The Project Gutenberg EBook of Erinnerungen by Ludwig Thoma

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Title: Erinnerungen

Author: Ludwig Thoma

Release Date: September 26, 2009 [Ebook #30097]

Language: German

Character set encoding: UTF-8


***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ERINNERUNGEN***

Ludwig Thoma / Erinnerungen



Erinnerungen


Mit 8 Zeichnungen
von Olaf Gulbransson



Einmalige Ausgabe

Deutsche Hausbücherei Hamburg

Band 588
Diese Buch erscheint hiermit in Einmaliger Ausgabe für die Deutsche Hausbücherei, Hamburg 36, Schließfach 233, und wird nur an Mitglieder der Deutschen Hausbücherei abgegeben. Einzeln ist es in der Originalausgabe des Albert Langen / Georg Müller Verlag, München, nur im Buchhandel zu haben. Der Einbandentwurf stammt von Hans Bohn. Der Druck und das Einbinden erfolgten in der Hanseatischen Verlagsanstalt, Hamburg-Wandsbek. Copyright 1919 by Albert Langen / Georg Müller Verlag G.m.b.H., München.
Printed in Germany


Inhaltsverzeichnis



[pg 5]

Kinderzeit

Die Vorfahren meines Urgroßvaters waren Klosterjäger bei den Zisterziensern in Waldsassen; einer von ihnen wird um 1618 im Pfarrbuche als Venator regius aufgeführt und war demnach ein Jagdknecht des böhmischen Winterkönigs Friedrich, der als Kurfürst von der Pfalz das schon im Jahre 1560 säkularisierte Kloster Waldsassen mit seinem riesigen Waldbesitze von seinen Vorgängern übernommen hatte. Erst nach einem vollen Jahrhundert, um 1669, wurden die Zisterzienser wieder in ihre Rechte eingesetzt, und die Klosterjäger Thoma fanden wohl genug Ursache zu Verdruß und Streit mit den rauhhaarigen Hintersassen, die sich nur langsam an Gesetz und Recht gewöhnten. Schon 1525 hatte der Pfälzer Kurfürst mit grobem Eingriff in die Machtsphäre der Abtei den Bauern die Jagd freigegeben, die sie wie überall und immer mißbräuchlich ausnützten.

„Die Äcker lagen brach, auf den Wiesen flog der Wald an, und die Bauern taten nichts mehr als jagen“, erzählt der Chronist.

Allmählich mag’s wieder besser geworden sein, denn als am 4. September 1786 Herr Wolfgang von [pg 6]Goethe auf seiner Fahrt nach Italien von Karlsbad her durchreiste, fand er in dem Stifte Waldsassen ein „köstliches Besitztum der geistlichen Herren, die früher als andere Menschen klug waren“. Vielleicht stand unter irgendeinem Torbogen der noch nicht zwanzigjährige Sohn des Joseph Adam Thoma und sah die Eilkutsche vorüberrollen, in der der Olympier saß und sich freute, daß ihm die heimliche Abreise so wohl gelungen war.

Die Begegnung ließe sich einbilden, denn mein Urgroßvater hielt sich dazumal in Waldsassen auf.

Über ihn, den Geheimen Oberforstrat Joseph Ritter von Thoma, besitze ich genauere Nachrichten aus Familienpapieren und aus dem Buche von Dr. Heß: „Lebensbilder hervorragender Forstmänner.“

Er wurde in Waldsassen im Januar 1767 geboren – genau hundert Jahre vor mir –, trat 1791 in kurbayrische Dienste, kam 1799 nach München als Rat der Landesdirektion Bayerns und trat 1817 an die Spitze der bayrischen Forstverwaltung.

In dieser Stellung verblieb er bis 1849.

Er heiratete Sabina Freyin von Heppenstein und führte mit ihr eine glückliche, mit Kindern gesegnete Ehe.

„Er starb“, heißt es bei Heß, „an demselben Tage, an welchem der König das Dekret über die von ihm erbetene Versetzung in den Ruhestand unter Anerkennung seiner großen Verdienste durch Verleihung des [pg 7]Komturkreuzes des Verdienstordens der bayrischen Krone unterzeichnete.

Am 7. Mai 1841 hatte er unter großer und freudiger Teilnahme der Forstbeamten im ganzen Königreiche sein 50jähriges Jubiläum begangen.“

Als sein hervorragendes Werk wird ihm die Forstorganisation von 1822 nachgerühmt, durch welche erst die Einheit der bayrischen Forstverwaltung geschaffen wurde, und die in ihren Grundzügen bis 1885 erhalten blieb. Auch als Jäger genoß er ein hohes Ansehen, und als um 1841 die Verhältnisse in der Leibgehegsjagd zu starken Klagen Veranlassung gaben, wandten sich die Revierförster und Jagdgehilfen vertrauensvoll an meinen Urgroßvater, der Abhilfe schuf.

Der König verlangte von ihm ein Gutachten über einen passenden Vorstand der Hofjagd-Intendanz. Es handelte sich um zwei Bewerber, Forstmeister Kaltenborn von Freising und Forstmeister Reverdys von Berchtesgaden, die beide ihre Laufbahn als königliche Leibjäger begonnen hatten, dann Revierförster und Forstmeister geworden waren.

Nach der in unserer Familie erhaltenen Überlieferung war mein Urgroßvater ein stattlicher Mann von würdevollem Wesen, gütig, wortkarg, doch geselligen Freuden nicht abgeneigt, ein eifriger Jäger bis ins hohe Alter und ein geschätzter Musiker.

Ich besitze eine nach der Natur gezeichnete Lithographie von ihm, die von der hohen Porträtkunst jener Zeit ein sprechendes Zeugnis ablegt.

[pg 8]

Das kräftig geschnittene Gesicht, an dem die hohe Stirn und ein Paar kluge, versonnene Augen auffallen, zeigt keinen bürokratischen Zug und ließe in ihm, wenn die Unterschrift fehlte, einen Künstler vermuten.

Sein ältester Sohn, mein Großvater Franz Thoma, war viele Jahre Forstmeister in Schongau und hatte ausgedehnte Jagdreviere, die vor dem Jahre 1848 sehr wildreich waren; ein alter Jagdgehilfe von ihm, der in Oberammergau im Ruhestand lebte, erzählte mir davon Wunderdinge, und wenn auch einiges Latein gewesen sein mag, so blieb noch genug Wahrheit übrig, um mir zu zeigen, daß damals das goldene Zeitalter der Jäger war. Bei den Treibjagden mußten die Bauern noch Dienste leisten, und die Beute war so groß, daß man etliche Leiterwagen zum Heimschaffen brauchte. Das berühmte Freiheitsjahr brachte das große Schinden und die Vernichtung des Wildstandes auf lange Zeit hinaus; es war kaum mehr Übertreibung, wenn die „Fliegenden Blätter“ einen Förster zeigten, der im Tiergarten den letzten Rehbock im Käfig betrachtete.

Die Verwüstung seiner Jagd griff meinem Großvater ans Herz, und er mochte nicht mehr in den ausgeschossenen Revieren bleiben.

Er gab um Versetzung ein und kam nach Kaufbeuren, wo der spätere Ministerialrat August von Ganghofer, der Vater Ludwig Ganghofers, sein Aktuar wurde.

[pg 9]

Meine Mutter wußte mir viel Freundliches von ihrem Schwiegervater, der sie sehr geschätzt haben muß, zu erzählen. Er war ein temperamentvoller Herr, und meine Neigung zum Jähzorn soll ich von ihm geerbt haben, aber für gewöhnlich zeigte er eine gewinnende Fröhlichkeit, und ein Schreiben der Bürger Schongaus, die ihrem Forstmeister zum 25jährigen Jubiläum gratulierten, rühmt ihm besonders Herzensgüte gegen Arme nach.

Meine Mutter hieß ihn einen Kavalier von der alten Schule, ohne mir den Unterschied zu der neueren zu erklären, und meine Tante Friederike, die als „königliche Forstmeisterstochter älterer Ordnung“ erst vor einigen Jahren im Damenstifte Neuberghausen starb, rühmte ihrem Vater peinliche Akkuratesse in der äußeren Erscheinung nach.

Im Jahre 1862 starb er. Seine Witwe, Henriette Thoma, lebte bis 1871 in Lenggries, treu und liebevoll behütet von ihrem ältesten Sohne Max, der in der nahen Vorder-Riß als Oberförster hauste.

Er war mein Vater.

Aus seinen Zeugnissen und Briefen entnehme ich, daß er im November 1842 die Universität München bezog. Dort hat sich der „lange Thoma“ einen guten Namen als Schläger gemacht und Proben einer ungewöhnlichen Körperkraft abgelegt, sonst aber sich so geführt, daß ihm Anno 1845 der Rektor Dr. Döllinger[pg 10] urkundlich bestätigen konnte, „es liege hierorts nichts Nachteiliges gegen ihn vor“.

Er bestand die theoretische Prüfung der Forstkandidaten und wurde zur praktischen Vorbereitung auf den höheren Forstdienst zugelassen. Drei Wochen später wurde ihm von seinem Forstmeister und Vater Franz Thoma eröffnet, daß ihm die „Praxisnahme auf dem Forstrevier Hohenschwangau“ gestattet sei, und daß er für diese Eröffnung einen Taxbetrag von 34 Kreuzern zu erlegen habe.

Im Januar 1846 wurde er zum Verweser des Gehilfsposten beim Reviere Wies mit einer „Remuneration von täglich 15 Kreuzern“ gnädigst bestimmt und avancierte dann zum wirklichen Forstgehilfen in Thierhaupten, später in Peißenberg.

Als Aktuarsverweser in Ettal bezog er bereits im Jahre 1847 eine Taggebühr von 45 Kreuzern und bewies alle Zeit die Wahrheit des Sprichwortes: Mit wenigem lebt man wohl.

Er galt als guter Jäger und Kugelschütze. Dagegen scheint er beim Trinken Zurückhaltung beobachtet zu haben. Ein Freund macht ihm brieflich diesen Vorwurf, woraus ich schließe, daß man damals den Fehler als ungewöhnlich rügen durfte.

In Tölz, wo der Forstgehilfe Max Thoma zu Forsteinrichtungsarbeiten im Jahre 1852 weilte, zeigte man mir in einer Weinstube noch zu Anfang der achtziger Jahre eine Kneipzeitung, die er mit Text und Karikaturen ausgestattet hatte.

[pg 11]

Er lachte gerne und ließ sich keine Mühe verdrießen, um einen Spaß von langer Hand her vorzubereiten und sorgfältig durchzuführen.

Man war damals harmlos und fröhlich in Altbayern, gemessener im Ernste, derber im Scherze als heute. Bei Scheibenschießen und Jagden war lustige Neckerei nicht bloß gern gesehen, sie galt als notwendige Würze der Geselligkeit.

Der Liebreiz jener Zeit ist uns erhalten geblieben in den klassischen Zeichnungen Max Haiders, der Hofjagdgehilfe war, bevor ihm König Max die Mittel zur künstlerischen Ausbildung gewährte.

Das Sturmjahr 1848 ist, wie es mir scheinen will, an meinem Vater vorübergegangen, ohne ihn in seinen Tiefen aufzuwühlen.

Er war stark angefärbt von dem Humor, der damals die Gestalten des Barnabas Wühlhuber und des Kasimir Heulmaier in den „Fliegenden Blättern“ schuf, und seiner ruhigen, festen Art sagten die Aufläufe der Philister vor dem Hause der Lola Montez so wenig zu wie die mit Tiraden gespickten Flugblätter.

Im übrigen konnte dem jungen Forstmanne das, was er zunächst vor Augen hatte, nicht als neuer Segen erscheinen.

Anno 1857 wurde er zum Revierförster in Piesenhausen, Forstamt Marquartstein, ernannt und heiratete Katharina Pfeiffer, eine Tochter der Schwabenwirtseheleute von Oberammergau.

[pg 12]

Die Familie Pfeiffer, früher in Oberau ansässig und begütert, stand in gutem Ansehen. Damals waren Gastwirte Respektspersonen in der Gemeinde, die ihr Gewerbe neben der Landwirtschaft trieben und sich um des Fremdenverkehrs willen nichts vergaben.

Sie hielten scharfes Regiment im Hause aufrecht und litten keine Unordnung.

Der Schwabenwirt, ein kurz angebundener Mann, galt etwas und brachte sich vorwärts, unterstützt von einer braven Frau, die zuweilen bei so hohen Gästen wie König Max Ehre mit ihrer Kochkunst einlegte.

Es war selbstverständlich, daß die Töchter bei jeder häuslichen Arbeit mithelfen mußten, in Küche und Keller, wie in der Gaststube.

Die Kinder sagten zu jener Zeit „Sie“ zu den Eltern, und der Verkehr in der Familie bewegte sich in gemessenen Formen, die keine unziemliche Vertraulichkeit oder Unbescheidenheit aufkommen ließen.

Ein Brief, in dem meine Mutter als sechzehnjähriges Mädchen ihre Eltern um Beisteuer zu einem Sommerkleide bittet, zeigt nach Stil und Inhalt so viel altväterliche, strenge Zucht, daß man versucht ist, ihn sehr viel weiter zurückzudatieren.

Sie hielt sich damals in München auf, um sich nach gutem Brauche in einem renommierten Gasthause in der Kochkunst zu vervollkommnen. Es galt als Vorzug, daß sie diese Lernzeit bei Grodemange verbringen durfte.

Was sie hier sah und lernte, trug sie säuberlich in [pg 13]ein dickes Heft ein. Gedruckte Kochbücher hatten damals wenig Geltung, und ich habe heute noch das stärkere Vertrauen zu jenen geschriebenen Rezepten, die ich als Erinnerungen aufbewahre.

Nach einem halben Jahre kehrte meine Mutter freudig zurück. Sie hing zeitlebens mit allen Fasern an ihrem Heimatdorfe und an ihrer älteren Schwester Marie, die in jungen Jahren den k. Posthalter und Verleger Eduard Lang heiratete, früh Witwe wurde und die auf uns Kinder durch ihre vornehme, stille Art einen unvergeßlichen Eindruck machte.

Die Schwabenwirtstöchter, deren jugendliche Anmut mir eine Daguerreotypie zeigt, fanden neben ihrer Arbeit immer noch Zeit, ihren Geist zu bilden, und wenn sie nicht allzuviel lasen, so lasen sie ganz gewiß nie einen seichten Roman.

Man ergötzte sich gemeinsam mit Gleichstrebenden an einem guten Buche, und ein studierender Jüngling konnte sich in den Ferien hohe Anerkennung erwerben, wenn er seine erst kürzlich erworbenen Kenntnisse in literarhistorischen Bemerkungen zu „Werthers Leiden“ oder zu „Hermann und Dorothea“ zeigte. Man las neben einigen Klassikern auch Stifters Studien, dies und jenes von Jean Paul, und man führte darüber empfindsame Gespräche, bei denen die Mädchen wohl nur die Zuhörerinnen abgaben.

Dies alles bewegte sich in bescheidenen Grenzen, führte nicht zu Überklugheit und förderte eine wirkliche Herzensbildung.

[pg 14]

Wie das im lieben Deutschland üblich ist und war, mußten auch in Oberammergau gleichgestimmte Naturen einen Verein gründen zur Pflege ihrer Ideale, oder der Liebe zum „Guten, Wahren und Schönen“, wie man damals sagte.

Der Verein erhielt den Namen „Ambronia“ mit Beziehung auf den lieblichen Fluß, der sich durch das Tal schlängelt.

Hochstrebende Jünglinge, die später als Notare, Ärzte und geistliche Räte im Vaterlande wirkten, schlossen den Bund, dem auch bildungsfrohe Mädchen beitreten durften.

Wer sich geneigt fühlt, darüber zu lächeln, der lege sich die Frage vor, wo heute noch in einem kleinen, abgelegenen Dorfe eine solche Vereinigung zustande kommen könnte, und ob in diesem Streben nicht ein gesunderer Kern steckte als im Literaturklatsch und in den Moderichtungen unserer größeren Städte.

Im übrigen war Oberammergau in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ein geeigneter Platz für solche Neigungen und Ziele.

Es saßen weitgereiste Leute dort, denn ein reger Handel mit Schnitzereien, nicht zuletzt mit den reizvollen Spielwaren, ging durch ganz Europa und auch über See. Mancher hatte sich tüchtig in der Welt umgetan und den Wert gediegener Bildung schätzen gelernt, aber jeder fühlte sich erst wieder glücklich, wenn er heimgekehrt war und behaglich im Ampergrunde zu Füßen des Kofels saß.

[pg 15]

Unter den Schnitzern gab es vortreffliche Künstler, die, weil sie sich zu bescheiden wußten, Vollendetes leisteten. Sie alle haben ihr Können der gemeinsamen Aufgabe, dem Passionsspiele, gewidmet, und dieses stand damals in seiner schönsten Blüte, denn im ganzen und in jeder Einzelheit zeigte es die aus traditioneller Kunstfertigkeit hervorgegangene Eigenart, die es später im Großbetriebe mit den von auswärts bezogenen echten Dekorationen und Kostümen verloren hat.

Die Hingabe der Gemeinde an den „Passion“, den Ruhm der Heimat, war damals frei von ungesunden Spekulationen, von Hoffnungen auf unmäßigen und leichten Gewinn.

Erst der Zustrom des englischen und des noch schlimmeren amerikanischen Sensationspöbels hat das Bild verändert.

Aber jene älteren Generationen von Aposteln und Jüngern des Herrn richteten ihr Leben ein wenig nach dem Stile ihres heiligen Spieles ein und zeichneten sich durch Wohlanständigkeit aus. Sie handelten und redeten mit einiger Getragenheit und ließen sich von dem Bewußtsein leiten, daß sie auf einem Podium stünden und von vielen beachtet würden.

Im Glauben an den besonderen Beruf des Ammergauers, der das Gefühl einer engen Zusammengehörigkeit stärkte, war man glücklich und zufrieden.

Mit den kleinen, typischen Häusern, die im Erdgeschosse eine Stube hatten, von der aus hinterm Ofen [pg 16]eine Stiege in die obere Kammer führte, ist auch anderes verschwunden.

Ich darf einer edlen Persönlichkeit nicht vergessen, die von größtem Einflusse auf das patriarchalische Leben in der Gemeinde war und ihm ein besonderes Gepräge gab.

Ich meine den geistlichen Rat Joseph Aloys Daisenberger, der manches Jahrzehnt Pfarrer in Oberammergau war und als hoher Achtziger dort starb. Von ihm ist die gegenwärtige Fassung des Passionsspieltextes sowie eine vortreffliche Geschichte des Dorfes, die man im 20. Bande des Oberbayrischen Archives findet. Außerdem hat der würdige Herr einige vaterländische Schauspiele verfaßt, die seinen Ammergauern Gelegenheit boten, ihre schauspielerischen Talente zu üben.

Ich habe noch eines gesehen und dabei meinen Onkel Hans Lang als ritterlichen Herzog von Bayern ziemlich lange Sätze sprechen hören.

Daisenberger war das Urbild eines gütigen Priesters, über dessen Lippen nie ein hartes Wort kam, nie ein unduldsames, und der mit einem stillen Lächeln es ruhig dem Leben überließ, stürmische Meinungen zu glätten.

Er kümmerte sich nicht um Ansichten, sondern um das Schicksal eines jeden, er war Freund und Vater in jedem Hause, immer bereit, zu helfen.

Die Gemeinde hat ihm auf dem Friedhofe ein Denkmal errichtet.

[pg 17]

Die wohlgetroffene Büste ist von dem Bildhauer Otto Lang modelliert, der als Sohn des Mühlbartl Sebastian aus einer alten Ammergauer Schnitzerfamilie stammt.

Mehr noch als das Denkmal ehrt den edlen Daisenberger die Erinnerung an ihn als den Schutzgeist Ammergaus, eine Erinnerung, die manches wohltätige Beginnen veranlaßte und ihm die rechte Weihe gab.

Ich habe den alten Herrn noch gut gekannt.

Wenn meine Mutter zu Besuch im Verlegerhause weilte, durfte ich ihm die „Augsburger Abendzeitung“ bringen, die er täglich von meinen Verwandten erhielt.

Er hatte stets ein gutes Wort für mich, den er getauft hat; ein Umstand, der meiner Mutter zur Hoffnung und Beruhigung diente, wenn es bei mir im Aufwachsen nicht immer schnurgerade nach oben ging.

Weil ich nun das Denkmal Daisenbergers erwähnte, will ich beifügen, daß auch dem Altbürgermeister Oberammergaus, meinem Oheim Hans Lang, dem viel gerühmten Kaiphas des Passionsspieles, ein solches errichtet werden soll, das wiederum Otto Lang modelliert und in München zur Ausstellung gebracht hat.

Es wird ausgeführt werden, wenn es wieder Bronze für diese Zwecke geben wird.

Der Bürgermeister Lang hat es wohl verdient um sein Heimatdorf, das für ihn die große und kleine Welt gewesen ist. Ich glaube nicht, daß irgendein Ereignis auf dem Theatro mundi, über das er sich weltklug zu [pg 18]verbreiten wußte, sein Inneres je so gewaltig aufregte, wie etwa die Besetzung der Rollen im Passion, und kein Eingriff in die Menschenrechte konnte ihm so verbrecherisch erscheinen wie der Versuch, den Text des Spieles zu ändern und dem modernen Empfinden anzupassen.

Ein Versuch, den eingewanderte Schöngeister mehrmals unternehmen wollten.

Aber dagegen erhob sich immer der Zorn des Volkes, und Kaiphas führte eine so drohende Sprache wie vor dem Statthalter Pontius Pilatus.

Er war ein behaglicher und braver Mann, mit einem lebhaften Temperament begabt, gescheit und bildungsbeflissen, der als Jüngling in der Ambronia aus dem Wissensquell schöpfte, als Mann jedem törichten Zwange abhold blieb und sich, während er sich gerne unterrichtete, doch nach dem Goetheschen Rezept auf das Nächste beschränkte und Tüchtiges leistete.

Ammergau darf sich glücklich schätzen, wenn es auch künftig Männer findet, denen die Heimat so viel und alles gilt wie ihm.

Den Mittelpunkt im Dorfe, wie den Mittelpunkt im Leben vieler mir teurer Menschen bildete das Verlegerhaus von Georg Langs sel. Erben.

Wie ich schon oben erwähnte, ging früher, besonders im 18. Jahrhundert, der Handel mit Ammergauer Waren durch ganz Europa, wie auch nach Nord- und Südamerika. In vielen Städten des Auslandes bestanden Handelshäuser und Niederlagen der Ammer[pg 19]gauer, so in Kopenhagen, Petersburg, Moskau, Amsterdam, Cadix, Lima u. a., und der Ammergauer Kraxenträger ging seine Wege durch vieler Herren Länder.

Das Sterbebuch der Gemeinde weist nach, daß überall in der Welt Leute aus dem Dorf tätig waren, bis sie ferne von der Heimat starben. Zur Zeit der Napoleonischen Kriege stockte der Handel, die Niederlagen im Auslande wurden größtenteils aufgegeben. Dafür wurden in Ammergau selbst Verlagshäuser gegründet, das bedeutendste von Georg Lang.

Dessen Sohn Johann Lang hat nach 1815 als rühriger und umsichtiger Geschäftsmann den Handel wieder in Flor gebracht, sich selber einen großen Wirkungskreis geschaffen und eine sichere Existenz gegründet.

Das hätte auch dem Fremden und Uneingeweihten das stattliche Haus verraten. Wie es dastand mit weit ausladendem Schindeldache, darauf die großen Steine, nur zwei Stockwerke hoch, aber in die Länge gedehnt, glich es einem behäbigen Bauernhofe, und dem Eintretenden sagten schon die prachtvolle geschnitzte Tür mit Handelsemblemen, der gewölbte Gang, die breite Treppe, daß er sich in einem ansehnlichen Bürgerhause befinde.

Gute Stiche schmückten die Wände des Treppenhauses und der in schönen Verhältnissen angelegten Zimmer und vermittelten den Eindruck, daß sich einige Generationen hier mit Geschmack wohnlich eingerichtet [pg 20]hatten. Zu ebener Erde waren ineinandergehend vier geräumige Läden, in denen mit Rokokoornamenten verzierte Glaskästen standen, die manches wertvolle Stück der Ammergauer Kunst enthielten.

Zwei Läden waren angefüllt mit Spielwaren, Puppen, Pferden, Botenfuhrwerken, Bogen und Pfeilen, Armbrusten, Hampelmännern und vielem anderen.

Man stelle sich einen Knaben vor, der aus der Risser Einsamkeit kommend plötzlich vor diesen angehäuften Herrlichkeiten stand, und man wird verstehen, wie heute noch der Eindruck in mir so stark nachlebt, daß für mich das Verlegerhaus der Inbegriff einer schönen Behaglichkeit geblieben ist.

Zu Anfang der fünfziger Jahre hatte Eduard Lang, der Sohn von Johann Lang, Anwesen und Geschäft übernommen und die Schwester meiner Mutter geheiratet.

Er muß ein edler, liebenswerter Mensch gewesen sein, denn noch viele Jahre nach seinem Tode – er starb schon 1859 – war die Erinnerung an ihn im Dorfe wie in der Familie lebendig. Meine Mutter hat mir oft die Redlichkeit seines Charakters und seinen feurigen, begeisterungsfähigen Sinn gerühmt.

Seine Witwe, der die Sorge für sechs Kinder oblag, blieb zeitlebens eine stille Frau, die ich immer ernst sah; sie genoß in ungewöhnlichem Grade Liebe und Verehrung, nicht zuletzt von seiten meiner Mutter. Ein verhaltener, gedämpfter Ton von Trauer blieb an dem Hause haften; nicht so, daß er störend gewirkt [pg 21]hätte, aber doch so, daß kein lautes Wesen aufkommen konnte.

Behaglich blieb es bei alledem, und wenn der Herr Oberförster aus der Riß zu Besuch kam und im Kreise der vielen älteren und jüngeren Damen seine lange Pfeife rauchte – eine bemerkenswerte Vergünstigung –, dann gab es auch lebhafte Fröhlichkeit.

Mein Bruder und ich haben als junge Holzfüchse erfahren, wie viele erzieherische Talente in erwachsenen Kusinen stecken, denn sie verwandten einige Mühe auf die Glättung unserer Manieren.

 

Aus einem anregenden Kreise, in dem sie wohl gelitten war und herzliche Freundschaft gefunden hatte, trat meine Mutter im Jahre 1857, um ihrem Ehemanne nach Piesenhausen bei Marquartstein zu folgen.

Mein Vater hatte nach Pflicht und Brauch beim König Max um eine Audienz nachgesucht, und meine Mutter erzählte mir noch viele Jahre später mit Lächeln und Erröten, daß der König ihm zur Wahl der Gattin Glück gewünscht und gesagt habe, er sehe wohl, daß seine Revierförster einen ausgezeichneten Geschmack verrieten.

Der König kam fast alljährlich nach Ammergau, und da mochte es wohl geschehen sein, daß ihm beim festlichen Willkommen die Töchter des Schwabenwirtes Blumensträuße überreicht hatten.

[pg 22]

Daß er sich daran erinnerte und dem jungen Forstmanne diese herzliche Freude bereitete, zeigt seine Güte und seinen Takt, die ihn, wie der alte Riehl erzählt, ganz besonders auszeichneten und ihm alle Herzen gewannen.

In Piesenhausen wohnten meine Eltern mehrere Jahre in glücklicher Ehe, der zwei Kinder, mein Bruder Max und meine Schwester Marie, entsprossen.

Mein Vater fand alles Behagen am häuslichen Herd; es ist ihm treu geblieben, und er hat es wohl zu würdigen gewußt.

Ein wertgeschätzter Freund wurde ihm der Pfarrer von Grassau, der ein passionierter Jäger war und einer von den prächtigen geistlichen Herren, die Max Haider verewigt hat. Man erzählte von ihm, daß er einmal beim Messelesen die Wandlung vergessen habe, weil vor der Kirche das Jagdhorn zum Aufbruch blies. Ich habe aber die Geschichte so oft über den und jenen Pfarrer erzählen hören, daß ich sie für erfunden halte. Sie war wohl bezeichnend für den Jagdeifer der Herren.

Die schärfere Richtung, die später kam, hat den harmlosen Freuden ein Ende gemacht, und sie hat, wie mir erzählt wurde, dem geistlichen Rat in Grassau weh genug getan.

Als er schon hochbetagt war, hetzte ein junger Kooperator die Bauern gegen ihn auf, indem er seinen Eifer oder gar seine Rechtgläubigkeit in Zweifel zog, und es fanden sich wirklich Leute, die dem gütigen Manne [pg 23]bei einer Katzenmusik die Fenster einwarfen zum Danke für viele Wohltaten, die er den Armen erwiesen hatte.

Damals aber, in den fünfziger und sechziger Jahren, freute man sich an den Pfarrern, die fröhliche Junggesellen waren, jeden Spaß in Ehren gelten ließen und sich beim Scheibenschießen und Jagen offenbar tüchtig zeigten.

Denn in allen Darstellungen spielt der Hochwürdige niemals etwa so wie der Landrichter, Assessor oder Lehrer eine komische Figur.

Im Jahre 1861 wurde mein Vater als Revierförster nach Partenkirchen versetzt.

Er hatte darum nachgesucht, wohl auch auf Bitten meiner Mutter, die sich glücklich fühlte, als sie wieder ins Werdenfelser Land und in die Nähe der Ammergauer Heimat kam.

Während der vier Jahre, die meine Eltern in Partenkirchen blieben, gab es vornehmlich zwei Ereignisse, von denen uns später erzählt wurde. Das eine war der große Brand, bei dem die Hälfte des enggebauten Dorfes in Asche gelegt wurde, und das andere die berühmte letzte Bärenjagd im Wettersteingebirge.

Sie ist mehrmals in Zeitschriften geschildert worden, obwohl sie ohne rechten Schluß blieb. Denn Meister Petz entkam, wenn auch schwer angeschossen, und verendete vermutlich in irgendeiner unzugänglichen Schlucht.

Einem alten Förster, der mit dabei war, kam der Bär auf dreißig Schritte, aber es versagten ihm die [pg 24]beiden Schüsse seines Kugelzwillings; die Kapseln brannten leer ab.

Daß er Ruhm und Schußgeld verlieren mußte, verdroß den Alten so schwer, daß er wochenlang gemütskrank war und kein anderes Wort als lästerliche Flüche über die Lippen brachte.

Sobald ihm ein Bekannter begegnete, schrie er ihm von weitem zu: „Brauchst nix red’n ... woaß scho ... woaß scho ... Himmel ... Herrgott ...“ Nur durch Anwendung von Alkohol gelang es ihm nach und nach, sein seelisches Gleichgewicht wieder zu erlangen.

In Partenkirchen lernte mein Vater den Münchner Kunstmaler Julius Noerr kennen, der ihm in der Folgezeit ein lieber Freund geworden ist.

Noerrs Landschaften erregen neuerdings Aufsehen bei Kritikern, die jetzt die Münchner Kunst der sechziger Jahre entdecken und erstaunt über die hohen Werte sind, die sich ihnen darbieten; vielleicht können ihnen die Landschaften wie die Tierbilder Noerrs, seine reizvollen Aquarelle und Zeichnungen, seine Genrebilder zeigen, wie vielseitig dieser Künstler war, der wie kaum ein anderer die Alpenwelt kannte und in nie versiegender Freude am Malerischen jeder Spezialität abhold blieb.

Von seinen Wanderungen durch Tirol und Oberbayern brachte er Mappen voll kostbarer Studien heim. Wie er mit einfachen Mitteln in Bleistiftskizzen Stimmungen festhielt, ist bewundernswert, und keiner [pg 25]hat so treu und so liebenswürdig wie er Jagd und Jäger im bayrischen Gebirge geschildert.

Sein Lebenswerk kann in der Heimat kaum voll gewürdigt werden, da die meisten seiner Bilder nach England verkauft worden sind, doch vermag das, was sich bei einheimischen Sammlern vorfindet, immerhin das hohe Können Noerrs darzutun.

Ein Können, das freilich in jener Zeit mehr verbreitet und notwendige Vorbedingung war. Mit billiger Genialität durfte man sich damals nicht hervorwagen; um das zu ermöglichen, war lange Vorarbeit der segensreichen Kritik notwendig. In dem alten, noblen München, dem Pocci, Schwind, Spitzweg, Schleich, Lier, Riehl, Kobell, Lachner und manche andere das Gepräge gaben, mußte einer was können, der aus der Reihe hervortreten wollte, und sie alle, die etwas konnten, waren vornehm und hätten sich das laute Geschrei der Markthelfer verbeten.

Noerr war späterhin ein regelrechter Sommergast in der Vorder-Riß, und obgleich er sich nicht viel mit uns abgab, wurden wir Kinder ihm besonders anhänglich.

Es war eine vielbegehrte Gunst, ihm beim Malen zuschauen zu dürfen.

Seine Freundschaft hat meinem Vater viel gegolten, und seine Kunst hat ihn in bescheidenen Maßen selber zum Schaffen angeregt.

Zu einigen Zeichnungen Noerrs, die in „Über Land und Meer“ erschienen sind, hat er die Texte verfaßt.

[pg 26]

In Partenkirchen blieb mein Vater, bis er im Jahre 1865 als Oberförster – der Titel war geändert worden – in die Vorder-Riß kam.

Die Familie war auf vier Kinder angewachsen, und der Umstand ließ meine Eltern wünschen, jene Oberförsterei, mit der Ökonomie und Wirtschaft verbunden waren, zu erhalten.

Der Posten war wegen seiner Einsamkeit nicht übermäßig begehrt, und doch wurde diese Einöde meiner Mutter wie uns Kindern zur liebsten Heimat, die wir in der Rückerinnerung erst recht mit allen Vorzügen ausschmückten.

Im Januar 1867 besuchte meine Mutter ihre Schwester Marie Lang in Oberammergau, um im Verlegerhause ihre Niederkunft abzuwarten, denn sie getraute sich nicht, in der Riß zu bleiben, weit ab von jeder Hilfe, die bei starkem Schneefalle überhaupt nicht erreichbar gewesen wäre.

Am 21. Januar gegen Mittag kam ich zur Welt, und meine Verwandten erzählen mir, ich hätte gerade, als sie von der Schule heimkamen, so laut geschrien, daß sie mich schon auf der Straße hörten.

Meine ersten Erinnerungen knüpfen sich an das einsame Forsthaus, an den geheimnisreichen Wald, der dicht danebenlag, an die kleine Kapelle, deren Decke ein blauer, mit vergoldeten Sternen übersäter Himmel war.

Wenn man an heißen Tagen dort eintrat, umfing einen erfrischende Kühle und eine Stille, die noch stär[pg 27]ker wirkte, weil das gleichmäßige Rauschen der Isar deutlich herauftönte.

Hinterm Hause war unter einem schattigen Ahorn der lustig plätschernde Brunnen ganz besonders merkwürdig und anziehend für uns, weil in seinem Granter gefangene Aschen und Forellen herumschwammen, die sich nie erwischen ließen, so oft man auch nach ihnen haschte.

Drunten am Flusse kreischte eine Holzsäge, biß sich gellend in dicke Stämme ein und fraß sich durch oder ging im gleichen Takte auf und ab.

Ich betrachtete das Haus und die hoch aufgeschichteten Bretterlager von oben herab mit scheuer Angst, denn es war uns Kindern strenge verboten, hinunterzugehen, und als ich doch einmal neugierig über den Bachsteg geschritten war, kriegte ich vom Vater, der mich erblickt hatte, die ersten Hiebe.

Noch etwas Merkwürdiges und die Phantasie Erregendes waren die rauchenden Kohlenmeiler, gerade unterm Hause, an denen rußige Männer auf und ab kletterten und mit langen Stangen herumhantierten. Hinter Rauch und Qualm leuchtete oft eine feurige Glut auf, aber trotz der Scheu, die uns der Anblick einflößte, trieben wir uns gerne bei den Kohlenbrennern herum, die in kleinen Blockhütten hausten, auf offenem Herde über prasselndem Feuer ihren Schmarren kochten und die Kleinen, die mit neugierigen Augen in den dunklen Raum starrten, davon versuchen ließen.

Wieder andere gefährlich aussehende Riesen, die [pg 28]große Wasserstiefel an den Füßen trugen, fügten Baumstämme mit eisernen Klammern aneinander; wenn sie, ihre Äxte geschultert, dicke Seile darum geschlungen, in unser Haus kamen und sich im Hausflöz an die Tische setzten, hielt ich die bärtigen Flößer für wilde Männer und traute ihnen schreckliche Dinge zu.

Sie waren aber recht zutunlich und boten uns Kindern Brotbrocken an, die sie zuerst ins Bier eingetaucht hatten; allmählich gewöhnten wir uns an sie, und es mußte uns sehr streng verboten werden, im Flöz bei den Tischen herumzustehen.

Unsere besonderen Freunde waren die Jäger. Fast alle gaben sich mit uns ab, keiner aber verstand es besser, unsere Herzen zu gewinnen wie der Lenggrieser Thomas Bauer, der immer helfen konnte, wenn ein Spielzeug zerbrochen war, und der nie ungeduldig wurde, sooft wir auch mit Bitten zu ihm kamen. Gewiß waren die Geschichten, die uns Viktor erzählte, wunderschön, aber was waren sie gegen die Erlebnisse, die unser Bauer droben im Walde mit Zwergen und Berggeistern gehabt hatte! Wenn er vom Pürschgang heimkam, sprangen wir ihm entgegen und staunten ihn an, wenn er einen erlegten Hirsch oder einen Gamsbock brachte, und immer hatte er was für uns, eine seltsam geformte Wurzel, einen Baumschwamm oder eine Pfeife, die er unterwegs aus einer Rinde zurechtgemacht hatte.

In seinem Jägerstübchen war er nie vor uns sicher; kaum hatte er es sich auf seinem Kanapee gemütlich [pg 29]gemacht und seine Pfeife angebrannt, dann trippelten kleine Füße über die Stiege herauf und polterten gegen die Türe, deren Klinke nicht zu erreichen war.

Es half ihm nichts, er mußte die Quälgeister einlassen und viele Fragen beantworten, ob er den Zwergkönig mit dem langen Bart und dem spitzen Hut gesehen habe, und ob die Gams mit den goldenen Krickeln noch auf dem Scharfreiter herumspringe.

Er muß uns vormachen, wie die Gamsböcke blädern, und auf dem Schnecken, wie die Hirsche im Herbst schreien, und wenn er sein Gewehr zerlegte oder eine Uhr reparierte oder einen Gamsbart faßte, schauten neugierige Kinderaugen dem Tausendkünstler zu.

Vertrauen und Neigung hingen sich so fest an den Mann, daß er uns allen als Sinnbild und Verkörperung des stillen Glückes galt, das wir in der Riß gefunden hatten.

Ein gern gesehener Mann war der Lenggrieser Bote. Die allgemeine Freude über diese Verbindung mit der Außenwelt ging auch auf uns Kinder über, und der mit allerlei Gaben gefüllte Plachenwagen übte großen Reiz auf uns aus.

Man lernt nur in einer solchen Abgeschiedenheit das Vergnügen am Kleinsten kennen, und Städter vermögen es sich kaum vorzustellen, wie Zeitungen, Briefe und Pakete erwartungsvolle Spannung verursachen, oder was frisch gebackene Semmeln einmal die Woche bedeuten können.

[pg 30]

Wieviel Freude brachten damals die illustrierten Wochenschriften „Über Land und Meer“ und die „Gartenlaube“ in das Forsthaus!

Dazu gehörten Pfeife und duftender Kaffee und ein Kreis von Menschen, die gewillt waren, alles wohlwollend anzunehmen, was ihnen geboten wurde, die Nachrichten aus einer fernen Welt mit Interesse zu hören und sich dabei in ihrem Winkel erst recht wohl zu fühlen.

Wie waren aber jene Zeitschriften damals im besten Sinne weltbürgerlich und wußten Eigenart und Verschiedenheit der Völker so zu schildern, daß es Teilnahme, nicht aber feindselige Gefühle erregte!

Ich blättere zuweilen noch in den alten Bänden und finde die Stimmung jener Tage wieder.

Zu den vielen gescheiten Kindern, die den Kreis ihrer Angehörigen durch tiefsinnige Fragen und Antworten immer wieder in Erstaunen versetzten, werde ich wohl auch gehört haben, doch sind mir keine erwähnenswerten Aussprüche überliefert worden; dafür etliche Schrecknisse, die ich bestand.

Ein Hafen voll heißer Milch, der mir über die Brust geschüttet wurde, spielte in der Chronik Viktors eine wichtige Rolle, daneben eine Axt, die ich mir ins Bein hackte, und ein Rausch.

Ich kam als kleiner Kerl hinter einen halben Liter Rotwein, den mein Vater eben mit einem Freunde hatte trinken wollen, als sie beide aus irgendeinem Grunde rasch aus dem Zimmer eilten. Gleich darauf [pg 31]aß man zu Mittag, und ich fiel vom Stuhl, sooft man mich darauf setzte; es ließ sich nicht mehr leugnen, daß ich betrunken war, und die Folgen blieben nicht aus. Mein Vater hielt mich durch sie für genügend bestraft, wie er überhaupt kein Freund von Prügeln war, und er fragte mich am andern Morgen teilnehmend, ob ich wieder Rotwein möchte; als ich die Frage bejahte, sagte er, das sei ein gutes Zeugnis für den Wein.

Für mich mag es ein Besseres sein, daß jenem ersten Rausche kaum wieder einer gefolgt ist.

Mein Interesse an Büchern soll sich sehr früh gezeigt haben, insofern ich stundenlang über Bildern sitzen und unerbittlich auf genaue Erklärung dringen konnte.

Bei Wiederholung von Erzählungen mußte sich Viktor vor Gedächtnisfehlern hüten, denn ich duldete keine Schwankungen und verlangte Genauigkeit; ich selber hielt mich nicht daran und liebte schmückende Übertreibung, wenn ich mein Wissen an unsern Jäger weitergab.

Die größte Freude bereitete man mir mit Münchner Bilderbogen, und der Eindruck, den „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch auf mich machte, war so stark, daß meine besorgte Mutter das Buch in Verwahrung nahm.

Nur zuweilen an besonderen Tagen oder zur Belohnung für gutes Betragen durfte ich es anschauen und war schon gleich von der Umschlagzeichnung freudig erregt.

[pg 32]

Wenn ich heute die zwei Bubenköpfe sehe, überkommt mich noch immer ein stilles Behagen, und sie wirken auf mich wie ein Gruß aus der lieben Kinderzeit.

Tante Theres, eine Schwester meines Vaters, die mir das Buch geschenkt hatte, war mir dafür besonders lieb, und als sie nun gar eines Tages ein kleines Marionettentheater mitbrachte und darauf den „Freischütz“ spielte, hegte ich für sie die größte Zuneigung und Bewunderung.

Manches wichtige Ereignis ist in meiner Erinnerung verblaßt, manches ganz daraus entschwunden; aber der Abend, an dem ich voll Erwartung vor dem Kunsttempel aus Pappendeckeln saß und die Schicksale des braven Jägers Max miterlebte, steht immer noch lebendig vor mir.

Freilich gab sich Tante Theres, ein stattliches älteres Mädchen, große Mühe, um mit tiefer Stimme, mit bengalischen Feuern und mit Pistolenschüssen Grauen in uns wachzurufen.

Wie solche Eindrücke haften bleiben, erfuhr ich viele Jahre später, als ich zu Proben hinter die Bühne des Hoftheaters kam; in dieser Welt von Pappe und Leinwand roch es ähnlich, vielleicht recht entfernt ähnlich, so wie im Marionettentheater, und gleich stand die Aufführung des „Freischütz“ vor meinen Augen.

Die Talente der Tante Theres fanden in der Riß nicht bei allen so viel Anklang wie bei mir, und ihr Zug ins Künstlerische, Geniale oder Theatralische wurde auch späterhin, als ich den Tadel verstehen konnte, mit [pg 33]Bedauern festgestellt; sie machte keine sehr gute Heirat, lebte in ärmlichen Verhältnissen, und das kam eben davon, wie selbst die gutmütige Viktor sagen konnte.

Erleben eigentlich Stadtkinder Weihnachtsfreuden? Erlebt man sie heute noch?

Ich will es allen wünschen, aber ich kann nicht glauben, daß das Fest in den engen Gassen der Stadt, in der wochenlang die Ausstellungen der Spielwarenhändler die Freude vorwegnehmen, Vergleiche veranlassen oder schmerzliche Verzichte zum Bewußtsein bringen, das sein kann, was es uns Kindern im Walde gewesen ist.

Der erste Schnee erregte schon liebliche Ahnungen, die bald verstärkt wurden, wenn es im Hause nach Pfeffernüssen, Makronen und Kaffeekuchen zu riechen begann, wenn am langen Tische der Herr Oberförster und seine Jäger mit den Marzipanmodeln ganz zahme, häusliche Dienste verrichteten, wenn an den langen Abenden sich das wohlige Gefühl der Zusammengehörigkeit auf dieser Insel, die Tag um Tag stiller wurde, verbreitete.

In der Stadt kam das Christkind nur einmal, aber in der Riß wurde es schon Wochen vorher im Walde gesehen; bald kam der, bald jener Jagdgehilfe mit der Meldung herein, daß er es auf der Jachenauer Seite oder hinterm Ochsensitzer habe fliegen sehen.

In klaren Nächten mußte man bloß vor die Türe gehen, dann hörte man vom Walde herüber ein feines Klingeln und sah in den Büschen ein Licht aufblitzen. [pg 34]Da röteten sich die Backen vor Aufregung, und die Augen blitzten vor freudiger Erwartung. Je näher aber der Heilige Abend kam, desto näher kam auch das Christkind ans Haus, ein Licht huschte an den Fenstern des Schlafzimmers vorüber, und es klang wie von leise gerüttelten Schlittenschellen.

Da setzten wir uns in den Betten auf und schauten sehnsüchtig ins Dunkel hinaus; die großen Kinder aber, die unten standen und auf einer Stange Lichter befestigt hatten, der Jagdgehilfe Bauer und sein Oberförster, freuten sich kaum weniger.

Es gab natürlich in den kleinen Verhältnissen kein Übermaß an Geschenken, aber was gegeben wurde, war mit aufmerksamer Beachtung eines Wunsches gewählt und erregte Freude.

Als meine Mutter an einem Morgen nach der Bescherung in das Zimmer eintrat, wo der Christbaum stand, sah sie mich stolz mit meinem Säbel herumspazieren, aber ebenso froh bewegt schritt mein Vater im Hemde auf und ab und hatte den neuen Werderstutzen umgehängt, den ihm das Christkind gebracht hatte.

Wenn der Weg offen war, fuhren meine Eltern nach den Feiertagen auf kurze Zeit zu den Verwandten nach Ammergau.

Ich mag an fünf Jahre alt gewesen sein, als ich zum erstenmal mitkommen durfte; und wie der Schlitten die Höhe oberhalb Wallgau erreichte, von wo aus sich der Blick auf das Dorf öffnet, war ich außer mir [pg 35]vor Erstaunen über die vielen Häuser, die Dach an Dach nebeneinander standen.

Für mich hatte es bis dahin bloß drei Häuser in der Welt gegeben.

 

Auch mein Vater war gerne in der Riß. Die schöne Jagd, das gute Fischwasser und die Selbständigkeit im Dienste konnten ihm wohl gefallen.

Freilich gab es auch Unannehmlichkeiten, die nicht ausbleiben konnten, nach der Erfahrung, daß mit großen Herren nicht gut Kirschen essen ist.

König Ludwig II., der sich alljährlich mehrere Wochen in der Riß aufhielt, war immer gütig, dankbar für die bescheidenste Aufmerksamkeit, und er hatte oder zeigte doch niemals Launen.

Aber im Gefolge eines Königs gibt es immer Leute, die stärker auftreten als der Herr.

Überdies lagen als Nachbarn der Herzog von Koburg und der Herzog von Nassau an, die wieder Hofmarschälle und Jägermeister hatten, die sich aufzublasen wußten und ihre Sorge um die eigene Liebhaberei hinter der um ihre Hoheiten versteckten.

Große Herren lassen sich die Mücken abwehren, aber nicht die Ohrenbläser, sagt ein deutsches Sprichwort, und so mußte sich hie und da ein bayrisches Ministerium mit Beschwerden der Hoheiten befassen, die offensichtlich nur Beschwerden ihrer Kämmerlinge waren.

[pg 36]

Einmal wurde mein Vater zur Rechenschaft gezogen, weil er zugegeben hatte, daß Pferde des Herzogs von Nassau in der leerstehenden Stallung des Königs untergebracht wurden, und er hatte dazu ausdrücklich die Erlaubnis des Oberstallmeisters Grafen Holnstein verlangt, die um so bereitwilliger gegeben wurde, als Holnstein auch auf den Jagden des Nassauer Herzogs öfter zu Gaste war.

Irgendein Hofstaller bemerkte den Vorfall, witterte dahinter einen Eingriff in die königlichen Rechte und machte diensteifrig Meldung.

Graf Holnstein, dem die Sache peinlich war, erinnerte sich nicht mehr an seine Einwilligung, und der Tölzer Forstmeister mußte auf Anordnung des Ministeriums meinem Vater einen Verweis erteilen. Er wehrte sich dagegen, wies aus seinen Notizen nach, daß der Oberstallmeister ohne Zögern den Wunsch des Herzogs erfüllt habe und daß er damit zu einer Weigerung weder Anlaß noch Recht gehabt habe; allein da das unbedeutende Ereignis dem Grafen Holnstein gänzlich aus dem Gedächtnisse entschwunden war, verfügte das Ministerium, es habe bei dem Verweise zu bleiben.

Die Ungerechtigkeit ärgerte meinen Vater so sehr, daß er um Versetzung eingeben wollte, und erst nach einigem Zureden gelang es meiner Mutter, ihn zu beruhigen.

Er schätzte nun die etwas hysterische Dienstbeflissenheit der höheren Stellen gebührend ein und wurde vor[pg 37]sichtiger im Verkehr mit Höflingen, zuweilen auch deutlich, wenn sich ihr Eifer zu weit vorwagte.

Der Herzog von Nassau – vielleicht noch lebhafter sein Hofmarschall – wollte den zum königlichen Leibgehege gehörenden Fernerskopf an seine Jagd angliedern.

Mein Vater mußte als Verwalter des Reviers sein Gutachten abgeben.

Nun schickte, um ihn zu gewinnen, der Hofmarschall einen Hofkammerrat in die Riß, der meinem Vater nahelegte, die Oberleitung über die herzogliche Jagd am Fernerskopf und eine entsprechende Gratifikation anzunehmen.

Das Anerbieten wurde mit der Bemerkung gemacht, die bayrische Regierung brauche ja davon nichts zu erfahren.

Mein Vater wies dem Hofkammerrat die Türe und schrieb dem Hofmarschall Grafen C., er möge ihn „für alle Zukunft mit derartigen Zudringlichkeiten verschonen“.

Ich erwähne den Vorfall mit einem wörtlichen Zitate aus dem Briefwechsel, weil er ein Bild von der Situation wie von dem Wesen meines Vaters gibt.

Heute, unter so veränderten Umständen, können den Leser die damaligen Verhältnisse interessieren, und so will ich bemerken, daß der Oberförster in der Vorder-Riß zu Anfang ein Jahresgehalt von 800 Gulden bezog, das nach und nach auf 1100 Gulden stieg.

Dazu kamen als Nebenbezüge: freie Wohnung, Dienstgründe, ein „Holzdeputat von 15 Klaftern [pg 38]Hartholz“, „Funktionsaversen und Bauexigenzaversen“ von 200 Gulden und eine „Hochgebirgs-Leib-Reserve-Gehegsjagdetatremuneration“ von 30 Gulden.

Man sieht, es war damals alles wohl geordnet und mit dem rechten Namen versehen.

Einen sehr erheblichen Dienst leistete mein Vater dem bayrischen Staate dadurch, daß er ihn im Jahre 1871 veranlaßte, vom Bankier La Roche in Basel das Jägerbauerngut in Fall um den Preis von 50 000 Gulden zu erwerben.

Der Staat ließ sich zögernd auf das Geschäft ein, ist aber heute wohl zufrieden damit, denn die Waldungen repräsentieren einen Millionenwert.

In der Vorder-Riß gab es damals vier Hauptgebäulichkeiten. Drei auf der Anhöhe über der Isar: das von Max II. erbaute „Königshaus“, das Forsthaus und neben diesem eine Kapelle.

Dazu kamen Nebengebäude für Jagdgehilfen und Stallungen.

Im Tale, nahe dem Einflusse des Rißbaches in die Isar, lag eine Schneidsäge.

Das dazu gehörende uralte, mit Freskomalereien gezierte Bauernhaus fehlt in keiner Sammlung von Abbildungen altbayrischer Häuser.

Etliche Büchsenschüsse entfernt lag isaraufwärts ein Bauernhof, der „Ochsensitzer“, und sein Eigentümer, der Danner Toni, schätzte meinen Vater und war ihm auf seine Art zugetan, aber das hielt ihn nie ab, einem Wilderer Unterschlupf zu geben, und wenn [pg 39]er von unseren Jägern etwas erfahren hätte, wäre die Botschaft heimlich weitergegeben worden.

Auch die Jäger waren Isarwinkler und nicht minder schlau wie der Toni; sie konnten geradeso unbefangen dreinschauen, jedes Wort abwägen, sich taub stellen, indes sie den braven Ochsensitzer von weitem gehen hörten, wenn er auch noch so leise auftrat.

Von dem heimlichen Kriege, der nie zum Ende kam, ließ man nichts merken; man saß bei Gelegenheit freundlich zusammen hinterm Bierkrug und kannte einander, ohne Worte zu verlieren.

Zuweilen hat Bauer, der Glaslthomä von Lenggries, sogar dem schlauen Toni die Würmer aus der Nase gezogen.

Die Wilderer trieben in jener Zeit ein arges Unwesen im Isartal. Manches Ereignis ist von den Zeitungen berichtet, auch romantisch aufgeputzt worden, und der „Dammei“ in Tölz, der die Kämpfe der Wildbretschützen besang, hatte reichliche Arbeit.

Die Verwegensten waren die Lenggrieser, Wackersberger und Jachenauer; als besonders reich an Listen galten die Tiroler aus der Scharnitz.

Es mußten schneidige Jäger sein, die gegen sie aufkommen wollten, und man fand sie unter den Einheimischen, die selber gewildert hatten, bevor sie in den Dienst traten.

Ich habe nie gehört, daß einer untreu gewesen wäre, wohl aber weiß ich, daß der eine und andere beim Zu[pg 40]sammentreffen mit den alten Kameraden sein Leben lassen mußte.

Diese Dinge entbehrten für die Beteiligten ganz und gar des Reizes, den sie für Fernstehende hatten; es ging dabei rauher zu, als es sich ein freundlicher, vom Schimmer der Romantik angeregter Leser vorstellen mochte.

Einer von meines Vaters Jagdgehilfen, der Bartl, ein braver, bildschöner Bursche, wurde aus dem Hinterhalt auf wenige Schritte Entfernung niedergeschossen.

Ein Jachenauer, der unter den Wilderern war und die Tat, wie man erzählte, verhindern wollte, wurde später Jagdgehilfe und fand einen schlimmen Tod auf der Benediktenwand; er wurde schwer verwundet mit Steinen zugedeckt und kam so jämmerlich um.

Ein Sagknecht aus der Jachenau, der den Bartl erschossen haben soll – bewiesen konnte es nicht werden –, traf nicht lange nachher wieder mit den Jägern zusammen und wurde schwer verwundet. Er kam mit dem Leben davon, verlor aber das Gehör.

In ihrer Art berühmt geworden ist die Floßfahrt der Wilderer im Jahre 1869, von der man sich heute noch im Oberland viel erzählt.

Die zwei Söhne des Halsenbauern von Lenggries und mit ihnen einige Kameraden hatten bei Mittenwald gewildert und wollten ihre Jagdbeute auf einem Floße isarabwärts nach Lenggries oder Tölz bringen.

Sie kamen in der hellen Mondnacht in schneller [pg 43]Fahrt den Fluß herunter; die Ruder hatten sie mit Tüchern umwickelt.

Thoma mit dem Wilderer
Thoma mit dem Wilderer

Vor der Risser Brücke, unweit vom Ochsensitzer, wurden sie angerufen. Es kam zum Feuern heraus und hinein.

Der Mann am Steuer, der Halsen Blasi, wurde erschossen, zwei andere wurden verwundet. Der Halsen Toni erhielt einen Schuß mitten auf den Taler seiner Uhrkette, und dieser glückliche Zufall rettete ihm das Leben. Ein Fünfter versteckte sich unter das Wildbret, das auf dem Floße lag, und kam heil davon.

Sie hielten an der Schneidsäge an und schafften den Toten wie die Verwundeten ins Haus.

Die gerichtliche Untersuchung führte zu keinem Ergebnisse.

Der Vorfall kann heute, wie damals, Verwunderung über „rechtlose Zustände“ erregen, die in den Zeitungen ausführlich besprochen wurden.

Rechtlos schlechthin waren die Zustände nicht, aber schwierig genug.

Anzeigen hatten keinen Erfolg, denn die Strafen waren vor Einführung des Reichsstrafgesetzbuches so gelind, daß sie keinen abschrecken konnten; trotzdem haben die unbändigen Isarwinkler sich fast immer mit der Waffe gegen die Gefangennahme gewehrt.

Die drei oder vier Jäger hatten gegen die zahlreichen Schützen einen harten Stand in dem großen Revier; selten stand einer gegen einen, und so war rasche Selbsthilfe beinahe notwendig.

[pg 44]

Wie unbeugsam die Leute waren, mag die Tatsache beweisen, daß der Halsen Toni, der bei der Floßfahrt wie durch ein Wunder gerettet worden war, bald darauf wieder ins Revier ging und etliche Jahre später doch erschossen wurde.

Seinem Bruder Blasi hat man übrigens in Lenggries nicht nachgetrauert, denn er war als gewalttätiger Mensch gefürchtet.

Meinem Vater aber rechnete man es hoch an, daß er die Verwundeten freundlich behandelt und mit Imbiß gestärkt hatte, bevor er sie auf einem mit Betten belegten Leiterwagen nach Tölz fahren ließ.

Der „Dammei“ hat es nicht unterlassen, diese Guttat in seinem Liede hervorzuheben.

An derartige Geschehnisse habe ich kaum eine andere Erinnerung, als daß ich auch später noch unsere Jäger wie sagenhafte Helden bewunderte und ihr Tun und Wesen anstaunte.

Doch steht mir noch lebhaft im Gedächtnis, daß einmal an meinem Namenstag ein Wilderer gefangen eingebracht wurde; er saß im Hausflöz und ließ mich, als ich neugierig vor ihm stand, von der Maß Bier trinken, die man ihm gegeben hatte. Vielleicht bin ich dadurch zutraulicher geworden, jedenfalls schenkte er mir die geweihte Münze, die er an einer Schnur um den Hals trug.

Er hatte sie vermutlich von den Franziskanern in der Hinter-Riß erhalten.

In diesem zutiefst ins Karwendelgebirge eingebette[pg 45]ten tirolischen Kloster versahen die Herren Patres ihr Amt noch in einer Art, die von jedem Zeitgeist unberührt geblieben war.

Der Bauer und der Hirte bewarben sich dort um einen wirksamen Viehsegen, um Schutz gegen Gefahr im Stall und auf den Almen, die Weiber kamen um Amulette, die sie vor häuslichen Unfällen und Krankheiten bewahren oder Gebresten heilen sollten; wo immer eine Bedrängnis des Lebens sich einstellte, suchte das Volk Rat und Hilfe bei den Jüngern des heiligen Franziskus.

Ihr unleugbares Verdienst, in dieser Einsamkeit, losgelöst von allen Freuden der Welt, ohne Scheu vor Beschwerden die Werke der Nächstenliebe zu pflegen, wird jeder gerne anerkennen.

Und etwas Rührendes hat es, eine Bevölkerung zu sehen, die in urzeitlichen Zuständen, abgeschieden von den Hilfsmitteln, die moderne Einrichtungen gewähren, lebt und nur des einen Beistandes sicher ist, dem auch die Voreltern herzlich vertrauten.

So mag man es gelten lassen, daß auch der fromme Wildbretschütze sich in der Hinter-Riß den Kugelsegen holte, der ihn vor einem jähen Tod im Hochwald oder im Kar behüten mußte.

Das Kloster liegt zwei Wegstunden von dem Forsthause in Vorder-Riß entfernt.

An Sonntagen kam der Pater heraus und las in der Kapelle für Flößer, Jäger, Holzknechte und alle, die zu unserm Hause gehörten, die Messe.

[pg 46]

Da geschah es zuweilen, daß vorne auf einem mit Samt ausgeschlagenen Betstuhle ein hochgewachsener Mann kniete, der sein Kreuz schlug und der Zeremonie andächtig folgte, wie der Sagknecht oder Kohlenbrenner, der durch ein paar Bänke von ihm getrennt war.

Wenn der Mann aufstand und die Kapelle verließ, ragte er über alle hinweg, auch über den langen Herrn Oberförster, der doch sechs Schuh und etliche Zoll maß.

Sein reiches, gewelltes Haar und ein Paar merkwürdige, schöne Augen fielen so auf, daß sie dem kleinen Buben, den man zu einem ehrerbietigen Gruß anhielt, in Erinnerung blieben.

Der Mann war König Ludwig II.

Er weilte allsommerlich sechs bis acht Wochen in der Vorder-Riß, und erst nach Erbauung des Schlosses Linderhof hat er darin eine Änderung getroffen.

Damals fühlte er sich wohl in dem bescheidenen Jagdhause, das sein Vater hatte errichten lassen, und er suchte nichts als Stille und Abgeschiedenheit.

Seine Freude an der Natur galt in meinem Elternhause wie bei allen Leuten in den Bergen als besonderer Beweis seines edlen Charakters, und niemandem fiel es ein, an krankhafte Erscheinungen zu glauben.

Der König schloß sich auch keineswegs auffallend vor jeder Begegnung mit Menschen ab, wenn er schon gegen manches empfindlich war.

Bei seinen kurzen Spaziergängen hatte er nichts dagegen, Leuten zu begegnen, die in den Wald gehörten, und zuweilen redete er einen Jäger an.

[pg 47]

Jedenfalls hat er alle bei Namen gekannt und sich zuweilen nach ihnen erkundigt.

Aus späteren Erzählungen weiß ich, daß während seiner Anwesenheit in Hörweite kein Schuß fallen durfte; er wollte sich Tod und Vernichtung nicht in diesen Frieden hineindenken.

Daß er selten Besuche von hochstehenden oder offiziellen Persönlichkeiten empfing, ist bekannt, ebenso, daß er sich solchen Begegnungen durch schleunige Fahrten in die Berge entzog.

Hohenlohe vermerkt in seinen Denkwürdigkeiten häufig derartige Verstöße gegen die Etikette und schüttelt den Kopf darüber, wenn der König dem Prinzen Napoleon, dem Kronprinzen von Preußen und anderen ausweicht mit der schlichten Erklärung, er müsse Gebirgsluft atmen. Unterm 3. Juli 1869 schreibt Hohenlohe ins Tagebuch, der König sei „in die Riß entflohen, um der Ankunft des Kaisers von Österreich zu entgehen“.

Wenn es dabei diplomatische Schwierigkeiten ergab, dann wußte man jedenfalls in der Riß nichts davon; diese kleine Welt freute sich, wenn der König kam. Seine Ankunft erfolgte oft unvermutet und war erst wenige Stunden vorher durch einen Vorreiter angesagt.

Die Vorbereitungen mußten dann schnell geschehen. Der mit Kies belegte Platz vor dem Königshause wurde gesäubert, Girlanden und Kränze wurden ge[pg 48]bunden, alles lief hin und her, war emsig und in Aufregung.

Es gab für uns Kinder viel zu schauen, wenn Küchen- und Proviantwagen und Hofequipagen vorauskamen, wenn Reiter, Köche, Lakaien diensteifrig und lärmend herumeilten, Befehle riefen und entgegennahmen, wenn so plötzlich ein fremdartiges Treiben die gewohnte Stille unterbrach.

Die Forstgehilfen und Jäger mit meinem Vater an der Spitze stellten sich auf; meine Mutter kam festtäglich gekleidet mit ihrem weiblichen Gefolge, und auch wir Kinder durften an dem Ereignis teilnehmen.

Das Gattertor flog auf, Vorreiter sprengten aus dem Walde heran, und dann kam in rascher Fahrt der Wagen, in dem der König saß, der freundlich grüßte und seine mit Bändern verzierte schottische Mütze abnahm.

Meine Mutter überreichte ihm einen Strauß Gartenblumen oder Alpenrosen, mein Vater trat neben sie, und in der lautlosen Stille hörte man ein leise geführtes Gespräch, kurze Fragen und kurze Antworten.

Dann fuhr der Wagen im Schritt am Hause vor, der König stieg aus und war bald, gefolgt von diensteifrigen Männern in blauen Uniformen, verschwunden.

In uns Kindern erregte die Ankunft des Königs stets die Hoffnung auf besondere Freuden, denn der freundliche Küchenmeister versäumte es nie, uns Zuckerbäckereien und Gefrorenes zu schenken, und das waren [pg 49]so seltene Dinge, daß sie uns lange als die Sinnbilder der königlichen Macht und Herrlichkeit galten.

Aus Erzählungen weiß ich, daß Ludwig II. schon damals an Schlaflosigkeit litt und oft die Nacht zum Tage machte.

Es konnte vorkommen, daß mein Vater aus dem Schlafe geweckt und zum König gerufen wurde, der sich bis in den frühen Morgen hinein mit ihm unterhielt und ihn nach allem Möglichen fragte, vermutlich weniger, um sich zu unterrichten, als um die Stunden herumzubringen.

Wenn wir zu Bett gebracht wurden, zeigte uns die alte Viktor wohl auch die hell erleuchteten Fenster des Königshauses und erzählte uns, daß der arme König noch lange regieren müsse und sich nicht niederlegen dürfe.

Etliche Male wurden wir aufgeweckt und durften im dunkeln Zimmer am Fenster stehen und schauen, wie drüben Fackeln aufloderten, ein Wagen vorfuhr und bald wie ein geheimnisvoller Spuk im Walde verschwand.

 

Die Zeit der sechziger Jahre war politisch so bewegt, daß sie auch auf das Risser Stilleben einwirken mußte.

Mein Vater stand mit seinen Ansichten auf Seite jener Altliberalen, die sich nach der Einigung Deutschlands sehnten, ohne sich über Ziele und Mittel völlig klar zu sein; ihre Abneigung gegen klerikale Forderun[pg 50]gen und gegen Unduldsamkeit in jeder Form war bestimmter gerichtet. Seine politischen Meinungen fanden ihren Ausdruck in der Wahl der Zeitungen, die er las, in ein paar Briefen und in Bemerkungen, die ich von seiner Hand geschrieben in „Rotteck’s Weltgeschichte“ finde.

Leidenschaftlichkeit war ihm fremd.

Vielleicht war sie es überhaupt jener Zeit, wenigstens in den Maßen, die wir kennen.

Ich besitze Briefe, die ein kluger und hochstehender Mann an meinen Vater geschrieben hat, und das Hervorstechendste ist der maßvolle Ton und die Art, den Gegner noch immer gelten zu lassen.

Auch als der Krieg gegen Preußen ausgebrochen war, führte die Erregung nicht zu haltlosen und wüsten Schimpfereien.

Wer sich davon überzeugen will, der nehme alte Zeitschriften zur Hand, und er wird staunen, wie darin jede Eisenfresserei glücklich vermieden ist.

Die Philister allerdings, die Hohenlohe mit viel Unbehagen in Bierkellern beobachtete, mögen sich wütend gebärdet haben, aber in der Familie war der Ton nicht auf Mord und Tod gestimmt.

In der Vorder-Riß pflegte man in dem ereignisreichen Sommer 1866 einen regen Verkehr mit den bundesbrüderlichen Grenzern und Jägern aus Tirol, und man stellte dabei mit würdigem Ernste als unausbleibliche Folge den Untergang Preußens fest.

Ein bayrischer Oberkontrolleur, der zuweilen zur [pg 51]Visitation kam, schüttelte zu diesen Prophezeiungen den Kopf. Er hatte sich im Dienste des Zollvereins längere Zeit in Norddeutschland aufgehalten und versicherte auf Grund seiner Erfahrungen, daß die Geschichte auch anders kommen könne.

Man nahm dem liebenswürdigen Manne diese schrullenhafte Ansicht nicht übel und lächelte darüber.

Wie es dann sehr bald wirklich anders kam, wurde der Oberkontrolleur als einsichtiger Politiker betrachtet.

Nach dem Kriege war der deutsche Frühling, den Völk im Zollparlament begrüßte, nicht durchaus hell und sonnenwarm.

Am Himmel hing als finstere Wolke die Angst vor dem Verluste der bayrischen Selbständigkeit, und sehr hohe Herren, auch der König, schauten bedenklich nach ihr und befürchteten schlimmes Wetter.

In manchen Kreisen war das ja lange noch ein anregendes Gesprächsthema; wer sich aber in den Geist jener Zeit versetzt, wird feststellen, daß der von Ludwig II. niedergelegte Wunsch, „es möge Bayern, nicht mehr als nötig, mit Preußen verknüpft werden“, jeden politischen Gedanken, zum mindesten an offizieller Stelle, beherrschte.

Der Entwurf zu einer Gründung „der Vereinigten Staaten von Süddeutschland“, den Herr von Völderndorff anfertigte, liest sich für uns wie die Vereinsstatuten einer Harmonie und Bürgereintracht; damals wurde er mit feierlichem Ernste gewürdigt.

[pg 52]

Über die mögliche nationale Verbindung der süddeutschen Staaten, über ihr selbständiges und nicht zu nahes Verhältnis zum Norddeutschen Bunde unterhielt man sich in den Salons der Gesandten, in den Zimmern der Minister und in den Bierstuben, vielleicht nicht mit wesentlich abgestufter Einsicht.

Daß mein Vater von dieser Angstmeierei nicht angesteckt war und die deutsche Zukunft in den Händen des Fürsten Bismarck für gut aufgehoben hielt, beweist mir ein Brief, den er im Februar 1870 an seinen Freund, den Oberst Graf Tattenbach, geschrieben hat.

Darin drückte er seine Sorge aus, es könne das „weibsmäßige Getue und Sichsperren“ noch einmal zu Dummheiten führen.

Das Mißtrauensvotum, das beide Kammern gegen den Ministerpräsidenten von Hohenlohe abgaben, indem sie ihm „die Fähigkeit zur Wahrung der bayrischen Selbständigkeit“ absprachen, beunruhigte meinen Vater.

Ganz besonders aber die Tatsache, daß alle bayrischen Prinzen, mit Ausnahme des immer für ein einiges Deutschland eintretenden Herzogs Karl Theodor, dem Mißtrauensvotum zugestimmt hatten.

Nicht nur aus Zeitungsberichten, auch aus unmittelbarer Anschauung konnte mein Vater die Erkenntnis gewinnen, wie die Sorge um die Selbstherrlichkeit maßgebende Persönlichkeiten beherrschte. Der württembergische Minister Baron Varnbüler weilte [pg 53]öfters als Jagdgast in der Vorder-Riß. Der war ein Partikularist von besonderen Gnaden, und in seiner gut schwäbischen Offenherzigkeit machte er kein Hehl daraus. Er war übrigens kein Bürokrat, und seine Ansichten waren nicht in der Luft der Kanzleien gediehen, vielmehr hatte er eine für damalige Zeiten sehr ungewöhnliche Laufbahn durchmessen.

Er war Direktor einer Wiener Maschinenfabrik gewesen und hatte große Reisen unternommen, ehe er ins Schwäbische heimkehrte und am Nesenbach Weltgeschichte machte.

Der Krieg von 1870 verscheuchte die Kümmernisse oder brachte sie doch zum Schweigen.

Mein Vater erlebte ihn mit freudiger Anteilnahme, und er mag oft ungeduldig auf Nachrichten gewartet haben.

Die Riß war in dem harten Winter schon im Dezember zugeschneit, und damit war der Postdienst eingestellt.

Da taten unsere Jäger ein übriges für ihren Oberförster. Sie stapften auf Schneereifen zum Forsthaus Fall hinaus und holten die Post, die von Lenggries aus dorthin gebracht worden war.

Eines Abends, als wir schon bei Lampenlicht in der Stube saßen, trat der Jäger Bauer, den Bart bereift und vereisten Schnee an den Schuhen, ein.

Er brachte die Nachricht, daß Paris gefallen sei. Daran würde ich mich vielleicht nicht mehr erinnern, aber daß mein Vater und die Jagdgehilfen hinaus[pg 54]eilten und Schuß auf Schuß vor den Fenstern abfeuerten, machte einen so starken Eindruck auf mich, daß es mir im Gedächtnis blieb.

Und daran erinnere ich mich auch, wie völlig ich im Banne der bei Gustav Weise in Stuttgart erschienenen Kriegszeitung stand, die, zerlesen und vergilbt, mir heute noch das Andenken an meine Kinderzeit wachruft.

Ich kannte jedes Bild, und ein Gedicht, das ich damals lernte, kann ich heute noch zum Teil auswendig.

Die Hauptperson für mich war aber keiner der Herrscher oder Heerführer, sondern „der Bismarck“, den ich zur Verwunderung unserer Jäger auch aus figurenreichen Bildern sogleich herausfand.

Die leidenschaftliche Anhänglichkeit an ihn schlug Wurzeln im Kinderherzen, die mit meinem Aufwachsen erstarkten, zäher wurden und sich niemals lockern ließen.

Kluge Leute haben mir späterhin ihr Mitleid zugewandt wegen meiner unbekümmerten Hingabe an den Alten; ich habe daran festgehalten und nichts davon hergelassen bis auf heute.

Eine besondere Freude war es für meinen Vater, wenn er Nachrichten von seinem Forstgehilfen Mailer erhielt, der als Artillerieleutnant gegen Frankreich gezogen war.

Er ist nach Jahren Förster in der Valepp geworden und war dort so lange im Amt, daß ihn wohl die meisten Münchner Touristen kennen.

[pg 55]

Nach dem Feldzuge kam er wieder in die Vorder-Riß und brachte als Trophäen einen französischen Küraß und mehrere Chassepotgewehre mit.

Der Küraß regte meine kindliche Phantasie an, weil er eine tiefe Schußbeule trug.

Mit den Chassepots aber machte mein Vater gründliche Schießproben, wie er überhaupt für Gewehre ein eingefleischtes Interesse zeigte. Jede Schußwaffe, die ein Jäger führte, wurde von ihm genau untersucht, zerlegt und ausprobiert. Das Werdergewehr, das den bayrischen Jägerbataillonen gute Dienste geleistet hatte, fand seine besondere Bewunderung, und eine Werder-Pürschbüchse, die er zu Weihnachten erhielt, machte ihm die größte Freude. Er schoß sie auf jede Entfernung ein, und als er dabei eine Henne, die sich an die Isar hinunter verlaufen hatte, auf sehr weite Distanz hinlegte, erhielt er von der Hausmutter eine eindringliche Vorlesung über Sparsamkeit und Besonnenheit in reiferen Jahren.

Zu Anfang der siebziger Jahre erregte die Welt jener Streit um das Unfehlbarkeitsdogma.

In Städten und Dörfern kam es zu heftigen Wortkämpfen und zum Eintritt in die altkatholische Kirche.

Mein Vater stand auf der Seite seines alten Rektors Döllinger und sah kopfschüttelnd, wie sich so plötzlich Gewissensfragen erheben konnten.

Allein als Forstmann und Jäger befaßte er sich nicht heftig mit den Fragen, und er bedurfte auf seiner [pg 56]grünen Insel keines Vereins und keiner Partei, um für sich ein Gegner des unduldsamen Wesens zu bleiben.

Meine Mutter aber hing zu sehr an der alten Sitte und den alten Formen, als daß sie sich ein Urteil angemaßt hätte.

Sie hatte sich den Grundsatz zurechtgelegt, daß man sich aus den Lehren der Kirche das viele Gute und Schöne entnehmen und sonst nicht nachgrübeln und kritisieren solle.

Wenn sie das in späteren Jahren zu mir sagte, nickte sie bekräftigend mit dem Kopfe dazu, und ich sah ihr an, daß sie zufrieden war, einen so sicheren Standpunkt gewonnen zu haben. Sie hat nach ihrer Religion gelebt und faßte – tiefer als manche theologische Abhandlung – das Wesen des Christentums in dem Satze zusammen, „daß man niemandem wehe tun dürfe“. Um religiöse Meinungen anderer hat sie sich ihr Leben lang nicht gekümmert.

Eine sich mehr gegen Zwang auflehnende Natur war unsere „alte Viktor“.

Ich bin um einen Titel verlegen, der ihre Wirksamkeit richtig bezeichnen könnte.

„Stütze der Hausfrau“ sagte man damals nicht, und es klänge mir zu fremdartig; „Kinderfräulein“ paßte nicht zur Bescheidenheit unseres Hauses und würde ihrer Tätigkeit nicht gerecht. So will ich sie, wie ehedem im Leben, die alte Viktor heißen.

Sie war die Tochter eines Handelsgärtners und Bürgermeisters von Schongau, kam zu meinen Eltern, [pg 57]als ich zwei Jahre alt war, und starb vierunddreißig Jahre später in meinem Hause.

Sie war eine angehende Dreißigerin, als sie kam, nicht ganz frei von altmädchenhafter Empfindlichkeit, aber so lebenstüchtig, daß sie bald die unentbehrliche Beraterin und Helferin war.

In schweren Stunden zeigte sie ihre resolute Art, tat immer das Richtige und Notwendige, und kein Schmerz konnte sie verhindern, an alles zu denken und für alles zu sorgen.

Nur in ruhigen Zeiten und ganz besonders, wenn lebhaftere Heiterkeit vorherrschte, konnte sie in weltschmerzliches Mitleid mit sich selber verfallen und in ihr Tagebuch ein gefühlvolles Gedicht aus Zeitschriften oder Büchern abschreiben. Sie besaß eine ausgesprochene Neigung für die schöne Literatur und eine Neigung, sich darüber zu unterhalten.

Dabei war sie eine gründlich geschulte Kennerin aller Pflanzen, Kräuter und Blumen, sie botanisierte auf jedem Spaziergange und klebte die gepreßten Herbarien in ein Buch ein.

Ihr Vater war in den vierziger Jahren Landtagsabgeordneter gewesen und hatte seiner Tochter eine gründliche Abneigung gegen jede Art von Rückschritt und Tyrannei vererbt.

Sie blieb zeitlebens mißtrauisch gegen zukünftige Möglichkeiten, und sie war überzeugt, daß von irgendwoher und von irgendwem Unterdrückung drohe.

[pg 58]

So frommgläubig sie war, nahm sie doch „eine gewisse Art von Geistlichen“ von diesem Verdacht nicht aus.

Sie sah in dem Dogma und in der Art, wie es durchgesetzt wurde, nur die Bestätigung ihrer schlimmen Ahnungen und den Beweis dafür, daß es allgemach wieder finsterer werde.

Sie war glücklich, wenn sie sich darüber aussprechen konnte oder wenn gar der Herr Oberförster ihr beipflichtend sagte, daß die „Viktor wieder einmal durchaus recht habe“.

Für die kleinen Leute trat sie immer ein, auch wenn ihnen niemand zu nahe trat; sie stellte den unwirklichen Gefahren ebenso nachdrücklich ihre Prinzipien entgegen.

Alle im Hause schätzten ihre brave Art, und der Jagdgehilfe Thomas Bauer, der ein Paar gute Augen hatte und ein sicheres Urteil, schloß mit ihr dauerhafte Freundschaft.

Wenn sich der Frühling auf den Bergen einstellte und Bauer meinen Eltern einen Strauß der frühesten Blumen brachte, vergaß er auch die „Viktori“ nicht.

Sie blieb ihm dankbar und anhänglich, wie allem und jedem, was im Zusammenhange mit der schönen Vorder-Risser Zeit stand.

Eine nicht unwichtige Rolle spielten in diesem kleinen Kreise auch die Jagdgäste oder Jagdkavaliere, wie man sie nannte.

Es lag in der Abneigung des Königs gegen alles, [pg 59]was Verpflichtungen mit sich brachte, begründet, daß keine Mitglieder des königlichen Hauses in die Riß kamen.

Eine Ausnahme bildete nur Herzog Ludwig, der jedes Jahr zur Pürsche – Treibjagden gab es damals nicht – eingeladen war. Den württembergischen Minister von Varnbüler habe ich schon genannt. Andere Herren gab es, die nur für ein Jahr oder eine Jagdzeit Erlaubnis erhielten.

Ein regelmäßiger Gast war ein Graf Pappenheim, den die Jäger wegen seines Jagdfiebers den Grafen „Nackelheim“ hießen.

Aber der Jagdkavalier für meine Eltern und für alles, was in der Riß lebte, war der Oberst Graf Tattenbach, der in der Amberger Gewehrfabrik Dienst tat.

Sein Kommen war jedesmal ein Fest.

Wir Kinder liebten den kleinen Mann, der unter den buschigsten Augenbrauen, die ich je gesehen habe, klug in die Welt schaute, und wenn wir uns auch keine Rechenschaft darüber geben konnten, so fühlten wir doch das Behagen, das er um sich verbreitete.

Er machte nicht viel Worte, aber aus seinen gutmütigen Neckereien sprach seine Zuneigung zu meinen Eltern. Er ist meinem Vater ein treuer Freund geworden und geblieben; meiner Mutter hat er nach dessen Tode Beistand und freundliche Dienste geleistet, wo er konnte.

Die Jäger schätzten ihn wegen seiner weidmänni[pg 60]schen Fähigkeiten und wegen seines sachverständigen Urteils über Gewehre.

Seine Jagdpassion gab Anlaß zu vielen Späßen, denn in ihr ging er ganz auf, und jedes Jagdglück genoß er zweimal.

Wenn er es erlebte und wenn er es am Kaffeetisch erzählte.

Dabei wurde er gesprächig und schilderte – nicht in fließender Rede, sondern in häufig abgebrochenen Sätzen mit Pausen – jeden Umstand, der sich beim Pürschen, beim Schusse und bei der Nachsuche zugetragen hatte. Der Pausen bedurfte er, um am langen Pfeifenrohre zu saugen und mit dem Rauche die herrliche Erinnerung einzuschlürfen. Zuweilen dauerte eine Pause so lange, daß sich jemand mit einer Frage oder dem Glückwunsche zu früh einstellte, dann hob er beschwörend die Hand und sagte lachend: „Nur warten! Ich bin noch lang net fertig.“

Er war ein vornehmer Mann, dessen schlichter Charakter sich mit keiner Phrase vertrug, harmlos, von guter, altbayrischer Prägung.

Wenn er nach der Hirschbrunft Abschied nahm und das Gattertor hinter seinem davonrollenden Wagen zufiel, dann waren wir allein auf viele Monate.

Es bedurfte eines guten Willens und eines tüchtigen Verstandes, um diese Einsamkeit nicht als drückend zu empfinden.

Daran fehlte es nicht, und zeitlebens haben meine Angehörigen sich gerne jener Zeit erinnert.

[pg 61]

Und so will ich Abschied nehmen von den schlichten Menschen, die „tätig treu in ihrem Kreise nie vom geraden Wege wichen“.

Die meisten von ihnen sind tot und haben mir das Heimweh hinterlassen nach ihrer redlichen Art und nach dem Fleck Erde, der mir durch sie so teuer geworden ist.

[pg 62]

[pg 63]

Schuljahre

Es ist mir nicht bekannt, ob der Wortlaut der Disziplinarsatzungen unserer bayrischen Gymnasien heute ein anderer ist als vor dreißig Jahren; die Ansichten der Lehrer wie der Schüler haben sich jedenfalls geändert, und darum ist trotz aller Widerstände ein vielbegehrter und viel angefeindeter Fortschritt erzielt worden. Als ich Schüler der oberen Gymnasialklasse war, galt uns Jungen körperliche Ausbildung nicht viel mehr als unseren Professoren. Sie nannten alles, was sie fördern konnte, Allotria treiben, und sie waren immer besorgt, daß die Jugend nicht vom Studium abgelenkt wurde.

Wenn ich heute die Scharen junger Leute in die Berge laufen sehe, Backfische mitten unter heranwachsenden Jünglingen, stelle ich mir vor, was die Rektoren älterer Ordnung dagegen zu sagen gehabt hätten oder wie die Eltern vor so etwas zurückgeschreckt wären.

Wie sauertöpfisch stellten sich viele Lehrer gegen den einen herkömmlichen Maispaziergang! Einige mußten immer wieder daran erinnert werden, und wie oft schrieben wir an die Tafel: „Oramus dominum professorem, ut ambulemus!“ Endlich ließ sich der Gestrenge [pg 64]herbei, das Unvermeidliche zu gewähren. Man fuhr etwa nach Bruck, ging zum Maisacher Keller und zurück, und der forsche Schüler trank dann mehr, als er vertragen konnte. Es gingen Heldensagen in der Klasse herum, daß der und jener vierzehn Halbe Bier hineingeschüttet habe, und alle staunten das an.

Jungen haben immer Ehrgeiz. Wenn er sich auf Dummheiten schlägt, ist die Erziehung schuld.

Das törichte Froschverbindungswesen zum Beispiel war aus einem Punkte leicht zu kurieren. Hätte man die Jugend angehalten, in Mut und körperlicher Gewandtheit zu wetteifern, so wären ihr sogleich die Folgen heimlicher Saufgelage verächtlich erschienen. Durch strenge Verbote reizte man gerade die Tüchtigsten zur Übertretung, die nun Auszeichnung im Kampfe gegen drakonische Maßregeln suchten. Dazu kam, daß Philister dieser Verbindungen, Fähnriche, Studenten, Praktikanten, zuweilen sogar ältere Esel, mit kommersierten und mit den darüber hocherfreuten Pennälern die Burschenhüte durchstachen.

Das leuchtende Vorbild für frische Jungen konnte damals ein aufgeschwemmter Student sein, der sich in ein paar Semestern um Gesundheit und Tatkraft soff. Heute verachtet jeder Schüler einen Mann, der in den zwanziger Jahren schon an Folgen des Trinkens leidet, heute rühmt er den besten Bergsteiger, Schneeschuhläufer, Ballspieler, kennt hervorragende Leistungen und träumt davon, sie zu übertreffen.

Und es gibt Lehrer, die diesen Geist fördern und [pg 65]nicht entsetzt daran denken, daß ein Tag im Freien die Lust am Präparieren trüben könnte. Sie stellen sich, wie ich höre, auch auf einen andern Fuß zu den Schülern. Wenn ich eine stattliche Reihe von Professoren in der Erinnerung an mir vorüberziehen lasse, finde ich kaum einen darunter, der uns ein wohlwollender Freund oder gar ein Kamerad gewesen wäre. Sonderlinge, Tyrannen, die Aufruhr witterten, gute Kerle, die seufzend ihren Dienst taten, waren sie Lenker unserer Geschicke, mißtrauische Vorgesetzte, aber niemals Kameraden. Es wurde ungeheuer viel Respekt verlangt und recht wenig eingeflößt. Leichte Dinge wurden unmäßig schwer genommen, und man dachte wohl gar nicht daran, wie empfindlich die Jugend gegen die Unwahrheit ist, die in jeder Übertreibung steckt.

Ich halte für die beste Erziehung die, die jungen Menschen Widerwillen gegen Taktlosigkeit und Unbescheidenheit einflößt. Da ist Vorbedingung ein herzliches Verhältnis zu den Lehrern. Das unsere war so, daß wir alle, auch da, wo wir das Recht auf seiten der Lehrer sahen, Partei gegen sie nahmen. Das natürliche Empfinden der Jugend entscheidet sich aber, wenn es nicht durch schädigende Einflüsse beirrt wird, immer für das Recht. Der schädliche Einfluß war das ganze System. Heute ist, wie ich sehen kann, vieles besser geworden. Und ich glaube, die Schüler von heute werden sich dereinst nicht mehr als Graubärte mit Entrüstung über ihre Schulzeit unterhalten.

[pg 66]

Wenn einmal die Rede darauf kommt, breche ich heute noch eine Lanze für die humanistische Schulbildung. Ich habe Gründe dagegen anführen hören, die mir sehr vernünftig, aber nie überzeugend vorkamen. Daß die Naturwissenschaften heute einen ganz andern Rang einnehmen als zu der Zeit, da der Lehrplan für humanistische Gymnasien festgesetzt wurde, kann wohl nicht bestritten werden, aber immer gewinnen mich gleich wieder die für sich, die Zweckmäßigkeit nicht als ausschlaggebend für die Bildung des Geistes gelten lassen. Wenn ich nachdenke, was in meinem Schulranzen von früher her geblieben ist, so finde ich wenig an positiven Kenntnissen, wohl aber manches an Gesamteindrücken, Anregungen und Stimmungen, die mir förderlich waren.

Immer bleibt es mir ein Gewinn, daß ich Homer in der Ursprache gelesen habe. Keine andere Dichtung kann empfängliche Jugend, während sie ihre Phantasie anregt, so in das eigentliche Wesen der Dichtkunst einführen wie die Odyssee. Ehrwürdig durch ihr Alter, durch ihre Wirkung auf viele Geschlechter der Menschen, zeigt sie ihr in herrlicher Sprache die Unwandelbarkeit natürlichen Empfindens. Die Wirkung dieser Einfachheit und Wahrheit auf ein junges Gemüt läßt sich nicht scharf umgrenzen; sie bleibt haften und vermag uns nach manchen Irrgängen zum Verständnisse echter Größe zurückzuführen.

Heute noch steht mir die Schilderung, wie die Schaffnerin Eurykleia den Herrn an der Narbe wieder[pg 67]erkennt, oder jene, wie Argos, der Hund, von Ungeziefer zerfressen, auf dem Lager das Haupt und die Ohren hebt, da ihm nach zwanzig Jahren Odysseus naht, weit über allem. Und weil sie mich damals tief ergriffen, glaube ich fest daran, daß sie mir den Weg zum rechten Verständnisse wiesen. Ich habe über die Lektüre Homers manches andere vernachlässigt, wie ich überhaupt mein Interesse für bestimmte Fächer gerne übertrieb.

Ich konnte mich nur schwer in gleichmäßige Ordnung fügen, und noch weniger gelang es mir, in der Schule aufmerksam zu bleiben. Dazu kam, daß ich vieles begann, eine Zeitlang mit Freude betrieb und dann wieder achtlos liegenließ. So erinnere ich mich, daß ich einige Monate hindurch eifrigst Zeichnungen zur Odyssee machte, zu denen ich in verschiedenen Büchern Unterlagen fand; ich kolorierte sie säuberlich, erwarb mir damit auch die Anerkennung eines noch ziemlich jungen Professors, der in mir künstlerische Begabung entdeckte und mir hinterher sein Wohlwollen entzog, als mein Eifer nachließ und zuletzt ganz einschlief. Es war klar, daß ich bei dieser Veranlagung wenig Neigung zur Mathematik fassen konnte, die systematisches Fortschreiten verlangt und keiner Draufgängerei Vorschub leistet.

Dagegen betrieb ich mit Eifer Geschichte, und die Neigung dafür ist mir geblieben. Nach meiner Gewohnheit hielt ich mich weder an das Schulpensum noch an die Schulbücher. Ich las die bändereichen [pg 68]Werke von Schlosser, Weber und Annegarn, der heute nicht mehr vielen bekannt ist. Annegarn mit Abneigung und innerlichem Widerspruche, denn ich hatte seiner ultramontan gefärbten Darstellung eine waschechte liberale Gesinnung entgegenzustellen.

Ich kann heute darüber lächeln, wie ich mit einer der Gegenwart, nicht aber dem Geist der Zeiten angepaßten Leidenschaft für und gegen längst vergangene Ereignisse und Zustände Partei nahm. Aber ich habe späterhin gereifte Männer gesehen, die sich in die Haare gerieten über den Gang nach Canossa oder die Schuld Maria Stuarts, und so kann ich es mir selber verzeihen, daß ich als Gymnasiast von der Maximilianstraße bis zum Isartor unter heftigen Reden gegen Anjou oder Rom oder die Welfen dahinschritt.

Mein Widerpart war ein kluger Junge, der vom Papa altbayrische Skepsis angenommen hatte und meine wortreiche Heftigkeit belächelte. Gröblicher wurde der Kampf, wenn ich auf den Fahrten in die Vakanz mit meinen Chiemgauer Kommilitonen beisammensaß. Sie studierten fast alle in Freising und zerzausten mir meinen Großen Kurfürsten mitsamt dem Alten Fritz, daß es eine Art hatte.

Geschichte wurde auf den Münchner Gymnasien sehr vorsichtig traktiert. Mit 1815 hörte man auf, wenn es überhaupt so weit ging; was nachher kam, war zu gefährlich, zu aktuell und nicht reif für abgeklärte Darstellung. Ob es auf einen Wink von oben unterlassen wurde, weiß ich nicht.

[pg 69]

Was für Absonderlichkeiten damals noch möglich waren, mag ein Beispiel zeigen. Wir hatten in der zweiten Gymnasialklasse, der heutigen siebenten oder Obersekunda, einen Professor, der nur Katholiken in seiner Klasse haben wollte. Man sah dem alten Herrn die Schrulle nach, und da es eine Parallelklasse gab, wurde in sie alles, was Protestant und Jude war, gestopft. Erst das Jahr darauf wurden wir wieder simultan.

Einiges von unseren deutschen Klassikern, mit denen ich frühzeitig vertraut geworden war, lasen wir auch in der Schule, in einer Art, die wirklich Tadel verdiente. Hätte ich zum Beispiel Hermann und Dorothea nicht vorher gekannt, so wäre mir vielleicht auf lange Zeit der Geschmack daran verdorben gewesen durch die unbeschreiblich langweilige Behandlung, die sich monatelang dürftig und dürr hinschleppte.

Am Ende waren unsere Lehrer auch da wieder in einer Zwickmühle. In den Werken unserer Dichter ist allerlei enthalten, zu dem man sich als Erzieher nicht freudig bekennen durfte; davor warnen, hieß darauf hinweisen, und so tat man so, als glaubte man uns, daß wir selber alles Gefährdende scheu von uns abweisen würden. Aus einem so verdruckten Getue kommt nie was Gescheites heraus. Natürlich hatten wir Leute unter uns, die wahre Entdecker von Verfänglichkeiten waren und besonders bei Shakespeare Stellen fanden, die sie kichernd vor dem Unterrichte und in den Pausen ihren Vertrauten mitteilten. Vor so was schützt kein [pg 70]Verhütungssystem, bloß eine Erziehung zum frischen und gesunden Sinn.

Wir hatten einen Lehrer, den alten Eilles, einen Grobianus, der trotz seines rauhen Wesens unser Liebling war und dem wir alle über die Schule hinaus Verehrung bewahrten. Wenn der im Homer an eine Stelle kam, wo etwa Odysseus sich mit Kalypso zurückzog, dann strich er lachend seinen roten Bart und schrie er uns zu: „Nur laut reden und nicht murmeln! Hinterher tuschelt ihr euch doch das dümmste Zeug in die Ohren! Und er schlief bei ihr ... jawoll! Ihr Lausbuben und Duckmäuser!“

Mein Interesse an der deutschen Literatur bewies ich nicht bloß durch reichlichen Ankauf von Reclambüchern und Gesamtausgaben, deren Kosten meine gute Mutter oft mit Kopfschütteln bestritt, sondern neben dem übrigens verbotenen Theaterbesuch auch dadurch, daß ich mich in die Universität einschlich. Damals las Bernays ein Kolleg über Schiller; es begann eine Viertelstunde nach vier Uhr, also nach Klassenschluß. Ich lief mit zwei Freunden Trab durchs Lehel, den Hofgarten und die Ludwigstraße und saß dann keuchend und erhitzt auf der hintersten Bank. Daß es per nefas geschah und uns das Aussehen akademischer Bürger verlieh, war vielleicht der stärkere Ansporn zu dem anstrengenden Hospitieren.

Bernays wirkte mit schauspielerischen Mitteln; wenn er bald flüsterte, bald die Stimme erhob, wenn er Pausen machte und dann ein bedeutendes Wort in die [pg 71]Zuhörer schleuderte, machte er starken Eindruck und wollte ihn machen. Wir bewunderten ihn und bewunderten uns auch ein wenig selber, daß wir uns die Bildung so sauer verdienten.

Der Theaterbesuch! Natürlich war er verboten, oder richtiger gesagt, nur „nach vorgängiger Erlaubnis des Rektors gestattet“. Heute bin ich froh darüber, daß ich mich auch hierin nicht an die Satzungen hielt, denn die allerschönsten Stunden verlebte ich auf der Galerie des Hoftheaters, wo ich mit Herzklopfen saß und beim freundlichen Anschlag der Glocke mich sogleich in eine Märchenwelt versetzt fand. Wenn ich ihren Klang höre und sich der Vorhang feierlich hebt, fühle ich mich immer wieder zurückversetzt in jene Zeit, Jahre versinken, und ich bin wieder jung wie damals. Das Hoftheater hatte ein Ensemble, dessen sich heute die Berliner und Wiener Bühnen nicht rühmen können. Vorstellungen mit Rüthling, Herz, Richter, Kainz, Häusser, Schneider, Possart, Keppler, mit der Heese, Bland und Ramlo bleiben im Gedächtnisse.

Draußen am Gärtnertheater war auch eine Künstlerschar tätig, die, wie heute keine mehr, Volksstücke und Possen herausbringen konnte. Der alte Lang, Albert, Hofpauer, Neuert, Dreher, Brummer, die Schönchen, Kopp, Hartl-Mitius.

So gab mir das Theater schöne Feste, und eine brave Tante und Theaterfreundin gab mir die dreißig Pfennig für den Platz auf der Galerie. Mit einem Stück Brot und einer Hartwurst in der Tasche wartete ich [pg 72]gerne eine Stunde lang vor den geschlossenen Toren, um dann die engen Treppen hinaufzustürmen und mir den besten Platz zu erobern.

Einen sehr starken Eindruck machte auf mich das Gastspiel der Meininger. Es ist bekannt, wie ihre Regie mit äußeren Mitteln, mit wildbewegten Volksmassen, mit echten Kostümen Wirkungen hervorbrachte, und ich erinnere mich heute noch an die hereinstürmenden Pappenheimer Kürassiere oder an das Geschrei des Volkes auf dem römischen Forum. Aber auch die schauspielerischen Leistungen waren groß, und Teller, Nesper, Drach sind Namen, die sich ins Gedächtnis geprägt haben. Daß die Meininger sich ausschließlich mit der Darstellung klassischer Werke Ansehen erwarben, darf man im Zeitalter der Operette und des gemeinen Filmdramas besonders hervorheben.

 

Ich war der Obhut zweier Onkel anvertraut, die, so entfernt verwandt sie auch mit uns waren, doch nach Sitte und Brauch so genannt wurden. Sie hatten zusammen eine kleine Wohnung in der Frauenstraße inne; der eine, pensionierter Postsekretär, war mit der Schwester des andern, eines pensionierten Premierleutnants, verheiratet. Diese, die gute alte Tante Minna, war der Mittelpunkt des Hausstandes, die Friedensbringerin bei allen auftauchenden Differenzen zwischen den Herren und nebenher eine altbayrische Chronik. Ihre Geschichten gingen zurück in die zwanziger und dreißiger Jahre und spielten in Freising und Altmün[pg 73]chen. Sie erzählte gerne und sehr anschaulich und kannte die städtischen Familien, dazu auch eine erkleckliche Zahl bayrischer Staatsdiener, von denen sie allerlei Menschliches wußte, das im Gegensatze zu etwa vorhandenem Staatshochmute stehen durfte.

Wenn der Onkel Postsekretär abends, wie es seine Gewohnheit war, den „Münchner Boten“ vorlas und mit einem Blaustift ärgerliche Nachrichten zornig anstrich, dann unterbrach Tante Minna nicht selten die Vorlesung mit einer Anekdote über einen Gewaltigen in Bayern. „Der brauchet sich auch net so aufmanndeln ...“ Damit begann sie gewöhnlich die Erzählung, und dann folgte die Geschichte eines Begebnisses, in dem der hohe Herr schlecht abgeschnitten hatte.

Das konnte oft bis in die frühe Jugend des Getadelten zurückreichen, denn die Tante hatte ein unerbittliches Gedächtnis. Dabei war sie heiter, wohlwollend und herzensgut und sah aus wie ein altes Münchner Bild, mit ihren in der Mitte gescheitelten Haaren, auf denen eine kleine Florhaube saß. Sie hielt den kleinen, aber behäbigen Haushalt in bester Ordnung und ließ in ihrer heiteren und doch resoluten Art keine Verstimmung andauern, die sich zuweilen einstellte, denn die zwei Onkels repräsentierten zwei verschiedene Welten. Der Postsekretär hatte – schon anfangs der dreißiger Jahre – in München Jura studiert, war aber vor dem Examen zur Post gegangen und hatte zuletzt als Sekretär in Regensburg amtiert. Der Premierleutnant hatte die Feldzüge mitgemacht, [pg 74]war nach siebzig krank geworden und hatte den Dienst quittiert.

Vorne, wo Onkel Joseph, der Sekretär, sein Zimmer hatte, war’s ganz altbayrisch, partikularistisch, katholisch. Sechsundsechzig und was nachher kam, Reichsgründung, Liberalismus um und um, Kulturkampf, alles wurde als Untergang der guten, alten Zeit betrachtet. Hier bildeten Kindererinnerungen an Max Joseph, der das Söhnchen des Burghauser Landrichters getätschelt hatte, das Allerheiligste, und eine Studentenerinnerung an Ludwig I., der den Kandidaten Joseph Maier im Englischen Garten angesprochen hatte, konnte durch keine neudeutsche Großtat in den Schatten gestellt werden.

Wenn aber das „Regensburger Morgenblatt“, das auch abends vorgelesen wurde, einen schmerzlichen Seufzer über Falk, Lutz oder Bismarck brachte, fuhr der angenetzte Blaustift gröblich übers Papier. Da konnte es dann auch Pausen geben, und zwischen zwei Schlucken aus der Sternecker Maß setzte es ingrimmige Worte über respektabelste Persönlichkeiten ab, bis Tante Minna fand, daß es nun genug wäre und daß man weiterlesen sollte.

Im Zimmer rückwärts, wo Onkel Wilhelm hauste, lebten die Erinnerungen an Wörth, Sedan und Orleans, hier herrschten Freude am neuen Reiche und temperierter Liberalismus.

Freilich war’s auch recht gut altbayrisch, und in heroische Töne vom wiedererstandenen Kaisertum misch[pg 75]ten sich die anheimelnden Klänge aus dem alten Bockkeller, aus lustigen Münchner Tagen, wo der Herr Leutnant Paulus mit dem Maler Schleich und anderen Künstlern selig und fröhlich war. Im allgemeinen vermieden es die zwei Antipoden, besonders in meiner Anwesenheit, auf strittige Fragen zu kommen; wenn’s doch geschah, war der Angreifer immer der Herr Postsekretär, der auch vor mir weder seine noch seines Gegners Würde zu wahren beflissen war.

Zuweilen streckte er, wenn ihm etwas mißfiel, heimlich, aber unmenschlich lang seine Zunge hinterm Maßkrug heraus und schnitt Gesichter.

Ich kann mich nicht erinnern, daß ihn der alte Offizier einmal bei der Kinderei ertappt hätte, und ich hütete mich wohl, den prächtigen Onkel, der so wundervolle Grimassen machen konnte, durch dummes Lachen zu verraten.

Trotz des Kleinkrieges vertrugen sich die beiden Herren recht gut, und wenn die Sprache auf vergangene Zeiten kam, fingen sie miteinander zu schwärmen an vom Schleibinger Bräu und vom Schwaigertheater, vom sagenhaft guten Bier und von billigen Kalbshaxen, und sie waren sich darüber einig, daß im Kulinarischen und im Trinkbaren das goldene Zeitalter doch vor der Kapitulation von Sedan geherrscht hatte. Und das versöhnte die Gegensätze.

Waren damals eigentlich andere, mildere Sommertage als jetzt? Mir kommt’s so vor, als hätte es bei weitem nicht so oft geregnet, denn viele Tage hinter[pg 76]einander gab es Hitzvakanzen, und wochenlang gingen wir jeden Abend auf den Bierkeller.

Onkel Wilhelm war nicht dabei; er blieb entweder zu Hause, oder er war um die Zeit schon in Prien zur Erholung. Reisen war nicht Sache des Herrn Postsekretärs. Nördlich ist er nicht über Regensburg hinausgekommen, aber auch nach Süden zog ihn sein Herz nicht, und es genügte ihm, wenn er an föhnigen Tagen vom Fenster aus die Kette der Alpen sah.

Das ging damals noch.

Vom rückwärts gelegenen Zimmer aus sah man über einen breiten Bach hinweg die Höhen am rechten Isarufer, darüber hinaus aber die Salzburger und Chiemgauer Berge.

Am Bache unten lag das freundliche Häuschen eines bekannten Musikers, mitten in einem hübschen Garten. Jetzt ist der Bach überwölbt, die Aussicht von einer öden Reihe hoher Mietskasernen versperrt, und wo die gepflegten Rosen des Musikers blühten, sind gepflasterte Höfe, darüber Küchenaltanen, auf denen man Teppiche ausklopft. Ein Stück Altmünchen nach dem andern wurde dem Verkehr, dem großstädtischen Bedürfnisse, dem Zeitgeist oder richtiger der Spekulation geopfert.

Seit Mitte der achtziger Jahre haben Gründer und Bauschwindler ihr Unwesen treiben dürfen, haben ganze Stadtviertel von schlecht gebauten, häßlichen Häusern errichtet, und keine vorausschauende Politik [pg 77]hat sie daran gehindert. In meiner Schulzeit lag vor dem Siegestor ein behäbiges Dorf mit einer netten Kirche; heute dehnen sich dort fade Straßen in die Länge, die genau so aussehen wie überall, wo sich das Emporblühen in Geschmacklosigkeit ausdrückt.

Damals lagen noch die Flöße vor dem „Grünen Baum“, der behaglichsten Wirtschaft Münchens, und weiter unten an der Brücke lag die Klarermühle, in der die Säge kreischte, wie irgendwo im Oberland. Jetzt gähnt uns eine Steinwüste an, Haus neben Haus und eine Kirche aus dem Anker-Steinbaukasten. Die Klarermühle mußte verschwinden, denn sie paßte so gar nicht ins Großstadtbild; sie hatte, und das ist nun einmal das Schlimmste, Eigenart, erinnerte an bescheidene Zeiten, wo München in seiner äußeren Erscheinung, wie in Handel und Gewerbe, zu dem rassigen Landesteile gehörte, dessen Mittelpunkt es war.

Dem Manne, der München zur schönsten Stadt Deutschlands gemacht hat, ist das Sägewerk vor der Brücke nicht peinlich aufgefallen, und im „Grünen Baum“ hat Ludwig I. öfters zugesprochen, aber die neue Zeit, die für amerikanische Snobs Jahrmärkte abhielt, ihnen eine Originalität vorschwindelte, von der sie sich losgesagt hatte, die konnte es nicht weltstädtisch genug kriegen. Ich habe in meiner Jugend noch so viel von der lieben, alten Zeit gesehen, daß ich mich ärgern darf über die protzigen Kaffee- und Bierpaläste, über die Gotik des Rathauses und die Niedlichkeit des Glockenspiels und über so vieles andere, was unserem [pg 78]München seine Eigenart genommen hat, um es als Schablonengroßstadt herzurichten.

Wenn ich Onkel Joseph an einem Sonntagvormittag auf seinem Spaziergang durch die Stadt begleiten durfte, machte er mich überall auf verschwundene Herrlichkeiten aufmerksam.

Da war einmal dies, und da war einmal das gewesen, und es klang immer wehmütig, wie der Anfang eines Märchens.

Selten oder vielleicht nie handelte es sich um die großen Erinnerungen, sondern um die kleinen, die wirklich Beziehungen zum Leben des einzelnen haben. Da war einmal die Schranne abgehalten worden, und was hatte sich für ein Leben gerührt, wenn die Bauern anfuhren, Wagen an Wagen, und ihre Säcke aufstellten, wenn Markthelfer und Händler durcheinander liefen, wenn geboten und gefeilscht und zuletzt im Ewigen Licht oder beim Donisl oder im Goldenen Lamm neben der Hauptwache der Handel bei einem guten Trunk abgeschlossen wurde.

Kaffee tranken die Schrannenleute beim Kreckel; die Frauenzimmer aber, die auf dem Kräutelmarkt oder, wie es bald vornehmer geheißen hat, auf dem Viktualienmarkt ihre Einkäufe machten, kehrten beim Greiderer oder beim Goldner ein.

Wer es nobel geben wollte und gerne ein gutes Glas Wein trank, ging zum Schimon in die Kaufingergasse, der in dem Durchhause seine große Lokalität hatte.

Ja, wie gemütlich und lebhaft es dort zugegangen [pg 79]war! Offiziere, Künstler, Beamte, Bürger, auch Frauen aller Stände, alles durcheinander im schönen Verein, und überall ruhige Heiterkeit, wie es unter anständigen Leuten sein mußte, die einen edlen Tropfen liebten und das wüste Geplärr nicht brauchten und nicht machten. Wie viele anheimelnde Namen sagte mir der Onkel, der fast jeden mit einem Seufzer begleitete! Da waren der Mohrenköpflwirt am Saumarkt, der Melber in der Weinstraße, der Krapfenbräu am Färbergraben, der Fischerwirt neben der Synagoge, der Haarpuderwirt in der Sendlinger Straße und dort auch der Stiefelwirt, der Rosenwirt am Rindermarkt, der Schwarze Adler, der Goldne Hirsch und der Goldne Bär und in der Neuhauserstraße der Goldne Storch, wo Stellwagen und Boten von überall her gerne einkehrten.

Das klang anders als die armselige Internationalität der heutigen Firmen, die dem Snob sagt, daß er auch in München den hübschen Zug der Nachäfferei und des Aufgebens aller Bodenständigkeit findet.

Dagegen sicher nicht mehr die schmackhafte Spezialität der guten Dinge, die klug verteilt hier im Derberen, dort im Feineren zu finden war.

Aber die schönste Entwicklung hat der brave Herr Postsekretär nicht mehr erlebt; er sah nur die Anfänge dazu und starb noch, bevor man zwischen Marmorsäulen unter überladenen Stuckdecken eine Tasse Kaffee trank und sich einbilden konnte, in einem Bahnhofe oder in einem Tempel zu hocken.

[pg 80]

Das blieb dem eingefleischten Altmünchner erspart.

Wenn Maibock ausgeschenkt wurde, nahm er mich zuweilen mit, und da konnte es geschehen, daß er in eine bedenkliche Fröhlichkeit geriet und beim Heimweg den Hut sehr schief aufsetzte.

Bei einem dieser Frühschoppen zeigte er mir einmal einen alten Herrn, der aussah wie ein Oberförster aus der Jachenau oder vom Königssee.

„Das ist der Kobell“, sagte mein Onkel. „Und jetzt hast amal an bayrischen Dichter g’sehn.“ Ich bewunderte ihn von weitem, und ich weiß nicht, was mich mehr freute, daß ich den berühmten Mann sah oder daß er so berglerisch und jägermäßig ausschaute. Hermann Lingg und der Olympier Heyse wurden mir auf der Straße gezeigt.

Auch den alten Döllinger habe ich mehrmals gesehen, und Tante Minna, mit der ich ging, gab mir von ihm und seinem Wirken eine Schilderung, die sich in Persönliches verlor und geschichtlich nicht unanfechtbar war.

Von den bayrischen Staatsmännern kannte ich von Angesicht zu Angesicht die Herren von Lutz und Fäustle.

Es läßt sich denken, was der Herr Postsekretär dem Erfinder des Kanzelparagraphen nachmurmelte; über Fäustle wurde milder geurteilt. Daß er Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte und als Gelegenheitsjäger mehr Eifer als Talent verriet, wurde aber doch festgestellt.

Den Doktor Johann Baptist Sigl, der damals im [pg 81]Zenit seines Rufes stand und seine lebhaftesten Artikel schrieb, konnte man oft genug sehen.

Es war von ihm mehr die Rede als von irgendeinem süddeutschen Publizisten oder Politiker, und die schmückenden Beinamen, die er Personen und Dingen beilegte, fügten sich dem Münchner Wortschatz ein.

Ereignisse, die die Meinung lebhaft erregten, gab es nicht; mit Murren über die Neuordnung der Dinge, die auch schon das erste Jahrzehnt hinter sich hatte, mit Murren über den König und seine Bauten wurde so ziemlich der Bedarf an Kritik gedeckt.

Es war eine stille Zeit; auch in literarischen und künstlerischen Dingen gab es keine Aufregungen; wenigstens keine so lauten, daß hellhörige Gymnasiasten was davon vernommen hätten.

Zur Weihnachtsbücherzeit lag ein Band Ebers in der Auslage, daneben was Germanisches von Dahn.

Von ihnen hörte man in der Entfernung, die für einen Schüler abgesteckt war, am meisten.

Freytags „Ahnen“ und Scheffels Werke standen in Ansehen bei uns. Nur wenige kannten Storm, Keller, Raabe, Fontane, Konrad Ferdinand Meyer, aber daß auch damals die Jungen schon gescheit zu reden wußten, beweist mir die Erinnerung an ein Gespräch mit einem Mitschüler, der mir bei der Nachricht vom Tode Auerbachs klarmachte, daß dieser Schriftsteller bedeutend überschätzt worden sei.

Ich glaube, daß ich den klugen Altersgenossen bewundert habe, denn ich hatte keine Anlagen zur Zwei[pg 82]felsucht; auch was mir nicht gefiel, war mir schon fast durch die Tatsache, daß es gedruckt war, dem Urteil entrückt.

Einen eigenartigen Eindruck machte auf mich ein kleines Buch, das ich als Siebzehnjähriger in der dritten Gymnasialklasse in die Hände bekam.

Es war Fritz Mauthners „Nach berühmten Mustern“, worin Auerbach, Freytag, Scheffel u. a. parodiert waren. Die scharfen Karikaturen wirkten nicht bloß erheiternd auf mich; sie quälten mich geradezu, weil sie mir mit einem Schlage den unbefangenen Glauben an eine Vollkommenheit nahmen, die mir unantastbar erschienen war.

Ich ließ mich eine Zeitlang mit Zögern auf Enthusiasmus ein; denn was waren Illusionen, die mit einer Zeile zerstört werden konnten? „’ktober war’s; der Wein geraten ...“, diese Parodie auf Scheffelsche Verse blieb mir lange im Gedächtnis.

 

Ich hatte einen wachen Sinn für bildende Kunst, und vor den Schaufenstern der Kunsthandlungen konnte ich lange stehen. Den Historienbildern im alten Nationalmuseum, den Ausstellungen im Kunstverein widmete ich lebhaftes Interesse; und wenn ich an die Eindrücke, die ich empfing, zurückdenke, sehe ich eine bestimmte Entwicklung des Geschmackes.

Ich hatte kein frühreifes Urteil und mußte immer gegen einen festgewurzelten Respekt kämpfen, bevor ich mich von einer Sache abwandte, die Geltung und An[pg 83]sehen hatte. Ja, ich erinnere mich wohl, daß ich mich zur Bewunderung zwingen wollte und den Fehler bei mir suchte, wenn es mir nicht gelang. Aber auf die Dauer lassen sich Zweifel, die auf innerlichem Erleben und auf unbewußtem Wachsen beruhen, nicht unterkriegen. So weiß ich, wie ich mich geradezu danach sehnte, den Glauben an die Schönheit historischer Bilder wiederzufinden, und wie mir’s nicht mehr gelingen wollte.

Ich sah nur mehr kostümierte Personen. Größe, Tragik des Geschehens hatten ihre starke Wirkung verloren.

Ich brachte den ketzerischen Gedanken nicht los, daß unter den meisten dieser Bilder auch irgend was anderes stehen könnte, denn ob man bei Giengen, Ampfing oder sonstwo Schwerter schwang und Spieße vorstreckte, das machte doch keinen Unterschied. Ich ging nun durch das Nationalmuseum, das ich häufig aufsuchte, ohne den Wandgemälden Beachtung zu schenken, desto mehr aber der Sache selbst. Rüstungen, Waffen, Trachten, handwerklichen, künstlerischen Erzeugnissen, die mir die Vergangenheit wirklich lebendig machten.

Ich bedauere es noch heute, daß mir jede Führung fehlte, die mir Wissen und Verständnis, die ich mir mühsam und stückweise errang, ganz anders hätte beibringen können. Aber ich hatte niemand, und in der Schule fehlte schon gar jede Anregung, die mich gefördert hätte.

Nichts wurde so trocken gelehrt wie bayrische Geschichte, und ich glaube, daß man das heute in jeder [pg 84]Dorfschule besser macht. Ist es die Vaterlandsliebe weckende Geschichte, die nichts zu erzählen weiß als Erbschaftsstreitigkeiten der Wittelsbacher, die Spaltung und Wiedervereinigung von Bayern-Ingolstadt, Bayern-Landshut, Bayern-Straubing und Bayern-München?

Vom Volke hörte man nichts, von seinem Leben, von Bauart, Kunst und Handwerk, von Handel und Wandel im Lande, ja kaum etwas von den kunstreichen und klugen Männern, die unser Stamm hervorgebracht hat.

Der Gymnasiast lief in München an Kirchen, Palästen, Brunnen und Denkmälern vorbei, und sie waren ihm nichts als totes Gestein und Erz.

Sustris, Frey, Hans Krumper, Muelich, Peter Candid und Christoph Angermaier und viele andere waren leere Namen, wenn sie schon wirklich in Pregers Lehrbuch standen, und doch wäre es möglich gewesen, mit ein paar Hinweisen, am Ende gar auf einem Gange durch die Stadt, dem Schüler bleibendes Wissen beizubringen.

Man lernte in zwei Zeilen auswendig, daß Johann Turmair, genannt Aventinus, der große Geschichtsschreiber Bayerns war, aber auch nur eine Seite von ihm zu lesen, paßte nicht in den Rahmen des bayrischen Geschichtsunterrichtes. Es ist nicht bloß mir, es ist am Ende allen so gegangen: wenn man das Gymnasium verließ, hatte man nichts gelernt und erfahren, was einem die Heimat wertvoller machen konnte.

[pg 85]

Im Gegenteil, es war einem die Meinung anerzogen, als stünden wir arg im Schatten neben dem großen Geschehen und Emporblühen anderswo.

Wir hatten kein Fehrbellin, kein Roßbach, Leuthen und Belle-Alliance; unser Schlachtenruhm konnte einem warmherzigen Jungen wohl anfechtbar erscheinen, wenn er auf seiten der Feinde Deutschlands errungen war.

Daß es anderes gab, was uns auf die Heimat stolz machen durfte, davon erfuhr der Gymnasiast wenig oder nichts.

 

Die Pflicht zu meiner Erziehung nahm Onkel Wilhelm wie etwas Selbstverständliches oder seinem militärischen Charakter Zukommendes auf sich, und meine Mutter, die sich vom soldatischen Wesen die besten Erfolge versprechen mochte, war damit sehr einverstanden. Ich glaube nicht, daß der Herr Postsekretär eifersüchtig oder gekränkt war, aber er zeigte zuweilen mit Zitaten aus Klassikern, daß seine Kenntnisse solider waren als die „des Soldatenschädels“.

Der Oberleutnant wiederum wollte den Schein wahren, als ob er alle Gebiete des Wissens beherrschte, und ließ im Gespräche mit seinem Schwager Bemerkungen über Unterrichtsgegenstände fallen, die sein Vertrautsein mit ihnen beweisen sollten.

Das führte bloß dazu, daß Onkel Joseph heimlich die Augen rollte und hinterm Maßkrug die Zunge herausstreckte, wenn der Krieger, der nach einigen Jah[pg 86]ren Lateinschule Regimentskadett geworden war, bedenkliche Blößen zeigte.

Mein Onkel Wilhelm war das Urbild des altbayrischen Offiziers von Anno dazumal, als es noch keinen preußischen Einschlag gab.

Ritterlich und ehrenhaft, bescheiden nach den recht kleinen Verhältnissen lebend, aber doch gesellig und ganz und gar nicht auf Kasinoton gestimmt, rauhschalig und stets bemüht, die angeborene Gutmütigkeit hinter Derbheit zu verstecken, freimütig und nicht gerade sehr ehrgeizig. Dazu mit einem wachen Sinn für gutes Essen und gutes Bier begabt, natürlich ein leidenschaftlicher Vorkämpfer des Altbayerntums gegen fränkische und pfälzische Fadessen und Anmaßungen. Wenn der dicke Bader Maier aus der Zweibrückenstraße kam, um meinen Onkel zu rasieren, hörte ich vieles, was mir ein Bild von der alten Zeit gab.

Die beiden duzten sich, da sie, der eine als Korporal und Feldwebel, der andere als Kadett im gleichen Regiment gedient hatten. Da gab es Erinnerungen an Erlebnisse und an alte Kameraden, von denen manche etliche Sprossen höher auf der militärischen Leiter gestiegen waren, da gab es Erinnerungen an kriegerische Abenteuer, denn auch der schnaufende und schwitzende Bader Maier war Anno 66 in der Gegend von Würzburg in Weindörfern gelegen, und immer gab es ein seliges Erinnern an Eß- und Trinkbares, an sagenhafte Leberknödel, die ein Feldwebel besser als jede Köchin zubereitet hatte, an Kartoffelsalate oder an [pg 87]Schweinernes mit bayrischen Rüben, für die ein jetziger Major das feinste Rezept besessen hatte.

Der Bader besonders war nur mit kulinarischen Andenken an den Bruderkrieg behaftet, und wenn er auch sonst nicht viel Gutes an den Franken gefunden hatte, ihre Preßsäcke und Schwartenmägen hatten ihm doch Ehrfurcht eingeflößt.

Ich saß am Tisch, und indes ich zu arbeiten schien, horchte ich aufmerksam zu, voll Erwartung, von diesen lebenden Zeugen etwas über Schlachtenlärm und Getümmel zu hören, aber es kam nichts als Berichte über Zutaten zu geräucherten Blut- und Leberwürsten, in denen auch die Rheinpfalz Großes geleistet hatte, als der Gefreite Maier unter General Taxis als Strafbayer dort geweilt hatte. Ich konnte also meinen Hunger nach lebendiger Geschichte nicht stillen, allein vielleicht wuchs in mir heimlich das Verständnis für altbayrische Lebensfreude.

Wie man es von ihm erhofft hatte, verhielt sich Onkel Wilhelm gegen mich als soldatischer Vorgesetzter, der keine Respektlosigkeit und nichts Saloppes duldete und, wenn er schon einmal lobte, auf die Anerkennung stets eine scharfe Mahnung folgen ließ.

Die Überwachung meiner Arbeit, die zu seinem Pflichtenkreise gehörte, bereitete ihm Schwierigkeiten, über die er sich nicht ganz ehrlich wegsetzte.

Da ich seine Schwäche schnell durchschaut hatte, legte ich ihm manches Problem vor und hatte meinen Spaß daran, wie er den Zwicker aufsetzte und sich in [pg 88]den Text einer Stelle in Cornelius Nepos oder Cäsar zu vertiefen schien, um zuletzt zu entscheiden, sie sei gar nicht so schwer, ich solle nur ordentlich nachdenken und selber die Lösung finden.

Nicht selten hielt er Ansprachen an mich, in denen er mich als beinahe reif gelten ließ und mir die Ehrenstandpunkte klarmachte.

So sehr mir das gefiel, war meine Neigung zu Kindereien doch viel zu lebhaft, als daß ich mich als werdender Mann benommen hätte, und das nahm er stets übel, sah eine Woche lang über mich weg und erwiderte meinen Gruß mit abweisender Kälte.

Ich wartete meine Zeit ab und fand das Mittel, ihn zu beschwichtigen, indem ich ihn über gelehrte Dinge respektvollst zu Rate zog.

Sein Kopfleiden fesselte ihn den ganzen Winter über ans Zimmer, und ich mußte für ihn aus der Lindauerschen Leihbibliothek häufig Bücher holen.

Das kleine Fräulein hinter dem Ladentische, ich glaube eine Irländerin, besaß meine ganze Bewunderung, wenn es in gebrochenem Deutsch über jedes verlangte Buch Urteile abgab. Es schien wirklich alles gelesen zu haben.

Ich selber war lesewütig und benutzte jede Gelegenheit, Romane zu verschlingen.

Ich las auf der Straße und hatte daheim oft unterm Schulbuche einen Schmöker liegen.

Ich habe Gutes und Schlechtes wahllos gelesen, neben Dickens, Gotthelf, Keller auch ganz seichtes [pg 89]Zeug, und es ist mir wie den Konditorlehrlingen ergangen, die sich am Überflusse das Naschen abgewöhnen.

Ich hörte nach und nach auf, an süßlichen und gespreizten Romanen Gefallen zu finden, und wurde mit der Zeit sogar recht empfindlich gegen gedruckte Unwahrheit.

Aber ich möchte doch die Kur nicht allen empfehlen.

Im Mai oder zu Anfang Juni ging Onkel Wilhelm aufs Land, und dann begann für mich eine Zeit genußreicher Ungebundenheit.

Der Herr Postsekretär war kein strenger Stellvertreter; übrigens starb er bald so ruhig und gelassen, wie er gelebt hatte.

Tante Minna aber konnte kaum Aufsicht üben, und so mußte man schon das meiste meinem eigenen Ernste überlassen.

Es ging schlecht und recht.

Der beste Antrieb war die Aussicht auf die selige Vakanz, die damals merkwürdigerweise, und weil Zopfigkeit immer hartnäckig ist, nach den heißesten Tagen am 8. August begann.

Es bedeutete offenbar eine ungeheure Umwälzung, die noch jahrelang vorbereitet und erwogen werden mußte, sie schon am 15. Juli anfangen zu lassen. Aber auch so, wie sie waren, brachten mir die Ferien eine Fülle ungetrübter Freuden. In Prien am Chiemsee hatte meine Mutter ein Gasthaus gepachtet, die „Kampenwand“, und ich durfte die Knabenjahre, wie ehedem die Kinderzeit, auf dem Lande verbringen.

[pg 90]

Der Chiemsee! Wenn ich die Augen schließe, und sei es, wo immer, Wasser an Schiffsplanken plätschern höre, erwacht in mir die Erinnerung an die Jugendzeit, an Stunden, die ich im Kahn verträumte, den See rundum und den Himmel über mir.

Ich sehe die stille Insel, von der die feierlichen Glockenklänge herüberklingen, ich höre den Kahn auf feinem Kiese knirschen, springe heraus und stehe wieder unter den alten Linden, von wo aus der Blick über die blaue Flut hinunter nach den Chiemgauer und Salzburger Bergen schweift. Ich gehe an der Klostermauer entlang und sitze am Ufer, wo Frieden und Feierabend sich tiefer ins Herz senken als irgendwo in der Welt, ich gehe zu den niederen Fischerhütten und sehe zu, wie man die Netze aufhängt und die Arbeit für den kommenden Tag bereitet.

Ein abgeschiedenes Stück Erde und ein versunkenes Glück in Jugend und Sorglosigkeit!

Aber doch! Dieses Glück gab es einmal, es erfüllte das Herz des Knaben mit Heimatliebe und wirkte lange nach.

In der efeuumrankten Wirtsstube auf der Fraueninsel habe ich oft ehrfürchtig die Bände der Künstlerchronik durchgeblättert und gesehen, wie diese friedliche Schönheit um mich herum auf bedeutende Menschen Eindruck gemacht hatte.

In den Gedichten war viel die Rede vom Chieminseeo, von Werinher und Irmingard, und diese Romantik der Scheffel- und Stielerzeit begeisterte mich [pg 91]zu den ersten Versen, die ich, allerdings viel später, auf blaue Flut und Klosterfrieden dichtete.

Die Mitglieder der Künstlerkolonie betrachtete ich mit respektvoller Bewunderung, in die sich etwas Neid mischte; denn Maler zu sein, erschien mir als das schönste Los, und heute noch, wenn ich Ölfarbe rieche und Farben mischen sehe, überkommen mich alte Wünsche.

Haushofer, Raupp, Wopfner und etliche mehr waren die Herrscher auf der Insel, die von Künstlern entdeckt und in Besitz genommen worden war.

Laienbesucher hielten sich nur etliche Stunden auf und strichen scheu um die Größen herum, die nach der Abfahrt des letzten Dampfschiffes unter sich blieben. Der dicken, alten Julie standen sie weniger als Gäste, denn als Hüter ihrer Rechte und der alten Ordnung gegenüber, und wenn meine Mutter, wie sie es jeden Sommer einmal tat, zu Besuch kam, mußte sie Seufzer und Klagen über die Maler hören.

Die jungen Künstler, Söhne oder auch Schüler der Herren Professoren, hatten für Fröhlichkeit und die herkömmliche Ungebundenheit zu sorgen. Sie veranstalteten Feste an Geburtstagen der Größen, Kahnfahrten, Ausflüge, die dann im Chronikstil ausführlich beschrieben wurden.

Es war eine andere Zeit, und wenn ich mich daran erinnere, wie damals eine absprechende Kritik über einen der Könige der Fraueninsel die ganze Kolonie in Aufregung versetzte, wie sich die Entrüstung übers [pg 92]Wasser gegen Prien hin fortschwang und viele Gemüter beschäftigte, dann darf ich wohl sagen, es war eine harmlose Zeit.

Im Mittelpunkte des allgemeinen Interesses stand der Bau des Königsschlosses auf Herrenchiemsee, der als Symptom der beginnenden Erkrankung Ludwigs II. gelten darf.

Vielleicht ist noch kein Platz unpassender für eine Geschmacklosigkeit gewählt worden als der einstmals wunderschöne Hochwald auf Herrenwörth.

Um ihn zu retten, hatte der König die Insel gekauft, als im Jahre 1874 württembergische Händler den Besitz vom Grafen Hunoldstein erworben und mit dem Abholzen begonnen hatten.

Nunmehr, Ende der siebziger Jahre, zerstörte er selber den Wald und das reizvollste Landschaftsbild, indem er den unglücklichen Abklatsch des Versailler Schlosses errichten ließ.

Der Bau ist nicht fertig geworden, und der viereckige Kasten, der patzig die Insel beherrscht und der von weit und breit die Blicke auf sich zieht, schaut aus wie ein Gefängnis.

Tritt man näher hinzu oder besucht man den Prachtbau, so friert einen vor dem überladenen, planlos angehäuften Prunk.

Damals freilich kritisierte man nicht; im Lande galt auch dieser Plan des Königs als Beweis seiner kunstfreudigen, vom Großvater ererbten Art, und am [pg 93]Chiemsee war man wohl zufrieden mit dem regen Leben, das sich nunmehr entwickelte.

Lärm gab es genug.

Scharen von Arbeitern siedelten sich auf der Insel, aber auch auf den nächsten Ufern an; Bauführer und Poliere mieteten sich in Prien ein, die Zufuhr des Materials brachte Fuhrleuten und Schiffern guten Verdienst, und der große Mann in diesem früher so stillen Winkel war der Erbauer des Schlosses, Ritter von Brandl.

Der Bau währte bis zum Frühjahr 1886 und gab Anlaß zu vielen Geschichten und Gerüchten.

Dem König dauerte er zu lange, und es soll ihm bei Besuchen manches vorgetäuscht worden sein, was nach seiner Abreise wieder verschwand; zuweilen wurde die Zahl der Arbeiter stark verringert, und am Chiemsee erzählte man sich dann mit Augenblinzeln die seltsame Mär, daß auch einem König das Kleingeld ausgehen könne.

Eine barbarische Maßregel war der Abschuß des Damwildes, das bis dahin ungestört auf der Insel gehegt worden war. Wenn man an stillen Abenden an der Südspitze der Herreninsel vorüberfuhr, sah man stets etliche Hirsche und Tiere, die ganz vertraut waren; auch von der Klosterwirtschaft aus hatte man oft den Anblick, wie Damwild auf die Wiesen austrat und äste.

Jetzt sollte es wegen der neuen Gartenanlagen ausgerottet werden. Alle Jäger und Schießer und Schin[pg 94]der im Chiemgau wurden zu dieser Jagd eingeladen; mit grobem und leichtem Schrot, mit gehacktem Blei und ganz vereinzelt nur mit der Kugel wurde auf das gehetzte Wild geschossen. Angepatzt und immer wieder aufgestört, wurden viele davon erst nach Tagen zur Strecke gebracht, und endlich war kein Stück mehr am Leben, das die übrigens nie ausgeführten Gartenanlagen hätte beschädigen können.

Wenn der König kam, wurden vorher viele Tausende von Blumen in Töpfen herbeigeschafft; man grub sie in den Boden ein und täuschte dem Schloßherrn einen herrlich gepflegten Garten vor.

Im Frühjahr 1886 wurde die Arbeit, die schon vorher gestockt hatte, ganz eingestellt; es war so was wie ein Bankerott, dem bald die Absetzung folgte.

Späterhin führte die Neugierde viele Besucher herbei, und es gehörte auch zu der weit verbreiteten Geschmacklosigkeit, daß diese leblose überladene Pracht bewundert wurde. Die Vorstellung, daß ein einzelner Mensch mit ein paar Dienern in diesen Räumen, langgestreckten Gängen und Spiegelgalerien auch nur etliche Stunden zubringen, hinter diesen von Gold starrenden Brokatvorhängen schlafen sollte, ist unmöglich.

Meine Mutter ließ sich nach dem Tode des Königs nicht zu einem Besuche des Schlosses überreden; sie wollte sich teure und in Ehren gehaltene Erinnerungen an den unglücklichen Mann und an schöne Tage in der stillen Vorder-Riß nicht zerstören lassen. Wenn sie enthusiastische Berichte von der Pracht und Herrlichkeit [pg 95]hörte, erzählte sie, wie sich der König einstmals in seinem Jagdhause so wohl gefühlt hatte und wie schlicht und einfach er gewesen war.

Die Erinnerung an vergangene Tage wachte besonders lebhaft auf, wenn die alten Freunde, Graf Tattenbach, Julius Noerr oder der Jagdgehilfe Bauer, zu Besuch kamen.

Sie ließen es sich nicht nehmen, von Zeit zu Zeit Nachschau zu halten, und mochten wohl fühlen, wieviel Freude sie damit erregten.

Auch für sie war mit dem Wegzuge meiner Eltern die Risser Gemütlichkeit zu Ende gegangen; Graf Tattenbach konnte es ebensowenig wie Noerr übers Herz bringen, unter den veränderten Umständen den Isarwinkel aufzusuchen, und Bauer hatte seine Versetzung ins Loisachtal erbeten und erhalten.

So sprach man von dem stillen Forsthause wie von einer verlorenen Heimat, an die sich alle mit Wehmut zurückerinnerten.

Wenn ich diese Männer, die sich in ihrer wortkargen, zurückhaltenden Art ähnelten, warm werden sah beim Lobe des alten Oberförsters, dann wurde mir der Vater wieder lebendig vor Augen gestellt und er selbst sowie seine Umgebung mit einem romantischen Schimmer umkleidet, der für mich daran haften blieb. Bauer sprach von ihm mit einer fast kindlichen Anhänglichkeit, ließ keinen andern Jäger und Schützen neben ihm was gelten, und es kam ihm dabei auch nicht auf Übertreibungen an.

[pg 96]

Das stach so sehr von dem Wesen dieses harten Lenggriesers ab, daß es viel stärker wirkte wie lange Reden und schöne Worte.

Er kam später auf einen ruhigen Posten in die Nähe Münchens, diente unter verschiedenen Vorgesetzten, heiratete, hatte Kinder und stand neben der Jagd einem kleinen Anwesen vor, aber wie sich sein Leben auch änderte, in der Anhänglichkeit an seinen ersten Oberförster blieb er sich die Jahrzehnte hindurch gleich. Wenn ich ihn besuchte, als Student, als Anwalt und später, als ich längst Schriftsteller geworden war, saß er mir zuerst schweigsam gegenüber, fragte mich kaum nach meinen Schicksalen und wurde erst vertraut, wenn er die Rede auf meinen Vater gebracht hatte. Dazu bot ihm jedes Ding Anlaß. Eine Pfeife, die er vom Rahmen holte und die noch von meinem Vater her stammte, der österreichische Landtabak, den auch mein Vater geraucht hatte, ein Hirschgeweih aus der Riß, eine alte Büchse, die natürlich viel besser hingegangen war als die neuen, eine gemalte Scheibe, auf die mein Vater geschossen hatte, kurz alles, was ehrwürdige Beziehung zur Riß und ihrem Oberförster hatte.

Daß ein Sohn des verehrten Mannes ihm gegenüber saß, machte ihn sogar mitteilsam, und er erzählte in seiner trockenen Art von Zusammenstößen mit Wilderern oder Lumpen, wie man im Isarwinkel sagte, bei denen es sich recht selbstverständlich um Tod und Leben gehandelt hatte.

Trat seine Frau, die allerhand Gutes auftragen [pg 97]mußte, in die Stube, dann hörte er sogleich zu reden auf und rauchte bedächtig vor sich hin, und er fuhr in seiner Erzählung erst wieder fort, wenn sie hinausgegangen war.

„Sie braucht’s net z’ wissen“, sagte er. Bei den Herbstjagden, die der Regent im Gebirge abhielt, mußte Bauer alljährlich Dienst leisten. Dabei erregte er das Mißfallen des Jagdpersonals, weil er das Verständnis der Lebenden für gar nichts achtete und hartnäckig darauf stehenblieb, daß man bloß früher, wie noch der Max Thoma Oberförster in der Riß war, die Jagd richtig und weidmännisch betrieben habe.

Mein ältester Bruder durfte in Prien ein Festschießen mitmachen, und Bauer fand sich dabei ein, um zu sehen, ob der Sohn dem Vater nachschlage. Am Schießstand stellte er sich hinter ihn und beobachtete ihn, gab ihm gute Lehren beim Laden und Kapselaufsetzen – damals schoß man noch mit Vorderladern –, prüfte Wind und Licht, und wie es dann ganz anständig ging, lachte er freundlich und sagte: „Er werd scho.“

Aber auch in ernsteren Dingen, wenn es sich um wichtige Entschlüsse handelte, wurde der alte Jagdgehilfe um Rat gefragt, und Viktor wollte ihre Ersparnisse nur so anlegen, wie er es für gut und nützlich hielt.

Als er ans Heiraten dachte, zog er sie in sein Vertrauen und schrieb ihr einen Brief, worin er ihr über die Eigenschaften und die Vermögensverhältnisse seiner Zukünftigen genauen Bericht erstattete.

[pg 98]

Sie erwog seine Angaben gewissenhaft und gab ihr Gutachten für das brave Frauenzimmer ab, das auch eine tüchtige Hauserin wurde, und ich glaube, daß sich Viktor immer mit Stolz für die Stifterin dieses Glückes hielt.

Späterhin übernahm sie die Patenstelle bei einer Tochter und blieb ihr Leben lang eine sorgsame Gödin, die sich an Geburts- und Namenstagen vernehmen ließ.

Der Eindruck, den Bauer auf mich als heranwachsenden Knaben machte, war nachhaltig, und ich habe an diesem gescheiten und ehrlichen Manne manches von der wertvollen Art unserer Oberlandler kennen und verstehen gelernt.

Er gilt mir als Vertreter der germanischen Bauernrasse, die sich im Gebirge rein erhalten hat; bedächtig im Reden, kühn im Handeln, trotzig und unbeugsam, taktvoll und klug, auch mit manchen Talenten und mit einem schlagfertigen Witze begabt.

Und die verschmitzte Schlauheit fehlte ihm nicht, die den Isarwinkler zum guten Jäger oder zum gefährlichen Wilderer macht.

Graf Tattenbach zeigte bei seinen Besuchen in Prien, späterhin in Traunstein, immer das gleiche, stillvergnügte Verständnis für das Behagen, das er vom ersten Tage an in meinem Elternhause gefunden hatte.

Seine Anwesenheit in der „Kampenwand“ hätte man mir gar nicht erst bekanntgeben müssen, sie verriet sich sofort durch einen wundervollen Tabakgeruch, der das Haus durchzog.

[pg 99]

Der Herr Oberst rauchte immer noch aus einem Tschibuk, dessen Rohr bedeutend länger war als er selber, eine Herzegowinermischung, deren Aroma mir unvergeßlich geblieben ist.

Und noch immer schaute der Herr Oberst hinter buschigen Augenbrauen scheinbar sehr streng und grimmig in die Welt, und dabei saß doch das gutmütigste Lachen in seinen Augen, wenn eine fröhliche Erinnerung aufgefrischt wurde.

Seine Jagdgeschichten wurden immer breiter ausgemalt; eine reichte für die Kaffeestunde. Er bewohnte als Pensionist in München mit seinem Bruder, der gleich ihm Hagestolz geblieben war, ein reizendes Häuschen in der Gartenstraße, jetzt Kaulbachstraße, wo ich ihn öfter besuchen durfte.

Die beiden Brüder waren sich herzlich zugetan und lebten in einer Harmonie zusammen, die nur durch den Tod gestört werden konnte. Als der Ältere, der General außer Dienst war, die Augen schloß, hatte auch für unsern Risser Jagdkavalier das Leben keinen rechten Sinn mehr. Er folgte bald dem Bruder nach.

Als Gast meiner Mutter erkrankte er in Traunstein just in der Kaffeestunde, als er, die lange Pfeife in der Hand, eine ausgiebige Geschichte von einem erlegten Hirsch begonnen hatte.

Ganz plötzlich überfiel ihn ein Schüttelfrost, der ihn zwang, mit Rauchen und Erzählen aufzuhören und sich ins Bett zu legen.

[pg 100]

Ein paar Tage blieb er noch in Traunstein. „Jetzt blasen wir Halali“, sagte er zu meiner Mutter kurz vor dem Abschied, und er hörte lächelnd ihren zuversichtlichen Tröstungen zu.

„Nein, nein, Frau Oberförster“, erwiderte er. „Diesmal is es Ernst und macht auch nix. Ich kann jeden Tag abmarschieren, mein Rucksack is schon gepackt.“

Verwandte holten ihn ab und brachten ihn nach München, wo er gelassen und vornehm die letzten Dinge abmachte.

Julius Noerr kam in den ersten Jahren zu längerem Aufenthalt und malte in Prien, Übersee, Bernau Studien, aber vielleicht war ihm der Chiemsee zu sehr Domäne einzelner, oder er fand nicht, was er suchte, jedenfalls beschränkte er sich später auf vorübergehende Besuche, die nur der Pflege alter Freundschaft galten.

Ich durfte ihn zuweilen in seinem Atelier in der Schillerstraße aufsuchen, und was ich bei ihm an Zeichnungen, Porträtskizzen, Landschaftsstudien, an Vorarbeiten für jedes Bild gesehen habe, gibt mir heute noch, so weit das auch zurückliegt, einen Maßstab für das ehrliche, große Können Noerrs und manches Zeitgenossen von ihm, und ich bin überzeugt, daß mich diese Jugendeindrücke gefeit haben gegen allen Schwindel, der seitdem getrieben worden ist. Ich lernte verstehen, warum nur ehrliche Arbeit wirkliche Werte schaffen kann.

[pg 101]

Und gewiß schlug damals meine Liebe für diese von aller Manie, Methode und Mode freie Kunst die ersten Wurzeln.

Sie ist mit den Jahren immer stärker geworden, und heute, wo galizische Schwindler alle Begriffe umfälschen dürfen, betrachte ich es als Glück, zu Noerr, Spitzweg, Steub und manchem anderen Altmünchner zu fliehen.

Der See war der schönste Tummelplatz für einen gesunden Buben, und ich brachte jeden Tag, den ich loskam, darauf zu. Die ängstlichen Bedenken meiner Mutter wurden durch den Westernacher Franz, der meinem Rudern das beste Zeugnis ausstellte, beseitigt.

Allerdings, andere Befürchtungen schwanden nie ganz, und besonders meine ältere Schwester sah mir immer mit Sorge nach und empfing mich mit Mißtrauen.

Sie ahnte, daß die schönen Obstanlagen auf der Herreninsel einen starken Reiz auf mich ausüben mußten und daß ein Pirat immer in Versuchung war, sich auf der Krautinsel Rettiche zum Brot zu holen.

An der Hachel, einer Stelle, die man nach Kirchturm und Baumwipfeln bestimmen konnte, wenn man das Geheimnis wußte, gab es schwere Bürschlinge, die an regnerischen Tagen gut bissen, und die Fischerei war um so prächtiger, weil sie verboten war.

Dies und noch mehr hatte meine Schwester vor Augen, und als heiratsfähiges Mädchen kümmerte sie sich um die Reputation der Familie.

[pg 102]

Ich ersparte ihr die Schande des Ertapptwerdens, obwohl mancher Verdacht auf mich fiel.

Daß mir der Westernacher als fünfzehnjährigem Buben Passagiere zur Überfahrt auf die Inseln anvertraute, galt mir als hohe Auszeichnung, und wenn mich die fremden Gäste für einen Schifferjungen hielten, war mein Glück vollständig, und ich war bemüht, den Eindruck zu befestigen.

Ab und zu hielt sich auch eine Dame zu meiner großen Befriedigung darüber auf, daß mir eine Pfeife im Maul baumelte.

Daran war vornehmlich der alte Bosch schuld, der mein Lehrmeister im Rauchen war.

Ich mußte für ihn Zigarrenstummel in unserer Wirtschaft sammeln, die er auf dem Herd dörrte und dann in einer Kaffeemühle zerrieb. So gewannen wir unseren Tabak. Daneben rauchten wir ungarischen in blauen Paketen, Varinas mit den drei griechischen Palikaren als Warenzeichen, und den schwarzen Reiter, Kornährentabak, der aus der Pfeife herauswuchs, zischte und lieblich roch. Ich saß oft beim Bosch; an schlechten Tagen in der niederen Stube, an schönen Abenden auf der Bank vorm Haus, und er teilte mir seine Ansichten über alles Geschehen auf dieser Welt mit.

Sie waren recht verschieden von den allgemein gültigen, und wenn sie nicht samt und sonders richtig waren, so waren sie doch auf Grund eigenen Nachdenkens und tüftelnder Bauernschlauheit gefunden, [pg 103]und darum ganz gewiß anregender als alle gedruckten Zeitungsmeinungen.

Zu mir hatte der Alte Zuneigung gefaßt, die auf innigem Vertrauen beruhte.

Er lebte in dauernder Feindschaft mit dem Bauern, der ihm den Austrag reichen mußte, und da seine eigene Kraft nicht mehr ausreichte, mußte ich die Bosheiten ausüben, die zum Wachhalten eines gediegenen Ärgers notwendig waren.

Ich erledigte die Aufgaben mit Geschick und erwarb mir die Zufriedenheit des braven Bosch.

Manchmal besuchten ihn zwei Leidensgenossen, Austrägler, die in benachbarten Häusern lebten, und dann sangen sie zu dritt mit dünnen Kopfstimmen alte Lieder.

Eines handelt vom Rückzug aus Rußland.

Ich habe später den Versuch gemacht, den Text zu erhalten, aber von den Alten lebte längst keiner mehr, und so blieben meine Nachforschungen vergeblich.

Tür an Tür mit dem alten Bosch wohnte ein ausgedienter Zimmermann, der Martin, der Leitern machte, Sägen feilte, die Bauern rasierte, Uhren richtete und als Viehdoktor in Ansehen stand.

Er hatte einem Hausierer eine Bibel abgekauft, vermutlich aus keinem andern Grunde, als weil die Geistlichkeit vor dem heiligen Buche warnte und es nicht dulden wollte.

Martin saß oft mit einer großen Hornbrille auf der Nase vor dem dickleibigen Exemplar und versuchte herauszufinden, wo denn eigentlich die geistliche Obrigkeit [pg 104]der Schuh drückte. Ich glaube nicht, daß er darauf gekommen ist, aber es paßte ihm gut, daß er infolge seiner verbotenen Studien bei den Bauern für einen Mann galt, der geheimes Wissen besäße.

Im Pfarrhof erhielt man natürlich auch Kenntnis davon, aber der alte Geistliche Rat Hefter kannte seine Pappenheimer und wußte, daß Zureden nichts helfen und das Ärgernis nur vergrößern konnte.

Wenn er dem Bibelforscher auf der Straße begegnete, sagte er bloß: „O mei Martin, du werst aa alle Tag dümmer ...“ Das sprach sich herum und nützte mehr als Eifer und heftiges Schelten.

Der Geistliche Rat war noch aus der alten Schule; ein gemütlicher, behäbiger Mann, Verehrer einer trefflichen Küche, eines guten Trunkes und Freund aller Menschen, die ihre Ruhe haben wollten und ihn selber in Ruhe ließen.

Seine volkstümlichen Predigten waren berühmt, und mancher Sommergast ging in die Kirche, um zu hören, wie der alte Herr im breitesten Dialekt, mit fetter Stimme seinen Bauern das Evangelium auslegte.

Damals war es guter Brauch, daß die Studenten nach beendetem Schuljahre im Pfarrhofe ihre Aufwartung machten und die Zeugnisse vorwiesen.

Am ersten Feriensonntag traten wir zu fünf oder sechs vor den Geistlichen Rat, der uns fröhlich begrüßte und ein mildes Wort für minder gute Noten hatte.

„Macht nichts“, sagte er. „Für an Dreier muß [pg 105]ma auch was leist’n, wenn’s nur koa Vierer net is. Es is allaweil um an Grad bessa, und überhaupts koane Gelehrt’n wollt’s ja ihr gar net wer’n ...“

Wir hatten einen unter uns, einen Häuslerssohn aus der Umgegend, der immer glanzvolle Zeugnisse mitbrachte, und es wollte den andern wie mir scheinen, daß ihn der Herr Rat mit Mißtrauen, ja mit einer gewissen Abneigung betrachtete. Seine Laufbahn ist übrigens weder so glänzend, wie seine Lehrer vermuteten, noch so schlimm, wie vielleicht der alte Herr besorgte, verlaufen; er ist Landpfarrer geworden und hat seine Talente vergraben.

Ein anderer, der älteste von uns Studenten, hat nach den Weihen noch dem geistlichen Stande Valet gesagt und als Kunstmaler einen harten Kampf mit dem Leben geführt, den ihm seine Verwandten, lauter reiche Bauern, nie mit der geringsten Unterstützung erleichterten.

Vielleicht hätte der brave Herr Rat Hefter die Leute zu seinen Gunsten gestimmt, aber der war längst tot, als sich das Unglück ereignete, und sein Nachfolger war ein scharfer Herr, der die Entrüstung aller Frommen in Prien teilte und sicherlich nicht dämpfte.

So mußte der gute Franzl für seine Gewissenhaftigkeit und Überzeugungstreue Hunger leiden und ein Künstlerelend kennenlernen, wie es schlimmer kaum in Romanen geschildert worden ist. Erst nach langen Jahren ist es ihm besser ergangen.

Damals stand er mit uns im Zimmer des Priener [pg 106]Pfarrherrn und wies sein Primanerzeugnis vor, wie wir Lateinschüler die unsrigen.

Für den zweiten oder dritten Sonntag wurden wir dann zu Tisch geladen, eine Ehre, die wir sehr hoch schätzten, denn es gab nicht bloß reichliches und gutes Essen, sondern auch lustige Unterhaltung; wenn die Mehlspeise aufgetragen wurde, kam die dicke, alte Köchin ins Zimmer, noch gerötet vom Herdfeuer und den Anstrengungen des Tages, um die Lobsprüche des Herrn Rates in Empfang zu nehmen.

Kaum saß sie, den Stuhl bescheiden etwas zurückgerückt, so fing Herr Hefter an, Geschichten zu erzählen von dem Bauerndirndl, das im Beichtstuhl den Finger in ein Astloch gesteckt hatte und nicht mehr loskam, und dann auf die Frage des Geistlichen, warum es nicht gehe, eine undeutliche Antwort gab, die zum Mißverständnisse führte.

Jedesmal kam Fräulein Marie in schamvolle Verlegenheit, und jedesmal lachte der joviale Pfarrherr und erklärte umständlich, daß es die allerunschuldigste Geschichte sei.

Wir freuten uns darüber, aber einer saß am Tische, der eine säuerliche Miene aufsetzte, ein Kooperator aus dem Kölnischen, den die Folgen des Kulturkampfes nach Altbayern verschlagen hatten, ein eifriger Kämpfer und ein heimlicher Feind des gutmütigen Pfarrers, der übrigens die Abneigung kräftig erwiderte.

Ein seltsames Vorkommnis befreite ihn bald von dem unangenehmen Streiter, aber den Prienern trug [pg 107]es einen Spitznamen ein, den sie heute noch nicht angebracht haben.

Sie hatten als Denkmal für die gefallenen Krieger einen Friedensengel bestellt, dessen linke Brust dem Herrn Kooperator zu groß und zu sehr entblößt erschien. Am Tage vor der Enthüllung überredete er einen Schlosser, nachts die Brust abzufeilen. Er wurde über der Tat ertappt, das Fest konnte noch verschoben und ein neuer Engel bestellt werden, aber wer in der Umgegend einen Priener ärgern will, heißt ihn heute noch „Duttenfeiler“.

Der Streit, der damals im Nachklingen noch in ganz Deutschland die Gemüter erregte, und der später selbst von den Liberalen, die ihn mit Feuereifer betrieben hatten, als „unseliger Kulturkampf“ bezeichnet wurde, teilte auch den guten Markt Prien in zwei Lager.

Was bäuerlich war, und was am Alten hing, und was insbesondere auch noch über die Verpreußung grimmige Bedenken nährte, wandte sich mit leidenschaftlichem Zorn gegen die neu-diokletianische Verfolgung.

Haarsträubende Geschichten wurden gedruckt, noch haarsträubendere erzählt, und mehr als ein braver Mann im Altbayrischen glaubte, was mir der Herr Aufschläger in Prien ernsthaft erzählte, daß Bismarck nur deshalb so unmenschlich wüte, weil er täglich einen Schnapsrausch habe.

Ich war gefeit gegen diese Angriffe auf meinen Helden und ließ nichts auf ihn kommen, aber ich erinnere [pg 108]mich wohl, mit welchem Ernste auch diese Tatsache im Gastzimmer unserer Kampenwand besprochen wurde. Im anderen Lager standen liberale Kaufherren und ein paar aufgeklärte Handwerksmeister, die sich den Rationalismus und die gemütliche Kirchenfeindlichkeit der „Gartenlaube“ zu eigen gemacht hatten, und die eine aus Zeitungen zusammengelesene Freigeistigkeit gegen Altöttinger Kalendergeschichten ins Feld führten.

Sie waren die wortreichen Dialektiker, die anderen die härteren Köpfe; bei den nicht seltenen Wortgefechten behielten jene mit ehrlichen und geschwindelten Zitaten recht oder schienen es zu behalten, denn im Laufe der Zeit siegten doch die Hartköpfigen und Konsequenten.

Die Priener Diskussionen wurden pompös eingeleitet mit tiefgründigen historischen Kenntnissen und wurden verbrämt mit Schlagworten aus Klassikern, aber sie endeten gewöhnlich mit landesüblichen Derbheiten und Grobheiten, ja zuweilen mit Hinauswurf und Schlägen. Ein Buchbindermeister, dessen dröhnender Baß mir unvergeßlich ist, mußte fast allwöchentlich Pflaster auf seine liberale Schädeldecke legen, denn seine Hitze führte ihn zur Betrunkenheit und seine Betrunkenheit zu ätzenden Bemerkungen, die weniger gewandte Streiter mit Schlägen und Hinausschmeißen erwiderten.

Das erregte aber keinen bitteren Haß. Der Herr Buchbindermeister saß ein paar Tage darauf, zuweilen noch mit den Spuren des Kampfes, wieder gemütlich bei seinen Mitbürgern und Honoratioren, die ihn miß[pg 109]handelt hatten, und trank und stritt und hatte von Glück zu sagen, wenn er zu alten Pflastern nicht gleich neue erhielt.

So litt und stritt man in Prien noch manches Jahr nach dem unseligen Kulturkampf.

Von seinen Gegnern merkte übrigens der eiserne Kanzler nichts, als er auf der Fahrt nach Gastein einige Minuten in Prien verweilen mußte.

Der Bahnsteig war dicht besetzt von Einheimischen und Fremden, da der Expeditor bekanntgegeben hatte, daß der Zug in der Station halten werde.

Der Bürgermeister war mit einigen Männern vom Gemeindeausschuß erschienen und stand eingepreßt in seinem Gehrock und schwitzend vor Aufregung in der vordersten Reihe. Ich harrte mit Herzklopfen auf den Moment, wo ich den großen Mann nun wirklich sehen sollte, und als die Lokomotive, weiße Rauchwolken auspustend, sichtbar wurde, wollte mir das Ereignis ganz unwahrscheinlich vorkommen. Aber der Zug hielt, und Bismarck stand wirklich am offenen Fenster.

„Ist das Prien?“ fragte er den Bürgermeister.

„Na, Prean“, antwortete der verzagte Mann, und ein unterdrücktes Lachen ging durch die Menge, die sich eilig vorwärts gedrängt hatte.

Es kamen noch ein paar Fragen nach der Zahl und der Beschäftigung der Einwohner, die ein Ausschußmitglied beantwortete, denn der Vorsteher unseres Marktes war ganz vernichtet und machte nur eine tiefe Verbeugung nach der andern. Der Zug setzte sich [pg 110]wieder in Bewegung, Hüte und Tücher wurden geschwenkt, stürmische Hochrufe ertönten, und mir war’s zumute, als wäre ein nachklingendes Märchen zu Ende erzählt.

Ich hatte keinen Blick von dem Manne abgewandt, der mir ein körperliches Sinnbild deutscher Größe war und nun fast greifbar nahe stand und genau so aussah, wie ich ihn aus vielen Bildern kannte.

Das Verhalten des Herrn Bürgermeisters bei diesem historischen Vorgange wurde lange Zeit besprochen mit Behagen an dem Spaße, aber auch mit Unwillen über den Mangel an gebührender Repräsentation. Wir hatten im Orte Kaufherren, die sich städtisch und weltgewandt fühlten und immer der Meinung waren, daß sich Prien zum Feineren entwickeln müsse, aber da war eben die erste Bedingung, daß an der Spitze der Gemeinde ein Mann von höherem Streben stand. Es war, wie man mit bedauerndem Achselzucken feststellte, nicht möglich, denn die Mehrheit ließ sich nicht von höheren Gesichtspunkten leiten.

Aber doch regte sich in jener behaglichen Zeit auch in diesem Winkel ein reges Bildungsbedürfnis, vielleicht noch mehr das Verlangen, gebildet zu scheinen, über vieles zu reden und über veraltete Anschauungen erhaben zu sein.

Wie sich das Reich ins Große reckte und streckte, überkam bei Wachstum und Gedeihen den Kleinbürger eine Ahnung von seiner Bedeutung und von der Pflicht, sich ihrer würdig zu zeigen. Das führte nicht zu einem [pg 113]vertieften, wohl aber zu einem gesprächigen Interesse am geistigen Leben, das vornehmlich durch Zeitungen angeregt und gestillt wurde.

Bismarck auf der Durchreise in Prien
Bismarck auf der Durchreise in Prien

Zugleich fing man an, sich mehr Bücher zu kaufen, billige Klassikerausgaben und daneben das Konversationslexikon, aus dem sich für anzuschlagende Themata viel Stoff holen ließ. In Prien gab es einen Schreinermeister, dem es nicht darauf ankam, eines Abends Urteile über Richelieu und seine Politik abzugeben und ein andermal gründliche Kenntnisse über chinesische Seidenraupen zu verraten.

Er stand in hohem Ansehen, bis auch andere seine Quellen entdeckten.

Aber es war doch schon etwas, daß sich eine Tafelrunde von Bürgern zusammenfand, die an bildungsfördernden Gesprächen Freude hatte, und meine Mutter sah darin arglos ein Fortschreiten der Welt zum Guten und Schönen, ohne an das Konversationslexikon und an kleine Eitelkeiten der Redner zu denken.

Sie sah es gerne, wenn ich an solchen Abenden am Tische saß, und indes sie unermüdlich strickend zuhörte, mahnte sie mich mit Blicken, ja aufmerksam zu sein und von schlichten Bürgern zu lernen, wie man sein Wissen bereichern müsse.

Weniger befriedigt war sie, wenn die alte Viktor, die natürlich bei diesen Bildungskonventikeln nicht fehlen durfte, durch Fragen, die ihr eigenes Interesse geschickt verrieten, das Gespräch belebte, denn darin bestand zwischen den herzensguten Frauen eine gründ[pg 114]liche Meinungsverschiedenheit, daß meine Mutter dem weiblichen Wesen nur ein aufnehmendes, Viktor aber ein möglichst tätiges Verhalten zubilligte.

Die Stricknadeln klapperten lauter, und Blicke richteten sich nach oben gegen die Decke, wenn die alte Viktor das Wort ergriff und nicht allzu schnell losließ.

Großes Ansehen erwarb sich damals ein Maurermeister, der nach Palästina gereist war und nun an manchen Winterabenden seine Erlebnisse zum besten gab; daß er dabei einen roten Fes auf hatte und aus einem Tschibuk rauchte, übermittelte den Eindruck einer orientalischen Welt. Bald wurde er aber durch meinen ältesten Bruder in den Hintergrund gedrängt, denn der fuhr nach Australien, und seine brieflichen Reiseberichte, vorgelesen und erläutert von jenem bildungsreichen Schreinermeister, überstrahlten die Abenteuer eines Jerusalempilgers. Meine Mutter erlebte trotz allen Trennungsschmerzes, der in ihr wach blieb, doch manchen stolzen Augenblick, wenn sich in den frisch geschriebenen Briefen gesundes Urteil und tapferer Sinn offenbarten. Sie hat ihren Ältesten, der ein zärtlicher Sohn und das Ebenbild des Vaters war, klug, ernsthaft und weit über seine Jahre männlich, nicht mehr gesehen. Als er nach zwei Dezennien heimkehrte, lag sie schon lange auf dem stillen Friedhofe in Seebruck am Chiemsee.

Die Priener, die literarische Neigungen hatten oder zeigten, fanden zuweilen Gelegenheit, einen berühmten Vertreter des Schrifttums leibhaftig zu sehen.

[pg 115]

Ich erinnere mich wohl, wie der Schreinermeister aufgeregt in unsere Küche kam und meine Mutter fragte, ob sie denn auch wisse, daß der Herr, der im Garten draußen Kaffee trinke, kein Geringerer sei, als der Volksdichter Hermann von Schmid, und wie meine Mutter dann respektvoll zu dem gefeierten Gaste trat und ihn fragte, ob er mit allem zufrieden wäre, und wie Viktor, etwas ärgerlich, weil sie zurückstehen mußte, den Dichter vom Fenster aus sehr kritisch betrachtete und sagte, er sähe eigentlich nach nichts Besonderem aus.

Und dabei hatte der Dichter doch keine aufrichtigere Verehrerin seines „Kanzlers von Tirol“ als die brave Alte, die ihn nunmehr in ihrem Unmute verleugnete.

Felix Dahn, den Dichter des Kampfes um Rom, sah man ab und zu in Prien, wenn er seine Verwandten im nahen Ernstdorf besuchte. Und zwei Sommer weilte der Tübinger Ästhetiker und Poet F. Th. Vischer als Gast in der „Kampenwand“.

Der kleine, etwas cholerische Herr ließ sich von mir häufig nach den Inseln rudern und war mit meiner Geschicklichkeit ebenso zufrieden wie mit der Billigkeit dieser Fahrten. Er entlohnte mich stets mit einer Halben Bier und einem Stückchen Käse.

Er sprach sehr wenig und machte mir deutlich klar, daß ich nur auf Fragen zu antworten, sonst aber das Maul zu halten hätte.

Einmal fand ich ihn redselig.

[pg 116]

Er hatte sich im Wirtshaus auf der Fraueninsel Kaffee bestellt und die Kellnerin eindringlich ermahnt, daß ja keine Zichorienmischung darin sein dürfe. Hernach merkte er doch den fatalen Geschmack heraus und schritt zornig in die Küche, wo er den erschrockenen Weibern im breitesten Schwäbisch ihre saumäßige Frechheit und viechsmäßige Dummheit vorhielt, so daß sie noch lange an sein ästhetisches Wesen denken mußten.

Leider wollte Viktor eines Tages an dem berühmten Manne ihre Liebhaberei für die schöne Literatur auslassen, was ihr sehr übel bekam. Nur ganz allmählich versöhnte sich Vischer wieder mit ihr, und es bedurfte prachtvoller Strauben und duftenden Kaffees, um ihn zu überzeugen, daß sie trotz allem ein erträgliches Weibsbild wäre.

So gut es ihm in der „Kampenwand“ gefallen hatte, blieb er doch weg, als ein anderer Schwabe, der Bruder eines württembergischen Ministers, auftauchte.

Es war ein pensionierter Hauptmann, der sich in der Welt als Kriegsmann umgetan hatte.

Reiterleutnant in österreichischen Diensten, Freiwilliger bei den Nordstaaten von Amerika, zuletzt Offizier in der württembergischen Armee, hatte er verschiedene Feldzüge mitgemacht und lebte nun von einem mäßigen Kapital und einer bescheidenen Pension auf größerem Fuße, als es sich machen ließ.

Als er mit seinem Vermögen fertig war, erschoß er sich.

[pg 117]

Es war schade um den gebildeten, gescheiten Mann, der sich, wie ich heute glaube, als Schriftsteller Ansehen und Einkommen hätte verschaffen können.

Im nüchternen Zustande befaßte er sich eifrig mit geschichtlichen Studien, aber immer wieder kam er ins Trinken, beging Verschwendungen und verlor jegliche Willenskraft, die zu ernsthafter Arbeit gehört.

Sonst schweigsam und zurückhaltend, wurde er sehr gesprächig, wenn das nasse Viertel eintrat, und dann erzählte er aus seinem abwechslungsreichen Leben Abenteuer und Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten.

Wie weit das alles zurücklag!

Österreichisches Militärleben im Frieden mit Fußeisen und Fuchtelhieben, seltsame Zustände in galizischen Garnisonen, dann kriegerische Erlebnisse in der Lombardei, im Stabe Gyulais, Begegnung mit Hackländer, Kriegsdienste in Amerika in einem Regiment, das sich selbst les enfants perdus nannte, weil sich Schiffbrüchige aus aller Herren Länder darin zusammengefunden hatten, dann Tauberbischofsheim und Champigny.

Es läßt sich denken, daß ich begierig zuhorchte, und ich war nicht nur ein aufmerksamer, sondern häufig auch der einzige Gesellschafter des Hauptmanns, von dem sich seine Bekannten meist zurückzogen, wenn er zu trinken anfing.

Einer hielt zuweilen bei ihm aus, ein Fürst W., der als Baron Altenburg in bescheidenen Verhält[pg 118]nissen in Prien lebte. Er war ein gutmütiger Herr, der gerne vom Glanze früherer Tage redete, als er noch Kavallerieoffizier war, und der sich doch in diesem Exil ganz wohl fühlte und regelmäßig mit den Bürgern beim Abendtrunke zusammensaß.

Sie machten es ihm nicht immer leicht, die Kontenance zu bewahren, denn als Fürst ohne Mittel, als Preuße und als alter Offizier stieß er überall an den kantigen Ecken der Priener Ansichten und Manieren an.

In der „Kampenwand“ kehrte er mit Vorliebe ein, und die Höflichkeit meiner Mutter, die ihn trotz seines Inkognitos immer als Durchlaucht anredete, erwiderte er mit ritterlichen Komplimenten gegen das Haus, die Familie und die Persönlichkeit der Frau Oberförster. Wenn sie von der Vorder-Riß und dem König erzählte, hörte er mit der Teilnahme zu, die man dem Treiben und Befinden eines Gleichgestellten entgegenbringt, und er warf Bemerkungen ein, die seine intime Kenntnis des Hofes verraten sollten.

Er hatte immer eine Liebenswürdigkeit im Vorrat.

Meiner jüngsten Schwester, die als Kind eine auffällig tiefe Stimme hatte, prophezeite er eine glänzende Laufbahn als Sängerin, da irgendeine Dame auf oni oder eine Lucca, wie er als alter Theaterhabitué wußte, gleichfalls mit einem Basse behaftet gewesen war.

Auch an mir entdeckte er Ansätze zu glänzenden Eigenschaften, und wenn meine Mutter auch nicht ganz davon überzeugt war, so hörte sie es doch gerne [pg 119]und schätzte die gute Absicht. Er sah gut aus, und selbst in dem Anzuge eines Priener Schneiders wirkte er als vornehmer Herr, und wenn er höchst eigenhändig ein Paar neubesohlte Stiefel vom Schuster heimtrug, sah er immer noch wie ein Grandseigneur aus. Über die unfreiwillige Bescheidenheit seines Lebens verlor er nie ein Wort und übersah die Ungeschlachtheit der Ortsbürger, die sich anblinzelten und anstießen, wenn Seine Durchlaucht dreißig Pfennig als Ausgabenetat für zwei Halbe Bier zurechtlegte.

Eine Bemerkung, die ich darüber machte, wies meine Mutter mit ungewohnter Schärfe zurück, und sie erklärte mir, wie ehrenwert diese Selbstzucht eines Mannes war, der einmal in ganz anderen Verhältnissen gelebt hatte.

Wenn der Fürst mit dem Hauptmann zusammensaß und die alten Kavaliere Erinnerungen austauschten, gab mir meine Mutter deutlich zu verstehen, daß ich meinen Platz zu räumen hätte.

Wahrscheinlich vermutete sie, daß die Herren Reiteroffiziere auch einmal auf ein paar Kapitel kommen könnten, die sich nicht für die reifere Jugend eigneten.

 

Immer war mir der letzte Tag im September, und mochte auch die schönste Herbstsonne leuchten, mit grauen Nebeln verhängt.

Frühmorgens gab es die letzten Vorbereitungen zur Abreise; Mahnungen von Viktor, auf meine Wäsche zu achten, da schon wieder Taschentücher und dies und [pg 120]das gefehlt hätten, Mahnungen meiner Mutter, allen Fleiß daran zu setzen; dann das letzte Frühstück in der Küche, die mir nie anheimelnder vorkam als im Augenblick des Scheidens, und der Gang zur Bahn.

Wer mir begegnete, auch wenn ich ihn sonst nicht ehrte, erschien mir als ehrwürdiges und liebenswertes Stück Heimat und empfing meinen wehmütigen Gruß.

Der Herr Maurermeister stand unter der Tür, weil auch seine Buben abreisten, und lüftete seinen Fez, und ich beneidete ihn, daß er so Tabak rauchend alle Tage in dem lieben Ort bleiben durfte.

Ich beneidete den Schreinerlehrling, der pfeifend einen Karren auf die Straße zog, und den Stationsdiener, der auch dableiben durfte, und wenn mich der Expeditor väterlich auf die Schulter klopfte und Glückauf zum Studium wünschte, dachte ich, er habe leicht reden und unbekümmert sein, wenn er doch nicht in die weite Welt hinaus müsse. Pfiff nicht die Lokomotive jämmerlicher als sonst, und schlich nicht der Zug trübseliger von Bernau herein?

Was für rohe Menschen waren die Kondukteure, die hinter einem die Türe zuwarfen und das verhängnisvolle Billet mit gleichgültiger Miene zwickten! Dann ging es im weiten Bogen herum ums Dorf. Dort sahen noch Bauernhäuser hinter Bäumen hervor, dann kam der Blick auf den See und die Inseln.

Ich habe auch später noch an Heimweh gelitten, damals aber kam es wie Krankheit über mich.

[pg 121]

Das Oktoberfest war mir verhaßt, weil das Ende der Ferien mit ihm zusammenfiel, und ich habe lange Zeit nachher den Lärm von Karussellorgeln und den Duft gebratener Heringe in Verbindung mit bitteren und schmerzlichen Gefühlen gebracht.

Der gutmütige Onkel Joseph nahm mich auf die Theresienwiese mit in der Meinung, daß diese Freuden meinen Trübsinn verscheuchen müßten, aber der Anblick von Oberlandler Bauern oder von Schützen aus dem Gebirge war nur angetan, mir mein Elend erst recht fühlbar zu machen. Daran änderten auch die scharfen Vermahnungen des Herrn Premierleutnants nichts, der mir sagte, er habe das sogenannte Heimweh der Rekruten stets als Scheu vor Disziplin und Pflichterfüllung betrachtet, und er müsse leider annehmen, daß auch meine Wehleidigkeit darauf hinausgehe.

Ich aber legte mir ein Verzeichnis der Tage meiner babylonischen Gefangenschaft an und strich jeden Abend einen aus; nach ein paar Wochen vergaß ich darauf und war geheilt.

Späterhin, als ich über die Flegeljahre hinausgewachsen war, halfen mir ein paar Verliebtheiten, am Aufenthalt in München mehr Gefallen zu finden.

Denn natürlich fehlte es auch an der Jugendeselei nicht; aber ich muß bekennen, daß es nie zu Erklärungen kam.

Ich bewunderte einige Mitschüler, die auf dem Eise oder sonstwo mit Backfischen verkehrten, sprachen, Arm in Arm mit ihnen gingen.

[pg 122]

Ich selber verehrte sie nur aus der Entfernung, und sogar vor ihrem Entgegenkommen versteckte sich meine Blödigkeit hinter Trotz.

Machte ich den Versuch, eine junge Dame, die im gleichen Hause wohnte, anzureden, dann war mir die Kehle wie zugeschnürt. Einmal setzte ich an, aber heiser vor Aufregung stotterte ich ein paar nichtssagende Entschuldigungen und floh eilig die Treppe hinunter. Und doch brachte mich ein Jugenderzieher, Schulmann und Rektor in ernstliche Gefahr, indem er mich als Verlorenen behandelte und in einer Weise bloßstellte, die sich nicht für ihn ziemte.

Ich trug wochenlang einen herzlich dummen Brief an jenen Backfisch in einem Schulbuche herum, immer mit der Absicht, ihn zu überreichen, wozu mir stets wieder der Mut fehlte.

Eines Tages erwischte mein Ordinarius den Brief, übergab ihn dem Rektor, und dieser sonderbare Freund der Jugend, der zufällig wußte, daß ich von einer angesehenen Familie zuweilen eingeladen wurde, schrieb an sie und behauptete, ich hätte an die jüngere Tochter des Hauses diesen unziemlichen Brief gerichtet.

Es war unwahr, und ich wehrte mich leidenschaftlich gegen die Anklage, aber es half mir nichts; die Mama war indigniert, und der Papa gab mir jovial zu verstehen, daß man mich nicht mehr einladen könne.

Damals habe ich mich ein paar Tage lang mit Selbstmordgedanken getragen, und ich glaube, daß ich nahe genug daran war, die Torheit zu begehen.

[pg 123]

Ein erfahrener Mann hätte wahrhaftig in der Unbeholfenheit des Briefes knabenhafte Blödigkeit erblicken müssen und alles andere eher als Routine und Verdorbenheit.

Der einzige, der damals für mich eintrat, war der Religionslehrer, der über die gedrechselten Phrasen, die ich an das sehr geehrte Fräulein gerichtet hatte, gelächelt haben soll. Er merkte, wie verstört ich war, und sprach mich daraufhin an; schon das wirkte als etwas Ungewöhnliches auf mich, und als mir der strenge und zurückhaltende Mann mit freundlichen Worten zu verstehen gab, daß er mir glaubte, kam ich darüber weg.

Das Erlebnis gilt mir heute noch als Beweis dafür, wie schwer sich Unverständnis und Übelwollen an der Jugend versündigen können.

Ich habe später aus Ferne und Nähe Schülerselbstmorde erlebt und gewöhnlich recht törichte Urteile darüber gehört; selten fand ich Verständnis für die Wahrheit, daß roher Eingriff und grobes Unrecht gerade jugendlichen Gemütern unerträglich erscheinen können.

Sehr drückend empfand ich es damals, daß ich bei den Mitschülern wenig oder kein Verständnis für meinen Schmerz fand; eher beifällige Zustimmung zu der Verfehlung, die ich gar nicht begangen hatte, schlaues Mißtrauen gegen meine Verteidigung, aber kaum Billigung des leidenschaftlichen Zornes, mit dem ich mich gegen das Unrecht wehrte.

Ich darf sagen, daß lauter halb und ganz fertige, [pg 124]ihr eigenes Heil und ihren Nutzen kennende Spießbürger um mich herum auf den Schulbänken saßen.

Schwärmen und rückhaltloses, übertreibendes Sichhingeben an irgendeine Sache konnten sie mit überlegenem Lächeln beantworten.

Die meisten wußten ja auch schon, was sie werden wollten oder sollten.

Diese prädestinierten Amtsrichter, Ärzte, Assessoren, Intendanturbeamten und Offiziere kannten Vorteile und Nachteile der Berufe, und es sollte mich wundern, wenn sie sich nicht über künftige Pensionsbezüge unterrichtet hätten.

Nunc est bibendum,
Nunc pede libero pulsanda tellus!

war ein gern zitierter Vers Horazens.

Jetzt wollen wir trinken, jetzt befreit mit dem Fuß auf die Erde stampfen.

Aber die Ausgelassenheit war bei den meisten schon klug gedämpft; nach ein bißchen konventionellem Saufen trat der freie Fuß in die herkömmliche Laufbahn, und der ordentliche junge Mensch erwarb nicht erst, sondern behielt die vom Vater überkommene Klugheit, innerhalb der Schranken im sachten Trabe zu gehen.

Ich war dazu bestimmt und gewillt, Forstmann zu werden, und mein Vormund, auch einer vom grünen Tuche, hielt mir zuweilen vor Augen, daß Pflichttreue und Wahrheitsliebe gerade die Männer zieren müßten, denen der Staat den hohen Wert der Waldungen anvertraue.

[pg 125]

Ich nickte beifällig zu der hohen Auffassung, aber mit meinen Wünschen verband sich doch eher die Vorstellung von einem Hause im Grünen, von Pürschgängen und Tabakrauchen.

Ich hatte das reizvolle Bild meiner Zukunft vor Augen, wenn ich den Bruder meines Vaters, den Oberförster von Wörnbrunn bei Grünwald, besuchte.

Er saß dort unter Förstern und Jagdgehilfen in einem ansehnlichen, von den Münchnern gern besuchten Wirtshause.

Sohn, Enkel und Urenkel schwerer Altbayern und Pfeifen rauchender Jäger, hatte ich natürlich das vollste Verständnis für diese Freuden, und wenn ich an Sonntagen bei den derben und nicht durchaus wahrheitsliebenden Männern saß, wollte ich ihnen ähnlich sein und werden.

Einer davon, der Förster Holderied, war noch ein Vertreter der aussterbenden Rasse von Wildlingen, die einen unaufhörlichen Kampf mit Lumpen führten. Man erzählte von ihm Schauermären, lauter echte altbayrische Geschichten, voll Jägerromantik des Hinaufschießens oder Hinaufgeschossenwerdens.

Ein Prachtkerl war der Jagdgehilfe Schröder, der in der Sauschütte das Schwarzwild zu füttern hatte.

Er konnte lügen, wie ich es nie mehr gehört habe, und ich glaube, daß die Pflege des Jägerlateins in ihm ihren letzten ehrwürdigen Meister gehabt hat.

Er log immer und verzog keine Miene dabei; mit steinerner Ruhe brachte er die ungeheuerlichsten Ge[pg 126]schichten vor und schien in Zorn zu geraten, wenn jemand Bedenken oder Zweifel zeigte.

Für mich waren die Besuche in Wörnbrunn nicht ungefährlich. Ich gab mich der Herrlichkeit rückhaltlos, wie immer, hin und wollte auf allen Glanz der Welt verzichten, um in die Lodenjoppe und dieses bajuvarische Behagen zu schliefen. Ich setzte meiner Mutter mit Bitten zu, mich zum niederen Forstdienst gehen zu lassen, aber zu meinem Glücke erkannte sie die Ursache meiner Resignation auf die höhere Laufbahn. Ich durfte nicht mehr so häufig zum Forsthause wandern, und da mir Onkel Franz das selber und, wie ich merkte, mit Bedauern eröffnen mußte, blieb ich ganz weg.

 

Die Oberklasse des Gymnasiums besuchte ich in Landshut; ich wollte das Wohlwollen jenes Münchner Rektors nicht noch mehr herausfordern.

Die wohlhäbige Stadt, Mittelpunkt der reichsten Bauerngegend, in der eine starke Garnison lag und die ihre Tradition als ehemaliger Sitz der Landesuniversität noch bewahrte, gefiel mir sehr gut.

Die breite Altstadt mit ihren hochgiebligen Häusern und der mächtigen Martinskirche als Abschluß war die Hauptstraße, auf der nachmittags die Herren Offiziere, Beamten, Fähnriche und Gymnasiasten bummelten, um den zahlreichen hübschen Bürgertöchtern Beachtung zu schenken.

Vom Kollerbräu zum Dome hinauf, vom Dome zum Kollerbräu hinunter flanierte die Jugend, die in [pg 127]Uniform schon etwas vorstellte, und die andere, die mit Band und Mütze bald etwas vorstellen wollte, und sie grüßten, hier verwegen, dort schüchtern, die Weiblichkeit.

Ich war bei einer angesehenen Bürgerfamilie untergebracht und genoß zum ersten Male volle Freiheit in meinem Tun und Lassen.

Daß ich sie nicht mißbrauchte, rechnete mir der wohlwollende Rektor des Gymnasiums hoch an; er hatte mich mit einigem Mißtrauen empfangen und im Auge behalten, weil ihn der Münchner Kollege brieflich vor mir gewarnt hatte.

Nach Ablauf einiger Monate rief er mich zu sich und fragte mich, was ich denn eigentlich an meinem früheren Gymnasium pekziert hätte. Ich erzählte ihm frischweg das Schicksal meines verhinderten Liebesbriefes. Lächelnd hörte er mich an, und dann las er mir einige kräftige Stellen aus dem Briefe seines Kollegen vor.

„Was sagen Sie dazu?“ fragte er mich.

Ohne langes Besinnen gab ich zur Antwort: „Wenn ich Rektor wäre, würde ich über einen Schüler keinen Brief schreiben.“

Er bewahrte mir sein Wohlwollen während des ganzen Jahres wie in der Schlußprüfung, und ich blieb ihm über das Gymnasium hinaus dankbar dafür; als Universitätsstudent besuchte ich ihn mehrmals, und er brachte das Gespräch gerne auf die resolute Antwort, die ich ihm damals gegeben hatte.

[pg 128]

Im Juni meines letzten Schuljahres starb König Ludwig II.

Das Ereignis machte tiefen Eindruck, und er war echt, wie er sich in Schweigen und Niedergeschlagenheit zeigte.

Was später folgte, das Herumerzählen von Schauergeschichten, Tuscheln, Flüstern und Kokettieren mit Frondeurgelüsten, die doch nicht ernst gemeint waren, erregte in mir schon damals Zweifel in die Stärke populärer Stimmungen. Den gepreßten Bürgerherzen in Landshut tat die Kunde wohl, daß man aus irgendeinem Bräuhause einen vorher ordnungsmäßig verdroschenen preußischen Unteroffizier der schweren Reiter hinausgeschmissen habe, weil er in unehrerbietigen Zweifeln befangen gewesen wäre.

Wenn nicht wahr, so gut erfunden. Denn wie ich an meinem Hausherrn sehen konnte, herrschte Befriedigung, daß sich die allgemeine Erregung, und zwar gegen Norden hin, Luft gemacht hatte.

Im August bestand ich die Schlußprüfung, die von Kennern für leichter als gewöhnlich erklärt wurde. Ich möchte nicht entscheiden, ob das stimmt; jedenfalls war man auch mit der Begründung bei der Hand.

In München hatte ein Prinz das Absolutorium zu bestehen, und dem hätte man es nicht schwer machen wollen.

Meinen Ansprüchen genügte die Prüfung, und zu meiner Freude genügte ich den Ansprüchen.

[pg 129]

Ein seliger Vormittag, als wir unter dem Tore des Gymnasiums die Hüllen von den farbigen Mützen entfernten und nun mit leuchtenden Rotkappen durch die Stadt gingen.

Beim Abschiedskommerse hatte ich die Rede zu halten.

Meine Kommilitonen trauten mir nach etlichen dichterischen Versuchen, die ich hinter mir hatte, Erkleckliches zu, und an tüchtigen Redensarten von der Sonne der akademischen Freiheit hätte es auch nicht gefehlt, wenn ich nicht beim zweiten Satze steckengeblieben wäre.

Ich rang nach Worten, fand kein einziges und setzte mich unter peinvollem Schweigen hilflos nieder.

Ähnliches war nie geschehen, und ich glaube, daß es mir der Jahrgang lange nachgetragen hat.

Die Situation rettete aber mein verehrter Studiendirektor, der sogleich aufstand und eine wohl gegliederte und durchdachte Rede an die abziehende Jugend hielt.

Manches kluge und manches schöne Wort aus den nun abgetanen Klassikern war darin verflochten, und ich sah freilich, wie man’s hätte machen sollen.

Die Befriedigung über das ungewöhnliche Hervortreten des Rektors, die Freude an seinen Worten schwächten einigermaßen das Unbehagen, das ich verursacht hatte, ab.

Etliche Tage sangen und tranken wir noch in Landshut herum und kamen uns bedeutender und freier vor, wie jemals wieder im Leben.

[pg 130]
Nunc est bibendum,
Nunc pede libero pulsanda tellus!

Damit ging es heim.

Meine Mutter war etliche Jahre vorher nach Traunstein übergesiedelt und hatte den Gasthof „Zur Post“ in Pacht genommen. So hatten nun die Bürger dieser Stadt Gelegenheit, mich in Farbenpracht mit dem pede libero stolzieren zu sehen und der braven Frau Oberförster zu dem Erfolge ihres Sohnes Glück zu wünschen.

Sie holte mich mit den Schwestern von der Bahn ab und war gerührt, mich an einem unter manchen Seufzern herbeigesehnten Ziele zu sehen.

Allzuviel konnte ich nicht erwidern, da ich vom bibendo stockheiser geworden war.

Die alte Viktor war etwas gekränkt, weil man sie als Hüterin des Hauses daheim gelassen hatte, und so drängte sie zuerst ihre Gefühle zurück, um brummig zu sagen, ich sähe doch sehr versoffen aus.

Sie rang sich aber zur Freude durch und meinte, nun sei ich auf dem Wege zum Berufe meines Vaters und könne wohl gar noch Oberförster in der Vorder-Riß werden.


[pg 131]

Im Berufe

Zwei Semester war ich an der Forstakademie in Aschaffenburg, dann ging ich zur Rechtswissenschaft über, studierte in München und Erlangen, wo ich nach Ablauf der vorgeschriebenen Zeit das Examen bestand.

Meine Erlebnisse auf der Hochschule waren die herkömmlichen, so sehr, daß ich sie nicht zu schildern brauche.

Damals, als ich die Schlußprüfung ablegte, war es noch Sitte, dem erfolgreichen Kandidaten den Zylinder einzutreiben.

Meine Freunde harrten vor der Türe auf mich und schlugen mir den Hut bis zu den Ohren hinunter.

Da wußten die Bürger, die uns begegneten, daß aus dem Studenten ein Rechtspraktikant geworden war, und nickten mir beifällig zu.

Am Abend zogen wir zum Bahnhofe hinaus, und ich fuhr heim ins Berufsleben, das mit der Praxis beim Amtsgerichte Traunstein anfing.

Rückblickend auf mein Studium, kann ich sagen, daß ich das meiste aus Büchern lernte und vom bestimmenden Einflusse eines Lehrers nichts zu fühlen bekam.

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Wenn ich lese, daß jemand durch eine führende Persönlichkeit aus dem Dunkel ins Licht geleitet wurde, kann ich mir keine Vorstellung davon machen, denn was ich vom Katheder herunter vortragen hörte, war trockene Wissenschaft, die man nachschrieb, um dann zu finden, daß es gedruckt nicht anders zu lesen war. Dagegen habe ich mir persönliche Erinnerungen an etliche Professoren bewahrt.

Sie waren ziemlich alte Herren und wirkten auf mich wie Überbleibsel aus der Uhlandzeit, paßten auch in das Bild der kleinen Universitätsstadt, in der man so viele Erinnerungstafeln an berühmte Theologen, Mediziner und Juristen sieht.

Sie waren Sonderlinge von einer Art, nach der man Heimweh haben darf.

Der alte Gengler mit seinen langen, weißen Haaren und den blanken Kinderaugen war der Gelehrte aus der Biedermeierzeit, weltfremd, verloren und verträumt, ganz in seine Welt der Deutschen Rechtsgeschichte eingesponnen, und doch recht lebhaft, fast leidenschaftlich, wenn er von Freiheiten sprach, die es einmal gegeben hatte. Man belegte damals die Collegia persönlich bei den Professoren. Als ich Gengler besuchte, war er schüchtern wie ein Kandidat, saß ganz vorne auf dem Stuhlrande und hielt das Gespräch mit Mühe im Gange.

Vom alten Makowitzka, dem Nationalökonomen, ging die Sage, er sei Anno 48 zum Tode verurteilt und begnadigt worden.

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Das stimmte nicht, wie ich später hörte, vielmehr hatte er eine geringe Freiheitsstrafe erhalten, aber in Erlangen, wo man noch Erinnerungen an Sand hochhielt, ließ man nicht ab vom Glauben an das Henkerschwert, das über dem braven Herrn geschwebt haben sollte.

Er empfing mich im Lehnstuhl sitzend, die fast erblindeten Augen durch einen Schirm geschützt.

Mehrmals wiederholte er die Frage, ob es mein ernster Vorsatz und Wille sei, bei ihm zu belegen, und als ich höflich darauf bestand, sagte er: „Ja, also dann lese ich ... es war nämlich noch ein Herr da, und da Sie nun zu zweit sind, werde ich die Vorlesung abhalten.“

Der andere und ich, wir sahen uns im ersten Kolleg etwas süß-säuerlich an, denn da gab es nun einmal kein Schwänzen, wenn wir nicht unsern Lehrer kränken wollten.

Professor Lüders, Philister der Hannovera und Korpsbruder Bismarcks, war ein distinguiert aussehender, sehr wohlhabender Herr bei hohen Jahren.

Er lehrte Strafrecht, sprach sehr gemessen, mit hannöverschem Akzente, und wenn sich Unruhe bemerkbar machte, konnte er würdevoll sagen: „Meine Herren, ich muß um Ruhe bitten ... übrigens, mein Name ist Lüders, ich wohne in der Friedrichstraße Nr. 2 ...“

Von seinem einzigen Leibeserben sprach er als von seinem Sohne und Korpsbruder Karl ...

Zu den Originalen, an denen es in Erlangen nicht [pg 134]fehlte, gehörte der Anatomiediener, ein alter Student und Korpsphilister; dann waren sehr hohe Semester vertreten, verbummelte Herren von vierzig und mehr Jahren, darunter ein Grieche, der Papadakis oder so ähnlich hieß und, als obdachlos aus der Stadt verwiesen, sich in den Bierdörfern herumtrieb, bis er eines Tages erschlagen wurde.

Von besonderer Art waren auch die Bürger, die sich über Mensuren und Abfuhren unterhielten; die Handlungsdiener und Friseurgehilfen, die Verbindungen gründeten, Wein- und Bierzipfel trugen und sich studentisch gebärdeten, und die jungen Damen, die für Burschenschaft oder Korps eintraten, kurz diese kleine Welt, die ich nun verließ, um sie nirgends mehr zu finden.

In mein letztes Semester fiel die Erregung über die Entlassung Bismarcks, vielmehr der Mangel an Erregung darüber, und gerade der blieb nicht ohne Einfluß auf meine Entwicklung. Ich war nicht naseweis, und ich harrte auf die bedeutenden Worte der Älteren.

Da sah ich mit Erstaunen, wie ein ganzes Volk den Verlust seines größten Staatsmannes und seines Kredits im Auslande wie eine Schicksalsfügung hinnahm, ich sah, wie man hausbackene Erklärungen dafür, daß ein junger Kaiser keinen alten Kanzler wollte, suchte und fand, wie man die Willkür eines Dilettanten zufrieden oder unzufrieden, aber jedenfalls ergeben trug.

Nicht der Triumph der Gegner Bismarcks, die Geduld seiner ehemaligen Anhänger brachte mich um [pg 135]alles gläubige Vertrauen und schärfte mir den Blick für die Knechtseligkeit des deutschen Spießbürgers.

Ein englisches Witzblatt brachte damals ein Bild, wie der Lotse das deutsche Schiff verläßt. Es traf den Nagel auf den Kopf; aber in Deutschland sah man schweigend zu, wie unberufene Hände das Steuer ergriffen, und wie im gefährlichsten Fahrwasser der Zickzackkurs begann.

Manches Mal noch hörte ich in der folgenden Zeit jeder Taktlosigkeit gemütvoll und loyal Beifall spenden, und ich fragte mich bescheiden, ob diese erfahrenen Männer nicht am Ende besser sähen als ich.

Nur allmählich löste sich aus Zweifeln der gründlichste Abscheu vor dem Treiben los, dem ich später, so oft ich konnte und so scharf ich konnte, Ausdruck gab.

Ein Vorfall, den ich bald nach der Heimkehr erlebte, zeigte mir, daß es nicht lauter Gleichgültige und Ängstliche gab.

Ich saß mit den Forstmeistern der Traunsteiner Gegend in einem Bierkeller, und das Gespräch kam selbstverständlich auf die Entlassung des Reichsgründers, auf Undank und Jämmerlichkeit, und es wurde mit Schärfe geführt.

Schweigend saß ein alter Forstmann aus Marquartstein am Tische, der sich, wie man mir erzählte, im Kriege von 1870 oft bewährt und ausgezeichnet hatte; er trank still, aber grimmig und reichlich Bier, und plötzlich sprang er auf seinen Stuhl und schrie saftige Majestätsbeleidigungen übers Publikum hinweg.

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Erschrocken faßten ihn die andern am Rockschoß und wollten ihn herunterziehen, aber der alte Krieger war in Feuer geraten und wiederholte hartnäckig seine Worte, bis man ihn endlich in die Versenkung brachte.

„Und von mir aus passiert mir, was mag!“ schrie er. „Das is mir wurscht ...“ Es passierte ihm nichts, und es war schön, daß sich unter den Hunderten nicht einer fand, der den Alten denunzierte oder ihn durch leichtfertiges Erzählen des Vorfalls in Verlegenheit brachte.

Für gewöhnlich aber und besonders im Kreise von Juristen hörte ich nur lederne Unterhaltungen über das Geschehnis, als hätte sich’s irgendwo in der Fremde zugetragen, außerhalb der Interessensphäre dieser wackeren Beamten, und der immer wiederkehrende Refrain vom neuen Herrn und alten Faktotum wirkte beschwichtigend auf alle.

 

Für meine Mutter hatte es den Verzicht auf liebgewordene Vorstellungen bedeutet, als ich dem Forstwesen den Rücken kehrte; meine Ausführungen, gegen die sie etwas mißtrauisch war, wurden jedoch unterstützt durch die Klagen aller in der „Post“ einkehrenden Forstleute über das neue Schreibwesen und die miserablen Gehälter.

So fand sie sich darein; leichter als die alte Viktor, die sich ihre Hoffnungen auf einen Lebensabend in der Vorder-Riß schon allzu schön ausgeschmückt hatte, um sich mit einem Male davon trennen zu können.

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Als ich aber im Frack vor ihr stand und zur Ablegung des Staatsdienereides ins Amtsgericht schreiten mußte, verzog sich ihr Gesicht zu einem zufriedenen Lächeln, und sie erinnerte sich, daß mein Vater nach einem lebhaften Streite, den ich als Kind mit meinen Geschwistern durchgefochten hatte, der Meinung gewesen war, es könne ein Advokat aus mir werden.

Ich selber nahm den Eintritt in die Praxis sehr ernst, und ich kam mir wohl bedeutend vor, als ich, den Bäcker Jäger grüßend und dem Kaufmann Fritsch dankend, dahinschritt, um eidlich Wahrung der Dienstgeheimnisse und Fernbleiben von geheimen Verbindungen zu geloben.

Dem Amtsvorstande stellte ich mich freudig zur Verfügung, und ich wollte ein unbeugsamer Hüter der Gerechtigkeit sein.

Von da ab brachte mir fast jeder Tag Enttäuschungen, bis ich von allen Illusionen geheilt war.

Der Chef des Amtsgerichtes war nicht bloß ein trockener, unbedeutender Mensch, sondern auch ein Bürokrat von der Schadenfreude, die sich vor 48 mit Prügelstrafen hatte ausleben dürfen und nun zurückgedämmt das Gemüt verfinstern mußte. Mitleidlos und sackgrob gegen die kleinen Leute, mißtrauisch gegen jedermann, selbstgefällig, unwissend und geschwätzig, so war der Mann, der mich bei den ersten Schritten in eine mit viel Respekt betrachtete Welt leiten sollte.

Von der Geistlosigkeit und dem Unwerte der Praxis [pg 138]bei einem solchen Gerichte macht sich der Außenstehende doch wohl keinen Begriff.

Ich lernte nichts von allem, was ich für später hätte lernen müssen.

Zuerst nahm mich der Chef in Beschlag.

Ich mußte bei den Pflegschaftsverhandlungen Protokolle schreiben und durfte zuhören, wie die Kindsväter sich sperrten, die üblichen acht bis zehn Mark monatlich für das illegitime Kind zu bezahlen.

Bei den Schöffengerichtsverhandlungen war ich stellvertretender Gerichtsschreiber, und das war immerhin noch unterhaltender als das Nachschreiben der Urteile, die mir mein Vorgesetzter diktierte.

Er tat sich was darauf zugut, ellenlange Sätze zu bilden, und schwelgte wie ein alter Gendarm in eingeschachtelten, zusammengestopselten Perioden.

Was sich alles über die verbrecherischen Absichten eines Landstreichers sagen ließ, der ein Hufeisen gefunden, selbiges aber nicht abgeliefert hatte, das erfuhr ich damals mit Unbehagen. Mein Chef aber wiegte sich in den Hüften, hing noch ein paar Relativsätze, schlauen Verdachtes voll, an die Hauptwörter, und wenn die lange Periode hinkend und mühsam bis an den Schluß gelangt war, forderte er meine Bewunderung heraus: „Han, was sag’n Sie jetzt?“

Mein Ersuchen, selber einmal ein Urteil anfertigen zu dürfen, wies er barsch zurück.

Nach ein paar auf die Art zugebrachten Monaten mußte ich im Hypothekenamt unter ängstlicher Auf[pg 139]sicht des Amtsrichters und des Aktuars ein paar Einträge in die heiligen Bücher machen.

Meine respektlose Art zu schreiben erregte ihr Entsetzen, und sie waren beide froh, wenn ich ausblieb.

In den Zivilverhandlungen lernte ich die Dehnung der Bagatellsachen durch Advokaten kennen. Wie lange konnte sich ein Prozeß um zwanzig Mark hinschleppen! Wie bald verschwand die Streitsumme neben den Kosten der Zeugen, Sachverständigen und Anwälte, womöglich gar eines Augenscheines! War man endlich ans Ziel gelangt, nämlich dahin, daß es den Streitenden zu dumm wurde, dann stellte sich heraus, daß die Brühe viel teurer geworden war als der Fisch, und aus Scheu vor den Kosten prozessierte man weiter, bis es den Streitteilen abermalen zu dumm wurde. Wenn zuletzt der Amtsrichter und die beiden Anwälte gemeinsam den Geist der Versöhnlichkeit heraufbeschworen, kam er mit einer langen Rechnung, und die Parteien mußten sein verspätetes Eintreffen beklagen. Es gab damals in Traunstein ein paar Advokaten, die sich an Saftigkeit überboten und dafür sorgten, daß ihre bajuvarischen Bonmots die Runde machten.

Keiner wollte leiden, daß der andere der Gröbere war, und ich hegte manchmal den Verdacht, daß ihre Derbheiten nicht frisch aus dem Gemüte sprudelten, sondern sorgsam vorbereitet waren.

Dem Publikum gefielen sie.

Als die Herren älter, kränklich und sanfter wurden, [pg 140]konnte man oft mit Bedauern sagen hören: „Ja ... früher! Wie die Herren noch beim Zeug waren, da hat ma was hören können ... aba jetzt is ja gar nix mehr ...“

Zuweilen erhielt ich vom Landgerichte den Auftrag, vor der Strafkammer eine Verteidigung zu führen.

Ich ging das erstemal mit Eifer an, konferierte mit dem gefangenen Klienten, suchte nach juristischen Finessen und nach Mitleid erregenden Momenten, setzte eine wohlgeformte Rede auf und nahm mir vor, Pathos zu entwickeln, bis ich merkte, daß alles, was ich sagte, den fünf Herren oben am langen Tisch wurscht und egal war.

Auch der Klient, der dem Verteidiger gerührt die Hand drückt, blieb ein schöner Traum, und der einzige Mensch, auf den ich als forensischer Redner Eindruck machte, war der alte trinkfeste Förster Schwab, den die Freundschaft zu mir in den Gerichtssaal geführt hatte. Er faßte die Sache als großartigen Spaß auf, denn für ihn war ein Angeklagter ein Lump und damit fertig. Er verzog seinen Mund zu einem breiten Lachen, zwickte die Augen zu und sagte: „De hast amal schö ang’logen ... Herrschaftsaggera ... wia’s d’as no so daherbracht host ...“

Ich habe die fünf Herren noch öfter anlügen müssen, aber der Eifer flaute ab, und ich lernte verstehen, daß Gewohnheit alle Feuer löscht.

Als Praktikant am Landgerichte mußte ich den geheimen Beratungen, in denen die Urteile gefällt wurden, beiwohnen. Es sollte dem jungen Manne einen [pg 141]Begriff davon geben, wie man’s mache. Ich sah noch einiges andere und dachte darüber nach.

Draußen im Saale saß ein Angeklagter, der angstvoll seinem Schicksale entgegensah, denn mehr als einmal handelte es sich um Reputation und Existenz. Es wäre unnatürlich gewesen, wenn ein junger Mann sich nicht stärkeren Empfindungen hingegeben und Partei für den armen Teufel genommen hätte. Ich wartete ungeduldig auf das erste Votum des jüngsten Beisitzers und hoffte, er möchte sich auf meine Seite schlagen. Das ging aber nicht so rasch mit dem Beraten.

Die Herren hatten über der Tragik des Falles nicht den Appetit verloren, holten sich die Gaben der Hausfrauen aus den Taschen und aßen erst einmal. Öfters hörte ich mit gleichmütigen Worten auf Strafen erkennen, deren Folgen ich mir vielleicht übertrieben vorstellte, und ich konnte auf die scharfen wie auf die pomadigen Richter einen starken Groll werfen.

Um so mehr begeisterten mich andere, die bei gerechtem Abwägen immer noch Güte zeigten, und wenn sie gar dem Vorsitzenden mit höflicher Bestimmtheit entgegentraten, war ich gerne bereit, sie zu bewundern. In solchen Dingen sah der grüne Praktikant scharf genug, und er machte sich Begriffe, die von ihm nicht verlangt wurden.

Wenn ich der Wahrheit streng die Ehre gebe, muß ich sagen, daß ich nie böswillige Härte sah, wohl aber Engherzigkeit und Mangel an Verständnis für die Motive strafbarer Handlungen.

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Leidenschaften, denen eine Tat entsprungen war, wurde man selten gerecht, und oft sah man abschreckende Roheit, wo sich ein starkes Temperament hatte hinreißen lassen. Gefährlich waren erzieherische Gesichtspunkte; denn durch Strenge gegen den einzelnen bessernd auf die Allgemeinheit wirken zu wollen, führt von gerechten Maßen ab.

Befremdend und manchmal komisch war es, wie wenig ein verbeinter Jurist von dem Volke wußte, in dessen Mitte er lebte. Sitten, Gebräuche und Mißbräuche, die Art zu denken und zu reden, das alles konnte gröblich mißverstanden werden, und es kam vor, daß der Praktikant im Beratungszimmer, durch Räuspern die Aufmerksamkeit auf sich lenkend, Auskunft über dies und das erteilen durfte.

Natürlich gab man ihm zu verstehen, daß die andere Ansicht auch richtig, ja, wenn man logisches Denken beim kleinen Volke voraussetzen könnte, allein richtig wäre.

Von ungewöhnlicher und überragender Begabung war unter den Herren eigentlich nur einer, der Erste Staatsanwalt v. A.

Der schweigsame, in sich gekehrte Junggeselle konnte aber zuweilen bedenklich über die Schnur hauen, wenn er alle Quartale – hier und da öfter – sich einen gewaltigen Haarbeutel anschnallte.

Er wurde grölend in einer Wirtschaft sitzend von den Bürgern angestaunt, ja einmal hantelte er sich am hellen Morgen an der eisernen Barriere entlang, die [pg 143]um die Hauptkirche angebracht war. Ein anderes Mal retteten ihn ein Bierbrauer und ich vor dem Angriffe, den hitzige Bauernburschen auf ihn unternahmen. Kurz vorher waren Leute aus dem Dorfe, wo der Herr Staatsanwalt zechte, zu empfindlichen Strafen verurteilt worden, und da schien den Krakeelern, die auch nicht mehr nüchtern waren, eine günstige Gelegenheit zur Rache gegeben. Er sprach nie darüber, aber eines Tages lud er mich ein, ihm einige Arbeiten vorzulegen, über die er sich dann auf Spaziergängen eingehend mit mir unterhielt.

Das war sein Dank für meine Hilfe an jenem unangenehmen Abend.

Nach der landgerichtlichen Praxis trat ich beim Bezirksamte ein.

Obwohl oder vielleicht weil ich einiges von den Wünschen und Bedürfnissen der Landbevölkerung kannte, blieben mir Zweck und Nutzen der Verwaltungstätigkeit ein Rätsel.

Da saß in Traunstein ein Herr, ohne dessen Genehmigung kein Anbau an einen Schweinestall, kein Neubau einer Waschküche erfolgen durfte, der die Gemeindeverwaltung überwachte und die Schulen überwachte, der überall dreinzureden und zu befehlen hatte, meist in Dinge, von denen er sicherlich weniger verstand als die Interessenten, und über die er immer Sachverständige das eigentliche Urteil abgeben lassen mußte.

Er war recht eigentlich der Repräsentant einer anfechtbaren staatlichen Bevormundung.

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Während meiner Praxis erlebte ich einen mich persönlich schmerzenden Beweis von der Schädlichkeit des Systems, das einem Juristen die letzte Entscheidung überwies, wo nur sehr geschulte Fachleute hätten zum Worte kommen dürfen.

Eine sehr populäre Forderung ging seit Jahren auf die Tieferlegung des Chiemsees.

Das Populäre ist nicht immer das Kluge oder das Nützliche. Am Südufer des Sees sahen die Bauern einen großen Gewinn in der Trockenlegung ihrer Streuwiesen; Landtagskandidaten hatten ihre Gunst mit Versprechungen erworben, viel Papier war verschrieben worden, Projekte lagen vor, aber der alte Bezirksamtmann ging nicht mehr an das schwierige Werk heran.

Der neue sah darin die Gelegenheit, sich hervorzutun; er betrieb die Sache mit Eifer, und der Chiemsee wurde tiefer gelegt.

Auf Jahre hinaus waren die Inseln und die Nordufer verunstaltet; lange Sandbänke, Schilffelder zerstörten das schöne Bild, und eine rechte Fliegenplage kam dazu.

Die erhofften Vorteile blieben großenteils aus, die Nachteile übertrafen die Erwartungen.

Freilich hätten sich die Anwohner stärker gegen den Plan auflehnen müssen, aber auch an der Teilnahmlosigkeit war das System schuld.

Wer unter Vormundschaft gehalten wird, bleibt unmündig.

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Ich brachte der Verwaltung weder Verständnis noch Neigung entgegen; nur einmal erwarb ich mir Anerkennung, als ich die eben in Kraft tretende Alters- und Invaliditätsversicherung im Amtsblatte in gemeinverständlicher Sprache erläuterte.

Die treuherzigsten Stellen strich mir der Assessor, aber das Ganze klang immer noch unjuristisch genug, um Aufsehen zu erregen. Mit mir war ein Freiherr von G. als Praktikant eingetreten, dem ich zu viele Bären aufband, als daß ich ihn für sehr klug hätte halten können.

Aber er besaß eine hereditäre Anpassungsfähigkeit an das seltsame Geschäft im Bezirksamte.

Die Kunst, Akten zu erledigen und den Schein einer umfassenden Tätigkeit für sich und das Amt zu erregen, hatte er sofort heraus.

Jeder Antrag wurde brevi manu an den Bürgermeister, den Distriktstechniker, die Gendarmerie usw. geschickt zur näheren Berichterstattung, oder ergebenst an Behörden mit dem Ersuchen um Auskunft. Wenn sie zurückkamen mit den eingeforderten oder erbetenen Berichten, fand sich gleich wieder ein Häkchen, über das erneute Auskunft verlangt werden konnte. So waren die Akten immer auf der Reise, und immer schien was zu geschehen, und nie geschah was.

Herr v. G. betrieb das Rotierungssystem so eifrig und auffällig, daß ihm der Chef sein Erstaunen über diese Geschäftsgewandtheit mit schmeichelhaften Worten ausdrückte.

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Zu den Bären, die ich dem gutmütigen Baron aufband, gehörte auch die Geschichte von unserm wackern Gendarmeriewachtmeister in Traunstein, einem fidelen Rheinpfälzer, mit dem wir Rechtspraktikanten gerne zusammensaßen.

Herr v. G. hatte wenig Verständnis für diesen Verkehr und sprach mich daraufhin an.

Ich erzählte ihm, daß der Wachtmeister ein hochgebildeter Mann sei, der sechs Sprachen, darunter alle slawischen, beherrschte; er habe ein großes Vermögen verloren und sei zur Gendarmerie gegangen, um sein Leben fristen zu können.

Der Roman machte Eindruck.

Eines Tages wurde ein böhmischer Landstreicher eingeliefert, der kein Wort Deutsch verstand, und unser Assessor, der Amtsanwalt war, äußerte sich verdrießlich über die Schwierigkeit, einen Dolmetscher aufzutreiben.

Da konnte Herr v. G. wieder einmal hilfreich einspringen, und er meldete, daß der Wachtmeister alle slawischen Sprachen beherrsche.

Der Assessor war freudig überrascht und wollte unsern Pfälzer Krischer vors Amtsgericht laden; hinterher kam ihm die Sache verdächtig vor; er schickte nach dem Wachtmeister, der dem Schwindel gleich ein Ende machte.

„Das hawwe mer wieder die Praktikante eingebrockt“, sagte er. „Das G’sindel kann doch kein Ruh gewwe ...“

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Herr v. G. wurde von da ab vorsichtiger gegen meine Erzählungen.

 

Was werden?

Gewöhnlich entschied sich darüber der Rechtspraktikant erst nach dem Staatskonkurse und der Bekanntgabe der Note, die den Pegelstrich seiner Fähigkeiten und Aussichten bildete.

Einem Zweier stand alles offen, einem Dreier war beinahe alles verschlossen.

Sogar die Post und Eisenbahn kaprizierte sich auf intelligente Juristen; beim Notariat, beim Auditoriat, bei der Intendantur, von Justiz und Verwaltung nicht zu reden, überall begehrte man die Marke „zwei“.

In vergangenen Zeiten brannte man Galeerensträflingen ein entehrendes Zeichen auf die Schultern; sie trugen nicht schwerer daran, als geprüfte Juristen an einem Dreier.

Ich brauchte nicht erst das Ergebnis des letzten Examens abzuwarten, um zu wissen, daß ich weder Richter noch Verwaltungsbeamter werden mochte.

In beiden Berufen sah ich Beschränkungen der persönlichen Freiheit, gegen die ich mich auflehnte; die Vorstellung, daß ich mir den Aufenthaltsort nicht selbst sollte wählen können, hätte allein genügt, mich abzuschrecken.

Und dies und das im Leben der Richter und Beamten, das ich täglich beobachten konnte, sagte mir nicht zu; es schien sich doch in einem engen Kreise zu drehen, [pg 148]von einer Beförderung und Versetzung zur andern, und alles Interesse, das sich über den Beruf hinaus erstreckte, starb von selber ab.

Ich floh, wenn ich irgend konnte, die Gesellschaft der Juristen.

Jede Unterhaltung mit Bürgern, Handwerksgesellen oder Bauern war unvergleichlich anregender als ein Gespräch mit trefflichen Räten. Wie Schüler von ihren Aufgaben unterhielten sich die Herren von ihren Fällen, die älteren mit Genugtuung, weil sie noch, die jüngeren, weil sie schon so klug waren.

Die Medisance, die auch in diesem Kreise blühte, bestand immer darin, daß einem Abwesenden nachgesagt wurde, er habe oberstrichterliche Entscheidungen nicht gekannt oder falsch verstanden.

Nachmittags gegen fünf verließ der Staatshämorrhoidarius die Kanzlei, schloß sich einem Gleichgesinnten an und spazierte auf dem Bürgersteige auf und ab, Fälle erwägend, Sätze abrundend, Deduktionen zum logischen Ende führend.

Eine Karawane von Paragraphenkennern pilgerte so zum Bahnhofe, grüßte sich, verlästerte sich, sagte sich Unkenntnis einer Bestimmung und Verkalkung nach und wartete auf den großen Schnellzug Paris–Wien, der hier eine halbe Minute lang hielt.

Man sah verächtlich auf die fremdartigen Menschen, die keine Ahnung von Einführungs- und Ausführungsgesetzen hatten, und die Fremden sahen ver[pg 149]ächtlich auf die Havelocks und abgelatschten Schuhe der Schriftgelehrten.

Man stieß sich gegenseitig ab, bis der Zug weiterfuhr.

Die Fremden zogen gen Wien, die Räte gen ein Bräuhaus, wo neue Gedanken über alte Entscheidungen aufblitzten.

Ich wußte, daß ich dieses Leben nicht führen würde, und so malte ich mir meine Zukunft als Rechtsanwalt aus, bescheiden, mit gemütlichem Einschlag.

Eine auskömmliche Praxis in Traunstein, die mir Muße ließ zu kleinen schriftstellerischen Versuchen, denn an die dachte ich damals schon.

Wenn ich mit meiner Mutter über kommende Zeiten sprach, überlegten wir uns, wo ich etwa einmieten und wieviel Zimmer ich brauchen würde, denn es galt mir als ausgemacht, daß sie dann die Wirtschaft aufgeben und zu mir ziehen sollte.

Der Kupferstecher Professor Hecht aus Wien, der in der „Post“ ein paar Sommermonate wohnte, lächelte zu meinen Plänen und sagte: „Sie werden sich nicht als Advokat in das kleine Nest verkriechen! Sie gehören in die Welt hinaus, und ich weiß gewiß, daß Sie in München als Schriftsteller oder Leiter einer Zeitung einen Namen haben werden.“

Ich hörte die Prophezeiung gerne, wenn ich auch nicht zuversichtlich daran glaubte.

Ein anderer ständiger Gast in der „Post“ und Freund der Familie, Assessor F., mußte wohl eine [pg 150]ähnliche Meinung haben, denn er redete mir zu, das letzte Jahr meiner Praktikantenzeit in der Hauptstadt zu verbringen, und gab mir die Mittel dazu.

Ich glaube nicht, daß irgendein Ereignis so bestimmenden Einfluß auf mein Leben gewonnen hat wie die Übersiedlung nach München; ich fand dort Anschluß an Männer, die mich zur Schriftstellerei ermunterten, und vor allem, ich fand selber den Mut, zu wollen, und verlor den Geschmack daran, mich unter die Decke eines behaglichen Philisterlebens zu verschliefen.

Ein anderes Ereignis mit seinen Folgen trug auch etwas dazu bei.

Mein zweiter Bruder war nach zehnjähriger Abwesenheit aus Australien zurückgekehrt; er war als junger Kaufmann hinübergegangen, mußte sich aber später als Matrose, Fischer und Jäger durchschlagen.

Um ihn daheim zu halten, erwarb meine Mutter das Postanwesen in Seebruck am Chiemsee und zog selber mit meinen zwei jüngeren Schwestern dorthin.

Ich war viel bei ihnen draußen und verlor etwas den Zusammenhang mit Traunstein.

Das Seebrucker Anwesen war vom Vorbesitzer vernachlässigt worden; es gab Sorgen genug, die mich deshalb bedrückten, weil ich mir die alten Tage meiner Mutter ruhevoller und heiterer gedacht hatte.

Darüber verblaßten die Bilder eigener Behaglichkeit, die vielleicht am Ende, nicht aber am Anfange eines tätigen Lebens ihren Platz finden durften.

Ich dachte ernsthafter ans Vorwärtskommen und [pg 151]ergriff dankbar die Gelegenheit dazu, die mir Assessor F. bot, der damals Junggeselle war und, wie ich sagte, mich vorm Versauern in den kleinen Verhältnissen bewahren wollte.

Klein und eng war es in Traunstein und von einer Gemütlichkeit, die einen jungen Mann verleiten konnte, hier sein Genüge zu finden und auf Kämpfe zu verzichten. Es ist altbayrische Art, sich im Winkel wohl zu fühlen, und aus Freude an bescheidener Geselligkeit hat schon mancher, um den es schad war, Resignation geschöpft.

In dem Landstädtchen schien es sich vornehmlich um Essen und Trinken zu handeln, und alle Tätigkeit war auf diesen Teil der Produktion und des Handels gerichtet. Am Hauptplatz stand ein Wirtshaus neben dem andern, Brauerei neben Brauerei, und wenn man von der Weinleite herabsah, wie es aus mächtigen Schloten qualmte, wußte man, daß bloß Bier gesotten wurde.

Durch die Gassen zog vielversprechend der Geruch von gedörrtem Malz, aus mächtigen Toren rollten leere Bierbanzen, und am Quieken der Schweine erfreute sich der Spaziergänger in Erwartung solider Genüsse.

Der Holzreichtum der Umgegend hatte schon vor Jahrhunderten die Anlage einer großen Saline, wohin die Sole von Reichenhall aus geleitet wurde, veranlaßt.

Sie förderte das Emporblühen der Stadt, die auch jetzt im Wohlstand gedieh. Als Sitz vieler Behörden, [pg 152]sehr günstig zwischen Gebirg und fruchtbarem Hügellande gelegen, bildete sie den Mittelpunkt einer volkreichen Gegend.

Zur allwöchentlichen Schranne und zu den Märkten strömten die Bauern herein, und dazu herrschte ein starker Verkehr von Musterreisenden, die von hier aus die Chiemgauer Orte besuchten.

Ein anheimelndes Bild der alten Zeit boten die zahlreichen Omnibusse, die von blasenden Postillonen durch die Stadt gelenkt wurden, denn damals waren die Kleinbahnen nach Trostberg, Tittmoning, Ruhpolding noch nicht gebaut.

Hier saß nun ein besitz- und genußfrohes Bürgertum, das sich den Grundsatz vom Leben und Lebenlassen angeeignet hatte. Genauigkeit und ängstliches Sparen erfreuten sich keines Ansehens, und war man stolz auf den Wohlstand eines Mitbürgers, so verlangte man auch, daß er nicht kleinlich war.

Rentamtmann Peetz, der Chronist Traunsteins, erzählt eine Geschichte, die für altbayrische Lebensauffassung bezeichnend ist.

In den siebziger Jahren spielten zwei gutsituierte Bürger, der Mittermüller und der Untermüller, regelmäßig Tarock mit einem jungen Advokaten. Sie fühlten sich verpflichtet, für den Mann ein übriges zu tun, und fingen in Frieden und Eintracht miteinander einen Prozeß über Wasserrechte an.

Die Geschichte hätte sich auch später genau so zutragen können, denn die Lust, etwas springen zu lassen, [pg 153]und die gewisse unbekümmerte Art lagen in der Rasse begründet.

Zum Oktoberfestschießen meldete sich beim Höllbräu alljährlich ein Traunsteiner Bürger, denn da es Brauch war, daß ein Leibjäger für den König etliche Schüsse abgab, machte es sich gut, wenn auch der Höllbräu einen Vertreter dort hatte.

Wenn dieser, der Eigentümer der größten Brauerei, zum „Bierletzt“, das ist zum letzten Sommerbier, in ein Dorf fuhr, wo er einen Kunden hatte, mußte ich öfter mithalten. Es wurden riesige Platten, angehäuft mit Gans- und Entenvierteln, Hühnern, Schweinernem und Geräuchertem aufgetragen, und die Honoratioren des Ortes, Pfarrer, Lehrer und Gendarm, waren eingeladen.

Der Höllbräu hatte weder zu bestellen noch nachzurechnen, wenn am Schlusse der Betrag von ein paar hundert Mark verlangt wurde. Gewöhnlich hingen etliche Pfennig daran, damit es nach Gewissenhaftigkeit aussah.

In kleineren Maßen hielt es jeder so, daß er im angenehmen Wechsel von Geben und Nehmen der Kundschaft Gelegenheit bot, ihn zu schröpfen.

Mit den Beamten hatte man sich in früheren Jahren besser verstanden; nunmehr schlossen sich die Herren Juristen ab, und die Bürger erwiderten die Zurückhaltung mit herzlicher Abneigung gegen die Hungerleider.

So hieß der königliche Beamte. Für die pensionier[pg 154]ten Offiziere, an denen kein Mangel war, hatte man den Namen Schwammerlbrocker erfunden.

In ihren politischen Meinungen unterschieden sich die Traunsteiner nicht von den übrigen Oberbayern. Tiefe Abneigung gegen alles Leidenschaftliche in diesen Dingen vereinigte sich mit dem üblichen Maße von Wurstigkeit und Partikularismus, und das ergab bei Wahlen eine sichere ultramontane Mehrheit.

Daneben konnte sich der mit Beamten, Pensionisten und etlichen Rentnern eingewanderte Liberalismus nicht sehen lassen.

Er gab nur einige Lebenszeichen von sich, und man verzichtete schmerzlich lächelnd im vorhinein auf jeden Erfolg, agitierte nicht und stellte Kandidaten auf, denen die bescheidenste Rolle in der Öffentlichkeit Ersatz für den Durchfall bot.

Mehr Lärm erregte der damals neu auftauchende Waldbauernbund, der sich bald darauf mit dem niederbayrischen Bauernbund in den Zielen zusammenfand. Professor Kleitner, Eisenberger, der Hutzenauer Bauer von Ruhpolding und ein kleiner Geschäftsmann, der Melber Jehl von Traunstein, waren die Führer der gleich mit grobgenagelten Schuhen auftretenden Partei.

Durch sie wurde das politische Phlegma etwas aufgerüttelt.

An Respektlosigkeiten, Kraftsprüchen und Widerhaarigkeiten hatte man doch seine landsmännische Freude.

[pg 155]

Von einem Schreinermeister, einem braven Familienvater und fleißigen Handwerker, wurde mit einer gewissen Scheu erzählt, er sei Sozialdemokrat, der einzige in der Stadt, die König Ludwig I. als treu gesinnt vor allen andern belobt hatte, weil eine Traunsteiner Deputation zu ihm nach seiner Abdankung gekommen war.

An König Max bewahrte man freundliche Erinnerungen.

Nach dem großen Brande im Jahre 1851 war er in die Stadt gekommen und hatte den Unglücklichen Trost zugesprochen.

In den neunziger Jahren, als man allerorts nach Motiven für Feste suchte, kam ein Pläne ersinnender Mann auf die Idee, dem gütigen Landesherrn ein Denkmal zu errichten.

Das Denkmal fiel sehr klein aus, das Einweihungsfest sehr groß.

In der Zeit des allgemeinen Aufschwungs gab es natürlich Leute, die den Fremdenverkehr auf alle mögliche Weise heben wollten.

Er hielt sich jedoch in mäßigen Grenzen, obwohl man Reunions veranstaltete, bei denen wir Rechtspraktikanten das Ballkomitee bilden mußten.

Wenn es herbstelte, versank die Stadt wieder in stillen Frieden, in dem es nichts Fremdes und Neuzeitliches gab, und von dem umfangen man zwischen Tarockrennen und Kegelschieben vergessen konnte, daß ihm der Kampf vorangehen müsse.

[pg 156]

Im Februar 1893 trat ich beim Stadtmagistrat in München, zwei Monate später bei Rechtsanwalt Löwenfeld als Praktikant ein.

Da waren also nun die größeren Verhältnisse, die ich kennenlernen sollte, allein bei Amt und Gericht merkte ich wenig davon.

Der Fabrikbetrieb im Labyrinth des Augustinerstockes, wo die Gerichte untergebracht waren, verwirrte mich wohl anfangs, allein ich merkte bald, daß die Herren auch mit Wasser kochten, und die erste Zeugenvernehmung, die ein buchgelehrter Konkurseinser in meinem Beisein vornahm, erregte in mir den Verdacht, daß es jeder Dreier besser gemacht hätte.

Der Verdacht hat sich späterhin gefestigt und ist zur sicheren Überzeugung geworden.

Vielbeschäftigte und berühmte Anwälte gab es zu bewundern, darunter manchen, dessen Gewandtheit und Wissen exemplarisch waren.

Unter den Verteidigern ragten Wimmer und Angstwurm hervor und wurden in Aufsehen erregenden Prozessen viel genannt.

Der beste forensische Redner, den ich kennengelernt habe, war der joviale Justizrat Wimmer, dem die glücklichste Mischung von Sachlichkeit und Pathos eigen war.

Ein ganz öliges Pathos hatte Angstwurm, der einen Komödianten und einen Pfarrer hätte lehren können, ein Mann, der in Bildern schwelgte, bis ein anderer kam, der ihn darin weit übertraf.

[pg 157]

Gerade damals ging der Stern des Mößmer Franzl auf, des Vaters der Gerichtshofblüten.

Unzählig sind die gewagten Vergleiche, Bilder und Parabeln, die von ihm erzählt werden, aber die Art, wie er sie mit feierlichem Ernste, losbrechender Heftigkeit und wieder mit dumpfer Resignation vorbrachte, machte sie erst zu den Ereignissen, von denen sich die Herren Kollegen vormittagelang unterhielten.

Am Stammtisch im „Herzl“, wo ich einen Kreis alter und neuer Freunde gefunden hatte, verkehrte der Vertreter der „Augsburger Abendzeitung“ Joseph Ritter.

Er fand Gefallen an meiner Art, über allerhand Dinge zu urteilen, und forderte mich auf, ganz so wie ich redete, auch einmal zu schreiben und es ihm für seine Zeitung zu geben.

Ich versuchte mich in Plaudereien über Zustände, die ich kannte, und die Artikel erschienen zu meiner großen Genugtuung in der „Abendzeitung“. Der Redaktion sagten sie zu, und damit war eine Verbindung hergestellt, die für mich wichtig wurde.

In Freundeskreisen machten zuweilen Gedichte von mir die Runde, die, meistens im Dialekt, bald derb, bald hanebüchen lustig waren, und von denen mir das eine und andere nach langen Jahren wieder unterkam, wenn es jemand vortrug.

So waren sie ungedruckt erhalten geblieben, und ihren Vater kannte nur ich, der ich schweigend zuhörte.

[pg 158]

Die literarische Bewegung, die damals in Deutschland einsetzte, erregte mein lebhaftes Interesse.

Von Hauptmann hatte ich „Vor Sonnenaufgang“ und „Einsame Menschen“ gelesen, von Sudermann „Die Ehre“ gesehen. „Vor Sonnenaufgang“ packte mich stark, gegen „Die Ehre“ lehnte ich mich auf; und ich erregte Widerspruch, wenn ich etwas schroff erklärte, der Graf Trast sei eine ausgestopfte Marlittfigur; die hausbackenen Halbwahrheiten, die er deklamiere, seien unerträglicher als ganze Dummheiten.

Den stärksten Eindruck machte Fontanes „Jenny Treibel“ auf mich; in dieser abgeklärten, lächelnden Schilderung sah ich, was Goethe als das Reizvollste und Wichtigste hervorhebt, die Persönlichkeit, und zwar eine recht überlegene und sympathische zugleich. „Jenny Treibel“ ist mir ein Lieblingsbuch geblieben, auch deswegen, weil es mich zuerst und auf die angenehmste Art lehrte, wie nur eine souveräne Darstellung wirklichen Lebens wertvoll sei, und wie langweilig und gleichgültig sich daneben Stimmungen und Gefühle ausnehmen.

Je weiter wir uns von jener Zeit entfernen, und je mehr und Größeres sich zwischen sie und uns stellt, desto klarer sehen wir, daß in der scheinbar so leicht hingeworfenen Schilderung mehr Kulturgeschichte steckt als in gelehrten Werken.

Darum werden solche Bücher für später Lebende noch erhöhten Wert haben, wenn man längst nichts [pg 159]mehr weiß und wissen will von den tiefen Gedanken und Schmerzen eines Ästheten.

Von Berlin her klangen damals Namen, die einen aufhorchen machten.

Neben den Eroberern der Bühne, Hauptmann und Sudermann, neben Liliencron die Dehmel, Hartleben, Schlaf, Holz; und von der freien Bühne las man von Schlenther und Brahm.

M. G. Conrad, dem es nie am Brustton fehlte, war in seiner „Gesellschaft“ bemüht, in München die Schläfer zu wecken.

Es war damals sehr viel die Rede vom Naturalismus und Realismus im Gegensatze zum Idealismus, der dahinsiechte.

Auch an Stammtischen sprach man darüber und äußerte Gram über das „Aufsuchen des Schmutzes“, wie über das Schwinden idealer Anschauungen, und da im „Herzl“ etliche Maler einkehrten, setzte man Seufzer über den Impressionismus drauf.

Ich trat keck für das Neue ein, und wenn der Streit lichterloh brannte, war ich sehr unzweideutig und ließ Worte fahren, die Staunen und Unbehagen erregten.

Das Bemerkenswerteste an den Diskussionen war das Interesse, das man in München auch in Kreisen fand, die sich anderswo sicherlich nicht um künstlerische Streitfragen kümmerten.

Im Dezember begann die letzte Prüfung, die ich abzulegen hatte, der gefürchtete Staatskonkurs.

[pg 160]

Ich eilte jeden Morgen, noch bevor es hell wurde, in die Schrannenhalle, half andern und ließ mir helfen, schrieb Kommentarstellen ab und fand, daß auch diesmal das Wetter nicht so schlecht war, wie es von weitem ausgesehen hatte.

Ich habe mich damals zum ersten, aber auch zum letzten Male über Rechtslagen mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit verbreitet, wenn ich in der Mittagspause das Prüfungslokal verließ.

Die Aufsicht wurde milde gehandhabt; man konnte sich fast ungestört unterhalten, sich Mitteilungen zukommen lassen, ja, wenn es die Zeit erlaubte, auch einmal die Arbeiten zum Vergleiche zuschieben.

Unvergeßlich bleibt mir ein phlegmatischer Kollege, der mit einem stumpfsinnigen Lächeln unserm Eifer zusah und selber kaum etliche Worte hinmalte. Ich bot ihm mitleidig einen Bogen an, den ich schon hastig vollgeschrieben hatte. Er schob ihn mir zurück und sagte: „Dös hilft mir aa nix.“ Ich verstand seine Resignation, als ich erfuhr, daß er der einzige Sohn eines reichen Münchner Hausherrn wäre und keinen Wert auf eine glänzende Laufbahn legte.

Nach etlichen Wochen war die Prüfung beendet, und ich fuhr heim.

Mit tiefem Schmerze mußte ich sehen, wie meine Mutter, die seit dem Sommer kränkelte, in ihren verfallenen Zügen die Spuren eines nahen Endes zeigte.

Ich blieb in Seebruck, und es folgten bittere Monate, in denen ich mir Gewalt antun mußte, um eine [pg 161]Zuversicht zur Schau zu tragen, die ich aufgegeben hatte.

Im darauffolgenden Juni ging ich hinter dem Sarge meiner Mutter her.

Lange Zeit klang mir ihre müde Stimme in den Ohren, mit der sie mich fragte, was der Arzt nach dem Besuche gesagt habe, lange Zeit sah ich ihr Lächeln, mit dem sie meinen tröstenden Bericht anhörte, und eigentlich bin ich heute noch nicht darüber weggekommen, daß sie sterben mußte, bevor sie irgendeinen Erfolg gesehen hatte.

In ihren letzten Tagen konnte ich ihr noch eine Zuschrift der „Augsburger Zeitung“ und einige Artikel vorlesen, und sie legte ihre abgemagerte Hand in die meine. „Es wird alles recht werden“, sagte sie und nickte mir freundlich zu.

Ich kehrte nach München zurück, wo ich eine Konzipientenstelle bei einem Rechtsanwalt angenommen hatte.

Zweifel über das, was ich nun eigentlich tun sollte, drückten mich schwer; unselbständig bleiben, hieß Zeit verlieren, in der Hauptstadt eine Praxis eröffnen, war aussichtslos, und mir fehlten zum Abwarten alle Mittel; in Traunstein anzufangen, sagte mir auch nicht zu. So dachte ich bald an dies, bald an jenes, kam zu keinem Entschlusse und fühlte mich unglücklich.

An einem Augustabende fuhr ich mit einem Freunde nach Dachau, um von da weiter nach Schwabhausen zu gehen.

[pg 162]

Wie wir den Berg hinaufkamen und der Marktplatz mit seinen Giebelhäusern recht feierabendlich vor mir lag, überkam mich eine starke Sehnsucht, in dieser Stille zu leben.

Und das Gefühl verstärkte sich, als ich andern Tags auf der Rückkehr wieder durch den Ort kam.

Ich besann mich nicht lange und kam um die Zulassung in Dachau ein.

Alte Herren und besorgte Freunde rieten mir ab, allein ich folgte dem plötzlichen Einfalle, und ich hatte es nicht zu bereuen.

Mit nicht ganz hundert Mark im Vermögen zog ich zwei Monate später im Hause eines Dachauer Schneidermeisters ein und war für den Ort und die Umgebung das sonderbare Exemplar des ersten ansässigen Advokaten.

Als ich beim Vorstande des Amtsgerichtes meinen Besuch machte, strich der alte Herr seinen langen, grauen Schnauzbart und sagte brummig: „So? Sie san der?“

Er versprach sich offenbar weder Nutzen noch Annehmlichkeit von der neuen Erscheinung, und als echter Oberpfälzer hielt er mit seiner Meinung nicht hinterm Berge.

Wir haben uns später gut vertragen und verstanden.

Thoma als Anwalt in Dachau
Thoma als Anwalt in Dachau

In den ersten Tagen wartete ich mit Beklemmung auf Klienten. Auf den Schrannentag hatte ich meine Hoffnungen gesetzt, und es kam auch ein stattlicher, wohlgenährter Bauer in die Kanzlei, setzte sich auf [pg 165]mein Ersuchen und erzählte irgendwas von einem alten Kirchenweg.

Als ich zur Feder griff, legte er seine Hand auf meinen Arm und sagte: „Net schreib’n! Na ... na ... net schreib’n!“

Ich verstand, daß er bloß gekommen war, um den neuen Advokaten kostenlos anzuschauen; nach seiner Meinung war die Sache erst brenzlig, wenn was geschrieben wurde.

Er ging und versprach wiederzukommen.

Die Tage schwanden, die Mittel auch, und ich wurde ängstlich.

Noch dazu hatte ich Schulden gemacht, als der Vertreter einer Buchhandlung zu mir gekommen war und mich bestimmt hatte, eine Bibliothek anzulegen.

Als ich schon recht verzagt wurde, kam ein Lehrer aus der Pfaffenhofener Gegend und übertrug mir seine Verteidigung in einem Beleidigungsprozesse, den ihm Bürgermeister und Bezirksamtmann aufgehängt hatten.

Ich erfuhr bald, warum der Mann aus einem andern Bezirke just mich ausgesucht hatte; in der Bahn war ihm von dem Reisenden der Buchhandlung der junge Dachauer Anwalt so gerühmt worden, daß er seine Fahrt nach München unterbrach und in Dachau ausstieg.

Von nun an ging’s, wenn auch nicht über alle Maßen gut, doch ordentlich und so, daß ich nach einer Weile die alte Viktor einladen konnte, mir den Haus[pg 166]halt zu führen. Sie kam mit Freuden, und wenn’s auch nicht beim Oberförster in der Vorder-Riß war, so war es doch im ersten selbständigen Hauswesen des Herrn Anwalts, den sie als Kind auf dem Arm getragen hatte.

Als „d’ Frau Mutter“ genoß sie Ansehen und Vertrauen bei allen Bauernweibern, die ein Anliegen zu mir führte und die nach der Aussprache mit mir erst noch die richtige und ausgiebige mit ihr in der Küche abhielten.

Und jede brachte, wie es damals schöner Brauch war, etwas im Korbe mit, einen Gockel oder eine fette Ente oder, in Blätter eingeschlagen, frische Butter.

Ihre alte Tugend, tätigen Anteil am Leben zu nehmen, hatte Viktor nicht abgelegt, und sie kümmerte sich um Gang und Stand der Prozesse, besonders, wenn es eine ihrer Schutzbefohlenen recht dringlich gemacht hatte.

Eine besondere Freude war es ihr, wenn sie Klagen oder Erwiderungen abschreiben durfte.

Dann saß die Alte stundenlang an ihrem Schreibtische, ganz eingenommen von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe und ihrem Anteile an meinen Erfolgen.

War ich bei Gericht und kam in meiner Abwesenheit ein Klient, so brauchte er nicht ohne Bescheid wegzugehen, denn Viktor nahm ihn ins Gebet, ließ sich seine Schmerzen vortragen und flößte ihm das Vertrauen ein, daß er an die rechte Schmiede gekommen sei. Wenn’s irgend zu machen wäre, dann würde es der [pg 167]Herr Doktor machen, und meine Dachauer faßten schon gleich Zuversicht, weil „d’ Frau Mutter“ sie so gut angehört hatte.

Es war eine stille, liebe Zeit, ganz so, wie ich sie mir vorgestellt hatte an jenem ersten Abend, als ich die gepflasterte Gasse hinuntergegangen war an den Bürgern vorbei, die ausruhend vor den Haustüren saßen.

Hinter Dachau, dem das große Moos vorgelegen ist, dehnt sich ein welliges Hügelland von großer Fruchtbarkeit aus, in dem Dorf an Dorf bald zwischen Höhen, bald hinter Wäldern versteckt liegt.

Hier lebt ein tüchtiges Volk, das sich Rasse und Eigenart fast unberührt erhalten hat, und ich lernte verstehen, wie sein ganzes Denken und Handeln, wie alle seine Vorzüge begründet liegen in der Liebe zur Arbeit und in ihrer Wertschätzung.

Arbeit gibt ihrem Leben ausschließlich Inhalt, weiht ihre Gebräuche und Sitten, bestimmt einzig ihre Anschauungen über Menschen und Dinge.

Es liegt eine so tiefe, gesunde, verständige Sittlichkeit in dieser Lebensführung eines ganzen zahlreichen Standes, in dieser Auffassung von Recht und Unrecht, von Pflicht und Ehre, daß mir daneben die höhere Moral der Gebildeten recht verwaschen vorkam.

In dem, was Leute, die Redensarten und Empfindelei schätzen, als Rauheit, Derbheit, als Mangel an Kultur und Feinnervigkeit, als Urzuständliches betrachten wollten, trat mir ungeschriebene Gesetzmäßigkeit eines tüchtigen Sinnes entgegen. So, wie das [pg 168]Bauernvolk natürliches Geschehen hinnimmt, wie ruhig es sich über Krankheit und Sterben wegsetzt, wie es nur die Nützlichkeit des Daseins schätzt, zeigt es wahre Größe.

Und Klugheit darin, daß ihm nie Worte für Begriffe gelten.

Derb zugreifende altbayrische Lebensfreude, aufgeweckter Sinn, schlagfertiger Witz und eine Fülle von Talenten vervollständigen das Bild.

Im Verstehenlernen faßte ich Lust, dieses Leben zu schildern.

Auf einer Fahrt nach München kam mir ganz plötzlich der Gedanke, es ließe sich am Ende versuchen, etwas über die Bauern zu schreiben.

Daraus entstanden die Erzählungen, die zuerst im „Sammler“, später in einem Buche unter dem Titel „Agricola“ erschienen sind. Im Kreise der Dachauer Freunde fanden sie beifällige Aufnahme, aber der Ton war nicht auf Enthusiasmus gestimmt, den sie am Ende auch nicht erregen mußten. Eher machte sich im „Stellwagen“ – so nannte sich unsere Gesellschaft, die sich allabendlich beim Zieglerbräu versammelte – sachliche Kritik geltend, denn jeder der Beamten kannte doch die Bauern oder wollte sie kennen. Natürlich waren die Herren vom Bezirksamt geneigt, mich zurechtzuweisen, wenn ich ihren widerspenstigen Untertanen im lebhaften Wortwechsel zuviel Ehre erwies.

So konnte nur der Laie urteilen, der keine Ahnung davon hatte, wie viele Hindernisse der Bauer einer [pg 169]wohlmeinenden Erziehung entgegenstellte, wie bockbeinig und hintersinnig er war, wie mißtrauisch gegen die wohlwollende Regierung.

Der Bezirksamtmann war Bürokrat, wie aus den „Fliegenden Blättern“ von 1850 herausgeschnitten, lieblos und ganz Herrscher. Der Assessor sehnte sich nach der Stadt unter Menschen. Was ihn hierorts mit kleinlichen Anliegen plagte, war Untertan und konnte gerade noch für zweibeinig gelten. Die Sprache war schauderhaft, der Begriffsmangel erschreckend.

Gehorchen und Zahlen konnte man von den Leuten verlangen, und dann kam die Scheidewand, diesseits derer die Intelligenz thronte.

Der Assessor verdiente sich einen Spitznamen, den wir ihm verliehen. Er hieß „der Durrasch“.

Und wie er dazu kam, das verriet sein herzliches Verständnis für das Volk und seine Sprache.

In einer Strafsache, bei der unser Assessor als Amtsanwalt den Staat vertrat, erzählte ein Bauernbursche, er habe von einer Rauferei nichts gesehen, weil er immer hinausgelaufen sei. Er habe den Durchmarsch gehabt.

Nach seiner Vernehmung erhob sich der Assessor und verlangte zu wissen, was dieser Zeuge unter einem „Durrasch“ verstehe. Es handle sich offenbar um eine faule Ausrede.

Vergeblich bemühte sich unser alter Oberamtsrichter klarzulegen, daß der Zeuge Durchmarsch gesagt und Diarrhöe gemeint habe. Er wählte bei der Wieder[pg 170]holung sogar ein deutsches Wort, das der Sache ganz auf den Grund ging. Half nichts. Der Herr Assessor hatte deutlich „Durrasch“ verstanden und verlangte unter drohendem Hinweis auf den geleisteten Eid genaue Auskunft über das seltsame Wort.

Ein tiefes Mißtrauen gegen den hinterlistigen Burschen blieb in ihm zurück.

Von ganz anderem Schlage war der prächtige Vorstand des Amtsgerichtes, in dem ich den letzten einer aussterbenden Rasse, der urbayrischen Landrichter älterer Ordnung, kennen und schätzen lernte.

Er stand gut mit den Bauern. Seine Derbheit verletzte sie nicht, ja ich glaube, sie hatten Spaß an seiner Art, alle Dinge beim rechten Namen zu nennen, und an Schrannentagen hatte er viel Zuhörer.

Immer hatte man den Eindruck, daß er es gut meinte; am besten, wenn er Leute, die wegen eines Schimpfwortes Prozesse anfingen, so zusammenstauchte, daß sie aus dem Gerichtssaal verletzter herauskamen, als sie hineingegangen waren.

Von der einmal sprichwörtlichen Prozeßwut der Bauern merkte ich kaum mehr etwas; insbesondere waren die Grundstreitigkeiten fast ganz verschwunden.

Gerade die Wohlhabenden und Angesehenen in den Gemeinden redeten immer zum Frieden, wenn Zwistigkeiten über Wege und Fahrtrechte entstehen wollten. Auch von dem großen Einflusse der Geistlichkeit wurde und wird mehr erzählt, als wahr ist.

[pg 171]

Ich fand, daß sich die Bauern in Gemeindeangelegenheiten recht ungern dareinreden ließen und daß sich eifrige Pfarrer damit schnell mißliebig machten. Hier wußte jeder einzelne, was er wollte, und konnte sich über die Folgen eines Beschlusses ein Urteil bilden; sich zu beugen und gegen die eigene Meinung Gehorsam zu leisten, lag den Leuten ganz und gar nicht im Sinne.

Gewiß wählten sie, bevor die Caprivischen Handelsverträge abgeschlossen wurden, fast ausnahmslos die klerikalen Kandidaten in den Landtag und in den Reichstag. Weil sie sich mit Politik nicht befaßten, weil sie bei keiner andern Partei die Interessen ihres Standes berücksichtigt sahen und weil Pfarrer wie ultramontane Kandidaten immer noch die einzigen waren, mit denen sie Fühlung hatten.

Das wurde anders, als infolge jener Handelsverträge die Getreidepreise stark zurückgingen und der Bauernbund gegründet wurde.

Der eingewurzelte Respekt vor der Geistlichkeit, über den man so viel hören konnte, war wie weggeblasen, und der Zorn wurde nicht im mindesten durch Rücksichten in Schranken gehalten.

Geistliche, die damals in Versammlungen auftraten, mußten mit Staunen wahrnehmen, wie ihnen ein grimmiger Haß entgegengebracht wurde.

Sie kannten dieses Volk nicht mehr.

Sie hatten es unterschätzt, hatten an eine Fügsamkeit geglaubt, die dem Stamme fremd war, und die Erfahrungen, die man nunmehr machte, übten einen [pg 172]starken, nachhaltigen Einfluß auf die Haltung des Zentrums aus. Auffällig war, wie viele schlagfertige, wirksame Redner sogleich aus dem Bauernstande hervorgingen. Wenn man auf der gegnerischen Seite, durch einen gewissen Bildungsdünkel verleitet, glaubte, leichtes Spiel mit den unwissenden Leuten zu haben, so wurde man schnell eines Bessern belehrt. Auch ein Dachauer Herr mußte daran glauben.

Ein ultramontaner Rheinpfälzer, sonst ein umgänglicher Mann, aber sprudelnd vor Eifer, in Ausdrücken und Gebärden sich gehen lassend, meinte er, den aufgebrachten Bauern einmal die Leviten lesen zu müssen. Ein Bürgermeister aus der Umgegend deckte ihn aber unter dem schallenden Gelächter der Hörerschaft so zu, daß man ihm hinterher nahelegte, er möge im Interesse der Autorität und des Ansehens der Beamtenschaft nicht mehr auftreten.

Und da ich nun gerade von Reden und Rednern erzähle, will ich anfügen, daß ich mich auch einmal hören ließ.

Zur Feier des 25. Jahrtages des Frankfurter Friedens hielt ich auf dem Marktplatze eine Ansprache an die Veteranen.

Den größten Erfolg hatte ich damit bei der alten Viktor, die an einem Fenster des Zieglerhauses stand und Tränen der Rührung vergoß und zu den Umstehenden sagte, nur das hätte meine Mutter noch erleben müssen.

[pg 173]

Nach dem Umzug und der Pflanzung einer Friedenseiche war Festessen.

Als ich etwas verspätet den Saal betrat, standen alle Veteranen auf, um den Redner zu ehren.

Den Bezirksamtmann, der schon anwesend war, verdroß das, und er erhob sich, um von seinem höheren Standpunkte aus den Tag zu beleuchten.

Zuerst war es still, aber wie der Mann im trockensten Amtsstil über den Krieg sprach, als hätte das Königliche Bezirksamt Dachau nachträglich seine Billigung auszudrücken, fingen alle Veteranen wie auf ein gegebenes Zeichen an, mit klappernden Löffeln die Suppe zu essen. Und in dem Lärm ging die obrigkeitliche Meinung unter.

 

In Dachau waren damals zahlreiche Maler, darunter Dill, Hölzel, Langhammer, Keller-Reutlingen, Flad, Weißgerber, Klimsch.

Bei Hölzel verkehrte ich häufig. Er malte damals pointillistisch, trug die Farben mit der Spachtel auf, und man mußte etliche Schritte zurücktreten, um zu erkennen, was ein Bild darstellte.

Später ging er unter dem Einflusse Dills zur Malweise des Schotten Brangwyn über.

In abgetönten Farben, meist in Grün und Grau, wurden überhängende Bäume an Gräben und Bächen dargestellt, und die Bilder wirkten wie Gobelins.

Mir wollte es scheinen, als hätte sich die Gegend recht wohl so malen lassen, wie sie war, und jede Stim[pg 174]mung so, wie sie der Künstler erlebte und empfand, aber es gab auch damals einzig richtige Methoden, hinter die die Persönlichkeit zurücktrat.

Ein Sonderling war Flad, dem es nicht zum besten ging. Mit einem dicken Knüppel bewaffnet, den er nach kläffenden Hunden warf, lief er tagelang im Moos herum und sprach eifrig vor sich hin. Zuweilen schloß er sich mir auf einem Spaziergange an und trug Stellen aus Scherrs „Blücher und seine Zeit“ vor. Er schien das Buch auswendig zu können.

Bei Hölzel, einem liebenswürdigen Österreicher, der Kenntnisse und Interesse und ein lehrhaftes Wesen hatte, gab es immer anregende Unterhaltung, und ich verdankte ihm manchen Hinweis auf gute Bücher.

Besonders die Russen und einige Skandinavier lernte ich durch ihn kennen; ich bereute es nicht, ihnen erst später und mit gereifterem Urteil begegnet zu sein.

Anna Karenina wurde und blieb ein Lieblingsbuch von mir; aber Raskolnikow konnte ich nicht zu Ende lesen. Die unheimliche Schilderung jeder Regung einer Seele, die zum Verbrechen wie zu etwas Notwendigem und fast Selbstverständlichem hingedrängt wird, erschütterte mich so, daß ich das Buch immer wieder weglegte, so oft ich danach griff.

Mit geteilten Empfindungen nahm ich Ibsens „Baumeister Solneß“ auf; da schien mir zuviel mit Absicht hineingeheimnist zu sein, und die Menschen gingen auf Stelzen.

[pg 175]

Ich glaube, solche Gedanken waren damals sehr ketzerisch, denn etliche Päpste zu Berlin hatten längst die Infallibilität des großen Norwegers verkündigt. Aber mir fehlte stets die Führung durch den literarischen Zirkel, und ich mußte alles unmittelbar auf mich wirken lassen, ohne vorher zu wissen, was die Mode verlangte.

Denke ich zurück, so meine ich fast, ich hätte damals unbewußt schon den Reiz empfunden, den, wie Gottfried Keller sagt, das Verfolgen der Kompositionsgeheimnisse und des Stils gewährt. Heute erblicke ich jedenfalls darin das Anziehendste, hinter den Zeilen den Autor beim Schaffen zu sehen und aus dem Worte die Stimmung und aus der Stimmung Gedanken, die sich schufen, zu erraten. Wenn man das recht genossen hat, ist man gefeit gegen Literaturzirkel und ihre Dogmen.

Am 1. Januar 1896 erschien die erste Nummer der „Jugend“.

Ich kann noch heute das Titelbild dieses Heftes nicht sehen, ohne mich ergriffen zu fühlen von der Erinnerung an jene Zeit und von der Sehnsucht nach ihr, die voll Fröhlichkeit, voll Streben, voll Hoffen war. Bald darauf sah man in München überall ein auffallendes Plakat, ein junges Mädel an der Seite eines Teufels.

Es war die Ankündigung des „Simplicissimus“.

Was regte sich damals für eine Fülle von Talent und Können, und vor allem von Teilnahme an diesen Dingen!

[pg 176]

Mag die Bedeutung beider Wochenschriften beurteilt werden, wie immer; auch ein Gegner kann es nicht leugnen, daß sie frisches, neues Leben brachten.

Wer erschrak und widerstrebte, war doch mit hineingezogen in den Kreis dieser neuen Interessen, die München aus dem Schlafe aufweckten.

Mit welcher Aufmerksamkeit betrachtete man die Zeichnungen, prüfte man die Beiträge, las man die Namen der Künstler und Schriftsteller!

Sie waren Ereignisse, über die man diskutierte, nicht Kaffeehauslektüre, die man durchblätterte und weglegte; sie gaben mannigfaltigste Anregung und öffneten die Bahn für die Jungen, die sich mit den Älteren messen wollten.

Ich schickte zögernd und ohne rechtes Vertrauen ein politisches Gedicht an die „Jugend“ und war nicht wenig stolz, als es schon in der zweiten Nummer erschien.

Ein paar andere folgten, und meine Zuversicht wuchs.

Damals war das „Gasthaus zur Post“ in Traunstein verkauft und der Pachtvertrag gelöst worden; meine älteste Schwester erwarb eine Fremdenpension in München, die Zuspruch fand, und wir vereinbarten, daß ich mich nach einiger Zeit in der Stadt als Anwalt niederlassen sollte.

Ein Herr, der Gast in der Pension war, fragte mich eines Tages, ob ich der Verfasser der Gedichte in der „Jugend“ wäre, und als ich es bejahte, meinte er, ich [pg 177]sollte nicht abseits von der aufstrebenden Bewegung bleiben und mich nicht bloß gelegentlich und so von außen her daran beteiligen.

Es war Graf Eduard Keyserling, der als Verfasser feiner, von leiser Ironie durchdrungener Werke bekannt geworden ist; recht bewundern lernte ich ihn viele Jahre später, als er in seiner schweren Krankheit, die zur Erblindung führte, eine Heiterkeit bewahrte, die nur aus Überlegenheit und Größe kommen konnte.

Die Stunden, die ich in anregenden Gesprächen mit dem geistreichen, im besten Sinne vornehmen Manne verbringen durfte, sind mir in lieber Erinnerung geblieben.

Den Umzug nach München wollte ich aber nicht übereilen; es war besser, in der Landpraxis noch fester Fuß zu fassen, und zudem hatte ich mit einem Universitätsfreunde die Verabredung getroffen, mit ihm gemeinsam die Kanzlei zu eröffnen.

So blieb ich noch ein Jahr in Dachau.

Eines Tages, im Frühjahr 1896, besuchte mich Redakteur Ritter und zeigte mir ziemlich aufgeregt ein illustriertes Blatt.

Das sei denn doch zu stark! Zu solchen Dingen solle man nicht schweigen, und wenn er auch nicht nach Polizei und Zensur schreie, so meine er doch, man müsse dagegen Stellung nehmen, und ich solle ihm den Gefallen tun, einen kräftigen Artikel gegen dieses neuzeitliche Gebilde zu schreiben.

[pg 178]

Ich sah mir das Blatt an. Es war die Nummer 1 des „Simplicissimus“. Eine Erzählung, „Die Fürstin Russalka“ von Frank Wedekind, hatte den guten Ritter in Harnisch gebracht.

Er war etwas gekränkt, als ich ihm sagte, daß ich seine Ansicht nicht teilen könnte.

 

Im Frühjahr 1897 kam der Abschied von Dachau; ich hatte doch das Gefühl, aus sicheren, wenn auch kleinen Verhältnissen heraus ins Ungewisse zu gehen, und so fiel es mir nicht leicht; noch schwerer freilich bedrückte es die alte Viktor, die es nicht verstehen wollte, warum ich mit meinem sorglosen, glücklichen Zustande nicht zufrieden war.

Es lag nicht in ihrer Art, darüber viele Worte zu machen, aber von ihren Spaziergängen im Hofgarten kehrte sie immer traurig zurück, und manchmal sah ich an ihren verweinten Augen, wie schwer ihr das Ende dieses bescheidenen Glückes fiel.

Noch dazu erlitten meine Münchner Pläne eine arge Störung durch die plötzliche Erkrankung und den Tod meiner Schwester, aber zurück konnte ich nicht mehr, und so begann ich recht freudlos und sorgenvoll die Tätigkeit in meiner Kanzlei am Marienplatze.

Ich mußte bald erkennen, wie schwer es für einen jungen Anfänger ist, in der großen Stadt durchzudringen; am Ende ist es unerläßliche Notwendigkeit, auf irgendeine Art aufzufallen.

[pg 179]

Wenn das Los der vielen, die es versuchen, nicht doch sehr bitter wäre, könnten die angewandten Mittel, die erfolgreichen wie die vergeblichen, komisch wirken.

Die marktschreierischen Volkstribunen, die sich um den Beifall im Zuschauerraum bemühten und das unwahrste Pathos in Bagatellsachen anwandten, waren arme Teufel, schon weil sie das tun mußten.

Mir bot die Praxis, die ich vom Lande hereingebracht hatte, einigen Halt, aber der Entschluß, sobald als möglich diese Tätigkeit aufzugeben, stand in mir fest.

Ein Freund vom Stammtische im „Herzl“, Rohrmüller, hatte mit zwei anderen Herren die Waldbauersche Buchhandlung in Passau gekauft und erklärte sich im Sommer 1897 bereit, meine Bauerngeschichten gesammelt herauszugeben und sie illustrieren zu lassen.

Ich wandte mich brieflich an Bruno Paul, dessen Zeichnungen im „Simplicissimus“ mir aufgefallen waren, und nach einer kurzen Unterredung sicherte er mir seine Mitarbeit zu.

Fürs Landschaftliche war Adolf Hölzel sogleich gewonnen, und nun begann für mich die sehr anregende Tätigkeit, die beiden Künstler zur Ausführung des Versprochenen anzuhalten.

Bei Bruno Paul stieß ich dabei auf größere Schwierigkeiten, denn er war von Korfiz Holm, dem damaligen Chefredakteur des „Simplicissimus“, stark in Anspruch genommen.

[pg 180]

Im Spätsommer setzte sich Paul nach Lauterbach bei Dachau, wo er im Oktober mit seinen Zeichnungen fertig wurde, so daß wir endlich darangehen konnten, das Buch zusammenzustellen. Dabei leistete uns Rudolf Wilke, den ich nicht lange vorher kennengelernt hatte, sachverständige Hilfe, und der Sonntag, an dem wir von früh bis abends Text und Bilder zusammenklebten, bleibt mir in fröhlichster Erinnerung.

Im Dezember war der „Agricola“ gedruckt, und ich konnte das erste Exemplar dem Fräulein Viktor Pröbstl widmen und überreichen, die es zeitlebens für das beste und vollkommenste Buch hielt trotz ihrer Hinneigung zu den Klassikern.

Ich gestehe, daß es für mich ein recht erhebendes und die Brust schwellendes Gefühl war, als ich bei Littauer am Odeonsplatze zum ersten Male mein Werk in der Auslage liegen sah.

Ich bin damals nicht ganz zufällig an allen größeren Buchhandlungen Münchens vorbeigebummelt, und meine Wertschätzung der Sortimenter richtete sich danach, ob sie den Agricola ausgestellt hatten.

Es kamen auch bald Kritiken, und merkwürdigerweise die anerkennendsten in norddeutschen Zeitungen; doch fehlte es in München keineswegs an freundlichem Beifalle, und M. G. Conrad sang mir in der „Gesellschaft“ ein klingendes Loblied.

Die nachhaltigsten Folgen hatte es für mich, daß ich durch die Arbeit am „Agricola“ mit dem „Simplicissimus“-Kreise bekannt wurde.

[pg 181]

Der Verleger Albert Langen lud mich eines Tages zu einer Unterredung ein.

Daß wir uns bei dieser ersten Begegnung gleich gefallen hätten, möchte ich nicht behaupten.

Der elegant gekleidete, mit dem gepflegten Vollbart recht pariserisch aussehende junge Herr war mir zu beweglich, sprang von einer Frage zur andern über, ohne recht auf Antwort zu warten, und leitete mir das Gespräch zu sehr von oben herab. Dabei prüften mich seine flinken Augen halb neugierig, halb mißtrauisch, und ich glaubte deutlich zu merken, daß er mich nach bekannter Manier ein bißchen unterwertig süddeutsch fand.

Weil ich das merkte, war ich schroffer und kratziger und kürzer angebunden, als es sonst meine Art war, und dieses erste Zusammentreffen endete, wenn auch nicht mit einem Mißklange, so doch mit dem Eindrucke, daß wir einander nicht viel zu sagen hätten.

Ich habe späterhin meine Ansicht über den gescheiten, heiteren und lebhaften Mann gründlich geändert, und mehr als einmal unterhielten wir uns über jene erste Begegnung, bei der ich ihn zu sehr als feinen Hund und reichen Jüngling betrachtet hatte.

Vielleicht haben ähnliche Urteile über ihn manche Verstimmung hervorgerufen; Frank Wedekind hat seinem Ärger bekanntlich in mehreren Theaterstücken Luft verschafft, aber er hat stark danebengegriffen und ist am Äußerlichen hängengeblieben.

[pg 182]

Über den Reichtum Langens war man sich in München einig, und Doktor Sigl schrieb in seinem „Bayrischen Vaterlande“ mehr bestimmt als unterrichtet von den Millionen des jungen Verlegers. In Wirklichkeit hat dieser den „Simplicissimus“ wie seinen Buchverlag mit den sehr bescheidenen Resten seines väterlichen Vermögens gegründet, und als die einen von seinen reichen Mitteln fabelten, andere wieder seine Zurückhaltung gegenüber kühnen Plänen oder hochgespannten Erwartungen für knauseriges Wesen hielten, war Langen mehr als einmal vor die Frage gestellt, ob er das Unternehmen noch länger halten könne.

Im Café Heck am Odeonsplatze trafen sich damals fast alle Künstler, die am „Simplicissimus“ und an der „Jugend“ mitarbeiteten: zuweilen Heine, regelmäßig aber Paul, Wilke, Thöny, Reznicek, Jank, Erler, Putz, Gröber, Eichler, Georgi, Feldbauer u. a.

Den stärksten Eindruck machte der damals vierundzwanzigjährige Rudolf Wilke aus Braunschweig auf mich. Er war von einer Unbekümmertheit, die beim Fehlen jeglicher Pose, bei gründlichen Kenntnissen und beim tiefsten Ernste in künstlerischen Dingen viel ansprechender wirkte als die von Murger geschilderte Sorglosigkeit der Pariser Bohemiens.

Er hätte ins elterliche Geschäft – sein Vater war Baumeister gewesen – eintreten sollen, war aber bald nach München gezogen, wo er bei Holossy studierte.

Er arbeitete zuerst für kleine illustrierte Münchner Blätter, bis ihn das Ergebnis des ersten Preisaus[pg 185]schreibens der „Jugend“ mit einem Schlage bekannt machte.

Auf der Jagd
Auf der Jagd

Charakteristisch für ihn war die Art, wie er sich an dem Wettbewerbe beteiligte. Er hatte das Ausschreiben übersehen oder den Termin verbummelt, setzte sich am letzten Tage hin und machte etwas ganz anderes, als vorgeschrieben war, aber seine Zeichnung war so verblüffend gut, daß Georg Hirth mit Zustimmung des Preisgerichtes einen weiteren ersten Preis stiftete, der ihm zugesprochen wurde.

Von da ab war er regelmäßiger Mitarbeiter der „Jugend“, bis er zum „Simplicissimus“ übertrat.

Er war von allen, die sich damals durchsetzten, sicher das stärkste Talent und übte einen sehr bemerkbaren Einfluß auf die ganze Richtung aus; er wurde nachempfunden und nachgeahmt, und am Ende hätten nur wenige bestreiten können, daß sie beim jungen Meister Rudolf Wilke in die Schule gegangen waren.

Er selber machte kein Wesen daraus, denn er wußte, daß er noch ganz anderes zu geben hatte; mochte er andern für fertig gelten, er selber arbeitete an sich weiter und reifte langsam heran, um dann von Reichtum überzuquellen.

Als er mühelos und selbstsicher das Beste schuf, mußte er sterben.

Mit ihm hat Deutschland einen großen Humoristen verloren; wer in dem Werke seines kurzen Lebens den überraschenden Aufstieg bemerkt und sich Rechenschaft darüber geben kann, wie diese liebevolle Schilderung [pg 186]des Komischen sich immer mehr vertiefte und immer mehr die gute Art der niederdeutschen Rasse zeigte, wer dieses stille, so gar nicht lärmende, aber doch erschütternde Lachen über die Schwächen der lieben Menschheit versteht, der weiß, welche Hoffnungen der Tod Rudolf Wilkes zerstört hat.

Auch als Persönlichkeit war er prachtvoll. Von der Gewandtheit und Kraft des hochgewachsenen Mannes wurde vieles erzählt, und kaum etwas war übertrieben; auf großen Radtouren, die wir zusammen machten, hatte ich oft Gelegenheit, mich über seine Tollkühnheit zu ärgern, aber auch immer wieder zu sehen, wie kaltblütig und selbstverständlich er jede gefährliche Situation überwand.

Schon wie er sich zu größeren Reisen anschickte, war bezeichnend für ihn; sogleich entschlossen, unbeschwert durch irgendwelche Rücksichten oder Verpflichtungen, unbekümmert um Länge der Fahrt und Dauer der Reise, setzte er sich mit in den Zug, und dann durfte es gehen, wohin es wollte.

Freilich konnte er einem dann beim ersten Frühstück in Mailand so nebenbei mitteilen, daß er ganz vergessen habe, Geld einzustecken. Einmal radelten er, Thöny und ich durch die Provence nach Marseille, setzten nach Algier über und fuhren über Constantine nach Biskra und Tunis.

Da war Wilke in seinem Element; seinetwegen hätte die Reise noch viele Monate dauern dürfen, und er hätte sicherlich nie gefragt, ob uns das Geld lange; [pg 187]wär’s ausgegangen, hätte man sich schon auf irgendeine Weise geholfen.

Unvergeßlich bleibt mir sein Entzücken über einen alten Araber, dem wir in der Nähe von Bougie begegneten; er ritt auf einem Maultiere, links und rechts neben sich einen Korb mit Orangen gefüllt, über sich einen großen Sonnenschirm aufgespannt, der kunstreich am Sattel befestigt war, und so saß der alte Herr vergnügt im Schatten, las in einem kleinen Buche und aß Orangen.

So was von kluger Art, zu reisen, so selbständig ausgedacht und frei von herkömmlichen Zwangszuständen, gefiel unserm Wilke derart, daß er vom Rad herunterstieg und eine Weile neben dem alten Kerl herlief, nur um ihn recht zu beobachten.

Er wußte überhaupt den würdevollen Gleichmut der Araber, von dem wir immer wieder Beweise erlebten, nicht genug zu rühmen, und das war leicht erklärlich, denn er war darin selbst ein Stück von ihnen.

Sein unbändiger Wandertrieb ließ ihn daheim besonderen Gefallen an landstreichenden Handwerksburschen finden.

An einem warmen Märztage, wo einen Ahnungen von wundervollem Sonnenschein und blauem Himmel zum Reisen verlocken, fuhr ich mit ihm auf der Landstraße nach Dachau an zwei walzenden Kunden vorbei, die, ihre schmutzigen Bündel umgehängt, ins Weite hineinmarschierten.

[pg 188]

Wir setzten uns auf einen Schotterhaufen und ließen sie noch einmal an uns vorbeistapfen.

„Die Kerle haben es doch am schönsten“, sagte Wilke mit ehrlichem Neide, und dann setzte er mir auseinander, wie es einzig weise sei, in den Tag hineinzuleben und von aller Konvention frei zu sein.

Jede Pose war ihm verhaßt, und jede sah er mit unbestechlichen Augen, auch wenn sie Leute von klingendem Namen zu verstecken suchten.

Damit war einer bei ihm sofort unten durch, und zuweilen, wenn sich uns gegenüber eine Berühmtheit wohlwollend gehen ließ, sagte Wilke, der Kerl sei doch bloß ein Hanswurst; zu dem Urteil genügte ihm irgendeine Selbstgefälligkeit im Ton oder in der Gebärde.

Das literarische Jung-München, das sich auch damals absurd gebärdete und sich bedeutender gab, als es war, bot ihm reichliche Gelegenheit zum Spotte; wenn er sich zuweilen mit übertriebener Bescheidenheit in der Torggelstube zu den Unsterblichen setzte, mit schüchternen Fragen Belehrungen anregte, ahnten die Gecken nicht, wie sehr sie die Gefoppten waren. Auch nicht, wie gründlich sie der harmlose Künstler durchschaute, und wie er ihre unmännliche Art verabscheute.

Sein ernsthaftes Wesen, das sich frei von Vorurteilen und Schulmeinungen in selbstgedachten Gedanken zeigte, trat sogleich hervor, wenn er über wirkliches Können urteilte.

[pg 189]

Er ging immer auf das Wesentliche ein und vermied auch Großem gegenüber die Banalität des Superlatives.

Ein hoher Genuß, der bleibende Erinnerungen zurückließ, war es, ihn über ein gutes Bild reden zu hören; es war nichts von Schulmeisterei, die klassifiziert und Zusammenhänge beweist, darin, es war bei aller Zurückhaltung die Meinung des großen Könners, dem tief verborgene, unbewußte Vorgänge des Schaffens klar vor Augen standen.

Auch über Bücher habe ich nicht leicht jemand so gut urteilen hören wie Rudolf Wilke; er las gerne und mit Auswahl, am liebsten gute Memoiren, die eine vergangene Zeit zum Leben erweckten; an die Freude, die er über Platons „Laches“ empfand, erinnere ich mich gerne.

Die ehrliche Gescheitheit des Sokrates, der jeden Begriff ins kleinste zerlegt und sein Eigentliches herausschält, der nie bloße Worte gelten läßt, keiner Schwierigkeit ausweicht, der nichts sich in den Nebel der Redensarten verlieren läßt, entzückte ihn, und gleich stand ihm der kluge Athenienser plastisch vor Augen, der sich von braven Spießbürgern zuerst hergebrachte Meinungen vortragen läßt, um sie dann bloß durch Fragen zu der unerquicklichen Erkenntnis zu bringen, daß sie weder etwas wirklich geglaubt, noch sich etwas gedacht hatten.

Er stellte Betrachtungen darüber an, wie uns heute die Kunst des geraden Denkens, aber auch das Ver[pg 190]langen danach durch die verfluchte Phrase verlorengegangen sei, und eifrig las er mir nach ein paar Seiten aus „Laches“ Proben aus dem Zarathustra vor, um daran zu zeigen, wie hoch wir das Spielen mit Worten und Stimmungen einschätzen. Natürlich sah Wilke als Maler nur in der echten Schilderung menschlicher Charaktere und der sich daraus folgerichtig aufbauenden Geschehnisse schriftstellerische Werte, und das Kokettieren mit hintersinnigen Gedanken und Weltschmerzen führte er auf künstlerische Impotenz zurück.

Ich erwähne das, um seine Stellung und damit wohl auch die andern Künstler zu den neuen Göttern zu kennzeichnen. Eigentlich bestand wenig oder kein Zusammenhang zwischen den literarischen und den künstlerischen Mitarbeitern der „Jugend“ und des „Simplicissimus“. Hirth versuchte ihn, wie mir erzählt wurde, in geselligen Zusammenkünften anzuregen, aber man fand aneinander kein übermäßiges Gefallen.

Die Herren Dichter fühlten sich wohler, wenn sie unter sich waren und sich mit ein bißchen Medisance und recht viel gegenseitiger Bewunderung die Zeit vertreiben konnten; natürlich gehörte dazu ein Auditorium von Jüngern und Jüngerinnen, die mit aufgerissenen Augen dasaßen und den Flügelschlag der neuen Zeit rauschen hörten.

In Schwabing trieb, wie erzählt wurde, der Kultus des Stephan George seltsame Blüten, und man sagte, der Dichter habe sich’s bei gelegentlicher Anwesenheit [pg 191]gefallen lassen, daß die Schwabinger Lämmer um ihn herumhüpften und ihn auf violetten Abendfesten anblökten. Andere vereinigten sich zu andern Gemeinden, und es wurden viele Altäre errichtet, auf denen genügend Weihrauch verbrannt wurde.

Das neue genialische Wesen brachte immerhin Leben und Bewegung nach München, und am Ende hatte es doch mehr Gehalt als das marktschreierische Getue der heutigen Talente, die jede Form verachten, die sie nicht beherrschen.

Viel Aufsehen erregte damals Frank Wedekind mit seinen Gedichten im „Simplicissimus“; sein „Frühlings Erwachen“ hatte ihm in literarischen Kreisen schon Geltung verschafft, aber das größere Publikum wurde erst durch seine geistreichen, zuweilen recht gepfefferten Verse auf ihn aufmerksam. Ein Gedicht auf die Palästinareise des Kaisers ist wegen seiner Folgen berühmt geworden, und Wedekind hat späterhin für die Bildung einer Legende gesorgt, die schmerzhaft klang, aber der Wahrheit nicht entsprach.

Ich kam damals täglich mit Wilke, Thöny und Paul zusammen und erlebte als Unbeteiligter die Geschichte der oft erzählten und auch für die Bühne bearbeiteten Majestätsbeleidigung.

Eines Mittags im Oktober 1898 suchte Korfiz Holm die Künstler des „Simplicissimus“ und mich im Parkhotel auf und zeigte mir den Korrekturabzug der späterhin vielgenannten Palästinanummer, weil ich den Text zu einer Zeichnung Pauls gemacht hatte. Wir [pg 192]lachten über das Titelbild Heines, das Gottfried von Bouillon und Barbarossa mit dem Tropenhelm Wilhelms zeigte, und dann las ich das Gedicht Wedekinds.

Darin war der Kaiser so direkt angegriffen, daß ich sagte, wenn die Verse nicht in letzter Stunde noch entfernt würden, sei die Beschlagnahme der Nummer und eine Verfolgung wegen Majestätsbeleidigung unausbleiblich.

Holm erklärte aber, das Gedicht sei von einer juristischen Autorität geprüft worden, und außerdem sei die Nummer schon im Drucke, so daß Änderungen nicht mehr möglich seien. Ich blieb auf meiner Ansicht stehen, aber am Ende war es Sache der Redaktion, ob sie die Strafverfolgung riskieren wollte oder nicht.

Die Nummer wurde sofort nach Erscheinen konfisziert; Albert Langen floh nach Zürich, Heine wurde nach Leipzig vorgeladen und dort in Untersuchungshaft genommen, späterhin auch zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Obwohl Wedekind das Gedicht unter einem Pseudonym hatte erscheinen lassen, konnte er sich doch nicht für gesichert halten, denn zu viele Leute kannten ihn als Verfasser. Eine andere Frage ist, ob er ehrenhalber nicht hätte hervortreten müssen, aber die Entscheidung darüber wurde ihm erspart, da die Polizei durch einen Übergriff des Leipziger Gerichtes hinter das Geheimnis kam. Wedekind wurde rechtzeitig gewarnt und floh von der Premiere seines „Erdgeistes“ weg in die Schweiz zu Langen.

[pg 193]

Daß er über die Aufdeckung seiner Autorschaft ungehalten war, läßt sich begreifen, aber ganz unverständlich bleibt der Vorwurf, den er später gegen Langen erhob: der habe ihn gezwungen, eine Majestätsbeleidigung zu dichten, indem er seine Notlage ausgenützt habe.

Wedekind war regelmäßiger Mitarbeiter des „Simplicissimus“ und konnte darauf rechnen, daß jeder Beitrag von ihm angenommen und anständig honoriert wurde. Von einem Zwange, ein bestimmtes Gedicht zu machen, konnte schon darum ebensowenig die Rede sein wie von einer Notlage. Der Hergang war auch ein anderer. Das Gedicht auf die Palästinafahrt war in seiner ersten Fassung so scharf, daß Albert Langen Bedenken trug, es aufzunehmen, und Änderungen verlangte. Wedekind, der es in der Redaktion mit Vaterfreuden vorgelesen hatte, wollte an die Milderung zuerst nicht heran und verstand sich nur mit Widerstreben dazu. Darum blieb auch die zweite Fassung noch so gepfeffert, daß Langen die Aufnahme vom Gutachten des Herrn Justizrat Rosenthal abhängig machte.

Der gab seinen Segen dazu, vielleicht etwas zu sehr beeinflußt durch das Vergnügen an der famosen Satire und dem formvollendeten Gedichte. Damit war das Unheil im Zuge und nahm seinen Lauf.

Die Gegner, an denen es dem „Simplicissimus“ nicht fehlen konnte, haben sich hinterher stark über planmäßige Majestätsbeleidigungen und geschäftliche Spe[pg 194]kulationen aufzuregen gewußt. Daß ein aus künstlerischen Gesichtspunkten geleitetes Witzblatt sich aufs Geschäftemachen nicht einlassen konnte, war am Ende leicht einzusehen; schwieriger mußte auch für kluge Leute in Deutschland die Erkenntnis sein, daß ein sich so sehr und in solchen Formen in den Vordergrund drängendes persönliches Regime ganz von selber die Satire herausforderte. Die unnahbare Höhe des Thrones mußte zu allererst von dem Herrscher selbst gewahrt werden. Wenn er in die Niederungen der Tagesstreitigkeiten bei jeder möglichen Gelegenheit herunterstieg, rief natürlicherweise dieser Widerspruch zwischen der eigenen Unverletzlichkeit und dem Vorbringen von anfechtbaren und verletzenden und sehr konventionellen Meinungen scharfe Entgegnungen hervor.

Als Repräsentant eines großen Volkes Polemik zu treiben, in alles und jedes dreinzureden, ging nicht an. Die aufdringliche Bewunderung, die auch groben Verstößen und Fehlern gegenüber an den Tag gelegt wurde, die Manier, jeden ehrlichen Unwillen über das gefährliche, vorlaute Wesen als vaterlandslose Gesinnung zu brandmarken, verschärften den Widerspruch und mehrten den Zorn, der sich – heute dürfen wir sagen leider – viel zu wenig Luft machte. Wäre das Ersuchen um geneigteste Zurückhaltung, das 1908 zu sehr in Moll gestellt wurde, zehn Jahre vorher von Parlament und Presse mit rücksichtsloser Entschiedenheit vertreten worden, dann hätte vieles anders und besser werden müssen.

[pg 195]

Es ist heute schwer, gerade weil es leicht ist, darüber große Reden zu halten; aber das wollte ich in diesem Zusammenhange sagen, daß jene angeblich planmäßigen Majestätsbeleidigungen bloß die Antworten auf planmäßige Herausforderungen waren. Dazu kam, daß der Ton, mit dem damals die Musik gemacht wurde, auf Künstler, denen die Persönlichkeit viel oder alles gilt, höchst aufreizend wirkte.

Die unechte Heldenpose, die einem so häufig vor Augen gestellt wurde, konnte nicht immer einem schweigenden Mißbehagen begegnen; es mußte sich äußern, und die Form des Spottes wirkte erlösender als schwerblütiger Tadel, denn er zeigte blitzartig, mit unwiderleglicher Schärfe das, worauf es ankam, und die ärgerliche Erkenntnis milderte sich durch die Möglichkeit, darüber herzhaft lachen zu können.

Spott untergräbt keine echte Autorität, weil er sie nicht treffen kann, aber dem auf Äußerlichkeiten ruhenden, konventionell festgehaltenen, dem übertriebenen und angemaßten Ansehen tut er Abbruch, und das ist nicht schädlich, denn treffender Spott heilt unklare Verstimmungen, indem er mit einem Worte, mit einer Geste die Ursachen des Unbehagens aufdeckt.

Im übrigen hätte ein von politischen Gehässigkeiten unangekränkeltes Empfinden sich wirklich darüber empören müssen, daß ein Künstler des „Simplicissimus“ für ein gutes Bild und ein Witzwort über die pompöse Reise nach Jerusalem zur Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt werden konnte. Diese brutale Ver[pg 196]gewaltigung als Antwort auf einen mit geistigen Waffen geführten Angriff war abscheulich.

Aber man nahm damals sogar einen Rechtsbruch und eine Verletzung der bayrischen Staatshoheit geduldig hin, weil es sich um Sühne für eine Majestätsbeleidigung, und auch, weil es sich um den „Simplicissimus“ handelte.

Der sächsische Untersuchungsrichter wollte noch mehr Schuldbeweise gegen den Künstler zusammenbringen und glaubte, daß eine gründliche Haussuchung in der Redaktion des „Simplicissimus“ Erfolg verspräche; allein, den bayrischen Behörden traute er nicht genug Eifer zu, und darum suchte er um die durch das Gesetz nachdrücklich verwehrte Erlaubnis nach, selber die Haussuchung vornehmen zu dürfen.

Der bayrische Justizminister ließ sich verblüffen und gab dem unverschämten Ansinnen nach; der sächsische Richter kam nach München, schnüffelte in allen Schränken und Schubladen herum und fand auch einen Brief, den er brauchen konnte.

Daß weder der Landtag noch die Presse gegen diese Gesetzwidrigkeit entschieden Stellung nahm, daß das Ministerium sich feige auf einen nicht anwendbaren Paragraphen berief, das alles war wirklich verächtlicher Byzantinismus.

Das Recht mißachtet, die Würde des Staates preisgegeben, um das Ansehen eines Monarchen gegen ein Witzwort zu wahren.

[pg 197]

Je intensiver mein Verkehr mit den Künstlern wurde, desto lebhafter wurde in mir der Wunsch, mit ihnen zusammenzuarbeiten, alle meine Interessen gingen darin auf, und eine immer stärkere Unlust am anwaltschaftlichen Berufe drückte schwer auf mich.

Aber noch sah ich keinen Weg, der ins Freie führte. Das Heim, das ich der alten Viktor und meiner jüngsten Schwester geboten hatte, mußte ich erhalten, und ich konnte nicht darauf rechnen, daß schriftstellerische Arbeit mir diese Möglichkeit gewährte. Ich schrieb wohl einige Erzählungen für den „Simplicissimus“, die gefielen, aber das gab mir, wie ich mir selbst gestehen mußte, noch lange nicht das Recht, darin Sicherheiten für die Zukunft zu sehen.

Frühling und Sommer 1899 waren darum recht unerquicklich für mich; ich plagte mich ab mit der Sehnsucht nach einem anderen, so viel reicheren Leben und mit den Bedenken, die gegen einen raschen Schritt sprachen.

Ich ging daran, ein Lustspiel zu schreiben, das auch im Laufe des Jahres fertig wurde, den Titel „Witwen“ führte und gottlob nicht aufgeführt wurde.

Die Genugtuung darüber empfinde ich heute nicht deshalb, weil das Lustspiel nach alten Mustern auf Verwechslungen aufgebaut war, sondern weil die Ablehnung heilsam für mich wurde.

Der Oberregisseur Savits, der mir von einem Ferienaufenthalte in Seebruck her befreundet war, las die Komödie und erklärte mir bei der Unterredung im [pg 198]Regiezimmer des Hoftheaters, das ich mit Herzklopfen und auch mit frohen Erwartungen betrat, daß dieses Ei keinen Dotter habe.

Es seien ganz nette Sachen darin, sogar eine famose Szene zwischen einem Bauern und dem Anwaltsbuchhalter, aber das lange nicht, und kurz und gut, das Ei habe keinen Dotter, und er rate mir, es zurückzuziehen.

Ich erlebte ein paar bittere Tage, grollte über Verkennung und fand nach reiflichem Nachdenken, daß Savits recht hatte.

Ich war zu tief im Milieu gesteckt, hatte nach eigenen Erlebnissen und Stimmungen und nach Modellen gearbeitet. Dabei blieb ich im Gestrüpp.

Damals aber, im Sommer 1899, saß ich gläubig am Schreibtische, freute mich, wenn die Handlung vorwärts schritt, und sah hinter grauen Wolken ein Stück blauen Himmel. Wenn der Lärm unter meiner Kanzlei am Promenadenplatze allmählich verstummte, legte ich die mich immer mehr langweilenden Akten beiseite und holte aus der Schublade das Manuskript der „Witwen“ hervor, um bis in die tiefe Nacht hinein zu sinnieren und zu schreiben. Dann traten mir aus den sich kräuselnden Tabakwolken Bilder einer freundlichen Zukunft entgegen, und oft überwältigten sie mich so, daß ich aufsprang und im Zimmer auf und ab lief und laute Selbstgespräche führte.

Die alte Viktor saß im Zimmer daneben, hörte das Gemurmel mit sorglichen und von Hochachtung erfüllten Empfindungen an, denn sie wußte, daß ich ein Lust[pg 199]spiel dichtete, und für sie gab es keinen Zweifel, daß es prachtvoll werden müsse.

Vielleicht knüpfte auch sie einige Hoffnungen daran auf Rückkehr zum Landleben, aus dem Lärm heraus zur Stille.

Oft höre ich noch heute die tiefen Schläge der Domuhr, die von den Frauentürmen herunter über den Platz dröhnten, und ich erinnere mich daran, wie oft ich mit heißem Kopfe am offenen Fenster stand und in die Nacht hinaussah.

Wieder war eine Szene fertig, es wollte sich runden und wollte werden, und vor mir lag die ersehnte Freiheit.

Dann klang aus der Ferne die leise Stimme meiner Mutter herüber: „Es wird noch alles recht werden.“

 

Die Erlösung kam unerwartet und auf andere Weise, als ich geträumt hatte. Eines Tages, es war im September 1899, sprach mich ein Rechtsanwalt, der meine geheimen Wünsche erraten hatte, daraufhin an und erbot sich, meine Praxis gegen eine runde Summe zu übernehmen.

Ich konnte nicht sofort zusagen und sprach darüber mit meinem Rechtskonzipienten, der mir nachdenklich schweigend zuhörte und mich am folgenden Tag um eine Unterredung ersuchte.

Er bat mich dabei, nicht jenem Anwalt, sondern ihm unter den gleichen Bedingungen die Praxis abzutreten.

[pg 200]

Jetzt besann ich mich nicht mehr lange, und schon am nächsten Tage schlossen wir den Vertrag ab, der mir überraschend schnell die Freiheit verschaffte.

Gleichzeitig traf es sich, daß in Allershausen bei Freising, wo sich eine Schwester von mir kürzlich verheiratet hatte, ein kleines Haus um billiges Geld zu mieten war.

Ich machte Viktor den Vorschlag, mit meiner andern Schwester dorthin zu ziehen, und versprach, möglichst oft hinauszukommen; die bescheidenen Mittel, die beide zum Leben brauchten, getraute ich mich aufzubringen, da mir nunmehr auch Langen ein monatliches Fixum für regelmäßige Mitarbeit am „Simplicissimus“ zugesagt hatte.

Ich selber mietete ein paar unmöblierte Zimmer in der Lerchenfeldstraße und war nun auf wenig gestellt, aber frei wie ein Vogel, und wohl nie mehr habe ich mich so glücklich gefühlt wie in jenen ersten Wochen, als ich eifrig an meinem Lustspiele schrieb, an keine Zeit und keine Pflicht gebunden war und mir auf Spaziergängen im Englischen Garten ausmalte, wie unbändig schön es erst nach einem Erfolge werden würde.

Dann kam freilich die betrübliche Erkenntnis, daß das Ei keinen Dotter hatte, aber bald trug ich den Kopf wieder hoch, und nach dem tiefen Eindrucke, den eine Bauernhochzeit in Allershausen auf mich gemacht hatte, schrieb ich „Die Hochzeit“ und daran anschließend ein Lustspiel „Die Medaille“.

[pg 201]

In der Zwischenzeit war ich auch in die Redaktion des „Simplicissimus“ eingetreten.

Der Kongreß der Mitarbeiter, auf dem der Beschluß gefaßt wurde, fand in der Schweiz statt, in Rorschach am Bodensee, weil Langen deutschen Boden nicht betreten durfte.

Fünf Jahre lang mußte er im Ausland bleiben, bis er 1903 durch Vermittlung eines mächtigen Herrn in Sachsen nach Hinterlegung einer beträchtlichen Summe außer Verfolgung gesetzt wurde.

Was es für den rührigen, etwas zappeligen Mann bedeutete, sein junges Unternehmen im Stiche lassen zu müssen, kann man sich denken, und schon darum kennzeichnet sich die Behauptung, daß er zu geschäftlicher Förderung eine Majestätsbeleidigung von Wedekind erzwungen habe, als sinnloses Geschwätz.

Es ist ihm ein Vorwurf daraus gemacht worden, daß er sich nicht dem Strafrichter gestellt habe, und es gab dafür eine klingende Redensart, daß er nicht den Mut gehabt habe, die Folgen seiner Handlung zu tragen.

Es gehört aber neben Mut auch kräftige Gesundheit dazu, sich ein halbes Jahr einsperren zu lassen, und die fehlte Langen, der damals an starken nervösen Kopfschmerzen litt.

Wir haben in den folgenden Jahren noch manche Zusammenkunft in Zürich gehabt, und es war unschwer zu sehen, wie sehr die Trennung von Geschäft und Tätigkeit Langen bedrückte.

[pg 202]

In der Redaktion des „Simplicissimus“ hatte ich neben Reinhold Geheeb eine anregende Tätigkeit, die mir zusagte und die mir stets Zeit zu eigenen Arbeiten ließ.

Von maßgebendem Einflusse auf den Inhalt der einzelnen Nummern war von den Künstlern immer Th. Th. Heine, der häufig in die Redaktion kam, sich mit uns beriet und Anregungen gab.

Die andern, Paul, Thöny, Wilke, Reznicek zeichneten entweder nach Laune und Einfall, was ihnen gerade zusagte, oder sie übernahmen es, einen vereinbarten Text zu illustrieren. Redaktionssitzungen, an denen alle Künstler teilnahmen, wurden erst später nach Langens Rückkehr abgehalten.

Wilhelm Schulz hielt sich noch in Berlin auf, und der Verkehr mit ihm blieb aufs Schriftliche beschränkt; J. B. Engl machte selber die Texte zu seinen Zeichnungen.

Von literarischen Mitarbeitern sah man zuweilen Bierbaum, Falkenberg, Gumppenberg, Greiner, ziemlich häufig Holitscher.

Hier und da kam ein junger Mann in der Uniform eines bayrischen Infanteristen, trug einen Stoß Manuskripte, die er für den Verlag geprüft hatte, bei sich und übergab der Redaktion ab und zu Beiträge; er war sehr zurückhaltend, sehr gemessen im Ton, und man erzählte von ihm, daß er an einem Roman arbeite. Der Infanterist hieß Thomas Mann, und der Roman erschien später unter dem Titel „Buddenbrooks“.

[pg 203]

Mit den literarischen Vereinen kam ich nicht in Fühlung, ebensowenig mit den engeren Zirkeln um Halbe, Ruederer u. a.

Otto Erich Hartleben lernte ich in einer Gesellschaft kennen; er gab von Zeit zu Zeit Gastrollen in München, und man hörte nach seiner Abreise Erzählungen von endlosen Kneipgelagen, die von fröhlichen Philistern, die sich was darauf zugute taten, noch gehörig übertrieben wurden.

Er hatte was vom alten Studenten an sich, auch ein bißchen was vom gefeierten Genie, um das sich Kreise bilden, aber wenn er nach einer Weile die Geste beiseite ließ, konnte man sich an dem Frohsinn des hochbegabten, warmherzigen Menschen erfreuen. Zuletzt traf ich ihn in Florenz, im Frühjahr 1903, aufgelegt wie immer zum Schwärmen und Pokulieren, aber jede fröhliche Stunde mußte er mit körperlichen Schmerzen bezahlen, und er sah recht verfallen aus.

Bald nach meinem Eintritt in die Redaktion des „Simplicissimus“ lernte ich Björnstjerne Björnson kennen.

Das heißt, um es respektvoller auszudrücken, ich wurde ihm vorgestellt, und er hatte die Güte, mir etwas Wohlwollendes über ein paar Gedichte zu sagen.

Er gehörte zu den Männern, die körperlich größer aussehen, als sie sind, und die man stets über andere wegragen sieht; in der größten Gesellschaft mußte sogleich der Blick auf ihn fallen, und das wußte er und hielt was darauf. Er sah imponierend aus mit seiner geraden [pg 204]Haltung, mit den blitzenden Augen unter buschigen Brauen, die ein bißchen über die kleinere Menschheit wegsahen, mit den schlohweißen Haaren auf dem stolz getragenen Haupte. Im Gespräche mit uns war er so was wie wohlaffektionierter König, aber er konnte auch aus sich herausgehen und derb und herzlich lachen.

Wer bei ihm zu Besuch in Aulestad gewesen war, rühmte seine zwanglose Gastfreundschaft; hier in München war er schon etwas Vertreter einer fremden Großmacht und kritisch und mißtrauisch gegen den Unteroffiziersgeist, den er diesseits der schwarzweißroten Pfähle witterte. Damals war er auf Deutschland gut zu sprechen und hielt uns für bildungs- und besserungsfähig. „Über unsere Kraft“ hatte in Berlin volles Verständnis gefunden, und viele Angehörige der preußischen Nation schrieben sich die Finger schwarz über die tiefen Probleme des ersten wie des zweiten Teiles, und so sah Björnson, daß sie auf dem rechten Wege waren und sich zu einigem Werte durchringen konnten.

Immer leidenschaftlich, setzte er sich ganz für eine Sache ein und ließ am Widerparte gar nichts gelten; er besaß im höchsten Maß die Gabe, nur die eine Seite zu sehen, und war darum ein erfolgreicher Parteiführer und nebenher ein glänzender Journalist; alles sah er aus bestimmten Gesichtswinkeln und ordnete es seinem Systeme ein.

Ich besuchte einmal um Ostern 1904 mit ihm das Forum in Rom.

Professor Boni begrüßte den illustren Gast [pg 205]aus Norwegen mit romanischer Höflichkeit und würdevoller Devotion und machte selbst den Führer.

Wilke und ich gingen hinterdrein.

Als Boni, den die vom preußischen Unteroffiziersgeist angekränkelten deutschen Gelehrten für einen Scharlatan halten, unter anderem sagte, die Auffindung eines Altars hätte ihn zu der Überzeugung gebracht, daß die Plebejer eine andere Religion als die Patrizier gehabt hätten, daß sie überhaupt eine fremde, von den Römern unterjochte Nation gewesen seien, war Björnson über diese neuen, großen Gesichtspunkte begeistert, denn mit unterdrückten Völkern hielt er es immer.

Auf dem Heimwege fragte er mich, ob ich ihm kein gutes Buch über römische Geschichte nennen könne, „aber“, fügte er bei, „bleiben Sie mir weg mit diesen deutschen Gelehrten, mit Ihrem Mommsen! Es muß so sein, wie es Boni darstellte.“

Ich erwiderte etwas schnoddrig, daß meines Wissens in Deutschland kein derartiger Bockmist gedruckt worden sei.

Einen Augenblick war er verdutzt, dann brach er in ein schallendes Gelächter aus, und daheim rief er gleich seine herzensgute Frau Karoline herbei und erzählte ihr, daß der „onverschämte Kärl“ die Erklärungen des prächtigen Professors Boni einen Bockmist genannt habe.

Einmal, als ich ihn in der Via Gregoriana besuchte, kam sein Enkel Arne Langen ins Zimmer und stellte [pg 206]sich ans Fenster. Man hatte von da aus einen wundervollen Blick auf die Peterskirche, und plötzlich rief der kleine Arne, auf die mächtige Kuppel deutend: „Großpapa, wer wohnt dort?“

„Da wohnt niemand“, erwiderte Björnson sehr ernst.

„O ja! Da wohnt der liebe Gott!“

„Onsinn! Wer hat dir das gesagt? Das war wieder dieser preußische Unteroffizier ...“ Björnson wurde ernstlich böse auf die deutsche Erzieherin, die seinen beiden Enkeln solche Märchen erzählte und die ihm überhaupt viel zu korrekt und, wie er es nannte, zu preußisch war.

Bekannt ist seine leidenschaftliche Anteilnahme am Schicksale von Dreyfus; ihm teilte sich die Menschheit eine Zeitlang nur in edle, lichte Freunde des Unschuldigen und in pechrabenschwarze Anti-Dreyfusards. Björnson weilte in Paris bei Langen, als Dreyfus auf freien Fuß gesetzt wurde, und er beeilte sich, dem Märtyrer seine Sympathien mündlich kundzugeben.

Wie mir erzählt wurde, war er von der Zusammenkunft stark enttäuscht; der berühmteste Prozeßmann Europas soll sich als recht trockener Spießbürger gezeigt haben, der für die Opfer, die ihm von einzelnen, insbesondere von Picquart, gebracht worden waren, kaum Verständnis bewies.

Jedenfalls hat er durch seine dürftige Art dem großen skandinavischen Gönner die weltgeschichtliche Szene verdorben.

[pg 207]

Mir hat Björnson im Laufe der Jahre seine freundliche Gesinnung bewahrt und zuweilen bewiesen. Als ich vom Landgerichte Stuttgart wegen Beleidigung einiger Sittlichkeitsapostel verurteilt worden war, legte er beim König von Württemberg Protest gegen die Strafe ein.

Um aber begnadigt zu werden, hätte ich selber ein Gesuch einreichen müssen, und das konnte ich aus begreiflichen Gründen nicht tun.

 

In der neuen Tätigkeit, die mir immer als begehrenswert erschienen war, fühlte ich mich glücklich.

Sehr viel trug dazu die freie Art bei, in der jeder einzelne seiner Verpflichtung nachkam und in der alle die gemeinsame Aufgabe erfüllten.

Wir standen als angehende Dreißiger fast alle im gleichen Alter, hatten keinen Willen als den eigenen zur Richtschnur und handelten nur nach Gesetzen, die wir uns selbst im Interesse der Sache auferlegten.

Es gab keinen Chef, dessen Meinungen oder Wünsche zu berücksichtigen waren; es gab keine äußerliche, außerhalb des Könnens und der Förderung des Ganzen liegende Autorität; die ruhte auf Persönlichkeit und Leistung.

Der kameradschaftliche Ton, in dem wir miteinander verkehrten, führte keineswegs zur nachsichtigen Beurteilung eines Beitrages; Duldung auf Gegenseitigkeit gab es nicht, und wir blieben freimütig im Urteile [pg 208]gegeneinander. Anerkennung drückte sich am besten in herzhaftem Lachen aus, Bewundern und Anhimmeln unterblieben. Es war eine reizvolle Arbeit, die wir zwanglos, fast spielend erledigten, und bei dieser unbekümmerten Beschäftigung mit den Zeitereignissen, die wir, allen Parteidoktrinen abgeneigt, vom gemeinsamen künstlerischen Standpunkte aus beurteilten, hielten wir uns frei von Pathos und dünkelhafter Theorie.

Natürlich war uns die ziemlich weitgreifende Wirkung unserer Äußerungen nicht gleichgültig, aber dabei machte uns die sich in Phrasen austobende Entrüstung der Gegner viel mehr Spaß als die Zustimmung der Anhänger. Die aufgestörten Philister wollten den Kampf gegen Spott mit sehr plumpen Mitteln geführt haben, mit Einsperren, mit Boykott, mit Konfiskation, mit Bahnhofsverboten usw.

Katholische und protestantische Geistliche gingen in die Buchhändlerläden, verlangten Entfernung des „Simplicissimus“ aus den Schaufenstern oder wollten den Vertrieb verbieten; Ministern, Polizeipräsidenten, Staatsanwälten, sogar Richtern kam es nicht darauf an, gesetzliche Bestimmungen zu umgehen oder zu verletzen, um das gehaßte, zum mindesten für verderblich gehaltene Witzblatt zu unterdrücken oder zu schädigen.

Ich sah in der stets in Superlativen schwelgenden Entrüstung den Beweis dafür, wie aus Phrasen sehr bald verlogene Empfindungen werden, und wie sie gesundes Denken und Selbstsicherheit vernichten.

Es war ein Krankheitsprozeß.

[pg 209]

Das deutsche Volk hat in seiner gelassenen Art immer Selbstkritik geübt und ertragen, damals aber versuchten die Übereifrigen es zur gereizten Empfindlichkeit aufzustacheln.

Einrichtungen, deren Nutzen und Wert kein vernünftiger Mensch bestritt, wurden gemeinsam mit Mißbräuchen als heiligste Güter für unantastbar erklärt, ganze Stände waren erhaben über Kritik und noch erhabener über den Witz.

Von Umsturzgedanken und fanatischen Theorien war im Kreise der jungen lebensfrohen Künstler nichts zu finden, aber auch nichts von ängstlicher Zurückhaltung, wenn es galt, einem Unfug oder einer Anmaßung entgegenzutreten.

Der Satire bot sich damals ein besonderes Angriffsziel in einer Bewegung, die angeblich auf Hebung der Sittlichkeit gerichtet war.

Man erklärte das deutsche Volk für im sittlichen Niedergange begriffen, donnerte über körperliche und moralische Verderbnis und sah vor lauter germanischen Idealen die Tatsache nicht, daß diese heranwachsende Jugend ernster, strebsamer, tüchtiger war als die einer früheren Zeit, daß sie sich von alten Mißständen, vom hochmütigen Kastengeiste wie vom verderblichen Saufen abgewandt hatte und körperliche Tüchtigkeit in viel höherem Maße zu schätzen begann.

Und in der Freude an tönenden Redensarten schenkte man sich die härtere und doch allein Erfolg versprechende [pg 210]Arbeit, gegen die Ursachen sittlicher Schäden vorzugehen.

Die lagen in sozialen Mißständen, in Armut, in Ausbeutung, in der Wohnungsnot u. a. viel tiefer begründet als etwa in der Ausstellung einer Nudität im Schaufenster.

Es war selbstverständlich, daß die Orthodoxen beider Konfessionen mit Begeisterung an der Bewegung teilnahmen und sie gehörig ausnutzten.

Die Regierung ging täppisch, wie so oft, auf die moralischen und staatserhaltenden Bestrebungen ein, und es kam zur Vorlage der berüchtigten Lex Heinze.

Den Namen leitete sie von einem Berliner Kupplerprozesse her, aber ihre Tendenz richtete sich weniger gegen großstädtische Übelstände als gegen eine unbequeme Freiheit der Presse.

In Süddeutschland waren es nicht zuletzt die beiden jungen Wochenschriften „Jugend“ und „Simplicissimus“, die den ultramontanen Eifer für scharfe Gesetze wachriefen und nährten.

So war es auch ein Kampf um die eigene Existenz, wenn sie gegen die offenen und noch mehr gegen die heimlichen Bestrebungen der reaktionären Parteien losschlugen.

Diffizile non erat, satiram scribere.

Wie da zarteste Dinge vor die Öffentlichkeit gezerrt und angegrinst wurden, wie sich wohllebige Männer als Tugendhelden aufs Podium stellten, wie man in schmalzigen Redensarten schwelgte und wiederum mit [pg 211]rohem Unverstande auf künstlerischem Empfinden herumtrampelte, das alles forderte den schärfsten Spott heraus.

Es kam dann auch zu großen organisierten Widerständen, und in München wurde auf Anregung Max Halbes der Goethe-Bund aller Freunde künstlerischer Freiheit gegründet.

Es ging ein frischer Zug, an den man sich gerne erinnern darf, durch jene Versammlung im Münchner Kindl-Keller, in der die Gründung beschlossen wurde.

Und wo Georg Hirth und M. G. Conrad gegen Muckerei und Schnüffelei vom Leder zogen, da durfte man sicher sein, daß es scharfe Hiebe absetzte.

Die Lex Heinze fiel, aber das Bedürfnis nach übersteigerter „Sittlichkeit“ blieb erhalten, ebenso wie die Sehnsucht nach Unterdrückung unangenehmer Geister.

Von dem Hasse, den dieses Sehnen wachrief, richtete sich ein herzhafter Teil gegen den „Simplicissimus“, dessen Mitarbeiter sich nicht zum wehleidigen Dulden verstanden.

Zwischen damals und heute, 1919, liegen Ereignisse, die Kaffeehausliteraten zu Leitern des Staatswesens machten und die es vielen Bewunderern und Verfechtern des früheren Systems ratsam erscheinen ließen, es nunmehr zu verdammen.

Glückselig pries sich, wer während des Krieges den Opfermut des eigenen Volkes nicht allzu laut bewundert hatte, Gott ähnlich war, wer ein paar internationale Seufzer losgelassen hatte.

[pg 212]

Jämmerliche Hanswurste stellten sich im Niedergange des Vaterlandes entzückt von Freiheit und Menschlichkeit, und niemand hatte mehr Anspruch auf Bewunderung des Volkes als der große Pessimist, der als erster vor allen andern am glücklichen Ausgange gezweifelt hatte.

Wie schnell hat sich das Bürgertum in den Untergang der heiligsten Güter gefunden, wie hat es sie widerstandslos aufgegeben!

Selbstgeschaffene, mit nüchternem Sinne für notwendig erkannte Einrichtungen, an denen man tätigen Anteil gehabt hätte, wären wohl anders verteidigt worden; so aber gerieten durch den im Kriege übermächtig gewordenen Haß gegen die Verlogenheit gezüchteter Begriffe die inneren Lebenskräfte miteinander in Kampf.

Ein wohlgegliederter, gewordener Organismus, in dem eines das andere unterstützte, wurde durch die Theorie zerstört.

Mögen Schwätzer ein System, das allerdings noch auszubauen war, verdammen, wir waren mächtig unter ihm und wären glücklich geworden, wenn man es auf breite Fundamente gestellt hätte.

Deutschland war in den Sattel gesetzt, aber reiten hat es nicht können; es überließ die Führung unsicheren Händen.

Dünkelhafter Dilettantismus hat die Möglichkeit unseres Unterganges geschaffen.

Keiner von uns war so weitblickend, die letzten Fol[pg 213]gen der operettenhaft geführten Politik vorauszusehen, aber ihre Lächerlichkeit erkannten wir, und hinter dem Spotte über große Worte und Gesten steckte ein lebhafter Unmut. War es nicht natürlich, daß sich gerade Künstler am schärfsten gegen die Stillosigkeit der pompösen Aufmachung wandten?

 

Die alte Viktor konnte mein ferneres Wirken nur aus der Ferne betrachten, und zuweilen meinte sie seufzend, daß ich zu übermütig wäre, aber, wenn sie ängstlich darüber sprach, tröstete sie der gute Pfarrherr von Allershausen, der lustig auffaßte, was lustig gemeint war.

Oft suchte ich das kleine Haus an der Amper auf und nahm teil an dem stillen Glück, das die Alte hier gefunden hatte.

Ein Garten, dem sie Sorgfalt erwies, ein paar kleine Zimmer, deren schönster Schmuck ihre peinliche Sauberkeit war, das war die Welt, in der sie sich wohl fühlte und von der aus auch auf mich eine Fülle von Behagen überging.

Kam ich unangemeldet, so schmollte sie ein wenig, denn sie wollte, daß mein Besuch mit guten Dingen gefeiert würde. Ein frisch gebackener Kaffeezopf gehörte auf den Tisch, und in der Küche mußte sie geheimnisvoll rumoren, um fröhlich lächelnd eine Lieblingsspeise aufzutragen. Dann saß sie mir gegenüber und hörte aufmerksam zu, wenn ich von meinem Leben berichtete. Es schien sich zum Guten zu wenden, aber – aber.

[pg 214]

Da waren doch neulich recht unehrerbietige Verse im „Simplicissimus“ gestanden, und wenn sie auch wußte, daß es nicht so schlimm gemeint war, was sollten die Leute von mir denken, die mich nicht kannten?

In solchen Fällen ergriff der Herr Pfarrer, der als lieber Gast dabei saß, meine Partei und führte aus, daß man nicht immer fein sein könne. Er war noch aus der alten Schule, die keine Zeloten erzog; er stand nicht außerhalb der Welt, in der er wirkte, sondern mit tüchtigem Verstande mitten drin. Er kannte die Bauern und verstand seine Aufgabe, in ihnen den ererbten Sinn für tätiges Leben und ehrbare Sitte wach zu erhalten. Wie sie, mochte er kein übertriebenes Wesen leiden, er war fröhlich mit ihnen, ohne seinem Stande etwas zu vergeben, er hatte volles Verständnis für ihre Vorzüge und Fehler und zeigte sich nie empört über natürliches Geschehen. In ernsten Dingen bewahrte er Ruhe, und kleine Schmerzen heilte er am liebsten mit einem Scherzworte.

Viktor schätzte ihn sehr hoch, und auch er hatte seine Freude an ihrer braven Art.

Immer bezeigte er ihr freundschaftliche Anteilnahme und holte sie, wenn es irgend ging, zum Spaziergange ab.

Er neckte sie gerne mit ihrer Zuneigung zu mir, und als ich das erstemal nach Allershausen kam, erklärte er mir lachend, daß die Vorstellung eigentlich überflüssig wäre, denn er hätte mich in- und auswendig [pg 215]kennengelernt aus den erschöpfenden Mitteilungen des Fräuleins Viktor Pröbstl.

Eine Unterbrechung des Stillebens wurde durch die Heimkehr meines ältesten Bruders herbeigeführt.

Er kam mit seiner Frau und seinen vier Buben von Australien herüber; und regte schon das Wiedersehen nach der langen Zeit die Gemüter auf, so brachte die fremde Art der Frau wie der Kinder allerlei Unruhe in das kleine Haus.

Die Buben, der älteste zwölf, der jüngste über drei Jahre alt, hatten sich in Katoomba in den blauen Bergen nicht das geringste Verständnis für europäisches Ruhebedürfnis angeeignet.

Ich glaube nicht, daß sie eine Viertelstunde am Tage still waren, und Frau Jenny schien nur dann an die volle Gesundheit der Kinder zu glauben, wenn sich die Stimmen von allen vier laut und deutlich vernehmbar machten. Sie selbst, eine Engländerin aus der Kolonie, war eine sympathische, stille Frau, und es war unschwer zu sehen, daß sie in glücklicher Harmonie mit meinem Bruder lebte. Aber wenn sich Frauen schon überhaupt nicht allzu leicht verstehen, so konnte sich eine herzliche Neigung zwischen hausbackener Schongauer Art und Australiertum erst recht nicht entwickeln.

Es war zwischen ihnen ein kleiner, stiller Krieg, den zwar Gutherzigkeit und Takt auf beiden Seiten nicht zum Ausbruche kommen ließen, aber der eben doch da war, der in der Luft lag und die Temperatur herunterdrückte.

[pg 216]

Meine Schwägerin gehörte einer strengen protestantischen Sekte an, die jeglichen Bilderdienst verabscheut, und als sie in ihrem Zimmer ein Ammergauer Kruzifix bemerken mußte, schlug sie zwar keinen Lärm, aber sie verhüllte den Heiland mit einer Nachtjacke.

Viktor war nicht unduldsam, ihr Katholizismus vertrug sich schlecht und recht mit liberalen Neigungen, aber diese Lieblosigkeit gegen ein Kruzifix, das jahrelang im Risser Forsthause gehangen hatte, ertrug sie nicht; sie befreite es schweigend von der Hülle, nahm es an sich und trug es in ihr Zimmer.

Dabei mochten ihre Blicke und der Auftakt ihrer Schritte Empörung verraten haben, jedenfalls hatte diese Szene so etwas vom Zerschneiden des Tischtuches zwischen den beiden Weiblichkeiten an sich.

Die Neigung Jennys für lärmende Kinderstimmen teilte die Alte nicht; vermutlich hatte sie mein Geschrei dereinst liebevoll ertragen, und die Wiederholung von Brüllen und Quäken wäre ihr nach der langen Pause erträglich und nett vorgekommen, wenn es sich um Kinder von mir gehandelt hätte, aber der Milderungsgrund lag nicht vor. Sie sah und hörte die australischen Spiele ohne die Nachsicht, deren sie dringend bedurft hätten, und am Ende war die gute Alte wirklich zu jäh aus einer schönen Ruhe gestört worden. Sie beklagte sich nicht, wenn ich hinauskam, aber ich las in ihren Augen die stumme Frage, ob es denn wirklich für immer zu Ende sei mit den stillen, schönen Tagen.

[pg 217]

Das und ein paar andere Beobachtungen ließen mir eine schleunige Änderung wünschenswert erscheinen.

Denn auch an meinem Bruder bemerkte ich ein seltsames Unbehagen.

Seit Jahren war es sein brennender Wunsch gewesen, wieder nach Deutschland zurückkehren zu dürfen.

Nun war er ihm erfüllt, und er mußte die schmerzliche Erfahrung an sich selber machen, daß ihm die Heimat fremd geworden war.

Hätte er gleich befriedigende Tätigkeit gefunden, so wäre alles anders und besser gewesen, aber die Erkenntnis, wie schwer es in den festgefügten, ihm gar zu systematisch geordneten Verhältnissen sei, als Mann von zweiundvierzig Jahren von vorne anzufangen, fiel ihm schon gleich schwer aufs Herz. Dazu kam eine Frage, die in den Kolonien kaum aufgetaucht wäre: Was sollte aus den Buben werden?

Drüben war Platz für kräftige Jugend, und es hätte keiner weit ausschauenden Vorbereitung bedurft, um vier gesunden Buben ein Auskommen zu verschaffen.

Drüben gab es keine konventionelle Verpflichtung, die schon in Knabenjahren zur Wahl zwischen höheren und niederen Berufen zwang.

Drüben gab es Arbeit für starke Arme; und langte es weiter, dann ging es auch weiter.

In Deutschland aber stand schon vor dem Abcschützen die große Frage: Was willst du werden?

Studieren oder dich gleich mit Geringerem bescheiden?

[pg 218]

Private Stellung oder den sicheren Staatsdienst wählen?

Beim Ältesten, der zwölf Jahre alt war, brannte es eigentlich schon auf den Nägeln.

Wer immer in dem sich gleichmäßig drehenden Kreise blieb, dessen Leben drehte sich mit, wer aber hinausgetreten war, kam kaum mehr hinein.

Diese Erkenntnis stimmte meinen Bruder bitter und ließ ihm vieles kleinlicher und widerwärtiger erscheinen, als es war.

Ich hoffte, daß seine Sprachkenntnisse, seine Tüchtigkeit ihm zum Erreichen eines Postens förderlich sein könnten, aber die ersten Versuche schlugen fehl, und man gab ihm und mir zu verstehen, daß man in Deutschland langsam und ordnungsmäßig vorrücke. Und das muß man in der Jugend beginnen. Zu diesen Enttäuschungen kam schmerzliche Reue darüber, daß er nicht früher heimgekehrt war und unsere Mutter noch am Leben angetroffen hatte.

Meine tröstenden Worte nützten nicht viel. Oft saßen wir irgendwo im Freien, am Rande eines Waldes, und sprachen von alten Zeiten und Erinnerungen, und ich sah wohl, wie sein Herz daran hing, aber auch, wie vergeblich er sich mühte, sich das, was einmal gewesen war, wieder lebendig zu machen. Redete ich von Gegenwart und Zukunft und von Hoffnungen, die sich erfüllen sollten, dann wurde er still und blies stärkere Rauchwolken aus der Pfeife vor sich hin.

Es war einmal.

[pg 219]

Die Art, wie er seinem Ärger über Ungewohntes, was verschieden von australischen Dingen war, Ausdruck gab, zeigte mir deutlich, daß keine Freude in ihm aufkommen wollte. Und auch, daß die Worte Jennys, die sich oft genug über die Verhältnisse in dem ihr so fremden Lande beklagen mochte, tiefer Fuß faßten als meine Tröstungen. Da ihm die Untätigkeit immer weniger zusagte, war ich froh, als ihm unsere Verwandten in Oberammergau einstweilen eine Stellung anboten.

Es war eine kleine Bosheit des Schicksals, daß meine Schwägerin dorthin übersiedeln mußte, wo man die Kruzifixe schnitzte.

Die Stellung war nur eine vorübergehende; nach einiger Zeit erklärte mir mein Bruder, daß Berichte, die er von seinen Schwägern erhalten habe, ihm für sich und seine Familie die Auswanderung nach Kanada als das Beste erscheinen ließen.

Es war mir möglich, ihm dazu behilflich zu sein, und so machte er sich im August 1902 auf die Reise; er traf Verhältnisse an, die ihm weitaus besser zusagten, und in seinen Briefen rühmte er das Entgegenkommen, das er gerade als Deutscher in Winnepeg gefunden hatte.

Später siedelte er nach S. Diego in Kalifornien über und starb dort an den Folgen eines Sonnenstiches.

Seine Buben wuchsen zu tüchtigen Männern heran, wie Jenny schrieb; sie waren ihr nach des Vaters Tode treue Helfer.

[pg 220]

Viktor zeigte sich immer besorgt um das Schicksal meines Bruders, aber ich glaube, sie atmete doch auf, als in dem kleinen Hause an der Amper keine australischen Kängeruhs mehr nachgeahmt wurden, und als die Zimmer wieder still und fein säuberlich, recht sonntagsnachmittäglich dalagen.

Für manche Plage und Verdrießlichkeit konnte ich sie entschädigen, als ich mit ihr im Sommer 1902 beim Sixbauern in Finsterwald am Tegernsee Wohnung nahm; da gefiel es ihr.

Über die Vorberge schauten die Gipfel des Roßstein und Buchstein herüber, unter denen die Rauchalm lag, und die gehörte Lenggrieser Bauern; wenn man sich da hinüberdachte, kam man an die Isar, und etliche Stunden flußaufwärts lag das Paradies, die Vorder-Riß.

Der Six war selber ein halber Lenggrieser – aus Fischbach – und kannte vertraute Namen und Menschen; den Glasl Thomas, der als Jagdgehilfe die dauernde Freundschaft des Fräulein Pröbstl errungen hatte, und andere Jagdgehilfen und Förster, die Riesch, Sachenbacher, Murbeck, Rauchenberger, Heiß, lauter Namen, die durch ihre Verbindung mit schönen Zeiten und geliebten Persönlichkeiten ehrwürdig waren.

Der Six erzählte auch Risser Wilderergeschichten, und noch lieber hörte er sie an, wenn wir auf der Bank vor dem Hause saßen und Viktor ein langes Garn spann.

Das war wirklich wie Heimkehr in die alte, so lang entbehrte Welt.

Thoma beim Tarock
Thoma beim Tarock
[pg 223]

Auch die Leute waren die gleichen wie die in der Jachenau, am Fall, in Wackersberg und Lenggries, hochgewachsene, stämmige Bauern, verwegene Burschen und frische Mädel.

Am gemütlichsten saß es sich in der kleinen Küche, wenn ein paar Nachbarn zum Heimgarten kamen und die Pfeifen zu breit ausgesponnenen Reden brannten, oder wenn die Sixbäuerin mit der Viktor uralte Kochrezepte austauschte.

Wenn ich aber droben in meinem Zimmer saß und an der „Lokalbahn“ herumbastelte, wurde unten mein Lebenslauf mit liebevoller Gründlichkeit geschildert, was ich darin merken konnte, daß die Sixin über alle Einzelheiten trefflich unterrichtet war.

Beim Unterbuchberger oberhalb Gmund hatte sich Georg Hirth mit seiner Frau Wally festgesetzt, und er unterhielt einen regen Verkehr mit uns, der bald zur herzlichen Freundschaft führte.

In dem temperamentvollen, sich immer mit seiner ganzen Persönlichkeit einsetzenden Georg Hirth war ein gutes Stück deutscher Vergangenheit und Münchner Entwicklung verkörpert.

Als sehr junger Mann hatte er anfangs der sechziger Jahre die Aufmerksamkeit Ernst Keils, des Begründers der „Gartenlaube“, auf sich gezogen, war mit Feuereifer für freiheitliche Ideen und die deutschen Einigungsbestrebungen eingetreten und hatte dann 1866 bei Langensalza als Kämpfer auf preußischer Seite eine schwere Verwundung erlitten. Immer tätig [pg 224]und voll Unternehmungslust, gründete er in Berlin die Annalen des Deutschen Reiches und trat mit vielen hervorragenden Männern in Beziehung, siedelte dann nach München über und stand hier über vierzig Jahre lang im Mittelpunkte literarischer, künstlerischer, journalistischer und politischer Interessen als Mitbesitzer und Leiter der größten Zeitung, als Begründer der „Jugend“, als kunstverständiger Sammler und vor allem auch als Hüter und Förderer freier Gesinnung.

Als ich ihn damals an seinem geliebten Tegernsee kennenlernte, war er nicht mehr der kampflustige Streiter von ehedem, wenngleich sein Gemüt immer noch gegen Dummheit und Unterdrückung aufflammen konnte, aber er war abgeklärt, voll verstehender Güte und gerecht gegen Widersacher und gegnerische Meinungen.

Auch im Äußern eine fesselnde Erscheinung, mit dem energisch geformten Gesichte unter weißen Haaren, mit den ausdrucksvollen Augen, gewann er einen sogleich mit seinem milden Urteile über Menschen und Dinge und mit seiner lebhaften Anteilnahme an allen die Zeit bewegenden Fragen. Er verstand es prachtvoll, von seinen Erlebnissen zu erzählen, von bedeutenden Menschen, mit denen ihn das Leben zusammengeführt hatte, von Kämpfen, die überwunden waren, von politischen und kulturellen Streitfragen.

Da sah sich nun Viktor in Beziehungen zu einem von ihr stets bewunderten geistigen Leben gebracht und fühlte Interessen in die Nähe gerückt, die sie bisher [pg 225]ehrfürchtig von weitem angestaunt hatte. Oft sagte sie, daß diese Tage ihre glücklichsten wären.

Und es waren ihre letzten.

Mitte Oktober wurde im Münchner Residenztheater meine „Lokalbahn“ zum ersten Male aufgeführt.

Es war die zweite Premiere, die die Alte mitmachte; im Sommer vorher, am Vorabende meines Namenstages, war sie mit Herzklopfen in der Erstaufführung meiner „Medaille“ gesessen. Als sich der Vorhang etliche Male hob und der Verfasser sich dankend vor dem Publikum verneigen mußte oder durfte, wie die Kritiker schreiben, da gingen ihr die Augen über, und sie sah nicht einmal, was lieblosere Menschen bemerkten, daß ich mit staubbedeckten Lackschuhen oben auf der Bühne stand.

Ich war zur Aufführung gedankenverloren und Träumen nachhängend durch den Englischen Garten gegangen und hatte nicht darauf geachtet, wieviel Staub sich auf meine Schuhe gelegt hatte. Viktor erwartete mich neben meinen Brüdern und Schwestern vor dem Theater und konnte mir kaum die Hand zum Glückwunsch geben, so beschäftigt war sie, die Nase zu putzen und die Tränen abzuwischen.

Nunmehr kam die Premiere der „Lokalbahn“, und im dichtgefüllten Parkett saß sie neben festlich gekleideten Menschen, von denen nur wenige wußten, wieviel Anteil sie am Schicksale des Stückes nahm. Es ging wieder gut, und nach der Aufführung fand sich eine zahl[pg 226]reiche Gesellschaft in den „Vier Jahreszeiten“ zusammen. Hirth hielt eine freundliche Rede, und wir blieben so lange beisammen, daß ich für Viktor, die sich nicht ganz wohl fühlte, keinen Wagen mehr bekam.

Auf dem Heimwege erkältete sie sich gründlich, fuhr aber trotz Abmahnens am andern Tage nach Allershausen, wo sie gleich von einer schweren Influenza befallen wurde.

Ihr Herz, das ohnehin nicht fest war, wurde in Mitleidenschaft gezogen, und nach einer Woche erhielt ich die telegraphische Nachricht, daß sie sehr schlecht daran sei.

Als ich hinausfuhr, kam mir im Dorfeingange der Pfarrer entgegen und sagte mir, daß es mit Viktor zu Ende gehe. Doch würde ich sie noch lebend antreffen, denn sie habe erklärt, daß sie erst sterben wolle, wenn sie von mir Abschied genommen habe.

Ich eilte ins Haus und stand erschüttert vor meiner alten Viktor, deren verfallene Züge mir jede Hoffnung nahmen.

Sie lächelte freundlich und streckte mir die Hand entgegen; fast unwillig wies sie meine weinende Schwester zurecht, da Klagen doch keinen Sinn hätten und mir weh tun könnten.

Ich setzte mich an den Bettrand, und sie bestand darauf, daß uns Kaffee gebracht würde.

Dann versuchte sie, sich ein wenig aufzurichten, stieß mit mir an und sah mich aus müden, halb erloschenen Augen noch einmal freundlich und voll Güte an.

[pg 227]

Sie nickte zufrieden mit dem Kopfe, denn nun war’s in Ordnung, und das Letzte, was sie gewollt hatte, war geschehen.

Bald darauf verlor sie das Bewußtsein und phantasierte.

Am Abend starb sie; die Geschichte von den Vorder-Risser Tagen war zu Ende erzählt.

 

Im Frühjahr 1901 war ich zu kurzem Aufenthalte in Berlin und verlebte in fröhlicher Künstlergesellschaft ein paar genußreiche Wochen. Die Reichshauptstadt, die ich zum ersten Male sah, gefiel mir außerordentlich, und es schien mir hier alles ins Große und Bedeutende zu gehen.

Ganz gewiß war vieles dazu angetan, diese Meinung hervorzurufen, aber es lag auch in meiner Art, mich neuen Eindrücken stark hinzugeben und keine Mängel zu bemerken, wo ich nur Vorzüge sehen wollte.

Ich war als eifriger Leser von Treitschke, Häußer, Förster, Kugler, Onken, Archenholtz u. a. ziemlich vertraut mit preußischer Geschichte, und es hatte für mich einen besonderen Reiz, nunmehr an Stätten zu kommen, mit deren Namen sich mir so oft bestimmte Vorstellungen verbunden hatten.

Als eingefleischter Friderizianer erlebte ich einen eindrucksvollen Tag in Potsdam, wo, wie kaum an einem andern Ort, noch vieles auf Geist, Wissen und Art eines großen Mannes hinweist.

[pg 228]

Ich möchte hier sagen, daß ich mir kein dümmeres Wort als das vom Potsdamismus denken kann, mit dem man die Zeit Wilhelms II. mißbilligend oder verächtlich bezeichnet hat. Das Wort trifft in gar nichts den Charakter der Zeit und der Männer, die nach 1890 die Geschichte Preußens lenkten. Da herrschte das gerade Gegenteil vom Potsdamismus, unter dem ich mir die glücklichste Verbindung von Klugheit und festem Willen vorstelle, die aus einem armen kleinen Lande einen mächtigen Staat geschaffen hat.

Wenn Äußerliches das Wesen eines großen Mannes widerzuspiegeln vermag, so tut das Sanssouci. Alles in dem kleinen Schlosse, und nicht weniger das, was nicht darin ist, zeigt künstlerischen Takt, sich bescheidende Weisheit, Eigenschaften, die zur wahren Größe gehören.

Und es ist auch kein Zufall, daß das schöne Bild der aufsteigenden, von dem niedern Schlosse gekrönten Terrasse durch die in Marmor ausgeführte Kopie des Rauchschen Denkmals stark beeinträchtigt wurde.

Wilhelm II. hat sie dort aufstellen lassen, und sie paßt wieder einmal gar nicht hin.

Der Gefallen, den ich an Berlin gefunden hatte, blieb in mir wach, und als sich mir im folgenden Herbste die Möglichkeit bot, auf längere Zeit dorthin zu übersiedeln, besann ich mich nicht lange und entschloß mich, München auf einige Zeit zu verlassen.

Freiherr von Wolzogen hatte im Januar 1901 sein Überbrettl eröffnet, und der Erfolg des Unternehmens [pg 229]hatte ihn veranlaßt, in der Köpenicker Straße ein eigenes Theater zu erbauen.

Wolzogen machte mir den Vorschlag, ich sollte gegen ein Fixum die Verpflichtung übernehmen, jedes geeignete Gedicht zuerst dem Überbrettl zur Verfügung zu stellen und den kommenden Winter in Berlin zu bleiben. Außerdem sollte ich ihm zur Eröffnung des Theaters das Aufführungsrecht der „Medaille“ überlassen.

Nach Einigung mit der Redaktion des „Simplicissimus“ nahm ich das Anerbieten an, und schon Ende September 1901 bezog ich ein paar möblierte Zimmer in der Lessingstraße in Berlin, ein wenig ängstlich vor der eingebildeten Größe meiner Aufgabe in der gewaltigen Stadt und ein wenig stolz, ihr anzugehören.

Es war wieder einmal nicht ganz so, wie ich es mir ausgemalt hatte.

Das Theater in der Köpenicker Straße war noch nicht ausgebaut, gute Zeit wurde versäumt, und als es im November eröffnet wurde, war Überbrettl schon nicht mehr Mode, hatte Konkurrenten, und überdies hatte das Theater in dem Armenviertel die ungünstigste Lage.

Es mußte aufreizend wirken, wenn in dieser Straße Equipagen vorfuhren und Dämchen mit Einglasträgern ausstiegen.

Was auf der Bühne geboten wurde, war nett, aber unzulänglich und hätte einer heiter gestimmten Gesellschaft einen Polterabend sehr vergnüglich gestaltet, doch [pg 230]Berlin W war nicht so harmlos, und es hatte seine Neigung für gehobene Varietékunst bereits wieder abgelegt.

Die Konkurrenz versuchte es mit Attraktionen, und Liliencron las vor einem Parkettpöbel seine Novellen und Gedichte vor.

Mich befiel ein schwerer Katzenjammer, als ich das hörte, und schon vor der Eröffnungsvorstellung im Wolzogenschen Theater war ich mit allen Illusionen fertig.

Meiner „Medaille“ ging es nicht zum besten; sie fiel nicht durch, aber sie erregte sichtlich wenig Freude, und vor allem paßte sie nicht auf diese Bühne.

Es war für mich nicht angenehm, den Kampf mit ansehen zu müssen, den Wolzogen mit der Ungunst des Publikums einige Monate hindurch führte, bis er mit einer Niederlage endete.

Ganz Berlin gab sich damals dem mächtigen Eindrucke hin, den das Lied „Haben Sie nicht den kleinen Cohn gesehn?“ machte, und es war aus mit den vertonten Liedern Bierbaums und Liliencrons.

Von meiner Freude an der lauten Großstadt kam ich bald zurück.

Zwar das Berlin, wie es geschäftig war, arbeitete und bei aller Hast und Hetze Ordnung hielt, imponierte mir noch immer; erst in späteren Jahren wurde ich mißtrauisch gegen die fixen Leute, die so viel Spektakel mit ihrer Arbeit machten und immer neue, unmögliche Pläne und Ideen am Telephon hatten und sich in der [pg 231]Pose der unter fürchterlicher Arbeitslast Zusammenbrechenden wohl fühlten.

Aber auch schon damals sah ich Berlin, wie es sich unterhielt, mit kritischen Augen an, und es gefiel mir nicht mehr.

Selbst in Abendgesellschaften merkte ich bei den geladenen Gästen, daß sie einander weder Ernst noch Heiterkeit glaubten und sich kühl beobachteten.

Diese Leute waren einander fremd, kaum aneinander gewöhnt und ganz und gar nicht miteinander verwachsen; sie konnten nur nach Äußerlichkeiten urteilen und waren veranlaßt, ihre Art nach außen zu wenden, da sie keinen innerlichen Zusammenhang hatten. Vom Berliner Nachtbetrieb wurde oft mit einem gewissen Stolze gesprochen, als wäre in ihm der weltstädtische Charakter sichergestellt und deutlich zur Erscheinung gebracht.

Ich weiß nicht, ob dieses Ziel erreicht wurde, noch weniger, ob es irgendeinen Wert hatte.

Ich sah nur dichtgedrängte Haufen von Menschen, die das eine gemeinsam hatten, daß sie sich fröhlicher gaben, als sie waren.

Daß der eigentliche, echte, alte Berliner viele Vorzüge habe, wurde mir eindringlich versichert, und ich zweifelte nicht daran, weil ich es durch den verehrten Theodor Fontane schon erfahren hatte, aber in der Völkerwanderung, die nach 1870 von Osten her einsetzte, wurden die Modelle Glasbrenners stark in den Hintergrund gedrängt. Mir schien es, als lebten die [pg 232]Massen neben, nicht miteinander, und das Auffälligste war gerade das Fehlen alles Charakteristischen.

Die Tunnelzeit war auch überwunden.

Daß sich die Schriftsteller regelmäßig hätten zusammenfinden können, wäre nicht mehr denkbar gewesen, und nichts war bezeichnender für die neue Zeit, als daß die Kritiker präponderierten. Sie waren die Berühmtheiten, auf die sich die Aufmerksamkeit des Publikums richtete, von ihnen war am meisten die Rede, ihr Ruhm überdauerte – was wenigen Autoren oder Künstlern beschieden war – mehr als eine Saison. Ihre Geltung stand fest, die der Dichter blieb schwankend zwischen den Erfolgen, konnte abflauen und stürzen, und nach einer Niederlage sanken auch die alten Werte.

In der Premiere von Gerhart Hauptmanns „Rotem Hahn“ saß ich neben einem literarisch „versierten“ Herrn, der mir in den Zwischenakten Anhänger und Gegner des Dichters zeigte und zweifelnd, nach äußerlichen Merkmalen, den Ausgang abschätzte. Die feindlichen Mächte errangen den Sieg, und das Stück fiel durch.

Daß die Fortsetzung des „Biberpelzes“ nicht gefiel, verstand ich, aber für die feindselige Wut, die sich um mich herum austobte, hatte ich keine Erklärung.

Es war so, als hätten sich die Theaterbesucher für irgendeine Kränkung zu rächen, als müßten sie einem lange zurückgehaltenen Hasse gegen den Dichter endlich [pg 233]Luft verschaffen. Und doch hatten sie ihm schon oft im gleichen Theater zugejubelt.

Gute Aufführungen konnte man damals in Berlin oft sehen, aber ich glaubte damals wie heute, daß die Kunst, mit tüchtigen Schauspielern Stücke, die was taugen und sich für die Bühne eignen, gut herauszubringen, für einen geschmackvollen und klugen Mann nicht allzu schwer ist.

Später ist das ja anders geworden.

Hinter Regie- und Dekorationskünsten, hinter Turn- und Tanzleistungen mußte sogar der alte William Shakespeare mit seinem Texte zurückstehen. Von Schriftstellern, deren Erfolge ich einmal als Gipfel des Glückes betrachtet hatte, sah ich nun auch etliche. Das Wetter ist nie so schlecht, wie es sich vom Fenster aus ansieht, und die Berühmtheiten sind nie so erhaben, wie man von weitem glaubt.

Damals stand allerdings in Berlin kein Dichter im Zenit; Hauptmann hatte Mißerfolge gehabt, Sudermann war mit einem Schlager im Rückstande, neue Götter gab es nicht, die Saison war flau, und Zugkraft hatte das Unliterarische.

Der kleine Cohn – und ein Studentenstück „Alt-Heidelberg“, das verschämt zurückgestellt worden war und nun, da man es endlich gab, in Berlin wie in ganz Deutschland einen vollen Sieg errang.

Die Kritiker zuckten die Achseln, schüttelten die Köpfe, und zuletzt lächelten sie wohlwollend.

[pg 234]

Sudermann lernte ich in einer Abendgesellschaft kennen. Er wollte mir anfangs etwas zu dekorativ vorkommen, wie jener Mann in den „Fliegenden Blättern“, den die Hausfrau stets unter ein Makartbukett setzte, aber im Gespräche zeigte er gewinnende Natürlichkeit, und ich bat ihm heimlich das Vorurteil ab.

Mit seinem Koätanen, dem alten Feuilletonisten Pietsch, trieb die Berliner Damenwelt einen seltsamen Kultus.

Er schrieb Plaudereien über gesellschaftliches Leben, berichtete über Bälle und Toiletten und konnte einer Schönen die begehrte Sensation verschaffen, in der Zeitung mit einigen schmückenden Beiworten genannt zu werden.

Das reichte hin, um ihn zum Löwen der Ballabende zu machen.

Wenn er im Saale auftauchte und mit den lustig zwinkernden Äuglein Ausschau hielt, umringte ihn sogleich die weibliche Jugend, die zarte wie die reifere, und schnullte den vergnügten Greis ab, nur um ja bemerkt und genannt zu werden.

Als Zeitbild war es erwähnenswert, wegen seiner Lieblichkeit brauchte man sich den Anblick nicht zu merken.

Wie in München, hatte ich auch in Berlin regeren Verkehr mit Künstlern als mit Schriftstellern.

Man kam allwöchentlich im kleinen Kreise zusammen und unterhielt sich aufs beste. Gearbeitet wurde viel, und ich konnte wohl sehen, daß man sich hier leich[pg 235]ter und in größeren Maßen durchsetzen konnte als in München.

Die Sezession hatte neben ihrer künstlerischen auch noch die gewisse oppositionelle Bedeutung, da der Hof in Kunstfragen so bestimmt wie unpassend eingriff.

Berlin W trat, wie es ihm zusagte, für das Neue ein und empfand sicherlich einigen Reiz in diesem ungefährlichen Frondieren. Überdies glaubte man an der Spitze einer vorwärtsdrängenden Bewegung zu stehen und tat sich was darauf zugut, Berlin als Mittelpunkt geistiger und künstlerischer Bestrebungen zu preisen. München sollte seinen Rang als Kunststadt verloren haben.

Das wurde freilich von Kritikern und Kunsthändlern eifriger behauptet als von den Künstlern, die zum größeren Teile aus Süddeutschland stammten, aber auch diese gaben sich nicht ungern der Ansicht hin.

Vielleicht entschädigte es sie für allerlei Unannehmlichkeiten ihres Aufenthaltes, über die sie trotz allem seufzten, und die Entwicklung hat gezeigt, daß zum Gedeihen der Kunst das Mäzenatentum allein nicht genügt, besonders nicht eines, das so unselbständig und lenkbar ist wie das Berlinische.

Auch da gab es Mode und Saisongeltung, und die Götter von gestern wurden gestürzt, wenn die Götter von heute auf den Altar gehoben wurden.

Immer war eines nicht bloß das Beste, sondern das allein Gute, und der Herr Kommerzienrat ging willig von Manet zu Cezanne, von Cezanne zu Picasso über, [pg 236]nach den Dogmen, die von Kunsthändlern und Kunsthistorikern aufgestellt wurden.

Während des Krieges, und erst recht nach seinem unglücklichen Ausgange unter dem Eindrucke des Zusammenbruches, war viel die Rede von Verfallserscheinungen, die verspätete Propheten in der Weltstadt Berlin bemerkt haben wollen; davon habe ich nichts gesehen, und auch was mir nicht gefiel, hat in mir darum noch keine düsteren Ahnungen erregt.

Ich sah in allem nur die natürlichen Folgen eines großen, schnell angehäuften Reichtums, des Zusammenströmens aller Kräfte des Reiches in diese Stadt, des ungeheuren Wachstums, bei dem es zur natürlichen Entwicklung einer bodenständigen Kultur nicht kommen konnte, und obwohl es mir in dem Treiben immer unbehaglicher wurde, übersah ich doch nicht, wieviel guter Wille am Werke war, und wie trotz allem in diesem rastlosen Vorwärtsdrängen und Sichausbreiten kräftiges Leben steckte.

In dieser Riesenstadt, in der alles wie am Schnürchen ging, in deren Straßen es keine Bettler gab, keine Unordnung, keine Unreinlichkeit, die unvergleichlich besser verwaltet war als das so viel kleinere München, konnte man eher Hochachtung vor preußischer Tüchtigkeit empfinden als Angst vor baldigem Verfalle.

Aber was sich nachträglich dozieren läßt, ist, daß man sich gerade in Berlin hätte klar werden können, wie unfruchtbar Opposition ist, die sich ausschließlich auf Kritik beschränkt.

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Eine intelligente Bürgerschaft, die ihrer freisinnigen Tradition anhing, wirtschaftlich große Erfolge errang, in der Verwaltung Mustergültiges leistete, brachte, von jedem Einflusse auf die Geschicke des Staates ferngehalten, gegen diese schädlichste Bevormundung und ihre verderblichen Folgen lange nicht den Widerstand auf, den die vorhergehende Generation einer erfolgreichen Regierung entgegengesetzt hatte.

Ja, in dem Lächeln über die zahlreichen, sehr starken Entgleisungen des persönlichen Regiments lag verzeihendes Wohlwollen und wirklich nicht die Erbitterung, die zur Befreiung von diesen unheilvollsten Dingen hätte führen können.

Der gutmütige Spott, mit dem man die Aufstellung der das Stadtbild verunzierenden Denkmäler hinnahm, wandte sich schonend gegen die Planlosigkeit der inneren wie der äußeren Politik und verkehrte sich nicht selten in ein beifälliges Schmunzeln über tönende Phrasen.

Welche ängstlichen, unschönen Rücksichten selbst solche Männer im Bann halten konnten, die mit ihrer Opposition ein bißchen kokettierten, hatte ich schon im Frühjahr 1901 gesehen.

Die Eröffnung einer Ausstellung der Sezession wurde durch ein Festbankett gefeiert, und es waren schon etliche Worte gegen höfische Kunst gefallen, als sich aus der Mitte der Gäste unser Münchner Georg von Vollmar erhob und eine kluge, sehr gemäßigte Rede hielt.

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Die Aufnahme war freundlich, aber es gab bei allen näher oder offiziell Beteiligten derart betretene Mienen, daß es auffallen mußte.

Vollmar sagte zu mir: „Sehen S’, denen is mit ihren geschmerzten Redensarten über freie Kunst nicht ernst; denen wär nix lieber, als wenn der Kaiser kommet, und wär er da, könnt er über die Rinnsteinkunst sagen, was er möcht, sie hätten alle miteinander die größte Freud drüber ...“

Es zeigte sich, daß er noch mehr recht hatte, als er vielleicht selbst glaubte. Gleich nach der Rede sah man Herren, die von einem Tisch zum andern gingen, eifrig einander in die Ohren tuschelten – und am Abend, als ich noch mit einigen Häuptern der Sezession in einem Kaffeehause saß, griffen diese begierig nach den Abendzeitungen und stellten aufatmend fest, daß in den ausführlichen Berichten über die glänzende Eröffnung der Ausstellung die Anwesenheit des sozialdemokratischen Führers und seine Rede mit keinem Worte erwähnt waren.

Man hatte die Berichterstatter oder Redaktionen durch Bitten dazu gebracht, daß sie das kompromittierende Ereignis totschwiegen.

Dabei hatten sich die Herren seit Jahren darin gefallen, die allerhöchste Abneigung gegen die moderne Kunst als Aushängeschild zu gebrauchen, und die größeren wie die kleinen Kapazitäten hatten gerne gezeigt, wie sie ihre Unbeliebtheit lächelnd und stark zu ertragen wüßten.

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War es auch kein erschütterndes Ereignis, so zeigte es doch als Beispiel aus vielen, und auch darin, daß sehr ernsthafte und bedeutende Männer die Schwäche bewiesen, wie sehr die Ausartung des persönlichen Regimentes in den Fehlern der Regierten begründet war.

Gegen eines lehnte ich mich auch damals schon auf: daß immer wieder betont wurde, der Kaiser habe den besten Willen, meine es gut und vergreife sich nur in den Mitteln.

Es gab in Berlin sehr viel gut Unterrichtete und Eingeweihte, die ihren Herrscher zu ehren glaubten, wenn sie mit Bonhomie versicherten, er möchte wohl, aber er könne nicht.

Männer, die in ihrem Wirkungskreise das Beste leisteten und die bei keinem ihrer Angestellten den Willen für die Tat hätten gelten lassen, hegten keine Bedenken über das Schicksal des Landes, wenn die größten politischen Fehler nicht aus Böswilligkeit begangen worden waren.

Das wurde zum üblen Schlagworte, bei dem sich allzu viele beruhigten.

In Wirklichkeit stammte die Zufriedenheit oder dieser Mangel an Auflehnung aus Saturierung durch guten Verdienst und glänzende Geschäfte.

Die Sozialdemokratie aber – das habe ich damals geglaubt, und heute bin ich erst recht davon überzeugt – hat den Angriff gegen die gefährlichen Schadenstifter abgeschwächt, von ihnen abgelenkt durch maßlose und doktrinäre Polemik gegen den Kapitalismus.

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Das alles ließ sich um das Jahr 1902 in Berlin schon sehr eingehend beobachten. Ich will nicht behaupten, daß ich mich hellseherisch argen Befürchtungen hingab, doch habe ich mich darüber zuweilen geärgert und meinem Ärger auch unbekümmert Ausdruck verliehen.

 

Für die ersten Tage des März 1902 hatte Langen eine Zusammenkunft in Zürich anberaumt, und ich folgte gerne der Einladung, die meinem Berliner Aufenthalte ein Ende bereitete.

Von meiner heftigen Neigung für die Weltstadt war ich abgekommen, und ich saß recht undankbar vergnügt in dem Zuge, der mich an Kiefernwäldern und Windmühlen vorbei nach dem Süden führte.

Von Zürich aus reiste ich mit Langen nach Paris, wo ich zwei schöne Frühlingsmonate verlebte. Hier, wo jede Einzelheit zum Ganzen gehörte, wo zwischen allen Menschen unsichtbare und doch starke Zusammenhänge bestanden, begriff ich erst recht, wie erkältend gerade der Mangel daran in Berlin auf mich gewirkt hatte.

Bei Langen lernte ich Rodin, Carrière, Besnard, Steinlen und den fröhlichen Norweger Thaulow kennen; die Stunden, die ich mit ihnen verleben durfte, werden mir unvergeßlich bleiben.

Besonders gern rufe ich mir einen Besuch in Rodins Atelier in Erinnerung, und nicht bloß wegen der Kunstwerke, die ich sah, fast noch mehr wegen der Art, wie [pg 241]der Meister alles zeigte und erklärte, wie er mit einem stillen Lächeln über den Enthusiasmus Langens wegsah und ruhig und verbindlich auf das Wesentliche zurückkam.

Ein Denkmal Victor Hugos, der dargestellt war, wie er nackt an einer Quelle liegt und träumend auf ihr Murmeln horcht, erregte die laute Bewunderung Langens. Er sprach seine Empörung darüber aus, daß die Stadt Paris dieses Monument abgelehnt und statt seiner einen schauderhaften Kitsch aufgestellt habe.

Rodin lächelte nur und zog die Achseln hoch.

Zu den täglichen Gästen in Langens Haus gehörte der entlassene Oberstleutnant Picquart, der im Dreyfus-Prozeß berühmt geworden war.

Ein stiller Mann von zurückhaltendem Wesen und verbindlichen Manieren, der nicht gerade typisch französisch aussah; der Eindruck verstärkte sich, wenn er tadellos Deutsch ohne jeden Akzent, und noch mehr, wenn er elsässisch Dütsch sprach.

Er beobachtete viel und sprach wenig, und er war mir mit seiner schweigsamen, nachdenklichen Art fast unheimlich; er muß, wenn er dazu gebraucht worden ist, als Spion in Deutschland die besten Dienste geleistet haben.

Langen sagte einmal zu ihm: „Sie haben sicher bei uns mehr gesehen, als Sie sehen durften.“

„Man sieht nie genug“, antwortete Picquart ruhig.

Von der deutschen Armee sprach er immer mit großer Hochachtung.

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Als aus irgendeinem Anlasse die Rede auf 1870 kam, sagte er, man dürfe froh sein, daß die französischen Truppen nicht über den Rhein gekommen seien; sie wären nicht zu halten gewesen, denn von deutscher Zucht und Disziplin sei bei ihnen kaum etwas zu finden gewesen.

Damals war gerade der englische General Methuen von Delarey gefangengenommen worden, aber als man bei Tische Befriedigung über diesen Erfolg der Buren äußerte, sagte Picquart kurz und bestimmt: „In sechs Wochen ist die Sache trotzdem zu Ende.“

Es hat fast auf den Tag gestimmt.

Über den Dreyfus-Prozeß wurde noch immer viel gesprochen, besonders wenn Paul Clemenceau, ein Bruder des Tigers, anwesend war.

Picquart beteiligte sich selten an dem Gespräche, doch einmal sagte er: „Man wollte mich im Gefängnisse umbringen, und man hätte es auch sicher getan, wenn ich nicht kurz vor meiner Verhaftung die Erklärung veröffentlicht hätte, daß ich unter keinen Umständen, geschehe was wolle, Selbstmord verüben würde. So konnte man keinen Selbstmord vortäuschen, wie bei Henry, und scheute sich, mich um die Ecke zu bringen.“

Georges Clemenceau, der damals ohne Mandat war und für den Senat kandidierte, sagte, wie uns sein Bruder erzählte: an dem Tage, wo er Ministerpräsident werde, erhalte Picquart das Portefeuille des Kriegsministers.

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Es klang nach wenn und aber, und war zwei Jahre später Tatsache.

Picquart ist ziemlich lange vor dem Kriege gestorben; gab es französische Heerführer, die Deutschland und seine Armee so gut kannten wie er, dann waren sie gefährliche Gegner.

Bald nach meiner Ankunft in Paris kam auch der dänische Maler Kröyer zu Langen.

Der rotblonde Skandinave, ein trinkfester, gemütlicher Herr, schloß sich mir an, und wir wurden gute Kameraden, besonders als Langen mit seiner Familie eine länger währende Automobilfahrt nach Spanien unternahm. Wie wir allein waren, hielt Kröyer in seiner umständlichen und feierlichen Art eine Rede an mich: „Thöma, ich kann nicht allein hier essen, und du kannst nicht allein hier essen. Ich glaube aber, wir finden in ganz Paris kein so gotes Wirtshaus und kein so gotes Essen, und jedenfalls kein so billiges. Wir wollen uns also jeden Tag pünktlich hier treffen, Mittag und Abend und zusammen essen, und dann kann jeder gehen, wohin er mag ...“

So hielten wir es auch, und wir saßen jeden Tag bei Langen und gaben dem Diener Josèphe unsere Wünsche für die nächste Mahlzeit bekannt.

Zu einem Glase guten Bordeaux rauchten wir Importen, die auch nirgends so gut und billig waren wie in der Rue de la Pompe.

Langen kam nicht aus dem Lachen heraus, als ich [pg 244]ihm nach seiner Rückkehr von unseren pünktlich eingehaltenen Zusammenkünften erzählte.

Die Schilderungen Josèphes und ein paar leere Zigarrenkisten gaben die Illustrationen dazu ab.

Mein Weg führte mich fast täglich ins nahe Bois de Boulogne.

Ich wußte nichts Schöneres, als ein paar Stunden unter den grünenden Bäumen zu sitzen, in dieser Mischung von lauen Frühlingslüften und zartem Parfüm.

Die große Welt und die Halbwelt rollten in eleganten Equipagen an mir vorüber, Wagen an Wagen, aber man sah nichts gewollt Auffälliges, hörte keinen Aufsehen erregenden Lärm, es war überall wirkliche Heiterkeit, die nicht auf Zuschauer berechnet war, und wie Geläute von kleinen silbernen Glocken drang aus den Kaffeegärten das Lachen der Frauen herüber.

Aber wenn ich an stillen Frühlingsabenden auf den gepflegten Wegen spazierenging und die Amseln pfeifen hörte, überkam mich doch das Heimweh.

Es war mir erst recht wohl, als ich etliche Wochen später in Finsterwald vor dem Sixbauernhause saß. Und roch es auch nicht nach zartem Parfüm und klang es auch nicht nach silbernen Glöckchen, die Frühlingsluft wehte stärker, derber und gesünder um mich.

Schlenther, damals Direktor des Burgtheaters, hatte meine „Lokalbahn“ zur Aufführung angenommen, und so stand ich eines Abends im Januar 1903 vor dem Wiener Prachtbau, sah Equipagen heranrollen, geputzte Damen und festlich gekleidete [pg 245]Herren aussteigen und ins Theater eilen, um meiner Premiere beizuwohnen.

Ich stand hinter einer Säule und schaute ihnen zu.

Ein in diesem Augenblicke vielleicht seltsames Gefühl von Gleichgültigkeit und Verlassenheit kam über mich.

Ging’s gut oder schlecht, was konnte es mich viel kümmern?

Die liebsten Menschen, denen dieser Abend bedeutsam gewesen wäre, lebten nicht mehr, und ich hatte recht eigentlich niemand, der ein tieferes Interesse am Ausgange genommen hätte.

Ich dachte daran, wie es wohl meiner Mutter zumut gewesen wäre, wenn sie mich vor dem berühmten Theater der alten Kaiserstadt unmittelbar vor der Aufführung meines Stückes gesehen hätte.

Wie ein unglaubwürdiges Glück wär’s ihr vorgekommen, wie eine märchenhafte Fügung des Schicksals, das den Buben aus der Vorder-Riß in dieses marmorne Prachtschloß geführt hatte.

Und war’s auch nicht so ganz wundersam, wie sie es empfunden hätte, merkwürdig war es doch, und das Erreichen eines Zieles war es doch, und darum zog es mir das Herz zusammen, daß ich mich nicht darüber freuen konnte.

Es schneite in dichten Flocken, und ich stand immer noch hinter der Säule und träumte vor mich hin. Die letzte Equipage war längst weggefahren, ein paar ver[pg 246]spätete Fußgänger eilten noch ins Theater, als ich mich aufmachte und hinter die Bühne ging.

Man führte mich in die Direktionsloge, da der Autor im Burgtheater erst nach dem zweiten Akte erscheinen durfte. Schlenther war über meinen Gleichmut erstaunt und sagte mir hinterher beim herkömmlichen Glase Pilsner, Kaltblütigkeit in Ehren, aber so was von Wurstigkeit sei ihm doch noch nicht vorgekommen.

Ich mochte ihm die Gründe nicht sagen, warum ich still war, und ließ ihn bei seiner Ansicht.

Die „Lokalbahn“ hatte Erfolg und wurde ziemlich oft aufgeführt; aus den Kritiken erfuhr ich, daß das Lustspiel nicht von überwältigender Bedeutung wäre.

Ich hatte es schon vorher gewußt, und recht eigentlich wollte ich auch gar nicht überwältigen.

Ich lernte in Wien Schönherr und Pernerstorfer kennen, Busson war mir schon befreundet.

Schönherr, in Art und Sprache ein echter Nordtiroler, redet nicht mehr, als man um Imst und Stams und Telfs herum zu reden pflegt, hie und da ein bedächtiges Wort.

Sehr lebhaft war der alte Pernerstorfer, der merkwürdigste Sozialdemokrat, den ich gesehen habe. Denn er war ganz und gar völkisch bajuvarisch und sagte mir einmal ums andremal, daß die Ober- und Niederösterreicher, Steirer und Oberkärntner waschechte Bajuvaren wären, genau so vollgültig wie wir hinter unsern weiß-blauen Grenzpfählen.

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Ich mußte mit ihm das Parlamentsgebäude ansehen, und er zeigte mir die historischen Stätten, wo zappelnde Volksboten an Händen und Füßen ergriffen und hinausgetragen worden waren und wo der Bahöll immer zum Staatsereignisse wurde.

Als ich neben ihm durch die Gänge schritt, merkte ich was von der Krakeelstimmung, die hier herrschte. Man wurde so grimmig fixiert wie an scharfen Ecken in kleinen Universitätsstädten, drohende Blicke richteten sich auf mich, und ich hätte gleich ein paar Kontrahagen haben können, weil ich mit Pernerstorfer ging.

Als mein Mentor führte er mich in eine Frühschoppengesellschaft, die mich kennenzulernen wünschte; darunter war auch ein Benediktiner, der von seinem Kloster beurlaubt war und an der Universität Geschichte lehrte.

Ich fühlte mich damals wie später heimisch in dieser Atmosphäre herzlicher und jovialer Teilnahme.

Was waren Pötzl, Chiavacci und andere Altwiener für schlichte, natürliche Menschen!

Sie stammten aus einer andern Zeit, in der man sich gemeinsamen Strebens bewußt geblieben war, und in der einer den andern hatte gelten lassen.

Das Theaterwesen in Wien war, wie ich damals und später bemerken konnte, recht verschieden von dem Berlinischen. Das Ausleihen der Schauspieler, das Starsystem, das Setzen auf Saisonschlager und Serienspiel gab es nicht; um illustre Direktoren und Regietalente kümmerte man sich weniger als um die [pg 248]Künstler, von denen jeder bekanntere eine große Gemeinde hatte.

Die höchste Verehrung genoß neben Girardi mit Recht der alte Baumeister am Burgtheater, der mich als Richter von Zalamea verstehen lehrte, wie hoch die feine, diskrete Schauspielkunst einer früheren Zeit gestanden hatte.

Schlenther, einst Bahnbrecher der Moderne und strenger Kritiker, Ostpreuße und gar nicht auf Wien zugeschnitten, war als Burgtheater-Direktor in einer falschen Lage, was ihm auch häufig von den Zeitungen bestätigt wurde.

Die einst nachdrücklich betonten Prinzipien und Lehrsätze konnte er nicht verwirklichen; kaum etwas von dem, was er verlangt hatte, konnte er selbst erfüllen.

Zwischen Untunlichkeiten und Rücksichten war er eingeklemmt. Dabei mußte er die Empfindung haben, daß er Usurpator war oder Platzhalter. Denn der richtige, echte Burgtheater-Direktor saß in Hamburg, Herr von Berger, und es war bloß eine Frage der Zeit, wann er seinen Einzug halten und den falschen Waldemar entthronen würde.

Ich glaube, daß Schlenther herzlich froh war, als er wieder als P. S. mit Strenge seines Amtes walten und als Kritiker den Direktoren zeigen konnte, was der Direktor den Kritikern nicht hatte zeigen dürfen. Damals aber mußte er immer wieder die düstere Frage anhören, was er mit dem Geiste des alten Burgtheaters angefangen habe.

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Er hat ihn wirklich nicht verscheucht, allerdings er hat ihn auch nicht herzitiert.

Der Gute blieb verschwunden; irgendwas im neuen Wien mißfiel ihm so, daß er nicht mehr darin umgehen mochte. Vielleicht hat ihn das neue Haus vertrieben, vielleicht der Operettenblödsinn; jedenfalls, er kam nicht wieder, und auch an die Nachfolger Schlenthers, den echten Thronerben nicht ausgenommen, mußte die peinliche Frage gestellt werden.

Wien war für uns Süddeutsche noch immer die Hauptstadt geblieben, der Sitz der Freude, des Reichtums, des Wohllebens, das Ziel der Wünsche.

Auch meine Phantasie hatte die Stadt mit Reizen geschmückt, und oft hatte ich mich hingeträumt, wenn ich als Rechtspraktikant auf dem Traunsteiner Bahnhof stand und in den eleganten Kupees Reisende auf schwellenden Polstern sitzen sah. Wenn ich jetzt in der Dämmerstunde die Rothenthurmstraße und den Graben entlangschritt, konnte ich mir gestehen, daß mir das Leben mehr gehalten als versprochen hatte.

Von dem alten Wien, das ich aus vergilbten Bänden von „Über Land und Meer“ und aus Beschreibungen Hackländers kannte und liebte, fand ich nicht mehr vieles, aber ich stieß doch auf einige Kneipen, die gemütliche Namen trugen, und in denen man sich in die Nestroyzeit zurückversetzt fühlen konnte.

Und der schönen Stadt, die zwischen Waldhügeln und Weinbergen gebettet liegt, ist eine Eigenart ge[pg 250]blieben, die ihr auch moderne Architekten nicht nehmen können.

 

Der Premiere in Wien war die in Stuttgart vorausgegangen. Im Spätherbste 1902 besuchte ich zum erstenmal die schwäbische Residenz, in die mich der Staatsanwalt späterhin öfter als Angeklagten holte.

Ich lernte dabei Friedrich und Conrad Haußmann kennen und durch sie einige andere Führer der demokratischen Partei, von Payer, Liesching u. a. Und ich trat in Beziehungen zu einem regen politischen Leben, das für mich als Altbayern neu und ungewohnt war, denn bei uns drehte sich doch viel oder alles um ausgeleierte Gegensätze. Wenn ich es vermeide, über Lebende ein Urteil abzugeben, darf ich doch von dem nachhaltigen Eindruck sprechen, den Friedrich Haußmann, der vor mehr als zehn Jahren gestorben ist, auf mich gemacht hat.

Er war der stillere von den beiden Zwillingsbrüdern, die in ihrem Äußeren wie in ihren Meinungen, in ihrer beruflichen wie in ihrer politischen Tätigkeit die auffälligste Ähnlichkeit miteinander hatten.

Friedrich war minder lebhaft, und wenn sein Bruder meinen oft zu bestimmt vorgebrachten Ansichten widersprach oder beipflichtete, hörte er lächelnd zu.

Meine Laufbahn vom Anwalt herüber zum Schriftsteller sprach ihn an, da er selbst Neigung und Beruf zum literarischen Schaffen in sich fühlte.

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An der Art, wie ich über die Schnur zu hauen pflegte und nicht leicht einem Dinge seine zwei Seiten ließ, hatte er Vergnügen, wenn er sie auch nicht als die einzig richtige gelten ließ. Ein gradsinniger und gütiger Mann, hielt er sich selbst vom raschen Urteil zurück, aber er war dabei in seinen Ansichten unverrückbar fest gerichtet; und gegen alles, was einer Überheblichkeit und dem Willen zur Unterdrückung ähnlich sah, konnte er trotz der Milde seines Wesens eine Schärfe zeigen, die jedes Paktieren ausschloß. Er erschien mir als der geborene Führer, als ein Mann, der den Willen vieler zu leiten berufen war und dem viele unbedenklich überall hin folgen durften.

Weder Eiferer noch Phantast, zeigte er im Angriffe wie in der Abwehr den schalkhaften Humor, der aus tiefem, gütigem Verstehen kommt und immer Überlegenheit gewährt.

Daß ein Mann wie er zeitlebens in Opposition gegen die Reichsregierung und ihre Politik stehen mußte, beweist deutlich, wie verfehlt das System war.

In Stuttgart hatte der „Simplicissimus“ vom ersten Tage seines Bestehens an eifrige Freunde, und es lag in der schwäbischen Freimütigkeit begründet, daß Saftigkeit des Ausdruckes und Schärfe des Angriffs hier keine Schauer des Entsetzens erregten.

Man verstand hier besser als manchenorts, daß sich hinter dem Spotte ein ernster Unwille, den man teilte, verbarg.

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Schon darum war die gerichtliche Entscheidung, daß Stuttgart, wo der „Simplicissimus“ gedruckt wurde, zuständig sei, für die Redaktion günstig.

Ein Verfahren mit solchen Mitteln, wie man sie in Leipzig für zulässig gehalten hatte, war hier ausgeschlossen. Es kam allerdings zu einer Reihe von Strafverfolgungen, aber die Verhandlungen wurden sachlich geführt, und sie blieben frei von dem behördlichen Entsetzen über die ganze Richtung.

Es handelte sich immer um den gegebenen Fall, und war Anlaß zu Strafen gegeben, so griffen die Richter nicht zimperlich ein. Freilich, auf sechs und sieben Monate Gefängnis erkannten sie nicht; es fehlte ihnen an der Schadenfreude, mit der man in Sachsen beschwingten Meinungen die Federn ausrupfte.

Man war ruhig, manchmal ein wenig nüchtern.

Ich erinnere mich eines Vorsitzenden, der seine liebe Not hatte mit den getragenen, in die Höhe strebenden Ausführungen literarischer Sachverständiger; er zog sie immer wieder aus der Region freiheitlicher Gedanken auf den Boden der Tatbestandsmerkmale nieder.

Es handelte sich um eine Beleidigung der Sittlichkeitsprediger, und bei dem Thema konnte man warm werden.

Ludwig Ganghofer, der als sachverständiger Zeuge vor den Schranken stand, wurde warm und schlug mit der Faust auf den Richtertisch, daß die Tintenfässer klirrten; die Richter waren erstaunt, aber nicht gerührt, und brummten mir sechs Wochen auf.

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Meine Stellung als Angeklagter konnte mir sonderbar scheinen in Erinnerung an vergangene Jahre, wo ich als Protokollführer oben auf dem Plateau der Erkenntnis oder unten im Anwaltstalar gesessen hatte.

Nach einer Stuttgarter Verhandlung, in der die Rede war von Ludwig Pfau, vom Rechte der politischen Satire und von ihren Aufgaben, vom Kampfe für die Freiheit der Meinungen, war die Begründung des Freispruches noch nicht beendet, als ein junger Landstreicher hereingeführt wurde und meinen Platz einnahm.

Haußmann sah mich lächelnd an, das Publikum kicherte, und ich dachte an den Wandel des Schicksals.

 

Meine Erlebnisse im Gerichtssaale liegen nach der Zeit, von der ich erzähle.

Vom Herbste 1902 ab war ich wieder eifriger in der Redaktion des „Simplicissimus“ tätig.

Obwohl ich als Anfänger mit dem Erfolge der „Lokalbahn“ zufrieden sein konnte, fühlte ich keinen Drang in mir, festen Fuß auf der Bühne zu fassen. Erst sechs Jahre später versuchte ich es wieder mit der „Moral“.

Ich kam bis zum Herbste 1904, wo ich meinen „Andreas Vöst“ begann, überhaupt nicht zu größeren Arbeiten, schrieb kleinere Erzählungen, die Erlebnisse eines Lausbuben, später den „Heiligen Hies“.

Der Tod der alten Viktor wirkte lange auf mich nach, um so mehr, als er für mich den Verlust des [pg 254]letzten Stückes von Heim und Häuslichkeit bedeutet hatte.

Ich war nicht gerne allein und suchte Zerstreuung, ging auch mehr in Gesellschaft als früher.

Gerne schloß ich mich an Ludwig Ganghofer an; eigentlich war es sonderbar, daß wir uns nicht früher gefunden hatten, denn schon von Großvaters Zeiten her hatte es zwischen unsern Familien Beziehungen gegeben, und beide Schriftsteller, beide Jäger, beide aus sehr ähnlicher Umgebung stammend, hätten wir uns in Wien sicherlich sofort, in Berlin bald einander genähert. In München lebt aber jeder auf seiner Insel.

Er lud mich in sein Jagdhaus Hubertus ein, wo ich schöne Wochen verbrachte und wo mir Umgebung und Leben alte Kindererinnerungen an weltverlorene Bergtäler wachriefen.

 

Im Frühjahr 1903 machte ich mit Wilke und Thöny eine Radtour über Mailand, Genua, die Riviera entlang, dann zurück über Pisa nach Florenz, wo wir etwa sechs Wochen blieben. Ich bin die folgenden elf Jahre bis zum Ausbruche des Krieges in jedem Frühling nach Italien gereist, habe manche Freude dort gefunden, aber nie mehr habe ich sie mit der sorglosen Fröhlichkeit ausgenossen wie bei jenem ersten Male.

Thoma und Ganghofer
Thoma und Ganghofer

Von der Riviera allerdings war ich nicht in dem üblichen Maße entzückt; das schönste war die Fahrt [pg 257]bergauf, bergab die Küste entlang durch die kleinen Nester. Am lauen Abend, nachdem einen tagsüber die Sonne tüchtig verbrannt hatte, durch Pinienwälder zu fahren, tief unten das Meer gegen die Felsen branden zu hören, das war wundervoll.

Und wie war man in eine andere Welt versetzt, wenn man durch die engen Gassen der Fischerdörfer schritt, an den Gruppen schwatzender Menschen vorbei, die einen neugierig betrachteten.

Bunte Farben, das Trällern eines Liedes und immer wieder der Lärm eines Orgelklaviers, der einem lange nachfolgte, das alles mutete einen fremd und wieder vertraut an, wie etwas, das man sich in Sehnsucht so ausgemalt hatte.

Weiterhin, etwa nach Albenga, wurde es schon zu sehr Hotelpepinière, um anzusprechen, und die Landschaft, immer tiefes Blau und grelles Weiß, ermüdete den Blick; am wenigsten gefielen mir die vielgerühmten Palmen.

In Bordighera, das damals noch nicht auf großen Fremdenverkehr eingerichtet war, fanden wir in einer deutschen Pension gutes Unterkommen, blieben etwa eine Woche und besuchten das Paradies der Faulenzer und Gauner, Monte Carlo, das mich nicht bloß enttäuschte, sondern auch gründlich anwiderte.

Ich hatte ein recht unangenehmes Gefühl, weil ich nicht von dem Eindrucke loskam, daß diese aufdringliche Eleganz um mich herum zum großen Teil mit gestohlenem und unterschlagenem Gelde bestritten war; [pg 258]und wenn ich auch nicht an Prüderie kränkelte, so fand ich es keineswegs erhebend, von einer Gesellschaft umgeben zu sein, in der man die Diebe längst nicht mehr an den Fingern zählen konnte. Als ich das in einem Feuilleton so schilderte, wie ich es empfunden hatte, und die Meinung vertrat, der erhabene Fürst von Monaco, der von der Spielbank ausgehalten wird, lebe von recht unschönen Mitteln, kanzelte mich ein Journalist in einer Berliner Zeitung ab. Es sei unerträglich spießbürgerlich, sich als deutscher Moralphilister dagegen aufzulehnen, daß die amerikanischen Milliardäre in diesem Paradiese ihre Dollars sitzen ließen. Vielleicht kamen die Yankees zuweilen nach Monte Carlo; ihre Anwesenheit machte nichts besser, aber jedenfalls gaben sie dem Leben dort nicht das Gepräge. Ganz gewiß stellten das größte Kontingent Betrüger und Leichtsinnige, und auf sie war auch der ganze Betrieb zugeschnitten, auf sie machten die kostümierten Kokotten und die Händler mit Schwindelwaren Jagd. Gewiß auch auf zahlreiche Neugierige und Dumme, die sich Romane zusammengeträumt hatten vom großen Leben, das in Monaco berückend schön und angenehm gruselig anzustaunen sei. Am Ende war es nichts als ein Markt der Gemeinheit, und ein recht langweiliger obendrein.

Es kam mir auch so vor, als hätte tout Berlin, das sich im Vorsaale drängte, den eigentlichen prickelnden teuflischen Reiz vermißt.

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Wenigstens versicherte mir das Herr Alfred Holzbock, der plötzlich vor mir auftauchte, ganz so wie auf einem Berliner Balle, wo er den ausgelassenen Champagnergeist im ganzen Saale wie eine Stecknadel suchte und nicht fand.

Die Fahrt nach Florenz führte uns über Sestri Levante aufwärts durch entlegene Apenninendörfer, in denen wir manches anmutige und wieder belustigende Erlebnis mit dem neugierigen und naiven Volke hatten. Wilke hatte eine Kurbel abgetreten, und wir mußten in einem kleinen Dorfe haltmachen und versuchen, den Schaden reparieren zu lassen. Unsere Zweifel, ob das wohl in diesem Neste möglich wäre, zerstreute der Wirt, der uns mit großen, ausholenden Gesten und in feuriger Rede versicherte, es wäre der beste Mechaniker des Landes im Orte.

Wir brachten das Rad zu dem berühmten Künstler und ließen es uns in der Wartezeit wohl sein bei den trefflichen Makkaronis, die uns der Herbergsvater vorsetzte.

Wir mußten ihm viele Fragen nach unserer Herkunft, unserem Berufe, unseren Reiseplänen, auch nach dem Leben, das man in dem hyperboräischen Deutschland führe, beantworten; er hatte gehört, daß es auch dort trotz unwirtlicher Kälte viele Menschen, große Städte und sonderbarerweise ungemessenen Reichtum gebe.

Wir erzählten ihm Wahres und Unwahres und mehrten seinen Respekt vor den Nordmännern, die im [pg 260]Gelde schwimmen und trotzdem in der frostigen Gegend wohnen bleiben.

Ein paar Stunden später kam die ganze Einwohnerschaft die enge Gasse herunter zum Wirtshaus gezogen, Männer, Weiber, Kinder, alles was gehen konnte und Zeit hatte, und Zeit hatten sichtlich alle.

Voran schob triumphierend der Mechaniker das Rad Wilkes und übergab es feierlich dem Wirte, der es uns mit sichtlichem Stolze vorwies. Hatte er zuviel gesagt, daß der trefflichste Künstler des Landes in seinem Heimatorte zu finden sei?

Dann hielt er von der Freitreppe herunter eine Ansprache an die Einwohner, sagte ihnen, daß wir von weit her, aus dem großen Monaco di Baviera, nach dem schönen Italien gefahren wären, um uns an den Reizen dieses einzigen Landes zu erfreuen, daß wir nach dem altberühmten Florenz reisen wollten, wo reiche Menschen aus allen Ländern der Erde zusammenkämen, um die Kunstschätze zu bewundern. Er wünschte uns Glück zur Fahrt, schöne Tage und fröhliche Heimkehr. Die ganze Dorfschaft hörte andächtig zu und klatschte am Schlusse lebhaft Beifall, winkte uns zu und rief uns glückliche Reise nach, als wir aufstiegen und weiterfuhren.

Diese Leute waren so unverbildet, gutmütig und neugierig wie Kinder; und wie sie fand ich noch viele, ja eigentlich alle, besonders auf dem Lande.

Wie leicht hätte es sein müssen, mit ihnen stets im Frieden zu leben – wenn es in Italien keine abgefeim[pg 261]ten Advokaten und in Deutschland keine Diplomaten und Esel gegeben hätte.

Wie sonderbar aber die Ansichten über Volk und Land verbildet waren, das sah ich ein paar Wochen später in Florenz, als ein Tiroler Arzt uns mit sichtlichem Entsetzen fragte, ob es denn wahr sei, daß wir zu Rad durch die Apenninentäler gefahren wären.

Und er wollte es kaum glauben, daß wir das Wagnis ohne Abenteuer, ohne gefährliche Begegnungen mit Räubern bestanden hätten.

Ein Jahr später beschwor mich ein römischer Hotelier, ein geborener Italiener, ich möchte doch um Gottes willen von dem Plane abstehen, allein durch die Campagna gegen Amelia hin zu fahren, da ich sonst bestimmt Räubern in die Hände fiele.

So glücklich wirken die Zeitungen, und so bringen sie die Menschen einander näher.

Ich habe gerade auf jener Fahrt durch Umbrien und Toskana unter dem Landvolke die höflichsten, gastfreundlichsten Menschen gefunden, die kennenzulernen ebenso angenehm wie lehrreich war.

Denn Abkömmlingen Fra Diavolos bin ich nirgends begegnet.

Nach einer heiteren, durch ihre Sorglosigkeit beglückenden Fahrt ins Unbekannte hinein, die uns auf Schritt und Tritt noch mehr als die mit Sternen versehenen Baedekerwunder bot, überließen wir uns in Florenz mit freudigem Verständnisse dem Faulenzen [pg 262]und Schlendern, das sich in dieser Stadt zur wirklichen Kunst ausgebildet hat.

Wir suchten nicht mit unschöner Hast die Museen ab, wir besorgten das mit gelassener Ruhe, ohne Gewissensbisse, wenn wir es einmal an einem Vormittage versäumt hatten; wir lernten auf gut florentinisch, mit den Händen in den Hosentaschen, an einer schwärzlichen Toskana schnullend, durch die engen Gassen bummeln, an den Ecken stehen, wir spielten Boccia mit kleinen Handwerkern, wir schütteten gewandt wie die Ureinwohner das Öl aus den langhalsigen Fiaschis ab, um uns den trefflichen Chianti einzuschenken, wir wurden Kenner der Tortellini und Spaghetti und lernten diese widerspenstigen Nudeln elegant um die Gabel wickeln.

An einigen Mitgliedern der deutschen Künstlerkolonie fanden wir gute Berater und Wegweiser im süßen Nichtstun, und fast jeden Abend saßen wir im Keller des Palazzo Antinori, wo man zur Weltweisheit und Kunstgeschichte ziemlich viel Rotwein trank.

Wir waren bald Stammgäste und konnten uns an dem Empfange beteiligen, den man dem General von Mussinan bereitete, als er auf seiner Hochzeitsreise nach Florenz gekommen war und der Einladung der würdigen Künstlerkolonie folgend in unseren Keller hinunterstieg. Leere Fässer dienten als Trommeln, Gießkannen als Trompeten, als sofort bei seinem Erscheinen der Mussinanmarsch intoniert wurde; alle bemühten sich, dem alten Soldaten einen guten Be[pg 263]griff von deutscher Künstlerfröhlichkeit zu verschaffen, als sich Wilke erhob und ganz in der Manier eines Oberlehrers mit unerschütterlichem Ernste einen Vortrag über die Entstehung Fiesoles hielt. Der General hörte mit Aufmerksamkeit zu, bis man ihm ins Ohr flüsterte, daß dieser sich als Gelehrter gehabende Herr ein Mitarbeiter des „Simplicissimus“ sei und den größten Blödsinn auftische.

Unter den Künstlern, mit denen wir täglich verkehrten, war einer, der bei knappen Mitteln unbekümmert in den Tag hineinlebte und im Genusse einer frohen Stunde sich nie um die kommende sorgte. Wilke hatte ihn gleich am ersten Tage ins Herz geschlossen, weil ihm ein Vorfall gezeigt hatte, daß er hier eine verwandte Natur getroffen habe. Wir gingen nach San Miniato hinauf, und ein Herr der Gesellschaft, der mit jenem Maler befreundet war, machte ihn darauf aufmerksam, daß der Sommerüberzieher, den er anhatte, doch eigentlich zu abgetragen und schäbig wäre. Der Maler lächelte zu dem Vorhalte, zog den Mantel aus und warf ihn seelenruhig in den Straßengraben.

Von der Stunde an hatte er in Wilke einen Freund.

Unser besonderes Vergnügen hatten wir an den deutschen Reisenden, die nach Florenz gekommen waren, um eine unumgängliche Pflicht zu erfüllen, die immer Vergleiche mit den soviel besseren Zuständen daheim, die sie leider auf Wochen entbehren mußten, anstellten, und die gewissermaßen unter der Aufsicht eines sie un[pg 264]sichtbar begleitenden Bildungsüberwachungsorganes alle Museen rastlos durchjagten. Man konnte jedoch feststellen, daß sich die englischen Besucher, die stets in zahlreichen Trupps in die Kunststätten einfielen, noch unberührter und dämlicher zeigten. Die hatten immer einen Führer dabei, gewöhnlich einen, der vom vielen Laufen und Reden schwindsüchtig geworden war und dem sie mit Hilfe ihrer Baedeker genau aufpaßten, ob er auch alle besonders angemerkten Bilder und Plastiken in seinem monoton abgeleierten Vortrag erwähnte.

Wirkliches Interesse sah man nur im Kloster San Marco, wenn die Ladies und Gentlemen die verkohlten Reste des Hemdes anstarrten, das Girolamo Savonarola bei seiner Hinrichtung angehabt hatte.

Da umwehte sie nervenkitzelnd der Geist vergangener Zeiten, den der schwindsüchtige Führer vor den Mediceergräbern mit dem längsten Vortrag nicht herbeizitieren konnte.

Es war bei uns Sitte – und wenn es zur Besserung beitrug, war’s auch recht –, daß man sich über die deutschen Touristen im Auslande aufregte, aber wer die amerikanischen und englischen besser fand, hatte schlechte Augen.

Sie waren geschmackvoller angezogen, aber sonst boten diese zusammengetriebenen Herden von Gewohnheitsmenschen, die sich keiner Sitte des Landes anpaßten, nirgends dem Volke und seinem Leben nähertraten und wie Sträflinge die von Hoteliers vorgeschriebenen Dinner- und Supperstunden einhielten, [pg 265]begieriger nach ihren gewohnten jams als nach allen Kunstschätzen, wirklich kein Bild, das man den Deutschen vorenthalten konnte.

Unter denen gab es immer noch viele kunstfrohe, kenntnisreiche Leute, die abseits vom Haufen stille Freuden und wirklichen Gewinn fanden, und mit Bemerkungen über Jägerwäsche war es nicht abzutun, daß am Ende doch der deutsche Professor vieles in Italien für die Italiener zu neuem Leben erweckt hatte.

Mir war lange Jahre, bevor sich der Wunsch verwirklichen ließ, eine Wanderung durch Italien in Aussicht gestellt worden, und ich hatte mich, glückselig über das Versprechen, monatelang auf die Reise vorbereitet, die zuletzt unterbleiben mußte.

Was ich damals und später lernte, blieb nicht ohne Früchte. Besonders Victor Hehn hatte mich zur Vorliebe für Italien erzogen und mich schon im vornhinein von Vorurteilen kuriert, durch die sich viele Freude und Genuß verkümmern lassen. Ich sah mich nicht auf Schritt und Tritt enttäuscht, brachte nicht jedem Einheimischen Mißtrauen entgegen und konnte mich über bodenechte Lässigkeit und Unordnung freuen; die einförmige, alle Eindrücke verwischende Hotelkur vermißte ich gerne.

Wer Italien wie ein Museum durcheilt, in dem er nur die Kostbarkeiten einer vergangenen Zeit findet, indes er sich von allem Lebendigen abgestoßen fühlt, beraubt sich der Möglichkeit, die Eigenart des Landes wie des Volkes, die tiefen Zusammenhänge zwischen [pg 266]ihr und der einstigen Größe und so aus der Gegenwart die Vergangenheit verstehen zu lernen.

In den Museen waren mir meine Freunde die besten Führer, da sie unbeschwert durch Baedeker und gültige Anschauungen das Rassigste zu finden wußten, und ich erinnere mich gerne daran, wie mich Heine in die Uffizien aus den Sälen der toskanischen Meister holte, um mir die wundervolle Anbetung der Hirten von van der Goes zu zeigen. Neben den disziplinierten Leuten, die sich unverbrüchlich an die Sterne Baedekers hielten, waren nicht wenige Jünger der Kunstgeschichte zu bemerken, die es sich vorgenommen hatten, durch eine Entdeckung bekannt zu werden, und die in unbeachteten, irgendwo in einer Kapelle verborgenen Kunstwerken die eigentlichen Wunder des Quattrocento auffanden. Darüber ließen sich dann beachtenswerte Artikel schreiben.

Wenn man darüber lächelt, überkommt einen doch die unbändige Sehnsucht nach jener schönen Zeit, in der diese Dinge etwas bedeutet haben.

Auch strengen Richtern begegnete man, die mißtrauisch die Bilder musterten, und als ich wieder einmal vor dem großen Bilde des van der Goes stand, klopfte mir Karl Voll auf die Schulter und sagte im brunnentiefen Basse: „Ja, ja, Sie haben es schön; Sie dürfen hier alles bewundern, unsereiner aber muß die Bilder auf ihre Echtheit untersuchen.“ Und dann ging er gleich daran, seinem Verdachte gegen einen Memling neue Nahrung zu geben.

[pg 267]

Durch Zufall fand ich in Florenz bei einem Antiquar etliche Bände Vasaris in deutscher Übersetzung und ging nun daran, mit der Lebensgeschichte alter toskanischer Meister ihre Werke an den von Vasari angegebenen Stätten kennenzulernen und sie aufzusuchen, wenn sie dort nicht mehr zu finden waren. Dieser Anschauungsunterricht verschaffte mir schöne Stunden, dabei auch die bleibende Überzeugung, daß die erzählende, von Kritik und vordringlicher Klugheit freie Kunstgeschichte Vasaris unendlich lehrreicher, vornehmer und verdienstlicher ist als alles, was moderne Weisheit über Kunst zusammengeschrieben hat.

Von den Werken der in Florenz lebenden deutschen Künstler sah ich nicht viel, und mancher der trefflichen Meister erinnerte mich an Gottfried Kellers Bildhauer, der in Rom viele Jahre an einer Statue arbeitete und immer italienischer und dolcefarnienter wurde.

Es mußte sehr schwer sein, sich an sonnigen toskanischen Tagen in ein Atelier gebannt zu sehen.

Auch wir seufzten über die Beiträge, die wir doch für die Münchner Redaktion zu machen hatten, und Mama Frattigiani, bei der wir wohnten, hatte das ganz echte florentinische Mitleid mit den armen Menschen, die arbeiten mußten. Der faulste war ihr Liebling, und diesen Rang nahm unbestritten Rudolf Wilke ein, den man nur durch furchtbare Drohungen mit Entziehung von Geld, Nahrung und Chianti dazu [pg 268]brachte, eine Zeichnung anzufangen oder gar zu vollenden.

Für Thöny war die gegenüberliegende Kaserne eines Kavallerieregimentes eine wahre Fundgrube der Unterhaltung und Belehrung.

Was man sah, war in allem das Gegenteil vom deutschen Drill; eigentlich geschah nie etwas, und immer schien das Wichtigste zu geschehen. Wenn ein Heuwagen einfuhr, schmetterten die Trompeten, Soldaten liefen durcheinander, Offiziere kommandierten, Signal auf Signal ertönte, bis endlich der Wagen in der Remise war. Dann breitete sich wieder unendliche Ruhe über dem Kasernenhofe aus.

Carlo Böcklin, der Sohn des Maestro Arnoldo, und Peter Bruckmann, sein Schwiegersohn, bereiteten uns eines Abends ein Fest in Fiesole, wozu sie die Liedertafel des Ortes eingeladen hatten.

Lauter Handwerker, Maurer, Schuster, Schneider, zeigten uns die Leute soviel vornehme Höflichkeit, wie sie wohl in keinem anderen Lande bei ihresgleichen anzutreffen sind. Sie sangen wundervoll und nahmen unsere Begeisterung darüber gelassen auf, nippten nur ein wenig an dem Wein, der ihnen vorgesetzt wurde, um uns freundlich Bescheid zu geben, und als ein Deutscher die unvermeidliche Rede auf Bündnis, Freundschaft und Garibaldi gehalten hatte, erwiderte ein Maurerpolier, mit edler Gebärde aus der Schar vortretend, mit einer Rede von Sonne und Mond, die [pg 269]über allen Ländern schienen, und vom Gesang, der aller Menschen Herz erfreue.

Alles, was wir kennen und besser verstehen lernten, war dazu angetan, uns Liebe zu Land und Leuten einzuflößen und in uns, als wir scheiden mußten, den Wunsch nach baldiger Wiederkehr wachzuhalten.

Wir durften ihn auch gemeinsam erfüllt sehen, aber so fröhlich haben wir den Aufenthalt nie mehr genossen wie bei jenem ersten Male.

 

Wir waren noch in Florenz, als wir die Nachricht erhielten, daß Albert Langen nach München zurückgekehrt sei. Er war zwei Monate vorher zu uns nach Bordighera gekommen und hatte damals Andeutungen gemacht, daß vielleicht die Strafverfolgung gegen ihn eingestellt und ihm die Heimkehr gestattet werde.

Ich glaubte nicht daran, weil ich keine Ahnung davon hatte, daß dem König von Sachsen ein Recht zustand, im Gnadenwege Prozesse niederzuschlagen. Auf Verwendung Björnsons und eines einflußreichen sächsischen Herrn wurde von diesem Rechte Gebrauch gemacht, und gegen Bezahlung einer ziemlich hohen Summe durfte Langen nach fünf Jahren wieder nach Deutschland kommen.

Er lebte wieder auf, und wer ihn nunmehr geschäftig, voll von Plänen, rastlos und glücklich zugleich sah und die völlige Veränderung in seinem Wesen bemerkte, der konnte wirklich die Anschuldigung, er habe absicht[pg 270]lich durch eine Majestätsbeleidigung Geschäfte machen wollen, rechtschaffen dumm finden.

Die lange Abwesenheit hätte das Bestehen seines Unternehmens gefährden können, wenn nicht der Konzern der Mitarbeiter den „Simplicissimus“ unabhängig von geschäftlicher Leitung erhalten hätte.

Als das Blatt drei Jahre später in die Hände der aus Langen und den Mitarbeitern bestehenden Gesellschaft überging, fehlte es nicht an Leuten, die in dieser Transaktion eine Vergewaltigung sehen wollten, und Wedekind hat diese Meinung zu einem Stücke verwendet.

Wer gerecht urteilen will, mag sich sagen, daß wir, wenn wir von Langen schon etwas erzwingen wollten, nie eine bequemere Gelegenheit dazu gehabt hatten als in der Zeit, wo er in Paris weilte und alles von unserem guten Willen abhing.

Der Anspruch auf Beteiligung war vollauf begründet, als Langen den Preis des „Simplicissimus“ erhöhte. Darin lag ein Risiko, das wir mitzutragen hatten, und so konnten wir auch ein Recht auf den Vorteil beanspruchen.

Damals, also nach der Rückkehr aus Italien, fand ich Langen glückselig in neu erwachter Unternehmungslust vor; auch äußerlich hatte er sich völlig verändert, da er den gepflegten, etwas pariserisch anmutenden Vollbart abgetan hatte und glattrasiert eher einem amerikanischen Geschäftsmanne glich.

Er war mit Elektrizität geladen, brachte jeden Vor[pg 271]mittag neue Vorschläge ins Büro, hielt Conseils ab und fühlte sich pudelwohl, wenn er mit sprunghaften Ideen Redaktion und Verlag in Bewegung erhielt.

Der Kreis der Mitarbeiter hatte in Olaf Gulbransson Zuwachs erhalten.

Im März 1902 hatte mir Langen in Paris ein von Gulbransson illustriertes Buch gezeigt und schon damals die Absicht geäußert, den Künstler für den „Simplicissimus“ zu gewinnen; im Sommer darauf lud er ihn nach Aulestad ein und überredete ihn, schon im Herbste nach Deutschland zu übersiedeln.

Gulbransson kam im November nach Berlin, wo er nach Langens Meinung zuerst einmal Studien machen sollte, aber der Aufenthalt behagte ihm so wenig, daß ihn die übernommene Verpflichtung beinahe reute.

Kaum war er im Januar 1903 in München angelangt, fühlte er sich, obwohl er kein Wort deutsch sprach und verstand, heimisch und zeigte auch gleich das lebhafteste Verständnis für die Freuden des Karnevals, der damals reizvoller war als späterhin, wo er für die herbeieilenden Fremden originell werden mußte.

Ich erinnere mich an sehr ernsthaft ausgesponnene Beratungen, die von namhaften Männern über einen Künstler- und Schriftstellerball abgehalten wurden, und die ein solches Fest als wichtige Haupt- und Staatsaktion erscheinen ließen.

Die Vorbereitungen dazu führten mich mit Ignatius Taschner zusammen, mit dem mich bald eine [pg 272]Freundschaft verband, die für mich zum Lebensereignisse und wertvollsten Besitztume geworden ist.

Als er damals mit dem Bildhauer August Heer zu einer Besprechung kam, war’s mir nach den ersten Worten, als hätten wir uns zeitlebens gekannt und wären als Nachbarkinder mitsammen aufgewachsen.

In einer entbehrungsreichen Jugend und in den härtesten Kämpfen hatte er sich eine Fröhlichkeit bewahrt, die jedes Zusammensein zum Feste machte.

Sein Vater stammte aus Niederbayern, seine Mutter war Fränkin, und die Eigenschaften der beiden Rassen waren in ihm auf das glücklichste vereint.

Übermütig, derb, ungemein tätig und arbeitsfroh, und wieder so ernsthaft, pflichttreu, aufs Kleinste bedacht, schien er in seinem Charakter, wie in seiner Kunst aus einer vergangenen, so viel schöneren Zeit zu stammen.

Wenn er von seiner Lehrlings- und Gesellenzeit erzählte, war’s wie eine Dreingabe zu Kellers Gerechten Kammachern, und wie klang es dann wieder ernsthaft und zum Herzen dringend, wenn er über künstlerische Dinge sprach!

Keiner hat wie er die heimlichen Zusammenhänge von Heimat und Rasse mit der Kunst gekannt, keiner so verstanden, wie sie über tüchtiges Handwerk hinaus zur höchsten Kunst führen, und das war bei ihm angeborenes oder durch Arbeit errungenes Wissen, weit weg von angelernter Doktrin.

Thoma mit Taschner, Peter Thoma und Schauspieler Deng
Thoma mit Taschner, Peter Thoma und Schauspieler Deng
[pg 275]

Darum war er unbeirrbar durch alles, was Mode oder Richtung heißen mag, und zeigte in seinem Leben wie in seinem Schaffen die Art der hohen fränkischen Meister, deren Geist in ihm wieder lebendig geworden war. Ich verdanke ihm viel.

Anregung, Belehrung, Freude, die fröhlichsten, wie die inhaltsreichsten Stunden, Verständnis für die Kunst und ihre Wirkungen auf alle Erscheinungen des Lebens.

Im Umgange mit ihm fand ich Sicherheit; er lehrte mich durch Wort und Beispiel, strenger gegen mich sein.

Er nahm einige Monate, nachdem wir uns kennengelernt hatten, einen Ruf nach Breslau an; zwei Jahre später ging er nach Berlin, wo er die fruchtbarste Tätigkeit entfaltete. Aber wenn er nur irgend konnte, kehrte er nach Süddeutschland zurück, und immer war mir ein Heimweh gestillt, wenn er bei mir war.

Viele Pläne hatten wir gefaßt; sie sollten ausgeführt werden, wenn er, aller Verpflichtungen ledig, in seinem Hause in Mitterndorf endlich zu freier, durch keine Aufträge festgelegter Arbeit gekommen wäre. Die Erfüllung unserer Wünsche war nahegerückt, als er starb.

Mit ihm ging mir manche lieb gewordene Hoffnung zu Grabe, doch am härtesten traf es mich, daß ich seine ehrliche, kluge Freundschaft verlieren mußte.

Damals im Januar 1903 half er froh und ausgelassen an den Karnevalsunterhaltungen mit.

[pg 276]

Auf seine Anregung veranstalteten wir einen Veteranenball, bei dem es wie in einem altbayrischen Dorfe hergehen mußte; wir stellten lebende Bilder aus dem Jahre 1870, und das Fest gefiel so, daß wir es die folgenden drei Jahre wiederholten.

Derartige Dinge wurden ja in München sehr ernst genommen, und zu ihrem Gelingen wurden Mühe und Fleiß und sehr viel Können aufgewandt.

Ich erinnere mich an ein antikes Fest im Hoftheater, das Lenbach und Stuck und alle bekannten Künstler wochenlang vorbereiteten.

Natürlich hat man das in der Hauptstadt der Kritik ein bißchen ironisch beurteilt, aber wo immer Künstler die Bedingungen fröhlichen Zusammenlebens gefunden haben, sind Feste gefeiert worden, und wo das unterblieben ist, hat es nicht der Ernst der Arbeit verhindert.

In München ist auch mehr und mehr die Lust zu größeren Veranstaltungen geschwunden; die Zerwürfnisse in der Künstlerschaft, die Spaltung in zahlreiche Gruppen trugen viel dazu bei, und ich glaube nicht, daß sich bei den jüngeren Leuten soviel Phantasie finden ließe, wie ehedem zu Festen aufgewandt wurde; übersprudelndes Talent und Humor wird niemand von den Kümmerlingen erwarten, die sich heute gegenseitig ihre expressionistische Bedeutung aufschwätzen.

 

Langen konnte sich ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr recht in sein Element, in das bewegteste Leben, ver[pg 277]setzt fühlen, da wir mit einer gegen die Zentrumsherrschaft gerichteten Nummer großen Aufruhr erregten.

Ich hatte mit einer im Stile Abrahams a Santa Clara gehaltenen Predigt gegen die Dunkelmänner Veranlassung zur Konfiskation gegeben. Eine heftige Polemik setzte in den Zeitungen ein, der Minister von Feilitzsch wurde in der Kammer interpelliert, ein Abgeordneter las im Landtag Bruchteile der Predigt vor, und als der Präsident von Walther dagegen einschritt, ließ er sich irgendwelche Verstöße gegen die Geschäftsordnung zuschulden kommen und mußte abtreten; die Frage, ob München oder Stuttgart zuständig sei, führte zu lebhaften Kontroversen, der Generalstaatsanwalt lud mich sogar zu einer Besprechung ein, die er mit den Worten schloß: Vive la guerre!

Ich beteiligte mich ausgiebig an der Zeitungspolemik und handelte nach dem Grundsatze, daß die beste Abwehr der Hieb sei.

So griff ich auch ohne Federlesen den Richter an, der im Ermittelungsverfahren tätig gewesen war und, als Sohn eines ultramontanen Abgeordneten selbst mit einem Zentrumsmandat behaftet, seine politische Abneigung deutlich genug ins Amtliche übersetzt hatte.

Das löste natürlich erneutes Zetergeschrei aus, und wochenlang blieb das Feuerchen angefacht, bis die Sache zuletzt wie das Hornberger Schießen ausging.

Langen glänzte vor Vergnügen.

Wenn unsere Feinde, die sich gewiß herzliche Mühe gaben, äußerst bittere Sätze gegen uns zu konstruieren, [pg 278]gehört hätten, wie ihre saftigsten Artikel unter schallendem Gelächter vorgelesen wurden, dann hätten sie wahrscheinlich den Kampf aufgegeben.

Aber die Herren vom Zentrum waren selber so empfindlich, daß sie sich jene Wirkung ihrer Angriffe niemals hätten vorstellen können.

Gute Hasser waren sie. Als ich ein Jahr später wegen Beleidigung einiger Sittlichkeitswächter unter den Pastoren verurteilt wurde, rauschte Beifall durch die Zentrumspresse, und manches Blatt stellte sich entsetzt über mein Vergehen, wenn es auch anderen Tages wieder die ausgiebigsten Beschimpfungen gegen den Protestantismus brachte.

Mir aber war das ganz und gar nicht in den Sinn gekommen; ich hatte mich nur gegen die unverschämte Rede eines einzelnen gewandt, der sich als Tugendbeispiel und ganz Deutschland als sittlich verkommen bezeichnet hatte.

Nach meiner Verurteilung beschäftigte sich ein Sittlichkeitskongreß in Magdeburg mit mir, und ein Berliner Hofprediger sprach der Vorsehung, die meine Bestrafung herbeigeführt hatte, seine wohlwollende Anerkennung aus. Ich wollte dazu nicht schweigen und brachte in einem von Gulbransson illustrierten Flugblatte jener Magdeburger Versammlung einen größeren Mangel an Ehrerbietung entgegen.

Das Blatt war in München gedruckt, und ich mußte mich vor dem Schwurgericht verantworten. Von einer erhöhten Bank aus, auf der sonst Mörder [pg 279]und Diebe saßen, blickte ich hinüber zu den Geschworenen, unter denen ich recht behäbige, einem derben Spaß wohlgeneigte Landsleute bemerkte. Ich wäre als dreizehnter unter ihnen vielleicht der gewesen, dem eine saftige Geschichte das geringste Vergnügen bereitet hätte.

Als mein Gedicht vom Protokollführer im trockensten Tone vorgelesen wurde, schlugen sogleich einige hanebüchene Stellen ein; verschiedene Geschworene hatten Mühe, ernst zu bleiben, und kämpften mit blauroten Gesichtern gegen den Lachreiz an; die ehrbaren Volksrichter waren wie Schulkinder, die heimlich kichern.

Die Verhandlung, welche übrigens mit einem Freispruche endete, wurde im Landtag und bei ultramontanen Parteitagungen recht abfällig kritisiert, weil zwölf Sachverständige, darunter Professor Forel aus Zürich, Dr. Hirth, Ganghofer u. a., Stellung gegen die Anklage genommen hatten.

Außerdem kam es zu einer Beschwerde beim Justizminister, da der Staatsanwalt einige Sachverständige angeflegelt hatte.

Das Bezeichnendste dafür, wie töricht damals Parteipolitik getrieben wurde, ist, daß man, wütend über den Ausgang des Prozesses, die in Bayern gesetzlich festgelegte Zuständigkeit der Schwurgerichte für Preßvergehen am liebsten aufgehoben hätte. In einer verärgerten Stimmung wollte man ein wichtiges Volksrecht aufgeben und vergaß völlig, daß ihm die [pg 280]ultramontane Presse in der Ära Lutz sehr viel zu verdanken gehabt hatte.

Damals schrieb ein klerikales Provinzblatt, daß Religion und Sitte in Bayern durch meine Freisprechung für vogelfrei erklärt worden seien; so dick trug die Partei auf, als es sich nicht einmal um eine sie nahe berührende Sache handelte.

Freilich hatte man etliche Monate vorher vergeblich die Lärmtrommel gegen den Verfasser des „Andreas Vöst“ gerührt, und der „Bayrische Kurier“ hatte das Ministerium erfolglos aufgefordert, die Kirche und ihre Diener pflichtgemäß gegen die Veröffentlichung des Romans zu schützen.

Die Feindseligkeiten verschärften sich, und der Ton wurde grob und gröber, als ich die Briefe eines ultramontanen Abgeordneten veröffentlichte. Ich war nicht wehleidig und konnte es verstehen, daß mir aus dem Zentrumswalde kein liebreiches Echo entgegenschallte, aber imposant fand ich die mächtigen Gebieter des Landes nicht, die so wenig innerliche Stärke bei so viel äußerlicher zeigten.

Wenn wir im Januar 1906 bei Gründung der Gesellschaft geglaubt hatten, daß nunmehr ein lange dauerndes gemeinsames Schaffen gesichert wäre, so zeigte uns das Schicksal wenige Jahre später, daß sich auf die Zukunft nicht bauen läßt.

Seit 1907 kränkelte Wilke, im November 1908 starb er an einer Lungenentzündung.

J. B. Engl war ihm vorausgegangen, und Ende [pg 281]April 1909 folgte ihm Albert Langen, dessen Leiche Ferdinand von Reznicek nach Köln überführte. Vierzehn Tage darauf starb auch er in einer Münchner Klinik an Magenblutung.

Wilke war vierunddreißig Jahre alt, Langen neununddreißig, Reznicek vierzig; allen dreien schien nicht nur das blühende Alter, sondern auch Kraft und Gesundheit langes Leben zu verbürgen. Wilke allerdings, dessen Stärke und Gewandtheit einmal vorbildlich waren, hatte uns schon ein Jahr vor seinem Tode Grund zu Befürchtungen gegeben, aber ganz unvermutet kam das Ableben Langens und Rezniceks.

Dieser war der typische Österreicher von guter Familie; taktvoll, liebenswürdig, heiter, in Manieren wie im Charakter vornehm. Ich habe ihn nie laut oder heftig gesehen, und ich glaube, er wäre gegen Brutalität völlig hilflos gewesen. Die Grazie, die seine Zeichnungen auch denen, die herbere Kunst schätzen, wertvoll machte, lag in seinem Wesen.

Von den Künstlern, die durch den „Simplicissimus“ und die „Jugend“ bekannt wurden, war er sogleich der populärste, und er ist es geblieben.

Daß er, verhätschelt und umworben, von Eitelkeit völlig frei blieb und ganz und gar nicht zügellos lebte, bewies seinen wirklichen Wert, den nur die anzweifelten, die ihn nicht persönlich kannten. Die Art und das Gegenständliche seiner Kunst veranlaßten manchen Sittenrichter, der sehr unangefochten leben konnte, in dem guten Ferdinand von Reznicek einen Wüstling zu [pg 282]vermuten, und zuweilen wurde ihm das auch gedruckt unterbreitet.

Derlei Vorwürfe verletzen die Ehre der Männer nicht, vielen erscheinen sie so schmeichelhaft, daß sie sie mit diskretem Lächeln entgegennehmen, Reznicek aber blieb davon unberührt. Er war weder der „verfluchte Kerl“, noch wollte er es zu sein scheinen.

Ohne Launen, immer aus dem Herzen heraus liebenswürdig, hilfsbereit und empfänglich für jede heitere Stimmung, war er der beste Kamerad, in dessen Gegenwart Mißmut nie aufkommen konnte.

Krankheit und Tod lassen den Charakter eines Menschen erst recht erkennen.

Alle drei, Wilke, Langen und Reznicek, haben die härteste Prüfung würdig bestanden, und sie sind ohne zweckloses Klagen tapfer gestorben, und die letzten Dinge waren für die Art eines jeden von ihnen bezeichnend.

Wilke lehnte sich mit einer unmutigen Gebärde gegen den Tod auf; als er auf dem Krankenlager in seiner Heimatstadt Braunschweig fühlte, daß es zu Ende gehe, sagte er nur: „Das ist dumm.“

Und es war töricht, daß ein genialer Mensch, als er sein Bestes erst noch zu geben hatte, weg mußte.

Langen traf ruhig Anordnungen über seinen Nachlaß, und von dieser Sorge befreit, dankte er höflich lächelnd dem Anwalte, der das Testament aufgesetzt hatte; keine Klage, kein wehleidiges Wort entschlüpfte ihm.

[pg 283]

Reznicek, der sich in einer Klinik operieren lassen wollte, schrieb mir zwei Tage vor seinem Tode, daß er der Sache mit der üblichen Fassung entgegensehe; als dann ein heftiger Blutsturz jede Hoffnung vereitelte, bat er den Arzt, daß er ihm nach dem Ableben das Herz mit einer Nadel durchstechen solle, und bestellte Grüße an uns alle.

Der Tod dieser drei Männer, wie der von J. B. Engl, war ein harter Schlag für den „Simplicissimus“, und wenn er auch überwunden wurde, so bleibt es doch wahr, daß Künstler wie Wilke und Reznicek unersetzlich waren.

Mit der Erinnerung an sie soll das Buch enden; durch ihr Hinscheiden waren Lücken in den einst so fröhlichen Kreis gerissen, die nichts mehr schließen konnte, und manche Änderung, die eintrat, läßt mich in jenen Ereignissen den Abschluß einer heiteren, erfolgreichen Zeit sehen.

Spätere Erlebnisse haben kaum mehr Einfluß auf mein Schaffen gehabt; was nun kam, war Arbeit und Ernte, kein Kampf mehr ums Werden.

Das Schicksal des Vaterlandes hat fast alle Zusammenhänge zwischen damals und heute zerrissen; es führt keine Entwicklung aus jener nahen Vergangenheit, die uns doch so weit entrückt wurde, herüber.

Ich fühle mich um so mehr vereinsamt, als ich alles, was sich heute in der Literatur, in der Kunst, in der Politik lärmend vordrängt, verabscheue.

[pg 284]

In dieser Zeit, in der das Ungeheuerlichste alltäglich wurde, haben unbeschäftigte Gemüter Muße gefunden, dem „Simplicissimus“ wie mir persönlich vorzuwerfen, daß wir im Kriege unsere Ansichten geändert, unsere einmal heftig verfochtenen Grundsätze aufgegeben hätten.

Es ist ein Laster politisierender Spießbürger, im Festhalten an einer Meinung ein Verdienst zu erblicken.

Es liegt im Lernen und im Bekennen.

Und zudem ist der Vorwurf unbegründet.

Im „Simplicissimus“ sind wir alle – ich weder allein, noch vorzugsweise – für die Erhaltung des Friedens eingetreten, wir haben ohne ängstliche Rücksichten das persönliche Regiment mit seinen schädlichsten Begleiterscheinungen, dem aufdringlichen Reden, der Heldenpose, der Gottähnlichkeit, der Operettenpolitik, dem Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl, angegriffen, wir haben das rückgratlose Philistertum, die verlogene Phrase, wir haben jede Schnodderigkeit und Selbstgefälligkeit bekämpft, aber als der Krieg da war, gab es nichts mehr als das Schicksal des eigenen Landes.

War es ein Fehler, daß wir ebensowenig blind waren gegen das Heldentum des deutschen Volkes wie gegen den giftigen Haß der Feinde?

Oder war es ein Verbrechen, Vertrauen zu haben, wenn Mißtrauen und Zweifel nur Verwirrung anrichten konnten?

Wer das heute behauptet und alle Meinungen hinterher nach dem endlichen Ausgange korrigiert [pg 287]haben will, ist doch nur ein Schwätzer, und sein Tadel trifft nicht hart. Ich glaube heute, was ich immer geglaubt habe, daß auf dem Boden der alten Gesellschaftsordnung recht wohl die Reformen zu erreichen waren, die das Glück und die Größe Deutschlands sichergestellt hätten.

„UM MICH IST HEIMAT. UND DIE ERDE KANN EINMAL DEN, DER SIE HERZLICH LIEBTE, NICHT DRÜCKEN“
„UM MICH IST HEIMAT.
UND DIE ERDE KANN EINMAL DEN, DER SIE HERZLICH LIEBTE, NICHT DRÜCKEN“

Der Kampf für sie mußte am 1. August 1914 nicht aufgegeben werden, aber er mußte aussetzen, und Schweigen war Pflicht.

International zu empfinden, gerecht gegen die verderblichsten Feinde zu sein, war nie in meiner Natur gelegen, und es fiel mir wirklich nicht schwer, ihnen den Untergang, Deutschland aber den vollen Sieg zu wünschen.

So mag sich, wer will, über meine Wandlungen und meine Wandlungsfähigkeit aufregen.

Von dem Drucke, den ich wie alle nach dem Zusammenbruche des Vaterlandes auf mir lasten fühle, suchte ich und fand ich zeitweilige Befreiung in der Erinnerung an die Vergangenheit.

Ich habe dem Schicksal für vieles dankbar zu sein, am meisten für eine Jugend, in der ich wie in frischen Quellen Erquickung finde und die mir durch das Andenken an die Eltern verschönt bleibt.

In dem schlichten Wesen meines redlichen Vaters zeigt mir jeder Zug die staubfreie, aller Engherzigkeit abholde Art des Forstmannes vom alten Schlage.

Ich war noch ein Kind, als er starb, und ich lernte ihn lieben aus der Schilderung, die mir meine Mutter [pg 288]von ihm gab; sie hatte seinen gütigen, alles exaltierte Empfinden ausschließenden Humor um so besser würdigen können, als er in ihrer heiteren Natur den schönsten Widerklang gefunden hatte.

Ihr Leben ist Mühe und Arbeit und Freude daran gewesen. Als ihr nach dem Tode meines Vaters die Sorge für sieben unmündige Kinder überlassen blieb, bei einer Witwenpension von nicht ganz hundert Mark im Monat, griff sie tapfer zu und pachtete den Gasthof „Zur Kampenwand“ in Prien.

Zu unserer Erziehung hatte sie kein anderes Mittel als ihre Herzensgüte; Schärfe lag nicht in ihrem Wesen, aber ebensowenig blinde Liebe, die sich an Fehlern ergötzt oder darüber wegsieht.

Ihr überlegener, ganz auf Tüchtigkeit gerichteter Verstand ließ sie manches heitere, treffende Wort finden, das einen jungen Menschen von verstiegenen Ansichten heilen mußte. Wie wertvoll ihr gesundes Urteil war und was es bedeutete, daß sie nie landläufige Meinungen nachsprach und nie Redensarten gebrauchte, das lehrte mich erst das Leben verstehen.

Ich habe späterhin zuweilen gehört, wie dieser und jener Wunsch nach Zerstreuung und Vergnügen berechtigt sei, ich habe erfahren, daß eine gewisse Bildung verschiedene Ansprüche erfüllt sehen müsse, um fortdauern zu können; meine Mutter hat nie Ansprüche gestellt, und doch besaß sie eine Herzensbildung, die ihr Leben wie das ihrer Kinder verschönte. Ich durfte in meiner Jugend das hohe und bleibende Glück genießen, [pg 289]an ihrem Beispiele den Segen eines bescheidenen Sinnes kennenzulernen.

Den Schatz, der in der Erinnerung an edle Eltern liegt, hat mir ein gütiges Geschick verliehen.

Und auch dafür bin ich ihm dankbar, daß es mich in die engste Heimat zurückgeführt hat.

Aus den Fenstern meines Tegernseer Hauses sehe ich zu den Bergen hinüber, die das Lenggrieser Tal einschließen, und sie tragen vertraute Namen; in den Wäldern, die sich an ihren Hängen hinaufziehen, lief ich neben meinem Vater her, und das stille Forsthaus, in dem ich die Kinderzeit verlebte, liegt nicht allzu weit von hier. Wo ich auch war, und was mir das Leben auch gab, immer hatte ich Heimweh danach, immer regten sich in mir Neigungen, die aus jenen frühesten Eindrücken herstammen.

Viele Wünsche gingen mir in Erfüllung, anders und schöner, als ich erwartet hatte, auch der Wunsch, der am tiefsten in mir wurzelt, hier leben und schaffen zu dürfen.

Je enger sich der Kreis von Ausgang und Ende schließt, desto stärker empfinde ich es, wie darin das beste Glück enthalten ist.

Um mich ist Heimat.

Und ihre Erde kann einmal den, der sie herzlich liebte, nicht drücken.

[pg 290]

Handschriftenfaksimile

[Transkription:]

Am San

Wo ist die Heimath? Ach so weit!
Wer über hundert Hügel geht,
Wer auf dem höchsten Berge steht,
Kann sie noch nicht erschauen.
Wir hören’s wohl im frohen Mai,
Es grüne in der gleichen Welt
Der deutsche Wald, das deutsche Feld,
Und wollen schier nicht trauen.
Wo liegt die Heimath? Ach so nah!
Ich weiß mit jedem Herzensschlag,
Daß nichts von ihr mich scheiden mag,
Nicht Berg und Fluß und Auen.

Ludwig Thoma
z. Zt. im Feld


Bemerkungen zur Textgestalt

Inhaltsverzeichnis, Abbildungsverzeichnis und Transkription des Handschriftenfaksimiles wurden in der elektronischen Ausgabe hinzugefügt.

Die Originalausgabe ist in Fraktur gesetzt. In Antiqua gesetzt sind in ihr römische Zahlen (in der elektronischen Ausgabe ohne Hervorhebung wiedergegeben, ebenso die Abkürzung „Dr.“) und einzelne Wörter aus fremden Sprachen (hier kursiv wiedergegeben). Gesperrt gesetzte Passagen sind in dieser Form übernommen.

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***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ERINNERUNGEN***

Credits

September 26, 2009  
Project Gutenberg TEI edition 1
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A Word from Project Gutenberg

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Section 1.

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1.B.

„Project Gutenberg“ is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg™ electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg™ electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg™ electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C.

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation („the Foundation“ or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg™ electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is in the public domain in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope that you will support the Project Gutenberg™ mission of promoting free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg™ works in compliance with the terms of this agreement for keeping the Project Gutenberg™ name associated with the work. You can easily comply with the terms of this agreement by keeping this work in the same format with its attached full Project Gutenberg™ License when you share it without charge with others.

1.D.

The copyright laws of the place where you are located also govern what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in a constant state of change. If you are outside the United States, check the laws of your country in addition to the terms of this agreement before downloading, copying, displaying, performing, distributing or creating derivative works based on this work or any other Project Gutenberg™ work. The Foundation makes no representations concerning the copyright status of any work in any country outside the United States.

1.E.

Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1.

The following sentence, with active links to, or other immediate access to, the full Project Gutenberg™ License must appear prominently whenever any copy of a Project Gutenberg™ work (any work on which the phrase „Project Gutenberg“ appears, or with which the phrase „Project Gutenberg“ is associated) is accessed, displayed, performed, viewed, copied or distributed:

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1.E.2.

If an individual Project Gutenberg™ electronic work is derived from the public domain (does not contain a notice indicating that it is posted with permission of the copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in the United States without paying any fees or charges. If you are redistributing or providing access to a work with the phrase „Project Gutenberg“ associated with or appearing on the work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg™ trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3.

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1.E.4.

Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg™ License terms from this work, or any files containing a part of this work or any other work associated with Project Gutenberg™.

1.E.5.

Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this electronic work, or any part of this electronic work, without prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with active links or immediate access to the full terms of the Project Gutenberg™ License.

1.E.6.

You may convert to and distribute this work in any binary, compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any word processing or hypertext form. However, if you provide access to or distribute copies of a Project Gutenberg™ work in a format other than „Plain Vanilla ASCII“ or other format used in the official version posted on the official Project Gutenberg™ web site (http://www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon request, of the work in its original „Plain Vanilla ASCII“ or other form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg™ License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7.

Do not charge a fee for access to, viewing, displaying, performing, copying or distributing any Project Gutenberg™ works unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8.

You may charge a reasonable fee for copies of or providing access to or distributing Project Gutenberg™ electronic works provided that

•  

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1.E.9.

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1.F.

1.F.1.

Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread public domain works in creating the Project Gutenberg™ collection. Despite these efforts, Project Gutenberg™ electronic works, and the medium on which they may be stored, may contain „Defects,“ such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by your equipment.

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Except for the limited right of replacement or refund set forth in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS,' WITH NO OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

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Some states do not allow disclaimers of certain implied warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

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Section 2.

Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of electronic works in formats readable by the widest variety of computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg™'s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.

Section 3.

Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://www.pglaf.org

For additional contact information:

Dr. Gregory B. Newby
Chief Executive and Director
gbnewby@pglaf.org

Section 4.

Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit http://www.gutenberg.org/fundraising/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: http://www.gutenberg.org/fundraising/donate

Section 5.

General Information About Project Gutenberg™ electronic works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

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