Project Gutenberg's Olivia oder Die unsichtbare Lampe, by Jakob Wassermann

This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
almost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away or
re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
with this eBook or online at www.gutenberg.org


Title: Olivia oder Die unsichtbare Lampe

Author: Jakob Wassermann

Release Date: June 18, 2007 [EBook #21860]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK OLIVIA ODER DIE UNSICHTBARE LAMPE ***




Produced by Markus Brenner and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net






[1]

Olivia
oder
Die unsichtbare Lampe

Erzählung
von
Jakob Wassermann

Im Hause des Professors Khuenbeck, eines angesehenen Wiener Arztes, war große Gesellschaft. Man hatte reich getafelt, die Unterhaltung war im besten Fluß, und wie auf viele andere Dinge kam die Rede auch auf die Kinder. Eine Dame, die vor kurzem das Töchterchen des Hauses flüchtig gesehen hatte, rühmte dessen besondere Schönheit und Lieblichkeit. Frau Khuenbeck lächelte geschmeichelt, einige andere Damen gaben ihr Verlangen kund, das Mädchen zu sehen, den Hinweis auf die späte Stunde ließen sie nicht gelten, und sie wandten sich an den Professor, der, unschlüssig und wie beschämt, nicht wußte, wie er die Bitte aufnehmen sollte. Indessen hatte Frau Khuenbeck, die einer eitlen Regung nicht zu widerstehen vermochte, einem der Dienstboten einen Wink gegeben und ging dann selbst in das Zimmer, wo ihre beiden Kinder schliefen, der zweijährige Ferdinand und die sechsjährige Olivia.

Schon saß Olivia auf dem Schoß des Dienstmädchens, die Augen voll Schlaf; es wurde ihr ein Atlaskleidchen angetan, die Haare wurden ihr gekämmt, weiße Strümpfe und weiße Schuhe kamen an die Beinchen, und so trug sie die Mutter in die strahlend erleuchteten Räume hinüber. Die Gäste scharten sich um Mutter und Kind; ein Laut der Überraschung und Befriedigung tönte ihnen entgegen. Olivia blickte voll Angst und Zagen in die vielen fremden Gesichter, deren Neugierde und Erstaunen ihr unbegreiflich waren.

Abseits von allen stand ein junger Mann und schaute still auf die Gruppe. Er dachte, daß der Professor dem Schauspiel ein Ende bereiten werde; da dies aber nicht geschah, rief er plötzlich mit scharfer, ja barscher Stimme aus: »Gnädige Frau, stecken Sie doch den armen Wurm wieder ins Bett; den Rummel wird er ohnedies bald genug kennen lernen.«

Alle lachten; Frau Khuenbeck errötete und trug das Kind schnell hinaus.

Olivia hatte die Worte gehört und verstanden; sie bewahrte dem, der sie gesprochen, heimlichen Dank. Der junge Mann verkehrte oft im Hause; bald wußte sie seinen Namen; er hieß Robert Lamm und war damals noch ein unbeachteter Beamter im Ministerium.

Stets, wenn sie ihn sah, hatte sie dasselbe Dankgefühl; in Stunden kindlicher Bedrängnis tauchte ihr sein Bild als das eines Helfers auf. Er war die Verkörperung einer strengeren Schutzgottheit neben der sanften des Vaters.

Wenn der Professor an seinem Schreibtisch saß, geschah es oft, daß sich Olivia ins Zimmer stahl, sich ganz leise auf den Teppich zu seinen Füßen niederließ und in Büchern und in Heften blätterte, die auf dem Boden aufgeschichtet lagen. Meist[2] bemerkte sie der Professor erst, wenn er die Feder weglegte und sich erhob; dann sagte er: »Du bist da, Kind?« und lächelte. Olivia war glücklich, daß es ihr gelungen war, ihn nicht zu stören.

Manchmal machte er kleine Spaziergänge im Park, dann nahm er Olivia mit und führte sie an der Hand. Verwundert betrachteten die Leute das schöne Kind. Olivia glaubte jedoch immer, daß sie nach dem Vater sahen, der so nachdenklich und voll Würde dahinschritt. Sie war stolz auf ihn.

Einst hatte Olivia die Mutter belogen. Sie war mit dem Fräulein im Prater gewesen und hatte gesagt, sie sei bei ihrer Tante, Frau von Scheyern, gewesen. Ihr Bruder Ferdinand hatte sie in aller Unschuld verraten. In der Entrüstung darüber forderte die Mutter, daß sie zur Strafe in einer Ecke knien sollte. Olivia weigerte sich aber mit solcher Leidenschaft, daß die Mutter immer mehr in Zorn geriet. Da kam der Professor in die Stube; ihn sehen und an seinen Hals stürzen, war für Olivia eins; sie wollte nicht knien, schluchzte sie und klammerte sich so krampfhaft an den Vater, daß der erschrockene Mann alle Mühe hatte, sie zu beruhigen.

Etwa ein Jahr nach diesem Vorfall, Olivia war damals elf Jahre alt, trat der Professor eine Erholungsreise nach Italien an. Olivia empfand seine Abwesenheit schmerzlich, und jeden Morgen setzte sie sich hin und schrieb ihm einen Brief. In Neapel wurde der Professor schwer krank und starb eines plötzlichen Todes.

Olivia begriff es nicht. Der Leichnam kam, die Beerdigung fand statt, viele Leute waren im Haus, die Mutter weinte, der Bruder, die Verwandten weinten, Olivia begriff es nicht. Für sie war der Vater immer noch verreist; sie glaubte und begriff nicht seinen Tod.

Tag für Tag setzte sie sich hin und schrieb ihm einen Brief. Sie teilte ihm die kleinen Ereignisse ihres Lebens mit, erzählte von der Mutter und von Ferdinand, sprach von ihren Vorsätzen, von ihrem Eifer, zu lernen, von ihrem Wunsch, etwas zu werden und ihm Ehre zu machen. Da sie aber keine Adresse wußte, sammelte sie alle Briefe in einer Mappe, – so lange, bis sie endlich begriff.

Die großen Einnahmen des Professors waren von dem luxuriösen Haushalt verschlungen worden; nach seinem Tod blieb nur ein bescheidenes Kapital übrig, und Frau Khuenbeck sah sich zur Sparsamkeit gezwungen.

Bei der Ordnung der Vermögensangelegenheiten und des neuen Lebens war es Robert Lamm, der der Witwe als Freund zur Seite stand. Frau Khuenbeck hatte einen an Furcht grenzenden Respekt vor ihm. Auf Ferdinands Erziehung übte er einen entscheidenden Einfluß, während er Olivias Tun und Lassen gleichmütiger zu betrachten schien.

Robert Lamm hatte in wenigen Jahren eine bedeutende Laufbahn zurückgelegt, die selbst von Übelwollenden seinen Verdiensten zugerechnet wurde. Er war Hofrat am Verwaltungsgerichtshof, hatte beneidete Auszeichnungen erhalten und genoß als juristischer Schriftsteller den Ruf einer Autorität.

Sein Wesen verkündete Mut und Entschlossenheit; er war der Schrecken ganzer Heere von Beamten, denn ihm war eine seltene Kraft eigen, nämlich eine Sache, die er für gut und gerecht hielt, durchzusetzen.

Von früh an atmete Olivia gern die Luft um diese ehrliche, furchtlose und derbe Persönlichkeit. Sie kam ihm herzlich entgegen, und er hatte immer ein herzliches Wort für sie. Während er mit der Mutter sprach, stand sie in seiner Nähe; lächelte er ihr zu, so ging sie hin und lehnte sich an seine Schulter.

Aber als sie zum Fräulein heranwuchs, wurde er förmlicher. Er hörte plötzlich auf sie zu duzen; Olivia erhob Einwände. Er verbeugte sich und sagte, wenn sie es ausdrücklich verlange und die gnädige Frau, er verbeugte sich gegen Frau Khuenbeck, es erlaube, werde er sie wieder duzen, doch dürfe es keine einseitige Freiheit bleiben, sie müsse ihn dann ebenfalls duzen. »Aber ich habe es ja immer getan!« rief Olivia erstaunt. – »Gewiß, nur paßt mir der Onkel nicht,« erwiderte er mit einer Grimasse, »ich hasse die Onkels.«

So nannte sie ihn also Robert und Du. Gleichwohl behielt er seine Förmlichkeit bei, die den Charakter spöttischer Galanterie annahm, als ihm manches an Olivias Lebensführung zu mißfallen begann. Sie[3] war so eifervoll, so lernwütig, so auf Bücher versessen, so atemlos tätig, das mißfiel ihm; er äußerte sich nicht darüber, er wurde nur immer spöttischer und galanter.

Eines Abends kam er, als Olivia bei einem Buch saß. Er beugte sich über ihre Schulter, sah noch genauer hin, schüttelte den Kopf, und da ihn Olivia fragend anschaute, nahm er das Buch, blätterte, schüttelte abermals den Kopf und fragte endlich: »Wie alt bist du denn jetzt?«

»Siebzehn war ich,« antwortete Olivia. Ihr Haar leuchtete wie Gold im Lichte der Lampe.

»Siebzehn Jahre, und Plato im Original!« rief der Hofrat aus. Sein Gesicht war so traurig, daß Olivia lachen mußte.

»Und womit sie ihren Kopf sonst noch plagt«, mischte sich die Mutter ins Gespräch; »Mathematik und Philosophie und Literatur und Geschichte und Klavierspiel und Vorträge, wahrhaftig, mir schwindelt, wenn ich zusehe.«

So oft nun der Hofrat da war, hatte er immer denselben Blick für Olivia, in dem zugleich Kritik und Bedauern lag. Der Blick sagte: was soll es dir nützen, Mädchen, Plato im Original zu lesen? Wozu schlingst du tote Wissenschaft in dich hinein? Was sollen dir die Scharteken?

Wahrscheinlich wußte er zu wenig von der Jugend, mit der Olivia aufwuchs; von ihrem Heißhunger nach neuem Stoff und neuer Form, nach Gehalt und Entfaltung. Dies Geschlecht mußte sich alles ertrotzen, Arbeit und Genuß, Urteil und Zukunft, wenn es den Erbübeln des Landes und der Rasse nicht erliegen wollte: der Frivolität und der Trägheit. Verloren sie in ihrem Trieb, sich hinzugeben, das Maß, so durften sie doch die Vorsichtigen verachten, die bequemen Romantiker, die feigen Hüter des Herkömmlichen.

Er wußte nichts von dieser Jugend, sah nicht Lebensfülle und hoffnungsvolles Werden, sondern Übergriff und Eitelkeit. Einst kam er zu Frau Khuenbeck und war enttäuscht, Olivia nicht zu treffen. Sie war ins Konzert gegangen. »Es ist das zweite in dieser Woche,« sagte Frau Khuenbeck; »und einmal Theater, und einmal eine Bilderausstellung, und am Sonntag auf den Schneeberg. Sie ist nicht zu halten, ich weiß nicht, wo sie die Zeit und die Kraft zu allem hernimmt.«

»Und das da auch noch,« sagte der Hofrat, und deutete auf einen Tennisschläger und ein Paar weiße Schuhe, die auf einem Stuhle lagen.

»Ja, das auch,« antwortete Frau Khuenbeck. Als sie das finstere Gesicht des Hofrats gewahrte, fügte sie rasch hinzu: »Aber es ist nicht Vergnügungssucht, wie Sie vielleicht meinen, es ist etwas anderes. Sie ist von allem, was sie macht, so voll und tut alles, was sie tut, so freudig, daß man es nicht übers Herz bringt, sie zu stören.«

Diese Begründung war für den Hofrat ein Schall. Olivia war schön; das allein gab ihr Wert in seinen Augen. Alle Beflissenen waren häßlich; Bücher machten häßlich, Wissen machte häßlich, sich unter die Menschen zu drängen, machte häßlich. Auf Sportplätzen die Glieder verrenken, die Füße durch plumpes Schuhwerk verunstalten und mit groben Stoffen bekleidet sich den Unbilden des Wetters aussetzen, das nannte er ein unerquickliches Schauspiel. Der Schönheit floß alles zu, sie raubte der Natur nichts, sie ließ sich von ihr beschenken, Schönheit war einsam, war sich selbst genug, sich selbst Gesetz, und Olivia verging sich gegen das Gesetz.

Er erkaltete gegen Olivia, und seine Besuche wurden immer seltener.

Um diese Zeit wurde Olivia von einer heftigen Schwärmerei für einen genialen Kapellmeister und Komponisten ergriffen, der wie ein Feuer unter die Gilde der stadtansässigen Musiker gefahren war und das Publikum erst unterwarf, als es sich von seinem Staunen über ihn erholt hatte.

Er war mit dem Hofrat Lamm befreundet, und einmal begegnete sie den beiden, die in eifrigem Gespräch waren. Der Hofrat grüßte sie und blieb stehen; er machte sie mit dem vergötterten Manne bekannt. Sie wurde blaß, stammelte ein paar Worte, verstummte und ging dann weiter. Sie hatte seine Stimme gehört, und diese Stimme blieb ihr unvergeßlich. Die Stimme eines Menschen konnte sie beleidigen und enttäuschen, aber auch beglücken und bezaubern. Seine Stimme hatte ihre Seele tiefer angerührt als irgendeine zuvor.

Im Sommer weilte er auf seiner Besitzung[4] an einem Gebirgssee. Olivia wußte die Mutter zu überreden, daß sie dort die Ferien verbrachten. An vielen Tagen, in Mondnächten wandelte sie andächtig die Pfade, auf denen er gegangen war. Seine persönliche Nähe suchte sie gar nicht; er war immer so versponnen, so verwühlt, so abgewandt; sie war zufrieden, wenn sie ihn einmal des Tages von ferne sah.

Eines Morgens gewahrte sie ihn zwischen Blumenbeeten. Er glaubte sich unbeobachtet; bei einem Strauß beugte er sich nieder, um zu riechen. Die Zärtlichkeit der Bewegung hatte für Olivia etwas Außerordentliches. Von da an schaute sie Blumen mit andern Augen an. Es mußten stets Blumen in ihrem Zimmer sein, zu jeder Zeit des Jahres. Sie begoß sie, pflegte sie, freute sich, wenn sie blühten, und trauerte, wenn sie welkten.

Als der Musiker eines frühen Todes starb, gab sie alles Geld, das sie besaß, für Blumen aus und schmückte mit ihnen sein Grab. Die unschuldige und wunschlose Leidenschaft hatte ihr Herz für Menschen noch empfänglicher gemacht.

Gelehrtes und Gelerntes verlor an Bedeutung gegenüber dem lebendigen Auf und Ab der Schicksale. Freunde zu gewinnen, mit Freunden zu sein, an Freunde sich auszuteilen, war Glück. So wurde sie vielfach in die Geschicke der Menschen verflochten, vielfach beansprucht. Manches, was im Spiel begonnen war, verwandelte sich in bitteren Ernst; Vertrauen wurde mißbraucht, Offenheit verkannt, Güte zurückgestoßen, Wahrheit in Lüge verkehrt. Aber auch dies war für Olivia ein Stück des großen Reichtums, waren angefaulte Früchte von dem Baum, der ein Übermaß der guten gab.

Wie liebte sie die Welt, das Leben, die Stunde! Sie freute sich jeden Morgen über ihr Erwachen, über den Himmel, die Luft, das Licht, die Zeit, über alles, was sie sich vorgesetzt hatte und was andere von ihr erwarteten, über ein Gespräch, das sie gestern geführt hatte, einen Spaziergang, den sie heute machen wollte, über ihren eigenen Körper, über jedes Ding in ihrer Stube.

Ihre beste Freundin, noch vom Gymnasium her, war Marianne von Friesheim, ein zartes, hochaufgeschossenes Mädchen von ernstem Wesen. Mariannes Vater war ein hoher Regierungsbeamter, Sektionschef und Exzellenz, und durch seine Verheiratung mit der Tochter eines ungarischen Magnaten einer der reichsten Männer des Landes.

Olivia kam beinahe täglich ins Haus, und alle, von der Exzellenz bis zum geringsten Dienstboten, bewunderten und verwöhnten sie. Wenn der Sektionschef ins Zimmer trat, wo sie war, ging ein Leuchten über sein rotes, grobes Gesicht; er setzte sich eine Weile zu ihr und plauderte mit ihr. Olivia hatte Sympathie für ihn; er schien ein gütiger Vater und ein wohlwollender Mensch zu sein.

Frau von Friesheim machte Olivia zur Vertrauten ihrer Sorgen. Ihr Sohn Eduard, ein junger Arzt, hatte seit einigen Monaten eine Beziehung zu einer Dame der Gesellschaft, deren mittelpunktloses und unberechenbares Wesen schon manchem ihrer Anbeter verhängnisvoll geworden war. Eduard, ohnehin verschlossenen Gemüts und von eigenwilliger Lebenshaltung, wurde durch den Umgang mit dieser Frau den Seinen vollends entfremdet. Nur an der Schwester hing er, und ihr hatte er auch vor kurzem mitgeteilt, daß es sein Vorsatz sei, die geliebte Frau zu heiraten. Hierüber war Frau von Friesheim sehr unglücklich, und als sie bemerkte, daß zwischen Eduard und Olivia ein freundschaftliches Verhältnis entstand, legte sie ihr nahe, sie möge alles aufbieten, um ihn dem gefährlichen Einfluß jener Frau zu entziehen.

Es war eine wunderliche Aufgabe; Olivia mußte lachen. Auf der anderen Seite war es der Sektionschef, der ebenfalls eine heikle Aufgabe für sie hatte. Marianne nämlich hatte eine Neigung zu einem jungen Maler gefaßt; Georg Ingbert war sein Name. Er stand noch ganz im Dunkeln, und wie es auch mit seinem Talent beschaffen sein mochte, Ehrgeiz oder Ungeduld, sich geltend zu machen, besaß er nicht. Er war im Gegenteil voll Gelassenheit, und dieser Gelassenheit war eine bei einem Mann seltene Anmut beigegeben, Anmut des Geistes, des Herzens und des Körpers. Wenn man ihn und Marianne sah, konnte man sie nicht anders als miteinander verbunden denken.

[5]Während nun Frau von Friesheim die Liebe dieser beiden mit auffallender Nachsicht betrachtete, erblickte der Sektionschef ein Unglück für seine Tochter darin. Eduards Leidenschaft erschien ihm als eine flüchtige Verirrung, und er meinte, wenn man ihm nur Zeit lasse und nicht durch Widerstand seinen Trotz errege, werde die Vernunft siegen. Marianne sah er tiefer verstrickt; er kannte die Treue ihrer Natur und, bei aller Mildheit, die Kraft ihres Gefühls. Er schätzte die Künstler gering; die meisten waren Schmarotzer nach seiner Meinung. Und er forderte, Olivia solle Marianne dazu bringen, daß sie dem Maler entsage.

Olivia antwortete ihm, hierzu fühle sie sich nicht berechtigt, und als seine Versuche dringlicher wurden, bot sie viel Beredsamkeit auf, um ihn zu überzeugen, daß man zwei Menschen, die durch Bestimmung zusammengeführt worden, nicht voneinander reißen könne, ohne ihren Lebenskern zu verwunden. Er bestritt dieses, unerschöpflich in Gründen, Olivia blieb standhaft und entwaffnete ihn durch ihre heitere Ruhe; schließlich schien es, als bereite ihm das Wortgefecht an sich selber Freude und als vergesse er den ernsthaften Anlaß. Wenn er mit ihr rede, bekannte er einmal, komme es ihm allerdings vor, als sei es am besten, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, und doch dürfe es nicht sein, um keinen Preis werde er sich fügen. Olivia schaute ihn an, und als sie seinen finstern Blick sah, erschrak sie und wurde in ihrem bisherigen Urteil über ihn ein wenig irre.

Sie ging mit der Familie aufs Land, auch der Maler kam zu Besuch. Sie begleitete Ingbert und Marianne auf ihren Spaziergängen und ermunterte Eduard, mitzugehen, um jenen die Gelegenheit zu verschaffen, miteinander zu sprechen. In einem benachbarten Ort wohnte Anita Gröger, Eduards Geliebte, und er bat Olivia, sie möge die Frau kennen lernen. Sie ließ sich zu ihr führen, und er merkte ihr an, daß ihr die Frau nicht gefiel. Da er sie um Offenheit drängte, gestand sie es zu; die Frau sei ihr unheimlich, sagte sie. »Ich fürchte, Anita wird Sie nicht glücklich machen,« äußerte sie ein anderes Mal zögernd. Eduard war bestürzt und kam immer wieder darauf zurück. Sie bereute ihre Voreiligkeit, doch sie hatte seinen eigenen Zweifeln Nahrung gegeben. Wenn er bei Anita gewesen war, suchte er Olivias Nähe; Anita begann ihr zu mißtrauen und quälte Eduard durch ihre Eifersucht. Es gab verschwiegene Zusammenkünfte zu zweien und zu dreien, lebhafte Auseinandersetzungen, Briefe wurden getauscht, und bald sah sich Olivia bedenklich verstrickt, da Eduards Herz sich ihr entschiedener zuwandte.

Nun mußte sie abwehren, und sie tat es begütigend. Es war ihr alles ein Spiel. Eduard war ihr im Innersten fremd; seine Freundschaft mochte sie aber nicht missen. Er war klug, ehrenhaft und verläßlich. Sie spürte, daß sie ihm ein Gleichnis gegen die andere war, und daß die andere dabei verlor. So stellte sie sich in den Schatten und floh, wenn er sie suchte. Ingbert merkte, was zwischen ihr und Eduard vorging. Sie wollte seinen Rat haben, doch er war zurückhaltend und hörte mit seinem reizenden Lächeln zu.

Eines Abends saß sie mit Ingbert am Waldrand; Marianne war bettlägerig, Eduard war für ein paar Tage verreist. Sie sprachen über die beiden, über die Eltern, über das Leben im Hause; plötzlich sagte Ingbert, der Zustand, in dem er sich befinde, schmerze ihn, er enthalte etwas Vergebliches und Künstliches, da er doch genau wisse, daß Marianne ihm niemals angehören würde. Als Olivia widersprechen wollte, legte er seine Hand auf ihre und fuhr fort, es sei kein Trost vonnöten, er beklage sich ja nicht, er klage auch nicht an; daß Herr von Friesheim gegen ihn eingenommen sei, begreife er, doch getraue er sich, den Kampf gegen ihn aufzunehmen; jede äußere Schwierigkeit sei überwindlich. Es liege nicht an dem; es liege an ihm selbst. Er sei der Freiheit versprochen, damit steige oder falle sein Stern.

»Fragen Sie nicht, warum es dann so weit gekommen ist,« schloß er leise; »das Herz geht seinen Weg, das Schicksal geht einen andern Weg. Das Herz läßt sich verführen, die innere Stimme schweigt lange. Auf einmal aber spricht sie, und man steht sündig da und will doch nicht noch mehr sündigen.«

Olivia wußte nichts zu erwidern. Sie ging ins Haus, setzte sich an Mariannes[6] Bett und nahm ihre Hand. Wäre es nicht dunkel im Zimmer gewesen, Marianne hätte ihre Blässe und Erregung merken müssen. Ingbert war auf der Bank geblieben, man hörte ihn eines der alten Lieder singen, die er liebte und in entzückender Weise vorzutragen wußte. Marianne preßte Olivias Finger; Olivia hatte ein selig hinziehendes Gefühl; sie wünschte, Ingbert möge sie holen und mit ihr weit fortwandern.

Sie fragte sich, weshalb er sich Marianne nicht eröffnete, und wartete, daß sie sich gegeneinander aussprachen. Dies geschah aber nicht, und Olivia zürnte Ingbert. Doch wenn sie Marianne ansah, die so kindlich hoffte, verstand sie seine Unschlüssigkeit. Er hatte etwas so Gütiges an sich, daß man billigen mußte, was immer er tat, und bald wurde Olivia gewahr, daß ihre Gedanken an ihn zum Verrat an Marianne wurden.

Indessen kehrte Eduard von seiner Reise zurück und brachte zwei Freunde mit; auch Freundinnen Olivias und Mariannes kamen zu Besuch. Es entwickelte sich eine lebhafte Geselligkeit, Feste wurden gefeiert, Fahrten und Wanderungen unternommen. Eduard suchte bei jedem Anlaß Olivias Nähe, Ingbert und Olivia trieben wie durch eine unwiderstehliche Strömung einander im verborgenen zu; Marianne begann endlich zu ahnen und litt still, und Anita Gröger war der ruhlose Geist, der bisweilen verdüsternd durch die herzlich bewegte Kleinwelt zog.

Stiegen auch Schatten empor, für Olivia war alles noch ein Spiel. In der Luft von Leidenschaft und Begehren, Forderung und Abwehr, Spannung und Sehnsucht atmete sie gern, verlor sich aber keineswegs und übte sich in jeder Kraft, die das Lebensgefühl erhöhte. Hier eine Getäuschte, dort ein Schwankender, hier eine Verblendete, dort ein Entflammter, sie stand immer in der Mitte und regierte; sie knüpfte Fäden und löste Fäden, verpflichtete sich zum Schein, entzog sich, wenn Gefahr drohte, ganz nach ihrem Gefallen.

Gegen Ende des Sommers, als die Gäste schon abgereist waren, verabredeten sich die Geschwister und Ingbert und Olivia zu einem Ausflug in die Dolomiten.

An einem Augustabend kamen sie müde und staubbedeckt vom Rosengarten her ins Karerseehotel, und als sie in die für Touristen bestimmte Wirtschaftsstube traten, bot sich ihnen ein wunderliches Bild. Um einen Tisch waren mehr als zwanzig junge Mädchen in Abendkleidern gruppiert; ein Herr, der den Frack ausgezogen und die Ärmel des Frackhemdes über die Ellbogen gestülpt hatte, bereitete in einer mächtigen Schüssel eine Bowle. Auf dem Tisch standen Champagner- und Weinflaschen, Gefäße mit Erdbeeren und Zucker. Voll sachlichem Ernst verrichtete der Herr seine Arbeit, mischte die Getränke, rührte mit dem Löffel, kostete mit einem andern Löffel, und immer, wenn ihm eines der Mädchen eine Flasche reichte, sagte er etwas, worüber alle in fröhliches Gelächter ausbrachen.

Sie kamen vom Diner und hatten die sogenannte Schwemme aufgesucht, um in ihrer Lustigkeit nicht gestört zu sein.

Olivia, die sich anfangs um die Gesellschaft nicht gekümmert hatte, schaute dann doch hinüber, fast ein wenig neidisch, und als die Gruppe auseinandertrat, weil die Gläser zum Einschenken gebracht wurden, erkannte sie in dem Mann an der Bowlenschüssel den Hofrat Lamm. Sie errötete vor Freude.

Sie hatte ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, aber er war unverändert. Trotz seiner fünfundvierzig Jahre war seine Gestalt noch jugendlich schlank, seine Haltung straff und sein Gesicht frisch.

Er warf einen seiner durchdringenden Blicke an den Tisch, wo die vier saßen, und erkannte nun auch Olivia. Er verbeugte sich in seiner ironisch galanten Art, ohne besondere Überraschung zu zeigen, als hätte er sie gestern erst gesehen. Es verdroß Olivia, daß er nicht kam, um sie zu begrüßen; sie ärgerte sich über die jungen Mädchen, die ihn so zudringlich umschwärmten, und fand ihre Ausgelassenheit gemacht. Als er nach einer Weile das Glas gegen sie hob, um ihr zuzutrinken, dankte sie kühl.

Eduard fragte spöttisch, wer der Hahn im Korbe sei, sie gab unwillig Auskunft, mußte aber plötzlich lachen, da sie eine sarkastische Bemerkung des Hofrats über eines der Mädchen aufgefangen hatte. Die andern Mädchen kreischten, jetzt kamen auch einige junge Männer hinzu, und die Gesellschaft[7] wurde sehr lärmend. Der Hofrat hatte seinen Frack wieder angezogen, und plötzlich schritt er auf Olivia zu und reichte ihr die Hand.

Olivia stellte ihre Freunde vor. Bei dem Namen Friesheim zuckte er sichtlich zusammen. Er nahm am Tische Platz, und obwohl er drüben die beste Laune gezeigt hatte, war er seit dem Augenblick, wo er sich an den Tisch gesetzt hatte, einsilbig und verstimmt. Mit gerunzelter Stirn stellte er ein paar Fragen, dann erhob er sich wieder, verabschiedete sich steif und ging aus dem Zimmer. Die jungen Mädchen riefen ihm nach, aber er kümmerte sich nicht um sie.

Olivia war bedrückt wie schon lange nicht. Sie sagte, sie wolle schlafen gehen, nahm ihren Rucksack und ließ sich von der Kellnerin in eine der Touristenkammern führen. Trotz ihrer Müdigkeit schlief sie schlecht. Schon um fünf Uhr stand sie auf und ging hinaus. Die Berge waren von der frühen Sonne umglüht, aus dem Wald strömte ein feuchter, kalter, harziger Duft. Sie ging über einen Wiesenweg und bog wie eine Trinkende den Kopf zurück.

Da schallte ein Gruß an ihr Ohr; sie drehte sich um und gewahrte den Hofrat. Er war in Steirertracht; auf dem Lodenhut stak ein reichbuschiger Gemsbart. Er glich nicht einem verkleideten Städter, sondern sah ganz urwüchsig aus, sehnig, robust, sonnegebräunt.

Er nannte ihr die welsch klingenden Namen der Gipfel und Gletscher, die gegen Süden lagen, und erzählte ihr von den Touren, die er gemacht. Er fragte, ob sie gefrühstückt habe, und als sie verneinte, gab er ihr eine Tafel Schokolade. Zuerst angeregt, schien er plötzlich wieder zerstreut. Dann beschämte ihn ein forschender Blick Olivias, und er zwang sich zum Reden. Da dies Olivia peinigte, fragte sie ihn geradezu nach dem Grund seiner gestrigen jähen Verstimmung.

Er bedachte sich kurz und antwortete, er habe schon davon gehört, daß sie fleißig im Hause Friesheim verkehre; die beiden jungen Leute, in deren Begleitung sie sich befinde, seien ja wohl Sohn und Tochter des Sektionschefs. Olivia nickte. Wenn dem so sei, fuhr er fort, erübrigten sich alle Erklärungen. Seine Stimme war schneidend, sein Blick finster. Olivia blieb stehen und schaute ihn erstaunt an.

Sie waren auf einem Felsenpfad, ziemlich hoch; zur Linken fiel der Abgrund steil hinunter. Auf einmal fühlte sich Olivia von den Händen des Hofrats heftig an den Armen gepackt und mit unerwarteter Kraft gegen die Tiefe gedrängt. Sie schrie erschrocken, ihr bestürztes Gesicht war ihm zugewendet; da ließ er sie los und lachte grimmig. »Es ist nicht viel anders, als wenn ich dich da hineinwürfe,« sagte er; »schlimmer noch. Mit solchen Menschen umgehen, das heißt, allen Anspruch auf Achtung verwirken und seinen Namen beflecken.«

Mit entsetzten Augen fragte Olivia. »Du hättest dich vorsehen sollen,« begann der Hofrat wieder; »eine Person wie du ist verpflichtet, Instinkt zu haben und nicht in den Dreck zu steigen, wo er am klebrigsten ist. Dieser Mann, in dessen Gehege du so munter herumspazierst, ist einer unserer verderblichsten Praktikenmacher und Gelegenheitsjäger, ein Streber und Schleicher von einem Format, daß sogar unsere vielbesungene Gemütlichkeit keinen Reim mehr auf ihn zu finden weiß. Dieser Mann ist imstande, wenn sich zehn fähige Leute zu einem Posten gemeldet haben, ihn mit dem elften zu besetzen, der gänzlich unfähig ist, und nicht vielleicht aus Unwissenheit, nicht immer bloß deshalb, weil der elfte ein Freunderl oder der Freund eines Freunderls ist, sondern aus purem Vergnügen an der Unfähigkeit und aus Bosheit und Neid gegen die Fähigen. Dieser Mann ist einer von denen, die nie einen Richter brauchen, weil sie alles Recht so lange verschleppen, bis der Kläger erschöpft und kirre gemacht ist; einer von denen, die mit der Peitsche auf die Pferde einhauen, wenn der Wagen den Berg hinauf soll, und insgeheim den Hemmschuh ans Rad legen. Dieser Mann ist ein Symbol, er ist mein Feind, er ist schlechthin der Feind; ihn unschädlich zu machen, habe ich schon meine beste Kraft verschwendet. Und nun geh hin und setz’ dich wieder an seinen Tisch und tu, als wüßtest du von nichts.«

Er hatte scharf und kalt gesprochen wie ein Sachwalter vor dem Tribunal. Olivia zitterte das Herz; sie ging mit niedergeschlagenen Augen gleich einem gescholtenen[8] Kind. Der Hofrat nahm einen Stein, schleuderte ihn in den Abgrund und lauschte bis das Gepolter verklungen war. Dann lachte er.

»Warum lachst du?« flüsterte Olivia, ohne den Kopf zu erheben.

»Ich lache, weil es so schön ist,« antwortete er, »weil die Sonne so freundlich scheint und der Himmel so blau ist. Und weil unser Herrgott soviel Geduld hat. Und weil die Bowle gestern so vorzüglich war, und weil überhaupt alles so famos ist.«

Plötzlich dünkte es Olivia, als sei die ganze Welt grau geworden.

Sie sagte: »Ich habe bisher nichts von deinem Leben gewußt, Robert. Ich habe dich für einen Menschen gehalten, der in seinem Beruf glücklich ist.«

Abermals ließ er sein kurzes, höhnisches Lachen hören. Dann schwieg er eine Weile, und sein Gesicht wurde ernst. Darauf fing er an, von seinem Leben zu sprechen, von dem Beruf, in dem sie ihn glücklich wähnte. Von den Untergebenen und den Vorgesetzten; wie ihn jene lähmten und diese ihm mißtrauten. Wie nirgends ein Wille galt, nirgends Einsicht des Besseren, nirgends Vernunft, bloß Vorschrift, bloß der Buchstabe, das halbe Ungefähr, das veraltete Gutdünken, die sinnlose Herrschaft derer vom Schlage Friesheim. Wie jeder Schritt nach vorwärts auf Fallen stoße, das wohlwollende Ermessen selbst im engsten Kreis behindert sei durch unangreifbare Idole und lügenhafte Grundsätze. Wie kein Weg aus diesem Pfuhl führe, an dem nicht die Dummheit Wache hielt, oder die Phrase, oder die Pedanterie, oder die Verleumdung, oder die Bequemlichkeit, oder der Eigennutz, oder der Neid.

Es war Flamme in seinen Worten, dabei auch Witz; eine bissige Schadenfreude, als bereite es ihm Spaß, Illusionen zu zerstören.

Und er zerstörte Illusionen, gründlich. Ein eisiger Hauch wehte durch Olivias Brust. Ihre Augen blickten verloren, ihre Wangen waren blaß; es war, als hätte sich etwas Schmackhaftes auf ihrer Zunge in Ekles verwandelt, als stünde dort, wo eine frohe Erwartung sie hingezogen, ein Schreckbild. Sie staunte, sie sträubte sich, sie glaubte nicht und fürchtete doch, zu zweifeln. Alles war plötzlich sonderbar anders.

An ihrer Schweigsamkeit merkten Eduard und Marianne, daß etwas mit ihr vorgegangen war. Sie hatten am selben Tag weiter wandern wollen, aber Olivia konnte sich nicht zum Aufbruch entschließen und schützte eine Unpäßlichkeit vor. Ingbert fühlte sich in dem teuren und eleganten Hotel nicht behaglich, und da die Geschwister zögerten, die Tour ohne Olivia fortzusetzen, sagte er, er wolle allein seiner Wege gehen. Um sich zu verabschieden, kam er in Olivias Zimmer und fand sie in tiefem Nachdenken. Sie gab ihm die Hand, und als sie spürte, daß er ihren Blick forderte, sah sie ihn an. Ein wortloses Einanderbegreifen hatte sich zwischen ihnen schon seit langem entfaltet. Der bekümmerte Ausdruck in seinem klugen, ernsten Gesicht ging ihr nahe. Ehe sie es bedacht hatte, zog sie seinen Kopf herab und küßte ihn. Er errötete wie ein Knabe, seine Verwirrung erfüllte sie mit noch größerer Liebe, er drückte seine Lippen auf ihre Hand und verließ sie stumm.

Es trieb sie zu Robert hin, und wenn sie bei ihm war, erschien sie sich treulos gegen Eduard und Marianne. Und wenn sie bei Eduard und Marianne war, peinigte sie deren argloses Wesen, und die beiden Menschen waren ihr verdunkelt und entrückt. Marianne, die über Ingberts Flucht unglücklich war und Pläne schmiedete, wie man ihn noch erreichen könnte, nahm Olivias verändertes Betragen nicht schwer und war offen und anschmiegend wie immer; Eduard jedoch deutete alles auf sich und sein Verhältnis zu Olivia. Seine Erregung wuchs, er suchte eine Aussprache herbeizuführen, er bat sie schließlich, ihm den Grund ihrer rätselhaften Abkehr mitzuteilen. Sie erschrak; sie leugnete. Er ging nicht weiter darauf ein und sagte, daß er mit Anita Gröger gebrochen habe. Sie wußte, was nun folgen würde, sie hatte Angst davor, und mit einer Kälte, die ihn bleich machte, verbot sie ihm, davon zu sprechen. Da gingen sie auseinander.

Am selben Abend schlug ihr Robert Lamm vor, sie solle mit ihm nach Hause reisen. Sie willigte ein, ihn bis Salzburg zu begleiten, wo ihre Mutter sie erwartete. Zu Eduard und Marianne sagte sie, die Mutter habe ihr geschrieben und sie gerufen.[9] Sie umarmte Marianne mit dem Gefühl einer Trennung für immer, Eduard schaute sie starr an, und so oft sie nachher an sein verstörtes Gesicht dachte, wurde ihr weh zumute, und sie hätte die Erinnerung auslöschen mögen.

Gegen den Hofrat war sie einsilbig, er seinerseits sprach nur von gleichgültigen Dingen. Sie grollte ihm, wagte sich aber dem Groll nicht zu überlassen; sie vermied es, seinem Blick zu begegnen, der während der langen Eisenbahnfahrt zuweilen prüfend auf ihr ruhte, und als sie von Innsbruck ab allein im Coupé waren, brach sie selbst das Schweigen aus unbestimmter Angst. Sie begann von Menschen zu sprechen, die sie beide kannten und von denen sie annahm, daß er sie schätzte. Sie redete sich in Eifer, entschuldigte Gewohnheiten und Handlungen dieser Menschen und übertrieb ihre Vorzüge, als seien sie von ihm angegriffen worden. Er hörte mit scheinbarem Anteil zu, nickte manchmal ermunternd und schaute in die Landschaft.

Da erschien ihr alles falsch und einfältig, was sie sagte, sie mochte die schönen Gegenden nicht betrachten, durch die sie fuhren, und sie fühlte mit Betrübnis, daß sie all dieses Schöne nicht mehr so liebte wie sie es bisher geliebt. Es war, als hätte Robert Lamm einen Schleier darüber gezogen, und als sei es fruchtlos, sich gegen die stumme Gewalttätigkeit, die er an ihr übte, zu wehren. Desungeachtet zwang es sie, ihn kurz vor dem Ziel ihrer Reise zu fragen, ob sie ihn nach ihrer Rückkehr in die Stadt sehen werde. Sie hätte aufgeatmet, wenn er nein gesagt oder eine Ausflucht gebraucht hätte. Er antwortete: »Freilich will ich dich sehen.« Und als sie schwieg, fügte er düster lächelnd hinzu: »Vielleicht brauch’ ich dich.«

Sie war ängstlich verwundert. »Brauchen? Du – mich?«

»Kommt dir das so unglaublich vor?« Er lachte über ihr hilfloses Gesicht. Plötzlich, der Zug fuhr schon in die Halle, beugte er sich nahe zu ihr, ergriff ihre beiden Hände und sagte mit jener Eindringlichkeit, die sie bei keinem andern Menschen als bei ihm wahrgenommen hatte: »Ich kämpfe gegenwärtig einen Kampf, in dem für mich alles auf dem Spiel steht. Ich kämpfe für die Ehre eines Toten, für die Rettung seines guten Namens, für sein Weib und seine Kinder. Sie wollen ein Verbrechen, das begangen worden ist, vertuschen, wollen die ungeheuerlichste Niedertracht, die sich denken läßt, nicht verantworten. Das darf nicht geschehen, verstehst du? Es darf nicht geschehen, obwohl ähnliches schon tausendmal geschehen ist. Aber bei diesem einen Mal hab’ ich mir in den Kopf gesetzt: es darf nicht sein. Geschieht es trotzdem, dann bin ich fertig mit der Wirtschaft. Dann komm zu mir, Olivia, dann haben wir vielleicht einiges miteinander zu reden. Leb’ wohl, grüß’ mir die Mutter.«

Sie stieg aus, aber am liebsten hätte sie jetzt mit ihm weiterfahren mögen. Schwäche kam über sie, ihr ganzes Denken und Gefühl war dunkler gefärbt. Alles, was sie vorhatte, Arbeiten und Vergnügungen, dünkte ihr plötzlich falsch und einfältig. Drei Tage später fuhr sie mit der Mutter in die Stadt zurück, und einen Tag nach der Ankunft ging sie zu Robert Lamm.

In Riedach, einem kleinen oberösterreichischen Kurort, hatte der junge Arzt Doktor Seelmann bis vor Jahresfrist seine Praxis zu allgemeiner Zufriedenheit ausgeübt. Da hatte sich im Sommersbeginn in einer Häuslerfamilie ein Typhusfall ereignet, und Doktor Seelmann hatte getan, was seine beschworene Pflicht als Gemeindearzt war, er hatte die Erkrankung zur Anzeige gebracht.

Es entstand sogleich eine große Erregung. Einige Bürger hatten noch in letzter Stunde den Doktor an der Ausführung seines Entschlusses zu hindern gesucht. Die Sanitätskommission selbst, deren Vorsitzender der Bürgermeister war, hatte geltend gemacht, daß die Sommerfrischler und Kurgäste den Ort verlassen und für lange Zeit in Verruf bringen würden. Es war umsonst gewesen; weder Bitten, noch Versprechungen, weder Warnungen, noch Einschüchterungen fruchteten, Doktor Seelmann achtete die Pflicht höher als die gefährdeten Interessen der Gemeinde.

Die unmittelbare Folge seines Schrittes war, daß eine Militärabteilung, die in[10] Riedach hatte einquartiert werden sollen, in einen andern Ort befehligt wurde. Auch der wenigen Sommerparteien bemächtigte sich Schrecken, und mehrere Familien reisten ab. Eine schmutzige Flut von Beschimpfungen ergoß sich nun über den jungen Arzt, und alt und jung machte der Erbitterung in den unflätigsten Formen Luft. Die Männer erwiderten seinen Gruß nicht; sie spuckten auf der Straße vor ihm aus. Der Metzger, der Bäcker, der Milchhändler weigerten sich, seiner Frau die Lebensmittel zu verkaufen, die sie für sich, den Mann und das kleine Kind brauchte. Täglich erhielt er gemeine Spott- und Drohbriefe, die Fenster seiner Wohnung wurden ihm eingeworfen, man ging nicht mehr in seine Sprechstunde, enthielt ihm die Bezahlung vor, und im September wurde ihm seine Stellung als Gemeindearzt gekündigt.

Er wandte sich an den Reichsverband der Ärzte, und dieser rief die Behörden um Unterstützung an. Der Appell war nicht vergebens, Gemeinderat und Sanitätskommission wurden vom Statthalter aufgelöst, der Bürgermeister seines Amtes entsetzt, die Kündigung für ungültig erklärt, und der Bezirkshauptmann schickte eine Gendarmerie-Eskorte, die den Arzt schützen sollte.

Doktor Seelmanns Lage besserte sich aber dadurch mit nichten. Vor körperlichem Schaden konnte man ihn bewahren, die Praxis konnte man ihm nicht zurückgeben; die Leute zwingen, ihm die Honorare zu entrichten, die sie ihm seit Jahr und Tag schuldeten, konnte man nicht. Er war ruiniert. In den verflossenen Monaten hatte er einundzwanzig Ehrenbeleidigungsklagen vor Gericht gebracht, und jeder dieser Prozesse wurde zu seinen Gunsten entschieden. Aber nach jedem Prozesse kam er mutloser und hoffnungsloser heim. Seine Spannkraft war dahin, sein Geist getrübt, seine Gesundheit erschüttert, mit vierzig Jahren sah er wie ein Greis aus.

Daß seines Bleibens in Riedach nicht war, begriff er wohl. Riedach war aber seine Heimat; er liebte das Land, er hatte sein Dasein hier zu beschließen gedacht. Wohin sollte er als mittelloser Landarzt ziehen, wohin mit Frau und Kind und einer alten, gebrechlichen Mutter? Wie sollte er die Verleumder zum Schweigen bringen, die ihn sicher bis in die Ferne verfolgen würden? Wie die Schmach abwaschen, mit der sie ihn bedeckt, die Besudelung, die Kränkung vergessen? Ein neues Leben anzufangen, fehlte ihm das Selbstvertrauen; er hatte keinen Freund, der ihn aufrichtete, die Tröstungen seines Weibes beugten ihn nur noch tiefer, denn er spürte ihre eigene Verzweiflung darin. So brach er zusammen, wurde krank und starb. Der Arzt, der ihn behandelte, nannte eine Gehirnentzündung als Ursache seines Todes, aber in Wirklichkeit hatten ihn der Kummer und der Lebensekel getötet.

Der Reichsverband der Ärzte stellte nun den Anspruch an den Staat, für die Hinterbliebenen zu sorgen, die der bittersten Not preisgegeben waren. Dies wurde bewilligt, aber in so kargem Ausmaß, daß die Hilfeleistung beinahe wie Hohn aussah. Einer von den Männern, die sich dafür eingesetzt hatten und den Fehlschlag ihrer Erwartung nicht ruhig hinnehmen wollten, bezeichnete den Hofrat Lamm als den einzigen, dessen Beistand und Vermittlung den halbwegs gescheiterten Plan noch zum Erfolg führen konnte. Ihm allein traute man die Entschlossenheit zu, ihn allein hielt man für unabhängig genug, daß er es als hoher Staatsbeamter wagen durfte, für den begangenen Frevel eine Sühne zu verlangen, die freilich verspätet war, jedoch die beleidigte Gerechtigkeit wieder erhöhte.

Der Hofrat hatte von dem Martyrium des Arztes nichts gehört; die Zeitungen hatten alle Berichte unterdrückt, die sonstige Kunde, die im Dunkel umlief, war nicht zu ihm gedrungen. Er vernahm die Erzählung der Geschehnisse mit unbeweglichem Gesicht. Den Abgesandten, die ihm Vortrag hielten, begegnete er mit seiner unverbindlichen und trockenen Höflichkeit, ohne mit einer Miene zu verraten, daß ihm die Angelegenheit näher ging als irgendein anderer Hader zwischen Parteien. Er ließ sich alle einschlägigen Akten kommen, auch die der einundzwanzig Prozesse, und las und studierte sie mit aufeinandergebissenen Zähnen. Dann zauderte er nicht mehr, zu handeln. Er forderte die Regierung auf, nicht nur mit[11] genügenden Geldmitteln die Mutter, die Witwe und die Waise des in Ausübung seiner Pflicht und seines Amtes gemordeten Doktor Seelmann zu unterstützen, des gemordeten, so lautete sein Diktum; nicht nur alle schuldigen Bürger und behördlichen Organe von Riedach zu einer scharfen Strafe zu verurteilen; sondern auch durch eine öffentliche und feierliche Erklärung die geschändete Ehre und den verunglimpften Namen des Toten vor den Augen der Welt von allem Makel zu befreien. Denn ein solcher Mann sei, genau wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld, für das Vaterland, für die Menschheit gefallen und habe sich den gleichen Dank verdient.

Diese unumwundene Sprache begegnete verlegenen Ausflüchten. Er drängte auf eindeutigen Bescheid, man antwortete, daß man den Fall noch einmal gründlich untersuchen wolle. Das Bestreben, Zeit zu gewinnen, war offenbar; der Hofrat kannte die verwickelten Auswege und die rostige Maschinerie zu gut, um sich damit beschwichtigen zu lassen. Er ging zum Minister; der erklärte sich als mangelhaft unterrichtet, schützte wichtigere Geschäfte vor und wies ihn an den Sektionschef Friesheim. Hier täuschte Gleichgültigkeit durch gefälligen Eifer; auch mit dieser Taktik war der Hofrat vertraut. Er ließ den Herren keine Ruhe, er bestand auf seiner Forderung, er pochte auf das Recht. Man hörte ihn an, man zuckte die Achseln, jeder versicherte seine Willigkeit, jeder beteuerte machtlos zu sein. Überall dieselbe scheinbare Nachgiebigkeit, dieselbe Lauheit. Robert Lamm fürchtete, alles zu verderben, wenn er seinen Zorn nicht bändigen konnte. In den Salzburger Bergen hatte er, vor langer Zeit schon, eine Alm und ein Blockhaus gekauft; dorthin floh er, so oft ihm des Ärgers und der Plage zu viel wurde. Er tat es auch jetzt und nahm sich vor, geduldig zu warten. Aber diesmal graute ihm vor der Einsamkeit; er fuhr nach Karersee, wo er zahlreiche Bekannte zu treffen sicher war, wo er sich zerstreuen, betäuben konnte. Zwei Tage nach dem Gespräch mit Olivia erhielt er in der Sache des Doktors Seelmann den schriftlichen Bescheid des Ministeriums: die sachliche Entschädigung betreffend, habe man die Gelder zum reichlichen Unterhalt der Familie bewilligt, alle übrigen Ansprüche müsse man aber aus wohlerwogenen Gründen zurückweisen.

»Die Gründe will ich wissen,« knirschte der Hofrat. Er packte seine Koffer und reiste. In seiner finstern Ungeduld kam ihm die Eisenbahnfahrt wie ein boshaft langsamer Schneckengang vor. Gleich nach seiner Ankunft eilte er zu den verantwortlichen Stellen.

An Gründen war man nicht arm. Wozu einen verjährten Streitfall aufwärmen, einen glücklich begrabenen Skandal mutwillig noch einmal vor die Öffentlichkeit zerren? Wozu sonst friedliche Bürger wegen immerhin zweifelhafter und schwer nachweisbarer Vergehen schädigen oder gar um ihre Existenz bringen? Es ist doch nun alles so schön geglättet und vergessen, wozu den Brand wieder anblasen, wozu böses Blut machen? Wozu endlich die Komödie einer Ehrenerklärung, die dem Toten nicht mehr nützen und die Lebenden nur verdrießen würde?

»Ein glücklich begrabener Skandal ist euch das!« rief Robert Lamm mit funkelnden Augen. »Schön geglättet und vergessen findet ihr alles? Nun, wir werden sehen, ob euch nicht angst und bange wird vor Gespenstern.«

Er drohte Lärm zu schlagen. Die Geschichte wurde bedenklich; der Störenfried begann höchst unbequem zu werden. Man konnte ihm nichts anhaben, zu viele stützten ihn, er war zu beliebt. Daher jubelte man im stillen, als er in seinem Zorn die Saite zu straff spannte und um seinen Abschied bat. Es war ein Schreckmittel, er glaubte nicht, daß man ihn würde gehen lassen, er hatte ein zu starkes Bewußtsein von seiner Notwendigkeit und der Wichtigkeit seiner Dienste. Allein der Abschied wurde gewährt. Da er schon vor Jahren in einer Angelegenheit, die den Hof berührt hatte, zu scharf ins Zeug gegangen war, brauchte man Tadel oder Einwand von oben nicht zu fürchten.

Das traf ihn unerwartet. Es dauerte Tage, ja Wochen, bis er sich wieder gesammelt hatte. Die Zustände waren also noch viel heilloser, viel giftiger, als er sich eingebildet hatte. Er war wie gelähmt. Er ließ die Sache, für die er sich geopfert,[12] auf sich beruhen. Er wich den Menschen aus, wurde scheu und wunderlich. Er verließ seine Stadtwohnung und zog sich ganz in seine Villa zurück.

Diese Villa lag am Ende der Südwestvorstadt, nahe den bewaldeten Hügeln und inmitten eines großen Gartens, der vor neugierigen Blicken durch eine hohe, steinerne Mauer geschützt war. Die zahlreichen Räume enthielten Schätze von Gemälden, Statuen, Büchern, Porzellan und alten Möbeln. Der Hofrat ließ aber die Zimmer versperrt und nistete sich in einer Giebelkammer ein. Die Haushälterin kochte für ihn, und der Diener Gerold, eine Art Faktotum, sorgte für seine übrigen Bedürfnisse.

Anfangs hatte ihn Olivia beinahe täglich gesehen. Entweder kam er zu ihr, unterhielt sich eine Weile mit der Mutter und forderte Olivia auf, ihn zu begleiten, oder sie ging zu ihm. Wenn er arbeitete, setzte sie sich in eine Ecke, nahm ein Buch und las.

Von dem, was ihn in dieser Zeit erfüllte, sprach er nicht. Sie erfuhr es von andern. Jeder entstellte es auf seine Weise, aber es genügte, daß sie Robert Lamm anschaute, dann rückte sich alles zurecht. Sie war stolz auf ihn, nichtsdestoweniger drückte sein Wesen sie nieder, ohne daß sie wußte, wie es geschah. Er war vertraulich und herzlich, dennoch schien es, als rede er mit ihr durch eine Wand hindurch. Daß sie ihm nicht näher kommen konnte, beunruhigte sie und trieb sie immer wieder in seine Nähe.

Da trat die Katastrophe ein, die ihn aus seiner Wirksamkeit, aus seiner Laufbahn riß. Am Tag, bevor er in die Villa übersiedelte, gab er ihr in unfreundlichem Ton zu verstehen, daß er bis auf weiteres von keinem Menschen behelligt werden wolle. Sie ließ sich’s gesagt sein und ging verletzt und schweigend hinweg. Wieder erst von andern hörte sie, was sich ereignet hatte; es machte tiefen Eindruck auf sie, aber da er sie zurückgestoßen hatte, blieb sie ihm fern.

Sie wollte ihr Leben wieder wie früher führen. Allein die Heiterkeit und Sorglosigkeit waren verflogen. Es war nicht mehr der Leichtsinn darin, das süße Träumen, das unbefangene Lachen. Sie lauschte aufmerksam auf das, was die Leute zu ihr sagten, und mißtraute den Worten. Zu einigen Menschen, die sie lieb gehabt, ging sie auch jetzt gerne, aber die rechte Freude fehlte. Da war zum Beispiel Nina Senoner, die Frau eines Großindustriellen. Sie war um zehn Jahre älter als Olivia, hatte schon eine fünfzehnjährige Tochter und wurde von allen, die sie kannten, wegen ihrer Sanftmut und ihres Liebreizes bewundert. Wohl verspürte Olivia noch immer den Zauber ihres Wesens, aber das ganze Dasein dieser Frau erschien ihr auf einmal leer, sie bemerkte in ihren Zügen eine Melancholie, die ihr vordem nicht aufgefallen war, und, was das Schlimmste war, das Zusammensein mit ihr langweilte sie.

In der Trauer hierüber nahm sie zu Büchern ihre Zuflucht; ihre Gedanken hatten aber keine Stetigkeit, sie sah kein Ziel, sie war nicht erfüllt. Konzerte, Theater, Sport, nichts befriedigte sie mehr. Ihre zahllosen Beziehungen wurden von Tag zu Tag lockerer; oft mußte sie sich erst mühsam erinnern, was sie an den oder jenen Menschen gefesselt hatte; sie waren plötzlich so schmucklos und ohne Anreiz. Das Friesheimsche Haus mied sie. Eduard hatte als Schiffsarzt Dienst auf einem Lloyddampfer genommen; aus überseeischen Häfen schrieb er Briefe an Olivia, in denen Enttäuschung, Resignation und schüchtern glimmende Hoffnung enthalten waren. Sie antwortete selten, der Ton, den sie anschlug, konnte seine Zuversicht nicht heben.

Eines Tages kam Marianne zu ihr, saß eine Weile schweigend da und begann auf einmal zu weinen. Olivia umarmte sie; zu sagen wußte sie wenig, Trost hatte sie keinen. Sie fragte nach Ingbert; Marianne schaute erstaunt und unwillig empor. So verstellst du dich? zürnte ihr vorwurfsvoller Blick. Erst als Olivia, kühl und befremdet, zum zweitenmal fragte, erkannte Marianne ihren Irrtum, weinte aber noch heftiger. Seltsam, die Tränen rührten Olivia nicht, ruhig forschte sie Marianne aus und erfuhr, daß Ingbert schon seit Wochen in die Stadt zurückgekehrt war und in seinem Atelier fast ohne Pflege krank lag. »Ja, hast du ihn denn nicht besucht?« fragte Olivia mit großen[13] Augen. »Wie soll ich denn? Wie kann ich ihn denn besuchen?« erwiderte Marianne, und um ihren Mund zuckte es hilflos. Olivia faltete die Hände und sagte langsam: »Aber was willst du dann? Warum weinst du?« Marianne senkte den Kopf. »Verzeih, Olivia, ich glaube, ich hab’ dich ungerecht beschuldigt,« hauchte sie. Darauf hatte Olivia keine Antwort und war nun ganz kalt und zugeschlossen.

Als sie zu Ingbert kam, wurde sie von einer alten Aufwärterin abgewiesen. Es dürfe niemand zu ihm, sagte die Frau, er liege im Fieber. Sie fragte, welcher Arzt ihn behandle; die Frau erwiderte, er wolle keinen Arzt. Da bat Olivia ihren Hausarzt, daß er ihn besuche, und dieser beschwichtigte ihre Sorge. Auch ihren Bruder Ferdinand schickte sie hin und war froh, zu bemerken, daß er an Ingbert Gefallen fand. Als sie endlich selbst zu ihm gehen durfte, brachte sie ihm Rosen. Sein blasses Gesicht wurde bei ihrem Anblick überflammt von Freude; ihre offensichtliche Bestürzung über die Armseligkeit seiner Behausung entlockte ihm ein wehmütiges Lächeln.

Sie kam fast täglich. Er besaß ein altes Spinett, darauf spielte er ihr vor. Sie sah seine Bilder und Studien an und fragte, ob er nichts verkaufen wolle. Es waren Arbeiten einer feinen Hand, voll Poesie und besonderer Anschauung der Natur. Er wählte einige Stücke aus und nannte Preise, gegen deren Bescheidenheit sie Einspruch erhob. Er wehrte stolz-ergeben ab. Da sie sich jedoch in den Kopf gesetzt hatte, ihm, wenn auch wider seinen Willen, zu helfen, schrieb sie an Robert Lamm, von dem sie wußte, daß er an Bildern Interesse hatte. Ein paar Tage später teilte ihr Ingbert mit, der Hofrat sei bei ihm gewesen, habe sich aber nicht entschließen können, eines der Bilder zu erwerben. Es lag etwas Verschmitztes in seinen Worten, Olivia schöpfte Argwohn und ging zu Robert Lamm, um ihn zu fragen. »Dein Maler ist ein Narr,« sagte Robert Lamm; »ich wollte ihm zwei Bilder abkaufen, er antwortete mir, gerade von denen könne er sich nicht trennen. Ich bezeichnete ihm ein anderes, da meinte er, das sei nicht fertig, und als wir endlich über ein viertes beinahe handelseins geworden waren, behauptete er, das habe er einem Freund versprochen. Du tätest gut daran, mich künftig mit solchen Aufträgen zu verschonen.«

Er ging im Zimmer auf und ab. »Was soll’s? Was soll’s überhaupt?« fuhr er mit seiner keifend-hellen Stimme fort. »Was soll’s mit der ganzen Kunst? Was fördert sie? Wen fördert sie? Wen tröstet sie? Wen macht sie besser? Verringert sie das Elend, die Niedertracht, die Willkür? Es ist alles Schwindel und Selbstbetrug. Die Leute, die dergleichen schaffen, werfen Herz, Geist, Ideen, Genie in einen stinkenden Sumpf, und den andern, die sich dafür begeistern, dient es als Ausrede für ihr schlechtes Gewissen.«

Olivia widersprach; er beharrte; das Hin und Her von Worten war ein unnützes Leiden. Es gab keinen Punkt, wo sie sich festsetzen konnte, er riß sie fort, er riß sie in Furcht und Unglauben hinein. Mit Schrecken spürte sie, daß sie bei jedem Schritt, den sie unternahm, innerlich vor seinem Urteil zitterte, und all ihr Sinnen zielte daraufhin, sich dem verhängnisvollen Einfluß zu entziehen. Was an Zärtlichkeit in ihrem Gemüt war, strömte Ingbert zu; sie schenkte ihm ein unbegrenztes Vertrauen, ein stilles freilich, aber er schien zu verstehen; nie durchbrach ein vorwitziges Wort von ihm die Schranken, die sie aufgerichtet hatte.

Er durfte sie küssen, wenn sie kam und wenn sie ging. Er vergaß nicht, daß er es nur durfte. Er behandelte sie wie eine Kostbarkeit, die bloß zufällig in seine Verwahrung gegeben war. Sie stand jetzt in der Blüte ihrer Schönheit; alle Menschen drehten sich auf der Gasse nach ihr um; ihre kühn-aufgereckte Haltung, der edle Gang, das nördliche Blond der Haare, die perlenhafte Haut, der vollendete Bau des Körpers und seine vornehme Bewegung, das alles im Verein war so selten wie unvergeßlich. Ingbert malte sie, wieder und wieder. Er sagte: »Jetzt sehen Sie erst, was für ein Stümper ich bin;« doch sie lächelte ihm zu und war froh über diese Stunden, die ihr erlaubten, sich zu sammeln. So bezaubernd wie ihr ehedem die ganze Welt geschienen hatte, so bezaubernd dünkte ihr nun Ingbert allein. Und doch war ihr Gefühl verwirrt, tief und schmerzlich verdunkelt.

[14]Sie ließ sich selbst nicht ruhen, und endlich wähnte sie Klarheit zu gewinnen. Was auf ihr lastete, war geistige Schuld, sittliche Schuld, die von Jahr zu Jahr sich gehäuft hatte und noch immer, Stunde um Stunde, wuchs. Und dort, in seiner freiwilligen Einsamkeit, saß der Richter, zu dem mußte sie gehen, nur er konnte ihr helfen, – zu den Menschen, von den Menschen.

Menschen! Das war das Rätsel, das die Qual. Hatte sie denn die Menschen vorher nicht gespürt, sie bloß hingenommen und nicht geprüft? Mit ihnen gelebt und sie nicht erkannt? War alles nur Spiel gewesen, was sie mit ihnen verbunden hatte, angenehme Lüge? Waren alle diese Bündnisse nichtig, dies Mit- und Füreinandersein, war es wertlos, das Entzücken an den Dingen verwerflich, die Beschwingung und das Streben eitle Gaukelei?

Und was berechtigte sie zu dem nagenden Mißtrauen? Was hatte die Flügelkraft gelähmt, den unbeirrten Glauben zerbrochen? Woher waren die Zweifel gekommen? Aus Worten nur. Durften Worte solche Macht haben? Doch hinter den Worten standen die Gesichter, hier das Gesicht eines Heuchlers, dort das Gesicht eines Rechtlosen, hier eins, das vom trägen Genuß verwüstet war, dort eines, das der Hunger gezeichnet hatte; und vor allem sein Gesicht, Robert Lamms hartes, verstörtes, erbittertes, richtendes Gesicht.

Sie mußte auch zu ihm gehen. Sie wollte Frieden haben; sie wollte mehr Beweise haben; einen Spruch, auf den sie sich stützen konnte; einen Weg, der in die Sonne zurückführte. Sie ertrug es nicht, sich in Haß gegen die Welt zu verlieren.

Frau Khuenbeck hatte mit dem Hofrat wegen einer Vormundschaftsangelegenheit zu sprechen; es handelte sich um die Zukunft Ferdinands. Sie hatte ihm mehrere Male geschrieben, ehe er sich entschloß, zu kommen. Sein Besuch fiel auf einen Tag im Fasching; Ferdinand und Ingbert hatten sich verabredet, zusammen auf einen Maskenball zu gehen, auch Olivia war von mehreren Bekannten zur Teilnahme aufgefordert worden, hatte sich aber geweigert.

Robert Lamm saß mit Frau Khuenbeck am Tisch und überlas einige Urkunden, da traten Ingbert und Ferdinand und ein Freund des letzteren mit Lärm und Lachen ins Zimmer. Der eine war als Vagabund, der andere als Indianer, der dritte als italienischer Fischer gekleidet. Frau Khuenbeck erhob sich, heiter überrascht, Olivia stand lächelnd auf der Schwelle. Robert Lamms Miene drückte Wohlgefallen aus, und er klatschte sogar Beifall. Nach einem scherzhaften Wortwechsel mit den jungen Leuten begann er von Redouten zu berichten, bei denen er durch diese oder jene abenteuerliche und ungewöhnliche Tracht Aufsehen erregt hatte. Es bedürfe vieler Phantasie, um solchen Veranstaltungen Würze zu verleihen, meinte er, und schilderte ein Fest von ehemals, bei welchem hervorragende Personen, Schriftsteller, Schauspieler, Diplomaten, Tänzerinnen durch geistreiche Einfälle von sich reden gemacht hätten. Er gab einige Anekdoten aus jener Zeit zum besten, die sein glänzendes Erzählertalent ins Licht setzten, kurz, er war so aufgeräumt, so unterhaltend und trotz des Zynismus, der heimlich oder unverhüllt stets in seinen Worten lag, so gewinnend, daß alle an seinem Munde hingen und ihr Bedauern nicht verhehlten, als er abbrach und sich, plötzlich wieder trocken und hölzern höflich, empfahl.

Olivia war in Hut und Mantel, weil sie einige Einkäufe in der Stadt machen wollte. Sie schloß sich dem Hofrat an, und er schien sich darüber zu freuen. Seine unerwartete Gesprächigkeit hatte erlösend auf sie gewirkt; sie schöpfte Hoffnung, seine Gegenwart schien keine Gefahr mehr zu enthalten.

Schweigend gingen sie nebeneinander. Es war Abend, viele Menschen waren unterwegs. Der Hofrat bog von den Hauptstraßen ab in die stilleren, aber auch dort sprach er nicht. Anfangs dünkte Olivia dies Schweigen natürlich, doch als sie ihn anschaute, bemerkte sie, daß seine Miene finster und feindselig war. Sie erschrak; sie konnte sich die Verwandlung nicht erklären; sie fürchtete, ihn verletzt zu haben, wollte fragen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Immer wuchtender, immer lähmender wurde sein Schweigen, und er erschien ihr grausam und geheimnisvoll[15] dadurch. Sie hätte sich von ihm verabschieden können, doch sie war nicht imstande, den Vorsatz auszuführen. Die Richtung, in die sie gingen, lag weitab von ihrem Ziel; was zwang sie, ihm zu folgen?

Sie spürte, wie sie allmählich bleich wurde und ein fremdes Entsetzen sie beschlich.

Auf einmal blieb er stehen. Sie waren bereits hinter dem Gürtel, und statt der elektrischen Bogenlampen brannten fahle Gaslaternen. Er legte beide Hände auf ihre beiden Schultern, blickte sie durchdringend an und fragte: »Warum kommst du nicht zu mir?«

Stumm schaute sie zu Boden.

»Komm morgen,« sagte er befehlend.

Ein Automobil fuhr die Straße herauf. Er rief den Lenker an, fragte Olivia, wohin sie zu fahren wünsche, half ihr in den Wagen, gab dem Manne Geld, lüpfte den Hut und eilte hinweg.

Als sie am andern Nachmittag in die Villa kam, sagte ihr der Diener Gerold, der Herr Hofrat sei im Garten. Langsam schritt sie durch die Alleen und über die Wege und gewahrte ihn endlich auf einem Beet, wo er harkte. In seiner Nähe gruben der Gärtner und sein Gehilfe die Erde um.

Er winkte ihr zu; sie blieb stehen und wartete. Nach einer Weile trat er zu ihr. Er begann sogleich von Ferdinand zu sprechen und sagte, der junge Mensch sei im Begriff, zu verludern; er habe mit der Mutter über ihn gesprochen, und sie seien überein gekommen, daß es am besten wäre, wenn man ihn nach Deutschland schickte. Einem angehenden Techniker böten sich dort günstigere Aussichten und ein reicheres Feld der Betätigung als hierzulande, wo alle Kraft geknickt werde und Talent und Fleiß dem flüchtigen Genuß zum Opfer falle.

Ein anderer Plan, den er ebenfalls mit Frau Khuenbeck zum Austrag gebracht hatte, war der einer Wohnungsveränderung. Die Wohnung in dem eleganten Stadtviertel war zu teuer geworden, und Frau Khuenbeck hatte sie schon vor einigen Wochen gekündigt. Sie hatte aber noch kein passendes Heim gefunden, und da hatte ihr Robert Lamm geraten, in seine Nähe, aufs Land zu ziehen. Zufällig hatte er davon gehört, daß in einem Haus in Pötzleinsdorf eine Wohnung von drei Zimmern billig zu vermieten sei; er sei heute vormittag dort gewesen, und da sich alles in wünschenswertem Stand gezeigt, habe er die Wohnung gleich gemietet. In vierzehn Tagen könnten sie übersiedeln, Olivia möge es zu Hause ausrichten.

»Du hast dann nur ein paar Minuten Wegs zu mir,« schloß er, »kannst kommen, wann du willst und hier im Garten spazieren gehen. Wenn du’s wünschest, richt’ ich dir einen Pavillon ein, da kannst du sitzen und träumen. Dort, das Rondell zwischen den Kastanien; vom Mai an ist es ganz in Blüten begraben. Freilich, besser ist es, nicht zu träumen, besser ist’s, die Augen offen zu halten, damit man nicht betrogen wird.«

Olivia wie die Mutter schieden ungern aus der alten Wohnung, in der sie seit dem Tod des Professors gelebt. Olivia erschien sich zu einem ungewünschten Zustand vergewaltigt, und als sie das neue Heim bezogen hatten, kam sie sich wie eine Verbannte vor, von allen Quellen abgeschnitten. Sie unterdrückte ihr Gefühl, um das dumpfere der Mutter nicht aufzuwecken; der Hofrat, der zuweilen herüber kam, merkte die Verstimmung und erging sich in boshaften Bemerkungen. Um jene Zeit gab es schon Blumen die Fülle in seinem Garten, und er schickte einmal eine ganze Wagenladung von Topfpflanzen, mit denen Olivia die Fenster und den Balkon schmückte, bis das Dürftige und ärmlich Frische der Zimmer verhüllt war.

Im Mai reiste Ferdinand nach Berlin, einer größeren Bestimmung entgegen. Seine Freunde gaben ihm ein Abschiedsfest; die Trennung von Mutter und Schwester fiel ihm nicht leicht. Olivia konnte sich lange nicht zurechtfinden; sein Mitdasein war ihr immer so selbstverständlich gewesen, jetzt fehlten sein Scherz, seine liebenswürdige Ungebundenheit zu allen Stunden. Frau Khuenbeck hatte den Plänen, die der Hofrat in bezug auf Ferdinands Zukunft entwickelt hatte, stets willig beigestimmt; die Verwirklichung betrachtete sie als ein ihr zugefügtes Unrecht, und sie faßte einen Groll gegen Robert Lamm.

Hiervon war häufig die Rede zwischen Lamm und Olivia. Er äußerte sich bitter über die Undankbarkeit der Mutter und spottete[16] über ihre wehleidige Schwäche. »Profit machen und nichts zusetzen, so ein Geschäft wünschen sie sich alle,« sagte er verächtlich; »andere für sich schuften lassen und im übrigen lustig sein, fröhlich sein, heirassassa.«

»Hätte dein Vater zu wirtschaften verstanden, dann brauchtet ihr nicht wie die Kümmerlinge zu leben,« sagte er ein andres Mal; »er hat in manchen Jahren sechzig-, siebzig-, achtzigtausend Kronen verdient, und wenn er bloß die Hälfte zurückgelegt hätte, so hättet ihr heute ein ansehnliches Vermögen. Statt dessen wurde alles für Küche und Keller vergeudet; jeden Tag offene Tafel, ein Dutzend Kostgänger, die sich den Bauch mästeten und wenn sie den Rücken gedreht hatten, sich das Maul zerrissen, weil sie doch nie genug bekamen; Schöntuer und Speichellecker, die sich auf Nimmerwiedersehen Geld ausborgten, Dienstboten, die wie die Raben stahlen, wahrhaftig, es war zu toll! Das Herz blutete einem beim Zuschauen. Da war nichts zu bessern; solche Lebenshaltung galt für vornehm, keiner machte es anders, man war ein Kavalier, man ließ sich nichts abgehen, man überzahlte jeden Genuß, und jeder Schubiak konnte sein Trinkgeld einstecken, wenn er nur eifrig zu katzbuckeln wußte. Und so stehen wir halt da, wo wir stehen, meine Liebe. Nicht nur du und deine geehrte Mutter, sondern ringsherum die ganze Kompanie, das ganze Land, dicht vor dem Bankrott, reif zum Sturz.«

Olivia wollte das Andenken des Vaters nicht geschmäht wissen und verteidigte ihn mit dem Hinweis auf seine Güte und seine großmütige Sinnesart. Das sei eine schlechte Güte, die das eigene Fleisch und Blut der Sorge überliefere, nur weil die Lockung des Augenblicks stärker sei als die Vernunft, war die Antwort; eine schlechte Großmut, die jedem Lumpen zu willen sei und die Früchte mühevoller Arbeit einem Parasitenhaufen an den Kopf werfe. »Du sprichst ja, als hättest du meinen Vater gehaßt,« kam es empört von Olivias Mund. Robert Lamm richtete sich steif empor. »Gehaßt? Er war mein Freund.« – »Nun, also!« – »Was, also? An ihm zuerst habe ich unsere Krankheit konstatiert, er, bei seiner Menschlichkeit und Redlichkeit, wurde mir zum Sinnbild unseres Unterganges. Die Leistung an sich, auch die trefflichste, ist nichts, so wie der allerreinste Charakter fast nur als eine Abnormität dasteht, wenn er nicht die Kraft hat, umbildend zu wirken. Ja, ich war sein Freund; ich weiß, wie er zeitlebens gearbeitet hat, wie selbstlos er seinem Beruf hingegeben war. Aber ich war ein Feind seiner Weichheit, seiner Wehrlosigkeit, seines Augenblicklertums, seines Allesiebengradeseinlassens.«

Und er kam auf gewisse Zustände an der Klinik, die damals schon von sich reden gemacht hätten und heute zum Skandal gediehen seien. Khuenbeck habe dem Unwesen nicht zu steuern vermocht und sich seufzend ergeben. Er sei niemals fähig gewesen, Ränke zu spinnen, aber er habe auch den Gedanken nicht ertragen können, daß andere gegen ihn Ränke spannen. Deshalb sei er auch nicht davor zurückgeschreckt, sich zu demütigen, wenn es einen Widersacher zu versöhnen galt, und oft sei es geschehen, daß er einem Kollegen, der ihn auf der Gasse mit herausfordernder Kälte gegrüßt, einen Besuch abgestattet habe, um sich nach dem Grund seines Gesinnungswechsels zu erkundigen. Da wurde dann geredet und geredet; der klaffende Riß, der Gut von Böse, Reinheit von Gemeinheit scheidet, sei mit Floskeln, Schmeicheleien und Versicherungen zugestopft worden, und zum Schluß habe man sich freundschaftlich die Hände geschüttelt, womit alles beim alten geblieben sei und die Schlamperei Fett angesetzt habe.

»Am Ende seines Lebens ist er dann müde und traurig geworden und sah wohl ein, was er unschuldig verschuldet hatte,« sagte Robert Lamm. »Eines Abends, es war kurz, ehe er die Reise antrat, von der er nicht heimgekehrt ist, erzählte er mir die Geschichte eines seiner Schüler. Der höchst begabte junge Mensch hatte den Malaria-Bazillus entdeckt; er war bettelarm, und da er sich politisch kompromittiert hatte, konnte er nirgends Unterstützung finden; alle seine Gesuche um ein Stipendium wurden abschlägig beschieden. In der Verzweiflung darüber, daß er die zur Herstellung des Serums, also zur Nutzbarmachung seiner Entdeckung erforderlichen Mittel auf keine Weise aufbringen konnte, beging er die Eselei, Banknoten zu fälschen. Die Sache kam natürlich ans Licht, er wurde zu langjährigem Kerker verurteilt,[17] und damit war seine Existenz vernichtet. Deinem Vater war der Fall sehr nahe gegangen; er hatte von den Arbeiten des jungen Fachgenossen gehört; er wußte, was für Schwierigkeiten ihm in den Weg gelegt worden waren, Schwierigkeiten, auf die bei uns jeder stößt, der etwas will, etwas kann und etwas ist. Als er sich entschlossen hatte, einzugreifen, war es schon zu spät gewesen. Freilich war er durchaus nicht sicher, daß sein Dazwischentreten die Katastrophe abgewendet hätte. Zum ersten Male sah ich ihn ganz niedergeschlagen, und in seiner müden Art klagte er das Regime an, machte das Regime verantwortlich für alle Übel. Nun, dieses Lied war mir bekannt. Das Regime ist wie der Drache im Märchen, der die Jungfrau zum Fraß verlangt; allgemeines Heulen und Zähneklappern, Schimpfen und Fluchen, aber der Drache gibt nicht nach, und die Jungfrauen werden ausgeliefert. Im Märchen erscheint dann das tapfere Schneiderlein und macht dem Untier den Garaus; ich möcht es nicht erleben, wie so ein Schneiderlein bei uns traktiert würde; die Schikanen und Kniffe und Bedenklichkeiten würden ihm seine Heldentat schon verleiden, wenn’s überhaupt dazu käme, und statt die Hand der Prinzessin gäbe man ihm zur Belohnung einen Fußtritt.«

›Die Stimme, die Stimme,‹ mußte Olivia in einem fort denken; qualvoll war ihr seine schrille, keifende Stimme, qualvoll dies Schelten, Raunzen, Geifern und Höhnen. Sie sehnte sich nach einer Stimme, die Klang hatte, die Tiefe hatte und nicht sich ins Innere bohrte gleich einer Schraube. Sie hätte ihn oft bitten mögen, leise zu sprechen, aber sie wagte es nicht, denn er war empfindlich; warf er ihr doch ohnehin bei jeder Gelegenheit ihre Verzärtlichung und Versüßlichung vor und spottete über das Rührmichnichtan, das in ihrer Miene lag.

Er entriß ihr Stück um Stück ihres inneren Besitzes. Was er mit seinem Wort berührte, wurde entwertet und entheiligt. Bisweilen lehnte sie sich auf gegen seine Welt- und Menschenverachtung, jedoch die Armseligkeit ihrer Gründe entlockte ihm nur Hohn. Seine Erfahrung war um Beispiele nie verlegen, vor den Tatsachen mußte sie sich beugen.

Anfangs glaubte sie, ihm etwas sein, ihm etwas werden zu können. Sie wies auf die großen Werke hin, die großen Schöpfer, die großen Gedanken der Menschheit. Er nannte das ein frommes Geplauder; die Menschen redeten nur davon, es sei wie bei der Zeitung; über dem Strich feiere die Korruption Orgien, unter dem Strich würden Schönheit und Moral gepredigt, was billig zu haben sei und niemand in Unkosten stürze. Sie erinnerte ihn an seinen Freund, den Musiker, der so viele erhoben, so viele entflammt; er lachte geringschätzig und fragte, ob sie denn nicht wisse, daß man gerade den mit giftigem Haß verfolgt und förmlich in den Tod gejagt habe.

Sie wußte nichts davon; er berichtete Einzelheiten, erzählte, wie der wunderbare Mann gelitten hatte, wie er gegen das Ende seines Lebens, um sich und seine Kunst zu retten, keine andere Möglichkeit gesehen habe, als aus dem Land zu fliehen und wie er sich in Amerika durch aufreibende Wanderfahrten die Krankheit zugezogen habe, die seiner sternenhaften Bahn ein Ziel gesetzt.

Da tönte aus der Vergangenheit die herrlich-sonore Stimme, nach der sich Olivia gesehnt, die Stimme des Aufschwungs, Seelenstimme, erstickt nun und verloren; sie schauderte und ließ die Schwärze wehrlos um sich niedersinken.

Mied sie Robert Lamm, so rief er sie; widerstrebte sie dann noch, so kam er selbst. Er war der Stärkere; mit eiserner Faust zog er sie in seine finstere Sphäre. Er zwang sie, mit seinen Augen zu sehen, er belud sie mit seiner schmerzlichen, im Grunde edlen, aber auch ohnmächtigen Verbitterung. Als sie wahrnahm, daß sie nur noch mit seinen Augen sah, erschlaffte jeder Nerv an ihr.

Mit einer letzten Anstrengung suchte sie sich zu befreien. Bei Senoners war ein Ball, sie wurde eingeladen und ging hin. Als ausgezeichnete Tänzerin, die sie war, wurde sie lebhaft umworben, aber schon bei dem ersten Walzer erfaßte sie ein Grauen vor der Umschlingung eines wildfremden Menschen. Alle Gesichter erschienen ihr zu Grimassen verzerrt, in allen sah sie etwas Drohendes, Gemeines und Feiges. Die[18] Lichter taten ihr weh; das Lachen und Scherzen, Nina Senoners Herzlichkeit, alle Bewegung, Musik und Worte, alles tat ihr weh. Jeanette, Ninas Tochter, ein Mädchen von sprühendem Temperament, sorglos wie eine Elfe, folgte Olivia auf Schritt und Tritt; sie war wie behext von der schönen Freundin ihrer Mutter, und Nina, die es merkte, lächelte still und bat Olivia, sie möge doch wieder zu ihr kommen wie früher. Jedoch Olivia glaubte nicht an die Aufrichtigkeit dieser Bitte, ein seltsam steinerner und kalter Ausdruck, der fast nie aus Ninas schwermütigen Zügen wich, machte sie stutzig und argwöhnisch, und in einer Sekunde visionären Schauens war es ihr, als klaffe zwischen dieser Mutter und dieser Tochter ein Abgrund, von dem beide noch nichts ahnten.

In einem andern Kreis lernte sie wenige Tage später einen russischen Sänger kennen, dem sie zuerst wenig Beachtung schenkte; doch als er dann, von Männern und Frauen bestürmt, Lieder seiner Heimat sang, wurde ihr Herz im Innersten aufgewühlt. Trunken ging sie nach Hause und wünschte nichts anderes, als den Sänger noch einmal zu hören. Sie erfuhr, daß er an einem bestimmten Abend wieder dort sein würde, und versäumte nicht, sich einzufinden. Es war ein gastliches Haus, in welchem allerlei freie und halbfreie Menschen zwanglos verkehrten. Bei ihrem Eintritt wurde sie von Georg Ingbert begrüßt; sie zeigte weder Überraschung, noch Freude. Mit dem Russen hatte sie kaum gesprochen, dennoch herrschte eine geheime Verständigung zwischen ihr und ihm. Während er sang, behielt er sie im Blicke; sie starrte gebannt in sein Gesicht. Er hatte eben ein Lied geendet; das Entzücken der Hörer äußerte sich in lärmendem Händeklatschen, Olivia schaute immer noch verzaubert in die Richtung, wo er stand. Da drängte sich Ingbert durch eine aufgeregte Gruppe; er ging ganz nahe an Olivia vorbei; mit einer freien Anmut der Gebärde strich er mit den Fingerspitzen seiner Linken leicht und schmeichelnd über Olivias entblößten Unterarm und flüsterte, so daß nur sie es vernehmen konnte: »Olivia, Sie sind verliebt.«

Ein entsagendes Lächeln spielte auf seinen Lippen. Olivia erschrak. Sie lächelte gleichfalls, matt und schuldbewußt. Verliebt, das war kein Wort mehr für sie; es mahnte sie an unwiederbringlich Verlorenes.

In diesem Augenblick gewahrte sie Robert Lamm. Niemand schien sein Kommen bemerkt zu haben, aber daß er da war, schien doch allen selbstverständlich. Er hatte zu keiner Zeit in dem Hause verkehrt, trotzdem benahm er sich, als wären ihm die Räume und die Menschen wohlbekannt. Er war von einer komödiantisch übertriebenen Freundlichkeit, in seinen Verbeugungen gegen die Damen lag etwas Geziertes und zugleich Hämisches, sein Gesicht war krebsrot. Olivia erhob sich. Er sah sie nicht oder wollte sie nicht sehen. Das Beängstigende aber war, daß ihn seinerseits die andern, in deren Mitte er sich befand, nicht zu sehen schienen. Langsam, in der Haltung einer Hypnotisierten, näherte sie sich ihm. Da wurden die Leute aufmerksam, stellten sich um sie herum, beobachteten verwundert ihr sonderbares Gehaben und richteten scheue Fragen an sie. Ja, seht ihr denn nicht! hätte sie rufen mögen. Das Blut pochte wider ihre Schläfenwand, mit einem dumpfen Schrei brach sie zusammen.

Ingbert fing sie in seinen Armen auf. Sie aber fühlte sich in den Armen Robert Lamms. Sie fühlte sich in seinem Besitz, unentrinnbar und für alle Zeiten. Ihr graute vor seiner Stimme, vor seinem Auge, vor seiner Hand, vor seinem Hauch; sie sträubte sich leidenschaftlich, aber alle Bemühungen waren vollkommen vergebens.

Man brachte sie nach Hause. Unterwegs wurde sie wieder Herrin ihrer Sinne und bat die Begleiter, die bei ihr im Wagen saßen – es waren Ingbert und ein junges Mädchen –, sie möchten die Mutter nicht beunruhigen. Am Ziel angelangt, dankte sie ihnen, und als sie fort waren, atmete sie noch eine Weile in tiefen Zügen die Nachtluft ein, bevor sie am Tor läutete.

Sie schlief schwer, und gegen Morgen hatte sie folgenden Traum. Sie war in einem Saal, in welchem viele festlich gekleidete und festlich gelaunte Menschen sich ergingen. Namentlich die Frauen zeichneten sich durch blendenden Schmuck und kostbare Kleider aus. Unzählige Lichter brannten, nicht nur an den Wänden, in[19] Hunderten von Kandelabern, sondern auch von der Decke hingen sie herab. Olivia selbst hatte nichts am Leibe als einen grauen Schleier, und da sie auf solche Lichtfülle nicht gefaßt gewesen war, begann sich eine quälende Scham ihrer zu bemächtigen. Auf einmal verlosch ein Licht, dann ein zweites, ein drittes, zwanzig, dreißig, fünfzig, in regelmäßigen Pausen. Dies wurde anfangs von keinem beachtet, denn die Helligkeit blieb noch lange strahlend; als es aber dunkler und immer dunkler wurde, weil mehr und immer mehr Lichter verloschen, wurden die Menschen still; alle bewegten sich gegen die Wände hin, wie wenn sie dort Schutz suchten vor der drohenden Finsternis, und als zuletzt nur noch eine einzige Lampe brannte, stand Olivia allein in einem öden Raum. Der Schleier, der sie einhüllte, wuchs und dehnte sich wie Rauch, machte das Geschmeide und die kostbaren Gewänder unsichtbar, und eine gellende Stimme rief in das Schweigen hinein: Wo seid ihr denn? Niemand antwortete, niemand rührte sich.

Sie erwachte, kleidete sich an und ging in die Villa Robert Lamms. Der Hofrat war trotz der frühen Stunde schon in den Treibhäusern. Sie wanderte durch das Haus, durch alle die schönen Räume, betrachtete die schönen Gegenstände. Sie lagen, hingen und standen so nutzlos da, so weltfern und ohne Freude.

›Er allein in dem großen Haus,‹ mußte sie denken, ›so nutzlos und ohne Freude! Und soviel Haß in der Brust!‹

Dann ging sie in den Park. Es war Sommer, unendliches Blühen. In zauberhafter Pracht standen die Rosen; Säulen-, Wild-, Zaun-, Moos- und Hundsrosen. Die Erde schien durch geheimnisvolle Chemikalien vorbereitet, es war ein Wuchern von Lilien, Tulpen, Anemonen, Veilchen, Rhododendren, Azaleen und Flieder. Blaue Felder von Levkojen, Lobelien, Clematis und Winden drängten sich an gelbe von Zinnien, Skabiosen, Portulak und Dahlien. Und die üppigen Hecken, die kleinen Kanäle voller Seerosen, die feierlichen Alleen von Pappeln, Kastanien, Linden und Ulmen, die dunklen Eichen, die gelbgeflammten Platanen: es war ein Fest der Natur.

Er aber kauerte im Treibhaus wie ein Alchimist in seiner Küche und suchte das Mittel zur Züchtung einer schwarzen Rose.

Während Olivia mit Blicken des Abschieds den Garten langsam verließ, hatte sie das Gefühl, als riefe sie jemand, aber als dürfe sie um keinen Preis dem Rufe folgen und zurückkehren.

Sie kehrte nicht zurück.

[161]

Olivia hatte mit der Mutter ein entscheidendes Gespräch, und am gleichen Abend reiste sie nach München. Von dort ging sie nach Florenz, dann nach Rom, dann nach Paris. Nirgends hatte sie Ruhe. Sie lebte kärglich, gönnte sich kaum den Bissen zum Sattwerden und verkehrte mit keinem Menschen.

In Paris besuchte sie eine Bildhauerschule und arbeitete mit Hingabe, wenn auch ohne Enthusiasmus.

Die spärlichen Briefe, die sie schrieb, erregten die Besorgnis ihrer Mutter; Frau Khuenbeck reiste nach Paris. Der berühmte Meister, dessen Unterricht sie genoß, äußerte sich über Olivias Charakter mit Bewunderung, über ihr Talent mit Vorbehalt. Er glaubte nicht daran, daß ihr Entschluß zur Kunst ein unwiderruflicher sei; er erschien ihm vielmehr als ein Akt der Erprobung und des Verzichtes.

Ein paar Tage später sagte Olivia zu ihrer Mutter: »Eine Frau kann es in der Kunst zu nichts Großem bringen. Wir können die Welt nicht anschauen, wir können die Welt nicht fassen. Heute hab’ ich meine Tonfigur zerschlagen. Ich gehe nicht mehr hin.«

Frau Khuenbeck fuhr mit ihr ans Meer. Olivia ertrug das Meer nicht, und sie reisten in die Schweiz, wo sie Frau von Scheyern treffen sollten. In Zürich wurde Olivia bettlägerig, doch was ihr fehlte, konnte nicht ergründet werden. Ein Arzt, der Frau Khuenbeck empfohlen worden war, bezeichnete die Krankheit als Hysterie und machte sich anheischig, Olivia vermittelst einer sogenannten Seelenanalyse zu heilen. Das Verfahren erregte solchen Abscheu in ihr, daß sie drohte, sich aus dem Fenster zu stürzen, wenn der Mann noch einmal in ihre Nähe komme.

Sie verweigerte die Nahrung, sie konnte nicht schlafen, sie blieb stumm, wenn man sie anredete; jedes Gesicht quälte sie, bei jedem Geräusch zitterte sie, vor Büchern empfand sie Widerwillen, die Natur ließ sie kalt.

Als Frau von Scheyern kam, merkte Frau Khuenbeck erst durch die Betroffenheit ihrer Schwester, welche Veränderung mit Olivia geschehen war. Sie war überschlank, ihre Formen hatten die Weichheit eingebüßt, ihr Gesicht die Lieblichkeit, sogar die Farbe ihrer Haare schien gebleicht. Die Augen lagen tief in den Höhlen und blickten fremd und matt.

Man wollte sie zur Heimreise bewegen. Sie weigerte sich und blieb gegen alles Zureden taub. Das Beste, was man für sie tun könne, sei, sie sich selbst zu überlassen, erklärte sie. Den Frauen dünkte dies Verlangen sinnlos; sie berieten sich mit einem Arzt und brachten sie in ein Sanatorium am Bodensee.

[162]Nach einigen Wochen schrieb sie der Mutter, die nach Hause gereist war, sie halte es in der Anstalt nicht aus, sie wolle einsam sein, sie wolle ins Gebirge. Nun ging sie nach Arosa und mietete sich in einem kleinen Gasthof ein. Sie lebte ganz ohne Menschen, ganz ohne Zuspruch, vom November bis August. Wenn man sie sah, hatte man den Eindruck, als denke und fühle sie nicht, als sei ihre Seele gelähmt.

Sie war von einer mörderischen Verachtung gegen sich und ihren Zustand erfüllt. Die einzigen Gefährten in ihrer traurigen Abgeschiedenheit waren Blumen, die sie bei ihren Spaziergängen auf den Alpenwiesen pflückte. Doch in ihrem erstorbenen Herzen verspürte sie keine Freude über die Blumen. Sie sammelte täglich einen Strauß und trug ihn in ihre Stube. Am andern Tag war er ein totes Ding.

Ihre Hände waren jetzt ganz schmal und gelb.

Eines Morgens trat der Besitzer des Gasthofs in ihr Zimmer und sagte: »Es ist Krieg ausgebrochen, ich muß mein Haus schließen.«

Sie suchte nach einer andern Unterkunft, aber man wollte sie nirgends aufnehmen. Alle Fremden reisten ab. Dumpf und teilnahmlos, wie sie war, traf sie Vorbereitungen, nach Paris zu fahren. Man bedeutete ihr, daß dies nicht anginge. Da bekam sie eine Depesche ihrer Mutter, worin sie kategorisch zur Heimreise aufgefordert wurde. Sie gehorchte.

In allen Bahnhöfen drängten sich aufgeregte Menschen, und Neugier und Angst waren auf allen Gesichtern. Der Zug war so voll, daß Olivia kein Plätzchen zum Sitzen fand und sechzehn Stunden lang gepfercht im Korridor stehen mußte. Und immer mehr Leute stiegen ein; Frauen kreischten, Kinder weinten, Männer suchten ihre Gepäckstücke, Hunde bellten, unaufhörlich liefen Gerüchte von Mund zu Mund, das Kaiserlied wurde gesungen.

Olivia hielt sich krampfhaft am Fensterrahmen fest. Ihr schwindelte vor Ekel bei den fortwährenden Berührungen, denen sie ausgesetzt war.

Als im Morgengrauen der Zug hielt, sah sie auf dem Bahnsteig eine Bäuerin, die von ihrem Sohn Abschied nahm. Was zwischen den beiden geredet wurde, konnte sie nicht hören, aber wie sie voreinander standen, Hand in Hand, Blick in Blick, das rüttelte sie auf einmal aus ihrer selbstischen Pein.

›Wohin bin ich geraten?‹ dachte sie schuldbewußt; ›wer hat mir die Menschheit geraubt? Wer hat mich gelehrt, sie zu fliehen?‹ Auf einmal hatte der Lärm, der um sie herrschte, etwas Melodisches. Das Ungeheuere, von dem die Menschen erfaßt wurden, begriff sie nicht, doch spürte sie seine Gewalt.

Niemand holte sie ab. Sie mußte lange warten, bis sie einen Wagen bekam. Die Mutter empfing sie mit Herzlichkeit; Ferdinand, der einrücken mußte, war schon aus Berlin heimgekehrt. Auch er begrüßte sie froh, aber im übrigen wurde nicht viel Wesens aus ihr gemacht, und das tat ihr wohl. Niemand fragte, niemand bewachte, niemand belauerte sie, deshalb gewann sie Sicherheit und fühlte sich minder einsam, als wenn man ihre Einsamkeit zu stören versucht hätte.

Eines Morgens kamen Ferdinand und ihre zwei jungen Vettern, Leo und Ernst von Scheyern, um ihr Lebewohl zu sagen. Die Uniform kleidete sie vortrefflich. In ihren Augen war neben einer heiteren Genugtuung ein Etwas, von dem Olivia elektrisch berührt wurde.

Später kamen noch einige der früheren Freunde und Bekannten, die vernommen hatten, daß sie wieder zu Hause war und sich von ihr verabschieden wollten. Sie schienen vergessen zu haben, daß Olivia ihrer längst vergessen hatte, und waren so zutraulich und aufgeräumt, daß sie sich über jeden einzelnen wundern mußte. Oft war sie nah daran, zu fragen: Bist du es denn wirklich? Seid ihr es wirklich? Seid ihr wirklich so?

Am Nachmittag erschien Georg Ingbert. Er war Artillerieoffizier und sah aus, als ob er mit dem bunten Rock geboren wäre. Er sprach nicht viel. Er gab Olivia eine papierne Rolle, die versiegelt war, und bat, sie möge sie in Verwahrung nehmen. Der Abschied war kurz und fast ganz stumm. Erst nach einer langen Zeit des Hindenkens stützte Olivia den Kopf in die Hand und weinte. Es waren gute Tränen.

[163]Soldaten zogen singend am Haus vorbei. Sie trat ans Fenster, einige schauten empor. Die lachenden, jungen Gesichter! An den Mützen steckten Feldblumen. Auch diese fremden Leute hatten das seltsame Etwas in den Augen, das wie ein Funke herübersprang.

Sie ging in die Stadt. Unzählbare Scharen von Menschen zogen über den Ring. Ein ahnungsvolles Schweigen veredelte die Massen. Elemente, die vorher gegeneinander gewirkt hatten, flossen zusammen und bildeten eine einheitliche Kraft.

In einer Nacht traf eine schlimme Botschaft vom Kriegsschauplatz ein; sie war in der Luft zu spüren, ehe sie verkündet wurde. Es schien, als seufzten die Pflastersteine.

Der Vorrat von Hoffnung war gering im Lande; das Land hatte keinen Glauben an sich. Aber aus dem verbrüderten Reich strömten, wie aus einem unerschöpflichen Sammelbecken, immer neue Fluten von Zuversicht. Nie waren Städte einander so nah gewesen, nie hatten Menschen durch die Ferne einander so gefühlt. Um jeden einzelnen barst ein Gehäuse, das ihm zum Kerker geworden war.

Immer wieder, suchend, fliehend, wanderte Olivia durch die Stadt. Sie ging zu Leuten, mit denen sie seit Jahren die Verbindung gelöst hatte, konnte aber, als schäme sie sich, nicht sprechen. Alles in ihr, an ihr war Frage, Zweifel, dunkles Ringen.

So kam sie auch zu Frau von Scheyern. Diese wollte die Sorge um ihre Söhne betäuben und machte sich an vielen Orten nützlich. Sie forderte Olivia auf, sie zu begleiten, und sie fuhren zum Ostbahnhof, wo zahlreiche Damen beim Labedienst beschäftigt waren. In einer Halle waren mehr als zwanzig Verwundete auf Stroh gebettet; sie lagen ganz still da, mit traurigen Augen und blutbefleckten Verbänden.

Olivia blieb stehen und wurde bleich. Was war das? Was geschah hier? Menschen lagen da in ihrem Blut, und andere Menschen gingen vorbei, als müsse es so sein. Von der Welt fiel eine Hülle ab, die ihre Gestalt verborgen hatte, und plötzlich trat diese Gestalt in schrecklicher Nacktheit hervor. Unbeschreiblichen Ernst im Auge, wandte sie sich zu Frau von Scheyern und fragte tonlos: »Warum liegen denn die Leute hier?«

»Wir haben zu wenig Platz,« war die Antwort.

Sie kehrte sich hinweg und verfiel in Grübelei. Fremde Leute drängten sich um sie, und Frau von Scheyern entschwand ihr aus dem Gesicht. Sie trat auf die Straße. ›Zu wenig Platz,‹ grübelte sie und starrte auf die Häuser, die vielen Fenster, ›wieso denn zu wenig Platz?‹ Wie konnten alle die Männer und Frauen in ihren Stuben weilen, wenn für jene Blutenden zu wenig Platz war? Wie konnten sie essen, trinken, schwatzen, ihre Geschäfte besorgen und in der Nacht schlafen? Zu wenig Platz!

Sie wurde von einer wachsenden Unruhe ergriffen. Am andern Tag ging sie wieder auf den Bahnhof, und noch mehr Verwundete lagen da. Wie gestern an Frau von Scheyern, wandte sie sich mit scheuer Frage an einen jungen Militärarzt. Die Antwort, mit bedauerndem Achselzucken gegeben, war dieselbe. Unwillkürlich preßte sie die Hände zusammen, dann floh sie wie von einem Ort der Sünde.

Immer entsetzlicher wurde das Bild in ihrer Phantasie. ›Was tust du? Wozu bist du da?‹ rief sie sich zu. Beständig zitterten ihre Lippen. Sie wußte kaum, wie die Tage vergingen, ihre Mutter glaubte, sie würde von neuem krank. Eines Morgens begegnete sie Eduard von Friesheim. Er bot ihr beide Hände dar, aber sie beachtete seine freudige Erregung nicht, es war ihr unangenehm, zu denken, daß ihre Person Gegenstand auch nur eines einzigen Wortes sein sollte. Als sei sie ausgehungert nach Mitteilung und Aufklärung, sprudelte sie in raschen Sätzen hervor, was sie bedrückte. Eduard war als Arzt in der Stiftskaserne tätig; dort seien die Zustände beängstigend, sagte er; die Leute lägen in den Gängen, haufenweise, und mit den furchtbarsten Verletzungen. »Und Sie, Eduard, und Sie?« kam es gequält und empört von Olivias Lippen.

Er sah hilflos aus, blickte sie verwundert an. Viel Schicksal und Erlebnis lag[164] in seinen Zügen, aber sie gewahrte es nicht.

Auf einmal tauchte in ihrer Erinnerung ein Haus empor, zuerst wie ein Traumbild, dann immer wirklicher, greifbarer, ein Haus mit vielen unbewohnten Zimmern.

»Ich gehe demnächst zur Front,« sagte Eduard Friesheim, und sein auf Olivia gerichteter Blick verlor alle Freude.

Olivia nickte ohne Anteil; von einem gebieterischen Bedürfnis nach Eile gepackt, rief sie einen Kraftwagen an. Sie ließ sich zu Robert Lamms Villa fahren.

Gerold, der auf ihr Läuten das Tor öffnete, sagte: »Ich weiß nicht, ob der Herr Hofrat empfängt.« Olivia schob ihn beiseite, flog durch den Flur, über zwei Treppen hinauf und pochte an der Tür des Giebelzimmers.

Robert Lamm saß lesend am Fenster. Bei dem stürmischen Eintreten des jungen Mädchens erhob er sich, zuckte zusammen, schaute zu Boden, schaute wieder auf Olivia und sagte kalt verwundert: »Du bist es?«

Seine Lippen schienen schmaler geworden, die Wangen etwas faltiger, der schüttere Schnurrbart war ergraut. Doch seine Gestalt war noch elastisch, die Haltung ungebeugt. Der einsame Blick seiner Augen erschütterte Olivia, ein Schauder überlief sie: der Mann war ihr so nah und so fern dadurch, in ihr war plötzlich alles Heißglut des Erlebens, in dieser Glut schmolz er dahin, und ihr dünkte, als vergehe sie sich an ihm, nur weil sie hier stand und er sein Wesen verlor, sie ihres gewann. Es war ein Gefühl aus einer Tiefe, wo vordem nichts gewesen war als die Wucht von Erfrorenem.

Eine Gebärde Lamms fragte. Die Gebärde war beredt: die Menschen meiden mich, ich habe aufgehört, etwas von ihnen zu erwarten. Was für ein selbstsüchtiger Anlaß führt dich her?

Olivia schöpfte Atem. Mit der Stimme aus jener aufgetauten Tiefe sagte sie: »Robert, es liegen Soldaten in ihrem Blut, die keine Lagerstätte haben, kein Dach über dem Kopf, keinen Winkel, wo sie sich bergen können.«

»Ja, ich weiß, es ist Krieg,« entgegnete Robert Lamm sachlich. »Du hast offenbar Verwundete gesehen. Regt dich das so auf? Es sind die notwendigen Folgeerscheinungen. Was hab’ ich damit zu schaffen?«

Olivia trat dicht vor ihn hin und legte die Hand auf seinen Arm. »Um Gottes willen, was redest du,« rief sie leise. »Die Unglücklichen gehn zugrunde, und es sind so viele Häuser da mit leeren Stuben! Robert, dein Haus! Vierzehn Zimmer! In jedem Zimmer können zehn Betten sein. Man hat zu wenig Platz, Robert, zu wenig Platz für Menschen, die sich geopfert haben. Hier bei dir ist Platz in Hüll’ und Fülle. Gib mir dein Haus, Robert, besinn dich nicht, gib ihnen Platz, wenn nicht zum Leben, so doch zum Sterben.«

Stumm erstaunt blickte Lamm in Olivias flammendes Gesicht.

»Wie sie still halten,« flüsterte Olivia und preßte die Hände gegeneinander, »wie fromm sie daliegen, wie verstümmelte Tiere. Geh mit mir und schau’ sie an.«

Robert Lamm schüttelte langsam den Kopf, als begriffe er diese Worte nicht. Endlich sagte er scharf abweisend: »Sie haben sich nicht geopfert, sie sind geopfert worden. Ad eins. Ad zwei: verschlägt es nichts, wenn das Pack dezimiert wird. Es bleiben immer noch genug übrig. Ad drei ist es nicht meines Amtes, den Samariter zu spielen. Das überlass’ ich denen, die noch Erwartungen oder Ehrgeiz oder den Glauben an ihre Wichtigkeit haben.«

Fassungslos blickte Olivia in sein unbewegtes Gesicht. Sie begann am ganzen Leib zu beben. »Und wenn du dort lägst, hilflos dort lägst,« stammelte sie; alle Farbe wich aus ihren Wangen. Lamm schwieg und rührte sich nicht. »Und wenn’s dein Bruder wäre, irgendein Mensch, den du liebst,« fuhr sie flehend, beschwörend, außer sich fort. Robert Lamm zog mit eigentümlich bösartiger Bewegung die Schultern hoch und starrte finster über Olivia hinweg. »Und wenn ich’s selbst wäre, Robert, ich selbst!« brach es nun wie ein Schrei aus ihr hervor. Ihre Augen schwammen in schimmernder Feuchtigkeit, der wilderregte Blick lief suchend[165] durch den kargen Raum und blieb an einer Stelle der Wand haften, wo unter einem Hirschgeweih zwei Gewehre hingen und zwischen den Gewehren ein Jagdmesser mit kunstvoll eingelegter Klinge. In leidenschaftlicher Wallung trat sie an die Wand, riß das Messer an sich, öffnete mit zitternden Fingern die oberen Knöpfe ihrer Bluse und richtete die Spitze des Stahls gegen die weiße Haut ihrer Brust. »Wenn ich es wäre!« wiederholte sie, und in den Ton der Verzweiflung mischte sich ein seltsames Jauchzen. Ihre von den Lippen entblößten großen engen Zähne leuchteten, als ob sie lache, und das Bild, wie sie dastand, drohend, fordernd, anklagend, das Messer in der Faust, mitten im Schmerz und in der Furcht vor der Enttäuschung gleichsam spielend, hatte bei allem Unerwarteten und Beängstigenden etwas so Rührendes, ja Kindliches, daß in Robert Lamms Zügen eine verwunderte Ergriffenheit bemerkbar wurde.

Er griff hin, packte sie beim Gelenk und löste das Messer mit sanfter Gewalt aus ihrer Hand. »Keine dramatischen Übungen, mein Kind,« sagte er tadelnd; »ruhig Blut, laß uns ruhig verhandeln.«

Er warf das Messer auf den Tisch und schritt ein paarmal durch das Zimmer. »Dein Gefühl macht dir Ehre,« begann er wieder; »ich sehe nur nicht ein, warum mir daraus Pflicht und Zwang erwachsen soll. Niemand läßt sich gern auf einen Posten drängen, der weder seinem Charakter, noch seiner Auffassung der Dinge gemäß ist –«

»Die Übel, unter denen du am ärgsten gelitten, und die du immer als unsern Fluch bezeichnet hast, Trägheit und Unverantwortlichkeit, daß mir die gerade dein Bild verunstalten sollten, könnt’ ich nicht ertragen,« warf Olivia ein.

Robert Lamm blieb stehen und senkte den Kopf. Die Glut in Olivias Worten überraschte ihn sichtlich; er schien mit sich zu kämpfen. »Mit dem Haus allein ist’s nicht getan,« sagte er zögernd, »wer wird es einrichten?«

»Das laß meine Sorge sein.«

»Du vergißt, daß dazu viel Geld gehört.«

»Du bist reich. Was willst du mit all dem Geld machen? Es gibt noch andere, die reich sind, wenn du nicht genug hast oder nicht soviel entbehren willst. Am Gelde sollt’ es scheitern? Geld beschmutzt den, der jetzt nicht hilft.«

Robert Lamm lachte; es klang halb überlegen, halb beengt. Er setzte sich an den Tisch und starrte in den Garten hinaus. »Nun gut,« sagte er nach einer Weile, »nun gut. Ich will nicht deine Verachtung auf mich laden. Tue, wozu es dich drängt. Ich werde Auftrag geben, daß man dich nach deinem Belieben hier schalten läßt. Ich werde dir ein ausreichendes Konto bei der Bank eröffnen. Ich nehme an, daß deine praktische Eignung mit der Begeisterung gleichen Schritt hält; daß du Leute ausfindig machst und zu Rate ziehst, die Erfahrung und Redlichkeit besitzen, ist wohl selbstverständlich. Ich kann ja zusehen, was daraus entsteht. Auf meine Person allerdings darfst du nicht weiter zählen. Ich bin nicht da, für dich nicht, für keinen. Jetzt geh, du hast ja Eile, versäum’ die Zeit nicht.«

Olivia trat an den Tisch, nahm Robert Lamms Hand mit ihren beiden und drückte sie fest. Unsicher, fast beklommen schaute er sie an und schlug hierauf den Blick zu Boden. Sie ging.

Am selben Abend reiste Robert Lamm ab. Er floh auf seine Alm.

Jedesmal, wenn er in das Tal kam, ließ er den Wagen beim Brandwirt halten, und ein Bauernmädchen, das dort bedienstet war, folgte ihm in das Blockhaus. Dieses Mädchen, Romana hieß sie, war ihm seit vielen Jahren treu ergeben und freute sich stets, wenn sie droben bei ihm sein durfte.

Sie war zur Schweigsamkeit erzogen, und da er sie in trüben Gedanken sah, fragte er, was ihr sei. Sie antwortete, ihr Schatz sei im Krieg.

Das Wort tönte fremd in dieser Ferne von allem Menschentreiben. Die Majestät und Ruhe der Natur vernichteten seinen Sinn.

Es war herrliches Oktoberwetter. Nebel lagen in der Frühe auf den Höhen ringsum und füllten die Tiefen; alsbald begannen sie unter der noch unsichtbaren Sonne zu glänzen, sich zu zerteilen, und der strahlend blaue Himmel trat hervor.

[166]In den ersten Tagen ging Robert Lamm regelmäßig auf die Jagd. Aber er merkte, daß ihm die rechte Lust und Sammlung fehlte. Einmal war er einem Bock auf der Spur, und es gelang ihm, das Tier vor den Schuß zu bringen. Kaum hundert Schritte von ihm stand es witternd zwischen den Bäumen; er legte an, doch seltsam, das Herz klopfte ihm so heftig, daß er die Flinte absetzen mußte. Das Tier hatte ein Geräusch gehört und enteilte, nicht in großen Sätzen, sondern beinahe bedächtig und als wisse es, daß es nicht mehr bedroht sei. Ärgerlich feuerte Lamm sein Gewehr in die Luft, und da erst sprang es voll Schrecken davon.

Sein bedächtiger, federnder Traumgang hatte den Jäger an eine Menschengestalt gemahnt. Er hatte plötzlich Olivia vor sich gesehen.

Er ließ die Flinte zu Hause und unternahm weite Wanderungen über das Gebirge.

Wo der Horizont verstellt war durch Felsen oder Wälder, fühlte er sich abgegrenzt und sicher; auf den Gipfeln schien es ihm, als zitterte die Glocke des Himmels, und am Rande war ein Flimmern wie von Eisenbändern, die im Feuer glühen.

Wenn er in ein Dorfwirtshaus kam, griff er nach der Zeitung und las die Berichte. Die Bauern, denen er eine vertraute Erscheinung war, knüpften Gespräche mit ihm an und wollten Aufschluß und Trost von ihm haben. Er aber gefiel sich darin, sie in der Furcht zu bestärken, und sein letztes Wort war stets: »Es ist aus mit uns.« Und in seinen Mienen malte sich eine herzlose, fanatische Schadenfreude.

Einmal bewies er dem Förster und dem Postmeister mit der Karte in der Hand, daß es gegen die Überzahl der Feinde kein Entrinnen gäbe. Jene hörten bekümmert zu, und der Förster wagte bescheiden auf die Siege hinzudeuten, welche die Truppen doch schon errungen hätten. Da lachte der Hofrat und antwortete: »Im besten Fall siegen wir uns zu Tode.«

Er war immer in unruhiger Bewegung. Er ließ sich Bücher aus der Stadt kommen, hatte aber zum Lesen keine Geduld. In früheren Tagen hatte er den Plan gefaßt, unweit von der Hütte ein ausgemauertes Wasserbecken anzulegen, um im Sommer baden und schwimmen zu können. Jetzt dünkte es ihn an der Zeit, das Projekt zu verwirklichen, und jeden Morgen ging er mit der Schaufel zu der bestimmten Stelle und grub selbst die Erde aus, viele Stunden lang. In der Müdigkeit, die ihn dann überfiel, war ihm zumute, als erlahmte die Wut eines Tieres, das ihn zwischen seinen Pranken hielt.

Bei Regenwetter saß er im Haus. Oft schickte er Romana mit Aufträgen ins Tal und kochte selbst. Oft auch, besonders am Abend, kauerte er am Herd und starrte in die Flammen. Dann begann er in trotzigem Ton vor sich hin zu reden, oder er nahm ein halbverbranntes Stück Holz und zeichnete mit dem verkohlten Ende Hieroglyphen auf die weiße Kalkmauer. Aus den Flammen aber erhob sich Olivias Gestalt und verlor sich wieder in die Finsternis.

Allmählich bemächtigte sich seiner eine unbestimmte Angst vor Gefahren und vor Krankheit. Er glaubte sich nicht sicher genug in der Nacht und verbarrikadierte die Türe. Im Bett liegend, betastete er seinen Körper und suchte nach einer Schmerzempfindung. Er zündete Licht an, griff nach der Uhr und zählte seine Pulsschläge. Kaum konnte er es ertragen, sein Herzgeräusch zu hören; jeden Augenblick war er darauf gefaßt, daß die geheimnisvolle Maschine im Innern des Leibes stillestehn würde. Er wanderte in den nächsten Ort und kaufte allerlei Mixturen und Probatmittel in der Apotheke. Es kam ihm vor, als sähen ihn die Leute mit argwöhnischen Augen an, als hätten sie sich besprochen und führten etwas Verderbliches gegen ihn im Schilde. Das Rascheln im Gebüsch erschreckte ihn, der Schrei der Krähen ließ ihn erbleichen, das Heulen des Windes verursachte ihm die größte Pein. Beim Ausschaufeln der Badgrube war ihm eines Morgens plötzlich zumute, als schaufle er ein Grab, sein Grab. Entsetzt warf er das Gerät weg und hütete sich, die Arbeit wieder aufzunehmen. Sobald es dämmerte, wagte er sich nicht mehr ins Freie. Romana hatte bisher jeden dritten Tag die Post holen müssen. Jetzt ließ er sie nur jede Woche hinunter, weil er sich vor dem Alleinsein fürchtete, und wenn sie mit den Briefen kam, besah er nur die Umschläge und die Aufschriften und getraute sich nicht, sie zu[167] öffnen. Er las auch keine Zeitung mehr; er wollte nicht wissen, was draußen vorging; er wartete auf eine Katastrophe und wollte nicht erfahren, ob sie näher gerückt oder noch abgewendet sei. Und doch zitterte er nicht für die Menschen, nur für sich. So unentbehrlich ihm auch die Gesellschaft Romanas war, so sehr haßte er ihr Reden und ihr Schweigen. Wenn alles stille war, im Schnee, denn es war mittlerweile Winter geworden, quälte es ihn, daß er um ihren Atem wußte. Manchmal schlich er des Nachts durch die Stube und an den Bretterverschlag, hinter dem sie schlief. Sah er noch Licht in den Spalten, so schlug er roh an die Wand, und sie blies die Kerze aus. Vernahm er ihr Schnarchen, so biß er die Zähne zusammen und gab sich seiner unergründlichen Erbitterung hin.

In der Schläferin war die Menschheit; nur in ihr noch. Sie drängte sich ihm auf, sie war fordernd da. Was wollte sie, stumpfen Leibes, wie sie lag, gefühllos und gemein? Träumte sie von dem blöden Bauernburschen, den sie geliebt hatte und der nun in der Schlacht war? Und hatte sie darum ein Anrecht auf ihn, Robert Lamm? Aber war nicht etwas Zufälliges in ihrem Dasein, in ihrer Gestalt? Ein wenig verfeinert die Kontur, ein wenig glatter die Haut, ein wenig beseelter das Gesicht, und sie war eine andere, unheilvoll verwandelt.

»Olivia,« murmelte er vor sich hin.

Eines späten Abends wurde an die Haustür gepocht. Der Hofrat ging hin und öffnete. Ein junger Mensch mit abgerissenen Gewändern und verstörtem Gesicht stand draußen. Stammelnd bat er um Einlaß. Da es stürmte und schneite, mochte ihn Lamm nicht zurückweisen. Auf die Frage, wo er herkomme und weshalb er sich im Gebirg herumtreibe, gab er nur verworrene Antworten. Romana führte ihn auf den Dachboden, wo er auf einem Strohsack nächtigen konnte. Als sie zurückkam, sagte sie, es sei ein Knecht aus ihrem Dorf, er sei bei der Musterung ausgehoben worden und sei geflohen. Der Hofrat fuhr auf; »dann sag’ ihm, er soll sich packen!« rief er. Man könne doch keinen Menschen in diese Nacht hinausjagen, war die Erwiderung. Lamm zündete die Laterne an, stieg auf den Dachboden, und da er den Mann in tiefem Schlafe fand, leuchtete er ihm ins Gesicht. Eine Sekunde lang schien es ihm, als werfe ihm ein Spiegel sein Bild entgegen, soviel Trotz und eingefleischter Schrecken war in diesen Zügen. Er glaubte, lauter Arme zu gewahren, die sich aus der Finsternis nach dem Fahnenflüchtigen streckten, und von dort, wohin er den Rücken kehrte, griffen sie auch nach ihm. In einer Wallung von Zorn rüttelte er an der Schulter des Schläfers; der ließ nur ein Stöhnen hören und schlief weiter. Und wie hinter dem Bretterverschlag die schlafende Romana die Gestalt Olivias angenommen hatte, wurde dieser fremde Mensch in ihn selbst verwandelt, und es war nicht zu unterscheiden, ob der Schlaf dieses andern eine Wahnvorstellung war oder sein eigenes Wachen. Es war ein grausiges Ineinanderschmelzen von Mensch und Mensch, von Seele und Seele, ein grausiger Verlust der Leibesgrenze, ein Übergreifen von Bewußtsein zu Bewußtsein.

Bis zum Morgengrauen schritt Lamm in seiner Stube auf und ab. Sobald es Tag war, wollte er hinunter in den Ort, um die Anzeige zu machen. Aber bevor er sich noch für den Gang gerüstet hatte, sah er zwei Gendarmen mit einem Polizeihund auf das Haus zukommen. Sie hatten die ganze Gegend abgestreift, da der Hund im Schnee die Spur verloren hatte und wollten sich auch hier nach dem Flüchtling erkundigen. »Der Mann ist droben, den ihr sucht,« redete sie der Hofrat an und zeigte auf die Stiege zum Dach.

Der junge Knecht wurde verhaftet und mit Handfesseln versehen. Lamm gebot der Magd, daß sie den Gendarmen einen Imbiß reiche, und während sie warteten und aßen, packte er eilig seinen Koffer. Dann begleitete er die Leute ins Tal und war auffallend gesprächig, in einer seltsam unterwürfigen Art, als habe er irgendeine Schuld auf sich geladen und könne es durch beflissenes Wesen verhindern, daß man ihn bezichtigte.

Beim Brandwirt ließ er sein Gepäck von der Almhütte holen. Am Abend fuhr er in die Stadt.

Er mietete sich in einem Hotel ein. Mehrere Tage ging er nicht aus dem Zimmer, endlich entschloß er sich, seinen Diener[168] zu benachrichtigen. Gerold kam und brachte ihm Kleider und Wäsche, die er verlangt hatte. Auf die Frage, ob er bei ihm bleiben solle, schüttelte der Hofrat den Kopf und erwiderte, er werde ihn rufen, sobald er seiner bedürfe.

Die Veränderung, die mit dem stillen, plumpen Menschen vorgegangen war, schien er nicht zu bemerken. Die Augen Gerolds schwammen in roter Flüssigkeit, seine Arme zuckten beständig, beim Reden stotterte er und verlor den Zusammenhang.

Aber Robert Lamm sah die Leute nicht an. Wenn er ausging, wählte er die Abendstunden und vermied die hellbeleuchteten Straßen. Er schritt mit gesenkten Lidern und stützte sich auf seinen Stock wie ein Greis. Es lag eine unheimliche Komödie darin, daß er auch den Gang eines Greises nachahmte. Er wollte vor sich selber und vor den Menschen alt sein. Er trug sich nicht mehr mit jener gewählten Feinheit, durch welche er stets aufgefallen war, sondern sorgte mit listiger Berechnung für kleine Merkmale der Verlotterung; der flachkrempige Zylinder, der etwas wie ein Wahrzeichen seiner Persönlichkeit bildete, war nicht mehr so glänzend gebürstet, obwohl er noch immer ein bißchen schief auf dem Kopfe saß.

Es kam häufig vor, daß er trotz der Verstellung, die er übte, trotz des Versteckenspiels, das er trieb, gegrüßt wurde. Doch dankte er nie. Einmal trat ihm ein guter Bekannter in den Weg, gebärdete sich entzückt, ihn zu sehen, und wünschte ihm Glück zu seiner großen Tat. Verdrossen fragend schaute ihn der Hofrat an. Es erwies sich, daß jener das Verwundetenspital meinte, zu welchem das Landhaus umgewandelt worden war. Begeistert rühmte er die dortselbst getroffenen Einrichtungen, sowie die außerordentlichen Leistungen Olivia Khuenbecks, über die man immer neue Wunder zu hören bekomme und von der die ganze Stadt schwärme.

Mürrisch erwiderte der Hofrat, das gehe ihn alles nichts an, die Villa sei längst keine Privatanstalt mehr, sondern befinde sich als öffentliches Kriegslazarett unter staatlicher Aufsicht. Er könne kein Verdienst beanspruchen, und Lobsprüche seien ihm gegenüber am falschen Ort.

Einem ehemaligen Kollegen, von dem er gleichfalls aufgehalten und mit Fragen belästigt wurde, flüsterte er mit heuchlerischer Bekümmernis zu, der Arzt habe ihm das Sprechen verboten; er deutete auf seinen Kehlkopf und ließ den Verdutzten stehen.

In den Speise- und Kaffeehäusern, die er besuchte, setzte er sich in einen Winkel; um sich vor zudringlichen Blicken zu schützen, hielt er eine Zeitung vor das Gesicht, ohne jedoch zu lesen. Die Menschen lärmten ihm zu viel; seine Miene verzerrte sich gehässig, wenn sie lachten oder aufgeregt kannegießerten. Nach seiner Ansicht hätten sie stille sein müssen, ganz still, und am Abend hätten keine Lichter brennen dürfen. Hörte er irgendwo Musik, so geriet er außer sich und fand, daß man das Schicksal frech herausforderte. Wurden Extrablätter ausgerufen und alle Hände griffen gierig danach, so blieb er teilnahmlos und rührte sich nicht. Er war überzeugt, daß fast alles, was in diesen Blättern stand, erlogen war. Die zahllosen Flüchtlinge, welche die Stadt füllten, erregten seinen Ärger, anderseits bereitete ihm der Gedanke an die Ursache ihrer Gegenwart eine hämische Genugtuung, und er machte boshafte Glossen über das dumme Volk, das die Gefahr nicht zu ahnen schien, die sich darin verkündete. Begegnete er Gruppen von Soldaten, geheilten Verwundeten, die in schmierigen Uniformen und mit erbarmenswürdig blassen Gesichtern durch die Straßen zogen, so ballte er wie im Zorn die Faust und lächelte düster.

Dreimal wechselte er sein Quartier, weil er sich einbildete, daß während seiner Abwesenheit Leute in seinem Zimmer gewesen seien, um zu spionieren. Auch war es ihm überall zu teuer und zu laut. Er prüfte mißtrauisch die Rechnungen und gab keine Trinkgelder. Zuletzt wohnte er in einem geringen Gasthof in Währing. Seine wachsende Vereinsamung steigerte die hypochondrischen Gefühle; oft lag er tagelang im Bett.

Es war zu Beginn des Dezember, als von den Grenzen her Vernichtung und Untergang drohte. Es schien, daß nur ein dünner Schleier noch zu reißen brauchte, und das Antlitz der Meduse starrte schauerlich in eine Welt, die bis zur Stunde noch mit Not und Grauen gespielt hatte.[169] Alles Leben stockte wie im Zimmer eines Sterbenden: die Menschen sahen sich an, und einer suchte Hilfe im Auge des andern. Da kam über Robert Lamm eine eigentümliche Schwäche, und er spürte seine Verlassenheit wie ein Zentnergewicht. Als er einmal an einer Blumenhandlung vorüberging, stockte sein Schritt. Er mußte lachen. Es kam ihm so widersinnig vor, daß hinter der Glasscheibe Blumen standen, jetzt, im Winter und am Abend aller Dinge. Plötzlich erfaßte ihn die Sehnsucht nach seinen Treibhäusern; er spürte sogleich die feuchtschwirrende Luft und den warmen Geruch der Erde. Er erinnerte sich an seine Lieblingspflanzen und an das Gefühl der Verschwisterung, das er gegen sie empfunden hatte. Die letztvergangenen Monate dünkten ihm eine Zeit der Verbannung und der Entbehrung, er begriff seine Flucht nicht, sein trotziges Fernbleiben; er wollte hin, doch fand er sich gehemmt, und er beargwöhnte sein Verlangen, als sei es nur ein Vorwand für ein anderes, das er sich nicht eingestehen mochte. Der alte Selbsthaß schlug empor und mischte sich mit dem Groll gegen eine Gestalt, die ihm einst teuer gewesen, weil er Macht über sie gehabt, soviel Macht, daß er sich hatte einbilden dürfen, sie sei ein von ihm abhängiges; ja von ihm geschaffenes Wesen, gleich einer Blume, die er hegte und deren Wachstum und Farbe er bestimmte. Da kam er zur Oper und mußte stehen bleiben, da eine Wagenkette den Weg versperrte. Eine schöne Frau stieg aus einem Fiaker, dem Anschein nach eine Polin, ein kostbarer Mantel umfloß den schlanken Körper, auf dem dunklen Haar trug sie eine tiefrote Rose. Lamm hätte die Rose von ihrem Haupt reißen mögen; es war etwas so Verwegenes und Lüsternes um sie; die Welt erschien ihm maßlos entartet, aus aller Form und aller Vernunft; er sah ein andres Gesicht unter der Rose, es verblaßte, erglühte, verblaßte wieder; er wollte das Bild halten, verfolgte es, irrte ziellos umher, wurde müde, raffte sich wieder auf, stieg in einen elektrischen Zug, ging wieder ein Stück, und es war später Abend, als er vor seiner Villa anlangte.

Kraft- und Krankenwagen standen am Gartentor. Soldaten eilten ein und aus, über dem Hauseingang hing ein großes, rotes Kreuz, alle Fenster waren hell beleuchtet. Einzutreten konnte er sich nicht entschließen. Es war Flucht, als er sich zum Gehen wandte. Er verachtete sich, war ein Narr in seinen Augen. Sein eigenes Haus, ein Ort der Leiden und der Pestilenz, Teil einer Welt, aus der er sich ausgeschlossen hatte, ihm entrissen von einer Kreatur, die er zu sein, zu denken, zu empfinden gelehrt hatte!

Am nächsten Tag kehrte er zurück, sprach mit dem Gärtner, einem würdigen Mann, der seit zwanzig Jahren bei ihm und mit ihm lebte. Er ging in die Glashäuser, begleitet von dem Alten. Er ließ Gerold rufen und merkte noch immer nichts von der Verstörung des Mannes. Er wollte nichts von Olivia hören, doch der Gärtner fing an, sie zu preisen. Jedes Wort war Staunen, jeder Blick Bewunderung. Mit welcher Umsicht und Geschicklichkeit sie alles in Angriff genommen; zuerst das Ausräumen des Hauses, dann die Neueinrichtung; wie sie mit den Behörden verhandelt, die Handwerker zur Eile getrieben, die Geschäftsleute gefügig gemacht habe; wie unermüdlich sie am Werk gewesen und wie nichts ihrer Beachtung entgangen sei, von den Vorräten für die Küche bis zu den Instrumenten für den Operationssaal. Dann kam die Frau des Gärtners hinzu und erzählte gleichfalls; man sah, daß das Schauspiel opfervoller Tätigkeit, das Olivia gegeben, alle andern Ereignisse im Sinn dieser Menschen verdrängt hatte. Der Hofrat fragte, wie die Petunienstöcke fortgekommen seien; der Gärtner gab befriedigende Auskunft. Sein Weib ließ sich aber nicht zum Schweigen bringen und schilderte trotz der abwehrenden Gebärde des Hofrats, wie das Fräulein die Pflegerinnen aufgenommen, nicht bloß Berufsschwestern, sondern auch vornehme Damen, die freiwillig Dienst täten, und wie sie nicht geruht habe, bis sie die besten Ärzte bekommen. Anfangs habe ihr Frau von Scheyern gute Hilfe geleistet, auch andere Damen hätten sich angeboten, die Arbeit mit ihr zu teilen, aber es sei ihr alles zu wenig gewesen, was man getan, niemand konnte vor ihrem Eifer bestehen. Der Gärtner nickte; es sei kaum zu fassen, fügte er hinzu, an allen Orten scheine sie zu gleicher Zeit zu sein, auf dem Bahnhof, um[170] die Transporte zu überwachen, bei den Ämtern, um neue Vergünstigungen zu erhalten, in den Krankenzimmern und in der Küche, bei Tag und bei Nacht, und wann sie schlafe, wisse eigentlich kein Mensch.

Lamm erhob sich und schritt erregt auf und ab.

Gerold sagte dumpf: »Soviel ich höre, sollen jetzt Baracken im Park gebaut werden.«

Der Hofrat fuhr jäh herum. »Baracken im Park? Da hab’ ich noch was dreinzureden, dünkt mich!«

»Ich denke auch,« murmelte Gerold und preßte die Hand um seinen Hals.

Auf einmal ertönte vom Haus herüber ein langgezogener Schrei. Robert Lamm lauschte erschrocken. Die andern schienen derlei schon gewohnt. »Armer Teufel,« sagte die Frau des Gärtners. Gerold war sichtlich zusammengeschaudert.

Der Schrei wiederholte sich, in einer höheren Tonlage, aus heftigerem Schmerz heraus. Lamm verließ die Gärtnerstube, sah sich draußen um, der Schrei dauerte noch an, setzte ab, begann abermals. Von dem Trieb beseelt, sich dem Bereich der gräßlichen Stimme zu entziehen, schlug Lamm den Weg zum Tor ein. Plötzlich aber blieb er stehen und kehrte um. Es zog ihn unwiderstehlich zurück, die Muskeln in seinem Gesicht verkrampften sich, zaudernd und beklommen schritt er zum Haus. Es war schon Abend, weicher Schnee klatschte unter seinen Füßen. Gerold folgte ihm wie ein Schatten. Er stand vor einem beleuchteten Fenster; in den Raum konnte er nicht blicken, da ein weißer Vorhang hinter den großen Scheiben hing. Er stand da und lauschte zitternd dem fürchterlichen Schrei.

»Herr Hofrat,« flüsterte Gerold, »man kann’s hier nicht aushalten, man kann nicht mehr leben in dem Haus.«

Die Umrisse einer Gestalt fielen plötzlich auf den hellen Vorhang. Das Fenster wurde jäh geöffnet. Die es öffnete und nun in den Ausschnitt trat und einen Blick in den Abend warf und die beiden sah und Robert Lamm erkannte, war Olivia.

Robert Lamm nannte ihren Namen. Er stützte sich mit bebenden Armen auf den Sims und war ihr so nah wie damals, als er ihren Händen das Jagdmesser entwunden hatte. Doch die Schwesterntracht verlieh ihr eine Würde, die ihn unwillkürlich veranlaßte, einen Schritt zurückzuweichen. Der Mann im Saale schrie und schrie, gellend, markerschütternd. »Er wird sterben,« sagte Olivia, und trotzdem sie in die Dunkelheit hineinschaute, sah man, wie ihre Augen glanzlos wurden.

Als sei er von einer überirdischen Erscheinung geblendet, senkte Robert Lamm den Kopf.

Nach einer Weile ging er in das Giebelzimmer hinauf, das er ehedem bewohnt hatte und das von der Verwandlung des Hauses nicht berührt worden war.

Da brannte wieder die Lampe, da blickten ihn die Bücherreihen an, und es herrschte auch Stille; aber die alte Stille war es nicht, die Stille des Gartens und der leeren Zimmer, nicht mehr die Stille, die er beherrscht hatte.

In dumpfer Trauer schritt er auf und ab. Es dünkte ihm, als habe er kein Recht, hier zu sein, als müsse er sich das Recht erst erkämpfen. Gegen wen aber erkämpfen? Offenbar doch gegen Olivia. Er wünschte, sich mit ihr auseinanderzusetzen, dabei fühlte er, daß ihr an einer Auseinandersetzung gar nichts gelegen war, daß seine Person und was er dachte und der Grund, weshalb er nun plötzlich im Hause war, in ihren Augen gar nichts bedeutete. Er drückte auf den elektrischen Knopf der Leitung, die in Gerolds Kammer ein Signal gab. Gerold kam nicht. Er öffnete die Türe und rief hinaus. Keine Antwort. Er brüllte Gerolds Namen über die Treppe hinunter. Eine weibliche Stimme fragte unwillig erstaunt nach der Ursache des Lärms. Er fuhr fort, nach Gerold zu rufen. Endlich erschien Gerold. Er wolle sofort das Fräulein Khuenbeck sprechen, herrschte ihn Lamm an. Nach einigen Minuten kehrte Gerold zurück und sagte, Schwester Olivia habe jetzt keine Zeit, sie werde später kommen. »Bleib in deinem Loch, was streunst du im Hause herum, wenn man dich braucht!« keifte Lamm und schlug die Tür hinter sich zu.

Gleich danach pochte es an der Tür, und Gerold schob sich über die Schwelle. »Der Herr Stabsarzt läßt dringend ersuchen, die Türe nicht zu schmettern,« sagte er furchtsam.

[171]Lamm blickte finster verwundert empor. »Hinaus mit dir!« erwiderte er.

Er zog ein Buch aus dem Schrank und blätterte darin. Dann warf er es weg. Die Hände auf dem Rücken, lief er ungestüm die Kreuz und Quer durchs Zimmer. Ein leises Klopfen überhörte er, und er richtete sich steif auf, als Olivia eintrat. Erst scheute er sich, ihrem Auge zu begegnen, bald aber faßte er Mut. Ihr Gesicht hatte einen träumerisch-verschleierten Ausdruck, der in starkem Gegensatz zu einer gewissen Beschwingtheit und einem selbst im Ruhen willensvollen Fortstreben aller Bewegungen stand. Sie war verändert, ganz und gar; er wußte auch, daß ihre Stimme verändert klingen würde. Alles an ihr erregte seinen erbitterten Widerspruch, ihre Haltung, ihr Antlitz, ihr Blick reizten ihn gleichsam zu einer blindgehässigen Verneinung; er schämte sich dessen und geriet doch noch mehr in Wut, gegen sich, gegen sie, gegen ein ungreifbares Etwas, das zwischen ihnen war.

»Du reibst dich auf,« sagte er in übellaunigstem Ton, »du übernimmst dich, du richtest dich zugrunde. Man braucht dich nur anzusehen, um zu wissen, wie leichtsinnig du mit dir umgehst. Es schmeichelt dir vielleicht, wenn die Leute viel Aufhebens davon machen, und es liegt in einer solchen Zeit nahe, sich zu betäuben und im allgemeinen Elend das eigene zu ersticken. Aber ich sehe nicht ein, warum man mit so verhängnisvoller Leidenschaft wider sich und seinen Körper wüten soll. Dafür bist du nicht geschaffen, das ist Verblendung.«

Olivia, die gegen die Tür gelauscht hatte und sichtlich unruhig war wie ein Soldat, der seinen Posten verlassen hat, wandte ihm mit befremdeter Miene das Gesicht zu. »Was weißt du von mir?« fragte sie. »Was weißt du denn eigentlich von mir?«

Ihre Stimme klang wirklich verändert, tiefer, frauenhafter; sie enthielt mehr Brechungen und entschiedenere Akzente.

»Ich weiß, was ich sehe,« versetzte er kurz.

»Hast du mich deshalb von der Arbeit wegrufen lassen, um mir Vorwürfe zu machen?« fuhr sie fort. »So will ich dir sagen, daß du dazu kein Recht hast und daß ich dir das Recht auch nicht einräume. Du bist nicht Herr über mich. Du bist es kaum über dich. Was willst du?«

Sie schaute ihn an, und er fühlte sich ganz in ihrem Auge drinnen; es umgab ihn förmlich, und er war klein, wie er nie gewesen, vor ihr nicht und vor keinem. Er begriff, daß sie einen weiten Weg zurückgelegt hatte, seit er zuletzt vertraut mit ihr gesprochen, und daß sie seine Führung nicht mehr annahm und nicht mehr brauchte.

»Ich habe zu tun,« sagte sie, »ich komme wieder, sobald ich mich für eine halbe Stunde freimachen kann. Es müssen Baracken gebaut werden, und dazu ist deine schriftliche Zustimmung nötig.«

»Baracken? In meinem Park?«

»Ja, an der Südseite des Hauses.«

Er brauste auf. »Ah, freilich; da sollen wohl meine Kastanien gefällt werden! Hundertjährige Bäume!«

»Allerdings,« erwiderte Olivia ruhig. »Bäume,« fügte sie mit einer Gebärde trauriger und ungeduldiger Verachtung hinzu, »Bäume!«

Sie hatte schon die Klinke in der Hand, da kehrte sie sich noch einmal um. »Bleibst du hier im Hause, Robert? Du kannst bleiben. Du kannst aus unserer Küche zu essen bekommen. Gerold soll mich benachrichtigen, wenn du dich entschlossen hast. Der Mann ist übrigens zum Säufer geworden. Vor ein paar Tagen fand ihn Schwester Nina Senoner betrunken auf der Treppe liegen. Versuch’ es, ihn von dem Laster abzubringen. Doktor Strygowski sagt, er leidet am Blutwahn.«

Sie ging. Das Wort Blutwahn, das sie so gelassen ausgesprochen hatte, rauschte noch durch das Zimmer wie ein beflügeltes Untier. Lamm machte einige Schritte, als wolle er ihr folgen, als müsse er noch einen Blick in ihr Gesicht werfen, nur um glauben zu können, daß sie es war, sie selbst, und nicht eine Doppelgängerin.

Da sie versprochen hatte, wiederzukommen, wartete er auf sie.

Zweifellos hatte sie außer acht gelassen, daß es schon zehn Uhr war, als sie sich entfernt hatte. Sie konnte doch nicht daran denken, ihn in später Nacht aufzusuchen. Es lag etwas Erschütterndes in der Vorstellung, daß Zeit und Zeiteinteilung keine Rolle für sie spielten.

[172]In einem Sessel sitzend, hielt er ein aufgeschlagenes Buch vor sich, las aber nicht. Sein Blick, bald gespannt, bald ermattet, war unveränderlich düster. Bisweilen dünkte ihn, er höre wieder den Schrei, der ihn zu dem beleuchteten Fenster gezogen hatte. Bisweilen glaubte er Ächzen und Stöhnen deutlich zu vernehmen. Ihm war, als lausche er in den brodelnden Krater eines Vulkans.

Gerold kam und richtete das Bett, den Waschtisch, nahm Wäsche aus dem Schrank. Lautlos ging er hin und her und sah aus, als fürchte er das Auge seines Herrn. Lamm hatte die Laden des Schreibtisches geöffnet und wühlte in alten Briefen und Papieren. Manchmal spähte er hastig nach Gerold und erschrak bei dem Anblick des krankhaft gelben Gesichts. Alles, wovor ihm bangte und was ihm unerträglich zu denken war, hatte sich als Erlebnis in diesem Gesicht eingegraben. Lamm befahl ihm endlich, das Zimmer zu verlassen. Da schlich Gerold mit geducktem Kopf hinaus.

Lange nach Mitternacht legte sich Lamm zum Schlafe hin. Aber er konnte die Lider nicht schließen, die Finsternis brannte ihm förmlich auf der Stirn. Er hatte in den alten Briefen nicht gelesen; alle Worte, geschriebene und gedruckte, waren ihm wie Moder. Doch ein Geruch der Vergangenheit hatte ihn umfangen und war in sein leeres Herz geströmt wie Gift.

Es wurde ihm bewußt, wie sehr ihn das Schicksal um Liebe und Liebesrecht verkürzt hatte, und Begebenheiten traten in lebendige Nähe, die mit Schweigen und Vergessenheit zu bedecken er immerfort bemüht gewesen war. Dazwischen tauchten Gerolds Züge empor wie ein versteinertes Bild des Grauens, dann gewahrte er Olivias Gesicht, in phosphoreszierender Blässe, in einem Rahmen von Blut. Er biß die Zähne zusammen, als schlüge ihn eine unsichtbare Faust. Unten im Korridor rief jemand mit rücksichtsloser Lautheit: »Schwester Emilie! Schwester Emilie!« Lamm richtete sich auf, stemmte die Arme hinter sich und schrie in die Luft hinein: »Ruhe!«

Seine Stimme hallte im Raum, unten wurde sie natürlich nicht gehört. Aber sein Haß saugte sich an dem unbekannten Rufer fest und begleitete ihn in die Zimmer und an die Betten der Soldaten, und aus diesen bleichen Wesen sprach derselbe Hohn: ›Wir sind in deinen Frieden eingedrungen, wir haben deinen Frieden zerstört, wir haben dir alles geraubt, was du besessen hast; deine Gemälde sind verschwunden, deine Möbel, deine Teppiche, deine Tapeten haben wir genommen, deine Bäume lassen wir fällen, deine Blumen reißen wir aus, und die einzige Seele, um die du geworben, die du in deine Einsamkeit geschleift hast wie der Tiger die Beute in die Wildnis, deren du in deinem Innern noch sicher warst, als sie sich fern von dir durch die verdunkelte Welt schleppte, auch die haben wir zu uns gelockt, wir Menschen, wir elenden, kranken Menschen!‹

Es war wie ein Fiebertraum. Da erhob sich von neuem Olivias Bild, doch er erkannte nun und fühlte, was sie ihm bedeutet hatte, ahnte, was sie ihm war, was sie ihm wurde. Ein Verlangen nach ihrer Stimme kam über ihn, ihrem Wort, ihrem Zuspruch, ihrer Widerrede, Verlangen, sich ihr zu eröffnen, zu erklären, von ihr gebilligt und begriffen zu sein.

Als er am Morgen einen Blick in den Spiegel warf, war er entsetzt. Ein altes, fahles, hohlwangiges Gesicht starrte ihm gespenstergleich entgegen. Er machte eine Grimasse und stellte höhnend fest, daß seine Blütezeit vorüber sei.

Erst um die Dämmerungsstunde kam Olivia herauf.

Ohne noch einmal sich bitten zu lassen, gab ihr Lamm die schriftliche Einwilligung zum Bau der Baracken.

Sie dankte. Sie war müde und setzte sich nieder; eine gewisse Nervosität verriet auch jetzt, daß sie sich keine Rast erlauben zu dürfen glaubte.

Der gestern geschrien hatte, war schon tot. Sie erzählte es beiläufig. Es war für sie ein Fall unter vielen.

Er nickte. Damit müsse er sich abfinden, daß der Tod Stammgast in dem Hause sei, sagte er; mit ihrem Tun könne er sich nicht abfinden. Bis zur Atemlosigkeit gehetzt, wie er sie vor sich sehe, könne er sich nun und nimmer entschließen, ihr Unternehmen zu billigen oder gar zu preisen.

»Es mag der Weg für hundert andre sein, dein Weg ist es nicht, Olivia. Für[173] die Haltlosen, die Enttäuschten, vom Leben Betrogenen der richtige Weg, für dich der Irrweg.«

»Warum, Robert? Es ist dein Trotz und dein tyrannischer Wille, die mir entgegenstehen. Ich habe Welt und Menschen anders gefunden, als du sie mir gezeigt hast,« antwortete sie.

»Anders gefunden? Wie denn, wenn man fragen darf? Bist du auch die Zeugin von großen Leiden, so bist du doch nicht befähigt, darüber zu urteilen, woher sie stammen und welche Gerechtigkeit in ihnen liegt.«

»Ich urteile nicht, ich leugne nichts, ich behaupte nichts. Das tun die Zuschauer, Robert, die herzlosen Zuschauer.«

»Ein Mann ist stets Zuschauer, meine Liebe, auch wo er handelt. Soll ich plötzlich vergessen, wogegen sich fünfundzwanzig Jahre lang mein Gemüt empört hat, wovon ich beleidigt und gedemütigt worden bin zeit meines Lebens? Euch ist der Krieg ein Unglück, ein Verhängnis, das nicht zu verhüten gewesen ist wie ein Hagelschlag oder eine Seuche, mir ist er die Sühne für eine unendliche, aufgehäufte Schuld. Im Grauen der Feuersbrunst wollt ihr nichts mehr davon wissen, daß ihr so lange gezündelt habt, bis die Flammen endlich zum Dach herausgeschlagen sind. Jetzt ringt ihr die Hände, jetzt wehklagt ihr, jetzt wollt ihr helfen und retten, jetzt, da es zu spät ist. Früher ward ihr taub, habt euch verhätschelt und verhärtet, seid Genüßlinge gewesen, Spieler, Trinker, Sportshelden, Bücherwürmer, Ehrabschneider und Rechtsbeuger. Es kommt mir so lächerlich vor, so unnütz, so aufgeblasen. Du mußt schon verzeihen, Olivia.«

Olivia erhob sich und erwiderte mit der Ruhe, die ihr die erlebten Gesichte, die Tage, die Nächte, die Schmerzen, das Ungeheure der geschauten Wirklichkeit gaben: »Du tust mir leid, Robert, mehr kann ich nicht sagen, du tust mir namenlos leid. Und wenn ich dich ansehe, weiß ich, daß das nur deine Worte sind. Dein Gefühl ist es nicht, kann’s nicht sein.«

»Ach, bleib’ bei mir mit dem Gefühl vom Hals! Was ich fühle, ist meine Privatsache, was ich denke, geht das Allgemeine an. Und ich denke, daß du mit dem Eimer in deinem schwachen Arm ein Meer von Blut nicht ausschöpfen kannst. Ich denke, daß einer Sintflut nicht abzuhelfen ist, indem man ein paar Zaunlatten in den Boden rammt. Ich denke, daß, wo der Sturm ganze Wälder zerschmettert hat, es ein fruchtloses Unterfangen ist, mit dem Leimtopf dabeizustehen. Ich denke, daß niemand das Recht hat, sich zu verschwenden, der, wenn auch nur in der Idee eines einzelnen, der Menschheit besser dient, indem er sich bewahrt. Wer geboren ist, Blumen zu hegen, der tauche seine Hände nicht in Blut, oder er entwürdigt die Natur. Weshalb die Welt noch mehr herunterbringen, da sie doch ohnehin schon auf den Hund gekommen ist. Das alles klingt ja verflucht grausam, aber das Schicksal gibt mir ein Exempel von Grausamkeit, das mir Mut einflößt.«

»Ich wundre mich,« sagte Olivia kopfschüttelnd, und ihre blauen Augen strahlten im Feuer des Unwillens. »Woher nimmst du die Kraft und den Entschluß, dich einer Verantwortung zu entziehen, die alle spüren, von der alle niedergezwungen werden? Bist du der Richter und untersteht die ganze übrige Welt deinem Spruch? Hast du nie gefehlt, nie selber gesündigt, hast du dir kein Versäumnis vorzuwerfen, bist du nicht auch ein Mensch und stehst mit uns allen unter dem gleichen Gesetz? Warum also diese Anmaßung, dieses Feilschen und Hadern, diese feige Flucht vor dem, was nun einmal ist?«

Er schwieg zunächst. Er ging ungeduldig auf und ab und pfiff leise. Er warf finstere Seitenblicke auf sie, und ihre schlanke, hochaufgerichtete Gestalt mit den seltsam zurückgebogenen Schultern erfüllte ihn mit einer Scheu, die er sich nicht eingestehen mochte. Er trat ans Fenster und trommelte an die Scheiben, und während er in den winterlichen Garten und in die kahlen Äste der Bäume schaute, sah er immer bloß sie, fühlte immer nur sie, bewunderte sie, schmähte sie, suchte nach ihr in seinem zerwühlten Innern, suchte sich in ihr, sammelte Gründe, quälte seinem Geist Rechtfertigungen ab.

Er sprach von dem Unheil, das über die Menschheit hereingebrochen war, als von der großen Reinigung. Er sprach von der geschichtlichen Notwendigkeit und von den politischen Verkleidungen, unter denen[174] sie die Völker narre und durch die sie alle einzelnen zu vollbringen zwinge, was keiner zu tun wünsche. Längst seufzten die Länder, die Städte unter einem Überfluß von Menschen und von Produktion; die Fülle sei zur Not geworden, es sei wie in einem Zimmer gewesen, dessen Sauerstoff durch zu viele atmende Lungen verbraucht worden war. Sei sie nicht selbst mit den Worten zu ihm gekommen, es gäbe zu wenig Platz? Nun werde Platz geschaffen, darin liege die Fügung, und nicht nur Platz für den Körper, sondern auch für die Seele, für den Glauben, Platz für den Herrgott, der in Gefahr gewesen, in seinem Himmel zu ersticken. Da dürfe man nicht die Hände ringen und sich larmoyanter Wehklage überlassen; da zieme sich Ehrfurcht vor dem höheren Walten, denn wer falle, der sei eben der Ähre vergleichbar, die, wie die tausende ihrer Mitähren, reif sei für die Sichel des Schnitters. Jeder erlitte den Tod nun einmal. Auch wenn Millionen stürben, sei es doch nur ein einziger Tod, und es sei ein Fehler in der Phantasie des Lebenden, ihn millionenfach zu sehen.

Olivia schaute ihn an, lächelnd und mit einem erglühten Blick. »Ich bin auch eine Ähre, warum willst du mich sondern?« sagte sie.

»Ja, ich will dich sondern,« antwortete er heftig; doch stockte er, weil er die Vermessenheit des Wortes empfand und etwas damit verriet, was ihm selbst noch unbewußt in seiner tiefsten Brust verborgen war.

»Warum?« beharrte sie, und ihr Lächeln wurde so vergeistert, daß er Furcht vor ihr verspürte. »Wenn du die Dinge in solcher Art betrachtest, bin ich dann nicht ein Werkzeug für die, die ich rette, wie die Granate ein Werkzeug der Vernichtung ist? Könntest du nur einmal die Augen eines Menschen schimmern sehen, dem man die Schmerzen lindert! Du weißt nicht, was Dankbarkeit ist. Bedeutet denn das Leben für dich nichts? Das einmalige, herrliche, unbegreifliche, das man erst ahnt, wenn der Tod nach ihm langt –? Du weißt nicht, was Leben heißt!«

»Mach ich einen Dichter, einen Träumer, einen, der die Wirklichkeit des Seins nie zu beherrschen und nüchtern abzuschätzen gelernt hat, mach ich solch einen plötzlich zum Steuermann auf einem Schiff, während der Taifun rast, so tu’ ich ungefähr dasselbe, was du mit dir tust,« antwortete Lamm und wandte ihr das in allen Muskeln bebende Gesicht zu. »Wie alles in dir zerrissen und verbrannt ist! Jedes Maß zerstört, jede Form zerstört!«

»Nein, nein, nein!« rief sie ihm entgegen. »Nicht zerstört, nicht zerrissen, nur lebendig, endlich lebendig. Und wenn dieses Lebendigsein auch Zerstörung wäre, wer bin ich denn, daß ich auf mich achten sollte, mich schützen dürfte? Für wen, wofür mich bewahren? Wo ist das Bessere, Größere? Laß mich sein, wie ich bin, laß mich tun, was ich tue!«

Sie sah ihn eine Sekunde lang mit starren Augen an, dann brach der Blick und feuchtete sich. Sie trat ein paar Schritte auf ihn zu, preßte beide Hände wider ihre Brust und flüsterte, totenbleich: »Ach, Robert, es ist fürchterlich! Fürchterlich!«

Er umfing die Schwankende mit seinen Armen und stand regungslos da.

Nach einer Weile machte sie sich sanft los, strich mit der Hand über ihre Haare und sagte erschrocken: »Ich vergesse mich ganz. Es wartet soviel Arbeit auf mich. Gute Nacht, Robert.«

Schnell verließ sie das Zimmer.

Ungefähr vor einer Woche war ein Mann eingeliefert worden, den man ohne Uniform, bis aufs Hemd entkleidet, auf einem Schlachtfeld in Galizien gefunden hatte. Er hatte einen Schuß im Rückgrat, konnte nicht sprechen und keinerlei Auskunft über sich geben.

Still und steif war er dagelegen, die Augen immer auf denselben Punkt in der Luft gerichtet. Er hatte ein außerordentlich schönes Gesicht, blaß, vergeistigt, durchformt; ein schwarzer Bart umrahmte es derart, daß Kinn und Wangen von Haaren frei waren.

Ob er Freund oder Feind war, wußte man nicht. Er trug die Nummer 42, das war alles. Man redete ihn in allen Sprachen aller Völker an, die im Krieg standen, doch gab er niemals ein Zeichen, daß er die Worte faßte. Man vermutete, er sei auch des Gehörs beraubt und hielt ihm Zeitungen und beschriebene Zettel vor; er[175] beachtete nicht einmal die Gebärde. Ohne zu seufzen, ohne einen Laut der Klage lag er da.

Wennschon dies von einer völligen Teilnahmlosigkeit, ja von einem inneren Starrkrampf zeugte, hatten doch seine Augen den stärksten Glanz bewahrt, der sich denken ließ. Sie waren ununterbrochen weit geöffnet, und als ob der Bewegungsmuskel der Lider nicht mehr arbeitete, schlossen sie sich nicht eine Minute lang. Der Ausdruck in ihnen war keineswegs fieberisch; es war ein mildes Licht, ein seelenhaftes Strahlen, das auf Ärzte und Schwestern eine geheimnisvolle Anziehung übte. Oft standen mehrere Personen zugleich an seinem Lager, die sich für kurze Zeit ihrer Beschäftigung entzogen hatten, nur um diesem Blick zu begegnen und ihn festzuhalten.

Und in jeder Nacht kam Olivia an das Bett dieses Verwundeten, blieb stehen, schaute in das bleiche Gesicht und suchte, auch sie, den wunderbar verlorenen, wunderbar erfüllten Blick des fremden Mannes. In jeder Nacht unterbrach sie ihren Rundgang hier und verweilte wie ein Mensch, der Atem schöpft und sich besinnt und der Lösung eines düsteren Geheimnisses näher ist als bisher.

Seit dieser Mann im Hause war, seit sie diese Augen wahrgenommen hatte, die über dem wirren, wilden Geschehen wie zwei feine, einsame Sterne leuchteten, diesen Blick erfahren hatte, der schmerzlich-schmerzlos, wissend-bewußtlos aus dem Geisterreich zu dringen schien, hatten sich ihre jagende Unrast und grausamste Seelenpein etwas gelindert; sie tauchte empor aus der qualmenden Höllenglut und lenkte ihren Blick gen Himmel, vielleicht zum erstenmal im Leben mit der Ahnung und dem Gefühl von Gott.

Es war kein andrer Ausweg mehr gewesen als nach oben.

Mit dreizehn Schritten durchmaß Robert Lamm sein Giebelzimmer. Er hatte berechnet, daß er zwölftausendfünfhundert Schritte machen mußte, um eine Strecke von zehn Kilometern zurückzulegen. Er besaß einen Schrittzähler, mit dessen Hilfe er täglich die durchwanderte Bahn bestimmte. An manchen Tagen waren es zwölf, an manchen fünfzehn Kilometer.

Die Märsche dünkten ihm notwendig zur Erhaltung seiner Gesundheit. Auch konnte er beim Gehen besser denken.

Aber die Gedanken führten zu keinem Ergebnis. Jedesmal graute ihm davor, daß er nach dem dreizehnten Schritt wieder umkehren mußte. Wenn der neunte, der zehnte Schritt einen Aufschwung, eine Erleuchtung versprach, die Wand, die zur Umkehr zwang, machte alles wieder zunichte.

Fünf bis sechs Stunden Schlaf, zwei bis drei Marschieren und zwei bis drei Lektüre, blieben immer noch mindestens zwölf Stunden, die leer waren, zwölf boshaft schleichende Stunden. Jedes Geräusch im Hause, jeder Ruf, jedes Glockenzeichen, jedes Flüstern oder Murmeln war eine Feindseligkeit, war doch zugleich eine willkommene Unterbrechung. Wieviel da lauerte, schreckte, drohte, da draußen, da drunten!

Angst vor Begegnungen hielt ihn davon ab, die Schwelle zu überschreiten. Nach Verlauf einer Woche brütete er über Fluchtplänen. Doch wußte er, daß sich niemand um ihn kümmerte.

Ein sonderbares Vergnügen gewährte es ihm, die Personen an sich vorüberziehen zu lassen, die er ehedem mit seinem Haß bedacht hatte. Es stellte sich heraus, daß von diesem Haß nicht mehr viel übrig war; auch wenn seine Erinnerung noch so grobe Zerrbilder malte, vermochte er an jenen Leuten wenig zu entdecken, was ein so heftiges Gefühl gerechtfertigt hätte.

Die Ursache war nicht etwa die, daß er die Fähigkeit zu hassen verloren hatte, sondern daß alles, was noch an Haß in ihm war, sich gegen einen einzigen Menschen richtete: allein und unversöhnlich gegen Olivia.

Sie hatte ihn gezwungen, wider seine Überzeugung zu handeln. Sie hatte ihn um die letzte Hoffnung betrogen, die er noch gehegt, um die letzte, die geheimste Erwartung, die er trotz aller Weltverachtung und schmerzlichen Verlassenheit noch an die Zukunft geknüpft hatte.

Es dauerte lange, bis er sich dies eingestand. Er war der Mann nicht, um einer solchen Wahrheit ins Gesicht zu blicken.[176] Sein Gemüts- und Sinnenleben war eine vernachlässigte Provinz seines Daseins, und die dunklen Wege der Seele nur zu ahnen, war ihm nicht bequem; er leugnete sie, wo es möglich war. Aber jetzt trat das Vergangene so nah an ihn heran; er wußte plötzlich, daß er schon das Bild des Kindes Olivia mit Lust in sich aufgenommen, und daß das Wächter- und Erzieheramt, das er ausgeübt, ihm mehr und anderes bedeutet hatte als eine Pflicht der Pietät und der Freundschaft. Auge und Empfindung hatten ihn getäuscht; er hätte sich befleckt, sie verraten geglaubt, wenn er von ihr, von sich, vom Schicksal gefordert, wenn er wissentlich zu erreichen getrachtet hätte, wonach sein ausgehungertes Herz lechzte. Wunsch und Sehnsucht zu ersticken und zu unterdrücken, dienten ihm aber menschlich nicht; es verfinsterte ihn und höhlte ihn aus.

Die Gestalt Olivias, die Stimme, der Schritt, der Blick, das Lächeln: alles das war ihm einst wie ein Eigentum gewesen, Frucht seiner Mühe, Lohn seiner Entbehrung, Ausgleich seiner trüben Erfahrung; ihm beschieden, weil zu tiefst nur von ihm erkannt. Für ihn gemacht, für ihn lebendig, weil er den magischen Schlüssel dazu besaß, das Wesen zu begreifen glaubte. Ihr Tun war seines, auch das anscheinend Widerstrebende war noch in der Harmonie mit ihm. Als sie unter seiner Belehrung zusammengebrochen war – er nannte es Belehrung, obwohl ihm sein Gewissen einen härteren Ausdruck vorschlug – als sie sich der Geißel seiner Worte und dem lähmenden Einfluß seiner Urteile durch die Flucht entzogen hatte, war er noch weit entfernt, sie verloren zu geben; mit fatalistischer Geduld vertraute er auf seine Wirkung in die Ferne, rechnete mit ihrer Wiederkehr, wie wenn er sie in Traumschlaf versetzt hätte und den Zeitpunkt abwarten wollte, der zur Erweckung am günstigsten war.

Ihr Erscheinen riß ihn völlig aus dieser Einbildung. Äußere Umstände, die stärker waren als alles, was er in die Wagschale hätte werfen können, hatten den Sieg über ihn erlangt. Ein Rausch von Zorn erfaßte ihn und erneute sich immer wieder, so oft er sich sagte, daß bei natürlicher Entwicklung der Dinge sein Anrecht unbestritten geblieben und die Schwankende, Haltlose ihm endlich in die Arme geführt hätte. Jetzt hatte er verspielt; der Einsatz bestand in seiner Existenz, in vielen Jahren hartnäckig und trotzig verhehlter Zuversicht. Er hatte auf jedes Gut und jedes Ziel sonst verzichtet und zäh und stumm, wie nur er sein konnte, alles auf das eine Los gesetzt. Er hatte verspielt, und er wußte es nun. Derselbe Sturm, den er geweissagt hatte, seitdem sein männlicher Geist und Wille in Konflikt geraten war mit den Gebresten der Zeit und den Unterlassungssünden ihrer Menschen, hatte die Blüte ausgerissen und verweht, die er im geschütztesten Winkel seines Lebensgartens gepflanzt hatte.

Hier war kein Appell möglich. Sie hatte ihm deutlich genug zu verstehen gegeben, daß jeder Versuch, sie zurückzuhalten, ihn in ihren Augen zum Verbrecher stempelte. Er durfte nicht hoffen, daß irgendein Mensch, weder Mann noch Weib, weder Freund noch Feind, in seinen Bemühungen etwas anderes erblickte als Verschrobenheit und Herzenskälte. Er hatte sie eingebüßt, sie war dahin, sie konnte ihn nicht mehr sehen und hören, sie hatte sich dem blutigen Chaos verdungen und bildete sich ein, nützlich zu sein und litt unsäglich, und würde immer ärger leiden müssen, je höher die Woge des Entsetzens stieg.

Es gab Stunden, wo er wie ein rachebrütender Teufel bleich und böse in einem Winkel seiner Kammer kauerte und sich das Hirn zermarterte mit den Gedanken, die ihm sein ohnmächtiger Groll und seine wirklich beispiellose Einsamkeit erregten. Es war etwas Troglodytisches um ihn; es umwehte ihn die Luft aus einer versteinerten Welt; er glich dem körperlosen Schatten, der nach einer Seele sucht und sie nicht finden kann. Er fühlte sich ausgestoßen und gänzlich vergessen, erniedrigt und beraubt; er fror und fieberte, er sann auf Gewaltstreiche, aber die Vorstellung, daß möglicherweise er es sein mußte, der sich zu beugen und zu unterwerfen hatte, war ihm noch mit keinem Hauch genaht.

Eines Nachmittags um die Dämmerungszeit schlich er aus dem Hause und ging zu Frau Khuenbeck.

[177]Sie empfing ihn ohne Herzlichkeit. Er hatte sich jahrelang nicht um sie gekümmert, das trug sie ihm nach.

Sie machte ihn im stillen auch für alles verantwortlich, was mit Olivia geschehen war, und als er die Rede auf das Mädchen gebracht hatte, erklärte sie, daß sie ihre Tochter nur selten sehe. Olivia sei ungehalten, wenn man sie im Spital besuche. Eine Zeitlang seien keine Nachrichten von Ferdinand gekommen, da sei sie hingegangen und habe sich bei Olivia erkundigt, ob sie etwas erfahren habe. Sie habe nichts gewußt, habe aber auch keinerlei Besorgnis gezeigt. Sie habe ruhig zugehört, aber in ihrem Blick sei etwas gewesen, wobei einem eiskalt wurde.

»Haben Sie das vielleicht beobachtet,« fuhr Frau Khuenbeck fort, »den Blick, meine ich, den Blick einer Besessenen? Gewiß begeh’ ich ein Unrecht, wenn ich so etwas sage. Die Menschen beten sie ja an. Auch ich muß sie bewundern, aber sie ist mir fremd geworden. Geht das mit rechten Dingen zu?«

Lamm schwieg. Es genügte ihm, daß die Frau von Olivia sprach. Er hielt es für ausreichend, sie durch eine ermunternde Miene anzuspornen.

»Sie assistiert jetzt bei den Operationen,« berichtete Frau Khuenbeck. »Sie hat das Narkotisieren erlernt und eine solche Geschicklichkeit darin erworben, daß die Ärzte ihre Mithilfe jeder anderen vorziehen. Doktor Strygowski sagte mir, es sei wunderbar; instinktiv bringe sie genau die Tiefe des Betäubungsschlafes zustande, die für den betreffenden Fall erforderlich ist. Wenn einer schreit oder sich sträubt, so braucht sie ihn nur anzurühren, und er fügt sich.«

»Märchen,« warf Robert Lamm hin.

»Ich glaube nicht, daß es ein Märchen ist. Ich glaube, es ist ein Erbteil von ihrem Vater, der hatte auch so eine Zauberhand. Einige Ärzte meinen, daß sie sich auf eine besondere Kunst des Dosierens versteht. Es sind auch Chirurgen aus der Stadt gekommen, denen sie eine Erklärung geben sollte. Sie konnte aber nichts erklären.«

»Die Esel vom Fach vermuten immer da Wunder, wo ganz und gar keine sind,« bemerkte Lamm trocken.

Frau Khuenbeck zuckte die Achseln. »Ein Soldat sagte von ihr: sie packt einen so an, daß man vergißt, was einem bevorsteht. Aber was bedeutet mir das? Wie ich das zweite- oder drittemal dort war, mußte ich auf sie warten und ging im Flur auf und ab, und da kam sie mit dem blutenden, frisch abgesägten Bein eines Menschen. Es war in ein Linnen geschlagen, doch wer kann so ein Bild wieder loswerden, wenn er es einmal geschaut! Mir wurde weh vor Grausen, ich hatte das Gefühl, als begehe das Kind eine schreckliche Sünde.«

Robert Lamms Gesicht verzerrte sich. »So ein Bein, wissen Sie, ist außerdem verflucht schwer,« sagte er mit heiserer Stimme, »es mag gut und gern seine fünfzehn Kilo wiegen.«

»Diese Olivia,« rief Frau Khuenbeck, »die so heikel war, daß sie vom Tisch aufstand und nicht weiteressen konnte, wenn auf einem Salatblatt ein Wurm kroch! Was kann ihr die Welt noch sein, danach? Kann sie je wieder ein harmloses Leben führen, ein Leben mit kleinen Pflichten?«

Lamm erhob sich. »Wir werden das Problem heute nicht lösen, Verehrteste,« antwortete er schroff. »Unser Verstand ist überhaupt unzulänglich gegenüber dem traurigen Verwesungsvorgang, den man Leben nennt. Mich dürfen Sie schon gar nicht interpellieren. Ich gestehe Ihnen, mir wird übel, wenn ich ja oder nein sagen soll. Ich bin im Begriff, mir das Reden abzugewöhnen; meine Zunge hat nicht die geringste Lust mehr, Geräusche zu artikulieren. Ein überflüssiges Stück Fleisch, das mir im Munde fault. Empfehle mich Ihnen.«

Als er durch den Korridor seines Hauses schritt, traten ihm zwei Herren in den Weg. Der eine war Doktor Strygowski, der andere, der mit außerordentlicher Feinheit gekleidet war, hatte ein bartloses, etwas aufgeschwemmtes Gesicht, und seine Miene verriet Unsicherheit und Anmaßung. Er blieb vor dem Hofrat stehen, lüpfte den tadellos gebügelten Zylinder, nannte seinen Namen mit einem Ton von aufdringlicher Bescheidenheit und sagte, er sei entzückt von der Besichtigung des Hauses,[178] das eine Perle unter den Lazaretten der Stadt sei, und er freue sich, dies öffentlich verkündigen zu können.

Lamm stand steif wie ein Stock. Der andere verbeugte sich, lächelte aus irgendeinem Grunde geschmeichelt und ging.

Doktor Strygowski sagte: »Einer unserer führenden Journalisten. Besichtigt Spitäler im Auftrag des Roten Kreuzes.«

Lamm nickte. »Kennen Sie die Geschichte vom Grafen Ulrich von Württemberg und dem Dieb?« fragte er. »Der Graf Ulrich hatte die Gewohnheit, oft den ganzen Tag vor seinem Schloß zu sitzen und mit jedem zu sprechen, der vorüberging. Einmal schlich sich ein Mensch aus dem Tor, der hatte drinnen in der Küche einen Fisch gestohlen und er hatte einen sehr kurzen Mantel an, unter dem der Fisch hervorhing. Da rief ihn der Graf zu sich und sagte zu ihm: ›Wenn du wieder Fische stehlen gehst, so zieh einen längeren Mantel an oder nimm einen kürzeren Fisch.‹«

Doktor Strygowski lachte. »Ich glaube, der Rat hat gefruchtet,« antwortete er. »Unsere Fischdiebe haben sich mit hinreichend langen Mänteln versehen.«

Lamm warf einen durchdringenden Blick auf den jungen Arzt. »Doktor Strygowski, wenn ich nicht irre –?«

»Strygowski ist mein Name. Ich bitte um Verzeihung, daß ich unterlassen habe –«

Lamm schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nichts, nichts,« unterbrach er den Doktor. Dann ließ er abermals den Blick mit fast verletzender Unbekümmertheit auf dessen Zügen ruhen. Er war gefesselt von dem Ausdruck des Ernstes, der darin lag, und sagte: »Es wäre mir lieb, wenn Sie am Abend eine Stunde zu mir kommen würden. Ich habe einige Fragen an Sie zu richten.«

Doktor Strygowski erwiderte, er werde kommen, sobald es ihm seine Zeit erlaube.

»Herr Doktor, der Transport,« sagte Schwester Nina, die vom Eingangsflur heraufkam. Lamm kannte die schöne, blasse Frau Senoner. Er grüßte kühl.

Die Sanitätsleute kamen mit den Bahren. Regungslos lagen die verwundeten Männer, mit eingesunkenem Brustkorb und auf die Seite geneigtem Kopf. Ihre Gesichter waren von einem verwitterten Grau, das Blut war durch die Verbände gedrungen und klebte auf der Haut. Mit dumpf-ungläubiger Verwunderung sahen sie vor sich hin. Alles was sie wahrnahmen, verursachte ihnen eine mit Furcht gemischte Spannung, über die sie grübelten.

Hinter den letzten Trägern ging Olivia. Sie war in einen ziemlich groben Mantel gehüllt, das Gesicht war entfärbt. Als sie Robert Lamm gewahrte, nickte sie ihm ohne Lächeln zu.

Es war elf Uhr vorbei, als Doktor Strygowski in Robert Lamms Stube trat. Er entschuldigte sein spätes Kommen. Lamm deutete schweigend auf einen Sessel gegenüber seinem Lehnstuhl.

»Ich will über Olivia Khuenbeck mit Ihnen sprechen,« begann er ohne Umschweife. »Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß Olivia während ihrer ganzen Jugend unter meiner Obhut gestanden ist. Ich fühle mich noch immer für das, was sie tut, verantwortlich. Möglich, daß es eine Torheit ist, aber es ist nun einmal so. Wie beurteilen Sie die Eignung Olivias zu dem Beruf, den sie sich hier erwählt hat?«

Ein wenig verwundert über den Ton eines verhörenden Richters, antwortete der junge Arzt nach einigem Überlegen: »Zu einem Urteil oder einer Kritik fehlt jede Befugnis, wo etwas so Ungewöhnliches vollbracht wird.«

»Hat sie von Anfang an gewußt, was ihr beschieden sein würde, wenn sie beharrlich blieb?«

»Ohne Zweifel,« versetzte Doktor Strygowski.

»Beachten Sie eines,« fuhr Lamm eindringlich fort; »viele Menschen, die sich an ein schwieriges Unternehmen wagen, ermangeln der Kenntnis und aufrichtiger Einschätzung ihrer Fähigkeit. Sie brauchen darum nicht zu versagen, oft zeigen sich die höheren Kräfte mit der höheren Forderung. Aber wo es sich um den beständigen Anblick von Blut und Wunden handelt, muß unbedingt die Phantasie nach und nach ertötet werden, sonst ist an eine fruchtbare Arbeit nicht zu denken. Der[179] Augenschein schwächt sich ab, die Gewohnheit macht die Sinne stumpf.«

»Das kann ich nicht leugnen, und es gilt in allen Fällen, nur bei Schwester Olivia nicht,« versetzte Doktor Strygowski. »Ihr Geist und ihr Gemüt sind der Abstumpfung nicht unterworfen. Das ist das Merkwürdige und das Seltene bei ihr. Nicht bloß, daß sie sich an das vielfältig Entsetzliche nicht gewöhnt, nie gewöhnen wird, sondern jeder neue Eindruck reißt ihr Herz von neuem auf. Sie ist dem Grauen, dem Schmerz, der Empörung, dem Mitleid mit einer Intensität überliefert, die ohne Grenze ist.«

»Also ein Phänomen, ganz einfach ein Phänomen,« sagte Lamm mit erheuchelter Lebhaftigkeit. Er lehnte sich tief in den Sessel zurück und umklammerte mit den Fingern die Armlehnen fest.

Doktor Strygowski fuhr fort: »Sie kennt jeden einzelnen Mann, und wir haben jetzt hundertzwanzig Leute im Haus. Sie kennt die Beschaffenheit der Wunden bei jedem, sie weiß ob Hoffnung besteht, das Leben zu erhalten oder nicht, jede Besserung oder Verschlimmerung spürt sie unmittelbar und ist sogleich zur Stelle, wenn Gefahr droht. Die Fieberzustände sind ihr so vertraut, daß alles Fieberwesen, vom gelispelten Betteln um Wasser bis zur Raserei, vom Zähneklappern bis zur Hochglut zur besonderen Sprache und Mitteilung für sie geworden ist. Und sie begnügt sich nicht, sie will immer noch ein Mehr; von sich selbst heißt das, nur von sich selbst.«

Lamm erhob sich, ging auf und ab, setzte sich wieder. Er zwang sich mühsam zu Ruhe. »Ich begreife es nicht,« stieß er hervor, »begreife es nicht. Ich will gar nicht die Frage erörtern, wie sie es physisch aushalten soll; aber Tag für Tag das alles sehen! Und nicht nur sehen, auch hören, das Stöhnen, Wimmern, Klagen, die verzweifelten Rufe. Hier oben schaudert mir manchmal die Haut, und ich bin doch ein hartgesottener alter Kerl. Aber sie, sie! Diese Mimose! Von jedem Windhauch war sie abhängig, jede übel gelaunte Miene hat sie erschreckt; sie an einem Wirtshaus vorüberzuführen, wo Betrunkene lärmten, war ein Wagnis.«

Überrascht von der Aufwallung eines Mannes, den er für trocken und unempfindlich gehalten hatte, senkte Doktor Strygowski den Kopf. »Vor einigen Tagen war ich mit Schwester Olivia in einem Haus, wo irrsinnige Verwundete untergebracht sind,« erzählte er mit leiser Stimme; »da waren Zimmer angefüllt mit Männern, die aneinander vorübergingen, ohne einander zu gewahren, in gleichmäßigem Marschtempo, mit Blicken der angstvollsten Erwartung; Zimmer, wo Männer saßen, die stundenlang die Hände steif zum Gebet gefaltet hatten oder nach ihren Angehörigen riefen; da war es schwer, sich zusammenzunehmen, sehr schwer. Schwester Olivia hatte eine Gebärde, die ich nicht vergessen kann seitdem; so, als wollte sie sagen: ›O Gott, was ist mit deiner Welt geschehen, was ist mit eurer Welt geschehen, ihr Menschen!‹«

»Ja, das kann ich mir gut denken,« antwortete Lamm nun wieder mit erkünstelter Ruhe. »Aber erklären Sie mir doch, was in ihr vorgeht,« fügte er hinzu und kniff die Augen sonderbar zusammen; »mich läßt da die Logik im Stich.«

»Die menschliche Seele ist ein wunderbarer Organismus, Herr Hofrat,« sagte Doktor Strygowski sinnend. »Ich will nicht von mir reden. Ich bin Arzt. Aber auch ein Arzt, für den der Menschenkörper Studium und Sache wird, gerät jetzt bisweilen mit der sogenannten göttlichen Weltordnung in Konflikt. Man fragt sich, was das alles soll, das Leben und Sterben und die ganze Qual. Wenn nun solche Gedanken an mir nagen, und ich schaue Schwester Olivia an, da ist mir zumute, wie etwa einem stümpernden Dilettanten, der vor einem Künstler steht. Die leidet! Das ist Leiden! Gewiß, der Tag faßt vieles, man vergißt, man flieht, die gespannte Saite lockert sich durch einen Scherz, ein unbefangenes Wort, einen geistigen Zuspruch, aber bei ihr ist auch davon keine Spur. Es scheint mir oft, als sei sie bereits einen Schritt über die Alltäglichkeit hinausgelangt, ich kann es mir nicht anders erklären, irgendein unbekanntes Element hat sich ihrer bemächtigt, für mich im stillen nenne ich es die Metempsyche.«

Lamm schwieg, kaum daß er atmete, und nach einer kurzen Weile fuhr Doktor[180] Strygowski fort: »Sie versteht die Heiterkeit nicht mehr, das harmlose Gespräch nicht mehr, das selbstverständliche Weitergehen des Daseins nicht mehr. Sie versteht nicht, daß es noch Menschen gibt, die von ihren Geschäften, ihren Wünschen, ihren persönlichen Vorteilen und Enttäuschungen reden können. Ich sah sie einmal ins Pflegerinnenzimmer treten, als eines der Mädchen vor dem Spiegel saß und sich frisierte, einigermaßen umständlich, wie es ja manche Frauen tun. Die Miene, mit der sie wehmütig und unwillig staunte, war ergreifend. Sie selbst hat sich ja ihr Haar abgeschnitten, wie Sie wissen.«

»Nein, ich wußte es nicht,« murmelte Lamm, »ich wußte es in der Tat nicht. Das unvergleichliche Haar! In Generationen schafft die Natur so etwas nicht zum zweitenmal.«

»Unter unseren freiwilligen Damen,« begann Doktor Strygowski wieder, »ist auch eine vielgerühmte Schauspielerin, Schwester Susanne, eine verwöhnte Gesellschaftsdame mit Prinzessinnen-Allüren; um sie ist der ganze Lügendunst des Theaters, und sie verrichtet ihre Obliegenheiten mit der großen Geste, mit der sie ihre Rollen spielt. Es ist seltsam, zu sehen, wenn Schwester Olivia mit ihr spricht. Sie schlägt die Augen zu Boden, als schäme sie sich, und ihre Haltung hat etwas, wie soll ich sagen, etwas geradezu magisch Edles. Sie weiß natürlich, wie es um so manche dieser Frauen bestellt ist; daß sie sich im Pflegedienst Abwechslung und Zerstreuung verschaffen wollen, daß sie die Leere ihres Gemütes zudecken durch einen Eifer, der ihnen Beifall einträgt.«

Robert Lamm lachte bitter auf. »Sie sind ein gründlicher Herr, das muß man gestehen,« sagte er. »Nun, und das wucherische Treiben der Lieferanten, weiß sie auch von dem? Und wie verhält sie sich dazu? Und zu der Schwerfälligkeit der Ämter und Behörden, der Schmähsucht der Unzufriedenen, den Ränken der Beleidigten, den Ausreden der Faulen, den krampfhaften Bemühungen der Streber und Ordensjäger, dem frühzeitigen Erlahmen derer, die in rascher Begeisterung Wunder zu tun versprochen hatten, mit einem Wort, dem ganzen landesüblichen Unrat, wie verhält sie sich dazu?«

»Ich glaube, das alles legt sie sich förmlich selber zur Last und verwandelt es in eine Forderung an sich,« erwiderte Doktor Strygowski. Er dachte eine Weile nach, bevor er zögernd fortfuhr: »Sie muß ein Erlebnis von einschneidender Bedeutung gehabt haben. Sie muß einmal so zu Boden geschlagen worden sein, daß es aller Kraft bedurfte, die ein Gemüt überhaupt aufbringen kann, damit sie sich wieder erheben konnte. Deshalb ihre Strenge, deshalb die Klarheit in ihr, deshalb ihr unbeirrbar gerichteter Weg.«

»Ach was, Flausen!« rief Lamm schroff, ja fast wild. »Flausen! Darauf fall’ ich Ihnen nicht herein!«

Ein rascher Blitz des Unwillens traf ihn aus Strygowskis Augen. »Ich habe Ihnen meine Meinung nicht aufgedrängt, Herr Hofrat,« sagte er leise. »Daß ich Olivia Khuenbeck bewundere, will ich nicht leugnen. Ich gestehe sogar, daß ich noch nie einen Menschen in diesem Maß bewundert habe. Meine Bewunderung ist um so größer, als ich mir nicht verhehle, nicht verhehlen kann, wohin der Weg führt, den sie geht.«

Lamm schwieg betroffen. Die beiden Männer sahen sich an.

»Und Sie haben kein – Kapital in diese Bewunderung investiert? Sie wollen keine Zinsen daraus ziehen?« fragte Lamm mit verkniffenem Mund.

»Ich verstehe nicht –«

»Ich meine, ob Sie nicht ein bißchen bestochen sind, vielleicht ohne es zu wissen? Ich meine, ob Sie ohne Vorbehalt sprechen, ohne geheime Hoffnung, ohne die Erinnerung an einen Nervenkitzel, ohne ein egoistisches Ziel.«

»Hierauf habe ich keine Antwort.«

»Das ist jedenfalls bequem.« Lamm erhob sich und begleitete seine Worte mit heftigen, abgehackten Gebärden. »Ich soll also schlechterdings an Engel glauben, an graduierte Engel mit Schnurrbart und Brille! Seit wann sind denn die Doktoren der Medizin unter die Idealisten und Propheten gegangen? Hat euch die blutige Zeit betrunken gemacht?«

»Ihr Ungestüm gibt Ihrer Beschuldigung noch nichts Plausibles,« sagte Strygowski, der blaß geworden war.

»Ich beschuldige Sie nicht, ich weiß nichts[181] von Ihnen, Sie sind mir fremd, lassen wir Ihre Person aus dem Spiel,« fuhr Lamm grollend fort. »Wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin, will ich abbitten. Aber können Sie sich als erfahrener Mann, als redlicher Beobachter vorstellen, daß ein Wesen wie Olivia sich Tag für Tag, Stunde für Stunde unter Männern bewegt, ohne nur im Geringsten als Weib auf diese Männer zu wirken? Meine Frage enthält keine Frivolität. Sie sehen, ich bin tiefernst. Wir leben auf einem Planeten, mag er auch noch so mangelhaft gezimmert sein, auf dem es für bestimmte Daseinsformen bestimmte Gesetze gibt. Hunger ist Hunger, Blut ist Blut. Hunger will Sättigung, Blut will Wärme. Riechen Sie nicht den tückischen Giftstoff, von dem das ganze Haus erfüllt ist? Glauben Sie, daß irgendein Weib sich dem entziehen kann, auch wenn sie Olivia heißt?«

»Ich glaube es,« erwiderte Doktor Strygowski entschlossen. »Was Sie sagen, ist keine Wahrheit für mich, sondern eine Anklage, die erst bewiesen werden muß. Es müßte erst bewiesen werden, daß die Caritas, vor der ich meine Knie beuge, ein lemurischer Unhold ist.«

»Ist sie auch!« rief Lamm mit Leidenschaft. »Ein Unhold und Lügengeist, der Frauen- und Mädchenseelen mit falschen Hoffnungen umgarnt, um sie dann, jeder Illusion bar, hinaus ins Leben zu stoßen.«

Ein langes Schweigen trat ein. Strygowski zog die Uhr aus der Tasche, überlegte eine Weile, während er die Uhr in der Hand behielt und sagte dann: »In einer Viertelstunde macht Schwester Olivia ihre zweite Nachtrunde. Ein Vorurteil kann nur durch den Augenschein widerlegt werden. Unmöglich, daß Sie auf Ihrer Meinung beharren, wenn Sie sie dabei sehen.«

»Ich brauche den Augenschein nicht,« knurrte Lamm. »Alles was ist, kann ich mir erdenken, Augenschein ist Augentrug.«

»Diese Paradoxie ist mir bekannt,« entgegnete der Arzt; »ich kenne dieses Leiden.« Er blickte traurig zu Boden.

In diesem Augenblick vernahmen sie ein seltsames, eintöniges Plärren, ein singsangähnliches Heulen wie von einem Hund. Der Hofrat ging zur Tür und lauschte. Dann öffnete er die Türe, schritt durch den kleinen Vorraum und die Treppe hinunter.

Doktor Strygowski folgte ihm.

Auf der untersten Treppenstufe saß zusammengekauert ein Mensch. Erst als er ihm nahe war, erkannte Lamm seinen Diener Gerold. Er war es, der wie ein Idiot halblaut vor sich hinheulte und dabei mit dem Oberkörper schaukelte. »Was treibst du da?« herrschte ihn Lamm an.

»Herr Hofrat, ich find’ im ganzen Haus kein Plätzchen, wo es still ist,« flüsterte der Diener. Er schaute empor; sein Kopf sah aus wie geschwollen.

»Geh auf der Stelle in deine Kammer und in dein Bett,« befahl Lamm.

Gerold erhob sich schwerfällig und wankte über die Stiege. »Kann aber nicht schlafen, Herr Hofrat,« klagte er.

Lamm schüttelte sich ein wenig. Er machte Miene, wieder in seine Stube zu gehen, aber Doktor Strygowskis Blick war jetzt so forschend, so sonderbar auffordernd auf ihn gerichtet, daß er mit einer unbehaglichen Empfindung von Wehrlosigkeit umkehrte und hinter dem Arzt in das große Zimmer ging, das vormals seine Bibliothek gewesen war. Die Lichter waren ausgelöscht bis auf eines, das neben der Tür brannte und durch ein grünes Tuch abgedämpft war. Nur in den zunächst stehenden Betten konnte man die Gesichter sehen. Sie hatten einen fahlen Schein. Einige Verwundete wachten und hoben von Zeit zu Zeit den Kopf; dabei glänzten die Augen heiß, und wenn sie den Kopf zurücksinken ließen, ächzten sie.

Doktor Strygowski zog Lamm in den Schatten und raunte ihm zu: »Sie muß gleich kommen; hier war sie noch nicht, denn die Schwester dort drüben ist eingenickt.«

Er hatte kaum ausgeredet, da trat im Hintergrund eine Gestalt durch die Türe. Es war Olivia.

Ihr dunkles Gewand und die Dunkelheit im Raum ließen ihr Gesicht nahezu weiß erscheinen. Der Schritt war lautlos und verlieh der Bewegung etwas Geisterhaftes. Sie ging sogleich zu der jungen Schwester, die schlummernd auf dem Stuhl saß und berührte mit der Hand deren Schulter. Das Mädchen fuhr erschrocken empor; die[182] Bestürzung in ihrem Gesicht verwandelte sich in einen Ausdruck des Flehens. Olivia schüttelte den Kopf und ging weiter.

Die Blicke derer, die wach waren, hatten sie entdeckt; sie flogen ihr zu, förmlich ungeduldig; dies hatte etwas wie bei hungrigen Säuglingen, wenn die Amme an die Wiege tritt. Es war rührend und unheimlich. Olivia schien es zu fühlen; sie neigte die Stirn; alles war plötzlich so sanft an ihr, Gang, Blick und Haltung, unsagbar innerlich und beredt.

Sie ging wie mit einer Lampe in der Hand, die nicht verlöschen durfte. Aber trotzdem es so aussah, trotzdem diese unsichtbare Lampe ihre ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen schien, war es, als sehe und spüre sie alles, was rund um sie war, mit zehnfach geschärften Sinnen.

Als sie in das nächste Zimmer treten wollte, kam Schwester Emilie, eine ältere Person, aus der Tür. Sie sagte: »Mit Nummer 42 geht es jetzt zu Ende.«

»Rufen Sie Doktor Strygowski,« antwortete Olivia.

Vor dem kleinen Raum, in welchem Nummer 42 lag, standen flüsternd einige Schwestern. Sie folgten Doktor Strygowski, als er zu dem Bett des Unbekannten ging. Robert Lamm hatte sich unter sie gemischt. Olivia bemerkte ihn im Vorüberschreiten und nickte ihm zu wie am Abend, ohne zu lächeln, doch mit einem verwunderten Aufschimmern des Blicks.

Nicht Neugier hatte Lamm hergezogen, sondern eine Kraft, die ihren Ursprung in Olivia hatte, oder in der unsichtbaren Lampe, die sie trug.

Der Sterbende war in einem Zustand von Auflösung und Entrückung. Der Glanz in den Augen hatte sich so gesteigert, daß es peinigend war, in sie zu schauen. Der seltsame Rahmenbart glich verdorrtem Gestrüpp.

Doktor Strygowski hatte sein Ohr auf der keuchenden Brust des Mannes und lauschte dem Herzschlag.

War es nur eine Täuschung, oder verhielt es sich wirklich so: alle im Zimmer Anwesenden hatten den Eindruck, als seien die Blicke des Unbekannten, die bis zu dieser Stunde noch nie auf einem bestimmten Gegenstand oder einem Menschen geruht hatten, auf Robert Lamm gerichtet, ausschließlich und ohne abzuirren auf ihn, und zwar in einer Art, wie wenn er eine Erinnerung in ihm wachrufen, wie wenn er ihn an ein Versprechen mahnen wollte. Der Blick war so dringend, als sei zwischen den beiden zu irgendeiner Zeit einmal eine Verabredung getroffen worden und als sei eben jetzt die Frist verstrichen. Es war ein Blick des Willens und des Bewußtseins, der alle in Erstaunen versetzte.

Lamm spähte scheu um sich her; er wollte dem Blick entrinnen, doch zwang es ihn stets von neuem in die Richtung, wo er dem schauerlich und dringlich glänzenden Auge begegnen mußte. Olivia stand hinter dem Arzt; in ihrem Gesicht war ein gedankenvoller Ernst. Auch dagegen sträubte sich Lamm mit stummer Anstrengung; am liebsten hätte er ihr zugerufen: Sprich mit mir! Das Einfachste zu tun, was ihn aus seiner Bedrängnis befreit hätte, sich abzuwenden und wegzugehen, war ihm durchaus unmöglich. In dieser Not griff er zu einem sonderbaren Hilfsmittel: er riß seine Zigarettendose aus der Tasche, entnahm ihr eine Zigarette und hielt sie dem Sterbenden hin. Es geschah dies weniger aus Überlegung, als aus Trotz und Trieb, die gesteigerte Situation ins Gewöhnliche zu ziehen.

Zuerst schien es, wie wenn ein freudiger Funke aus den Augen des Unbekannten blitze; er machte eine schwache Bewegung mit dem Arm, und Lamm schob ihm nun die Zigarette zwischen die Lippen. Aber um den blutlosen Mund spielte auf einmal ein Ausdruck der Verachtung; ja, der deutlichen, bittersten Verachtung, durch ein mattes Lächeln nicht gemildert, sondern verstärkt. Sodann erschütterte ein schrecklicher Seufzer den Körper, das Auge brach, das Leben war dahin.

Als Robert Lamm den Raum verließ, war ihm wie einem zu schimpflicher Strafe Verurteilten zumute; das Lächeln unergründlicher Verachtung in der letzten Agonie des Kriegers, es haftete wie ein Brandmal auf ihm.

[305]

Olivia tat das Herz so weh, als sei es ein Geschwür in ihrer Brust. Am Anfang und am Ende jeder Handlung stand dieselbe Frage; jede Gedankenfolge schloß mit einem jammervollen Aufblick: Wo ist Hilfe? Wo ist Trost?

Die Schauspiele verwirrten sich wie die Schicksale. Der gemeinsame Ursprung der Leiden beruhigte die Sinne nicht. Dieses Haus, in dem sie zufällig wirkte, war nur eines unter den Tausenden von Becken, in denen sich das Unglück sammelte. Man mußte die Einbildungskraft in Schranken zwängen, um nur die Hände rühren zu können. Es war ein krampfhaftes Ansichhalten vom Morgen über den Tag zum Morgen, vom Abend die Nacht zum Tag.

Und dennoch: immer wieder auf und hinüber, hin zu den Wunden, vielleicht, daß eine Berührung, ein Wort, ein Blick Linderung brachte oder Geduld einflößte.

Sie fühlte eine Kraft in sich, deren Wesen ihr nicht bekannt war. Sie fühlte diese Kraft, wenn sie durch die Zimmer ging und die Augen an ihr hingen. Diese Augen redeten eine Sprache von nie gehörter Eindringlichkeit, die sie ohne Gewissenspein nur hinnehmen konnte, wenn sie sich ganz ausschöpfte im Tun, sich ganz und gar vergaß.

Die Schicksale stürzten über sie, und sie wurde das Opfer von ihnen. Sie wollte es sein, in ihren hingegebensten Stunden sehnte sie sich danach, völlig zermalmt zu werden, um jeder Schuld zu entgehen. Ruhte sie, faßte sie sich wieder, so wurde es zu gräßlich, nur zu denken an das, was war. Nicht allein von Bildern der Zerstörung war ihr Geist beladen, Bildern leckender Flammen, eingeäscherter Wohnungen, unerträglichen Hungers, erstickender Todesangst, hoffnungslosen Siechtums und der Verzweiflung, die keinen Blutstropfen unvergiftet ließ, sondern von dem auch, was dahinter war an Wut, Haß und Bosheit, dem Gewebe kleiner Lügen, den Beleidigungen der Menschenwürde, von dem Aufgestachelten in allen, der von überallher tönenden Klage.

Damals, als ihre Mutter in der Sorge um Ferdinand zu ihr kam, mußte Olivia in ihren Gedanken den Bruder erst suchen; sie sagte: »Du darfst die Hoffnung nicht sinken lassen, Mutter; sei nicht ungeduldig.«

»Ich? Warum nur ich? Warum nicht auch du?« gab Frau Khuenbeck erstaunt zurück.

Olivia schwieg. Ihr war, als verriete sie alle andern, wenn sie den Bruder beklagte.

Leo von Scheyern war gefangen, Ernst von Scheyern war unter den Vermißten. Frau von Scheyern kam nicht mehr ins Spital. Sie sprach eines Tages mit Olivia darüber, wie sie beim Anblick jedes[306] Briefträgers bleich geworden sei, bei jedem Läuten der Wohnungsglocke gezittert habe. Da sah Olivia Tausende und aber Tausende von Müttern, die in folternder Ungewißheit um das Leben ihrer Söhne schwebten und an keinem Morgen erwachten, ohne auf die Kunde gefaßt zu sein, die ihr Dasein in eine Wüstenei verwandelte.

Im Anfang blieben die Geschehnisse im Schatten, und nur die Gesichter traten hervor. Als sie aufhörten, stumm zu sein, wenigstens für Olivia, wälzte sich von allen Seiten das Grauen heran. Viele von denen, die dalagen, hatten überdies Worte, unvergeßliche Worte, um andre wieder schallte tönend ihr Erlebnis, ohne daß sie selber Kunde gaben.

»Ich will nimmer hinaus,« knirschte einer im Fieber und bäumte sich verzweifelt, »tut mit mir, was ihr wollt, aber ich geh’ nimmer.« Einer stieß im Schlaf die schrecklichsten Angstlaute aus, und einer schaute gebannt, mit aufgerissenen Augen in die Luft, als sehe er in ununterbrochener Folge wieder und wieder, was ihm das Herz zerfleischt und den Verstand geraubt hatte.

Da war ein Mann, der in seinem bürgerlichen Beruf Akrobat gewesen war. Mit seiner Familie, die eine kleine Truppe bildete, die Cromwell-Truppe, wie sie sich fremdländisch-imposant nannte, war er jahrelang durch die Provinz gezogen und hatte das Publikum durch seine Geschicklichkeit ergötzt. Ein Schrapnellschuß hatte ihm beide Beine weggerissen, Frau und Kinder waren des Ernährers beraubt, er lag da, ein Krüppel, und sann darüber nach, was er an Stelle seiner verlorenen Kunst würde treiben können. Er dachte an das bunte Kostüm, in dem er aufgetreten war, an den Beifall, den er mit seiner Arbeit am hohen Trapez geerntet, und daß das alles nun vorbei war.

Oft blickte Olivia forschend in sein Gesicht. Es war ein sehr gewöhnliches Gesicht mit vollen Backen, kleinen dummen Augen und niederer, fliehender Stirn. Aber die Gewöhnlichkeit der Züge war durch die geheimnisvolle Arbeit irgendwelcher inneren Kräfte umglüht. Wie ging das zu?

Sie grübelte unablässig. Was bedeuteten ihr im Grunde all diese Leute, die aus einem kleinen Leben zufällig in ein großes gerissen worden und darin zerschmettert worden waren, zufällig in diesem Haus ein Asyl gefunden hatten? Was galt ihr der Bauer aus der Südmark, der da lag, erblindet? Aber wie er es trug, was er daraus schuf! Was war mit ihm vorgegangen, daß er tun konnte, was er getan? Viele Wochen hatte er unbeweglich im nassen Schützengraben zugebracht, unter den Folgen eines bösartigen Rheumatismus hatte er das Augenlicht eingebüßt. Eines Tages war seine Mutter ins Spital gekommen, ein abgehärmtes Weib, frühzeitig ergraut, in Sorgen gealtert. Er war ihr einziger Sohn, ihre Stütze, ihre Hoffnung. Sie wußte nichts von der Erblindung, und er hatte beschlossen, sie ihr noch zu verhehlen. Von ihrer Ankunft benachrichtigt, hatte er Ärzte und Schwestern gebeten, daß man ihr nichts sage. Zuerst ging es ganz gut; er nahm sich zusammen, die Brille mit farbigen Gläsern begünstigte die Täuschung. Allmählich wurde die Frau stutzig. Ein paar tastende Gebärden, der tote Ausdruck der Züge erweckten Ahnungen. Sie langte plötzlich nach seiner Hand, und als er sich nicht rührte, stieß sie einen markerschütternden Schrei aus. Der junge Mensch erbleichte. Mit schuldbewußtem Ton sagte er: »Was willst denn, Mutter, ich seh’ dich ja.« Aber es war zu spät, sie glaubte ihm nicht mehr. Sie mußte fortgebracht werden. Von Zeit zu Zeit hörte man ihn immer wieder vor sich hinmurmeln: »Ich seh’ dich ja.«

Woher kam ihm dieser Heroismus?

Woher kamen dem einfachen mährischen Soldaten die Worte, mit denen er schilderte, wie er in Polen einen ganzen Tag und eine ganze Nacht hindurch einen irrsinnig gewordenen Oberleutnant hatte bewachen müssen? Es waren die furchtbarsten Stunden seines Lebens gewesen und der tiefste Eindruck, den er vom Krieg empfangen hatte. Er vor der Hütte, der Offizier in der einzigen Stube drinnen, immer auf und ab gehend, vor sich hinsprechend, immer auf und ab und in regelmäßigen Pausen zu dem Soldaten tretend. »Laß mich heraus.« – »Darf nicht, Herr Oberleutnant.« Und jener, wie ein verstörter Geist, zur Wand hinüber, in die Wand hineinredend: »Er will mich nicht herauslassen.« Dann wieder: »Gib mir dein Gewehr.« – »Darf nicht, Herr Oberleutnant.«[307] Der Offizier zur Wand, und dort in klagendem Ton: »Er gibt mir das Gewehr nicht.« So ging es den ganzen Tag, die ganze Nacht; mit verzweifelten, kurzen, hastigen Schritten wanderte er ruhlos auf und ab, auf und ab, kam nach zehn Minuten und forderte etwas, das Gewehr, ein Messer, Briefpapier, Schnaps, und wenn es ihm der Soldat verweigerte, stellte er sich mit dem Gesicht zur Wand und rapportierte der Wand, daß er nicht erhalten habe, was er begehrt. Es war herzbeklemmend, man konnte es kaum ertragen, noch der Bericht stockte unter der Wirkung des Grauens.

Und der Konditor, der vom Vollzug des Standrechts in Serbien erzählte. Man hieß ihn bloß den Konditor, denn er war in seinem Zivilverhältnis Gehilfe bei einem Zuckerbäcker. Er war aufgeschwemmt und ziemlich roh, doch wenn er an eine gewisse Szene erinnert wurde, die er mitangesehen und die ihm nicht aus dem Sinn wollte, zitterte jedesmal seine Stimme, und von oben bis unten schüttelte es ihn. Es war Befehl gegeben worden, alle Häuser zu durchsuchen, aus denen auf die durchziehenden Truppen gefeuert worden war, und die Männer, die man darin fand, sogleich zu erschießen. Eines Tages marschierte die Abteilung durch eine Dorfstraße und gelangte unangefochten bis ans letzte Haus. Aus einem Fenster dieses Hauses wurden zwei Schüsse abgegeben, die aber niemand trafen. Die Leute, denen das Morden schon zu viel war, wollten keine Notiz davon nehmen, jedoch das Kommando wurde erteilt. Als sie nun das Haus betraten, lagen in der Tenne zwölf Männer auf den Knien, schon zum Tod bereit. Ebenso viele Frauen standen bleich, hochaufgerichtet im Hintergrund des Raumes an der Wand. Zwölf Soldaten legten die Gewehre auf die zwölf Männer an, die Salve krachte, die Männer stürzten tot zu Boden. Von den Frauen aber verzog keine einzige eine Miene, sie rührten sich nicht, mit Ausnahme eines jungen Weibes; dieses strich langsam mit der Hand über die Stirne; sonst nichts. Es mußte in der Gebärde etwas Übermenschliches an Qual enthalten gewesen sein, denn der Erzähler kam immer wieder darauf zurück; es ließ ihn nicht los, er mußte es immer wieder beschreiben.

Olivia sah diese Frauenhand, sah sie über die Stirne streichen, als sei die letzte Hoffnung die, daß vielleicht alles nur ein böser Traum war. Und »warum?« fragte es in ihr, »warum, o Gott?«

In einem der Zimmer kauerte ein Hund; er war nicht vom Bett seines Herrn zu vertreiben, dem er in die Schlacht und von der Schlacht wieder bis ans Krankenlager gefolgt war. Ein schmutziger, häßlicher Köter war es, der aber niemand zur Last fiel. So oft sein Herr einen Laut von sich gab, blickte er mit sanften Augen empor, sonst starrte er müde vor sich hin, gleich als sei er dort draußen von einem Strahl höheren Bewußtseins getroffen worden, der seine Tierseele flüchtig erleuchtet hatte, so daß sie jetzt in dunkler Pein noch danach rang.

Warum diese unermeßliche Schwermut in den Augen des schmutzigen Hundes? Was begriff er? Was war ihm seltsam, was hatte ihn so still werden lassen?

Ein Bild war da, so oft sie es dachte war ihr als müsse sie hinstürzen und ihr Denken erwürgen: zwei Offiziere, in der Attacke aufeinander zureitend, mit geschwungenem Säbel gegeneinander. Schon will der unsere zuhauen, da sieht er, daß der Russe keinen Kopf mehr hat, daß er aber noch immer, den Säbel hoch im Arm, auf seinem Gaul sitzt. Da stößt der unsere einen Schrei aus, fällt vom Pferd, und auf dem Boden windet er sich stumm wie ein Epileptiker. Und er blieb auch stumm, er hatte die Sprache verloren.

Sie sah die Flüchtlinge, Männer mit eilig errafften Habseligkeiten, die Weiber mit ihren Kindern, die eine hatte einen Säugling verloren, die andere brach zusammen, und sie waren ohne Speise und Trank und nächtigten auf dem Felde und zogen dahin ohne Ziel. Sie sah sie in den Viehwagen langer Eisenbahnzüge eingesperrt, wie sie fuhren, immerzu fuhren, durch eine Welt, in der es nur noch verkohlte Ruinen gab, und wie sie um Brot schrien, und wie ihre Kinder verhungerten, ihre Säuglinge verschmachteten.

Sie sah die Gefangenen, die den Schiffbrüchigen auf einer öden Insel glichen; sah die Väter, die keine Söhne, die Kinder, die keinen Vater mehr hatten, die Witwen, die trauernden Bräute, die Verlassenen,[308] Beraubten, zugrunde Gerichteten überall. Sie sah die Mutigen erlahmen, die Feigen apathisch werden, und wie die Freunde aufhörten, füreinander zu zittern. Sie sah die tausendfältige Unbill, Zurücksetzung und Bestechlichkeit, sah wie die Fackel der Idee auch im Edlen erlosch, wenn die trübe Flut des Niedrigen und Gewöhnlichen emporschwoll oder das körperliche Leiden die Kraft der Seele besiegte. Wie die Begeisterung flügellahm, die Tapferkeit zur Grimasse wurde, das Abenteuer auch für den Leichtherzigsten seinen Reiz, die Gefahr ihre Lockung einbüßte und nur den Stärksten noch der Ruf der Pflicht aufrechterhielt.

Olivia sah die Städte rauchen, die Anwesen geplündert, die Äcker zerstampft, die Wälder geknickt. Sie sah den Tod in jeglicher Gestalt, ja, die Erde war gepflastert mit Toten. Sie hingen verstümmelt in den Drahtverhauen und lagen eingebettet in Blumen, sie waren versunken in den Sümpfen und hinuntergestürzt in Gebirgsschluchten, sie schwammen in den Wellen des Meeres und fielen aus den Wolken herab: Männer und Jünglinge, Kinder und Greise, Frauen und Mädchen, Reiche und Arme, Gute und Schlechte, Verräter und Verratene, Schöne und Häßliche, Glückliche und Unglückliche.

Und sie hörte das Geläute der Glocken und das Prasseln der Brände und alle Laute, die die menschliche Stimme hat, um Schmerz und Todesangst auszudrücken. Sie hörte, wie sie in den Kirchen beteten und in den Stuben weinten. Sie hörte die Worte des Abschieds und die Worte frommer Fügsamkeit. Sie hörte den Marschschritt der Armeen, das Schlürfen müder Kolonnen, die seufzende Eile der Geschlagenen, die Gesänge des Triumphes und die Lieder, die sie sangen, wenn sie vergessen oder wenn sie sich berauschen wollten.

Da war ein Lied, welches ihr ein Landsturmmann vorsang, der in einer Nacht beim Granatenfeuer weiße Haare bekommen hatte.

Befohlen wird, ihr Bauern: holt den Spaten,
zu begraben, zu begraben die Soldaten.
Eines Klafters Tiefe, zwanzig Klafter Länge,
dritthalb Ellen breit, da liegen sie nicht enge.
Hurtig, Leute, hurtig; Erde ausgehoben!
die Gemeinen unten, Korporale oben.
An den Seiten viere, in der Mitten viere,
überquer die Herren, Herren Offiziere.
Dann kommt der Herr Oberst in der festen Truhe,
dem nimmt keiner mehr die verdiente Ruhe.
Haben ihre Ruh, die tapfern Kameraden,
zieht nur wieder heim, ihr Bauern mit dem Spaten.
Morgen früh vielleicht bin ich auch geschossen,
morgen früh, gewiß, ist mein Blut geflossen.

Diese einfachen Strophen machten auf Olivia einen ungewöhnlichen Eindruck, und ihre Gedanken begannen hinter dem zerstückten und verworrenen Getriebe nach etwas Bestimmtem zu suchen.

Es wurde ihr alles zur Vision, immer glühender und glühender, und sie suchte in der glühenden Wirrnis nach einer Gestalt. Sie suchte den Urheber, sie suchte den Bösen. Ja, sie gab ihm schlankweg den Namen des Bösen. Sie sagte sich: einer muß sein, der das ungeheure Leid, den unermeßlichen Jammer bewirkt; einer muß da wirken, Gott kann es nicht sein, es muß ein Gegner von Gott sein und ein Feind seiner Kreaturen; Feind alles Geschaffenen, alles Blutes, aller Wärme, aller Liebe, alles Lebens und Entstehens. Sie nannte ihn den Bösen, und sie suchte ihn.

Eines Nachts lag sie angekleidet auf dem Sofa in der Kammer, die allein zu bewohnen die einzige Bequemlichkeit war, welche sie sich verstattete. Es war finster, sie konnte nicht schlafen, und sie starrte in die Luft.

Um eine reichgedeckte Tafel saßen fünf oder sechs junge Weiber. Sie waren in Gesellschaftstoilette, tief entblößt, lachten ausgelassen und tranken Sekt. Mit ihren Scherzen, frivolen Wortspielen und verführerischen Gebärden wandten sie sich an einen, der am oberen Ende der Tafel saß. Der aber hatte keine Gestalt, er war wie ein Kloß, wie ein Stück Lehm. Aber die Diener zitterten, wenn sie in seine Nähe kamen, und die Frauen wurden unter der Schminke bleich, wenn er sie anschaute.

Ein befrackter Mensch mit langem Künstlerhaar spielte Klavier; bisweilen warf ihm der Gestaltlose ein Goldstück hinüber, das er geschickt auffing, ohne sein Spiel zu unterbrechen.

Mitten auf dem blendendweißen Tischtuch[309] lag, unbemerkt von allen, eine Leiche. Ihr Körper war ganz und gar mit Früchten und Konfekt bedeckt, und aus der Brust ragten, zwischen Pfirsichen und Trauben, die Griffe von drei Messern heraus. Durch die Fugen des Tisches rann Blut und tropfte in leisen Schlägen auf den Boden.

Die Mahlzeit war zu Ende, alle waren in übermütigster Laune, da erhob sich der Gestaltlose und forderte eine der Frauen zum Tanze auf. Die Betreffende war geradezu ein Wunder an Schönheit, strahlend von Jugend und Leidenschaft; sie trug ein enganliegendes Gewand aus Silberschuppen, das die schlanke Figur zur höchsten Geltung brachte. In ihrem Tanz war die freie Anmut bewußter Kunst, und als sie den Kopf zurückbog und hingerissen lächelte, lächelten die andern Frauen mit und klatschten in die Hände.

Während der Klavierspieler in einen schnelleren Rhythmus überging, war es, als ob der tanzende Kloß sich dehne und wachse; er bekam einen Schädel, aus dem Schädel blickten Augen, und diese Augen sprachen: Ich begehre, ich begehre. Diese irisierenden Gallertaugen waren von einer solchen Lust erfüllt, daß die Zuschauerinnen plötzlich verstummten und sich ein bleierner Druck auf sie legte. Die Tänzerin aber wurde zusehends blasser, sie suchte sich aus der Umklammerung des Kloßes zu befreien. Ihm jedoch wuchsen spindeldürre Arme, mit denen er sie still gewalttätig an sich preßte, immer fester, so fest, daß sie zu röcheln begann, daß ihr Gesicht blau wurde, daß ihr Leib in der Mitte einknickte, und als sie ihm schließlich entseelt in den Armen hing, sah es aus, als sei nichts mehr von ihr übrig als das Kleid.

Ihre Genossinnen sprangen schreiend auf, wollten fliehen, umklammerten einander, da richtete der Mensch, der mit den drei Messern in die Brust unter Früchten begraben war, den Kopf in die Höhe und sagte mit geschlossenen Augen, wodurch sein Sprechen doppelt unheimlich wurde: Gib sie mir wieder!

In dem prunkvollen Raum, der sich auszuweiten schien, strömten nun auf einmal viele Menschen, Bauern, Fabrikarbeiter, Soldaten, Offiziere, ärmlich gekleidete Frauen, junge Mädchen. Einer von ihnen, ein alter Mann mit weißem Bart, drängte sich nach vorn und sagte zu dem Kloß, der jetzt allmählich eine menschliche Gestalt annahm: Gib mir meine Tochter wieder!

Mehrere, die hinter ihm standen, schrien gleichfalls, wie außer sich: Gib uns unsere Töchter zurück! Unsere Bräute! Unsere Schwestern!

Da aber wurde ein monotones Gemurmel hörbar, die Aufgeregten sahen sich um und machten scheu einer Gruppe von Bauern Platz, die demütig und bekümmert aussahen; sie beugten sich zur Erde und riefen: Gib uns unser Land, gib uns unsere Wälder!

Dazwischen gellten die Stimmen von Frauen: Unsere Söhne gib uns, du Mörder, unsre Söhne!

Der Kloß wich Schritt für Schritt ins Leere, bekam aber immer mehr Gestalt. Er war ganz und gar braun, Gesicht, Hände und Körper; es war als sei er mit Rost überzogen oder mit verkrustetem Schlamm. Die Züge erweckten nicht die geringste Vorstellung von seinem Wesen; sie hatten etwas Verwischtes, Mumienhaftes. Mit seinen überaus langen Armen winkte er den Dienern, die brachten nun Säcke voll Gold und Edelsteinen und schütteten ihren Inhalt auf den Boden. Es entstand ein beklommenes Schweigen, bis der alte Mann vortrat, auf den ausgebreiteten Schatz wies und in strengem Ton sagte: Das für unsere Töchter? Das für unsere Söhne? Für unser Herzblut das, du in Ewigkeit Verruchter?

Und alle Stimmen riefen verzweifelt: Unsere Brüder! Unsere Söhne! Unsere Länder! Du in Ewigkeit Verruchter!

Olivia hatte die Augen offen und sah und hörte alles so wirklich, als ob sie im Theater säße.

Wo bin ich, wo war ich? fragte sie sich unablässig; wo soll ich hin, wo kann man noch leben, wo ist es noch möglich, zu lächeln, wo ist noch Freude, wie kann je wieder Freude entstehen?

Sie wünschte, sich verwandeln zu können. Als sie von fern durch die Glaswand der Treibhäuser Blumen sah, erbleichte sie in geisterhafter Sehnsucht nach einem Blumenleben. So in der Erde zu wurzeln, tief und innig, bewußtlos hinzudämmern, mit zartesten Fasern an die Natur gebunden!

[310]Daß man Blume werden könne, irgendwie, irgendwann, wurde Traum und beglückende Idee für sie. Es erschien ihr wie ein letzter Preis und ein letztes Asyl.

Sie erhielt die Nachricht, daß ihr Bruder bei einem Sturmangriff fern im Osten gefallen war. Stumm und zu keiner Tröstung fähig saß sie zu Hause vor der versteinerten Mutter.

Nach einer Weile kam Robert Lamm und setzte sich zu ihnen.

»Dazu muß man Kinder haben, dazu sie aufziehen,« sagte die unglückliche Mutter mit Augen ohne Tränen; »zwanzig Jahre war er alt.«

Lamm nickte. Beim Fortgehen sagte er zu Olivia: »Um Pfingsten herum werd’ ich vielleicht allein bei ihr sitzen. Man müßte dich mit Stricken auf ein Bett binden.«

Ein paar Tage später ging sie gegen Abend in seine Kammer. »Schau’ dich nach der Mutter um,« bat sie, »ich kann meinen Platz nicht verlassen.«

»Ja, du bist wichtig,« pflichtete er ihr voller Hohn bei, »oder du glaubst es wenigstens zu sein. Ich aber tauge nicht dazu, den Halbtoten ihre Toten beklagen zu helfen.«

»Wozu also taugst du?« konnte sie sich zu fragen nicht enthalten, und ihr Blick flammte. »Du warst dir und andern lang genug gut gewesen, das schlechte Wetter zu machen. Wir haben aber soviel von der Sorte in unserm Land, daß sich die Sonne schon mit Ekel von uns abwendet. Es ist kein Ruhm damit zu holen.«

Er lachte sonderbar. »Wenn du Widerpart zu leisten verstehst, räum’ ich dir die Freiheit ein, mich zu beschimpfen,« entgegnete er und ließ, beinahe wie ein Sklave, Arme und Schultern hängen; »nur nicht diese wolkenhafte Unnahbarkeit, dieses Schmachten im Überschmerz. Ich werde verrückt, wenn ich es ansehe. Zu weich, meine Teure, zu weich! Ihr lockert eure Fundamente und unsere mit solcher Seelenverschwendung.«

Olivia sah ihn an, halb bedauernd, halb erstaunt. »Du bist sehr einsam,« sagte sie.

»Ich will ja deine Mutter besuchen,« lenkte er ab, unangenehm berührt von ihrem Ton und ihrer betrachtenden Kühle, »aber sie hat nichts von mir. Ich bin ihrer Trauer nur im Wege. Ich bin schließlich allen im Wege, auch mir selbst.«

»Du bist sehr einsam,« wiederholte Olivia, und in ihrem Gesicht war plötzlich ein Ausdruck von Mitleid, der ihn schaudern machte.

»Nun ja,« stotterte er, »was weiter?«

»Einsamkeit ist eine Todsünde, Robert.« Sie trat einen Schritt näher vor ihn hin und sagte: »Deine Einsamkeit ist Todsünde.«

»So nimm sie mir weg,« versuchte er düster zu scherzen. »Bekehre mich, vielleicht gelingt’s, sonst holt mich eines Tages sicher der Teufel. Siehst du nicht, Olivia, woran du mit mir bist? Sahst du es nicht?« brach er aus und bohrte die Fäuste in die Augenhöhlen. »Auch Blindheit kann eine Todsünde sein,« murmelte er völlig verstört, »genau so wie Einsamkeit.«

Daß ihm dieses oder ein ähnlich geartetes Wort jemals entschlüpfen könnte, hätte er nie für möglich gehalten. Scham bemächtigte sich seiner, und am liebsten hätte er sich mit Nägeln das Gesicht zerfleischt. Er sah sich alt, verkommen, wertlos, ohne Licht, ohne Kraft, ohne Würde, und für die Dauer einiger Minuten war sein ganzes Wesen umnachtet und im Krampf.

Als die Hände von den Augen sanken, war Olivia aus dem Zimmer gegangen. Mit welcher Miene, mit welch erschüttertem Zögern hatte er nicht wahrgenommen, darum brach alles zusammen in ihm. Nun war er wirklich alt, wirklich ohne Wert und Würde. Denn der Mensch ist doch am Ende das, wozu ihn die formen, denen seine Liebe gilt.

Einsamkeit Todsünde? So will ich mich mit Menschen umstellen, sagte er sich, das steht in meiner Macht, und mit dem liederlichsten Lebenswandel kann ich Absolution erwerben.

Es kam eine Wut über ihn, sich gemein zu machen, ein Verlangen nach Lärm, Streit und Verwirrung, ein Trieb, zu horchen, zu schnüffeln, zu schüren. Er ging in die Kaffeehäuser, in die Versammlungen, zu früheren Kollegen, sprach Bekannte auf der Straße an und redete so lange mit ihnen, bis sie zutraulich wurden. Er hatte einen Geierblick für die Unzufriedenen, die Verschwörer, die heimlichen Brandstifter, die Nörgler und Dunkelmänner aller Kategorien.[311] Er wußte sie so einzuspinnen, daß sie getäuscht die Maske fallen ließen. Er verstand so zu heucheln, daß er sich selber widerlich wurde. Seine tückischen Mitleids- und Freundschaftsversicherungen wurden mit den Geständnissen quittiert, um die es ihm zu tun war. Er tat jenen schön, deren Bestechlichkeit und Verrätertum öffentliches Geheimnis war; er schmeichelte den Betrügern und klatschte den falschen Propheten Beifall.

Er rechnete mit der Redseligkeit, der sich auch die Schlauesten im Katzenjammer nach einer Orgie überließen; mit dem Zynismus, den auch der Tartüff in der Erwartung der großen Katastrophe an den Tag legte; mit der aufgehäuften Bitterkeit der Erniedrigten und Zurückgesetzten, mit dem Druck der Lasten auf allen Schultern, mit der natürlichen Freude des Menschen an Unheil, Tod und Zerstörung.

Aber sein selbstquälerischer und haßerfüllter Gang zu den Menschen nahm eine unerwartete Wendung. Die Gegenspieler traten vor ihn hin, während ihn die Spieler beschäftigten; von Schatten umringt, die in einer Schattensprache redeten, sah er über ihnen, unter ihnen, hinter ihnen Gestalten. Hingekauert an einem morschen und entlaubten Baum, vernahm er den ewigen Gesang der Wurzel. Er fühlte die Kraft, fühlte die Bewegung, fühlte die Wehen der Wiedergeburt mitten unter Gespenstern; er fühlte sein Land, er fühlte sein Volk. Wenn er vor den Bäckerläden die blassen Frauen stehen sah, geduldig wartend, daß das Brot ausgeteilt werde, wenn die zu Krüppel Geschossenen mit unbegreiflich strahlenden, fast schwärmerischen Augen, an Stöcke gefesselt, einherhumpelten, wenn verschämte Armut den Geber mied und die Verlorenen in den Elendsquartieren Siegesfeste gläubig-still feierten, da wurde ihm der Zusammenhang bewußt, da war er Teil und Erbe, da erkannte er nicht nur, wie allein er war, sondern auch, wie verlassen sie waren, wie er sie verlassen hatte.

Über den Gesichtern, die er schaute, lag der Schein einer verborgenen Lichtquelle. Kam nicht das Licht von der unsichtbaren Lampe her, mit der Olivia des Nachts durch die Säle geschritten? Er konnte sich dieser Vorstellung nicht entziehen: in der finster gewordenen Welt die eine Flamme; ringsum im Kreis die Seelen, deren Kraft es ist, zu schweigen und zu dienen; sie warten auf das Wunder, das darin besteht, daß sie die Lampe sehen werden, denn dann sind sie erlöst.

Traum eines Einsamen, Traum von der Lampe und vom Volk!

Eines Abends kam er heim, angegriffen von der Frühlingsluft, in einer sonderbaren Stimmung zwischen Hinwelken und innerlicher Glut, in der ihm jetzt zumute war, als müsse er das Gesicht in Kissen vergraben und schluchzen, und jetzt wieder, als stehe er am Anfang der Zeit und an der Schwelle des Lebens: so zwischen Tod und Werden kam er und suchte ein Bild und einen Begriff von seinem eigenen Wesen. Da öffnete sich die Türe und Olivia trat herein.

Er erbebte; es ahnte ihm, daß es sich um eine Entscheidung handelte.

Die Bestürzung, in der Olivia das letztemal von Lamm weggegangen, war nachhaltig gewesen. Sie hatte eine dunkle Schuld gegen ihn immer empfunden, aber daß er sie nun zur Verantwortung ziehen würde, hatte sie nicht erwartet.

So weit sie auch zurückdachte, er war die herrschende Gestalt in ihrem Dasein, von jener Stunde an, wo sie als Kind durch seinen Einspruch einer peinlichen Schaustellung enthoben worden war. Sie hatte gegen ihn gewirkt, er gegen sie, aber das Band zwischen ihnen war nur um so fester geworden, und als sie sich zur Flucht entschlossen hatte, um ihm nicht gänzlich zu verfallen, war sie ihm schon gänzlich verfallen.

Sie hatte aber nie aufgehört, ihn Freund zu heißen. Ja, es war der erfahrene, wohlgesinnte, starke, verläßliche Freund gewesen, sogar in den Jahren ihrer Verfinsterung und des Selbstverlustes. Dann, als die Verwandlung kam, als sie sein Haus von ihm forderte, als er in geheimnisvollem Groll verreiste, als alle Geschenke des Lebens ihr entrissen wurden bis auf eine Lampe in der Hand, die sie nicht gewahrte, nur ahnte, deren Licht sie nur im Auge der andern entdeckte, auch da war noch der Freund an ihrer Seite geschritten, der Lebendige, der Mensch. Und das Wissen um seinen Haß und Abscheu war nur ein Ansporn geworden, so zu erglühen, daß der Eispanzer um seine Brust schmelzen mußte.

[312]›Auch Blindheit kann Todsünde sein, siehst du nicht, Olivia, woran du mit mir bist?‹ Dieses Wort vernichtete wie ein zündender Blitzstrahl alles, was sie um sich her gebaut hatte.

Nur zu deutlich hatte sie die Not gefühlt, in der er es ihr entgegenschrie. Also war er überzeugt, daß sein Vorwurf und der Anspruch, den er erhob, zu Recht bestünden? Daß sein Schicksal, er das ihre wäre? Unbeseelt und mißverstehend hatte sie ihn benutzt, wie man einen Boten benutzt oder einen Führer, und hatte seine Gaben, sein hingeströmtes Inneres als Tribut genommen, doch immer in der fernen Ahnung einer Schuld. War, so betrachtet, der Titel Freund nicht eine wertlose Münze, ein Almosen, das ihr Gewissen beruhigen sollte? So wenig Sinn und Phantasie war in ihr, daß sie ihn im Dunkeln hatte tappen lassen Jahr für Jahr und er mit getäuschtem Herzen zum Verräter werden mußte an sich und an der Menschheit? Jetzt begriff sie vieles, den niedergeschlagenen Blick an ihm, die Wildheit und den hartgeschlossenen Mund, das lieblose Urteil und sein entgleistes Leben, die Tyrannei und die stumme Bitte, das ganze Leiden, den ganzen mühevollen Weg. Und sie hatte oft an ihn gedacht als an einen, der die Truggestalten überdauert, die in kurzem Glücks- und Sehnsuchtsrausch verlockend erschienen waren. Geträumt hatte sie nie von ihm, aber vergessen hatte sie ihn nicht eine Stunde, nie hatte sie sein Bild verloren.

Einst, auf einem Ball, hatte ein junger Mann zu ihr gesagt: »Man erzählt, daß der Hofrat Lamm um Sie wirbt.« Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und mit aufsteigender Blässe in den Wangen erwidert: »Wenn Robert Lamm mich haben wollte, hätte er nicht nötig, zu werben.«

Doch gerade damals war sie in Georg Ingbert verliebt gewesen.

Plötzlich war sie ein Weib, sein Weib. Er hatte den Verlauf ihrer Spiele, ihrer Verstrickungen, ihrer Trübungen abgewartet, um sie zu rufen im Angesicht einer blutüberströmten Welt. Geschah es, weil er nach einem letzten Halt griff? Geschah es in der Erkenntnis ihres Wesens oder in der Verzweiflung über den Niederbruch aller irdischen Ordnung? Sie widerstrebte nicht, sie gehorchte, im Innern war sie sein Weib. Doch außer einem schmerzlichen Verlangen nach Frieden und Zärtlichkeit fühlte sie nichts, was an Liebe erinnerte oder was die Menschen darunter verstanden.

An einem Nachmittag um die Dämmerungsstunde betrat sie das kleine Lese- und Sprechzimmer, das für die Genesenden eingerichtet worden war. Es war niemand darin als Schwester Nina Senoner. Sie saß am Tisch und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Trotz der Dunkelheit war an den Umrissen des schönen Gesichts der Kummer erkennbar. Olivia ging näher zu ihr hin. »Was ist mit Ihnen, Nina?« fragte sie, und als Nina Senoner erschrocken aufblickte, spürte Olivia die unheilbare Verstörung in diesem Gemüt. Aber sie hatte Furcht, der neuen Forderung nicht gewachsen zu sein, die in dem Schmerz der Freundin lag.

Da machte Nina Senoner eine jähe Bewegung, schlang die Arme um Olivias Hüften und preßte das Gesicht gegen ihre Brust.

Olivia hatte lange nicht mit einer Frau gesprochen; persönliches Wort auf dem Grund persönlichen Gefühls zu finden, fiel ihr schwer. Sie hatte verlernt, wichtig zu nehmen, was der einzelne in seinem Kreis mit seinem Schicksal auszukämpfen hat; nun sah sie die Verarmung darin und empfand Reue. Sie legte die Hände wie schützend auf Ninas Haar. Die stolze, herbe Frau, die ungeachtet ihrer fünfunddreißig Jahre wie ein junges Mädchen wirkte, begann zu schluchzen; unaufhörlich zuckte ihr Körper.

Nach einer Weile gelang es Olivia, sie in ihr Zimmer zu führen, wo sie ungestört sein konnten. Sie zog Nina dicht an sich; sie trocknete mit ihrem Taschentuch die Tränen auf dem weißen Gesicht. Sie fragte, fragte; hingebend, ja zärtlich. Es dauerte lange, bis Nina Senoner ihre Scheu überwand. Nie zuvor hatte jemand in solchem Ton mit ihr geredet. Sie war in der Gesellschaft geboren, in der Gesellschaft aufgewachsen, sie kannte nur Menschen von Haltung, von nicht zu durchdringender Fremdheit, von vorsichtigstem Anteil. Das Element der Kälte hatte sie allmählich in eine lebende Statue verwandelt;[313] alles in ihr war erfroren, was Frauen erst zu Wesen macht, Traum, Sehnsucht, Bluttrieb und Mitteilung.

Mit achtzehn Jahren hatte sie einen Mann geheiratet, den sie achtete und der ihr ein vortrefflicher Gefährte war. Aber sein Los war die Arbeit, und je reicher er wurde, desto verantwortungsvoller und aufreibender wurde die Arbeit. In den Ruhepausen verlangte er freundliche Mienen, einen geräuschlosen Haushalt und angenehme Gespräche. Nina hatte viel Verkehr, dabei lebte sie einsamer als ein Eremit. Alle Güte und Sorgfalt des Mannes war auf das Äußere des Daseins gerichtet; er umgab sie mit Luxus und mit Menschen, und wenn sie Kopfweh hatte und blaß aussah, ließ er die teuersten Ärzte kommen und wachte darüber, daß deren Ratschläge befolgt würden. Sie hatten nie Streit miteinander, kaum einen Wortwechsel, ihre Ehe wurde als mustergültig betrachtet, und das strahlende Temperament der aufwachsenden Jeanette schien ein Glück zu besiegeln, dem in den Augen der Welt nichts zur Vollkommenheit mangelte.

Es vergingen viele Jahre, ehe Nina Senoner überhaupt merkte, daß sich mit ihr eine Veränderung ereignet hatte, die durchaus nicht zu diesem bewunderten und beneideten Bild des Glückes passen wollte. Sie gehörte zu den Menschen, die selten über sich und ihren Zustand nachdenken, zu jenen frommen Naturen, die mit unerbittlicher Strenge jede Regung der Unzufriedenheit in ihrer Brust ersticken. Doch kam es immer häufiger vor, daß ein sehnsüchtiger Gedanke, ein Zweifel, eine Unruhe ihre Stirn in Schatten hüllten. Sie war gern allein; solche Stunden genoß sie tief; da verflog das Gefühl der Einsamkeit, und sie wurde fröhlich, wie sie als junges Mädchen gewesen war. Aber man erlaubte ihr nicht, allein zu sein. Die geselligen Pflichten nahmen an Vielfältigkeit zu; man drängte sich an sie; man wollte sie haben; man fühlte sich wohl in ihrem Haus und in ihrer Nähe; trotzdem sie fast immer schweigsam war, fesselte und reizte sie Männer wie Frauen; ihr Lachen verbreitete eine festliche Stimmung, ihr sanfter Blick glättete alle Stirnen. Sie war immer verabredet, immer unterwegs, oder zu Hause immer unter Gästen. Die zahllosen Ansprüche zu befriedigen, wurde schwer, sie zu vermindern ganz unmöglich. Es war eine Lawine, die selbsttätig anschwoll und ihre Seele unter sich begrub.

Da hatte sie eines Tages die Empfindung, als werde sie nur künstlich und nach dem Belieben aller dieser Menschen bewegt und in ihr selbst sei gar kein Wille mehr, kein Entschluß und keine Freiheit. Es schien ihr, als habe man sie planmäßig und Schritt für Schritt ihres Eigenlebens beraubt und als sei sie dessen erst inne geworden, nachdem jeder Funke davon ausgelöscht war. Sie sah sich nur noch als Hülle ihres früheren Ichs, als Opfer von toten Dingen, als Erfüllerin von zwangvollen Pflichten, als Beute von fremden Menschen. Und das Schreckliche war, daß sie auch Mann und Kind unter diesen Fremden erblickte, die sie geplündert und ihr nichts übriggelassen hatten als einen müden Körper und ein freudloses Herz.

Ihre Liebenswürdigkeit und Schönheit hatten viele Männer berückt; hochgestellte und geringe, alte und junge, berühmte und unbedeutende hatten für sie geschwärmt; manche hatten sich mit der Verehrung aus der Ferne begnügt, andere hatten ihr Heil in heimlichem oder offenem Werben gesucht; die Bemühungen der meisten hatte sie übersehen, und sie konnte dabei einen Hochmut entfalten, der gründlich erkältete; einige gab es, die sie eines vertrauten Gesprächs für würdig hielt, von denen sie Briefe empfing, deren Schicksal ihr Interesse einflößte. Doch keinen einzigen hatte sie so begünstigt, daß er sich in besonderer Weise hätte ausgezeichnet finden dürfen, geschweige denn, daß sie sich ihm gegenüber etwas vergeben hätte. In den Kreisen, in denen sie verkehrte, zählte die ungetreue Gattin zu den gewöhnlichsten Erscheinungen des Lebens; sie hatte gegen solche Frauen stets eine heftige Abneigung verspürt, und der Gedanke, ihren Gatten zu betrügen, auch nur mit einem Blick, mit einem Lächeln nur, war ihr niemals in den Sinn gekommen.

Vor zwei Jahren war es gewesen, da hatte sie in einem Kurort einen Mann kennen gelernt, einen Ingenieur, einen vom Leben weit umhergetriebenen Menschen, sehr ernst im Wesen, schmucklos im Auftreten, mit Eigenschaften des Charakters,[314] die je anziehender wurden, je länger man sich mit ihm beschäftigte. Der Eindruck, den er auf sie machte, war von der ersten Sekunde an entscheidend. Er stand im selben Alter wie Nina, in der Mitte der Dreißig, aber so reif und erfahren er wirkte, es war doch etwas Frisches in ihm, und die Unabhängigkeit seiner Gesinnung öffnete Nina eine neue Welt, deren Schwelle zu überschreiten sie zaghaft und verwundert zauderte. Er war verheiratet, nicht eben glücklich, hatte Kinder, die er liebte, verfocht aber mit einer beinahe zornigen Leidenschaft und mit Verachtung gegen die feigen Grundsätze der sogenannten Moral das Recht der Freiheit der Herzen.

Wenn Nina um jene Zeit in den Spiegel schaute, sah sie, daß ihre Züge anfingen, welk zu werden. Ihr Gesicht trug die Spuren einer eigentümlichen Abspannung wie bei jemand, der jahrelang vergebens gewartet und endlich die Hoffnung aufgegeben hat. Jetzt wußte sie, worauf sie gewartet hatte. Die Jugend war dahin, und sie hatte nichts von ihr genossen. Sie hatte nie geliebt. Ihre Seele war verdorrt.

Der Freund vermochte es, ihr dieses Geständnis zu erpressen. Er vermochte mehr. Er gab ihr den Glauben, daß es noch nicht zu spät sei. Dies aus seinem Mund zu hören und immer wieder zu hören, beglückte und erschütterte sie. Sie verlor sich in dunkle Träumereien. Stumm lauschte sie den Worten des Mannes, den sie plötzlich mit einer Gewalt liebte, von der sie früher keinen Begriff gehabt und in der sie sich verwildert und entwurzelt erschien. Mied sie gleich seinen Blick, so hätte sie doch niederknien mögen, um seinen Schatten zu umfassen; war auch ihr Auge, ihre Gebärde furchtsam und abwehrend, so war doch ihr Inneres voll Zärtlichkeit und Sehnsucht. Er verstand sie; er drängte nicht; er achtete ihr Gefühl, und seine besondere Art von Güte erstaunte sie bei einem Mann und machte ihn ihr täglich teurer, während der Kampf, der in ihr tobte, täglich ungestümer wurde. Eine stille Raserei nahm von ihr Besitz; es schwindelte ihr, wenn sie seine Stimme, seinen Namen hörte; sie wünschte zu sterben und begehrte heißer als jemals zu leben; alle Menschen wurden ihr zu Phantomen, mystische Ratlosigkeit prägte ihrem Gesicht den Ausdruck einer Somnambulen auf, dabei mußte sie auf der Hut sein und sich beherrschen, denn sie war das Ziel der Aufmerksamkeit von vielen.

Ihren Gatten zu hintergehen und sein Vertrauen zu mißbrauchen, war ihr entsetzlich zu denken. In ihrer Glut und Bezauberung und völlig im Bann der überlegenen Beredsamkeit des Freundes war sie dennoch nahe daran, den letzten Schritt zu wagen, bloß um die Qual zu beenden, bloß um dem Spender des Gefühls, das sie erfüllte, dankbar zu sein. Da kam Jeanette. Als sie acht Tage bei der Mutter gewesen, sagte Nina zu ihrem Freund: »Wir dürfen uns nicht mehr sehen.« Der Ingenieur reiste ab. Nina erkrankte.

Nachdem man sie in die Stadt geschafft hatte, rief sie ihn wieder. Sie konnte es nicht mehr ertragen, ganz ohne ihn zu sein. Es waren Nächte, wo sie Angst hatte, wahnsinnig zu werden. Der Freund folgte ihrem Ruf, und er besuchte sie nun, so oft sie es verlangte, zu jeder Stunde, die sie bestimmte. Es konnte nicht häufig geschehen, aber von einem Mal zum nächsten brachte sie die Zeit in einer trunkenen, beklommenen Freude hin. Sie konnte tagelang in seliger Schwärmerei an ihn denken, sich seinen Gang vorstellen, sein Lächeln, seinen Gruß, und wenn sie ihn erwartete, schritt sie vom frühen Morgen an aufgeregt durch die Zimmer und war totenbleich.

Aber die wenigen Stunden, die sie dann für einander hatten, wurden oft durch das Erscheinen Jeanettes gestört. Sie trat mit einem Scherz, einer Neckerei ein, so wie sie damals getan, als sie zur Mutter aufs Land gekommen war. Genau wie damals schien sie belustigt von dem tiefen Ernst in den Mienen der beiden, bedachte den Mann mit mädchenhaftem Spott, bevormundete in ihrer gutmütigen und etwas derben Weise die Mutter, war anspruchsvoll, ohne es zu wissen, grausam, ohne es zu wollen. Ihre Heiterkeit hatte einen Anflug von Trotz, ihre Zutraulichkeit erweckte den Verdacht, daß sie spioniere. Und doch war sie davon weit entfernt. Sie war nur immer da; war sie nicht im Zimmer, so war sie doch im Haus; war sie nicht im Haus, so war sie doch im Garten; war sie fortgegangen, so drohte ihre Rückkehr; sie war immer da, immer zu fürchten.

[315]Allmählich verkörperte sie für Nina den Argwohn der Welt, die Stimme des Gewissens, die Pflicht, die sie dem Gatten schuldete. Schaute sie in das Antlitz der Tochter, so fühlte sie die unbarmherzige Forderung, die Fessel nicht zu brechen, die fast zwei Jahrzehnte um sie geschmiedet hatten, empfand sie die ganze Nüchternheit und Dumpfheit ihres Daseins. Das eigene Kind, das sie liebte, ja vergötterte, war ihr zugleich ein Gegenstand des Hasses und der Furcht; es war der Wächter vor ihrem Gefängnis, der Anwalt des Vaters, die Meinung der Gesellschaft.

Sie geriet in Verwirrung und unsägliche Qual. Sie floh vor Jeanette und suchte sie, wenn sie nicht zugegen war. Sie schmeichelte ihr und bestach sie mit Geschenken; dann wieder war sie verschlossen und kalt. Eines Tages sagte die Achtzehnjährige zu ihrer Mutter: »Du bist mir ein Rätsel,« und vor ihrem verwundert forschenden Auge senkte Nina den Blick. Der Freund fand sie ruhelos und launenhaft. Wenn sie dem Flehenden ihre Hand überließ, horchte sie mit emporgezogenen Schultern und abgewandtem Gesicht zur Tür. Er fragte, warum sie so vor dem Kind zittere. Sie hatte nur eine bittende Gebärde als Antwort; wie von Leidenschaft gebrochen, sank ihr Kopf zur Seite. Er bot ihr alles, sein Leben, die Lösung seiner Ehe; ihr Blick umklammerte ihn, doch sie erhob beschwörend die Hände. Er wollte sie umarmen, sie stieß einen Schrei aus und stellte sich schnellatmend mit dem Rücken gegen die Türe. »Sie würde mich bis ans Ende der Welt verfolgen,« sagte Nina flüsternd; »sie hat alle Macht, und ich habe keine.« Dieses wunderliche Wort ergriff den Freund, und zum erstenmal hatte auch er bei dem Gedanken an Jeanette die Ahnung der Gefahr.

Einst standen sie in der Dämmerung nah’ beieinander am Fenster, da wurden rasche Schritte hörbar, und Jeanette trat ein. Sie blieb an der Schwelle stehen und lachte. Nina drehte sich um und bemerkte unmutig: »Wie kann man sich nur so taktlos benehmen!« – »Aber Mutter!« rief Jeanette, abermals und noch lauter lachend. Was konnte der Grund ihres Lachens sein, das eigentlich ein wenig albern klang? Es schnitt Nina in die Seele, jedoch der Freund erkannte jetzt die Gefahr. Diese Jugend verachtete das Halbe und seine dunklen Katastrophen, verachtete die hingezogenen Entscheidungen, verachtete die Umwege und das matte Zweifeln, verachtete die Dämmerung und das Geheimnis. Sie schuf sich ein neues Lebensgesetz, sie hatte etwas Unbedingtes in ihrer Art, sich zu verkündigen und für sich einzustehen, sie erklärte sich für das Gerade, für die Helligkeit und für die Kraft.

Das war es, was er aus dem unschuldig und albern klingenden Lachen Jeanettes herausfühlte. Und er sagte es Nina. »Geh zu ihm oder geh zu mir,« schloß er; »zu einem mußt du gehen.«

Sie schwieg. Aber am Abend schrieb sie dem Freund einen Abschiedsbrief, dann ging sie zu ihrem Mann und sagte ihm, daß sie einen andern liebe. Sein Gesicht wurde wie Blei; er konnte nichts tun, als sie anstarren. Zwei Tage und zwei Nächte sperrte er sich in seinem Zimmer ein, dann rief er Nina und fragte, was sie vorhabe. Sie sagte: »Ich bin deine Frau.« Da fragte er sie, ob sie einige Zeit auf dem Gut leben wolle, das sie in Ungarn besaßen, und sie bejahte. Er begleitete sie hin, und sie blieb dort monatelang. Jeanette besuchte sie häufig, sie war verändert, voll Zartheit und Rücksicht, als wisse sie um das Geschehene und sei nun zufriedengestellt. Von dem Geliebten hörte sie erst wieder, als er bei Kriegsausbruch freiwillig ins Feld zog. Er sandte einen letzten Gruß.

Heute hatte sie die Nachricht erhalten, daß er gefallen sei.

In das verstörte Herz fiel der Strahl der Lampe. Ihr Geisterschein ließ aufschimmern, was Ninas wortunkundige Lippen verschweigen mußten. Olivia war so sehend geworden, so allfühlend, so mitschwingend; sie dachte auf einmal an ein Wort Ingberts: Die ganze Welt ist ein einziges Herz.

Auf einmal tauchte auch Ingberts Gestalt und Gesicht vor ihr auf. Es war wie ein vergessener Teil ihres Lebens, der dem, den sie wußte und lebte, zum Kampf gegenübertrat. Leib und Seele standen auf widereinander; ach, dieser Verzicht, dies dumpfe Sichnichtkennen, das nun Verrat[316] wurde! Der ewige Hunger der Dämonen schrie nach Stillung.

Eine reuevolle Unruhe erfaßte sie. Ingbert war der Erwecker ihrer Sinne gewesen, und ihre Sinne erhoben sich, jetzt, aus der Zerrüttung menschlicher Dinge, aus Ninas vernichtetem Schicksal. Der Genius in ihrer Brust rief sie an, jetzt, da der andre, da Lamm gekommen war, um sein Recht zu fordern.

Sie erinnerte sich der Rolle, die ihr Ingbert beim Abschied übergeben hatte. Sie hatte sie zu Hause aufbewahrt, es drängte sie hin wie zu einem Menschen. Als sie die Rolle in der Hand hielt, sah sie, daß auf dem Bande, an dem das Siegel befestigt war, Worte geschrieben standen. Sie las: Zu öffnen von Olivia, wenn sie einmal spüren kann, was sie mir war.

Zaghaft streifte sie das Band herunter und öffnete die Rolle. Es kam eines der Porträts zum Vorschein, das Ingbert nach seiner Krankheit von ihr angefertigt hatte. Bei genauerer Betrachtung erkannte sie, daß es ein ausgearbeitetes Werk war, eine Komposition, der die zahlreichen Skizzen, die er damals gemacht, zur Grundlage gedient hatten. Das Gesicht war von solcher Schönheit, daß Zweifel sie beschlichen, ob es auch wirklich ihre Züge seien und nicht eine in dem Maler wurzelnde Idee davon. Es war eine glanzvolle Freudigkeit in dem Antlitz, etwas Strahlendes und Enthusiastisches, und um den Mund lag eine sinnliche Bereitschaft, die Olivia fremd berührte und sie erröten ließ. ›Soll ich so gewesen sein?‹ fragte sie sich.

Hatte er sie so gesehen und empfunden, dann mußte sie auch so gewirkt haben. Dann mußte das alles auch in ihr sein. Ihr Puls schlug matter; unwillkürlich schaute sie sich um, ob Ingbert nicht hinter ihr stehe und sie ihn fragen könne. Nichts erschien ihr jetzt so wichtig als ihn zu fragen.

Voller Unruhe kehrte sie ins Spital zurück. Da meldete man ihr, daß im Sprechzimmer ein Offizier auf sie warte. Sie ging hinein; der Offizier, der Arm und Kopf verbunden und wie alle, die unmittelbar vom Felde kamen, leidend angestrengte Züge hatte, erhob sich und fragte höflich, ob sie Schwester Olivia Khuenbeck sei. Dann nannte er seinen Namen und fuhr fort: »Ich bin vom Leutnant Georg Ingbert dringend beauftragt, Ihnen Grüße zu bestellen. Er hat mir das Wort abgenommen, es nicht zu versäumen. Ich entledige mich hiermit meiner Mission.«

»Wo ist Georg Ingbert?« erkundigte sich Olivia mit leiser Stimme.

»Er liegt in Zawadow bei Strji.«

»Verwundet?«

»Schwer verwundet; so schwer, daß man ... daß man seinen Tod wünschen muß.«

Olivia atmete tief. Nach langem Schweigen sagte sie, kaum hörbar: »Ich danke Ihnen. Sie haben mir einen großen Dienst geleistet.«

Ihr Entschluß war gefaßt.

Sie stand vor Robert Lamm in derselben Haltung wie vor dem Offizier. »Ich muß so schnell wie möglich nach Galizien, Robert,« sagte sie; »sei mir behilflich, daß ich morgen die nötigen Papiere erhalte.«

»Was willst du denn in Galizien tun?« fragte er.

Sie antwortete: »Ich muß zu Georg Ingbert. Georg Ingbert liegt sterbend in einem Feldspital.«

Lamm ging, an ihr vorüber, auf und ab. Nach einer Weile sagte er: »Ich werde die Papiere besorgen.« Dann, wieder nach einer Weile: »Wäre es dir lästig, wenn ich dich begleiten würde? Du brauchst auf dieser Reise einen Schutz.«

Sie sah ihn groß an. Statt etwas zu entgegnen, bot sie ihm die Hand. Er starrte darauf nieder, überwältigt. »Olivia, zwischen uns beiden steht das Schicksal in seiner ganzen Unerbittlichkeit,« murmelte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Zwischen uns beiden ist nichts Trennendes mehr,« sagte sie mit schönem Lächeln und legte auch die linke Hand in seine.

Ungläubig hob er die Augen. Es gibt ein Glück, das wie Angst wirkt. »Zu spät, Olivia, zu spät,« stammelte er. »Ich bin ein gar zu irdischer Mensch. Die Sorte geht bei langem Warten an sich selbst zugrunde. Aber ich habe nun wenigstens die Genugtuung, daß ich nicht an ein törichtes Hirngespinst verraten war. In jeder Raserei liegt eine höhere Vernunft.«

Olivia, sichtlich müde, lehnte den Kopf an seine Schulter.

[317]»Es ist möglich gewesen, das genügt mir,« fuhr er fort. »Die Verwirklichung wäre schon zu viel. Dein Leben hat sich eine Form geschaffen, die für meines zu weit, zu tief ist. Sie wieder einzuengen, steht nicht in deiner Macht. Wie sollten wir zu einer Gemeinsamkeit gelangen? Du kommst im rechten Augenblick; vielleicht hätt’ ich mich sonst vollends zerfleischt. Jetzt überseh’ ich den Weg; dich begleiten, das kann ich; dich für mich behalten darf ich nicht.«

Olivia flüsterte: »Ich bin eine Frau; ich will es sein.«

Lamm nahm ihren Kopf zwischen die Hände und küßte sie auf die Stirn. »Was hätte es dann mit Georg Ingbert auf sich?« fragte er. »Warum diese Reise? Was suchst du bei ihm? Was ist dir sein Leben oder sein Tod, dir, – die durch das Sterben der Menschen geht wie durch einen Garten im November?«

»Das kann ich dir nicht sagen,« erwiderte Olivia, »ich muß es eben tun.«

»Ich aber kann es dir sagen,« versetzte Lamm; »du willst dich mit diesem Schritt von ihm scheiden. Er besitzt noch etwas von dir, ein Pfand, das du auslösen möchtest. Wenn du zu mir gehst, schlägst du das Tor der Vergangenheit hinter dir zu, und du willst nicht, daß einer, ob es auch bloß ein Schatten ist, draußen steht und nach dir ruft.«

Olivia erbleichte. Sie schloß die Augen und schwieg.

»Wir können aber ohne Vergangenheit nicht in die Zukunft hinaus,« begann Lamm wieder; »wer da baut, muß die Erde höhlen. Gräber der Liebe machen neue Liebe fruchtbar, es fragt sich nur, wie reich man an Liebe ist. Du, Olivia, hast tausendfache Liebe in die Gräber gesenkt, tausendmal hast du Georg Ingbert schon begraben.«

»Und doch muß ich zu ihm –«

»Ich glaub’ es selbst,« antwortete Lamm. »Eine Fahrt über lauter Gräber. Zwischen dir und ihm – Gräber; zwischen dir und mir – Gräber. Millionen von Verbluteten und Hingeschlachteten zwischen uns.«

»Man möchte auf einen andern Stern fliehen,« sagte Olivia. »Es muß einen göttlichen Sinn haben, alles, sonst sind wir Narren und Verbrecher.«

»Es gibt keinen andern Stern, Olivia, aber das Leben ist unendlich. Die wir begraben haben, die tragen uns; warum sie vernichtet worden sind, ist nicht zu erforschen. Zu fühlen ist es, glauben muß man; kann man das nicht, dann ist es freilich zum Verrücktwerden.«

»Was fühlen? Was glauben?« brach Olivia leidenschaftlich aus.

»Die höhere Ordnung, Olivia. Du warst ja nahe, es zu nennen: Gott! Ja, ich sag’ es, ich, Robert Lamm, der Skeptiker von achtundvierzig Jahren, der Gewohnheitsleugner, der Mann ohne Ideal. Gott! Es bleibt nichts andres übrig. Gott will, und wir tun. Gott düngt, und wir wachsen. Gott pflügt, und wir werden als Unkraut ausgejätet oder als Samen in die Furchen gestreut. Was ist dein Aufbäumen, was ist mein Schwatzen? In ferner Zukunft verleiht es vielleicht einmal einer Kreatur, an deren Existenz wir einen sehr entfernten Anteil haben, den geheimnisvollen Nerv zu einer Tat. Du kannst nicht helfen, keinem außer dir. Und hilfst du dir, ich meine dem Gott in dir, so hast du nichts mehr zu fürchten.«

»Und du, Robert?« fragte Olivia ernst: »Du? Das alles ginge mir stärker ans Herz, sprächst du zu mir als Handelnder.«

Lamm blickte mit zusammengezogenen Brauen starr ins Weite. Er antwortete: »Da man sich in diesem Sturm und Wirrsal in einen herabgedrückten Zustand des Lebens finden muß, wäre es wünschenswert, wenn jedermann eine Prüfung seiner inneren Bestände vornehmen wollte. Der Krieg wird lange dauern. Ein neues Zeitalter wird sich hernach deutlich abscheiden. Ob ich dann noch zu brauchen bin, weiß ich nicht. Ich will’s versuchen.«

»Wirklich?« rief Olivia mit aufleuchtenden Augen. »Doch warum zögerst du?«

»Weil ich nicht pfuschen will. Du hast mich Geduld gelehrt, Olivia.« Er wandte sich ab und sagte gepreßt: »Könnt’ ich nur in Worte fassen, was du mir bist.«

»Robert!«

Jäh fuhr er herum und zog sie in die Arme. Sie aber befreite sich sanft und verließ ihn.

Um sich zu sammeln, ging sie in den Garten. Es war hell, der Mondschein einer[318] Mainacht, die Luft voll Blumengerüche. In den Baracken waren schon die Lichter ausgelöscht. Vor einem der Treibhäuser saß ein Soldat und starrte in den Himmel. Auf den Wegen lagen weiße Blüten, so viele, daß sie den Schritt dämpften. Alles in der Natur atmete Frieden, alles sprach von Auferstehung und Erneuerung.

Olivia brach einen Zweig von einem Apfelbaum, roch daran und ging sinnend weiter. ›Warum hast du das getan?‹ fragte sie sich plötzlich und betrachtete den Zweig mit Abscheu. Aus den weißen Blüten grinste ihr der Tod entgegen.

Sie erschauderte. Die ganze Welt schien ihr wie auf eine Wand gemalt, fremd wie der Tod.

Erst am dritten Tage konnten sie reisen.

Es war eine sonderbare Fahrt. Robert Lamm, lebhaft und aufgeräumt, erzählte viel und war stets um Olivia bemüht. Junge Offiziere saßen im Wagen, die dem schönen Mädchen in der kleidsamen Schwesterntracht eine teilnahmvolle Neugier bezeigten. Auf den Bahnhöfen gab es lange Aufenthalte, und überall herrschte ein beängstigendes Treiben. Verwundete Soldaten lagerten in malerischen Gruppen; Flüchtlinge jeden Alters und Standes drängten sich um aufgeregt gestikulierende Beamte; Munitions-, Proviant-, Spitals- und Mannschaftszüge versperrten die Geleise oder fuhren vor; der einzelne Mensch hatte weder Wichtigkeit noch Stimme, alles verlor sich in der Masse, wurde fortgerissen von der Masse, anscheinend ordnungslos, und doch von einer gewaltigen und besonnenen Kraft regiert.

»Und das alles für eine Einbildung von Feindschaft,« sagte Lamm leise zu Olivia; »wo ist dein Feind? Wo ist meiner? Wo der von dem Slowenen, der da am Pfeiler lehnt oder von der eleganten Dame dort, die wahrscheinlich bei der Flucht auf einem Leiterwagen ihre Mantille zerrissen hat –? Wo ist der Feind? Jeder ist mein Feind, jeder andere Mensch, und jeder ist mein Bruder. Gegen wen ziehen also die Armeen, wogegen rasen die Völker? Sie wissen es nicht. Es ist aber das Blut, der Wille der Generationen, die nach ihnen kommen. Diese brauchen einen Weltzustand, den wir nicht einmal träumen können, und doch müssen wir ihn für sie schaffen, sie wollen es, sie erzwingen sich’s. Die Einsicht können sie uns nicht geben, nur das Feuer und die Brunst, die zur Zeugung gehören. Zeugung aber ist eine Angelegenheit des Rausches, sie hat Züge von Mordlust und Grausamkeit und stößt die Seele ins Chaos zurück, von wo sie stammt.«

»Laß das,« antwortete Olivia gepeinigt; »ich mag’s nicht, wenn Gedanken so wahr werden, daß sie verletzen. Gesteh doch lieber, gesteh es endlich, daß du dich getäuscht hast, wenn du mir immer unser Land als reif zum Untergange geschildert hast. Du hast gegen deine Brüder gewütet wie ein Besessener, und gegen dich selber auch. Gesteh doch, daß wir nicht zuschanden geworden sind vor dir und daß du das Henkerbeil umsonst gewetzt hast. Schau’ in die Gesichter, in welches du willst; ist nicht in fast allen ein kühles, tätiges Leben, ein werkfreudiges Gefühl, und sogar die Widerstrebenden können sich nicht entziehen. Sag’s ihnen doch, daß sie deiner nicht so ganz unwürdig waren, Robert; die Sühne bist du ihnen schuldig.« Es klang wie Spott eines Cherubs. Lamm errötete.

In einer Station nach Krakau stieg ein dicker, kleiner Herr von etwa fünfzig Jahren ein. Er trug ein schwarzes, flaches Strohhütchen auf einem mächtigen Schädel und sah einem Negerhäuptling in europäischen Kleidern ähnlich. Lamm kannte ihn, und sie begrüßten einander. Es war Exzellenz Häfner, ein ehemaliger Minister. Durch seine Gaben zu großen Leistungen befähigt, hatte er sich doch wider die Ränke seiner Gegner nicht zu behaupten vermocht. In der Zeit, die ihn am Ruder gesehen, waren die Wogen des Liberalismus hoch gegangen und hatten den starren Theoretiker und römisch angehauchten Frondeur über Bord des Staatsschiffes gespült. Jetzt hatte man sich der lenkenden Erfahrung erinnert, die er besonders in den schwierigen nationalen und wirtschaftlichen Problemen der eben befreiten Nordprovinz stets erwiesen, und hatte ihn aus dem Dunkel eines Pensionisten-Daseins mitten in den Tumult der Weltbühne gerufen. Er war auf dem Weg ins Hauptquartier, wo er Beratungen wegen einer neu einzusetzenden Verwaltungsbehörde pflegen sollte.

So erzählte er Lamm und Olivia, mit[319] der er alsbald bekannt wurde. Er hatte eine bestrickende Art zu plaudern, trotzdem er bissig war wie ein Kettenhund. Die Hand auf Lamms Knie legend, sagte er zärtlich und strafend: »Sie, lieber Hofrat, sähe ich nicht ungern unter meinen Helfern. Es wird keine Leibwache sein, fürchten Sie nichts. Mit den Prätorianern haben wir aufgeräumt. Sie haben sich viel zu früh ins Ausgeding begeben. Aber Sie waren unvorsichtig, Sie waren zu leise. Auf Filzschuhen darf man nicht aus unseren Ämtern schleichen. Wenn schon Skandal, dann mit großem Orchester. Ich habe bereits an Sie gedacht, denn ich bin mit der Laterne auf der Menschensuche. Werden Sie mich für einen Fanfaron halten, wenn ich Ihnen sage, daß man den rechten Mann an die rechte Stelle bringen wird? Das Land schwitzt seine ungesunden Stoffe aus; Blut, Leichen, Schutt, Moder, aufgehängte Verräter. Kommen Sie gleich mit mir, wenn es irgend angeht; ich habe ausreichende Vollmachten. Es gibt zu tun, man kann die Flügel dehnen. Mit den alten unbezahlten Rechnungen machen Sie es wie ich: vergleichen Sie sich und geben Sie neuen Kredit.«

Lamm sah betreten vor sich hin. Er antwortete zaudernd und unbestimmt; das Anerbieten war zu überraschend, und sein Mißtrauen gegen die Regierenden war zu tief. Die Exzellenz wollte keine Ausflucht gelten lassen. Da er bemerkte, daß Olivia begierig zuhörte und Lamms Erwiderung mit sichtlichem Unmut aufnahm, witterte er das nahe Verhältnis zwischen den beiden und wandte sich geschmeidig an sie. Sie gab ihm in jedem Punkte recht, auch darin, daß Lamm die Entscheidung nicht aufschieben dürfe. In die Enge getrieben, erklärte Lamm, daß er nicht gewohnt sei, wichtige Entschlüsse mit solcher Eile zu fassen, auch könne er nicht zugeben, daß Olivia die Reise mitten durch Kriegsgebiet und nahe an die Front allein fortsetze. Olivia widersprach dem, und Exzellenz Häfner sagte, er treffe in Tarnow zwei hohe Offiziere, die im Automobil zum San führen und dem Fräulein sicherlich einen Platz im Wagen gewähren würden. Ohnehin mußte man in Tarnow übernachten. Lamm bat sich Bedenkzeit bis zum nächsten Morgen aus.

Er saß mit Olivia in einem trübseligen Gasthauszimmer. Die Exzellenz war fortgegangen, um die Offiziere aufzuspüren, die Olivia mitnehmen sollten. Unablässig polterten Fuhrwerke über das holprige Pflaster draußen, und das Geschrei der kutschierenden Bauern und Soldaten erfüllte die Nacht. An den Nebentischen saßen Juden, die sich in ihrem unverständlichen Jargon leise unterhielten.

»Wüßt’ ich dich zu Hause, so gäb’s kein Schwanken für mich,« sagte Lamm. »Ich weiß, daß ich nicht mehr hinten stehen darf. Schon um deinetwillen nicht. Ich hab’ dir’s ja auch gelobt.«

»Es wär’ ein schlechter Anfang, Robert, wenn mir deine Angst Ketten um die Füße legte,« erwiderte Olivia. »Du und Angst, Angst um einen Menschen! Ich kenn’ dich nicht mehr!«

»Du sprichst von einem Anfang, Olivia; mich dünkt, es ist ein Ende. Ich spür’s in allen Nerven, und mir ist so unheimlich wie manchen Leuten, die den Blitz fühlen, bevor er gezündet hat. Hör’ doch, wie die Welt braust und brüllt! Die Menschen sind so armselig und so furchtbar. Dessen bleib eingedenk, daß ich um dich gedient habe, länger als Jakob um Rahel, viel länger. Nur dacht’ ich, ich müßte dich unterwerfen, derweil lag es umgekehrt im Schicksalsplan, und ich hab’ nicht begreifen wollen, warum. Du hast gesiegt, Olivia, du bist die Siegerin, aber nicht bloß über mich, über uns alle, auch über die Sieger, und dich für meine Person zu beanspruchen, wäre so lächerlich, als wollt’ ich den Mond in mein Zimmer hängen, daß er mir zum Schreiben leuchte. Ich hab’ eine Erscheinung gehabt, weiter nichts.«

»Ach, Robert!« seufzte Olivia, die es nicht ertragen konnte, wenn man sie pries. »Ahnst du denn nicht, wie jämmerlich alles ist, was man tut, im Vergleich zu dem, was ungetan bleibt?«

»Es liegt nicht an der Qualität, es liegt im Geiste. Der Geist kann heilig werden, trotz Völkermord und Völkerwahn. Ich habe an den Heiligen Geist glauben gelernt, und damit allerdings steh’ ich wieder am Anfang.«

Er verstummte. Olivia sah ihn an und hielt ihn im Blick ihres groß aufgeschlagenen Auges.

[320]

Exzellenz Häfner kam etwas verlegen zurück. Er habe die beiden Herren gefunden, berichtete er, aber das Unangenehme sei, daß sie noch in der Nacht fahren müßten. Ob man der jungen Dame zumuten dürfe, die anstrengende Reise schon in einer Stunde fortzusetzen, habe er nicht gewagt zu entscheiden.

Olivia sagte, sie sei bereit, sie wäre froh, wenn sie rasch ans Ziel komme. Lamm widersprach nicht.

Sie nahmen hastig einen Imbiß auf schmutzigen Tellern, dann ging Olivia auf ihre Kammer, um ihre Tasche zu richten. Lamm folgte ihr nach einer Weile; als er in die elende Kammer trat, die von einer einzigen Kerze erhellt wurde, war sie schon fertig. Sie stand hochaufgerichtet am schwarzen Fenster, den Kopf etwas zur Seite geneigt, die Schultern, nach ihrer Art, zurückgebogen, die Arme lässig im Fall. Ihr Gesicht hatte einen verlorenen Ausdruck, selten hatte Lamm sie so in sich selbst ruhend gesehen.

Er trat zu ihr und küßte sie. Olivia lächelte; als sie ihn wieder küßte, waren ihre Augen feucht.

Er ergriff das Täschchen, und sie verließen den Raum. Unten wartete die Exzellenz, um sie an den Ort des Stelldicheins zu führen. Schweigend gingen sie durch die finsteren Gassen. Auf einem Platz neben einer Scheune stand der Kraftwagen. Die Vorstellung war schnell erledigt, Olivia stieg ein, der Motor begann zu schnurren; »leb’ wohl, Robert,« rief Olivia, dann winkte sie noch einmal, und der Wagen fuhr davon.

»Kommen Sie, Freund, wir haben nur noch vier Stunden zum Schlafen,« sagte die Exzellenz und schob den Arm in den Robert Lamms.

Für Robert Lamm gab es aber keinen Schlaf. Er verließ die zugige Kammer wieder, kaum daß er sie betreten hatte, und ging auf die Gasse.

Die regenfeuchte Luft schlug ihm ins Gesicht, die Häuser, an denen er vorüberging, waren schwarz, viele sahen wie seit langer Zeit verlassen aus. Er schritt an einem Zaun hin und spähte bisweilen in die Ebene oder in den Himmel. Die Zaunpfähle neben ihm, in endloser Folge, das brachte ein eigentümliches Gefühl von Rhythmik in seinem Innern hervor, und vielleicht war dies die Ursache, daß seine Gedanken immer bewegter, immer stürmischer wurden.

Der Marschschritt einer Kolonne wurde hörbar und kam näher. Es waren deutsche Soldaten, eine große Abteilung; der Zug wollte gar kein Ende nehmen. Lamm konnte die Gesichter der Leute nicht unterscheiden, doch die Entschlossenheit und der unabänderliche Gleichklang ihres Schrittes machten einen tiefen Eindruck auf ihn. Als sie vorüber waren, blieb er stehen und schaute ihnen nach. ›Da gehen sie nun,‹ dachte er und zog die Stirn in Falten, ›da gehen sie. Es ist etwas in ihrer Haltung und in ihrem Schritt, als rechneten sie gar nicht mit der Rückkehr. Ob nicht ein einziger unter ihnen ist, der heimlich rebelliert? Vielleicht doch. Aber es kommt nicht darauf an. Es kommt auf keinen einzelnen an, auf den Willigen nicht und auf den Rebellen nicht. Was liegt am Müller und am Schmied und am Fuhrknecht und am Schreiber und an all den Strebern und Glücksjägern und Verliebten und Familienvätern und Staatsdienern, die dort draußen auf dem Schlachtfeld fallen werden, was liegt an ihnen? Es wird immer wieder Schmiede und Fuhrknechte und Schreiber und Verliebte und Familienväter geben. Was brächten sie vor sich, wenn ihnen dies Schicksal erspart bliebe? Es kommt auf sie nicht an. Auch auf mich kommt es nicht an. Vor Gott bin ich gar nichts wert.‹

Er ging ein Stück, in der Richtung gegen die Stadt zurück, und nach einer Weile blieb er wieder stehen. »Und doch,« redete er nun laut vor sich hin, »doch ist der Mensch etwas Köstliches; man muß ihn bloß anschauen und begreifen können. Viele können es nicht. Diese Gestalt, das Auge, die Stimme: es ist wunderbar. Die meisten spüren nicht den Menschen. Auch ich habe den Menschen nicht gespürt. Ich habe so hingelebt, das ist alles; habe mich geärgert, habe gezankt, gefeilscht, geredet, aber den Menschen gespürt, nein, das hab’ ich nicht.« Und im Weitergehen wiederholte er noch ein paar mal die Worte: »Nein, das hab’ ich nicht.«

Da kam er an ein Haus, das ohne Türen und ohne Fenster war. Auch das Dach war zum Teil weggerissen, so daß[321] der Himmel in die öden Räume starrte. Lamm ließ einen Blick zerstreuter Neugier über die Ruine schweifen und wollte seinen Weg fortsetzen, als er ein jämmerliches Wimmern vernahm. Er lauschte und hörte den Laut deutlicher. Es klang wie das Weinen eines kleinen Kindes.

Nun trat er in das Haus, zündete seine elektrische Taschenlampe an und ging von Stube zu Stube. In der letzten Stube sah er einen Säugling auf schmutzigen Lumpen liegen, halb nackt und nur noch matt schreiend. Lamm rief. Er glaubte die Mutter oder sonstige Angehörige in der Nähe. Aber niemand antwortete; niemand war zu sehen. Der Säugling war völlig verlassen, fror und hatte Hunger.

Lamm nahm das Kind auf seine Arme und trug es hinaus. Er rief noch einmal; umsonst. Da trug er das wimmernde Kind auf seinen Armen weiter. Sein anfangs zaudernder Schritt wurde fest und entschlossen, und alle hadernden Gedanken in seinem Innern schwiegen still.

Er hüllte das frierende Kind in seinen Mantel, und als er die Körperwärme spürte, kam etwas Freudiges über ihn, und das lebendige, an ihn geschmiegte Wesen wurde ihm plötzlich in sonderbarer Weise teuer. ›Ich will es behalten,‹ sagte er sich, ›ich will es wie ein Geschenk von Olivia behalten, und seine Augen sollen mir leuchten, wenn ich zu den Menschen gehe und für sie schaffe.‹

Am Nachmittag darauf, nach fünfzehnstündiger, durch viele Hindernisse verzögerter Fahrt im Regen kam der Kraftwagen nach Drohobycz. Hier mußte Olivia eine andere Gelegenheit suchen, und der Bemühung des einen Offiziers gelang es, ihr einen Platz auf einem Feldpostwagen zu verschaffen, der nach Zawadow fuhr. Hatte sie schon die Nacht und den Tag über vom Regen zu leiden gehabt, jetzt wurde es schlimmer; oft konnte der Wagen kaum vorwärts, so schwierig war es, den begegnenden Fahrzeugen und marschierenden Kolonnen auszuweichen. In langen Reihen schleppten sich Verwundete die Straßen heran; fern am Horizont umsäumte den düstern Himmel eine dunkle Glut. Überall waren Notbrücken, überall rauchten Trümmer, und der Erdboden war von tiefen Spalten und Löchern zerrissen.

Völlig durchnäßt war Olivia, als endlich der schüttelnde Wagen in der Nacht vor einem halbzerschossenen Haus einer Dorfstraße hielt. Ein freundlicher Korporal besorgte ihr ein Obdach, irgendwo in einem Bauernhaus, in dessen Flur sie über die Leiber schlafender Soldaten steigen mußte. Ein Strohsack hinter einem Verschlag bildete ihr Lager. Von den Bretterwänden troff das Wasser, die Luft war wie in einem Keller, Pferde stampften in der Nähe, sie schloß die Augen und dämmerte erschöpft hin, ohne schlafen zu können. Mit dem Morgengrauen erhob sie sich und fragte um den Weg nach dem Feldspital, in welchem sie Ingbert zu finden hoffte.

Sie ging zum Oberarzt, der kaum Zeit hatte, ihr Rede zu stehen. Ein jüngerer Arzt trat hinzu, und dieser konnte ihr sagen, daß Leutnant Ingbert tot sei. Gestern war er begraben worden. Olivia faßte die Kalkmauer mit den Fingerspitzen der einen, dann der andern Hand an. Es schien ihr, als springe ihr Herz vor Kummer.

Zu Hunderten kamen blutende Männer vom Schlachtfeld, auf Bahren, auf den Armen der Sanitätsleute, oder von Kameraden geführt. Der Kampf um Strji war mörderisch. Olivia half verbinden. Hier roch das Blut der Wunden wilder und frischer als fern in der Stadt. Die Ärzte nahmen einen um den andern vor, hatten unbewegliche Gesichter, kümmerten sich weder um Schreien und Stöhnen, noch um Bitten. Niemand fragte, woher Olivia kam oder ob sie bleibe, man war um jeden Arm froh, der zugriff. Auf dergleichen war sie nicht vorbereitet gewesen, auf diese endlosen Reihen von Starrenden und mit dem Tode Ringenden. Um Mittag wandelte sie eine Ohnmacht an, denn sie hatte noch nichts gegessen. Auch fror sie beständig. Ein junger Bursch brachte ihr Fleisch und Kartoffeln, sie konnte nichts anrühren. »Na, werden Sie uns nur nicht krank,« sagte einer der Doktoren ärgerlich im Vorübergehen. Sein Leinwandkittel war von oben bis unten mit Blut bespritzt.

›Du mußt zu seinem Grab,‹ gebot eine Stimme in Olivia. Wie gehetzt floh sie aus dem Raum, drängte sich durch die Verwundeten und fragte einen Oberleutnant,[322] wo die gestern Begrabenen lägen. Der Offizier zog die Stirne kraus; die betreffende Stelle sei seit einigen Stunden gefährdet, antwortete er. Sie sagte gepreßt, wessen Grab es sei, das sie aufsuchen wolle. »Ich kannte Ingbert,« versetzte der Offizier, »ein lieber Kamerad. Schade um ihn.« Dann warf er einen flüchtigen Blick auf Olivia und erklärte sich bereit, sie zu führen. Sie war nicht fähig, ihm zu danken. Sie hatte keinen Dank mehr in sich.

Sie gingen über einen kotigen Feldweg. Bisweilen spritzte die Erde auf, als ob in ihrem Innern etwas geplatzt sei. »Sie schießen,« bemerkte der Offizier, nach einem Wald in der Ferne deutend und zündete sich eine Zigarette an.

Auf einer Wölbung des Geländes sah man unzählige kleine Holzkreuze. Der Offizier schritt eine Weile an der vordersten Reihe entlang, blieb bei einem stehen und sagte: »Hier liegt er.« Damit grüßte er und entfernte sich.

›Hier liegt er,‹ dachte Olivia. ›Und warum eigentlich? Und warum die andern, Unzähligen, warum?‹ Sie erinnerte sich der Anmut und Zartheit des Freundes, seiner Wärme und schweigsamen Liebe, und dachte: ›Warum nur, warum?‹

Sie ging weiter, ohne auf Weg und Richtung zu achten. Immer noch fiel Regen, immer noch fror sie. Am dunkelnden Wolkenhimmel malten sich feurige Geschoßbahnen, Leuchtkörper schwammen weit drüben in der Luft, bisweilen ertönte ein Krachen, als wolle der Weltkörper zerreißen. Zur Rechten wich mannshohes Gestrüpp zurück, das eigentümlich erhellt gewesen war, und nun gewahrte sie ein brennendes Dorf in der Ebene, weit drüben, und sie wanderte darauf zu. Sie holte ein Wägelchen ein, das von einem müden, klapperdürren Gaul gezogen und von einer alten Bäuerin gefahren wurde. Fünf oder sechs entsetzlich bleiche Kinder lagen droben und schliefen. Das Pferdchen wollte nicht mehr weiter, und die alte Bäuerin schimpfte bald, bald flehte sie. Eines der Kinder erwachte, und als es des Brandes ansichtig wurde, stieß es einen gellenden Schrei aus.

Plötzlich flammte in einer Entfernung von kaum zweihundert Schritt ebenfalls ein Gebäude auf. Man sah nun, daß dort ein Dorf lag. Die Dächer der übrigen Hütten fingen im Zeitraum von wenigen Minuten Feuer. Olivia blieb stehen.

Männer und Weiber stürzten ins Freie; die vergrämten Gesichter waren grell vom Feuer beschienen. Aus der Menge aber löste sich eine auffallende Erscheinung; ein einfacher russischer Soldat, jedoch ein Riese von Gestalt. Er war nicht jung, sicherlich über Vierzig, trug keine Kopfbedeckung, und seine schwarzen Haare flatterten struppig um Stirn und Schläfen. Er ging langsam, mit wagrecht vorgestreckten Armen, und man sah an seinem Gang, daß er blind war.

Doch schwankte er nur wenig; er ging dicht an den brennenden Häusern entlang, immer mit wagrecht vorgestreckten Armen. Die Funken prasselten um seinen Kopf, brennende Balken fielen dicht neben ihm nieder, aber durch keine Miene verriet er Schrecken oder Unsicherheit. Der Eindruck war so mächtig, daß die Bauern, ihre Weiber und ihre Kinder ihm alsbald in Scharen folgten und sich dicht an ihn drängten, als ob sie in seiner Nähe gefeit wären.

Olivia blickte rundum: die nasse Erde rot, der sternenlose Himmel rot, und zwischen Erde und Himmel tobende Mordmaschinen, brüllendes Vieh, winselnde Hunde und verzweifelte Menschen. Es wollte ihr scheinen, als käme der blinde Riese auf sie zu, um ihr eine Botschaft zu bringen, und je deutlicher sie sein Gesicht sehen konnte, je mehr wunderte sie sich über die unbeschreibliche, fast selige Ruhe darin. Gefährdeter konnte kein Mensch sein; hilfloser keiner; aber was bedeutete ihm die Gefahr? Was galt ihm diese Stunde und die nächste? Obgleich in Olivia ein rätselhafter Wunsch war, daß er sie sehen möge, ein rätselhaftes Bedauern, daß er sie nicht mehr sehen konnte, war es ihr doch klar, daß nach allem, was er von dieser Welt gesehen, er glücklich zu preisen sei, daß er nichts mehr von ihr sah.

Sie wanderte den Weg zurück, verirrte sich jedoch. Ihre Erschöpfung wuchs, und sie konnte nicht mehr daran zweifeln, daß sie krank war.

Patrouillen begegneten ihr und riefen ihr etwas zu. Sie verstand nicht und antwortete nicht. Auf einem umgehauenen[323] Baumstamm rastete sie eine Weile, dann schleppte sie sich eine halbe Stunde weiter. Sie kam zu einem offenen Parktor, ging hinein und gewahrte ein Schilderhaus, das leer war. Durch die Baumwipfel sah sie die Umrisse eines großen Gebäudes.

Die Beine versagten den Dienst; sie schlüpfte in das Schilderhaus, kauerte sich nieder und hüllte sich fester in den nassen Mantel. Ein schlafähnlicher Zustand machte sie bewußtlos.

Als sie wieder zu sich kam, war es Tag. Sie raffte alle Kräfte zusammen und trat ins Freie. Da bot sich ihren fieberheißen Augen ein unvermuteter Anblick. Fahler Frühsonnenschein war durch die Nebel gebrochen und fiel auf unzählige Beete und Sträucher voller Rosen. Lauter Rosen, über die ganze Fläche des Parks, in allen Farben der Gattung, soweit der Blick reichte. Dazwischen aufgeworfene Gräben, zertretener Rasen, zersplitterte Bäume. Sie trat zum nächsten Strauch; die Freude an den Blumen, erst wie eine überwältigende Erinnerung, verdrängte jedes andere Gefühl und steigerte sich zu leidenschaftlichem Verlangen. Voller Hast, ja fast gierig brach sie einige Rosen ab, ohne darauf zu achten, daß sie sich an den Dornen die Hände blutig riß.

Aber da ihr schwindelte und alles um sie zu tanzen begann, schritt sie dem Hause zu und trat in die Vorhalle. Es war eine geräumige Baulichkeit, einer der vielen adligen Herrensitze dieser Gegend. Kein Mensch war zu sehen. Die Türen der Zimmer standen offen, und überall zeigten sich die Spuren böswilliger Zerstörung. Die Gläser der Spiegel lagen in Scherben auf dem Boden, die Möbel waren umgestürzt, das Porzellan zerschmettert, die Bücher aus den Regalen geschleudert und zerfetzt, die Bilder zerschnitten, die Wände mit Unrat beschmiert. Hier mochte sie nicht bleiben; ihre letzte Kraft zusammenraffend, stieg sie die Treppe hinauf. Sie rief, doch niemand antwortete. Da, als sie in einen Raum mit hohen Fenstern trat, gewahrte sie endlich einen Menschen. In der Mitte des sonst völlig leeren Raumes stand ein Sarg, darin lag ein Greis mit langem, weißem Bart; ein Kruzifix aus Silber ruhte auf seiner Brust, und an den vier Ecken des Sarges brannten vier Kerzen. Daneben aber saß ein Knabe von etwa vierzehn Jahren; er hatte tiefschwarze Haare, die über die blassen Wangen fielen; seine Augen waren traurig und voll Angst.

Erstaunt betrachtete er die Fremde. Er erhob sich und redete sie polnisch an. Olivia verstand die Sprache nicht; da sie sich aber hinschwinden fühlte, machte sie eine bittende Gebärde und preßte die linke Hand gegen ihre Brust, in der der Atem flog. Der Knabe sah sie an und begriff; ihn hatte der Krieg frühzeitig über menschliches Leiden unterrichtet. Auf den Zehen, als könne der tote Mann noch gestört werden, ging er zu einer Tür, die er öffnete und wies auf ein Bett, das dort im Zimmer stand. Nicht zu verkennen, daß es das Schlafgemach einer Frau gewesen war; auf den Lehnen der Stühle hingen Frauenkleider, in einer Ecke standen Frauenschuhe; sonst deutete manches auf eine eilige Flucht hin.

Olivia schloß die Tür, als sie drinnen war, riß ihre nassen Gewänder vom Körper, stürzte förmlich in das Bett, wühlte die zitternden Glieder in die Kissen, richtete sich noch einmal auf und griff nach den Rosen, dann rang sie seufzend die Hände, spürte, daß ihr die Sinne vergingen, und freute sich darauf, nicht mehr denken und fürchten zu müssen.

Nach einer Weile klopfte es an der Tür, der Knabe trat lautlos ein. Unschlüssig stand er zu Füßen des Lagers und schaute auf die Kranke, deren Wangen sich mit Scharlachröte bedeckten. Er fand sie schön; ihre Gegenwart erregte scheue Neugier in ihm, ihr Zustand stimmte ihn mitleidig. Abermals sagte er etwas in polnischer Sprache. Olivia riß entsetzt die Augen auf. Plötzlich schrie sie: »Gebt mir die Rosen!« und preßte die drei Rosen, die sie krampfhaft in den Fingern hielt, an ihren Mund.

Dieses Wort kannte der Knabe. Wahrscheinlich hatten Rosen in seinem bisherigen Leben eine gewisse Rolle gespielt. Sie mußten ein Ziel eigensinniger Liebhaberei gewesen sein, vielleicht des toten Greises, der draußen im Sarg lag; nicht bloß die Kultur des Parks lenkte darauf hin, sondern auch die zerstörten Gemälde, auf denen fast ausschließlich Rosen dargestellt waren. Und da Olivia ihren Fieberruf[324] wiederholte und immer wieder ekstatisch die Rosen, die sie hatte, ans Gesicht drückte, glaubte er, sie wolle mehr, sie brauche sie aus irgendeinem Grund, den er nur noch nicht verstand. Rasch verließ er das Zimmer, und nach einigen Minuten schon kehrte er zurück, beide Hände voller Rosen, und warf sie auf das Bett.

Als er vernahm, daß die Fiebernde sich beruhigte, war er auch gewiß, das Rechte getroffen zu haben. Er ging noch einmal, dann ein drittes und viertes Mal. Schließlich hatte er so viele Rosen heraufgebracht, daß sie von der Bettdecke auf den Boden fielen und ihr Geruch das ganze Zimmer und jenes noch, in dem der Tote lag, erfüllte. Danach ging er zu dem Toten hinaus, kam wieder zurück, lief zum fünften Male in den Garten und brachte wieder Rosen, soviel er tragen konnte, und lächelte zufrieden, als er sah, daß die unbekannte Frau, die mit ihren kurzgeschnittenen Haaren einen rührenden Eindruck auf ihn machte, nun stille war und die Augen geschlossen hatte.

Olivias Kopf ruhte auf dem Arm; während sie schlief, wurde ihr Gesicht erst bleich und immer bleicher; von einem gewissen Punkt an kehrte aber die Farbe des Lebens zurück, als ob ein Traum von glücklicher und tätiger Zukunft die Seele jäh berührt hätte. Dieser Traum erzeugte ein Lächeln; das Lächeln schien das Blut, das schon verblaßte, neu zu röten. Verwandlung war in ihr; über ihr Verheißung eines Geistes aus verwandelter Welt.

Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf Grundlage der Erstveröffentlichung erstellt. Diese erschien in »Velhagen & Klasings Monatshefte«, XXXI. Jahrgang 1916/1917, Hefte 1-3, September-November 1916. Die Seitenzahlen springen entsprechend dieser Heftaufteilung. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen.

Transcriber’s Notes: This ebook has been transcribed from the first publication of the story, printed in “Velhagen & Klasings Monatshefte”, XXXI. bound volume 1916/1917, issues 1-3, September-November 1916. The page numbers jump according to the distribution of the story onto the three issues of the monthly periodical. The table below lists all corrections applied to the original text.






End of the Project Gutenberg EBook of Olivia oder Die unsichtbare Lampe, by 
Jakob Wassermann

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK OLIVIA ODER DIE UNSICHTBARE LAMPE ***

***** This file should be named 21860-h.htm or 21860-h.zip *****
This and all associated files of various formats will be found in:
        http://www.gutenberg.org/2/1/8/6/21860/

Produced by Markus Brenner and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net


Updated editions will replace the previous one--the old editions
will be renamed.

Creating the works from public domain print editions means that no
one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
(and you!) can copy and distribute it in the United States without
permission and without paying copyright royalties.  Special rules,
set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark.  Project
Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
charge for the eBooks, unless you receive specific permission.  If you
do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
rules is very easy.  You may use this eBook for nearly any purpose
such as creation of derivative works, reports, performances and
research.  They may be modified and printed and given away--you may do
practically ANYTHING with public domain eBooks.  Redistribution is
subject to the trademark license, especially commercial
redistribution.



*** START: FULL LICENSE ***

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase "Project
Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
Gutenberg-tm License (available with this file or online at
http://gutenberg.org/license).


Section 1.  General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
electronic works

1.A.  By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement.  If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B.  "Project Gutenberg" is a registered trademark.  It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement.  There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement.  See
paragraph 1.C below.  There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
works.  See paragraph 1.E below.

1.C.  The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
Gutenberg-tm electronic works.  Nearly all the individual works in the
collection are in the public domain in the United States.  If an
individual work is in the public domain in the United States and you are
located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
are removed.  Of course, we hope that you will support the Project
Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
the work.  You can easily comply with the terms of this agreement by
keeping this work in the same format with its attached full Project
Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.

1.D.  The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work.  Copyright laws in most countries are in
a constant state of change.  If you are outside the United States, check
the laws of your country in addition to the terms of this agreement
before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
creating derivative works based on this work or any other Project
Gutenberg-tm work.  The Foundation makes no representations concerning
the copyright status of any work in any country outside the United
States.

1.E.  Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1.  The following sentence, with active links to, or other immediate
access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
copied or distributed:

This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
almost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away or
re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
with this eBook or online at www.gutenberg.org

1.E.2.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
and distributed to anyone in the United States without paying any fees
or charges.  If you are redistributing or providing access to a work
with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
1.E.9.

1.E.3.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
terms imposed by the copyright holder.  Additional terms will be linked
to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
permission of the copyright holder found at the beginning of this work.

1.E.4.  Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5.  Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6.  You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
word processing or hypertext form.  However, if you provide access to or
distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
form.  Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7.  Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8.  You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
that

- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
     the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
     you already use to calculate your applicable taxes.  The fee is
     owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
     has agreed to donate royalties under this paragraph to the
     Project Gutenberg Literary Archive Foundation.  Royalty payments
     must be paid within 60 days following each date on which you
     prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
     returns.  Royalty payments should be clearly marked as such and
     sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
     address specified in Section 4, "Information about donations to
     the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."

- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
     you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
     does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
     License.  You must require such a user to return or
     destroy all copies of the works possessed in a physical medium
     and discontinue all use of and all access to other copies of
     Project Gutenberg-tm works.

- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
     money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
     electronic work is discovered and reported to you within 90 days
     of receipt of the work.

- You comply with all other terms of this agreement for free
     distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9.  If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
electronic work or group of works on different terms than are set
forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
your equipment.

1.F.2.  LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees.  YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH F3.  YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3.  LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from.  If you
received the work on a physical medium, you must return the medium with
your written explanation.  The person or entity that provided you with
the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
refund.  If you received the work electronically, the person or entity
providing it to you may choose to give you a second opportunity to
receive the work electronically in lieu of a refund.  If the second copy
is also defective, you may demand a refund in writing without further
opportunities to fix the problem.

1.F.4.  Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
the applicable state law.  The invalidity or unenforceability of any
provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

1.F.6.  INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org.  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     gbnewby@pglaf.org


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.