spott um Spott. Was einen Menschen, der seine Schuldigkeit thut, und mehr als seine Schuldigkeit, nur reizen und demüthigen kann, folgte Schlag auf Schlag. Nun entsetzte sich der Oberst plötzlich über das Aussehen eines der Dragoner.

»Kommandiren Sie den Mann in die Mitte der Reitschule,« befahl er, und nachdem das geschehen war, betrachtete er den armen Teufel von Rekruten, einen blutjungen, plumpen, hochschultrigen Burschen, und schrie dann auf, mit geheucheltem Zorn: »Der ist ja bucklig. Sagen Sie mir einmal, [30] Herr Rittmeister Wildenstein, wie heißt der Mann? – Wie er heißt, frag’ ich.«

Merkwürdig – der Rittmeister besinnt sich. Hat ihn das Gedächtniß verlassen, hat er nicht reden können, weil es schon so gekocht hat in ihm, er antwortete nicht. Da brach der Oberst in ein abscheuliches Lachen aus: »Ach ja, freilich, Männernamen merken Sie sich nicht. Freilich, freilich, wenn eine Amalia Rosenduft oder eine Eulalia Lilienstengel da oben säße, da hätten Sie nicht nöthig, erst lange nachzudenken. Ich muß Ihnen doch rathen, befassen Sie sich zeitweise wenigstens mit dem, was Ihre Pflicht ist.«

»Herr Oberst«, knirschte Wildenstein, und in seine Arme hätte Dietrich ihn nehmen, wegtragen hätte er ihn mögen. Er sieht es ihm an, es ist aus mit seiner Selbstbeherrschung, seiner Willenskraft, mit Allem.

»Schweigen Sie,« donnerte der Oberst ihn an. »Riskiren Sie nicht ein einziges Wort, man soll das Schicksal nicht versuchen, wenn man so wenig Glück hat wie Sie.«

Das war mit einer so schändlich gemeinen [31] Ironie gesprochen, daß es Jeden anwiderte, der es mit anhören mußte. Wildenstein war leichenblaß: »Herr Oberst,« sprach er mit lauttönender Stimme, »ich dulde das nicht, das gehört nicht hierher.« Seine Hand ballte sich um den Säbelgriff, er trat auf den Kommandanten zu.

Brand sprang ihm nach, packte ihn und hielt ihn fest.

»Gehen Sie zum Profosen, ich mache Ihnen den Proceß,« sagte der Oberst. Er triumphirte; endlich war die Gelegenheit da, Herrn Rittmeister Wildenstein den Hals zu brechen.

Als der sich wendete, um zu gehorchen, stand Dietrich vor ihm und sah ihn unsagbar besorgt und beschwörend an. Wildenstein antwortete mit einem ernsten, entschlossenen Blick, einem Blick, der deutlich sprach für den verstehenden Freund: »Sag’ selbst, ist’s nicht genug?«

Nach dem Schluß der Reitschule ging Brand gerade aus ins Quartier seines Freundes. Da fand er ihn, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf dem Bette sitzend, neben ihm lag die abgeschossene Pistole; er hatte sich meisterlich ins [32] Herz getroffen. Auf dem Tische war sein Geld ausgebreitet, zweiundvierzig Gulden, und ein Briefbogen, auf dem mit Bleistift geschrieben stand:

»Lieber Dietrich, zwanzig Gulden meinem Burschen, den Rest den Leuten meiner Abtheilung. Hab’ Dank für Deine Liebe und Treue. Auf Wiedersehen. Ich glaube dran.«

Dieser Tag und die darauf folgende Nacht waren die schwersten im ganzen Leben Dietrich Brands. Da muß er fürchterlich mit sich gerungen haben. Am Morgen war sein Entschluß gefaßt. Beim Begräbniß des Freundes hat er zum letzten Male den Säbel gezogen.

Nach der Heimkehr von der Beerdigung verfaßte er sein Gesuch um Enthebung von der Militärcharge.

Im ganzen Regimente rief der Entschluß Brands Bestürzung hervor. Aber das änderte nichts daran. Er that auch keinen Dienst mehr. Der Regimentsarzt stellte ihm ein Krankheitszeugniß aus und konnte es mit gutem Gewissen thun. Er war ehrlich besorgt und sagte: »Ein Nervenfieber oder der Wahnsinn – der Herr Rittmeister kann von [33] Glück sagen, wenn er ohne eines von beiden durchkommt.«

Als das Gesuch des Rittmeisters bewilligt worden und er wieder in den Civilstand zurückgetreten war, schickte er seine Herausforderung dem Obersten zu. Der nahm sie an; seine Secundanten und die Brands einigten sich ohne Schwierigkeiten über die Bedingungen des Duells: Pistolen, zehn Schritte Barrière. Nie waren zwei Leute entschlossener, einander das Lebenslicht auszublasen. Der Oberst wußte: treff’ ich ihn nicht, bin ich ein todter Mann, und Brand hatte sich’s zugeschworen: dem grausamen Führer wird das Handwerk gelegt. – Gute Pistolenschützen waren beide. Und doch – die Anwesenden trauten ihren Augen nicht, der Oberst drückte los und – fehlte. Auch sein Gegner fehlte. Nachdem die Secundanten einen pflichtgemäßen und selbstverständlich nutzlosen Versöhnungsversuch gemacht hatten, wurden die Pistolen wieder geladen. Der Oberst zielte und traf Dietrich in die linke Schulter. Dieser zuckte. Die Secundanten wollten hinzu springen, doch winkte er sie fort, ließ den Obersten bis an die Barrière heran kommen [34] und schoß ihn durch und durch. Die Kugel prallte an einem kleinen Baume ab, der Mann stürzte nieder ohne einen Laut. Für todt – nicht todt. Im Wagen schon, in dem sie ihn nach Hause brachten, erlangte er die Besinnung wieder. Es fand sich, daß die Kugel zwischen den Lungen durchgegangen war. Er genas nach verhältnißmäßig kurzem Siechthum. Aber Brand hatte ihm doch das Handwerk gelegt; der Oberst mußte den Dienst aufgeben, denn seine Stimme war zum Kommandiren zu schwach geworden.

Die Verwundung Dietrichs erwies sich als eine schwere; lange Zeit verging, ehe er die volle Gesundheit wieder erlangte.

Den Titel, dessen er sich entäußert, erhielt ihm die Tradition. Die Erinnerung an seine ehrenvolle Dienstzeit, an die Beliebtheit, die er genossen hatte, blieb unvergessen, und er, trotz all’ seines Protestirens, Verbietens und Verbittens, für Jeden, der ihn in früheren Jahren gekannt und in späteren von ihm gehört hatte: der Rittmeister Brand.

V. [35]

Gescheitert, wie Robinson, richtete er sich auf seiner Insel ein. Er änderte, als Feind der halben Maßregeln, seine Lebensweise aus dem Grunde, verschenkte seine Pferde, seine Waffen an arme, einstige Kameraden, zog nach der Stadt und vegetirte dort wie ein pensionirter Hofrath. Er mied die Kaffeehäuser, in denen Offiziere verkehrten, machte große Spaziergänge, besuchte Museen, Kunstausstellungen, Concerte, Theater und populäre Vorlesungen. Er holte manches nach, was ihm an litterarischer Bildung fehlte, las die Klassiker, las auch moderne Poeten, konnte sich erfreuen an einem schönen Buch, einem schönen Bildwerk und an guter Musik. Diese wohlthuenden Eindrücke gingen aber nicht tief; hinter der flüchtigen Wärme und dem Interesse, die sie erregten, schauerte es kalt, gähnte die Leere.

Der Zeit wilder Aufregung war eine unausbleibliche Reaktion gefolgt. Brand hatte einem gebieterischen Müssen gehorcht, als er Alles hingab, was den besten Inhalt seines Daseins ausmachte, [36] um einen Verbrecher bestrafen zu können. Er hatte nicht rechts noch links geschaut, nur nach dem einen, einzigen Ziele hin; nicht gefragt: wenn es erreicht sein wird, was dann? Und als dieses »dann« zur Gegenwart wurde, erschien sie ihm recht öde, nutzlos und armselig, und der Blick in die Zukunft wie ein Blick ins Grab.

Die Wohnung, die er für sich und für seinen ehemaligen Privatdiener gemiethet hatte, lag im zweiten Stock eines schönen Hauses der Rathhausstraße, war hell und freundlich und zeichnete sich durch die höchste, eine wahrhaft erfinderische Reinlichkeit aus. Wer die drei Zimmer durchschritt, aus denen sie bestand, brauchte keinen besondern Scharfsinn, um zu erkennen: hier haust ein einfacher und solider Mann, der eine Vorliebe hat für mattgeschliffenes Nußholz und für die grüne Farbe.

Zwischen der Thür, die aus dem conventionell ausgestatteten Salon herein führte und dem ersten Fenster links, ragte ein hoher Bücherschrank fast bis zur Decke, und die Bücher darin waren nett gebunden und sorgfältig eingereiht. Dem Bücherschrank [37] gegenüber, zwischen dem zweiten Fenster und der Thür des Schlafzimmers, machte sich ein großer Schreibtisch breit; ein Strohsessel mit runder, niederer Lehne stand vor ihm, und über ihm hingen zwei schöne Kupferstiche: Erzherzog Carl, nach dem Gemälde von Kellerhoven, und Laudon, nach L’Allemands prächtigem Reiterbilde.

Die Längswand wurde zur Hälfte von einer großen Ottomane, eine der Ecken von einem Kachelofen eingenommen, der in sanftem Maigrün schimmerte, die andere von einer Etagère mit Rauchrequisiten, Alles gediegen, lauter brave Arbeit von tüchtigen Handwerkern, natürlich auch der Tisch, die Fauteuils und die Stühle, die mit der Ottomane zusammen eine Familie bildeten. Sie wieder hatte ein würdiges vis-à-vis in der zwischen den Fenstern angebrachten Konsole, der Trägerin einer vortrefflichen, altdeutschen Uhr.

Neben ihr standen zwei Armleuchter aus Messing. Das mattfarbige und weichliche Silber wird in Brands Haushaltung nur in Gestalt von Eßbestecken geduldet. Wohl verpackt steht der Schatz an schönem Silbergeräth, der von seinen Eltern [38] und Großeltern herstammt, im Schranke und wird auf Dietrichs nicht gerade lachende, aber auch nicht weinende Erben übergehen, entfernte, wohlhabende Verwandte. Mit Fug und Recht darf er sich sagen, daß sein Tod keinem seiner sogenannten Angehörigen eine Stunde trüben oder erheitern wird. Und dessen freut er sich. Wo er gleichgültig ist, will er auch gleichgültig lassen. Das Ärgste wäre ihm, in der Schuld eines Anderen zu stehen, ob sich’s nun um Gulden handelt oder um liebevolle Empfindungen.


Es war an einem heißen Mainachmittag des Jahres 1890, und Brand eben aus dem Restaurant zurückgekommen, in dem er seine einfache Mahlzeit einzunehmen pflegte. Die Sonne brannte mit sommerlichen Gluthen zur Erde nieder und machte jedes Fenster, das sie beschien, zu einem Brennspiegel, und jeden Pflasterstein zu einem kleinen Ofen.

Mit Behagen empfand der Heimgekehrte den Kontrast zwischen der drückenden Schwüle, dem grellen Lichte auf der Straße und der angenehmen [39] Temperatur in seinem hohen, luftigen Zimmer. Leicht gedämpft durch die herabgelassenen Storen fiel das Licht herein, ein mildes, grünliches Licht, bei dem man ungemein gut lesen konnte. Brand zündete eine Cigarre an, setzte sich auf seinen Sessel vor den Schreibtisch und nahm ein Buch, das aufgeschlagen neben der Mappe gelegen hatte, zur Hand: Möllhausens Reisen im Felsengebirge Nordamerikas.

Von Zeit zu Zeit unterbrach er seine Lektüre, um einen Blick nach der riesigen Weltkarte zu werfen, die über der Ottomane hing. Einen scharfen, durchdringenden Blick aus seinen grauen, tiefliegenden Augen, die von ihrer ungewöhnlichen Sehkraft noch nichts verloren, obwohl achtundvierzig Jahre verflossen waren, seitdem sie sich zum ersten Male aufgeschlagen hatten. Dabei zog er seine dichten Brauen zusammen, und auf der viereckigen Stirn entstanden zwei tiefe Furchen, die ihm einen klugen und strengen Ausdruck gaben.

Eine halbe Stunde verging. Die Thür des Salons wurde geöffnet, und Jemand trat ein. Brand wußte, ohne sich umzusehen, wer es war. [40] Er kannte den festen und zugleich diskreten Schritt, den sein Diener sich hatte angewöhnen müssen, er kannte auch dessen Art, die Thüre zu öffnen und zu schließen. Wer hatte sie ihm denn beigebracht?

»Die äußere Klinke gefaßt, Du Waldmensch. Eins! – niedergedrückt: Zwei! – Thür auf! – Vorwärts, und die andere Klinke gefaßt: Eins! – niedergedrückt: Zwei! – Thür zu! –«

Diese Übung zehnmal nach einander durch drei Tage wiederholt, und ein ehemaliger Waldmensch war für den ganzen Rest seines Lebens befähigt, als ein Gesitteter unter Gesitteten zu erscheinen. Ist solcher Gewinn nicht der kleinen Mühe werth?

Peter Peters war also eingetreten. Ein weiteres Lebenszeichen gab er nicht. »Was willst Du?« fragte Brand nach einer Weile, ohne sich umzusehen.

Peter zögerte, seine Stimme war furchtbar gepreßt, als er sie endlich erhob, um seine »gehorsamste Mittheilung« vorzubringen.

Eigentlich wurde die Mittheilung hinterbracht, denn er sagte, was er zu sagen hatte, in [41] seines Herrn Rücken, der ihm wohl auch imponirte, aber doch nicht so sehr wie seines Herrn Gesicht.

Wenn er gesehen hätte, was auf dem vorging, während er sprach, würde er seine Rede schwerlich zu Ende gebracht haben. Bestürzung, Zorn, Wehmuth spiegelten sich in den Zügen des erregten Mannes, um als sein Diener schwieg, einer rasch erkämpften, eisernen Ruhe zu weichen. Jetzt wendete er plötzlich den Kopf. Er, der Sitzende, der Kleine maß den flehenden großen Peter von oben herunter und sagte, die Ellbogen auf die Sessellehne gestützt, die Cigarre zwischen den Zähnen: »Heirathen willst Du, wenn ich nichts dagegen habe? – Was soll ich dagegen haben? – Du heirathest und Du gehst. Einen mit Familie behafteten Diener kann ich nicht brauchen. Und wie heißt die Gans, die Dich nimmt?«

Nicht ein protestirendes Wort zu Gunsten seiner Erkorenen kam über Peters Lippen. »Du gehst.« Wie eine Pistolenkugel hatte es ihn getroffen. Er wunderte sich, daß er noch aufrecht stand. »Du gehst.« Diese – Unmöglichkeit hatte er nicht erwogen.

[42] »Wie heißt sie?« wiederholte Brand.

Tonlos, mit verglasten Augen vor sich hinstarrend, gab Peter die Antwort: »Magdalena Sänftenträger. Kinderlose Wittwe. Das Delicatessengeschäft grad gegenüber gehört ihr. Wo ich zum Souper für den Herrn Rittmeister die kalte Küche hole.«

»Die kalte Küche, schön. Bei der haben die Herzen Feuer gefangen. Gut. Abgemacht. Geh’.«

Peter ging, und die grollenden Gedanken Brands folgten ihm nach. Der will heirathen, der will sich etabliren, einen Haushalt gründen, dieser Peter, an dem immer noch erzogen werden muß, der nichts kann und nichts ist ohne seinen Herrn. Wenn man nur denkt! – Zum zweiten Dragonerregiment war er gekommen vor zwölf Jahren, halb verhungert, der verwaiste Sohn einer armen Tagelöhnerin, die mit ihm in der Welt herumgezogen war, da- und dorthin, wo sie gerade Arbeit fand, der nie eine Schule regelmäßig besucht, nie einen ganzen Rock am Leib gehabt hatte. Und nun auf einmal gut genährt, gekleidet und bewohnt, von seinem Rittmeister mit besonderer Aufmerksamkeit [43] behandelt als der ärmste, im Zustande ärgster Verwahrlosung übernommene Rekrut. Man konnte Freude an ihm haben, an seinem physischen, geistigen und moralischen Gedeihen, an dem Glück, das sich auf seinem gutmüthigen, braunen Gesichte spiegelte – wenn er nicht gerade weinte – denn das war seine Schwäche. Viel zu leicht für einen Mann, einen Soldaten, traten ihm Thränen in die Augen. Der bärenhafte Bursche konnte nicht leiden sehen, am wenigsten Thiere. Er war allem Lebendigen ein Freund: er hielt sich für den Beneidenswerthesten auf Erden, als ihm ein Pferd anvertraut wurde. Keines im ganzem Regimente war besser gehalten als Peters Sinbad, und in verhältnißmäßig kurzer Zeit keines besser geritten. Auf dem Rücken des Thieres, dessen Gedanken er, und das seine Gedanken errieth, verlebte er seine glücklichsten Stunden.

Neun Jahre hatte er schon gedient und sich mit seinem Stande immer gleich zufrieden gefühlt, als die große Katastrophe im Leben Brands eintrat, als das Unerwartetste, Unglaublichste geschah, als er den Dienst aufgab. Da bewährte sich Peter Peters, da bethätigte er die Liebe und Dankbarkeit, [44] die sich allmählich in ihm gesammelt, aber nie einen Ausdruck gefunden hatte. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, als ob es nicht anders sein könnte, brachte er sein Opfer. Er verließ den Dienst, das Regiment, seinen Sinbad und folgte dem Rittmeister, der ihn vor Jahresfrist zu seiner Ordonnanz gemacht hatte, »ins Civil«.

Dummer Peter, treuer Peter, dachte Brand, als diese Erinnerungen in ihm aufstiegen, und mit ihnen zugleich alle die anderen, die er nie wissentlich, nie mit Willen herauf beschwor, die er am liebsten ruhen ließ. Er seufzte schwer. Was vorbei ist, ist vorbei; ein Schwächling, der widerbellt gegen die Notwendigkeit. Wenn er noch so tief überlegte, mußte er sich sagen: Alles, was geschehen war, war regelrecht geschehen. Brand hatte gehandelt, wie er seinem Charakter nach handeln mußte, wie er, in dieselbe Lage versetzt, noch einmal handeln würde. Keine Reue – darüber nicht. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken – darüber nicht!

Schattengleich zog eine schlanke Mädchengestalt an seinem innern Auge vorbei, und er streckte mechanisch [45] abwehrend die Hand gegen sie aus, die in ihrer Lieblichkeit vor ihm aufgetaucht war.

Verdrießlich über die Träumerei, in die Peters scheinbare Treulosigkeit ihn versetzt hatte, richtete er sich entschlossen auf und schrieb an ein Dienstvermittlungsbureau, das er täglich in seiner Zeitung angekündigt fand. Dann erhielt Peter Peters den Befehl, den Brief abzugeben. Das war für den Mann ein großer Schmerz. Er hätte gern Einwand erhoben, und brachte es doch nur zu einem: »Aber Herr Rittmeister,« weil seine Stimme in einem Schluchzen erstickte, das um keinen Preis vor dem strammen Herrn laut werden durfte.

So trug er das unselige Schreiben ins nächste Postkästchen und ging dann, sich ausweinen, zu seiner Magdalena.

Am nächsten Vormittage schon stellte sich eine Anzahl Bedienter, vom Dienstvermittlungs-Bureau entsendet, dem Rittmeister vor. Er wählte den, dessen Äußeres den schärfsten Kontrast zu dem Äußern Peters bildete: einen feinen, wunderhübsch frisirten Menschen, der ausgezeichnet gute Manieren und wohlgepflegte Hände hatte.

[46] Vier Wochen später, am Hochzeitstage seines Vorgängers, trat er den Dienst an, und zwar, wie er sich ausbedungen hatte, mit dem Range eines Kammerdieners.

Bevor Peter seine Braut zum Altar führte, mußte sie mit ihm zu Brand, der die schöne, von Kraft und Gesundheit strotzende Wittwe ernsthaft betrachtete und sprach:

»Stattlich, stattlich. Du hast Dir eine gewichtige Lebensgefährtin ausgesucht, Peter.«

Peter strich über seinen dicken, rothen, an den Enden leicht gelockten Schnurrbart und versetzte: »Ich mag die Mageren nicht.«

»Und ich,« sprach Magdalena und warf dabei einen zärtlichen Blick auf den Auserwählten, »habe mir vorgesetzt; wenn ich wieder heirathe, nehme ich einen Großen. Ein Kleiner kann grad so grob sein und macht kein Ansehen.«

Brand meinte, dem Peter seien noch andere gute Eigenschaften nachzurühmen als seine Größe, und als ganz armer Schlucker käme er ihr auch nicht ins Haus. Damit legte er ein auf zweitausend Gulden lautendes Sparkassenbuch in die Rechte des Bräutigams und schloß:

[47] »Ich danke Dir für Deine treuen Dienste. Werde ein so braver Ehemann wie Du ein braver Diener warst. Leb’ wohl.«

Peter schluchzte laut während der ganzen Fahrt zur Kirche, und vor dem Altare stieß ihn der Bock so heftig, daß er sein »Ja« mehr bellte als sprach.

Vom Hochzeitsmahle sprang er auf, als eben die Torte mit den verschlungenen Lettern »P« und »M« servirt wurde, lief hinüber zum Herrn Rittmeister, um zu sehen, ob der »Neue« die Lampe angezündet und das Bad ordentlich hergerichtet habe. Und am nächsten Morgen kam er, sich zu überzeugen, wie denn der Kaffee gemacht und die türkische Pfeife gestopft worden war. Einmal da, blieb er auch gleich beim Aufräumen.

Als Brand ihn erblickte, fuhr er ihn an: »Was willst Du hier, närrischer Kerl? Geh’ zu Deiner Frau.«

Aus diesen Worten fühlte Peter die Eifersucht seines Herrn auf seine Herrin heraus, und Thränen traten ihm in die Augen. Die Eifersucht rührte ihn und der »närrische Kerl« auch. Wer besser dran war mit seiner Vernunft, wußte Peter gar [48] gut, respektirte aber die Täuschung, in der der Rittmeister sich über diesen Punkt befand. Möge er nur in ihr fortleben und wenigstens die Freude haben, er, der sonst keine hat.

Um das grausame Lebewohl, das Brand gesprochen hatte, Lügen zu strafen, fand er sich alle Finger lang bei ihm ein und wünschte ihm eine gute, je weilige Tageszeit.

Arbeit gab es »drüben« immer. Der elegante Kammerdiener überließ ihm neidlos die ganze. Seine eigene Thätigkeit beschränkte sich darauf, das Haus durch seine Gegenwart zu schmücken. Aber auch das wurde ihm nach und nach lästig, und eines Abends verschwand er, nachdem er vorher mit seinen wohlgepflegten Händen den Schreibtisch Brands erbrochen und eine reich gefüllte Brieftasche daraus entnommen hatte.

Über diese kurze Majordomus-Epoche im rittmeisterlichen Intérieur wurden nicht viel Worte gemacht. Wie von selbst kam Alles ins alte Geleise. Höchstens, daß Peter früher als sonst die kalte Küche zum Souper holen ging und später als sonst zurückkehrte, wozu Brand regelmäßig bemerkte:

[49] »Bist schon wieder da?«

Einmal fragte er: »Was sagt denn Deine Frau dazu, daß sie Dich so wenig sieht?« Und die Antwort lautete:

»Die sagt niemalen nichts. Die hat eine Kusin, der Ihrer trifft nur alle vier Wochen einmal nach Haus.«

VI.

Genau am ersten Jahrestage ihrer Vermählung erschien Magdalena Peters bei Dietrich Brand und brachte ohne viel Umstände die Bitte vor, er möge, im Fall daß es ein Bub werden sollte, sich gütigst herbeilassen, ihn aus der Taufe zu heben. Die Erfüllung ihres Wunsches wurde ihr sogleich und mit großem, feierlichem Ernste zugesagt. Brand holte sofort die genaueren Erkundigungen über die Pflichten ein, die er mit der Taufpathenschaft auf sich nahm. Er gedachte sie pünktlich zu erfüllen und erhielt Gelegenheit dazu, denn es wurde ein Bub, ein niedlicher Peter junior.

Sein Vater übergoß ihn mit Thränen der [50] Rührung, das Kindlein nieste, und Dietrich selbst, sehr bewegt durch den ihm völlig fremdartigen Anblick eines neugeborenen Menschen, führte Peter von der Wiege fort und sagte:

»Blamire Dich nicht vor Weib und Kind.«

Brands Fürsorge wuchs mit ihrem Gegenstande. Er schrieb sich Eigentumsrechte über das Knäblein zu und forderte, daß ohne Unterlaß an ihm erzogen werde.

Frau Magdalene verlor endlich die Geduld. »Dein Rittmeister«, sagte sie zu ihrem Manne, »wie der’s treibt. Bald wird Niemand mehr wissen, bin ich die Mutter, oder ist er’s!«

Peter hatte Mühe, sie mit der Versicherung zu beschwichtigen, darüber könne kein gescheidter Mensch im Zweifel sein.

Das Interesse, das der Rittmeister für den kleinen Peter gefaßt hatte, breitete sich allmählich auch auf andere Kinder aus. Man muß doch vergleichen, den Blick schärfen, Erfahrungen sammeln. Dietrich, der bisher ziemlich gleichgültig an Allem vorüber gegangen war, was nicht im Alter der Militärpflicht stand, begann nun, dem Kindervolke [51] seine Aufmerksamkeit zu schenken. Es traf sich, daß er mit kleinen Schulbesuchern, Knaben und Mädchen, die mit ihm im selben Hause wohnten und denen er täglich auf der Treppe begegnete, einen Gruß tauschte. Zu dem Gruße kam bald eine Ansprache, und aus der entwickelten sich nach und nach förmliche Konversationen, die man nicht schon unterm Thor abbrechen wollte. Nicht selten geschah’s, daß Brand dem oder jenem jugendlichen Geschöpfe das Geleite gab bis zur Schule.

Er hatte sich zuerst an die Kinder der Armen gewendet und ihr Vertrauen, und bis zu einem gewissen Grade, das ihrer Eltern errungen. Dann schritt er an verfeinerte Gesellschaftskreise heran, machte auch da Glück und war bald wieder in seinem Elemente, konnte wieder erziehen. Er übte auch Gastfreundschaft. An jedem Samstag-Nachmittag wimmelte es von Jugend in seiner Wohnung; die verschiedensten Stände waren da durch auserlesene Exemplare vertreten. Entsprechende Kost für Kopf und Herz lieferte der Hausherr, das Ehepaar Peters sorgte für den Magen; Überladung, in irgend einer Weise, kam nicht vor. Glücklich, gesund, [52] von frischem Eifer zur Bravheit beseelt, kehrten die Kinder heim.

Im Frühling des zweiten Jahres nach der Geburt Klein-Peters’ frühstückte Brand an jedem schönen Morgen, statt zu Hause, im Stadtpark und ging dann in den Kinderpark hinüber, wo sein Täufling im Korbwägelchen unweigerlich bis zehn Uhr zu schlafen hatte.

Dabei schenkte Brand aber auch fremden Kindern seine Aufmerksamkeit, sah ihren Spielen zu, ermunterte die Schüchternen, ging den Ungeschickten zur Hand, beschützte die Unterdrückten und hatte eine beneidenswerte Art, die Übermüthigen und Tyrannischen zurecht zu weisen. Durch eine kurze Bemerkung, einen Blick verstand er zu bändigen, ohne zu empören und zu erbittern.

Eines Tages war Dietrich vom Stadtpark auch noch in den Volksgarten gegangen. Er nahm dort Platz auf einer Bank mit der Aussicht auf das Grillparzer-Denkmal und freute sich, daß es wieder Frühling war, daß die Natur in erneuter Jugendherrlichkeit blühte und daß die Menschen ihrer pflegten, mit so viel Sorgfalt und Geschmack, wie [53] es hier geschah in diesem kleinen irdischen Paradiese. Er freute sich auch, daß sie in all’ die Schönheit Schönes hingestellt haben, das edle Denkmal, das unsern Dichter veranschaulicht mit ergreifender Wahrheit, und die Werke seines Schöpfergeistes im beseelten Steine vor uns aufleben läßt.

Brand lächelte vor sich hin. Er gedachte der Äußerung, die eine seiner Cousinen jüngst gethan hatte: »Heirathe doch, es ist noch gerade Zeit. Du hast Kinder so gern, und eigene sind noch etwas ganz Anderes als fremde, und eine angenehme Häuslichkeit ist auch nicht zu verschmähen.«

Häuslichkeit, eigene Kinder – als ob ein Mensch ihrer bedürfe, der gewöhnt ist, sich überall häuslich einzurichten; dem alles Gute und Schöne in der Welt gehört, weil er es lieben und bewundern kann. Die glauben nur das zu besitzen, was sie an sich gerissen haben, das sind die ewig Unersättlichen und ewig Entbehrenden.

In seiner Nachbarschaft hatten sich drei fein aussehende Damen auf eine Bank niedergelassen; offenbar Gouvernanten in sehr wohlhabenden Häusern. Es waren zwei ältliche Engländerinnen, die [54] in guter Laune und schlechtem Französisch ein eifriges Gespräch mit einer jungen – ihr tadelloser Accent verrieth’s – Pariserin führten. Ihre drei Zöglinge, nicht Kinder mehr und noch nicht Backfische, pendelten auf dem Wege zwischen ihren Bändigerinnen und Brand hin und her.

Er konnte Einiges hören von ihrer laut und ungenirt geführten Konversation:

»Du, Aurora,« sagte das muntere Ding am linken Flügel, das in Blau gekleidet, blond, frisch und ein wenig untersetzt war, zu der in der Mitte Schreitenden, »Deine Stiefeletten sind hübscher als die meinen, aber ich habe einen hübscheren Fuß.«

»Und ich habe eine hübschere Taille,« fiel das Fräulein zur Rechten ein. »Die Deine ist ja viel zu lang.« Sie prangte havannafarbig, und man konnte schwerlich eine zierlichere Gestalt sehen.

Allerdings durfte sich die zwischen den Beiden wandelnde, eckige und blasse Aurora an persönlichen Vorzügen mit ihnen nicht vergleichen. Dafür aber schlug ihre Toilette die der Freundinnen völlig. Allerersten Ranges waren der hellgraue Stoff und die Mache des Kleides, und der Hut mit seiner [55] breiten, genial aufgestülpten Krempe und feinem Federngewoge. Wenn eine Harpye ihn aufgesetzt hätte, Jedermann würde ausgerufen haben: »O wie anmuthig sehen Sie heute aus, meine Gnädige!«

Ihre Verhandlung eifrig fortführend, hatten sich die Fräulein mitten auf dem Wege aufgepflanzt, als von der Ringstraße, in der Richtung gegen den äußeren Burgplatz, zwei ärmlich gekleidete Kinder einher kamen. Ein Knabe von etwa sieben Jahren und ein viel jüngeres Mädchen. Der Knabe, hoch aufgeschossen und schmächtig, trug an einem Riemen am Arme eine der mit Wachsleinwand überzogenen Schachteln, in denen Modehändler ihre Waare verschicken. Das kleine Mädchen im ausgewaschenen Percailkleidchen, einen blauen, gestrickten Capuchon auf dem Kopfe, ein Tüchlein um die mageren Schultern geschlungen, hüpfte neben ihm her.

Beim Anblick der aufgeputzten Fräulein blieb sie plötzlich stehen und staunte, wie angenagelt vor Entzücken, zu ihnen hinauf. Besonders hingerissen schien sie von dem grauen Federhut; zu ihm kehrte ihr leuchtender Blick immer wieder zurück.

[56] Sie wurde bemerkt, die Modedöckchen nahmen den Zoll naiver Bewunderung, den das Kind ihnen darbrachte, spöttisch auf, und die Blaue sprach:

»Wie dumm sie ist!«

»Und wie sie nach Armuth riecht,« setzte Aurora mit der langen Taille hinzu. »Meine Mama sagt, das ist der ärgste Geruch. Böhmische Spitzen riechen manchmal so.«

Die Kleine verstand sie nicht. Seelenvergnügt blieb sie regungslos wie ein hypnotisirtes Hühnchen, bewunderte weiter und bemerkte nicht, daß sie ausgelacht und verachtet wurde.

Der Auftritt hatte außer Brand noch einen Beobachter gehabt, einen sehr jugendlichen. Ein braunes, ungemein feinknochiges Bübchen verließ eine Gruppe Spielgenossen und kam auf die Verspottete zu mit einer herzigen und komischen Gebärde. Er verschränkte die Finger so fest er konnte und streckte die gerungenen Hände einmal ums andere mit heftigem Rucke von sich. So trat er, kämpfend mit Empörung und Rührung, vor das arme Kind hin und sagte im durchdrungensten Tone:

[57] »Wenn sie nur zu mir käm’, in mein Haus, ich würd’ ihr geben, was ich nur hab!«

Sie sah ihn eine Weile überrascht und zweifelnd an, steckte zuerst ihr Zeigefingerchen in den Mund, zog es dann heraus und deutete schüchtern auf seine hundsledernen Handschuhe: »Die gieb mir.«

Sogleich fing er an, hastig an ihnen zu zerren, brachte sie auch herunter; als er sie aber der Kleinen reichte und sie danach griff, kam ihr Bruder ihr zuvor:

»Wir dürfen nichts annehmen. Du weißt, Annerl, die Mutter will’s nicht,« sagte er sehr sanft und sehr entschieden, und es war ein merkwürdig trauriger Klang in seiner Stimme. »Wir danken Ihnen vielmals, junger Herr; komm Annerl,« er zog seine Schwester mit sich fort.

Der abgewiesene Wohlthäter sah ihnen verdutzt und bestürzt nach. Dietrich stand auf und half ihm seine Handschuhe wieder anziehen, allein wäre er damit kaum fertig geworden.

»Wie alt bist Du?« fragte Brand, als die für sie beide sehr schwierige Arbeit zu Stande gebracht war.

[58] »Fünf Jahre.«

»Wie heißest Du?«

Der Taufname des Bübleins war Fritz, sein Familienname der eines österreichischen Grafen- und Fürstengeschlechts.

»Fritz,« sagte der Rittmeister, »Du hast einen schönen Namen, weißt Du, was das heißt? Weißt Du auch, was es heißt, seinem Namen Ehre machen?«

Der Kleine hob seine prachtvollen, von langen dunklen Wimpern beschatteten Augen zu Brand empor und erwiderte ohne Zögern: »O ja.«

Dietrich verbiß ein Lächeln: »Nun, wenn Du das jetzt schon weißt, dann salutire – das heißt,« verbesserte er sich, »dann grüße ich Dich.«

Er lüftete den Hut, und der Kleine riß den seinen förmlich herunter, holte weit aus mit der Rechten und machte eine tiefe, respektvolle Verbeugung.

»Der verspricht, der verspricht,« dachte Brand: »so jung er ist, kennt er schon das Mitleid und die Ehrfurcht. Beim Mitleid und bei der Ehrfurcht fängt der Mensch an, sehr früh also bei diesem Fritzchen.«

[59] Er verließ den Garten und folgte den Kindern, die »nach Armuth rochen.«

VII.

Er hatte die kleinen Gestalten bald entdeckt, und bald auch hatte er sie eingeholt. Was war es doch, was ihn unwiderstehlich zu ihnen hinzog? Nicht Theilnahme, nicht sein immer reger Helfedrang allein. Es war mehr; ein tieferes, ein ganz eigenes Interesse, das besonders der Anblick des Knaben in ihm erweckt hatte. Er fragte sich, an wen er ihn mahne, mit seinen aschblonden Haaren, seiner durchsichtigen Haut, seiner Sprechweise, seiner Haltung, in der zwei Gegensätze sich so anmuthig vereinten: Stolz und Schüchternheit.

Die Kinder gingen über die beiden Burgplätze und verschwanden auf dem Kohlmarkt im Thorweg eines alten, stattlichen Hauses, einst das Eigenthum eines großen Herrn, jetzt das eines Pferdehändlers, und vermiethet an allerlei Parteien. Ein Schild mit der Aufschrift: »Madame Amélie« war unter dem Mittelfenster des ersten Stockes angebracht, [60] und hinter den großen, blanken Spiegelscheiben blühte ein Garten von Hüten und Hauben, quollen aus halb geöffneten Kartons Bäche von Spitzen, Ströme von Gaze und Seidenstoffen hervor.

So wenig Dietrich Brand sich auch um die Berühmtheiten der Damenmodenwelt kümmerte, der Name Amélie Vernon war bis zu ihm gedrungen. Seine Cousinen sagten in einem Tone: »O Madame Vernon! Ja, Madame Vernon!« der so viel hieß wie: Erhaben über alle Kritik.

Eine solche Großmacht schickt ihre Waaren gewiß nicht durch Kinder aus. Was hatten die armen Beiden hier zu holen oder hierher zu bringen?

Er wollte es wissen und entschloß sich, auf ihre Rückkehr zu warten. Nach einer Viertelstunde erschien klein Annerl wieder und trug ein Weißbrot in der einen und einen Apfel in der anderen Hand. Blaß und müde kam ihr Bruder nach. Brand hielt ihn an und fragte auf gut Glück und in geschäftsmäßigem Tone, ob Madame Vernon zu Hause sei? Ja wohl, die Kinder kamen von ihr, hatten sie eben gesprochen.

»Und das hat sie mir geschenkt,« sagte Annerl, [61] und hob ihr Weißbrot und ihren Apfel triumphirend in die Höhe.

»Und das darfst Du auch annehmen, die Mutter erlaubt es Dir, Annerl?«

»Ja, das erlaubt die Mutter, und auch Georg erlaubt’s.«

»Georg,« wiederholte Brand. »Dein Bruder, nicht wahr?« Er legte die Hand auf den kleinen, blauen Capuchon und sagte ziemlich unüberlegt: »Ich wäre froh, wenn ich Dir auch etwas schenken dürfte, Annerl.«

»Nein, nein, dank’, wir danken,« stieß Georg rasch hervor. Er war bei den Worten Dietrichs roth geworden über das ganze Gesicht bis unter die Haare, und seine Augen leuchteten plötzlich auf.

Jetzt wußte Brand, an wen ihn das Kind vom ersten Moment an erinnert hatte. Vergessene Unvergessene – arme Sophie! Dieses Erröthen, dieses Aufleuchten im Blicke hatten oft sein stilles Entzücken ausgemacht. Die ganze Reinheit, aller Stolz des Mädchens, das er liebte, sprachen aus ihnen. Was ihr das Blut in die Wangen und die Stirne trieb, war nicht Verwirrung, nicht Beschämung, es [62] war ein schmerzliches Staunen, eine leidvolle Entrüstung: »Ich erröthe, ja, aber für Euch!« – Brand sah sie vor sich, wie damals in der peinlichen Stunde, in der der Riß zwischen ihnen entstanden war...

»Du heißest Georg Müller, mein lieber Junge,« sagte er zu dem Knaben.

Der erschrak und sah ihn voll Mißtrauen an. Wie kam der fremde Mann dazu, nach seinem Namen zu fragen? Er suchte seine Angst hinter einer trotzig abwehrenden Miene zu verbergen, ergriff die Hand seiner Schwester und hastete mit ihr davon.

Brand blickte ihnen nach: Ihre Kinder! ja gewiß – auch das Mädchen hatte Ähnlichkeit mit ihr in den Bewegungen, dem Gang, in der Art und Weise, den Kopf zu tragen. Im Forteilen noch wendete Annerl sich mehrmals um und lächelte den ernsten, alten Herrn an, vor dem davon zu laufen ihr Bruder sie zwang, und der ihr gar keine Furcht einflößte, o nein, nicht die mindeste!

Ihre Kinder – das waren sie, so hatte er sie gefunden. Die Wirklichkeit übertraf seine traurigsten [63] Befürchtungen. Das scheue Wesen des Knaben, seine Beschäftigung, die Kleidung, das Aussehen der Kleinen. Alles, Alles an ihnen erzählte von Dürftigkeit, von Entbehrung, von einem harten Kampfe um das tägliche Brot.

Dietrich blieb noch eine Weile unter dem Thore stehen. Mit mächtiger Selbstüberwindung rang er die tiefe Gemütsbewegung nieder, die ihn ergriffen hatte: kein äußeres Zeichen durfte verrathen, was in ihm vorging.

Als ein sehr gelassener, fast übertrieben höflicher Mann betrat er den Modesalon und wurde von Fräulein Julie, einer gut erhaltenen Schönheit, »comme il faut« bis an die Spitzen ihrer langen, lanzenförmig zugeschnittenen Nägel, würdevoll empfangen. Sie schien befremdet, als er sie bat, fragen zu wollen, ob er die Ehre haben könne, mit Madame Vernon selbst und zwar privatim zu sprechen. Das Fräulein übernahm seine Karte, warf einen Blick darauf – und war elektrisirt.

»Dietrich Brand! Herr Rittmeister Brand ...«

»Nein, mein Fräulein, Brand kurzweg; ich habe meinen Militär-Charakter abgelegt.«

[64] Aber das wußte Fräulein Julie besser. Ablegen, einen solchen Charakter? Als ob man das könnte! Nie! O, sie hatte die Gnade, den Herrn Rittmeister zu kennen, hatte so viel von ihm gehört. O, und wer nicht? Und einige ihrer Verwandten hatten die Gnade gehabt, unter ihm zu dienen. Und nun wollte sie die Gnade haben, ihn der gnädigen Frau zu melden. Einen solchen Besuch werde sie sicherlich empfangen, wenn auch sonst keinen andern, denn die gnädige Frau sei heute nervos.

Sie enteilte, und Brand ließ ein mißbilligendes: »Hm, hm, nervos« vernehmen, worauf ihn einige der Magazins-Damen verstohlen anguckten. Andere kicherten vor sich hin, und ein lustiges Ding von einer Modistin, das eben einer ältlichen Kundin einen sehr jugendlichen Hut anprobirte, rang mit einem Lachkrampfe.

Nach kurzer Zeit war Fräulein Julie wieder da und ersuchte den Herrn Rittmeister, die Gnade zu haben, ihr zu Madame Vernon zu folgen. Sie geleitete ihn durch eine Reihe von Ateliers und Salons und verabschiedete sich mit einem wundervollen [65] Knix, in den sie ihre ganze Seele legte, an der Thür des Boudoirs der Gebieterin.

VIII.

Das war ein Schmuckkästchen. Die Wände mit hellblauem Seidenstoff verkleidet, die Möbel mit demselben Stoffe überzogen, Tische, Tischchen, Etagèren von den verschiedensten Formen, mit theils sehr kostbaren Nippesgegenständen besetzt, ein großer Ankleidespiegel mit vergoldetem Gestell, und mitten in all’ der Pracht die berühmte, geniale, viel umworbene Madame Amélie. Sie war schön und geschmackvoll angethan in einem spitzenbesetzten Schlafrock aus Atlas, der wie die Abendröthe schimmerte und eine zwei Meter lange Schleppe hatte. Der Anzug war ein Kunstwerk und machte so schlank als möglich; aber auch den höchsten Toilettenkünsten sind die Wege gewiesen; Anmuth konnten sie der vierschrötigen Gestalt nicht verleihen, die sich beim Eintreten Brands von dem Ruhebette erhob. Der Kopf Madame Amélies saß auf kräftigem Nacken und trug eine Fülle stark [66] angegrauter Haare. Die gewellte, gelockte Frisur erinnerte in ihrem künstlichen, architektonischen Aufbau an die der römischen Kaiserinnen. Das Gesicht hatte einen ausgesprochenen Neger-Typus, aber die Augen waren schön und intelligent. Leider befanden sie und auch die Nase sich eben in einem Zustande, der nicht gleich errathen ließ, ob die Dame geweint hatte oder an Schnupfen litt.

Als Dietrich eintrat, rieb sie sich eben die Schläfen mit weißer Matteischer Elektrizität. Auf einem Tischchen neben ihr befanden sich allerlei Riechmittel; in einer mit heißem Wasser gefüllten Achatschale verdampften einige Tropfen Fichtennadelextrakt.

Brand dankte in seiner ritterlichen Weise für die Gunst, die Madame Vernon ihm erwies, ihn trotz ihres Unwohlseins zu empfangen. Er wollte ihre Güte nicht mißbrauchen, sie nicht lang in Anspruch nehmen; er kam nur, um sich von ihr Auskunft zu erbitten über die beiden Kinder, die eben bei ihr gewesen waren. Nicht Neugier leite ihn, sondern ein ernstes Interesse, dessen Grund er ihr, wenn sie es gestatte, ein nächstes Mal darlegen werde.

[67] Madame Amélie versicherte ihn, daß sie bei einem Manne »de sa trempe« nur die edelsten Absichten voraussetze, zögerte aber doch mit der Antwort, als er nach dem Familiennamen der Kleinen fragte.

»Fürchten Sie nicht, ein Geheimniß zu verrathen,« sagte er und faßte sie scharf ins Auge. »Es sind die Kinder des Majors von Müller.«

Sie widersprach nicht.

»Eines meiner besten Freunde und einstigen Kameraden,« fuhr er fort, »der vor drei Jahren in seiner Vaterstadt Klausenburg gestorben ist. Ein nur zu edler und großmüthiger Mensch.«

»Certainement,« fiel die Französin ein, »so großmüthig für Andere, daß die Seinen in der gêne zurückblieben.«

»Gêne?« wiederholte Brand mit qualvoll gepreßter Stimme. »Was ich eben gesehen habe, ist schlimmer als gêne. Diese Kinder sind schlecht genährt, schlecht gekleidet, sie darben.«

»Nun, jetzt eigentlich nicht mehr,« meinte Madame Vernon und widerstand nicht länger der Versuchung, »Monsieur Brand,« der ein so »noble [68] cœur« war und so tiefe Theilnahme für die Hinterbliebenen seines Freundes hatte, die ganze Wahrheit zu sagen, und bei dieser Gelegenheit sich selbst in schönem Lichte zu zeigen.

Dietrich erfuhr nun Alles.

In der langen Krankheit des Majors waren die Reste des Vermögens aufgebraucht und leider sogar einige Schulden gemacht worden. Sophie mußte ihre Pension für Jahre hinaus verpfänden, um die dringendsten Gläubiger zu befriedigen. Sie wäre dem Elend preisgegeben gewesen, ohne ihr außergewöhnliches, dem der großen Wiener Modistin congeniales Talent. Mit ihren »doigts de fée« gewann sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder. Kärglich, wie sich von selbst versteht, »mon Dieu, en province!« bis eine Verwandte Madame Amélie’s und Gattin eines österreichischen Oberstlieutenants nach Klausenburg kam, dort erst die Werke Frau von Müllers, dann sie selbst kennen lernte und eine begeisterte Freundschaft und Bewunderung für sie faßte.

»Unglück und Talent, quels titres auf unsere [69] Theilnahme, Monsieur,« sprach die Modistin mit einer pathetischen Gebärde.

Die Frau Oberstlieutenant brauchte nur einige Proben der Kunstfertigkeit Sophie Müllers an Madame Vernon zu schicken, um ihr Mitgefühl für die arme Wittwe zu erwecken. Amélie hatte ihr sogleich geschrieben und sie eingeladen, nach Wien zu kommen. Seit einem halben Jahre war sie da, stellte ihre Begabung und ihren Fleiß ausschließlich in den Dienst des Hauses Vernon und dürfte keinen Grund haben, es zu bereuen. Sie wurde besoldet wie keine zweite. Ihre Verhältnisse müssen sich jetzt schon gebessert haben.

»Müssen sich? Sie wissen nichts Genaues darüber?« fragte Brand.

»Das nicht. Frau von Müller spricht nie von sich. Sie ist sehr stolz, sehr zurückhaltend.« »Jawohl, sehr stolz.« Er beugte sich vor auf dem niederen Fauteuil, den Madame Amélie ihm angewiesen hatte, und wieder mußte sie den forschenden Blick seiner ernsten, grundehrlichen Augen eine ganze Weile hindurch aushalten und that es mit der Unbefangenheit eines vortrefflichen Gewissens. [70] Plötzlich gab sie ihrem Kopfe einen kleinen Ruck, ein muthwilliges Lächeln glitt verschönernd über ihr derbes Gesicht, und sie sprach:

»Ja, ja, Monsieur, ich bin eine gute und brave personne, man kann auf mich zählen.«

Brand verneigte sich: »Gut und brav, ich bin überzeugt. Aber außerdem auch Gedankenleserin. Ich bewundere. Eine echte Künstlerin freilich hat immer etwas Divinatorisches.«

»O Monsieur!« Ihre Augen glänzten vor Freude über diese Schmeichelei: »Vous êtes aussi aimable que célèbre.«

Er lehnte ab; »Loben Sie mich nicht. Ich habe große Schwächen.«

»Zum Beispiel?«

»Unter Anderem eine gewisse Schwäche für Damen-Mode-Artikel,« erwiderte er scherzend. »Ich wäre zum Beispiel neugierig, die Putzgegenstände zu sehen, die Frau Major Sophie von Müller Ihnen eben geschickt hat. Ich möchte diese Putzgegenstände sogar an mich bringen.«

Amélie war erstaunt: »Sind Sie verheirathet?«

[71] »Nicht im Geringsten. Aber ich habe Cousinen und sogar Nichten« ...

»Die Brand heißen?« Beinahe wäre der Zusatz: »Brand tout court« ihr entwischt, doch verschluckte sie ihn noch rechtzeitig.

»Brand und anders,« erwiderte Dietrich.

»Anders?« Sie war auf einmal merkwürdig kühl geworden, sie bedauerte, auch nicht über ein Stück im Magazin verfügen zu können, der Bedarf war so groß, der Vorrath so klein, man mußte doch einige Auswahl haben für die älteren, werthen Kunden.

»Ich würde höhere Preise bezahlen als Ihre ältesten, werthesten Kunden,« sagte Dietrich langsam, nachdrücklich, aber auffallend sanft und fast liebreich.

»Bedaure. Ich habe eine große Verehrung für Herrn Rittmeister Brand, aber seine Nichten müssen warten.«

Da ergriff er ihre kleine, harte, bräunliche Hand und führte sie rasch an seine Lippen: »Respekt vor Ihnen Madame! Ihr Verdacht ist ganz unbegründet – Ihre brave Gesinnung steht wie ein [72] Fels. Ich sehe voraus, daß sich eine gute Freundschaft zwischen uns bilden wird.«

Entzückt über seinen Handkuß, aber doch noch etwas unsicher, bat Amélie, ihr zu verzeihen, wenn sie ihm Unrecht gethan habe.

»Ich verzeihe jeder Frau jeden, auch den schnödesten Verdacht gegen jeden Mann in dem einen Punkte,« entgegnete er. »Wir verdienen es nicht besser – im Allgemeinen.«

Seine Worte wirkten wie ein Petroleumguß in glimmendes Feuer. Sie richtete sich auf, sie rückte näher zu ihm und brach flammend und hochathmend in einen Hymnus des Lobes aus. Rittmeister Brand war mehr als liebenswürdig und berühmt, er war einzig. Er kannte sein Geschlecht. O, und sie ebenfalls, wenn auch nur in einem Exemplar, in dem freilich die Fehlerhaftigkeit de tout le genre masculin vertreten war. O, wenn er ahnen könnte! wenn er wüßte ...

Ein diskretes Klopfen an der Thür unterbrach sie.

Fräulein Julie zeigte sich, sie trug ein Karton unter dem Arme und meldete, die Fürstin A. habe [73] sich für den Nachmittag ansagen lassen und da mußte Madame doch bestimmen, ob die heutige Sendung Sophie Müllers sogleich oder erst zuletzt vorgezeigt werden solle. Mit zierlichst gerundeten Handbewegungen entnahm sie dem eleganten Behältnisse nach einander vier Hüte und stellte sie auf Haubenstöckchen vor die Gebieterin hin:

Nein, das waren wieder Sachen! Sachen! Nicht eines dieser »Huterln« würde auch nur einen Tag alt werden im Salon. Die Fürstin A. würde gewiß zwei Stück nehmen und Prinzessin B. die andern zwei; sie waren wie geboren für die beiden Damen, und nur auf ihren Häuptern wollte Fräulein Julie sie sehen. Der Baronin C. dürften sie gar nicht vor Augen kommen, die kauft sonst den wirklichen Damen alle vier auf einmal weg.

Amélie prüfte jeden einzelnen Hut genau: »Ja, Madame Müller ist erstaunlich, sie übertrifft sich bei jeder neuen Leistung. Was für Ideen sie hat! Sehen Sie nur, Mr. Brand, wie die Aigrette auf diesem Spitzenhut placirt ist. Welche Grazie und welcher Geschmack in der Wahl der Farben, eine hebt die andere, und keine schlägt die andere. Den Hut verkaufen wir als Modell.«

[74] »So schön! so schön!« fiel Julie ein, »und diese Nettigkeit! Alles wie aus dem Ei geschält.«

Brand blieb stumm und betrachtete die Hüte mit tief innerlichster Rührung. Dieses schimmernde, phantastische, kostbare Zeug hat der Mangel geschaffen, die Armuth hat es gemacht für den übermüthigsten Luxus. Die Schönheit dieses Zeuges ist wie Hauch, einige Regentropfen vernichten sie. Und dafür den Schlaf der Nächte, das Licht der Augen ... Dafür!

Wieder wurde geklopft und angezeigt, daß der Wagen der Fürstin vorgefahren sei. Fräulein Julie raffte hastig ihre Waaren zusammen und eilte in den Salon.

Madame Amélie und Brand waren zugleich aufgestanden. Er verabschiedete sich sehr bewegt und sagte: »Der Wittwe meines Freundes muß geholfen werden. Helfen Sie mir helfen. Über das wie müssen wir uns berathen. Wann darf ich wiederkommen?«

»Kommen Sie morgen,« sprach sie huldvoll.

[75] IX.

Am selben Nachmittage lief Peter zu seiner Magdalena hinüber. Er hatte es sehr eilig, blieb aber doch einen Augenblick in Bewunderung vor dem breiten »hauchrein« geputzten Auslagenfenster des Ladens stehen. Wie köstlich sah der heute wieder aus, in seinem Reisig- und Blumenschmuck! Ein zierliches Gärtlein, in dem Schinken, geräucherte Zungen und Fische und allerhand Pasteten wuchsen. Auf der Marmorplatte im Fenster erhoben sich zwischen üppigen Hortensienstöckchen die appetitlichsten Wurstpyramiden, schimmerten rothe und gelbe Aspicrotunden. Hinter der frischlackirten Tafel, neben der großen Wage, deren Schüsseln wie Gold glänzten, prangte sie, die Herrin, in ihrem unverwüstlich jugendlichen Flor. Ihr Häubchen schien mit Schneeflocken garnirt, ihr kurzärmeliges Kleid und ihre Wangen hatten die selbe Centifolienrosenfarbe. Der Latz der weißen, mit einem Spitzenstreifen besetzten Schürze bedeckte die mächtige Brust, warf nicht eine Falte, hatte nicht das kleinste Flecklein. Frau Magdalena zerlegte [76] eben mit spielender Meisterschaft ein junges, fettes Huhn.

Ein Herr, der vorüberging, warf einen Blick in den Laden, lächelte und sagte: »Zum Hineinbeißen!«

Peter sah ihn unwirsch an; er wußte nicht, ob das Huhn gemeint sei oder die Frau, rasch trat er ein und befahl ihr, verdrießlich wie Einer, der gerade einen kleinen Anfall von Eifersucht gehabt hat, das Huhn auf einem Teller anzurichten.

»Das thu’ ich ohnehin«, sagte sie, »es gehört für den Hofrath im zweiten Stock.«

Peter schüttelte den Kopf: »Wird nicht gehen: dem Hofrath giebst ein anderes, das da nehm’ ich gleich mit für meinen Herrn Rittmeister, der heute vergessen hat, ins Gasthaus zu gehen.«

»Was? Vergessen! Der was vergessen, das ist ja wie wenn die Uhr am Stephansthurm stehen geblieben wär.« Sie hatte das Huhn schon auf ein Schüsselchen gelegt, umgab es mit Rauten aus Aspic, verzierte es geschmackvoll mit kleinen Bouquets aus Petersilie, stellte das Ganze auf eine vor Neuheit schimmernde Serviette und hielt ihrem [77] Manne die zusammengefalteten Enden hin. Statt diese zu ergreifen, trat Peter hinter die Pudel, gab der Gemahlin einen nachdrücklichen Kuß auf die Lippen, einen zweiten mitten in die blonden Löckchen hinein, die sich ihr übermüthig im Nacken kräuselten, und dachte: Teufel, Teufel, ich hab das Frauenzimmer alle Tage lieber!

»Wieso hat er denn vergessen ins Gasthaus zu gehen?«

Ja, Peter würde es sagen, wenn er’s wüßte. Der Herr kam nach Hause um eine halbe Stunde früher als sonst und: »Ich seh’ ihm’s gleich an, daß er noch nicht gespeist hat.«

»Was Du ihm nicht Alles ansiehst!«

»Natürlich, was ich ihm nicht Alles anseh’. Auch gleich, daß er nicht zugeben will, daß er vergessen hat, und wie ich sag’: »Haben denn gespeist?« sagt er: »Esse heute nicht; bring Thee und Cigarretten.« Den Speisezettel kenn’ ich von damals, wo er verliebt gewesen ist. Ich hab’ aber immer etwas dazu gegeben, und er hat’s hinunter geschlungen in der Zerstreutheit.«

Peter lief davon, und seine Frau rief ihm [78] nach: »Du, zum Hinunterschlingen hätt’s ein mageres Hendel auch gethan. Verliebt, der alte Brand?« Es kam ihr unglaublich lächerlich vor. Aber, dachte sie, so übel wär’s am End’ nicht, vielleicht thät’ er sich dann weniger hineinmischen in der Erziehung von meinem Peterl.

Und wirklich kümmerte sich Brand in den nächsten Tagen ein bißchen weniger um Peterls physisches und moralisches Wohlergehen. Seine Gedanken waren augenscheinlich von etwas Bezwingendem erfüllt, das ihn manchmal erheiternd, manchmal betrübend, immer aber völlig in Anspruch nahm. Er machte auch sehr oft Besuche, zu denen er sich aufs Feinste kleidete. Peter war nicht der Mann, der seinem Herrn nachspürte, zur Spionage erniedrigte er sich nicht, aber seines Verstandes, seines Scharfsinns konnte er sich nicht entäußern, die Fähigkeit, richtige Schlüsse zu ziehen, konnte er nicht plötzlich los werden. An dem Tage, an dem er mit einem prachtvollen Bouquet zu Madame Amélie geschickt wurde, wußte er Alles.

Daß es eine marchande de modes war, [79] kränkte ihn tief, das sagte er nicht einmal seiner Magdalena.

Der Verdacht Peter Peters’ war nicht unbegründet; sein Herr ging wirklich auf Eroberung aus. Aber nicht Liebe wollte er gewinnen, sondern Vertrauen, und errang es auch in einem Maße, das seine Erwartungen und sogar seine Wünsche überstieg. Madame Amélie machte ihn mit ihrem Lebenslauf bekannt und schüttete ihr ganzes, übervolles Herz vor ihm aus.

Sie stammte aus einer guten Pariser Familie, hatte in früher Jugend ihre Eltern und später dann durch die Unredlichkeit eines Verwandten ihr Vermögen verloren. Eine alte, alleinstehende Tante, Madame Justine Vernon, die in Wien ein einträgliches Modengeschäft führte, erbarmte sich ihrer Verlassenheit und nahm sie zu sich. Und nun kam das Talent zur Entfaltung, dem Amélie ihre späteren Erfolge verdanken sollte. Ein Talent, das sie, genau wie diese liebe Madame Müllér, ahnungslos besessen hatte, bis äußere Verhältnisse die schlummernde Gottesgabe in ihr weckten. Sehr bald zeigte sich, daß die Thätigkeit, die [80] ihr aufgezwungen worden, eine ihren Anlagen und Fähigkeiten völlig zusagende war. Sie ging aber auch in ihr auf. Sie trat nach dem Tode Madame Vernons an die Spitze des Hauses, erweiterte das Geschäft zu einer Putzwaaren- und Konfektionshandlung, erwarb einen Wohlstand, der an Reichthum grenzte, und nahm eine Stellung ein, wie noch nie eine Modistin vor ihr. An Bewerbern hatte es ihr natürlich nicht gefehlt: »Die Männer sind so geldgierig und immer bereit, sich zu verkaufen.«

»Auf den Sklavenmarkt mit dieser Männer-Ausschußwaare!« murmelte Brand.

Aber Amélie Vernon dachte nicht daran, ihre Freiheit aufzugeben; sie war stolz auf ihre jungfräuliche Unabhängigkeit und bewahrte sie bis zu ihrem vierzigsten Jahre. Dann war das Verhängniß hereingebrochen mit dem Tode des alten und mit der Aufnahme des neuen Buchhalters, eines glänzend empfohlenen, jungen Menschen. Tüchtig in seinem Fache, verläßlich in Geldsachen, solid und rangirt, hieß es, und das glaubte Madame Amélie; aber auch hübsch, liebenswürdig, bezaubernd, und [81] das sah Madame Amélie. Ach! der schöne Buchhalter spielte sich auf den schmachtenden Troubadour, und sie gab seinen Schwüren, seinem Flehen, seinen Thränen nach und erhob ihn zum Chef des Hauses und zu ihrem Gatten.

»Vor zwei Jahren, Monsieur. Ja! die Monate, die Wochen und Tage, die seitdem vergangen sind, kann ich zählen – die infidélités, die Édouard an mir begangen hat, nicht. Er betrügt mich wie ein Franzose, Ihr biederer Österreicher!« rief sie und sah Dietrich so feindselig an, als ob er ein Mitschuldiger ihres Ungetreuen wäre. O der Quäler! Wie sie ihn liebte, ihn haßte, ihm fluchen und ihn vertheidigen mußte in einem Athem, denn – war er schlecht, die Frauen waren schlechter. Sie stellten ihm nach, er konnte sich nicht retten vor ihnen. Damen, »de vraies dames« schickten ihm Bouquets. »Pauvre chéri!« aber ein – »fier misérable!« Heuchlerisch, gewissenlos und von einer Eitelkeit! ... Wenn eine Frau gleichgültig an ihm vorbeigeht, fühlt er sich von ihr insultirt und nimmt sie en grippe. So z. B. Madame Müllér.«

[82] »Frau Major von Müller?« Brand mußte sich fest anklammern an die Lehnen seines Fauteuils, um nicht in die Höhe zu fahren: »Dieser ... Herr wird doch nicht wagen« ... Er hielt inne, vollbrachte ein Meisterstück der Selbstbeherrschung und fragte gelassen und kühl: »Sie kommt zu Ihnen? Wann? Wie oft?«

Nun, früher, als sie ihrer Sache noch nicht ganz sicher war, kam sie allwöchentlich. Sie hatte die Bestellungen selbst abgeliefert und das Urtheil und die Rathschläge der Meisterin erbeten. Derer bedurfte sie jetzt nicht mehr und fand sich nur noch an jedem Letzten des Monats zur Abrechnung bei der Prinzipalin ein; zwischen Elf und Zwölf, die Stunde, in der der Chef im Bureau festgehalten ist. Höchst seltsam, aber – sie hat für ihn etwas Abstoßendes: »Was für eine steifleinene Person hast Du da aufgegabelt?« fragte er schon mehrmals. Die Majorin scheint bemerkt zu haben, daß sie ihm mißfällt, sie vermeidet, ihm zu begegnen, betritt die Ateliers nicht mehr, sondern kommt über die Seitentreppe direkt in den Privatsalon Amélies.

»So – weil sie ihm mißfällt? Das ist merkwürdig. [83] Sie muß sich sehr geändert haben, wenn sie irgend Jemandem mißfallen kann.«

»Mir nicht, o mir nicht,« versicherte Amélie, »für mich hat sie etwas sehr Anziehendes, einen außerordentlichen charme. Und ihre Kinder sind entzückend, besonders der kleine Junge. Ich lasse ihn immer rufen, wenn er die Arbeiten seiner Mutter abliefern und Material zu neuen Arbeiten holen kommt. Er hat so touchante Augen. Um diesen Schatz beneide ich Madame Müllér. O, wenn der Himmel mir Kinderchen mit so touchanten Augen schenken wollte!«

Brand wartete ihr mit einer guten Lehre auf: »Den besten Trost für den Mangel an eigenen Kindern findet man in der Liebe zu denen der Anderen. Schließen Sie fremde Kinder ans Herz, Madame. Was mich betrifft, ich beabsichtige mich der Kinder meines verstorbenen Freundes anzunehmen. Zu dem Ende will ich sie aufsuchen, muß demnach wissen, wo sie wohnen, und bitte Sie, mir ihre Adresse mitzutheilen.«

Die war: VII. Bezirk, Berggasse Nr. 19, Erster Stock, Thür 6½. Aber hingehen? Amélie [84] widerrieth es ihm. Sie hatte schon mehrmals bemerkt wie vorsichtig Frau von Müller jedem Zusammentreffen mit Bekannten aus früheren, besseren Tagen auswich. Sehr begreiflich das, wenn man so viel Charakter hat, so viel Stolz. Weder die Neugier noch das Mitleid sollen Einblick nehmen in ihre traurigen Verhältnisse. »Etwas gebessert haben sie sich übrigens schon. Madame Müller verrichtet nicht mehr alle Hausarbeit selbst, ihre Zeit ist kostbar geworden, ihre kunstreichen Hände brauchen Schonung; sie hat eine Magd aufgenommen.«

»Etwas gebessert haben sich die Verhältnisse der Frau Major, sagen Sie, Madame. Das ist zu wenig,« versetzte Brand, »sie müssen gut werden. Wir wollen dafür sorgen, wir Zwei. Sie haben mir Ihr Vertrauen geschenkt, Sie werden das meine nicht täuschen. Ich rechne auf Ihren Takt, Ihre Feinfühligkeit.«

»Feinfühligkeit? das ist Delicatesse? O, Sie können auf die meine zählen.«

Dietrich nahm ein Couvert aus seiner Tasche und legte es auf das Tischchen, auf dem heute eine blaue Matteische Elektrizität stand. »Erweisen Sie [85] eine Wohlthat, Madame, unter dem Scheine eines entrichteten Honorars. Wenn Sie sagen: ‘ich habe alle Hüte, die Sie mir neulich geschickt haben, als Pariser Modelle verkauft und betheilige Sie mit fünfzig Prozent am Reingewinne’, das müßte doch eine hübsche Summe ausmachen. Nicht?«

Amélie zog die Augenbrauen in die Höhe. »O, Monsieur, so viel wie allgemein angenommen wird, kommt bei unserem Geschäfte nicht heraus. Doch will ich Mittel finden, Madame Müllér glauben zu machen, daß wir eben jetzt, die Saison ist ja sehr günstig, ungewöhnlich hohe Preise für unsere Arbeiten fordern konnten.«

»Thun Sie das, Madame,« sprach Brand mit großer Wärme. »Geben Sie mir meine Seelenruhe wieder; der Gedanke an die Kinder meines verstorbenen Kameraden läßt mich nicht schlafen.«

X.

Brand ging in gedrückter Stimmung und mit sich selbst unzufrieden heim. Es mißfiel ihm, daß er eine Freundschaft für den seligen Major von [86] Müller heuchelte, von der sein Herz nie etwas gewußt. Warum? Weil ihm der brave Mann, der genau das gethan hatte, was Dietrich hätte thun sollen, ein lebender Vorwurf war.

»Verzeih mir, Major«, sagte Brand unwillkürlich laut und trat in seiner Benommenheit einem dürftig gekleideten, schmalen, schüchternen Herrn, der bescheiden an ihm vorüberhuschte, auf den Fuß. Der Herr grüßte und – entschuldigte sich. Für einen Major gehalten zu werden, schmeichelte ihm; denn er war nur ein ganz kleiner Beamter.

»Verzeihung«, wiederholte Dietrich, zog den Hut und dachte: Demüthiges Menschlein, wenn Du wüßtest, wie klein ich mich fühle!

Sein Elend und seine Qual mußten ein Ende nehmen; er faßte einen großen Entschluß. Wenn er auch nicht wagen durfte, Frau von Müller zu besuchen, sehen mußte er sie. Morgen ist der letzte April, da tritt sie ihre Wanderung zu der Brotgeberin an, da will er sie erwarten vor ihrem Hause, will ihr folgen, vorerst unbemerkt. Wer weiß, vielleicht zeigt der Zufall sich günstig und bietet Brand Gelegenheit, sich ihr vorzustellen.

[87] Er schlief wenig in dieser Nacht, verfiel erst gegen Morgen in einen unerquicklichen, durch wirre Träume gestörten Schlummer. Als er erwachte, war es fünf Uhr, und aus grauen Wolken, die den ganzen Himmel bedeckten, strömte dichter Regen nieder. Nach dem Frühstück ging Dietrich in die Wohnung hinüber, die er für das Ehepaar Peters im dritten Stock des Hauses gemiethet hatte, in dem das Geschäft Magdalenas sich befand. Er kam gerade zurecht zum Bade seines Täuflings, und Frau Peters erschrak nicht wenig, als sie ihn erblickte; denn das war die Gelegenheit, bei der Dietrich mit Ermahnungen am Wenigsten sparte und so oft gesagt hatte, daß es ihr schon »auf die Nerven« ging:

»Ja, meine Liebe, das Baden eines kleinen Kindes ist keine leichte Sache. Ich habe darüber in ganz vortrefflichen Büchern gelesen und auch gesprochen mit Widerhofer, Auchenthaler und Monti.«

Heute kein Wort, nicht einmal ein recht aufmerksames Zusehen, und als die Uhr Neun schlug, nahm er seinen Hut (seinen schönsten Cylinder [88] bei dem Wetter) und ging und vergaß den Regenschirm. Zum Glück bemerkte Frau Peters es gleich und schickte ihm den Unentbehrlichen nach und dachte bei sich mit aufrichtigem Bedauern: »Der ist wirklich verliebt, und fest, der arme Alte!«

Es hatte ihn auf einmal gepackt: Vielleicht kommt sie heute früher als gewöhnlich zu Madame Vernon. Warum sie das thun sollte, da sie doch einen bestimmten Grund hat, zu keiner anderen Stunde als zwischen Elf und Zwölf zu kommen, wußte Brand nicht und konnte es nicht wissen. Aber möglich war’s ja doch, und wenn ein vernünftiger Mensch eine Möglichkeit einmal angenommen hat, dann richtet er sich auch nach ihr ein.

Er war ein guter Geher und erreichte in erstaunlich kurzer Zeit sein Ziel, die lange Berggasse. Sie machte ihrem Namen Ehre und stieg ziemlich steil in die Höhe. Zwischen ihren alten, niedrigen Häusern ragten hie und da neue, thurmartige Zinskasernen in den Himmel und raubten seinen Anblick ihrem armen Gegenüber und waren trotz ihres unverschämt protzigen Aussehens doch nur Wohnstätten der Armuth und der Noth.

[89] Auch Nummer 19 hatte solch’ ein lichtraubendes vis-à-vis und schien aus Ehrfurcht vor ihm halb in die Kniee gesunken. Brand trat durch das schiefe Thor in einen elend gepflasterten Hof, der ein schmales, unregelmäßiges Viereck bildete. Rings um die zwei Geschosse liefen offene Gänge mit Geländern aus verbogenen Eisenstäben. Die Fenster waren klein und in defektem Zustande. Im Hofe unter einem Vordach über dem Eingang, der zu der Hausmeisterwohnung führte, beschäftigte sich ein derbes Weib mit dem Reinigen des Küchengeräthes und wurde dabei von einer Schar von Hühnern umgackert und von zwei Katzen umschmeichelt. Auf einem leeren Fasse saß ein schwarzer Kater; und ein kleines, steinaltes, kaffeebraunes Thierchen, mit weißen Pfoten und langen, flatternden Ohren, das beim Anblicke Brands eine Art Gebell erhob, mußte man erst eine Weile betrachten, um zu erkennen, daß es zum Hundegeschlecht gehörte.

Die Hausmeisterin musterte den durch das Hündlein Angekündigten vom Kopf bis zu den Füßen und fragte unfreundlich: »Was wünschen’s denn?«

[90] Auf einem Gang des ersten Geschosses war eine alte Frau mit zerzausten Haaren und mit einer Brille auf der Nase, in einen fettigen Schlafrock gekleidet, erschienen, hatte sich ängstlich umgesehen, einen kleinen zerfetzten Teppich auf das Geländer gelegt, und angefangen, ihn so leise als möglich auszuklopfen.

Aber die Hausmeisterin bemerkte die geplante Unthat sogleich und hemmte ihre Fortsetzung durch energische, mit Schimpfworten reichlich gespickte Einsprache. Die erschrockene Alte raffte ihren Teppich zusammen und verschwand in der Thür, aus der sie getreten war.

Diesen Zwischenfall benutzte Brand, um sich aus dem Hause und aus der Nähe seiner groben Beherrscherin zu stehlen. Diese Person nach Sophie Müller zu fragen, widerte ihn an. Diese Person schien ihm so recht fähig, alle möglichen infamen Schlüsse aus der einfachen Erkundigung zu ziehen: »Wohnt hier Frau Major von Müller, und ist sie zu Hause?«

Nein, er wollte nicht fragen, er wollte warten; geduldig, mehr als geduldig, mit dem Wunsche [91] sogar, sie möge noch nicht kommen. Ihr Anblick wird ihm eine große Gemütsbewegung verursachen. Er hatte sich das kaum eingestanden, als er sich auch sofort ins Gebet nahm. Und was weiter? Hat er eine feige Scheu vor Gemütsbewegungen? Ist es so weit mit ihm gekommen in dem Schlaraffenleben, das er führt, und vergißt er vor lauter Erziehen an Anderen die Erziehung seiner selbst? Gemütsbewegung, ja – es wird eine sein, und er wird sie aushalten.

Nach langem Auf- und Abgehen blieb er in der Nähe des Thores stehen. Unaufhörlich strömte der Regen nieder, Brand nahm sich unter den acht Wasserfäden, die von seinem Schirm herunterliefen, wie ein steinerner Wassergott aus. Es wurde halb Elf. Sie kommt nicht, das Wetter ist zu schlecht, dachte er und – wartete weiter, obwohl er recht gut merkte, daß er schon die Aufmerksamkeit einiger Schuhmacher erregt hatte, die an einem Fenster des gegenüber liegenden Hauses arbeiteten.

Zu jeder anderen Zeit würde er hingegangen sein und die jungen Leute gefragt haben, was sie zu gaffen und zu kichern hätten? Ob die Beobachtung [92] der Passanten oder das Verfertigen von Schuhen ihre Pflicht und ihr Geschäft sei? Jetzt aber ließ er die Tröpfe ungehindert in dem Pfuhl ihrer Nichtsnutzigkeit versinken und blieb auf seinem Posten, bis die Uhr des nächsten Kirchthurms Elf schlug und der letzte Schein von Hoffnung, der noch in ihm glimmte, erlosch.

Und gerade in dem Augenblick, in dem er jede Hoffnung aufgegeben hatte, wurde sie erfüllt. Er war noch einige Schritte hinauf bis an das Thor von Nummer 21 gegangen, da war ihm, als ob er zurückgezogen würde an unsichtbaren, aber starken Fäden. Etwas Geheimnißvolles, nie Empfundenes zwang, ja zwang ihn, sich umzuwenden.

Da trat sie aus dem Hause. Er erkannte sie sogleich. Wie zögernd blieb sie ein paar Sekunden vor dem kleinen Wasserreservoir stehen, das sich zwischen der Schwelle und dem Trottoir gebildet hatte, sah zum trostlos grauen Himmel hinauf, öffnete rasch ihren Schirm, hob sich auf die Fußspitzen und schritt eilig und entschlossen des Weges.

Brand folgte ihr anfangs aus einiger Entfernung, dann wagte er sich näher heran, ging auf [93] die andere Seite der Gasse, ging ihr vor, sah ihr ins Gesicht. Sie trug einen kleinen, schwarzen Schleier, hielt die Augen aufmerksam auf das Pflaster gerichtet und suchte die Steine aus, auf welche sie ihre schlanken, schmalen Füße setzte. Sie hatte ihren leichten und entschlossenen Gang, die anmuthig aufrechte Haltung behalten, die ihm so deutlich in der Erinnerung geblieben waren. Sie sah wie ein junges Mädchen aus, und fein und elegant in ihren alten Kleidern. O wie alt, wie abgetragen!

Brand verlangsamte seine Schritte und ging wieder hinter ihr her; und als ein Lümmel, der ihr entgegen kam, sie beinahe vom Trottoir gestoßen hätte, schob er ihn zur Seite mit solchem Nachdruck und so aggressiver Miene, daß der Mensch ein »Pardon« stammelte und sich davon machte.

Sie waren am Ziele. Frau von Müller lief mehr als sie ging ins Haus, und Brand dachte daran, heim zu gehen. Aber er that es nicht, er brachte sich nicht fort. Er hatte ja die Möglichkeit, sie noch einmal zu sehen, ihr noch einmal zu folgen, sie vielleicht noch einmal in Schutz zu nehmen [94] vor irgend einem Lümmel und sich dann ein Wort des Dankes von ihr zu verdienen .... Daß sie doch in eine große Gefahr gerathen möchte, daß er ihr Leben um den Preis seines eigenen retten und ihr sterbend sagen könnte: »Frau von Müller, jetzt sind wir quitt!«

Sie war nicht die breite Treppe zum ersten Stockwerk hinaufgestiegen, die links in die Salons führte, sondern die Seitentreppe rechts, über die man zur Privatwohnung Madame Amélies gelangte. Brand hatte sich in den Hof zurückgezogen und beobachtete von dort aus, was unter dem Thorwege vorging. Nach kaum zehn Minuten kam Sophie die kleine Treppe wieder herab. Ihre Wangen waren leicht geröthet, ein heller Ausdruck von Freude verklärte ihr Gesicht. Die angenehme Überraschung, die Brand ihr zugedacht, war gelungen; Madame Amélie hatte ihre Sache gut gemacht.

Mit großer Raschheit eilte Frau von Müller vorwärts und wäre beinahe an einen großen, breiten, nach der neuesten Mode gekleideten Herrn angeprallt, der plötzlich und ebenfalls sehr rasch aus [95] der Thür der gegenüber liegenden Treppe getreten war. Brand erkannte in ihm das Urbild der vielen Porträts, die das Zimmer seiner Gattin schmückten, den Chef des Hauses, Herrn Eduard Weiß. Das waren seine impertinent blauen, vorgehenden Augen, seine üppigen Backenbärte, die schwellenden Lippen, die – um mit Amélie zu sprechen – unter dem blonden Schnurrbart hervorblinkten, wie rother Mohn ans dem Weizenfelde.

Er lachte laut auf über den Schrecken, mit dem Sophie vor ihm zurückgefahren war, und sprach, ohne den Hut zu rücken: »Seh’n Sie, da haben Sie’s. Zur Strafe, daß Sie immer vor mir davonlaufen, wirft Sie der Zufall in meine Arme.«

Sie wendete sich und eilte dem Ausgang zu; Eduard vertrat ihr den Weg:

»Nein, nein, Sie bleiben! Warum so scheu? Hab’ ich Sie beleidigt, oder fürchten Sie, daß ich Ihnen gefährlich werden könntet Wenn das wäre, schöne Frau, wenn ich das hoffen dürfte« ...

Zärtlich, mit elegischer Gebärde, streckte er die fein behandschuhte Rechte aus, um ihren Arm [96] zu fassen; aber im selben Augenblick legte sich eine nervige Faust auf den seinen, und eine gebieterische Stimme befahl:

»Platz da, Herr!«

Betroffen sah Eduard sich um und maß den kleinen, unscheinbaren Mann, der ihn angerufen hatte, mit einem häßlichen, verächtlichen Blicke. Dieser Mann lüftete jetzt vor Frau von Müller den Hut wie vor einer Königin und fragte ehrfurchtsvoll:

»Darf ein alter Bekannter Ihnen sein Geleit anbieten, gnädige Frau?«

Sie war zurückgewichen. Ein leises Beben durchrieselte ihren ganzen Körper, mit groß geöffneten Augen starrte sie ihn an, ihre Oberlippe zog sich ein wenig in die Höhe, man sah, wie ihre weißen Zähne sich fest auf einander klemmten.

»Herr Rittmeister Brand,« sprach sie zagend, fast unhörbar.

»Brand?« wiederholte Herr Eduard eingeschüchtert. Rittmeister Brand, von dem Amélie in den letzten Tagen so oft und mit so herausforderndem Entzücken sprach? Derselbe Brand, von dem [97] man wußte, daß er den Dienst aufgegeben hatte, um sich mit seinem Obersten duelliren zu können. War er’s? war er’s nicht? Für alle Fälle fand Herr Weiß es gerathen, die Augen zu senken.

Sophie hatte ihre Fassung bald wieder gewonnen. Ruhig, höflich, aber unwiderruflich entschieden sprach sie, als Brand seinen Antrag wiederholte: »Ich danke Ihnen, Herr Rittmeister, nein, nein.«

Dietrich trat schweigend zur Seite, und sie schritt an ihm vorbei und hinaus in den strömenden Regen, in den Sturm, der sich erhoben hatte und die Straßen durchfegte.

Eduard machte einen zaghaften Versuch, ihr zu folgen. Aber Brand sah zu ihm hinauf (er reichte ihm genau bis zum Ohrläppchen) und sprach:

»Ich bitte Sie um eine kurze Unterredung. Ich begleite Sie auf Ihr Comptoir.«

»Ich komme von dort,« versetzte der schöne Mann und wußte nicht recht, ob er mehr Grund zur Entrüstung oder zur Bestürzung habe. »Ich gehe jetzt aus. Ich habe zu thun.«

»Auch ich habe zu thun, und zwar mit Ihnen,« [98] sagte Dietrich bestimmt, aber gar nicht agressiv. Dem Chef lief es trotzdem eiskalt über den Rücken, und er fragte sich, ob das vielleicht die Art der Herren vom Militär sei, einen Civilisten zum Duell heraus zu fordern. Zum Duell! Diesem Unsinn, diesem Verbrechen, das jeder vernünftige und rechtgläubige Mensch verabscheut. Aber Gottlob, beschwichtigte er sich, wir haben ein Gesetz, und dieses hat einen Paragraphen, der Schutz gewährt gegen Bedrohung am Leben. Diese Erwägung gab ihm einige Sicherheit und den Muth, zu sagen:

»Eigentlich weiß ich nicht ... Mit wem hab’ ich denn eigentlich die Ehre?«

»Eine ganz berechtigte Frage, Herr Eduard Weiß. Ich habe versäumt, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Dietrich Brand.«

»Also wirklich ... Meine Frau hat schon öfters das Vergnügen gehabt, Herr Rittmeister« ...

»Nicht mehr. Ich habe meinen Militärcharakter abgelegt.«

»Ja so, also richtig, also – bitte.«

Wenn Du nur nicht so verflucht martialisch aussähest, Du alte Tugendpolizei, dachte Eduard.

[99] Er hatte den Gast in das ebenso elegant wie gediegen eingerichtete Comptoir geführt, wies ihm dort einen bequemen Fauteuil an und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. Da hatte er die Taster der elektrischen Glocken in der Nähe. Ihr Anblick und der des Telephons an der Wand war ihm erfreulich. Es berührte ihn auch angenehm, als er aus dem zweiten Zimmer die süße Stimme Fräulein Juliens, die mit dem Zuschneider konferirte, herüberflöten hörte.

Brand nahm von dem ihm angebotenen Platz nur so viel in Anspruch, als seine schmächtige Gestalt durchaus brauchte. Er saß kerzengerade, mit fest geschlossenen Beinen, und als Eduard ihm den Hut, den er in der Hand behalten hatte, abnehmen wollte, lehnte er kurz ab: »Nicht nöthig. Ich habe Ihnen nur mitzutheilen, daß der verstorbene Major von Müller ein Kamerad von mir gewesen ist. Erst neulich habe ich erfahren, daß seine Wittwe hier lebt. In wie traurigen Verhältnissen, theilte Ihre Frau Gemahlin mir mit. Ich bin nun entschlossen, Frau von Müller und ihre Kinder in meine Obhut zu nehmen. Soeben war ich Zeuge [100] des Benehmens, das Sie sich gegen diese Dame erlauben; wohl nur, weil sie von Ihnen für schutzlos gehalten wird. Sie ist es nicht mehr. Wer sie beleidigt mit einem einzigen Worte, einem einzigen Blick, beleidigt mich. Ich aber versichere Ihnen, daß ich Beleidigungen nicht dulde. Das lassen Sie sich gesagt sein.«

Er stand auf, und Eduard folgte seinem Beispiel. Er sprach nicht, er verbeugte sich nur, über sein wohlgenährtes Gesicht flog ein Ausdruck ... Alles zugleich, cynisch, frech, feige.

Brand nahm sich zusammen; er wollte seinen Zorn nicht überwallen lassen. Das kostete ihn einen schweren Kampf. Unbegreiflich! Seinen Soldaten gegenüber war seine Ruhe unerschütterlich, seine Geduld unerschöpflich gewesen. Wie kam dieser Bengel zu der Ehre, ihn dergestalt in Aufregung zu bringen?

[101]XI.

Diese Frage war nicht die einzige, die ihn bedrängte. Das erste Wiedersehen zwischen Sophie und ihm war für sie ein mit Schrecken verbundenes, für ihn ein glückliches gewesen, denn er hatte ihr einen Dienst leisten dürfen. Was aber nun? Ihr gleich, ihr heute noch einen Besuch abstatten, ginge nicht an. Es sähe gar zu hungrig aus nach Lob und Dank, und wahrlich dadurch, daß man einen Zudringlichen fern gehalten hat, erwirbt man doch zu allerletzt das Recht, selbst zudringlich zu sein. Andererseits wieder – verfluchtes Dilemma! – möchte er doch um keinen Preis gleichgültig und theilnahmslos erscheinen.

Vierundzwanzig Stunden lang ertrug Brand die Zweifelsqualen. Länger nicht.

Am nächsten Tag war das Wetter schön, er hatte Klein-Peterl im Stadtpark besucht und wie gewöhnlich unter der fröhlich spielenden Jugend lehr- und segensreich gewaltet. Als es Zwölf schlug, als die Zeit wiederkehrte, zu der die tapfere Frau gestern ausgewandert war, um den Ertrag [102] ihrer Arbeit heimzuholen, als sie vor seinem Geiste stand, wie er sie mit Augen gesehen hatte, in ihrer lieblichen Verwirrung beim unerwarteten Wiedersehen – da war’s beschlossen: »Um Drei bin ich bei ihr.«

Die Stunde schien ihm die passendste für einen ersten Besuch. Es ist eine so hübsche Stunde, diese dritte – nach der Mittagshöhe. Sie lastet nicht mehr drückend schwül und ist doch kräftig von Sonnenlicht durchtränkt. Die dritte Nachmittagsstunde hat manche Analogie mit gewissen gesetzten Jahren im Leben ...

Brand ging ins Restaurant, rascher als nothwendig gewesen wäre, und hatte, nach Hause zurückgekehrt, schon um halb zwei Uhr seine Cigarre fertig geraucht. Dann wurde Toilette gemacht. Cylinder Nr. 2, dunkelgrauer Straßenanzug Nr. 2. Alles sehr einfach, aber bürsten mußte Peter den Hut, den Anzug, die Stiefel, daß ihm das Herz weh that um den Filz, das Tuch und das Leder. Brand warf sogar einen Blick in den Spiegel, schüttelte den Kopf und sah unzufrieden aus. Ist auch an [103] seinem Lebenstage früher Nachmittag ... oder naht schon der Abend?

Es muß heute eine Andere sein, dachte Peter. Zu den Besuchen bei der »Marchand’ Mod’« wird nur Garderobe Nr. 1 angelegt. Nun ja, von so einer Putzgredl will man sich nicht spotten lassen.

»Jetzt geh’ ich,« sagte Brand, und hinter den armseligen Worten schwoll es empor wie komprimirter Jubel, dem man ein bißchen Luft macht. »Wohin glaubst Du wohl?« setzte er nach kurzem Nachdenken hinzu, und sah den guten Peter, und wußte selbst nicht warum, streng an: »Zur Frau Major von Müller.«

Peter war verblüfft; er gestand sich ungern, daß er nicht wußte, was er denken sollte von seinem Rittmeister. So stieß er denn einen Seufzer aus und sprach: »Die Frau Major von Müller, ja. Belieben jetzt in Klausenburg zu sein, die Frau Major.«

»Sie war dort, ist jetzt in Wien.«

»Da muß sie g’rad hergereist sein, Herr Rittmeister, stotterte Peter, und ein Licht ging ihm auf, sonnenhell, sonnengroß, und er platzte aufleuchtenden [104] Blickes heraus: »Die Frau Major sind jetzt auch eine Witib.«

»Was – auch? Wer – auch?« Ein solcher Esel! setzte er im Stillen hinzu, ob man mit einem solchen Esel ein Wort reden darf, das nicht absolut zum Dienst gehört.

Die kleine Verstimmung Brands verflog im Augenblick, in dem er aus dem Hause trat. So schlecht das Wetter gestern gewesen, so wunderschön war es heute. In strahlender Herrlichkeit stand die Sonne am lichtblauen Himmel; ein verklärender, wie von Millionen winziger Fünkchen durchschimmerter Dunst lag über den Prachtbauten der Ringstraße und über den fernen Bergen. Das alte, ewig junge Wien prangte im Frühlingsschmuck seiner Alleen, Rasenplätze und Gärten: aber noch lag ein winterlicher Hauch in der Luft und gab ihr etwas Kerniges, Stärkendes. Jeder Blick trank Schönheit, jeder Athemzug Kraft, und mit jedem Schritte, den Brand vorwärts machte, steigerte sich sein Glücksgefühl, und sein Unternehmungsgeist wirbelte, wirbelte empor, bis er ins Übermüthige umschlug.

[105] Dietrich trat in einen äußerst eleganten Spielereiladen und kaufte dort den gediegensten Malkasten, der sich auf Lager fand, und die größte Pariser Puppe: ein Wickelkind, von einem lebendigen nur dadurch zu unterscheiden, daß es im zartesten Alter schon beim leisesten Drucke »Papa« und »Mama« quietschte.

Da Brand durchaus nicht wünschte, beladen wie er war, einem Bekannten zu begegnen, nahm er einen Wagen und fuhr bis an die Ecke der Berggasse. Indessen fühlte er sich auch hier nicht ganz behaglich: die Puppe war schlecht verpackt, aus einem Spalt des Papiers kam eine ihrer blonden Locken zum Vorschein, und aus einem anderen ihre rosenfarbige Hand, und mit der schlug sie einem seiner Grundsätze ins Gesicht. Wie oft hatte er Mütter und Gouvernanten gewarnt: »Von dem Tragen großer Puppen werden die Kinder schief.« Und was wird Frau von Müller sagen, wird sie es nicht taktlos finden, daß er gleich beim ersten Besuche mit Geschenken angerückt kommt?

Er verwünschte den Ankauf, zu dem ihn der [106] berauschende Einfluß der Frühlingsluft verleitet hatte und würde seine Übereilung gar zu gern ungeschehen gemacht haben. Die Gasse war ziemlich öde, die wenigen Menschen, die er traf, schenkten ihm keine Aufmerksamkeit; er glaubte etwas wagen zu dürfen, er unternahm den Versuch, sein Paket hinter ein Hausthor zu legen. Aber das unselige Puppenzeug quietschte, und ein angetrunkener Maurer, der plötzlich, wie aus einer Versenkung, auftauchte (es dürfte die Kellerstiege gewesen sein, erklärte Brand sich später), schrie ihn an, das Haus sei kein Findelhaus, er möge sein Kind wo anders weglegen.

In der Entrüstung über diese stupide Verdächtigung fand Dietrich seine Seelenstärke wieder. Mit dem Bewußtsein, daß er Frau von Müller gegenüber nur eine Ungeschicklichkeit, nicht aber ein Unrecht begehe, verfolgte er seinen Weg, erreichte sein Ziel und stieg die schmale Wendeltreppe des alten Hauses mit ihren gefährlich ausgetretenen Stufen empor. Auf dem Gange wendete er sich nach rechts. Dicht neben der Thür 6½ befand sich ein Fenster, das ein weißer Vorhang von innen [107] verhüllte. Brand zog an dem Glockenstrang, und dabei durchzuckte es ihn vom Wirbel bis zur Sohle wie ein elektrischer Schlag.

Alter Mann! alter Mann, was sind das für Gefühle? So war Dir ja zu Muthe, als Du, ein zwanzigjähriger Lieutenant, der unvergeßlich schönen Frau Bürgermeisterin von Wilna zum Geburtstag gratuliren gingst, mit einem Rosenbouquet.

Die Glocke tönte, wie sie zu tönen pflegt in den Wohnungen der Armen: »Bring was, bring was!« sagt sie. Ein Zipfel des Vorhangs wurde in die Höhe gehoben und hinter der sehr sauber geputzten Fensterscheibe erschien ein ältliches, gutmüthiges Frauengesicht. Brand wurde mit prüfendem Blick gemustert und schien einen Vertrauen einflößenden Eindruck zu machen; der Vorhang sank wieder, die Thür öffnete sich.

Auf die Frage, was er wünsche, gab er zur Antwort:

»Ich heiße Brand, ich möchte Frau Major von Müller sprechen, wollen Sie mich gefälligst bei der gnädigen Frau melden.«

Die Küche, in der er eingeladen worden war, [108] bildete den Zugang zum Wohnzimmer. Von dorther ließ eine fröhliche Kinderstimme sich vernehmen, kleine Schritte trippelten, kleine Hände zerrten ungeduldig und ungeschickt an der Klinke der Thür. Sie ging auf. Aus einem Fenster ihr gegenüber strömte eine breite Lichtwelle herein, es sah ins Freie, und von leuchtendem Grunde hoben sich die Gestalten Sophiens und Annerls, die auf der Schwelle erschienen.

Brand grüßte mit einem tiefen Neigen des Hauptes: »Frau Major, gnädige Frau! entschuldigen, verzeihen Sie, daß ich es wage ...«

»Verzeihen?« wiederholte Sophie – »ich habe Sie erwartet, Herr Rittmeister.«

Erwartet? ja dann! ... dann waren alle seine Skrupel todt, dann war er von allem Bangen erlöst: »Brand, kurzweg, gnädige Frau, ich habe meinen Militär-Charakter« ... Er hielt inne. Was Teufel kümmerte sie sein Militär-Charakter und in diesem Augenblick ihn selbst? Sie stand vor ihm, ihre Augen sahen ihn freundlich, gütig an, sie hatte ihn erwartet ... »Gnädige Frau,« begann er von Neuem und – hörte auch damit [109] auf. Wer zu viel zu sagen hätte, zu viel des Innigen, Warmen, Liebevollen, sagt lieber nichts.

Annerl zupfte die Mutter am Kleide: »Du Mama, das ist der Herr, der mir so gern etwas schenken möcht’.«

Sophie runzelte ein wenig die Stirn, und Brand wurde sich erst jetzt wieder bewußt, daß er seine Darbringungen noch immer unter dem Arme hielt:

»Können Sie mir verzeihen, gnädige Frau, daß ich mir den indiskreten Wunsch erfüllen wollte, daß ich, einer übermüthigen Regung nachgebend ... ich bin beschämt, wirklich ... besann mich zu spät, hätte unterwegs gern Alles weggeworfen, wenn ich nur gewußt hätte, wohin?«

Seine Verlegenheit entwaffnete sie, und sie lächelte sogar, als er die Puppe aus ihrer Umhüllung befreite, in beide Hände nahm und der Kleinen entgegen hielt.

Annerl war wie geblendet, sie betrachtete das kostbare Spielzeug mit scheuer Ehrfurcht, legte die Ärmchen auf den Rücken und wich Schritt für Schritt langsam zurück. Brand machte sich so klein [110] er konnte und nahm die feinste Stimme an und den bittendsten Ton und zirpte:

»Nimm mich! ich bin eine gute Puppe, ich bin eine arme Puppe, ich habe keine Mama.«

Bewunderung und Zärtlichkeit drückten sich in den schönen Augen Annerls aus, aber sie setzte ihren Rückzug ununterbrochen fort. Brand folgte und hinter ihm ging Sophie, und hinter Sophie die Dienerin, die den Malkasten trug.

So gelangte die Gesellschaft in das Wohnzimmer. Es war niedrig, ärmlich und reinlich, hatte zwei Fenster und zwei Thüren und die Aussicht in einen ziemlich großen und gut gehaltenen Garten. Ein Arbeitstisch, über dem eine Petroleumlampe an der Decke hing, ein paar Schränke, vier Strohsessel bildeten die Einrichtung des grau getünchten Gelasses.

Georg, der, eifrig mit Zeichnen beschäftigt, am Tische gesessen hatte, war beim Einzug der kleinen Karavane aufgestanden, rückte einen Stuhl für Brand herbei und ersuchte ihn, Platz zu nehmen, mit einer hausväterlichen Art, die komisch gewesen wäre bei jedem anderen Kinde, bei diesem frühreifen, [111] mit den Sorgen des Lebens schon vertrauten Knäblein jedoch wehmüthig berührte.

Sophie nahm Brand die Puppe ab und stellte ihm ihren Jungen vor: »Er hat mir gebeichtet, daß er unartig gegen Sie gewesen ist, er meinte – er fürchtete ... Verzeihen Sie ihm. So einem kleinen Waarenausträger muß man leider Mißtrauen ins Herz pflanzen, und er ist dumm und unerfahren und wendet es am unrechten Orte an.«

Brand erwiderte, daran läge nichts, aber Georg soll jetzt beweisen, daß er sein Mißtrauen gegen ihn aufgegeben hat, indem er diesen Malkasten von ihm annimmt; »Willst Du, mein lieber Junge?«

Ob er wollte! Lautere Seligkeit strahlte aus seinem armen Gesichtchen, und er machte sich sogleich daran, die Geheimnisse des Wunderschranks zu erforschen: »Nein, aber – aber!« murmelte er, bei jeder neuen Entdeckung von Neuem entzückt, vor sich hin, und Brand staunte über die Geschicklichkeit, mit der das Kind die kleinen Werkzeuge in die Hand nahm, prüfte, und zu benützen begann.

[112] »Sie hätten ihn nicht glücklicher machen können,« sagte Sophie; »und sehen Sie einmal die Kleine an.«

Annerl hatte sich endlich an das schöne Wickelkind, das auf dem Schoß der Mutter lag, heran gewagt, ihren Kopf an den seinen gelegt und streichelte ihm voll wonniger Zärtlichkeit die blonden Locken.

Sophie nickte ihr, dann aber auch Brand freundlich zu: »Die ist im Himmel. Und der Kunstjünger dort ... Machen Sie sich gefaßt, jetzt bekommen wir ein wohlgetroffenes Bild von Ihnen,« sie deutete mit einem Augenwink nach Georg, der mit unendlichem Ernst daran gegangen war, Brand zu porträtiren.

Alles, was nicht zu seiner Beschäftigung gehörte, schien für den Kleinen versunken; der Eifer röthete seine Wangen, furchte seine kluge, überkluge Stirn. Er schob die Unterlippe ein wenig vor, hob die Augen zu Dietrich hinauf und senkte sie dann auf die Arbeit, nach einem so merkwürdig forschenden, in die Tiefe dringenden Blick, daß Brand sich auf dem lächerlichen Verdacht ertappte, [113] daß diesem Kind mehr darum zu thun sei, ihm auf den Grund der Seele zu schauen, als sein Gesicht abzukonterfeien.

»Die Mutter hat heute viel zu thun,« sagte Georg plötzlich ganz laut, aber in sein Buch hinein.

Dietrich blickte Sophie fragend an. Ja wohl, es waren noch einige Nachbestellungen gekommen, die morgen abgeliefert werden mußten.

»Da kostet Sie die Zeit, die ich hier zubringe, etwas von Ihrem Schlafe?«

»Und was weiter?«

»Was weiter!« rief er bekümmert aus. Er war aufgesprungen: »Gnädige Frau, entschuldigen Sie, und nicht wahr? dieser Besuch gilt nicht; haben Sie die Großmuth, ihn zu vergessen.«

Sie reichte ihm die Hand: »Gut denn, Sie waren nicht da.«

»Und wenn ich komme, dann sagen Sie wieder: Ich habe Sie erwartet.«

[114]XII.

Bei seinem nächsten Besuche fand er sie allein. Sie hatte die Dienerin mit den Kindern ausgeschickt und gönnte sich nach den Anstrengungen der letzten Tage einige Stunden Ruhe. Sie lud ihn ein, am offenen Fenster Platz zu nehmen, und machte ihn aufmerksam auf die Schönheit eines jungen Kastanienbaumes, der über und über mit Blüthen bedeckt war. An dem Garten hatte sie ihre Freude, und nur sie und ihre Kinder durften ihn den Sommer über benützen, mit Erlaubniß des Hausherrn, der sich jetzt auf dem Lande befand. Der Garten wurde vortrefflich gehalten von guten und höflichen Leuten, und man konnte sich in ihm so frei bewegen wie im Zimmer, denn er war nur von Feuermauern umgeben.

Das Alles erzählte sie ihm ein bißchen unsicher und hastig, wie Jemand, der sich frägt, während er zu einem Andern spricht: Interessirt es Dich auch?

Und er wieder war froh, daß sie es übernommen hatte, die Konversation einzuleiten; er hätte nicht gewußt, wie das anfangen.

[115] Sophie fuhr fort: »Sehen Sie, daran, daß ich so dasitzen kann mit den Händen im Schoß und hinaussehen auf dieses kleine Stückchen Natur, und davon einen Genuß habe, daran erkenne ich das Herannahen des Alters. In meiner Jugend war ich viel zu fleißig und auch viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um mich in müßige Bewunderung der Außenwelt versenken zu können, und dazu hätte es in unserem schönen, alten Garten doch mehr Gelegenheit gegeben als hier.«

Brand blickte sie gerührt an, erwiderte einiges herzlich Unbedeutende und fing jeden Satz mit einem so durchdrungenen: »Verzeihen Sie« an, daß sie sich eines Lächelns nicht zu erwehren vermochte und endlich mit munterer Entschlossenheit sprach:

»Lieber Herr Rittmeister, Sie haben ein Schuldgefühl gegen mich, und davon will ich Sie befreien und zugestehen, daß ich Ihnen gegenüber im gleichen Falle bin. Ich habe ein Unrecht gegen Sie begangen.«

»Wirklich,« rief er freudig, »wenn ich ... wenn Sie ... Wie sieht das Unrecht aus?«

[116] »Sie sind gut und theilnehmend gewesen, haben mir Hülfe bringen wollen, und ich – nicht daß ich ablehnte, das würde ich wieder thun, aber die Art, in der ich’s that, reut mich, und nicht erst jetzt, sie hat mich sogleich gereut und ich bitte ...«

»Bitten Sie nicht,« rief er aus, »beschämen Sie mich nicht zu tief. Erweisen Sie mir lieber eine Gnade, würdigen Sie mich Ihres Vertrauens. Sagen Sie mir, ob Sie in diesem Augenblick doch so ziemlich, doch halbwegs sorgenfrei ...«

»Meine drückendste Sorge,« erwiderte sie rasch, »ist jetzt die um Georg. Was soll aus ihm werden? Er ist zu schwächlich, um die Schule regelmäßig besuchen zu können; seine wohlwollendsten Lehrer rathen mir, ihn zu Hause unterrichten zu lassen. Ich habe das bisher selbst besorgt, und er hat es mir leicht gemacht. Aber wie lange werden meine Kenntnisse ausreichen, um einen Knaben zu unterrichten? Und den Umgang mit anderen Kindern völlig entbehren müssen – wie nachtheilig ist das für ihn, er wird immer mehr in sich gekehrt und weltfremd.«

»Gnädige Frau,« sprach Brand nach kurzem [117] Besinnen, »Sie werden sich vielleicht noch erinnern, daß Erziehen von jeher mein Beruf war. Ich habe ihn nicht aufgegeben, ich übe ihn wieder aus in etwas veränderter Form. Ich habe mich der Kindererziehung gewidmet und finde darin eine hohe Befriedigung. Ich erlaubte mir, Sie um Ihr Vertrauen zu bitten ...«

»Lieber Herr Rittmeister, Sie bitten um etwas, das Sie haben.«

»Dann, gnädige Frau, überlassen Sie mir die Erziehung Ihres Sohnes,« sagte Brand resolut, und dabei war seine Miene so ernst, so inständig bittend, und aus seiner Stimme klang ein so warmer Herzenston, daß Sophie trotz der peinlichen Überraschung, in die sein unerwartetes Anerbieten sie versetzte, nur Dankbarkeit empfand.

»Ich werde Ihr braves Kind zu einem braven Mann heranbilden,« fuhr Brand fort. »Übergeben Sie ihn mir; er ist in dem Alter, in dem ein Junge nicht mehr ausschließlich unter weiblicher Zucht stehen soll.«

»Unmöglich, unmöglich,« sagte Sophie. »Ein Kind in Ihrem Hause, bei Ihrer Ordnungsliebe!« [118] Sie hielt inne, der schmerzliche Ausdruck, den seine Züge angenommen hatten, that ihr weh.

Er glaubte einen Anflug von Ironie in ihren Worten zu entdecken. Seine Ordnungsliebe war es ja im Grunde gewesen, die den Sieg davon getragen hatte über seine Liebe zu ihr: wollte sie ihn daran mahnen?

»Ich dränge Sie nicht zur Entscheidung,« begann er von Neuem, »ich bitte nur, erwägen Sie meinen Vorschlag, erweisen Sie mir diese Gnade.« Wieder blickte er sie lange und gerührt an, seufzte tief und sagte plötzlich: »Ja, ja, ich bin einst ganz dicht am Glück vorbeigegangen.«

»An dem, was uns damals als Glück erschien,« berichtigte sie. »Wir wollen offenherzig mit einander reden – offenherzig ist mehr als aufrichtig –, einmal und nicht wieder, da sich’s ja um Unwiderrufliches, Unwiederbringliches handelt. Ich habe in jener fernen Zeit sehr gelitten, Sie auch bitter angeklagt, später jedoch mich gefreut für Sie, daß Alles gekommen ist, wie es kam, und daß Sie nicht hereingezogen wurden in unser Elend. Es handelte sich bald nicht mehr um Armuth und [119] Noth, sondern um Schande, um öffentliche Schande. Im Geheimen war sie längst da, trotz Allem, was Müller that, trotz der übergroßen Opfer, die er brachte, hoffnungsfreudig im Anfang – in der Folge hoffnungslos. Ich täuschte ihn nie, aber er ließ sich nicht entmuthigen. Bei ganz edlen Menschen, dachte er wohl, verwandelt sich die Dankbarkeit endlich in Liebe. Ich war so edel nicht – er mußte es zuletzt einsehen, erwartete nichts mehr, und verließ uns doch nicht, gab Alles für uns hin. Das uns das Ärgste erspart blieb, daß die Schmach vom Sterbebette meines Vaters ferngehalten wurde, war sein Werk. Als er sich dann anschickte, Abschied zu nehmen, ohne einen Lohn, ja ohne Dank zu erwarten, da entschloß ich mich, ihn nicht allein ziehen zu lassen, für den verarmten, kränklichen Mann zu arbeiten, ihm eine treue Pflegerin und Frau zu sein.«

»Sie haben Ihren Entschluß redlich ausgeführt,« sprach Brand nach einer langen Pause, »und nichts, nicht das Geringste zu bereuen. Wohl Ihnen.«

Er empfahl sich und ging heim und hatte ein sehr schweres Herz.

[120]XIII.

Zu Hause fand er ein nach Veilchen duftendes Billet von Madame Amélie. Sie bat ihn für denselben Abend zum Thee, im »tête à trois« mit ihr und ihrem Gatten. Es handle sich um eine wichtige, Frau von Müller betreffende Angelegenheit, die sie mit ihm besprechen wollten.

Die Eheleute empfingen Brand in einer traulichen Ecke des Salons, an einem elegant gedeckten Tischchen. Das beste Einvernehmen herrschte heute zwischen ihnen; sie waren wie Liebende, die nach kurzem Zerwürfniß ein großartiges Versöhnungsfest gefeiert haben. Amélie strahlte vor Hingebung, Wonne, Zärtlichkeit; Eduard neigte sich ihr gütig und milde zu. Er hatte Unrecht erfahren und verschmerzt, und ließ nun das Licht seiner Huld leuchten über der reuigen, wieder in Gnaden aufgenommenen Sünderin.

»Meine Frau und ich,« begann er nach dem ersten Austausch von Höflichkeiten, »kennen das väterliche Interesse, das Sie an Frau von Müller nehmen, Herr Rittmeister ...«

[121] »Ich bin nicht mehr Rittmeister.«

»Das Sie, Herr von Brand ...«

»Ich bin nicht Herr von und kann Ihnen das Recht nicht zugestehen, mich zu adeln.«

Ein Ausdruck des Unmuths verzog die schönen Lippen Eduards; er war aber entschlossen, sich dieses Mal durch den bärbeißigen Pedanten nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. »Herr Brand also,« fuhr er mit erhöhter Patzigkeit fort, wir zweifeln auch nicht, daß Sie, als der beste Freund des verstorbenen Majors, Einfluß auf seine Wittwe haben, und wollen Sie ersuchen, ihn zu Gunsten der Proportionen anzuwenden, die wir dieser Dame ...« Er wollte sagen: »machen wollen,« das schien ihm aber zu gewöhnlich, und so sagte er: »proponiren wollen.«

Er hatte aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß das Haus Bauer, das sich schon seit längerer Zeit bemühte, Madame Amélie Konkurrenz zu machen, »Konkurrenz dieser Frau, dieser genialen Frau, lächerlich, nicht wahr?« – Frau von Müller durch glänzende Anerbietungen für sich zu gewinnen suche: »Die Dame ist natürlich viel zu fein, um [122] uns gegenüber ein Wort darüber zu verlieren. Wir aber wollen ihre Noblesse nicht mißbrauchen. Wir gedenken vielmehr sie so zu stellen, daß sie sich zu ihrem eigenen Vortheil für immer an uns fesseln lasse.«

»Propositionen proponiren – sie so zu stellen, daß sie sich fesseln lasse? Merkwürdig, murmelte Brand und war voll Mißtrauen. Wenn die Unbildung Phrasen drechselte, war sie ihm vollends ein Greuel.

Amélie nickte ihrem Manne beifällig zu, und er sprach ihr durch einen Blick seine Anerkennung ihrer Anerkennung aus.

Dann entwickelte das Ehepaar den Plan, den es gemeinsam »verfaßt« hatte, wie Eduard sich gewählt ausdrückte. Das Geschäft sollte in zwei Ressorts getheilt werden, Konfektion und Putzwaaren. An der Spitze des ersten blieb Fräulein Julie, an die Spitze des zweiten sollte Frau von Müller treten. Von eigentlicher Arbeit wurde sie entlastet, sie hatte die der Anderen zu überwachen und nur hier und da »un coup de main« zu geben. Ihre Erfindungsgabe, ihr Geschmack können [123] sich in viel höherem Maße bethätigen, indem sie ihren Glanz über das große Ganze verbreiten, statt zur Herstellung einzelner »bijoux« zu dienen. Als Besoldung wurden zweitausend Gulden geboten, bei außerordentlichen Gelegenheiten, zu Beginn der Herbst- und Frühjahrssaison zum Beispiel, wenn die Bestellungen sich häuften, auch außerordentliche Remunerationen. Die Atelierstunden waren die zwischen acht Uhr Morgens und acht Uhr Abends mit entsprechenden Ruhepausen für die Mahlzeiten. Nur wenn es, wie schon gesagt, ungewöhnlich viel zu thun gab, wurden die Damen bis Mitternacht, wohl auch bis ein Uhr im Atelier festgehalten.

»Und dann können die Damen nach Hause laufen bei Nacht?« fragte Brand mit Schärfe.

»Ja, Monsieur,« erwiderte Madame Amélie, die von ihm ein ganz anderes Entgegenkommen erwartet hatte, »Equipagen kann ich ihnen nicht halten.«

»Nun, gnädige Frau, aufrichtig gestanden, ich werde Frau von Müller abrathen, auf den von Ihnen gewiß sehr gut gemeinten Antrag einzugehen.«

[124] »Warum?« Amélie wechselte einen verständnißinnigen Blick mit ihrem Manne. Er hatte die Augen zum Kronleuchter erhoben, als ob er von dort Stärkung seiner hartgeprüften Langmuth erflehen wollte, und dabei einen leichten Seufzer ausgestoßen.

»Ah – ich errathe Alles – ich weiß?« Sie lachte und zeigte dabei ihre gesunden und noch ganz kompletten Zähne: »Eduard hat mir erzählt. Sie waren neulich Zeuge eines Scherzes, den er sich mit Madame Müller erlaubte, um sie ein wenig zu quälen. O die Männer sind immer grausam, am grausamsten aber doch, wenn sie lieben,« setzte sie hinzu und sah dabei ihrem Mann jämmerlich kokett in die Augen.

Der abgefeimte Racker hat das Prävenire gespielt, dachte Brand und benahm sich so borstig, daß er an diesem Abend das Wohlwollen Madame Vernons beinahe eingebüßt hätte.

Als er fortgegangen war, brach Eduard in Lachen aus:

»Wir haben ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.«

[125] »Wieso?«

»Du fragst, kannst fragen? O, was habe ich für eine liebe, geniale, blinde Frau!... Er will nicht, daß jemand Anderer dieser Müller ein »Sort« mache, er will selbst ihr »Sort« sein ... O, er hat die gediegensten Absichten, er will sie heirathen.«

»Was Dir einfällt – der alte Herr.«

»Ist nicht so alt, kommt nur Dir so vor, bist halt verwöhnt durch den Anblick Deines Mannes,« schäkerte er. »Aber weißt Du was? wir spielen ihm einen Streich.«

»Warum denn? er hat uns ja nichts gethan.«

»Ich, ich bin eifersüchtig auf ihn,« rief Eduard in bezauberndem Übermuthe.

Madame Amélie war denn auch bezaubert.

»Wenn wir ihr nicht helfen von ihrer Armuth, entschließt sie sich am Ende und nimmt ihn und geht an seiner Seite in die ewige Langeweile. Mir könnte das zwar sehr gleichgültig sein, denn, wie Du weißt, ich mag sie nicht, aber ein Schaden fürs Geschäft wär’s, wenn wir sie verlieren würden. Deshalb, Schatz, wollen wir die Müller so stellen, daß sie seine Wohlthaten nicht braucht. Ich [126] bitte Dich, schicke ihr morgen in aller Frühe einen Boten. Jetzt wär’s zu spät, jetzt schläft schon Alles bei ihr im Hause. Sie gehen ja dort zur Ruhe zugleich mit den Hühnern in ihrem Hofe.«

»Woher weißt Du, daß es Hühner giebt in ihrem Hof?« fragte Amélie rasch in einer Anwandlung von Mißtrauen. Eduard aber erwiderte ganz unbefangen:

»Ich bin einmal dort vorbeigekommen. Also schreibe heute noch und bescheide sie für morgen Mittag zu Dir. Sei vielleicht ganz besonders liebenswürdig und lade sie ein, die Kinder mitzunehmen. Denen machen wir einen guten Tag und schicken sie mit Fräulein Julie zu Wagen in den Prater. Bist Du dafür, mein Herz, mein geliebtes?«

Wenn er sagte: »Mein Herz, mein geliebtes,« war sie verloren und hatte keinen Willen mehr als den seinen. Ja, ja, Alles, was er bestimmte, sollte geschehen. Ihn ergriff eine tolle Lustigkeit, er nahm seine dicke Frau in die Arme und tanzte mit ihr im Zimmer herum.

[127]XIV.

Der nächste Vormittag traf Dietrich auf dem Wege zu Frau von Müller. Er wollte sie in Kenntniß des Anerbietens setzen, das Madame Vernon ihr machen werde, und sie bitten, es abzuweisen.

Minutenlang ließ man ihn heute vor der Thür warten. Er läutete mehrere Male diskret und geduldig nach entsprechenden Zwischenpausen. Ihm kam vor, als ob er in der Küche flüstern, leise Schritte über die Steinplatten gleiten hörte, als ob eine Thür möglichst geräuschlos geöffnet und wieder geschlossen würde.

Endlich hob sich der Zipfel des weißen Vorhanges. Die Dienerin erschien am Fenster und fuhr beim Anblick Brand’s erschrocken zurück.

»Was ist? was giebt’s? Machen Sie doch auf!« rief er laut und beunruhigt.

Noch eine Weile zögerte sie, öffnete aber endlich doch und stand vor dem Eintretenden, sie die brave, in Ehren ergraute Magd, verwirrt, mit unstät flackernden Blicken, mit glühenden Wangen, [128] ein Bild des schlechten Gewissens. »Niemand zu Hause,« stotterte sie und sah dabei schief und verstört nach einem Gegenstande hinüber, der auf dem Küchenbrette lag neben einem kleinen Krater aus Mehl, in den sie ein Eigelb eingebettet hatte. Dieser Gegenstand war eine Zehnguldennote.

»Sie lügen schlecht,« sprach Brand. »Ja, was Hänschen nicht lernt, meine liebe ... Darf ich um Ihren werthen Namen bitten?«

»Pauline, zu dienen.«

»Meine liebe Pauline. Die gnädige Frau mag nicht zu Hause sein, aber jemand Anderer ist da bei Ihnen. O, Pauline, in Ihrem – ich will sagen in unserem Alter – in Abwesenheit der gnädigen Frau, und mitten im Kochen!«

»Herr Rittmeister, Jesus Maria, was glauben Sie von mir? Ich weiß nicht, was ich thun soll, ich weiß nicht, was ich sagen soll ...«

»Die Wahrheit, Pauline. Wer ist da, wen verstecken Sie?«

»Ich verstecke ihn nicht, er versteckt sich selbst. Ich weiß nicht, warum. Er hat mir befohlen, zu sagen, daß Niemand zu Hause ist, wenn wer Anderer [129] kommt, als die gnädige Frau, und er muß auf sie warten und muß mit ihr sprechen in Geschäften.«

»Er hat befohlen? Wer hat Ihnen etwas zu befehlen?«

»Der Herr Chef, Herr Jesus! Er ist der Chef. Der gnädige Herr Chef wird doch etwas zu befehlen haben. Er kann uns Alle brotlos machen, sagt er.«

»Brotlos machen, so? Nun, meine Liebe, ich habe Ihnen zwar nichts zu befehlen, aber rathen möchte ich Ihnen ...«

Herr Jesus! dieser Rath war in einer Manier gegeben, viel fürchterlicher als die des Chefs, Befehle zu ertheilen. Fast hätte die arme Pauline aufgeschrieen.

»Seien Sie still und kochen Sie ruhig weiter, das ist mein Rath. Und dieses Geld« – Brand wies auf die Banknote – »dieses Sündengeld ...«

»Sündengeld?« – Jetzt war ihr Gekreische nicht mehr zu unterdrücken: »Ich mag’s nicht, ich hab’s nicht angerührt. Nehmen Sie’s, gnädiger Herr, geben Sie’s zurück.«

[130] »Gut, vortrefflich.« Brand steckte das Geld zu sich und trat ins Atelier. Aber da war Niemand.

Der Elende hatte sich weiter zurückgezogen, ins Zimmer nebenan – Gnade ihm Gott! – ins Schlafzimmer Sophiens. Dietrich ging auf die Thür zu, eine niedere Thür ohne Schloß, drückte die Klinke, und stand in dem Zimmer, in dem die Geliebte, ja, ja, die Vielgeliebte! ausruhte von den Mühen des Tages.

Ein armes, schmales, grau getünchtes Stübchen. An der kurzen Wand, dem geöffneten Fenster gegenüber, stand ein mit einem rothen Kotzen zugedecktes eisernes Bett, ziemlich dicht daneben ein alter, kleiner Ofen, und zwischen diesem und dem Bett war Herr Weiß eingeklemmt und machte verzweifelte Anstrengungen, sich, immer tiefer niederkauernd, zu verstecken. Ein lächerliches Unternehmen, von dem nur Einer, der vor Angst den Kopf verloren hat, glücklichen Erfolg erwarten konnte.

Brand betrachtete ihn mit durchbohrender Verachtung. »Kommen Sie doch hervor,« sagte er, »Sie demoliren noch den Ofen.«

[131] Der Rittmeister spaßte. Unerwartetes Glück! da konnte ja auch Herr Weiß spaßen. Er richtete sich auf, glättete seinen Rock, seine Weste, lachte gequält und stotterte mit unverfälschtem Galgenhumor: »Ha, ha, Überraschung über Überraschung – Sie verderben mir eine Überraschung ... Ich wollte – ja, wollte im Auftrage meiner Frau ...«

Brand hatte den Blick von ihm ab und auf einen eleganten Cylinder gewendet, der auf dem Bette lag: »Sie haben Ihren Hut in unpassender Art abgelegt, nehmen Sie ihn wieder auf!« sprach er gebieterisch, und Eduard brachte nur ein: »O Pardon!« heraus und gehorchte.

Brand stellte einen Sessel, den einzigen, der da war, vor die geschlossene Thür, setzte sich und kreuzte die Arme.

Weiß sah ihm mit bangen Gefühlen zu. »Was beliebt Ihnen eigentlich?« fragte er, Schlimmes ahnend, aber bemüht, einen »legeren Ton« anzunehmen. »Sollen wir Frau von Müller hier erwarten?«

»Wir nicht. Sie gehen gleich, das heißt, Sie springen – da hinaus.«

[132] Verwirrte die Furcht Eduards Sinne oder streckte der entsetzliche Brand jetzt wirklich den Arm aus, gegen das Fenster?

Er war ganz Kraft, ganz Wille, dieser ehemalige Rittmeister. Unerbittliche Entschlossenheit funkelte aus den tiefliegenden Augen, und um den Mund mit den fest aufeinander gepreßten Lippen hatte ein Zug sich gebildet – dieselben scharfen Furchen mochten sich, wie mit dem Grabstichel in Erz gezeichnet, von den Mundwinkeln herab gezogen haben, damals, als er die Pistole hob, um den Obersten durch und durch zu schießen ... In Eduard stieg ein einziger, heißer Wunsch auf, der alle anderen Wünsche verschlang, der Wunsch, aus der Nähe dieses gefährlichen Menschen zu kommen.

»Ich empfehle mich,« sagte er, »bitte nur, mir Platz zu machen.«

»Dort ist Platz genug,« versetzte Brand. Und wieder die entsetzliche Gebärde. »Frau von Müller kann jeden Augenblick nach Hause kommen, und ich will ihr das Mißvergnügen, Ihnen zu begegnen, ersparen. Deshalb gehen Sie nicht über die Stiege, sondern springen aus dem Fenster, wenn Sie es [133] nicht vorziehen, hinaus geworfen zu werden. Sie nehmen auch Ihr Eintrittsgeld mit ...« Er hielt ihm die Banknote hin, die Eduard in rathloser Bestürzung einsteckte. »Wenn ich bedenke, daß Sie sich erfrecht haben, Eintrittsgeld zu zahlen ...«

»Herr Rittmeister, Sie verkennen meine Absichten, ich versichere Ihnen auf Ehre ...«

»Reden Sie nicht von Ehre!« rief Brand. »Ich habe auch Nerven, ich kann manche Worte von manchen Leuten nicht aussprechen hören. – Springen Sie!« Wieder streckte er den Arm aus, und Eduard überlief’s.

Was thun? Sich mit dem Fürchterlichen in einen Ringkampf einlassen – der wahnsinnige Gedanke kam ihm, doch verwarf er ihn sogleich und stotterte: »Es giebt eine Polizei –«

»Nicht in der Nähe. Wenn Sie rufen, kommt höchstens die Hausmeisterin.«

»Die nicht! die nicht!« Vor der graute ihm offenbar – was mochte es gegeben haben zwischen ihr und ihm?

Helle Tropfen perlten auf seiner Stirn. Er näherte sich dem Fenster. Ein Blick, den er in [134] den Garten hinabwarf, beruhigte ihn einigermaßen; es war ein geringes Wagniß, das von ihm gefordert wurde. Nur eine abscheuliche Verletzung der Eitelkeit, niederträchtig beschämend. Aber da kam Hülfe in der Noth, da hatte er einen rettenden Einfall. Der Spieß ließ sich umdrehen und dem Beschützer Sophiens ins väterliche Herz stoßen.

»Wenn ich’s thu’, thu’ ich’s, weil ich’s will, weil’s mir einen Jux macht,« sprach er munter, »weil’s flott ist, weil’s fesch ist. Mich braucht’s nicht zu tangiren, wenn man mich aus dem Schlafzimmerfenster der Frau von Müller springen sieht.«

»Keine Gefahr. Die unteren Fenster sind blind, und der zweite Stock ist unbewohnt. Man läutet. Nun, wird’s?«

»Aus Jux thu’ ich’s – merken Sie sich das ...« Er hatte sich auf das Fensterbrett gesetzt und die Füße hinaufgezogen; er sah, daß Brand aufstand und auf ihn zukam. Nein, nein! das verbat er sich – Nachhülfe war überflüssig. Hastig erhob er die Hände zur Abwehr, verlor das Gleichgewicht, fuchtelte, einen Stützpunkt suchend, in der Luft herum, und plumpste kopfüber hinaus.

[135] Brand trat ans Fenster und sah ihn auf dem Boden liegen, und gar nicht »fesch«, gar nicht »flott«, mit blöd aufgerissenen Augen zum blauen Himmel empor starren. Er war tief eingesunken in ein frisch rigoltes Beet, das zur Aufnahme schöner Blumen und nicht zu der eines solchen Klotzes bestimmt war. Dietrich warf ihm seinen Cylinder nach, den er vergessen hatte, und konnte nicht umhin, einen neuen Mangel in der Erziehung dieses Herrn zu rügen:

»Wenn er voltigiren gelernt hätte, wie ganz anders wäre er da unten angekommen.«

XV.

Sophie kehrte in freudiger Stimmung heim. Sie war nicht erstaunt, Brand da zu finden. Madame Amélie hatte ihr gesagt, daß er ihr abrathen werde, das Anerbieten des Herrn Vernon anzunehmen, und:

»Einen einmal gefaßten Entschluß lang hinauszuschieben, liegt nicht in Ihrer Art ... Aber denken Sie, jährlich zweitausend Gulden!«

[136] Daß ihr Talent, ihre Thätigkeit so hoch angeschlagen wurden, erfüllte sie mit einem wahren Glücksgefühl. Wenn sie auf den Vorschlag, den Amélie ihr gemacht hatte, einging, war sie sorgenfrei, hatte die Möglichkeit, ihre Kinder gut zu nähren und zu kleiden. »Erwägen Sie, was das heißt,« rief sie aus.

»Es heißt viel,« versetzte Brand. »Sich aber täglich für zwölf Stunden von ihnen trennen und sie der Obsorge der Dienerin überlassen, heißt mehr.«

»Pauline ist brav, und meine Kinder sind gehorsam. Georg hält sein Wort wie ein Mann; ich weiß, was ich mir von ihm versprechen lasse, geschieht. Die Trennung an jedem Morgen wird mir freilich schwer werden, aber was erträgt man nicht, wenn man weiß, in zwei Jahren wird Alles besser. Und das wird sein, denn ich darf jetzt hoffen, in zwei Jahren meine verpfändete Pension eingelöst zu haben.«

»So haben Sie angenommen ...«

»Noch nicht Ich habe mir eine achttägige Bedenkzeit ausgebeten, obwohl Madame Amélie [137] anfänglich auf sofortiger Entscheidung bestand und den Grund meines Zögerns durchaus kennen wollte. Ich konnte ihr ihn nicht sagen, diesen einzigen Grund ... es ist unmöglich – und auch vielleicht höchst lächerlich ... In meinen Jahren sollte ich doch die Furcht vor der Zudringlichkeit eines Frechlings überwinden können, der seine albernen Späße gewiß einstellen würde, wenn ich den Muth fände, ihn einmal derb abzuweisen.«

»Fragen Sie Pauline, welchen Spaß der Frechling sich eben erst machen wollte,« sagte Brand und schilderte ihr kurz und lebhaft, was zwischen ihm und Eduard vorgefallen war.

Sophie schüttelte den Kopf. Sie war mit seiner Handlungsweise nicht einverstanden: ihr schien, daß er eine Unvorsichtigkeit begangen hatte, eine Übereilung! Er und eine Übereilung! Wie kann man seinem Charakter so untreu werden?

Dietrich suchte sich zu rechtfertigen. Er war mit den Gepflogenheiten des Hauses schon bekannt genug, um zu wissen, daß um diese Stunde höchstens der schwarze Kater sich im Hofe aufhielt. Pauline ist die Einzige, meinte er, der man zu erklären [138] braucht, wie so der Herr Chef zwar durch die Thür herein, aber nicht mehr durch die Thür hinaus spazierte.

Sophie nahm den Hut ab und die altmodische Mantille, die sie sorgfältig zusammenfaltete, damit das vielfach geflickte Futter nicht zum Vorschein komme. Dann setzte sie sich an den Werktisch und fing an, eine Haube zu montiren.

Sie saß am Fenster im vollen Lichte des sonnigen Tages und Dietrich ihr gegenüber, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. Ihre Wangen waren leicht eingefallen, ein Zug von Schwermuth spielte um den Mund mit seinen etwas zu blassen Lippen. Sie sah in diesem Augenblick nicht jünger aus als ihre Jahre. Nur ihre schönen, kunstfertigen Hände waren ganz unverändert geblieben und lösten mit bewunderungswürdigem Geschick und erstaunlicher Leichtigkeit ihre heikle Aufgabe. Der kleine Finger der Rechten, der selbst am Wenigsten leistete, schien der geistige Urheber all des Geleisteten zu sein, schien zu prüfen, zu leiten, sanft gerundet Beifall zu spenden, jäh ausgestreckt Bedenken zu erheben. Brand betrachtete ihn und hätte ihn küssen mögen, [139] bezwang sich aber und blieb regungslos; ein stiller Beobachter, aus dem allmählich ein gekränkter wurde. Etwas von dem, was in ihm vorging, hätte Sophie doch errathen müssen. War’s möglich, daß der Kampf, den er mit seinem übervollen Herzen kämpfte, von ihr unbemerkt blieb? Nur absolute Gleichgültigkeit kann eine scharfsichtige und gütige Frau so blind und grausam machen. Sophie war sich seiner Anwesenheit wohl gar nicht mehr bewußt, sie hatte ihn vergessen über den Spitzen und Bändern, aus denen sich immer deutlicher ein wunderhübsches, kopfputzartiges Ding gestaltete, das sie nun in die Höhe hielt und aus einiger Entfernung prüfend ansah.

»Nein, das könnt’ ich nicht,« rief Dietrich plötzlich aus. Sie lachte:

»Das glaub’ ich, daß Sie das nicht können.«

Er hatte aber etwas ganz Anderes gemeint. Er hatte gemeint: Ich könnte einen Menschen, der mich liebt, der blutig bereut, mich nicht schon einst geliebt zu haben wie jetzt, dem sein ganzes Leben und Alles, was er hat, erst dann etwas werth würde, wenn er es mir darbringen dürfte, [140] nicht so neben mir sitzen lassen, ohne ihm ein Zeichen der Theilnahme zu geben.

Die Kinder waren zurückgekehrt. Man hörte sie in der Küche laut und eifrig sprechen; Annerl lief herein und mit ausgebreiteten Armen auf die Mutter zu:

»Wir sind gefahren, so weit, so geschwind, in einem zugemachten Wagen. Und Fräulein Julie sagt, wenn wir andere Kleider haben werden, werden wir in einem offenen Wagen fahren. Und jetzt sind wir wieder da.«

Georg folgte der Schwester bald nach. Sein melancholisches Gesichtchen war freudig belebt, aber der ihm ungewohnte Ausdruck erlosch plötzlich, er richtete die dunkeln Augen finster auf Brand, zögerte einen Augenblick und kehrte auf der Schwelle wieder um.

»Sehen Sie nun,« sprach Sophie, »so ist er. Daß er nicht Alles findet, wie er sich’s wahrscheinlich vorher ausgemalt hat; daß Sie da sind, daß Annerl ihm zuvorgekommen ist mit ihrer Begrüßung, macht ihn unglücklich, verdirbt ihm die Laune für den Rest des Tages. Ein anderes Kind würde man strafen. [141] Ich hab’ es ja auch bei ihm mit Strenge versucht, aber immer bereut. Er leidet zu viel darunter, die Strafe steht außer Verhältniß zu dem Vergehen.«

Sie hatte die Kleine auf ihren Schoß gehoben, und das Kind umschlang den Hals der Mutter mit beiden Ärmchen und war glückselig.

Brand hatte sich kerzengrade auf seinen Sessel aufgerichtet: »Gnädige Frau,« sagte er, »ich wiederhole meine schon neulich gestellte Bitte: Vertrauen Sie Ihren Sohn meiner Leitung an, überlassen Sie mir seine Erziehung.«

Sophie erhob die Augen zu ihm, sah ihn dankbar an, aber sie schwieg.

»Thun Sie’s,« fuhr Dietrich fort, »Georg soll es gut haben bei mir, es soll ihm an nichts fehlen, auch nicht an weiblicher Pflege. Diese ließe ihm eine höchst anständige Person zu Theil werden, Frau Magdalena Peters, die Mutter meines Täuflings, Dietrich Peter Peters.«

»Sie haben Alles erwogen, ich seh’s,« versetzte Sophie freundlich, ja herzlich, und dennoch klang eine leise Ironie aus ihrem Tone. »Aber man [142] mag sich etwas Unbekanntes noch so deutlich vorstellen, wenn es in Wirklichkeit an uns herantritt, überrascht es doch immer. Sie wissen nicht, was Sie sich aufbürden wollen ... Ich habe es schon einmal gesagt – ein Kind, in ihrem gewiß schönen, musterhaft geführten Haushalt ...«

»Ein Kind?« fiel er ihr ins Wort. »Zwanzig Kinder tummeln sich wöchentlich einmal bei mir herum. Ich gebe Soiréen, Erziehungs-Unterhaltungen ... Ihr Sohn ist feierlich geladen. Gestatten Sie mir meinen Beruf auch an ihm zu erfüllen; es würde vielleicht nicht ohne Nutzen für ihn sein. Für mich – was freilich kaum in die Wagschale fällt – wäre es ganz gewiß ein Glück. Lassen wir’s auf eine Probe ankommen, gnädige Frau. Natürlich müßte ich vor Allem trachten, Georg an mich zu gewöhnen, seine Zuneigung zu erringen. Ich würde am Liebsten morgen schon den ersten Versuch machen und ihn abholen kommen zu einem Spaziergang, wenn Sie es erlauben.«

»Gern, wie gern, und ich danke Ihnen.« Sie war verlegen und gerührt und sprach mühsam: [143] »Ich danke, und in einem Athem bitte ich auch ... Was die Antwort betrifft, die Madame Vernon in acht Tagen von mir erwartet – Herr Rittmeister, da lassen Sie mich allein entscheiden. Rathen Sie nicht ab, suchen Sie nicht, mich zu beeinflussen. Ich muß in dieser Sache ganz frei, ganz nach eigener Einsicht handeln.«

»Wenn ich nicht abrathen darf«, erwiderte Brand schmerzlich, »darf ich Sie während der Bedenkzeit, die Sie sich bedungen haben, nicht sehen, nicht sprechen, denn sonst ...«

Er wurde durch das Eintreten Paulinens unterbrochen, die den Tisch decken kam.

»Warten Sie,« rief Sophie ihr hastig entgegen und erröthete über und über; sie wollte keinen Zeugen haben bei ihrer ärmlichen Mahlzeit.

Brand empfahl sich, und es that ihm bitter weh, daß ihr Abschiedswort lautete:

»Auf Wiedersehen also, in acht Tagen.«

Unter dem Thore wurde er von der Hausmeisterin erwartet.

Sie schlich auf ihn zu, eine lächelnde Hyäne, [144] warf einen spähenden Blick in die Runde, konnte nirgends einen Lauscher entdecken, und sprach:

»Hob’n e’n beim Fenster ’nausg’schmiß’n! Recht is ihm g’scheg’n. Nur schod, daß mer kein’ dritt’n Stock hob’n.«

»Ich habe Niemanden zum Fenster hinausgeworfen,« erwiderte Brand.

»No, versteht si!« Sie lächelte verschmitzt, und jetzt erinnerte sie an ein Krokodil. »Thon hoben’s es nit, aber hundertmol verdient hätt’s der Schuft, der miserabliche. Schon von weg’n den jung’n Ding von do drib’n. So an arm’s jung’s Ding. Die Eltern sein Schneidersleit’, brave Leit’, und ’s Mädl war a brav ... Bis der Schuft – ober dös steht ihm no ins Haus, dös wird sei Gnädige erfohren, ob s’es g’freit oder nit ... Jetzt’n hot er’s satt, dös arme Ding, und bandlet gern an mit uns’rer Frau von Miller. No jo, so en einschichtigs Frauenzimmer wäre ihm holt commod, ’s is a Glick, daß der gnä’ Herr zum Recht’n seg’n und ihn ’nauspfeffern.«

»Frau Hausbesorgerin, ich habe ihn nicht hinaus »gepfeffert«, ich habe ihn ersucht, sich selbst an [145] die frische Luft zu setzen,« sprach Brand ernst und nachdrücklich.

»Wenn er nur g’setzt ist, wenn’s ’n nur obg’schofft hob’n. Wie S’n obg’schofft hob’n« – sie fuhr mit dem Arme durch die Luft, als ob sie etwas Schweres bei Seite bringen und für immer begraben wollte, und legte dann betheuernd ihre Rechte auf die Brust: »Dös bleibt bei mir!«

XVI.

Die ganze folgende Woche hindurch kam Brand regelmäßig, um Georg abzuholen. Er übernahm ihn am Morgen an der Thür und gab ihn Abends an der Thür wieder ab. Der Kleine kehrte täglich mit einem größeren Wiesen- und Waldblumenstrauß heim, und auch täglich munterer, mit frischeren Augen, rosig angehauchten Wangen.

Das Porträt, das er an jenem Tage, an dem die Anwesenheit Brand’s seinen Unmuth erregt, in die tiefste Tiefe des Malkastens verbannt hatte, [146] kam wieder zum Vorschein; Georg strichelte so lange daran, bis der Kopf und der geheimnißvolle Hintergrund, von dem man nicht wußte, ob er einen Gewitterhimmel mit Geisterschlacht, oder ganz einfach die Zimmerwand vorstellen sollte, ganz schwarz wurden. Aber Ähnlichkeit mit einem ins Mohrenhafte übersetzten Dietrich Brand war da, und nach einiger Zeit befestigte der Knabe das Bild an der Wand neben seinem Bette und schlief unter den rabendunkeln Augen des neuen Freundes ein. Freilich nur, um bald wieder zu erwachen. Ruhiger, gesunder Schlaf wollte sich weniger als je einfinden. In seinen Träumen setzte Georg die Wanderungen mit dem »Herrn Rittmeister« fort, lachte laut über die tollen Sprünge eines aufgescheuchten Häsleins, fuhr auf mit einem gellenden Schrei, weil er eine Schlange heranschleichen und sich ringeln sah auf seiner Bettdecke. Kaum beschwichtigt und wieder eingeschlummert, übte er im Schlafe seine neueste Kunst, ahmte den Schlag der Nachtigall nach, den Sang der Drossel, das zierliche Gezwitscher der Meise. Es klang eigen, lieblich und unheimlich zugleich, und Sophie fragte [147] sich, ob ihrem armen Kinde auch die Freude, die es jetzt genoß, zum Unsegen werden sollte.

Die Bedenkzeit war um; am achten Tage kam Sophie selbst, den Touristen die Thür zu öffnen und Brand fragte:

»Was werden Sie beschließen?«

»Ich habe schon beschlossen, ich habe heute mein Amt angetreten.«

Dietrich fuhr zusammen. Ihm war, als stände er nicht mehr vor ihr an ihrer Schwelle, als sei sie ihm in weite Ferne gerückt, als hätte eine Kluft sich plötzlich zwischen ihnen aufgethan. Und in der war versunken, was ihm mehr, als er selbst es gewußt, die letzte Zeit hindurch das Leben erhellt hatte – eine leise und hold schimmernde Hoffnung auf zukünftiges Glück.

»So?« sprach er. »So? ... Ganz recht, Sie sind Ihr eigener Herr.«

Sie war’s und wollte es bleiben; hätte sie ihm das deutlicher beweisen können? Sein Rath, sein Wunsch, seine Bitten galten ihr nichts. Nun ja, wenn einem ein Mensch gleichgültig ist! Denke den Gedanken nur aus – eine erloschene Neigung [148] läßt sich nicht wieder anfachen, nie. Dietrich verbarg seine schmerzvolle Enttäuschung; er lächelte nur sehr traurig, als Frau von Müller sagte:

»Sie sind im Begriff, meinem Kind zu Liebe Ihr Behagen aufzugeben, Ihre Freiheit, und ich sollte dieses große Opfer annehmen und selbst nicht das kleinste bringen? Es ist unmöglich. O, Herr Rittmeister, Sie an meiner Stelle würden das auch finden, Sie würden genau so fühlen und handeln wie ich.«

Brand erwiderte, daß er nicht im Stande sei, sich in die Empfindungsweise einer Dame hinein zu versetzen. Übrigens verstehe es sich von selbst, daß Sophie nichts Anderes thun könne und dürfe als das, was sie für das Rechte halte.

Er nahm Abschied und war ein wenig erbittert und fest entschlossen, mit sich fertig zu werden. Es mußte ihm gelingen, es gelingt jedem tüchtigen Menschen, dem eine schöne Aufgabe gestellt ist, an deren Erfüllung er mit ganzer Liebe geht, die ihn abzieht von der Grübelei über das eigene Wohl und Weh und dem thörichten Hangen und Bangen nach Unerreichbarem. Diese Aufgabe war zunächst: [149] Georg an sich zu gewöhnen und die Eiswand ein- für allemal zum Schmelzen zu bringen, die immer noch von Zeit zu Zeit wie auf ein Zauberwort aus dem Boden stieg und sich zwischen ihm und dem Kinde aufstellte.

Dietrich warb um seine Zuneigung mit großer Kunst, mit stets bewährter Geduld, und mußte lange werben und durfte sich’s nie merken lassen, daß er warb. Er mußte ihn selbst herankommen lassen, den scheuen kleinen Menschen, der so viel Liebe brauchte und sich immer wieder in plötzlichen Anwandlungen des Mißtrauens von Dem abwendete, der ihm die reichste entgegen trug.

Der berühmte Kinderarzt, mit dem sich Brand seit der Geburt seines Täuflings befreundet hatte und dem er nun auch seinen Pflegesohn vorführte, empfahl die äußerste Sorgfalt. Gute Nahrung, gute Luft, Bewegung, aber keine Ermüdung, Beschäftigung, aber keine Anstrengung. So ein geschicktes Lootsen zwischen allen möglichen Klippen, schwer, schwer! – »Nun,« setzte er tröstend hinzu, als er den tieftraurigen Eindruck sah, den seine Worte auf Brand machten. »Sie bringen ihn [150] vielleicht durch. Ein Erziehungskünstler sind Sie schon, jetzt müssen Sie noch das Krankenwarten erlernen. Schwächlich bleibt Ihnen der Bursch übrigens sein Lebtag.«

Schwächlich und einsam, dachte Brand. Georg paßte nicht in die Gesellschaft anderer Kinder; hülflos und fremd stand er bei den Samstag-Versammlungen, betheiligte sich nicht an den Spielen der Kinder, sah ihnen nur aufmerksam zu, und dabei verklärte gar oft ein Aufleuchten der Freude, der Liebe, der Bewunderung sein stilles Gesichtchen. Die Kinder wußten diese platonische Theilnahme nicht zu schätzen. Die Mädchen lachten ihn aus, die Buben neckten ihn, vor denen mußte ihn Brand fortwährend retten.

»Wehr’ Dich!« rief er ihm einmal zu, als ein übermüthiger Junge sich vor ihn hinstellte, ihn zum Kampf herausforderte und ihm statt aller anderen Präliminarien einen Faustschlag versetzte.

»Wehr’ Dich!« wiederholte Brand.

Georg richtete einen seltsam fragenden, überlegenden Blick auf ihn, schüttelte den Kopf und sprach: »Nein, laß’ ihn, den Armen.«

[151] Was ging in ihm vor? Verstand er, was er da sagte? Woher kam ihm die Offenbarung, daß Unrecht thun mehr Qual in sich birgt als Unrecht erfahren, und bedauerte er deshalb den Knaben, der ihn schlug?

Ein solcher Mitleidskünstler sollte dieser kleine Georg sein, dem jede sentimentale Weichlichkeit fern lag, der, wie manches von Geburt an kränkliche Kind, körperliche Schmerzen mit klaglosem Heldenmuth ertrug? Er hatte kaum gezuckt, als die Faust des Angreifers auf ihn niederfiel, er hätte sich als Mann nicht anders benehmen können, wenn die schwere Hand des Schicksals ihn getroffen hätte.

Die Zeit, zu der Dietrich in den vergangenen Jahren seine Sommerreise angetreten hatte, war vorbei, und noch immer traf er nicht die geringste Vorbereitung, die Stadt zu verlassen. Frau Peters und ihr pausbäckiger Junge residirten schon seit einigen Wochen im Hochparterre der Villa in Neuwaldegg, die seit dem Tode der Eltern Brands leer gestanden hatte. Magdalena kam wöchentlich zweimal, um »im Geschäft« nachzusehen, das in ihrer Abwesenheit von der »Kusin« geführt wurde, [152] und versäumte nie, Dietrich zu besuchen und zu ermahnen.

»Kommen’s doch hinaus, Herr Rittmeister, ’s is ja Sünd und Schad, so ein schönes Haus, und Niemand drin als ich und mein kleiner Bub. So ein schöner Garten, und wenn ich Abends da sitz allein unter den Buchen, da mein ich ordentlich, ich hör’ sie lamentiren, um ihren Herrn.«

»Glauben Sie das, Frau Peters,« erwiderte Brand. »Sie hören die Buchen um Jemand ganz Andern lamentiren als um mich.«

Magdalena erröthete und sprach resolut: »Daß ich nix dagegen hätt, wenn mein Mann da wär, das ist natürlich, aber auch Sie, Herr Rittmeister, gehören zu uns. Wenn einem der liebe Gott so was Schönes beschert, will er auch, daß man was davon hat. Auf so einen Besitz, so einen prächtigen, g’hören mehr Leut hin als wir Zwei, mein Peterl und ich.«

Brand wußte wohl, wer seiner Meinung nach »hingehörte«, wen er am Liebsten durch die Zimmer schreiten sähe, die ihm so traut belebt wurden durch die Erinnerung an seine Eltern. Er wußte, [153] wem er am Liebsten gesagt hätte: Tritt ein, nicht als Gast, nein, als Gebieterin, und verwandle mir mein verödetes Eigenthum in ein trautes Zuhause. Sophie hielt ihn aber viel zu kurz, als daß er eine Anspielung auf einen so kühnen Wunsch wagen durfte. Er getraute sich nicht einmal, von seinen peinigenden Sorgen um sie zu sprechen und sah doch, daß ihre Kräfte in dem selben Maße sanken, in dem ihr Eifer, die übernommene Aufgabe gut zu erfüllen, stieg. Daß diese Aufgabe keine leichte sein werde, darüber hatte sie sich nicht getäuscht, hatte im Voraus gewußt, daß sie sich die Stellung, die man ihr gab, erst machen müsse. Es war eben ein Kampfplatz in Miniatur, auf dem sie stand. Sie hatte den passiven Widerstand der älteren Fräulein gegen eine »plötzlich hereingeschneite« Autorität zu erdulden und die Unbotmäßigkeit der jungen Fräulein zu besiegen.

»Und – was mir am Schwersten fällt,« sagte sie, »ich muß mich gewöhnen, die Arbeit, die ich immer mit Ernst und Sorgfalt gethan habe, von Anderen mit empörender Nachlässigkeit thun zu sehen, ohne sie ihnen aus der Hand nehmen und [154] kurz und gut selbst fertig machen zu dürfen. Ich werde für etwas ganz Anderes bezahlt; ich soll lehren, leiten, heranbilden.«

»Lehren, leiten, heranbilden – unmöglich, wenn man Ihnen keine Macht einräumt,« erwiderte Brand nach einigem Nachdenken. »Ich staune nur, daß ein großes Etablissement wie das von Madame Vernon’s überhaupt bestehen kann ohne militärische Organisation.«

Sie lachte: »Schlecht und recht geht’s doch weiter, und was mich betrifft, ich muß und ich werde mich zurecht finden. Es ist Feigheit von mir, daß ich klage. Eines, die Hauptsache, hat sich von Anfang an so gut gemacht, wie ich’s besser gar nicht wünschen kann – der Chef ignorirt mich. Das verdanke ich Ihnen, auch das ...«

»Wann werden Sie sich eine Erholung gönnen?« fiel Brand rasch und beinahe aggressiv ein. »Wann gedenken Sie Urlaub zu nehmen?«

»In diesem Jahre doch nicht, im ersten Jahre doch nicht. Am wenigsten doch jetzt, da in sechs Wochen der Schluß der Ateliers für fast zwei Monate während der saison morte bevorsteht.«

[155] Mit dieser Antwort mußte er sich bescheiden und war in nicht eben rosiger Laune, als Madame Amélie nach langer Zeit einmal wieder einen Hülferuf ertönen und Brand zu sich bitten ließ.

Er traf sie in einem bejammernswerten Zustand. Sie lag auf dem Ruhebette, über dessen Lehne ihre langen dichten Haare, in Strähnen aufgelöst, hingen; sie stöhnte und hielt dem Eintretenden mit krampfhaft zuckenden Fingern einige zerknitterte, thränengetränkte Briefe entgegen:

»Eh bien – voilà!«

Sie wußte Alles. Ein Armenadvokat hatte sie in Kenntniß von der neuen Schlechtigkeit ihres Gatten gesetzt, der die jüngste und hübscheste unter den jungen Arbeiterinnen verführt, verlassen und, als sie ausblieb aus dem Atelier, schändlich verleumdet hatte bei seiner Frau. O, ihr graute, ihr ekelte vor ihm. Er war kein pauvre chéri mehr, er war Monsieur Weiß, der fripon, den sie verachtete, und von dem sie sich trennen wollte, auch wenn ihr Herz darüber in Stücke ginge.

»In Stücke, darüber? da müßte es doch ein recht zerbrechliches Ding sein. Ich aber halte es [156] für ein stolzes und standhaftes Herz, das sich aus erniedrigenden Banden befreien wird. Gehört Heldenmuth dazu? Sie haben ihn, Sie sind gewiß nicht umsonst die Tochter des Landes, das so viele Heroïnen geboren hat.«

Amélie richtete sich auf, der Schmeichelei war sie noch am Rande der Verzweiflung zugänglich.

Dietrich fuhr eine Weile in gleichem Tone fort, warf sich dann aber auf das Praktische: »Wenn Sie diesen Menschen noch eine Zeit lang als Chef walten lassen, führt er eine Paschawirthschaft ein, verwandelt Ihre Ateliers in Harems. Die Achtung, in der Ihr Haus steht, geht verloren. Ihr sauer erworbenes Geld, das Sie guldenweise hereingebracht haben, fliegt zu Tausenden hinaus. Wofür, Allgerechter! Ihre Schande, die Sünden, die man an Ihnen begeht, werden damit bezahlt.«

Madame Amélie hörte ihm zu, rieb sich die Schläfen mit Migränestift, erröthete und erbleichte. Niemals hatte die Beredsamkeit Brands eine solche Wirkung auf sie ausgeübt, wie im Augenblick, in dem er gegen Herrn Eduard für ihr Geld plaidirte. [157] Sie gab ihm in Allem Recht. Ja, es war aus und mußte aus sein! Elend hatte der fripon sie gemacht, zur Bettlerin sollte er sie nicht machen. Sie trennte sich von ihm, sie that’s, wenn es auch – von dieser Befürchtung kam sie nicht los – ihren Tod herbeiführen oder doch beschleunigen werde.

»Im Gegentheil!« rief Brand. »Die Kraft haben, eine nichtsnutzige Neigung auszurotten aus unserem Innersten, heißt den besten Beweis liefern, daß wir recht lebendig sind. Rotten Sie aus, Madame! Es wäre doch des Teufels, wenn Sie etwas Unwürdiges nicht ausrotten könnten!«

Amélie gerieth in Extase: »Helfen Sie mir, Monsieur Rittmeister Brand, nobles, großes Herz! Verlangen Sie von mir einen heiligen Eid, daß ich werde unerbittlich bleiben ...« Sie erhob die Schwurfinger: »Je jure ...«

Dietrich ließ sie nicht weiter reden: »Ein fester Vorsatz ist ein Eid und darum nicht weniger heilig, weil wir ihn nur uns selbst geleistet haben.«

Sie dankte ihm für dieses schöne Wort, sie war es werth, daß man ein so schönes Wort zu ihr sprach, denn sie hatte volles Verständniß für [158] alles Schöne und überhaupt ein sehr feines Gefühl. Jetzt war aber nicht le moment, Gefühle zu haben, jetzt regierte kühle raison allein das Thun und Lassen Madame Vernons. In raschen Zügen entwarf sie ihren Zukunftsplan. Heute noch wollte sie ihren Geschäftsfreund beauftragen, die vorbereitenden Schritte zur Scheidung einzuleiten, morgen bestellte sie ihr Haus, setzte eine Regentschaft mit Fräulein Julie an der Spitze ein, übermorgen reiste sie. O seliger Tag! Tag der Befreiung aus entehrendem Joche! Übermorgen fuhr sie nach ihrem »Paris bien-aimé«, zu ihren Verwandten, von denen sie bei ihren alljährlichen Künstlerfahrten nach der Metropole der Intelligenz, der Erfindungsgabe, des Geschmacks immer mit offenen Armen empfangen, von denen sie verwöhnt, choyirt, adorirt wurde.

»Einen letzten Freundschaftsdienst erweisen Sie mir,« schloß sie. »Gehen Sie zu Ihm –«

»Zu wem? –«

Sie senkte die Augen: »Zu Monsieur Weiß. Sagen Sie ihm, daß ich ihn verachte und lieber sterben, als ihn auch nur einmal wiedersehen will. [159] Sie aber, mon bon ami, Sie kommen, übermorgen Lebewohl sagen der armen Amélie.«

Er versprach, sich gewiß noch vor ihrer Abfahrt einzufinden, und ging hinüber ins Bureau.

Der Chef stand vor dem Pulte, auf dem das Hauptbuch aufgeschlagen war und beschäftigte sich damit, seine Ringe von einem Finger auf den andern zu stecken und gründlich zu erwägen, auf welchem sie den schönsten Effekt machten.

Brand kam mit sozusagen knirschenden Schritten auf ihn zu, bestellte die Botschaft Madame Amélies und gab die Erklärung ab: »Auch wenn Ihre Frau Gemahlin mich nicht dazu aufgefordert hätte, wäre ich gekommen, um Ihnen zu sagen: Was ich thun konnte, um Sie in das Nichts zurückzustoßen, aus dem eine Ihnen tausendfach überlegene Frau Sie in unbegreiflicher Verblendung gerissen hat, das habe ich gethan.«

Weiß war anfangs äußerst betroffen und rathlos gewesen, sammelte sich aber allmählich und suchte dem unerwarteten Angriff zu begegnen: »Zu gütig, zu viel Ehre für uns. Inkommodiren sich ... mischen sich in unsere kleinen ehelichen Zwistigkeiten.«

[160] »Sie haben mich mißverstanden,« versetzte Brand. »Von kleinen Zwistigkeiten ist nicht die Rede. Ihre Frau trennt sich von Ihnen, sie reist, sie begiebt sich nach Paris, in den Schutz ihrer Familie.«

»So, sie reist? Allein, die Arme?« Eduard steckte seine Ringe definitiv auf den kleinen Finger der linken Hand. Er war in den Wiederbesitz seiner ganzen Dreistigkeit gelangt, hatte die Rolle gefunden, die er heute dem »alten Hofmeister Brand« gegenüber spielen wollte, die des vielerfahrenen Weltmanns. »Wird eine traurige Reise sein,« sagte er und stieß einen leichten Seufzer durch die Nase aus.

»Und ein trauriges Zurückbleiben für Sie.«

»Vielleicht auch nicht. Wenn aber – kann ich ja nachreisen. Kenne Paris noch nicht, sehe mir’s vielleicht an – zur Abwechslung. Wir Männer lieben die Abwechslung, sind einmal auf den Wechsel gestellt ... nicht alle. Es giebt auch Ausnahmen, zum Beispiel Sie. Sie sind für die Tugend, für das Väterliche.«

Er bebte zurück vor dem Blick, den Brand [161] auf ihn richtete; er wich aus, als dieser sich ihm um einen Schritt näherte, aber seine aufgestachelte Frechheit errang doch den Sieg über seine Feigheit: »Seien Sie, wofür Sie wollen und thun Sie nach Ihrem Belieben, Herr Rittmeister, ich thu’ nach dem meinen.« Seine Stimme wurde immer sicherer, die Finger der ausgestreckten Hand spielten nachlässig mit dem Drücker der elektrischen Glocke, die auf dem Schreibtische stand – eine Bewegung, und Hülfe war da. Herr Weiß durfte viel wagen, er war in guter Hut.

So fuhr er denn, seine Worte manchmal gewaltsam hervorstoßend, fort: »Jedes Thierel hat sein Manierel, heißt’s im Sprichwort: Das vergessen Sie immer, Sie möchten den Katzen Flügel und den Vögeln Pfoten anerziehn. Lassen Sie das bleiben, Herr Rittmeister, Sie plagen sich und ändern doch nichts, lassen Sie die Katzen ungeschoren laufen und die Vögel ungeschoren fliegen.«

»Herr,« erwiderte Brand, »die beklagenswerthe Thatsache, daß es unverbesserliche Hallunken giebt, erschüttert mir nicht den Glauben an die Macht der Erziehung.«

[162] Er sprach diese Worte ganz ruhig, er wunderte sich selbst, wie ruhig er geworden war und jetzt seiner Wege ging.

Da hatte er wieder eine Lektion bekommen: »Laß ihn, den Armen,« sagte sein kleiner, lieber Junge. »Lassen Sie mich ungeschoren, Sie ändern doch nichts an mir,« sagte Herr Eduard. Kam das nicht auf Eins heraus? War es nicht dasselbe?

Dasselbe und nicht dasselbe, es ist ein Unterschied in der Qualität, wie ein Unterschied ist zwischen dem Nichtwissen des Philosophen und der Unwissenheit des Laffen, zwischen dem in ringender Qual geborenen Unglauben des Denkers, und dem frechen Annichtsglauben des Galgenstricks.

XVII.

Die Zeit, in der geschienen hatte, daß die Gesundheit Georgs sich stärke, kindliche Lebenslust in ihm erwache, war vorbei. Er sank wieder zurück in die frühere, stille, wehmüthige Niedergeschlagenheit. Schlaf- und ruhelos bei Nacht, stand er nach kurzem Morgenschlummer auf, um bald in ein [163] traumseliges Hindämmern zu gerathen, das ihm wohl that, aus dem er sich aber oft gewaltsam aufraffte oder aufzuraffen suchte. Er litt nicht, er sprach nie einen Wunsch aus, er lächelte, wenn Jemand sagte, er sei krank. Ach nein, er war nicht krank, ihm fehlte nichts, er war auch ganz glücklich, er war nur müd’, sehr müd’.

Einige Male hatte Brand den Nachmittag mit ihm in Neuwaldegg zugebracht, zum Entzücken des kleinen Dietrich Peters. Wenn der hörte: Der Herr Rittmeister kommt, war er vom Gartenthor nicht fortzubringen, preßte sein Gesichtchen an die Eisenstäbe und schien durch die Kraft, mit der er’s that, die Kraft seiner Sehnsucht ausdrücken zu wollen. Sobald er Brand von Weitem erblickte, schrie er auf und rief in allen Tönen der Zärtlichkeit – jauchzend, jubelnd, in Rührung hinschmelzend: »Mein Jittmeiste! Mein He Jittmeiste!«

Und dem einsamen Manne, der eine unerwiderte Liebe im Herzen trug, that die anbetende und äußerungsbedürftige Liebe dieses Kindes wohl.

Auch der immer freundliche, immer nachgiebige Georg wurde von Peter Peters’ warmfühlendem [164] Sprößling angebetet. Der große Georg war so gut mit ihm, that Alles, was er wollte, verwies ihm kaum je einen Ungehorsam, eine Unart, räumte ihm aber die Gelegenheit und die Versuchung zu Ungehorsam und Unart sorglich und unauffällig aus dem Wege.

»Hören Sie, Frau Peters,« sagte Brand zu Magdalena, »der Umgang mit meinem Pflegesohn dürfte für meinen Täufling sehr ersprießlich werden. Mein Georg, der ist ein Erzieher!«

Magdalena empfand dies Lob als Tadel ihrer Erziehungskunst, was ihr nicht angenehm war und ihr den Gepriesenen nicht angenehm machte. Sie hatte für ihn viel Mitleid und wenig Zuneigung. Daß er Stunden lang zeichnend, malend auf einem Flecke sitzen konnte, oder auch Stunden lang nichts Anderes thun, als Ameisen oder Vögel oder die Wolken am Himmel beobachten, das ging ihr wider den Strich, war der rührigen Frau unbegreiflich und deshalb unsympathisch.

»Und die Sanftmuth von dem Buben, Herr Rittmeister! Diese ewigen Rücksichten auf andere Leut’, und wie er so g’scheit spricht ... ’s is [165] unnatürlich, Herr Rittmeister. Eine solche Bravheit, eine solche G’scheitheit kann gar nicht g’sund sein für einen Buben.«

»Für einen Buben, so? Ein Mädchen dürfte natürlich, ohne Gefahr, daß ihr Wohlbefinden darunter leidet, nach Belieben brav und gescheit sein,« erwiderte Dietrich. »Beim Manne, der sich ja doch nur zum zukünftigen Höllenbraten auswächst, kann es nicht zeitlich genug ‘brandeln’, meinen Sie. Das sind Irrthümer, meine liebe Frau Peters, sehr gefährliche Irrthümer, die ihr Scherflein beitragen können zu dem schändlichen Kampfe der Geschlechter, den die Weibmänner und die Mannweiber der ‘Moderne’ in die Welt gesetzt haben.«

Frau Peters war verdutzt: »Kampf der Geschlechter?« »Die Moderne?« Sie ahnte nicht, was das zu bedeuten hatte, und wollte doch den Herrn Rittmeister nicht fragen, aus Furcht, ungebildet zu erscheinen. So beschloß sie, zu warten und von ihrem Manne Aufklärung über die Sache zu verlangen.


[166] Brand hatte seinen Besuch bei Madame Amélie bis zur letzten Stunde vor ihrer Abreise verschoben. Da bedurfte die Scheidende am nothwendigsten seines stärkenden Zuspruches. Er wollte noch einmal an ihren Stolz appelliren und die Hoffnung aussprechen, daß sie im Bewußtsein ihrer geretteten Würde Ersatz finden werde für ihr zweifelhaftes und immer bedrohtes Glück.

Als er sich um halb acht Uhr Morgens dem Hause näherte, sah er einen mit Koffern beladenen Landauer davor stehen. Sollte das der für Madame Vernon bestellte Wagen sein? Nicht zu denken! Der Pariser Zug geht erst wenige Minuten vor Neun ab, sie wird doch nicht eine geschlagene Stunde im Wartezimmer sitzen wollen. Indessen erschien aber ihr Stubenmädchen und reichte dem Kutscher eine umfängliche Hutschachtel auf den Bock hinauf. Kein Zweifel mehr – die seelenstarke Frau hatte Eile, ihren heroischen Entschluß auszuführen und ihr häusliches Domicil, diese Brutstätte des Unheils für Andere, des moralischen Unterganges für sie selbst, zu verlassen.

Brand trat unter das Hausthor, und im selben [167] Augenblick kam die große Modistin ihm aus dem Treppenhause entgegen. Sechs ihrer Damen geleiteten sie, einige vergossen Thränen, andere schienen mühsam, aber heldenmüthig einen großen Schmerz niederzukämpfen. Amélie blieb stehen, ihr Gefolge umdrängte sie, ihre Hände wurden ehrfurchtsvoll gepreßt, stürmisch geküßt. Sie dankte mit Rührung und Grandezza für jedes Liebeszeichen.

Ein Gymnasiast, der eben vorüberging, weidete sich ein Weilchen an dem Anblick und rief: »Die reine Maria Stuart vom Burgtheater.«

Brand schob den kecken Jüngling zur Seite, näherte sich Madame Amélie mit erhobenem Hute und beglückwünschte sie: »Sie sind Ihrem Entschlusse treu geblieben, Madame, sehen Sie, es geht auch ohne Eid. Meine Hochachtung, Madame.«

Sie war merkwürdig verlegen, ja bestürzt: »Ach, oh – diese Liebenswürdigkeit! diese Güte!... Ich hätte wirklich nicht erwartet ... daß Sie so früh ...«

»Nicht erwartet? – Da ich Ihnen doch versprochen hatte ... Ich glaube fast, ich komme Ihnen ungelegen,« scherzte er.

[168] Sie protestirte, und er ergriff ihren Arm und half ihr in den Wagen steigen. Dabei that er einen Blick in das Innere des Gefährts ... Alle Teufel! eine Ecke war schon besetzt, sehr dick und breit durch einen schönen Mann mit weiß und rothem Gesicht, mit schwellenden Lippen. Brand kannte das Lächeln, das höhnische und ängstliche Lächeln, zu dem sie sich in diesem Augenblicke verzogen. Entrüstet warf er den Wagenschlag zu. Amélie, schamroth und verwirrt, beugte den Kopf und machte eine um Verzeihung flehende Gebärde. Der Kutscher trieb die Pferde an.

Glückliche Reise, Unglückliche! Sie nimmt den Elenden mit – auf die Flucht vor ihm. O die Weiber, die Weiber!

Fast hätte Dietrich es laut ausgerufen. Die Damen unter dem Thor waren indessen von toller Lustigkeit ergriffen worden, schnatterten und lachten, daß es ein Vergnügen gewesen wäre, ihnen zuzuhören, wenn die Immoralität dieses Gelächters ein Vergnügen hätte aufkommen lassen. Unter der Anführung Fräulein Juliens, die im Bewußtsein ihrer Regentschaftswürde um zwei Zoll gewachsen schien, [169] hüpften und tanzten die Frauenzimmer die Stiege wieder hinauf. Mißbilligend sah Brand ihnen nach.

Beim Abschied und nach dem Abschied muß man euch sehen, ihr falschen Kröten! dachte er. Alsbald aber regte sich sein Gerechtigkeitsbedürfniß und veranlaßte ihn zu allerlei Erwägungen und zu der Frage: »Machen wir Soldaten es nicht im Grunde ebenso? Mit Trauerklängen begleiten wir den entschlafenen Kameraden zur letzten Ruhestätte – mit klingendem Spiele marschiren wir hinweg von seinem Grabe.«

Der Vergleich hinkt freilich wie jeder Vergleich. Übrigens sei es wie es wolle – mit Weibererziehung gedachte Brand sich vorläufig wenigstens nicht mehr zu befassen.

Sophie war bei dem theatralischen Abschied der Principalin nicht erschienen: Dietrich traf sie unterwegs, und sogleich fiel ihre Blässe und ihre sorgenvolle Miene ihm auf. »Was ist Ihnen,« sprach er sie an. »Sie sehen bekümmert aus.«

»Das bin ich auch. Georg ist in der Nacht von heftigem Fieber ergriffen worden, und ich habe den Arzt rufen lassen, ihn aber nicht erwarten können.«

[170] »Ich will ihn erwarten und Ihnen Botschaft ins Atelier bringen,« sagte Dietrich.

»Nicht selbst,« erwiderte sie rasch, »schicken Sie mir Nachricht. Ich bitte.« Sie machte eine flehende Gebärde, nickte ihm zu und eilte davon.

In der Wohnung angelangt, wurde Dietrich von Klein-Annerl begrüßt.

»Weißt Du was?«« rief sie, »nimm heute mich mit auf die Reise. Georg bleibt da, er ist eingeschlafen.«

Und so war’s. Auf einem Sessel in der Fensterecke, mit seinem Hütchen auf dem Schoße, zum Ausgehen bereit, war er in Schlaf gesunken. Sein Kopf hing tief herab auf die Brust, sein Athem ging unhörbar leise. Er war sehr gewachsen in der letzten Zeit, die Ärmel seiner Jacke reichten kaum noch bis zu den schmalen Handgelenken. Wie glichen seine Hände denen seiner Mutter, wie farblos aber und wie abgezehrt waren sie!

Dietrich stand lange vor ihm, ehe er erwachte, plötzlich auffuhr und in das Gesicht des Freundes blickte.

»Lieber Herr Rittmeister, guter Herr Rittmeister,« [171] sagte er freudig, und seine Augen leuchteten.

Das war die erste Liebeserklärung, die Brand von dem Kinde zu hören bekam. Sie erhellte ihm die Seele bis auf den tiefsten Grund, doch that er, als ob er nichts Neues und Merkwürdiges an ihr fände, und fragte: »Wie geht’s? Wie fühlst Du Dich? Wollen wir heute in die Berge?«

»In die Berge, ja, ja, in die Berge,« wiederholte das Kind, erhob sich, wankte und fiel besinnungslos in Dietrichs Arme.

Er und Pauline brachten ihn zu Bette und labten ihn. Der Arzt, der bald darauf erschien, fand ihn noch in halber Betäubung, sprach sich nicht aus, wollte am Abend wiederkommen. Da war Sophie schon zu Hause, und für sie hatte er nur Worte des Trostes und der Beruhigung. Zu Brand sagte er aber schon am nächsten Tage im Vertrauen:

»Wir schwanken auf einem schmalen Brette über dem Abgrund.«

Und es wurde ein langes, langes Schwanken, eine schwere, schleichende Krankheit. Sie fraß allmählich [172] die physischen Kräfte des Kindes auf, konnte aber seiner Intelligenz, seiner Phantasie, seiner Güte, allen liebenswürdigen Eigenschaften, die ihn beseelten, nichts anhaben. Sie kamen vielmehr erst recht zu Tage, jetzt, da seine Scheu, zu äußern, was er fühlte, gewichen war.

»Nur nicht aufregen,« warnte der Arzt, »dämpfen! Zerstreuung braucht er jetzt nicht, langweilen soll er sich.«

Aber leider langweilte Georg sich nie; Alles interessirte ihn, ein Schatten, der an der Mauer hinglitt, ein Baumblatt, das durchs offene Fenster hereinflog, gab seinem Geiste überreichen Stoff zu rastlosem Denken und Sinnen.

Einmal erfuhr er einen großen Schmerz. Der Arzt hatte den Rath gegeben, Annerl fortzubringen aus der Nähe des Kranken, und es wurde beschlossen, sie der treuen Obhut der Frau Peters anzuvertrauen. Als diese kam, um ihre Schutzbefohlene in Empfang zu nehmen, brach Annerl beim Abschiede von ihrem Bruder in heiße Thränen aus. Sie war aber kaum in die Küche getreten, wo Dietrich Peters von seiner Mutter deponirt [173] worden war, als man sie auch schon fröhlich lachen und ihn begrüßen hörte.

Georg richtete sich im Bette auf bei diesem Freudenausrufe. »Jetzt ist sie glücklich, wenn sie nur glücklich ist, die Kleine,« sagte er, kehrte sich mit dem Gesichte gegen die Wand – und weinte ganz leise.

Bei einem Haar hätte Brand mitgeweint, so nahe ging ihm das Leid, das seinem lieben Jungen widerfuhr. Aber zwischen dem, was sich an weichen Empfindungen in einem Manne regt und dem, was von ihnen zu Tage kommt, liegt eine Welt des Unausgesprochenen. Brand hielt sich immer im Zaume, verrieth nie eine Schwäche und pflegte eifrigst das Talent zur erziehlichen Krankenwartung, das er in sich entdeckte. Dazu gehörte unter Anderem auch eine ganz vortreffliche, originelle Erzählungsgabe, von der Dietrich bisher nichts geahnt hatte. Kein brutales Vorbringen all’ dessen, was Einem eingefallen ist, nein, ein Erfinden während des Erzählens, und dabei ein fortwährendes Beobachten des Eindrucks, den dieses hygienische Fabuliren hervorbringt. Der Eindruck, den es macht, ist seine Muse, sein Stachel und Zügel: er lehrt: [174] jetzt darfst du steigern, spannen, und jetzt mußt du nachlassen, wohlthuend und sanft, und jeden Mißton auflösen und verklingen lassen in Frieden und Harmonie.

Das konnte Brand, das hatte er gelernt, das hatte die Liebe zu seinem lieben Jungen ihn gelehrt. Und was nicht Alles noch! Die Anordnungen des Doktors befolgte er gewissenhaft, aber gegen seine Diagnose erhob er Einwendungen:

»Es ist eine Entwicklungskrankheit, glauben Sie mir, aus der Georg sich neu gestärkt erheben, und dann erst recht kräftig an Leib und Seele gedeihen wird. Er wird seine kleinen Absonderlichkeiten und Empfindlichkeiten abstreifen, und Einer wie Tausende werden in allem Geringfügigen und Nebensächlichen; Einer wie Wenige aber in allem Großen, Ernsten, Wichtigen. Machen Sie ihn nur zu einem gesunden Menschen, Herr Doktor, zu einem tüchtigen, einem ausgezeichneten Menschen, wird er sich machen ohne Sie und ohne mich, denn – ich sehe das schon – er gehört zu Denen, die sich selbst und gelegentlich ganz unbewußt den Erzieher erziehen.«

[175]XVIII.

Die Stellung Sophiens im Hause Vernon war seit der Abreise ihrer Gönnerin ungemein schwierig geworden. Die Untergebenen legten offene Feindseligkeit an den Tag. Fräulein Julie veränderte den Ton. Kein Entgegenkommen mehr, nicht die geringste Freundlichkeit. Ja, sie trug nun einmal die Verantwortung für das strengste Aufrechthalten der Disziplin im Geschäfte. Sie bedauerte sehr, daß Frau von Müller ein krankes Kind zu Hause hatte; schlug aber ihre Bitte, durch wenige Tage nur etwas später als sonst ins Atelier kommen zu dürfen, rund ab. Nicht sie hatte Gnaden auszutheilen, dieses Vorrecht genoß einzig die Prinzipalin. Etwas Anderes ist, wenn Frau von Müller Urlaub nehmen will; den kann sie jede Stunde haben, selbstredend mit Verzicht auf ihre hohe, sehr hohe Besoldung.

Dietrich nannte das Vorgehen Fräulein Juliens ganz korrekt, als ihm Sophie so gelassen, als ihr möglich war, von ihrem Mißerfolg berichtete.

»Aber,« meinte sie, »man kann noch etwas [176] mehr als korrekt, man kann barmherzig, man kann sein – wie Sie. Was thun Sie für uns! Nie vermag ich Ihnen zu danken ...«

Er blickte sie vorwurfsvoll an: »Danken! Sie werden doch mir nicht danken ... Wenn Sie wüßten, wie mir vor aller Dankbarkeit graut ...«

»Seitdem Sie aus Dankbarkeit den Major von Müller geheirathet haben,« hätte er hinzufügen müssen, wenn Sophie den Grund seines Abscheus gegen eine so schöne Tugend hätte erfahren wollen. Aber sie fragte nicht, und er schwieg.

Sehr bald darauf erfüllte sie ihm den sehnlichen Wunsch, den auszusprechen er nicht gewagt hatte: sie nahm Urlaub.

»Ich bringe Alles wieder ein, was ich jetzt versäume,« sagte sie, »ich werde doppelt fleißig sein, sobald Georg nur wieder hergestellt ist.«

An der Überzeugung, daß er genesen werde, hielten Brand und sie unerschütterlich fest, diese Hoffnung ließen sie sich nicht rauben.

Zwei Nächte hatte Sophie aufrecht, auf einem hölzernen Sessel sitzend, neben dem Bette des Kranken gewacht. Am nächsten Abend stand auf [177] einmal ein großer, bequemer Fauteuil da. Peter Peters hatte ihn gebracht mit tausend dringenden Entschuldigungen seines Herrn, und an das Fußende von Georgs Lager gestellt. Und dann war Brand gekommen mit neuen und noch dringenderen Entschuldigungen.

»Lassen Sie das Ding nicht hinauswerfen, haben Sie die einzige Gnade; es ist ein Reconvalescenten-Fauteuil, dulden Sie ihn hier eine Zeitlang wenigstens, dem Kinde zu Liebe.«

Sie staunte, daß er so flehentlich bat. Er fürchtete, ihren Stolz zu verletzen, und sie hatte dem Wohlthäter ihres Kindes gegenüber keinen mehr.

»Aber Herr Rittmeister,« sagte sie, »wie können Sie noch daran zweifeln, daß ich Ihr Geschenk freudig annehme? Ich nehme ja so viel von Ihnen an, das Opfer Ihrer Zeit, Ihres ...«

Er unterbrach sie: »Opfer? – Sie betrüben mich. Wissen Sie denn nicht, daß, was Sie mein Opfer nennen, mein Glück ist? Vor Kurzem noch war ich ein ganz armer Teufel, ein alter, vergrämter Mann, der nichts mehr vor sich sah als eine [178] Reihe eintönig, einförmig hinreichender Jahre; jetzt bin ich reich ...« Er suchte ein allzu warmes Wort zu vermeiden: »Durch meine Theilnahme für Sie, und meine Liebe zu Ihren Kindern.«

Sophiens Augen hatten sich ein wenig verschleiert, aber sie sprach in munterem Tone: »Und zu Dietrich Peters.«

»Gott segne den Kleinen, die erste Aufrichtung verdankte ich ihm. Aber er hat ein robustes Elternpaar ... es ist doch etwas Anderes, etwas ...« Seine Stimme gerieth in Gefahr, umzukippen, alle moralischen Rippenstöße, die er sich zur Stärkung versetzte, blieben wirkungslos. Der Grimm, den er darüber empfand, spiegelte sich in seinem Gesichte wider und gab ihm ein so bärbeißiges Aussehen, daß Sophie, die schon einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte, sich ganz erschrocken abwendete, und die Hand, die sie ihm hatte reichen wollen, liebkosend auf das Haupt ihres Kindes legte.

Als es Abend wurde, sprach sie nicht wie sonst: »Herr Rittmeister, Sie müssen heim.« Sie saß in dem bequemen Lehnstuhl, ihre Füße ruhten auf einem Schemel, ihr Kopf sank in die Kissen zurück.

[179] »Die Mutter schläft,« flüsterte Georg, »lassen wir sie schlafen, und Du erzähl’ mir eine schöne Geschichte.«

»Eine schöne Geschichte. Ja, mein Junge, was für eine denn?«

»Etwas von Feen, das habe ich am liebsten.« Das Kind richtete seine fieberglänzenden Augen voll Erwartung auf ihn.

Er besann sich. Der Kopf war ihm so seltsam wüst. »Von Feen, gut, von alten, uralten – ein Kind kann sich’s nicht vorstellen, wie alt sie sind.«

»Aber Du, Herr Rittmeister, kannst Dir’s vorstellen, Du kannst Alles, Herr Rittmeister,« sprach Georg aus tiefster Überzeugung.

»Glaub’ doch das nicht, ich kann nur erzählen von uralten Feen,« versetzte Brand in einschläferndem Tone. »Sie haben graue Kleider an, mit Schleppen und schweben hin und her. Denk’ Dir wie das Pendel an einer großen Uhr – ein langes, langweiliges Pendel, so schweben die grauen Feen hin und her.«

»Es kommen aber auch rothe, und die tanzen.«

Richtig! Brand sah richtig rothe Feen tanzen, [180] wie Funken unter Bäumen mit klingenden Blättern, und im Hintergrunde zogen Landschaften vorbei von wundersamer Schönheit, und ein Licht lag über ihnen, milder als Sonnen-, anders als Mondlicht, ein Licht, wie es auf Erden keines giebt und von dem sich einen Begriff nur machen kann, wer es geschaut hat, denn schauen muß man’s, nicht sehen ... Er unterbrach sich. Was er da Alles zusammen redete ...

»Sag’ nur weiter,« bat Georg, »ich weiß, was das heißt. – Ich sehe Dich und schaue die Feen.« –

Dietrich war unglücklich; statt das Kind sanft einzulullen, regte er es zum Denken an. Voll Zärtlichkeit und Reue strich er ihm über den Scheitel: »Weißt Du was? Denk’ nicht, schlafe. Lieber Junge, wenn Du einschlafen könntest, das wäre so gescheit und so gut!«

Georg seufzte tief auf, preßte die Wange an das Kissen, schloß die Augen und regte sich nicht mehr. Sophie schlief sanft und fest. Es war so still, daß Dietrich das Ticken seiner Taschenuhr hörte, die er auf den Tisch gelegt hatte neben das [181] Nachtlämpchen und die Arzneiflasche. Merkwürdig hell drang der leise, gleichmäßige Schall durch ein seltsames Brausen in seinem Kopfe hindurch.

Seine Adern klopften, eisige Schauer schüttelten ihn, und im Nacken fühlte er sich gepackt von einer Riesenfaust, die ihm den Kopf zusammenpreßte.

Teufel, Teufel, was soll das heißen? In der vorigen Nacht schon wollten ähnliche Sinnestäuschungen ihn narren; aber er hatte sich ihrer erwehrt, war aufgestanden wie gewöhnlich, und wie gewöhnlich in die Berggasse gegangen.

Allerdings hatte der Doktor, den er dort traf, ihm auf die Schulter getippt und gesagt:

»Es giebt heute einen glühend heißen Tag, fahren Sie zeitig nach Hause, Herr Rittmeister, Sie haben Fieber.«

Fieber? In seinem ganzen Leben hatte Dietrich nie Fieber gehabt, außer damals nach seiner Verwundung. Fieber! Wenn man wissen will, ob Jemand Fieber hat, greift man ihm an den Puls. Sich aber hinstellen vor ihn, ihm nur einen Blick zuwerfen und gleich wissen: Der fiebert – das kann [182] man auch dann kaum, wenn man Seheraugen hat wie dieser Doktor.

Dietrich stand leise auf – ihm war, als zöge er an jedem Fuße einen Centner mit – und sah nach der Uhr. Bald Zwei; die Stunde, zu der Pauline kommen sollte, um die Gebieterin am Krankenbette abzulösen. Als Brand zu seinem Platze zurückkehrte, war Sophie eben erwacht.

»Um Gotteswillen, wie viel Uhr?... Das Medikament ... Ich habe versäumt ...«

»Nichts, nichts,« beruhigte Brand. »Sehen Sie, da ist Pauline. Verlassen Sie sich nur auf uns Zwei.«

Die erschöpfte Frau gab seinen und den Bitten ihrer Dienerin nach und ging in ihr Zimmer, um noch ein paar Stunden zu ruhen vor der Ankunft des Arztes.

Als dieser Schlag Sechs eintrat, war sie wieder auf ihrem Posten. Sehr blaß, sehr müde, aber vollkommen angekleidet, anmuthig – rührend anmuthig! – in ihrer Ärmlichkeit, und bereit ihr Tagewerk tapfer anzutreten.

Der Arzt war heute zufrieden mit seinem Patienten, [183] fand ihn frischer als seit langem. »Aber Ihnen,« sagte er zu Brand, »Ihnen geht’s elend. Sie müssen zu Bette. Nein, nein in vollem Ernst. Kommen Sie mit, ich bringe Sie in meinem Wagen nach Hause.«

XIX.

So also ist Einem, der ganz unmotivirt, ohne jeden vernünftigen Grund, aufs Krankenlager geworfen wird. Aufs Krankenlager in der selben Zeit, da er sich zum ersten Male der Vielgeliebten und Vielverehrten wirklich nützlich machen könnte!

Peter war zu Tod erschrocken, als er seinen Herrn erblickte, der, vom Doktor begleitet, die Stiege herauf kam, wankend, erdfahl, mit tief eingefallenen Augen, sich ins Bett kommandiren und sich sogar helfen ließ beim Auskleiden, er, der Rittmeister Brand! Kein Wunder, daß Peter den Kopf verlor, stille Thränen vergoß, an seine Frau telegraphirte und sie in die Stadt berief zur Pflege des Herrn und zu seinem eigenen Troste.

Frau Peters eilte herbei, wurde aber schlecht [184] empfangen. Dietrich gerieth in Zorn über das eigenmächtige Vorgehen seines Dieners. Dieser Peter! Kannte dieser Peter ihn noch nicht, glaubte er wirklich, daß Dietrich Brand einer Frau erlauben werde, sein Krankenzimmer zu betreten, wenn es denn, hol’s der Teufel, ein Krankenzimmer gab? Magdalena wurde nicht vorgelassen, sondern beordert, allsogleich nach Neuwaldegg zurückzukehren, wo sie ein Feld für ihre Thätigkeit hatte und wohin ihre Pflicht sie rief.

Brand aber verlebte einen schlimmen Tag und eine noch schlimmere Nacht. Nie, niemals hätte er es für möglich gehalten, daß eine Krankheit – pah! nicht einmal eine Krankheit, nur ein armseliges Unwohlsein – einen Mann so packen und niederwerfen konnte! Machtlos, sich machtlos fühlen dem eigenen Körper gegenüber, dem Sklaven! Giebt es eine tiefere Beschämung? Er verfluchte sich selbst. In seinem Kopfe ging es zu wie in einem Hammerwerk, in seiner Kehle schnitt es wie mit Messern, der ganze Mensch glühte wie eine Kohle.

Trotz alledem fand ihn der Arzt, der Morgens kam, rasirt, gebadet, sorgfältig angekleidet in [185] einem Lehnstuhl am Fenster des Schlafzimmers sitzen.

»Wie geht es bei Frau Major von Müller?« war Dietrichs erste, mit bedenklich kurzem Athem vorgebrachte Frage.

»Ganz leidlich,« erwiderte der Arzt und vermied dabei, den forschend auf ihn gerichteten Augen des Kranken zu begegnen. »Frau Sophie ist aber sehr besorgt um Sie.«

»Sehr besorgt um mich?« wiederholte Brand mit leisem Zweifel, mit wehmüthiger Wonne.

»Sie läßt Sie dringend bitten, sich zu schonen, einmal auch an sich zu denken.«

»Was soll ich thun?«

»Zu Bette gehen, gewissenhaft Arznei nehmen. Sie sind dann wahrscheinlich in einigen Tagen hergestellt, und das wäre gut, denn Frau Sophie wird Ihrer Stütze recht sehr bedürfen.«

Dietrich erschrak: »Was ist mit ihr? Ist sie krank?«

»Nein, nein,« darüber beruhigte ihn der Doktor, aber mit sehr wenig Worten; er hatte Brand nur einen Augenblick sehen wollen, setzte sich nicht [186] einmal, griff wieder nicht nach dem Pulse des Patienten, legte bloß die schmale, blasse Hand auf dessen Schulter und sprach mit sanfter Bitte: »Bleiben Sie wenigstens zu Hause.«

»Zu Befehl,« erwiderte Brand, worauf ihn der Arzt ein wenig spöttisch und unbeschreiblich gütig ansah und sich mit einem kurzen: »Adieu!« empfahl.

Warum in aller Welt hatte er spöttisch dreingesehen? Aus niederträchtiger, ärztlicher Schadenfreude? Oder machte es ihm Spaß, daß ein alter Soldat sich seinen Anordnungen so ängstlich unterwarf wie ein maroder Pfründner? Ja, das war’s, und darüber gedachte ihn Brand eines Besseren zu belehren. Plötzlich entschlossen, streckte er die Rechte aus und drückte den Tasterknopf der elektrischen Glocke an der Wand anhaltend und energisch nieder.

Peter eilte herbei.

»Meinen Paletot, meinen Hut,« befahl Dietrich, »ich gehe – oder vielleicht ich fahre – zu Frau Major von Müller.«

Nicht ein Wort des Widerspruchs kam über Peters Lippen, doch betrachtete er den Gebieter mit der hoffnungslosen und liebevollen Traurigkeit, mit [187] der eine Mutter ihr starrsinniges Kind betrachtet. Brand fühlte die Empfindung seines Dieners nach, und auch er blieb stumm. Man sagt nicht, man beweist, was man kann.

Peter sah ihn eine so gewaltige Anstrengung machen, als ob er sich aus einem Sumpfe, in dem er halb versunken war, emporarbeiten wollte, sah ihn aufschnellen – und fast zugleich besinnungslos zu Boden sinken.

Es war so schnell geschehen, daß Peter den Sturz nicht verhindern konnte. Jetzt kniete er bei seinem Herrn, hob ihn auf, trug ihn in seinen Armen (welches Glück, daß Brand davon nichts wußte!) auf das Bett, labte ihn und brachte ihn bald wieder zu sich. Als der Rittmeister die Augen aufschlug, stand Peter aber schon abgewendet und ordnete die Kleider im Schranke.

»Ich will heute doch lieber zu Hause bleiben,« sagte Dietrich nach einer Weile, »ich hab’ etwas Schwindel, das kommt von den verfluchten Medikamenten.«

»Von nichts Anderem, Herr Rittmeister,« versetzte Peter.

[188] »Du brauchst dem Doktor nichts davon zu sagen,« nahm Brand nach einer abermaligen Pause wieder das Wort, »es würde ihn kränken, und am Ende bildet er sich noch ein, daß ich ohnmächtig geworden bin wie ein bleichsüchtiger Backfisch.«

»Natürlich, Herr Rittmeister, denn wer kann wissen, was ein Zivilist sich einbildet.«

Zweimal im Laufe des Vormittags mußte Peter einen Kommissionär in die Berggasse schicken, um Nachrichten zu holen. Nur bei Pauline; die gnädige Frau durfte nicht belästigt werden mit den vielen Anfragen. Pauline ließ den Rittmeister beschwören, sich keine Sorgen zu machen. Er fand die Antwort ungenügend und sendete Peter in Person nach einer Botschaft aus, und der kehrte mit der Meldung zurück:

»Die gnädige Frau läßt sich empfehlen, dem kleinen Georg geht’s gut.«

»Wirklich, wirklich? Hast Du ihn gesehen?«

»Ihn nicht, aber die Frau Majorin ist selbst herausgekommen, sie selbst ...« Eine unbesiegbare Rührung packte und würgte ihn.

»Jetzt weint er wieder, der Waschlappen,« [189] murmelte Brand und dankte Gott im Stillen, daß er der armen Mutter ihr Kind wieder geschenkt und auch ihm, der es freilich nicht anders erwartet hatte, seinen lieben Jungen.

Es duldete ihn nicht länger im Bette; er ließ sich ankleiden, konnte aber nur auf den Arm seines Dieners gestützt bis zum Lehnsessel gelangen.

Gegen die siebente Abendstunde wurde geläutet, und unmittelbar darauf läutete auch Dietrich und befahl Peter, der hereinstürzte, hochroth im Gesicht und mit verklärter Miene:

»Niemanden vorlassen, keinen Menschen!«

»Herr Rittmeister, es ist die Frau Majorin von Müller.«

Brand erhob sich. Mit ihm zugleich erhob sich aber auch der Fußboden und rollte Wellen, die Decke flatterte wie ein Segel. Dietrich war froh, bei dem allgemeinen Aufruhr wieder in die Arme seines Fauteuils zurückkehren zu können:

»Wer kommt? Wer?...«

Da stand sie schon auf der Schwelle.

»Gnädige Frau ... Mein höchster Wunsch – Sie bei mir!«

[190] Sie konnte nicht gleich sprechen, sie ging langsam auf ihn zu und reichte ihm beide Hände.

»Verzeihen Sie,« sagte er. »Nein, daß ich Sie so empfangen muß. Invalid, nicht einmal entgegen gehen, nicht einmal aufstehen ... Nein, daß Sie zu mir kommen ... Es geht also besser. Mein lieber, kleiner Freund – wie hab’ ich mich nach ihm gesehnt!«

»Er sich auch nach Ihnen.« Sanft entzog sie ihm ihre Hände, setzte sich ihm gegenüber und schlug den Schleier zurück: »Auch Sie sind sehr leidend.«

»Gewesen!« rief er aus.

Nie, niemals hatte ihr Anblick ihn so bewegt in allen Herzenstiefen. Nie war sie ihm so erhaben hold erschienen, Majestät und Lieblichkeit in einer Gestalt.

Brand ließ sie nicht aus den Augen: »Aufrichtig, gnädige Frau,« sprach er, und seine Stimme zitterte, »wie steht’s mit ihm?«

»Gut,« anwortete sie, »ganz gut.«

Er athmete auf, er wurde heiter und gesprächig. Er hatte viel nachgedacht in diesen Tagen der Einsamkeit. Was denkt man nicht Alles zusammen in zweimal vierundzwanzig Stunden! [191] Seine ganze Vergangenheit war vor ihm lebendig geworden, und die leuchtende Überzeugung hatte ihn durchdrungen, daß er nur zu danken habe.

»Gnädig hat mein Herr und Gott sich mir immer erwiesen, zweimal in meinem Dasein aber allgütig. An dem Tage,« Brand senkte nachdenklich den Kopf, »an dem ich im Begriff war, ein Licht auszulöschen, das er angefacht hatte, und er mich in seiner Huld davor beschützte, den Frevel zu begehen. Ein zweites Mal – da er mich Sie, verehrte Frau, wiederfinden ließ, die ich durch eigene Thorheit verloren hatte und jetzt lieben darf – in Ihren Kindern.«

Sie hatte ihm still und teilnehmend zugehört, nun stand sie rasch auf, sagte ihm Lebewohl und wünschte ihm eine recht gute Nacht.

Peter erhielt den Auftrag, einen Wagen zu nehmen und die gnädige Frau nach Hause zu bringen. So geschah’s, und er kam zurück mit einem Gruß von ihr, und Dietrich ging zur Ruhe und schlief wie ein Gesunder. Er erwachte gestärkt, glücklich, und obwohl es regnete, war für ihn die Welt voll Sonnenschein.

[192] Im Laufe des Vormittags brachte ein Dienstmann einen Brief.

»Von der Frau Majorin,« sagte Peter und überreichte ihn ängstlich und zögernd.

Der Inhalt des Schreibens lautete:

»Lieber gütiger Herr Rittmeister! Seien Sie stark, machen Sie sich auf das Traurigste gefaßt. Ihr kleiner Freund ist todt, gestern gestorben, als die Kirchenglocken zum Ave läuteten. Selig entschlafen – ich weiß jetzt, was das heißt. Ich bin zu Ihnen gekommen, um es Ihnen zu sagen, und konnte nicht, Sie haben mir zu leid gethan ...«

Brand las nicht weiter. Das Blatt entsank seiner Hand. Sie war gekommen, um ihm zu sagen: Das Kind ist todt, und hatte es nicht vermocht; sie wußte, wie weh es ihm thun würde, und hatte es ihm nicht sagen können. Aus Mitleid, aus himmlischem Erbarmen – – – Nein, das war mehr als Mitleid und Erbarmen – unendlich mehr.

 

 


[193] Bertram Vogelweid.

[195]I.

Bertram Vogel hatte ein Pack Manuskripte in die ohnehin schon überfüllte Lade seines alten Ungeheuers von Schreibtisch gestopft und bemühte sich nun, sie zuzuschieben. Aber sie leistete Widerstand, und als er böse wurde und anfing, heftig an ihr zu rütteln, spießte sie sich gar. Auf einmal schien sie ein menschliches Gesicht anzunehmen, das einen großen, viereckigen Rachen voll Bosheit gegen ihn aufsperrte.

Er trat zurück und seufzte grimmig: »Schon wieder! Schon wieder!«

Auch eine Folge seiner entsetzlichen Nervosität, daß alles Leblose, das ihn umgab, sobald er in die geringste Aufregung gerieth, ein höhnisch grinsendes Gesicht annahm, – das Gesicht eines seiner Feinde und Neider. Er hat ihrer zahllose, er, von Natur der friedfertigste und wohlwollendste [196] Mensch, ist mit Feinden und Neidern bespickt, wie der Schild des Achilles mit Speeren. Und daran, und überhaupt an allem Übel, das ihn trifft, ist der Beruf schuld, den er ausübt und haßt, der Beruf, in den die Verhältnisse ihn hineingeschoben haben und für den die zärtlichste, geliebteste, thörichtste Mutter ihn auserwählt glaubte.

»Wart’, du Verfluchter, wie ich dich sitzen lasse,« murmelte er und ballte die Fäuste gegen etwas Unsichtbares in der Luft. »Wart’ nur noch ein Jahr! Wartet auch ihr, wie ich euch verlassen werde«, rief er den verrauchten Wänden zu.

Nur weil die Wohnstube wohlfeil war, hatte er so lange in ihr ausgehalten. Sie lag im vierten Stock eines alten Zinshauses der inneren Stadt, hatte die Form einer Bratröhre und nur ein einziges Fenster, das nie und niemals von der Glorie eines Sonnenstrahls umspielt wurde. Und das Gäßchen, in dem das alte Haus stand, war so schmal, und die bösartig duftenden Rauchfänge seines Gegenübers waren so nahe! Mit einem langen Pfeifenrohr hätte man die Katzen, die Nachts auf dem Dache herumspazierten und ein [197] verachtungswürdiges Konzert aufführten, herunterfegen können. In diese Versuchung gerieth Bertram nicht, er besaß keine lange Pfeife, er war (ebenfalls aus Sparsamkeit) kein Raucher. Er hielt das Fenster überhaupt geschlossen, denn es kam nichts Gutes herein, und für Ventilation war durch die beiden Öffnungen der Bratröhre hinlänglich gesorgt. Die verruchten zwei standen in beständiger, heimtückischer Wechselwirkung und verbanden sich alle Augenblicke zu einem grausamen Attentat gegen den am Schreibtisch sitzenden Mann. Plötzlich legte sich’s ihm wie ein eisernes Band um den Hals, oder es bohrte sich ihm ins Ohr wie ein Dolch, und nun begann das Tosen und Brausen im Kopf und machte ihm die Anstrengung des Denkens zur Höllenqual.

Gedacht aber mußte, es mußte sogar erfunden werden, spannend und originell um jeden Preis, ohne weiteres auch – um den des gesunden Menschenverstandes. O greulich!

In der Fenstervertiefung, über dem Abreißkalender, der das Datum 25. Juli zeigte, hing der Rasierspiegel. Bertram trat vor ihn hin, betrachtete [198] nach langer Zeit einmal wieder das Bild, das ihm daraus entgegensah, mit Aufmerksamkeit. Sie ging allmählich in zornige Entrüstung über.

Achtunddreißig Jahre alt sein und schon so tiefe Falten auf der Stirn haben und so eingefallene Wangen, so rothumränderte, trübe Augen, das ist doch des Teufels! Den verbissenen Zug um den Mund verdeckt glücklicherweise zum Theil der blonde Schnurrbart, dessen Enden sich breit ausgebürstet mit dem kurz gehaltenen Backenbart vereinigen; es sieht fein aus, und der ganze Mensch sieht fein aus, aber schrecklich unruhig und nervös. – Fortwährend muß er blinzeln und von Zeit zu Zeit verzieht ein blitzartiges Zucken ihm das Gesicht. Wie er das häßlich fand, wie er sich darüber kränkte und wie er nun einen neuen Grund zur Kränkung erfuhr! Eine Überraschung – aber was für eine! Mitten im üppigen Wald seiner Haare, gerade auf dem Scheitel, hatte er eine kleine Lichtung entdeckt.

»Das hast du mir angethan,« rief er und ballte wieder die Faust, diesesmal gegen den Arm des Gasrohrs an der Wand über dem Schreibtisch.

[199] Die Flamme war längst ausgelöscht worden, aber bis zum Morgen hatte sie dem unermüdlichen Arbeiter geleuchtet. Achtstundentag – lächerliches Wort! Sei du ein fleißiger Schriftsteller und Redakteur an der großen Zeitung: »Die junge Grenzenlose« und sprich vom Achtstundentag. Habe allmorgendlich ein halbes Hundert Briefe zu verschlingen, ein paar Dutzend Manuskripte, Brochuren, Bücher durchzublättern, habe gewohnheitsmäßig zwei Romane unter der Feder und sprich vom Achtstundentag. Ein Roman »läuft« in einem Volksblatt, der andere in einem Salonblatt, und: Fortsetzung folgt, heißt’s unerbittlich. Eher dürfte die Zeit in ihrem Laufe innehalten, als so ein Roman in dem seinen.

Trotzdem ist die tägliche Arbeit nicht die arge, weil man an sie nur denken braucht, so lange man dabei ist. Die argen, die nervenzerrüttenden Arbeiten sind die, die nur wöchentlich einmal erscheinen, an die man aber beständig denken muß. Da ist der gewisse »Überblick über die neueste Litteratur.« Heißes Pech und brennenden Schwefel über den Erfinder dieses an »über« überreichen Titels.

[200] »Ändern wir ihn, er ist zu lügenhaft,« hatte Bertram Vogel dem Chef und den Kollegen vorgeschlagen. »Wenn wir von einem Einblick in den Wust sprächen, wär’s protzig genug von uns. Ordinäre Ehrlichkeit spräche von einem Streif- oder Seitenblick.«

Man lachte ihn aus. Der Überblick gehörte zum eisernen Bestand der »Grenzenlosen,« die Abonnenten waren an ihren Überblick gewöhnt, hatten ihn bezahlt und geschluckt und glaubten ihn zu haben.

Einer noch größern Beliebtheit als der Überblick erfreute sich das Sonntagsfeuilleton. Es hatte Bertrams Schriftstellerruf begründet, ihn populär gemacht, ihm seinen begeisterten Anhang erweckt und seine ehrenvollen Feindschaften.

Niemand sagte mehr: »Das Feuilleton von Vogelweid,« wie niemand sagt: »Der Wein Burgunder.« Es hieß nur noch: »Haben Sie den heutigen Vogelweid gelesen?« Und: »Der ist wieder unerreichbar, macht einen witzig für die ganze Woche. Und das alles nur so hingeworfen, man spürt ordentlich, wie er sich selbst dabei unterhalten hat.«

[201] Über die Leichtigkeit, mit der Vogel produzirte, hatten sich Legenden gebildet, die man ihm erzählte, ihm ins bärbeißige Gesicht. Er konnte wüthend werden und widersprechen, so viel er wollte; es half nichts, die Leute schworen auf ihren Unsinn. Auf den zum Beispiel, daß er seine Feuilletons am Setzkasten diktire, oder daß er ihrer zwölf an jedem Samstage hinkritzle, eines davon ziehen lasse von der Hausmeisterin, die übrigen ins Feuer werfe.

In Wirklichkeit waren die lustigen Feuilletons, die ins Leben hineingeflattert schienen, lauter Zangengeburten, und Bertram fühlte die Qualen, unter denen sie entstanden, in demselben Verhältniß wachsen, in dem seine Jugend abnahm. Sie war’s, ihr Frohsinn, ihre Lebenslust, was einst in seinen Arbeiten gesprudelt hatte, er besaß kein eigentliches wahres, nur ein Formtalent. Die Form war auch noch immer anmuthig, geschmeidig, tadellos rein, aber der Inhalt bot nichts Neues mehr. Die Feinde und Neider haben es längst gemerkt, die Leser noch nicht. Werden sie sich noch fünfundzwanzig Mal, werden sie sich noch ein Jahr lang [202] darüber täuschen lassen, daß es dieselbe Voltige ist, die ihnen bei veränderter Dekoration in einem fort vorgemacht wird?

Noch ein Jahr, nur noch ein Jahr, und mit der widerlichen Tintenkleckserei ist’s vorüber. Bertram Vogelweid ist todt, Bertram Vogel auferstanden. Er lebt in tiefster Zurückgezogenheit auf seinem eigenen Grund und Boden, auf dem Bauerngütchen, das er erworben und allmählich schuldenfrei gemacht hat. Er wird sein Feld bebauen, sein Gärtlein pflegen, Bäume pflanzen, ... Bäume! Was giebt es Schöneres in der Welt? Was hat er je geliebt wie Bäume, der im Wald geborene Försterssohn?

Bäume! Bäume! Heute noch wird er Bäume sehen und freies Feld. Es wirbelt ihm im Kopf bei dem Gedanken, es schwindelt ihm, er muß sich setzen. Er sieht wieder überall Gesichter, verträgt nicht einmal die Freude mehr; sein Arzt und Freund hat ihm mit gutem Grunde vor kurzem erst gesagt: »Jetzt wird mir der Mensch in seinen alten Tagen noch hysterisch.«

Auf dem Schreibtische liegen die Früchte seines [203] wahnsinnigen Fleißes. Vier Überblicke, vier Feuilletons, die letzten Fortsetzungen seiner, ja, das hat er sich zugeschworen, letzten Romane. Des Volksromans mit seinen idealen Anarchisten, ausbeuterischen Kapitalisten, vom Blut und Schweiß des Volkes lebenden Baronen, Grafen und Fürsten, des Salonromans mit seinen Zweideutigkeiten, seinen Schlüpfrigkeiten. Nur allzu treu nach französischen Mustern, und doch überall Champagner in Bier verwandelt.

Ekel und Greuel! Eine plötzliche Wuth erfaßte ihn über sich selbst, über die Wege, die er ging, und über alle die Hunderte von Narren, die sich an ihn herandrängten und seinen Spuren folgen wollten, und denen er davon abgerathen hatte, im Anfang seiner Karriere recht höflich, in der Folge derb und derber.

Er besann sich auch der Singvögel männlichen und weiblichen Geschlechts, die ihm scharenweise zugeflogen waren. Erbarmungslos hatte er sie verscheucht, und wer weiß, ob sich unter ihnen nicht vielleicht doch eine Nachtigall befand.

Da war eine Anna Mimona, deren er nicht [204] ohne eine Art Reue gedenken konnte. Sie hatte ihm ein Heft Gedichte – ein kalligraphisches Meisterwerk – geschickt, und um sein Urtheil gebeten. Ein empfehlendes Wort von ihm, schrieb sie, würde diesen poetischen Versuchen einen Verleger verschaffen und dadurch einer verarmten Familie die Existenz erleichtern.

Bertram hatte das Buch nicht aufgeschlagen. Was kann man einer Person zutrauen, die albern genug ist, die Lyrik als Einnahmequelle anzusehen! Als die Poetin nach langer Zeit wieder schrieb und auf das höflichste um Bescheid ersuchte, erhielt sie ihn. Er lautete: »Kaufen Sie sich eine Nähmaschine.«

Seitdem hatte sie ihn nicht mehr behelligt, und das gefiel ihm; Anna Mimona war also eine feinfühlige Person und bildete einen gewaltigen Gegensatz zu den vielen, die sich ihm nahten, girrend wie die Tauben, sobald aber der Beifall, den sie verlangten, ausblieb, zu bösartigen Krähen wurden und die Augen des unerbittlichen Kritikers bedrohten.

Das alles aber wäre zu verschmerzen, es giebt [205] viel Schlimmeres: die Anhänger und Freunde, die gelobt werden müssen, weil sie loben, die Gegner, die getadelt werden müssen, wenn auch der eignen Überzeugung zum Trotze. So lange gelobt und getadelt, bis aus all dem Müssen eine Art Wollen sich entwickelt und die aufgedrungene Meinung zur eignen wird, weil man um sie gelitten und Anfeindung erduldet hat. Aus dem fortwährenden Bekennen entsteht ein Glauben. Das Vorurtheil ist zur Religion geworden, das Amt hat den Menschen gefressen.

Bertram stieß ein höhnisches Gelächter aus und preßte beide Hände konvulsivisch an den Kopf.

Eine alte Kuckucksuhr, die in der Nähe der Thür ihr langes Pendel schwang, erhob jetzt ein lautes Geschnarre. Sie hatte die Absicht, elf zu schlagen, konnte sie aber nicht ausführen.

In einer Viertelstunde wird der Wagen da sein, der den Reisenden nach dem Bahnhof bringen soll. Bertram hat gestern einem Komfortablekutscher auf dem Stephansplatz das Versprechen abgenommen, sich Punkt ein Viertel auf Zwölf vor dem Hausthor einzufinden. Wenn er nur kommt, der [206] Mensch. Im Moment, in dem Vogel ihm das Angeld gegeben und er’s eingesteckt hat, sind dem Besteller die unverläßlichen Augen des Menschen aufgefallen. Wenn er nur Wort hält. Wort halten ist eine große Tugend, und von einem Komfortablekutscher eine große Tugend verlangen die pure Romantik, die reine Thorheit. Aber man begeht sie, man ist so dumm, man ist ein so vertrauensseliger Esel!

Bertram spürte einen gallbittern Geschmack im Munde und betrachtete mit Wehmuth das hübsche Kofferchen, das er sich gestern angeschafft hatte. Es stand in der Ecke auf zwei Sesseln sauber zusammengeschnallt. Die Schlösser glänzten wie zwei Augen und schienen zu fragen: Nun – wird’s? Wandern wir? Die Handtasche (auch neu und fertig gepackt) war auf dessen Rücken etablirt und noch offen. Sie wartete auf den Schreibtischschlüssel, den sie aufnehmen sollte. Aber der steckte, und die Lade gähnte wie ein Haifisch. Bertram sprang auf und wollte sie mit einem gewaltigen Ruck zuschieben. Da entfaltete sie eine teuflische Bosheit und spie ihm, soviel sie von ihrem Inhalt nur herausbringen konnte, vor die Füße.

[207] Sinnlose Wuth übermannte ihn, er fiel über die Tückische her und rüttelte an ihr, daß sie stöhnte und in allen Fugen bebte.

Jetzt wurde an der Thür geklopft und ohne weitere Umstände eingetreten. Frau Hundlgruber, die Hausmeisterin, ein Bild grandioser Gelassenheit, zwang sich zu einem kleinen Schrei beim Anblick des Zimmerherrn, der seinen Schreibtisch prügelte:

»Jessas und Joseph, Herr von Vogel, was sein’s denn schon wieder nervios, was regen’s Ihnen denn auf? Kommen’s, gehn’s weg, lassen’s mich her.«

Sie schob ihn fort mit einer sanften Macht und Leichtigkeit, wie sie ein Feldsesselchen fortgeschoben hätte, sammelte die auf dem Boden liegenden Schriften und legte sie mit glättenden Händen in die Lade, die, empfänglich für anständige Behandlung, den ganzen Reichthum nun gutwillig aufnahm und sich auch ohne Widerstand absperren ließ.

Frau Hundlgruber warf den Schlüssel in die Reisetasche und meldete auch, daß es Zeit, und daß der Einspänner vorgefahren sei.

Wieder gerieth Bertram außer sich: »Zeit ist’s; [208] ich versäum’ den Zug! ich versäum’ den Zug!« stieß er hervor, riß seinen Hut und Überzieher vom Kleiderstock und wollte mit Hinterlassung aller seiner Reiseeffekten davonlaufen.

Frau Hundlgruber ertheilte ihm eine neue Ermahnung, gab ihm seine Tasche und seinen Regenschirm in die Hand, nahm selbst das Kofferchen unter den kräftigen Arm und fragte, was mit den Sachen auf dem Schreibtisch zu geschehen habe.

Bertram rief voll Hast: »Alles Rekommandirte auf die Post ... Die Rezepisse verwahren Sie, die bind’ ich Ihnen auf die Seele, mit Spagat, Frau Hundlgruber. Das große Paket tragen Sie, bitte, auf die Redaktion.«

»Jessas und Joseph, das is g’wiß das End’ von Ihrer schönen G’schicht,« sprach Frau Hundlgruber und lächelte seelenvergnügt: »Sagen Sie mir nur noch g’schwind, ich könnt’ ja heut’ nit schlafen vor Neugier: Wird der Baron wirklich lebendig begraben? Verdienen thät er’s, der Schuft der miserable. Is der Pülcher wirklich der Stiftsdam’ ihr Sohn, und wird der brave Anarchist richtig noch Minister bei der Polizei?«

[209] »Das alles soll die Zukunft Ihnen enthüllen, jetzt lassen Sie uns scheiden. Leben Sie wohl, Meisterin dieses Hauses,« sprach Bertram pathetisch, »und wenn hier Feuer ausbrechen sollte, dann retten Sie alles, nur den,« er wies mit ausgestrecktem Finger nach dem Schreibtische, »den lassen Sie verbrennen, der ist assekurirt.«

Damit rannte er die Treppe hinab, stieg in den, vor dem Hause wartenden offenen Wagen, das Gepäck wurde untergebracht und fort ging’s im Gezottel eines steifen Fliegenschimmels, dem Nordbahnhofe zu.

II.

Eine peinliche Fahrt. Wohl zehnmal tippte Bertram mit der Spitze seines Regenschirms dem Kutscher auf die Schulter und flehte: »Fahren Sie zu, vorwärts!« Er suchte zu imponiren und befahl: »Vorwärts. Fahren Sie zu!« Es machte keinen Eindruck. Er knirschte in Verzweiflung: »Wir kommen zu spät! Kutscher! Mensch! Zu spät!« Half alles nichts. Der Kutscher, breit wie sein [210] Bock, antwortete nur mit undefinirbaren Lauten, einer Art Gegrunze, und sein Fahrgast schalt ihn im Stillen eine Pappendeckelseele, ein stumpfsinniges Halbthier.

Wagen um Wagen, alle mit Koffern beladen, fuhren ihnen vor, der Fliegenschimmel schüttelte dazu nicht einmal den Kopf. Sein Lenker war unzugänglich, und er war ohne Ehrgeiz. Bertram rutschte immer weiter vor auf seinem Sitze und saß zuletzt nur noch auf der Polstereinfassung. Er meinte sich dadurch leichter zu machen; er hätte ums Leben gern mitgezogen und erreichte nichts anderes, als daß ihm zuletzt in seiner Aufregung alles vor den Augen tanzte, und daß er statt des breiten Kutscherrückens ein abscheuliches braunes Gesicht mit Hängebacken vor sich sah. Voll Entsetzen wandte er den Blick ab, lehnte sich zurück im Wagen und gab alle Hoffnung auf, noch zurecht zu kommen. Das begab sich ganz in der Nähe seines Zieles, und ein paar Minuten später hatte er den Bahnhof erreicht.

Aber welch ein Gewirr und Getreibe herrschte da!

»Der Schnellzug is heut’ ungeheuer besetzt,« [211] sagte ein riesenhafter Träger, der an den Wagen Bertrams herantrat und sich des Gepäcks bemächtigte.

Ungeheuer besetzt. O du liebes Schicksal! Just heute, an dem ersten Tag nach vier Jahren, an dem Bertram reisen kann, müssen Hunderte von Leuten reisen, die’s wahrscheinlich ebenso gut früher hätten thun können. Er springt aus dem Wagen und will dem Träger folgen, der die Stufen zur Halle hinaufsteigt. Da wird der schläfrige Kutscher plötzlich lebendig und schreit:

»Erscht hetzen! und durchgeh’n a no? Halt’s ’n auf!«

Bertram erschauderte bei dem Gebrüll. Der Vorwurf, den ihm der Grobian vom Bocke zuschleuderte, traf ihn wie der Blitz vom Himmel. Er hatte vergessen, seine Fahrt, wie es sich gehört, im Voraus zu bezahlen, stand als Betrüger da, die Blicke der Menschen, die sich nach ihm umsahen, sprachen es aus. Er bemerkte auch, daß ein Wachmann ihn fixirte. In zitternder Eile, mit vor Kälte steifen Fingern (am 25. Juli um die Mittagsstunde, bei 28 Graden über Null) entnahm er [212] seinem Portemonnaie eine Banknote und reichte sie dem Grobian, der augenblicklich den Hut zog und kriechend und demüthig bat: »Schaffen Euer Gnaden ein andres Mal wieder.«

Bertram eilte dem Träger nach, der schon auf ihn wartete, kurzweg fragte: »Wohin?« und ebenso kurzweg hinzufügte, nachdem er die Antwort: »Hullein« erhalten hatte: »Nehmen’s Ihr Billet.«

Ja, nehmen! Das ist leicht gesagt. Bei dem Fenster, durch das die Banknoten hinein- und die Fahrbillete herausgeschoben werden, gab es ein Gedränge, als ob dort Brot vertheilt würde unter Hungernde. Bertram stand als der letzte zwischen den eisernen Schlangen, die zum Schalter führen, und zappelte vor Ungeduld und quälte sich mit gräßlichen Zweifeln: »Wohin ist der Kyklope gerannt, was hat er mit meiner Bagage angefangen? Was hat sein mysteriöses Verschwinden zu bedeuten? Der Kyklope ist am Ende gar kein Träger, sondern ein als Träger verkleideter Strolch, der jetzt das Weite sucht mit meinem Hab und Gut.«

Bertram späht ihm vergeblich mit verstörten Blicken nach, möchte nach Hülfe schreien und wagt [213] es doch nicht recht, trotz der Überzeugung, daß er bestohlen ist, beraubt! O die Menschen! die Menschen! Was für ein ausbündiges Gesindel! Fluch über sie und ihre höllische Erfindung, die Eisenbahn, die allen Lastern eine nie dagewesene Fülle von Gelegenheiten bietet, sich auszubreiten, zu wuchern, hereinzustieben, triumphirend mit Dampf in die früher – verhältnißmäßig wenigstens – unschuldige Welt. Bertram seufzte, schnaubte, stampfte und hatte zur Verstärkung seiner Pein ein dumpfes Gefühl, daß er lächerlich sei und sich so ausnehme.

Unweit von ihm, neben einer Säule in der Halle, stand eine junge, große, schlanke Frau in hellgrauem Reiseanzug, mit einem allerliebsten Mützchen ohne Schirm auf dem Kopfe. Sie blieb ganz gelassen mitten in dem fürchterlichen Trubel, der sie umgab, hatte ihre Reisetasche (wo ist die meine, dachte Bertram schmerzlich) auf den Boden gestellt und schien in vollkommener Gemüthsruhe auf jemanden zu warten. Dabei beobachtete sie den armen, zwischen den Eisenbarrièren zuckenden Vogel, diskret, mit höchster Wohlerzogenheit, aber offenbar belustigt. Ihre blauen, ehrlichen und unbeschreiblich [214] sympathischen Augen sprachen: Du machst mir Spaß.

Der vorletzte Passagier war abgefertigt, Bertram trat an seine Stelle und quetschte mühsam das Wort »Hullein« hervor, während draußen – es fuhr ihm in die Kniee, daß sie zusammenknickten – das erste Läuten erscholl. Der Beamte hinter dem Schalter streifte ihn mit einem flüchtigen Blicke, hielt ihn für einen anderen, schob ihm ein Billet erster Klasse hin und sagte während des Herausgebens auf zwei Zehnernoten:

»Eile, Herr Baron, höchste Zeit.«

»Träger! Wo ist der Träger?« rief Bertram und vergaß völlig, daß der ein Schuft, ein Strolch war und die Bagage entwendet hatte.

»Was für a Nummer?« fragten ein paar Blousenmänner.

»Weiß ich’s?« Und noch einmal rief er, aber schon völlig hoffnungslos: »Träger!«

Siehe, da kam der Strolch aus dem Magazin herausgelaufen und hatte ein vertraueneinflößendes Gesicht und sprach: »Da drin hat einer an Koffer falsch aufgegeben.«

[215] »Den meinen,« stöhnte Bertram.

»Na, na, den Ihren nit. Jetzt aber machen’s g’schwind. Wo is Ihr Billet?« Er bemerkte die Aufregung des Reisenden und lächelte – die Nervösen sind die einträglichsten – nahm ihn unter seinen väterlichen Schutz, führte ihn zur Wage und wieder an einen Schalter – was das für unnöthige Förmlichkeiten sind! und wieder hieß es bezahlen, und Bertram glaubte zu bemerken, daß ihm ein Fünfer fehle. Jetzt aber war nicht Zeit, nachzusehen, das zweite Läuten ertönte, und Bertram verlor völlig den Kopf. Er riß seinen Regenschirm dem Träger aus der Hand, rannte durch die Halle über die Treppe, durch den Wartesaal an dem verblüfften Portier vorbei auf den Perron.

Dort wieder ein schreckliches Gedränge und grausame Rücksichtslosigkeit gegen den Nächsten. Mit den Ellbogen, den Knieen, den Füßen wird gerungen, gestoßen, gepufft. Die Männer denken nur an sich, die Frauen nur an ihre Brut, nie wird Bertram einen Platz erobern; auf den Faustkampf ist er nicht eingerichtet. Er bleibt stehen, sieht den Anderen nach und hat einen neuen verzweifelten Anfall von Menschenverachtung.

[216] »Sie! Herr!« schreit ihm plötzlich jemand in die Ohren. Er wendet sich um, und vor ihm steht sein Träger, der gute Kyklop. Er hat sich Bahn gebrochen bis zu ihm und bringt ihm den Gepäckschein, die Handtasche und das Portemonnaie:

»Das alles haben’s bei der Wag liegen lassen,« spricht er, grüßt militärisch und will enteilen. Aber Bertram ruft ihn zurück, sein Herz quillt über vor Beschämung und Rührung. Wie unrecht hat er einem Ehrenmann gethan! Er sucht nach in seiner Geldtasche, ein Fünfer ist noch drin, muß noch drin sein, den Fünfer hat er nicht ausgegeben, aber er findet oder sieht ihn jetzt nicht, knüllt krampfhaft alles Papierene, das ihm zwischen die Finger kommt, zusammen und schenkt es dem Ehrenmann. Dann rennt er weiter, die Ufer der tobenden Menschenfluth entlang. Hinein wirft er sich nicht, das nicht, o pfui! ihm graut.

Mit Verzweiflung fand er sich plötzlich fast allein auf dem Perron. Der ungeheure Zug hatte alles geschluckt. Aus den Fenstern, unter denen Bertram herumirrte, zu denen er hülfeflehend emporsah, blickten böse Gesichter, drohende Augen auf ihn [217] nieder. »Alles besetzt!« riefen grausame Stimmen. Einzelne, noch offen stehende Thüren wurden von innen heftig zugeschlagen.

»Einsteigen!« donnerte ein Schaffner dem armen Ausgeschlossenen zu, und der stöhnte:

»Wo?«

»Welche Klasse?«

»Erste.«

»Was kriechen’s also da herum? Also zurück, ganz hinten!« braust der Schaffner auf, selbst schon im Begriff, seinen luftigen Sitz zu erklettern, und der schreckliche Mensch an der Glocke hebt den Schwengel zum dritten Läuten.

Da öffnet sich der Schlag des letzten Waggons, ein junger Mann steckt den Kopf heraus und winkt dem athemlos heranstürmenden Bertram: »Da her, da ist noch Platz!«

Wenige Sekunden später setzte Bertram den Fuß auf das erste Trittbrett, sein Retter streckte ihm die Hand entgegen, er ergriff sie und ließ seinen Regenschirm fallen und sah sich nicht einmal nach ihm um, erklomm das zweite Trittbrett und stand im Wagen keuchend, verstört. Im selben Augenblick [218] wurde die Glocke geläutet – ein durchdringender Pfiff – ein Ruck, Bertram taumelte und saß, aber so schlecht, daß er gleich wieder aufsprang.

Der junge Mann hatte einen Schrei ausgestoßen: »Donnerwetter, was thun Sie denn? Aber um Gotteswillen, Sie setzen sich ja auf meine Tauben!«

III.

Auf dem Ecksitze des Halbcoupés, in das Bertram hereingestürzt war, stand ein Vogelbauer, und in dem befanden sich zwei prächtige Ringeltauben, die ganz erschrocken über die plötzliche Verfinsterung ihres Lokals, Töne des Entsetzens ausstießen und mit den Flügeln schlugen. Ihr Eigenthümer bemühte sich, die in eine Plattform verwandelte Kuppel ihres Bauers aus Draht wieder zurecht zu biegen, und Bertram konnte kein Ende finden mit Entschuldigungen:

»Es ist hoffentlich nichts geschehen?« fragte er besorgt.

»Den Tauben nichts. Aber so lach’ doch nicht,« [219] wandte der junge Mann sich an seine Begleiterin, die in der anderen Ecke saß, und in der Bertram die anmuthige Frau erkannte, deren wenig schmeichelhafte Aufmerksamkeit er schon auf dem Bahnhofe erregt hatte. Trotz der redlichsten Mühe vermochte sie das helle, herzerquickende Lachen, in das sie ausgebrochen war, nicht zu unterdrücken. Sie entschuldigte sich:

»Verzeihen Sie, es ist aber zu spaßig gewesen, der Schreck meines Mannes und dann der Ihre.«

»O, gnädige Frau, was mich betrifft, lachen Sie weiter, es klingt so schön,« erwiderte Bertram.

Da wurde sie sogleich ernst und lud ihn ein, sich zu setzen. Er wollte seinen Platz durchaus mit dem Vogelbauer theilen, durfte aber nicht, mußte sich allein in die Ecke placiren. Der Ehemann, der auffallend schöne, braune Augen hatte und kurzgeschorene, schwarze Haare, stellte die Tauben auf den Mittelsitz, den auch er einnahm und sagte:

»Sie müssen sich’s bequem machen, Sie sind unser Gast. Wir haben das ganze Coupé genommen wegen der dummen Viecher und weil die Leute so kurios sind. Wenn einer mit einem Bettsack [220] von hundert Kilo, sechs Kopfpolstern und drei Decken einrückt, sagt niemand was, bringt man aber einen Kolibri in den Waggon, schreien sie gleich: In den Ochsenwagen damit!«

Ein erbitterter Ausdruck tiefster Menschenverachtung lagerte wieder auf Bertrams Zügen: »Dummes, eingebildetes Volk!« brummte er. »Als ob man nicht hunderttausendmal besser aufgehoben wäre in der Nähe einer Taube als in der eines Tabakrauchers!«

Bei diesen Worten wechselte das Ehepaar einen Blick, dessen Bedeutung er sich nicht erklären konnte. Das setzte ihn in Verlegenheit; um sie zu verbergen und sich möglichst angenehm zu machen, begann er, die Tauben zu bewundern; ihre Größe, ihre sanfte Cedernholzfarbe, ihre Ringkragen à la Philippine Welser.

»Ja, ja, sind schön, wenn sie mir nur nicht davonfliegen,« sprach der junge Mann und betrachtete sie mit halb stolzen, halb bekümmerten Eigenthümerblicken, »ich habe sie in Wien gekauft für meine Zucht.«

»Sie züchten Tauben?« fragte Bertram voll [221] Begeisterung. »Ich werde auch Tauben züchten, ja, ja, das ist meine Absicht, ich habe sie eben gefaßt. Ich werde alles thun, was man auf dem Lande thun kann.« Er war wie berauscht. Die kräftige Luft, der Sonnenschein, der Anblick der Felder in ihrer goldigen Pracht, rissen ihn hin. Unbeirrt durch das Erstaunen, das er mit seiner Beredtsamkeit erregte, fuhr er fort: »Ich werde hinter dem Pfluge gehen und singen mit Alexei Koltzow: Vorwärts Gäulchen, vorwärts, zieh die Ackerfurche. O weh!« unterbrach er sich, »ich citire wieder – Werkstattgewohnheit; ich bin wie der Kammerdiener im Proverbe Leclerqs, ich kann in der Freiheit die schönen Tage der Sklaverei nicht vergessen.« Er klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers an seine Stirn: »Nichts als Bücher da drin, todte Buchstaben. Ich bin nämlich – Gott sei’s geklagt, Litterat. Aber nicht lange mehr, bald schon – unnennbare Wonne – Bauer.«

Der Mann und die Frau wechselten wieder einen Blick, den Bertram dieses Mal verstand. Sie hatten sich zurückgelehnt, er beugte sich weit vor, um ihnen in die Augen sehen zu können. Es [222] war ihm so wohlthuend. Diese Menschen schienen so ganz im reinen mit sich selbst, so friedlich, so ausgeglichen.

»Gnädige Frau,« sagte Bertram, »und Sie, mein edler Retter, Sie halten mich für geistesgestört, ich bin es nicht, ich bin nur entsetzlich nervös. Das wird man in meinem sogenannten Berufe, der nicht der meine ist. Ich bin ein Försterssohn und durch Natur, Geburt, Neigung zum Forstwesen bestimmt.«

Das Ehepaar antwortete mit »So?« – »Ja?« höflich, aber erschreckend kühl, er fühlte, daß er sich unangenehm machte, daß man sein Geschwätz zudringlich fand, und doch war’s, als ob ihm ein Teufelchen auf der Zunge säße, das auf ihr herumhüpfte wie auf einem Trampolin und ihn zwang, all die Überflüssigkeiten vorzubringen.

Die junge Frau benutzte die erste Pause, die er machte, um ihn zu fragen: »Ist es Ihnen sehr unangenehm, wenn ich rauche?«

Er verneigte sich: »O gnädige Frau, wenn Sie rauchen, ist es mir eine Ehre und ein Glück!«

Sie lächelte, jetzt fand sie ihn offenbar wieder [223] komisch, griff in ihren Reisesack und entnahm ihm eine Cigarrentasche, ein Feuerzeug und die gestrige »Grenzenlose«, die mit dem Sonntagsfeuilleton.

»Jetzt will ich meinen Vogelweid erst genießen,« sagte sie zu ihrem Mann, »in der Stadt kommt man zu nichts. Ich hab’ gestern in die Zeitung grad nur hineingeguckt.« Sie brannte einen ziemlich großen Glimmstengel an, drückte sich behaglich in ihre Ecke und rauchte und las und vergaß in ihrer genußreichen Versunkenheit alles um sich her – nur nicht ihren Mann. Der hatte sich tief hinuntergleiten lassen auf seinem Sitze, einen Fuß an die Wand des Waggons gestemmt, den anderen überschlagen und sah unverwandt zu ihr hinauf.

»Er ist heut’ besonders gut, nicht wahr?« fragte er, wenn sie sich so recht zu unterhalten schien. Sie antwortete mit stummem Kopfnicken, und er suchte ihr Interesse noch zu erhöhen.

»Wart nur, lies nur, es wird immer besser.«

»Excellent!« rief sie plötzlich aus, »nein, der Vogelweid – wie ich den liebe!«

Bertram hielt sich nicht länger: »Sie haben [224] Unrecht, gnädige Frau, das ist, ich bitte um Verzeihung, eine Geschmacksverirrung.«

Sie wurde roth, ihr Mann fuhr auf: »Erlauben Sie mir« –

»In keinem anderen Punkte hätte ich Ihnen etwas zu erlauben oder zu verbieten, Ihnen, meine gnädige Frau, oder Ihnen, mein edler Retter,« versetzte Vogel. »Aber in dem einen Punkte habe ich das Recht einer Meinung und die Pflicht sie auszusprechen. Sie dürfen mir glauben, daß dieses Feuilleton, das Ihnen besonders gut vorkommt, besonders schlecht ist, und daß Sie über etwas mühsam Zusammengequältes lachen. Lauter alte Witze und Späße, denen man aber ihr Alter nicht anmerken soll, immer das alte Ragout, nur mit neuem Überguß.«

»Erstens,« erwiderte die junge Dame, »haben Ragouts keine Übergüsse, sondern Saucen, und wenn mir die Sauce schmeckt. –«

»Unglücklicherweise. Sie sollten sich das Gebräu nicht schmecken lassen und würden auch nicht, wenn Sie wüßten, aus welchen Ingredienzen es besteht und mit wie niederträchtiger Künstlichkeit es [225] eingerührt ist. Künstlichkeit – Karrikatur der Kunst! und natürlich auch Routine. Die Zwei bringen das Tränklein fertig, das dann den Leuten so leicht eingeht, wirklich wie nichts. Sie brauchen nur den Mund aufthun, es läuft von selbst hinein, das charakterlose, für jeden Gaumen berechnete Zeug!«

Das Ehepaar hatte dem aufgeregten Reisegefährten schweigend zugehört: »Sie sind vom Fach, man sieht’s,« sprach der Mann, und die Frau erklärte:

»Nein, nein! ich lasse mir die Freud’ an meinem Vogelweid nicht verderben. Sie sagen immer wegwerfend: das Zeug. Wie viele würden ihrem Gott danken, wenn sie solches ‘Zeug’ schreiben könnten.«

»Das gewiß. Es trägt ja viel mehr Geld ein, als das Herstellen guter, gediegener Kost. Und – Geld! ‘Am Gelde hängt, nach Gelde drängt’ &c. ist heute noch wahr, und bleibt es vielleicht noch ein Weilchen, bis uns die Sozialisten von dem elenden Tauschmittel befreien. Seien Sie ganz aufrichtig mit mir, gnädige Frau,« begann er nach einer kleinen Weile von Neuem. »Oder seien Sie [226] es auch nicht – mit Worten, ich weiß doch was Sie denken, ich sehe Sie denken. Der Neid spricht aus dir, denken Sie, Sie irren. Der litterarische Bajazzo, den Sie in Schutz nehmen, und den ich angreife, der alte, verbitterte, müde Vogelweid flößt mir nicht den geringsten Neid ein, dazu kenne ich ihn zu gut, bin zu genau eingeweiht in die Geheimnisse seiner armseligen Journalistenexistenz. Ich bin ja selbst dieser Vogelweid. Habe die Ehre, mich noch einmal vorzustellen: Bertram Vogel, genannt Vogelweid.«

Es entstand eine kleine Verlegenheitspause.

»Sie glauben mir nicht?« fragte Bertram.

Doch! ja, sie glaubten ihm. Sie besannen sich jetzt, Porträts von ihm in illustrirten Blättern gesehen zu haben. Nicht sehr ähnlich, allerdings. Das entschuldigte, so hofften sie wenigstens. Der Retter nannte sich:

»Gerhart Neuhaus.«

»Graf Neuhaus,« rief Bertram und lüftete freudig den Hut, »ein Nachbar meines Gönners und Jugendfreundes, Hugo von Weißenberg? Es ist mir eine ganz besondere Ehre.«

[227] »Uns auch,« sagten der Graf und die Gräfin, und man schüttelte einander die Hände. »Wir haben nicht nur viel von Ihnen gelesen, wir haben auch viel von Ihnen gehört,« setzte die junge Frau hinzu. »Sie sind doch auf dem Wege nach Obositz, bringen Ihre Ferien bei Weißenbergs zu, nicht wahr? Man kann Ihre Ankunft kaum mehr erwarten, wird Sie ganz anschließend in Beschlag nehmen. ‘Vogelweid will Niemanden sehen, er ist ein bißchen menschenscheu,’ reden Sie uns immer zu Gehör. Nun, daß Sie nervös sind, gebe ich zu, aber menschenscheu? davon haben wir nichts bemerkt.«

»Sie freilich nicht, meine Herrschaften, ich habe mich Ihnen an den Kopf geworfen und krame mein Innerstes vor Ihnen aus mit barbarenmäßiger Aufdringlichkeit. Stimmung! alles Stimmung! Ich bin ein Sklave meiner Stimmung! Das ist die Folge des unglückseligen Sichüberarbeitens. Arbeit ist der beste Inhalt unseres Lebens, Weisheit, Tugend, Gesundheit, Glück! Sich überarbeiten ist Fluch, ist der Tod aller unserer Fähigkeiten, nicht der geistigen allein, auch der moralischen. Man [228] taugt nichts mehr, man verliert allen Halt ... Sehen Sie mich; ich perorire da unaufhaltsam und weiß, in einer halben Stunde, in fünf Minuten vielleicht, werde ich stumm sein wie ein Stock, nicht eine Silbe herausbringen und nicht mehr wissen, ob man sagt: Schöne Frau, ich habe die Ehre oder: Schöne Ehre, – ich hab’ eine Frau.«

Die Gräfin lachte: »Da sind Sie ja sehr zu bedauern.«

»In einem Jahre werde ich sehr zu beneiden sein, wenn ich mein Glück erlebe, wenn ich nicht früher überschnappe, es kommen mir manchmal so elend feige Gedanken.«

»Sie werden noch eine Menge Gutes erleben,« sagte der Graf. »Der kleine Besitz, den Weißenberg für Sie gekauft hat, ist sehr hübsch. Aber ich darf nichts verrathen, das sollen ja lauter Überraschungen werden.«

Die Augen Bertrams leuchteten, doch sprach er ängstlich: »Ich will mir nicht zu große Erwartungen machen. Alles hat zwei Seiten, auch mein Besitz wird sie haben. Vorläufig rechne ich mit Zuversicht nur auf ein ungetrübtes Glück. Auf [229] das Glück, vier volle, gesegnete Wochen in einer unlitterarischen Umgebung zu verleben. Sie können nicht ermessen, was das bedeutet für einen Tintenmenschen wider Willen. Vier Wochen, in denen er kein Buch in die Hand nehmen braucht, in denen ihm kein Manuskript unter die Augen kommt, Niemand ein Autograph von ihm verlangt, vier Wochen himmlischer Seligkeit! Weißenberg war mein Schulkamerad, er ist mir der treuste Freund, meine Vorsehung ist er. O, wie freudig bin ich ihm zu ewigem Dank verpflichtet; in keines Menschen Schuld stände ich mit solcher Wonne, wie ich in der seinen stehe, und ich bin doch lieblos genug, mich weder auf ihn noch auf die Seinen so zu freuen, wie ich mich auf die absolut litteraturfreie Atmosphäre seines Hauses freue.«

Der Graf räusperte sich, die Gräfin sah befremdet aus. »Wann waren Sie zum letztenmal in Obositz?« fragte sie.

»Vor vier Jahren.«

»Stehen Sie nicht in Korrespondenz mit Ihrem Freunde?«

»Alle Jahr zweimal schicke ich ihm Geld, und [230] er schickt mir eine Empfangsbestätigung. Ein litterarischer Taglöhner wie ich, schreibt nicht Briefe zu seinem Vergnügen, und Freund Weißenberg schreibt überhaupt nicht. Bei meinem letzten Besuche wollte er einen Überschlag machen, dazu mußten wir in die Kanzlei gehen, weil die Tinte im Schreibzeug des famosen, männlich thätigen Mannes eingetrocknet war. Und seine liebenswürdige Gattin, die keinen Anspruch auf klassische Bildung macht, und ihre schöngeistigen Bedürfnisse mit ein paar Familienblättern bestreitet ... Bei ihrer letzten Anwesenheit in Wien waren wir im Burgtheater und sahen Egmont. Am Schlusse sagte sie: ‘Der Egmont ist doch das schwächste Stück von Laube.’ Eine verehrungswürdige Frau!«

Die Thür des Coupés wurde geöffnet, der Schaffner trat ein und bat um die Fahrkarten. Bertram zog sein Portemonnaie heraus, suchte, fand nichts, wurde kreideweiß, griff in die Brusttasche, und fand auch da nichts.

»Wie kommt dieser Herr herein, der Herr Graf haben doch das ganze Coupé genommen?« sprach der Schaffner.

[231] »Und ich habe eine Karte genommen und bezahlt,« schrie Bertram. Er war aufgesprungen und griff verzweiflungsvoll in alle seine Taschen. »Und dann – was hab’ ich dann gethan?« Ihm ward plötzlich alles klar und die Schamröthe stieg ihm ins Gesicht: »Dann habe ich einem Komfortabler fünf Gulden gegeben, und der Mensch hatte es nicht verdient, denn er war sehr grob; und ich habe einem Träger, einem ausgezeichneten Manne, statt des Trinkgeldes, das ich ihm zudachte, meine Fahrkarte und meinen Gepäckschein in die Hand gedrückt. Nein,« brach er aus, »daß ich reise ohne ein paar Kinderfrauen mitzunehmen, eine zur Rechten und eine zur Linken, daß ich überhaupt reise – ein Mensch, wie ich!«

IV.

Auch der Graf war aufgestanden, er drückte Bertram auf seinen Sitz zurück und redete ihm zu, sich zu beruhigen. »Sie sind mein Gast im Coupé, Sie fahren mit der Taubenkarte, und Ihren Koffer müssen wir halt schauen ohne Gepäckschein herauszukriegen. [232] Nach Hullein ist er aufgegeben, da steigen wir ohnehin zusammen aus.«

Er besprach sich halblaut mit dem Kondukteur, Bertram verstand nur einzelne Worte, es sauste ihm so furchtbar in den Ohren. Aber jetzt erhob sich die Stimme der jungen Frau, die auf eine nur geflüsterte Bemerkung des Schaffners laut erwiderte:

»Es war der große Michel, und der Koffer war neu und aus gelbem Leder, ich habe ihn gesehen und erkenne ihn gleich wieder.«

Dann schienen der Graf und der Schaffner einen Händedruck zu tauschen, und der Schaffner wurde ein Lauzun an Höflichkeit, gab die tröstlichsten Versicherungen und entfernte sich, alle, auch Bertram grüßend.

Der lebte auf, aber noch recht dürftig, war ganz Weichheit und Wehmuth und so voll Dankbarkeit gegen seine Wohlthäter wie ein glücklich Operirter gegen seine Ärzte.

Nach Journalistenbrauch dachte er im allgemeinen ziemlich gering von den Aristokraten, und staunte, daß gerade zwei Angehörige dieser Menschenklasse sich frei von der rohen und egoistischen Rücksichtslosigkeit [233] zeigten, die fast jeden ergreift, sobald er einen Bahnhof betritt: »Ja, ja,« sagte er plötzlich laut, »willst du deinen Nächsten kennen lernen? Sieh dir ihn an im Gedränge und im Eisenbahnwaggon!«

Vogel wurde allmählich wieder beredtsam, seine Reisegefährten verstanden gar diskret und mit achtungsvoller Theilnahme zuzuhören, und so hatte er, er wußte selbst nicht, wie’s geschah, den fremden Leuten, bevor man Lundenburg noch erreichte, wo die große Kofferagnoscirung ins Werk gesetzt werden sollte – seine Lebensgeschichte erzählt.

Er war der Sohn eines seltsamen Ehepaares, nicht seltsam als einzelne für sich, seltsam als Paar, als glückliches, liebendes Paar. Der Vater, Sohn und Enkel von Forstleuten, ein Jäger durch und durch – alle Jäger sind gute Menschen, sagt Turgeniew – von klassischer Bildung nicht angeleckt. Aber auch kein Feind von Büchern, keineswegs; er las sie nur nicht. Wo hätte er die Zeit hergenommen Allotria zu treiben, er ein Oberförster, verantwortlich für das Thun und Lassen eines großen Personals und für jedes Stück Wild und für jeden Baum in einem Komplex von zweitausend [234] Joch Wald! Er hatte immer zu thun, zu thun, was er gern that, höchste irdische Seligkeit! So mühe- und oft gefahrvoll sein Tagewerk gewesen sein mochte, er kam am Abend zufrieden heim, küßte seine Frau und seinen Jungen, hing sein Jagdzeug an den Rechen, versorgte seine Hunde und setzte sich zu Tisch mit gehörigem Waidmannshunger und -durst. Wenn die gestillt waren, zündete er seine Pfeife an, und nun kam das Plauderstündchen. Meistens sprach der Vater allein, und sein Junge hörte ihm mit begeisterter Aufmerksamkeit zu, weil sich’s um Kulturen handelte, um den Holzschlag, um Hunde, um Wild und Wilddiebe. Und auch die Frau hörte ihn immer gern erzählen, nicht weil ihr Interesse an den Dingen, von denen er sprach, groß war, sondern weil sie ihn liebte, ihren braven alten Mann. Innigst liebte, trotz der großen Verschiedenheit ihres Alters und ihres geistigen Horizonts. Sie war die Tochter eines Professors an der Wiener Universität, und die Umstände, unter denen das hochgebildete schöne Gelehrtenkind den einfachen Jägersmann vom Lande kennen lernte und sich in ihn verliebte, würden den Stoff zu [235] einem wunderlieblichen Novellchen bieten. Nur schade, das Publikum, dem dieses Novellchen gefallen würde, liegt mit unseren Großmüttern begraben.

»Kennen Sie,« fragte Bertram, »das liebenswürdige Buch: Als der Großvater die Großmutter nahm? Da hinein würde das Novellchen gehören. Immer begiebt sich dasselbe, das Thun der Menschen bleibt sich beständig gleich, aber was die anderen von diesem Thun wissen wollen, darüber entscheidet die Mode. Alle großen Strömungen in der Weltgeschichte, alle Richtungen in der Wissenschaft, in der Kunst – Sache der Mode, nichts weiter.«

Das Ehepaar wollte Einspruch gegen diese Behauptung erheben, Bertram schnitt jede Kontroverse mit dem Ausruf ab:

»Ich habe eine glückliche Kindheit gehabt! Die beste Lehrerin, die ich hätte finden können, war auch die einzige, von der ich Unterricht erhielt: meine Mutter. Nun aber das Unglück: ich hatte ein merkwürdig gutes Gedächtniß; es machte mir das Studiren zu leicht und deshalb bis zu einem [236] gewissen Grade unfruchtbar. Das Wissen ‘flog mir am Kopfe vorbei,’ um einmal wieder zu citiren und zwar Lichtenberg. Nur Freude war für mich, was man Arbeit nannte, und Hochgenuß die Erholung – das Wandern durch den Wald mit meinem Vater. Es hat eine Zeit gegeben, in der ich jeden Baum, jeden Strauch, jede Blume kannte, ‘von Namen und von Angesicht,’ und den Gesang jedes unserer Waldvögel nachmachen konnte, daß man ihn selbst zu hören glaubte. Ja, die Kindheit war schön. Und das alles auf einmal wie abgeschnitten. Mein Vater wurde eines Tages nach Hause gebracht – todt. Bauern, die an der Waldgrenze jagten, hatten ihn erschossen. Absicht? Zufall? es ist nie herausgekommen. Von den Geschworenen sind die Thäter freigesprochen worden. Das begab sich kurz bevor das große, wie man einst sagte: herrschaftliche Gut, auf dem mein Vater und seine Vorfahren durch Generationen das Oberförsteramt versahen, unter den Hammer kam. Ein junges, nichtsnutziges Früchtlein von einem Majoratsherrn hatte das väterliche Erbe, wenige Jahre, nachdem er es antrat, verspielt, verlumpt.

[237] Meine Mutter wurde abgefertigt mit einer kleinen Summe, die ich aber für einen unerschöpflichen Reichtum hielt. Wir zogen fort aus dem Haus im Walde, nach einem Provinzstädtchen, wo ein Bruder meiner Mutter an der Spitze des Gymnasiums und einer zahlreichen Familie stand. Lauter Buben, und alle studirten, und nun war’s selbstverständlich, daß auch ich studirte. Ich that’s ungern, weiß Gott, aber nicht schlecht, dank meinem lächerlichen Gedächtniß. Als Vorzugsschüler zog ich durch die Klassen. Von Zeit zu Zeit bäumte es sich in mir auf: ‘Mutter, ich will nicht Philologe werden und Bibliothekenstaub schlucken. Ich will ein Förster werden und leben im thauigen Wald, Bäume pflanzen, Wild hegen.’ – ‘Alles schön,’ sagte sie, ‘aber klassische Bildung ist doch das Höchste. Lerne wenigstens den Schatz kennen, den die Menschheit an den Klassikern besitzt, lerne ihre erhebende, veredelnde Macht empfinden.’

Sie selbst war eine tüchtige Lateinerin, und wenn wir an Winterabenden beisammen saßen, las sie mir vor aus ihren geliebtesten Autoren, und dabei bebte leises Entzücken in ihrem Tone, [238] und ihr feines weißes Gesicht verklärte sich. Ich wieder deklamirte deutsche Gedichte, ich war zu fünfzehn Jahren eine wandelnde Anthologie. Mein kleinwinziges, musikalisches Talent half das Unheil vollenden. Aus den vielen Versen und dem bißchen Musik entstand ein Summen, das herauskommen mußte und herauskam in einer Form, die blinde Mutterliebe und meine unerfahrene Jugend für Poesie hielten. Es regnete nicht, es schüttete Gedichte. Die Pseudomuse kargte nicht. Sie spendete ihr Reimgeklingel bei jedem Anlaß, bei Geburtstagen der Professoren, beim Schluß des Studienjahres, bei Fahnenweihen &c. Viele dieser Dithyramben erschienen im Wochenblatt, und wenn meine Mutter mich »gedruckt« sehen konnte, war sie glücklich.

In vorgerückten Jahren begann sie auf einmal gesellig zu werden. Sie ging regelmäßig bei jedem Wetter und an jedem Wochentage zu Bekannten, wie sie sagte, und kam manchmal je nach der Jahreszeit, erhitzt, regentriefend oder durchfroren heim. Und zu meiner Betrübniß zog sie immer dieselben Kleider an, und die wurden nur [239] noch mit viel Kunst und Mühe in leidlichem Stand erhalten. Ich sah meine Mutter aber auch elegante Toilettenstücke anfertigen, die sie niemals trug. Sie liebte es nicht, bei solchen Arbeiten von mir überrascht zu werden, verbarg sie gleich im Schranke, wenn ich eintrat. Trotzdem kam es mir einmal vor, als feiere ich ein Wiedersehen beim Anblick einer Sammetmantille auf dem Rücken der Bürgermeisterin.

‘Mutter’, sagt’ ich, ‘die Bürgermeisterin hat deine Sammetmantille.’ ‘Wieso? ich werde doch keine Sammetmantille haben.’ ‘Aber gemacht hast du sie, ja, ja, ganz gewiß, und verschenkt, oder – Mutter!’ Ihre Verlegenheit erweckte einen beschämenden Verdacht in mir, und er hatte ein Gefolge von peinlichen Gedanken.

Meine Mutter verheimlichte mir allerlei. Es kamen manchmal Briefe mit kleinen Geldbeträgen von räthselhafter Provenienz ins Haus. Meine Mutter arbeitete doch nicht um Geld? Wir waren ja wohlhabend. Und wenn der Hausherr neulich den überhöflichen Bückling, den meine Mutter ihm machte, nur mit einem Kopfnicken erwidert hatte, [240] so hieß das eben: Ich bin ein Flegel, und nicht: Sie sind im Rückstand mit dem Miethzins. Von Geldnoth konnte bei uns keine Rede sein. In der Schule galt ich für reich. Hatte ich nicht alles, was ich brauchte, waren meine Kleider nicht immer in bestem Stand? Fand ich nicht immer beim Heimkehren einen für mich gut besetzten Tisch? Alle diese Fragen konnte ich bejahen und wurde doch den Zweifel nicht los, der mich überkommen hatte und sprach: ‘Wenn die Renten nicht ausreichen, um den Miethzins zu bezahlen, so nimm doch einmal vom Kapital.’ Sie erwiderte mühsam und mit leiser Stimme: ‘Unser Kapital hat einst aus dreitausend Gulden bestanden. Die Renten reichten nicht aus, um uns leben zu machen, ich habe Jahr für Jahr das Kapital angreifen müssen. Da hat es sich denn sehr verringert, das heißt, nein,’ sprach sie und öffnete mir die Arme und zog meinen Kopf an ihre Brust, ‘es hat sich verwandelt, aus sehr Schätzbarem in Unschätzbares. Unser Kapital, das bist jetzt du, das ist deine kräftige Gesundheit, deine rothen Wangen sind’s, deine guten Augen.’

Ich war sehr enttäuscht und sagte: ‘Außerdem [241] haben wir aber doch noch etwas?’ Sie lächelte: ‘Etwas weniges – mich und meine Arbeitskraft.’

Einige Tage danach erkrankte sie schwer und verlor das Bewußtsein. Und während sie dalag in Fieberträumen mit geschlossenen Augen, gingen mir die Augen auf. Der Arzt hatte Eisumschläge verordnet, ich mußte die Tücher dazu aus ihrem Schranke, einem Häng- und Legeschrank, nehmen, den sie – gar oft hatte ich sie damit geneckt! – immer vor mir versperrt hielt. Wie ein Dieb kam ich mir vor, als ich den Schlüssel aus der Lade ihres Tisches nahm und den Schrank öffnete.

Auf den ersten Blick errieth ich das Geheimniß, das sie darin vor mir verbarg, das Geheimniß ihrer tiefen Armuth. Da hingen ein paar Gewänder, der Rest ihrer einst wohlbestellten Garderobe, und gewannen eine Sprache, in der sie sagten: Sieh uns an, wir sind in Wirklichkeit anders, als wir uns ausnehmen, wenn uns die Herrin trägt; ganz ausgedient und lebensmüde, kein guter Faden ist mehr an uns. Blüthenweiß und fein geplättet war auf den Legebrettern, um sie nur halbwegs zu bedecken, die Wäsche Stück [242] für Stück nebeneinander gebreitet. Alles geflickt und wieder geflickt mit beispielloser Sorgfalt. Ich hatte meiner Mutter oft einen Vorwurf gemacht aus diesem Sparsamkeitsfleiße. Aber da sagte sie: ‘Nähen kann bald eine, zum Flicken braucht man Bildung,’ und citirte das schöne Gedicht von Annette von Droste: Die junge Mutter. – ‘Ob man den Schleier um die Wiege hing, den Schleier, der am Erntefest zerrissen? Man sieht es kaum, sie flickte ihn so nett, daß alle Frauen höchlich es gepriesen.’

Auf einem Taschentuche lag ein Säcklein aus verblichenem Seidenzeug mit Lavendelblüthen gefüllt, eine Erinnerung an unsern Garten am Försterhaus. Die Blüthen einzusammeln, war meine Arbeit. Ich that sie gern und trug dann ihre Spuren als starken, erfrischenden Duft tagelang in meinen Kleidern. Die Blüthen im Säcklein strömten ihn längst nicht mehr aus; sie waren nur noch Staub.

Auch Schriften lagen im Schranke. Etwas vom Gericht, die Aufkündigung unserer Wohnung, Rechnungen für Modeartikel, von der Hand meiner Mutter geschrieben, und mit dem offenbar zagend [243] hingesetzten Worte: ‘Duplikat’ versehen, aber nicht abgeschickt. Ein Brief mit der demüthigen Bitte, das Honorar für dreißig Unterrichtsstunden gütigst entrichten zu wollen, gleichfalls nicht abgeschickt. Sie hatte gearbeitet, Unterricht gegeben, um die ihr gebührende Entlohnung gebettelt. Gott weiß, wie oft umsonst. Sie hatte gedarbt und gekargt, schweigend und glücklich, daß sie’s für mich thun konnte – bis sie zusammenbrach.

Das alles erzählte mir der alte Schrank, und ich stand vor ihm ... Der Frömmste der Frommen hat noch nie andächtiger vor dem allerheiligsten Tabernakel gestanden.

Mit der Andacht war uns aber nicht geholfen, und helfen galt’s, und wenn ich ein Kapital war, galt’s Zinsen tragen.

Vor kurzem, da ich in der Redaktion des Wochenblattes mein Honorar für ein Gedicht abholte, das der Herausgeber zu einer offiziellen Feier bestellt hatte, sagte der zu mir: ‘Ihre Gedichte sind recht schön, wenn Sie aber die Leier, von der in jedem die Rede ist, in die Ecke werfen, und mir einige pudelnärrische Feuilletons leisten [244] wollten, würde dabei für mich und Sie mehr herausschauen, als bei all dem Schwung. Aber der Humor! woher nehmen und nicht stehlen? Sie schon gar. Immer umrauscht von Zaubertönen und verheirathet mit den Kamönen. Von Zeit zu Zeit eine kleine Untreue thät nicht schaden, die verzeiht man auch dem besten Ehemann, aber freilich das Zeug dazu müßte man haben.’

Teufelmäßig gelockt hatte es mich, ihm gleich zu zeigen, daß ich »das Zeug« besaß, und daß die Kamönen, so eng verbunden ich mich auch mit ihnen hielt, mir doch noch nicht die Schlafhaube über die Ohren gezogen hatten.

Meine Herrschaften, am Bette meiner schwerkranken Mutter habe ich mein erstes lustiges Feuilleton geschrieben, und bin dabei – dummer Junge, der ich war – selbst lustig geworden. Eine große Zuversicht erfüllte und beseligte mich durch und durch: Morgen lacht das ganze Städtchen mit mir, und wir bekommen Geld, und meine Mutter wird gesund, denn ich kaufe ihr die theuersten Medikamente und die besten Sachen zum essen und alles was sie freut.

[245] Als ich fertig war mit meiner Arbeit und sie überlas, mußte ich mir den Mund zuhalten, um nicht laut aufzulachen, um nicht einen Jubelschrei auszustoßen, der meine Mutter geweckt hätte. Sie schlief sanft, und ich wagte nicht näher zu treten, schickte ihr nur einen langen, innigen Kuß zu und dachte: Meine Mutter ist jetzt auch mein Kind.

Meine kühnsten Träume sind in Erfüllung gegangen. Ich habe – welch ein Glück für den Geldmacher, welch ein Unglück für den Künstler! nie einen Mißerfolg gehabt, nur mehr oder weniger Erfolg. Zu zwanzig Jahren war ich Redakteur des ehemaligen Wochenblattes, das ich in ein Journal verwandelt hatte, von dem die großen Zeitungen in Wien Notiz nahmen. Dahin erhielt ich einen ehrenvollen Ruf in die Redaktion der ‘Grenzenlosen’. In Wien ist, jetzt sind es schon zwölf Jahre, meine Mutter, in der Überzeugung, daß sie der Welt in ihrem Sohne einen großen Schriftsteller hinterließ, bis zum letzten Augenblick zufrieden und glücklich, gestorben.«

Er hatte immer leiser gesprochen, sich immer mehr vorgebeugt, seine Arme lagen auf seinen [246] ausgespreizten Knien, er hielt die flachen Hände an sein Gesicht gepreßt. Plötzlich fiel auf den Teppich des Waggons eine Thräne, die er rasch mit dem Fuße verwischte. Er wandte den Kopf, sah zum Fenster hinaus und sprach mit etwas erzwungenem Entzücken: »Sehen Sie doch das schöne Kartoffelfeld. Ich möchte auch ein Kartoffelfeld haben!«

Der Zug fuhr in eine große Station ein. »Lundenburg,« riefen die Condukteurs und öffneten die Thüren der Waggons.

»Jetzt wird Ihre Koffergeschichte in Ordnung gebracht,« sagte der Graf, stieg aus, und Bertram mußte ihn zum Gepäckswagen begleiten, wo er von »autoritativer Seite« die Versicherung erhielt, daß sein Kollo in Hullein ausgeladen werden solle.

Ins Coupé zurückgekehrt, brauchte er einige Zeit, um sich von seiner neuen Gemüthsbewegung zu erholen, und sprach nur noch so viel als nöthig war, um die teilnehmenden Fragen seiner Reisegefährten zu beantworten.

Er hatte nach dem Tode seiner Mutter einen einstigen Schulkameraden, Hugo von Weißenberg, [247] auf dem Lande besucht, und damals schon den Entschluß gefaßt, an Fleiß zu leisten, was ein Mensch nur leisten kann, zu sparen wie ein Geizhals, und wenn er das nöthige Geld zusammengebracht haben würde, ein Gütchen zu kaufen, auf dem er leben wollte nach seinem Sinne als Bauer, als Jäger. Vor mehreren Jahren schon hatte Weißenberg den kleinen Besitz für ihn erworben, aber damals war noch kein Wohnraum da, kein Stück Vieh, kein Ackergeräth, nichts.

»Alles Fehlende mußte erschrieben werden. Der beste, fürsorglichste Freund, der sich mit dem Instruiren meines zukünftigen Tusculum plagt, als gälte es seinem eignen Sohn eine Heimstätte einzurichten, sagt immer noch: ‘Arbeite weiter, ein kleines Betriebskapital mußt du haben, du verhungerst ohne Betriebskapital!’

Jetzt will ich mich ihm vorstellen, und zu ihm sprechen: ‘Sieh mich an, dahin hat die Litteratur mich gebracht. Ist’s nicht besser im Freien verhungern, als überschnappen in einer zugigen, lichtlosen Kammer? Ich brauche Ruhe, Ruhe vor der Litteratur.’«

[248] »Mögen Sie die in Obositz finden,« erwiderte die Gräfin. Sie stand auf und trat ans Fenster, an dem Bertram saß. »In fünf Minuten sind wir angelangt, nehmen wir jetzt schon Abschied.« Auch der Graf trat heran: »Auf baldiges Wiedersehen; sagen Sie Freund Weißenberg, daß wir nächstens kommen, ich bitte, Herr Doktor.«

»O, Herr Graf, ich bin nicht Doktor.«

»Wie titulirt man Sie also?«

»Vogel, ganz einfach.«

»Was mich betrifft,« sagte die Gräfin liebenswürdig, »ich bleibe bei Vogelweid. Meine Erklärung habe ich Ihnen schon gemacht und pflege nichts zurückzunehmen.«

»Gerhart, da sind die Kinder,« wandte sie sich an ihren Mann.

Vor der Bahnhofstation, in Begleitung eines kleinen, alten, unbeschreiblich munter dreinblickenden Kindermädchens, warteten ein braunes, schlankes, etwa sechsjähriges Knäblein und seine noch jüngere, vor Lebhaftigkeit sprühende, blonde Schwester. Sie jubelten: Vater, Mutter, und die Gräfin antwortete ihnen nicht, winkte ihnen nicht zu, hielt die [249] Arme gekreuzt, aber ein Ausdruck von tiefinnerlichem Glück breitete sich über ihr Gesicht, und ihre Augen lachten die Kinder an.

Bertram wollte ihr beim Aussteigen behülflich sein, sie war schon herabgehüpft und hatte dabei ihre Reisetasche in der Hand behalten, und nicht einmal ihren Regenschirm fallen lassen. Ihr Mann folgte ihr, er trug die Reisetasche Bertrams, und der sah nun, in Aufmerksamkeit ganz versunken, der freudigen Begrüßung zwischen den Eltern und den Kindern zu.

»Ich möchte auch Kinder haben,« sagte er plötzlich.

»Tauben, Erdäpfelfelder und jetzt auch noch Kinder? Ach, lieber Herr Nachbar, zu denen kommt man, ehe man sich’s versieht,« sprach der Graf.

Bertram aber schrie auf: »All ihr Götter, ich vergesse ja ganz, wo ist mein Koffer?«

»Da steht er, auf der Strecke.«

Wahrhaftig! Da stand er wie von unsichtbaren Händen hingetragen. Er stand, während der Zug, in dem er sich eben befunden hatte, davonbrauste. Doch eine großartige Erfindung, die Eisenbahn!

[250]V.

Eine Viertelstunde später fuhr Bertram auf breitem Wege zwischen Baumgruppen, Wiesen und Gebüschen dem Schlosse Obositz zu. Unter den grünumrankten Säulen des Altans erwartete Weißenberg, umringt von seiner ganzen Familie, den werthen Gast. Der Hintergrund wurde von der Dienerschaft ausgefüllt. Sonntäglich angethan, in schneeiger Weste schwenkte der Freund das Taschentuch und schrie aus Leibeskräften: »Willkommen!« In der ganzen Gruppe entstand eine freudige Bewegung, und in den Zuruf des Hausherrn mischten sich einzelne Vivats.

Es schien Bertram unmöglich, daß dieser feierliche Empfang ihm gelte; er wendete sich, um zu sehen, ob nicht hinter ihm der Statthalter einherfahre, oder der Bischof. Aber er erblickte nur ein Staubwölkchen, das die Räder des Wagens aufgewirbelt hatten. Ach, und rings dufteten die Wiesen, und im Zweige eines breitblätterigen Lindenbaumes wurde eine Vogelsoirée mit Gesang und Wettflügen abgehalten.

[251] Die Pferde waren in vollem Lauf, und ihr Lenker trieb sie noch an. Vom Wunsche beseelt, sich auszuzeichnen, wollte er vor dem Altan plötzlich pariren. Das Kunststück mißlang, die Equipage schoß wie der Blitz an den Herrschaften vorbei und dem Stalle zu.

»Holla, halt!« rief der Baron, riefen die männlichen Diener und rannten nach, und sämmtliche Schloßhunde setzten sich mit wüthendem Gebell an die Spitze des Zuges. Nach wenigen Augenblicken riß der Kutscher sein Gespann zusammen, aber Bertram hatte Zeit genug gehabt, um voll Erbitterung vor sich hin zu knirschen: »Bravo! wir liegen schon. Wenn das nicht scheitern heißt im Hafen!«

Der Wagen hielt, und in der nächsten Minute reichte Weißenberg dem Freunde die Hand. Sie hatte Schwielen. »Bist einmal da, endlich!«

»Endlich!« wiederholte Bertram, stieg aus und trat dem Schoßhündchen der Frau Baronin, das ihn umwedelte, auf die Pfote. Es entfloh heulend und er rief: »Himmel, wieviel Unglück habe ich heute mit Hausthieren!«

[252] Die stattliche und gütige Wirthin war herbeigeeilt: »Es thut nichts, gar nichts, trösten Sie sich,« sprach sie huldvoll, »Paffi ist selbst schuld, warum drängt sie sich so heran? Freilich hat sie eine Entschuldigung; die Getreue machte sich zum Dolmetsch unserer Gefühle.«

Das Gesicht Weißenbergs leuchtete vor freudigem Stolze, während seine Gemahlin diese vortreffliche Ansprache hielt, und er massirte – bei ihm ein Zeichen hoher Erregung – sein rundes, ausrasirtes Kinn kräftig mit dem ringförmig zusammengebogenen Daumen und Zeigefinger seiner Rechten.

Bertram verbeugte sich, küßte der Baronin die Hand und erhaschte einen Blick aus ihren noch immer schönen Augen – er traute den eignen nicht – wahrlich einen zärtlichen Blick. Man trat unter das Portal; alte Bekanntschaften wurden aufgefrischt, neue gemacht.

Sieglinde, die Tochter des Hauses, vor vier Jahren ein schmales Backfischchen, prangte jetzt in vorzeitig strotzender Fülle. Sie litt zum Erbarmen unter den Ausbrüchen der Verwunderung, die sie [253] durch ihre bavarienhafte Erscheinung bei aller Welt hervorrief, und kämpfte bis zum Weinen mit beständigem, unmotivirbarem Erröthen.

Den Gegensatz zur Schwester bildete Hagen. Das »Jungelchen,« wie seine Mutter ihn nannte, war zwar hoch aufgeschossen, aber mager und fahl; es hatte ziemlich dünne, blonde Haare und blasse Augen von unbestimmter Farbe, ein aufgestülptes Näschen und einen großen Mund mit dünnen Lippen. Er wurde vorgestellt als Lateiner und Grieche:

»Ja, ja, bereits Schüler, beinahe Vorzugsschüler der sechsten Klasse. Und hier,« die Baronin machte eine so zierliche Handbewegung wie eine Ballettänzerin, die ein Bouquet überreicht, und deutete auf einen jungen Mann von breiter Statur, mit röthlichen Haaren und röthlichem Schnurr- und Backenbarte: »Herr Doktor Meisenmann, der freundliche Gesellschafter und Professor unseres Sohnes.«

Man begrüßte einander, und Bertram hütete sich wohl zu fragen, wozu der Gymnasiast, der beinahe Vorzugsschüler war, einen eignen freundlichen Professor brauche.

[254] Der Zimmerwärter kam herbei: »Bitte um den Kofferschlüssel, daß ich auspacken kann,« sprach er mit der Ungenirtheit und Wichtigthuerei verwöhnter alter Diener und nahm das Verlangte in Empfang, indem er dem Gaste vertraulich zunickte.

Weißenberg belohnte ihn mit einem: »Sehr gut, Vater Simon,« hieß ihn vorausgehen und nahm den Arm Bertrams. »Wir folgen, komm, ich führe dich. Nicht depreciren! Nein, sag’ ich dir, du findest den Weg nicht, wohnst nicht in deinem alten Quartier, wohnst im ersten Stock, wir wissen, was wir dir schuldig sind, Mann des Tages. Appartement mit Badezimmer und Badewannen, nen!« wiederholte er, die letzte Silbe nachdrücklich betonend.

Die Baronin ließ ein bedeutsames Räuspern vernehmen, und Sieglinde erröthete.

Der Hausherr fuhr unentwegt fort: »Vorwärts also! Und ihr,« wandte er sich an die Dienerschaft, »habt ihn gesehen, gebt euch zufrieden und tretet ab ... Das gilt nicht dir,« rief er einem jungen Mädchen zu, das hinter der Baronin und ihrer Tochter gestanden hatte wie hinter zwei Ofenschirmen [255] und sich jetzt den abgehenden Leuten anschließen wollte. Sie blieb stehen, sehr verwirrt, mit gesenkten Augen, die sie auch nicht erhob, als Weißenberg sprach: »Gertrud, Herr Vogel, genannt – na, du weißt schon. Bertram, das ist Fräulein von Weißenberg, das heißt unsere Nichte Gertrud.«

Er zog den Freund mit fort, sie schritten durch die Halle, über die Treppe. »Beeile dich mit der Wascherei,« empfahl der Baron. »Wir essen gewöhnlich um zwei Uhr, haben aber heute dir zu Ehren die Speisestunde verschoben. In zwanzig Minuten wird die Tischglocke dich rufen, die Köchin ist schon fertig.«

»Was sie für Wimpern hat!« sagte Bertram plötzlich, wie aus Träumen erwachend.

»Wer?«

»Deine Nichte. Und warum ist sie in Trauer?«

»Weil ihre Mutter vor einem halben Jahre gestorben ist.«

»Eine liebliche Erscheinung, so fein und zart.«

»Zart? Ist dir nur so vorgekommen neben unserem Sieglinderl.«

[256] »Und warum so verlegen, ja sogar bestürzt?«

»Unser Sieglinderl ist immer bestürzt.«

»Nein, die andere mein’ ich.«

»So, war die auch bestürzt? Ist sonst nicht ihre Sache. Aber du wirst ihr imponirt haben. Kein Wunder, die erste lebendige Berühmtheit, die ihr vor Augen kommt.«

»Eine Berühmtheit wie ich! Da müßte sie bis heute in der Wildniß gelebt haben.«

»In Wien hat sie gelebt. Freilich seit Jahren wie angeschnallt ans Bett der kranken Mutter.«

Sie waren sehr langsam, denn Bertram blieb alle Augenblicke stehen, die sehr hübsche, freitragende Treppe hinaufgegangen. Weißenberg machte seinen Gast auf die Wände und die hochgewölbte Decke des Treppenhauses aufmerksam: »Sauber, nicht wahr? Ich habe einen Italiener da gehabt, der die Stuckaturen aus dem Mörtel herausgearbeitet hat, unter dem sie durch oftmaliges Übertünchen schon halb verschwunden waren.«

Bertram bewunderte. »Reizend,« rief er begeistert, »das ist Reichthum ohne Üppigkeit, edle Keuschheit, anmuthige Fülle, Sehnsucht und Fähigkeit [257] sich aus steifen, veralteten Formen zu befreien, ohne Ausartung ins Maßlose. Ich sage dir,« brach er plötzlich aus, »deine Nichte ist eine Dame im österreichischen Barockstil!«

Der Baron legte die Hand auf Bertrams Schulter und sprach warnend: »Du, daß du dich nicht verliebst! Es wäre die größte Dummheit, du brauchst Geld, der Ökonom braucht immer Geld, und unsere Nichte – die reine Kirchenmaus. Da sind wir,« unterbrach er sich, und sie blieben abermals stehen vor einer Flügelthür am Ende des bildergeschmückten, teppichbelegten Ganges, den sie durchschritten hatten. »Ich geh’, sonst verplaudern wir uns, und wie gesagt, die Köchin wartet, um anzurichten, nur aufs Glockenzeichen. Nochmals willkommen, und laß dir’s bei uns wohl sein!«

Er enteilte geschäftig, und Bertram sah ihm nach. War auch nicht mehr der selbe, der liebe, alte Mensch! Er schien kleiner, sein Hals kürzer geworden, seine Haltung hatte etwas von der früheren Strammheit verloren. So kann man denn auch vorzeitig altern auf dem Lande, in dieser ozonreichen [258] Luft, in herrlichem Frieden, in nervenstärkender Thätigkeit?

Simon hatte die Thür geöffnet, ermahnte den Gast einzutreten und weidete sich still und stolz an seinem Staunen über die schönen Räume, die ihn umfingen. Ein Salon in dunkelgrünem Sammet, ein luftiges, behaglich eingerichtetes Schlafzimmer mit Himmelbett und nebenan eine köstliche Badestube.

»Bitte, jetzt kommt das Scheenste,« sagte Simon und schwebte auf den Zehen über die ganze Breite des Schlafzimmers. Dem Himmelbett gegenüber befand sich der Eingang zu einem vierten von einer schweren Portière verhüllten Gelaß. Der Diener zog sie zurück, und Bertram blickte in ein großes Arbeitszimmer, in dem ein kolossaler Schreibtisch stand, und das voll war von Bücherschränken, und jeder hatte ein anderes böses Gesicht, das ihn angrinste und triumphirend höhnte: Guck du, wir sind wieder da!

Er prallte zurück: »Vorhang zu! Ich bitte Sie um Gotteswillen, Simon, befreien Sie mich von diesem Anblick.«

[259] Simon rührte sich nicht. »Der Herr Doktor werden’s da so scheen ruhig haben zur Arbeit, sagt die Frau Baronin. Wir haben die Bicher vom Boden heruntergeschleppt. Der Schreibtisch, der is aus der Kanzlei.«

Bertram wußte wohl, daß man den Alten nicht beleidigen durfte, weil er sonst in akute Stummheit verfiel und sich aufs Schmollen verstand, trotz einer Dame des vorigen und einer Kammerjungfer dieses Jahrhunderts.

»Lassen Sie mit sich reden, Simon,« sprach er, seine Ungeduld mühsam bemeisternd. »Ich bitte Sie, nennen Sie mich nicht Herr Doktor, ich bin kein Doktor, ich bin Herr Vogel, ein armer ‘Herr’, der von früh bis Abends und manchmal von Abends bis früh dasitzen und reines, weißes Papier in schwarz beschmiertes verwandeln muß.«

»Muß?« fragte Simon ungläubig.

»Jawohl, um Geld zu verdienen mit meiner Arbeit. Hier aber will ich nicht arbeiten; ich bin gekommen, mich ausruhen vom Lesen und Schreiben und will, solang ich hier bin, kein Buch aufschlagen und keine Feder berühren.«

[260] Damit begab er sich in das Waschzimmer, und Simon folgte ihm, um als Lein- und Handtuchständer zu fungiren. »O Jekerle,« seufzte er betrübt auf, »und wir haben sich schon alle so gefreit.«

»Worauf?« fragte Bertram ahnungsvoll und tauchte aus dem Riesenlavoir empor, in dem er seinen Kopf gebadet hatte.

Aber Simon war ganz Sphinx. »Werden schon hören, bitte,« erwiderte er.

VI.

Die Familie war vollzählig im kleinen Salon versammelt, als Bertram, sauber gewaschen und elegant angethan, eintrat. Im selben Augenblick wurden beide Flügel der Thür, die in den Speisesaal führte, geöffnet, der Gast bot der Hausfrau seinen Arm und erhielt am zierlich gedeckten Tisch den Platz zu ihrer Rechten und zur Linken des Hausherrn. Neben diesem saß der »Professor« und zwischen ihm und Hagen die ernste »Kirchenmaus«. Dann kam Sieglinde, die ihren Sessel so nahe als möglich an den der Mutter gerückt hatte.

[261] »Schau dir das Obst an,« sagte Hugo, »die selben Sorten haben wir in deinem Garten gepflanzt.«

Bertram sah den Freund glückverklärt an. »Wann werd’ ich ihn sehen, meinen Garten? Und solches Obst hab’ auch ich?«

Entzückt betrachtete er die goldigen Aprikosen, Himbeeren, die dem Rothkäppchen als Kopfbedeckung hätten dienen können, purpurne Kirschen, durchsichtige Weichseln, Erdbeeren von märchenhafter Größe und Gestalt.

»Nehmen Sie die Melone nach der Suppe oder zum Dessert?« fragte die Hausfrau und zeigte ihrem lieben Gaste freundlich die blanken Zähne. Sie war wirklich noch eine schöne Frau, trotz ihrer fünfunddreißig Jahre und ihrer überreich entfalteten Spätsommerblüthe.

»Verehrte Frau,« erwiderte Bertram, »ich esse Melone, wann Sie erlauben und befehlen.«

»Nach der Suppe ist sie gesünder,« bemerkte Weißenberg.

»Beirre ihn doch nicht. Bitte, entscheiden Sie.«

»Es ist mir wirklich gleich.«

[262] Der Gymnasiast, der während dieses Austausches von Höflichkeiten höhnisch gelacht hatte, brach jetzt aus: »Macht keine solchen Geschichten. Ihm ist’s gleich, hat er schon gesagt, wenn er nur überhaupt Melone kriegt.«

Bertram sah einen Purpurschein sich verbreiten, er ging vom Gesicht Sieglindens aus, er vernahm ein Gekicher, es hatte sich der Brust Meisenmanns entrungen. Weißenberg zeichnete mit dem Messer die Umrisse einer Scheune auf das Tischtuch, die Hausmutter that unbefangen und winkte plötzlich entschlossen den immer noch auf eine Entscheidung wartenden Bedienten, die Melone zu serviren.

»Ich lese jetzt ‘Die Kronenwächter’ von Achim von Arnim«, wandte sie sich von Neuem an Bertram.

»Sie lesen, so? die Kronenwächter?« versetzte er und dachte: Sind wahrscheinlich auch vom Boden heruntergeschleppt worden.

»Ein merkwürdiges Buch, aber doch mehr merkwürdig als spannend.«

»Wie meinst du das?« rief Hagen seine Mutter herausfordernd an. Weißenberg aber sagte rasch:

[263] »Sie ist gut, die, was? eine gestrickte. Hast die selbe Sorte in deinen Mistbeeten.«

Sieglinde erröthete, und Mutter Bertha berichtigte in rücksichtsvoll gedämpftem Tone: »Frühbeeten.«

Der Hausherr begann nun freudig und ausführlich zu erzählen, wie er den Kauf des Bauerngutes – einer ehemaligen Erbrichterei – für Bertram geschlossen, wie er alles in leidlicher Ordnung übernommen habe und in musterhafter zu übergeben gedenke. Dann aber kam er auf sein altes Lied vom Betriebskapital zurück, und Bertram erklärte:

»Ich will kein Kapital, ich brauche keins; was würden die Sozialisten sagen, wenn ich ein Kapital aufhäufte.«

»In die Gefahr wirst du schwerlich kommen. Nicht ums Aufhäufen handelt sich’s, sondern ums Zustopfen, wenn irgendwo eine gefährliche Lücke entsteht; die Maschine, die zu stocken droht, muß in Gang erhalten werden. Wie schaffst du die Mittel dazu her ohne Reservefond?«

»Der Bauer hat keinen und lebt doch auch.«

[264] »Bilde dir das nicht ein, der Bauer geht zu Grunde.«

»Durch eigne Schuld.«

»Nicht immer.«

Jetzt gerieth der »Professor« in hohe Erregung und sprach überstürzt mit bebender Stimme und so leise, daß man ihn kaum verstand. Es zischte und pustete aus ihm heraus wie aus einem überheizten Theekessel. Er verwünschte die Juden und die Deutschen, die Feinde und Verderber des mährischen Bauern. Der Judenwirth verleitet den Bauern zum Trinken, giebt ihm Branntwein, so viel er will, bis er Hab und Gut versetzt hat. Dann kommt der Deutsche und kauft den Bauern aus.

Den Schluß seiner Rede hatte Meisenmann geradezu an den Baron gerichtet und schien, einmal im Zuge, in immer heftigere Anklagen ausbrechen zu wollen. Aber Hagen fuhr drein:

»Sitzt schon! sitzt schon wieder auf seinem Steckenpferd. Du mußt wissen, Vogel, er ist Jungczeche und Antisemit.«

»In der Theorie, nicht in der Praxis. Sie [265] können überzeugt sein, Hagen, und Fräulein von Weißenberg kann überzeugt sein« ...

»Wir sind alle überzeugt,« rief der immer versöhnliche Baron dazwischen. »Sie deklamiren gegen die Juden und die Deutschen, aber Sie thun keinem etwas zu Leide.«

»Ein theoretischer Jungczeche also?« sagte Bertram. »Auch das setzt mich in Erstaunen. Wenn man einen uralten deutschen Namen führt –«

Die Baronin hatte ein aristokratisches Bedenken: »Uralt?«

»Gewiß. Ich ahne zwar nicht, aus welcher Schöpfungsperiode die Meisen und die Männer stammen, aber sicherlich aus einer älteren, als die ältesten Adelsgeschlechter.«

»Du sprichst pro domo, Vogel, weil dann auch du einen uralten Namen hast.« Hagen lachte, und es war betrübend, ihn lachen zu hören und zu sehen. Er lachte wie er sprach, stoßweise, bellend, und schien dabei eine unangenehme Empfindung zu haben, seine Züge erheiterten sich nicht, sie verzerrten sich.

Sollte der nervöse Bertram unter Menschen [266] gerathen sein, noch nervöser als er? An dem jungen Sohn des Hauses mit dem alten Gesichte war alles krankhaft, auch die Hast, mit der er aß, und der prahlerische Übermuth, mit dem er ein Glas Wein nach dem anderen hinunterstürzte.

Sein Vater richtete eine schüchterne Ermahnung an ihn, sie blieb wirkungslos und wurde nicht wiederholt; augenscheinlich fürchtete Weißenberg des Sohnes offenen Widerstand heraufzubeschwören.

Auch Sieglindchen verrieth eine Boa constrictor-Natur beim Verschlingen der thurmhohen Portionen, die sie sich vorlegte. Das Mittagessen war allerdings ausgezeichnet, und Bertram bedauerte, ihm nicht so viel Ehre erweisen zu können, als seine gastfreien Wirthe gewünscht hätten.

Was war’s, das ihm den Appetit raubte? Der Anblick der beiden jungen Fresser am Tische, die beängstigende Liebenswürdigkeit der Hausfrau, oder vielleicht die Nähe des Fräuleins von Weißenberg? Sie wirkte mächtig auf ihn, beschäftigte seine Gedanken, zwang ihn zu fortwährender Selbstüberwindung, um nicht der Versuchung zu unterliegen, sie gar zu oft anzusehen.

[267] Eine eigentliche Schönheit konnte man sie nicht nennen, aber es war so vieles an ihr schön! Die Form des Kopfes, ihre Art ihn zu tragen, der wundervolle Ansatz des schlanken Halses, die reichen dunkelbraunen Haare, die Nase, der Mund, der hartnäckig schwieg und der, das glaubte Bertram zu errathen, doch so gern gelacht und gescherzt hätte. Und die streng blickenden Augen, dunkel wie die Flügel des Trauermantels, wie mußten die leuchten können, wenn ein Glücksgefühl sich in ihnen widerspiegelte!

»Es ist schrecklich, Sie essen nicht,« sagte die Baronin, und ihr Gast entschuldigte sich:

»O, bitte, warten Sie nur, in Kurzem wird sich Heißhunger bei mir einstellen, wenn ich nur erst zu taglöhnern anfange.«

»Wie meinen Sie das, zu taglöhnern?«

»Ich meine, daß ich arbeiten will wie ein Taglöhner.«

Alle lachten, sogar die Bedienten lachten verstohlen.

»Wie ein Taglöhner? mit Ihrer Bildung!« sprach die Hausfrau, und Bertram steigerte sich:

[268] »Wie zehn Taglöhner, aus Bildung

»Mit diesen Händen?« Bertha sah bewundernd und Bertram sah verächtlich und grollend auf seine schmalen, wohlgepflegten Hände nieder.

»Die werden bald anders aussehen, die werden bald Schwielen haben, wie die deinen, Hugo. Wer keine Schwielen hat, kommt nicht in den Himmel, sagt Tolstoi.«

»Ach, Tolstoi,« flötete die Baronin, »der große Tolstoi, glauben Sie an ihn?«

Bertram war betroffen. Jetzt wußte sie auch von dem? Sollte sie ihre litterarische Unschuld verloren haben? Er scheute sich, Gewißheit zu erlangen über den heiklen Punkt und fuhr eifrig fort: »Ich will alles lernen, mähen, Garben binden, aufladen, pflügen, säen. Wonne und Erholung wird für mich sein, was Ihr schwere Arbeit nennt, weil Ihr die wirklich schwere nicht kennt.«

»Ein Vers,« rief Sieglindchen und verlor einen Augenblick alle Schüchternheit, »Das war ein Vers, Mama!«

»Ja wohl, mein Engel. O, sie hat ein Ohr!«

Sie hat sogar zwei Ohren und hübsch große, [269] dachte Bertram und betrachtete sie mißtrauisch. Der Teufel soll mich holen, wenn die nicht dichtet.

»Wann bereisen wir meine Besitzungen, lieber Hugo?« fragte er.

»Morgen mit dem frühesten, natürlich.«

»Warum nicht gar schon nachts, wenn die Hähne krähen?« »Was halten Sie von Möricke?« interpellirte Frau von Weißenberg.

»Ich habe den größten Respekt vor ihm.«

Da fiel Hagen ein: »Respekt! Du wirst just Respekt haben vor so einem verschimmelten Pater. Überlasse die Heuchelei den Frauen, denen sie unabgeleistete Natur ist.«

»Unabgeleistete Natur?« wiederholte Bertram. »Oho! Du studirst Nietzsche?«

»Ich bet’ ihn an. Ich habe einen Gott gesucht und ihn in Nietzsche gefunden.«

»Hast Du? Wenn ich nur wüßte, der wievielte Du bist, von dem ich das höre.«

»Und wenn ich der zweite oder tausendste bin – seine Jünger sind wir alle. Das ist euch unheimlich, ihr Alten; das treibt euch alle Haare, die ihr noch habt, zu Berge.«

[270] »Aber Hagen! aber Hagen!« hatte Weißenberg einmal ums andere, beängstigt und flehend gesagt und sich dabei nicht an den Sohn, sondern an den Instruktor gewendet. Der zuckte die Achseln:

»Es ist heute nichts mit ihm anzufangen, man muß ihn gehen lassen. Er produzirt sich, nicht bloß wie gewöhnlich vor dem Fräulein von Weißenberg, sondern auch vor Herrn Vogel.«

»Daneben geschossen, mein Lieber!« erwiderte sein Zögling. »Sich produziren! vor dir, Cousine! Als ob man das dürfte in seiner Gegenwart! Der girrende Ziska – eine neue Ziskaspecies, die girrende – brennt vor Eifersucht wie eine Pechfackel. Nicht wahr, Cousine?«

Gertrud hatte während dieses Intermezzos nicht mit einer Wimper gezuckt, nicht das geringste Zeichen von Ungeduld über das Jüngelchen gegeben, die mordbrennerischen Blicke, die Meisenmann ihr verstohlen zuwarf, ruhig ausgehalten. Und bei dem ehrfurchtsvoll auf sie gerichteten Blicke Bertrams wechselte sie wieder die Farbe und gerieth in Bestürzung. Wie sollte er sich das erklären? [271] Was machte sie so verlegen vor ihm, sie, die den andern gegenüber wie eingefroren blieb in majestätische Gelassenheit?

VII.

Das Mittagsessen war vorbei, die Tafel wurde aufgehoben. Herr Meisenmann machte eine rasche, aggressive Verbeugung, die ganz unverkennbar den Wunsch ausdrückte: Hol euch alle der Teufel! und schoß davon. Mit anmuthigem Neigen des Hauptes verließ auch Gertrud den Speisesaal. Geschah das freiwillig oder auf Befehl? Nahm sie im Hause nicht die Stellung eines Familienmitgliedes, sondern die einer Erzieherin ein, und durfte sie den geheiligten Raum des Rauchzimmers, in das man sich jetzt begab, nicht betreten?

Bertram führte die Baronin zu ihrem Platze. Das war ein rechtwinkliges kleines Kanapée mit dünnen Beinen und so steifen Lehnen aus politirten Stäbchen, daß es im Bereiche der Sitzmöbel schwerlich etwas Steiferes gab. Es stand vor einem Tische, auf dem der schwarze Kaffee und verschiedene [272] Liqueurs servirt waren. Hugo bot dem Freunde Cigarren an, die er aus einer verschlossenen Lade geholt hatte.

»Vor dem da,« sagte er auf seinen Sohn deutend, »muß ich sie einsperren, er raucht mich sonst arm. Es sind meine Feiertagscigarren. Nimm, so nimm doch,« nöthigte er.

Bertram dankte: »Ich rauche nicht.«

»Rauchst nicht?«

»Nicht mehr.«

»Trinkst nicht, rauchst nicht,« sprach Weißenberg betrübt, »was thust du denn?«

»Ich spare, wie du weißt.«

Hagen, der schon eine schwere Cigarre angebrannt hatte, tippte mit dem Finger auf die kahle Stelle auf Bertrams Scheitel: »Trinkst nicht, rauchst nicht, eine Tonsur hast dir auch schon angeschafft, fehlt nur noch die Kutte.«

Sein Vater schob ihn etwas unsanft weg und entschuldigte sich bei seinem Gaste: »Wir gehen jetzt die Hunde füttern, sind gleich wieder da. Kommst du, Sieglinderl?«

Das Töchterchen hatte die Arme um die Taille [273] ihrer Mutter geschlungen und fragte im Tone eines fünfjährigen Kindes: »Mama, darf ich Schifferl fahren?«

»Nicht unmittelbar nach dem Essen, mein Herzchen. Begleite jetzt den guten Papa und sieh zu, wie die Hündchen speisen. Dann kannst du Gertrud holen. Ich lasse ihr sagen, daß sie mit dir zum Fischerhause gehen und achtgeben soll, daß du nicht ins Wasser fällst. Du wirst ihr meinen Auftrag bestellen, ich weiß, mein Herzchen ist gewissenhaft.«

Mutter und Tochter umarmten einander, nahmen Abschied, als ob ihnen eine jahrelange Trennung bevorstände, und das Herzchen trampelte dem Vater nach.

Hagen hatte sein Mißfallen über die sentimentale Scene zwischen Mutter und Tochter in gewohnter Art durch ein mürrisches Gemurmel kund gegeben: »Kriegt man heute Kaffee oder nicht?« stieß er jetzt verdrießlich hervor.

Seine Mutter beeilte sich, ihm eine Tasse starken, aromatischen Mokkas einzuschänken, und er titulirte das köstliche Getränk, das reichlich aus [274] der Kanne floß, mit dem beleidigenden Namen »Zwetschkenwasser.« Dann zog er sich mit seinen Vorräthen an Kaffee, Liqueur und Cigarren in die Ecke des Zimmers zurück, nahm dort Platz in einem großen Fauteuil und vertiefte sich in einen Band der Fliegenden Blätter. Sein Gemurmel hörte auch jetzt noch nicht auf: »Fliegende, sauberes Fliegen, sollten die kriechenden heißen. So dumm, zu dumm!« Plötzlich schwieg er, die Cigarre war ausgegangen, das Buch glitt von seinen Knieen zur Erde. Er schlief.

Seine Mutter hatte ihn voll Besorgniß beobachtet. Dieses »foudroyante Einschlafen,« wie sie sich ausdrückte, machte ihr unbeschreiblich bange. Es kam öfters über ihn, am Tage heißt das; bei Nacht hingegen, »floh der Schlaf seine Augen.« »O, es ist schwer!« Die Baronin seufzte, und das Kanapée, auf das sie sich setzte, seufzte auch.

Draußen erscholl lautes Hundegebell; die Thiere wurden nach der Abfütterung in den Garten hinaus gelassen. Bewegt und leise sprach die Baronin: »Mein guter Mann kommt zurück, und ich hätte Ihnen so gern ... ich muß Sie sprechen.« [275] Ihre mächtige Persönlichkeit bekam etwas gretchenhaft Hinschmelzendes: »Ich muß Sie sprechen, lieber Vogelweid, im Vertrauen sprechen.«

»Nun, gnädige Frau, ich bitte, thun Sie es doch.«

»Jetzt? nicht jetzt, später.«

»Warum erst später?«

Sie schwieg, aber ihre flehenden Augen fragten: Verstehst du mich denn gar nicht? »Kein Wort davon, vor meinem guten Manne,« begann sie nach einer peinlichen Pause wieder, »ich beschwöre Sie!«

Weißenberg trat ein, und Bertha bemühte sich ihn anzulächeln; der Versuch mißlang kläglich, und die der Verstellung ungewohnte Frau war auf dem Punkte, in Thränen auszubrechen. Ein Schatten überflog das runde, freundliche Gesicht Hugos. Er trat voll Theilnahme heran und keilte sich höchst liebreich, aber mit schwerer Mühe zwischen seine Gemahlin und die Seitenlehne des Kanapées ein.

Placirt wären sie, dachte Bertram, wie sie aber wieder aufstehen sollen, das weiß Gott.

[276] »Mein Bertherl hat schon mit dir gesprochen, seh’ ich von unserem Kummer;« Hugo wies mit einer Kopfbewegung nach seinem laut schnarchenden Sohne hin. »Ach, der giebt uns was aufzulösen, der!«

»Ja,« betätigte die Baronin, »und wir haben auf Sie gewartet und gehofft, Sie werden uns rathen und helfen, ja, auch darin.«

»Du hast neulich,« sprach Weißenberg, »ein Buch über Erziehung total in den Grund gebohrt und seinem Autor, einem großen Professor, famos heimgeleuchtet. Meine Bertha und ich, wir haben gleich gesagt: Wer so versteht, daß der andere nichts versteht, der versteht selbst sehr viel.« Er ließ sich durch das betroffene: »O, Nemesis!« das Bertram ausstieß, nicht beirren: »Ja, du verstehst’s, hast recht, unsere Schulen taugen nichts. Wie ausgetauscht ist mein Bub, seitdem er in die Schule geht. Du mußt dich noch erinnern, was für ein lieber Kerl er vor vier Jahren war.«

»Gewiß. Etwas verzogen zwar schon damals, aber ein liebes Kind und voll Talent.«

»Talent! was das betrifft« – die Eltern überboten [277] einander an Versicherungen, wie talentvoll, phänomenal talentvoll ihr Sohn sei, das wüßten sie wohl. »Aber,« meinte Weißenberg, »ein so starker Geist in einem noch unentwickelten Körper, das stimmt nicht. Die Mißstimmung ruft Nervosität hervor, und diese eine Menge kurioser Erscheinungen. Zum Beispiel heute sein Benehmen bei Tische. Deine Anwesenheit hat ihn aufgeregt, er wollte sich, wie Meisenmann ganz richtig sagte, vor dir produziren; du dürftest ihn für lümmelhaft gehalten haben, er war aber nur nervös.«

Die Baronin kam auf den Geist ihres Hagens zurück, den starken Geist, der Glück und Unglück in sich schließt, und verglich ihren Sohn mit einer Kerze, die einen Scheffel durchbrennt und dabei flackert und züngelt.

Bertram sagte, daß er den Scheffel nicht sehe, dem Gatten jedoch gefiel das Bild, und er preßte seinen linken Arm, der auf der Lehne des Kanapées ausgestreckt lag, sehr innig an den Rücken seiner Gemahlin. Ihr war furchtbar heiß, und ihr ästhetisches Gefühl litt unter dem Bewußtsein des unschönen Eindrucks, den die Einpferchung zweier [278] dicker Personen in ein Sitzmöbel, das höchstens für zwei Elfengestalten berechnet war, hervorbringen mußte. So ließ sie denn die schüchterne Frage fallen, ob man nicht in den Garten gehen solle.

Weißenberg war dagegen: »Wir müssen ihm, bei dem wir Rath und Hülfe suchen, alles sagen, wir dürfen kein Geheimniß vor ihm haben, und so sollst du wissen, Freund, daß wir’s vor zwei Jahren in den Ferien mit Strenge versucht haben bei dem Burschen. Das war schrecklich, da hat sich die Nervosität bis zu Wuthanfällen gesteigert. Einmal lasse ich mich hinreißen und hau’ ihn, und er, auf mich losgegangen – ja! mit Augen wie rauchende Zündhölzeln, und dann plötzlich niedergestürzt, geschäumt und gezappelt. Wir, nach allen Richtungen um Ärzte ausgeschickt. Drei kommen. Zuerst zwei junge; die sehen ihn an und verordnen ein Gramm Bromnatrium drei Tage nacheinander vor dem Schlafengehen. Zuletzt kommt der Alte, der Kreisphysikus, schaut den Buben auch an und erklärt sich einverstanden mit der Verordnung der Kollegen. Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus, denken wir, und wie die zwei jungen [279] fort sind, sagen wir: ‘Wirklich, Herr Kreisphysikus, hätten Sie dem Patienten auch nichts anderes gegeben als Brom?’ Er – so scheint es uns wenigstens – verbeißt ein Lachen: ‘Vielleicht doch,’ sagt er, ‘wenn ich statt in ein Schloß in eine Hütte gerufen worden wäre. Aber hier würde das Medikament, das ich ordiniren müßte, kaum verabreicht werden.’ Mehr war aus ihm nicht herauszubringen. Verstehst du den Orakelspruch?«

»Ich glaube fast.«

»Nun denn, leg’ ihn aus und handle danach.«

»Ich?« fragte Bertram erschrocken, »das kommt mir nicht zu.«

»Wir geben dir unumschränkte Vollmacht. Nimm dich unseres Buben an, er ist unser Glück, der Stolz des Hauses.«

»Seien Sie für ihn ein Arzt der Seele! Sie haben doch auch eine große Vorliebe für dieses schöne Buch?« sagte die Baronin gepreßt, nicht nur im bildlichen Sinne, denn ihr Gemahl rückte jetzt mit äußerster Anstrengung auf seinem Sitze vor und legte die mühsam frei gemachte Rechte auf Bertrams Kniee:

[280] »Hilf uns, du kannst, du verstehst alles, man sieht’s aus deinen Kritiken. Welche Vielseitigkeit! sagen wir immer, meine Frau und ich.«

»Im Tadeln,« erwiderte Bertram. »Die Kunst, alles zu tadeln, erlernt man in meinem Metier. Aber, die Kunst, es besser zu machen, natürlich nicht. So habe ich denn auch von Kinderzucht keinen Dunst, ausgemacht ist mir nur, daß die deine, lieber Alter, und die Ihre, gnädige Frau, nichts taugt.«

»Dieser Meinung sind wir selbst,« sprach Weißenberg kleinmüthig, »unsere Kinderzucht hat Mängel. Gieb sie an, sag’ etwas Positives.«

»Etwas Positives ... Nun, wenn ich aufrichtig sein darf – diesen Mängeln abzuhelfen, scheint mir Hagens Lehrer nicht der rechte Mann.«

»Dich genirt der Czech und der Antisemit. Ja, Verehrtester, finde du mir heutzutage einen Lehrer, der nicht etwas ist, was er besser nicht wäre. Wir haben traurige Erfahrungen gemacht. Meisenmann hat Unarten, aber doch auch Qualitäten. Unterrichtet vorzüglich, ist famos in seinem Fache – Geschichte. Im Herbst wird er Professor [281] am Gymnasium, und mit der Zeit ganz gewiß Direktor.«

»So? so!... Das ist das Holz aus dem ...« Ein neuer empörender Gedanke durchkreuzte Bertrams Hirn, eh’ noch der frühere ganz ausgesprochen war, und machte sich Luft in den Worten: »Und in deine Nichte ist er verliebt, der Mensch!«

Die Baronin lächelte sanft, Weißenberg massirte sein Kinn und war heiter. »Ja, der ‘Professor’ ist tüchtig verbrannt. Ob hoffnungslos? Jetzt hat’s freilich den Anschein. Doch wer weiß, was noch geschieht, wenn er sich nicht zu früh abschrecken läßt.«

»Und du würdest, und Sie, gnädige Baronin, würden zugeben, daß sie ihn nimmt?«

»Warum nicht? vorausgesetzt, daß er sie anständig versorgen kann,« sagte Hugo, und seine Gattin seufzte:

»Große Ansprüche darf sie nicht machen, die Arme.«

Schrecklich! Entsetzlich! Dieser Schwärmer sollte doch nur versuchen, sich um Euer Trampelgrundchen zu bewerben; er käme schön an. O [282] gute Menschen, wo bleibt Eure Güte, wenn’s abwägen gilt zwischen einer armen Verwandten und Eurer Brut! dachte Bertram und rief: »Ich fasse dich, ich fasse Sie nicht, Frau Baronin. Dieses Mädchen würden Sie wegwerfen an einen bornirten, giftgeschwollenen Taboriten!«

»Gieb acht!« warnte Weißenberg mit einem besorgten Blick auf seinen Sohn. Es war zu spät. Hagen regte sich.

»Unsinn. Ich habe nicht geschlafen, ich habe nur die Augen zugemacht, ich habe jedes Wort gehört, das ihr geredet habt.«

»Was hast du gehört? sag’ es, wenn du nicht als Großsprecher dastehen willst,« sprach Bertram mit unterdrücktem Zorne.

»Du hast meinen Korrepetitor beschimpft, hast ihn einen giftgeschwollenen Taboriten genannt.« Der Stolz des Hauses erhob sich: »Das sag’ ich ihm!«

»Thu’s, ich gönn’ dir die Freude.«

»O, lieber Vogelweid, wohin denken Sie? Es fällt ihm nicht ein. Er liebt es nur, sich selbst zu verleumden. Auch eine seiner Eigenheiten,« [283] versicherte die Baronin. »Aber,« fragte sie in plötzlich verändertem Tone: »Wollen wir nicht jetzt in den Garten gehen?«

Ihr Gatte erklärte sich einverstanden, beide erhoben sich rasch und zu gleicher Zeit, und das kleine Kanapée folgte demselben Impulse. Der kurzen Verlegenheitspause, die dadurch entstand, machte Bertram ein Ende, indem er hinzusprang, die Hände auf die Lehne des wanderlustig gewordenen Sitzmöbels drückte und es zwang, seinen gewohnten Platz wieder einzunehmen.

VIII.

Die Pflege seines Gartens, das war die Erholung Weißenbergs, seine Liebhaberei. Er betrieb sie mit Kunst, mit Wissenschaft und mit Berücksichtigung der Mode, wenn sie nicht gegen ein Schönheitsgesetz verstieß: »Denn das giebt’s! ich glaube dran,« sagte er. »Ich lasse mich auslachen von meinem Buben und glaube an ewige Schönheitsgesetze.«

[284] Er machte Bertram auf jede der Neuerungen aufmerksam, die er in den letzten Jahren vorgenommen hatte. Keine flachen Wiesen mehr, alle künstlich gewellt, wie sie vielleicht von Natur aus gewesen waren, bevor man sie, um den Garten anzulegen, »planirt« hatte. Anmuthige Hebungen und Senkungen, Hügel und Mulden, bewachsen mit dichtem, feinem Grase. Die Baumgruppen, nach den verschiedenen Farben des Laubes mit gutem Bedacht gepflanzt, sahen aus wie malerisch angeordnete Riesenbouquets.

»Erinnerst du dich des Perrückenstrauches, der bei den Pyramideneichen gestanden hat? Das war fad. Wir haben Blutbuchen hingestellt, kommen prächtig, machen sich besser – was meinst du?« Weißenberg mußte sich umwenden, wenn er mit Bertram sprechen wollte, und der mußte ihm die Antwort zuschreien, denn Hagen hielt ihn fortwährend zurück und brummte:

»Laß die Alten vorausgehen. Ich hab’ Dir etwas zu sagen.«

Auch du mein Sohn? Nun, wenn der Bursche mir sein Vertrauen schenkt, ist die Gelegenheit da, [285] auf ihn einzuwirken, wie seine Eltern wünschen, dachte Bertram, und als Hugo sich wieder umsah, machte er ihm ein Zeichen. Der Freund verstand ihn sogleich, winkte freudig zustimmend und rief:

»Schau dir den Garten nur recht gemächlich an. Wir treffen uns dann bei der Fischerhütte.«

Der Vater und die Mutter schlugen einen Sturmschritt ein, um den Liebling so geschwind als möglich von ihrer unerwünschten Gegenwart zu befreien.

»Was die schlau sind, wie fein sie alles machen!« spöttelte Hagen. »Davon merk’ ich nichts, meinen sie, daß du auf mich dressirt worden bist und jetzt losgehen und mir ins Gewissen reden sollst. Für einen solchen Esel halten sie mich. Ich sag’ dir aber gleich: Spar’ deine Mühe. Ich bin kein Moraltrottel, ich bin ein überzeugter Nietzscheaner, stehe jenseits von Gut und Böse, und wer mir ins Gewissen spricht, spricht zu etwas, das nicht existirt.«

Bertram lachte: »O Nietzsche! großer Krankheitserreger! Welch ein Bacillengezücht hast du in diesem Jünglingsgemüthe ins Leben gerufen!«

[286] Er sah den Burschen von der Seite an, der neben ihm dahinschritt, mit verdrießlich aufgeworfenen Lippen, die Nase in die Höhe gehoben, die Augenbrauen zusammengezogen, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben. Ein Jüngling ohne Jugend, mürrischer Hochmuth die Krankheit, die an ihm zehrte, und den beständig Verletzten in beständiger Aufregung erhielt.

»Auf dem Gewissen kannst Du also nichts haben,« sagte Bertram, »aber du hast etwas auf dem Herzen. Sprich dich aus, ich höre.«

»Auf dem Herzen ist auch wieder zu viel,« erwiderte Hagen nachlässig. »Ich will dir einfach anzeigen, daß ich eine Novelle geschrieben habe.«

»Novelle? Geschrieben?« Bertrams Ton wurde plötzlich dräuend.

»Du wirst das Manuskript auf deinem Zimmer finden. Du kannst es lesen. Du kannst es drucken lassen.«

Bertram schnaubte ihn an: »Ich werde von deiner Erlaubniß keinen Gebrauch machen; ich bin nicht hierher gekommen um zu lesen, sondern um vom Lesen auszuruhen. Wie oft werde ich das [287] noch wiederholen müssen! – Daß du schreibst,« er maß den Jüngling von oben bis unten, »hätte ich mir denken können. In Eurem Städtlein erscheint ein Blättchen, war einmal ehrsam, ist jetzt ein Schandblättchen, das von frechen Bübchen herausgegeben wird. Da mußt du ja Mitarbeiter sein.«

Beide waren stehen geblieben. Auf Hagens wuthverzerrtem Gesicht bildeten sich grünliche Schatten; seine Augen schwammen in unheimlich phosphorescirendem Lichte: »Bübchen! Bübchen ... Satisfaktion!« keuchte er, seine Glieder zuckten konvulsivisch, er wankte und schien im Begriffe niederzustürzen. Bertram sah schon eine Wiederholung des Auftritts voraus, den Weißenberg ihm eben geschildert hatte; er empfand einen großen Ekel vor dieser Ohnmacht, die es nicht einmal zu einem tüchtigen Zornesausbruche bringen konnte, und zugleich bereute er, den Rangen so schwer gereizt zu haben.

»Beruhige dich, Hagen,« sagte er. »Ich bin ein nervöser Mensch, den gewisse Worte, zum Beispiel: ‘Novelle,’ ‘Manuskript,’ ‘drucken lassen,’ außer Rand und Band bringen. Nun hab’ ich mich wieder im Zaume. Mache mir’s nach, Selbstbeherrschung, [288] mein Lieber! Wenn ich dir sage, ich bedauere, dich geärgert zu haben, ist dir das Satisfaktion genug?«

Hagen hatte sich leidlich gesammelt. Ohne den Kopf nach Bertram zu wenden, hartnäckig und steif in die Ferne blickend, brummte er: »Lies meine Novelle, dann reden wir weiter. Die Katz im Sack brauchst du nicht zu kaufen. Aber schweige, das bitte ich mir aus. Für meine Alten schreibe ich nicht. Wirst du meine Novelle lesen?«

Ein schreckliches Wesen, der Junge, aber der Sohn des Mannes, dem Bertram so viel verdankt – es sei!

»Ich werde sie lesen – in Gottes Namen. ‘In Gottes Namen, sprach sie dann, und weinend hielt er sie umfangen,’« deklamirte er und setzte bärbeißig hinzu: »Das hast du von mir nicht zu befürchten, Miseräbelchen!«

»Miseräbelchen?«

»Ich citire! Ich citire! Kennst du das schöne Gedicht vom Miseräbelchen nicht?«

»Nein,« erwiderte Hagen wegwerfend. »Ich lese keine Gedichte.«

[289] »Ich aber soll deine Novelle lesen? Na, ich hab’s gesagt – und ‘wenn was auf Erden heilig ist’« ... Er schüttelte sich.

Wäre er jetzt zu Hause gewesen in seiner Bratröhre, am Schreibtisch unter der Gasflamme, die trübseligste Entmuthigung würde ihn ergriffen haben als Rückschlag seines Entschlusses. Aber er war auf dem Lande, in einem reizenden, von Wiesen, Hainen und Wäldern umgebenen Garten. In der Ferne vor ihm bauten sich schön bekuppte Bergketten auf, im Westen, wo das grüne Land mit dem Horizont zu verschwimmen schien, war die Sonne untergegangen und sandte der Erde ihre leuchtenden Abschiedsgrüße zu, lohende Lichtstrahlen, die ein »Auge Gottes« bildend, fächerartig ausgebreitet, hoch hinaufstiegen bis ans Himmelsgewölbe.

»Athmen ist Glück!« rief Bertram plötzlich aus und jauchzte in jähem Stimmungswechsel:

»Herrlicher Sonnenuntergang, dem bald, o Wonne, eine göttliche Sternennacht folgen wird, und morgen wieder ein freier Tag im Freien!«

Er lief mehr als er ging der Fischerhütte zu, [290] bewunderte überströmenden Herzens den Teich, der vergrößert worden war, und eine unregelmäßige Form bekommen hatte, gerieth in Entzücken über den Springbrunnen, den »musikalisch niederplätschernden,« wie die Baronin sagte, und war höchlich einverstanden, als die Hausfrau vorschlug nach dem Schlosse zurückzukehren und den Thee auf der Terrasse »einzunehmen.«

Nur gegen das letzte Wort erlaubte er sich zu protestiren: »Trinken, Hochverehrte! nicht einnehmen. Einnehmen mahnt an die Apotheke, und wir sind frisch und gesund.«

Seine Fröhlichkeit weckte in jedem einzelnen der Gesellschaft ein mehr oder minder lautes Echo. Die Baronin führte munter eine so lange Reihe von Büchertiteln und Autoren an, daß in Bertram der Verdacht aufstieg, sie habe, um ihm ein Fest zu bereiten, einen Leihbibliothekskatalog auswendig gelernt. Er machte unwillkürlich eine abwehrende Bewegung, als alle die Namen ihn umtanzten wie ein unsichtbarer Fliegenschwarm, und sagte mit forcirter Höflichkeit:

»Ein neuer Vorzug, gnädige Baronin, Ihr Interesse für Litteratur. Ich bin erstaunt ...«

[291] »Sie haben keine Ursache! Sie nicht!... Sie, der Urheber dieses Interesses. O, lieber Vogelweid, Ihre Romane und Ihre ‘Überblicke!’ Stumpf müßte man sein, um nicht von ihnen gepackt und hingerissen zu werden; mitten hinein in den Strom des geistigen Lebens unserer Zeit ...«

Sie spricht gut, meine Frau, dachte Weißenberg einmal wieder, und rieb sich vergnügt die Kniee.

»Meine ‘Überblicke’,« sagte Bertram schmerzlich, »das Seichteste, das es giebt. – Ist’s möglich?... Über die selbstgeflochtenen Ruthen!«

Die Baronin wußte nicht recht, was er damit meinte und bat ihn dann aufs Gerathewohl, nicht so bescheiden zu sein.

Ihr Gatte wurde immer heiterer, fing an, Jugenderinnerungen aufzuwärmen, und sang ein lustiges Studentenlied: »Ipse fecit! Und der Text ist von dir, Mann des Tages. Das waren Zeiten! Einige Neidhammel behaupteten freilich Ähnlichkeiten zwischen unserm Meisterwerk und schon Dagewesenem zu entdecken ...«

»Ein czechischer Kollege machte sogar Vaterrechte [292] auf das Kind unserer Talente geltend. Halb und halbe Rechte, die wir ihm ganz zugestanden. Hören Sie, Herr Meisenmann, so nachgiebig sind wir von jeher gewesen.«

Die röthlichen Bärte des Angeredeten schimmerten siegreich, er zuckte wieder mit den Achseln: »Ja, selbst die Deutschen geben nach, wenn sie nicht anders können,« erwiderte er.

Zwischen der Baronin und Sieglinde fand eine leise, aber eifrige Debatte statt: »Mir zu Liebe, Lindchen,« – »Ach, Mama, nein – ich bitte dich!« wurde hin und her geflüstert. Endlich durfte Mama der Versammlung ankündigen, daß Lindchen ein Gedicht vortragen werde. »Es ist nur, um ihr das Verlegensein abzugewöhnen,« hauchte sie Bertram im Vertrauen zu.

Sieglinde sprach unter schweren Athembeklemmungen den Wanderer von Friederike Kempner und bereitete damit dem Auditorium ein wahres Vergnügen. Sogar Hagen ließ sich zu einem gnädigen: »Nicht übel!« herbei.

Die Kirchenmaus blieb zwar stumm, aber etwas weniger bedrückt, um einen Schein zuversichtlicher [293] als am Nachmittage war sie doch. Es kam sogar einmal vor, daß sie Bertram, der eben sehr lebhaft sprach, ansah, sie ihn – o des lieblichen Wunders! – ganz kurz, aber recht aufmerksam. Und er studirte – o des wonnigen Studiums! – jeden Zug ihres holden Gesichtes, jedes kaum merkliche Stirnrunzeln, jedes Lächeln, das um ihren jungen, klugen, ausdrucksvollen Mund erschimmerte. Es zeigte sich in dem Augenblick, in dem sie ihn ansah und verrieth eine angenehme Überraschung: Schau, schau, du bist nicht so arg, wie ich mir eingebildet hatte, sprach’s ganz deutlich für den, der sich auf solche Sprache versteht.

IX.

Mit dem Schlage zehn Uhr wünschte Hugo den Seinen eine gute Nacht und forderte den Freund auf, auch zu Bette zu gehen: »Morgen in aller Gottesfrüh reiten wir. Nimm dir Zeit, auszuschlafen.«

Bertram stand rasch auf. Sich Zeit nehmen können, ausschlafen können – das war ihm all die [294] Tage als Inbegriff der Seligkeit erschienen. Er empfahl sich und folgte dem Hausherrn nach, der ihn an der Thür erwartete. Sie traten in den hell erleuchteten Gang hinaus:

»Du gehst rechts, ich gehe links,« sagte Weißenberg. »Begleite dich nicht, will dir gestehen, ich dusele schon. Morgen also pünktlich ... Aber,« unterbrach er sich, »was hast du denn? Bist roth geworden wie mein Sieglinderl.«

»Gute Nacht, du Guter,« erwiderte Bertram, und der Freiherr gab sich mit der Antwort zufrieden und segelte schlaftrunken seinen Gemächern zu.

Was hast du? hatte er den armen Bertram gefragt. Daß er sich reif fühlte, aus dem Hause geworfen zu werden, oder sich selbst hinauswerfen zu müssen, das hatte er. Als er eben auf die Baronin zugegangen, um ihr die Hand zu küssen, war sie aufgestanden, ihm entgegengeschritten und hatte ihm zugeraunt:

»Ich muß Sie sprechen, Sie wissen.«

Und sie war dabei unaussprechlich bewegt gewesen. Wie durfte sie sich erlauben, bewegt zu sein? Donner und Doria! war’s nicht genug, daß [295] seine elenden »Überblicke« ihr Interesse für Litteratur erweckt hatten, sollten seine verdammten Romane einen noch viel ärgern Schaden angerichtet haben? Schwärmereien für Künstler, für Schriftsteller, auf ein Bildwerk, ein Buch hin, kommen vor bei den edelsten Frauen, ja sogar nur bei denen. Geburten der Phantasie, nichts anderes; aber so eine sechsunddreißigjährige Phantasie ist zäh, giebt ihre Geburten nicht leicht wieder her ... Wenn es wäre, wenn er unschuldig schuldig, ahnungslos zum Verräther am Freunde geworden wäre, dann bleibt ihm nichts übrig, als sein Ränzel packen und – entfliehen. Dann ist ihm der Boden unter den Füßen weggerissen, sein eigner Grund und Boden, bevor er ihn noch betreten hat.

Von den schmerzlichsten Gedanken gequält, ging er weiter. Sein Weg führte an der Thür des Kammerjungferzimmers vorbei, sie war nur angelehnt, er hörte dahinter kichern und wispern, fast schien es, als ob ihm dort aufgelauert würde. Wenn er in Palermo wäre, könnte er an einige von Hugo gemiethete Banditen denken. Plötzlich stürzte jemand aus dem Zimmer, aber es war kein hagerer [296] Bandit, sondern eine kleine, dicke Person (in diesem Hause wurden die meisten dick), und wie mit tollkühnem Entschluß auf Bertram zu. Ebenso plötzlich gurgelte sie ein seltsames Gemisch von Angstgeschrei und Gelächter hervor und rannte wieder in das Zimmer zurück, wo das Gekicher und Gewisper sich in verstärktem Maße erneuerte.

Die hat sicher gemeint, ihren Liebhaber kommen zu hören und ist jetzt enttäuscht, nur mich getroffen zu haben, sagte sich Bertram, bog um die Ecke des Ganges und betrat seine Wohnung.

O Behaglichkeit, was für eine schöne Sache bist du! Wie wohl ist einem da zu Muthe, wo du herrschest! In diesen hohen, geräumigen Stuben genießt man dich, man athmet dich ein. Beide Flügel der Schlafzimmerthür sind geöffnet, das große, herrliche Bett ist zur Nachtruhe sorglich hergerichtet, die schneeweißen Polster, die seidene Decke verbreiten einen zarten Lavendel- und Veilchenduft und schimmern im matten Scheine zweier, von einem Lichtschirme beschatteten Kerzen. Im Wohnzimmer aber, auf dem runden Tische, brennt eine stolze Bronzelampe, so hell, wie Lampen nur in [297] ganz gut geführten Häusern brennen. Unter der Lampe liegt ein unheimliches Ding, ein Manuskript in Folio, mit zahlreichen Tinten- und Fettflecken, mit umgebogenen, abgestoßenen Ecken – Hagens Novelle. Bertram gruselte es, er wandte sich rasch um und stand vor Simon, der ihm auf dem Fuße gefolgt war. Der Alte wollte sich dem Herrn Doktor durchaus nützlich machen beim Auskleiden und war trotz alles Protestirens nicht wegzubringen. Bertram täuschte sich nicht über den Grund dieses hartnäckigen Diensteifers.

»Sie wollen etwas von mir, ich weiß ja,« sagte er ärgerlich, »kommen Sie nur heraus mit der Sprache.«

So aufgemuntert trug Simon sein Anliegen, das der sämmtlichen Dienerschaft und auch der Beamten, vor. Die Sache war die. In acht Tagen feiert der Herr Verwalter seine silberne Hochzeit. Der Herr Verwalter hat zwei Töchter, von denen jede »etwas aufsagen« soll. Die eine etwas Böhmisches, und daran lernt sie schon auswendig, der Herr Meisenmann hat’s gemacht. Aber die Bevölkerung von Obositz besteht auch aus deutschen [298] Gemeinden, und der Herr Baron und der Herr Verwalter sind für Gleichberechtigung der Nationalitäten. So braucht man denn für die zweite Tochter eine deutsche Ansprache. Herr Meisenmann hat auch die machen wollen, aber alle Leute haben gesagt: Gott bewahre! Wenn der Herr Doktor da sind, wird man doch von keinem anderen ein Gedicht machen lassen, das wäre ja eine Beleidigung.

»Beleidigung!« Bertram donnerte den Alten an, daß er vor ihm zurückwich. »Glauben Sie, daß ich hierher gekommen bin, um Gedichte zu silbernen Hochzeiten zu machen? Sie sind nicht gescheit, Simon.«

»Jekerle, bitte,« sprach Simon kleinlaut, »die Frauenzimmer haben mich anstiftet, ich soll dem Herrn Doktor sagen. Die Frauenzimmer haben dem Herrn Doktor selbst sagen wollen, aber nicht können, haben nicht herausbracht. Die Köchin, die ist die Schwester der Frau Verwalterin, und die Kammerjungfer, die eine Cousine der Köchin ist ...«

»Könnten Sie mir die Verwandtschaften nicht aufschreiben?« fragte Bertram grimmig.

[299] Simon, einmal im Zuge, ließ sich nicht irre machen. Die Köchin, die das beste Mundstück hat, erzählte er weiter, hat dem Herrn Doktor aufgepaßt bei der Kammerjungfer, und wie er vorübergeht, ist sie herausgeschossen und auf ihn zu. Wie sie ihm aber in die Nähe kommt, verliert sie die Kourage und ist wieder hineingeschossen, sie fürchtet sogar – mit Geschrei. Und jetzt schämt sie sich und hat schon geweint und schwört bei allen Heiligen, daß sie sich lieber die Zunge abbeißen, als den Herrn Doktor je wieder ansprechen wird.

Bertram erklärte schon sehr aufgeregt: »Einen gescheiteren Entschluß hätte sie nicht fassen können.«

Das kränkte den Alten, und er fragte mit großer Bitterkeit, wie es jetzt aussehen werde mit der Gleichberechtigung? Die Landsleute des Herrn Doktors hätten ihm eine Ehre erweisen wollen und nicht erwartet, daß er sie zum Dank dafür ganz und gar von der Gnade des Herrn Meisenmann abhängig machen werde.

Bertram erwiderte: »Meine Landsleute sind die Mährer ebenso gut wie die Deutschen. Ich [300] bin ein Österreicher, ich habe ein Vater- und ein Mutterland, und wenn Sie glauben, daß ich hierher gekommen bin, um Öl ins Feuer der ehelichen Zwistigkeiten meiner Elternländer zu gießen, sind Sie auf dem Holzwege.« Er wurde heftig, er verstieg sich derart ins Maßlose, daß er sich vorkam wie eine Feuerwerksrakete, die mit lächerlichem Spektakel in die Höhe fährt, um dort oben gar nichts auszurichten. Das sind die Nerven, dachte er und war auch schon voll Reue, und Simon that ihm leid, der, völlig geknickt, kein Wort von allen, die Bertram hervorsprudelte, verstand, sich aber von jedem im Innersten und Heiligsten beleidigt fühlte. Er nahm sich vor, es genau so zu machen, wie die Köchin und den Herrn Doktor nie mehr um etwas anzusprechen. Mit diesem Entschlusse wollte er das Zimmer verlassen.

Aber der stille Kampf Bertrams war ausgekämpft, und er holte Simon zurück: »Sie unbarmherziger Mensch, verfallen Sie nicht in Stummheit, das ist mir schrecklich. Ich gebe nach, ich will den Kelch leeren, den ihr Giftmischer mir zum Willkommsgruß – na! Ich mache euch das [301] Gedicht. Schon gut,« lehnte er die Dankesbezeugungen ab, in die Simon ausbrechen wollte. »Aber Daten brauche ich,« rief er, »geben Sie mir ein paar Daten.«

»Wie meinen?«

»Ich meine, daß ich etwas wissen muß von Ihrem Herrn Verwalter, wenn ich ihn ansingen soll. Also goldene Hochzeit, sagen Sie?«

»Silberne, bitte, Herr Doktor.«

»Ganz recht, ich habe mich nur versprochen. Und allgemein beliebt ist er?«

»O, und wie, bei alle braven Leut’! Schlechte giebt freilich auch.«

»Für die schlechten dichten wir nicht, Simon. Also« – er gähnte. Wie ein Gewappneter kam der Schlaf über ihn; er begann seine Kleider abzulegen und ließ sich dabei Simons Dienste gefallen: »Und sagen Sie mir noch – ist er verheirathet?«

»Jekerle, Herr Doktor, wenn er silberne Hochzeit hat!«

»Und Kinder hat er auch?«

»Aber bitte, ja, die zwei Töchter, bitte, die aufsagen sollen.«

[302] Sie waren während dieses Zwiegespräches aus dem Wohn- ins Schlafzimmer und bis ans Bett gelangt. Simon betreute den Gast wie eine Mutter ihre Tochter, die morgen debutiren soll, zog, als er sich auf dem köstlichen Lager ausstreckte, die Decke über ihn und löschte die Lichter. Bertram sah ihn noch die Lampe vom Tisch nehmen und hörte ihn die Thür schließen. Dann war alles dunkel und still.

Nach einer Weile lag er aber nicht mehr im Bette, sondern stand auf der Wiese, hatte grüne Arme, einen blauen Helm auf dem Kopf, einen Apfel in der Hand und war ein Rittersporn und zugleich Paris und sollte den Preis der Schönheit ertheilen. Eine Theerose, eine dicke Gretl in der Staude, und eine Wunderblume, dergleichen er nie erschaut hatte, bewarben sich darum. Er wußte wohl: die Theerose ist die Dame aus dem Coupé, und die Gretl in der Staude seine zu gnädige Hausfrau. Wer aber ist die Wunderblume? Und ist sie schön? Das wußte er nicht, er konnte sie nicht einmal deutlich sehen, so nahe sie ihm auch stand. Dennoch trat er auf sie zu und reichte ihr den Preis. Der war aber kein Apfel mehr, sondern [303] eine Goldfeder von Morton in New-York und schrieb mit silbernen Lettern einen Hochzeitscarmen.

X.

Am nächsten Morgen war Bertram fast so früh auf wie die Sonne und mit dem Ankleiden fertig, als Simon kam, um ihm dabei behülflich zu sein.

»Sind schon lange wach, Herr Doktor, haben vielleicht nicht schlafen können?« fragte der Alte und warf suchende Blicke umher, die den leicht gereizten Bertram sofort ungeduldig machten.

»Sie suchen umsonst,« sagte er. »Das Gedicht liegt weder da noch da, noch dort,« – er deutete auf das Bett, den Nachttisch und die Badewanne. – »Das Gedicht ist noch nicht gemacht. Sie müssen die Güte haben, zu warten, bis ich nach Hause komme. Jetzt reit’ ich fort.«

Simon erwiderte zugleich beschwichtigend und ermunternd: Eine ganze halbe Stunde habe der Herr Doktor vor sich und müsse doch frühstücken; [304] aufgetragen sei schon. Wirklich hatte ein Diener den Tisch im Wohnzimmer gedeckt und mit so guten Sachen besetzt, daß ihr bloßer Anblick jeden gesunden Menschen erheitert hätte. Aber einer, der zum Dichten gepreßt wird, den erheitert nichts, dem gefällt und schmeckt nichts. Bertram trank eine Tasse vorzüglichen Thees und gedachte dabei recht mit Fleiß all des Bösen, das »V. Vischer« diesem edlen Getränk nachgesagt hat. Es rächte sich, wie’s dem Edlen geziemt, es erfüllte seinen Ankläger mit wohligem Behagen, klärte ihm den verträumten Geist und erweckte ihm die erlösende Erinnerung an eine, ihrerzeit vielgerühmte Elegie auf den Tod eines Professors, die er als Student gemacht hatte. Sie ließ sich für die jetzige Gelegenheit adaptiren. Der Enthusiasmus, mit dem darin die Beliebtheit, die Tugend und das Eheglück des Professors besungen wurden, sollte nun den silbernen Hochzeitern zu Ehren noch einmal verwerthet werden. Man brauchte nur jedes »deine« in ein »eure,« jedes »du warst« in ein »ihr seid« zu verwandeln, den Kindersegen bedeutend zu vermindern und das ganze Opus aus der wehmüthigen [305] Moll- in eine freudige Cis-Durtonart zu transponiren. Bertram wollte eben an die Arbeit gehen, als ihm gemeldet wurde, die Pferde seien vorgeführt. Da nahm er seinen Hut und eilte so rasch hinab, als ob er gefürchtet hätte, daß sie wieder davon laufen könnten.

Der Freund trat mit ihm zugleich vors Haus. Er kam aus dem Garten, wo er seit einer Stunde schon Gebüsche ausgeschnitten und Gras geschoren hatte. Sein Diener brachte eine Reitpeitsche, an der längst der Smiß fehlte, ein paar große, uralte Handschuhe und Gamaschen, die aus der Haut eines vorsintfluthlichen Thieres gemacht schienen. An den Füßen trug der Baron ein paar starke, sehr abgenützte Schuhe, sein breiter Oberkörper war in einen kurzen, grünen Rock eingepreßt, und auf dem Kopfe saß ihm ein braunes, zerquetschtes Hütlein mit schmaler Krempe, unter dem rückwärts die Glatze hervorguckte.

Im Nu war er im Sattel; für Bertram hatte das Aufsteigen einige Schwierigkeit, und als die glücklich besiegt war und sein Pferd sich, ohne eine Aufforderung dazu abzuwarten, in Trab setzte, befiel [306] ihn ein Schwindel, er wurde blaß und machte die kläglichste Figur.

»Was, Teufel, was hast?« fragte Hugo. »Sitz’ grad’, halt’ dich nicht am Zügel. Courage! Das Pferd ist ja gar kein Pferd, ist ja eine Kuh!«

Bertram hatte aber vier Jahre lang nicht einmal auf einer Kuh gesessen. Ihn beseelten zwei heiße Wünsche: bald ankommen, und nicht vom Pferde fallen. Die Freunde ritten im gemüthlichen Zotteltrab quer über die Wiese. Rechts von ihnen lag schmuck und wohlgepflegt ein Musterwäldchen, links stieg der Boden sachte auf, und die kleinen Anhöhen, hinter denen die Lepiden blauten, waren von den schneeweiß getünchten Stationen eines Kalvarienberges gekrönt. Vor den Reitern blinkte es manchmal wie Funken auf, am hellen Horizonte. Die vergoldeten Kreuze auf den Kirchen und Kirchthürmen der erzbischöflichen Stadt erglänzten im Morgensonnenschein. Jenseits des Wassers erhoben sie sich, des klaren Gebirgsstromes, der seine Umgebung verschönerte, befruchtete oder auch – verheerte.

Bis zum Meierhof, dem der Freiherr und [307] Bertram entgegenritten, war er aber noch nie gedrungen. In respektvoller Entfernung von ihm aufgebaut, genoß die stattliche Besitzung die Segnungen seiner Nachbarschaft, ohne von ihren Gefahren bedroht zu werden.

Der Weg wurde schmaler, er führte jetzt durch eine Allee von Obstbäumen. Hugo sah sich nach allen Seiten um, sah auch alles, kümmerte sich um alles, nur nicht um sein Pferd. Mit dem war er wie verwachsen, der reine Centaur, der dicke, alte Herr. Er ritt, wie ein anderer zu Fuß geht, lief mit vier Beinen statt mit zweien, das war der Unterschied.

»Schau,« sagte er und deutete auf einen frischen, tiefen Hieb, der einem jungen Apfelbaume offenbar mit der Axt beigebracht worden war. »Und schau, da und da!« Eine ganze Reihe von Bäumen war so bis aufs Mark zerhauen.

»Dumme Verwüstung,« rief Bertram, »wer thut das? Und warum geschieht’s?«

»Sagen wir aus Übermuth,« erwiderte Hugo achselzuckend, und der Freund bewunderte seine Gelassenheit, sein geistiges, moralisches, und in diesem [308] Augenblick ganz besonders, und mit entschiedenem Neide, sein physisches Gleichgewicht.

In der Nähe des Meierhofes befand sich eine kleine Ansiedlung. Eine Gruppe von zehn Häusern. Jedes Haus hatte ein Gärtchen, und in jedem Gärtchen standen Bäume, und alles war nett und sauber gehalten und machte den Eindruck einer gewissen Wohlhabenheit.

Der Baron stellte sich auf in den Bügeln, richtete die Spitze seiner Reitgerte auf ein graues Schieferdach, das zwischen dem Meierhofe und dem letzten der kleinen Häuser sichtbar wurde, und sprach: »Da guckt’s schon heraus, dein Palais.«

Bertram riß den Hut vom Kopfe, schwenkte ihn in der Luft und jauchzte: »Hoch Palais Vogelweid! Nein, nicht Palais, nicht Vogelweid, Haus. Vogelhaus!«

»Gieb acht!« schrie Hugo. Hinter ihnen kam ein Reiter im Galopp einhergesaust. Es war Hagen, der sie einholte, und vorüberjagte, ohne Notiz von ihnen und dem Schrecken ihrer Pferde zu nehmen. Der Braune des Freiherrn machte eine Lançade, die den Reiter aber kaum im Sattel hob. [309] Mit einer Mischung von Ärger und Stolz blickte er dem Sohne nach:

»Da reitet er wieder die Fohlenstute, was ihm streng verboten ist. Ich hab’s in meiner Jugend auch weit gebracht im Ungehorsam, aber so weit wie der lange nicht. Und wie er oben sitzt, wie ein Schneider!« Bei diesen Worten wendete er sich nach dem Freunde um, vermißte ihn aber auf seinem früheren Platze. Der Sattel der Kuh war leer, sie begann eben gemüthlich zu grasen, und jenseits von ihr auf der weichen Wiese, die beiden flachen Hände auf den Boden gestemmt, saß Bertram und schien äußerst erstaunt.

Weißenberg hielt sein Pferd an und sagte: »O jeh!«

»Ja wohl,« erwiderte Bertram. »Wie Hagen so vorbeigewettert ist, da muß sie erschrocken sein, die Kuh, und da hat sie sich geschüttelt.«

»Und da hat sie dich hinuntergeschüttelt. Macht nichts, steig’ nur wieder auf.«

»Um keinen Preis. Zu Fuß will ich mein zukünftiges Daheim betreten, ehrerbietig wie Washington auf der Rückkehr von seinen Siegen [310] sein Mutterhaus betreten hat.« Er hing die Zügel seines Rosses über den Arm und ging wohlgemuth neben Weißenberg, der sein Pferd in Schritt gesetzt hatte, einher. »Das Glück trägt mich, was soll ich mich von einem Pferde tragen lassen!«

Der kleine Besitz, den der Freiherr für Bertram gekauft hatte, bestand aus sechzig Hektaren fast durchwegs besten Bodens und zwar aus vier Hektaren Wald, zehn Wiesen, vier Weideland, der Rest Felder. Das Haus, von Grund auf neu gebaut, hatte fünf Fenster Front im ersten Geschoß, und vier im erhöhten Halbstock, je zwei neben dem Hausthor. Das war aus massivem Eichenholz, fest und kunstvoll gefügt und mit einem so gediegenen Schlosse und Klopfer und so schön gezeichneten Beschlägen aus blankem Schmiedeeisen versehen, daß sein Anblick ein Genuß gewesen wäre, auch wenn es nicht den Eingang zum Vogelhaus gebildet hätte. Steinerne Stufen führten zu ihm hinauf, die kanellirten Säulchen, die den Abschluß des Geländers bildeten, trugen Blumenvasen aus Thon, in denen großblätteriger Epheu wuchs und gedieh. Das Haus stand dicht vor dem Wäldchen [311] und mitten in dem kleinen Garten, in dem schon allerlei Nutzpflanzen grünten, aber auch Blumen blühten und dufteten. Hinter dem Drahtgitter, das den Garten umfriedete, hoben junge Fichtenbäumchen die frischen, hellgrünen Köpfe aus der Erde und waren bestimmt, in einigen Jahren einen üppigen lebenden Zaun zu bilden.

Je mehr die Freunde sich dem Vogelhause näherten, desto stiller war Bertram geworden. Am Gitterpförtchen trat ihnen ein ältlicher, hagerer Mann in abgetragener Kleidung entgegen. Sein echt slavisches Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck, seine breiten Hände schienen eben eine Tüncherarbeit verrichtet zu haben, denn sie waren inwendig ganz weiß.

Der Freiherr stellte ihn vor: »Joseph Waniek, ein Prachtmensch. Man darf das vor ihm sagen, es ist keine Schmeichelei, er weiß, was er werth ist. Er wird deine Wirthschaft führen, solange du willst: er ist alles: Ökonom, Gärtner, Maurer, Schlosser, Zimmermann.«

»Ich werde zu Ihnen in die Schule gehen, Herr Waniek,« sagte Bertram und reichte ihm die Hand.

[312] Waniek verbeugte sich höflich deprecirend, ergriff die Zügel der Pferde und führte sie fort:

»Wohin? wohin geht er mit ihnen?«

»Nun – in den Stall.«

Der neue Grundbesitzer brach in Entzücken aus: »Ich hab’ einen Stall.« schrie er. »Wo?« Er wollte davonstürzen, besann sich aber, wandte sich und stürzte dem Freund an die Brust: »Wie soll ich dir danken?«

Der Baron wurde auf einmal kalt und ablehnend:

»Keinen Unsinn. Wofür? Daß ich dein Geld zweckmäßig (so hoff’ ich wenigstens) verwendet habe? Es hat mir Spaß gemacht. Du aber besinn’ dich, was du einst für mich gethan hast. Auf deinen Schultern durch die Schulen getragen hast du mich, du, der viel Jüngere, mich, den ewigen Repetenten. Himmel, Himmel, waren das Zeiten! Mein guter, alter Vater, der selbst nichts gelernt hatte und das Lernen deshalb für eine so leichte Sache hielt. ‘Ich kränk’ mich zu Tod’, wenn du nicht lernst.’ Und ich, der ihn liebte, es ihm beweisen wollte und nicht konnte mit meinem Dickschädel, [313] der so empfänglich war für Gelehrsamkeit, wie eine Rübe für Magnetismus.«

»Thu’ dir nicht Unrecht, Hugo,« versetzte Bertram und brach plötzlich in Schluchzen aus. Bei dem Anblick kamen auch dem Baron die Thränen in die Augen, er zog sein Taschentuch hervor und schneuzte sich kräftig: »So, fertig,« sprach er. »Jetzt wollen wir deinen Grundbesitz in Augenschein nehmen.« Sie traten ins Haus, durchwanderten seine wohnlichen, aber noch spärlich eingerichteten Räume, begaben sich dann in den Stall, in dem vier stattliche Kühe und zwei tüchtige Gäule standen. In einem kleineren Stalle waren einige Schafe untergebracht, und im Schweinekoben hörte man’s vergnüglich grunzen.

»Borstenvieh hab’ ich auch!« jubelte Bertram. Dem Freiherrn wurde bange um ihn. Während er sein Grundeigenthum beschritt, wechselten seine Stimmungen mit unheimlicher Schnelligkeit. Aus überwallender Freude verfiel er in tiefste Muthlosigkeit und rief händeringend:

»Ich bin Moses! Ich sehe das Land der Verheißung, aber in Besitz nehmen werde ich es nicht, [314] erleb’s nicht. Ein solches Glück erlebt man nicht. Des Lebens ungemischte Freude ...«

»Nur vor der keine Angst,« unterbrach ihn Hugo. »Die Mischung findet sich. Für die Sorgen des Landwirths ist gesorgt.«

Sie kamen zu einem Weizenfelde, wo eben geschnitten wurde; sechs Schnitter waren dabei beschäftigt, das heißt, zwei mähten, zwei schliffen ihre Sensen und schnupften dazwischen mit großer Umständlichkeit, zwei tranken Branntwein.

»Schau dir den Weizen gut an,« sagte der Freiherr. »Für den rechne ich auf den ersten Preis bei der landwirtschaftlichen Ausstellung.«

Er nahm eine Hand voll Ähren, zerrieb sie in den Händen, blies die Spreu hinweg, und hielt Bertram die schweren, goldgelben Körnlein hin: »Das ist eine Pracht.«

»Wenn ich nur davon etwas verstände! Ich verstehe aber nichts, ich sehe auch nichts, mit mir dreht sich alles im Kreise. Ich kann nicht mit dir fort, kann mich von Vogelhaus noch nicht trennen. Gehe du deinen Geschäften nach und laß mich da. Ich will arbeiten, mich physisch ermüden, meinen [315] Grund und Boden mit meinem Schweiße düngen. Sage diesen guten Leuten, einer von ihnen möge mir seine Sense überlassen. Sage ihnen, daß ich Mühe und Plage und auch ihr Mittagessen mit ihnen theilen werde, gegen Bezahlung natürlich.«

»Da kriegst du in Branntwein aufgeweichtes Brot und Hutzeln mit Gries gekocht. Und was die Bezahlung betrifft – bei Sacher ist’s billiger. Aber wie du willst.«

Er trat an die Schnitter heran und theilte ihnen, selbstverständlich in slavischer Sprache, mit, daß Herr Vogel, ihr Arbeitgeber, beabsichtige, beim Mähen mitzuhelfen. Einige lachten, die anderen trugen eine hochmüthige Theilnahmslosigkeit zur Schau. Ein einziger, ein alter, großer, schöner Mann nahm den Hut ab, und begrüßte Bertram mit einem deutschen: »Küß’ die Hand.«

»Ihr zwei könnt euch zur Noth verständigen,« sprach Weißenberg, ermahnte den Freund, ja nicht zu spät zum Souper zu kommen, und verabschiedete sich.

Bertram hatte den Rock abgelegt, die Sense ergriffen und war bald in voller Thätigkeit. Er [316] wollte den Leuten, die ihre Arbeit mit erstaunlicher Schläfrigkeit verrichteten, zeigen, wie ganz anders ein gebildeter Mensch die Sache angreift. Aber nur zu bald mußte er in seinem Eifer nachlassen und sah ein, in dem Tempo, das er angeschlagen hatte, könne es nicht lange weitergehen.

Seine Sense war stumpf geworden, er ersuchte in der Zeichensprache seinen Nebenmann um den Schleifstein, wetzte und wetzte, die Sense wollte nicht scharf werden. Schleifen konnte er nicht. Bisher hatten die Arbeiter ihn ganz unbeachtet gelassen, jetzt wurden sie alle auf einmal auf ihn aufmerksam und hatten ihre helle Freude an seiner Ungeschicklichkeit. Der Nachbar nahm Bertram endlich das Werkzeug aus der Hand, war mit dem Schärfen gleich fertig, streckte aber auch sofort die Rechte aus und sprach höflich: »Trinkgeld.« Dieses deutsche Wort schien ihm geläufig. Großes Gelächter erhob sich, Bertram stimmte ein und spendete dem Taglöhner für den geringen Dienst einen blanken Silbergulden. Der Beschenkte steckte ihn hastig in eine Tasche seines zerrissenen Rockes und zog aus der andern ein Fläschchen hervor. Es [317] war in ein schmutziges Tuch gewickelt und mit einer trüben, dicklichen Flüssigkeit gefüllt. Der Arbeiter entkorkte es und hielt es Bertram hin. Dem graute, aber um keinen Preis hätte er das kameradschaftliche Anerbieten zurückgewiesen. Er dachte an Neshdanow in Turgeniews Neuland und wollte stärker sein als der russische Held. Heroisch setzte er die Flasche an und that einen kräftigen Schluck. Es war gräßlich. Der Hals brannte, ein fast unüberwindlicher Ekel ergriff ihn. Er machte sich rasch wieder an die Arbeit und kehrte den Leuten den Rücken zu. Sie sollten sein Gesicht nicht sehen, oder vielmehr die Gesichter, die er unwillkürlich schnitt. Aber bald drohte die Müdigkeit ihn zu überwältigen, seine Arme schmerzten, in kleinen Bächen floß der Schweiß ihm über den Leib, und jetzt mußte er wieder an Tolstois Ljoisin denken und ärgerte sich, daß er sogar beim Taglöhnern nicht herauskam aus der Litteratur. Nur noch ehrenhalber führte er die Sense und nahm sich vor, das nächste Mal die Arbeit mit geringerem Feuereifer zu beginnen, um länger bei ihr aushalten zu können. Gemächlich [318] muß arbeiten, wer den ganzen Tag arbeiten soll. Bertram war zufrieden, als der alte Schnitter auf ihn zuschritt, und ihm lächelnd seine Sense aus der Hand nahm. Nun sah er zu, und es war ein völlig grandioser Anblick, wie der Greis im gleichmäßigen, weitausholenden Schwung, einen großen Halbkreis mit seinem Werkzeug beschrieb und jedesmal einen Arm voll Halme vom Boden wegrasirte, daß sie hinsanken, so bereitwillig, als ob es ihnen ein wahres Vergnügen wäre. Ihre goldenen, bärtigen Köpfchen, die eben noch zum strahlenden Blau des Himmels hinausgeschaut hatten, ruhten jetzt wohlig und sanft an der Brust der alten Mutter Erde.

XI.

Plötzlich hielt der Alte in seiner Arbeit inne, streckte den Hals und rief: »Ferd! Ferd!« Die Fohlenstute raste einher – ledig. Die Steigbügel peitschten ihre Flanken, die zerrissenen Zügel ihren Kopf. Wild gemacht durch die überflüssigen Hülfen, tollte sie wie rasend querfeldein ihrem Wohnorte [319] zu. In weiter Entfernung von ihr folgte ihr Exreiter; übel zugerichtet, wie sich immer deutlicher zeigte, je näher er kam. Bertram lief ihm entgegen, und ein förmliches Ringen entspann sich zwischen ihnen. Bertram wollte ihn zwingen, dazubleiben, der Junge wollte durchaus weiter rennen. Das Blut floß ihm aus der Nase in den Mund, er spuckte wie eine böse Katze, nieste, machte alle möglichen Anstrengungen, um zu sprechen, und konnte nicht. Mit Gewalt führte ihn Bertram ins Haus und zwang ihn, sich pflegen zu lassen. Im Zimmer neben der Küche stand eine mit Stroh gefüllte Bettlade, Waniek breitete einen Kotzen darüber, den er aus dem Stalle gebracht hatte, und trug, ohne einen Befehl abzuwarten und ohne ein Wort zu verlieren, einen Krug mit frischem Wasser gefüllt herbei. Der Verwundete mußte sich auf dem Lager ausstrecken. Sein und Vogels Taschentuch wurden einstweilen abwechselnd zu Umschlägen verwendet. Der alte Arbeiter kam mit dem Rocke, den der fleißige Stadtherr auf dem Felde liegen gelassen hatte, und wurde beauftragt, ins Schloß zu gehen, um Wäsche zu holen und der Baronin eine [320] Karte, auf die Bertram eilends einige Worte schrieb, zu überbringen.

»Wozu? wozu das? Was schreibst du ihr?« rief der Patient und wollte aufspringen. Wieder suchte Vogel ihn zu beschwichtigen. »Wenn deine Mutter erfährt, daß dein Pferd ohne Reiter nach Hause gekommen ist, erschrickt sie tödtlich. Ich habe sie über dein Befinden beruhigt. Wär’ ich’s nur selbst. Dein Auge sieht entsetzlich aus und muß dir infam weh thun.«

»Mir thut nichts weh, nichts,« polterte Hagen, »und wenn du sagst, daß ich vom Pferde gestürzt bin, bist du mein Feind. Ich bin nicht gestürzt, ich bin abgestiegen, habe das Vieh an einen Baum gebunden, da hat sich’s losgerissen.«

»Und dein geschwollenes, zerschlagenes Gesicht, und dein Auge, Hagen. Dein Auge sieht aus wie ein einziger, großer Blutstropfen. Wie kommst du dazu?«

»Eine Fliege hat mich gestochen.«

»Junge! Junge, du bist verdreht. Zugeben, ich habe mich auf ein Pferd gesetzt, das ich nicht reiten kann – welche Schande! Aber lügen wie [321] ein Schulbub, der sich ausreden will, das geht dir nicht an die Ehre.«

Der Kranke kehrte ihm den Rücken zu und blieb eine Weile regungslos. Bertram beugte sich über ihn und sah ihn voll Besorgniß an. Da öffnete Hagen das gesunde Auge und sprach langsam:

»Ich habe stürzen wollen. Ich habe sterben wollen. Es ist mißlungen.«

Zuerst glaubte Bertram, das sei Geflunker. Aber nein. Aus der Miene des Jünglings, aus seiner plötzlichen, ungewohnten Ruhe sprach wahrhaftige Verzweiflung.

»Um Gotteswillen, du phantasierst. Ich hoffe, du phantasierst!« Er griff hastig nach Hagens Puls.

»Ich phantasiere nicht; ich bin ganz kalt.«

Deine neueste Pose, dachte Bertram. Er schwankte zwischen Entrüstung und Schrecken: »Du hast dich tödten wollen. Herrgott im Himmel! Und deine Eltern – hast du nicht an deine Eltern gedacht?«

[322] »Nein, nur an sie, an der ich mich rächen will, der ich einen Stachel ins Herz bohren will... Sie hat mich verschmäht – wenn du wüßtest, wie? Ich biete ihr meine Liebe und sie demüthigt mich – mich, den Sohn ihrer Wohlthäter ... beleidigt mich, ich kann es nie sagen, wie sie gewagt hat mich zu beleidigen. – O, Nietzsche, du hast Recht, du allein – die Peitsche für die stumpfsinnigen, imbecilen Weiber!«

Er wand sich, er biß in den Rock, den Bertram als Decke über ihn gebreitet hatte.

»Erstens bitte ich dich,« sagte der, »laß meinen Rock in Ruh. Er ist neu und kostet ein Heiden-, ein sauer verdientes Geld. Zweitens: von wem sprichst du? doch nicht von Fräulein Gertrud? Oder ja? – Ja so! Du willst deine Cousine heirathen?« Seine Mundwinkel umspielte etwas, das Hagen zu dem Ausruf berechtigte:

»Darüber lachst du selbst. Ans Heirathen werd’ ich denken, wenn ich einmal fünfzig bin. Meine Liebe habe ich ihr angetragen, meine Leidenschaft, mich habe ich ihr angetragen, mich! und mich verschmäht die Närrin, die prüde, eingetrocknete, [323] versauerte alte Jungfer, die mir die Hände küssen sollte ...«

»Warum nicht gar. Schweige! Du bist beunruhigend. Ich weiß wirklich nicht, was bei mir überwiegt, das Mitleid mit dir oder die Empörung über dich. Schweig!« wetterte er ihn an. »Ich befehle es dir. Du kommst um dein Auge,« fuhr er sanfter fort. »Du mußt ja fühlen, wie’s um dein Auge steht. Leg’ dich hinüber, sprich nicht, denk’ auch nicht, verlaß dich drauf, was du jetzt sprichst und denkst ist Unsinn. Ich bin hier Herr, bin gesund, und du bist mein Gast und bist krank. Kranke müssen gehorchen.« Er beugte sich wieder über ihn: »Hagen, mein Junge, ich beschwöre dich, sei ein standhafter Mann, der einen Puff aushält, ohne gleich an feige Flucht aus dem Leben zu denken.«

O Wunder, der Unbändige gehorchte, legte sich hin und blieb ganz still. – Das Wasser im Kruge war warm geworden, Bertram ging zum Brunnen, frisches zu holen. Es freute ihn, das selbst zu besorgen, und er hatte dabei einen Anfall von Aberglauben. Daß er das erste Wasser aus seinem [324] eigenen Brunnen zur Linderung fremder Leiden schöpfte – hatte gewiß etwas zu bedeuten, etwas Gutes, Schönes. Zur Linderung fremder Leiden? Nicht fremder, kein Mensch war ihm fremd, am wenigsten der vertrackte Junge, das verirrte Schaf, das er auf den rechten Weg führen wird.

Als er ins Zimmer zurückkam, war’s darin mäuschenstill. Er erneuerte den Umschlag auf dem Auge des Patienten und setzte sich auf einen Schemel neben das Bett. Daheim! Über seinem Kopfe wölbt sich sein eigenes Dach, und jede Schiefertafel, die darauf liegt, hat er sich selbst verdient. Wie herrlich dieses Bewußtsein, wie wonnig die Ruhe in der kühlen Stube. Vor zwei Tagen erst hatte er sich krank und elend gefühlt und heute – eben erst sprach er zu seinem Gaste: Ich bin gesund. Ein Glücksgefühl ergriff ihn, und er murmelte: »Dank, Dank!« Ach, ihm war wohl! Draußen brütete die Hitze des Sommertages millionenfaches Leben aus. Allerweckerin! Allernährerin! himmlische Sonne! du hast auch Bertrams Getreide zur Reife gebracht, und bleichst jetzt in den goldenen Hülsen das silberweiße Mehl. [325] Man riecht’s, es duftet so nahrhaft. Man hört die Arbeiter auf dem Felde sprechen, man hört auch Vögel zwitschern, und jeder Schall schlägt gleichsam wie gereinigt durch die ätherklare Luft, als Wohllaut ans Ohr.

»Du!« sprach der Patient auf einmal mit unheimlich heiserer und gequälter Stimme.

»Was denn, mein Junge?«

Die Antwort ließ auf sich warten, wurde aber doch mühsam hervorgepreßt.

»Hast sie gelesen?«

»Was gelesen?«

»Zum Teufel, die Novelle.«

»Ach ja – die deine. Noch nicht.«

»Nicht?« knirschend kam es heraus dieses: Nicht. »So schick’ sie zurück, zum Teufel, wenn du sie nicht lesen willst. Schick’ sie zurück, augenblicklich.«

»Ich laufe schon,« erwiderte Bertram ärgerlich, »ich warte nur noch den Besuch deiner Mutter ab.« Er trat ans Fenster und sah hinaus. »Da kommt sie gefahren mit deiner Schwester und dem Doktor.«

[326] »So? Natürlich, der muß dabei sein; der Flohbißchirurg, die Wanze, der Zeck!«

Die Baronin hielt sich beim Anblick ihres verwundeten Sohnes tapferer, als Bertram es ihr zugetraut hätte. Sieglinde schwamm in Thränen. Der Doktor, ein ältliches, pfiffig dreinschauendes Männlein, war bald fertig mit der Untersuchung des Patienten.

»Ihnen fehlt nichts,« sagte er ironisch. »Stehen Sie auf. Sie können nach Hause reiten, wenn Sie’s freut. Schmerzen werden Sie ja nicht haben.«

»Ich will nach Hause fahren,« sagte Hagen.

»Thun Sie das,« erwiderte der Doktor. »Weil wir aber ganz überflüssigerweise einen Kübel mit Eis mitgebracht haben, werde ich Ihnen einen Umschlag machen und Sie verbinden.«

Das geschah. Hagen stand sofort auf, wankte, nahm ziemlich gutwillig den Arm seiner Mutter und verließ das Zimmer, ohne ein Wort des Grußes an Bertram zu richten.

»Sind Sie besorgt?« fragte dieser den Arzt.

[327] »Es wird hoffentlich alles gut, aber leiden muß er wie ein Hund.«

Bertram blickte der, auf Befehl des Doktors langsam fahrenden, Equipage nach und dachte: Ein Gezücht, dieser Hagen, und kann doch ein tüchtiger Mensch werden. Hundemäßige Schmerzen heldenmäßig ertragen, das ist etwas. Er blieb bis gegen Abend in Vogelhaus; aß wirklich Hutzeln mit Gries, kam vor, während und nach der Mahlzeit wirklich so oft in Gelegenheit, Trinkgelder bezahlen zu müssen, daß er endlich mit leerem Portemonnaie sein Rößlein bestieg und in einem Schritt, der sich immer mehr verschärfte, je näher »die Kuh« dem Stalle kam, heimritt nach Obositz.

XII.

Beim Souper auf der Veranda war’s schön und gemüthlich, trotz einiger kleiner Zwischenfälle, die das gute Einvernehmen vorübergehend störten.

Der Baron kam wehmüthig ergriffen von [328] einem Besuche bei seinem Sohne zurück, verrieth aber seine Gemüthsbewegung nicht. Er setzte sich mit Nachdruck nieder, steckte die Hände in die Hosentaschen und sprach mit rauher Stimme: »Recht ist ihm gescheh’n! ganz recht.«

Seine Gattin entsetzte sich: »O, wie grausam du bist!« und er erwiderte kurz:

»So ist es und nicht anders.« Er war stolz auf die Brutusgefühle, die er an den Tag gelegt hatte, und wenn er einmal in der Toga steckte, kam er nicht so bald wieder heraus.

»Der Meisenmann ist bei ihm geblieben,« fuhr er fort. »Guter Kerl der Meisenmann.«

»So?« fragte Bertram – »der Fanatiker?«

»Weich wie Watte. Willst du ihn weinen sehen?«

»Trage gar kein Verlangen danach.«

»Nun, ich meine nur. Wenn du vielleicht wolltest, dann sprich ihm nur von seinem alten Vater. – Ein sehr guter Mensch, der Meisenmann!« (diese letzten Worte richtete der Baron direkt an Gertrud). »Und was seinen Fanatismus [329] betrifft – Naturerscheinung. Das kommt so über die Menschen, wie die Nonne über die Bäume und die Reblaus über die Weinstöcke. Der Weinstock ahnt auch nicht, daß die Reblaus ihn hat und aufspeist, er glaubt, er hat die Reblaus und soll sie verbreiten zum Wohl des Weinbergs. Und deshalb,« schloß Weißenberg mit scharfer Logik und warf einen nicht minder scharfen Blick auf seine Nichte, ist Meisenmann »ein grundguter Mensch, der auch eine gesicherte Zukunft hat und jede Frau glücklich machen würde. Und du,« wandte er sich an seine Tochter, die sofort vor Bestürzung in Atemnoth gerieth. »Was treibst du? ich muß mich wundern. Bin grad’ auf dem Gang deiner Dobka begegnet. Sie hat etwas Versiegeltes aufs Zimmer unseres Freundes getragen. Was war das? Sie wollte ich nicht fragen, um dich nicht vielleicht zu beschämen vor deinem Stubenmädchen; ich frage dich selbst. Hast du sie und was hast du geschickt?«

Sieglinde rang die Hände unterm Tisch, sie litt Qualen, und die treue Mutter litt mit ihr, und Gertrud sah die beiden theilnehmend und dann [330] Bertram an, und ihm schien, als spräche sich in ihrem Blick die Bitte aus: Kommen Sie ihnen zu Hülfe.

Da konnte er nicht widerstehen und sagte mit bittersüßem Lächeln: »Die Baronesse sammelt ohne Zweifel Autographen und hat mir ihr Album geschickt.«

»Ja – ich werde auch – aber« ... Sie kam nicht weiter, Thränen erstickten ihre Stimme. Sie stand auf und warf sich weinend in die Arme ihrer Mutter, die ebenfalls aufgestanden und ihr entgegengegangen war. Leise und unverständlich flüsterten sie miteinander. Weißenberg führte seine große Theetasse an den Mund und setzte sie erst wieder ab, als die Baronin und Sieglinde auf ihre Plätze zurückgekehrt waren.

»Lieber Vogelweid,« nahm die Hausfrau das Wort, »meine Tochter wird Ihnen selbstverständlich ihr Album schicken, verzeihen Sie, daß es noch nicht geschah.«

»Verzeihen?«

Gertrud erhob den Kopf. Bertram hatte diese Frage mit so bösartiger Ironie gestellt, daß einem [331] bange werden konnte vor ihm. Die Baronin schwebte wieder ein paar Meter hoch über den Parketten und merkte nichts.

»Sie sollten vorher wissen, lieber Freund,« fuhr sie fort, »daß es eine kleine Kollegin ist, die um einige Zeilen von ihrer berühmten Hand bitten kommt. Sieglindchen dichtet.«

»Ob ich mir nicht so was gedacht hab’,« rief Weißenberg verdrießlich aus. »Sie spielt ja schon seit einiger Zeit alle Farben, wenn jemand sagt: ‘Poet’ oder: ‘lyrisches Gedicht’.«

»Bisher,« setzte die Baronin hinzu, »haben nur die Augen der Mutter auf den jungen Geistes- und Gemüthsblüthen des Kindes geruht.«

»So? die eigenen hat das Kind dabei zugemacht, es wird ihr im Schlaf gekommen sein,« brummte Hugo, sagte sich aber im stillen: sie spricht gut, meine Frau.

»Sieglindchen ist so bescheiden, so ängstlich. ‘O Mutter, wenn ich nur Talent habe’, klagt sie oft gar rührend. ‘Ich weiß nicht, ob ich weiter dichten soll’. Nach schweren Kämpfen hat sie sich [332] entschlossen, Ihnen die Entscheidung zu überlassen. Lesen Sie, prüfen Sie ernst und gewissenhaft, rathen Sie, soll sie weiter dichten oder nicht?«

»Wenn sie nicht ein Riesentalent hat, nein!« erklärte Weißenberg. »Dichten ist heutzutage Männersache. Wund’re dich nicht, daß ich das weiß,« rief er Bertram triumphirend zu. »Kein Geringerer als du hat es mich gelehrt. Die Bücher, die du lobst in deinen ‘Überblicken’, darf eine anständige Frau nicht lesen.« Er nahm keine Notiz von dem lauten Widerspruch aller: »Nicht lesen! Die Litteratur ist in einer großartigen Reform – der Rückkehr zur Männlichkeit aus weibischer Versumpfung, begriffen – sagt Vogelweid. Und ich sag’: Bravo! Jetzt ist die Männerlitteratur dran. Will meine Tochter mitthun? will sie Bücher schreiben, die ihre Mutter nicht lesen darf?« fuhr er Sieglinde an.

Die und die Baronin blieben stumm vor Verwirrung über diesen heftigen Ausfall, nur Gertrud entgegnete:

»Aber, lieber Onkel!«

Bertram horchte hoch auf, verneigte sich gegen [333] sie und sprach: »O, wie recht haben Sie, mein verehrtes Fräulein!«

Da wurde sie gleich wieder verlegen: »Warum denn? ich habe ja nichts gesagt.«

»Doch! Sie haben gesagt: Aber, lieber Onkel! Ich wiederhole: Aber, lieber Hugo!«

»Kann nicht helfen, Mulier taceat in ecclesia! Daß nach diesem Worte gethan wird, das erhält die Kirche groß. Wären die Frauen auch in der Litteratur nicht zu Wort gekommen, wäre auch die Litteratur groß geblieben.«

»O lieber Freund, es ginge der Kirche schlecht, wenn sie auf die Frömmigkeit der Männer allein angewiesen wäre, und der Litteratur ging’s schlecht, wenn ihr die Frauen ihr Interesse entziehen würden.«

»Das sollen sie auch nicht. Nachbeten sollen sie, aber nicht vorbeten, nicht in ecclesia, nicht in litteris

»Einige Vorbeterinnen möchte ich doch nicht missen,« versetzte Bertram. Ihm schwoll die Galle, weil er nun doch in ein litterarisches Gespräch [334] hineingerathen war, und als der Freund schlagfertig entgegnete:

»Ausnahmen betätigen die Regel,« sprach er gereizt:

»Stehende Redensart. Unsere Rede soll nicht stehen, sie soll wenigstens fließen, wenn sie nicht sprudeln kann.« Er zwirbelte an seinem Schnurrbart: »Sie schreiben also, Baronesse?«

»Ich schreibe nicht, ich dichte,« verbesserte sie weinerlich.

»Sie dichten und wollen gedruckt werden. ‘Hat er es einmal aufgeschrieben, will er, die ganze Welt soll’s lieben,’ sagt Goethe. Das ist ein Unglück, wissen Sie; eine unselige, weitverbreitete Krankheit. Die Vielschreiberei ist epidemisch geworden. Das Skelett im Hause ist heutzutage – das Manuskript. Es fehlt nirgends, nicht in den Schreibtischen der Erlauchten, nicht in der Lade des Krämers, nicht im Pult des Studenten und des Schulmädchens, nicht im Arbeitskorb der Näherin. Alles schreibt, jeder Mann, jede Frau, jedes Kind!«

»Das wußten wir in unserer unschuldigen Abgeschiedenheit [335] freilich nicht. Sie setzen mich in schmerzliches Erstaunen, Vogelweid,« sagte die Baronin offenbar verletzt. Sieglinde glühte wie eine Feuerlilie, und Gertrud, fast so roth wie sie, senkte den Kopf und beschäftigte sich eifrig mit einer Häkelarbeit, die sie aus ihrer Tasche gezogen hatte.

Bertram stieß einen schweren Seufzer aus: »Naturerscheinung, alles Naturerscheinung. Du hast recht, Hugo. Das schreibt und schreibt und will berühmt werden. Es ist die Zeit, in der jedes Individuum sich selbst vergöttert, nach Vergötterung lechzt. Es ist aber auch die Zeit, in der der Socialismus in breiten Kolonnen anrückt, sein ungeheures Prokrustesbett hinstellt und den Genius und den Trottel, den rastlosen Arbeiter und den Faulenzer, den Asketen und den Lüstling, nebeneinander einpfercht als Genossen und als gleichwerthige Knechte der unumschränkten, unfehlbaren Tyrannin – der Gesellschaft. Dann wieder eine andere Strömung: Keine Gesellschaft! kein Staat! keine Gesetze. Jeder sein eigener Lykurg. Egoismus das einzige Menschenrecht, Nächstenliebe fluchwürdige [336] Schwäche. Und wie viele andere Strömungen noch! Und jede in den Augen ihrer Vertreter der alleinig zur Überschwemmung der Welt berufene, die Zukunft befruchtende Nil! Mit täglich wachsender Furie platzen sie aufeinander – bäumen sich zu Gischtsäulen empor ... Wartet nur, wartet, bis die rasenden Naturgewalten verheerend losbrechen. Die Stunde kommt. Wie es jetzt in der Welt aussieht, so hat es immer ausgesehen vor dem Untergange einer Civilisation!«

Während er diese Rede hielt, starrte er unverwandt vor sich hin in den Garten. Weil aber Sieglinde ihm gegenüber saß, schien sein Blick auf ihr zu ruhen. Der Ärmsten war, als ob sie mit glühenden Nägeln an die Pfeiler der Veranda genagelt würde.

Weißenberg hatte dem Freunde fortwährend seine Zustimmung zu erkennen gegeben, jetzt sagte er, wie einer, der seiner Sache zwar nicht sicher ist, den Kampf aber um keinen Preis aufgeben will, zu seiner Tochter:

»Siehst du, siehst du, das alles kommt von der Dichterei.«

[337] »Oder die Dichterei von alledem, und sie ist krank und faul, wie wir selbst,« versetzte Bertram.

Gertrud erhob den Kopf und lachte: »Sie scheinen zur Übertreibung geneigt, Herr Vogel.«

Sie hatte ihn angesprochen. Endlich! Er verneigte sich so freudig, als ob sie ihm die größte Schmeichelei gesagt hätte: »Ja, ganz gewiß! Ich übertreibe, ich bin übertrieben, im Treibhaus wird man übertrieben.«

Er wurde auf einmal ungeheuer vergnügt, faßte himmelhohe Hoffnungen und entwarf traumhaft schöne Zukunftspläne. Sein hitziger Ausfall von vorhin erschien ihm jetzt wie ein Bombenattentat auf die armen Damen. Er wollte ihn vergessen machen, wollte unterhalten, liebenswürdig sein, gefallen mit einem Wort. Es gelang ihm, er hatte davon eine bestimmte Empfindung und wurde immer heiterer und sprühte Geistesfunken, denen eine so zündende Kraft innewohnte, daß selbst Sieglinde, die seit dem heißen Guß, der über sie ergangen war, mehr einer gebadeten Maus als einer begeisterten Dichterin und stolzen Baronesse gleich gesehen hatte, sich zu einigen Witzchen [338] und Späßchen aufraffte, die belacht wurden. Ihre Eltern waren selig. Einen solchen Abend hatte man in Obositz nie erlebt.

Beim Gutenachtwünschen war Bertram noch voll Begeisterung. Er drückte beide Hände Weißenbergs, nannte ihn zum hundertsten Male seinen Wohlthäter und dankte ihm mit überströmendem Gefühl, er küßte die Hand der Baronin und die Sieglindens und hätte gar zu gern auch die Gertruds geküßt; er ging auf sie zu. Aber sie errieth seine Absicht und wich ihm aus, und so küßte er denn noch einmal die Hand der Baronin.

»Sie sind groß, Vogelweid,« sprach die edle Frau. »Nein, nein, depreziren Sie nicht, Sie sind groß ... Morgen um neun Uhr unter den Platanen. Dort erwarte ich Sie, Vogelweid,« setzte sie rasch und mit leisem Flehen hinzu.

XIII.

Wenn das nicht ein Stelldichein war, dann hatte Bertram sein Lebtag keines gehabt. Was sie nur von ihm wollte, diese Frau? Wie sie ihm die [339] Nerven angriff mit ihrem ewigen Gewisper: »Ich muß Sie sprechen, bleiben Sie bei mir.« In welch ein Wespennest war er gerathen! Blind hätte er sein müssen, um nicht zu sehen, daß die beiden jungen Damen, als er gegen die Vielschreiberei wetterte, Butter auf dem Kopfe gehabt hatten. So trug denn auch sie, der sein Herz zujauchzte, im Geheimen blaue Strümpfe .... Auch sie, wie merkwürdig! An ihr kam die »Naturerscheinung« ihm nicht so widrig vor wie an anderen, er – konnte sich Gertrud mit der Feder in der Hand denken, ohne daß der alte Raubvogel sich in ihm regte. O wie liebte er sie schon! Liebte sie bis zum Verleugnen seines tiefst eingewurzelten Vorurtheils!

In seinem Zimmer angelangt, setzte er sich an den Tisch. Zur Arbeit, zur verpönten! Er riß die schneeweiße Umhüllung von dem Buche, das Sieglinde ihm geschickt hatte. Ein prachtvoller Einband kam zum Vorschein, vergoldete Beschläge, Monogramm, Freiherrnkrone.

Auf der ersten Seite begrüßte den Leser das in moderner Steilschrift hingemalte Motto. Wo [340] mochte Sieglinde die Verse aufgestöbert haben? Sie kamen Bertram nicht ganz unbekannt vor:

Wenn einst durch ein centralisch Feuer Dieser große Planet zerspringt, Sitzt noch der Dichter mit der Leier Auf dem letzten Stein und singt.

Mit ihm um die Wette sang die Dichterin von Obositz und besang ihren Gesang und schrieb gewissenhaft unter jedes ihrer Lieder, wann und wo es gesungen worden war. »Am Neujahrstage, in der Kaffeeküche,« »Am 10. März, im Gemüsegarten,« »Am 9. April, um sechs Uhr früh, im Bette;« und an allen diesen Orten hatte Sieglinde zur Harfe gesungen. Aber Bertram wollte während seines Erdenwallens von Harfen nichts mehr hören; er blätterte weiter in dem schönen Buche und stieß auf eine Leier (o je – eine alte Bekannte!), die gestimmt wurde. Auf Seite 7 zu einer hohen, himmlischen, auf Seite 8 zu einer ordinären, häuslichen Feier. Da hatte er genug. Ernstlich prüfen – diese Lyrik? Anker werfen in einem Lavoir! Warum nicht gar!

Er riß Hagens dickes und schmutziges Manuskript [341] an sich. Die Schrift fuselig und liederlich; Form und Inhalt genau so, wie Bertram sie erwartet hatte. Mit Widerwillen las er eine Weile und fluchte dabei halblaut: »Hysterischer Schweinigl!«

Auf einmal fuhr er zusammen. An der Thür hatte es geklopft. Wer ist’s? Ein Todesschrecken lief ihm durch die Glieder. Wär’s denkbar? – Er hielt den Athem an, er hatte Lust, die Lampe auszulöschen. Es klopfte wieder, laut und kräftig.

»Ich schlafe schon,« schrie er außer sich.

»Spaßvogel,« antwortete eine wohlbekannte, o Wonne, o Glück! eine männliche Stimme. Er sprang auf, er öffnete die Thür vor dem Freunde.

»Warum sperrst du dich denn ein wie eine Komteß?« fragte der. »Hast du denn kein Vertrauen zu unserm Burgfrieden?« Er hatte eine geheimnißvoll sieghafte Miene und trug ein großes, viereckiges Paket unter dem Arme. Damit schlug er auf den Tisch, daß es einen Knall gab, wie von einer schnalzenden Kinderklatsche.

»Um Gottes willen,« sprach Bertram, »das ist Papier!«

[342] »Ja,« sagte Hugo und setzte sich. »Ich bin nicht zu Ende mit den Überraschungen, die größte stand dir noch ins Haus, da ist sie. Noch einmal wurde das Paket mit beiden Händen ergriffen und damit auf den Tisch geschlagen, daß es noch lauter knallte:

»Ich habe ein Lustspiel geschrieben.«

»Du?«

»Ich und kein anderer! Dir zu Lieb’ und Ehr’. Du schreist ja beständig nach einem Männerstück, einem Lustspiel nur für uns Männer. Da ist eins. Da hast du’s. Zum Kuckuck, das wird dir stark genug sein.«

Bertram brachte kein Wort hervor. Er saß da mit weit aufgerissenen Augen und betrachtete den Freund, wie er den alten, bis zur Decke reichenden Schrank dort an der Wand, mit seinen armdicken, gewundenen Säulen betrachtet haben würde, wenn der sich plötzlich auf die Kanten seiner plumpen Füße gestellt und angefangen hätte, zu tanzen und zu pirouettiren.

»Du staunst,« rief Weißenberg. »Das hättest du mir nicht zugetraut. Nun – ich mir selbst [343] nicht. Jetzt schau nur, daß sie mir’s auch aufführen am Burgtheater ... Um den Erfolg ist mir nicht bange. Ich weiß nur nicht« – er fuhr mit der Hand etwas rathlos über seine Glatze, »ob ich mich entschließen werde, herauszukommen, wenn sie mich rufen.«

»Wir haben jedenfalls noch Zeit, darüber nachzudenken.«

»Die haben wir. Jetzt heißt’s vor allem andern: Schweigen, Schweigen wie das Grab. Du schwörst? – Gut. Begreifst ja, meine Frau, meine Kinder dürfen keine Ahnung haben, daß ich etwas so Starkes ...« Er unterbrach sich und streichelte liebevoll sein Manuskript.

»‘Don Juan am Lande’ heißt’s.«

»Am Lande. So?«

»König Lear, Hamlet, Romeo und Julia auf dem Dorfe haben wir. Jetzt kommt ein Don Juan dazu. Das ist ein Kerl!« Weißenberg schmunzelte schon beim Vorlesen des Personenverzeichnisses und schüttelte sich vor Lachen, als sein Held im ersten Auftritt drei betrogene Ehemänner durchprügelte.

Bertram bemühte sich, wenigstens die Caricatur [344] eines Lächelns hervorzubringen und sagte: »Was du für lustige Einfälle hast – es ist zum Weinen.« Und als der erste Aufzug schloß, ermannte er sich zu dem tiefsinnigen Ausspruch: »Das war also der erste Akt.«

Weißenberg hatte eine kleine Anwandlung von Verlegenheit: »Gieb acht, jetzt kommt der zweite.«

Vogel bog sich zurück im Fauteuil, hielt die Lehne fest und hob die Augen zur Decke, wie jemand, der entschlossen ist, eine Zahnoperation tapfer auszuhalten. Der »zweite« ging vorüber, und der Zuhörer wußte wieder nichts anderes zu sagen als:

»Das war also der zweite Akt.«

Hugo war etwas zaghaft geworden: »Nun, wie findest du’s?«

Der Kritiker kämpfte einen schweren Kampf. Sein feines, blasses Gesicht hatte einen schmerzlichen Ausdruck. Das nervöse Zucken, das seit der Abreise von Wien verschwunden war, stellte sich wieder ein.

»Wie findest du’s?« fragte Weißenberg abermals und Bertram ergriff beide Hände des Freundes, drückte sie unendlich liebevoll und sprach aus der Fülle der Überzeugung:

[345] »Niederträchtig!«

Die großen Hände, die er mit den seinen vergeblich zu umklammern suchte, entzogen sich ihm. Das war alles. Von den Lippen des Freundes kam kein Laut. Nach einer Weile erst wagte Bertram ihn anzusehen und wandte die Augen sogleich wieder ab, der Anblick that ihm zu weh. Sein Recensentenamt mußte aber dennoch gewissenhaft ausgeübt werden.

»Dein Stück ist roh und unsittlich,« sprach er, »das Gegentheil von allem, was du selbst bist. Einen besseren Beweis dafür, daß du gar kein Talent hast, giebt es nicht. Unser Talent ist der Ausfluß unseres ureigensten Wesens, ist sein tiefster und höchster Ausdruck.«

»Talent? Lieber Gott,« murmelte Hugo eingeschüchtert. »Ich mache ja gar keinen Anspruch auf so was.«

»O, wenn du mir weniger lieb wärst, wenn ich dich weniger schätzte und verehrte, ich würde mich nicht verpflichtet fühlen, dir die Wahrheit zu sagen und damit dir und mir weh zu thun!«

Das war keine Phrase. Mit Schmerz sah [346] der Delinquent, daß sein Richter mehr litt als er: »Weh thun, was dir einfällt!«

»Flunkere nicht. Es thut immer weh, wenn einem eine Hoffnung zerstört wird.«

»Lächerlich – einem Ökonomen. Dem werden ganz andere Hoffnungen zerstört, und er muß sich’s gefallen lassen.«

Bertram rückte ganz nahe zu ihm heran und sprach im Tone einer Mutter, die ihr Kind ermahnt, es zugleich aber zu trösten sucht über die Ermahnung: »Das Stück ist nicht einmal ganz von dir. Du hast – Ehrlichster der Ehrlichen – du hast gestohlen – was für ein gottverfluchtes Ding ist doch die Litteratur, wozu verleitet sie! Du hast für dein Lustspiel (es paßt hinein wie ein junger Tiger in eine Bocksfamilie), eine ganze Scene aus der Macht der Finsterniß von Tolstoi gestohlen.«

Hugos mächtige Adlernase erglühte viel tiefer, als die Wangen seiner Tochter je erglühen konnten: »Merkt man das?« fragte er beschämt.

»Leider, oder sagen wir – zum Glücke! Ich freue mich, daß sich diese Sachen nicht in dir gestaltet haben; das ist kein Vergnügen, so gräßliches [347] zu ...« Er hielt inne und blickte dem Freunde tief in die Augen: »Du nimmst mir meine Aufrichtigkeit gewiß nicht übel?«

»Im Gegentheil, ich bin dir dankbar,« erwiderte Weißenberg ohne eine Spur von Groll, aber recht bekümmert. Er stand auf und packte mit der mechanischen Sorgfalt eines ordnungsliebenden Mannes sein Manuskript wieder in den Umschlagbogen. – Dem ist jetzt, als ob er einen lieben Todten ins Bahrtuch hüllen würde, dachte Bertram und wurde schwach:

»Laß es da,« sagte er, »vielleicht macht sich’s gegen das Ende besser.«

»Nein, da gerad’ nicht. Das Ende geht mir nicht recht zusammen. Ich habe mich aufs Vorlesen verlassen und gemeint, dabei fällt mir noch allerlei ein. Statt dessen ist mir aber allerlei herausgefallen. Merkwürdige Sache das, mit dem Vorlesen. Die eigne Stimme schon übt Kritik. Na,« seufzte er voll Resignation, »ich hab’ mich halt blamiert. Versprich mir noch einmal: kein Wort davon gegen irgendwen. Es ist eine Dummheit, aber ich bitte dich – versprich mir’s.«

[348] »Wie kannst du glauben?« rief Bertram mit zärtlichem Vorwurf.

»Versprich’s doch –«

»Ich versprech’s.«

»Du wirst nicht einmal dran denken, es vergessen.«

»O wie gern!«

»Dank’ dir. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Er ging, und Bertram wischte sich die Stirn, auf der die hellen Schweißtropfen perlten. Das war ein Stück Arbeit, das er da vollbracht, indem er dem Freund, dem Wohlthäter erbarmungslos seine Meinung gesagt hatte.

An der Thür hielt Weißenberg an, kehrte um und blieb zwei Schritte vor Bertram stehen: »Noch einmal ehrlich,« sprach er, »Mann gegen Mann, bin ich in deinen Augen gesunken?«

»Gesunken? Du? Nie höher gestanden, Mensch ohne Eitelkeit, guter, lieber Alter!«

[349]XIV.

Als Bertram am nächsten Morgen erwachte, schlug die Schloßuhr acht, und Simon trat zum zweitenmal ins Zimmer. Er war schon vor einer halben Stunde dagewesen und hatte den Herrn Doktor noch fest und süß schlafend gefunden. Hatte der Herr Doktor das »Schpektakel« gehört in der Nacht? das Horn des Feuerwächters, das Gerassel der Spritzen und Wasserwagen, das Geschrei der Leute? Mit der Überlegenheit eines Menschen, der etwas erlebt hat, während der andere ruhig im Bette lag, erzählte Simon, daß ein großes Feuer gewesen war. Der entlassene Ochsenknecht, der schlechte Kerl, hatte es gelegt. Ein Meierhof war abgebrannt, die Mutter des Schaffers und sein kleinstes Kind wären bei einem Haar mit verbrannt. Aber der Herr Baron hat sie mit eigener Lebensgefahr gerettet.

Bertram war aufgesprungen, hatte hastig einige Kleidungsstücke angethan und wollte auf und davon – zum Freunde, zum Feuer.

»Der Herr Baron sind aber wieder da und [350] schlafen jetzt, und Feuer ist keins mehr,« sagte Simon innerlichst zufrieden mit dem Effekt, den er hervorgebracht hatte. Er redete Bertram zu, Toilette zu machen und zu frühstücken, und Bertram übergoß sich mit kaltem Wasser und rief:

»Mein Freund im Feuer, mein Freund in den Flammen, und ich lieg’ da und schnarche. O Simon, Simon! warum haben Sie mich nicht geweckt!«

Wecken? Jekerle, wo hätte Simon die Zeit dazu hergenommen? Er war ein paarmal in der Nacht zur Brandstätte gelaufen, der Frau Baronin Nachricht zu bringen, die bei ihrem Sohne wachte und in großer Angst gewesen ist um Hagen, weil er fieberte, und um den Herrn Baron, weil sie schon weiß, wie der ist, wenn’s brennt.

»Tummeln sich, bitte,« schloß er, »die gnädige Frau Baronin haben grad wieder nach Herrn Doktor gefragt und warten auf ihn im Garten.«

Das Stelldichein gab sie also nicht auf, die Unselige! Ein Verbrechen war begangen, es war Feuer gelegt worden. Ihr Sohn hatte Fieber gehabt, ihr Mann in Lebensgefahr geschwebt, ihres Stelldicheins vergaß sie über alledem nicht!

[351] O Weiber! Weiber! – Mächtig ergriff ihn Schopenhauersche Indignation gegen das treubrüchige, breithüftige, leichthirnige Geschlecht.

Sie wünschen ein Rendezvous, Madame? Sie sollen es haben!

Mit schroff ablehnender Miene erschien er eine Viertelstunde später unter den Platanen. Baronin Weißenberg erwartete ihn. Sie trug ein Morgenkleid aus Battist mit Spitzen und Stickereien und hellgrauen Schleifen. Auf ihren etwas altmodisch, aber hübsch frisirten Haaren saß ein allerliebstes Häubchen. Ihre Gesichtsfarbe war wie gewöhnlich frisch und rosig, aber ihre Augen hatten etwas Verschleiertes, sie schien geweint zu haben.

Bertram begrüßte sie und fing sogleich an vom Feuer zu reden, in so barschem Tone, als ob sie es gelegt hätte. Die arme Frau war ganz eingeschüchtert, und ihr Mund verzog sich krampfhaft.

»Hugo hat keinen Schaden genommen, dem Himmel sei Dank. Er exponirt sich bei solchen Gelegenheiten immer entsetzlich. Alles Lebendige ist gerettet, und das Gebäude war versichert,« sagte sie und blickte hülflos und wie suchend umher. [352] »Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein.«

»Da haben Sie wohl recht, assekurirt muß man sein, und ich leichtsinniger Thor habe noch nicht gefragt, ob diese so nothwendige Maßregel in Vogelhaus getroffen wurde,« rief Bertram. »Entschuldigen Sie, wenn ich keinen Augenblick länger zögere, mir Gewißheit darüber zu verschaffen.« Er stand auf.

»O Vogelweid, wie grausam Sie sind! Ja, ja, das ist Grausamkeit!« wiederholte die Baronin und lehnte sich völlig gebrochen an die Gartenbank: »Sie müssen doch ahnen – ein Mann wie Sie!... Und statt mir mein schweres Geständniß zu erleichtern – ein Geständniß, das zu thun so beschämend« ...

»Wie wär’s, wenn Sie sich’s ersparten?« fragte Bertram kalt und spöttisch.

»Gut wär’s, wenn ich’s könnte, aber ich kann nicht. Ich bin zu Ende mit meiner moralischen Kraft ... In drei Nächten kein Auge geschlossen. Heute die dritte Nacht, die schrecklichste von allen. Mein Sohn im Fieber, mein Mann im Feuer, ich [353] in Höllenqualen ... O Vogelweid, ich rufe Ihre Hülfe an. Schwören Sie mir, daß Sie mein Vertrauen nicht mißbrauchen werden.«

»Wozu schwören, was sich von selbst versteht?« erwiderte er; aber sie gab nicht nach.

»Ihre Hand darauf!« und sie reichte ihm ihre Rechte hin, ihre schöngeformte weiße Rechte, die er drückte und bewundern mußte, obwohl ihm graute und er sich vorkam wie ein Zolascher Held.

»Zuerst, was mich zum Theil wenigstens, entschuldigt,« sagte Bertha hastig und beklommen. »Ich habe Phantasie –«

»Seit wann?«

»Ich werde sie wohl immer gehabt haben, ich bemerkte es nur nicht. Ich bin jetzt so allein. Hagen ist auf dem Gymnasium, Lindchen lernt oder dichtet, die Poesie ist eine einsame Kunst. Meinen Mann sehe ich oft wochenlang nur bei den Mahlzeiten. Das giebt dem besten ehelichen Verhältniß einen gewissen Anstrich, ich möchte ihn einen prosaischen Anstrich nennen. Ich habe doch auch poetische Bedürfnisse.«

»Seit wann?«

[354] »Seitdem ich mehr lese –«

»Da haben wir wieder die verfluchte Litteratur!« murmelte Bertram.

»Und wenn man viel liest und wenn man viel allein ist und wenn man Phantasie hat, träumt man und bildet sich allmählich ein Ideal, ein Urbild alles Schönen, alles Vollkommenen. – Man giebt diesem Urbild einen Namen und versetzt ihn in bestimmte Verhältnisse – und sich an seine Seite – und – was dann vorgeht, malt man sich aus –«

»Aha!« Die Brauen Bertrams zogen sich dräuend zusammen, und er kreuzte die Arme über der Brust.

Die Baronin zitterte: »O wie unerbittlich Sie aussehen, Vogelweid. Mitleid! Mitleid! Ich habe es zu Papier gebracht. Erbarmen Sie sich, ich habe einen Roman geschrieben.«

»Einen Roman haben Sie geschrieben?« Er athmete, er jubelte auf. Ihm war zu Muthe wie dem treuen Heinrich, als die Eisenringe, die ihn umpanzert hatten, sprangen. »Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu küssen,« bat er und that es [355] stürmisch: »Sie Wunderbare! Nie hätte ich’s für möglich gehalten, daß ich in Entzücken gerathen könnte, weil eine Dame einen Roman geschrieben hat!«

Bertha lächelte wehmüthig und blieb beklommen. »Entweder überschätzen Sie meine Leistung, oder andere unterschätzen sie. (Als sie das sagte, dachte sie selbst: Ich spreche gut.) Mein Manuskript erfuhr manche Zurückweisung. Es gelangte zuerst an die Redaktion der ‘Neuen Freien Presse.’«

»Es gelangte – das heißt, daß Sie es hingeschickt haben.«

»Nun ja, mit einem sehr, sehr höflichen, ich darf sagen, einem demüthigen Brief.«

»Wehe!« sprach Bertram.

»Nach einiger Zeit kam meine Sendung zurück. Die Herren schrieben, daß sie für drei Jahre mit Romanen versorgt seien. Nun wandte ich mich an die ‘Alte Presse’, an die Tageblätter – dieselbe Antwort. Alle diese Zeitschriften haben Romanvorrath für drei Jahre. Ach! es wird doch viel geschrieben!«

»Das wäre nicht so schlimm,« versetzte Vogel, [356] »schlimmer ist, daß das Geschriebene ein Gedrucktes werden will ... O, Frau Baronin, sehen Sie, ich an Ihrer Stelle würde eine leuchtende Ausnahme machen; ich ließe nichts drucken – just nicht.«

»Wenn es noch in meiner Macht stände, Freund! Aber ich bin schändlich hintergangen worden. Just Carolus ...«

Bertram schrie auf: »Just Carolus? Wie kommen Sie zu dem?«

»Er annoncirte vor einem halben Jahre die Gründung einer neuen Zeitschrift, lud zur Einsendung von Beiträgen und ...«

»Und besonders zum Abonnement ein.«

»Ganz recht. Ich schrieb, ich sandte meinen Roman und erhielt einen Brief. Vogelweid, ich bin eine glückliche Frau, aber der Tag, an dem dieser Brief kam, war doch einer der schönsten meines schönen Lebens, ein Ausbruch der Bewunderung der ganze Brief. Carolus stellte mich in eine Reihe mit Heyse, Keller und Meyer. Ihr Manuskript, schrieb er, ist von der Lesekomission einstimmig angenommen worden.«

[357] »Aus dem einfachsten aller Gründe – sie hatte nur eine Stimme.«

»Er wollte seinen ersten Jahrgang mit mir eröffnen. Mein Herz quoll über, ich antwortete in Ausdrücken, ich bekenne Ihnen alles, Vogelweid, es werden wohl überschwängliche Ausdrücke gewesen sein. Nach so bitteren Enttäuschungen ein solcher Erfolg. Carolus steht im Kürschner an der Spitze einer langen Reihe von Werken. Ich verehrte ihn, ich pries ihn, er ragte als Halbgott in meinem Herzen.«

»Ja, das ist so! Es schmeichle einer nur unserer Autoreneitelkeit, und wir sind zu jeder Selbsterniedrigung bereit. Baronin, daß Sie in diese Falle gingen!«

»Richten Sie nicht, Vogelweid, helfen Sie. Ich bin in einer furchtbaren Klemme. Er bat um meine Photographie, ich schickte sie ihm mit einer Widmung .... und dann, denken Sie, nannte er mich: Erhabene Schloßfrau, angebetete Herrin.«

»Sie haben ihm gewiß auf dem schönen Briefpapier geschrieben, mit der in Gold geprägten Aufschrift: [358] Schloß Obositz, und der wehenden Fahne mit dem Doppelwappen.«

»Mein Gott, ja. Und nun hält er mich für eine Millionärin, spricht von den Kosten, die das Gründen einer Zeitschrift verursacht, und ich soll eine Aktie zu zehntausend Gulden nehmen. Und ich habe nur ein ganz kleines Vermögen, das Hugo verwaltet. Ich konnte das Geld nicht geben, ich mußte es gestehen. Seitdem hat Carolus den Ton geändert, er schmeichelt nicht mehr, er droht ... Womit am Ärgsten? Mit der Veröffentlichung meines Romans! Damit, behauptet er, macht er mich lächerlich vor der ganzen Welt. Er droht auch, meinem Manne meine Photographie mit jener Widmung und meine Briefe – Liebesbriefe nennt er sie – zu schicken. Das sind sie nicht, aber – o, ich bin sehr schuldig! – ich sprach von ungestillter Sehnsucht nach regerem Geistesleben, – von Seeleneinsamkeit. Ich weiß nicht, wessen Hugo fähig wäre, wenn er erführe, daß ich mich an seiner geliebten Seite seeleneinsam gefühlt habe ... Mir schaudert, und ich zittere um den Frieden meiner Ehe ... Ach, Vogelweid! und soeben brachte man [359] mir ein Telegramm auf Hagens Zimmer. Ich habe es noch nicht eröffnet. Eine furchtbare Ahnung sagt mir: es ist von Carolus und enthält mein Schicksal. Himmel, warum mußte ich an einen so elenden Menschen gerathen!«

»Das eben ist Ihr Glück im Unglück, beruhigen Sie sich, Baronin. Ich rette Sie, ich habe den Mann in der Hand. Einige meiner Kollegen und ich sind vor Jahren durch ihn arg geschädigt worden, und wir haben uns vor seinen Schlichen sicher gestellt. In einem gewissen eisernen Schrank bei einem gewissen Advokaten sind Beweise gegen ihn deponirt, die ihn jeden Augenblick ins Kriminal bringen können. Daran will ich ihn erinnern und die Herausgabe Ihres Eigenthums verlangen.« Er seufzte tief und schwer: »Ich will ihm schreiben.«

»O Vogelweid, wie dank’ ich Ihnen! Aber lesen Sie zuerst das Telegramm.«

Bertram öffnete das gefaltete Blatt, warf einen Blick hinein und sprang auf: »Nein,« rief er, »nicht schreiben, handeln! Da ist keine Zeit zu verlieren, er will mit dem Zwölfuhrzug kommen, [360] ich geh, ich reite,« steigerte er sich, »ihm entgegen, fang’ ihn auf auf der Station.«

»Kommen? Hierher?« Die große, starke Frau stammelte, erbleichte, ihre Augen wurden starr, sie rang mit einer Ohnmacht. Bertram ermahnte mit Energie:

»Muth, Baronin. Nehmen Sie sich zusammen. Sie dürfen jetzt nicht ohnmächtig werden. Erstens ist es nicht mehr modern, und zweitens müssen auch Sie jetzt handeln.« Er erhob die Arme, seine Hände ballten, seine Brust erweiterte sich: »Knapp’, sattle mir mein Dänenroß. Geben Sie Befehl, Frau Baronin, daß die Kuh vorgeführt werde. Ich will Ihr Ritter sein, ich fühle das ganze Mittelalter in meiner Faust.«

XV.

Bertram lief ins Schloß, um seine Morgenschuhe mit Reitstiefeln zu vertauschen, bei einem Haar hätte er Sporen angeschnallt. In den Sattel stieg er nicht, sondern schwang er sich und ergriff die Zügel mit solcher Entschlossenheit, daß die [361] Kuh die Ohren spitzte. Aber das imponierte ihm mit nichten. Spitze du, dachte er, ich sitz’ das aus. Hier bin ich Mann und nicht Schreiber. Munter und kühn trabte er vorwärts und traf eine Viertelstunde vor dem Zuge auf der Station ein. Die Kuh war dort eine bekannte Persönlichkeit. Sie wurde bei besonderen Anlässen, dem Aufgeben und in Empfang nehmen von Geldbriefen und dergleichen vom Postboten herübergeritten, und während der seine Gänge besorgte, in den Schuppen eingestellt.

Das geschah auch heute auf die freundliche Einladung des Herrn Expeditors, sie erhielt Gastfreundschaft für den Nachmittag, und Bertram ließ ihr zur Unterhaltung ein Bündel Heu vorsetzen. Dann trat er an den Schalter mit großartiger Ruhe – er war freilich der einzige Passagier – und löste zwei Billete erster Klasse, eines zur nächsten Station, eines nach Trzebinia, begab sich auf den Perron und erwartete den Zug. Ein paar Träger schlotterten daher, vorahnend, daß es keine Beschäftigung für sie geben werde. Ein kleines Mädchen barfüßig und zerlumpt, mit verwilderten, [362] staubigen Haaren, brachte auf einem angebrochenen Teller schöne, schwarze Kirschen herbei. Jeder der Träger machte sich das Vergnügen ihr einige davon zu entreißen, und Bertram, der Landessprache unkundig, mußte zu dieser Brutalität schweigen. Aber auch schweigend vollbringt der Hochgemuthe eine rettende That. Er ging auf die Kleine zu, steckte ihr einen Gulden in die Hand, eine Kirsche zwischen die Zähne und wies mehrmals nacheinander von dem Inhalt des Tellers auf ihren Mund, und von dem Fleck, auf dem sie stand, nach dem Ausgang. Sie lachte, sie begriff, stopfte gleich ein halbes Dutzend der saftigen Früchte in den Mund und rannte davon.

Das Glockenzeichen wurde gegeben, majestätisch fuhr der Zug ein. Aus dem Fenster eines Coupés dritter Klasse neigte sich ein schwarzes Lockenhaupt, das ein riesiger Rembrandthut malerisch beschattete.

»Hierher, Schaffner! hierher!« rief eine dünne Stimme, und im nächsten Augenblick erglänzten auf den Stufen des Waggons ein Paar Lackstiefeletten, zwei kurze Beinchen hüpften zur Erde, blieben aber plötzlich steif und regungslos stehen:

[363] »Willkommen, Just Carolus!« sprach Bertram und lüftete den Hut. Der Rembrandt wurde einen halben Meter hoch über das Lockenhaupt gehoben.

»Sie, Herr Vogel, welche Überraschung.«

»Wir haben nur eine Minute Aufenthalt! steigen Sie wieder ein und wundern Sie sich später. Die Frau Baronin schickt mich Ihnen entgegen. Infolge eines Mißverständnisses wurde der Wagen aus Obositz nicht hierher, sondern zur nächsten Station dirigiert. Steigen Sie ein. In dieses, das nächste Coupée!«

»Erste Klasse, so? ach ja, das ist ja sehr aufmerksam von der Frau Baronin.«

»Sie haben Gepäck bei sich?«

»Diese Tasche.«

»Es ist doch alles drin, was Sie der Frau Baronin mitbringen wollten, ihre Briefe, ihre Photographie?«

»Woher wissen Sie ...«

»Fragen Sie nicht, steigen Sie ein!« befahl Bertram so kühl und gebieterisch, als ob er auf der Nordbahn zu Hause wäre und zu ihren Machthabern gehörte.

[364] In dem Coupé, in das er Carolus vorantreten hieß, hatte eine ältliche, sehr dicke Dame mit türkischem Gesichtstypus sich häuslich eingerichtet. Ihre Füße ruhten auf dem Sitze ihr gegenüber, der außerdem von einem wundervollen, grauen Affenpintscher eingenommen wurde. Neben ihr stand eine geöffnete Reisetoilette mit kostbarer Einrichtung, die verschiedensten Effekten, seidene Decken, Kissen, ein Vermeillebesteck, eine goldene Cigarettentasche, lagen auf den Wagenpolstern umher. Die Luft war etwas dumpf und mit Peau d’Espagne-Düften und denen des feinsten ägyptischen Rauchtabaks erfüllt.

Die Fremde warf den beiden Herren, die sich bescheiden in die Ecken neben dem Eingang gesetzt hatten, einen feindseligen Blick zu, der aber milder wurde, nachdem er Justs Lockenkopf gestreift, auf den er auch öfters und immer freundlicher wiederkehrte, bis er endlich wie gebannt auf ihm ruhen blieb.

Sollte das der berühmte französische coup de foudre sein? fragte sich Bertram.

Carolus aber war zu verwirrt, um den guten Eindruck, den er hervorbrachte, zu bemerken. Ihm [365] wurde bang und bänger in Vogels Nähe. Er war ihm draußen schon furchtbar gewesen, als er mit natürlicher Stimme zu ihm gesprochen hatte, jetzt fand er ihn doppelt furchtbar, als er sich zu ihm neigte und ihm leise zuflüsterte:

»Sie werden mir die Photographie und die Briefe, die Sie bei sich haben, sofort ausliefern, und dann werden Sie eine Vergnügungsfahrt unternehmen nach Trzebinia.«

»Warum nach Trzebinia?«

»Diese Gegend ist ohne Reize,« sprach die Dame, und statt Justs, an den sie sich gewendet hatte, erwiderte Bertram kurz abbrechend:

»Gänzlich.« Er setzte seinen Fuß mit Wucht auf das Füßchen des zierlichen Männleins, neigte sich vor und begann wieder im früheren Tone.

»Sie übergeben mir die Sachen, die ich verlange, auf der Stelle und schicken mir das Manuskript der Frau Baronin morgen nach Obositz oder« ...

»Oder was? Keine Drohung ... Ich bitte mir aus« – Carolus hauchte es nur; er hatte sich zurückgelehnt, seine Zähne klapperten. Die Mitreisende betrachtete ihn voll Erbarmen. Sie fand [366] ihn gar zu herzig in seinem sammtenen hellbraunen Künstlerflaus, in seinen taubengrauen Höschen, und unbeschreiblich rührend war ihr der Ausdruck der Qual in seinem interessanten Gesichtchen.

»Ihr Freund befindet sich schlecht,« sagte sie und reichte Bertram ein Riechfläschchen: »Bitte, lassen Sie ihn dieses athmen.«

»Athmen Sie,« rief Bertram, hielt dem bleichen Carolus mit einer Hand das Flacon unter die Nase und nahm mit der andern ein Päckchen in Empfang, das der Bedrängte aus der Brusttasche gezogen hatte. Die Herren führten ein kurzes Gespräch, das der Lärm des über eine Brücke hinrasselnden Zuges für ihre Gefährtin im Coupé unhörbar machte.

»Sie überfallen mich wie ein Straßenräuber.«

»Wie ein Straßenräuber, der über alle Errungenschaften der Kultur verfügt, ja. Wenn Sie mir das,« er spielte mit dem Päckchen, ließ es kreisen zwischen seinen Fingern, »nicht gutwillig anvertraut hätten, würde Ihrer irgendwo unterweges eine bescheidene Empfangsfeierlichkeit gewartet haben.«

[367] »In Trzebinia, meinen Sie. Als ob es mir nicht freistände, auszusteigen, wo ich will.«

»Unbemerkt nicht. Dafür wäre leicht gesorgt. Ein Passagier erster Klasse, mit Ihrem Äußern, so auffallend hübsch gekleidet, wie Sie immer sind. Ich bin Ihrer sicher, verlassen Sie den Train, wo es Ihnen beliebt; seien Sie nur gewiß morgen nachmittags wieder in Wien. Mein Advokat, den Sie ja kennen, wird den Auftrag haben, abends bei Ihnen anzufragen, ob das Paket abgeschickt ist.«

»Es wird abgeschickt sein,« knirschte Carolus. »Aber bei nächster Gelegenheit – machen Sie sich gefaßt.«

»Auf einen Vipernstich in die Ferse ist unsereins immer gefaßt – Sie fahren also bis Trzebinia, geehrter Freund,« sagte er laut, »und so benützen Sie wohl den nächsten Zug, der morgen um 7 Uhr 55 Minuten von dort abgeht, zur Rückkehr nach Wien?«

»Nach Wien?« mischte die Dame sich ins Gespräch. »Ich komme von dort, eine charmante, kleine Stadt, dieses Wien.«

[368] »Und, gnädige Frau,« fragte Bertram, »sind auf dem Wege nach?« –

»Nach Hotin.«

»In Bessarabien?«

»Meine Güter sind in der Nähe.«

»Güter in Bessarabien?« Carolus machte eine rasche Schwenkung auf seinem Sitze und sandte einen Blick voll heißer Sympathie zu der Reisenden hinüber. Sie hatte die Zeit der Reife längst überschritten, und sie hatte sehr schwellende Formen, aber sie hatte eine goldene Cigarettentasche und Ringe von unermeßlichem Werthe und eine mit Diamanten besetzte Uhr, und sie kam, wie er bald erfuhr, aus England, wo sie eine Saloneinrichtung für ihr Schloß gekauft hatte, und auch den schönen Affenpintscher. Für fünfzig Pfund – ein Bettel; hundert waren ihr schon für das Prachtthierchen geboten worden.

Das Gespräch zwischen Carolus und der Bessarabierin belebte sich immer mehr. Sie nannten einander ihre Namen. Der ihre war ihm unaussprechbar, der seine entzückte sie. Just Carolus. Wie das klang! wie mild und fest, wie edel und gelehrt. [369] Er war gewiß ein Gelehrter. Ihr verstorbener Gatte, der Bojar, wäre auch gern ein Gelehrter gewesen, aber die Verwaltung seiner Besitzungen gab ihm viel zu thun, er konnte sich seiner Liebhaberei nicht widmen.

Verstorben der Gatte! O seliger Bojar, Wohlthäter! Carolus pries sein Andenken. Er bezeigte der Dame tiefste Theilnahme und hoffte nur, daß ihr daheim, zu ihrem Troste, liebliche Kinder blühten ...

Aber nein, sie war kinderlos und stand einsam und trotz einiger Glücksgüter, mit denen der Himmel sie gesegnet hatte, doch recht arm in der Welt.

Die langen Wimpern Justs, seine größte Schönheit, senkten sich und verschleierten seine habgierigen Augen. Er seufzte tief, und auch die Wittwe seufzte.

Der Schaffner kam, war mürrisch, entschuldigte sich bei der gnädigen Frau. Er hatte die Herren nicht einsteigen gesehen, er würde ihnen sonst andere Plätze angewiesen haben.

Auch Bertram entschuldigte sich und nahm zugleich Abschied. Er stellte der Reisegefährtin ihr [370] Flacon zurück und reichte Just sein Fahrbillet. Mit Mißvergnügen entdeckte dieser, als er es in die Brusttasche steckte, daß er nur große Banknoten bei sich habe. Am Schalter wechselt man so ungern.

»Sie können mir,« sagte er nachlässig, »dreißig Gulden zur Rückreise vorstrecken, Vogel.«

»Verdammter Kerl,« fluchte Bertram im Stillen und suchte in seinem Geldtäschchen: »Kann ich? Da sind fünfzehn. Sie werden gegen Ihre Gewohnheit zweiter Klasse fahren müssen.«

Die Bojarin erschrak. Zweiter Klasse durfte nicht einmal ihre Kammerjungfer mehr fahren. Ein deutscher Baron hatte ihr dort einen Heirathsantrag gemacht. In die Gefahr, meinte Bertram, werde Carolus nicht kommen, aber die liebenswürdige Wittwe bestand darauf, ihm für alle Fälle aus der Verlegenheit zu helfen.

»Mein Diener kommt auf jeder Station meine Befehle holen,« sagte sie. »Er führt die Kasse, er wird die Banknote Herrn Justs Carolus wechseln.«

Der Zug hielt. Bertram betrat die Plattform im Augenblick, in dem ein großer, bärtiger Russe im Nationalkostüm die Stufen heraufstieg. Er hatte [371] eine wohlgefüllte Geldkatze umhängen und trat mit der Mütze in der Hand an die Thür des Coupés.

Nun gilt’s dein Meisterstück, Just Carolus, dachte Vogel, finde Mittel, die kleinen Banknoten einzustecken und die Abwesenheit der großen zu erklären.

XVI.

Bertram ging auf der Landstraße den selben Weg zurück, den er eben mit der Eisenbahn vorwärts gebraust war. Eine echt mährische Gegend. Der Gebirgszug, der in der Ferne blaute, mit stumpfen Höhen gekrönt, goldig schimmernde Felder und üppige Wiesen, soweit das Auge reichte, Pflaumenbäume mit Früchten überladen, kräftiges Weideland, auf dem schöne Rinder grasten und in der Nähe jeder menschlichen Ansiedlung helle, laute Scharen des mährischen Schwans, des Hausthiers ohne Furcht und Tadel, der glorreichen Gans. Auf einen Tiger würde sie losfahren, mit aggressiv vorgestrecktem Halse, mit zornig wackelndem Schwanze. Das härteste Schicksal trifft sie, beugt [372] sie aber nicht. Jahr für Jahr erbarmungslos gerupft, ihres zarten Flaums beraubt, erhebt sie sich aus den Händen ihrer Peiniger und flattert mit blutendem Flügel und hinkt mit verstauchtem Fuß wund und nackt ebenso stolz, wie ehedem in blühender Gesundheit und prangendem Gefieder.

Und die Dorfleute, die nicht nur gegen dieses, sondern gegen jedes Thier die naivste Grausamkeit ausüben, sind beinahe durchwegs gutmüthig und haben eine freundliche Würde und eine angeborene Höflichkeit in ihrem Benehmen. Fast alle, denen Bertram begegnete, grüßten ihn, er dankte aufs freundlichste, nahm sich vor, die Landessprache eifrig zu studieren und träumte von künftiger Popularität. Dann dachte er an das Duett, das jetzt im Waggon, den er verlassen hatte, gesungen werden dürfte, klopfte lachend auf das in seiner Brusttasche untergebrachte Päckchen, und sang nach der ins Heitere übersetzten Melodie von: Der gute Kamerad:

»Was immer auch daraus entsteh’, Ich hab’ eine That gethan, Juchhe! Eine bessere find’st du nit, Juchhe!«

[373] So lustig ging’s eine Weile fort, dann begann ihm sehr heiß zu werden. Die Sonne brannte – wie glühende Liebe! rief er laut. Ich liebe dich, o Mädchen – du Königliche! Ich kenne dich kaum und kenne dich doch. Du imponierst mir, und ich fühle mich doch zu deinem Beschützer berufen.

Die Hitze wurde drückend, einige Müdigkeit stellte sich ein, aber seltsam – ging’s nicht zu wie im Märchen? im Augenblick, in dem er sich das zum Bewußtsein brachte, wurde er von einem raschen Gefährt ereilt, das plötzlich neben ihm anhielt:

»Wohin, Herr Vogelweid?« ertönte vom Kutschbock herunter die Stimme Gerhart des Retters.

»Zur Station, Herr Graf.«

»Da bringe ich Sie hin. Kommen Sie.«

So las er ihn zum zweitenmal von der Straße auf: »Sie machen aber sehr weite Spaziergänge,« sagte er. »Mir scheint, daß Sie es schon nöthig haben, sich von der durchaus nicht litteraturfreien Atmosphäre in Obositz zu erholen. Ja, der Zug der Zeit. Uns hat er noch nicht ergriffen.«

»Sie sind ihm entronnen. Sie gehören gewiß [374] zu den wahrhaft, den vom Buche zum Leben Vorgeschrittenen.«

»O, ich bitte, wir haben uns vom Buche durchaus nicht ganz emancipiert. Meine Frau liest sogar recht viel und auch ernste Sachen.«

Wenn er sagte: »Meine Frau,« nahm seine Stimme einen ganz eigen lieben Ausdruck an, und ein schönes Leuchten brach aus seinen dunkeln Augen. »Meine Frau,« Zärtlichkeit und Ehrfurcht, freudige und stolze Liebe verkündete sich dabei unwillkürlich und unbewußt in seinem Blicke. Heil dir, dachte Bertram, du braver Mensch bist auch ein glücklicher Mensch:

»Das Fräulein Gertrud von Weißenberg,« sprach er plötzlich, »hat große Ähnlichkeit mit Ihrer Frau Gemahlin.«

»Das wäre mir nie aufgefallen.«

»Groß, wenn auch nicht so groß, schlank, wenn auch nicht so schlank ... und das Gesicht« ..

»Nun ja, ein Gesicht hat jede. Was aber die Ähnlichkeit betrifft« ...

»Sie liegt in dem Eindruck, den die ganze Erscheinung hervorbringt. Edelste Anspruchlosigkeit, [375] die schönste Ruhe, die vollkommenste Natürlichkeit ist beiden Damen eigen.« Er schwieg eine Weile und sagte dann nachdenklich: »Wie sich wohl die Zukunft des Fräuleins gestalten wird?«

»Nicht besonders heiter.«

»Warum? warum sollte sich das Fräulein nicht glücklich verheirathen?«

»Weil wir vor lauter Geldgier dumm geworden sind, wir Männer; wer heirathet heutzutage ein armes Mädchen?«

»Ich wüßt’ wohl einen, der sich selig preisen würde« ... platzte Bertram heraus. Hätt’ er doch geschwiegen! Der Graf sah ihn von der Seite unangenehm fragend in einer Weise an, die ihn verwirrte, er bereute gesprochen zu haben und – redete weiter: »Sie glauben also nicht, daß sie ihn nehmen würde?«

»Ich glaube nicht.«

»Also nicht.« – Er war so bestürzt, daß der Graf ihn besorgt fragte:

»Was ist Ihnen?«

Die Antwort blieb aus, und im nächsten Augenblick wurde die Aufmerksamkeit beider durch [376] ein wildes Schreien und Fluchen, das sich in der Ferne hören ließ, in Anspruch genommen. Gerhart gab den Pferden die Zügel und fuhr die jetzt ziemlich steil ansteigende Straße rasch hinauf. Inmitten der Anhöhe sah man ein mit Brettern beladenes Fuhrwerk halten, dem zwei armselige, alte Mähren vorgespannt waren. Unfähig, ihre schwere Last weiter zu schleppen, hatten sie ihr nachgegeben und den Wagen in ein Rinnsal gleiten lassen, in dem er nun quer über dem Wege stand. Der Lenker des unglücklichen Gespanns schlug drein in sinnloser Wuth mit dem Peitschenstiel, den Fäusten, den Stiefelabsätzen, und die Gäule senkten ihre Köpfe zur Erde, rührten sich nicht mehr, ließen die Mißhandlungen ihres Peinigers in stumpfer Verzweiflung über sich ergehen.

Gerhart hielt knapp bei ihnen an. Er war dunkelroth und biß die Zähne zusammen: »Entschuldigen Sie einen Moment, Herr Vogel,« sagte er und winkte seinem Kutscher, der sofort absprang. Er schien zu wissen, um was es sich handelte, und schob einen Stein hinter eines der Wagenräder. Auch Gerhart sprang ab, ging mit drohenden [377] Worten auf den Fuhrmann zu, entriß ihm die Peitsche und schleuderte sie zur Erde. Einen Augenblick war’s, als wolle der Mensch sich zur Wehre setzen; als er aber sah, daß der Graf und der Diener die Stränge ihrer Pferde zu lösen begannen, und errieth, daß man ihm zu Hülfe kommen wollte, zog er den Hut und brach in jämmerliche Klagen aus.

Nach wenigen Minuten waren die kräftigen Pferde den erschöpften vorgespannt und zogen das Gefährt den Berg hinauf.

Bertram blieb sitzen und sah ihnen nach.

Ein gutmüthiger Mensch, der Graf. Da half er gequältem Gethier aus der Noth, ihm aber hatte er ganz gelassen einen Stachel ins Herz gebohrt, mit seinem zweifelnden Blick und mit seinem grausamen: Ich glaube nicht.

Als Gerhart nach einer Weile zurück kam und die unterbrochene Fahrt fortsetzte, sagte er: »Sehen Sie, dieser Fuhrmann ist ein armer Teufel; ich weiß nicht, was mit ihm geschieht, wenn seine Pferde umstehen, und dennoch schindet er sie zu Tod. Die Armuth ist eben nicht sparsam.«

Es war spät am Nachmittag, als Bertram [378] heimkehrte; die Schatten wuchsen und die Sonne sank, und das Vesperbrot war, wie Simon Befehl hatte Herrn Vogel zu melden, auf der Terrasse serviert.

Dort fand Bertram die Baronin in peinlicher Erwartung, ruhelos auf und ab wandelnd. Sie empfing ihn mit einem unterdrückten Aufschrei.

»Ach Sie! Endlich, Vogelweid! Was bringen Sie? Erlösung? Befreiung ... Bin ich gerettet?«

Als er alles bejahte, kannte ihr Dank keine Grenzen. Eine Sechzehnjährige hätte ihn nicht heißer empfinden, und kindlicher ausdrücken können, als Bertram die verfänglichen Briefe an Carolus und die Photographie mit der Widmung hervorzog und ihr überreichte.

Wie hatte diese Frau sich und ihre Gefühle konserviert. So etwas wäre unmöglich in der Stadt.

»Ich will nicht ungestraft gefehlt, geirrt haben,« sagte sie. »Ich werde ehrlich Buße thun; ich habe das Bedürfniß, zu sühnen, Vogelweid.«

Über die Art, in der das geschehen sollte, konnte sie ihm im Augenblick keine Aufklärung [379] geben, denn Hugo kam eben in Begleitung Meisenmanns herbei. Der Freund und die Gattin bereiteten dem Herrn des Hauses einen Empfang, auf den er nicht gefaßt gewesen war.

»Hugo! Hugo! mein Alter! Ich hab’ dich noch nicht gesehen, seitdem du im Feuer gewesen bist und Menschenleben gerettet hast. O, ich weiß – ich weiß, du Braver!« rief Bertram ihm begeistert entgegen, und die Gattin schwebte im wuchtigen Fluge auf ihn zu und lag an seiner Brust und weinte auf seine lichtblaue Piquéweste »Thränen der Wiedergeburt.«

Ihr Mann fand das schön gesagt und gut gegeben, ersuchte sie aber Maß zu halten: »Du warst am Vormittag schon gerührt, Bertherl, das ist hinreichend, auch für eine so liebe und treue Frau wie du.«

»Treu?« – die Baronin zuckte zusammen wie eine verwundete Taube.

»Nun, vielleicht nicht? Ich bitte dich, Bertherl, mache dich nicht interessant. Wir wollen jausen ohne Interessantmacherei und ohne Rührung. Solche Sachen verderben einem nur den Appetit.«

[380] »Vor meiner Rührung brauchen Herr Baron sich nicht zu fürchten,« sprach Meisenmann mit forciertem Humor. »Haben unter anderen einen deutschen Juden aus dem Feuer gezerrt. Ich an Ihrer Stelle hätte ihn tiefer hineingeworfen.«

»Sie Meisenmann? Wie macht das ein Theoretiker? Ich bin neugierig. Sie müssen es mir zeigen bei nächster Gelegenheit.«

Der Professor rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her. »Nächste Gelegenheit? Was für eine Gelegenheit meinen?«

»Wir werden ja sehen, sie kommt.«

»Wenn man sie herbeiführen will, kommt sie freilich.«

»Ohne Sorge! Ich werde nicht extra Feuer legen, damit Sie Juden hineinwerfen können.«

Sieglinde und Gertrud kamen, die erstere aufgelöst in Verlegenheit, im scheuen Blick die Frage: Was sagen Sie zu meinen Gedichten? die zweite sehr ernst und noch stiller als gewöhnlich. Bertram glaubte zu bemerken, daß Meisenmann sie schon einigemale triumphirend angesehen habe, und war voll Indignation und hätte ihm gar zu gern zugerufen: [381] Sie nimmt dich nicht; mich nicht und dich ebensowenig.

Etwas freier athmete er, als Hugo und Meisenmann sich zu Hagen verfügten und er allein blieb mit den Damen. Die Baronin und Sieglinde fingen an zu flüstern und einander gegenseitig aufzumuntern: »Du, Lindchen, du!« »Um Gotteswillen, nein, du, Mama!« Die liebende Mutter gab nach. Sie räusperte sich, sie hielt eine kleine Rede, in der sie ihren sehnlichen und den nicht minder sehnlichen Wunsch ihrer Tochter ausdrückte, Bertrams Urtheil über die Gedichte Lindchens in Erfahrung zu bringen.

»Gedichte?« Er mußte sich besinnen. »Gedichte – ja so!«

»Mama, Mama, Herr Vogelweid hat ganz vergessen ...« klagte Lindchen tief gekränkt.

»Nein, Baronesse, ich habe nicht vergessen, ich habe ge–geblättert, sagen wir, in den Gedichten, die Sie mir geschickt haben ...« Erbarmungslose, die einen Überfütterten noch stopft, wollte er hinzusetzen, aber die ängstlich gespannten Mienen der Mutter und der Tochter, die demüthig sehnsüchtige [382] Erwartung, mit der beide Damen zu ihm empor schmachteten, entwaffnete ihn. Diese Dilettanten! sie haben alle Aspirationen, machen alle Leiden des echten Künstlers durch – nur was dabei herauskommt, ist anders. »Vor allem, Baronesse,« wendete er sich an Sieglinde, »was haben Sie vor mit Ihren Gedichten?«

»Drucken lassen« – sie stöhnte es fast, und er seufzte, wurde aber nicht grimmig, sondern sprach in weichem, zuredendem Tone:

»Sehen Sie sich um in der Welt. Wohin Sie blicken, überall begegnen Sie den allgemeinen, unaufhaltsamen Fortschritten ...«

»Unserer Litteratur!« fiel Bertha begeistert ein.

»– Der Socialdemokratie, Frau Baronin.«

»Ach ja,« versetzte sie und lächelte ihn höchst unsicher an.

»Wir gehen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung entgegen. Lösung der wirtschaftlichen Fragen heißt der nächste Schritt zum Ziele, und er liegt, wie man sagt, in der allgemeinen Verstaatlichung. Meine unmaßgebliche Meinung ist nun, daß der Übergang zu dieser breiten Straße des Heiles uns [383] wieder auf jetzt ganz verlassene Fußpfade führen wird, zum Beispiel – zur Hausindustrie.«

»Ach ja,« wiederholte die Baronin und gab ein heuchlerisches: »Ganz recht!« dazu, um zu verbergen, daß sie ihn durchaus nicht begriff.

»Eilen Sie uns voran, Baronesse! Streben Sie keine fabriksmäßige Vervielfältigung Ihrer Dichtungen an, verschmähen Sie die kapitalistische Bücherproduktion durch den Verleger – singen Sie, ein liebliches Vögelchen, Ihre zarten Lieder den Eingeborenen von Obositz, zirpen Sie, ein trautes Heimchen, am häuslichen Herde.«

XVII.

Als man sich am Abend trennte, nahm Bertram Abschied von seinen Wirthen für den ganzen morgigen Tag, den er in Vogelhaus zubringen wollte. Lieber auch räumlich von der Unerreichbaren getrennt sein, als in ihrer Nähe schmerzvoll hangen und bangen. Er ging allein seinen Zimmern zu; der Freund, der ihn sonst geleitete, die Dienerschaft, die heute bis zum Morgen gewacht, hatten [384] sich früher als gewöhnlich zur Ruhe begeben. Die Lampen waren gelöscht, vor der Mondesscheibe lagerte eine langgestreckte Wolke, ein träumerisches Halbdunkel herrschte, eine schöne Stille, Balsam für den geräuschesmüden Stadtbewohner. Jeder Blick durch die hohen Fenster des Ganges in den Garten bot Erhebung, wirkte sanft und beschwichtigend. Leise wie ein angefachtes Fünkchen begann die erloschene Hoffnung wieder zu glimmen. Quälst du dich nicht mit Hirngespinnsten, du Narr? fragte er sich. Waren die Worte, die dich unglücklich machen, auf dich gemünzt, oder beziehst du sie nur auf dich, krankhaft empfindlicher Thor? Muß der Graf an mich gedacht haben, als er sagte: Ich glaube nicht? Er dachte vielleicht an:

»Meisenmann!« rief Bertram wonnig mit wahrem Entdeckerjubel aus. Zu seinem Schrecken antwortete eine Stimme aus der Tiefe des Querganges:

»Ich bin’s, bitte.« Simon trat hervor. Der junge Herr Baron schickte ihn, er ließ den Herrn Doktor bitten, zu ihm zu kommen.

»Jetzt? jetzt gehe ich schlafen, und Hagen [385] soll auch schlafen gehen. Sagen Sie ihm das von mir.«

»Er schläft aber nicht, er schreibt und liest die ganze Nacht.«

»In dem Zustand, mit dem Auge?«

»Ach Gott ja! ’s is schaudriös. Gehen Sie zu ihm, bitte, auf den Herrn Doktor wird er hören, auf uns hört er nicht, auf mich und den Meisenmann.«

»Ein schrecklicher Kerl, ein Tyrann,« murmelte Bertram, folgte dem Alten widerwillig und trat verdrießlich bei Hagen ein, der ihn verdrießlich empfing und anbrummte:

»Ist dir’s endlich gefällig?«

Er saß mit verbundenem Kopfe in einem großen Lehnstuhl unter der grell leuchtenden Hängelampe und sah elend aus. Auf einem Tische neben ihm waren die neuesten Werke der modernsten nordländischen, französischen und deutschen Unsittenschilderer recht zur Schau ausgelegt. In einer Hand hielt der Jüngling Juvenals Satiren, in der andern einen Rothstift.

[386] Das Zimmer befand sich in greulicher, in gewollter Unordnung. Die Möbel und einen Theil des Fußbodens bedeckten Bücher, Schriften, Cigarrenkistchen, Waffen, Fecht- und Turngeräthe; an den Wänden hingen, mit Nägeln befestigt, schamlose Photographien. Auf einem Schranke neben der Thür lag eine Pistole; der Hahn war gespannt, das Zündhütchen aufgesetzt.

Komödiant! dachte Bertram und sprach mit eisigem Spotte: »Ich muß dir doch den Gefallen thun, dir zu betätigen, daß ich dich gefunden habe, im Juvenal lesend. Das Grellste hast du wohl mit Strichen versehen, damit niemand zweifeln könne, daß du’s verstanden hast. Mir freilich wäre nie ein Zweifel gekommen, bei den Erfahrungen, die du schon gemacht haben mußt, im Kaffeehaus oder in der Zuckerbäckerei.«

Bei dem letzten Worte fuhr Hagen zusammen, Zorn und Schrecken verzerrten sein Gesicht.

»Verzeih’, wenn ich dich ärgere, ich sollte dir dankbar sein, weil du dir so viele Mühe gegeben hast, mir zu Ehren dein Zimmer zu dekorieren.«

»Dir zu Ehren, ja just, was der sich einbildet!«

[387] Bertram deutete auf die Bilder an der Wand: »Die wirst du doch nicht da lassen, wenn du deine Mutter erwartest, oder ...«

Hagen hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu: »Gieb deiner Beredsamkeit Urlaub, ich frage nicht nach deinen Moraltrotteleien, ich frage ...«

»Hast du meine Novelle gelesen?« unterbrach ihn nun Bertram seinerseits. »Ja, denn, ich habe sie gelesen, leider.« Er rückte einen Sessel an den Tisch und setzte sich.

Hagen spielte den Gleichgültigen und den Höhnischen, aber die Kniee zitterten ihm. »Hast du wirklich die Gnade gehabt?«

»Die Gnade, ganz richtig. Wie du weißt, bin ich nicht hierher gekommen, um mich mit dem Lesen dilettantischen Pfuschwerkes zu beschäftigen, sondern um mich vom Lesen zu erholen und von der Litteratur überhaupt. – Saubere Erholung ..« Er hielt inne, er würgte tapfer die Klagen hinunter, die sich ihm auf die Zunge drängten. »Genug davon. Trotzdem hab’ ich, wie gesagt, deine Novelle gelesen.«

[388] »Großartig! Nicht zu glauben! Und was meint der patentierte Kritiker? Hab’ ich Talent?«

»Vielleicht ja, möglicherweise hast du Talent.«

Ein häßliches, rechthaberisches Lächeln verzog die blutlosen Lippen Hagens. »Wie mühsam er das herausquetscht! Einen Jungen loben, thut ihnen gar zu weh, den Alten. Kann dir nicht helfen ... Ich hab’ Talent, und weiß es, und wollte dich nur zwingen, es zuzugeben.«

»Und dann? was weiter? Talente laufen zu Hunderten auf der Gasse herum. Pferde, Hunde, Ferkel haben Talent. Talent, mein Lieber, ist viel und – nichts. Was du daraus machst, und was dieses ‘Du’ für ein Ding ist, darauf kommt’s an! Zuerst mache du dich, dann wirst du vielleicht etwas machen aus deinem Talent.«

»Ist mir zu hoch, die Weisheit.«

»Streck’ dich! am Ende langt’s.«

»Wenn man eine gute Novelle geschrieben hat.«

»Wer spricht von einer guten Novelle? Die deine ist elend, als Vorwurf, als Komposition, Charakterzeichnung, Stilprobe. Man muß scharf hinsehen, um eine Spur von Talent darin zu entdecken. [389] Kein anderes als ein Ferkeltalent natürlich. Nun, auf ein Adlertalent machst du ja keinen Anspruch.«

»Du bist beleidigend.«

»Wenn die Wahrheit beleidigt.«

»Richtig! die hast du gepachtet ... Moraltrottel!« das eine Wort murmelte er nur, dann schrie er wieder: »Bleib’ bei der Stange! Mag die Novelle sein, wie sie will, Talent verräth sie. Empfiehl mir einen Verleger.«

»Da steht er,« erwiderte Bertram und deutete auf den Ofen.

»Das würde dir in den Kram passen. Wir kennen euch, ihr doktrinären Zöpfe. Aus dem Weg die Werke der Neuen! Du irrst, wenn du glaubst, daß ich dir aufsitze. Geh zum Teufel. Ich werde meinen Weg allein machen. Ich werde mir selbst einen Verleger suchen.«

»Wirst ihn auch finden, wenn du Unglück hast. Brauchst dich nur an den Rechten zu wenden, der besorgt alles, den Widerspruch provozierenden Tadel, das aller Würde hohnsprechende Lob. Irgend eine Zeitung sagt dann wohl: Dergleichen wurde noch [390] nie gewagt – und der Erfolg ist da. Freilich giebt es nur eine Entschuldigung für das Jagen nach solchem Erfolg – den Hunger.«

Während er sprach, verfolgte er aufmerksam in den bewegten Zügen des Jünglings den Eindruck, den seine Worte hervorbrachten. Es ging viel vor in diesem Werdenden, und so viel Sensationen, so viele Zügel, an denen ein Mensch gefaßt werden kann.

»Hagen,« begann Bertram von neuem und jetzt in versöhnlichem Tone, »ich habe diese Entschuldigungen gehabt. Nicht etwa, daß ich schnöden Erfolgen nachgejagt wäre, aber dafür, daß ich einen Beruf ergriff, zu dem ich nicht berufen war. Die Zwangslage, in der ich mich befand, kann allein verzeihlich machen ...«

»Und weißt du, Alleswisser, ob ich nicht auch in einer Zwangslage bin?«

»Oho, hast du etwas versprochen, dein Wort verpfändet? Gesteh! hab’ in Kuckucksnamen Vertrauen zu mir.«

»Ich hab’ nur zu viel.« Seine Stimme versagte, die Spannung, in der er sich künstlich erhalten [391] hatte, ließ plötzlich nach. Er weinte, er schluchzte heftig, leidenschaftlich. Sein schmächtiges Körperchen wand sich in Schmerz und in ohnmächtiger Wuth über den weibischen Ausbruch, den er verachtete und dem er nicht Einhalt thun konnte.

Bertram hätte gern Mitleid mit ihm gehabt und brachte es nicht zuwege. Ach, wenn einem jemand unsympathisch ist, wo bleibt da die Güte, die vielgerühmte, die allumfassend, unendlich, ewig gegenwärtig sein soll? Bertram war angst und bang um den Jungen, aber ein warmes Gefühl für ihn konnte er sich nicht abringen. Guter, starker Mensch, schlag’ an dein Herz, nicht einen Funken Erbarmen schlägst du heraus, wenn es ihn nicht freiwillig giebt.

»Ich bin der ärmste Teufel,« rief Hagen, »ich stehe ganz allein in der Welt. Gertrud verabscheut mich, der Vater versteht mich nicht, die Mutter zieht mir diese Gans von einer Sieglinde vor. Auf dem Gymnasium bin ich verhaßt ... Das freilich ist mir Wurst. Ich kann ohnehin ins Gymnasium nicht mehr zurück. Hier kann ich auch nicht bleiben; wohin soll ich? Aus der Welt!«

[392] »Warum kannst du denn nicht aufs Gymnasium zurück?«

»Weil ich Schulden hab’, zum Teufel. Beim Zuckerbäcker.«

Bertram brach in Lachen aus: »Beim Zuckerbäcker? Der blasierte Decadent sitzt beim Zuckerbäcker und stopft sich mit Kuchen, der Übermensch ist eine Naschkatz! Einen Lutschbeutel hast du doch auch, der liegt vielleicht als Merkzeichen im Juvenal?«

»Lache du ... Elende Possen zu reißen, wenn dein Freund ins Unglück gerathen ist, paßt für dich.«

»Es wird nicht groß sein, das Unglück.« –

»Woher vermuthest du das? Meinen Alten darf ich’s nicht klagen, sie haben ohnehin schon Schulden für mich gezahlt. Sie hinter seinem, und er hinter ihrem Rücken, und ihm habe ich mein Ehrenwort geben müssen, nichts mehr auf Rechnung zu nehmen. Und jetzt schreibt mir dieser verfluchte Zuckerbäcker Brief auf Brief ... Hilf du mir,« er faltete die Hände, »ich werde dir ewig dankbar sein.«

Bertram blickte finster vor sich hin: »Wieviel [393] bist du schuldig? Antworte! Zehn Gulden? Zwanzig Gulden?«

»Zwanzig! Ein solcher Bettel brächte mich doch nicht in Verlegenheit.«

»Einen Bettel nennst du das? Ich habe in meinem ganzen Leben nicht zwanzig Gulden für Backwerk ausgegeben.«

»Andere Verhältnisse, mein Lieber,« versetzte Hagen hochmüthig.

»Bilde dir noch etwas ein auf deine ekelhafte Genäschigkeit. Also nochmals: wieviel bist du schuldig?«

»Zweihundert Gulden.«

»O du Entsetzlicher! Um zweihundert Gulden hat dieser Mensch Backwerk gegessen und Likör getrunken.«

»Ich habe auch traktirt,« sagte Hagen kleinlaut.

Abermals bestand Bertram einen schweren Kampf mit sich selbst und abermals ging er siegreich aus ihm hervor. Es hatte große Selbstüberwindung gekostet.

Aber durfte er zögern? Er durfte nicht. Er besann sich, wie mächtig es ihn ergriffen hatte beim [394] Anblick von Vogelhaus: Was könnte ich für dich thun, du Treuer? Wie würd’ ich die Stunde segnen, die mir eine Antwort brächte auf diese Frage. Nun war die Stunde unerwartet schnell gekommen, nun konnte er etwas thun für seinen Freund.

Er stand auf: »Gieb mir die Rechnung. Ich werde zahlen, nicht deinetwegen, deines Vaters wegen. Es thät’ ihm zu weh, wenn er erführe, daß er einen Sohn hat, der sein Ehrenwort bricht. Wenn du aber glaubst, daß ich mein Geld umsonst gebe, irrst du. Ich geb’ und nehme.«

»Was nimmst du?«

»Dein Manuskript –«

»So hättest du doch Verwendung dafür?« rief Hagen mißtrauisch.

»Jawohl. Und diese Photographien.«

»Das ist Erpressung.«

»Jawohl, Erpressung und Gewalttätigkeit.« Er nahm die Bilder von der Wand und riß sie in Stücke. Er that’s ganz ruhig, und Hagen ließ es ohne Einsprache geschehen, lehnte den Kopf zurück, streckte die Beine weit aus und lag da wie ein Todter.

[395] Der Arzt kam, nach seinem Patienten zu sehen, fand ihn erschöpft und etwas fieberhaft, und wollte bei ihm wachen.

Bertram verließ das Zimmer. Beim Weggehen hatte er aber einen Diebstahl begangen. Er hatte die Pistole abgespannt und sie mit sich genommen.

XVIII.

Er ging zu Bette, konnte aber nicht einschlafen. Die Sorge um Hagen hielt ihn wach. Nach einer Stunde stand er auf und begab sich zu ihm hinüber, um nach seinem Befinden zu fragen. Es war gut; der Ungerechte schlief den Schlaf des Gerechten, und dieser ängstigte sich um das saubere Früchtchen, das ihn sicherlich auslachen würde, wenn es davon wüßte. Bereuen konnte er seine nächtliche Wanderung aber nicht, denn er brachte Seelenruhe von ihr heim.

In aller Gottesfrühe, nach einigen Stunden kurzer, köstlicher Rast, war er auf dem Wege nach [396] Vogelhaus. Unaufhaltsam hatte er vorwärts eilen wollen, aber die Schönheit des Gartens hielt ihn fest. Eine wahrhaft vollendete Schönheit.

Auf einer Brücke, die über das klare und wasserreiche Bächlein führte, das den Garten durchschlängelte, blieb Bertram stehen. Er legte die verschränkten Arme auf das Geländer und versank in die Wonne still bewundernden Schauens. Zwischen den Bäumen und Baumgruppen auf den welligen Wiesen eröffnete sich ein weiter Ausblick auf die Berge und Wälder. Ein Blick voll Frieden. Wohnt er auch wirklich dort? Er wohnt, wohin du ihn träumst, und das ist in der Natur ewig und immer – die Ferne. Tritt näher, du siehst den Kampf.

Ein Knistern des Kieses, das Geräusch nahender Schritte, weckte ihn aus seinen Betrachtungen. Er wendete den Kopf und erblickte Gertrud, die langsam auf ihn zukam. Sie sah ihn nicht, sie wandelte unter dem Schutze eines großen Sonnenschirms, dessen breiter Spitzenrand ihr Gesicht verdeckte, und fuhr zusammen bei dem freudigen Gruße, den Bertram ihr zurief. Sie wäre ihm [397] offenbar gern ausgewichen, konnte es aber nicht mehr thun, ohne geradezu die Flucht zu ergreifen. So entschloß sie sich denn, ihren Weg – noch langsamer als vorhin – fortzusetzen.

Sie scheint nicht angenehm überrascht durch meine Anwesenheit, sagte sich Bertram – ich störe sie – worin nur? Warum steht sie so früh auf? Sie dichtet! Ohne Zweifel, sie dichtet. Man kann nicht anders in diesem Milieu. Sie geht vielleicht ins Fischerhaus, um dort zu dichten.

Merkwürdig! Als ihm der Einfall kam, da war’s, als ob eine Mauer niedergefallen wäre, die zwischen ihm und ihr gestanden hatte. Sie Dichterin, er Journalist: er fühlte sich beinahe auf dem gleichen Fuße mit ihr. Beinahe, nicht ganz. Sie war ihm doch noch zu fremd und – »eine Würde, eine Höhe« ...

Er setzte den Hut, den er feierlich abgenommen hatte, wieder auf, ging ihr entgegen und wand dabei, wie man beim Waschen thut, eine seiner Hände um die andere, was immer etwas sehr Verbindliches hat. Vor ihr angelangt, neigte er sich mit einer gewissen freundlich erwartungsvollen Spannung [398] und sagte: »Nun, mein gnädiges Fräulein ... und was schreiben denn Sie?«

Gertrud war betroffen: »Ich?«

»Sie! – Sie werden doch auch schreiben.«

»Nein, gewiß nicht.«

Nun war er betroffen. »Ist das möglich? Und warum nicht?«

»Warum? – weil ich kein Talent habe,« gab sie mit großer Gelassenheit zur Antwort und zuckte ein wenig die Achseln.

»Kein Talent?... Eine Dame von heute ohne Talent zur Schriftstellerei?« Die niedergesunkene Mauer richtete sich sogleich wieder auf, und die Geliebte stand ihm wieder so hoch wie je, und er hätte das Knie vor ihr beugen mögen und ausrufen: »Verzeih’, Erhabene, daß ich dich anbete!«

Zum ersten Male während ihres Gespräches hatte sie die Augen zu ihm erhoben und sah ihn mit einem Gemisch von Verlegenheit und Muthwillen flüchtig an: »Ich wäre vielleicht so gut wie andere im Stande gewesen, mir poetisches Talent zuzutrauen, wenn mich nicht eine Autorität bei Zeiten aus der Gefahr gerettet hätte.«

[399] »So sind Sie, mein gnädiges Fräulein« – das kam mit einem Anflug von Wehmuth heraus – »doch auch in Gelegenheit gewesen, sich an eine Autorität in dergleichen Dingen zu wenden?«

»Jawohl, wie ich in Gelegenheit gewesen bin, bei Blumenmacherinnen und Stickerinnen anzufragen: Ist meine Arbeit etwas werth und könnt’ ich Geld dafür bekommen? Was versucht man nicht alles, wenn man jung ist und voll Selbstvertrauen.«

Und arm, ergänzte er in Gedanken.

Nun kamen sie an dem Weg vorüber, der zur Straße nach Vogelhaus führte. Bertram ließ ihn links liegen und schritt weiter, an der Seite seiner holden Begleiterin. Sie sprachen von gleichgültigen Dingen, aber ihm ging dabei das Herz auf; die Scheu, die Gertrud bei jeder neuen Begegnung mit ihm zu überwinden hatte, war verschwunden bis auf die letzte Spur, da wagte er’s, da sprach er die Frage aus, die ihm schon so lang auf der Seele brannte:

»Was haben Sie gegen mich gehabt, Furcht oder Abneigung? Eines dieser beiden Gefühle war ich so unglücklich, Ihnen einzuflößen.«

[400] »Das erste,« erwiderte sie ohne Zögern.

»Du lieber Gott, wer ist schuld? Wer hat mich verleumdet?«

»Niemand; bei uns wird nur Ihr Lob gesungen, ich habe aber meine Privatempfindung.«

»Und die ist Furcht?«

»Ich staune, daß Sie darüber staunen. Wenn man grausam sein kann wie Sie, wenn man arme, vielleicht feinfühlige Menschen an den Pranger stellen und dazu lachen kann ... denn Sie lachen, wenn Sie Ihre Feuilletons schreiben ...«

»Längst nicht mehr. Ich schwitze, schwitze Blut! Und was die armen, feinfühligen Menschen betrifft – die sich ohne Berechtigung an die Öffentlichkeit drängen, die haben eine dicke, eine Rhinozeroshaut; denen geschieht nichts, aber die Pfeile meines Witzes stumpfen sich ab an ihnen; haben Sie noch nicht bemerkt, wie stumpf meine Pfeile geworden sind?«

Sie waren beim Teiche angelangt, sie standen im Schatten hoher Bäume und dichter Gebüsche. Gertrud hatte ihren Sonnenschirm auf die Achsel fallen lassen, er bildete einen lichten Hintergrund [401] zu ihrem schönen Kopfe, mit den reichen, braunen Haaren, die zusammengewunden einen schweren Knoten im Nacken bildeten. Einzelne von ihnen, dem Zwang entschlüpft, kräuselten sich auf dem Scheitel und an den Schläfen und schimmerten zart und goldig. Sie trug ein schwarzes Morgenkleid, und aus der Tasche guckte grellroth mit goldenem Schnitt ein Elzevirbändchen, auf das Bertram langsam und zagend mit dem Zeigefinger wies:

»Mein gnädigstes Fräulein, ich besorge, Sie lesen meine letzte Novelle.«

»Ja, auf Empfehlung der Tante.«

»Hm! Wenn Sie eine Nichte hätten, würden Sie ihr die Novelle auch empfehlen?«

»Ich weiß noch nicht, ich bin noch nicht sehr weit.«

»O, dann lesen Sie auch nicht weiter! Lernen Sie mich nicht von meiner schlechtesten Seite kennen, von der schriftstellerischen. Ich habe bessere Seiten, ich schwör’s. Damit ist allerdings nicht viel gesagt, denn meine Romane ...« Er blickte ihr fest ins Gesicht, »elend, nicht wahr?« Sie erröthete und wendete sich ab, plötzlich aber wich die leichte [402] Verlegenheit, von der sie ergriffen worden war, einem heitern, fast übermüthigen Ausdruck:

»Ich darf’s nicht sagen,« sprach sie. »Sie könnten sonst glauben, daß ich Repressalien gebrauche.«

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte er.

»Erinnern Sie sich vielleicht einer gewissen Anna Mimona?«

»Ja, nicht ganz ohne Gewissensbisse. Anna Mimona –«

»Das war ich.«

Er prallte zurück bis an den Rand des Teiches.

»Geben Sie acht!« rief sie erschrocken, und er blieb stehen und starrte sie an.

»Nähmaschine!« schrie er auf. »O, dann ist alles verloren, dann fürchten Sie mich nicht nur, Sie hassen mich auch. Nähmaschine!... Das können Sie mir nie und nimmer verzeihen!«

»Ich kann es freilich nicht mehr, weil ich es längst gethan habe. Ihr Rath war ja gut, aber befolgen konnte ich ihn nicht. Um eine Nähmaschine zu kaufen, braucht man Geld, und ich hatte keines.«

[403] »Sie hatten keines. O ich roher, gedankenloser Dummkopf! Und ich habe die Gedichte nicht einmal gelesen.«

»Mit welchem Pathos Sie das sagen! Wie Gräfin Orfina.«

»Jetzt aber will ich’s thun und mit dem innigsten Interesse, mit Andacht! Ich bitte um Ihr Manuskript, mein gnädiges Fräulein.«

»Das kann ich Ihnen nicht geben, es existirt nicht mehr.«

»Haben Sie’s vernichtet? Ja? – Ewig schade!«

»Doch nicht: das Manuskript ist fort, der Inhalt ist da. Sie können ihn in Sieglindens Gedichten wiederfinden.«

»So? Schreibt sie ab?«

»Niemals – es fällt ihr eben dasselbe ein: das alte Lied, das in jedem jungen, aufknospenden Herzen erklingt.«

»Ich gäbe alles darum, es von Ihnen singen zu hören.«

»Unmöglich, ich bin keine Dichterin mehr.« Das hatte sie lachend gesagt, wurde aber bald [404] wieder ernst und vertraute ihm, daß sie das Haus ihrer Verwandten zu verlassen gedenke.

»Wegen Hagens, diesem jungen Laster!« rief Bertram. Sie antwortete nicht, er gerieth in Bestürzung, und Funken tanzten ihm vor den Augen.

»Oder – verzeihen Sie einem ängstlichen, aufgeregten Menschen, den ein Hirngespinnst um den Schlaf bringt, denken Sie vielleicht – nein, Sie denken nicht daran, Frau Meisenmann zu werden?«

»Gewiß nicht,« erwiderte sie, »es ist ja auch undenkbar. Sie finden mich auf dem Wege zur Fischerhütte, da bin ich am frühem Morgen ruhig und ungestört. Ich will an eine alte Frau schreiben, bei der wir gewohnt haben, meine Mutter und ich, die nimmt mich gern wieder auf.«

»Nach Wien also wollen Sie? Und was dort?«

»Eine Stelle suchen oder – mein guter Onkel giebt mir die Mittel dazu,« – wieder flog ein Ausdruck von Heiterkeit wie ein Sonnenstrahl über ihre Züge: »oder eine Nähmaschine kaufen.«

Helllodernde Liebe flammte in Bertram auf [405] und funkelte ihm aus den Augen – eine andere Sprache fand er nicht; nach einer Pause erst wiederholte er voll des innigsten Mitleids: »Eine Stelle wollen Sie suchen, mein gnädiges Fräulein?«

»Schwer zu finden, ich weiß. Es giebt ja Bonnen, Gouvernanten und Gesellschafterinnen in Hülle und Fülle. Aber ein Mangel herrscht, wie ich höre, an guten Krankenwärterinnen. So gedenke ich mich denn zur Krankenwärterin auszubilden.«

»Dann etablire ich mich im Spital!« rief er aus.

»Sie scherzen –?« fragte Gertrud befremdet: »Mir war mit allem ernst, was ich Ihnen gesagt habe.«

Bertram wollte sich entschuldigen, sie ließ ihm dazu keine Zeit:

»Auf Wiedersehen,« sagte sie, neigte den Kopf und trat in die Fischerhütte.

Er war entlassen und ging und verwünschte sich einmal wieder. Was für eine Taktlosigkeit hatte er begangen! Wenn er ihr mißfiel und sie es ihn fühlen ließ, geschah ihm recht.

[406] Unterwegs begegnete er Herrn Meisenmann und einigen Bauern, denen der Agitator fleißig vordeklamirte. Sie hörten ihm aufmerksam zu und ließen den Gruß Bertrams unerwidert.

In Vogelhaus war’s schön und herrlich, und doch – mitten in seinem lieben Eigenthum, schon nah dem Ziele, dem er in leidenschaftlichem Bemühen jahrelang entgegen gestrebt hatte, wußte der neue Herr: all das Errungene ist werthlos, und nie werde ich seiner froh, wenn ich nicht auch Die erringe, die mir so unsagbar lieb geworden ist.

Als er am Abend nach Obositz zurückkehren wollte, kamen von dort zwei Phaetons einhergerollt. Den ersten kutschirte Hugo, und im Wagen saßen Bertha und Sieglinde, den zweiten kutschirte der Retter, und im Wagen saßen die liebenswürdige Reisegefährtin und Gertrud.

»Wir sind da, um dich abzuholen, Ausreißer!« rief Hugo.

»Und um Sie als Grundherrn willkommen zu heißen, ‘bei uns zu Lande auf dem Lande.’ Annette von Droste, nicht wahr?« sprach die Baronin, indem sie sich aus der Wagendecke wickelte.

[407] »Ja – ich glaube.« Sehr dankbar, wenn auch etwas zerstreut, empfing Bertram alle seine Gäste im Vogelhaus, als aber Gertrud die Schwelle überschritt, sprach er leise und glückstrahlend: »Segen meinem Hause!«

XIX.

Der Besuch der Nachbarn wurde von Weißenberg und seinem Gast am folgenden Nachmittag erwidert. Als ihr Wagen über die Grenze fuhr, begann der Freiherr Vergleiche zwischen Obositz und Luchov anzustellen, die alle zu Gunsten Luchovs ausfielen:

»Obwohl die Bevölkerung ärmer ist als bei uns, hat sie fast keine Steuerrückstände und hat ein hinreichend dotirtes Armenhaus und Spital und eine gut organisirte Feuerwehr und einen Veteranenverein, der nicht wie der unsere drei Viertel seiner Einnahmen auf Landpartien verjubelt. Das Beste von allem aber ist: Gerhart hat Einfluß auf die Leute, während meine Obositzer lieber zu Grunde gehen, als einen Rath von mir befolgen [408] würden. Und doch ist nie etwas geschehen, wodurch ihr Mißtrauen sich rechtfertigen ließe. Meine Eltern und Großeltern waren gute und hülfreiche Herren. Das Gut Luchov geht seit Generationen von einer Hand in die andere; warum ist gerade hier die Bevölkerung rechtschaffen, fleißig, nüchtern, warum erhält und entwickelt sich gerade hier die Kultur, während ringsum alles verwildert? Ja, warum? Wie kommt das Goldkorn in den Kies, in die Quarzgänge? Naturerscheinung, und die Kulturgeschichte ist Naturgeschichte.«

Am Ende des Dorfes bog ein breiter Weg, der zum Schloßgarten führte, von der Straße ab. Das Thor stand offen, und an einem der Pfeiler war eine Tafel mit einer böhmischen Inschrift angebracht.

»Schau,« nahm Weißenberg wieder das Wort. »Da steht: Hier wohnt der Vorsteher des Ortes Luchov. Gerhart ist zum Bürgermeister gewählt worden, nachdem er kaum einige Jahre hier zugebracht hatte. Einstimmig gewählt. Ich kann meine Wahl nicht durchsetzen, mich wollen sie nicht. Und sie könnten doch wissen, daß ich es ehrlich mit ihnen meine. Beweise dafür haben sie genug.«

[409] Die zwei Kinder, die Bertram schon auf der Eisenbahn gesehen hatte, kamen mit offenen Armen auf Hugo zugelaufen, als er aus dem Wagen stieg: »Der Vater und die Mutter sind im Dorf, werden aber bald kommen,« sagte das Knäblein und schwenkte den breiten Strohhut vor Hugo, vor Bertram, vor dem Kutscher, begrüßte auch die Pferde, die er beim Namen anrief und erkundigte sich nach dem Befinden der Hunde in Obositz.

Indessen hatte Bertram einen Handschlag mit dem kleinen Mädchen gewechselt, das auf die Frage, ob es ihn noch kenne, antwortete: »O ja, du bist ein Vogel und ich,« sie warf sich in die Brust, »bin die Tochter des Bürgermeisters. Da kommt er schon und die Mutter auch.«

»Lauft ihnen entgegen, Kinder,« sagte Hugo. Aber der kleine Junge stellte sich der Schwester, die schon davonstürmen wollte, mit ausgespreizten Beinen in den Weg und redete eifrig mit einer wahren Richtermiene auf sie ein:

»Du darfst nicht, du weißt recht gut. Du siehst doch, daß der Vater mit dem Leschka spricht. Wir dürfen nicht zu ihm, wenn er mit einem [410] großen Menschen spricht,« wandte er sich erklärend an Weißenberg.

»Das nenn’ ich Kinderzucht,« meinte der. »Ja, ja, da könnt’ ich was lernen. Mein Junge war seinerzeit auch ein lieber Kerl. Weiß Gott, wie’s kommt, daß er sich so kurios herausgewachsen hat.«

Der Graf und die Gräfin wurden von einem bäuerlichen Ehepaar, einem stattlichen Greise und einem hochgewachsenen, spindeldürren Weibe, begleitet. In dem Mann erkannte Bertram einen der Bauern, die er gestern auf dem Wege nach Vogelhaus in Gesellschaft Meisenmanns getroffen hatte; die Frau war eine unheimliche Erscheinung, mit ihrem wie aus Citronenholz geschnittenen Gesichte und dem stechenden Blick ihrer dunkeln Augen.

Gerhart grüßte seine Gäste, blieb aber am Thor stehen und ließ sich nicht stören in seiner Verhandlung mit dem Bauern. Die Gräfin eilte auf Weißenberg und Bertram zu, und das Weib folgte ihr, unaufhörlich sprechend in gleichmäßig klapperndem Tone. Plötzlich vertrat die Alte ihr [411] den Weg, streckte die Rechte aus, streichelte ihr die Wange, sagte dabei etwas, das sich offenbar auf die Kinder bezog, und hastete davon.

Die Gräfin hatte die unerwünschte Liebkosung ruhig erduldet, deutete mit einer Bewegung des Kopfes nach der Forteilenden und sprach zu Weißenberg: »Antisemitischer Wahnsinn, importirt aus Obositz. Die Leschkova hat mir eben empfohlen, auf meine Kinder acht zu geben, damit sie nicht einem Ritualmorde zum Opfer fallen und er, Leschka, will, daß alles daran gesetzt werde, den einzigen Juden, den wir im Dorfe haben, den kleinen Handelsjuden Moschko, der seit zehn Jahren unangefochten hier haust, um sein Wohnungsrecht zu bringen. Gerhart hat zu thun, dem Herrn Gemeinderath, hinter dem schon eine Partei steht, den Kopf zurecht zu rücken.«

»Schad’ um die Müh. Sie ist verschwendet. Einen Bauern kriegt unsereins nicht herum.«

»Mein Mann hat schon so manchen herumgekriegt,« erwiderte die Gräfin mit ruhiger Sicherheit, und Bertram sah sie bewundernd an. »Mein Mann,« das hatte sie mit demselben beglückten [412] Stolze, mit eben solcher Zärtlichkeit gesagt, mit denen er sagte: »Meine Frau.«

Nach zehn Ehejahren war die Zuneigung dieser beiden Menschen noch warm und begeistert wie junge Liebe und durch die Zeit vertieft, durch Treue geheiligt worden.

»Dein Meisenmann säet Drachenzähne,« sprach Gerhart, der nun auch herbeikam, zu Weißenberg. »Er predigt Deutschenhaß und Antisemitismus. Wann kriegen wir ihn endlich einmal fort aus unserer Gegend, wann zieht er als Professor in das goldene Prag?«

»Im Herbst, denk’ ich.«

»Erst?« Die Gräfin zuckte die Achseln. »Nein, lieber Freund, daß Sie den nicht hinausgeworfen haben, als er sich bei Ihnen um unsere Gertrud bewarb, verzeih’ ich Ihnen nie.«

»Je nun, sie könnt’s schlechter treffen. Er hat sie sehr gern und ist ein guter Mensch.«

»Ein guter Mensch, der Böses thut.«

»Ach was! Deklamirt gegen die Deutschen und gegen die Juden und würde doch keinem ein Haar krümmen.«

[413] »Werden die Leute, die er verhetzt, ebenso platonisch hassen?« fragte Gerhart. »Ich glaube, daß sie sehr aufgelegt sind, zu Knütteln und Beilen zu greifen. Das bedenkt er nicht, der Maulheld, oder macht sich kein Gewissen draus. Ein roher Kerl, der aus eigenster Überzeugung selbst dreinschlägt, ist mir lieber.«

»Mit einem solchen kann ich dir auch aufwarten; hab’ erst neulich meinen Heger vor ihm retten müssen, der ein paar Holzdiebe arretirt hatte und den er dafür zur Rechenschaft zog. Er ist ein ehemaliger Schlossergeselle, zieht hier herum und verbreitet die sozialistischen Lehren auf dem Lande. Ich kenn’ ihn seit Jahren; er war ein tüchtiger Arbeiter, bis er ein Rednertalent in sich entdeckte. Das ist das einzige, das er jetzt ausübt, und wo seine Zunge nicht ausreicht, hilft er mit den Fäusten nach.«

Der Graf führte seine Gäste in den Garten, der hübsch angelegt war, sich aber an Größe und Schönheit mit dem Obositzer nicht vergleichen konnte. Vor zwei Jahren hatte ein Wirbelsturm hier gehaust und die schönsten Bäume ihrer Kronen, viele auch der Hauptäste beraubt.

[414] Bertram wurde immer schweigsamer. Schadenfeuer, Deutschenhaß, sozialistische Agitation, Wirbelsturm – das waren freilich Dinge, an die er nicht gedacht hatte, als er noch in seiner Bratröhre saß und den Aufenthalt auf dem Lande für die reine Idylle hielt.

Aus dem Garten ging man in den Meierhof und in die Stallungen; die Fütterung war vorbei, den Rindern die Streu zum Nachtlager zurecht gemacht, der Boden wurde gekehrt, die Barren wurden gereinigt. Beaufsichtigt oder nicht, verrichteten die Leute emsig und ruhig ihre Arbeit, und Bertram bewunderte die Sauberkeit und Ordnung, die nach vollendetem Tagewerk allenthalben herrschte.

»Es bleibt noch manches zu wünschen übrig,« erwiderte der Graf, »und, glauben Sie mir, lernen können Sie bei uns nichts. Wir sind selbst Schüler, wir richten uns, so viel wir können, nach der Wirthschaft in Obositz. Da steht unser Vorbild.« Er klopfte Weißenberg liebreich und respektvoll auf die Schulter.

Der lehnte ab: »Den Mechanismus hab’ ich [415] in leidlichen Stand gesetzt, aber mein Werk ist todt, weil ich die Menschen nicht gefunden habe, die auf meine Absichten eingehen; im Gegentheil, mit wenigen Ausnahmen lauter Gegner, offene und geheime. Abgetrotzt muß ihnen werden, was sie mir leisten sollen. Dir thun deine Leute was zu lieb, mir zu leid, was sie können!« Er kam wieder auf seine Naturerscheinung zurück, und man sah wohl, daß Gerhart ihm nicht recht gab, sich aber schwer entschloß, dem verehrten Manne zu widersprechen.

»Daß deine Obositzer nicht viel taugen, ist ausgemacht,« sagte er. »Vielleicht hat gerade die Großmuth ihrer früheren Herren, die ihnen materiell nützte, ihnen moralisch geschadet. Du, Lieber, Bester, bist in vielem zu gut und nachgiebig.«

»Aha, ich verstehe, das heißt schwach.«

»Verzeih, ja, in vielem – in anderem wieder – wie soll ich sagen? – zu empfindlich. Bist halt vom alten Schlag, hast noch Erinnerungen an eine Zeit, in der der Grundbesitzer der Herr gewesen ist. Das merken diese Menschen, die sich nicht mehr beugen und unterordnen wollen. Bei [416] mir ist’s anders, ich bin hier von allem Anfang an ein Gleicher unter Gleichen gewesen. Manches, das dir rücksichtslos erscheint, kommt mir selbstverständlich vor. Sie haben mich zum Bürgermeister gewählt, ja, aber wer weiß, ob sie mich wieder wählen, wenn meine Zeit um ist? Ihre Interessen liegen mir am Herzen wie die meinen, sie sind die meinen, wie die meinen die ihren sind – trotzdem: der Klassenhaß, der Argwohn wurzeln schon zu tief in den Gemüthern. Meine Treuesten wissen nicht, was sie antworten sollen, wenn ein Sozialist – ich achte jeden uneigennützigen! – sie fragt: Warum wählt ihr einen Grafen?«

Die Gräfin hatte sich mit den Kindern ins Haus begeben und ließ nach einer kleinen Weile die Herren zur Jause rufen. Aber Gerhart, der eben angefangen hatte, eine nöthig gewordene Grenzregulirung mit Weißenberg zu besprechen, ersuchte Bertram, einstweilen allein voraus zu gehen.

Der Salon, in dem die Hausfrau ihn empfing, war behaglich eingerichtet, spiegelhell und geräumig. Die bunten, doch geschmackvollen Cretonnetapeten [417] und Draperien erinnerten Bertram an Turgenjews Schilderung des Gastzimmers Frau Shipjagins, und zugleich fiel ihm ein, daß er hier das Widerspiel der Gattin des russischen Staatsmannes vor sich habe. Einen größern Kontrast zwischen ihrem gemachten Wesen und dem der lieben Frau, die ihn jetzt einlud, am Tische Platz zu nehmen, konnte es nicht geben.

»Die Herren sprechen von Grenzregulirung. Da finden sie kein Ende, und wir wollen nicht auf sie warten. Nehmen sie eine Tasse Thee?« fragte sie.

Aber er wünschte ihrem Beispiel und dem der Kinder zu folgen und bat um ein Glas Milch. »Ich muß wenigstens im kleinen alles Nervenaufregende vermeiden.«

»Wenn Sie das nur auch im großen könnten.«

»Freilich, wenn! Aber Sie wissen, Frau Gräfin, ein Jahr lang muß noch gesündigt werden auf meine Nerven, ein Jahr lang muß ich noch frohnen, widerstrebend, verzweifelnd, aber ich muß!«

»Durchaus?«

»Durchaus. Ich darf meine Zeitung, meine [418] alte Nährmutter, nicht sitzen lassen. Es wäre eine Treulosigkeit.«

»Dann thun Sie’s nicht,« versetzte die Gräfin rasch. »Wie schwer es Ihnen auch falle, thun Sie’s nicht.«

Er hob den Kopf, den er hatte sinken lassen, und blickte ihr in die Augen. Einen andern Rath, als den, treu zu sein, kann nicht geben, wer so ehrliche Augen hat. Alles echt an der Frau und klar wie der Tag. Wieder kam die Ähnlichkeit zwischen ihr und Gertrud ihm in den Sinn, eine rein geistige Ähnlichkeit. Er konnte nicht umhin, der Gräfin diese überraschende Beobachtung mitzutheilen und ihm schien, als ob ein Lächeln voll gutmüthigen Spottes ihre Lippen umspiele, als sie sprach:

»Mein Mann hat mir schon gesagt, daß Sie das finden.« Dabei blickte sie ihm fest und freundlich ins Gesicht, und schon war er im Begriff sein Herz vor ihr auszuschütten, als Weißenberg und Gerhart eintraten.

Die beiden Kinder hatten wie auf Verabredung ihre Sessel immer näher an Bertram herangerückt. [419] Auf einmal legte sich ein kleiner Arm um seinen Hals, und Gretl flüsterte ihm zu:

»Du sollst später zu uns kommen.«

»Komm’ nur,« ergänzte Hans, »wir haben einen Rutschberg, da kannst du mit dem Dackerl fahren, er fährt auch gern.«

»Ich komme gewiß,« erwiderte Bertram und drückte den kleinen Arm an seinen Mund und hatte antizipirte Vatergefühle. In der Nähe dieser Frau, dieser Kinder, im Frieden dieses Hauses wehte eine Atmosphäre der Lauterkeit, der Gesundheit, die einzuathmen Heilung und Segen war.

Beim Abschied küßte er der Gräfin die Hand, schüttelte die Gerharts viele- und vielemale und erschöpfte alle Beredsamkeit, über die er zu verfügen hatte, mit den Worten:

»O Herr Graf, o Frau Gräfin, o Seelencurort Luchov!«

[420]XX.

Die erste Stunde nach Sonnenuntergang war angebrochen. Mild und klar die Luft, alle Farbentöne gedämpft und harmonisch, alle Schatten durchsichtig. Aber schon vertiefen sie sich, wie heiterer Frieden in feierliche Wehmuth übergeht, wenn sich in Erinnerung verwandelt, was seliges Genießen war. Hochsommerabend. Kein jubelvolles Wachsen der Tage mehr, die Höhe ist überschritten, nun kommt die Wende.

Die Freunde hatten während ihrer Heimfahrt lange schweigend nebeneinander gesessen. Auf einmal sprachen beide fast zugleich, und sie mußten so ziemlich denselben Gedanken verfolgt haben, denn Weißenberg sagte:

»Ich bin auch ein glücklicher Mensch,« und Bertram sagte:

»Es wäre höchste Zeit für mich, glücklich zu werden.«

»Meine Frau ist eine Frau allerersten Ranges,« begann Hugo von neuem, und Bertram erwiderte mit plötzlicher Heftigkeit:

[421] »Und wenn ich nicht auch eine Frau allerersten Ranges bekomme, wenn deine Nichte mich verschmäht, bin ich ein ärmerer Teufel, als ich je war. ‘Wer die Schönheit hat gesehen mit Augen’« ..

Weißenberg verschränkte die Hände über dem Magen und sprach: »Ob ich’s nicht vorausgesehen habe! Ich hätte sie wegschicken sollen. Hab’ mir noch gedacht, schick’ sie weg.«

»Das konntest du dir denken? Du wußtest, er muß sie lieben und hättest sie aus dem Wege räumen mögen? Du hättest mir das anthun können? Du, du!« Er schüttelte den Kopf wie einer, der die bitterste, die schmerzlichste Enttäuschung erlebt hat.

Weißenberg drückte sich in die Ecke des Wagens und sah ihn von der Seite an: »Wenn du sie nicht gesehen hättest, würdest du sie schwerlich geliebt haben, mein ich.« Und jetzt fiel er aus dem Ton des weichen Vorwurfs in den der Anklage; »Du bist unrettbar verliebt. So unvernünftig redet ein sonst Vernünftiger nur, wenn er unrettbar verliebt ist.«

»Und wenn ich’s bin?«

[422] »Und wenn sie’s wird und dich nimmt – du bist nicht reich, und sie bekommt von uns nur ein ganz kleines Heirathgut – dann hast du dich sehr geirrt, wenn du auf ein sorgenfreies Leben in deinem Vogelhaus gehofft hast. Dann geht die Müh’ und Plag’ erst recht an.«

»Frevle nicht! Sprich nicht von Müh’ und Plage – du kennst sie nicht. Mensch, der immer hat, was man nicht zu schätzen weiß, wenn man’s nicht hat – Zeit. Was schiert mich Müh’ und Plage, wenn ich Zeit hab’, mich zu mühen und zu plagen? Es giebt nur eine Qual: Mehr Arbeit als Fähigkeit sie zu bewältigen, innerhalb einer unverrückbaren, eisernen Frist. Und was für Arbeit – nicht gebenedeite Feldarbeit unter Gottes freiem Himmel, bei der die Brust weit, das Auge hell wird und die Kräfte wachsen – wie ich sie jetzt schon wachsen fühle in diesen meinen Armen!« Er hob sie hoch empor. »Nein, Gedankenarbeit, ein Aufwerfen schillernder Blasen, in denen fremde Gedanken sich spiegeln, mehr ist’s nicht. Mein ganzes, sogenanntes Schaffen Rauch und Dunst, aber auch der, lieber Freund, [423] auch der kann nur einem siedenden Gehirn entsteigen.«

»Na, na,« sagte Weißenberg. »Ich bitte dich, hör’ auf. Du sprichst dich sonst in einen Anfall von Nervosität hinein.«

»Er ist vorüber. Ich wollte dir nur erklären –«

»Brauchst nicht. Wenn man auch nur einen Don Juan u. s. w. vor der Ankunft eines gewissen Jemand fertig bringen wollte, kann man sich schon einen Begriff machen ... aber ich sag’ dir doch ... es giebt Ärgeres.«

»Du sagst mir?« – Mit Entrüstung hatte er’s hervorgestoßen und – schämte sich ihrer sofort, denn der Freund sprach:

»Was wird aus meinem Hagen werden?« – Plötzlich, mit einem schmerzlich gepreßten Laut entrang es sich seiner Brust. Man sah es wohl, das war seine Lebenspein. Wie selten er sie aussprach, sie quälte ihn immer.

»Ich will dir einen Vorschlag machen,« erwiderte Bertram. »Gieb mir den Jüngling mit nach Wien.«

[424] »Nach Wien? Dort geht er vielleicht ganz zu Grunde.«

»Hier aber gewiß, in seiner Ausnahmsstellung auf dem Gymnasium eurer kleinen Stadt. Die einen hofiren ihm aus Interesse, die anderen feinden ihn an aus Neid oder Vorurtheil – lauter Gift. Schmeichelei oder Verfolgung – seine Eitelkeit wird durch beide genährt.«

Nun sprach er von einem gemeinsamen Freunde aus früherer Zeit, einem gewiegten Pädagogen, mit dem er in Verbindung geblieben: »Dem möcht’ ich Hagen anvertraut sehen, das ist der rechte Mann! Der würde ihn im Zügel halten, ohne ihn je die Abhängigkeit unnöthig fühlen zu lassen.«

»Aber Wien ... die Versuchungen einer großen Stadt.«

»Versuchungen hat er in der kleinen auch. Sie rücken ihm da noch viel näher.«

Halb und halb gab Hugo ihm recht, wollte die Sache erwägen, sich jedenfalls mit seiner Frau darüber berathen.

»Thu’ das,« versetzte Bertram, und sie versanken wieder in ihr früheres Schweigen.

[425]XXI.

Morgen rede ich mit ihr, – heute rede ich mit ihr, war Bertrams letzter Gedanke beim Einschlafen und sein erster beim Erwachen gewesen. Er stand zeitlich auf und ging in den Garten und hoffte sie dort zu finden, aber umsonst. Das Wetter war freilich nicht einladend, der Himmel aschgrau, am Horizont ballten sich schwer und drohend riesige Wolken und glichen einem phantastischen Gebirgszuge.

Später erst traf Bertram die Ersehnte in Gesellschaft ihrer Cousine, auf dem Wege nach der Nähschule im Dorfe, und von dort aus gedachte Gertrud einen Krankenbesuch bei einer alten Pensionistin im Namen der Tante abzustatten.

Das könnte die gute Baronin auch selbst thun, dachte Bertram, ging auf sein Zimmer, legte seinen neuen Lodenanzug an, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen wetterfest machte und begab sich nach Vogelhaus.

Auf dem Felde nächst der Villa war eine Anzahl [426] Tagelöhner und Fuhrleute in voller Thätigkeit. Das Getreide sollte noch vor dem Ausbruch des Regens unter Dach gebracht werden. Ein hochbeladener Erntewagen fuhr eben ins breit gähnende Thor der Scheune ein, auf einen anderen wurden die letzten Garben kunstvoll gehäuft. Waniek leitete die Arbeit, hatte die Augen überall, gab gelassen seine Befehle, und ohne Einwand und ohne aufhaltsame Hast wurden sie vollzogen.

Als Bertram erschien, änderte sich das Bild. Die Weiber legten die Rechen weg, wischten den Schweiß vom Gesicht und jammerten über die Hitze. Die Arme und Beine der Männer waren plötzlich wie mit Blei eingegossen. Die aufgespießten Garben schwankten lange auf den Zinken der Gabel, ehe die Lader die Kraft aufbrachten, sie zum Ordner emporzuheben, und den hatte eine solche Müdigkeit überkommen, daß Waniek ihn vom Wagen herabsteigen hieß und seine Stelle einnahm.

Ein paar heftige Windstöße erbrausten, Staubwolken wirbelten, dann fielen die ersten, schweren Regentropfen. Männer und Frauen verlegten sich auf Wetterbeobachtungen, und drangen alle zugleich [427] auf Bertram ein; einige bittend und klagend, andere mit brüsk heischenden Gebärden.

Er verstand sie nicht, wandte sich an Waniek und fragte:

»Was wollen sie?«

»Ganzen Tagelohn wollen’s,« war die phlegmatisch und verächtlich ertheilte Antwort.

»Sie sollen ihn haben, natürlich, was können denn sie dafür, daß es regnet?« Bertram nickte gewährend und rief den Leuten eines der wenigen Worte zu, die er erlernt hatte:

»Ano, ano!«

»Ano!« wiederholten sie und lachten den großmüthigen Arbeitgeber an, und er konnte sich mit dem besten Willen nicht verhehlen, daß diese Lustigkeit eine starke Zugabe von Geringschätzung hatte. So schweigsam man früher gewesen war, jetzt wurde geplaudert, geschrien, aller Thätigkeitsdrang schien sich in die Zungen geflüchtet zu haben. Nicht ruhig, wie die früheren, fuhr der letzte Wagen in die Scheune. Die Pferde, übermäßig angetrieben, wurden stutzig, mußten ausgespannt und andere vorgespannt werden. Einzig und allein [428] der Energie Wanieks war’s zu danken, daß auch diese Fuhre eingebracht wurde, ehe der Platzregen niederging.

Bertram begab sich ins Haus. Es kam ihm heute ganz besonders schmuck vor und war in der That auf den Glanz hergerichtet. Auf der Stiege lag ein Lauftuch aus Kokosstroh, eine Binsenmatte auf dem Gange, die Klinke der Thür, die zum Wohnzimmer führte, blinkte freundlich einladend wie ein Freundesauge. Komm nur, komm, tritt ein, schien sie zu sagen. Jetzt sah er auch, daß ein Pergamentstreifen an dem Schlüssel hing und auf dem waren die Worte zu lesen: Berthas Dank.

Nein, diese Baronin, diese allerletzte Romantikerin, welch einen wunderbaren, guten, lieben Einfall hatte sie gehabt! Bertram fand seinen Salon genau wie den Goethes in Weimar eingerichtet. Im Schlosse mußten sich Möbel aus der Zeit der großen Klassiker vorgefunden haben, denn da standen sie, altmodisch ehrwürdig und prächtig erhalten. An der Wand das wohlbekannte Kanapee mit steifen Rücken- und Seitenlehnen und abgestumpftem Aufsatz unter einer trefflichen Reproduktion [429] der aldobrandinischen Hochzeit und davor der runde, mit einem Teppich bedeckte Tisch. Auch ein Klavier war da, dieses aber kein alterthümliches Juwel, sondern ein, wenn auch nicht neues, doch vorzügliches Instrument. Hingegen stand im Arbeitszimmer ein dem Goetheschen ähnlicher Bücherschrank. Das Stehpult ihm gegenüber, der Tisch in der Mitte der Stube, die beiden Sessel, das Kissen erinnerten gleichfalls deutlich an ihre Urbilder. In solcher Nutzanwendung ließ sich Bertram die Litteratur gefallen und ging äußerst gerührt von einem Einrichtungsstück zum anderen, ans Klavier aber setzte er sich und schlug einige Akkorde an. Seit dem Tode seiner Mutter hatte er keine Taste mehr berührt. Nun kam plötzlich die Begeisterung über ihn. Sein musikalisches, sein kleines, aber sein wirkliches, armes, vernachlässigtes Talent gab einige schwache Lebenszeichen. Er phantasirte, er begann zu singen: »Hier gedachte still ein Liebender seiner Geliebten,« anfangs leise, dann immer lauter, immer hingerissener, endlich brüllte er’s hinaus: »Hier gedachte still ...«

Ein Klopfen an der Thür unterbrach ihn, [430] Waniek trat ein, und Bertram ward bestürzt und entschuldigte sich:

»Lieber Waniek, ich glaube, ich habe gesungen, ich kenne mich nicht vor Freude, müssen Sie wissen; welche Überraschung habt Ihr mir bereitet!«

Waniek sah ihn mit der freudigen Theilnahme eines gerührten Vaters an: »Wirdé hochwohlgeborene Frau Baronin fraien, wenn héerte, daß gnädige Herr Fraide haben.« Ein gutes Lächeln lagerte auf seinen breiten Lippen, er wußte etwas von jedem Gegenstand zu erzählen, der aus dem Möbeldepot des Schlosses nach Vogelhaus geschafft worden war. Das Schreibpult hatte dem seligen Excellenzherrn gedient, auf dem Kanapee hatte Kaiser Joseph gesessen, als er den Großvater des Herrn Barons in Obositz besucht hatte. Bald aber ging Waniek vom Historischen zum Praktischen über. Er mußte sagen, daß der gnädige Herr Vogel nicht weiter wirtschaften dürfe, wie er angefangen hatte. Für einen halben Arbeitstag einen ganzen Taglohn auszahlen, »isé nix.« Die Leute sollen nicht eben so viel Geld wie gewöhnlich und [431] noch einmal so viel Zeit haben, um es auszugeben. Dabei kommen nur Räusche heraus, die statt um vier Uhr früh, wie sich’s gehört, erst um Mittag ausgeschlafen sind. Auch mit dem Arbeiten des gnädigen Herrn Vogel auf dem Felde war Waniek nicht einverstanden. Wenn er sich durchaus nützlich machen wolle, könne es höchstens als Aufseher geschehen, sonst lachen die Leute den gnädigen Herrn aus.

»Aber, mein lieber Waniek, wie soll ich denn ein Aufseher sein, wenn ich gar nichts verstehe?« wandte Bertram ein.

»Wer’n schon lernen.«

»Von Ihnen! Nehmen Sie mich in die Schule, ich habe Ihnen gut zugesehen. Die Leute gehorchen Ihnen und haben Respekt vor Ihnen, weil Sie alles hundertmal besser verstehen und machen können als jeder andere. Darum will auch ich Ihnen gehorchen und so lange Unterricht bei Ihnen nehmen, bis aus mir ein tüchtiger Ökonom geworden ist. Sie sind Soldat gewesen, richten Sie mich ab, wie ein Wachtmeister den Rekruten, kommandiren Sie mich.«

Waniek hatte wieder sein prächtiges Lächeln: [432] »Werd’ schon kommandiren, wenn befehlen,« sagte er und verabschiedete sich in seiner kraftvollen und bescheidenen Ruhe; der Beneidenswerthe!

Bertram trat ans Fenster und sah ihm nach. Da stand er im Vorgärtchen und schnitt aus bereitliegenden Rasenziegeln Streifen zurecht, die wahrscheinlich zur Einfassung von Blumenbeeten bestimmt waren. Bei der Arbeit könnte Bertram ihm helfen und würde es mit dem größten Vergnügen thun; aber leider ging’s nicht an. Leider gebot ihm die einfachste Pflicht der Höflichkeit, augenblicklich nach Obositz zurückzueilen, um der Frau Baronin zu danken, gleich im ersten Freudenausbruch. Hastig knöpfte er die Lodenjoppe zu und griff nach seinem Hute. Ein dunkles Gefühl sagte ihm freilich: Was dich jetzt wieder auf und davon jagt, ist ein ganz anderes als reines, pures Dankbarkeitsbedürfniß, es ist die fieberhafte Unstätheit, die dich seit Tagen in schwebender Pein, ein lebendes Pendel, hin und her treibt zwischen Obositz und Vogelhaus. Ja, das war’s und war ein unabwendbares Schicksal, in das es hieß, sich fügen mit männlicher Ergebung.

[433] Nachdenklich ging er die Treppe hinab und mit etwas verlegenem Gruße an dem fleißigen Waniek vorbei in den strömenden Regen hinaus. Gar bald besiegte das Bewußtsein, daß jeder Schritt ihn der Vielgeliebten näher führte, alle unbehaglichen Empfindungen. Herrlich erschien ihm sein Spaziergang unter der Himmelstraufe. Welch ein Unterschied zwischen der Stadt und dem Lande! Dort schütten die Wolken nassen Ruß auf unsere Häupter, hier weiches, thauklares Wasser. Übermüthig schob Bertram den Hut ins Genick, warf den Kopf zurück und bot sein Gesicht dem Regen dar. Wohlthuend kühl rann er ihm über die Stirn und die Wangen. Der Sturm hatte sich gelegt, mit sanftem, gleichmäßigem Rauschen fiel der Regen zur heißdürstenden Erde nieder, die ihm alle ihre Poren öffnete und neu belebt den Duft ihrer urkräftigen, zähen Schollen als urgesunden Athem ausströmte.

In der Nähe der Wegstelle, an der ein Fußsteig abzweigte und dem Dorfe zulief, waren einige Linden im Dreiecke gepflanzt. Am Stamme der einen lehnte eine weibliche Gestalt, in einem langen, [434] grauen Mantel, und sie schien etwas Rothes in den Armen zu tragen und nun etwas Weißes in Bewegung zu setzen. Sollte das vielleicht ein Taschentuch sein, und gab sie ein Nothsignal?

Er beschleunigte seine Schritte und hörte ganz deutlich seinen Namen rufen, und nun überrieselte es ihn auch im bildlichen Sinne, denn o Zufall, verhüllter, geheimnißvoller Gott! Die ihn rief, war sie, seine unbewußte Quälerin, die geliebte Feindin seiner Seelenruhe.

Er rannte, er sprang mit beiden Füßen über einen Graben (was der Mensch nicht alles kann, ohne zu ahnen, daß er’s kann) und war bei ihr und fragte: »Was befehlen Sie, mein Fräulein?«

»Sehen Sie nur diese Verzweiflung,« antwortete sie und wies auf ein Knäblein von etwa fünf Jahren, das auf dem Boden lag, sich an ihren Mantel anklammerte und jämmerlich schluchzte. Der rothe Gegenstand aber, den Bertram von weitem gesehen hatte, war ein Federbett, und in dem steckte ein Wickelkind, das zu Gertrud, die es sanft und liebkosend wiegte, mit weitgeöffneten erschreckten [435] Augen emporsah und jeden Augenblick bereit schien, in ein Geheul auszubrechen.

O du dummes Kind! dachte Bertram.

Er hörte nun, daß der Junge, der sein kleines Schwesterchen trug – sie hatten es nach hiesiger Sitte mit einem Tuch an seinen Hals festgebunden – vor Gertrud hergelaufen war, als sie von ihrer Pflegebefohlenen zurückkehrte. Plötzlich glitt er aus und fiel und konnte nicht aufstehen, ehe sie ihm zu Hülfe kam.

»Und nun muß man ihn nach Hause tragen,« sagte sie, »seine Eltern sind im Meierhof bedienstet. Er hat sich weh gethan, kann nicht gehen, sehen Sie nur, sein Knie blutet, bitte, heben Sie ihn auf.«

Bertram war betreten: »Ich habe noch nie ein Kind aufgehoben,« sagte er.

»So will ich’s thun, übernehmen einstweilen Sie das Kleine.«

Ihn überfiel ein Grauen: »Da nehme ich doch lieber den Buben,« erwiderte er, beugte sich nieder und hob ihn in die Höhe, und das Knäblein schrie wie am Spieße und schlug mit den Füßen und [436] Fäusten gegen ihn. »Gebrochen hat er sich wenigstens nichts,« sprach Bertram beruhigend.

Plötzlich und mit merkwürdig kräftiger Stimme, fiel das Baby ins Gezeter des Bruders ein. Unter schmetternder Vokalbegleitung zogen Herr Vogel und Fräulein von Weißenberg in den Hof und erregten die Heiterkeit aller, denen sie begegneten. Zwei junge Mägde standen vor dem Thor des Kuhstalles; Gertrud richtete in gebrochenem Czechisch eine Bitte an sie und deutete dabei nach der Wohnung der Meierknechte. Aber die Angeredeten schüttelten die Köpfe und wiesen mit ausgestreckten Fingern auf ein dürres, schiefgewachsenes Weib, das jetzt von der andern Seite des Hofes herübergestoben kam.

»Das wird wohl die Mutter sein,« sagte Gertrud.

Megärenhaft drohend war die Frau der Gruppe am Stallthor zugeeilt und übergoß das betroffene Menschenpaar, das ihre kreischenden Sprößlinge in den Armen trug, mit einem Schwall von Verwünschungen. Sie schien Rechenschaft von den beiden zu fordern, Antwort zu heischen. Eben so [437] gut wie mit ihr hätte man sich aber mit dem Rheinfall in eine Kontroverse einlassen können. Sie befreite zuerst Bertram von seiner Bürde, indem sie ihm den Buben entriß und ihn so jäh und heftig auf den Boden stellte, als ob sie ihn hineinstoßen wollte, legte ihm eine Hand auf den Scheitel und drehte ihn mit der andern an der Schulter einige Mal wie einen Kreisel um seine eigne Achse.

Er war plötzlich verstummt und ließ sich das rauhe, mütterliche Verfahren lautlos gefallen. Mit bedenklichem Kopfschütteln, aber sichtlich enttäuscht, schob das Weib ihn hinweg, trat auf Gertrud zu und nahm ihr das Kindlein vom Arm. Es hörte alsbald zu weinen auf und jauchzte und strampelte seiner Mutter entgegen. Sie blickte mit boshaftem Triumph um sich, lauter und lauter erscholl ihr Geschrei, und wenn ihre Worte für Gertrud und Bertram auch unverständlich blieben, deutlich sprachen ihre wild anklagenden Gebärden, ihr leidenschaftlicher Ton: Seht, seht, das Kind athmet auf, ich hab’s von seinen Peinigern erlöst. Die Mägde lehnten am Thürpfosten, zwinkerten ihr zu und machten sich ein Vergnügen daraus, durch eine Bemerkung, [438] ein Auflachen, Öl ins Feuer ihres zu gießen.

»Ich bitte Sie,« sprach Gertrud, »schenken Sie ihr etwas, ich habe nichts mehr bei mir. Sie führt diese ganze Szene nur auf, weil sie etwas geschenkt haben will.«

»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein,« erwiderte Bertram, »ein so nichtsnutziges Vorgehen darf man nicht belohnen.« Stark wie ein Löwe kam er sich vor, weil er vermochte, der Vielgeliebten eine Bitte abzuschlagen. Er wendete sich und rief dem kreischenden Weibe mit Entschlossenheit das zweite czechische Wort, das er wußte, zu: »Ne! Ne!«

Dann wurde der Rückzug angetreten, aber langsam, um ihm jeden Anschein von Flucht zu nehmen. Gertrud hatte ihren Gleichmuth gewahrt, Bertram war tief gebeugt:

»Diese fürchterliche Person scheint zu glauben,« sagte er, »daß wir ihre Kinder überfallen und mißhandelt haben und sie ihr meuchlings hinlegen wollten, wie der grimme Hagen den erschlagenen Siegfried.«

»Gott behüt’s, sie glaubt nicht das geringste [439] Böse, sie wollte uns nur eine unangenehme Komödie vorspielen und Geld bekommen – für’s Aufhören.«

»Sie meinen?«

»Gewiß. Es macht mich oft staunen, wie wunderbar die Leute hier Komödie spielen können.«

Er blickte sie liebreich an und rief: »Ich danke, danke Ihnen!«

»Wofür denn?«

»Dafür, daß Sie die Sache so leicht nehmen; wenn ich jetzt allein gewesen wäre, ohne Sie, meinen eignen Grübeleien überlassen – den ganzen Tag hätte der Auftritt mit dem widerwärtigen Weibe mir verdorben. Einen ganzen, von den wenigen Tagen, die ich mir gönnen darf zur Erholung von jahrelanger, verhaßter Thätigkeit.«

»Wirklich so sehr verhaßt? Und es war doch eine erfolgreiche Thätigkeit.«

»Erfolgreich? Wenn ich etwas nicht sehe, ist’s eben der Erfolg. Wen hab’ ich belehrt, erhoben, gebessert?«

»Nun, Sie haben doch gewiß veredelnd auf den Geschmack der Schriftsteller und des Publikums gewirkt, Sie haben auch viele erheitert.«

[440] »Aber eine verletzt, die mir mehr gilt als viele, als alle.«

»Sie sind fast Ihr Leben lang von dieser Thätigkeit erfüllt gewesen; wird sie Ihnen nicht abgehen? Wird die ungewohnte neue Beschäftigung Ihnen die alte ersetzen können?«

»Welche Frage! Was Sie die neue nennen, ist mein Ausgangspunkt, ist das, wozu ich mich als Knabe schon berufen fühlte, nach dem ich mich als Mann heiß gesehnt habe. Eine Heimkehr wird es sein, die ich hier, einlaufend wie in den Hafen, feiern werde. Dort draußen war ich bloß ein schwaches Echo aller Stimmen in der modernen Litteratur, ein venetianischer Löwenrachen, eine Art Dinoysiusohr.«

Gertrud unterbrach ihn lachend: »Was nicht alles noch?«

»Verstehen Sie mich, ich will sagen, ich war nichts und gebe nichts auf ... Aber denken Sie an Shakespeare, der sich in Fülle der Kraft schaffens- und ruhmesmüde nach seinem Stratford zurückgezogen hat und wieder Landmann und Jäger geworden ist. Und ich armseliger Skribler sollte [441] Sehnsucht empfinden nach meiner jämmerlichen Frohnarbeit?«

Sie waren aus dem Bereich der kleinen Seen, die sich auf der Straße zu bilden begannen, in den Schutz des Gartens gelangt. Ganz nahe dem Eingang breitete ein blüthenbedeckter Tulpenbaum sein dichtes Gezweig über eine Bank, die seinen Stamm umschloß. Bertram und Gertrud traten unter die grüne Kuppel und standen eine Weile schweigend vor einander. Er versank in ihren Anblick. Sie war herzbezwingend in ihrer ruhigen Anmuth, ihrer edlen Gelassenheit.

»Krankenwärterin also,« sagte er auf einmal ganz unmotivirt. »Und Sie wollen natürlich viele Patienten pflegen, mein gnädiges Fräulein ... Aber entschuldigen Sie! ich sage immer ‘mein Fräulein,’ statt Ihnen den Titel zu geben, der Ihnen gebührt.«

»Dafür habe ich Ihnen von Anfang an gedankt.«

»Um so besser. Ich weiß freilich keinen so hold und adelig wie die Verkleinerung des schönsten deutschen Wortes: Frau, Herrin, Gebieterin. [442] Fraue mein! wer das sagen darf zu der Geliebten, was bleibt dem zu wünschen übrig, was kann das Schicksal ihm anhaben? Und wenn ihm sein Haus über den Kopf angezündet wird, und wenn ihn die Sozialisten um Hab und Gut bringen und wenn er für einen Vivisector kleiner Kinder gehalten wird, er trägt’s, er bleibt aufrecht, was soll ihn beugen, so lange sie in Treuen zu ihm steht? Fraue mein! ... ich will sagen, mein Fräulein, mein gnädiges ...«

Er hielt inne, er zitterte am ganzen Leibe: »Setzen wir uns,« sagte er. Und sie setzten sich neben einander auf die Bank; er warf seinen Hut ins Gras und lehnte den Kopf an den Stamm des Baumes.

»Viele Patienten, ja, ja. Einen einzigen zu pflegen, einen unerträglichen, nervösen Menschen, der sein eigentliches Selbst verloren hat und erst wiederfinden muß, zur Vernunft bringen, ihm helfen, seinen Frieden wiedergewinnen, die Aufgabe wäre Ihnen zu gering?«

»Sie ist nicht gering. Es ist eine schöne Aufgabe.«

[443] »O, wäre sie’s! Dann wäre sie ja Ihrer würdig ... und Sie könnten sich entschließen, sie zu übernehmen, es wenigstens zu versuchen?«

»Versuchen? ja – vielleicht.«

Ein unaussprechliches, ein kindisches Entzücken erfaßte ihn: »Wissen Sie, was Sie sagen? Wissen Sie, daß in dem Falle ein Versuch schon das Gelingen und himmlische Gewißheit ist?... Antworten Sie mir ... oder nein, antworten Sie nicht, erwägen Sie! Das Leben, das ich Ihnen zu bieten habe, ist ernst und arbeitsvoll ...«

»Hab’ ich je Anspruch auf ein anderes gemacht?« unterbrach sie ihn. »War ich nicht darauf gefaßt, meinen Weg durch dieses ernste Leben allein zu gehen?«

»Und wenn sich nun ein Gefährte findet, der Sie beschwört, lassen Sie uns miteinander wandern, lassen Sie uns fest und treu zusammenhalten« – er machte eine jähe Bewegung, als ob er auf das Knie sinken wollte.

»Nicht knieen,« flüsterte sie, »nicht auf dem feuchten Boden knieen!«

Aber da lag er schon zu ihren Füßen: »Doch, [444] doch! so muß ich Ihnen in Demuth gestehen, daß ich Sie liebe, Sie geliebt habe vom ersten Augenblick an.«

»Und ich – wenn ich denke – ich habe Sie gefürchtet.«

»Gertrud!« Er nahm ihre Hände und preßte sie an seine Lippen: »Fraue mein, darf ich Sie so nennen? O Gertrud, welche Wonne, welche Wohlthat!«

Sie beugte sich über ihn und drückte mit scheuer Zärtlichkeit die Wange auf seinen Scheitel: »Sagen Sie doch nicht Wohlthat, ich habe Sie ja von Herzen lieb.«

»Ist das möglich? wirklich möglich?«

»Es ist. Ich kenne Sie erst seit kurzer Zeit, und doch kommt mir vor, als hätte ich Sie schon lang sehr lieb.«

»Wie lang?«

»Seitdem ich aufgehört habe, Sie zu fürchten ... oder vielleicht sogar schon etwas früher ...«

»Früher? trotz der Furcht?«

»Trotz der Furcht, und wahrscheinlich auch vom ersten Augenblick an.«

[445] »Ihr Ernst? Gertrud, Sie Wunderbare, ich muß es glauben, wenn ich weiterleben soll – aber lehren Sie mich es glauben. Daß ich nur Vogel heiße, macht Ihnen das nichts? ... Und,« er fuhr erschrocken mit der Hand nach seinem Kopfe, »daß ich eine Glatze habe, macht Ihnen das auch nichts?«

»Gar nichts,« erwiderte sie und lächelte ihn an, freundlich, zutraulich, liebreich.

Glückstrahlend sah er zu ihr empor, sprang auf, setzte sich wieder an ihre Seite, schlang den Arm um sie und sprach, sprach sehr viel und nicht ein gescheites Wort und gab sich davon gar keine Rechenschaft. Er hatte vergessen, wonnig vergessen, daß es je sein Metier gewesen war, geistreich zu sein.

Sie fand das nicht lächerlich, es rührte sie. Dann erzählten sie einander ihre Lebensgeschichte, und das Schönste war, daß sie keine hatte, oder doch nur eine, deren Inhalt sich in zwei Sätze fassen ließ: Ich habe kränkliche Eltern gepflegt. Ich habe standesgemäß gedarbt von Jugend auf.

Und die seine?

So streng er sein Gewissen erforschte, so sehr [446] ihm daran lag, der Geliebten ein wahres und nicht ein geschmeicheltes Bild von sich zu entwerfen, er mußte seiner milden Richterin zugeben, daß er im Leben mehr Plage als Genuß gehabt und mehr gelitten als gesündigt hatte.

Sie hörte ihm teilnehmend zu und fand eine Entschuldigung für jede seiner Selbstanklagen. Und er war ein stolzer, glückseliger Mann, küßte sie und hielt sie in seinen Armen wie ein Heiligthum.

Der Regen hatte ein wenig nachgelassen; von den kleinen Zweigen, aus den Tulpenkelchen fielen einzelne, helle Regentropfen schwer zu Boden. In dem Wipfel des Baumes ließ ein sanftes, wohliges Rauschen sich vernehmen, als wüßte der Alte, daß er zwei glückliche Menschen unter seinem mächtigen Gezweige barg.


Bertram und Gertrud traten in das Zimmer Weißenbergs. Sie hatte sich Zeit genommen, ihren Hut und ihren Mantel abzulegen, er brachte den Regen des Himmels auf seinen Kleidern mit.

»Freund, o Freund, sie ist mein, ich hab’ ihr Jawort!« rief er aus, stockte aber plötzlich, denn [447] sein Erscheinen hatte Verlegenheit hervorgerufen. Hugo und seine Gattin, die neben ihm stand, schienen sehr ergriffen; die Augen Weißenbergs waren feucht, die Baronin schwamm in Thränen und sah aus wie eine ältliche Rose im frischen Morgenthau.

Auf einem Tische in der Nähe des Kamins lagen zwei Pakete. Das eine war Bertram wohlbekannt; unter seinen Augen hatte der Freund es kürzlich erst in stiller Ergebung so nett zusammengefaltet, wie es sich da wieder präsentirte. Das andre war viel größer, eine gewaltige, verschnürte und versiegelte Postsendung. Auf der Adresse las man außer dem Namen der Baronin: »Hundert Gulden Nachnahme«.

Bertram schlug mit der Faust darauf: »Schuft von einem Carolus!«

»Verzeihen Sie ihm, wie ich ihm verzeihe,« sprach Bertha mit vielem Gefühl, »in meiner Seele ist heute kein Platz für eine herbe Empfindung; ich grolle nicht.«

»Wie gut für uns, daß wir Sie in so milder Stimmung finden, theure, verehrte Frau!... [448] Hugo, mein Freund, segne uns, wir sind ein Brautpaar. Gnädigste Baronin, segnen Sie uns.«

Die vortreffliche Baronin sandte einige gerührte: »Ah!« zum Himmel, gratulirte ihrer Nichte, gratulirte Bertram und gratulirte sich selbst zu ihrer Divinationsgabe. Sie hatte es ja gedacht, daß es so kommen müsse. Ein seltener Geist, eine eben so seltene anmuthige Gediegenheit können nichts Besseres thun, als sich vereinigen zum ewigen Bunde. Schön bewegt wollte sie die Hände erheben, aber ihr Gatte sprach:

»Einen Augenblick; jetzt will auch ich eine Rede halten.« Er hatte diesen Vorsatz etwas voreilig ausgesprochen, blickte nun hülflos umher, suchte nach Worten und fand sie erst nach einer Weile: »Junges Paar, vor dir steht ein altes, das zum ersten Mal nach zwanzigjähriger Ehe ein Geheimniß vor einander gehabt hat. Der Vertraute beider, ein Ehrenmann, würde es ewig bewahrt haben, aber sie hielten es nicht aus, die beiden, daß ein dritter in irgend einer Sache von einem von ihnen mehr wußte, als einer der beiden vom andern. Sie hielten es nicht aus ...« Seine [449] Stimme gerieth ins Schwanken. »Ihre alte, treue Liebe – alte Liebe ... ich will sagen« ... Jetzt kippte die Stimme völlig um.

Die Baronin hüllte ihren Gatten in einen Blick voll Zärtlichkeit und sprach: »Du willst sagen, Hugo: das Geheimniß war begraben in der Brust des Freundes, aber nicht einmal den Schatten eines todten Geheimnisses konnten die beiden zwischen einander dulden.«

»So ist es, sie spricht gut, die Tante,« sagte der Baron etwas kleinmüthig zu Gertrud, und diese ergriff seine Hand und küßte sie rascher, als er’s wehren konnte.

»Wir verstehen dich aber doch und lieben dich, Onkel Weißenberg.«

»Und auch mich?« fragte die Baronin und machte ihrerseits Anstalt, die Arme auszubreiten – aber gegen Bertram.

»O gnädigste Frau!«

»Sage Tante, mein Neffe Vogelweid.«

Und nun kam es zu mehreren Umarmungen.

»Rührstück, fünfter Aufzug, letzte Szene,« ließ eine schrille Stimme sich vernehmen. Hagen, gefolgt [450] von Sieglinde, war eingetreten. Er warf einen kurzen Blick auf Bertram, der Gertrud an seine Brust gezogen hatte und prallte zurück. In der nächsten Sekunde aber schon wurde er seiner Bewegung Herr und sprach kalt und höhnisch: »Der reine Kotzebue, wir verschimmeln hier.«

In einem Tone, so streng, wie er ihn dem Liebling gegenüber noch nie angeschlagen hatte, versetzte Weißenberg:

»Du wenigstens nicht. Du kommst fort aus dem Elternhause, du kommst nach Wien.«

»Nach Wien?« Die Wangen des Jünglings flammten in freudiger Röthe auf; alsbald jedoch kam der Skeptiker wieder zum Vorschein: »Nach Wien, das geschieht nicht, das wäre zu gescheit.«

»Mama!« rief Sieglinde weinerlich, »hörst du? er fährt nach Wien, und ich kann hier sitzen bleiben, an mich denkt niemand.«

»Es bildet ein Talent sich in der Stille, junge Dichterin,« tröstete Bertram. »Sie bleiben, um in Erwartung des eigenen Glückes das unsere zu besingen.«

Sieglinde lächelte unter Thränen. Daß der [451] strenge Kritiker sie Dichterin nannte, war ein heilendes Pflaster auf die Wunde, die man ihr durch eine vermeintliche Zurücksetzung geschlagen hatte.

Am Mittagstische fehlte Herr Meisenmann. Die Baronin deutete auf seinen leeren Platz und sprach:

»Der Professor läßt sich entschuldigen, er ist zu Schiff – nach Böhmen.«

Beim Dessert eine neue Überraschung, ein Telegramm für Herrn Vogel. Er erbat von der Hausfrau die Erlaubniß, es zu lesen. Es lautete:

Artemis Wassiljewna Tschertschaptschikow, Gutsbesitzerin, Just Carolus, Schriftsteller, empfehlen sich als Verlobte.

Bertram brach in Lachen aus: »Ist das eine unmoralische Geschichte! Einem Spitzbuben wird die Bußfahrt, die er antreten soll, zur Brautfahrt.«

Für Bertram und Gertrud folgten wunderschöne Tage. Der unbarmherzige Vogelweid war weich wie ein Kind in der Reconvalenscenz. Das Glück hatte alle Bitterkeit in ihm aufgezehrt. Längst entschlummerte Tugenden: Nachsicht, Geduld, erwachten wieder in seiner Brust und regten schneeweiße Engelsflügelchen. Ohne den leisesten [452] Spott berichtigte er die nicht ganz zutreffenden Schlagworte der Baronin, und lächelte sanftmüthig, wenn sie sich gedrungen fand, ihm die Honneurs der Litteratur zu machen.

Ganz selig und geläutert und über alle irdische Mühsal erhaben, fühlte er sich, wenn Gertrud in einem solchen Augenblicke aufstand, zu ihm trat, seinen vielgeplagten Kopf zwischen ihre Hände nahm, ihn auf die Stirn küßte und sprach:

»Mein Freund, mein geliebter.« Einmal sagte sie auch: »Vielgefürchteter, du bist das Höchste, das es giebt, du bist die Güte selbst.«

Viel, viel zu rasch kam die Stunde der Trennung herbei. Nicht allein, wie er gekommen war, trat Bertram die Rückreise an. Der Herr und der Sohn des Hauses begleiteten ihn; die sämmtliche Dienerschaft folgte und nahm Aufstellung unter dem Thor.

Weißenberg umarmte seine Frau und seine Tochter: »In acht Tagen, sobald der Junge installirt ist, bin ich wieder da.«

»Und ich im Juli,« rief Hagen, und schwang sich flatternd vor Ungeduld neben den Kutscher auf [453] den Bock: »Adieu, adieu.« Ein unterdrücktes Schluchzen der Baronin, Sieglindens, einiger Diener und Dienerinnen machte sich Luft. Gertrud und Bertram standen Hand in Hand. Sie war sehr blaß; über sein Gesicht blitzte das fatale Zucken, das die ganze Zeit hindurch nicht mehr zum Vorschein gekommen war. Traumverloren stieg er in den Wagen, schrie aber, sobald sich der in Bewegung gesetzt hatte:

»Halt! halt! um Gotteswillen halt! ich habe ja vergessen, mich zu empfehlen.« Der Kutscher riß die Pferde zusammen, Bertram sprang zur Erde, eilte auf die Baronin zu und küßte ihre Hand: »Dank für alle Ihre Güte und Gnade. Dank dafür, daß sie mich zu den Ihren zählen. Gnädigste Baronin, verehrte Tante, bewahren, behüten Sie mir mein Glück!«

Die Baronin wollte sprechen, konnte aber nicht, sie war zu bewegt.

Bertram wendete sich zu Sieglinde: »Baronesse« ...

»Cousine,« verbesserte sie erröthend.

»Liebe, theure Cousine, leben Sie wohl: außerordentlich [454] wohl! Ich bitte um Ihre Photographie. Und Sie – und du Gertrud, mein Trost, mein Hoffnungsstern, mein Alles, bleib mir treu und gut ... übers Jahr, meine, meine Gertrud.« Er breitete die Arme aus, er schloß die Geliebte noch einmal vor der langen Trennung an sein Herz.

 

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Auflistung der gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen:

 

 


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Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

Each eBook is in a subdirectory of the same number as the eBook's
eBook number, often in several formats including plain vanilla ASCII,
compressed (zipped), HTML and others.

Corrected EDITIONS of our eBooks replace the old file and take over
the old filename and etext number.  The replaced older file is renamed.
VERSIONS based on separate sources are treated as new eBooks receiving
new filenames and etext numbers.

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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EBooks posted prior to November 2003, with eBook numbers BELOW #10000,
are filed in directories based on their release date.  If you want to
download any of these eBooks directly, rather than using the regular
search system you may utilize the following addresses and just
download by the etext year.

http://www.gutenberg.org/dirs/etext06/

    (Or /etext 05, 04, 03, 02, 01, 00, 99,
     98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90)

EBooks posted since November 2003, with etext numbers OVER #10000, are
filed in a different way.  The year of a release date is no longer part
of the directory path.  The path is based on the etext number (which is
identical to the filename).  The path to the file is made up of single
digits corresponding to all but the last digit in the filename.  For
example an eBook of filename 10234 would be found at:

http://www.gutenberg.org/dirs/1/0/2/3/10234

or filename 24689 would be found at:
http://www.gutenberg.org/dirs/2/4/6/8/24689

An alternative method of locating eBooks:
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